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Peter Koch / Reimar Oltmanns SOS Freiheit in Deutschland Herausgeber: Henri Nannen Redaktion: Hans-Joachim Maass Dokumentation: Leo Pesch Einband: Erwin Ehret Gestaltung: Wolf-Rüdiger Dammann und Otto Reinecke Produktion: Druckzentrale G + J Druck: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Copyright: Stern-Magazin im Verlag Grüner + Jahr AG & Co, Hamburg 1. Auflage 1978 ISBN 3-570-01909-8
INHALT Vorwort von Henri Nannen 9 Am Wendepunkt 11 Der Überwachungsstaat 63 Die Bürgerkriegsarmee 109 Im Namen des Gesetzes 123 Die Feinde der Verfassung 145 Die bösen Geister 179 Spiel mit dem Feuer 211 Dokumente und Gerichtsurteile 251
Anti-Terror-Gesetze in Deutschland Relevant sind da die §§ 88a II, 129a, 130a StGB, §§ 112 Abs: 3, 148 Abs. 2, 129a, 138a Abs. 1, 139a, 231a, 321b, 103 Abs. 1 Satz 2, 111, 163b, 163d, Art. 31-36 EGGVG (Kontaktsperregesetz) das alles natürlich Stand 1978. Die Tabelle habe ich weggelassen das diese im Vergleich zu anderen EU -Ländern gesetzt wurde. Bei denen haben sich aber die Gesetze inzwischen auch geändert. Ergo ist kein Vergleich mehr möglich. Läßt sich eh alles im Web nachschauen.
Liberty dies by inches Die Freiheit stirbt zentimeterweise englisches Sprichwort
It is liberty alone which fits man for liberty Allein die Freiheit befähigt den Menschen zur Freiheit Der britische Premierminister William Ewart Gladstone (1808-1898) Damit wir uns nicht mißverstehen Als Deutschlands gefährlichste Terroristen Christian Klar, Willi Peter Stoll und Adelheid Schulz im Hubschrauber über die Bundesrepublik kurvten und ihre polizeilichen Beschatter nach der Landung einfach abschüttelten, da lieferten Springers Zeitungen zum Skandal die Entschuldigung gleich mit. Kein Wunder, hieß es, der STERN habe mit seiner Serie »Freiheit '78« Polizei und Politiker derart verunsichert, daß die Fahnder aus purer Angst vor einem Fehlgriff den Zugriff verpaßt hätten. Gezielter kann das Anliegen der Serie, die hier in erweiterter Form als Buch vorgelegt wird, nicht mißverstanden werden. Denn den Autoren Peter Koch und Reimar Oltmanns geht es um gar nichts anderes als um den Schutz unserer Freiheit vor jeglicher Gewalt. Sie wissen aber, und sie beweisen es: wenn polizeiliche und nachrichtendienstliche Schutzmaßnahmen zum Selbstzweck werden, dann ist es um die zu schützende Freiheit schlecht bestellt. Wer Gesinnungsschnüffelei betreibt, wer in jedem konflikt bewußten Bürger den zu verfolgenden Feind sieht der kämpft gegen den Wind und verliert die Witterung für den eigentlichen Brandherd, die terroristische Gewalt. Der kommunistische Lokomotivführer, der Lehrer, der in Gorleben gegen den Atom-Müll demonstriert - glaubt ernsthaft einer, dies sei das Holz, aus dem die Mörder Erich Pontos, Siegfried Bubacks und Hanns Martin Schleyers geschnitzt sind? Glaubt einer, daß man die Baaders, Raspes, Klars und Stolls mit Hilfe des Radikalenerlasses hätte fangen können? Solche Naivität gehört nicht zu den Vorrechten von Politikern und Kriminalisten. Niemand wird der Polizei die Mittel versagen wollen, mit denen terroristische und andere Kriminalität wirksam bekämpft werden kann. Auch Fehlgriffe - wenn sie zumindest in die richtige Richtung zielen - wird man einkalkulieren müssen. Wer aber das Recht zu kritischem Denken mißachtet, wem der Auftrag, die freiheitliche Verfassung zu hüten, zur Jagdleidenschaft gegen Andersdenkende entartet, vor dem sei gewarnt. Der Terror ist ein Kind unserer Gesellschaft. Man wird ihm nur beikommen, wenn man diese Gesellschaft noch freier, noch transparenter, noch demokratischer macht. Freilich, es gäbe auch den umgekehrten Weg: Unter Hitler und Stalin war der Terror verstaatlicht. Auch Honecker, Husak und Kadar haben mit Terroristen keine Probleme. Aber wer wollte da tauschen? So großartig ist das System unserer Bundesrepublik nicht, als daß es an ihm nichts mehr zu verändern gäbe. Aber es ist auch nicht so hilflos und unsouverän, daß wir immer neuer Gesetze und Schutzmechanismen
bedürften, um die oft zitierte freiheitliche demokratische Grundordnung als erstarrte Formel zu bewahren. Die Autoren dieses Buches setzen sich für eine wehrhafte Demokratie ein, aber sie legen die Betonung auf Demokratie. Wer sein Heil im Polizeistaat sucht und sich nach Kasernenhofordnung und Friedhofsruhe sehnt, den sollte dieses Buch allerdings gründlich verunsichern. Hamburg, im August 1978 Henri Nannen
Am Wendepunkt Die Auflassung gab Bundeskanzler Helmut Schmidt: »Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muß auch bereit sein, bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist.« Es ist die einzige Grenze der Bundesrepublik, die nicht gesichert ist. Was Helmut Schmidt nach dem Terroranschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm im Parlament ausrief und beim Staatsakt zu Ehren des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback wiederholte, um den Zorn einer empörten Bevölkerung aufzufangen, wurde vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis zum Osten der Nachkriegsrepublik als neue Richtlinie der Politik verstanden. Die Abgeordneten im Bonner Parlament ebenso wie der Chef des Bundeskriminalamts in Wiesbaden, Staatsanwälte in der süddeutschen Provinz und der Bonner Bildungsminister Schmude, die Verkehrspolizei in Berlin ebenso wie die Bahnpolizei im Bummelzug nach Rosenheim, die Ministerialbeamten in der Kieler Kultusbehörde und ihre Kollegen am Münchener Salvatorplatz, der Richter Ludwig Schultz am Oberlandesgericht in Stuttgart ebenso wie der Verwaltungsrichter Siegfried Sporer im fränkischen Ansbach, der Leiter des Oberschulamts in Freiburg sowie die elf Landesinnenminister und ihr Bonner Kollege - sie alle sind seither dabei, die Grenzen des Rechtsstaats auszukundschaften und sie dort, wo ihnen die Pflöcke zu eng gesteckt scheinen, neu festzusetzen. In Gesetzestexten und Urteilssprüchen, in Politikerreden und Dienstanweisungen, in Polizeiaktionen und Computerprogrammen, bei öffentlichen Etatberatungen wie internen Lagebesprechungen werden die neuen Dimensionen sichtbar: 11 • von 22,4 Millionen Mark 1969 stieg der Etat des Bundeskriminalamts auf 200 Millionen Mark in diesem Jahr, sein Personal wurde im gleichen Zeitraum von 1000 auf 3000 verdreifacht; • im Bonner Großen Krisenstab stellte Franz Josef Strauß kurz nach der Entführung Hanns-Martin Schleyers den Vorschlag zur Diskussion, die im Stammheimer Gefängnis einsitzenden Terroristen um Andreas Baader und Gudrun Ensslin ebenfalls als Geiseln zu betrachten und gegebenenfalls zu erschießen; zur selben Zeit sprach der SPD-Politiker Heinz Kühn sogar öffentlich bei der Trauerfeier für Schleyers ermordeten Fahrer Heinz-Peter Marcisz die Drohung aus: »Und die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung von Hanns-Martin Schleyer auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollen, schwer zurückwirken müßte«; • der Historiker Golo Mann verstieg sich dazu, in der Bundesrepublik den »Bürgerkrieg« zu konstatieren und den unter Terrorismusverdacht einsitzenden Angeklagten jeglichen Vertrauensanwalt abzuerkennen; • die meisten Anwälte der unter Terrorismusverdacht stehenden Häftlinge können mit ihren Mandanten nur noch per Telefon, getrennt durch eine gläserne Scheibe, sprechen - und dies im Bewußtsein, daß inzwischen zugegeben wurde, man habe die in Stammheim einsitzenden RAF-Häftlinge bei Beratungen mit ihren Verteidigern illegal belauscht; • das Landgericht Stuttgart wies eine Verleumdungsklage von fünf nicht-kommunistischen Mitgliedern des Münchener »Pressedienstes Demokratische Initiative« gegen die CSU ab, mit der der Strauß-Partei die Behauptung verboten werden sollte, diese Journalisten und Schriftsteller, die zusammen mit DKP-Mitgliedern im PDI arbeiten, bildeten eine »kommunistische Tarnorganisation«. Das Gericht: Diese Bezeichnung sei nur dazu da gewesen, eine bestimmte Richtung zu kategorisieren, sie sei aber nicht verleumderisch. Ebenfalls sei der Ausdruck »Untergrundkommunist« gegenüber dem parteilosen PDI-Mitglied Günter Wallraff »gerechtfertigt«; • der oberste Rechtsherr der Bundesregierung, Bundesjustizminister Jochen Vogel, spielte vor dem Prozeß gegen den 12 Hamburger Rechtsanwalt Kurt Groenewold, der wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« in erster Instanz zu zwei Jahren Haft mit Bewährung verurteilt worden ist, einigen Journalisten die Anklageschrift zu und verstieß damit eindeutig gegen geltendes Strafprozeßrecht. Der von der Verteidigung als Zeuge geladene frühere amerikanische Justizminister William Ramsey Clark sagte vor Gericht aus, in Amerika wäre angesichts der damit erfolgten Vorverurteilung eines Angeklagten solch ein Verfahren nicht eröffnet worden. Der zuständige 3.
Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts hielt zumindest »nicht alles, was auf diesem Gebiet geschehen ist, für förderlich im Sinne einer geordneten und vertrauenerweckenden Rechtspflege«; • die Listen für Bundesgrenzschützer über verfassungsfeindliche Organisationen und extremistische Zeitungen sind vergleichsweise harmlose Leseanweisungen gegenüber den »schwarzen Bänden« an den Grenzstationen mit Personenangaben und Fotos von 789 »leitenden Funktionären linksextre mistischer Kern- und Nebenorganisationen«; • sogar der Zoll ist in die Fahndung des Bundeskriminalamts einbezogen, das seinerseits dafür Zollaufgaben übernimmt -BKA-Chef Herold: »Ein wirklicher Arbeitsverbund.« Längst auch schon führt die Bahnpolizei ohne gesetzliche Grundlage Personenkontrollen in Zügen durch. Als der Abgeordnete Axel Wernitz (SPD) den früheren Innenminister Maihofer darauf ansprach, daß dies im südbayerischen Bereich »Richtung Rosenheim« geschehen sei (»Die Rechtsgrundlage hierfür scheint mir außerordentlich schwach zu sein«), entgegnete ihm der FDP-Mann: »Hier ist in der Tat noch ein rechtsfreier Raum, den wir schließen müssen«; • mit der sogenannten »BeFa 7«, der beobachtenden Fahndung nach politisch motivierten Gewalttätern, hat das Bundeskriminalamt eindeutig rechtliche Grundlagen verlassen: Die an das Legalitätsprinzip gebundene Polizei darf nach der Strafprozeßordnung erst tätig werden, wenn schon ein Ermittlungsvorgang läuft. In die »BeFa 7« aber sind auch »Kontaktpersonen« einbezogen, zum Beispiel Leute, die mit einem unter Terrorismusverdacht Stehenden im selben Zugabteil oder Auto angetroffen wurden. Zeitweise genügte es sogar, 13 daß Männer und Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren häufiger die Grenze nach Frankreich passierten, um sie zu BeFa-Fällen zu machen; • in einem Vortrag in Hannover sagte der Bonner Bildungsminister Schmude öffentlich: »Wenn wir sehen, daß die Polize i etwas tut, wofür es keine Rechtsgrundlage gibt, dann müssen wir die Rechtsgrundlage schaffen.« Schmude fügte dann noch hinzu: ».. .oder diese Praxis unterbinden«; • in einem Einführungsvortrag für Referendare sagte der Staatsanwalt Harald Weiss-Bollandt beim Landgericht Hanau: Bei Demonstrationen würden Polizeibeamte immer wieder verschiedenster Übergriffe beschuldigt, nachweisbar aber seien solche Übergriffe so gut wie nie, weil von Polizisten belastende Aussagen »infolge der in diesem Beruf bestehenden Kollegialität oftmals nur schwer zu erlangen« seien. Diese »besondere Kollegialität unter den Polizeibeamten« sei »geeignet, einen wichtigen Beitrag zum Bestehen wichtiger Ein sätze zu leisten«. Er fügte hinzu: »Dabei bin ich überzeugt, daß ein Großteil dieser Beschuldigungen zutrifft.« Längst ist es nicht mehr nur die Meinung einiger als chronische Querulanten abgetaner Systemkritiker wie Ossip K. Flechtheim oder der Berliner Politologe Wolf-Dieter Narr, daß mit solch weitgesteckten Grenzpfählen der Bere ich des Rechtsstaats schon verlassen worden ist. Auch »gemäßigtere« Wissenschaftler schließen sich dieser Auffassung an. Der Hannoveraner Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider, der von Bundeskanzler Helmut Schmidt bisweilen als rechtspolitischer Berater konsultiert wird: »Die Rechtsstaat-Idee wird pervertiert in eine Machtstaat-Idee.« Der Karlsruher Bundesrichter Helmut Simon: »Ich sehe eine staatspolitisch gefährliche Entwicklung.« Die breite Öffentlichkeit indes erreichen auch diese Mahner nicht. In dem Glauben, daß immer mehr und immer schärfere Gesetze, immer mehr und immer enger verbundener Datentausch, immer mehr und immer extensivere Fahndung letzt lich dafür da seien, terroristische Gewalttäter zu fangen und den Bürgerfrieden wiederherzustellen, lassen die Deutschen der Regierung, dem Parlament und den Gerichten ihren Lauf. Nach wie vor ist die Mehrheit der Bürger der festen Überzeugung, 18 daß die Bundesrepublik der freieste Staat der Welt sei. Wo außer in der Bundesrepublik kann man ohne Tempolimit auf der Autobahn rasen? Kann nicht jeder, sofern er zahlen kann, das kaufen, was er gerade will? Ist nicht die Bundesrepublik das Land, in dem man schlafen kann, mit wem und wie man will? Das Institut für Demoskopie Allensbach hat für den STERN ermittelt, daß 84 Prozent der Bevölkerung ihre Freiheit durch keinerlei staatliche Eingriffe beeinträchtigt sehen, und 64 Prozent befürworten die Berufsverbote. Die Deutschen, seit je autoritätsgläubige Untertanen - wo sonst kennt eine Sprache den Begriff »Vater Staat«, wo sonst gestattet sich eine Sprache eine Selbstentblößung wie mit der Wendung »Wir werden einmal deutsch miteinander reden müssen« ? -, haben auch jetzt wieder verräterisches sprichwörtliches Verständnis: »Not kennt kein Gebot« oder »Wo gehobelt wird, fallen Späne« und insbesondere: »Der Zweck heiligt die Mittel«. Die Bereitschaft, den Ausbau der Staatsgewalt hinzunehmen, wurde durch wirtschaftliche Angst gefördert. Der 01-schock des Winters 1973/74, die wirtschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit und Konjunkturflaute förderten die Neigung der Bürger, sich nur noch mit den eigenen Sorgen zu befassen, und die Sehnsucht nach dem starken Staat, der alle politische Verantwortung übernehmen sollte. Am deutlichsten tritt diese Neigung zur d isziplinierten Unterordnung in der breiten Klasse der Facharbeiter zutage, die durch Automation und Rationalisierungsmaßnahmen um ihre bisherige herausgehobene Stellung fürchten müssen. Sie spüren instinktiv, daß sie etwas sind, was Soziologen als »untergehende Klasse« definieren.
Auf sie trifft zu, was Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest über die Bauern und die Kleinbürger gesagt haben: Sie sind nicht progressiv, sondern neigen zu einer reaktionären Haltung. Mit der Absage an die Politik ging ein achselzuckendes Hinwegblicken von den Sorgen des anderen einher. Was geht den Arbeiter bei den Ford-Werken in Köln der Radikalenerlaß an, mit dem ein paar aufmüpfige Bürgersöhne daran gehindert werden, den Lehrerberuf zu ergreifen? Für ihn ist 19 die Freiheit bedroht, wenn die Werksleitung, so wie es im Frühjahr 1978 beim Metallarbeiterstreik geschah, die Bänder abstellt, ohne den Betriebsrat zu fragen. Bei den anderen handelt es sich ohnehin um Privilegierte. Sie konnten sich ein Studium leisten, sie jammern um den Verlust von Rechten, die er, der Arbeiter, nie hatte. Die so denken, erkennen nicht die Wechselwirkung, die zwischen dem Abbau von Freiheit im politischen Bereich und der Entmündigung im wirtschaftlichen Bereich besteht. Sie sehen nicht, daß dort, wo das Klima umschlägt, keine verein zelten Schönwetterzonen erhalten bleiben. Der Ordnungsstaat, der den Menschen in die Gehorsamshaltung zwingt, wird in Betrieben und Konzernen kopiert. Da konnte in Rastatt bei Baden-Baden der Vorstand eines SEL-Zweigwerks die Schließung verkünden, mit der 900 Arbeiter auf die Straße gesetzt werden und als der CDU-Bürgermeister Franz Rothenbiller klagte, daß man die Tochter des amerika nischen ITTKonzerns doch mit Millionen an Standortsubventionen hergeholt habe, und der Betriebsratsvorsitzende Josef Riederer fragte, wie die Werksleitung diese Entscheidung habe treffen können, ohne sich mit der Belegschaft, mit der Stadt oder mit dem Landeswirtschaftsministerium vorher in Verbindung zu setzen, antwortete Vorstandsmitglied Burkhard Wiesmann kühl: »Tut mir leid, wir müssen hier aus Rationalisierungsgründen weg, da ist gar nichts zu machen.« Da wurde in Sonthofen beim Oberallgäuer Milchwerk der Betriebsratsvorsitzende Manfred Werske im krassen Widerspruch zum Betriebsverfassungsgesetz gefeuert, weil er grö ßere Mitbestimmungsrechte forderte (als die zuständige Ge werkschaft Nahrung, Genußmittel und Gaststätten prozessierte, wurde die Entlassung mit einer hohen Abfindungssumme gepolstert, aber nicht rückgängig gemacht). Doch nicht nur wirtschaftliche Ängste der Bürger haben eine nahezu uneingeschränkte Handlungsvollmacht für Parteien, Regierung und Bürokratie gefördert. Politische Veränderungen in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik sind hinzugekommen. In Italien, in Frankreich und zuvor in Portugal waren die Kommunisten auf dem Vormarsch, zeitweise schienen sie unaufhaltsam auf dem Weg zur Regierungsübernahme 20 zu sein. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger fürchtete 1976, daß Italien kommunistisch werden könnte und daß andere westeuropäische Länder wie Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland bald folgen würden. »Kommunismus« aber weckt in der Bundesrepublik noch immer sofort Assoziationen mit marodierenden Russen beim Einmarsch 1945, mit Ulbrichts Mauerbau, mit Honekkers Inhaftierung von Systemkritikern. Von da ist es nur noch ein kurzer Weg, bis man Kommunismus und RAF-Bande auf einen Nenner bringt und in den reglementierenden Eingriffen des Staates und der Bürokratie, die ja als Kampf gegen den Terrorismus etikettiert worden sind, eine im wohlverstandenen eigenen Interesse liegende Systemsicherung sieht. Die CDU/CSU-Opposition verstärkte die Einschüchterung mit maßlosen Attacken gegen die sozialliberale Regierung. Franz Josef Strauß: »SPD und FDP überlassen diesen Staat Kriminellen und politischen Gangstern.« Alfred Dregger: »Die Politgangster gedeihen unter einer Käseglocke regie rungsamtlicher Verniedlichung.« Dabei blieb die Bundesrepublik selbst in den Hochzeiten der RAF ein Hort relativer Sicherheit, gemessen an Ländern wie Italien (1977: 31 politische Morde), gemessen auch an der deutschen Geschichte: In den ersten fünf Jahren der Weimarer Republik, zwischen 1918 und 1922, gab es 376 politische Morde (unter den Toten der deuts che Außenminister Rathenau). In den sieben Jahren des RAF-Terrorismus ist es bisher zu 27 Toten gekommen. Der SPD-Abgeordnete Dieter Lattmann: »Wir wollen nicht einen einzigen dieser Toten bagatellisieren, aber eines muß doch auch gesagt werden: Wir haben gar nicht so viel Gewalt, wie den Menschen eingeredet wird, sondern eine ungeheure Angst vor einem Ausmaß an Gewalt, das gar nicht besteht.« Jeder Buchhändler kann diese Einschätzung der Gemütslage der Deutschen bestätigen: immer neue Bücher über die Angst werden aufgelegt, Titel wie »Die neue Gewalt und wie man ihr begegnet«, »Leben zwischen Angst und Freiheit«, »Angst bei Schülern und Studenten«, »Gewalt regiert die Welt« erreichen in ihren Auflagen Bestseller-Gipfel. Doch auch die sozialliberale Regierung fördert diesen 21 Angstschub, der geradezu massenpsychotisches Format angenommen hat. Die Bonner Ministerien igelten sich hinter Stacheldrahtverhauen ein, durch Regierungsviertel kreuzten bald so viele Panzerspähwagen wie Mercedes-Limousinen, die Zahl der Leibwächter, die ein Minister, Staatssekretär oder Oppositionsführer
kometenschweifartig hinter sich herzog, wurde zum neuen Statussymbol. Der paramilitärische Bundesgrenzschutz, ursprünglich dazu aufgestellt, bei Konflikten an der Ostgrenze als Puffer zwischen den regulären Streitkräften zu wirken, zog nun feldmarschmäßig ausgerüstet vor Bonner Ministerwohnungen und Regierungssitzen auf. Die Engländer dagegen, die tatsächlich einen blutigen Bürgerkrieg erleben, der allein im vergangenen Jahr 112 Tote forderte, verzichteten auf eine angsteinflößende und Gewalt provozie rende Zurschaustellung staatlicher Macht: Vor Downing Street 10, dem Sitz des britischen Premiers, übernimmt noch immer nur ein mit Gummiknüppel bewaffneter Bobby die Sicherungsaufgaben. Reste eines schlechten Gewissens schläferten die Deutschen mit einem Blick nach Paris, Rom oder Athen ein. In Italien, nach dem Mord an Aldo Moro, beteiligte sich sogar die Armee an der Suche nach den Attentätern. In Griechenland wurde für Terroristen die Todesstrafe wieder eingeführt. Wie die Bundesrepublik verwehrte auch Frankreich dem kommu nistischen belgischen Politologie-Professor Ernest Mandel die Einreise. Außerdem läßt Frankreich auch den ehemaligen Studentenführer Cohn-Bendit, der heute in Frankfurt einen linken Bücherladen betreibt, wegen Anstiftung zum Aufruhr seit nunmehr schon zehn Jahren nicht mehr ins Land. Vergessen wird dabei allerdings, daß einst sogar ein Charles de Gaulle ausdrücklich gesagt hat: »Auch Sartre ist Frankreich.« Das is t, als würde Strauß sagen: »Auch Böll ist Deutschland.« Statt dessen hat das »Deutschlandmagazin« des ultrarechten Publizisten Kurt Ziesel unter ein Titelblatt mit Böll, Grass, Rudolf Augstein sowie den Professoren Mitscherlich, Gollwitzer, Brückner und Seifert schreiben können »Die geistigen Bombenwerfer« - und kein Staatsanwalt ist eingeschritten. Dabei ist es erst knapp zehn Jahre her, daß die Bundesrepublik ihren demokratischen Frühling erlebte. Geschoben von 22 der studentischen Außerparlamentarischen Opposition (Apo) (»Macht kaputt, was euch kaputt macht«), gezogen vom ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler Willy Brandt (»Wir wollen mehr Demokratie wagen«), wurde der deutsche Bürger aus seiner Wohlstandslethargie abrupt wachgerüttelt. Die Aufbruchsstimmung reichte bis ins höchste Staatsamt. Der in die Villa Hammerschmidt eingezogene neue Bundespräsident Gustav Heinemann ermunterte dazu, das unter dem Eindruck der Nazi-Willkür formulierte Grundgesetz mit seinen Anlehnungen an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und an die französische Erklärung der Menschenrechte als das »große Angebot der Freiheit« zu begreifen. Der gesellschaftliche Erneuerungswille schien von unbändiger Kraft. Die Sozialdemokraten stellten umfassende Listen von inneren Reformen auf. Sie reichten von der Schaffung eines »gerechten, einfachen und überschaubaren Steuersystems«, einem »Gesamtbildungsplan« und der »Hilfe für berufstätige Mütter« bis zur Verbesserung des »Verbraucherschutzes« ; nicht einmal der Tierschutz wurde in Willy Brandts Regierungserklärung 1969 vergessen. Alle Parteien, auch die CDU/CSU, sahen sich gezwungen, die zunächst von der Apo erhobenen politischen Forderungen aufzugreifen und in ihre Programme neue Vorschläge zur Bildungspolitik, zum Bodenrecht, zur Mitbestimmung und zur Vermögensbildung einzubringen. Freiwillig entledigte sich der Staat einiger Repressions-mittel: • das Demonstrationsrecht wurde entschärft; • der Landfriedensbruch-Paragraph wurde auf diejenigen beschränkt, die sich an Gewa lttätigkeiten beteiligen, während bis dahin auch bloße Mitläufer strafbar gewesen waren. Damit bewahrte der Staat Tausende vor dem Kadi. Es war der bewußte Verzicht auf Rache gegenüber jenen jungen Menschen, die Mitte der sechziger Jahre an den Studentendemonstrationen gegen das verknöcherte Establishment in Politik und Wirtschaft und gegen alteingefahrene Traditionen an den Hochschulen (»Unter den Talaren Muff von tausend Jahren«) teilgenommen hatten; • das Haftrecht wurde entschärft. Bisher genügte der bloße 23 Verdacht auf Verdunkelung oder Flucht, um Menschen hinter Gitter zu bringen und dort eine Untersuchungshaft absitzen zu lassen, deren Dauer oft in keinem Verhältnis stand zu der später verhängten Strafe. Fortan mußte der Flucht- oder Verdunkelungsverdacht durch konkrete Tatsachen erhärtet werden; • das Sexualleben der Bürger wurde erstmals als Privatsache anerkannt. Der Porno-Paragraph wurde gestrichen, der berüchtigte Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, auf den Schutz von Minderjährigen eingeengt; • Polizei und Bürger sollten ein neues Verhältnis zueinander finden. Die Polizisten sollten nicht mehr als drohende Ordnungsmacht auftreten, sie wurden jetzt außer im Schießen auch in Psychologie geschult, um bei Demonstrationen besser mit den jungen Leuten fertig zu werden. Die Uniformierten verbargen ihre bislang im Halfter offen getragenen 7,65-Millimeter-Pistolen unterm Dienstjackett; • Angeklagte brauchten vor dem Richter nicht mehr strammzustehen; sie bekamen während der Verhandlung einen eigenen Arbeitstisch.
Einen Moment lang schien es, als würde die Grundidee dieser Reformansätze, die Emanzipation des Menschen, zum Zündfunken einer Massenbewegung. Eine neue linke Koalition von Sozialdemokraten und Hochschulprofessoren, Liberalen und Schriftstellern, Kirchenleuten, Gewerkschaftern und sogar einigen problembewußten Christdemokraten bildete sich heran und wurde so etwas wie eine Erwachsenenorganisation der Apo. Auch die Arbeiterschaft stand nicht abseits. Es war mehr als nur ein traditioneller Lohnkampf, als 1969 die Hoesch-Arbeiter mit spontanen Streiks begannen und eine einheitliche Zulage von 30 Pfennig für alle forderten. Doch so heftig wie der Aufbruch war der Rückschlag. Den meisten Unionspolitikern war die Reformbewegung von Anfang an suspekt gewesen, sie empfanden sie als Störung des zwanzig Jahre währenden Dreiklangs von Konservativen, Kapital und Kirche. Der christdemokratische Kanzlerkandidat jener Jahre, Rainer Barzel, erklärte nach der Rückkehr von einer Reise ins damals noch vom Diktator Salazar beherrschte Portugal: »Unser Land ist nicht in Ordnung!« 24 Franz Josef Strauß verhöhnte die Strafprozeßreform als »Verbrecherschutzgesetz«. Er verdächtigte den SPDKanzler Brandt, das Demonstrationsrecht nur deshalb reformiert zu haben, um seinen bei einer Kundgebung vorübergehend festgenommenen Sohn Peter vorm Gefängnis zu bewahren. Der CSU-Rechtsexperte Carl-Dieter Spranger (MdB): »Die Überbetonung staatlicher Toleranz und falsch verstandene Liberalisierung fördern Gewalt, Kriminalität, Brutalität und Terrorismus.« Die in Bonn in der Opposition stehenden Christdemokraten mobilisierten alle verfügbaren Machtpositionen in Länderparlamenten, Bundestag, im Karlsruher Verfassungsgericht und bei Wirtschaftsverbänden, um das Neuerungsexperiment abzublocken. Bald säumten Reformruinen den Weg der sozialliberalen Koalition: das Berufsbildungsgesetz, das durch Unternehmerabgaben eine qualifizierte Ausbildung der Lehrlinge sichern sollte; das Vermögensbildungsgesetz, das Arbeitnehmern eine Beteiligung an den Unternehmergewinnen ermöglichen sollte; das Bodenrecht, mit dem Spekulationsgewinne vereitelt werden sollten. Gegen die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung ohnehin schon ein mit dem industriefreundlichen Koalitionspartner FDP und der CDU/CSU-Opposition ausgehandelter Kompromiß ohne wirkliche paritätische Gleichgewichtigkeit der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von Großbetrieben - klagten die Arbeitgeberverbände vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Sozialdemokraten mußten während der weltweiten Rezession den grundsätzlichen Fehler ihrer Reformpolitik erkennen, nämlich daß sie von einem ungebremsten Wachstum der Wirtschaft ausgegangen waren (der erste Entwurf des Orientierungsrahmens 85 veranschlagte jährliche Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts von 5 Prozent). Jetzt verfielen sie in Resignation. Helmut Schmidt gab als Nachfolger Brandts im Amt des Bundeskanzlers in seiner ersten Regie rungserklärung das neue Leitmotiv aus: »Dies ist die Zeit der Kontinuität und Konzentration.« Besorgt registrierte Bundespräsident Gustav Heinemann noch kurz vor seinem Tod den »allgemeinen Widerwillen, der 25 einen liberalen Rechtsstaat zu begleiten pflegt«. Selbst Willy Brandt, längst nicht mehr Kanzler, aber immer noch Symbolfigur des einstigen Aufbruchs, warf schließlich das Handtuch und gestand in einem Interview im April 1978 das Scheitern der Reformpolitik ein: »Rückschauend muß ich selbstkritisch einräumen, daß mit dem Reformbegriff etwas leichtfertig umgegangen worden ist.« Zum Scheitern beigetragen hat aber auch die Linke außerhalb des Parlaments. An den »roten« Universitäten breitete sich ein Klima militanter Intoleranz aus. Konservative Professoren wurden in ihren Vorlesungen niedergeschrieen, CDU-Politiker wie beispielsweise Helmut Kohl bei einem Auftritt an der Technischen Universität Berlin mit Farbbeuteln und Eiern beworfen. Der Politologe Gilbert Ziebura, der sich Ende der sechziger Jahre in Berlin an die Spitze der studentischen Aufbruchsbewegung gestellt und durch ein Mitbestimmungsmodell am Otto-Suhr-Institut die Demokratisierung der Universität betrieben hatte, räumt ein: »Es herrschte an den Hochschulen in der Tat zeitweise das Chaos.« Die gesellschaftspolitisch relevanten Auswirkungen analysiert der fortschrittlich eingestellte Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages und erst kürzlich von der Universität Oldenburg mit der Carl von Ossietzky-Medaille ausgezeichnet: »Aus diesem Festlaufen der Reformpolitik ergeben sich ja noch keine Freiheitsbeschränkungen, wohl aber Lähmungen im Willen, freiheitlich zu leben.« Die vom Demokratie-Experiment ermatteten Bundesbürger sanken zurück in den alten Konsens der Bundesrepublik, wie er sich in den Jahren des Kalten Krieges herangebildet hatte: Intoleranz nach links, eine hoch angesetzte Toleranzschwelle nach rechts. Teil dieses Konsenses ist ein Hans Filbinger, der als NaziMarine-Richter »zur Aufrechterhaltung der Manneszucht« noch im April 1945 junge Soldaten der Wehrmacht wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilte und auch aus derselben Geisteshaltung heraus heute die »permissive
Gesellschaft« beklagt. Kein Teil dieses Konsenses ist Heinrich Böll, der die Bürger Bundesrepublik davor warnt, daß »Freiheit und Demokratie langsam im Namen von 26 Freiheit und Demokratie erstickt werden«; Seine Sätze dürfen von dem rechten Springer-Kommentator Matthias Walden so verbogen und durcheinandergerührt werden, daß sie wie eine Freisprechung der Terroristen aussehen. Walden über Böll: »Moralische und intellektuelle Mitschuld.« Als Böll gegen diese Verleumdung klagte, verweigerte ihm das höchste deutsche Gericht, der Bundesgerichtshof, sein Recht. Teil dieses Konsenses war der Lehrer, der sich in den fünfziger Jahren Springers Berlin-Plakette »Macht das Tor auf« ans Revers heftete. Der Pädagoge jedoch, der sich heute mit Plaketten als Kernkraftgegner zu erkennen gibt, ist kein Teil des Konsenses. Ihm wird selbst in Hamburg auf Anweisung des Landesschulrats das Tragen der Plakette verboten. Teil des Konsenses sind junge Neo-Nazis, die in schwarzen Uniformen bei Nürnberg vor Reporter-Kameras Waffenübungen machen. Teil des Konsenses ist die SS-Traditionsgemeinschaft Hiag, die 31 Jahre nach Hitler bei einem SS-Treffen in einem Sonthofener Soldatenheim noch ein Ritterkreuz verleiht. Nicht Teil dieses Konsenses ist der Doktorand, der vor sechs Jahren beim Besuch des südvietnamesischen MarionettenPräsidenten Thieu gegen die Zerbombung Vietnams durch die Amerikaner demonstrierte - ihm wird in Deutschland noch jetzt, nachdem die Amerikaner Vietnam längst geräumt haben und Thieu inzwischen in seinem l00 000-Dollar-Haus im Londoner Vorort New Maiden unter dem Pseudonym »Mr. Martin« Grundstücke mäkelt, vor dem Bonner Landgericht zusammen mit 15 weiteren Angeklagten der Prozeß gemacht. Das Banner der in diesem Konsens lebenden Gesellschaft ist der Begriff »Freiheitlich-Demokratische Grundordnung -FDGO«. In der Sicht des Sorbonne-Professors Alfred Grosser, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, tragen die Deutschen die »FDGO« als »heiliges Tabernakel« vor sich her, quasi als Ersatz für den durch die Teilung verlorengegangenen ethischen Grundwert der Nation. Mit dem Aufkommen der RAF-Terroristen entstand den FDGO-Bannerträgern wieder ein klares Feindbild. Jetzt konnte deutlich ausgesprochen und in Gesetze umgegossen werden, was sich vorher als Unbehagen an der Studentenbewegung und den Neuerungskräften nur verhalten artikuliert 27 hatte. Die Alibifunktion des Terrorismus für die Wiederherstellung des autoritären Staates wird exemplarisch nachweis bar am Radikalenerlaß. Den Beschluß, mit dem Verfassungsfeinden der Zugang zum Öffentlichen Dienst versperrt werden soll, formulierten Bundesregierung und Länderministerpräsidenten im Januar 1972, noch vor dem Aufkommen der Terrorwelle. Nach den ersten Morden der Terroristen wurde der Radikalenerlaß umfunktioniert in ein Instrument totaler Gesinnungsschnüffelei und Einschüchterung politisch Andersdenkender. Schon längst sind die »Klassiker« des Radikalenerlasses - der Lokomotivführer Rudi Röder, der wegen seiner DKP-Mitgliedschaft aufs berufliche Abstellgleis geschoben werden sollte; die Juristin Charlotte Niess, die in Bayern nicht Richterin werden durfte, weil sie der auch mit DKP-Mitglie dern besetzten »Vereinigung Demokratischer Juristen« angehörte; die aus einer vor den Nazis geflüchteten Judenfamilie stammende Lehrerin Silvia Gingold, deren Übernahme in das Beamtenverhältnis im Land Hessen an ihrer DKP-Mitgliedschaft scheiterte - tausendfach kopiert und -zigfach übertroffen worden. Da muß der schon längst zum Beamten auf Lebenszeit ernannte Studienrat Fritz Güde, Sohn des früheren Generalbundesanwalts Max Güde, wegen Mitgliedschaft im KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) seinen Platz in der Schule räumen. Da scheitert der Lehramtsanwärter Heinrich Häberlein, der weder DKP-Mitglied ist noch in marxistischen Studentenorganisationen mitgemischt oder in irgendeiner Vereinigung - wie etwa Charlotte Niess -mit Kommunisten zusammengearbeitet hat, am Verwaltungsgericht Ansbach. Dessen Richter vermißte bei dem Kriegsdienstgegner und Volksschullehrerbewerber Häberlein eine ausreichende Bereitschaft, die freiheitlich-demokratische Grundordnung »aktiv zu verteidigen«. Zum erstenmal wurde damit eine stramme antikommunistische Haltung zur Voraussetzung für die Übernahme in das Beamtenverhältnis gemacht. Als Kriegsdienstverweigerer, so argumentierte das Gericht, gerate Häberlein »immer wieder unter den Zwang einer geistigen Auseinandersetzung mit kommunistischen Zielsetzungen«. Es sei deshalb »nicht auszuschließen, 28 daß der Kläger diese Zielsetzungen gar nicht erkennt und daher auch nicht in der Lage ist, dann aktiv für die freiheitlichdemokratische Grundordnung einzutreten, wenn sie in Gefahr ist.« Damit war eine Schwelle überschritten, die bis dahin das Aussieben der Beamtenanwärter von den berüchtigten Praktiken der McCarthy-Zeit Anfang der fünfziger Jahre in den USA unterschied, mit denen der öffentliche Dienst von »Kommunistenfreunden« gereinigt werden sollte. Dabei kam es gar nicht darauf an, ob man selber ein Verfassungsfeind war. Um als »risk« - Risiko - zu erscheinen, genügte es, einen kommunistischen Onkel zu haben. Auf das »risk«, auf eine mögliche Anfälligkeit im Umgang mit Kommunisten in der Zukunft, wurde nun auch im Fall Häberlein abgestellt.
Der gedankliche Ansatz, der zum Radikalenerlaß geführt hat, ist dabei im Grunde durchaus akzeptabel. Es gibt gute Gründe dafür, daß ein Staat seine Ministerien, Gerichte, Kasernen, Rathäuser nicht gerade denen öffnet, deren erklärtes Ziel es ist, diesen Staat zu beseitigen. Das praktizieren, wenn auch ohne Erlaß, westliche Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich genauso wie Ostblockstaaten. Die jetzige dogmatische KPFührung der Tschechoslowakei läßt den früheren Parteiführer Dubcek, der einen freiheitlichen So zialismus wollte, gerade noch Verwaltungsangestellter werden. Das Entstehen der Neuen Linken, die der Studentenführer Rudi Dutschke zum »Marsch durch die Institutionen« aufgerufen hatte, und die Neuorganisation der orthodoxen Kommunisten in der DKP 1968 waren der Auslöser für die Errichtung der Radikalen-Sperre. SPD-Kanzler Willy Brandt damals: »Der Breschnew würde sich totlachen, wenn wir hier kommunistische Lehrer einstellen.« Und FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher, dessen Partei gerade dabei war, sich mit ihren Freiburger Thesen als Gralshüter des Liberalismus auszugeben, plädierte gar für eine Grundgesetzänderung. Er wollte einen eigenen Artikel in die Verfassung hineinschreiben, daß Beamte die Gewähr dafür bieten müßten, jederzeit für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat einzutreten. Der Mann, der von Amts wegen den besten Überblick über die »linke Gefahr« hatte, der zu jener Zeit amtierende 29 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Günter Nollau, erinnert sich heute: »Ein wirklicher Grund für diese Aktivitäten, eine Entwicklung, die ein Eindringen von Verfas sungsfeinden in den öffentlichen Dienst etwa hätte bedeuten können, lag überhaupt nicht vor.« Plötzlich reichte die bisherige Regelung nicht mehr, die 1950 unter dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer begründet worden war: den Beamtenanwärtern wurde eine Liste von 13 extremistischen Organisationen vorgelegt. Sie reichte von der »Sozialdemokratischen Aktion« über die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« bis zur KPD und zur rechtsradikalen »Sozialistischen Reichspartei«. Der Kandidat mußte unterschreiben, daß er in keiner dieser Organisationen Mitglied sei. Jetzt, unter Willy Brandt, mußte eine neue »Rechtsstaatlichkeit« her. Unter seiner Obhut wurde im Januar 1972 der Radikalenerlaß verabschiedet. Auf dem Sozialdemokratischen Parteitag in Hannover 1973 wollten die SPD-Linken das Aussieben der Beamtenanwärter entschematisieren. Einem künftigen Lehrer, Richter oder Sachbearbeiter sollte nach ihrem Wunsch nicht nur deshalb der Eintritt in den öffentlichen Dienst versagt werden, weil er einer Partei angehörte, die in ihr Programm etwa den »Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse« oder die »Diktatur des Proletariats« hineingeschrieben hatte. Die Parteilinken in Hannover setzten einen Antrag durch, der die Untersuchung jedes einzelnen Falles und der persönlichen Umstände eines Bewerbers zur Auflage machte. Mag sein, daß sich einige der jungen Sozialdemo kra ten daran erinnerten, daß auch ihr Parteivater August Bebel einmal Sätze formuliert hatte wie: »Um den Volksstaat zu bekommen, dazu muß die Herrschaft der privilegierten Klassen und Personen gebrochen werden... Der Verlauf dieser Entwicklung hängt von dem Widerstand ab, den die Bewe gung an ihren Gegnern findet. Das eine steht fest: je heftiger der Widerstand, um so gewalttätiger die Herbeiführung des neuen Zustandes. Mit Sprengen von Rosenwasser wird die Frage auf keinen Fall gelöst.« Der radikaldemokratische Politologe Professor Jürgen Seifert, heute einer der heftigsten Kämpfer gegen den Abbau der 30 Freiheitsrechte in der Bundesrepublik, entschloß sich nach dem Parteitag in Hannover, selbst einer Anhörungskommis sion beizutreten, die das Land Niedersachsen für die Überprüfung der Beamtenanwärter berufen hatte. Seifert damals zu Alfred Grosser: »Ich glaube, da geht es fair zu, und wir können dann versuchen, das Ganze etwas runterzukriegen.« Eines ist gewiß, die linken Sozialdemokraten hatten in Hannover in gutem Glauben gehandelt. Indes, mit ihren Ausführungsbestimmungen zum Radikalenerlaß haben sie nicht nur die Praxis der Gewissenserforschung sanktioniert; die von ihnen initiierte Einzelfallprüfung hat sich inzwischen zu einer der miesesten Begle iterscheinungen des Gesinnungs-TÜV entwickelt. Keiner von ihnen vermochte damals zu erkennen, daß ein solches Ausforschungsvorhaben schon auf Grund von Erfahrungssätzen, die erst knapp eine Generation zurücklagen, den öffentlichen Dienst nicht von Verfassungsgegnern freihalten konnte. Diese Vergangenheit hätte genaue empirische Zahlen darüber geliefert, daß die Mehrheit der Beamten zu keiner Zeit bereit gewesen war, für die Demokratie einzutreten. Als die Weimarer Demokratie durch das totalitäre Hitler-System abgelöst wurde/liefen über 80 Prozent der Beamten zu den Nazis über. Als die NSDAP kurz nach der Machtergreifung den Torschluß für Parteieintritte auf den i. Mai 1933 festsetzte, bildeten sich riesige Schlangen von beamteten Bewerbern (die sogenannten »Mai-Gefallenen«). Diese Demokratie-Verräter, die im Zweifelsfall durch kein noch so ausgeklügeltes System hätten ausgesiebt werden können, mußten indes auch wegen ihrer erwiesenen Mängel nicht um die Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst der nachfolgenden Bundesrepublik bangen; Mit dem Artikel 131 des Grundgesetzes wurde
die Wiedereinstellung dieser NS-Beamten ausdrücklich geregelt. Einer der vehementesten Vorkämpfer dafür, daß man ihnen eine Bewährungschance geben solle, war der erste sozialdemokratische Nachkriegs-Parteiführer und Ex-Insasse der KZ's Heuberg, Dachau und Neuengamme, Kurt Schumacher. Der in Hannover ausgestellte Freibrief für die individuelle Ausschnüffelung hat bislang eine stolze Strecke erbracht: zwei 31 Millionen Beamtenanwärter sind überprüft worden; fast die Hafte, nämlich 800 000 hat man in Einzelbefragungen »angehört«. 4000 von ihnen wurden anschließend nicht angestellt. Sie mögen mit 0,5 Prozent rein numerisch eine geringe Größe sein, politisch-moralisch wurde dieser Wert zum Fäulnisherd dieser Republik. Der Radikalenerlaß hat eine Vergiftung des geistigen Klimas bewirkt. Ausgerechnet die Generation, die in der NS-Diktatur groß und vielfach auch schuldig geworden war, spionierte die erste unbelastete Nachkriegsgeneration aus. Dabei wurden nicht nur DKP-Mitgliedschaften registriert, sondern alle Aktivitäten in politischen Studentengruppen, etwa im Sozialistischen Hochschulbund, im MSB Spartakus und sonstigen Gruppen der Linken, von denen viele an den Hochschulen die offizielle Studentenvertretung stellten und in den sechziger Jahren als Motor von Veränderungen an den Hochschulen auch von den etablierten Politikern gefeiert wurden. Zu belastenden Fakten gerieten auch die bloße Teilnahme an Veranstaltungen dieser Gruppen, die Teilnahme an Demonstrationen, die Unterzeichnung von Flugblättern, in denen von »Imperialismus« die Rede war, oder die Teilnahme an Gruppenreisen in die DDR. Leidtragende wurden jedoch nicht nur die Abgelehnten, sondern auch diejenigen, denen nach einer Überprüfung bescheinigt wurde: »keine Bedenken«. Denn die Tatsache, daß eine Überprüfung stattgefunden hatte, lief fortan in den Personalakten mit. Dazu der Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider: »Bei jeder Beförderung wird dann doch gesagt: >Da war doch mal was. Lieber den nicht, das ist uns zu riskant<«. Schon während der Studienzeit mußten alle politisch engagierten Studenten damit rechnen, daß der Verfassungsschutz über sie Buch führte, denn vorab war ja nicht erkennbar, wer sich für den öffentlichen Dienst entscheiden würde. Die Studentin Erika Konrad* erhielt bei ihrer Bewerbung zur Referendarprüfung für den Schuldienst vom Oberschulamt Freiburg ein Schreiben, in dem es hieß: »Das Kultusministerium Baden-Württemberg hat dem *Name auf Wunsch der Betroffenen geändert.
32 Oberschulamt Freiburg folgende vom Innenministerium Baden-Württemberg mitgeteilte gerichtsverwertbaren Erkenntnisse zugesandt: >Frau G. K. zeichnete im Jahre 1972 mehrfach für die von der RevolutionärKommunistischen Jugend< (RKJ) und der Unabhängigen Sozialistischen Arbeitsgemein schaft (USAG) in Aisdorf herausgegebene Publikation >Der Bergmann< verantwortlich im Sinne des Presserechts ..... Ferner verkaufte und verteilte Frau K. am 8. und 15. Juni 1976 in Konstanz Publikationen der >Gruppe Internationaler Marxisten (GIM). Das Oberschulamt Freiburg wurde vom Kultusministerium Baden-Württemberg aufgefordert, mit Ihnen ein Gespräch zu führen, in dem Sie die Möglichkeit erhalten, zu den Erkenntnissen des Innenministeriums Stellung zu nehmen, und bei dem Sie im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnisse allgemein Ihre Haltung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung näher erläutern sollen. Als Termin ist vorgesehen (Datum und Uhrzeit folgen) im Oberschulamt Freiburg, Eisenbahnstr. 68, 7800 Freiburg i.Br., 9. Stockwerk, Zi. 901. Sofern die Besprechung aus Gründen, die in Ihren Verantwortungsbereich fallen, nicht stattfinden sollte, geht das Oberschulamt Freiburg davon aus, daß Sie an der Bearbeitung Ihrer Bewerbung um Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien nicht mehr interessiert sind. Hochachtungsvoll.« Nach der Anhörung konnte die Studentin ihren Professor, den Politologen Gilbert Ziebura, davon unterrichten, daß sie nach Themen der Seminare ausgefragt wurde und daß bei der Erwähnung des Namens Ziebura einer der Prüfer sagte: »Dieser Name ist hier schon bekannt, er ist uns schon öfters begegnet.« Mit dieser Entwicklung ging eine Verunsicherung des Rechtsgefüges einher. Nach einem Musterprozeß hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1975 die Rechtmäßigkeit von Radikalenerlaß, Prüfungspraxis und Zurückweisung von Bewerbern bestätigt. Dabei haben die Karlsruher Richter von ihnen selbst formulierte eherne Grundsätze des politischen Zusammenlebens über den Haufen geworfen. In einer für die Rechtsgeschichte zentralen 33 Entscheidung vom 21. März 1961 hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfolgung und Bestrafung von KPDFunktionären für ihre Tätigkeit vor dem KPD-Verbotsurteil vom August 1956 annulliert und dabei ausdrücklich postuliert: Das im Grundgesetz in Artikel 21 festgeschriebene »Parteienprivileg« schütze die Tätigkeit für eine
Partei so lange vor Verfolgung, bis die Partei vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sei. Um jetzt im Radikalenurteil zu rechtfertigen, daß auch das Mitwirken in nicht verbotenen Linksparteien wie DKP oder KBW (»Kommunistischer Bund Westdeutschland«) zur Ablehnung eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst ausreiche, bemühte das gleiche Gericht juristische Spitzfindigkeiten: es unterschied zwischen dem Beamten, von dem das Grundgesetz »das Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung« verlange, und dem Bürger, der die Freiheit habe, »diese verfassungsmäßige Ordnung abzulehnen und sie politisch zu bekämpfen, solange er es innerhalb einer Partei, die nicht verboten ist, mit allgemein erlaubten Mitteln tut«. Außerdem prägte es den neuen Begriff der »Verfassungsfeindlichkeit« anstelle der im Grundgesetz genannten »Verfassungswidrigkeit«. Fortan wurde die »Verfassungsfeindlichkeit« nicht mehr nur von den Gerichten, sondern von der Verwaltungsbürokratie festgestellt. Generalbundesanwalt Max Güde nennt deshalb dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts »illegal«. Für weitere Rechtsunsicherheit sorgten die Verwaltungsgerichte, bei denen die abgelehnten Beamtenanwärter in die Berufung gingen. Die mit meist jüngeren Richtern besetzten unteren Verwaltungsgerichte ließen solche Einsprüche generell eher durch als die noch mit älteren Richtern besetzten Oberverwaltungsgerichte in der Berufungsverhandlung. Folge: alle Landesbehörden, egal ob christdemokratisch oder sozialdemokratisch, machten es sich zur Regel, vor die Oberverwaltungsgerichte zu ziehen, wenn sie in den Verwaltungsgerichten unterlegen waren. In der zweiten Instanz blieben sie meist siegreich. Doch auch die höheren Gerichte fanden zu keiner einheitlichen Rechtsprechung. Diese war nicht nur von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, manchmal fielen sogar am selben Gericht die Urteile diametral entgegengesetzt aus. So akzeptierte der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof Mannheim in einem Fall die bloße DKPMitgliedschaft einer Beamtenanwärterin als Ablehnungsgrund, in einem anderen Fall bestand er auf Weiterbeschäftigung eines DKP-Assessors - wenn auch nur wegen fehlerhafter Entlassungsbegründung der Behörde. Die Bürokratie wurde immer selbstherrlicher. Da der Radikalenerlaß als Verwaltungsvorschrift nicht allgemein gültiges Recht ist, sondern eine behördeninterne Interpretation des bestehenden Beamtenrechts, kann die Bürokratie, von niemandem kontrollierbar, allein darüber bestimmen, wer ein »Verfassungsfeind« ist. Zudem hat sie vom Bundesverfassungsgericht den Freibrief erhalten, auch solche Parteien, die nicht verboten sind und gegen die nicht einmal ein Verbotsantrag vorliegt, als verfassungsfeindlich einzustufen. Ihre Ablehnung von Bewerbern brauchen die Bürokraten nicht zu begründen. Nur dann, wenn ein abgelehnter Bewerber vor dem Verwaltungsgericht Einspruch einlegt, werden die Prüfungsverfahren öffentlich und nachprüfbar. Es stellt sich heraus, daß die Ministerialbürokratie in doppelter Hinsicht gegen das rechtlich ohnehin schon sehr fragwürdige Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1975 verstößt: Entgegen der Auflage der Karlsruher Richter genügt den Prüfungskommissaren in vielen Fällen schon die einfache Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen, um einen Bewerber abzulehnen. Auf eine Untersuchung des persönlichen Engagements des einzelnen kommt es ihnen nicht an. Und entgegen einer ausdrücklichen Auflage aus Karlsruhe, keine Verfassungsschutz-Dossiers zur Grundlage der Entscheidung zumindest für die Einstellung im vorbereitenden Dienst zu machen, stützen sie sich oft allein auf solche Ermittlungsberichte der besoldeten Schnüffler. Der Düsseldorfer Regierungspräsident hat dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einmal geschrieben, das Bundesverfassungsgericht habe an einer Stelle des Urteils ausdrücklich formuliert, daß sich ein Urteilsspruch der Ein stellungsbehörde »auf eine von Fall zu Fall wechselnde Vielzahl von Elementen und deren Bewertung« zu gründen 35 habe. Dann wörtlich weiter: »Dies schließt ein, daß die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei und deren Bewertung bei Fehlen oder mangelnder Relevanz weiterer Umstände zur alleinigen Beurteilungsgrundlage gemacht werden können.« Mit einem Trick umgehen dabei die Befragungsbehörden auch die Auflage, daß nur »gerichtsverwertbare Tatsachen«, nicht aber anonyme Beschuldigungen zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden dürfen. Den Befragten werden anonyme Beschuldigungen vorgehalten, und wenn jemand - in Unkenntnis ihrer Herkunft und der Ausforschungsabsicht -antwortet: »Ja, das trifft zu«, werden sie automatisch gerichtsverwertbar. So munitionierte im Jahr 1975 der damalige Berliner SPD-Innensenator Kurt Neugebauer seinen einstigen niedersächsischen FDP-Landeskollegen Rötger Gross für das Verfahren gegen den renommierten PolitikWissenschaftler Wolf-Dieter Narr mit einem Schreiben voller Denunziationen, hinter denen der Vermerk stand: »nicht direkt verwert bar«. Zwar konnte Narr die Vorwürfe widerlegen, berufen wurde er aber dennoch nicht. Politische Ungerechtigkeiten verschärfen den Skandal. Die Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe hat durch Urteil bestätigt, daß der Studienrat Fritz Güde, Sohn des Ex-Generalbundesanwalts Max Güde, wegen seiner 15-monatigen Zugehörigkeit zum KBW aus dem Schuldienst zu entfernen sei. Vier Monate zuvor hatte dieselbe Disziplinarkammer den Oberstudienrat Günther Deckert, Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) freigesprochen und ihm damit den weiteren Schuldienst
ermöglicht. Verhandelt wurde in beiden Fällen unter dem Vorsitz des Richters Helmut Fuchs, eines ehemaligen SS-Mannes. Grundlage der Disziplinarverfahren war eine Passage im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Radikalenerlaß, in der die Karlsruher Richter auch die Entfernung eines bereits angestellten Beamten aus dem Dienst für zulässig erklärten, und zwar wegen Verletzung der »Treuepflicht«. Im Urteil gegen Güde zitierte das Gericht seitenlang aus den Programmen des KBW und schloß daraus, daß »die politischen Zielsetzungen des KBW mit der freiheitlich36 demokratischen Grundordnung schlechthin unvereinbar« i seien. Im Fall Deckert zitierte die Kammer keine einzige Zeile aus dem NPD-Programm, sondern äußerte Zweifel, »ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist«. Aus Statut oder Programm der NPD ergäben sich derartige verfassungsfeindliche Zielsetzungen »nicht ohne weiteres«. Das Gericht verwarf dabei auch eine Materialsendung des Bundesinnenministeriums, in der Zitate von NPD-Mitgliedern mit eindeutig verfassungsfeindlicher Zielsetzung aneinandergereiht wurden: »Allein aus Äußerungen einzelner Mitglieder und Funktionäre darf nicht der Schluß gezogen werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele.« Zweierlei Maß legte das Gericht auch bei der Frage an, ob die beiden Lehrpersonen nicht hätten wissen müssen, daß die Zugehörigkeit zu einer Partei, die zwar nicht verboten sei, dennoch rechtlich relevant werden könnte. Im Güde-Urteil heißt es: »Daß Rechtsfolgen, deren Eintritt er (Güde) aus rechtlichen Gründen für ausgeschlossen hielt, infolge einer Klarstellung einer im übrigen schon seit Jahren umstrittenen Rechtslage durch den Extremistenbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 ihn nun doch treffen, hat mit Verschulden nichts zu tun, sondern mit einer stets risikobehafteten Beurteilung der Rechtslage«! Im Fall Deckert dagegen entschied das Gericht: »Unterstellt man die Verfassungswidrigkeit der NPD, so durfte der Beschuldigte trotzdem in nicht vorwerfbarer Weise davon ausgehen, daß die NPD keine verfassungsfeindlichen Ziele hat und er daher auch durch Mitgliedschaft und Tätigkeit für die Partei nicht gegen seine Beamtenpflicht verstößt.« Die Ablehnungspraxis grenzt manchmal ans Lächerliche. Da nach dem Karlsruher Radikalenurteil das Beamtenrecht »unteilbar« ist, wird die Schablone der Verfassungsfeindlichkeit auf jeglichen Bewerber für den öffentlichen Dienst angelegt. In Frankfurt durfte der Briefträger Wolfgang Repp wegen eines Auftritts bei einer DKP-Veranstaltung nicht mehr Postkarten und Einschreibsendungen ausliefern. Der inzwis chen im Ausland schon zu einer Berühmtheit gewordene DKP-Lokomotivführer Rudi Röder erhielt im Hauptbahnhof Koblenz einen Leidensgenossen: dort wird gegen den 37 Fahrkartenverkäufer und Bundesbahnobersekretär Hermann Schladt ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem öffentlichen Dienst angestrengt, weil Schladt ebenfalls DKP-Mitglied ist. Eine Demonstration gegen die US-Aggression in Vietnam und die Junta in Chile sowie ihre Mitgliedschaft in der DKP verhinderte für die Postangestellte Romi Leiss in Ludwigshafen die Übernahme in das Beamtenverhältnis. Für das sozialdemokratisch regierte Hamburg hat Bürgermeister Klose zwar verkündet, der Radikalenerlaß werde nicht mehr praktiziert. Sein früherer Senatssprecher Paul O. Vogel aber machte jahrelang rechte Gesinnung zur Auflage, »egal, ob jemand Polizeibeamter oder nur Gärtner beim Friedhof samt werden will«. Einzig in Bremen hat Bürgermeister Koschnick eine differenzierte Anwendung des Radikalenerlasses durchgesetzt: Dort werden nur noch Bewerber für »sicherheitsrelevante Bereiche« überprüft. In den letzten Jahren trugen zwei grundverschiedene Ele mente dazu bei, die bundesweite Radikalenhatz zu verschärfen. Auf der einen Seite wurde das Los linksgewirkter Berufssuchender infolge der wachsenden Arbeitslosigkeit immer schwerer (jeder achte Arbeitsplatz wird bereits von der öffentlichen Hand vergeben). Auf der anderen Seite wurde mit der Einsetzung von Computern bei den Geheimdiensten und durch einen Verbund der Computersysteme von Bundesverfassungsschutz, Landesverfassungsschutzämtern und Polizei eine fast lückenlose Registrierung jeder politisch herausragenden Aktivität systematisiert. Auf dem Weg der »Amtshilfe« versorgten zudem noch der Militärische Abschirmdienst (MAD), der jedem Wehrpflichtigen im Spind nachschnüffelt, und der Bundesnachrichtendienst (BND), der junge Deutsche bei ihren Reisen ins östliche Ausland überwacht, die elektro nischen Registraturen mit zusätzlichen Daten. Im Sinn des zur Zeit des FürstenAbsolutismus gedichteten Liedes »Die Ge danken sind frei, wer kann sie erraten« befindet deshalb Professor Schneider: »Das Haben einer Meinung wird ja niemandem verwehrt, nur ihre Äußerung.« Und Schneider tut als Wortklauberei ab, daß der Radikalenerlaß kein Berufsverbot bedeute: »Entweder nennt man es Berufsverbot oder man nennt es Gesinnungszwang, eines von beiden ist richtig.« 38
Selbst dem Bundesverfassungsrichter Walter Seuffert, unter dessen Vorsitz der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das Radikalenurteil gefällt hat, ist heute bange vor den Geistern, die er rief. Seuffert engagiert sich inzwischen als Rechtsanwalt für vom Berufsverbot Betroffene. Er hat unter anderem die Verteidigung von Charlotte Niess übernommen. Der einstige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts verurteilt jetzt insbesondere die Zuarbeit des Staatsschutzes: »Oftmals sind die Akten des Verfassungsschutzes das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.« Der Radikalenerlaß als politisches Disziplinierungsinstrument entwickelte bald seine Eigendynamik und drang auch in andere gesellschaftliche Bereiche vor. Ausgerechnet die beiden Kirchen, deren Glauben Parallelen zum Ansatz der studentischen Neuerungsbewegung Ende der sechziger Jahre aufweist, daß nämlich dem einzelnen Menschen größere Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und eine größere Gerechtigkeit zu erkämpfen seien, kopierten jetzt das staatliche Unterdrückungsmodell. Als das rheinland-pfälzische Kultusministerium sich an das »Katholische Büro« in Mainz wandte und um Zustimmung zur Überprüfung der Lehrkräfte an den katholischen Privatschulen des Landes ersuchte, gaben die Generalvikare der Diözesen von Köln, Fulda, Limburg, Mainz, Speyer und Trier umgehend ihre Zustimmung. Zugleich wurden auch die katholischen Religionslehrer an staatlichen Schulen in den Polit-Exorzismus einbezogen. In Münster setzte Bischof Tenhumberg, den einst Kirchen-Linke und Sozialdemokraten als fortschrittlichen Theologen gefeiert hatten, gar ein eigenes Radikalenrecht. Er versagte dem 28jährigen Religionslehrer Gerhard Damerau die Lehrerlaubnis. Grund: Damerau war während seiner Münsteraner Hochschulzeit einmal beim Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus aktiv gewesen. Eine Kommission der Landesregierung hatte in der linken Vergangenheit kein Hindernis für eine Einstellung Dameraus gesehen. Einer der Gutachter: »Dameraus von christlicher Gesinnung geprägte Auffassung macht ihn für radikale Strömungen eher blind.« Bischof Tenhumberg focht dies nicht an. Er verweigerte dem Religionslehrer dennoch seinen Segen zum Berufsstart. 39 Die evangelische Kirche steht den katholischen Glaubensbrüdern nicht nach. Ihr Bannstrahl erreichte Pfarrer wie den 38jährigen Wolf gang Hofmann an der Dachauer Friedenskirche, der sich vom selbstherrlichen Kirchenvorstand seiner Stadt nicht auch noch die Amtskleidung vorschreiben lassen wollte. Der Bann erreichte junge Geistliche wie Dr. Wolf Ollrog in Misburg bei Hannover, der in seinen Predigten die Problematik der Kernkraftwerke und die Notwendigkeit einer Hilfe für die Dritte Welt in den Vordergrund gestellt hatte. Der Fluch der Kirche ging sogar auf den 71jährigen Pfarrer i. R. Friedrich Hochgrebe aus Marburg-Michelbach hernieder, weil er in einer Wahlanzeige die CDU als Partei des »großen Geldes« gekennzeichnet hatte. Als der Pfarrer Helmut Ensslin, Vater der im Stammheimer Gefängnis gestorbenen RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, den Selbstmord seiner Tochter anzweifelte, wurde er umgehend zum Stuttgarter Oberkirchenrat zitiert und mit einem Disziplinarverfahren bedroht, bei dem der 68jährige Rentner die Streichung der Kirchen-Pension fürchten mußte. Was den Kirchen recht war, mochten auch die Gewerkschaften nicht missen. Die Arbeitnehmerorganisationen, die sich in der Vergangenheit als Vorkämpfer für Menschenrechte auch außerhalb der Fabrikhallen profiliert hatten, ließen die Kirchen und Behörden bei ihrer Treibjagd auf politische Minderheiten ungestört gewähren. Mehr noch: auch die Gewerkschaften übernahmen das Disziplinierungs-Instrument und entwickelten es sogar noch fort. Am 3. Oktober 1973 haben die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften einen politischen Unvereinbarkeitsbeschluß verkündet. Mitglieder der DKP, die durch systematische Sorge um besseres Kantinenessen, saubere Toiletten und niedrigere Bandgeschwindigkeiten in vielen Großbetrieben bei Betriebsratswahlen Mehrheiten errungen haben, waren davon nicht betroffen. Wohl aber wurde die Mitgliedschaft in »Extre men«, in K-Gruppen und sogenannten Sponti-Vereinigungen für mit der Gewerkschaftszugehörigkeit unvereinbar erklärt. Denn diese politischen Unorthodoxen gingen den gewerkschaftlichen Erbfürsten, jenen praktisch auf Lebenszeit abgestellten Betriebsratsvorsitzenden, die oft längst ein heimliches 40 Arrangement mit der Unternehmensleitung eingegangen sind, durch lästige Fragen und öffentliche Enthüllungen fortwährend auf die Nerven. Die Gewerkschaften begnügten sich allerdings nicht damit, die politisch Unliebsamen einfach aus ihrer Organisation auszuschließen. Die Gewerkschaftszeitung »Metall« veröffentlichte in Berlin die Namen und Adressen aller auf Grund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse aus der IG Metall ausgestoßenen Arbeiter. Es war eine komplette Denunziantenliste an die Personalabteilungen der Betriebe. Die Folge: fast allen diesen Arbeitern wurde gekündigt, zum Teil wurden sie sogar fristlos entlassen. Der Entlassungsgrund: »Gefährdung des Arbeitsfriedens«. Der Betriebsrat, fest in der Hand der Gewerkschaften, verzichtete auf Einspruch oder stimmte diesen Entlassungen sogar zu. Die Betroffenen waren machtlos. Denn mit dem Ausschluß aus der Gewerkschaft hatten sie auch den Rechtsschutz der Arbeitnehmerorganisationen verloren. Sie selbst hatten keine eigenen Mittel, um sich einen langen Rechtsstreit zu leisten. Ausgerechnet die DKP, Hauptbetroffener des staatlichen
Radikalenerlasses und nimmermü der Ankläger dieser Praxis an den Schulen, bei der Bahn oder der Post, verdingte sich bei den Gewerkschaften als Hauptdenunziant der konkurrierenden Linksaußen. Mit fe inem Gespür hören DKPler bei Diskussionen einen Maoisten heraus und zeigen ihn umgehend bei der Gewerkschaftsführung an. Wenn es sich um Studenten handelt, geben sie sogar dem Verfassungsschutz Tips. Bestärkt durch die Nachahmer in Bischofssitzen und Ge werkschaftshochhäusern, berauscht an den eigenen Erfahrungen der Macht, ging die Bürokratie in den Landesregierungen daran, den Radikalenerlaß weiterzuentwickeln. Jetzt sollten jene Institutionen wieder an die Kandare genommen werden, die sich in den letzten zehn Jahren allzu sehr verselbständigt hatten. Schulen und Universitäten wurden mit ministeriellen Auflagen eingedeckt. Das Land Baden-Württemberg zum Beispiel, das die »geistige Erneuerung in der Schule« im Jahr 1977 zum Schwerpunkt der Landespolitik gemacht hatte (so Ministerialdirigent Dr. Kielian aus Filbingers Staatsministerium in einem Fernschreiben), wies die Lehrer an, daß sie nur 41 vorab genehmigte Unterrichtsmaterialien - zum Beispiel Zeitungsartikel - benutzen dürften. Würden fotokopierte Einzeltexte verwendet, müßten diese vorher der Schulleitung zur Kontrolle vorgelegt werden. Die Schulbehörden sollten Eltern und Elternvertreter dazu anhalten, »Mißbräuche« der Lehrer anzuzeigen. Im Klartext: Die Eltern wurden aufgefordert, das Unterrichtsmaterial ihrer Kinder auf vermeintlich linkes »Schriftgut« durchzufilzen, um dann die Lehrer zu denunzieren. Der bayerische Kultusminister Hans Maier setzte Schulbücher auf die Index-Liste, die Texte von Fried und Wallraff enthielten. Nur durch öffentliche Protestaktionen konnte in Baden-Württemberg verhindert werden, daß in der Sekundarstufe der Gymnasien plötzlich rein fachlicher Unterricht in Mathematik, Physik oder Biologie auf Kosten von Fächern mit möglicherweise kritischen Inhalten wie Deutsch, Geschichte und Erdkunde verdoppelt werden sollte. Es ist fraglich, ob dieser Schulfachumbau aufgehoben oder nur aufgeschoben ist. Der Sozialkundeunterricht ist in Baden-Württembergs Schulen bereits zugunsten einer traditionellen Vermittlung von Daten historis cher Schlachten zurückgedrängt worden. Zur Disziplinierung der Universitäten bekamen die Landesregierungen mit dem neuen Hochschulrahmengesetz den geeigneten Knüppel. Studenten, die durch Demonstrationen oder Sit-ins den Lehrablauf auf dem Campus oder im Hörsaal stören, können nun von den Rektoren bestraft werden - mit Hausverbot oder Rausschmiß aus der Uni. Die Regelstudienzeit, die den Studenten nur noch durchschnittlich acht Seme ster einräumt, hat den Effekt einer scharfen Leistungssteigerung. Da bleibt keine Zeit mehr für politische Aktionen, für ein Engagement als Studentenvertreter oder auch nur für eine Reise ins Ausland. Schon zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht einer demokratischen Kooperation von Lehrenden und Lernenden an den Universitäten, wie sie in einigen Reform-Hochschulen seit 1968 geprobt worden war, ein Ende gesetzt. Die Verfassungshüter stellten die neue Norm auf, daß die Professoren in den Selbstverwaltungsgremien der Universität nicht überstimmt werden dürften. Aber auch die Schreibtischarbeit der Hochschullehrer 42 wurde reglementiert. Den Professoren der Universität Konstanz hat die Kultusbehörde zur Auflage gemacht, bei Auslandsgesprächen über DM 8,- eine schriftliche Begründung einzureichen. Den bislang harschesten Versuch einer Disziplinierung unbequemer Hochschullehrer hat sich das Kultusministerium von Niedersachsen geleistet. Mit Suspendierung, Disziplinarverfahren und Hausverbot hat Kultusminister Eduard Pestel an der Person des Psychologie-Professors Peter Brückner das Exempel statuiert, daß wissenschaftliche Arbeiten nur zu den vom Staat gewünschten Schlüssen kommen dürfen. In einer 70seitigen Broschüre »Die Mescalero-Affäre, ein Lehrstück für die Aufklärung und politische Kultur« hatte der eigenwillige Professor, gegen den schon einmal ermittelt worden war, weil er angeblich Ulrike Meinhof Unterschlupf gewährt habe, eine soziale und psychologische Analyse der Verfasser des Buback-Nachrufs (»klammheimliche Freude«) verfaßt. Er hatte sich dabei gegen die pauschale und undifferenzierte Verurteilung des Textes gewandt, aber mit keiner Zeile Partei genommen für Terror oder politischen Mord. Derselbe Minister Pestel verlangte auch von 13 niedersächsischen Hochschullehrern, unter ihnen wieder Brückner, eine schriftliche Unterwerfungserklärung, nachdem sie eine Doku mentation über den MescaleroArtikel herausgegeben hatten. Sie sollten in der Ich-Form ihre »besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat« bestätigen - damit war zum ersten Mal von Beamten nicht nur die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Treuepflicht gegenüber der Verfassung, sondern sozusagen gegenüber der CDU-Regierung von Niedersachsen postuliert worden. Elf der niedersächsischen Professoren, darunter nicht Brückner, unterzeichneten dieses Dokument. Die Mescalero-Dokumentationen hatten im übrigen auch Professoren aus Bremen und Berlin mit herausgegeben. Diese hatten in ihren Ländern keine disziplinarrechtlichen Auseinandersetzungen. Radikalenerlaß sowie die anderen Drohgebärden der Bürokratie taten die gewünschte Wirkung. Der Gießener Politologe Professor Heinz Josef Varain berichtet, daß in seinen Seminaren auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten vervielfältigte Referate ohne Namen der Verfasser
43 verteilt worden seien - ausgerechnet bei dem Thema »Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegen die Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts«. Die gleiche Erfahrung hat der Politologe Gilbert Ziebura in Konstanz machen müssen. Einer seiner Studenten, der Lehrer werden wollte, hatte sich als Thema seiner Arbeit für die Staatsexamenszulassung die »Spanische Kommunistische Partei« ausgesucht. Während er sich in den Stoff vertiefte, kamen ihm Bedenken, da die Arbeit zum staatlichen Prüfungsamt geht. Er bat Professor Ziebura um ein neues, unverfänglicheres Thema. Das gleiche Bild in Berlin. Der Politologe Wolf-Dieter Narr wird von seinen Studenten dort immer wieder gefragt, ob es opportun sei, kritische analytische Aussagen etwa über den Kapitalismus oder das Thema Polizei und Sicherheit zu machen. Um den Studenten die Angst zu nehmen, hat sein Kollege Ziebura inzwischen ein Filtrierverfahren entwickelt: Vor der Staatsexamens-Prüfung versammelt er seine Studenten und sortiert mit ihnen gemeinsam jene angelernten Wissenselemente über Faschismus oder historischen Materialismus aus, von denen er annimmt, daß sie den staatlichen Prüfern als »Ideologie« mißfallen könnten. Da erfahrungsgemäß eines der beliebtesten Prüfungsthemen die Entstehung zweier deutscher Staaten nach Kriegsende ist, schärft er seinen Schülern ein, nichts mehr darüber zu sagen, daß die Amerikaner in den ersten Nachkriegsjahren westdeutsche Sozialisierungstendenzen unterdrückten und eine Rekonstruktion des Kapitalismus nach US-Muster durchsetzten. Nichts kennzeichnet den Verfall des geistigen Klimas in der Bundesrepublik besser als die in Mode gekommenen Schlagwörter. »Wehrhafte Demokratie« ist der ideologische Knüppel gegen Kritiker einer allzu großen Aufrüstung des Staates, »Solidarität der Demokraten« wird als Mauer gegenüber allen Gruppierungen hochgezogen, die links von FDP oder SPD stehen könnten. Schritt für Schritt erstarrt die Nachkriegsrepublik zu einem nur noch formalen Rechtsstaat, zu einer Demokratie ohne Demokraten. Die Meilensteine auf diesem Weg sind die Gesetze, die der Bundestag in den letzten Jahren zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet hat. Schwerpunkte: 44 • Beschneidung der Rechte von Angeklagten und Verteidigern. Dazu gehören das Kontaktsperre-Gesetz; das Gesetz über den Ausschluß von Verteidigern; die Überwachung des schriftlichen Verkehrs zwischen Verteidigern und Mandanten, ilic Trennscheibe zwischen Verteidigern und Angeklagten; die Möglichkeit des Gerichts, auch in Abwesenheit der Angeklagten zu verhandeln; die Einschränkung von Beweisanträgen; die Inhaftierung von Personen, die unter dem Verdacht stehen, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder sie zu unterstützen, auch wenn keine Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. • Ideologische Abwehr. Die wichtigste Rolle spielt der neue Zensur-Paragraph 88a des Strafgesetzbuchs, der die »verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten« mit Gefängnis bedroht. Dazu gehört weiter die von der CDU gewünschte Verschärfung des Demonstrationsrechts, das erst 1970 entschärft worden war. Unter dem Stichwort »Landfriedensbruch« wollen die Christdemokraten auch Mitläufer einer Demonstration, bei der es plötzlich zu Ausschreitungen kommt, strafrechtlich belangen. Gemeinsam wollen Bund und Länder die Polizeigewalt ausweiten. Das Razziengesetz berechtigt die Polizei künftig dazu, bei Großfahndungen Straßenkontrollstellen einzurichten (bisher waren nur Verkehrskontrollen möglich). Ferner erhält die Polizei die Ermächtigung zur Durchsuchung von ganzen Gebäudekomplexen; sie ist bei Identitätskontrollen befugt, Personen ohne Ausweis 12 Stunden in Gewahrsam zu nehmen, sie zu durchsuchen und erkennungsdienstlich zu behandeln (Lichtbildaufnahmen, Fingerabdrücke). Die Innenminister der Länder einigten sich auf den Musterentwurf eines Polizeigesetzes, das den gezielten tödlichen Schuß auf Befehl zuläßt. Bisher durfte nur in Notwehr ein gezielter Todesschuß abgegeben werden, was viele Polizeibeamte abschreckte, weil sie eine Strafverfolgung fürchten mußten. Ferner soll die Polizei verstärkt mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet werden. Außerdem schufen die Landesinnenminister für die ihnen unterstellten Verfassungsschützer ein weitreichendes Recht. Auf 130 Gesetze, Gesetzesänderungen, Verordnungen und 45 Erlasse summieren sich die bislang beschlossenen Maßnahmen zum Ausbau der inneren Sicherheit. In der ständig steigenden Paragraphenflut sieht der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann, einst engster Berater des liberalen Justizministers Gustav Heinemann (SPD), »mehr oder weniger überflüssige Beschwichtigungsgesetze«. Eine Bestätigung seiner Einschätzung haben die Landesinnenminister in ihrer Vorbemerkung zum »Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland« vom Februar 1974 geliefert. Darin heißt es: »Das Anwachsen der Kriminalität und die Brutalisierung politischer Ausdrucksformen extremer Gruppierungen haben mancherorts Zweifel an der Fähigkeit des demokratischen Staates
entstehen lassen, mit den Gefahren fertig zu werden. Die Feststellung, daß die Befürchtungen - nüchtern betrachtet - vielfach übertrieben sind, ändert nichts daran. Der Bürger erwartet von den Verantwortlichen klare Aussagen, wie dem Problem begegnet werden soll. Er erwartet auch, daß die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden.« Doch selbst dieses gewaltige Gesetzes-Arsenal war den staatlichen Terrorismus-Bekämpfern noch nicht genug. Von keinem Gesetz gestützt, brach der BND in das Privathaus des Atomwissenschaftlers Klaus Traube ein und montierte ein Abhörmikrofon - gedeckt von Ex-Bundesinnenminister Werner Maihofer. Traube stand im Verdacht, Verbindung zu dem RAF-Terroristen Hans-Joachim Klein zu haben, dem mutmaßlichen Anführer des OPEC-Überfalls in Wien. Genauso ließ auch der damalige Stuttgarter Innenminister Schieß Gespräche zwischen Verteidigern und RAFAngeklagten im Stammheimer Gefängnis belauschen. Beide Minister beriefen sich auf den Paragraphen 34 des Strafgesetzbuchs, der den »übergesetzlichen Notstand« regelt. Beide verkehrten den Paragraphen damit in sein genaues Gegenteil. Der Paragraph 34 hat eine Schutzfunktion gegenüber einzelnen Personen, die, etwa um ein Menschenleben zu retten, Verkehrsregeln durchbrechen und bei Rot über die Kreuzung fahren, ohne dafür bestraft werden zu können. Mit übergesetzlichem Notstand war bestenfalls noch zu rechtfertigen, daß zur Rettung des entführten Berliner CDU-Bürgermeisters 46 Peter Lorenz fünf einsitzende RAF-Häftlinge freigelassen wurden. In keinem Fall aber darf der Staat sich auf den übergesetzlichen Notstand berufen, um die Freiheitsräume der Bürger einzuschränken. Denn es ist gerade das Wesen eines Rechtsstaats, daß die Staatsgewalt durch bestimmte Rechtsnormen begrenzt wird. In der Debatte um die Notstandsgesetze Ende der sechziger Jahre war die Notwendigkeit für das umfängliche Paragraphen-Werk ausdrücklich damit begründet worden, daß man den Ausnahmezustand durch genaue Vorschriften legalisieren müsse, damit niemand sich in einer Ausnahmesituation auf den übergesetzlichen Notstand berufen könne. »Vollkommen unmöglich«, sagt der Staatsrechtler Hans-Peter Schneider, »daß der Staat daraus jetzt eine Handlungsvollmacht ableitet.« Welche Weiterungen sich aus einer solchen Verbiegung des Rechtsdenkens ergeben könnten, deutete sich zur Zeit der Entführung Hanns-Martin Schleyers an. In Denkmodellen, die eine Kommission des Bundeskanzleramts und des Justizministeriums ausarbeitete, wurde unter anderem vorgeschlagen, die einsitzenden Terroristen mit Psychopharmaka zu he handeln, um Aussagen über den möglichen Verbleib der prominenten Geisel zu bekommen. Von da bis zur Folter, die man als übergesetzlichen Notstand rechtfertigt, ist es nur noch ein kurzer Schritt. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hat ihn bereits vorgedacht. In der Erstauflage seines Buches »Der Staat - Idee und Wirklichkeit« hatte Albrecht dem Staat das Recht zugestanden, »gegen das Verbot grausamer, unmenschlicher Behandlung und insbesondere der Folter zu verstoßen«. Weiter: »Es kann sittlich geboten sein, eine Information durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein namenloses Verbrechen zu verhindern.« Den Weg zu dieser Perversion des Rechtsdenkens hat allerdings schon der 5. Deutsche Bundestag geebnet, der im Jahre 1968 dem Grundgesetz den Artikel 20 Absatz vier hinzufügte: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese (verfassungsmäßige) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich 47 ist.« Der Rechtsausschuß hat im Protokoll seiner Beratungen dabei ausdrücklich festgelegt, daß auch staatliche Organe dieses Widerstandsrecht reklamieren könnten. In der Ausschuß-Interpretation, niedergeschrieben in der Bundestags-Drucksache V/2873, heißt es wörtlich: »Das Widerstandsrecht ist gegeben bei Bestrebungen, die darauf hinzielen, diese Verfassungsgrundsätze zu beseitigen. Es macht keinen Unterschied, ob die Bestrebungen unter Mißbrauch oder Anmaßung staatlicher Machtbefugnisse (Staatsstreich »von oben«) oder durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich (Staatsstreich »von unten«) erfolgen.« Die Parlamentarier ließen sich in ihrer Fleißarbeit auch dann nicht beirren, als offenkundig wurde, daß nicht mehr Gesetze, sondern weniger Pannen größere Erfolge im Kampf gegen den Terror eingebracht hätten. Just an dem Tag, an dem sich herausstellte, daß ein wichtiger Fahndungshinweis auf das Verlies von Hanns-Martin Schleyer im Kompetenzwirrwarr zwischen örtlicher Polizei, Landespolizei, BKA, Düsseldorfer und Bonner Bürokratie verlorengegangen war, wurde in Bonn das Kontaktsperre-Gesetz verabschiedet. Und um beim weiteren Paragraphenschmieden ungestört zu bleiben, wurden andere Pannen der Öffentlichkeit sorgsam verschwiegen. So mußte auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses Ende April 1978 der Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, zugeben, daß allein in den sechs Monaten seit dem i. Dezember 1977 aus Landratsämtern, Bürgermeistereien und Einwohnermeldeämtern 453 Bundespersonalausweise, 266 Reisepässe und 2012 Führerscheine - alles Blanko-Formulare - gestohlen worden seien. Dies konnte passieren, obwohl auf einer Innenministerkonferenz genaue Erlasse beschlossen worden waren, daß derartige Blanko-Formulare nur in Safes und durch Alarmsysteme gesichert aufbewahrt werden dürften.
Herold räumte vor den Abgeordneten ein, daß »ungenügende Aufbewahrung« die Diebstähle ermöglicht habe. He rold: »Das geschieht trotz vorhandener Richtlinien und Absprachen.« Der damals noch amtierende Bundesinnenminister Werner Maihofer, sonst nicht pingelig bei gesetzwidrigen Aktionen gegen Bundesbürger, mochte gegen solche Behördenschlampereien 48 nicht aktiv werden: »Die Innenminister können die Einwohnermeldebehörden ja weithin gar nicht kommandieren. Die Länder können nicht mehr tun, als strikte Anweisung zu geben. Ich kann doch keine Grenzschutzbeamten vor die Einwohnermeldeämter stellen oder alle Maßnahmen im Länderbereich treffen. Zu mehr können wir doch von der Innenministerkonferenz nicht kommen; denn dafür sind wir in diesem Bereich nicht zuständig.« Nur intern wurde auch eine weitere Panne eingestanden, die den Terroristen für ihre nächste Aktion möglicherweise einen unschätzbaren Vorteil sichert: In Bonn-Bad Godesberg, dem Zweitsitz des Bundeskriminalamts und dem Standort der Sicherungsgruppe Bonn, wurde ein sogenanntes Ampel-Fahrzeug gestohlen. Seine Ladung bestand aus mobilen Ampeln, mit denen Straßen gesperrt werden können. Vor den Abgeordneten drückte BKA Präsident Herold seine Hoffnung aus, daß der Diebstahl dieses »Ampel-Fahrzeugs« nicht der »terroristischen Szene zuzurechnen ist, sondern einen Akt allgemeiner Kriminalität darstellt«. Daß die Restauration in der Bundesrepublik ausgerechnet unter sozialdemokratischen Kanzlern voll durchschlagen konnte, liegt an dem gebrochenen Rückgrat dieser Partei. Von ihrer geschichtlichen Erfahrung her - Sozialisten-Gesetz unter Bismarck (Paragraph eins: »Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Be strebungen den Umsturz der bestehenden Staats - und Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten«) und Verfolgung unter Hitler - wären die Sozialdemokraten eigentlich dazu prädestiniert, Vorkämpfer gegen eine Übermacht staatlicher Exekutivgewalt zu sein, erst recht in einer Koalition mit den auf ihr liberales Rechtsbewußtsein pochenden Freidemo kraten. Aber die Sozialdemokraten leiden seit jeher unter dem Trauma, an den Rand des Staates gedrängt zu werden - ob sie nun in der Kaiserzeit als »vaterlandslose Gesellen« diffamiert wurden, oder ob Konrad Adenauer sagte: »Die SPD ist der Untergang Deutschlands«, oder ob jetzt Franz Josef Strauß die Parole ausgab: »Die SPD betreibt mit ihrer Ostpolitik den Ausverkauf Deutschlands.« Das sozialdemo kratische Rechtfertigungsbedürfnis bestimmte die Handlungen 49 der Partei. Sie stimmte während des Ersten Weltkrieges den Kriegskrediten zu (Fraktionsführer David 1915: »In der Stunde der Not zeigt sich, daß Deutschlands ärmster Sohn auch sein treuester ist«); sie ließ unter Ebert in der Weimarer Republik die Reichswehr gegen revolutionäre Arbeiter im Ruhrgebiet und in Sachsen schießen; unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt wollte sie beweisen, daß sie trotz ihrer Ostpolitik keine »Aufweichung im Innern der Bundesrepublik« dulden würde. Bei dem Bestreben, die konservative NegativPropaganda zu widerlegen und sich vom Ruf des »unsicheren Kantonisten« zu befreien, überrundeten die Sozialdemokraten die Konservativen mühelos und scheuten selbst vor ans Lächerliche reichenden Aktionen nicht zurück. Als die sozialdemokratische Führungstroika Willy Brandt, Fritz Erler und Herbert Wehner zum ersten Mal vom damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke empfangen wurde, erschienen alle drei im Frack) Als Axel Springers »Bild« 1965 in einem kritischen Kommentar über den Vietnam-Krieg der Amerikaner schrieb, man könne dort nicht die Selbstbestimmung verleugnen und sie für die Deutschen in der DDR fordern, protestierte Fritz Erler beim Verleger Springer, man müsse »ein Stück Solidarität mit den Hauptsorgen der Verbündeten« bekunden: »Ich halte es für schrecklich, wenn dort in schärfster Tonart der letzte Rest von Vertrauen zu unserem Volk bei unseren Verbündeten zerstört wird.« Als der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in seiner Festrede die Deutschen ermahnte: »Es scheint mir, daß in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Grundrechte gegen den Staat«, schickte der sozialdemokratische Altbürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, einen Protestbrief an Grosser: »Meine Besorgnisse gelten Ihrer kritischen Bewertung, wenn nicht Abwertung des aktuellen Rufs nach Recht und Ordnung.« Die vier sozialdemokratischen Abgeordneten unter Wortführung des schriftstellernden Parlamentariers Dieter Lattmann, die den Widerstand gegen den Zensur-Paragraphen 50 88a und gegen die Verabschiedung des Kontaktsperre-Gesetzes wagten (Lattmann: »Wir haben keinen Mangel an Gesetzen, sondern einen Mangel an Demokraten«), wurden jetzt von der eigenen Parteiführung als so etwas wie s »vaterlandslose Gesellen« hingestellt. Herbert Wehner im Bundestag: »Die große Mehrheit der Fraktion weiß, was sie der Bundesrepublik Deutschland, unserem Gemeinwesen, schuldig ist.« Kanzler Helmut Schmidt auf einer öffentlichen Versammlung: »Die vier Abgeordneten gefährden die Regierung.«
Damit nicht genug: Fraktionskollegen versuchten die vier Abweichler in ihren Wahlkreisen madig zu machen. So wurde in Lattmanns Wahlkreis kolportiert, er habe sein demonstratives Nein nur aus Publicity-Gründen formuliert, weil er sowieso das Parlament verlasse und vom »Spiegel« unter Vertrag genommen sei. Der einstige SPD-Linke Karsten Voigt schwärzte den Dissidenten Manfred Coppik bei der »Frankfurter Rundschau« an: Coppik sei in Ausschüssen des Parlaments arbeitsscheu und gebe statt dessen lieber große Interviews. Der tatsächliche Hintergrund: Um nicht mit seiner eigenen ablehnenden Haltung in Konflikt zu kommen, hatte Coppik nicht an einer Sitzung des Rechtsausschusses über das Kontaktsperre-Gesetz teilgenommen, in der er als Vertreter der SPD-Fraktion, die das Gesetz bejahte, hätte auftreten müssen. Die vier Widerständler, die als einzige der 518 Abgeordneten des Parlaments ihren Sinn für rechtsstaatliche Integrität bewahrt hatten, gerieten letztlich zu tragikomischen Figuren. Denn um noch schärfere Gesetzentwürfe der CDU/CSU zu verhindern, waren sie gezwungen, im Endeffekt doch für das Gesetz zu stimmen, das sie erst bekämpft hatten. Ihre Hoffnung, daß sich einige CDU-Linke ihrem Widerstand anschließen und auf diese Weise das Thema aus dem parteitaktischen Machtgerangel herausziehen würden, erfüllte sich nicht. Potentielle Partner wie die Liberal-Konservativen Norbert Blü m oder Richard von Weizsäcker blieben opportunistisch in Deckung: Sie wollten erst abwarten, ob nicht doch über den Mißbrauch des Terroristen-Problems als Mittel der totalen Konfrontation ein Regierungswechsel zu bewerkstelligen wäre. 51 Nicht nur im Bonner Parlament, im gesamten Bundesgebiet ging die Sozialdemokratie auf Kollisionskurs mit der Freiheit des Bürgers. Diese Überidentifikation mit dem Staat rührte jedoch nicht nur aus einem über ein Jahrhundert angestauten Bekenntnisdruck her, sie war zum großen Teil auch ein Reflex der gewandelten Mitgliederstruktur der SPD. Viele ihrer Funktionäre sitzen inzwischen in den Amtssesseln von Rathäusern, Landratsämtern oder Bundesministerien - und wenn nicht, dann streben sie zumindest an, öffentliche Be dienstete zu werden. Sie sind sofort bereit, jede Kritik an diesem Staat als Kritik an ihrer Partei aufzufassen und abzuwehren. Hinzu kommt: Seit jeher hatten die Sozialdemokraten zum Recht ein eher instrumentelles und technisches Verhältnis. So wie sie 1919 geglaubt hatten, die Restbestände des Feudalis mus mit einem Gesetz über die Fürstenenteignung beseitigen zu können, so meinten sie nun, mit neuen Gesetzen und neuen Planstellen für Verfassungsschutz und Polizei des Terrorismus Herr zu werden. Der Prototyp des technokratischen Reformers, der Recht als Instrument, nicht als Kernstück individueller Freiheit begreift, ist BKA-Chef Horst Herold. Dieser Mann, der auf der einen Seite sicher bereit wäre, für die soziale Besserstellung der Arbeitnehmer zu kämpfen, träumt auf der anderen Seite vom perfekten Apparat, der das Verbrechen schon im Ansatz orten und ausmerzen kann. Wie die CDU-regierten Länder der Bundesrepublik das ideologische Fundament der Restauration gießen, so basteln die sozialdemokratisch regierten Staaten an den instrumentellen Voraussetzungen für den Abbau der persönlichen Freiheitsrechte. Ihre Polizeitruppen sind am besten organisiert, sie haben die teuerste Ausrüstung, sie sind auch zahlenmäßig die stärkste Truppe. Der Verfassungsschutz des flächenmäßig kleinen Stadtstaates Hamburg mit 1,7 Millionen Einwohnern ist genau so groß wie der Baden-Württembergs mit 9,2 Millionen Bewohnern. Die Unionsparteien erkannten das Rechtfertigungsbedürfnis der Sozialdemokraten und nutzten es nach Kräften für ihre Zwecke aus. Im Bonner Parlament entwickelte sich ein festes Ritual: CDU/CSU bringen über die Fraktion im Bundestag oder über ihre Landesregierungen im 52 Bundesrat unter dem Stichwort »Terrorismusbekämpfung« extrem weitreichende Forderungen für den Ausbau staatlicher Gewalt und staatlicher Bevormundung ein. Sie begleiten dies mit heftigen Vorwürfen gegen die Regierungskoalition, sie tue zu wenig für den Schutz der Bürger. Resultat: Die Regie rungsparteien ziehen mit etwas abgemilderten Vorschlägen nach, ohne sich jedoch vom Vorwurf der Laschheit befreien zu können. So erreichen die Unionsparteien mit ihrem Verlangen nach einer totalen Überwachung der Gespräche, zwischen Verteidigern und Angeklagten (also auch der mündlichen) zumindest die Zensur des schriftlichen Verkehrs zwischen Anwalt und Mandanten. Mit der Forderung nach Sicherungsverwahrung wurde das Kontaktsperregesetz durchgedrückt. Die nächste Runde zeichnet sich schon ab: Da gibt es - entstanden aus dem umstrittenen BubackNachruf - den Vorschlag der CDU/CSU, das Strafantragsrecht von Dienstvorgesetzten zu verbessern, wenn Verstorbene verunglimpft werden. Da präsentierte die CSU im »Bayern-Kurier« die Idee, daß alle Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens die freiheitliche Grundordnung und die Grundrechte verteidigen müßten. C, Wertvollster Helfer der Reaktion sind die Terroristen. Sie liefern die Rechtfertigung für immer neue Gesetze, immer neue Stellenbewilligungen der Polizei, des Verfassungsschutzes, der Nachrichtendienste und des Grenzschutzes. Sie liefern das Alibi für eine immer stärkere Disziplinierung linker Minderheiten. Waren es nicht als erste die RAF-Banditen, die mit der Maschinenpistole Berufsverbote einführten, die Todesstrafen vollstreckten und ihre Gefangenen in Isolationsfolter steckten? Seit nunmehr sechs Jahren, seit dem Massaker in
München 1972, drehen sich Terrorismus und Antiterrorismus im Teufelskreis. »Wir werden euch entlarven«, sagten die bei der Lorenz-Entführung freigepreßten Terroristen auf ihrem Flug nach Aden zu dem sie als Geisel begleitenden Pfarrer Heinrich Albertz, »wir werden euch als Polizeistaat entlarven.« Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Von Andreas Baader stammt der Spruch: »Wir müssen die faschistoide Fratze dieses Staates herausbomben.« Die Bomben haben ihre Wirkung getan. Da wird ein Prozeß 53 gegen den schwerverletzten, aber angeblich verhandlungsfähigen Terroristen Günter Sonnenberg geführt, der einen Kopfschuß bekommen hatte, von dem noch immer vier Splitter im Gehirn stecken -(Während im Düsseldorfer Prozeß gegen die Aufseher im KZ Majdanek, in dem 250 000 Menschen ermordet worden sind, die Angeklagten am Ende jedes Verhandlungstages nach Haus gehen dürfen. Da sprachen sich in einer EmnidUmfrage 67 Prozent der Bevölkerung für die Todesstrafe »bei Morden im Zusammenhang mit Terroranschlägen« aus, nur 32 Prozent waren dagegen. Da machte sich die auf scharfen Rechtskurs gegangene »Frankfurter Allgemeine Zeitung« zum Wortführer der Rufe nach dem Henker: »Es werden bald alle manches denken müssen, was sie bisher hartnäckig aus ihren Gedanken fernhielten«, und veröffentlichte einschlägige Leserbriefe unter der Überschrift: »Tote Mörder können den Staat nicht erpressen«. Da druckte die bislang stets freiheitlich gesinnte »Stuttgarter Zeitung« die Zuschrift einer Leserin aus Sindelfingen ab: »Lieber Faschismus als Terrorismus«. Da verhinderten zwei Stadträte im baden-württembergischen Gerlingen eine Dichterlesung der kritisch-christlichen Schriftstellerin Luise Rinser und erhielten darauf von der Landesregierung aus Stuttgart ein Dankesschreiben: »Über die von Ihnen bewiesene Zivilcourage hat sich der Herr Ministerpräsident gefreut.« Da wurde der jüdische Schriftsteller Edgar Hilsenrath in Kamen und in Bönen von NPD-Angehörigen mit Drohungen und Krawall daran gehindert, aus seinem Roman »Der Nazi und der Frisör«, einer bitteren Satire auf die NS-Judenverfolgung, zu lesen. (Da konnte ein Franz Josef Strauß sagen: »Ein Volk, das diese wirtschaftliche Leistung erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.« Da wurde schließlich der NS-Scherge Leo Patina, dem der Mord an 10 polnischen Häftlingen zur Last gelegt wurde, mit 15 Monaten Gefängnis bestraft (unter Anrechnung von u Monaten Untersuchungshaft) -während bei den ersten Verfahren um die Krawalle gegen das Atomkraftwerk Grohnde ein Demonstrant 22 Monate Ge fängnis ohne Bewährung erhielt. Vergebens versuchte Pfarrer Albertz nach der Rückkehr vom nahöstlichen Geiselflug ein Plädoyer für mehr Toleranz, 54 um die Eskalation von anarchistischer Gewalt und staatlicher Repression zu durchbrechen. Umsonst warnte er den Berliner Bürgermeister davor, daß der Staat mit seiner Politik den Terroristen die Sympathisanten geradezu in die Arme treibe. Andere Jugendliche gehen nicht den Weg der Gewalt, sie flüchten vor dem verhaßten System ins politische Nirwana: Ob auf Landkommunen, ob mit Drogen, ob als Mitglieder der neuen Tunix-Bewegung oder durch den Eintritt in eine der autoritären K-Gruppen (die den individuellen Terror ablehnen), ob durch Alkoholkonsum - es ist im Grunde die gleiche Verweigerungshaltung einer perspektivlosen, eingeschüchterten Jugend. Zu spät erkannten die Sozialdemokraten, daß die Lawine an Erlassen, Gesetzen und Verordnungen, die sie selbst losgetreten hatten, auch die Freiheit der eigenen Partei und ihrer Mitglieder bis hinauf zum Parteivorsitzenden zu verschütten drohte. Auf der vom Radikalenerlaß vorgezeichneten Linie versuchten CDU und CSU, mit ihrem Wahlslogan »Freiheit statt Sozialismus« die gesamte SPD in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu rücken. Das bayerische Kultusministerium lehnte den Lehramtsbewerber Edgar Vögel, Mitglied der SPD und des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) unter anderem mit der Begründung ab: »Der SHB München propagiert uneingeschränkt ... den Orientierungsrahmen 85 (OR 85).« Dieser Orientierungsrahmen ist das offizielle Perspektivprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Und der »Bayern-Kurier« führte vor, wie rasch selbst Willy Brandt hinter den »Eisernen Vorhang« katapultiert werden kann. Brandt, so schrieb das CSU-Organ, habe die Darstellung als unwahr zurückgewiesen, er sei Kommunist gewesen. Original-Ton »Bayern-Kurier«: »Legt man den Begriff Kommunist in dem engen Sinne aus, daß damit nur ein Mitglied einer kommunistischen Partei bezeichnet werden darf, dann hat Brandt in der Tat recht. Andererseits dürfte es ihm aber schwerfallen nachzuweisen, daß er kein Helfer des Kommunismus war.« Die Kultusministerin von Rheinland-Pfalz, Hanna Laurien, verteilte einen Artikel des Mainzer Hochschullehrers und Politologen Hans Buchheim, in dem die These vertreten wird, daß Sozialismus und 55 Freiheit einander ausschließen, daß jeder, der für den Sozia lismus eintritt, im Grunde ein Verfassungsfeind sei. Zitat: »... sofern der Sozialismus sich als politische Richtung ernst nimmt, weist er ... Merkmale auf, die mit dem Konzept des modernen Verfassungsstaats nicht vereinbar sind.«
Die Formeln, die das Denken und Handeln der CDU/CSU inzwischen bestimmen, werden erkennbar. Auf der einen Seite ist für sie die Verfassung mit der herrschenden Wirtschaftsordnung identisch - so wird in der Begründung des Ablehnungsbescheids von Edgar Vögel ausdrücklich auf jene Passagen des SHB-GrundsatzProgramms hingewiesen, die das »gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln«, »die fortschreitende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse«, die »ständige Vervollkommnung der Planung der wirtschaftlichen, sozialen und kulture llen Entwicklung auf demokratischer Basis« zum Ziel haben. (Auszug aus den noch gültigen Grundgesetzartikeln 14 und 15: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«; »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, im Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«) Auf der anderen Seite werden Sozialismus mit Anarchie und Verfassungsfeindlichkeit gleichgesetzt. Der Vorwurf des ersten Nachkriegsführers der SPD, Kurt Schumacher, die CDU/CSU strebe einen »autoritären Besitzverteidigungsstaat« an, hat nach 30 Jahren neue Aktualität erhalten. Kurt Schumachers Nachfahre Willy Brandt sieht sich inzwischen in der Rolle des Hexenmeisters, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Als der SPD-Vorsitzende jetzt den Extremisten-Beschluß als »hinfällig« bezeichnete und für Überprüfungen von Bewerbern nur noch in sicherheitsrele vanten Bereichen plädierte, als sein Bundesgeschäftsführer Egon Bahr sagte, der Radikalenerlaß gehöre »auf den Müllhaufen«, ging eine Welle der Empörung durchs konservative Lager. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht warf Brandt einen »Kotau vor der Linken« vor. Der »Bayern -Kurier« sprach gleich von einem »Verstoß gegen das
Grundgesetz«. Der innen- und rechtspolitische Sprecher der Bonner Unionsfraktion, Heinz Eyrich, sagte: »Dieser Vorschlag Brandts ist politisch gefährlich und verstößt gegen die Verfassung.« Sogleich knüpfte die Unionsfraktion an die alte Praxis Konrad Adenauers an, die SPD als Handlanger des Kommu nismus hinzustellen. Zitat aus der »Augsburger Allgemeinen« vom 26. April 1978: »Unterdessen hat die CDU/CSU die Vermutung geäußert, zwischen den Äußerungen von Brandt und Bahr zu Fragen der Fernhaltung von Verfassungsfeinden vom öffentlichen Dienst und dem bevorstehenden Besuch des sowjetischen Staats - und Parteisekretärs Breschnew in Bonn bestehe ein Zusammenhang. Der innenpolitische Sprecher der UnionsFraktion, Eyrich, erklärte, dies wecke fatale Erinnerungen an frühere Avancen des gleichen Gespanns gegenüber Breschnew.« In ihrem Bemühen, die Umwandlung der Bundesrepublik vom freiheitlichen Verfassungsstaat zum autoritären Maßnahmestaat voranzutreiben, haben die Christdemokraten einen mächtigen Verbündeten gewonnen. Die Verfassungsrichter in Karlsruhe begreifen sich zunehmend als Machtfaktor, der anderen Instanzen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Sie bringen damit das labile Gleichgewicht der Verfassungskräfte in der Bundesrepublik durcheinander. Dabei waren die Richter in der roten Robe in den frühen Jahren der Bundesrepublik durchaus Wahrer und Verteidiger der in der Verfassung garantierten Grundrechte. Im Jahre 1958 zum Beispiel sicherte das Karlsruher Gericht den Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth, der zu einem Boykott der Filme des Nazi-Starregisseurs Veit Harlan aufgerufen hatte, gegen eine Klage der Filmgesellschaft ab, die ihre wirtschaftlichen Interessen geschädigt sah. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung: »Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ... Für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung ist das Grundrecht der freien Meinungsäußerung schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinung, der ihr Lebenselement ist.« Und: »Wenn es darum geht, daß 57 sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und namentlich wirtschaftliche Interessen einzelner zurücktreten.« An den Karlsruher Verfassungsrichtern scheiterte 1961 auch Adenauers Griff nach dem Fernsehen. Als Gesellschaft mit beschränkter Haftung wollte der christdemokratische Nachkriegskanzler eine von seiner Regierung kontrollierte Fernsehgesellschaft, die »Deutschland Fernsehen GmbH« gründen. Alleiniger Gesellschafter sollte die Bundesrepublik Deutschland sein, vertreten durch den Bundeskanzler. Die Bundesverfassungsrichter stoppten dieses Projekt, das in der Öffentlichkeit bereits »Adenauer-Fernsehen« hieß, als Verstoß gegen das Grundgesetz, insbesondere als Verstoß gegen Artikel 5 der Verfassung, der die Meinungsund Informa tionsfreiheit sichert und festlegt: »Eine Zensur findet nicht statt.« Die Richter damals in ihrer Urteilsbegründung: »Die ser Verfassungsgarantie widerspräche es, die Presse oder einen Teil von ihr unmittelbar oder mittelbar von Staats wegen zu reglementieren oder zu steuern.« Elf Jahre später - das Schlagwort von der »streitbaren Demokratie« war inzwischen in Mode gekommen demolierten die Verfassungsrichter selber den Schutzzaun, den sie um den Grundgesetzartikel 5 gezogen hatten. Als die Karlsruher Richter über einen Streit um die Aufführung des DDR-Films »Der lachende Mann« in der Bundesrepublik zu entscheiden hatten, kamen sie am 25. April 1972 zu dem Ergebnis: »Wägt man die
Erfordernisse wirksamen Staatsschutzes und das Gewicht des Grundrechts aus Artikel 5 gegeneinander ab, so muß ein Verbringungsverbot von Filmen, die diese Merkmale aufweisen (Propaganda gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung) als gerechtfertigt angesehen werden.« Und: »Auch diese Grundrechte (müssen) gegenüber einer Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung zurücktreten«. Vergeblich warnten damals die Verfassungsrichterin Wiltraud Rupp von Brünneck und Dr. Helmut Simon in einem Minderheitenvotum: »Ein freiheitlicher, demokratischer Staat, der in enger Nachbarschaft zu totalitär regierten, auf einer anderen Gesellschaftsauffassung bestehenden Staaten 58 lebt, kann seine eigenständige Ordnung nicht wirksam verteidigen, indem er Augen und Ohren seiner Bürger vor den von draußen kommenden Informationen und Einflüssen verschließt. Sein Weiterbestand beruht vielmehr primär darauf, daß die als mündig vorausgesetzten Bürger in der Lage und willens sind, in offener Auseinandersetzung mit solchen Informationen und Einflüssen ihren Staat in seiner freiheitlichen Struktur zu schützen.« Auf dem einmal eingeschlagenen Rückweg in den autoritären Staat blieb das Bundesverfassungsgericht auch in einem anderen Fall. Ein Unteroffizier der Bundeswehr hatte bei einer Diskussion in der Schreibstube gegenüber Kameraden erklärt, in Deutschland könne man nicht frei seine Meinung äußern. Als daraus ein Rechtsstreit zwischen Soldat und Staat entstand, entschied schließlich das Verfassungsgericht: »Ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie begründetes Gemeinwesen kann es nicht dulden, daß seine freiheitliche Ordnung bei politischen Diskussionen innerhalb der Truppe und während des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt wird.« Und weiter hieß es in dem Urteilsspruch: »Mit der provozierenden Behauptung, in der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitlichdemokratische Ordnung.« Die Richter störte es wenig, daß sie mit diesen Urteilssätzen dem Soldaten den Beweis für die Richtigkeit seiner Meinung lieferten. Vor den Karlsruher Urteilssprüchen waren nun auch nicht einmal mehr die unumstößlichen, die Freiheit der Bürger garantierenden Grundrechte der Verfassung sicher, die durch den Bundestag selbst mit ZweidrittelMehrheit nicht geändert werden dürfen. In seinem »Abhörurteil« vom 15. Dezember 1970 entschied das Bundesverfassungsgericht: »System-immanente Modifikationen der Grundprinzipien unserer Verfassung« durch Verfassungsänderung oder Einzelgesetze seien durchaus möglich. Dazu Staatsrechtsprofessor Hans-Peter Schneider: »Hier ermöglicht die Rechtsprechung den Abbau entscheidender Barrieren, die die Väter des Grundgesetzes zum Freiheitsschutz des einzelnen Bürgers bewußt in unserer Verfassung verankerten.« 59 In weiteren Urteilen verteidigte das Verfassungsgericht die Bewußtseinsstruktur der fünfziger Jahre, indem es gegen die Enttabuisierung überkommener ethischer und politischer Werte zu Felde zog. Die von der SPD-FDPRegierung bei der Reform des Paragraphen 218 vorgesehene völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten 12 Wochen erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Gerichtspräsident Ernst Benda für verfassungswidrig. Mit seinem Urteil zum Grundvertrag zwischen Bonn und Ostberlin spannte es die realistische Deutschlandpolitik der SPD-FDP-Koalition, die von der nicht mehr umkehrbaren Entwicklung zur Zweistaatlichkeit ausgeht, in die juristischen Korsettstangen eines starren Wiedervereinigungsgebots. [Die Richter in Karlsruhe, zum großen Teil von den Parteien entsandte juristisch ausgebildete Politiker zweiter Qualität,] ließen sich auch durch Mahnungen des Bundespräsidenten in ihrem Rechtskurs nicht beirren. So hatte Walter Scheel schon vor Jahren »mit Sorge« vermerkt, »daß der Radikalenerlaß zu rigoros gehandhabt« wird. Und erst jüngst wieder sagte der Bundespräsident in einem Interview, der Bundesrepublik tue ein zweiter Reformschub not. Indes: Im April 1978 gab das Verfassungsgericht erneut eine Kostprobe seines restaurativen Staatsverständnisses. Auf eine Beschwerde der CDU/ CSU hin erklärte das Verfassungsgericht jene Novelle zum Wehrpflichtgesetz für verfassungswidrig, die die alte, inquisitorische Gewissensprüfung bei Wehrdienstverweigerern beseitigt hatte. Der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, der schon in dem Minderheitenvotum gegen das sogenannte Verbringungsurteil ein Plädoyer für den mündigen Bürger gehalten hatte (»Je perfekter der Schutz wird, je stärker also Grundrechte eingeschränkt werden, desto mehr wächst die Gefahr, daß ungewollt das Schutzobjekt selbst erstickt wird«), sieht inzwischen die politische Entwicklung in der Bundesrepublik mit fast schon resignierender Sorge: »Unsere Politiker reden doch immer davon, daß wir eine überlegene Ordnung haben. Ich möchte denen am liebsten immer sagen: habt doch ein bißchen Selbstbewußtsein, praktiziert das doch.« Statt dessen marschieren immer neue Bataillone an Verfassungsschützern, 60 Grenzschützern und jetzt auch Zollbeamten gegen den inneren »Verfassungsfeind« auf. Und das kann, wie die dem Grenzschutz überlassene Liste verdächtiger Linksliteratur belegt, sogar schon ein »Konkret«-Leser sein.
Wie absurd die Situation geworden ist, belegt ein Beispiel aus Westberlin. Immer dann, wenn Pfarrer Albertz in den Wochen nach der Lorenz-Entführung seine Arbeitsgruppe zur »Wahrung demokratischer Rechte« mit Opfern des Radikalenerlasses zusammenrief, standen Staatsschutzbeamte in doppelter Funktion vor der Kirche: einmal um den Seelsorger, den die Entführer als Geisel mit nach Aden genommen hatten, vor Terroristen zu schützen - und dann, um ihn mitsamt seinen Schützlingen zu überwachen. 61 Der Überwachungsstaat Der Hemdenfabrikant Otto Kern, 600 Angestellte, 30 Millionen Mark Jahresumsatz, war gerade mit LufthansaFlug LH 151 aus Nizza in Frankfurt gelandet. Mit ihm Patricia, damals seine Freundin, heute seine Frau. Die 20jährige Französin mit vietnamesischen Vorfahren hatte er beim Urlaub in St.-Tropez kennengelernt. Ihm zuliebe hatte die verheiratete Frau ihren Mann verlassen und war nun mitgekommen, mit Tochter und Kindermädchen. »Jetzt nur noch die Paßkontrolle«, munterte Kern die junge Frau auf, »dann noch eine Stunde Fahrt, und wir sind bei mir in Kaiserslautern.« Der junge Grenzschutzbeamte am Schalter blätterte Kerns Reisepaß auf, prüfte mit einem raschen Blick, ob Foto und der blonde Mann mit dem markanten Gesicht identisch waren, und legte dann das Dokument routinemäßig auf die erleuchtete Glasplatte vor sich. Kein lästiges Blättern mehr in dicken Fahndungsbüchern: Das Datensichtgerät unter der Glasplatte las automatisch Paßnummer und Personendaten ab, übermit telte sie an den Fahndungscomputer in der Wiesbadener Zentrale des Bundeskriminalamts (BKA). In Sekundenschnelle würde die Antwort da sein: »Keine Erkenntnisse« oder aber auch »Achtung, Fahndungsersuchen ...« Otto Kern wandte sich an Patricia: »Du mußt das verstehen, all die Kontrollen hier«, und dabei zeigte er auf die mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizeibeamten neben dem Paßkontrollschalter, »wir haben schließlich Terroristen im 63 Land. Vor ein paar Tagen erst wollten die in Hamburg wieder einen Mann umbringen, den Justizsenator.« Plötzlich reißen die Polizeibeamten ihre MPis auf Anschlaghöhe, zwei hechten über ein Eisengitter auf Kern, einer drückt ihm seine Maschinenpistole in den Bauch: »Keine Bewe gung.« Und als Kern stammelt, es müsse sich da um eine Verwechslung handeln: »Wenn du dein Maul aufmachst, knallt's.« Kern wird abgeführt, in einem Nebenraum muß er sich ausziehen: Leibesvisitation. Eine halbe Stunde lang wühlen die Beamten in Kerns Anzugtaschen, durchsuchen seinen Aktenkoffer. Sie prüfen jeden Eintrag in Kerns ledergebundenem Terminkalender, gehen jeden Namen in dem Telefonbüchlein des Fabrikanten durch. Kern steht währenddessen in Unterhosen da; eingeschüchtert wagt er keinen Protest mehr. Nach einer halben Stunde endlich darf er sich wieder anziehen, nach einer weiteren Stunde sagt der Polizist, der ihn mit entsicherter MPi abgeführt hatte: »Es war eine Verwechslung, Sie können gehen. Mann, ich hatte mehr Angst als Sie.« Und ein junger Kollege murmelte noch ganz verwirrt in breitem Frankfurterisch: »Isch glaab, isch hätt Ihne gleich eine an de Latz geknallt.« Ein Freitagabend in Hamburg: Die Lehrerin Gulnar Duve, Ex-Ehefrau des Rowohlt-Lektors Freimut Duve, hat einen Elternsprechabend hinter sich. Sie ist erschöpft von den langen Diskussionen; müde geht sie über die Straße zu ihrem klapprigen VW -Bus. »Hoffentlich habe ich keinen Strafzettel bekommen«, denkt sie noch, denn in der Eile hatte sie den Wagen im Parkverbot abgestellt. Plötzlich springen ein paar Gestalten aus der Dunkelheit auf sie zu: »Halt, Polizei, Hände hoch.« Sie erkennt drei, vier Uniformierte, alle haben sie die Maschinenpistole im Anschlag. Zitternd vor Schreck und Aufregung erlebt Gulnar Duve, wie sie nach Waffen abgetastet wird, wie ihre Taschen und ihr Wagen gefilzt werden. Der Hemdenfabrikant aus Kaiserslautern, dessen französische Freundin vor Schreck gleich das nächste Flugzeug zurücknehmen wollte, und die Lehrerin aus Hamburg, die erst nach Mitternacht zu ihren beiden Töchtern nach Hause kam, wurden Opfer der Computerfahndung. Eines der zweifelhaf64 testen Instrumente in der bundesdeutschen Jagd nach den RAF-Terroristen ist die »Befa 7«. Im Kla rtext heißt es »Beobachtende Fahndung Gruppe 7«. Eine Untergruppe dazu ist auch bereits vorhanden: »Befa 7K« - das K steht für »Kontaktperson«. In internen Gesprächen geben selbst hohe BKA-Beamte zu, daß es »etwas am Rande der Legalität« ist und von einer »gewissen Gefährlichkeit«. Im Bereich der allgemeinen Kriminalität ist die »Beobachtende Fahndung« ein klassisches polizeiliches Mittel. Wer immer wegen bestimmter schwerer Delikte schon einmal gesessen hat oder bestraft worden ist, kommt in eine der »Befa«-Gruppen. Gruppe i: Rauschgifthandel, Gruppe 2: Illegaler Waffenbesitz, Gruppe 3: FalschgeldHerstellung, und so weiter: Vom Scheckbetrug über die Mitgliedschaft in organisierten Diebesbanden oder kriminellen Vereinigungen (den früheren Ringvereinen) bis hin zur Einschleusung illegaler Arbeitnehmer.
Ausgehend von der Erfahrung, daß die wegen solcher Delikte Verurteilten meist wieder in ihrer speziellen »Berufssparte« rückfällig werden, hat sich die Polizei für diese Gruppen mit der »Befa« einen ObservierungsRaster geschaffen, der zwar grobmaschig ist und dessen Wirkung von Zufälligkeiten abhängt, der daneben aber keinen großen Aufwand erfordert: Wer immer als Mitglied einer dieser »Befa«-Gruppen in eine Verkehrskontrolle gerät oder die Grenze überschreitet und dabei seine Papiere vorlegen muß, dessen Standort wird von der Polizei registriert. Als die Landesinnenminister 1973 dem Bundeskriminalamt die Terrorismusfahndung übertrugen, glaubte Deutschlands oberster Polizist Horst Herold, mit dem »Befa«-Instrumentarium den Einstieg in die »Szene« schaffen zu können. Das Einschmuggeln von V-Leuten in den terroristischen Untergrund war dem Verfassungsschutz nur für kurze Zeit gelungen. Der Kleinkriminelle Peter Urbach, über den 1970 der Berliner Innensenator Neugebauer die sich damals gerade formierende Terroristengruppe um den Rechtsanwalt Horst Mahler und Ulrike Meinhof mit ihren ersten Pistolen und Bomben versorgen ließ, war nach der ersten Verhaftungswelle enttarnt worden. Der vom Bundesamt für Verfassungsschutz verpflichtete Terrorist Ulrich Schmücker hatte sich gleichfalls 65 verraten und wurde von Mitgliedern der Organisation »2. Juni« ermordet. Jetzt wollte Herold es der Konkurrenz vom Verfassungsschutz zeigen: »Die ständige Beobachtung der Reisetätigkeit von RAF-Helfern ist ein Instrument, das uns zu den Terroristen im Untergrund führt, denn die Helfer versorgen die Terroristen mit Geld und Pässen.« Auf Herolds Betreiben wurde 1974 die »Befa«-Gruppe 7 geschaffen: »Terroristen, Anarchisten und andere politische Gewalttäter sowie die von ihnen benutzten Kraftfahrzeuge.« Der BKA-Chef hatte zu Recht den Goodwill fast der gesamten Öffentlichkeit auf seiner Seite. Eine Handvoll fanatischer junger Leute hatte dem Bonner Staat den Krieg erklärt und bekämpfte ihn mit einer bisher unbekannten Mischung von Intelligenz, Brutalität und selbstmörderischer Entschlossenheit. Ihr erklärtes Ziel: den Staat als faschistisch zu entlarven und damit die »Volksmassen« zur Revolution zu treiben. Das ist auch nach acht Jahren Terror nicht gelungen. Trotzdem hat der junge Bonner Staat auf dem Weg zum 30jährigen Geburtstag die Balance zwischen berechtigten Sicherheitsinteressen und demokratischer Gelassenheit verloren. Keine 500 Leute hatten 60 Millionen Deutsche angegriffen - die Antwort waren immer wieder neue Gesetze und Verordnungen, die immer mehr Bundesbürger in ihren Freiheitsrechten einschränken, sie benachteiligen oder gar existentiell bedrohen. Zu einer äußerst gefährlichen Angelegenheit ist es inzwischen schon geworden, seinen Personalausweis zu verlieren - wie es 5 000 Bundesbürgern im vergangenen Jahr passiert ist. Alle sind als RAFUnterstützer verdächtigt, manche für Monate in Untersuchungshaft gekommen - zumindest aber sind sie nun reif für die »Befa«. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung werden - vor allem von der Polizei - die Telefone ahnungsloser Bürger abgehört, wann immer es beliebt. Die »Kandidaten« für das neue Beobachtungsprogramm wurden vom Bundeskriminalamt und von den Landeskriminalämtern zusammengestellt; das Bundesamt für Verfassungsschutz 75 in Köln und die Landesämter für Verfassungsschutz wurden zur Mithilfe verpflichtet. »Mittels Vordruck KP 21«, wie es in einer Verfügung der Terrorismus-Abteilung des BKA hieß, wurden die Namen in den Polize icomputer eingefüttert. Da es jedoch nur bei wenigen Personen ein verläßliches Indiz dafür gab, daß sie »Helfer« waren - etwa als Quartiergeber -, geriet die Fütterung des BKA-Computers zum Lotteriespiel. Hinein kamen Altbestände, also Namen von Personen etwa, die Ende der sechziger Jahre engen Kontakt zu Ulrike Meinhof hatten oder in den Notizbüchern gefaßter Terroristen namentlich auftauchten; • Aktivisten der »K«-Gruppen, also etwa der KPD-ML, des KB W und ähnlicher roter Sekten; • sogenannte »Kontaktpersonen« von erkannten Terroristen-Helfern. Die Mitfahrt im Auto oder im Zugabteil genügte, um jemanden zur »Kontaktperson« zu machen; • Verlierer von Reisepässen und Personalausweisen. Eher untypisch für das Ausleseverfahren (weil vielleicht noch gerechtfertigt) ist ein Beispiel, das BKA-Chef Herold noch heute anführt: »Wenn der Dr. Huber, der Gründer des sozialistischen Patientenkollektivs, und einer der Leute, die am Anfang der terroristischen Bewegung stehen, nach seiner Strafverbüßung vor Journalisten die Faust gen Himmel reckt und verkündet >Der Kampf geht weiter, so ist dieser Aufruf strafrechtlich bedeutungslos. Aber die Polizei würde ihre Pflichten vernachlässigen, wenn sie kein wachsames Auge auf diesen Mann werfen würde.« Symptomatischer ist es da schon, daß auf Betreiben des BKA eine Zeitlang sogar Teilnehmer an Demonstrationen, bei denen es zu Ausschreitungen kam, in der »Beobachtenden Fahndung« landeten. So wurden, soweit gestoppt und registriert, Anreisende zur Demonstration gegen das Atomkraft werk Kalkar am 24.
September 1977 in den BKA-Computer eingefüttert. Aber auch Verteiler von Flugblättern und Klebekolonnen mit Plakaten, auf denen zu politischen Demonstrationen aufgerufen wurde, gerieten zu »Befa«-Fällen. Wann immer fortan Polizei oder Grenzschutz bei Verkehrskontrollen, am Flughafen oder beim Überqueren der Landesgrenzen die Personalpapiere eines dieser »Befa 7«-Leute zur 76 elektronischen Prüfung nach Wiesbaden schickten, signalisierte der Bildschirm: »Achtung Befa 7«. Und ausdrücklich: »Auf Eigensicherung achten.« Manchem Polizisten und Grenzschützer ging dann die eigene Sicherung durch. Statt sich damit zu begnügen, den Standort des Mannes zu registrieren, inszenierten nervös gewordene Polizisten immer wieder überfallartige Durchsuchungen. Dem Hemdenfabrikanten Otto Kern wurde zum Verhängnis, daß man ihm im September 1971 aus seinem auf der Düsseldorfer Kö geparkten BMW die Aktentasche mit Reisepaß gestohlen hatte. Nachdem Kern, der im Durchschnitt zweimal pro Woche vom Frankfurter Flughafen ins Ausland startet, ein paarmal in »Sonderbehandlung« gekommen war, erhielt er schließlich von der Kripo Kaiserslautern eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung. Überschrift des Papiers, das Kerns Foto und Daumenabdruck trägt: »Bitte vor Inanspruchnahme von Fahndungshilfsmitteln durchlesen.« Im Text heißt es dann: »Herrn Otto Kern, geboren 8. 12. 1950 in Osterode, wohnhaft in Kaiserslautern, Parkstraße 11 wurde am 9.9.1971 sein Bundespersonalausweis Nr. C55383467 gestohlen. Da der Verdacht besteht, daß der gestohlene BPA von anarchistischen Gewaltverbrechern mißbräuchlich benutzt wird, ist Herr Kern in den Fahndungshilfsmitteln ausgeschrieben und wird laufend polizeilichen Identitätskontrollen unterzogen, die teilweise überfallartig und unter Bedrohung mit Schußwaffen erfolgt sind. Der echte Otto Kern (siehe Lichtbild mit Unterschrift und Abdruck des rechten Daumens) weist sich seit dem Diebstahl mit dem Reisepaß Nr. C7234I595, ausgestellt am 26. 10. 1971 vom Polizeipräsidium Kaiserslautern, oder mit dem BPA Nr. F9829893I, ausgestellt am 29. 9. 1971 vom Polizeipräsidium Kaiserslautern, aus. Im Auftrag: Rauber, Kriminaloberrat, Polizeipräsidium Kaiserslautern, Abteilung 3.« (Paßnummer und Adresse wurden auf Wunsch von Herrn Kern geändert.) Und der Lehrerin Gulnar Duve wurde zum Verhängnis, daß sie einmal zum Bekanntenkreis der Ulrike Meinhof gezählt hatte (wie viele hundert Hamburger) und mit dem jetzt unter dem Verdacht der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung angeklagten Hamburger Rechtsanwalt Kurt Groenewold 77 engen Kontakt hielt. Daß Gulnar Duve manchmal ihre Tochter Miriam zum Spielen bei der gleichaltrigen Julia Lochte ablieferte, der Tochter des Hamburger Verfassungsschutzamts-Vizes, änderte nichts. Weder ihr noch Kern gelang es, ihre Namen aus dem BKA-Computer streichen zu lassen. Vergeblich redete auch Verfassungsschützer Lochte auf seine Polizeikollegen ein: »Nehmt die Duve doch endlich raus.« CDU-Mitglied Lochte fragt sich seither, ob er nun wohl auch als Kontaktperson im BKA-Computer registriert ist. Der Wahnsinn ist indes Methode, nicht die Ausnahme: Im Computer landeten fünf Mitglieder der Jungen Union Hamburg, die 1976 im Zug von Berlin nach Hause mit einem Besucher des Begräbnisses von Ulrike Meinhof im selben Abteil saßen. Ein Vorgang, den BKA -Chef Herold bestreitet, für den sich aber ein hoher Mann des Verfassungsschutzes verbürgt. Der 23jährige Dortmunder Student Helmut Hetzel und seine 22jährige Freundin Claudia Dresch wurden zu »Befa«-Fällen, weil Claudia der Terroristin Monika Heibig ähnelt. Begonnen hatte das Ganze an einem Nachmittag im Cafe Krone in Dortmund. Die Polizei wurde von einem anonymen Anrufer, der den beiden bis zu ihrer Wohnung gefolgt war, auf die Spur des angeblichen Terror-Paars gehetzt. Es nützte Claudia wenig, daß sie nachweisen konnte, mit der gesuchten Monika Heibig nicht identisch zu sein. In Hetzels bayerischem Heimatort Ochsenfurt fragten zwei Landpolizisten die Dorfbewohner nach dem jungen Mann aus und klingelten schließlich auch bei seinen Eltern: »Ihr Sohn soll mit einer Terroristin gesehen worden sein.« Helmut Hetzel selbst fühlt sich immer mehr dadurch belästigt, daß ihn Männer im Trenchcoat verfolgen. »Was wollen Sie eigentlich von mir«, schrie er einmal einen Verfolger an. Dessen Antwort: »Haben Sie was zu verbergen?« An der Grenze wurde Hetzel bei jeder Fahrt herausgewinkt und gefilzt. Ein Unbekannter fragte eine Freundin nach dem Besuch in Hetzels Wohnung: »Was haben Sie denn da so kurz gemacht?« Bisher ist es den beiden Studenten nicht gelungen, ihre Tilgung aus dem Fahndungsraster zu erreichen. Bei diesem großzügigen Auswahlmodus vermehrten sich 78 die »Befa«-Personen »wie die Karnickel« (so ein hoher Verfassungsschützer). Zeitweise umfaßte diese Gruppe an die zehntausend Personen. Folge: Der Massenauflauf verstellte den Blick auf die wesentlichen Figuren. Die Kritik an Herold wuchs. Der Streit um das »Befa 7«-Programm ist inzwischen voll entbrannt. In der Sache setzt die Kritik in drei Punkten an.
Falscher Denkansatz. Terroristen und ihre Helfer sind nicht mit demselben Raster einzukreisen wie gewöhnliche Kriminelle. Anders etwa als ein Rauschgiftschmuggler, der nach der Haftentlassung ohne bürgerliche Existenz in derselben Sparte wieder kriminell wird, herrscht im Umfeld des Terrorismus ein ständiger Wandlungsprozeß. Personen, die einmal zu Sympathisanten gezählt werden konnten, änderten nach Vorfällen wie dem Mord an Schleyer oder der Entführung der »Landshut« ihre Haltung und sagten sich los; neue Helfer wuchsen nach, ohne daß sie vorher auszumachen gewesen wären. Falsche Auswahlkriterien. Typisches Beispiel für eine falsche Programmierung von »Befa 7« ist die Hereinnahme organisierter Aktivisten von K-Gruppen. Reines Polizeidenken versperrte den Blick für politische Differenzierungen. Zwar: Auch K-Gruppen propagieren die revolutionäre Ge walt. Aber: Im Gegensatz zu den RAF-Terroristen lehnen die K-Gruppen den individuellen Terror, also die Entführung oder Ermordung bestimmter einzelner Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ab. Für sie ist der bewaffnete Kampf erst dann zulässig, wenn es sich um einen Aufstand der Massen handelt. Falsche Interpretation. Da auf dem Land- und Luftweg nach Berlin jeder Reisende von den westdeutschen Grenzschutzbehörden überprüft wird, an den Grenzen nach Österreich, zur Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland oder Dänemark hingegen nur Stichkontrollen durchgeführt werden, ergab sich naturgemäß eine übergroße Anzahl von Berlinreisen sogenannter »Befa 7«-Personen. BKA-Chef Herold baute darauf Anfang 1977 die Prophetie auf, daß Berlin der nächste Attentatsort sei. Auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses sagte er: »Wenn man die Erhöhung der Berliner 79 Zahlen an den bisherigen Erfahrungen mißt, wonach Erhöhungen immer Angriffe oder Aktionen signalisieren, muß Berlin als gefährdet bezeichnet werden.« Tatsächlich aber schlugen die Terroristen in Westdeutschland zu sie ermordeten Jürgen Ponto in Oberursel bei Frankfurt, brachten Rake tenwerfer gegen die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe in Stellung und inszenierten schließlich in Köln die blutige Schleyer-Entführung. So gravierend im einzelnen die sachlichen Einwände sind, schwerer wiegen auf Dauer die rechtlichen Bedenken. Die Polizei mit ihrer großen Exekutivmacht - sie hat das Recht, Personalien von Leuten festzustellen, sie kann Verdächtige durchsuchen, »erkennungsdienstlich« behandeln (also Fingerabdrücke abnehmen und Fotos machen), vorübergehend festnehmen und unter bestimmten Kriterien auch Beschlagnahmungen und Hausdurchsuchungen durchführen - ist nach der Strafprozeßordnung verpflichtet, erst dann tätig zu werden, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt, der die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechtfertigt. Mit der automatischen, computermäßigen Observierung von Personen aber, gegen die allenfalls ein vager Verdacht besteht oder die nur aus Zufall in das »Befa 7«-Programm geraten sind, wird das oberste Polizeigebot von der »Verhältnismäßigkeit der Mit tel« verletzt. Und schließlich: Das »Befa«-Netz verleitet 007-Polizisten dazu, einen »dickeren Fisch«, der sich tatsächlich einmal in seinen Maschen verfängt, wieder in der Hoffnung ziehen zu lassen, damit dem wirklich harten Kern der Terroristen auf die Spur zu kommen. Damit wird aber gegen das »Legalitätsprinzip«, das die Polizei zwingt, einen erkannten Verbrecher sofort zu verhaften, verstoßen. Die Ermittlungen im weiten Vorfeld einer möglichen Straftat, das Zusammentragen von Erkenntnissen, die auf politisch motivierte Kriminalität hindeuten, sind in der Bundesrepublik dem Verfassungsschutz übertragen. Der Verfassungsschutz wiederum darf zwar niemanden verhaften, aber sogenannte nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, in erster Linie V-Leute und Mikrofone. Und für ihn gilt das »Opportunitätsprinzip«: er darf im Interesse eines möglichen größeren Beobachtungserfolgs »kleinere« Straftaten übersehen. 80 Die strikte Trennung von Schnüffelpraxis und Staatsmacht hat ihren Grund in der jüngsten deutschen Geschichte. Die Neubildung einer Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die in der Hand einer Regierung zu einem jederzeit einsetzbaren Instrument gegen politisch unliebsame Personen werden kann, sollte auf jeden Fall verhindert werden. So verfügten die Besatzungsbehörden 1946 mit ihrem Kontrollratsgesetz Nr. 31, daß »alle deuts chen Polizeibüros und -agenturen, die die Überwachung oder Kontrolle der politischen Betätigung von Personen zum Zweck haben«, aufgelöst werden müßten. Den Verantwortlichen des Bundeskriminalamts ist die rechtliche und politische Problematik ihres Handelns durchaus bewußt. Der leitende Regierungskriminaldirektor Günther Scheicher, Chef der Terrorfahndung des Bundeskriminalamts, sagte in einem internen Vortrag über das Thema »Die Polizei zwischen Verfassungsschutz und Strafprozeßordnung«: »In der Vorphase, die oft weit vor dem Punkt beginnt, an dem der Verdacht strafprozeßfähig wird, treffen sich zwangsläufig die Interessen von Verfassungsschutz und Polizei. Es entsteht die Doppelzuständigkeit.« Scheicher gestand ein: »Hier gibt es Kollisionsmöglichkeiten mit der Strafprozeßordnung.« Er folgerte daraus jedoch nicht, daß die Polizei sich schleunigst wieder auf ihr eigenes Terrain zurückzuziehen habe, sondern verlangte vielmehr, daß »die Arbeit selbst gesetzlich abzudecken« sei. BKA-Chef Herold leitet die Kompetenz seiner Behörde für derartige Observationsmaßnahmen aus einer Generalklausel ab: »Die Polizei soll nicht nur begangene Straftaten verfolgen, sondern auch drohende verhüten. Dazu gehört eine sorgfältige Beobachtungsarbeit.«
Schon sind sich wegen der »Befa 7« Verfassungsschützer und die obersten Kriminalisten in die Haare geraten. Bei einer gemeinsamen Konferenz in Köln über Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung machte der Hamburger Verfassungsschutz-Vize Lochte Front gegen das »Befa 7«-Programm: »Das Ganze ist ein Akt des Größenwahns.« Auf einer Sitzung im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, an der alle Leiter der Landesämter teilnahmen, wurde Ende Mai 1978 beschlossen, den BKA-Präsidenten Herold zu stoppen. Aber »Befa 7« ist nur die Spitze des Eisbergs. Der 81 Alptraum vom Überwachungsstaat, dem keine Bewegung seiner Untertanen entgeht, der jede politische Meinungsäußerung und Lesegewohnheit registriert, die außerhalb der amtlichen Norm der »freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) liegt, der Alptraum des verstorbenen SPD-Kronjuristen Adolf Arndt von »der totalen Herrschaft der Dossiers« kennt keinen guten Morgen mehr. Doch an der Wirklichkeit, die Orwells Vision vom Großen Bruder (in dem Roman »1984«) bald eingeholt hat, trägt nicht nur das BKA des Computer-Fetischisten Horst Herold die Schuld. Am Überwachungsstaat zimmern auch die Abteilungen der Politischen Polizei in den Landeskriminalämtern, und der Verfassungsschutz zimmert fleißig mit. Im März letzten Jahres stürmte die Hannoveraner Kripo den Stadtteilladen »Lister Platz« (»Kleiderladen und Teestube, Rechtshilfe und Verbrauchergruppe, Sexual-Informationen, Bierabend«) we gen »Verdachts unerlaubter Rechtsberatung«. Die Beamten schleppten Adressenkartei und Korrespondenz "weg. Hannovers Polizeipräsident Heinrich Böge: »Es gibt da Querverbin dungen, die für uns in Staatsschutzsachen von Interesse sein müssen.« Die Querverbindung: ein 34jähriger Pädagoge, ehemals SDS-Mitglied, dessen Wohngemeinschaft gleichzeitig durchsucht wurde - ohne Resultat. Der Verfassungsschutz, der sich heute eher aus Konkurrenzdenken denn aus rechtsstaatlicher Feinfühligkeit über das »Befa«-Programm des BKA entrüstet, scheut selbst vor keinem Rechtsbruch zurück, wenn es darum geht, politischen Nonkonformisten auf die Spur zu kommen. So kassierte er in Speyer die 620 Unterschriften unter der Petitionsliste einer Bürgerinitiative. Er überprüfte die Unterschreiber, unter diesen auch Landtags- und Bundestagsabgeordnete der SPD, die sich beim Mainzer Kultusministerium für die Einstellung der Lehrerin Uta Boege, Mitglied der DKP, eingesetzt hatten. Das Landesamt für Verfassungsschutz bemächtigte sich der Unterschriften. Seine Überprüfungen führten dazu, daß etliche Bürger ins Mainzer Innenministerium zitiert und nach den Gründen für ihre Unterschrift befragt wurden. Über sieben Beamte, die unterzeichnet hatten, wurde eine zusätzliche Sachakte angelegt. 82 Wo die amtlichen Spitzel es allein nicht mehr schaffen, werden Hilfstruppen angeworben: Da wird der Bundesgrenzschutz in der »Sonderanweisung über die Erfassung bestimmter Erkenntnisse bei der grenzpolizeilichen Kontrolle« (SO-GK) vom 6. Mai 1976 zu enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, den zuständigen Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst verpflichtet. Laut Punkt 4 der SO-GK sind sie angewie sen zur »unauffälligen Erfassung der Personendaten von Deutschen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), die aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR oder aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland fahren.« Dabei ist das Tun aller Reisenden rechtens, und die sozialliberale Bundesregierung führt den Reiseverkehr immer als Erfolg ihrer Ostpolitik an. Umgekehrt sollen auch alle DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik einreisen, ausgehorcht werden: Nach Beobachtungen aus dem militärischen Bereich, nach Versorgungsengpässen oder über die politische Stimmungslage, auch im engen Bekanntenkreis. Ein Protokoll der Dienstbesprechung zu SO-GK empfiehlt, alle »Befragungen immer mit sehr viel Fingerspitzengefühl« vorzunehmen, damit nicht »politisches Porzellan zerschlagen wird«. Kein Gedanke wird daran verwendet, daß diese DDR-Bürger bei der Rückkehr in ihre Heimat wegen dieser Ausfragungen gefährdet sind. Auch der Zoll, dem nach Paragraph 62 des Bundesgrenzschutzgesetzes bestimmte Aufgaben der Grenzüberwachung übertragen werden können, sollte durch ein Schreiben der Grenzschutzdirektion Koblenz vom 12. Dezember 1977 verpflichtet werden, den Verfassungsschutz mit »verfassungsfeindlichem Propagandamaterial« zu beliefern, das den Zollbeamten bei der Grenzkontrolle auffällt. Weil aber Bundesfinanzminister Matthöfer als oberster Dienstherr der Zöllner Bedenken gegen diese Anweisung hatte gefundenes Schriftgut müsse entweder dem Reisenden sofort zurückgegeben oder aber der Staatsanwaltschaft übermittelt werden -, wurde im Protokoll zur SO-GK im Amtsdeutsch vermerkt: »Bei den im Verbund eingesetzten Zollbeamten ist bei der Mitarbeit nach der SO-GK sehr behutsam heranzugehen.« 83
Selbst die Bahnpolizei ist inzwischen in den Überwachungsapparat eingespannt worden. Sie führt für das BKA in den Zügen Personenkontrollen durch, obgleich sie vom Gesetz her nur »Anlagen und Betrieb der Eisenbahn gegen Störungen und Schäden« zu schützen hat. Schließlich wird der Verfassungsschutz auch noch vom Auswärtigen Amt beliefert. Die Bonner Diplomatenzentrale hat den Kölner Schnüfflern unter anderem ein Schreiben der Deutschen Botschaft in Stockholm vom 6. Mai 1975 übermit telt: »Betr.: Berichterstattung von Redakteur Frank Hirschfeldt über Recht und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen und Tätigkeit der Baader-Meinhof-Gruppe im besonderen«. Zitat aus dem Brieftext, der sich mit einem Interview Hirschfeldts mit dem Berliner Anwalt Ströbele im schwedischen Fernsehen befaßt: »Die Botschaft hat Herrn Hirschfeldt bisher immer zugute gehalten, daß er in Berlin geboren ist und mit seinen Eltern wegen der Judenverfolgungen im Dritten Reich Deutschland verlassen mußte ... Da nicht anzunehmen ist, daß Herr Hirschfeldt mit der Baader-Meinhof-Gruppe sympathisiert, schließt die Botschaft, daß bei der erwähnten Live-Sendung im schwedischen Fernsehen das berufliche Interesse an der journalistischen Sensation entscheidend war. Dabei dürfte Herr Hirschfeldt übersehen haben, wo die Grenzen eines seriösen Journalismus liegen.« Das Bundesamt für Verfassungsschutz schickte diese Analyse dann »durch Kurier« ans Bundeskriminalamt weiter: »In der Anlage übersende ich eine Ablichtung des Schreibens der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland vom 6.5.1975 zur Kenntnisnahme. Im Auftrag Busse.« Blitzlichtartig erleuchten diese Fundstücke aus bundesdeutschen Amtsstuben die Überwachungsmechanismen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Doch die Struktur des Überwachungsstaats wird auch so deutlich: • Das systematische präventive Sammeln von Nachrichten. Ob Unterschrift unter einer Petition oder Teilnahme an einer Demonstration - alles wird dem Elektronengehirn eingegeben. Schon der Besuch politischer Prozesse macht verdächtig. Die 24jährige Journalistin Gabi Weber aus Berlin wurde auf einer Autobahnfahrt nach Bonn von zwei Polizei-Porsches in 84 die Mitte genommen und an der nächsten Ausfahrt gestoppt. Dort warteten am Fahrbahnrand bereits Polizisten mit dem Finger am Abzug ihrer Maschinenpistolen. Eine Stunde lang wurde Gabi Weber kontrolliert. Auf ihre Frage, was denn los sei, antwortete ein Polizeibeamter: Sie müsse doch wohl wissen, daß sie in der »Befa 7« sei. Bis dahin wußte Gabi Weber nicht einmal, was das ist. Heute erklärt sie sich ihre Registrierung damit, daß sie als Journalistin über Verhandlungen gegen RAF-Terroristen in Berlin, Köln und Stammheim berichtet hat. Gabi Weber beschwerte sich mit Hilfe eines Rechtsanwalts. Der zuständige Regierungspräsident in Arnsberg verweigerte Auskünfte über die Fahndungsunterlagen: »Es liegen nur innerdienstliche Berichte vor, die ausschließlich meiner Information dienen sollten.« Immerhin räumte er eines ein: »Hinsichtlich des sicherlich ungeschickten Verhaltens der Polizeibeamten werde ich die notwendigen innerdienstlichen Konsequenzen ziehen.« Was Gabi Weber neben ihren Prozeßbesuchen möglicherweise noch verdächtig macht: 1976 war sie unter der Anschuldigung, sich an einem Raubüberfall auf eine Tankstelle beteiligt zu haben, vorübergehend festgenommen worden. Wegen erwiesener Unschuld wurde sie kurz darauf freigelassen, und das Verfahren wurde eingestellt. • Das Wechselspiel der Amtshilfe. Der gegenseitige Nachrichtentausch wird mit dem pauschalen Hinweis auf Artikel 35 des Grundgesetzes begründet: »Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe«. Doch Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider hält dagegen daß nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz für jeden einzelnen Fall ein Amtshilfeverfahren zwingend vorgeschrieben ist. Dessenungeachtet vervielfältigt die Polizei schon automatisch nach jedem Einsatz ihre Erkenntnisse. Dies zeigt die Antwort der niedersächsischen Landesregierung vom 11. Februar 1976 auf eine kleine Anfrage der SPD nach einem Polizeieinsatz gegen einen Schweigemarsch von Amnesty International. Wörtlich heißt es in der Antwort: »Auf dem Formular >Kurzbericht über eine Aktion< befindet sich vorgedruckt der Verteiler für diese Berichte. Entsprechend wurde je ein Exemplar nebst dem angehefteten >Vermerk< I. an das Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen, 85 Abteilung 6 (Staatsschutz), 2. an den Regierungspräsidenten, Dezernat 203 (Kriminalpolizei) sowie 3. an den niedersächsischen Minister des Innern, Abteilung 4 (Verfassungsschutz) weitergeleitet.« • Der Datenverbund. 1972 nahm das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln das Elektronenhirn NADIS in Betrieb, die Abkürzung für »Nachrichtendienstliches Informationssystem«. Dieser Computer steht aber nicht nur den Verfassungsschützern zur Verfügung. Ihn können anzapfen: Das BKA mit seinem eigenen Computer, die Landesämter für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst, der ebenfalls eine eigene elektronische Datei hat und der militärische Abschirmdienst (MAD), in dessen Computer in der Brühler Straße in Köln dank der Überprüfung der Wehrpflichtigen die Daten von mehr als drei Millionen Bundesbürgern eingespeist sind.
Diese Computerisierung und ihr Verbund sind zweifellos die am schwersten wiegende Neuerung. Der Datentausch, der auf Gegenseitigkeit beruht und von Ex-Innenminister Maihofer 1975 bei der 25-Jahr-Feier des Verfassungsschutzes als ein »in der Welt beispielloses nachrichtendienstliches Informa tionssystem« gefeiert wurde, hat die Kölner Behörde endgültig in den Rang einer Nachrichtenpolizei gehoben. Die anderen Institutionen können den NADIS-Computer gegenwärtig allerdings nur beschränkt anzapfen. Er meldet von gespeicherten Personen lediglich eine Reihe Daten (Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit, Anschrift, Telefonnummer, Kfz-Kennzeichen, Konto- und Schließfachnummer) und das Aktenzeichen. Wer mehr haben will, muß die Unterlagen vom jeweiligen Sachbearbeiter des Verfassungsschutzes schriftlich anfordern. Indes: Schon dringt das BKA darauf, daß auch im NADIS-Bereich die sogenannte »Anwendungsstufe drei« eingeführt wird und der Computer bei Anfragen gleich den gesamten Inhalt gelagerter Akten mitteilt. Der einzelne Bürger ist diesem Datensammeln und -austauschen wehrlos ausgeliefert. Das 1977 verabschiedete Datenschutzgesetz sieht für diesen Bereich keine Kontrolle vor. So sind die Bemühungen der Hannoveraner Mitarbeiterin von 86 Amnesty International, Ute Schadewitz, gescheitert, den beim Verfassungsschutz archivierten Polizei-Vermerk über den von ihr angemeldeten Schweigemarsch löschen zu lassen, wonach die 19jährige wegen ihrer Mitarbeit bei Amnesty International »in staatsabträglicher Hinsicht« aktiv sei. Das niedersächsische Innenministerium mußte einräumen, daß eine vom Ministerium herausgegebene Presseverlautbarung, der Vermerk sei vernichtet worden, nicht den Tatsachen entsprach: »Erst später ergab sich, daß die Verfügung zur Vernichtung noch nicht ausgeführt worden war.« Genauso vergeblich müht sich seit nunmehr drei Jahren der in Limburg lebende Pädagoge Hans Roth, vom hessischen Verfassungsschutz die Vernichtung von Aktenunterlagen über seine linke studentische Vergangenheit zu erreichen. Zwar hatte das Verwaltungsgericht Kassel die Akten zur Vernichtung freigegeben, doch auf eine Berufung des Landes Hessen hin verwarf der hessische Verwaltungsgerichtshof diesen Entscheid. Nun hat Hans Roth Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der hessische Datenschutzbeauftragte Professor Spiros Simitis weiß aus seiner Praxis: »Wir haben noch keinen Fall gehabt, in dem bei den Sicherheitsbehörden ein Vermerk wieder vernichtet worden ist.« So wird auch niemand, der je in die »Befa 7« geraten ist, wieder gelöscht. Manche Angaben werden zwar aus dem Computer herausgenommen, dann aber werden sie archiviert und bleiben so jederzeit verfügbar. BKA-Chef Herolds Begründung: »Ich muß doch jederzeit zeigen können, daß alles rechtsstaatlich abgewickelt wurde.« Dort, wo bisher noch voneinander getrennte Speicherungen vorlagen, wird nun sogar mir fiskalischen Argumenten eine Zusammenfassung betrieben. So hat der Bundesrechnungshof angeordnet, daß Abhörmaßnahmen der Geheimdienste nach dem G l0-Gesetz »im Verbund« zu erfolgen haben, um Kosten zu sparen. BND, MAD, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesämter erhalten so Einblick in die Abhörunterlagen, die auf Betreiben einer dieser Behörden zustande kommen. Allerdings, das Abhören nach dem G 10-Gesetz ist die Ausnahme, weil es zu kompliziert erscheint. Leichter ist es, von der Polizei die Telefone anzapfen zu lassen. Sie kann sich auf den Paragraphen 100 der 87 Strafprozeßordnung stützen, dann genügt schon ein Verdacht, und jeder kleine Amtsrichter oder gar Staatsanwalt gibt die erforderliche Abhörgenehmigung. Den »Verdacht« beschaffen sich alte Polizeihasen per Selbsthilfe, indem sie sich anonyme Briefe schicken mit Beschuldigungen gegen bestimmte Personen/" Ein Beispiel für das leichtere Funktionie ren des Abhörens nach der Strafprozeßordnung: Ex-Bundesinnenminister Werner Maihofer wies den Hamburger Verfassungsschutz an, das Telefon des Terroristen-Anwalts Groenewold zu überwachen. Die hanseatischen Verfassungsschützer wollten nicht, sie sahen keine Grundlage. Daraufhin übernahm die Hamburger Polizei auf Maihofers Wunsch das Lauschen. Später kursierten Aktenauszüge von Telefongesprächen Groenewolds mit Dutzenden völlig unbelasteter Mandanten und Freunden. Beim Abhören durch die Polizei gibt es keine Kontrollinstanz und damit keine Information des »Opfers«. Im Gegenteil, ein Abgehörter wird noch irregeführt. So passierte es dem Heilbronner Kaufmann Albrecht Richter (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert). Als er von der baden-württembergischen parlamentarischen Kontroll-Kommission für Abhörfälle nach Artikel 10 des Grundgesetzes Auskunft begehrte, ob er belauscht worden sei, beschied ihn der Landtagsausschuß: »Die Kommission hat festgestellt, daß in das durch Artikel 10 GG gewährleistete Fernmeldegeheimnis des Herrn Richter weder unter seinem Anschluß bei der Firma Meßgeräte B und S (Name auf Wunsch des Betroffenen vom Verlag geändert) noch unter seinem Privatanschluß eingegriffen worden ist.« »Es ist höchste Zeit«, meint der kämpferische Konstanzer Politologe Professor Gilbert Ziebura angesichts dieser elektronischen Datenstapelei, »daß die Bürger zu einer Verweigerungsstrategie übergehen.« Weder von den Behörden noch vom Gesetzgeber ist für den ausspionierten Bürger Hilfe zu erwarten. Als im Bundestagsinnenausschuß der ungesetzliche Einsatz der Bahnpolizei bei Personenkontrollen zur Sprache kam,
erkannte zwar der Ausschußvorsitzende, der SPD-Abgeordnete Axel Wernitz: »Die Rechtsgrundlage hierfür scheint mir außerordentlich schwach zu sein.« Der damals noch amtierende Bundesinnenminister Maihofer 88 daraufhin: »Hier ist in der Tat noch ein rechtsfreier Raum, den wir schließen müssen.« Und ausgerechnet auf einem von kritischen SPD-Politikern veranstalteten »Kongreß zur Rettung der Republik« meinte Bundesbildungsminister Jürgen Schmude: »Wenn wir sehen, daß die Polizei etwas tut, wofür es keine Rechtsgrundlage gibt, dann müssen wir die Rechtsgrundlage schaffen.« Schmude ist stolz darauf, dann noch hinzugefügt zu haben: »... oder wir müßten unterbinden, was die Polizei tut.« Weiter ging es dann allerdings im Ministertext: »Das hätte dann aber gefordert werden müssen.« Werden die Sicherheitsbehörden bei einer allzu krassen Gesetzesüberschreitung ertappt, ist eine StandardAusrede parat. Als bekannt wurde, daß das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz bei der Hamburger Firma »Micro Electronic« Telefonwanzen und Füllhaltermikrofone bestellt hatte, erklärten die Polizisten, diese Geräte seien lediglich »zu Schulungszwecken« geordert worden. »Lediglich zu Schulungszwecken«, so redete sich jüngst erst wieder der inzwischen zurückgetretene Innenminister Maihofer heraus, seien auch die Listen mit 287 Linkspublikationen und 206 Linksorganisationen den an den Grenzübergängen tätigen BGS-Leuten zugegangen. Und wer aus dem Behördenapparat verfassungswidrige Mißstände nach draußen trägt, wird verfolgt. So ging es dem Verfassungsschützer Werner Kurt Patsch, der illegale Abhörmaßnahmen des Kölner Amtes aufdeckte. Er wurde vom Bundesgerichtshof wegen »vorsätzlicher Verletzung der Amtsverschwiegenheit« zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. So ging es jetzt dem Ex-Verfassungsschützer und heutigen Journalisten Hans Georg Faust, der von seinem früheren Arbeitgeber verdächtigt wird, den Fall Traube aufgedeckt zu haben. Ihm wurde von der Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen verfassungsfeindlicher Sabotage angehängt. Angesichts der jetzt erreichten elektronischen Runduminformation aller Sicherungsapparate wirkt der Fall Traube aus dem Jahr 1975/76 wie ein anachronistisches Relikt aus der Zeit, in der die Computer laufen lernten. Da mußte noch eingebrochen werden, um an Informationen heranzukommen, da konnte beim Bekanntwerden des Einbruchs noch eine 89 Affäre entstehen. Der Alltag heute ist weniger kantig: eine feingesteuerte wieselschnelle ele ktronische Datenzirkulation, die sich jeder Aufdeckung von außen entzieht. In Horst Herold, dessen rundliche fränkische Gemütlichkeit nichts von der technischen Besessenheit eines »Mr. Computer« verrät, hat das System seinen Hexenmeister gefunden. Das Basteln mit immer neuen technischen Fahndungsapparaten ist für ihn zum Lebensinhalt geworden. Er verlegte seine Wohnung in die 36 Millionen Mark teure Zwingburg der BKA-Zentrale auf dem Wiesbadener Geisberg. An seinem Fahndungs-Fanatismus rund um die Uhr zerbrach seine Ehe. »Die Polizei der Zukunft«, sagte Herold, »wird eine gesellschaftssanitäre Aufgabe haben.« Wie der Waschgang aussieht, zeigen die letzten Jahre. Die Pannen im »Befa«-Programm waren für Herold nicht ein Warnzeichen, er könnte in die falsche Richtung marschiert sein, sondern Ansporn zu immer neuen Computer-Programmen, die eines gemeinsam haben:(Sie begreifen den Bürger zunächst einmal als Sicherheitsrisiko. Unter Herolds Leitung lief eine Unzahl verschiedener Aktionen ab: • Maklerprogramme. Im Entführungsfall Schleyer wurden die Maklerbüros abgeklappert und alle Mietverträge, speziell für Hochhäuser, durchleuchtet. • Hochhausprogramme. Eines der aufwendigsten und am ehesten zu Mißerfolg verdammten Unternehmen. In solchen Wohnanlagen herrscht ein ständiger Mieterwechsel, und die Meldedaten sind zum großen Teil aus harmlosen Ursachen widersprüchlich. Beispiel: Bei der Überprüfung eines Hochhauskomplexes in Hamburg, den eine unter Beobachtung stehende Terroristin betrat, ergaben sich bei rund einem Drittel der Mieter Diskrepanzen zwischen Mietvertrag, Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, Anträgen für Post, Tele fon, Wasserwerke oder Gas. Die Namen im Mietvertrag stimmten zum Beispiel nicht mit dem des Bewohners überein •so etwa deshalb, weil eine geschiedene, dann wieder verheiratete Frau für ihren noch studierenden Sohn aus erster Ehe die Wohnung angemietet hatte. • Mietwagen- und Flugscheinprogramm. Auf Betreiben des 90 BKA kassierten eine Zeitlang Kriminalbeamte in allen größeren Städten bei Autoverleihfirmen Durchschläge der Leihverträge ab. Die Daten wurden mit dem Fahndungscomputer verglichen. Die Kunden erfuhren davon nichts. Weil den Autoverleih firmen inzwischen Bedenken gekommen sind, sucht BKA-Chef Herold eine gesetzliche Grundlage: »Ich strebe an, in die Selbstfahrerverordnung einen Paragraphen
2a einfügen zu lassen, der besagt: >Der fünfte Durchschlag gehört der Polizei.<« Genauso will Herold auch die Buchungscomputer der Lufthansa anzapfen. • Besucherprogramm. Sämtliche Besucher, einschließlich der Verteidiger einsitzender RAF-Häftlinge, werden beobachtet. Eine Zentralstelle beim Bundeskriminalamt steuert mit Hilfe von Verbindungsbeamten bei den Landeskriminalämtern den am 1. März 1975 eingerichteten »besonderen Meldedienst Häftlingsüberwachung«. Aus einem Papier der Terro rismus-Abteilung des BKA vom 5. Mai 1977: »Die Polizei hat die Tatsache für sich zu nutzen, daß in den Justizvollzugsanstalten Feststellungen über die Inhaftierten, ihre Kontakte sowie ihre Besucher und Verteidiger mit großer Zuverlässigkeit möglich sind.« Gefordert wurden Angaben zu den Ausweispapieren der Kontaktpersonen (»Echtheitsprüfung und Ablichtung oder 'Reproduktion der Seiten mit den Angaben zur Person und dem Lichtbild dringend empfohlen«), die Beschaffung einer Schriftprobe des Besuchers »mit Hilfe eines von ihm auszufüllenden Besucheranmeldescheins«, die Feststellung sämtlicher Wohnsitze der Kontaktpersonen einschließlich Telefonnummern, die Beobachtung der zur Anfahrt benutzten Kraftfahrzeuge, die Feststellung der Personalien der Begleitpersonen und schließlich eine Zusammenfassung der Gesprächsinhalte. Originalton: »Die Gesprächsinhalte müssen sämtliche Namen und Objekte, Informationen, die eine Codierung bedeuten könnten, sowie sonstige Auffälligke iten enthalten.« Ausdrücklich heißt es in der Anordnung der TE-Abteilung: »Über jeden Besuch - auch über den von Verteidigern - ist eine Meldung nach Vordruck B zu erstatten und sofort nach dem Besuch der Zentralstelle zu übersenden. Alle Besuche sind, soweit nicht 91 Anordnungen des Haftrichters und der Justizbehörde oder gesetzliche Bestimmungen dem entgegenstehen, von sachkundigen Kriminalbeamten zu überwachen. Der Gesprächsinhalt ist von dem überwachenden Beamten in einer Niederschrift festzuhalten. Bei verdächtigem Inhalt ist das Gespräch zu unterbinden oder notfalls der Besuch abzubrechen.« Und weiter: »Die aus der Häftlingsüberwachung gewonnenen Erkenntnisse werden in den sogenannten Dateien bei der Zentralstelle und im PIOS-System gespeichert. Bis zum Mai 1971 sind die Ergebnisse von insgesamt 12 664 Besuchen bei 172 überwachten Häftlingen in den »Dateien bei der Zentralstelle und dem PIOS-System« gespeichert worden - davon 7680 Besuche von Verteidigern. Trotz dieser in seinem Amt notierten Zahlen und Fakten bestreitet Herold, daß die Überwachung auch auf die Verteidiger ausgedehnt worden sei. Richtig an Herolds Dementi ist nur, daß der Wortlaut des Papiers - entsprechend den gesetzlichen Vorschriften - das Abhören der Gespräche zwischen Anwälten und Mandanten ausschließt. Im Abhörskandal der Haftanstalt Stammheim aber wurde aktenkundig, daß zumindest in diesem Fall die Gesetze mißachtet worden sind. • Kommunen-Programm. Das Zusammenleben in Wohngemeinschaften außerhalb der Großstädte ist damit zu einem gefährlichen Unterfangen geworden. Überfallartig können Polizeieinheiten anrücken. So wurde der Jugendhof Odenthal im Kreis Bergisch-Gladbach bei Köln - zwei junge Pädagogen kümmerten sich dort um obdachlose, meist kriminell vorbela stete Jugendliche - bei einem Polizeieinsatz im Mai 1977 so verwüstet, daß ein Gericht schließlich das zuständige Regie rungspräsidium in Köln zur Zahlung von 5150 D-Mark Schadensersatz verpflichtete. Es hat oft den Anschein gehabt, als hätte die Polizei willkommene Gelegenheiten genutzt, ihr ohnehin verdächtige Unternehmen einmal kräftig durchzuschütteln. Bei der Durchsuchung einer Wohnkommune in Bad Soden rückte mit der Polizei auch ein Fernsehteam an, das den Einsatz und die empörten Bewohner filmte. Als einer der Bewohner auch ein paar Fotos machen wollte, entriß ihm die Polizei den Apparat und vernichtete den Film. BKA-Chef Herold umschrieb auf einer Tagung in Hiltrup 92 bei Münster vor Polizeibeamten, Staatsanwälten und Verfassungsschützern diese Methode des Herums tocherns in allem, was nicht dem Bild des Vorort-Reihenhausbewohners entspricht: »Wir überziehen die Bundesrepublik mit einem riesigen Schleppnetz. Irgend etwas wird schon in den Maschen hängenbleiben.« • Vorläufiger Höhepunkt der Schleppnetz-Fahndung: Bei der Jagd nach den Schleyer-Entführern wurden die Pässe aller 20-bis 35jährigen beim Grenzübertritt nach Frankreich fotokopiert. Die Daten dieser Männer und Frauen wurden abends von den Grenzschützern an die Abteilung Terrorismus des BKA in Bonn-Bad Godesberg durchgegeben. Grenzschutzbeamte haben inzwischen registriert, daß von ihnen mehrfach gemeldete Grenzwechsler als »Kontaktpersonen« in der »Befa 7«-Liste aufgetaucht sind. Für die Unzahl der anfallenden Daten hat BKA-Chef Herold immer neue Computer- und Speichernetze geschaffen. Die Kürzel PIOS, LISA, PISA, INPOL oder DISPOL stehen für ein die tiefsten Winkel der Privatsphäre auskundschaftendes Elektronenhirn, das nie vergißt und sein Wissen auf Knopfdruck freigibt. INPOL- »Informationssystem der Polizei« - ist der Zentralcomputer. Er enthält sowohl gewöhnliche Kriminelle und Terroristen sowie alle jene Leute, die mit und ohne eigenes Dazutun in die »Befa 7« geraten sind. Die Daten von Inpol können inzwischen an 1298 Terminals abgefragt werden. Schon gibt es drahtlos arbeitende Terminals in Einsatzfahrzeugen der Polizei. Ab nächstem Jahr wird es Terminals in der Größe eines Taschenrechners geben; jeder Streifenpolizist kann sie dann bei sich tragen.
Die in Berlin neu eingeführten Kontaktbereichsbeamt en (KOB), die jetzt ihren Bezirk betreuen wie früher der Schutzmann an der Ecke, verlieren dann ihre Harmlosigkeit. Auf der einen Seite wird ihnen jeder Tratsch der Nachbarn über ungewöhnliche Mitbewohner wie etwa Studenten zugetragen. Auf der anderen Seite sind sie mit ihren Minicomputern die Fußtruppen des »Big Brother«. BKA-Chef Herold feiert den angestrebten Endzustand als »Fundamental-Demokratisierung größten Ausmaßes«: 93 »Unter Beseitigung jedwelcher Form bisherigen Vorbehalts-, Zentralstellen oder Herrschaftswissens einzelner weiß künftig buchstäblich jedermann alles.« Bereits jetzt beträgt die Zahl der monatlichen Anfragen an INPOL sechs Millionen. PIOS - »Personen, Institutionen, Objekte und Sachen« -ist der Spezialcomputer für die Terrorismusfahndung. In ihm sind 10 Millionen Blatt Akten gespeichert. Es sind nicht nur Personenbeschreibungen und Fingerabdrücke registriert, sondern auch Bluttests, Haarproben und Gebißschemata. PISA - »Personenbezogene Informationssammlung« - soll alle Informationen etwa aus der »Befa«, aus der verdeckten Fahndung, der Zielfahndung, der Häftlingsüberwachung oder der Alibi-Überprüfung sammeln, um so Rückschlüsse darauf zu erlauben, wer da als nächster in den Untergrund abtauchen könnte. Derzeit umfaßt PISA 3 000 Grundakten. LISA - »Länderbezogene Informationssammlung« - ist die Ergänzung zu PISA. Hier werden alle Informationen über Verbindungen der in PISA erfaßten Personen zum Ausland, über Verbindungen ausländischer Terroristen zur Bundesrepublik und im Ausland begangene politisch motivierte Gewalttaten gespeichert. Zulieferer ist hier unter anderem das Auswärtige Amt. DISPOL schließlich steht für »Digitalisiertes Integriertes Breitband-Sondernetz der Polizei für Sprache, Bild, Daten«. Es ist das Verbundsystem von INPOL mit den Computern der Landeskriminalämter und den Elektronenhirnen des Bundeszentralregisters, des Ausländerzentralregisters und des Kraft fahrzeugbundesamts. Einbezogen wird ferner der Computer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger - also Knappschaft, Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Arbeiterrentenversicherung mit insgesamt 42 Millionen Daten. Das DISPOL-Netz befindet sich erst im Aufbau. Wenn es fertiggestellt ist, fallen die jetzt noch bestehenden Informa tionsgrenzen wegen der unterschiedlichen Datenverarbeitung in den Bundesländern weg. Die Einführung der immer wieder diskutierten Personenkennziffer für jeden Bundesbürger würde die »Sprache« der miteinander verbundenen Computer-Systeme so vereinfachen, 94 daß allein daraus eine neue Qualität des Datentauschs entsteht. Diese Personenkennziffer könnte ohne technische Schwierigkeiten auch Angaben über politische Anschauungen oder Mitgliedschaften in Organisationen umfassen. Was das aber heißt, zeigt die heutige Praxis der Berufsverbote. Für das Bundeszentralregister sind die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen einer solchen Eintragung schon geschaffen. Laut Paragraph II; II, Ziffer i sind dort auch einzutragen »die vollziehbaren und nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen einer Verwaltungsbehörde sowie rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen, mit denen »wegen Ungeeignetheit oder Unwürdigkeit ein Antrag auf Zulassung zu einem Beruf abgelehnt wird«. Da nach Paragraph 30 dieses Gesetzes eine solche Eintragung auch im Führungszeugnis erscheint, das bei privaten Einstellungen häufig vorzulegen ist, würde für jeden privaten Arbeitgeber offenkundig, wann ein Bewerber schon einmal aus politischen Gründen vom öffentlichen Dienst abgelehnt worden ist. Am deutschen Informationswesen soll auch das Ausland genesen. Schon arbeiten auf dem Pariser Flughafen Orly vier BKA-Beamte rund um die Uhr an einem PIOS-Terminal. Während der Moro-Entführung installierte Herolds Truppe in Rom zwei Bildschirme, die nach der Ermordung des italienischen Parteiführers aber wieder abgezogen wurden. Während der Schleyer-Affäre zogen die deutschen Fahnder mit tragbaren Datensichtgeräten, die über Telefon an die BKA-Zentrale angekoppelt werden konnten, nach Mallorca und überprüften dort 70000 Hotelmeldezettel (Resultat: 80 Festnahmen aus dem allgemeinen kriminellen Bereich). Desgleichen wurde zu dieser Zeit auch in Rotterdam ein ständiges Eingabegerät installiert. Die Jugoslawen sind inzwischen zu Dauerkunden des BKA-Computers geworden. Kurz vor dem Abschluß stehen die Arbeiten an einem Computer, der Paß-Unterschrift und die Schrift auf den Einreiseformularen vergleicht und Alarm schlägt, wenn das Schriftbild nicht von derselben Person stammt. Er soll an Flughäfen im In- und Ausland eingesetzt werden. Zukunftsperspektiven schildert der Professor für Informa tik Adolf Habermann in der Konstanzer IngenieursZeitschrift »AUSBAU«: 95 »Technisch möglich wäre es im übrigen auch, den polizeilichen Informationsverbund auf die über 120 Mitgliedsstaaten der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation auszudehnen, der dann aber auch ein
Zugriffsrecht auf den Informationsbestand der Polizei der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt werden müßte.« Der erste Schritt ist bereits getan: Das BKA hat bilaterale Abmachungen mit dem FBI und Scotland Yard getroffen. In einem Verbundsystem soll die automatisierte wechselseitige elektronische Abfrage von Informationen für Sprengstoffuntersuchungen und im Bereich der Rauschgiftkriminalität möglich werden. Zeitweilige Rückschläge können BKA-Chef Herold nicht verunsichern. Mit seinem PIOS-Gerät zog er im Frühsommer ins Schweizer Innenministerium nach Genf, um die Eidgenossen zu überreden, sich an das Elektroniksystem anzuschlie ßen. Im Beisein des Schweizer Bundesrats Kurt Purgier forderte Herold voller Besitzerstolz seine Genfer Kollegen auf: »Fragt, was ihr wissen wollt.« Einer der eidgenössischen Kripo-Leute sagte: »Ich möchte einmal wissen, wie viele Dinge im Zusammenhang mit Lugano im PIOS verzeichnet sind. Ich komme da nämlich her.« Ein paar Tastendrucke, dann fing der Computer an, Daten auszuspucken. Seitenlang rasselte das Gerät Fundstellen herunter. Es waren genau 714 Angaben. Herold über das Ergebnis: »Ich war beglückt. Aber ich habe mich wohl psychologisch verrechnet, denn ich habe an der Demonstration keine Geneigtheit gefunden, sondern Entsetzen. Die haben noch nie so einen Kasten gesehen. Die haben gesagt: >Um Gottes Willen, die Deutschen haben uns ja total ausgespäht, die wissen ja alles, verdammt noch mal!<« Die Angst der Schweizer ist begreiflich. Denn ein Blick über die Grenze zeigt ihnen, daß hier der Mißbrauch des geschaffenen Überwachungsapparats durch Polizei und Nachrichtendienste inzwischen schon nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist: Ein Kripo-Mann erschien bei der Pfarrkirchner Buchhändlerin Hildegard Böhm und verlangte den Namen eines Kunden. Dieser hatte bei einem schwedischen Verlag ein Buch 96 bestellen lassen mit dem Titel: »Texte: RAF«. Die Kripo hatte das Päckchen abgefangen. Als die Buchhändlerin den Namen des Kunden nicht preisgeben wollte, drohte der Kripomann mit »Schwierigkeiten«. Er habe schon bei der Stadtverwaltung »Informationen« über Frau Böhm eingeholt. Nur weil diese so gut ausgefallen seien, habe man sie nicht unter Beobachtung gestellt. Freiheit '78. In Köln fand der linksgerichtete »Andere Buchladen« im Paket nicht die bestellten Bücher, sondern zwei israelische Pässe. Postschnüffler hatten den Inhalt zweier Sendungen vertauscht. Ähnlich in Berlin: Die Buchhandlung »Das arabische Buch« hatte elf Exemplare der (auf den Grenzschutzlisten als extremistisch angeführten) Zeitschrift »3. Welt Magazin« bestellt. Als das Päckchen eintraf, war es aufgeschlitzt und trug den Vermerk »Beschädigt eingegangen«. Statt der Zeitschriften enthielt das Päckchen die Broschüre »Bundeswehr 77« und die Schrift des Verteidigungsministeriums »Der Warschauer Pakt - Fakten und Trends«. Freiheit '78. In Mainz wurden Mitglieder der DGB-Jugend durch die Polizei »erkennungsdienstlich behandelt«, als sie vor Schulen ein Informationsblatt des DGB über die gesetzlich vorgeschriebenen Jugendvertreter-Wahlen verteilten. Freiheit '78. In Saarbrücken beschlagnahmte ein Grenzschützer bei einer nach Frankreich reisenden Studentin zwölf Schriften »kommunistischer Herkunft« (darunter die »Stadtzeitung Saarbrücken«, ein Flugblatt der »Bunten Liste« Hamburg und die Broschüre einer Lübecker Frauengruppe). Freiheit '78. Zweimal wurde die Bremerhavener Sozialarbeiterin Ilse Wolfram am deutsch-belgischen Grenzübergang in Aachen-Lichtenbusch gefilzt. Beim erstenmal wurden einige Exemplare des »Arbeiterkampfes«, ein Mao-Band und Anti-Atomkraft -Broschüren »zur Prüfung sichergestellt«. Neun Monate später wollte ein Zöllner mitgeführte »Arbeiterkampf«-Zeitungen beschlagnahmen. Durch Erfahrung gewitzt, wehrte sich die junge Frau. Darauf erhielt sie ihre Zeitungen wieder zurück, und ein Grenzschutzbeamter fragte bescheiden, ob er denn für sich persönlich »einen Arbeiterkampf« haben könne. Frau Wolfram sagte: »Ja, aber nur gegen bar.« Da er aber nicht bezahlen wollte, bekam er das Exemplar nicht. Bei der 97 ersten Durchsuchung an der Grenze, am 15.5.1977, kam die Sozialarbeiterin gerade von einer Veranstaltung der belgischen Organisation »Pour Le Socialisme« zurück, an der sie als Vertreterin des Kommunistischen Bundes Bremerhaven teilgenommen hatte. Wie ihr erging es auch den anderen deutschen Teilnehmern dieses Treffens. Die Kongreßbesucher vermuteten deshalb, daß deutsche Verfassungsschützer sie in Brüssel observiert hatten. Diese Vermutung wurde wenig später zur Gewißheit. Ilse Wolfram, die sich beim Bezirksamt in Berlin-Spandau als Sozialarbeiterin beworben hatte, erhielt unter dem Datum des 2. Dezember 1977 per Einschreiben die Absage: Ihr wurde die Teilnahme an der Brüsseler Veranstaltung zur Last gelegt sowie der Verkauf kommunistischer Zeitungen in Cuxhaven. Deutschland im Winter 1977. Die Beispiele sind zufällige Fundstücke behördlicher Übergriffe. Zusammengefügt ergeben sie wie ein Puzzle das Bild einer Bundesrepublik, die auf dem Wege zum autoritären Staat ist. Mit der Übernahme des Bundeskanzleramts durch den einstigen Hamburger Polizeisenator Helmut Schmidt wurde das »Law and Order«-Denken amtlich.
Unter dem populären Sammelbegriff »Anti-Terror-Ge setze« verabschiedete der Bundestag allein im vergangenen Jahr 15 Maßnahmen, die Rechte von Verteidigern und Angeklagten einschränken, das Leseverhalten mündiger Bürger regulieren sollen, die Polizeigewalt auf Kosten der Freiheit des einzelnen stärken. Überflüssig, weil nutzlos, sind sie vor allem bei der Bekämpfung des Terrorismus. Bedrohlich werden sie für den einzelnen Bürger, der, weit davon entfernt, mit den Terroristen gemeinsame Sache zu machen, sich eine unbequeme politische Überzeugung leistet. Hier greifen die Kontroll- und Einschüchterungsmechanismen lückenlos. Das gefährlichste Paragraphenwerk im Zeitalter der im Verbund arbeitenden Elektronengehirne von Polizei und Geheimdiensten bastelten die Landesparlamente zusammen, als sie in den letzten Jahren Gesetze über die Arbeit ihrer Verfassungsämter verabschiedeten. Der folgenschwerste Punkt der weitgehend gleichlautenden Landesregelungen ist • die Vorschrift, wonach sämtliche Behörden und Gerichte 98 des Landes, die Gemeinden, Landkreise und »sonstige der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts« nunmehr der Verfassungsschutzbehörde alle verfassungsfeindlichen Bestrebungen »bei Anfrage unaufgefordert zu übermitteln« haben oder auf dem Wege der Amtshilfe bei Anfrage nennen müssen. Das heißt nichts anderes als: auch Schulen, Universitäten, Handwerks-, Industrie- und Handelskammern, Finanzämter und selbst Kirchen • sie sind alle juristische Personen des öffentlichen Rechts -sind zu Spitzel- und Überwachungsdiensten aufgefordert. Von diesen Institutionen können die Verfassungsschutzämter in den Ländern nunmehr »über alle Angelegenheiten, deren Aufklärung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich ist ... Auskünfte und die Übermittlung von Unterlagen« verlangen. In der Praxis bietet dies die Möglichkeit, über die Relaisstation der Landesämter für Verfassungsschutz eine ganze Kette von Rechenzentren an den NADIS-Computer im Kölner Bundesamt anzuschließen: • die Datenzentralen der Hochschulen, in denen gespeichert ist, welcher Student welche Vorlesungen und Übungen belegt hat; • die Landes- und kommunalen EDV-Anlagen, die pro Bürger bis zu 400 persönliche Einzeldaten erfassen - vom Namen und Geburtsdatum und Glaubensbekenntnis bis hin zur Frage, ob er geschieden ist. • Die Individualdateien der Länder für den Schulbetrieb mit ihren Angaben über Lehrer und Schüler, in denen Zeugnisnoten ebenso gespeichert werden wie die Ergebnisse von Psychotests; dazu gehören auch die jetzt in Hamburg und Nordrhein-Westfalen eingeführten schuleigenen Datenspeicher, die Wehrersatzämter und Gesundheitsämter gleich mitbedienen werden; • die EDV-Anlagen der Personalverwaltungen des öffentlichen Dienstes und sogar • die Computer der Staats- und Universitätsbibliotheken, die auf Knopfdruck Auskunft geben über das Leseverhalten von Hunderttausenden. Dagegen mutet selbst das Gestapo-Recht von 1933 noch 99 vergleichsweise liberal an. Damals waren offiziell nur die Polizeibehörden zur Meldung verpflichtet - in der Praxis allerdings störte sich der Nazistaat an diesem rechtlichen Rahmen wenig. Professor Hans-Peter Schneider weist auf die gesellschaftspolitischen Folgen des neuen Rechts hin: »Auf der einen Seite wird notwendige Kritik schon durch die bloße Möglichkeit einer Mitteilung an den Verfassungsschutz unterbunden, auf der anderen Seite werden der Denunziation und dem Mitläufertum Tür und Tor geöffnet.« Eine Reihe anderer Bestimmungen verschärfen die Risiken der Überwachungsgesetze. Bei der Aufgabenbeschreibung für die Verfassungsschützer wird stets mit dem nebulosen Begriff der »freiheitlichdemokratischen Grundordnung« (FDGO) operiert, einem Kürzel, das von jedem Beamten nach seinem eigenen Belieben ausgelegt werden kann: Er bestimmt, wer ein Verfassungsfeind ist. Ferner werden die staatlichen Spitzel ermächtigt, »nachrichtendienstliche Mittel« anzuwenden. Dadurch zum Ge brauch von Richtmikrofonen und Mini-Spionen ermuntert, können die Verfassungsschützer alle Paragraphen des Strafgesetzbuchs und der Verfassung unterlaufen, die die Intimsphäre der Bürger gegen Abhörpraktiken schützen sollen. Außerdem darf der Verfassungsschutz nun sogar seine Erkenntnisse an »andere als staatliche Stellen« weitergeben -in Rheinland-Pfalz ohne jede Einschränkung, in Bremen, Hamburg und Niedersachsen bei Zustimmung der Innenbehörde. Die bislang illegale Praxis der Kooperation von Verfassungsschutz und Werksschutz großer Betriebe ist damit juristisch sanktioniert. Professor Schneider über die Folgen: »Der Verfassungsschutz informiert irgendeinen Arbeitgeber, und bestimmte Leute werden nicht eingestellt.« Hart am Rand der Verfassungswidrigkeit ist schließlich noch jene Klausel in den Gesetzen von Bayern, Rheinland-Pfalz, Bremen und Niedersachsen, die dem Verfassungsschutz ausdrücklich die Mitwirkung
vorschreibt »bei der Überprüfung von Personen, die sich über die Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben«. In allen übrigen Bundesländern ist dies aber auch Praxis. 100 Wie solch ein Instrumentarium von der politischen Führung mißbraucht werden kann, hat der amerikanische Präsident Nixon vorgemacht: Er ließ durch systematische Nachforschungen bei der Steuerfahndung oder der Drogenbehörde belastende Angaben über politische Gegner sammeln. Das US-Verteidigungsministerium speicherte in seinen Datenbanken alle Abonnenten von Zeitungen, die den Vietnamkriegs-Kurs der Regierung kritisiert hatten. Noch ehe die Landesverfassungsschutzgesetze in Kraft traten, warnte Professor Schneider, daß die Auskunftsund Zulieferungspflicht der Ämter dazu führen könnte, daß »jeder Behördenchef auf eigene Faust Überwachungsmaßnahmen anordnet, um seiner Pflicht nachzukommen«. Zu Recht: Ausgerechnet in Hessen, das sich gern als liberale Fluchtburg inmitten einer reaktionären Bundesrepublik darstellt, forderte das Kultusministerium Direktoren und Präsidenten der Hochschulen auf, Nachforschungen über die der DKP nahestehende Hochschulorganisation MSB Spartakus anzustellen. Erfragt wurde, »wie stark der MSB Spartakus an Ihrer Hochschule ist (Mitgliederzahl) und wie stark diese Gruppe in den Hochschulgremien vertreten ist«. Ferner wurde eine Prognose erbeten, ob der MSB Spartakus »innerhalb des gesetzlichen Rahmens durch Mehrheitsbildungen auf Grund von Wahlen« seine Ziele durchsetzen könne. Wie großzügig der Verfassungsschutz selbst mit seinen neuen Rechten operiert, hat sich im Norden wie im Süden der Bundesrepublik gezeigt. In der Stadtbücherei München informiert sich der Verfassungsschutz über die Ausleiher linker Literatur. Die von der Städtischen Bücherei geführte elektronische Mediendatei enthält die Mediennummern sämtlicher Bücher, Zeitschriften und Kassetten. Gleichzeitig speichert sie aber auch die jeweils letzten zwanzig Benutzer, die wiederum mit Geburtsdatum, Beruf und Anschrift in einer angekoppelten Benutzerdatei enthalten sind. Im Rahmen der Amtshilfe verschafft sich der Verfassungsschutz über das Innenministerium Zugang zu diesen Quellen. In den »Hamburger Stahlwerken« überprüften die Verfassungsschützer nicht nur - wie es ihre Aufgabe ist – die 101 Mitarbeiter im »sicherheitsempfindlichen« Bereich, wo also im Auftrag des Verteidigungsministeriums Rüstungsgüter produziert werden, sondern bei dieser Gelegenheit auch gleich alle anderen Arbeitnehmer des Unternehmens. Sogar die unternehmerfreundliche Zeitschrift »Capital« empörte sich: »Daß sie diese sorgfältig gesammelten Daten an die Firmenleitung weitergaben, ist fast nur noch als Arabeske zu werten.« Die Großzügigkeit des Verfassungsschutzes bei der Weitergabe der Informationen ist oft existenz-, manchmal sogar lebensgefährdend: Im Jahr 1974 verbreitete der damalige Verfassungsschutz-Senator, Hamburgs heutiger Bürgermeister HansUlrich Klose, über den linksliberalen und deshalb der rechten SPD unbequemen FDP-Bürgerschaftsabgeordneten Gerhard Weber, er sei »objektiv ein Sicherheitsrisiko«. Hauptvorwurf: Weber reiste in Ostblockländer und verkehrte mit Sowjetdiplomaten. Gerhard Weber fiel daraufhin bei der Wahl zum FDP-Fraktionsvorsitzenden durch. Im Fall des Heilbronner Kaufmanns Albrecht Richter, (Name geändert) genügte ein anonymer Telefonanruf, um seine berufliche Existenz in Gefahr zu bringen. Im Dezember 1976 fuhr der passionierte Jäger, der seinem exklusiven Hobby schon in vielen Ländern Europas nachgegangen ist, mit sieben Geschäftsfreunden nach Ungarn zur Saudrückjagd. Nach der Rückkehr schlitzte ihm ein Unbekannter die Reifen seines Porsche auf, drei Wochen später wurde nachts der Lack zerkratzt. Im Februar klingelte es beim Stuttgarter Verfassungsschutz, und ein Anrufer, der seinen Namen nicht nennen wollte, informierte die Beamten über den »unerklärlich aufwendigen Lebensstil« des Herrn Richter (schwerer Wagen, neues Haus, teure Reisen) und seine Fahrten in den Ostblock. Die Verfassungsschützer fanden den Hinweis »nicht unsubstantiviert« - so in einem späteren Schreiben des Landesinnenministeriums vom 23. März 1977 - und tippten auf Ostspionage. Um Gewißheit zu erlangen, inspizierten sie den Rohbau von Richters Villa und schickten einen V-Mann zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern, dem Ehepaar Meyer (Name geändert) von der Firma Meßtechnik B und S, um sie über 102 Richters Ostkontakte auszufragen. Erfolg: die verschreckten Eheleute stornierten einen Vertrag mit Richter über den Vertrieb ihrer Geräte in Süddeutschland. Erst nach einem Jahr gelang es Richter, das Vertrauen seiner Partner wiederherzustellen und den Vertrag zum Abschluß zu bringen. Der 66jährige .Professor Norbert Brock, Leiter der pharmakologischen Abteilung der Bielefelder »Asta-Werke«, Kura toriumsmitglied der Deutschen Krebshilfe und von dieser Funktion her eng mit Mildred Scheel und dem Bundespräsidenten bekannt, darüber hinaus eine international anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der
Krebsforschung, müht sich seit nunmehr zwei Jahren um folgendes: Er will vom Innenministerium eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, die seine Frau von dem Verdacht befreit, sie sei Anführerin einer Terroristengruppe, die den Tod türkischer Diplomaten plane. In diesen Verdacht war Edith Brock, Hausfrau und Mutter von fünf Kindern, durch den Bericht eines V-Mannes des Verfassungsschutzes geraten, der in eine oppositionelle Türkengruppe in Münster eingeschleust worden war. Der V-Mann hatte den Namen lediglich phonetisch aufgeschnappt und gehört, die Frau stamme aus Bielefeld und fahre einen großen Mercedes. Er schilderte sie als eine »ganz wilde Professorin«. Der Dortmunder Oberstaatsanwalt Hugo Koch in einem Antwortschreiben auf eine Beschwerde von Professor Brock: Es habe sich um Informationen gehandelt, »die zunächst durchaus glaubhaft erschienen«. Die Informationen dieses V-Mannes hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz ungeprüft an ausländische Nachrichtendienste weitergegeben. Sie wurden schließlich in der auflagenstärksten türkischen Zeitung »Hurriyet« veröffentlicht. Seit her fürchtet das Ehepaar Brock Racheakte in Deutschland und traut sich nicht mehr in die Türkei, in der Professor Brock früher oft an Kongressen teilgenommen hat. Der Arzt, der sich inzwischen aus Angst eine Alarmanlage in sein Haus hat einbauen lassen, legte in einem Bericht nieder, was die Familie bislang durchmachen mußte: »Durch diese scheußliche Diffamierung und durch Leichtsinn, Oberflächlichkeit, Gedankenlosigkeit, ja geradezu Pfuschertum in der Behandlung der ganzen Angelegenheit, sind meiner 103 Familie und mir Wochen der Aufregung, der Sorge, der Schlaflosigkeit, der Unruhe und des Leides beschert worden; ganz abgesehen von dem Zeitverlust und den Kosten, die mir bei dem Versuch der Abwehr und Aufklärung entstanden sind.« Bis jetzt ist es Professor Brock nicht einmal gelungen, eine Namenstilgung aus den Akten zu erreichen. »Für aufsichtsbehördliche und dienstrechtliche Maßnahmen«, so der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer in einem Brief, »besteht keine Veranlassung.« Dieses Verhalten der Sicherheitsbehörden ist die Regel. Wer einmal in die Registratur geraten ist, bleibt auch drin. Und um lästige Scherereien mit unschuldig Verdächtigten zu vermeiden, informieren die Staatsschützer Betroffene auch dann nicht mehr, wenn es durch Gerichtsurteil vorgeschrieben ist. In einem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht wandte sich die hessische Staatskanzlei unter dem Datum des 26. Januar 1978 gegen die im sogenannten G-10-Urteil des Bundesverfassungsgerichts festgelegte Pflicht, unschuldig Abgehörte im nachhinein zu informieren: »Eine Benachrichtigung über mehrere Jahre zurückliegende Maßnahmen aber wird für den - unschuldig - Betroffenen ohne Bedeutung sein, weil die Angelegenheit durch Zeitablauf gegenstandslos geworden ist.« Und: »Die Öffentlichkeit schließlich wird eine routinemäßige Benachrichtigung über länger zurückliegende, wenig gravierende Vorgänge allenfalls als Zeichen pedantischer Bürokratie oder der Unfähigkeit zu rascher Entscheidung werten.« Entschieden plädierte die hessische Staatskanzlei in demselben Schriftsatz generell gegen eine größere Information der Bürger über gegen sie gerichtete Maßnahmen des Verfassungsschutzes — egal, ob diese Maßnahmen sich als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erwiesen haben. Zitat: »Die durch Geheimhaltung bedingte - denkbare - Beschränkung des Rechtsschutzes erscheint auch zumutbar, weil Maßnahmen des Verfassungsschutzes und deren Geheimhaltung als vorbereitende Maßnahmen nicht selbst und unmittelbar bleibende Nachteile für den Betroffenen herbeiführen.« Unter dem Deckmantel der Geheimhaltung kann der 104 Verfassungsschutz auch die illegalen Praktiken seiner V-Leute - ihre Gesamtzahl wird auf über 30 000 Mann geschätzt - verbergen. So gehört es schon seit Anfang der fünfziger Jahre zur Praxis der Schnüffler, sich nicht nur in Organisationen einzuschleichen, sondern auch deren Mitglieder zu staatsfeindlichen Aktivitäten zu veranlassen. Der heutige nordrhein-westfälische Justizminister Posser hat als Rechtsanwalt diese Praxis angeprangert. In einem Referat vor Verteidigern in politischen Strafsachen führte er aus: »In zahlreichen Verfahren der politischen Justiz tauchen Agenten auf. In einem Prozeß gegen einen untergeordneten Funktionär der >Nationalen Front< in Nordrhein-Westfalen stellte sich heraus, daß zum Zeitpunkt der Bundestagswahlen 1953 die Mehrzahl der hauptamtlichen Instrukteure Agenten waren. Diese Agenten hatten den Angeklagten jenes Prozesses zu dem Handeln angeleitet, das ihm die Anklage wegen Staatsgefährdung eingetragen hat. Dabei sind die Funktionäre, die sich später als Agenten entpuppten, mehr als nur agents provocateurs, die sich herkömmlicherweise auf Beobachtungen beschränken und die Dinge bis zum Versuchsstadium gedeihen lassen. Jene Agenten waren aktive Kräfte in der Organisation und haben andere, gutgläubige Mitarbeiter angeleitet.« Der Bürger ist staatlichen Übergriffen wehrlos, ausgeliefert - ob es sich nun um spionierende Geheimdienstler oder prügelnde Polizisten handelt. Am 14. September 1977 hatte die Polizei im Zusammenhang mit der genehmigten Kern kraft-Demonstration in Kalkar auf der Reeser Rheinbrücke einen jungen Mann, der den brutalen Einsatz der Beamten fotografieren wollte, aus einer
Fußgängergruppe gerissen, geschlagen und ihm dann den Film aus der Kamera gezogen. Dazu die Düsseldorfer Landesregierung im Mai 1978: »Das Fotografieren eines Polizeieinsatzes kann unter Umständen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sein ... und insofern ein polizeiliches Einschreiten nach sich ziehen.« Den hessischen Staatsanwalt Harald Weiss-Bollandt beim Landgericht Hanau hat der STERN in Heft 29/1978 zitiert. Er hatte in einem Einführungslehrgang für Referendare bekannt, daß Demonstranten wahrscheinlich zu Recht Polizeibeamte 105 immer wieder verschiedenster Übergriffe beschuldigen: »Aber nachweisbar sind solche Übergriffe so gut wie nie, weil Polizeibeamte sich durch entlastende Aussagen in der Regel wechselseitig decken ... Diese wechselseitige Deckung von Polizeibeamten ist unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer Polizei, wie wir sie brauchen.« Der ängstlich gewordene Staatsanwalt versuchte, den Inhalt dieser entlarvenden Passage abzustreiten, und schickte dem STERN eine Gegendarstellung. Dieses Schriftstück, ein Zeugnis des bundes deutschen Beamtengeistes, geriet unfreiwillig zu einer kompletten Bestätigung der STERN-Darstellung: »Falsch ist,
daß Staatsanwalt Weiss-Bollandt erklärt habe, daß Polizeibeamte in gegen sie gerichteten Er mittlungsverfahren sich durch entlastende Aussagen >in der Regel wechselseitig decken<. Richtig ist, daß in diesem Zusammenhang ausgeführt wurde, daß Polizeibeamte belastende Aussagen von anderen Beamten infolge der in diesem Beruf bestehenden besonderen Kollegialität oftmals nur schwer zu erlangen seien. Falsch ist, daß Staatsanwalt Weiss-Bollandt diese Tatsache begrüßt und gesagt habe: >Diese wechselseitige Deckung von Polizeibeamten ist unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer Polizei, wie wir sie brauchen.< Richtig ist, daß er den Referendaren lediglich aufzeigte, daß jene besondere Kollegialität unter den Polizeibeamten trotz der geschilderten Nachteile andererseits geeignet ist, einen wichtigen Beitrag zum Bestehen schwieriger Einsätze zu leisten. Nur unter dem letztgenannten Gesichtspunkt hat er die erwähnte Kollegialität als vorteilhaft dargestellt, niemals aber es im Interesse einer funktionierenden Polizei für wünschenswert oder gar erforderlich erachtet, daß Polizeibeamte sich wechselseitig decken<. Farwick Weiss-Bollandt Leitender Oberstaatsanwalt Staatsanwalt 106 Für die Rechtfertigung des Abwehrkampfes gegen alles, was links ist, füllte der Terrorismus eine wichtige Lücke: Damit war der Zusammenhang zwischen Linken, Linksextre misten und Kriminalität hergestellt. Die Verstärkung des innerstaatlichen Gewaltapparats war so gerechtfertigt. Nicht nur in den neuen Gesetzen, auch in der Ausrüstung der Polizei sind inzwischen Dimensionen erreicht worden, die nicht dem vorgegebenen Ziel der Terrorismusbekämpfung dienen, sondern der Kontrolle und Unterdrückung von Bürgern, die anderer Meinung, aber deshalb noch lange nicht kriminell sind. 107 Die Bürgerkriegsarmee Im Herbst 1978 soll in allen Bundesländern ein einheitliches neues Polizeirecht beschlossen werden. Kernpunkt: der gezielte Todesschuß. Gegen diese Regelung laufen nicht nur Juristen Sturm - der Hannoveraner Staatsrechtsprofessor Schneider: »Eine gefährliche Herabsetzung der Hemmschwelle«; der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Wassermann: »Einführung der Todesstrafe durch die Hintertür.« Auch verantwortungsvolle Polizisten wie der Bonner Polizeipräsident Fritsch lehnen die Tötungsklausel ab: »Die Auswirkungen wären verheerend.« Neben moralisch-ethischen Einwänden gibt es rein praktische Argumente gegen den Todesschuß. Der Münchner Bankräuber Rammelmayr konnte seine Geisel, ein zwanzig jähriges Mädchen, noch mit mehreren Pistolenschüssen tödlich treffen, obwohl er selbst, wie die spätere Obduktion ergab, drei Herzdurchschüsse hatte. Ein Hamburger Bankräuber, Gonzales, der 1974 von einem Polizisten aus nächster Nähe durch Kopfschuß getötet wurde, hatte seiner Geisel - was bisher streng geheimgehalten worden ist - noch erhebliche Verletzungen mit dem Messer an der Kehle beigebracht. Eine direkte Todeswirkung ist nach den Feststellungen medizinischer Sachverständiger nur durch einen Schuß in das Zentralnervensystem des Gehirns »mit Öffnung der Schädelhöhle« oder in das obere Rückenmark zu erzielen. Sonst würden nur noch Dum-Dum-Geschosse den Täter auf der Stelle ausschalten können - und zwar durch Schmerzschock.
109 Bei Anwendung solcher Munition würde ein Schuß ins Bein genügen. Der Einsatz von Dum-Dum-Geschossen jedoch ist glücklicherweise durch das Völkerrecht geächtet. Das neue Polizeirecht will den Todesschuß nicht nur für die Abwehr von Lebensgefahr zulassen, sondern auch, »wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr, einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist«. Ein Polizist, der sich also körperlich bedroht fühlt - gewalttätige Demonstrationen etwa vor Kernkraftwerken liefern Dutzende solcher Situationen -, könnte dann den Todesschuß abfeuern. In engem Zusammenhang mit dem Todesschuß stehen die neuen Waffen, die der Polizei durch Gesetz zuerkannt werden sollen: Maschinengewehre und Handgranaten. Es sind Waffen mit ungezielt tödlicher Wirkung - für ihren Einsatz ist es logische Voraussetzung, daß das Töten von Menschen von vornherein in Kauf genommen wird. Die Polizei hat diese Waffen immer mit dem Argument gefordert, sie müsse über die gleiche Ausrüstung verfügen wie die Terroristen. Professor Schneider hielt dem bei einer Tagung auf der Polizeiakademie in Hiltrup entgegen: »Was wollen Sie denn machen, wenn die Terroristen mit biologischen und chemischen Waffen anfangen? Soll man dann die Polizei etwa auch mit ähnlichen Mitteln bewaffnen?« Schneiders Antwort: »Den Terroristen sind keine Grenzen gesetzt, aber bei der Polizei muß das doch irgendwann einmal aufhören. Der Rechtsstaat gibt sich selbst auf, wenn er sich bei der Wahl der Mittel nach den Terroristen richtet.« Überdies hält Schneider Todesschuß sowie Ausrüstung mit Handgranaten und Maschinengewehr rundweg für verfassungswidrig, weil damit gegen »die Wesensgehaltgarantie des Rechts auf Leben« sowie gegen das oberste Polizeigebot von der »Verhältnismäßigkeit der Mittel« verstoßen werde. Außerdem soll im neuen Polizeirecht der Schußwaffengebrauch auch gegen Menschenmengen erleichtert werden. Die einzige Einschränkung - »Der Schußwaffengebrauch...ist unzulässig, wenn für den Polizeibeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden« - wird durch den nachfolgenden Absatz wieder weitgehend aufgehoben: 110 »Unbeteiligte sind nicht Personen in einer Menschenmenge, die Gewalttaten begeht oder unterstützt, wenn diese Personen sich aus der Menschenmenge trotz wiederholter Androhung nicht entfernen.« Dies wiegt um so schwerer, als die Gerichte den Begriff Gewalt ohnehin weiter fassen, als es sich der juristische Laie vorstellt./Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs ist Gewalt auch der passive Widerstand - etwa das Niedersetzen auf Straßenbahnschienen bei einer Demonstration für den Null-Tarif im öffentlichen Nahverkehr. Überdies ermuntert das geplante neue Polizeirecht dazu, durch Provokateure eine legitime Demonstration auseinanderzutreiben: Wenn solch ein Provokateur in einer sonst friedlich verlaufenden Demonstration mit Krawall beginnt, kann die Polizei den Schußwaffengebrauch androhen und damit die Demonstration sprengen. Regelungen, die eine Durchsuchung auch Unverdächtiger erlauben, und die Möglichkeit zu Razzien auch während der Nachtzeit in Wohnungen von Bürgern, die keiner Straftat beschuldigt werden, vervollständigen die Macht der Polizei. Parallel zu den Bestrebungen, die Polizei paramilitärisch aufzurüsten, lief eine Reihe anderer Maßnahmen zur Installierung einer Bürgerkriegsarmee. Jedes Bundesland hat sich i m wischen polizeiliche Elitetruppen geschaffen, die eigentlich in Fällen von Schwerkriminalität in Aktion treten sollen, zunehmend aber auch schon bei Demonstrationen aufmarschieren. Der Grenzschutz, ursprünglich eine Truppe, die bewaffnete Auseinandersetzungen speziell an der Ostgrenze abfedern sollte, wurde gleichzeitig zu einer Bereitschaftspolizei des Bundes entwickelt. Granatwerfer und schwere Kampfpanzer wurden aus seinem Arsenal aussortiert, statt dessen wurden Wasserwerfer angeschafft, Schutzhelme, Schutzschilde, und die Bewaffnung mit MGs, MPs, Pistolen und Tränengas wurde verstärkt. Beim Wettrüsten im Windschatten des Terrorismus mochte auch die Stadtpolizei nicht hintenanstehen. So schaffte sich die Kölner Polizei einen Panzerwagen mit Schießscharten an. Dieses »geschützte Gruppenkraftfahrzeug« sei für Einsätze wie Geiselnahmen und terroristische Anschläge gedacht, 111 erklärte die Polizei. Besser als gegen RAF-Guerilleros allerdings funktioniert der Wagen gegen Demonstranten: Vor die Motorhaube kann ein breiter Metallschild montiert werden -im Kölner Polizeipräsidium wurde der Wagen des halb auch »Räumfahrzeug« getauft. »Es muß doch die Chance bestehen, eine bewaffnete Revolution niederzuschlagen«, begründete einmal der frühere rheinland-pfälzische CDU-Innenminister Heinz Schwarz das neue Polizeirecht. Daß die Gewerkschaft der Polizei die neuen Waffen ebenfalls ablehnt, störte ihn nicht: »Wer der Meinung ist, daß Polizisten Sozialhelfer sind, hätte Sozialhelfer werden sollen und nicht Polizist.«
Zahlen sprechen für sich: in der Bundesrepublik kommt auf 413 Bürger ein Polizist, in Frankreich auf 596, in Großbritannien auf 600, in Belgien auf 650, in den Niederlanden sogar auf 825 Bürger. Nur Spanien übertrifft die Uniformierung der Bundesrepublik. Dort kommt schon auf 340 Einwohner ein Polizeibeamter. Ein Rechtsvergleich des Heidelberger Ma x-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht bescheinigt der Bundesrepublik ebenfalls, auf dem Weg zum Polizisten-Staat die westeuropäischen Nachbarländer und die USA weit hinter sich zu lassen. Zu den Einmaligkeiten, die es weder in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz und den USA gibt, zählen folgende Punkte im geplanten neuen Polizeirecht: • Die Befugnis, auch unverdächtige Bürger erkennungsdienstlich zu behandeln, ihnen also Fingerabdrücke abzunehmen, sie zu fotografieren und zu messen. Die Rechtsstudie erwähnt dabei ausdrücklich, »daß in Großbritannien die Abnahme von Fingerabdrücken nur auf eine entsprechende richterliche Anordnung hin vorgenommen werden darf«. • Desgleichen gibt es in keinem der genannten Länder das Recht zur Durchsuchung auch Unschuldiger und zu Razzien in Wohnungen Unverdächtiger ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl. Einzige Ausnahme: Der schweizerische Kanton Waadt, der »die Durchsuchung von Wohnungen zu präventiven Zwecken ohne richterliche Anordnung« gestattet. 118 • Als ebenso einmalig erweist sich die Einbeziehung der Handgranate ins Waffenarsenal der Polizei. • Mit Ausnahme der Schweiz darf sonst in keinem anderen Staat, so wie es die Bundesländer planen, die Polizei ohne Androhung von Schußwaffen Gebrauch machen, wenn das »zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist«. • Nur Österreich kennt eine ähnliche Todesschuß-Regelung wie das geplante neue deutsche Polizeirecht. Generell merkt die Studie des Max-Planck-Instituts an, daß das untersuchte ausländische Polizeirecht »im großen und ganzen den Rahmen polizeilicher Befugnisse allgemeiner umschreibt und eine größere Flexibilität bei ihrer Handhabung zuläßt«, als dies in dem Musterentwurf der Bundesländer vorgesehen ist. Die Verfasser der Studie fügen ausdrücklich hinzu: »Doch wäre es gewiß unzutreffend, im Grad der Durchnormierung allein einen Maßstab der Rechtsstaatlichkeit zu erblicken.« Für knapp eine Million Mark haben sich die Innenminister der Länder und des Bundes vor zwei Jahren von der Universität Saarbrücken ein Gutachten über das Berufsbild der Polizei erstellen lassen. Darin heißt es: »Die deutschen Polizisten leiden unter einem Minderwertigkeitskomplex, weil sie sich nicht zu der militärischen Komponente ihres Berufs bekennen wollen ... Dieser Minderwertigkeitskomplex kann nur verschwinden, wenn die deutsche Polizei jene Unbefangenheit zur militärischen Komponente zurückgewinnt, die für die Polizeien anderer demokratischer Länder charakteristisch ist.« Ist der Musterentwurf erst einmal Gesetz, brauchen deutsche Polizisten keine Minderwertigkeitskomplexe mehr zu haben. Um so mehr aber die Bürger. 121 Im Namen des Gesetzes Alle reden von Freiheit. SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt: »Wann jemals vorher ist auf deutschem Boden soviel persönliche Freiheit und soviel Toleranz verwirklicht worden?« Hessens CDU-Chef Alfred Dregger: »Unser Land ist eines der freiheitlichsten der Welt.« Beide meinen es ernst - und dies stimmt bedenklich. Sie merken nicht, daß sie längst Opfer einer Verwechslung der Freiheit mit der Polizeivorstellung von »Sicherheit und Ordnung« geworden sind. Dieser Etikettenschwindel gehört in der Bundesrepublik der siebziger Jahre zum System. Ein bißchen Freiheitsverlust an den Kanten sei notwendig, um jene Sicherheit zu schaffen, die Freiheit garantiert. Diese Formel setzt eine gefährliche Kettenreaktion in Gang, die Professor Hans-Peter Schneider so umschreibt: »Wer tagsüber absolut ungefährdet über die Straße gehen möchte, muß in Kauf nehmen, daß er nachts nicht mehr vor einer Verhaftung sicher ist.« Weniger Freiheit, sagt Schneider, heiße noch längst nicht größere Sicherheit. Zwar hat die Sowjetunion kein Terroris musproblem, aber das Beispiel östlicher Staaten zeigt, wohin ungebremster staatlicher Machtzuwachs führt. Er kann zwar vermeintlich öffentliche Sicherheit garantieren, dies aber nur um den Preis von Freiheitsbeschränkungen, die wiederum erhebliche Sicherheitsprobleme für den einzelnen Bürger mit sich bringen. Das Spiel mit gezinkten Karten hat in der Verabschiedung immer neuer Rechtsnovellen unter dem Pseudonym »Antiterrorismus-Gesetze« seinen Höhepunkt gefunden. Nur damit, so erklärten Regierung und Opposition, lasse sich die Freiheit sichern. Wer jedoch die Gesetze auf ihren tatsächlichen Inhalt 123
abklopft, wird bald feststellen: Sie sind nicht geeignet, auch nur einen Terroristen dingfest zu machen, auch nur einen Anschlag der RAF-Guerilleros zu verhindern. Daß die immer neuen Gesetze, Gesetzesänderungen, Verordnungen und Erlasse im Grunde überflüssig sind, haben selbst die in erster Linie zuständigen Politiker, die Innenminister der Länder und des Bundes, eingestanden. In einem Vorwort zum »Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland« vom Februar 1974 haben sie wörtlich geschrieben: »Das Anwachsen der Kriminalität und die Brutalisierung politischer Ausdrucksformen extremer Gruppierungen haben mancherorts Zweifel an der Fähigkeit des demokratischen Staates entstehen lassen, mit den Gefahren fertig zu werden. Die Feststellung, daß die Befürchtungen - nüchtern betrachtet - vielfach übertrieben sind, ändert nichts daran. Der Bürger erwartet von den Verantwortlichen klare Aussagen, wie dem Problem begegnet werden soll. Er erwartet auch, daß die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden.« Motto also: Es muß was geschehen, damit irgend was geschieht. Die harmlosesten Beispiele für solch puren Paragraphen-Aktionismus sind die jüngst verabschiedeten Gesetze über fälschungssichere Autokennzeichen und die Hotelmeldepflicht. Die neuen Kennzeichen werden die Autofahrer der Bundesrepublik zwar teuer zu stehen kommen - Experten rechnen mit über einer Milliarde Mark an Herstellungs- und Verwaltungskosten. Doch es wird - selbst im Urteil eines in der Terrorismusbekämpfung versierten Verfassungsschützers hinausgeworfenes Geld sein. Denn schon längst sind die Terroristen davon abgegangen, sich ihre Kennzeichen und Autopapiere selbst zu fälschen. Statt dessen kaufen sie die PKW vornehmlich an Sonnabenden von Privatpersonen, bitten darum, für den Wochenendausflug das Kennzeichen dranzulassen, zahlen dafür einen Hunderter mehr und haben so ein Auto mit künftig sogar fälschungssicheren Kennzeichen. Geraten sie in eine Verkehrskontrolle, können sie mit der Gelassenheit des Polizisten rechnen, der sich sagt: »Die Nummernschilder sind ja fälschungssicher, also können es 124 auch keine Terroristen sein.« Paradebeispiel ist der als Terrorist angeklagte Rechtsanwalt Siegfried Haag, der auf einem Auto-Markt in Hamburg -Farmsen am Wochenende ein Fahrzeug kaufte, mit dem am darauffolgenden Montag dann eine Sparkasse überfallen wurde. Genauso karamboliert die Hotelmeldepflicht mit der Pra xis. Nach den Vorstellungen des Bundeskriminalamts sollen die ausgefüllten Hotelmeldescheine einmal in der Woche vom Computer des BKA im Gegenlauf überprüft werden. Bei 6,5 Millionen Übernachtungen pro Woche in der Bundesrepublik ist nach Ansicht von Experten die Sinnlosigkeit des Vorhabens evident. Eine ganze Reihe sogenannter Antiterror-Gesetze sind jedoch nicht von dieser harmlosen Sinnlosigkeit, sie sind gefährlichere Blindgänger: Wenn sie losgehen, ist kein Terro rist in Gefahr, wohl aber der Rechtsstaat. Blindgänger Nr. i: der Verteidigerausschluß. Seit dem i. Januar 1975 kann das Gericht einen Verteidiger vom Verfahren ausschließen, wenn er unter dem Verdacht steht, an, der Tat des Beschuldigten selbst beteiligt gewesen zu sein oder den Kontakt mit dem Beschuldigten zu Straftaten bzw. zur »Gefährdung der Anstaltssicherheit« zu mißbrauchen. Auf den ersten Blick ist es einleuchtend, daß ein Tatbeteiligter nicht Verteidiger sein kann. Allein aber die Entstehungsgeschichte dieser Gesetzesnovelle zeigt die Zweischneidigkeit des neuen Instruments. Als 1972 in Stammheim das Verfahren gegen die Terroristen Baader, Ensslin und Raspe anlief, wurden die Verteidiger verdächtigt, Mittelsmänner zwischen den Inhaftierten und den noch in Freiheit lebenden RAF-Guerilleros zu sein. Bei der inzwischen auch verhafteten Ulrike Meinhof war ein Kassiber von Gudrun Ensslin gefunden worden. Gudrun Ensslin hatte als einzigen Verteidiger den Anwalt Otto Schily. Das Gericht schloß daraus, daß nur er den Kassiber nach draußen geschmuggelt haben könne. Sonst habe niemand Kontakt mit Frau Ensslin gehabt -abgesehen vom Gefängnispersonal. Die Wächter seien aber nie allein in die Zelle der Inhaftierten gekommen. Schily gelang es nachzuweisen, daß Frau Ensslin auch von einzelnen Bediensteten der Anstalt Besuch gehabt hatte. Der Bundesgerichtshof 125 mochte den Einspruch jedoch nicht gelten lassen. Sein Argument: Bedienstete der Anstalt hätten keinen Grund, für einen Häftling einen Kassiber hinauszuschmuggeln. Bei einem Verteidiger aber, der grundsätzlich gleichgerichtete Interessen wie der Beschuldigte habe, liege der Verdacht des Kassiberschmuggels nahe. Das Gericht setzte sich damit über die aktenkundige Erfahrung hinweg, daß gegen Geld von manchen Gefängnisbeamten in der Bundesrepublik so ziemlich alles raus- und reingeschmuggelt wird -voran Kassiber, Rauschgift, Alkohol und manchmal sogar Häftlinge. Der Bundesgerichtshof schloß also Schily aus. Der Anwalt legte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Selbst innerhalb der Justiz wurde die Entscheidung des Bundesgerichtshofs als nicht fundiert angesehen: In einem zweiten Verfahren akzeptierte das Berliner Kammergericht Schily ohne Einschränkung als Verteidiger.
Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde Schilys recht, wenn auch nur aus einem formalen Grund: Es bestand damals noch keine Gesetzesgrundlage für den Ausschluß. Schily wurde wieder beim Bundesgerichtshof zugelassen. Als aber im Dezember 1974 das Gesetz - der § 138a - geschaffen worden war, durfte Schily dennoch bleiben. Denn inzwischen hatten auch die Richter des Bundesgerichtshofs ihren Vorwurf gegen den Anwalt aufgegeben. Ein gegen Schily laufendes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Der Anwalt ist inzwischen voll rehabilitiert. Ein anderes Beispiel aus der Praxis: Der 1975 vom Baader/ Meinhof-Verfahren ausgeschlossene Anwalt Christian Ströbele wurde ein Jahr später vom Bundesgerichtshof zum Pflichtverteidiger einer Angehörigen der Baader/Meinhof-Gruppe bestellt. Offensichtlich betrachtete das Gericht die Einwände gegen ihn als nicht stichhaltig. Ströbele wurde dennoch angeklagt. Ebenso wie dem Hamburger Anwalt Groenewold (inzwischen noch nicht rechtskräftig - zu zwei Jahren Gefängnis mit Bewährung verurteilt) wird ihm allerdings nicht mehr vorgeworfen, der Verbindungsmann zwischen den RAF-Häftlingen und den RAF-Guerilleros im Untergrund gewesen zu sein. Ihm wird jetzt nur noch angelastet, die Kommunikation zwischen den Inhaftierten aufrecht132 erhalten und für die Häftlinge Propaganda gemacht zu haben. »Die Gefahr ist beträchtlich«, sagt dazu der Bonner Strafrechtler Professor Gerald Grünwald, »daß man sich unbequeme Verteidiger vom Hals schafft.« Denn die Verteidiger können schon auf einen Verdacht hin ausgeschlossen werden. Eine Anklageerhebung - und damit eine Überprüfung des Vorwurfs - wird nicht vorausgesetzt. Gerade aber bei politischen Verfahren ist die Grenze zwischen zulässiger Verteidigung auf der einen Seite, Strafvereitelung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung auf der anderen Seite unscharf. Ein engagierter Verteidiger - der Regelfall bei politischen Verfahren - riskiert seinen Ausschluß. Im April 1978 schob der Bundestag ein neues Gesetz nach, das nun schon einen Verteidigerausschluß bei einfachem Verdacht der Tatbeteiligung oder beim Verdacht des Mißbrauchs des Verkehrsrechts mit dem Mandanten erlaubt. In einen »einfachen« Verdacht können leicht auch völlig pflichtgemäß handelnde Verteidiger geraten. Eine Denunzia tion oder falsche Bezichtigung reichen dafür aus. Mit der Herabsetzung des Verdachtsgrads hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, daß Verteidiger zu Unrecht ausgeschlossen und diskreditiert werden. Ein einzigartiger Beleg für den surrealistischen Irrsinn solcher Gesetzes-Fabrikation ist die amtliche Begründung des Regierungsentwurfs. Zitat: »Bisher ist kein Fall bekanntgeworden, in dem die Höhe des Verdachtsgrads des geltenden Rechts zur Ablehnung eines Ausschließungsantrags geführt hätte oder Anlaß dafür gewesen wäre, einen solchen Antrag gar nicht erst zu stellen.« Blindgänger Nr. 2: das Verbot der Mehrfachverteidigung. Ebenfalls seit dem i. Januar 1975 ist die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch denselben Anwalt verboten. Außerdem darf ein Angeklagter nicht mehr als drei Verteidiger wählen. Bis dahin war es möglich und üblich, daß sich mehrere Beschuldigte gemeinsam mehrere Verteidiger nahmen, wenn es um einen Tatkomplex ging. So hielten es auch die ersten wegen Terrorverbrechen angeklagten RAFMitglieder. Staatsanwälte und Richter aber sahen in dem Netz von Anwaltsbestallungen durch die in verschiedenen Anstalten 133 einsitzenden Terroristen den Aufbau eines vielgliedrigen Kommunikationssystems, welches das Weiterbestehen der RAF-Organisation ermögliche. Wenn auch der Anschein dafür spricht, daß die angeklagten Terroristen die freie Anwaltswahl mißbrauchten der jetzt einsitzende Anwalt Arndt Müller zum Beispiel machte innerhalb von zwei Jahren 584 Besuche bei RAF-Häftlingen -, bringt das Gesetz fortan aber auch für Angeklagte, die mit Terrorismus nichts gemein haben, erhebliche Nachteile. Sind an einer Tat viele beteiligt, so muß jetzt jeder Beschuldigte einen eigenen Verteidiger suchen und ihn auch bezahlen. In der Verhandlung können die Verteidiger einander nicht mehr ablösen. Und auch die für die Ve rteidigung nötigen Informa tionen müssen nun mehrfach aufgearbeitet werden. Blindgänger Nr. 3: die Verteidigerüberwachung. Seit dem 18. August 1976 darf der schriftliche Verkehr zwischen Verteidiger und einem unter Terrorismus-Anklage stehenden Beschuldigten überwacht werden. An der Geschichte dieses Gesetzentwurfs wird beispielhaft der Mechanismus deutlich, mit dem die CDU/CSUOpposition es versteht, ihre Rechtsvorstellungen durch eine sozialliberale Regierungsmehrheit verwirklichen zu lassen. Das Rezept ist einfach: Um zu erreichen, was man will, muß man mehr fordern und die zögernde Gegenseite dann bezichtigen, durch zu große Laschheit dem Terrorismus Vorschub zu leisten. Schon seit 1974 verlangte die Union die Überwachung sowohl des mündlichen wie auch des schriftlichen Verkehrs zwischen Anwälten und den wegen Terrorismusverdacht Inhaftierten. Die SPD sträubte sich. Sie hoffte zunächst, die Oppositionsforderung dadurch auffangen zu können, daß der Ausschluß von Verteidigern erleichtert wurde. Doch die Opposition blieb bei ihrem Verlangen. Im Bundestagsinnenausschuß gab der später von Terroristen ermordete Generalbundesanwalt Siegfried Buback Schützenhilfe: Komme es nicht zur Überwachung der
Anwälte, könne er einen weiteren Anschlag wie den auf die deutsche Botschaft in Stockholm nicht ausschließen. Die sozialliberale Regierungsmehrheit gab nun nach. In einem Kompromiß wurde beschlossen, daß der mündliche Verkehr zwischen Verteidiger und Angeklagtem 134 frei bleibt, der schriftliche jedoch überwacht wird. Dieser Kompromiß ist ein Dokument der Hilflosigkeit. Verschwörungen zwischen Anwälten und Mandanten können damit nicht verhindert werden. Dann hätten die Soziallibera len konsequent sein und auch den mündlichen Verkehr unter Kontrolle stellen müssen. Damit aber wäre das Recht auf wirksame Verteidigung, das zu jedem rechtsstaatlichen Strafverfahren gehört, endgültig zerstört worden. Schon die Überwachung des Schriftverkehrs, die eine offene Korrespondenz über Verteidigungsmöglichkeiten praktisch unterbindet, ließ selbst den stockkonservativen Anwaltsverein protestieren: dies sei ein Eingriff in elementare Rechtsstaatsprinzipien. Der Eingriff wiegt um so schwerer, als die Überwachung unterschiedslos jeden Verteidiger in einem Terroris musverfahren erfaßt, egal, ob er nun verdächtig oder unverdächtig ist. Die gesamte Palette der neuen Regelungen zur Einschränkung der Verteidigerrechte befindet sich ohnedies am Rand der Verfassungswidrigkeit. Das Grundrecht der Berufsfreiheit in Artikel 12 des Grundgesetzes, eine Garantie der »Freien Advokatur«, ist damit ebenso berührt wie das Recht des Beschuldigten auf unbehinderte Verteidigung und auf einen fairen Prozeß. Blindgänger Nr. 4: das Kontaktsperregesetz. Seit dem 30. Oktober 1977 kann der Justizminister in bestimmten Situatio nen anordnen, daß wegen Terrorismus Angeklagte oder Verurteilte weder untereinander noch mit der Außenwelt Verbindung haben dürfen. Diese Kontaktsperre darf angeordnet werden, wenn von einer terroristischen Vereinigung eine Gefahr für »Leben, Leib oder Freiheit einer Person« ausgeht - etwa bei Geiselnahme. Sie wird alle zwei Wochen gerichtlich überprüft. Sie gilt für dreißig Tage, kann aber mehrmals verlängert werden. Als der Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt worden war, wurde die Kontaktsperre zunächst ohne gesetzliche Grundlage angeordnet. Die Justizminister nahmen für sich wieder einmal den Notstands-Paragraphen 34 des Strafgesetzbuchs in Anspruch, obgleich dieser Paragraph seinem Wesen nach nur außergesetzliches Handeln eines einzelnen rechtfertigen könnte, niemals aber das des Staates. In aller Eile wurde 135 daraufhin das Kontaktsperregesetz verabschiedet. Die Bundesregierung erklärte, ihr lägen Erkenntnisse vor, daß die Kontaktsperre zur Rettung Schleyers geboten sei. Später, nach Schleyers Ermordung, ist weder durch die Dokumentation der Bundesregierung noch durch den Untersuchungsbericht des ehemaligen CSU-Abgeordneten Hermann Höcherl über die Fahndungspannen deutlich geworden, daß die Kontaktsperre die Chancen zur Rettung Schleyers erhöht hätte. Ebensowenig ist ihr Nutzen für die Zukunft erkennbar. Ihre Gefährlichkeit aber ist evident. Die totale Isolation über Wochen und Monate beeinträchtigt die psychische Gesundheit von Gefangenen aufs schwerste. Von der Kontaktsperre werden ja auch Gefangene erwischt, die nur angeklagt sind und im späteren Verfahren als unschuldig freigesprochen werden. Darüber hinaus aber kann die Unterbindung des Kontakts mit einem Verteidiger bedeuten, daß mögliche Entlastungsbeweise für immer verlorengehen. Die Gefahr von Fehlurteilen wächst. Ein typisches Beispiel ist der Fall Eleonore Poensgen. Nach dem Mord an dem Bankier Jürgen Ponto identifizierte dessen Ehefrau Ignes aus einem ihr vorgelegten Fotoalbum potentiell Verdächtiger die Frankfurter Studentin Poensgen als Tatbeteiligte. Die Festgenommene konnte in ihrer Vernehmung 15 Entlastungszeugen nennen, darunter den Straßenbahnführer der Linie 27 in Frankfurt, mit der sie zur Tatzeit gefahren sein wollte. Der Tramlenker erinnerte sich tatsächlich seines Fahrgasts. Auch andere Zeugen lieferten Frau Poensgen ein einwandfreies Alibi. Sie wurde wieder auf freien Fuß gesetzt und ist inzwischen voll rehabilitiert. Hätte es damals schon das Kontaktsperre-Gesetz gegeben, wäre die Rekonstruktion ihres Alibis wahrscheinlich mißlungen. Denn: Sie hätte rund 14 Tage, vielleicht sogar einen Monat, keine Chance gehabt, einen Anwalt zu sehen. Selbst das Vernehmungsprotokoll hätte ein von ihr beauftragter Anwalt nicht einsehen dürfen. Ihm wäre nur von dem vernehmenden Richter das »wesentliche Ergebnis« des Verhörs mitgeteilt worden. Ob dieser Richter dabei den Tramfahrer 136 als wesentlichen Zeugen angesehen hätte, bleibt offen. Das Gesetz erlaubt sogar, dem Verteidiger auch »wesentliche Ergebnisse der Ermittlungen« vorzuenthalten, wenn der Richter dadurch das Ziel der Kontaktsperre gefährdet sieht. l lütte der Richter zum Beispiel in der
Aussage »Straßenbahnlinie 27« eine verschlüsselte Angabe vermutet, hätte er sie nicht an den Verteidiger weitergegeben. Wie wenig die Justiz bereit ist, von der gesetzlich vorgeschriebenen Unschuldsvermutung bei Angeklagten auszugehen, belegt eine Äußerung des Generalbundesanwalts Kurt Rebmann nach der Festnahme von Frau Poensgen. Im Rechtsausschuß des Bundestages sagte der oberste Ankläger der Republik auf eine Frage nach der Qualität der 15 Entlastungszeugen: »Unter diesen Zeugen gibt es zwei oder drei, denen man nicht von vornherein die Glaubwürdigkeit absprechen kann.« Blindgänger Nr. 5: der Zensurparagraph 88a. Bestraft wird nach diesem Paragraphen, der am 22. April 1975 in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, die Verbreitung von Schriften, die dazu bestimmt und geeignet sind, die Bereitschaft zur Begehung verfassungsfeindlicher Taten zu fördern. 137 Auch die Entstehungsgeschichte dieses Paragraphen ist beispielhaft für die Art und Weise, wie sich die Regierungsmehrheit in immer neue Einschränkungs-Paragraphen treiben läßt. Die Opposition wollte schlechthin jede Befürwortung von Gewalttaten bestrafen lassen - auch ohne Bezug zum Terrorismus in der Bundesrepublik. Nobelpreisträger Hein rich Böll hätte dann befürchten müssen, daß sein Buch »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« mit dem Untertitel »Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann« auf dem Richtertisch gelandet wäre. Der Sozialdemokrat Peter von Oertzen, SPD-Chef von Niedersachsen, wäre für seine Äußerung hinter Gitter gewandert, er werde dem chilenischen Junta-Chef Pinochet »eine Bombe unter den Hintern setzen«. Die Mehrheit der SPD- und FDP-Bundestagsabgeordneten stand zunächst durchaus auf Seiten der CDU/CSU. In mühsamer, ein Jahr währender Kleinarbeit versuchte der sozialdemokratische Fraktions-Linke Manfred Coppik im Strafrechts-Sonderausschuß und im Arbeitskreis »Rechtswesen« der SPD-Fraktion, eine Mehrheit für die Streichung des Gesetzesvorhabens zu organisieren. Sein Fraktionskollege Günther Metzger verpetzte Coppik samt Anhang bei SPD-Fraktionschef Wehner: »Die wollen einen Regierungsentwurf kaputtmachen.« Wehner brachte das Vorhaben in die Fraktion, die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten bestand auf der scharfen Fassung des Regierungsentwurfs. Der Bremser Coppik wählte daraufhin eine neue Taktik: Im Strafrechts-Sonderausschuß verzögerte er den Entwurf über Monate bis zum Mannheimer Parteitag 1975. Die Parteibasis, stets linker als die in der Nähe üppiger Staatspfründen arbeitende Bundestagsfraktion, hatte für Coppiks Einwände mehr Verständnis. Der Bundestagsfraktion wurde vom Parteitag aufgetragen, einen Kompromiß zu finden. Der Kompromiß, der berüchtigte Paragraph 88a, erlaubt nun wenigstens noch die Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens, der Kunst und Wissenschaft. Wer etwa die Gewaltanwendung in den deutschen Bauernkriegen im 16. Jahrhundert positiv bewertet, muß dafür nicht gleich brummen. Den Staatsanwalt fürchten aber muß er dennoch, wie die Ereig nisse der jüngsten Vergangenheit zeigen. 138 Zu einem Urteil nach dem Paragraphen 88a ist es erst in einem Fall - in Köln - gekommen, zu Beschlagnahmeaktio nen im gesamten Bundesgebiet. Titel wie Franz Mehrings »Deutsche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts« - ein historischer Klassiker - wurden vorübergehend konfisziert. In Köln, Bochum, Hamburg, München und Heidelberg hat der Paragraph 88a den Vorwand geliefert, an Geschäftsunterlagen und Kundenkarteien linker Buchläden heranzukommen - so auch bei der »Internationalismus«-Buchhandlung in Hannover, die eine Dokumentation über das Atomkraftwerk-Projekt Grohnde vertrieb. Von dem Münchner »Trikont«-Verlag wurde das Buch des Ex-Terroristen Bommi Baumann »Wie alles anfing« beschlagnahmt - ein klassisches Dokument über den Irrweg eines Terroristen, der sich schließlich von der Bewegung 2. Juni löste und den anderen Untergrundkämpfern zurief: »Freunde, schmeißt die Knarre weg.« In einem durch mehrere Instanzen geführten Rechtsstreit - dabei wurde schon im Geist des Paragraphen 88a der Paragraph 131 des Strafgesetzbuchs herangezogen - gestattete das Münchner Oberlandesgericht schließlich den Verkauf des Buches, billigte aber gleichzeitig die damalige Einziehung. Und zwar deshalb, weil sich der linke Verlag im Prospekt nicht ausreichend von dem Text distanziert habe. Mit anderen Worten: bei Seewald, einem Verlag, der auch Schriften des CSU-Vorsitzenden Strauß herausgibt, hätte das Baumann-Buch ohne Schwierigkeiten erscheinen können. Da die Auswirkungen des Paragraphen 88a (SPD-Linker Dieter Lattmann: »Notstandsgesetz gegen Intellektuelle«) juristisch schwer kalkulierbar sind, üben immer mehr Verlage vorsorglich Selbstzensur. So hat der renommierte Verlag Luchterhand aus dem Buch »Der Einzelgänger«, das der Franzose Régis Debray über südamerikanische Revolutionäre geschrieben hat, eine ganze Passage herausgenommen. Trotz aller Entschärfungsversuche während der parlamentarischen Beratungen durch die SPD-Linken - an Coppiks Seite kämpfte vornehmlich der Abgeordnete Lattmann -, kann der Paragraph 88a auch heute auf jedwede Äußerung zum Thema revolutionärer Gewalt angewendet werden. Es 139
genügt, daß ein Gericht meint, der Leser könne (vom Autor gewollt) daraus Schlüsse auf die Bundesrepublik ziehen. Schon das Zitieren aus der Denkschrift der Evangelischen Kirche »Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft« (Mitverfasser: der heutige Stuttgarter Kultusminister Roman Herzog) könnte nach der geltenden Rechtslage jemanden, der verfassungsfeindlicher Gesinnung verdächtig ist, ins Kittchen bringen. Es würde genügen, wenn der Betroffene den Satz verbreitet: »Auch aus dem Blickwinkel christlicher Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar sein.« Blindgänger Nr. 6: die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten. Zu dem Paket der Anfang 1975 in Kraft getretenen sogenannten Antiterrorgesetze gehört auch der Paragraph 231 a der Strafprozeßordnung, der es Gerichten erlaubt, in Abwesenheit eines Angeklagten zu verhandeln und ihn zu verurteilen; allerdings nur bei Störungen des Prozesses oder bei bewußt herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit. Das Unrecht dieser Bestimmung wird schon in deren Ursprung deutlich. Seinerzeit war vermutet worden, daß sich die RAF- Häftlinge durch Hungerstreik gezielt verhandlungs140 unfähig machen wollten, um die Verfahren zu sabotieren. Als das neue Gesetz bereits zehn Monate galt, stellte der Bundesgerichtshof in einem Beschluß vom 22. Oktober 1975 fest, daß die psychischen Schäden der Stammheimer Angeklagten Baader & Co. nicht allein auf deren Hungerstreiks, sondern in erster Linie auf die isolierenden Haftbedingungen zurückzuführen seien. Diese Haftbedingungen »aber hätten die Gefangenen, die einer zahlenmäßig verschwindend geringen Gruppe der Bevölkerung angehören«, selbst zu verantworten. Dennoch wurde fortan weiter in Abwesenheit verhandelt mit der Begründung, die Angeklagten hätten auch die Haftbedingungen selbst zu verantworten - und zwar wegen ihrer Gefährlichkeit. In der jetzt l00jährigen Geschichte der Strafprozeßordnung gab es Verfahren wegen schwerer Straftaten in Abwesenheit der Angeklagten nur zur Zeit der NS-Herrschaft. Indem der Gesetzgeber an diese Praxis wieder anknüpfte, nahm er auch all die schwerwiegenden rechtlichen Gefahren einer solchen Regelung in Kauf: der Angeklagte ist nicht imstande, sich sachgemäß zu verteidigen. Die Gefahr von Fehlurteilen bei Abwesenheit des Angeklagten ist besonders groß. Strafrechtsprofessor Gerald Grünwald: »Es war schon immer etwas aufwendiger und zeitraubender, rechtsstaatlich zu verfahren.« Blindgänger Nr. 7: die Herabsetzung der Inhaftierungsschwelle. Ebenfalls seit Januar 1975 kann verhaftet werden, wer dringend verdächtig ist, einer terroristischen Vereinigung anzugehören, ohne daß die sonst üblichen Haftgründe bestehen müssen: Flucht-, Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr. Diese Bestimmungen im Paragraphen 112 der Strafprozeßordnung wurden mit der besonderen Gefährlichkeit terroristischer Vereinigungen begründet. Indes - für aktive Terroristen ist diese Vorschrift überflüssig, bei ihnen ist der Haftgrund der Flucht- oder Wiederholungsgefahr stets gegeben. Bei Randfiguren aber verstößt nach Ansicht des Strafrechtlers Grünwald die Verhaftung ohne Haftgrund gegen die zwingenden gesetzlichen Grundsätze der »Verhältnismäßigkeit« und der »Unschuldsvermutung« . 141 Blindgänger Nr. 8: der Paragraph 129 a des Strafgesetzbuches. Dieser Paragraph steht im Mittelpunkt des »14. Strafrechtsänderungsgesetzes«, das 1976 in Kraft getreten ist. Schon vorher gab es den Tatbestand »Bildung einer kriminellen Vereinigung« im Paragraphen 129. Nun kam als Anhang, unter »a«, die Bildung und Unterstützung terroristischer Vereinigungen hinzu. Das Strafmaß wurde auf maximal zehn Jahre Gefängnis heraufgesetzt. Für aktive Terroristen macht dieses Gesetz wenig Sinn; für die gelten ohnehin die noch schwereren Strafen wegen Mordes oder vielfachen Raubes. Mit unverhältnismäßig hohen Strafen aber bedroht sind seitdem Randfiguren. Wer etwa RAF-Parolen pinselt, öffentlich seine Sympathie für die Ziele der RAF äußert oder einem Terroristen Nachtlager gewährt, riskiert schwere Freiheitsstrafen. Schon ist in München ein junger
Angestellter zu zwölf Monaten Strafhaft verurteilt worden, weil er als 19jähriger an die Mauer des Münchner Justizpalastes mit weißer Ölfarbe geschmiert hatte: »Es lebe die RAF«. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Schwerwiegende Folge: Junge Leuten neigen wegen der drohenden Strafen eher dazu, in den Untergrund zu gehen, als auf dem erkannten politischen Irrweg einzuhalten und umzu kehren. Im Zusammenhang mit dieser Neuregelung wurde auch die Anzeigepflicht ausgeweitet. Der Polizei muß Meldung gemacht werden, wenn jemand irgendwo mitbekommt, daß Sympathie- oder Solidaritätserklärungen für Terroristen abgegeben werden. Unterläßt jemand diese Meldung, macht er sich strafbar. Dazu wieder Professor Grünwald: »Ein Staat, der seine Bürger derart in die Pflicht nimmt und ihr bloßes Schweigen bestraft, schafft sich seine politischen Straftäter mutwillig selbst.« Blindgänger Nr. 9: das Razziengesetz. Bei der Fahndung nach Angehörigen oder Helfern einer terroristischen Vereinigung dürfen seit Mitte dieses Jahres ganze Gebäude durchsucht werden (bisher war nur die Durchsuchung einer Wohnung möglich, in der ein Gesuchter vermutet wurde). Darüber hinaus dürfen Straßenkontrollen zur Identitätsfeststellung und jedermanns Durchsuchung angeordnet werden. Hat dann 142 jemand seinen Ausweis nicht bei sich, kann er, selbst wenn er unverdächtig ist, bis zu zwölf Stunden lang festgehalten werden. Nach der Entführung und Ermordung Schleyers wurden diese Maßnahmen als vordringliche Instrumente für die Verhinderung neuer terroristischer Aktionen gefordert. Wie wenig Sinn sie bei der Terrorismusbekämpfung machen, zeigt ihre erste Anwendung in Berlin. Nach der Befreiung des Terroristen Till Meyer wurden tagelang Straßensperren rings um die Berliner Innenstadt errichtet. Zur selben Zeit sonnte sich Till Meyer längst am Schwarzen Meer. Vorkommnisse aus der Vergangenheit zeigen die Gefahren auf, die bei der Durchsuchung ganzer Gebäude in Entführungsfällen drohen. So wurde in Stuttgart der Schotte MacLeod durch die geschlossene Wohnungstür erschossen, weil er bei einer polizeilichen Durchsuchung die Beamten in Zivil als Verbrecher ansah und ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Wenn künftig ein Polizeitrupp einen ganzen Wohnkomplex mit Hunderten von Apartments zur Geiselbefreiung stürmen soll, stünden die mit MPs bewaffneten Beamten in jedem Fall unter schwerem Streß. Denn nur durch einen Überraschungsangriff könnte es gelingen, die Geisel lebendig herauszubekommen. Reagieren dann unschuldige, verschlafene Bewohner falsch, vielleicht, weil sie die stürmenden Polizisten als mögliche Terroristen ansehen, sind neue Tote wahrscheinlich. Die Festnahme - auch Unverdächtiger - zur Aufklärung irgendeiner Straftat ist ein neuer Eingriff in die Freiheit des Bürgers. Aber sicher nicht der letzte. In einem Essay erzählt der Schriftsteller Peter Hacks, wie ein Hase in tödlicher Angst über die Felder rennt. Ein Artgenosse saust hinterher. Als er den anderen eingeholt hat, fragt er atemlos: »Wovor fliehen wir eigentlich?« »Sie haben«, keucht der erste Hase, »ein Gesetz erlassen, nach dem allen Hasen das fünfte Bein abgesägt wird.« - »Wenn das so ist«, sagt der zweite Hase, »ist ja alles in Ordnung - wir haben doch beide nur vier Beine.« »Du kennst sie nicht«, sagt der erste Hase und rennt erneut in großen Sätzen los: »Erst hacken sie, dann zählen sie.« 143 Die Feinde der Verfassung Seinen Lebensweg hatte sich Fritz Güde einmal ganz anders vorgestellt. Er wollte ein passionierter Pauker sein, der seine Schüler erfolgreich zum Abitur führt und die Eltern von seinen pädagogischen Fähigkeiten überzeugt. Doch wenn um acht Uhr morgens im Lessing-Gymnasium die Schulglocke die erste Stunde einläutet, kann sich Studienrat Fritz Güde in der Wohnung gegenüber noch einmal umdrehen und eine Runde weiterschlafen. Denn seit vier Jahren hat der Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde Berufsverbot. Der 42jährige Wohlbeleibte mit Stirnglatze und Kassenbrille kann sich damit trösten, daß es dem Namensgeber der Oberschule auch nicht viel besser ergangen ist: Gotthold Ephraim Lessing, der in allen Schulbüchern gefeierte Dichter, bekam 1765 vom Preußenkönig Berufsverbot. Er durfte auf Anordnung des »Alten Fritz« wegen bissiger Äußerungen nicht Bibliothekar in Berlin werden. Fritz Güde, der nach dem Studium vor 14 Jahren sein Elternhaus verlassen hatte, ist in sein Kinderzimmer zurückgekehrt. Viel hat sich dort nicht verändert. Das Pennäler-Mobiliar von damals steht immer noch am alten Platz, und die Teenager-Couch ist für den Arbeitslosen auch nicht größer geworden. »Er ist wieder zu mir gekommen und ist auch selbstverständlich aufgenommen worden«, sagte der 76jährige Vater - kein Geringerer als der ehemalige Generalbundesanwalt und CDU-Bundestagsabgeordnete Max Güde. Aufgenommen wurde er nicht als verlorener Sohn, sondern als ein gerichtlich bestätigter »Verfassungsfeind«. »Mein Sohn«, erklärt der alte Güde, »ist ein Idealist, ein Gerechtigkeitsfanatiker 145
und Weltverbesserer. Natürlich ist er ein Linker, aber links zu sein ist nicht strafbar.« Vater Güde ist aktiver Katholik, Sohn Fritz hielt mehr vom französischen Chanson »Je suis pour Mao, c'est ma nouvelle Philosophie«*. 1973 engagierte sich der Sohn im chinaorientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), einer militanten, aber unbedeutenden ultralinken Sekte von heute 2500 Mitgliedern. Obwohl er im Januar 1975 aus der Mao-Partei wieder austrat und sich seither politisch nicht mehr rührt, reichten schon diese 15 Monate aus, ihm Berufsverbot zu erteilen. Aber anderes kam hinzu. Sein Sündenregister, so das Oberschulamt Freiburg: Als Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) habe er sich 1972 (Güde war bereits zehn Jahre Beamter) für einen gefeuerten Kollegen eingesetzt. In einer von ihm verantworteten Dokumentation zu diesem Fall habe er dienstliche Schreiben des Oberschulamts Freiburg veröffentlicht. Im März 1973 sei er in Karlsruhe bei der Gründungsversammlung eines »Komitees gegen die Berufsverbote« gesehen worden und solle von einer »politischen Entrechtung im öffentlichen Dienst« gesprochen haben. Im November 1973 habe Güde junior in der Karlsruher Innenstadt vor dem Haupteingang des Kaufhauses Schneider zwischen 16 und 17 Uhr mehrere Exemplare der »Kommunistischen Volkszeitung« verkauft -und zwar die Nr. 6/73. 1974 suspendierte das Stuttgarter Kultusministerium den Zeitungsverkäufer Güde. Drei Jahre später wurde der Studienrat durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe endgültig aus dem Staatsdienst gefeuert. Der badenwürttembergische Verwaltungsgerichtshof bestätigte als oberste Verwaltungsgerichtsinstanz des Landes: Güde habe gegen die Dienst- und Treuepflicht des Landesbeamtengesetzes verstoßen. Außerdem hätte er die Verfassungsfeindlichkeit des KBW erkennen müssen. Güde ging in die Revision und kann damit seinen Fall in der Schwebe halten - bis zur endgültigen Klärung bekommt er reduzierte Bezüge von rund 1300 Mark brutto. Um diesen Richterspruch zu begreifen, reicht selbst der juristische Sachverstand des früheren Chefanklägers der Bundesrepublik *»Ich bin für Mao, das ist meine neue Philosophie«.
146 nicht mehr aus. Max Güde: »Bestraft werden kann man nicht wegen einer vermuteten Gesinnung, sondern nur wegen einer durch Handlung bewiesenen Gesinnung.« Schlimmer noch: Güde junior wurde für eine politische Überzeugung bestraft, die er schon zwei Jahre nicht mehr hatte. Im Klartext: Die Behörden hätten den Beweis dafür antreten müssen, daß Güde gegen seine Überzeugung aus dem KBW ausgetreten ist. Doch gerade diese Frage, ob er überhaupt noch zur China-Partei gehört, bleibt nebensächlich. Ausschlaggebend sei vielmehr, so die Richter, daß er einmal KBW-Mitglied war. Und wenn sein Vater ihm den juristischen Rat gegeben habe, die Zugehörigkeit zu einer nicht verbotenen Partei sei weder strafbar noch disziplinarrechtlich zu ahnden, dann habe Güde junior eine falsche Auskunft bekommen und sich lieber nicht auf den väterlichen Tip verlassen sollen. Aus dem Staatsdienst verbannt, machte sich Fritz Güde auf Stellensuche. Er schrieb Privatschulen an, telefonierte, sprach persönlich vor. Die Bilanz: 50 Bewerbungen, 50 Absagen. Es dauerte lange, ehe er herausbekam, wer dahintersteckte: das Stuttgarter Kultusministerium. Ein Beispiel für die Macht des Amtsarms: Eine jesuitische Privatschule in St. Blasien, die es gewagt hatte, Güde ohne Rücksprache zu engagieren, mußte ihn nach einer Woche wieder entlassen. Sonst hätte die Schule ihre Existenz aufs Spiel gesetzt: Den Jesuiten wären öffentliche Zuschüsse gestrichen und die staatliche Anerkennung entzogen worden. So schreibt Güde weiter Bittbriefe um Anstellung und führt sonst »das Leben eines bürgerlichen Rentiers des 19. Jahrhunderts, das mich seelisch fertigmacht«. Am liebsten würde Güde junior ins Ausland »emigrieren«, doch Güde senior will den Fall bis vors Bundesverfassungsgericht treiben. Denn, so sagt der konservative CDUMann, »ich habe nichts in meinem Leben mehr gehaßt als Gesinnungszwang. Ich habe mit niemandem gestritten wegen seiner Religion, wegen seiner politischen Anschauungen - ich habe diskutiert, den anderen aber niemals als Feind gesehen.« Applaus bekam Einzelkämpfer Max Güde nicht nur von 147 links. Der Fernsehjournalist Franz Alt von »Report« Baden-Baden schrieb in einem couragierten Brief an seinen Parteichef Helmut Kohl: Der Radikalenerlaß »erinnert mich fatal an eine entsprechende Praxis in Osteuropa. Dort sollen engagierte Christen nicht Lehrer werden dürfen ... Warum wird Fritz Güde der Weg zurück zur politischen Vernunft so schwergemacht? « Aber Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn der Fall Güde nicht noch eine andere - altbekannte - Qualität hätte: links gefeuert, rechts geheuert. Dieselben Richter, die Fritz Güdes Rausschmiß damit begründeten, er habe die verfassungsfeindlichen Ziele des KBW erkennen müssen, waren drei Monate vorher in einem anderen Fall ganz anderer Meinung gewesen. Damals hatten die Juristen über einen NPD-Lehrer entschieden, der durch radikale Sprüche Aufsehen erregt hatte - den Oberstudienrat Günther Deckert, Bundesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten«.
Deckert, der für die NPD im Weinheimer Stadtrat sitzt, hatte auf einer Wahlveranstaltung seiner Partei in Frankfurt losgelegt, daß »sich unter der Herrschaft von SPD und CDU ein neues Herrenrassendenken entwickelt habe«. Die Disziplinarkammer am Karlsruher Verwaltungsgericht sprach den 37jährigen Rechtsradikalen frei. Er kann weiter am Mannheimer Tulla-Gymnasium Englisch und Französisch unterrichten. Denn, so die Richter, der Extremisten-Grundsatz wurde für linksradikale Parteien entwickelt, »deren verfassungsfeindliche Ziele aus Statuten und Programmen eindeutig hervorgehen«. All dies treffe auf die NPD nicht zu. Die Herren in der schwarzen Robe zweifeln vielmehr, »ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist«. Allein aus Äußerungen einzelner Mitglieder und Funktionäre könne dieser Schluß nicht gezogen werden. »Mit dieser Methode könnten auch anerkannt demokratischen Parteien der Bundesrepublik verfassungsfeindliche Zielsetzungen unterstellt werden.« Deckert selbst, so erklärte das Gericht, habe glaubhaft versichert, daß er die NPD für eine demokratische Partei halte. Deshalb sei ihm kein schuldhaftes Dienstvergehen vorzuwerfen. 154 Im Gegenteil: Deckert sei als »engagierter Lehrer« bekannt, der »trotz straffer Führung der Klasse und Betonung des Leistungsprinzips bei Schülern und Eltern beliebt und bei den Kollegen geschätzt werde«. Auch dürfe nicht außer acht gelassen werden, daß »seine Dienstauffassung und sein dienstliches Verhalten völlig korrekt« seien. Bemerkenswert an der rechtlichen Würdigung der Fälle Güde und Deckert ist auch, wer da so feine Unterschiede zu machen versteht: Der Vorsitzende Richter Dr. Helmut Fuchs ist »als Jurist ein sehr guter Mann« (so das Stuttgarter Justizministerium). Ein Mann, der freiwillig in die Waffen-SS eintrat, der kürzlich mit Billigung des Nazi-Richters Hans Karl Filbinger zum Präsidenten des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim avancierte. Freiheit '78 - das ist immer noch die Freiheit alter Nazis, über mögliche Jugendsünden von heute zu richten über die politische Gesinnung der ersten Nachkriegsgeneration, die politisch nicht vorbelastet ist. So verbauten der frühere Blut-und-Boden-Richter Edmund de Chapeaurouge und der ehemalige SS- und Polizeiführer in der Ukraine Rudolf Weber-Lortsch als Richter am Berliner Bundesverwaltungsgericht der Junglehrerin Anne Lenhart die berufliche Zukunft, nur weil sie Mitglied der DKP ist. Das Hamburger Nachrichten-Magazin »Spiegel« schrieb über die deutschen Richter: »Eine Justiz, die gerade eben fähig war, >Rassenschande< zu verfolgen und abzuurteilen, hat zurückzuschrecken, hat aufzuwachen, wenn ihr schon wieder eine Minorität vorgeführt und behauptet wird, diese Personengruppe gefährde die freiheitlich demokratische Grundordnung<, so wie 1933 bis 1945 behauptet wurde, die Juden bedrohten das >deutsche Blut<.« Freiheit '78 — das ist auch die Zwischenbilanz einer sechsjährigen Berufsverbotspraxis, die selbst im Mekka des Antikommunismus, in den USA, undenkbar ist. Über zwei Millionen junge Bundesbürger sind bisher von den Staatsorganen auf ihre Verfassungstreue hin durchleuchtet worden - bespitzelt, verhört und schikaniert. Über 4000 Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden von Ämtern und Gerichten mit Berufsverbot belegt. Die Dunkelziffer kennt man nicht, denn 155 viele der Abgelehnten protestieren erst gar nicht, weil sie die 10000 Mark für mögliche Gerichts- und Anwaltskosten bis zur letzten Instanz nicht haben. Mit der Gesinnungsüberprüfung von jungen Leuten, die Lehrer beim Land, Lokführer bei der Bundesbahn, Fernmeldetechniker bei der Post, Friedhofsgärtner oder Müllmänner werden wollen, sind nach Schätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten Rudolf Schöfberger bundesweit rund 10000 Beamte beschäftigt. Für diesen Apparat liefern rund 20000 Spitzel des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz sowie der Politischen Polizei Informationen. Das Modell I der Überprüfung, das harmlosere, wird in Hamburg, Bremen und Niedersachsen angewandt: Die Ein stellungsbehörden fragen beim Landesamt für Verfassungsschutz nach, was über den Kandidaten an politischen Informa tionen vorliegt. Die Verfassungsschützer sieben das vorlie gende Material und geben nur weiter, was ihnen relevant erscheint - etwa: ob der Bewerber Mitglied der DKP oder einer anderen roten Sekte ist. Modell II läuft im Rest der Republik: Die Landesämter für Verfassungsschutz übergeben den Einstellungsbehörden alles Material. Ein Beispiel für die Folgen solcher Praktiken: Der Münchner Student Franz Hubmayer* wurde 1976 als Aushilfsbriefträger für die Semesterferien abgelehnt, nachdem der Verfassungsschutz mitgeteilt hatte, Hubmayer habe 1969 an einer Hausbesetzung in München teilgenommen. Weitere Erfolge: In Tübingen lehnte das Oberschulamt den Sportstudenten Josef Enenkel als Referendar für ein Gymnasium ab. Begründung: Enenkel sei DKP-Mitglied. Als Beweis legten die Oberpädagogen Fotos vor, die den Sportstudenten beim Verkauf von Büchern der renommierten DDR-Schriftstellerin Anna Seghers zeigten.
In Braunschweig feuerte die Bundeswehr ihren Koch Norbert Spröer. Der Militärische Abschirmdienst hatte ermittelt, daß der Soldat in seiner frühen Jugend einmal Mitglied der DKP-nahen »Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend« gewesen war. Obwohl Spröer schon sieben Jahre in der Bundeswehr *Namen auf Wunsch des Betroffenen geändert.
156 gedient und es bis zum Stabsunteroffizier gebracht hatte, reichte die frühere Mitgliedschaft zur fristlosen Entlassung. Im Bundestag fragte der SPD-Abgeordnete Peter Conradi die Bundesregierung, ob der »Bundeswehrkoch seine die Sicherheit der Armee gefährdende Gesinnung dadurch ausgedrückt hat, daß er auffällig oft rote Grütze, Rotkohl oder rote Bete serviert hat?« In seiner Antwort dementierte Staatssekretär Andreas von Bülow eine interne Anweisung der Wehrbereichsverwaltung II in Hannover nicht. Danach haben Personen, »deren Gesinnung und ideologisches Bewußtsein erwiesenermaßen anders geartet ist, in der Bundeswehr keinen Platz«. Im offiziellen Kündigungsschreiben an Spröer hieß es unter anderem folg lich, er habe »in allgemeinen Gesprächen in Frühstückspausen anläßlich der Olympischen Spiele 1976 die Erfolge der DDR-Sportler auf eine im Vergleich zur Bundesrepublik wirksamere Jugend- und Sportförderung zurückgeführt«. In Stuttgart wollte das Innenministerium einen Forschungsauftrag des Doktoranden Heinz Schweer platzen lassen. Schweers politische Gesinnung - er war Mitglied der DKP-nahen Hochschulgruppe MSB-Spartakus - sei nicht geeignet, ihn über das Thema »Erhebungen zu Organisationsstrukturen für die Hybrid-Züchtungen beim Schwein« promovieren zu lassen. Zu deutsch: Schweer kümmert sich um eine intensivere Futterverwertung. Im schleswig-holsteinischen Elmshorn praktizierten die Kultusbürokraten sogar schon Sippenhaft. Die parteilose 29jährige Lehrerin Jutta Kommnick sollte von der Realschule fliegen, weil ihr Ehemann als Betriebsrat auf einer Liste der maoistischen KPD/ML kandidiert hatte. Zum Beweis ihrer eigenen »Anfälligkeit« wurde Jutta Kommnick vorgehalten, ihr Auto sei vor einem Fördehotel in Kiel-Friedrichsort gesichtet worden, in dem gerade eine Tagung der KPD/ML Rote Garde stattgefunden habe. Auch habe die staatliche Observation ergeben, daß die Lehrerin an Sitzungen des KB W und sogar an einer Kundgebung für den von Nazis liquidierten KPD-Chef Ernst Thälmann teilgenommen habe. Im rheinland-pfälzischen Annweiler blieb die 23jährige Angelika Boppel auf der Strecke. Sie habe, so lautete der 157 Vorwurf, »auf dem Schulhof des Neusprachlichen Gymnasiums in Pirmasens die von einem sozialistischen Arbeitskreis< herausgegebene Schülerzeitschrift >Knüppel aus dem Sack< verteilt«. Es half ihr nichts, daß sie dies widerlegen konnte. Als der Mainzer Verfassungsschützer Hugo Schröpfer den Irrtum endlich zugab, waren alle in Frage kommenden Posten besetzt. In Speyer durchleuchteten Verfassungsschützer das politische Innenleben von 700 Bürgern; darunter der SPDBundestagsabgeordnete Peter Büchner und sein Landtagskollege Jörg Heidelberger. Der Grund: Sie hatten es gewagt, ihre Meinungsfreiheit in eine Resolution umzusetzen und die Einstellung der DKP-Kunsterzieherin Uta Boege zu verlangen. Ministerpräsident Bernhard Vogel, der sich in der Affäre Filbinger mit dem früheren Marinestabsrichter solidarisierte, hat ein merkwürdiges Polit ik-Verständnis. Im Fall Filbinger warnte er davor, ihn zum Anlaß zu nehmen, nun in Dissertationen der Älteren nachzusuchen, ob diese in der Zeit vor 1945 verfängliche Aussagen gemacht haben. Im Fall des Verfassungsschutzes in Speyer rechtfertigte der CDURegierungschef die Schnüffel-Aktion: »Wer sich für einen Verfassungsfeind einsetzt, den muß man sich genau angucken.« Verschärft wurden Überprüfung und Ausspähung linksverdächtiger junger Leute durch eine deutsche Erfindung besonderer Art: die sogenannte Anhörung. Da laden Beamte, häufig noch in Treue fest zu reaktionären Staatsvorstellungen aus Kaisers und Hitlers Zeiten, junge Leute vor und verhören sie wie früher die Inquisitoren der katholischen Kirche. Sie fragen auch nach allem, was sie nach dem Grundgesetz nichts angeht, etwa nach der Privat- und Intimsphäre. Diese Erfindung ist so bürokratisch wie unnütz: Unerfahrene junge Leute lassen sich durch die Beamten-Fragen oft provozieren und werden für eine unbedachte Äußerung verfolgt; geschulte und getarnte Kommunisten, die es darauf anlegen, in den Staatsdienst zu kommen, spielen auf der Klaviatur der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) und schlüpfen durchs Netz, wie etwa der Kanzleramts-Spion Guillaume bei der Sicherheitsüberprüfung, als er 158 zur Tarnung Sprüche des rechten SPD-Flügels klopfte. In den meisten Fällen kommt das unwürdige Frage-und-Antwort-Spiel nicht an die Öffentlichkeit. Denn über die Bewerber wird in der undurchsichtigen Grauzone der Bürokratie entschieden. Ist ein Kandidat erst einmal von einer Behörde als »Verfassungsfeind« gebrandmarkt, rufen viele erst gar nicht die Gerichte an, und wenn, wird
es dem Betroffenen schwerfallen, die Richter vom Gegenteil zu überzeugen - schließlich hat er die Beweislast. Dieses Verfahren, vom SPD-Bundesparteitag 1973 in Hannover gefordert, sollte eine individuelle, rechtsstaatliche Überprüfung sicherstellen. In der Praxis wurde aber damit die Entscheidungsbefugnis den Gerichten genommen und der Verwaltung zugeschoben. Ein Prüfungs-Profi ist der niedersächsische Ministerialrat Gottfried Jakob. Seit drei Jahren ist für den 43jährigen Spitzenbeamten jeder Dienstag ein FDGO-Tag. Jeweils vier Stunden lang verhört er einen Bewerber - Jakob nennt das »Interview«. Nachmittags diktiert er seine bis zu 15 Seiten langen Gutachten aufs Band. Die Aufregung über den Radikalenerlaß kann er überhaupt nicht verstehen. Der hochgewachsene Brillenträger mit der kahlen Stirn und den Skeptikerfalten um Nase und Mund kümmert sich seit 1965 um Personaleinstellungen. Seit dem Radikalenerlaß, meint er, sei alles rechtsstaatlicher geworden: »Früher bekamen die Be werber ihre Ablehnung nur schriftlich mitgeteilt, heute werden sie noch einmal angehört.« Jakob ist Chef der Zentralen Anhörkommission in Niedersachsen. Mit Hunderten von Radikalen hat er schon »die gesamte Palette verfassungsrechtlich relevanter Dinge« durchgenommen, »ganz persönlich und ganz individuell«. Wenn Jakob von »persönlich« oder »individuell« spricht, meint er seine siebenköpfige Kommission, die dem Betroffenen gegenübersitzt und in der er nach seinem Routine-Raster fragt: »Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern?« -»Haben Sie einmal bei den Konventswahlen auf einer Liste Spartakus kandidiert?« - »Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft?« - »Waren Sie Mitglied der sozialistischen Falken?« - »Haben Sie 1969 an einer DKP159 Weihnachtsfeier teilgenommen? Und wenn ja, warum ...?« Die DKP ist eine rechtmäßige Partei, der Spartakus ihre Studentenorganis ation. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist eine der 16 Einzelgewerkschaften im DGB mit 173.000 Mitgliedern. Die Falken sind eine SPD-nahe Jugendorganisation mit 150.000 Mitgliedern. Der Ministeriale Jakob und seine Kollegen stellen die gleichen Fragen wie ihre Vorgänger nach 1932 - sie fragen nach der grundgesetzlich genehmigten Mitgliedschaft in Parteien oder Verbänden, die links von der CDU stehen. Beim Regierungspräsidenten in Köln, Dezernat 44, Zimmer 426, beantwortete die 32jährige Lehrerin Irmgard Cipa bei der Anhörung Fragen von Regierungsdirektor Werner mit einem Passus aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: »Das bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, daß man diese habe, ist niemals eine Verletzung der Treuepflicht.« Regierungsdirektor Werner konterte: Er habe hier die »Gesinnung zu überprüfen« und nach »seinem pflichtgemäßen Ermessen alle hierzu erforderlichen Fragen zu stellen«. Auf den provokativen Einwurf von Frau Cipas Anwalt, dann könne er ebensogut nach dem Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs der Kandidatin fragen, antwortete der Regierungsdirektor: Auch das, wenn es zur Persönlichkeitserforschung und Gesinnungsüberprüfung erforderlich sei. Eine solche Frage liege allein in seinem Ermessen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik, der als Rechtsanwalt Frau Cipa begleitet hatte, beschwerte sich über »diese beschämende Vernehmung« bei seinem Parteifreund, dem Düsseldorfer Kultusminister Jürgen Girgensohn. Der Minister in seiner Antwort: »Der anhörende Beamte vermag sich nicht daran zu erinnern, ob seinerzeit ... die Zulässigkeit ... einer solchen Anhörung ins Gespräch gebracht worden ist.« Dennoch: Frau Cipa habe die »Zweifel an ihrer Verfassungstreue« nicht ausräumen können. Sie ist arbeitslos. In Augsburg erklärte 1976 der Pädagoge Ilja Hausladen aus Fürth, der sich um eine Stelle als Volksschullehrer bemühte, seinen Vernehmern, warum er Antifaschist sei. Aus dem Gedächtnisprotokoll seines Anwalts: »Mein Großvater kämpfte gegen die Nazis. Er war elf Jahre im Konzentrationslager 160 Dachau interniert und starb kurz nach der Befreiung. Meine Großmutter gehörte ebenfalls zur Widerstandsbewegung und saß deshalb über sechs Jahre im KZ Ravensbrück. Mein Vater konnte noch emigrieren, wurde später von der Gestapo in Frankreich gefangengenommen und inhaftiert.« Oberregierungsrat Herzer als Vernehmer: »Das tut uns sehr leid, was Ihrer Familie zugestoßen ist. Eine andere Frage ist, ob man Sie deswegen gleich Beamter werden lassen soll.« Regierungsdirektor Krüger als zweiter Vernehmer: »Sie sagen, daß Sie ein Antifaschist sind - bekämpfen Sie aus dieser Überzeugung heraus die Ostblockstaaten?« Hausladen: »Ich kenne den Faschismus aus der deutschen Geschichte und aus Erzählungen meiner Familie. Einen Faschis mus wie im Dritten Reich kenne ich in den Ostblockländern nicht. Ich bin jedenfalls für gute Beziehungen zu allen Staaten. Dazu gehört auch die Nichteinmischung, zu der sich alle UN-Mitglieder verpflichtet haben.« Regierungsdirektor Krüger: »Wie finden Sie den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR?« Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann antwortet für Hausladen: »Das gehört überhaupt nicht zum Gesprächsgegenstand. Sonst müßten wir jetzt den Begriff der Intervention klären. Wir müßten die Interventionsrechte der Westmächte nach dem Deutschlandvertrag genauer anschauen. Wir müßten von Vietnam und den vielen anderen amerikanischen Interventionen reden. Wollen Sie das?«
Oberregierungsrat Herzer: »Wenden wir uns einem anderen Land zu. Wo sehen Sie die Kritikpunkte an der DDR?« Hausladen: »Es gibt in jedem Land und an jedem System Punkte, die zu kritisieren sind. Ich habe mich aber mit den Gesetzen der DDR nicht beschäftigt, und ich kann nur Dinge kritisieren, über die ich mich eindeutig informiert habe.« Regierungsdirektor Krüger: »Sie wissen ganz genau, worauf wir hinauswollen. Aber Sie wollen sich dumm stellen. Im ganzen Wahlkampf (Bundestagswahl 1976) war von der Bedrohung durch die kommunistische Gefahr die Rede. Aber da haben Sie offenbar immer weggehört.« Oberregierungsrat Herzer: »Was verstehen Sie unter Diktatur des Proletariats« 161 Hausladen: »Das ist für mich ein wissenschaftlicher Begriff, mit dem ich mich nicht beschäftigt habe.« Oberregierungsrat Herzer: »Sie müssen doch etwas darüber aussagen können - der Begriff gibt doch viel her. Sie wollen doch Lehrer werden und müssen dazu was wissen.« Hausladen: »Also, dieser Begriff kommt vor allem bei Marx und Lenin vor, und zwar...« Oberregierungsrat Herzer: »...da kommen wir der Sache schon näher. Frau Teichmann*, schreiben Sie: Ich bejahe die Diktatur des Proletariats im Sinne von Marx und Lenin...« Hausladen: »...nein, das habe ich überhaupt nicht gesagt. Wenn ich den Begriff Diktatur nehme, bin ich natürlich gegen jede Art von Diktatur, ob in Ost oder West.« Oberregierungsrat Herzer: »Welche Gründe hatten sie, mit Ihren Kindern in die DDR zu fahren?« Hausladen: »Eines meiner Bildungsziele, die ich in dieser Schülergruppe verfolgt habe, war die Erziehung des einzelnen zur Gemeinschaft. Die Schüler dieser Gruppe kamen hauptsächlich aus kinderreichen und finanziell schwächeren Familien. Wenn man bedenkt, daß ein dreitägiger Aufenthalt in einer Jugendherberge ca. 50 Mark pro Kind kostet, nahmen wir natürlich einen dreiwöchigen Aufenthalt für 30 Mark in der DDR gerne an.« Oberregierungsrat Herzer: »Wenn das nichts weiter gekostet hat, können Sie sich dann vorstellen, daß die dabei einen Hintergedanken, zum Beispiel der Beeinflussung der Kinder, gehabt haben?« Hausladen: »Ich bin der Meinung, daß jeder Aufenthalt in einem anderen Land und jeder zwischenmenschliche Kontakt einen Einfluß auf Kinder und Erwachsene ausübt.« Oberregierungsrat Herzer: »Glauben Sie nicht, daß da bei den Kindern Propaganda betrieben wurde?« Hausladen: »Nein, davon habe ich nichts bemerkt. Da ich das Vertrauen der Eltern und damit die Verantwortung für die Kinder hätte, wäre ich bestimmt sofort abgereist, wenn dieser Aufenthalt für propagandistische Zwecke mißbraucht worden wäre.« *Name von der Redaktion geändert.
162 Zwei Monate nach seiner FDGO-Vernehmung bekam Hausladen vom FDGO-Vernehmer Herzer schriftlich den Negativ-Bescheid (Geschäftsnummer 110-500/1). Dem Pädagogen, der nicht Mitglied der DKP ist, wurde die Reise mit Schülern in die DDR angelastet. Ferner habe Hausladen in der »Roten Kinderzeitung« der DKP Nürnberg vom Februar 1974 »als Kontaktperson für Interessenten von Wandertagen und für Musikinstrumente« gestanden. Die Schlußfolgerung: »Wenn die DKP in ihren Presseerzeugnissen Kontaktadressen angibt, so sucht sie sich hierfür mit Sicherheit nicht Personen aus, die ihren Zielen und ihrer Ideologie ablehnend gegenüberstehen.« Radikalenerlaß - Freiheit '78. Aus dreizehn Berliner Anhörungen, die der frühere Bildungssenator und heutige SPD-Landesvorsitzende Gerd Löffler veranlaßte, stellte der Germanist Peter Schneider ein Gedächtnisprotokoll zusammen. Frage: »Handelt es sich bei Ihrer Wohnung um eine Wohngemeinschaft ? « Antwort: »Ich bin Untermieterin bei...« Frage: »Haben Sie Kontakt zu anderen Untermietern?« Antwort: »Ich kenne die anderen Untermieter ...« Frage: »Führen Sie politische Gespräche mit diesen Leuten?« Antwort: »Nein, ich bin selten zu Hause ...« Frage: »Kennen Sie eine Gruppe internationaler Marxi sten?« Antwort: »Ja, Ernest Mandel.« Frage: »Woher kennen Sie den?« Antwort: »Von einer Fernsehsendung.« Frage: »So, diese Sendung haben Sie also gesehen?« Antwort: »Ja, teilweise.« Frage: »Wo, in der Wohnung?« Antwort: »Nein, bei einem Kollegen von der Schule.« Frage: »Haben die Leute in Ihre r Wohnung diese Sendung gesehen?« Antwort: »Das weiß ich nicht.« Frage: »Was halten Sie denn von Wohngemeinschaften überhaupt? Halten Sie Wohngemeinschaften für begrüßenswert?« 163 In der Tat: Verhöre dieser Art werfen die Frage auf, welche Autorität haben eigentlich die Parteien, jungen Menschen »Verfassungsfeindlichkeit« vorzuhalten?
Eine der Ursachen für die Radikalen-Diskussion in den siebziger Jahren sieht der Politik-Wissenschaftler Eugen Kogon darin, daß »die Jugend von heute in den Führungsschichten immer noch keine Vorbilder« zu erkennen glaubt. Ausschlaggebend dafür sei »die verfehlte Entnazifizierung von 1945«, die Kogon als den »Geburtsfehler der Bundesrepublik« bezeichnet. Der französische Politologe Alfred Grosser nannte in einer Zwischenbilanz zur Entwicklung der Bundesrepublik bis Mitte der sechziger Jahre »den Antikommunismus« deren Einheitsideologie. Geboren aus dem Kalten Krieg zwischen Ost und West, der von vielen Bürgern so verstanden wurde, wie ihn Konrad Adenauer auf einer Kundgebung des Bundesverbands der Deutschen Industrie 1951 charakterisierte: »Als einen Damm gegen Sowjetrußland.« Den Unternehmern sagte er damals: »Sie sind diejenigen, die führend im Kalten Krieg gegen Sowjetrußland stehen müssen.« Dabei schreckte zum Beispiel der frühere Innenminister Robert Lehr nicht davor zurück, in der Bevölkerung aggressive Instinkte zu wecken. Ebenfalls 1951, in der Universität Marburg, behauptete er: »Die höchste Gefahr geht von der Ideologie des asiatischen Kollektivismus aus« und von den »asiatischen Gegnern Deutschlands«. Lehr war es auch, der die Bekämpfung des Radikalismus von rechts lediglich unter dem Gesichtspunkt sah, »die Schädigung unseres im Aufbau begriffenen Wiedereintritts in die Völkergemeinschaft« abzubauen und »das Zutrauen unserer ehemaligen Gegner zu der inneren Stärke des Staates« zu fördern. Aus diesem geistigen Klima heraus erschien es für die breite Öffentlichkeit geradezu als normal, wenn die Politiker an die politischen Traditionen der fünfziger Jahre anknüpften. 1971 bemerkte der schleswigholsteinische Kultusminister Walter Braun anläßlich eines U-Boot-Stapellaufs: »Opfer und Soldaten des Dritten Reichs hätten mit ihrem Tod in gleicher Weise uns die Freiheit gebracht. Sie starben für eine bessere Welt.« Oder wenn das CSU-Organ »Bayernkurier« den Militärputsch 164 der griechischen Obristen in Athen 1967 als die »Verkörperung des erwachten Selbstgefühls der Nation« feierte. Oder wenn CSU-Chef Franz Josef Strauß zehn Jahre später im Folter-Staat Chile Diktator Augusto Pinochet zurief: »Sorgen Sie dafür, daß die Freiheit in Ihrem Land erhalten bleibt.« Oder wenn gar ein Ministerpräsident wie Hans Karl Filbinger keinen Funken Reue kennt, sondern seine Recht-und-Ordnung-Todesurteile, die er als NS-Marinestabsrichter verhängte, als »Phantom-Urteile« abtat, nachdem er sich an nichts mehr hatte erinnern können. Der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schrieb 1968 über den inneren bundesdeutschen Zustand: »Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung, vollzog sich eine explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Wertig keit und Erfolg verdeckten bald die offenen Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo aufgebaut und ausgebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten. Das trifft nicht nur für die Häuser, sondern auch für den Lehrstoff an unseren Schulen, für die Rechtsprechung und für die Gemeindeverwaltungen zu. Die politische Routine, die sich immer mehr in ein spanisches Zeremoniell des Proporzes hineinentwickelt, bringt kaum originelle Versuche, produktive Phantasien in den politischen Gegebenheiten wirksam werden zu lassen.« So war der Radikalenerlaß eine Antwort auf die Außerparlamentarische Opposition einer rebellierenden Jugend, die mit dem materiellen Nachholbedarf ihrer Väter wenig anfangen konnte und mit ihrem Protest gegen die amerikanischen Napalm-Bomben auf Vietnam stellvertretend die deutschen Kriegsgenerationen meinte, die gegen eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD (1966 bis 1969) aufmuckte, weil sie den Bildungsnotstand verharmloste und die Notstandsgesetze verabschiedete. Gesellschaftliche Grundwerte schienen damals radikal in Frage gestellt; die seit 1956 verbotenen Kommunisten tauchten aus der Illegalität auf und schlossen sich 1968 in der DKP zusammen; die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel erzielte 1969 die ersten Fortschritte. Herausgefordert war eine 165 CDU/CSU, die sich nach zwanzigjähriger Regentschaft erstmals in der Opposition befand, wenn auch nur mit einer hauchdünnen Minderheit. Je mehr der Studentenführer Rudi Dutschke »den Marsch durch die Institutionen« propagierte, desto schneller setzte sich auch eine neue Begriffskombination durch, die der »Radikalen im öffentlichen Dienst«. Der Hauptansatzpunkt der Unionsparteien galt den Kommunisten außerhalb und Sozialisten innerhalb des Landes. »Brandt betreibt den Ausverkauf Deutschlands«, polterte Franz Josef Strauß, wenn die sozialliberale Koalition in Moskau über die Ostverträge verhandelte. Und CDU/CSU Oppositionsführer Rainer Barzel verbuchte die Argumente der APO-Jugend im Bereich der Inneren Sicherheit: »Wir dürfen auch nicht die Augen vor denen verschließen, die gewaltlos mit dem >Marsch durch die Institutionen diese Gesellschaftsordnung unterwandern und aushöhlen«, sagte er im Bundestag an die Adresse der Sozialdemokraten gerichtet. In Wirklichkeit ging es bei diesen Auseinandersetzungen unterschwellig um die demokratische Zuverlässigkeit der Sozialdemokratie, die von der CDU/CSU immer noch in Zweifel gezogen und mit dem Bismarckschen Wort von den »vaterlandslosen Gesellen« untermauert wurde.
Mit einer strikten Abgrenzungspolitik gegenüber Kommu nisten wollten SPD-Kanzler Willy Brandt und sein Fraktionschef Herbert Wehner innenpolitischen Spielraum für ihre Ostpolitik gewinnen und sich von den Anwürfen der CDU/ CSU befreien, insgeheim Volksfrontpolitik zu betreiben. FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher plädierte für eine noch schärfere Gangart. Er wollte entweder beim Bundesverfassungsgericht die DKP verbieten lassen oder den Radikalenerlaß zum Grundgesetz-Artikel erheben. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau: »Genscher wollte am liebsten das Härteste vom Harten gegen Radikale machen. Wenn er mit Fabrikanten gesprochen hatte, kam er immer daher und erzählte von den vielen Kommunisten in den Betrieben. Das war natürlich alles Quatsch, und es dauerte lange, bis ich ihm das ausgeredet hatte.« Nollau, der von Amts wegen den besten Überblick über die »linke Gefahr« hatte, 166 sagt weiter: »Es gab auch keine Entwicklung, die ein systematisches Eindringen von Verfassungsfeinden in den öffentlichen Dienst anzeigte.« Der Minimalnenner zwischen Sozialdemokraten auf der einen und den DKP-Verbotsbefürwortern in der CDU/CSU und der FDP-Spitze auf der anderen Seite war der sogenannte Radikalenerlaß, eine Hamburger SPDErfindung aus dem Jahr 1971. Bereits am 23. November 1971 hatte der Hamburger SPD-Senat den Grundsatzbeschluß gefaßt, »daß die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit bei politischen Aktivitäten des Bewerbers in rechts- oder linksradikalen Gruppen unzulässig ist ...« Doch schon einer der ersten Hamburger Fälle zeigte symptomatisch auf, wie untauglich ein generelles Radikalen-Verdikt im öffentlichen Dienst ist. Die Studienrätin Ilse Jacob, Tochter eines kommunistischen Widerstandskämpfers, der 1944 von den Nazis umgebracht worden ist, sollte 1972 aus dem Schuldienst entlassen werden, weil sie sich in der DKP engagierte. Sie blieb jedoch Lehrerin an der Gesamtschule Alter Teichweg und wurde sogar Beamtin auf Lebenszeit. »Nach Würdigung aller Umstände dieses Einzelfalls, also auch des persönlichen Schicksals«, so der damalige Schulsenator G unter Apel, setzte sich die Hamburger Regierung über ihren wenige Monate zuvor beschlossenen Radikalenerlaß hinweg. Indes, auf Bundesebene profilierte sich besonders der Hamburger Senat unter der Ägide des früheren Bürgermeisters Peter Schulz bei der bundeseinheitlichen Verankerung seines »Modells«. Unterstützung fanden die konservativen SPD-Hanseaten auch bei ihren Genossen in Mainz. Dort glaubte der SPD-Vize -Fraktionschef im Landtag, Munzinger, daß »jeder Ideologe eine potentielle Gefahr für unsere demokratische Grundordnung ist«. 1 Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlaß als Einstellungsvoraussetzung für den öffentlichen Dienst. Obwohl das Bonner Beamtenrechtsrahmengesetz in den Paragraphen 2, 4 und 35 sowie der Disziplinarordnung ausdrücklich 167 das Treueverhältnis des Beamten zum Staat regelt, verschärften die bei Brandt versammelten Politiker die Be stimmungen. Erstmals in der deutschen Geschichte wurde festgelegt, daß ein Beamter sich auch privat für die freiheitlich demokratische Grundordnung aktiv einsetzen muß: »... in das Beamtenverhältnis darf nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt.« Und: »,.. sind Beamte verpflichtet, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes aktiv für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen«. Wahrscheinlich war niemandem in der Kanzlerrunde die bedrückende Parallele des Radikalenerlasses zu Hitlers Ge setz vom 7. April 1933 »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« präsent. Damals hatten die Nazis in Artikel i von ihren Staatsdienern gefordert: Beamte, »die nach ihrer bis herigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat ein treten ..., werden aus dem Dienst entlassen«. In der Ausführungsbestimmung legte Hitler fest: »Ungeeignet sind alle Beamte, die der Kommunistischen Partei oder kommunistischen Hilfs- und Ersatzorganisationen angehören.« Mit den Begriffen »Gewähr bieten«, »jederzeit«, »eintre ten« hat die Bundesrepublik die Terminologie und die Rechtskonstruktion des Hitler-Gesetzes von 1933 übernommen. Unter Kanzler Konrad Adenauer ging es in den fünfziger und sechziger Jahren vergleichsweise liberal zu. Durch Kabinettsbeschluß vom 19. September 1950 wurden dreizehn Organisationen als »Gegner der Bundesrepublik« eingestuft, die »die freiheitliche demokratische Grundordnung untergraben«. Bewerber, die in den Staatsdienst wollten, mußten vorher eine Erklärung unterschreiben, daß sie keiner dieser Gruppierungen (davon drei rechtsradikale) angehören. Diese 13 Organisationen waren: die Kommunistische Partei Deutschlands mit allen ihren Unterorganisationen; die Sozialdemokratische Aktion; die Freie Deutsche Jugend (FDJ); die Vereinigung der Sowjet-Freunde; die Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion; der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung
Deutschlands; der gesamtdeutsche Arbeitskreis für Land- und Forstwirtschaft; das Komitee der Kämpfer für den Frieden; das Komitee der Jungen Friedenskämpfer; die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (WN); die Sozialistische Reichspartei; die sogenannte »Schwarze Front« (Otto-Strasser-Bewegung); die Nationale Front (Dachorganisation). 168 Mit dem Bonner Extremistenbeschluß wurde von Anfang an mit falschen Argumenten gearbeitet. Da erklärte Willy Brandt, die Überprüfung von Bewerbern sei eine »rechts-staatliche Anwendung des geltenden Rechts«. CDU-Politiker vertraten die These, der Radikalenerlaß sei eine rechtlich /wingende Notwendigkeit auf Grund der Verfassung. Dazu der Bonner Professor Gerald Grünwald: »Wenn es vom Grundgesetz geboten wäre, hätten wir bis 1972 in einem permanent verfassungswidrigen Zustand gelebt; denn bis dahin gab es keine systematischen Überprüfungen.« Da wurde außerdem von allen Spitzenpolitikern argumentiert, der Radikalenerlaß sei auch für die Rechtsextremisten geschaffen worden. Nur: Als der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik erstarkte und die NPD ab 1966 mit Bundeswehr-Hauptleuten, Lehrern und Verwaltungsjuristen in die Landtage einzog, hatte in Bonn niemand nach einem Radika lenerlaß gerufen. Der gutgläubige Versuch der sozialliberalen Koalition, mit Hilfe der Radikalen-Vorschrift in Bund, Ländern und Ge meinden eine mit der CDU/CSU gemeinsame Einstellungspraxis zu entwickeln, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Während die SPD/FDP-Regierungen der »Überprüfung des Einzelfalls« den Vorrang einräumten, bestanden die CDU/CSU-Länder von vornherein auf einer rigorosen Automatik. Danach reichte schon die einfache Mitgliedschaft aus, einen Bewerber für den öffentlichen Dienst abzulehnen. Das Paradebeispiel dafür ist die 31jährige Regierungsrätin Charlotte Niess. Die Juristin wurde von der bayerischen CSU- Landesregierung nicht als Richterin zugelassen, weil sie Mit glied der linken »Vereinigung Demokratischer Juristen« ist - einer Gruppierung, in der auch Kommunisten mitarbeiten. Die SPD/FDPRegierung in Düsseldorf stellte Charlotte Niess in der nordrhein-westfälis chen Agrarverwaltung als Beamtin ein, da an ihrer Verfassungstreue nicht zu zweifeln sei. Das Bundesverfassungsgericht hat mit einem Grundsatzurteil vom Mai 1975 die Rechtmäßigkeit des Radikalenerlasses bestätigt. Der Versuch des Gerichts, endlich einheitlich verbindliche Beurteilungsmaßstäbe für Behörden und Verwaltungsgerichte 169 aufzustellen, ging jedoch abermals daneben. Die wesentlichen Grundsätze des Urteils: 1. Die politische Treuepflicht - Staats- und Verfassungstreue - fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. 2. Der Dienstherr muß darauf sehen, daß niemand Beamter wird, der nicht die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintritt. 3. Ein Stück des Verhaltens, das für die hier geforderte Beurteilung der Persönlichkeit des Bewerbers erheblich sein kann, kann auch der Beitritt oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt - unabhängig davon, ob ihre Verfassungswidrigkeit nun durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts festgestellt ist oder nicht. Dieser Punkt 3 führt zu neuer Rechtsunsicherheit, weil ihn die Gerichte nach Belieben auslegen: Für den einen Richter genügt bereits die Mitgliedschaft in der DKP zum Berufsverbot, für den anderen nicht. Für Verfassungsrichter Martin Hirsch hat das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil »eine große Sünde begangen, die ein Richter normalerweise nicht begehen sollte«. Nämlich die, daß nunmehr von der höchsten gerichtlichen Instanz der Bundesrepublik abgesegnet Politiker, Richter unterer Bereiche und Behörden-Juristen aus dem »Gummiband-Urteil« das herauslesen können, was sie subjektiv meinen und für richtig halten. Im Spannungsfeld zwischen der Mitgliedschaft in einer verfassungsgemäßen, aber unerwünschten Partei und dem geforderten besonderen Treueverhältnis des Beamten zum Staat löste dieses Urteil die größte Rechtsverwirrung in der Nachkriegsgeschichte aus. • Der Mannheimer Verwa ltungsgerichtshof lehnte die Einstellung des Tübinger Musiklehrers Harald Schwaderer ab, weil er 170 Zweifel an dessen Verfassungstreue hatte. Der Pädagoge Schwaderer durfte den Eid auf die Verfassung nicht ablegen, obwohl er als DKP-Gemeinderat den Amtseid auf die Verfassung bereits geschworen hatte. Mit der Mannheimer Rechtsprechung, so Professor Hans-Peter Schneider, »kann ein >Verfassungsfeind< über eine
nichtverbotene Partei heute leichter Abgeordneter oder auch Minister werden als Pförtner oder Fahrer in einem Ministerium«. • In Kassel blockierte die Erste Kammer des Verwaltungsgerichts einem Lehrer den Zugang zum öffentlichen Dienst mit einem besonders bemerkenswerten Argument. Der Assessor sei für den Schuldienst ungeeignet, so die Richter, weil er DKP-Informations-Material verteilt habe und sich in der Öffentlichkeit von kommunistischen Funktionären als »Ge nösse« ansprechen lasse. • Dagegen ordnete der IV. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim die Einstellung des Lehrers Klaus Lipps, 36, aus Bühl an, weil die bloße Mitgliedschaft in der DKP keinen Grund für ein Berufsverbot darstelle. • Ebenso erlebte es Klaus Pilhofer, 26, aus Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, der auf einer Wahlliste der Studentenvertretung der Universität Erlangen/Nürnberg zusammen mit Kommunisten kandidiert hatte. Die Richter des Verwaltungsgerichts in Augsburg erklärten, Pilhofer sei nicht verpflichtet gewesen, sich von solchen Organisationen pauschal zu distanzieren. Professor Hans-Peter Schneider hat in dieser Rechtsverwirrung den Trend erkannt, »daß die Oberinstanzen mehrheitlich zu einer konservativen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts -Urteils neigen, während die jüngeren Richter eher den Bewerbern recht geben«. Die Verfahren um Berufsverbote ziehen sich oft endlos hin. Die Betroffenen werden in ihrer Karriere um Jahre zurückgeworfen, selbst wenn sie schließlich vor Gericht obsiegen. Verlieren sie aber, droht ihnen nun sogar die Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Der Realschullehrer Hans Schaefer, 35, aus Stuttgart war schon Beamter auf Probe, als er 1975 wegen seiner DKP-Mitgliedschaft und einer DDR-Reise suspendiert wurde. Schaefer klagte. Jetzt fordert das Land 171 Baden-Württemberg das gezahlte Gehalt während des dreijährigen Rechtsstreits zurück: 50 198,40 Mark. Tatsächlich betrifft das Radikalen-Urteil nicht nur die bundesdeutschen Berufsverbotsfälle. Der Richterspruch von Karlsruhe geht in seiner Auswirkung weit darüber hinaus. Berührt und in Frage gestellt sind klassische Grundgesetz-Artike l, die den Kernbereich der Verfassung ausmachen. Der Berliner Rechtsprofessor Uwe Wesel spricht von einer »Rechtsbeugung unumstößlicher Verfassungsgarantien«. Die Hamburger »Zeit« erkennt in der richterlichen »Argumentationsweise den Niedergang des verfassungsrichterlichen Denkens« und kommt zu dem Schluß: »Hier wird gar nicht mehr gefragt, was das Grundgesetz will oder unmißverständlich vorschreibt. Hier wird nur mehr ein gewünschtes und als richtig unterstelltes politisches Ergebnis mit Scheingründen gerechtfertigt.« Zumindest dann, wenn die Vorschrift des einfachen Beamtengesetzes, ein Beamter müsse jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten (Paragraph 7 des Bundesbeamtengesetzes und Paragraph 4 des Beamtenrechtsrahmengesetzes) im Rang höher bewertet werden als die fundamentalen Verfassungsrechte aller Deutschen, die die freiheitliche Demokratie ausmachen. Im ersten Teil haben die Väter dieser Verfassung eine Menschenrechtsgarantie verankert, die verletzt werden würde, wenn je mand wegen seiner politischen Anschauung und seiner Mitgliedschaft in einer Partei benachteiligt wird (Artikel 3 Absatz 3). In Artikel 5 wird die Freiheit auch zur politischen Meinung und ihrer Äußerung verbrieft, und in den Artikeln 8 und 9 das Recht, an politischen Veranstaltungen teilzunehmen und politischen Organisationen und Parteien beizutreten. Und schließlich in Artikel 12 die Freiheit der Berufswahl, die für den öffentlichen Dienst in Artikel 33 noch einmal ausdrücklich bekräftigt wird, und zwar in Absatz 2 in einer allgemeinen Schutzvorschrift zugunsten aller Bewerber, und in Absatz 3 speziell zugunsten religiöser Minderheiten. Auch haben die Bundesverfassungsrichter den Begriff »Verfassungsfeind« in ihrem Urteilsspruch übernommen. Ein Begriff, den kein deutsches Gesetz kennt oder unter Strafe 172 stellt. Ein Begriff, der vielmehr an den »Volksfeind« von 1933 erinnert. Denn der Grundgesetz-Artikel 21 spricht lediglich von der »Verfassungswidrigkeit«, die jedoch in jedem einzelnen Fall vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden muß. Zumindest in der Theorie. Die Wirklichkeit hingegen sieht anders aus. Manche Richter gehen über die ihnen vorgeschriebenen Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts hinaus und schaffen eigene Maßstäbe. Der Ansbacher Verwaltungsrichter Siegfried Sporer, 49, kann sich zugute halten, mit dem 1064. Urteil seiner Richterlaufbahn in die Geschichte der Berufsverbote als der deutsche McCarthy einzugehen. Wie der amerikanische Kommunistenjäger machte auch Sporer nicht mehr die Loyalität des einzelnen, sondern das »Risiko« einer möglichen Beeinflussung durch Kommunisten zum Maßstab der Ablehnung. In der mittelfränkischen US-Garnisonsstadt Ansbach verwehrte Sporer dem Lehrer Heinrich Häberlein den Zugang zum öffentlichen Dienst. Dem 29jährigen parteilosen Häberlein bestätigte Richter Sporer nach einer sechsstündigen Verhandlung ausdrücklich: »Häberlein ist als Christ kein Verfassungsfeind.« Warum darf Heinrich Häberlein, der in der evangelischen Jugendarbeit aufwuchs, den Wehrdienst aus christlichpazifistischen Gründen verweigerte und dafür 18 Monate lang alte Menschen pflegte, sich im zweiten
Bildungsweg vom Feinme chaniker zum Hochschul-Absolventen hochrackerte, also kein Volksschullehrer werden? Dafür ist allein seine Mitgliedschaft in der »Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner« ausschlaggebend. In dem Dachverband aller westdeutschen Kriegsdienstverweigerer arbeiten - ob Häberlein will oder nicht - auch eine Handvoll Kommunisten mit. Sporer verlangte deshalb von Häberlein ausdrücklich eine »antikommunistische Einstellung«. Nur so könne »der gefährliche Einfluß von Kommunisten auf die Tätigkeit im öffentlichen Dienst in Krisensituationen vermieden werden«. Sporer schuf damit eine neue »Qualität« in der Rechtsprechung. Bislang sind Bewerber für den öffentlichen Dienst 173 abgewiesen worden, weil ihre »Treuepflicht«, also die Loyalität zum Staat, zweifelhaft erschien. Das Verwaltungsgericht Ansbach überschritt die Schwelle von der Loyalität zum Risiko, »from loyalty to risk«. Eine Formel, mit der in den USA unter den Präsidenten Truman und Eisenhower Kommunisten aus ihren Berufen entlassen und selbst Bürger, die lediglich mit einem Kommunisten bekannt oder befreundet waren, aus ihrem Job gefeuert wurden. Als Pazifist mit Berufsverbot belegt, avancierte Heinrich Häberlein zum »neuen Botschafter« der Bundesrepublik. Ob im finnischen Parlament in Helsinki, an schwedischen Universitäten oder auf Großveranstaltungen in Frankreich, Häberlein erklärt seinem europäischen Publikum, warum er, der Sohn eines Pastors, der mehr von Jesus als von Marx hält, in der Bundesrepublik keine Kinder unterrichten darf. Ein anderer Fall hat nun selbst die Sozialdemokraten als Erfinder des Radikalenerlasses aufhorchen lassen. In München wurde der Lehramtsanwärter Edgar Vögel, Mitglied der SPD und des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB), unter anderem mit der Begründung vom CSU-Kultusministerium abgelehnt: »Der SHB München propagiert uneingeschränkt ... den >Orientierungsrahmen 85 <« - das offizielle PerspektivProgramm der SPD. Der Nutzen des Radikalenerlasses, den sich seine Befürworter von Brandt bis Richter Sporer von ihm erhofft haben, ist nicht meßbar. Niemand kann beurteilen, ob die 4000 abgelehnten Beamtenbewerber, wären sie tatsächlich in die Schulen, Rathäuser und Gerichte gekommen, eines Tages aus der westdeutschen Bundesrepublik die Volksrepublik Westdeutschland gemacht hätten. Keiner kann aber auch garantieren, daß jetzt der Staatsdienst immun gegen Extremisten ist. (Die Erfahrung lehrt, daß überall dort, wo eine parlamentarische Demokratie durch ein totalitäres System abgelöst wurde, 80 Prozent der Beamten übergelaufen sind. Ein Klassiker ist die Weimarer Republik. Der Staat von Weimar ist nicht an zu vielen Radikalen im öffentlichen Dienst gescheitert. Als Hitler die Macht übernahm, gab es nur wenige Nazis unter den Beamten. Selbst unter den Offizieren der Reichswehr waren nur wenige NSDAP-Anhänger. Weimar 174 scheiterte an Radikalen, die von keinem Erlaß erfaßt wurden. Den deutschen Beamten, die in Massen zu den Nazis überliefen, um ihre Karriere nicht zu gefährden; und an der Bereitschaft von Honoratioren, die Demokratie zu verleugnen. Der Schaden der Überprüfungspraxis in den siebziger Jahren dagegen ist erkennbar, nicht zuletzt auch im Ausland. Der Name Silvia Gingold steht für eine jüdische Familie, die 1933 nach Frankreich emigrieren mußte, in der französischen Resistance gegen die deutschen Besatzer kämpfte und nach dem Krieg in die Bundesrepublik zurückkam. Die inzwischen 32j'ährige Silvia engagierte sich auf der Seite, auf der ihre Eltern Zeit ihres Lebens zu finden waren: bei den Kommunisten. Vier Jahre galt ihre Arbeit an der Steinwald-Schule im hessischen Neukirchen als vorbildlich. Ein Versetzungsgesuch lehnte der Kasseler Regierungspräsident ab, weil Frau Gin gold »mit ihren gewonnenen Erfahrungen der Modellschule auch weiterhin zur Verfügung stehen« sollte. Der Radikalenerlaß machte die Versetzung dann doch möglich - auf die Straße. Hessische Verfassungsschützer hatten »Erkenntnisse in staatsabträglicher Hinsicht« gesammelt, die »Zweifel an Silvia Gingolds Verfassungstreue« aufwarfen: DKPMitglied, Teilnahme an einem Deutschland-Treffen in Ost-Berlin, Vietnam-Demonstration vor dem Frankfurter US-Konsulat und eine linke Rede als l6jährige in der Aula ihrer Schule. Erschnüffeltes Material aus der Schüler- und Studentenzeit, noch dazu der Gestapo-Jargon »staatsabträglich«. Eine Pra xis, die selbst den Bundesverfassungsrichtern in ihrem bereits erwähnten Urteil zu weit geht. Zumindest für den staatlichen Vorbereitungsdienst für Referendare. Die Richter in ihrem Urteil: »>Ermittlungen< der letztgenannten Art können nur Verhaltensweisen zutage fördern, die in die Ausbildungs- und Studienzeit eines jungen Menschen fallen, häufig Emotionen in Verbindung mit engagiertem Protest entspringen und Teil von Milieu und Gruppenreaktionen sind; also sich wenig eignen als ein Element (von vielen), aus dem man einen Schluß auf die Persönlichkeit des zu Beurteilenden ziehen könnte; ... deshalb sind solche Ermittlungen und die Speicherung ihrer Ergebnisse für Zwecke der Einstellungsbehörden 175
schwerlich vereinbar mit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.« Während für den französischen Sozialistenführer Frangois Mitterrand der Fall Gingold den Ausschlag gab, in Paris ein »Komitee gegen die Berufsverbote in der BRD« zu gründen, stieg in Würzburg über Nacht ein Mann zum Fernsehstar in Ost und West auf, der die amerikanischen und englischen Sender CBS und BBC vorher nicht einmal vom Hörensagen gekannt hatte: der Lokführer Rudi Röder von der Deutschen Bundesbahn. Nun kamen die Reporter sogar zu ihm nach Hause, und Vater Valentin und Sohn Rudi gaben Interview um Interview. Vater Valentin wurde 1933 von der Reichsbahn gefeuert, den Sohn Rudi will die Bundesbahn seit 1976 loswerden. Beider Vergehen: sie sind Kommunisten. Verkehrsminister Kurt Gscheidle: »Ein Beamter, der aktives Mitglied der DKP ist, fliegt raus. Das ist die Situation.« »Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus« formulierte die erzkonservative »Financial Times« vornehm. Das Schwesternblatt »Times«: »Eine der zuverlässigsten anti-extremistischen Wählerschaften der Welt hat Politiker hervorgebracht, die ihren Bürgern nicht zu trauen, einer möglichen Unterwanderung durch eine Handvoll radikaler Lokomotivführer oder Lehrer zu widerstehen.« Und die konservative kanadische Tageszeitung »The Globe and Mail« kommentierte: »Die alte Binsenweisheit, daß die Politik seltsame Bettgenossen zusammenbringt, bewahrheitet sich erneut in Westdeutschland. Bei allen Differenzen, die sie sonst trennen mögen, sind sich die Parteien des Bonner Parlaments in ihrer Haltung zu einer Frage vollkommen einig: in ihrer fast pathologischen Fixierung auf die angebliche Existenz einer kommunistischen Bedrohung.« Nach jahrzehntelanger Abstinenz, Deutsches in den internationalen Sprachgebrauch einfließen zu lassen, haben zwei Begriffe jüngeren Datums den Durchbruch geschafft: »Ostpolitik« und »Berufsverbote«. Sie reihen sich nahtlos hinter »Kindergarten«, »Sauerkraut« und »Blitzkrieg« ein. Wenn der Trend zum Germanophilen anhält, werden in Kürze zwei weitere Begriffe hinzukommen. Die in Paris erscheinende amerikanische »International Herald Tribüne« druckt die 176 »freiheitliche demokratische Grundordnung« schon kursiv, und die Londoner »Times« spricht vom »Status of Beamte«. Aber auch im Inland wächst die Kritik. Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann schrieb kurz vor seinem Tod: »Es muß Alarm geschlagen werden, wenn radikale Kritik an der Verfassungswirklichkeit mit verfassungsfeindlichem Extre mismus in einen Topf geworfen wird. « Sein Nachfolger Walter Scheel sieht inzwischen die Gefahr; »daß der Radikalenerlaß zu rigoros gehandhabt wird«. Heinrich Böll nannte »den Radikalenerlaß einen Erlaß gegen die Hoffnung, er führt zur Verzweiflung, zur Apathie«. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch fragte auf dem SPD-Bundesparteitag 1977 in Hamburg die Delegierten, was noch alles passieren müsse, damit »die Zukunft nicht der Angst gehört«. Und der Berliner Theolo gie-Professor Helmut Gollwitzer glaubt gar, daß die Bundesrepublik »die Maulkorb-Insel Europas« wird. Selbst einer der Mitväter der radikalen Erlaß-Politik, Willy Brandt, gesteht heute reuig: »Ich habe mich damals geirrt.« Und sein Nachfolger Helmut Schmidt würde »alle diese Erlasse und Gesetzgebungsversuche am liebsten in den Akten abgeheftet sehen«. Auch zwei renommierte Richter sind auf Distanz zum Radika lenurteil gegangen. Für die vom Land Bayern abgelehnte Juristin Charlotte Niess übernahm Walter Seuffert die Verteidigung gegen den Freistaat. Seuffert war Vorsitzender jenes Senats des Bundesverfassungsgerichts, der 1975 die Berufsverbotspraxis absegnete. Verfassungsrichter Helmut Simon »schämt sich, daß die Leuchtkraft der bundesdeutschen Verfassungsordnung durch eine Gesinnungsschnüffelei verdunkelt wird«. Ungeachtet der Kritik aus dem In- und Ausland ist eine Ausweitung der Radikalenhatz nicht mehr ausgeschlossen. Unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung nennt CDU-Bundestagspräsident Karl Carstens in einem DreiPunkte-Interview mit der »Bild -Zeitung« (»Wie man den Terror bekämpfen kann«) die schlimmen Gewaltverbrechen á la Baader-Meinhof mit den »Einstellungsbestimmungen im öffentlichen Dienst« in einem Atemzug. CDU-Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg erklärt im Saarländischen Rundfunk: »Durch das Aufkommen militanter terroristischer 177 Organisationen gibt es für den Extremistenbeschluß heute noch triftigere Gründe als damals.« Und Hessens CDU-Landeschef Alfred Dregger will aus dem »Radikalenerlaß ein Radikalengesetz« machen, weil er »einen neuer Adolf Hitler verhin dern« will. Bayerns Kultusminister Hans Maier erklärte sogar: »Unser Land hat nicht nur ein Recht auf treue Beamte, sondern auch auf treue Bürger.« Im Jahre 112 nach Christi Geburt ging es im Vergleich zur Bundesrepublik des Jahres 1978 ausgesprochen liberal zu. Damals fragte Plinius der Jüngere, seines Zeichens Statthalter von Bithynien, seinen Kaiser Trajan, wie er sich bei der Verfolgung von Christen zu verhalten habe. Die Antwort des römischen Kaisers: »Man soll ihnen nicht nachspüren. Falls sie gemeldet und überführt werden, sind sie zu bestrafen. Anonym vorgelegte
Listen dürfen jedoch bei keiner Anklage Verwendung finden, denn dies ist von äußerst schlechtem Beispiel und unserer Zeit nicht würdig.« 178 Die bösen Geister Für Alt-Nazi Kurt Ziesel, Herausgeber des ultrarechten »Deutschland-Magazin«, sind Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass »die geistigen Bombenwerfer«. Der konservative Publizist Matthias Waiden darf mit höchstrichterlicher Billigung weiter behaupten, Böll habe den Boden des Terrorismus bereits durch »den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt«. Filbingers früherer Staatssekretär Gerhard Mayer-Vorfelder hat den Nobelpreisträger Böll aufgefordert, »das Land zu verlassen«. Bremens CDU-Fraktionschef Bernd Neumann will für die exaltierten Verse des Lyrikers Erich Fried gleich die Endlösung: »Gedichte wie die von Fried gehören eigentlich verbrannt.« Der CDU-Pauker Neumann, ein Radikaler im öffentlichen Dienst, der nicht vom Radikalenerlaß betroffen ist, beweist, wie weit es nach sechs Jahren Radikalenerlaß gekommen ist. Der radikale Erlaß hat nicht nur über zwei Millionen junge Leute der Gesinnungsprüfung unterworfen und über 4000 Bewerbern für den öffentlichen Dienst Berufsverbot eingebracht. Die geistigen Auswirkungen der Berufsverbote haben auch das politische Klima der Bundesrepublik nachhaltig vergiftet. Unter dem Vorwand, der Staat müsse gegen Linksextremisten geschützt werden, treiben Verleumder und Denunzianten in allen Gesellschaftsbereichen ihr Unwesen. Zu ihren Opfern werden Lehrer, Pennäler oder Elternräte in den Schulen, Professoren an Universitäten, Manager, Angestellte und Betriebsräte in den Unternehmen, Pastoren und Gemeindehelfer in Kirchen. Der Radikalenerlaß sortiert sie zur Linken wie zur Rechten - danach gibt es nur noch »Feinde« und »Freunde« der Verfassung. 179 Bei den Schulbüchern ist der Radikalenerlaß um eine subtile Variante bereichert worden. Zwar war es immer schon üblich, neue Schulbücher im Genehmigungsverfahren der Ministerien auch daraufhin abzuklopfen, ob ihre Inhalte die »freiheitliche demokratische Grundordnung« (FDGO) beja hen. Doch in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden seit 1975 immer mehr bisher erlaubte Lesestoffe einer rigorosen Nachzensur unterworfen. Dabei handelt es sich nicht etwa um die antiquierte Geschichtsschreibung, die teilweise immer noch von den »polnisch besetzten Gebieten« zwischen Oder und Neiße ausgeht (Auer Verlag, Donauwörth 1974), sondern um bundesdeutsche Zeitgeister, die sich einen gesellschaftskritischen Blickwinkel angeeignet haben. So war »Benders Deutsches Lesebuch, Bände 1-5«, an den Gymnasien fast aller Bundesländer - auch in Bayern eine Art Pflichtlektüre. Mit Schreiben vom 28. November 1977 forderte das bayerische Kultusministerium den renommierten Crüwell-Verlag in Dortmund auf, mehrere Texte auszumerzen, andernfalls könne das Buch nicht mehr als Unterrichtsmaterial verwendet werden. Anstoß genommen hatten die Münchner Kulturhüter an Wolf Biermanns »Ballade von dem Briefträger William L. Moore aus Baltimore«. Im Untertitel heißt es: »Er protestierte gegen die Verfolgung der Neger, er wurde erschossen nach einer Woche.« Biermanns Dichterkollege Hubert Fichte verärgerte die Bayern mit einer lyrischen Groteske über Festtags-Konsum: »Wenn die Weihnachtsmänner umgepreßte Osterhasen sind, dann sind die Osterhasen umgepreßte Weihnachtsmännerosterhasen.« Ein Essay des in London lebenden deutschen Schriftstellers Erich Fried flog raus, weil es darin heißt: »Zu den Steinen hat einer gesagt: seid menschlich. Die Steine haben gesagt: Wir sind noch nicht hart genug.« Auch eine harmlose Industrie-Reportage von Günter Wallraff paßte nicht in die bayerischen Lehrpläne. In Rheinland-Pfalz strich das Kultusministerium aus dem Buch des Frankfurter Hirschgraben-Verlags »Lesen Darstellen - Begreifen«, Ausgabe C für das 8. und 9. Schuljahr, Beiträge von Schriftstellern wie Bernt Engelmann (»Der 180 König von Saarabien«, ein Beitrag über die soziale Lage der Arbeiter um die Jahrhundertwende), Peter O. Chotjewitz (»Malavita«) sowie des Liedermachers Franz Josef Degenhardt (»Wiegenlied und Deutscher Sonntag«). Die Filbinger-Regierung in Stuttgart indes legte eine noch schärfere Gangart vor. Sie traut ihren Lehrern künftig keine eigene Beurteilung des Unterrichts mehr zu. Schuldirektoren sollen das Lehrermaterial neuerdings vorzensieren - wohlbemerkt für Pädagogen, die bereits beim Verfassungsschutz im politischen Gesinnungs-TÜV waren und mit der begehrten FDGO-Plakette versehen wurden. Dennoch sieht das Kultusministerium weiterhin die Gefahr, »daß Schüler einseitigen Versuchen der Indoktrination« ausgesetzt sind. Mit dem Grundsatzbeschluß des baden-württembergischen Ministerrats vom 18. Oktober 1977 wurde im »Muster-Ländle« ein Verfahren eingeführt, wonach »die Lehrer die Verwendung ergänzender
Unterrichtsmaterialien der Schulleitung« zu melden haben, »um Mißbrauchskontrollen zu erleichtern«. Gleichzeitig wurden die Eltern ermuntert, »Verstöße und Mißbräuche« anzuzeigen. Jene Eltern, die eigentlich vertrauensvoll mit den Pädagogen zusammenarbeiten sollen, werden von Amts wegen als Aufpasser eingesetzt. Eine Aufgabe, die die bayerischen Katholikenräte schon freiwillig übernommen haben. In ihrer Zeitschrift »Die lebendige Zelle« fordern sie die Eltern auf, gegen »Zwangssexualisierung« und »politische Ideologisierung« ihrer Kinder vorzugehen. Was für die Katholikenräte im Schulalltag bedeutet: Eltern sollen die im Unterricht verwandten Texte als »Be weisstücke« ans Kultusministerium schicken, wenn ihnen irgendein Inhalt suspekt erscheint. Die durch die Radikalen-Debatte ausgelöste und durch konservative Politiker geschürte Ängstlichkeit, die Schulen könnten bereits von »verfassungsfeindlichen Lehrern« unterwandert sein, hat im niedersächsischen Regierungsbezirk Osnabrück ebenfalls zu einem generellen Beschluß der Schulräte geführt, die damit die Anzeigepflicht verdächtiger Pädagogen festgelegt haben. Darin heißt es: »Bei Bekanntwerden von nicht verfassungskonformen Aktivitäten ist sofort Meldung zu erstatten, insbesondere dann, wenn solche Aktivitäten 181 in Form von ideologischer, unmoralischer oder glaubensfeindlicher Beeinflussung im Unterricht festgestellt werden.« Ob Eltern, Schulräte oder gar die Regierungen den Unterricht engagierter Lehrer mit »nachrichtendienstlichen Mitteln« ausspähen - Stuttgarts SPD-Landeschef und Ex-Studienrat Erhard Eppler sieht schon seit längerem einen klaren Trend zur Resignation: »Es ist in manchen Lehrerzimmern schon ruhig geworden. Manche Pädagogen ziehen es vor, ihre Ansichten zu verschweigen, weil ein Klima des Mißtrauens, der Heuchelei und der Unfreiheit herrscht.« Dem vorausgegangen war im Frühjahr 1977 eine bundesweite »Aktion Schulbuch« des CDU-Wirtschaftsrates. Unter dem Motto »Wachsamkeit - Preis der Freiheit« (Seite 1) oder »Machen Sie mit bei der Verteidigung unserer Ordnung« (Seite 2) forderten die CDU-Unternehmer Schüler, Eltern und Freunde auf, in einen Fragebogen »bedenkliche Buchpassagen« aus dem Unterricht und den Namen des Lehrers einzutragen. Denn für den Initiator, CDU-MdB Philipp von Bismarck, »geht der Marsch der Linken auch durch die Schulen und die Schulbücher«. Was ihn stört: sozial engagierte Lehrstoffe oder die Verwendung des Kürzels »BRD« für »Bundesrepublik Deutschland«. Parallel zum CDU-Wirtschaftsrat hatte außerdem eine Arbeitsgruppe des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) 270 Schullektüren durchforstet. Sie gab folgende Emp fehlung: Zum »Bestandsschutz der Wirtschafts - und Gesellschaftsordnung gegen emanzipatorische Schulbuchproduktionen« müsse insbesondere der Arbeitskreis Schule/Wirtschaft entgegenwirken, um die unter der Jugend verbreitete »ungesunde Skepsis und die dadurch entstandene Arbeitsunlust« abzubauen. Und zu guter Letzt nahm sich das Institut der Deutschen Wirtschaft (IDW) 40 Sozialkundebücher vor. Seine Analyse: »Statt sachlicher Informationen enthalten viele Schulbücher klischeehafte, ungenaue Darstellungen, die durch Vorurteile genährt werden.« Das politische Ziel für die bundesdeutschen Unternehmer hat CDU-MdB Philipp von Bismarck in seinem Schreiben vom 15. März 1977 an die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrates 184 abgesteckt. »Es geht uns darum, der weiteren Diffamie rung und Denunzierung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den Schulbüchern und anderen Lernmaterialien nicht länger tatenlos zuzusehen. Wir wollen durch l Eigeninitiative eine Tendenz zum Besseren mit herbeiführen. Die Stunde für eine solche Aktion ist in der gegenwärtig labilen bildungspolitischen Lage günstig ...« Vorbei ist es mit der Aufbruchsstimmung, die vor zehn Jahren die Bildungspolitik erfaßt hatte. Unter dem Begriff Chancengleichheit sammelten sich die Pädagogikstudenten von damals, forderten mehr Durchlässigkeit der traditionellen Schultypen von Gymnasium, Real- und Volksschule, engagierten sich für ein flexibles Kurssystem, das den einzelnen Schüler nach seiner individuellen Begabung fördert. Gesamt schulen entstanden, der Vorschulunterricht wurde populär, Deutsch avancierte für Gastarbeiterkinder zum Pflichtfach, und neue Lehrpläne sollten den Unterricht alltagsnäher und berufsbezogener gestalten (Gesellschafts- und Sozialkunde). In jener Zeit ereignete sich in dem bildungspolitischen Entwicklungsland Bundesrepublik ein Novum; allmählich setzte sich auch Englisch als erste Fremdsprache an den Volksschulen durch. Heute dagegen, so sehen es zumindest die Unternehmensverbände, sollen die Reformansätze wieder zurückgeschraubt werden. Um ihr Image an den Schulen zurechtzurücken, läßt die Industrie- und Handelskammer in Koblenz in den nächsten zwei Jahren zwölf Filme über die »Grundlagen der Marktwirtschaft« drehen. Kostenpunkt 250000 Mark; Vorführungsort: Gymnasien, Real- und Hauptschulen. »Ein richtungweisendes und in der Bundesrepublik Deutschland einmaliges Projekt«, schreibt Kammerpräsident Ludwig am 13. Mai 1978 an die Unternehmer. Außerdem können die Spenden »als Betriebsausgaben steuerlich geltend gemacht werden«.
Zum Rüstzeug der Unternehmer gehört ebenfalls das Buch lies Marktwirtschafts-Professors Wolfram Engels »Mehr Markt«. Der CDU-Wirtschaftsrat kaufte gleich 10000 Exemplare auf (Buchhandelspreis: 16,80 DM) und verschickte einen großen Teil als »gesellschaftspolitisch geeignetes Lehr185 material« an die Ortsverbände der CDU-nahen Schüler Union, damit die Pennäler es mit andersdenkenden Lehrern aufnehmen können. Und in kulturkämpferischer Manier warnte die »Niedersächsische Wirtschaft«, das Verbandsorgan der Industrieund Handelskammer Hannover/Hildesheim, Ausgabe Nr. 5/77 vor der neuen Schülergeneration, die sich im Herbst 1977 bei den Firmen bewarb: »Man muß wissen, daß in Niedersachsen der erste Jahrgang der Gesamtschulen in die Betriebe zur Ausbildung drängt - ein Jahrgang, der vielerorts Jahre planmäßig in Konfliktpädagogik trainiert worden ist von Lehrern, die sich nach eigener Aussage als Agenten einer totalen Gesellschaftsveränderung verstehen. ... Welche Saat wird in den Betrieben, die Gesamtschulabgänger aufzunehmen gedenken, aufgehen?« Für manche Jugendliche ist der Grabenkrieg der Erwachsenen zum Vorbild geworden - und zwar in der Schule. An der hessischen Gesamtschule Friedberg verteilte die Junge Union Fragebögen an die Schüler. »Hast Du Respekt vor Deinem Schulleiter?« - »Kommst Du Dir als Versuchskaninchen vor?« - »Wirst Du von Deinem Lehrer politisch beeinflußt?« In Hamburg hatte der 16jährige Johannes Barwinkel*, Aktivist der Jungen Union, nach einer Unterrichtsstunde zum Thema Terrorismus Phantasie und Wirklichkeit durcheinandergebracht. Er erzählte seinen Eltern - beide sind engagierte CDU-Leute -, sein Lehrer Wolfgang Breyer habe Formulie rungen des früheren AnarchistenAnwalts Horst Mahler vorgelesen. Ohne Nachprüfung steckten die empörten Barwinkels der Hamburger CDU den »Terrorismus-Tip«. Die Christenunion startete daraufhin in der Vorwahlkampf-Phase der Bürgerschaftswahl 1978 im Hamburger Stadtparlament eine Große Anfrage. Die Opposition wollte vom SPD/FDP-Senat wissen, ob der Schulsenator endlich gegen Lehrer vorgehe, die Schüler »im linksradikalen Sinne indoktrieren«. Die »Bild«Zeitung kam am nächsten Morgen mit der Schlagzeile heraus: »Skandal an Hamburger Gymnasium«. Nur einer blieb ahnungslos: der betroffene Pädagoge Breyer. Er las an diesem Morgen keine »Bild«-Zeitung. *Name auf Wunsch des Betroffenen geändert.
186 Erst der Schüler Barwinkel klärte den arglosen Lehrer über seine taufrische Popularität auf: »Sie sind ja gestern in der Bürgerschaft groß als Radikaler erwähnt worden.« Die Folge der CDU-Anfrage: Lehrer Breyer geriet in den Schraubstock der Schulbürokratie. Sein Quellenmaterial, seine persönlichen Aufzeichnungen wurden durchleuchtet, Gespräche im Kollegium, Vortrag beim Direktor, Vorladung in der Schulbehörde. Monat um Monat verging. Der »Sympathisant« Breyer hatte Angst: »Ich war verunsichert, denn ich wußte nicht, was aus meinem Fall wird.« Erst nach einem Vierteljahr rehabilitierte die Schulbehörde den Pädagogen mit dem lapidaren Hinweis, er habe neben dem »Spiegel« auch das CSU-Organ »Bayernkurier« im Unterricht verwandt. Deshalb könne von einer »linksradikalen Indoktrination« nicht die Rede sein. In Düsseldorf ging die CDU-nahe Pennälertruppe »Bund Demokratischer Schüler« (BDS) vom ComeniusGymnasium 1976 gleich direkt den Verfassungsschutz an. Der BDS-Vorstand, in dem bis 1974 so prominentes Jungvolk wie Mathias Biedenkopf (Sohn des damaligen CDU-Generalsekretärs und heute Leutnant und cand. ing.) und Lukas Brenninkmeyer (Sproß der C&A-Kleiderdynastie) agierte, fiel 1976 durch markige Sprüche auf. Unter der Kampfparole »Gebt dieser linken Meute in Zukunft eine deutliche Absage« durchkämmten die Oberprimaner Schulklassen und Lehrerkollegium nach »Verfassungsfeinden«. Ihr Anführer war der Schüler Hubertus Reygers. Als einmal DKP-Jugendliche und Juso-Schüler auf einer Versammlung gegen die CDUSchüler Rabatz machten, ließ Reygers Polizei in Mannschaftswagen anrücken. Er meldete auch ahnungslose Schulkameraden, die bei den Jungsozialisten mitmachten, dem Verfassungsschutz. Denn für ihn sind Jusos »verkappte Kommunisten«. Im Herbst 1975 leitete Reygers' Freund Christian Fischer über einen Mittelsmann ein Dossier an den Verfassungsschutz - und hatte in einem Fall Erfolg. Die Verfassungsschützer legten eine Akte über den linksorientierten Kunsterzieher Henning Brandis an. Vermerk des Verfassungsschutzes: »Anonym zugesandt«. Als der Spitzelfeldzug ruchbar wurde, wandte Reygers sich 187 auf einem CDU-Briefbogen (»sicher, sozial und frei«) an die Öffentlichkeit. Unter der Überschrift »SPDOrtsverein kämpft für Kommunisten« kündigte der CDU-Schüler weitere Denunziationen an: »Der Bund Demokratischer Schüler greift zum letzten, gravierendsten, aber für jeden echten Demokraten völlig legitimen Mittel: er informiert das Bundesamt für Verfassungsschutz.«
Die CSU-nahe Schüler-Union in München ermahnte den bayerischen Kultusminister Hans Maier, »verfassungsfeindlich eingestellte Lehrpersonen an der Bundeswehr-Hochschule zu überprüfen, denn Bundeswehr-Schüler haben ebenso wie andere Schüler das eigentlich selbstverständliche Recht auf einen ideologiefreien verfassungsbejahenden Unterricht«. Zum Beweis ihrer Vermutung präsentierten die Unions-Schüler der Öffentlichkeit eine Dokumentation über den Bundeswehr-Hochschullehrer Karl-Heinz Geißler. Sie faßt Äußerungen zusammen, die der Professor vor bereits acht Jahren gemacht haben soll. Demnach hatte Geißler in einer Streitschrift »Gegen die positivistischen Bestrebungen in der Pädagogik« Stellung bezogen und gefordert, daß sich der »Wandel des Selbstverständnisses der Pädagogen und Erzie her vom gesellschaftsstabilisierenden zum gesellschaftsverändernden Moment« hin entwickeln müsse. Auch habe der Professor für das Publikationsorgan »Initiativgruppe Fachschafts- und Sozialpädagogen« verantwortlich gezeichnet - und zwar mit der Adresse des damals »linksextremen« Asta in der Münchner Leopoldstraße 15. Einer der Mitväter des Radikalenerlasses, Willy Brandt, fürchtet inzwischen, die Bundesrepublik könne ein Land werden, »in dem der Vater dem Sohn mißtraut, der Nachbar den Nachbarn beargwöhnt, die Organe des Staates die Bürger ausspähen«. Indes: Die Wirklichkeit hat Brandts Besorgnis schon eingeholt. Eingeholt, weil es für die Staatsspäher mittlerweile kaum noch einen Tabubereich gibt und ihnen kaum noch eine zweifelhafte Methode unzulässig erscheint. Für SPD-Landeschef Erhard Eppler »ist in der Bundesrepublik ein unheimlicher Prozeß in Gang gekommen, der eine ganze Generation in Gegensatz zum demokratischen Staat zu drängen droht«. 188 Schulkinder, die nur einen unkonventionellen Gedanken äußern oder sich radikal gebärden, laufen Gefahr, in die Computer des Verfassungsschutzes eingespeist zu werden. Bayerns Innenminister Alfred Seidl hat zugegeben, daß etwa 250 Schüler in Geheimakten des Verfassungsschutzes stehen. Und sein Pressesprecher Frieling hat sogar eingeräumt, daß auch Schüler als Spitzel angeheuert wurden. Die Voraussetzung: Sie müssen volljährig sein. Dieses Kriterium erfüllte die inzwischen 20jährige Marianne Weiß aus München schon 1977. Dabei führte ihr Weg nicht direkt zum Verfassungsschutz, sondern zunächst zur Studienberatung der Universität München. Sie wollte nämlich wissen, welche Möglichkeiten es überhaupt noch für den ohnehin schon überlaufenen Lehrerbcruf gibt. Marianne Weiß: »Mir wurde gesagt, wegen meiner Funktion als Schulsprecherin sei mit Sicherheit eine Akte beim Verfassungsschutz vorhanden, die mir wahrscheinlich keine Chance gebe, Beamtin zu werden.« Doch mit der Studienberatung in Sachen Radikalenerlaß gab sich die blondgelockte Abiturientin nicht zufrieden. Sie ging zum Verfassungsschutz und wurde von einem »Herrn Speer« empfangen. Zwar bestritt Staatsschützer Speer die l Existenz einer Akte, zeigte sich aber gleichwohl so zutraulich, daß er Marianne Weiß als »Informationsschlepperin« engagieren wollte. »So für 200 bis 300 Mark monatlich.« Denn für den Verfassungsschutz zu arbeiten, sei immer sinnvoll. Sie könne »ihren politischen Aktivitäten freien Lauf lassen« - also weiterhin radikal sein -, und ihr würde daraus kein Nachteil entstehen. Marianne Weiß lehnte ab, über Schüler und Lehrer aus der Vergangenheit auszupacken und künftig ihre Kommilitonen und Professoren auszuspähen. Der fragwürdige Grundsatz des FDGO -Statthalters Alfred Seidl, »für den politischen Extremisten darf es keinen Freiraum geben«, bleibt jedoch nicht nur auf Bayern beschränkt. In Essen bestätigte auf einer Veranstaltung Ministerialrat Seichter, Öffentlichkeitsarbeiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, auch Daten und Angaben über Homosexuelle würden systematisch in den zentralen NADIS-Computer (Nachrichtendienstliches Informationssystem) ein-gegeben und ausgewertet, wenn die betreffenden Personen 193 Kontakte mit »geheimhaltungsbedürftigen« und »sicherheitsempfindlichen« Bereichen haben. Die Essener Homo -Gruppe »RAGE« vermutet hinter den Schnüffel-Aktivitäten vielmehr »den klammheimlichen Aufbau einer Riesen-Schwulenkartei, gegen die die früheren Registraturen nach dem Strafrechtsparagraphen 175 harmlose Zettelkästen gewesen sein dürften«. Eine gesellschaftliche Diskriminierung, die mit der Liberalisierung des Sexualstrafrechts abgeschafft schien, hat demnach bei den Verfassungsschutzämtern immer fortbestanden. Wahrscheinlich deshalb, um eine vermeintliche »Erpreßbarkeit« für die Behörden oder für andere Organisationen auszuloten. Im Grundgesetz garantierte Freiheitsspielräume wie die freie Berufswahl werden selbst von staatlichen Institutionen unterlaufen, die in der Öffentlichkeit von ihrem sozialhumanitären Anstrich leben und bei denen es niemand ohne weiteres vermuten würde - den Jugendämtern. Seit Jahrzehnten kursieren unter den jeweiligen Jugendbehörden der Bundesländer, zwischen Waisenheimen, Erholungsstätten und Kindergärten »Schwarze Listen« über unbequeme oder mißliebige Sozialarbeiter. Kindergärtnerinnen, die wegen permanenten Zuspätkommens entlassen worden sind, Sozialpädagogen, die politisch zu kritisch waren, Heimerzieher, die eigenwillig ihre Ziele verfolgten - sie alle landen auf der »Schwarzen Liste«, die im Amtsjargon
»Warnmitteilung« heißt. Natürlich nicht nur mit ihren Namen, sondern auch mit den entsprechenden Informationen. So kann sich der Sozialarbeiter Roland Ferner* aus Buxtehude bewerben, wo er will, Zeugnisse und Referenzen einreichen. Eines ist ihm sicher: das heimliche Dossier eilt seinem Schreiben schon voraus. »Es wird gebeten, vor einer etwaigen Einstellung bei der Regie rung in Lüneburg nachzufragen.« Denn spätestens beim Rausschmiß oder der Kündigung lassen die Heimleiter ihre »Warnsignale« los. Von dieser Praxis erfährt der Betroffene nichts. Er kann folglich auch keinen rechtlichen Einspruch geltend machen, weil er nicht einmal weiß, welche Fakten über ihn zusammengetragen worden sind. Und — daß die Heime sich bei Einstellungen neuer Fachkräfte ausschließlich *Name geändert.
194 auf die »Schwarze Liste« verlassen und danach die Bewerbung beurteilen, gesteht selbst der für Niedersachsen zuständige Ministeriale Klaus Rauschert ein. »Über die Warn mitteilung hinaus informieren sich die Dienstvorgesetzten leider nicht.« Eine Gepflogenheit, die einem Verfassungsschützer kaum passieren würde. Wenn es um diskrete Informationen geht, beauftragt der Verfassungsschutz selbst Verfassungsfeinde, unbescholtene Bürger zu überwachen. So wurde der Kommu nist Wolfgang Wenzel, Vorsitzender des Kreisjugendausschusses Minden, vom NRWVerfassungsschutz genötigt, Kommunalbeamte der Stadt, Lokalmatadore der Parteien und Jugendorganisationen auszuspähen. Der Verfassungsschutz drohte dem DKP-Mann Wenzel Berufsverbot an, wenn er nicht als Spitzel arbeite. Der Krankenpfleger ging deshalb zum Schein auf das Verlangen ein. Als der Fall jetzt aufflog, mußte der Verfas sungsschutz zugeben, daß er nicht nur Jugendverbände, sondern auch Gewerkschaften beobachten läßt. Dabei kann schon »so eine Panne wie der Fall Wenzel« vorkommen, erklärte der Präsident des NRWLandesamtes für Verfassungsschutz, Graf von Hardenberg. Das Bespitzeln von Nachbarn oder politischen Gegnern wird immer öfter zum Bürger-Hobby. Seit jeher hat der Handelsvertreter Herbert Land aus Köln »in seinem Leben nichts mehr gehaßt als die Kommunisten«. Der Radikalenerlaß gab dem CDU-Mitglied Land und dessen Frau Gisela die Rechtfertigung, eine BerufsverbotsKampagne gegen den 36jährigen Bernhard Hanfland zu starten, einen Realschullehrer, der mit dem Maoorientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) sympathisierte. In der Schule verhielt sich der Pädagoge politisch neutral. Der 42jährige Land kannte den denunzierten Pädagogen nur vom Sehen. Lands Kinder besuchten die Realschule Chorweiler, an der ihr Vater in der Schulpflegschaft mitwirkte und Lehrer Hanfland Sozialkunde und Sport unterrichtete. A n fang 1976 nahmen Herbert und Gisela Land eine Unterschrittenaktion gegen § 218 zum Anlaß, Hanf land zu beobachten und Erkenntnisse über ihn zu sammeln. An einem Sonnabendmorgen 195 verteilte der Lehrer vor einem Supermarkt im City-Center Flugblätter für seine Sekte. CDU-Land nahm eines mit und sah rot. Anfang November 1976 schrieben die Lands aufgebracht an den Kölner Regierungspräsidenten: »Wie lange wird uns und unseren Kindern in der Realschule Chorweiler dieser >Totengräber< der Demokratie noch zugemutet? Was muß geschehen, um den >Pädagogen< Hanfland aus dem Schuldienst zu entfernen?« Doch um Lehrer Hanfland zu feuern, mußten nachhaltigere Beweise her. Herbert Land: »Vier Monate habe ich fast nichts anderes gemacht, als diesen Typ zu beobachten. Dann hatte ich alles zusammen.« Gemeinsam mit der Politischen Polizei, dem 14. Kommissariat, ging Land häufig auf Schnüffeltour. Flugblätter und Broschüren wurden eingesackt, Fotos geschossen - mal mit der Profi-Kamera der Polizei, mal mit Lands MallorcaAgfamatic. Gegen Hanfland wurde anonym ein Strafantrag wegen Volksverhetzung gestellt (14. K.Tgb.-Nr. 2434/76). Darin wurde dem Lehrer vorgeworfen, am 2. Februar 1976 in Köln-Seeberg, Karl-Marx-Allee, Flugblätter mit der Überschrift »Die Schule gehört in die Hand des Volkes« verteilt zu haben. Schließlich zeigte sich der Erfolg. Der Regierungspräsident in Köln belegte Bernhard Hanfland mit dem Berufsverbot, weil dieser »die Zweifel nicht ausräumen konnte, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten« - Proteste von Eltern der Hanfland-Schüler, die von den pädagogischen Qualitäten des Lehrers überzeugt waren und sich an dessen außerschulischem Sektierertum nicht störten, nutzten ebensowenig wie Eingaben der Lehrerkollegen. Amateurjäger Herbert Land durfte die »Akte Hanfland« im Kölner Regierungspräsidium mit sämtlichen Personaldaten, Dienstschreiben und Vermerken bei der Sachbearbeiterin Spiecker einsehen und Kopien mit nach Hause nehmen -widerrechtlich, versteht sich. Aus den Behörden-Papieren machte Land wieder gerichtliches Beweismaterial - diesmal nicht für den Regierungspräsidenten, sondern fürs Arbeitsgericht. Der geschaßte Pädagoge Hanfland hatte einen Maschinenarbeiter-Job bei der Kölner
196 Firma Daimon angenommen, um weiter Ehefrau und zwei Kinder ernähren zu können. Als Kommunistenjäger Land mitbekommen hatte, wo sein Opfer steckte, klemmte er den kiloschweren Leitzordner unter den Arm und ging zum Daimon-Produktionsleiter Hans-Günther Devant. Der vorsichtige Manager ließ ein Tonband mitlaufen. Auszüge aus dem Gespräch: Land: »... aber ich habe ihm gesagt, Herr Hanfland, Sie werden mich nicht mehr los. Das verspreche ich Ihnen. Gnade Ihnen Gott, es wird furchtbar für Sie!« Produktionsleiter Devant: »Wir haben also den Mann beschäftigt. Der hat gearbeitet, man konnte ihm nichts nachweisen. Dann kam plötzlich ein Vorfall. Er war von seinem Arbeitsplatz weggegangen, führte ein Gespräch und bewegte die Mitarbeiter dazu, eine Unterschrift zu leisten. Daraufhin haben wir ihm die Kündigung ausgesprochen. Wir müssen jetzt damit rechnen, daß Herr Hanfland zum Arbeitsgericht geht. Und dafür ist es für uns sehr wichtig, das, was jetzt hier in Ihren Unterlagen enthalten ist...« Land: »Sie können sie komplett kopieren, mir alles egal; Bei den Unterlagen habe ich auch den Manager vom City Center. Der hat auch so einen >Vogel< in der Schule in Bergisch-Gladbach. Der Manager fragte mich, was machen wir. Ich sagte, komm her, hier sind meine Unterlagen. Er sagte, haargenau! Innerhalb von vier Wochen hatten wir den >Vogel<.« Produktionsleiter Devant: »Herr Land, wären Sie bereit, im Arbeitsgerichts-Prozeß der Firma Daimon gegen Hanfland auszusagen?« Land: »Ja. Ich bin mir der Gefahr bewußt, das habe ich auch dem 14. K. (politische Polizei, d. Verf.) gesagt. Aber die haben mich eines besseren belehrt. Hanfland ist kein Schläger. Er hätte ja auch Grund genug gehabt, mich schon vorher fertigzumachen.« Devant: »Dann würde es Ihnen auch nichts ausmachen, wenn wir eine Kopie dieser kompletten Akte Hanfland der Gewerkschaft weitergeben, wo er ja auch Mitglied ist?« Land: »Nein ... Da sind auch Briefkopien drin, die ich an die Regierung geschrieben habe, an die Frau Spiecker (Sachbearbeiterin im Regierungspräsidium, d. Verf.). Aber ist mir auch egal.« 197 Devant: »Die Frage, sollen wir was rausnehmen?« Land: »Nein, nein. Das Einverständnis mit Frau Spiecker ist gut. Man weiß zwar nicht, wo das mal landet, eben weil Frau Spiecker mir gegenüber sehr großzügig war. Man kann das ja rausnehmen, und die Kopie können Sie dann mitnehmen ...« So gesagt, so getan. Vom Erfolg mit dem Schulrausschmiß berauscht, schrieb CDU-Mitglied Herbert Land einen Brief an CSU-Chef Franz Josef Strauß. Er beschwerte sich darüber, daß er in seinem CDU-Landesverband zu wenig Unterstützung bei der Jagd auf Kommunisten finde. Der Leiter des CSU-Büros, Dr. Wilhelm Knittel, antwortete am 17.10.1977 und bedankte sich im Auftrag von Herrn Strauß für den Land-Brief. Er sprach die Hoffnung aus, »daß es Ihnen, sollten sich ähnliche Fälle in Ihrer Gegend wieder ereignen, gelingt, doch noch die tatkräftige Unterstützung von örtlich oder sachlich zuständigen Landtags- und Bundestagsabgeordneten der CDU zu finden«. Im Grundgesetz-Artikel 3 unseres »freiheitlichen demo kratischen Rechtsstaates« heißt es: »Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« Der KBW, mit dem der gejagte Expädagoge und jetzige Hilfsarbeiter Hanfland sympathisiert, ist bis heute nicht als verfassungswidrig verboten. Unter den Augen der Öffentlichkeit, doch von ihr nahezu unbemerkt, gerät die westdeutsche Szene immer mehr zum Tribunal gegen die Freiheit. Sie registriert Bürger-Denunzia tionen und Staatsübergriffe als vereinzelte Pannen - der Überblick fehlt, um das Dominospiel zu erkennen, das aus einem Verfassungsstaat freiheitlicher Grundordnung eine autoritäre Staatsverfassung mit gegenseitiger Bespitzelung seiner Bürger macht. Ein sicherer Gradmesser für eine freiheitliche Entwicklung in diesem Land waren schon immer die Universitäten. Dort sind die Freiheitsspielräume im Vergleich zu Schule und Betrieb weitaus größer, und politische Konflikte lassen sich 198 meist engagiert und ohne nennenswerte Folgen austragen. Der Konstanzer Politik-Professor Gilbert Ziebura sagt: »In der heutigen Studentengeneration überwiegt nicht der Pro test, sondern die Angst.« Kaum ein Politik- oder Soziologie -Seminar, keine Vortragsveranstaltung oder Dis kussion in der Mensa, wo der Verfassungsschutz nicht seine Verbindungsleute sitzen hätte. Für ein kleines Taschengeld horchen und lauschen Studenten Kommilitonen aus, protokollieren Zitate, schleppen Flugblätter und Broschüren in die Behörden.
Dort sitzen die Profis, registrieren, rubrizieren, füttern die Computer mit Namen und Fakten - direkt abrufbar für alle Verfassungsschutzämter, für den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst: ein Apparat, der in Sekundenschnelle Gesagtes und Geschriebenes liefern kann, vor allem an die Oberschulämter die erste Instanz für Berufsverbote. Kaum eine Woche vergeht, in der Ziebura oder seine Kollegen nicht einen Hilferuf von Studenten bekommen. Fast ausschließlich sind es künftige Pädagogen, die sich nach ihrem ersten Staatsexamen bei den Schulbehörden als Referendare bewerben. Ihnen ist eines sicher: eine Anhörung zu sogenannten verfassungsfeindlichen Aktivitäten während ihrer Uni-Zeit. Die Studentin Gerda Krüger*, die keiner Partei angehört, schrieb im Februar 1978 an Ziebura: »In der Anhörung hat man mir klargemacht, daß meine Chancen, in die Referendarausbildung reinzukommen, gleich Null sind. Man legte mir »sechs Fotokopien von Flugblättern vor; eines davon war >Zehn Fragen an Willy Brandt<, das sich ironischerweise kritisch mit zehn Hamburger Berufsverbots-Fällen aus dem fuhr 1972 auseinandersetzt. Das Blatt wurde 1972 anläßlich eines Besuchs von Willy Brandt in Alsdorf verteilt. Dabei fiel Ihr Name auch. In der Art und Weise, wie der Verhörspezialist ihn erwähnte, hatte ich den starken Eindruck, daß Sie bereits unter Beobachtung stehen.« Der Konstanzer Professor unterscheidet zwei Typen von Studenten, die von den Anhörungsverfahren betroffen sind. Der eine verhält sich ruhig, denkt ans Geldverdienen und *Name auf Wunsch der Betroffenen geändert.
199 glaubt, durch Anpassung seine »linke« Vergangenheit relativieren zu können. Der andere »kommt erst bei den Verhören auf den Gedanken, daß man den Kerlen eigentlich eine Bombe unter den Hintern legen möchte« (Ziebura). Die Auswirkungen der Behörden-Inquisition sind im Uni-Alltag mittlerweile fühlbar. Die Studenten packen kaum noch kritische Themen an, für die sie Interesse haben. Schon eine Examensarbeit über »Die amerikanische Verhinderung der Vergesellschaftung von Unternehmen von 1945-47« hielten sie in Konstanz für radikalenverdächtig. Besonders die älteren Semester ziehen politisch genehme Sachgebiete vor. Eine Selbstzensur, die bis zur Selbstverleugnung geht. Denn alle wissen nur zu genau: Die endgültige Entscheidung, ob ein Kandidat einen Schuljob bekommt oder nicht, trifft gar kein Hochschullehrer - wichtig ist, wie die Regierungsdirektoren in den Schulämtern, meist Juristen, das erste und zweite Staatsexamen des Bewerbers einordnen. Und die richten sich nach den bewährten Kriterien der FDGO. So berichtet der Politologie -Professor Heinz Josef Varain aus Gießen: Bei dem Thema »Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegen die Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts« baten die Examenskandidaten, auf den Vervielfältigungen ihrer Arbeiten ihre Namen wegzulassen. Der Berliner Assistenz-Professor Joachim Wagner analy siert inzwischen, daß »im Universitätsalltag zwischen den politischen Gruppierungen keine Kommunikation mehr stattfindet«. Wagner unterteilt die studentischen Probleme Ende der siebziger Jahre in vier Kernbereiche: • Eine ideologisch tief gespaltene Studentenschaft; • die Kluft zwischen »studentischer« und »allgemeiner« Politik; • die Schwierigkeit, Jurastudenten Bedeutung und Inhalt des Verfassungsgrundsatzes »Rechtsstaat« verständlich zu machen, und • das Fehlen jeder positiven Identifikation mit unserer Staats- und Gesellschaftsordnung bei der Mehrzahl der Studenten. Und der Berliner Wissenschafts -Senator Peter Glotz schätzt gar die Zahl der »studentischen Aussteiger« aus dieser 200 Gesellschaft auf 10 000. So glauben immerhin ein Drittel aller Studenten, »in diesem Staat keine berufliche Perspektive« zu sehen. Joachim Wagner kommt zu dem bedrückenden Schluß: »Mir wurde klar, daß fast die Hälfte der Studenten so fühlte und dachte wie der Göttinger Mescalero-Indianer, der >klammheimliche Freude< beim Mord an Generalbundesanwalt Buback empfunden hatte. Und mir wurde klar, daß der Staat auf die politisch-ideologische Unterstützung einer noch größeren Zahl von Studenten bei der Bekämpfung des Terrorismus wahrscheinlich nicht rechnen kann.« Allein deshalb nicht, weil »der Rechtsstaat für viele Studenten kein Rechtsstaat ist, weil es bei der Verfolgung der Terroristen zu verfassungswidrigen Abhöraktionen gekommen ist, Wohnungen zu Unrecht durchsucht und Bürger inhaftiert worden sind, Haftbedingungen fragwürdig waren und Verteidigerrechte unzulässig beschränkt worden sind« (Wagner). Ein klassisches Beispiel dafür, wie an Universitäten rechte Professoren ihre linken Kollegen verleumden, ist der Fall des Berliner Hochschullehrers Wolf-Dieter Narr. Der 41jährige Politikwissenschaftler hatte sich im Februar 1975 um einen Lehrstuhl in Hannover bemüht. SPD-Mitglied Narr, in Berlin Beamter auf Lebenszeit, durfte in
Niedersachsen kein Beamter werden. Der Grund: Die »Notgemeinschaft für eine freie Universität«, ein Sammelbecken konservativer Ordinarien, lieferte ihre »gesammelten Erkenntnisse« an den Verfassungsschutz. Die Berliner Behörde schickte das Material auf dem Amtshilfeweg nach Hannover. In einem »Anhörungsverfahren über die politische Betätigung im öffentlichen Dienst« hielten die Regierungsräte Borrmann und Reinhardt dem verunsicherten Narr erfundene Einwände vor: Narr sei Funktionär des DKP-nahen Landeskuratoriums »Notstand der Demokratie«, Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), Herausgeber der SDS-Zeitschrift »Marginalien-Neu« gewesen. Der renommierte Wissenschaftler konnte Punkt für Punkt widerlegen. Dennoch lehnte die SPD-Landesregierung Narr als Hochschullehrer ab. Sicher ist sicher. 201 Die Frage, warum die Studenten heute nicht mehr wie Ende der sechziger Jahre auf die Straße gehen, als sie gegen Vietnam-Krieg und Notstandsgesetze und für Bildungsreformen demonstriert hatten, ist mit dem 1977 verabschiedeten Hochschulrahmengesetz beantwortet. Dessen wichtigste Disziplinierungsinstrumente sind: • zeitliche Begrenzung des Studiums (Regelstudienzeit) auf acht Semester für die meisten Fächer (bisherige Studiendauer durchschnittlich l0 bis 11 Semester); • verschärftes Ordnungsrecht, das Demonstranten mit der Entfernung aus der Universität bedroht; • ausdrückliches Verbot für die Studentenvertretungen (ASTA), ein allgemeines politisches Mandat wahrzunehmen, das heißt, sich auch zu nicht-hochschulbezogenen Themen zu äußern. Die Länder Bayern und Baden-Württemberg schafften die gewählten Studentenvertretungen kurzerhand ganz ab. Im Stadtstaat Hamburg dagegen wurde der ASTA 1978 vom Verwaltungsgericht zu einer Geldstrafe in Höhe von 44000 Mark verurteilt. Die Studentenvertretung hatte sich nämlich »widerrechtlich« zu allgemeinen politischen Themen geäußert und unter anderem ein Verbot von Neo-Nazi-Aktivitäten gefordert. Den Strafantrag hatte der CDU-nahe Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) gestellt. Bereits 1977 war der ASTA mit einer Geldbuße von 500 DM belegt worden, weil er sich in einem Flugblatt mit den streikenden Druckern solidarisch erklärt hatte. Sämtliche Geldstrafen muß die Studentenvertretung aus ihrem Etat -jährlich 300 000 Mark - finanzieren. Aber auch die Professoren müssen fürchten - um die im Grundgesetz verankerte Wissenschaftsfreiheit. Da hatte nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback ein Göttinger Student unter dem Pseudonym »Mescalero« einen »Nachruf« veröffentlicht, in dem die fatale Formulierung von der »klammheimlichen Freude« am Tod Generalbundesanwalt Bubacks vorkam. In breitester Öffentlichkeit wurde dieser Nachruf als ein Beweis für die politische Verkommenheit an deutschen Universitäten gebrandmarkt. In riesigen Schlagzeilen verkündete 202 die »Bild«-Zeitung, daß der Terrorismus nun in deutschen Universitäten öffentliche Billigung erfahre. Aber niemand kannte den vollen Wortlaut des Buback-Nachrufs. Niemand erfuhr, daß in diesem Nachruf die terroristische Gewalt eindeutig abgelehnt wurde. Da entschlossen sich 40 Hochschullehrer, den Aufruf in vollem Wortlaut zu veröffentlichen. Sie meinten, man könne nicht über etwas diskutieren, das man nicht kenne. Und sie ließen keinen Zweifel daran, daß auch sie terroristische Gewalt ablehnten. Der niedersächsische Wissenschaftsminister Eduard Pestel (CDU) forderte die an der Veröffentlichung beteiligten und ihm unterstellten Professoren auf, eine in Ich-Form vorformu lierte Erklärung zu unterschreiben, in der sie ihre absolute Treue nicht nur zur Verfassung, sondern zum Staat zu erklären hatten. Andernfalls würde er sie aus ihren Lehrämtern entfernen. Von den 13 Uni-Lehrern haben sich inzwischen elf Professoren vor Pestel verneigt. Einer, der sich nicht beugte, ist der Hannoveraner Psychologie-Professor Peter Brückner. Brückner beging einen weiteren »Fehler«, indem er sich in einer Expertise mit dem Buback-Nachruf wissenschaftlich auseinandersetzte. Er bekam vom Pestel-Ministerium daraufhin ein Uni-Verbot. Es wurde per Gerichtsurteil wieder aufgehoben, obwohl CDU-Minister Pestel dem Professor Brücker eine »definitiv verfassungsfeindliche Einstellung gegenüber dem Staat« attestierte. Über 600 Hochschullehrer demonstrierten in Hannover gegen die »diskriminierende Bevormundung« durch Wissenschaftsminister Pestel und forderten Solidarität mit dem beurlaubten Psychologie-Professor. Hochschullehrer, meist Beamte auf Lebenszeit, können sich noch am ehesten offenen Protest leisten. Die Studenten dagegen müssen nach dem Studium nicht nur mit einem staatlichen Radikalenerlaß rechnen - auch die Wirtschaft hat ihr Radikalen-Verdikt. In einer Umfrage bei 80 Personalchefs der größten deutschen Industrieunternehmen kam der Kieler Wirtschafts wis senschaftler Reinhardt Schmidt zu dem Ergebnis: Die Personalchefs wollen keine »linken Theoretiker«, sondern Leute mit »Praxisnähe«. Im Klartext: Abiturienten, die in der 203
Wirtschaft Karriere machen wollen, sollten möglichst Universitäten wie Bremen, Heidelberg, Frankfurt, Berlin und Marburg meiden. Schmidt: »Die Manager haben ein ausgeprägtes Empfinden für Unterschiede zwischen bestimmten Hochschulen. Das läuft auf einen Radikalenerlaß hinaus.« Diese Voreingenommenheit wirkt sich besonders ungerecht angesichts der Tatsache aus, daß Studenten sich bei dem in den meisten Fächern herrschenden Numerus clausus ihre Studienorte nicht aussuchen können. Das »ausgeprägte Empfinden« der Unternehmer, das ihnen nach links und rechts zu selektieren hilft, wird von den Verfassungsschützern geschärft. Sie spielen den Personalchefs Material zu, das sie in Schulen, Universitäten und Jugendorganisationen eingesammelt haben. Gesetzliche Grundlage für die heutige Allgegenwart des Verfassungsschutzes ist Paragraph 6 der Verfassungsschutzgesetze der Länder. Danach kann der Verfassungsschutz seine »Erkenntnisse« auch an Privatpersonen weitergeben, soweit dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erforderlich erscheint. Der Hannoveraner Staatsrechtler Hans-Peter Schneider: »Der Verfassungsschutz informiert irgendeinen Arbeit geber, und bestimmte Leute fliegen raus oder werden erst gar nicht eingestellt.« In Berlin hatte die 20jährige Sabine Schröder* den Eig nungstest für eine Lehrstelle als Bauschlosserin bei den »Berliner Verkehrsbetrieben« (BVG) mit Auszeichnung bestanden. Sie bekam eine Zusage auf Einstellung. Wenige Tage später widerrief BVG-Personalchef Bruno Frank sein Versprechen. Begründung: »Die politische Überzeugung der Bewerberin könnte das BVG-Verkehrsangebot behindern und gefährden.« Frank gab zu, ein Dossier vom Verfassungsschutz bekommen zu haben. Sabine Schröder war einmal unschuldig als TerrorSympathisantin verdächtigt worden. In Köln flog der 31jährige Gernot Haller* bei den Ford-Werken raus. Intern hatte Personalchef Alfons Böwer die Entlassung damit begründet, ihm lägen »Erkenntnisse« des Verfassungsschutzes vor. »Haller ist ein Verfassungsfeind«, er *Namen auf Wunsch der Betroffenen geändert.
204 sei ein Risikofaktor für den Betrieb. Er denke da besonders an die Streiks von 1973, die erhebliche Unruhe und Verwirrung ausgelöst hätten. Extern, und zwar vor dem Arbeitsgericht (Az.: 7061/77), bestritt der Personalchef alles. Er gab an, ein »Rückgang der Personalschätzung« sei der Kündigungsgrund gewesen. In Hamburg entließ die Klimatechnik-Firma Kaeser ihre Mitarbeiterin Maria Vogt. Sie hatte im Archiv in der Lichtpauserei gearbeitet. Vor dem Arbeitsgericht verweigerte der Personalchef die Aussage auf die Frage, ob er die Kündigungsgründe vom Verfassungsschutz bezogen habe. Der Vorsitzende Richter Olderog fragte im Schreiben vom 21. November 1977 beim Landesamt für Verfassungsschutz nach dem Grund für die Aussageverweigerung des Personalchefs. Grund der Entlassung: Nicht Maria Vogt, aber ihr Mann ist Mitglied der DKP. In Schwarzenbek bei Hamburg lieferte die Leitung der Werkzeugmaschinen-Fabrik »Fette GmbH« (1500 Beschäftigte) bei Neueinstellungen Personaldaten automatisch an das Kieler Innenministerium. Und das 20 Jahre lang, obwohl das Unternehmen keine Rüstungsgüter, sondern nur Präzisionswerkzeuge herstellt. CDUInnenminister Rudolf Titzck nannte die Zahl »von etwa 20 Betrieben«, zu denen sein Verfassungsschutz »informelle Kontakte pflegt«. Wie der Rücklauf der Verfassungsschutzämter an die Unternehmen aussieht, geht aus einer Aktennotiz des Werkschutzes eines Kölner Betriebes hervor: »Werkschutz Aktennotiz, Köln, den 18.12.1974, streng vertraulich. Betr.: Robert Reinecke*, geb. 12.5.1949 in Köln, Personalnummer: 1115, tätig im WVG 166. Reinecke ist bei den Abwehrstellen bekannt. Er ist jetzt Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Als Student an Aktionen teilgenommen, Flugblätter verteilt, Informationsstände besetzt, KPD-Zeitungen verkauft. Reinecke war Sekretär der Ortsleitung. Ende '74 wurde er abgesetzt wegen schlechter organisatorischer Leistung. Nicht vorbestraft. Bezüglich seines Verhaltens in der Universität erfolgt weiterer Bericht« *Name auf Wunsch des Betroffenen geändert.
205 Die Vermutung, »daß die Betriebe heute zum eigentlichen Tummelplatz politisch radikaler Kräfte geworden sind« (Hans-Otto Bläser, Ford-Personalabteilung Köln), hat bereits zahlreiche Unternehmen veranlaßt, ihre Arbeiter schon bei der Einstellung nach der politischen Gesinnung zu fragen. Die Ludwigsburger Firma Sarnow, Spezialfabrik für Toranlagen, vermerkt im Personalbogen mit Kreuzchen: gewerkschaftlich organisiert, politisch engagiert, vorbestraft, z. Z. arbeitslos. Auch die Stadtsparkasse Düsseldorf ist seit dem i. Januar 1978 dazu übergegangen, sich von ihren Schalterbeamten neben der branchenüblichen Erklärung der Verschwiegenheit und Unbestechlichkeit auch das Bekenntnis zur FDGO bestätigen zu lassen. Denn, so der Vorstand, es gibt nicht nur eine »Treuepflicht des Beamten zum Staat«, sondern auch eine »politische Treuepflicht der Sparkassenangestellten«. In der Loyalitätserklärung heißt es: »Mir ist bekannt, daß die Stadtsparkasse Düsseldorf als selbstverständlich
voraussetzt, daß ich keiner Organisation angehöre . . . die darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu gefährden . . .« Und bei der deutschen Lufthansa ist es seit Jahrzehnten üblich, Neueinstellungen durch den Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. Im Jahre 1977 wurden insgesamt 1200 Mitarbeiter von den Staatsschützern durchleuchtet und zwar auf kriminelle Vergangenheit, politisches Engagement und Anzeichen von Geisteskrankheit. Der Texaco-Konzern gibt sogar unumwunden zu, im Zusammenhang mit dem Terrorismus »sowohl die Polizei als mitunter auch das Verfassungsschutzamt in Anspruch zu nehmen«. Faktisch muß jeder Mitarbeiter mit einer Überprüfung des Geheimdienstes rechnen. Die Radikalenjagd, bisher staatlichen Organen vorbehalten, droht künftig auch von Privatdetekteien. In einer Annonce der »Aachener Volkszeitung« bot Detektiv Frank B., 28, »politische Personenprüfungen« an, pro Fall 89,90 Mark plus 12 Prozent Mehrwertsteuer. Und in seinen Werbeschrei206 ben, die er an die Firmen schickte, gab er große Industrieunternehmen als Referenzen an. Dazu der NRWWirtschaftsminister Horst-Ludwig Riemer: »Dagegen sind wir machtlos.« Wenn die Arbeit des Verfassungsschutzes mal nicht ausreichend erscheint, heuern die Unternehmen Schwarzarbeiter an: Kripobeamte, die in ihrer Freizeit Karteikästen filzen. Ein typisches Beispiel für die teilweise schon kriminelle Zusammenarbeit hat der FDP-Ratsherr Manfred Kocks aus Geldern geliefert. Als Inhaber eines Detektivbüros hat er Polizisten bestochen, die für Spitzellöhne bis zu 400 Mark pro Dossier die Bewerber verschiedener Firmen unter die Lupe genommen haben. Und ausgerechnet die DKP, deren Mitglieder als Lehrer und Lokführer im öffentlichen Dienst vom Radikalenerlaß hart betroffen sind, macht sich in der Wirtschaft zum Anwalt der Berufsverbote. Denn hier gehört die DKP zum Gewerkschaftsestablishment. Aus Konkurrenzgründen läßt sie bei Betriebsrats wählen keine Gelegenheit aus, Anhänger des China-orientierten Kommunistischen Bundes Westdeutschland bei der Gewerkschaftsspitze anzuschwärzen. Die Folge: Alle Maoisten fliegen aus der Gewerkschaft raus. Rechtsgrundlage ist der Unvereinbarkeitsbeschluß des DGB mit den »genannten K-Gruppen vom Oktober 1973. Und nicht nur i lies: In Berlin veröffentlicht die IG-Metall unter der Rubrik »Ausschlüsse« regelmäßig ihre »Radikalinskis«: Die Satzung der IG Metall bestimmt, daß Mitglieder, die einer .gegnerischen Organisation angehören oder sich an deren , gewerkschaftsfeindlichen Aktivitäten beteiligen oder diese unterstützen, aus der IG Metall ausgeschlossen werden können. Diese Satzungsbestimmung wird insbesondere auf Mitglieder und Sympathisanten der kommunistischen Gruppierungen wie KPD, KPD/ML und KBW angewandt. In jüngster /eil hat der Vorstand der IG Metall wiederum 24 Mitglieder Berliner Verwaltungsstelle ausgeschlossen, die sich an gewerkschaftsfeindlichen Aktivitäten beteiligt oder sie unterstützt hatten. Ausgeschlossen wurden: 207
Name
geb.
bei Verfahrensbeginn beschäftigt in Firma
Bartel, Christa
25.
7.49
TFR
Barte, Rainer
6.
1.49
Feiler
Beck, Hans- Joachim
20.
2.48
Daimler-Benz
von Berg, Ursula
12.
5.49
SEL
Brenner, Lothar
15-
4.46
Flohr-Otis
Dobkowitz, Thomas
17.
3.49
Dohnke, Jürgen
15.
11.48
Siemens
Gerecke, Karl-Peter
9.
3.40
DeTeWe
Hinz, Elsbeth
31.
5.50
Siemens
Hutter, Karl-Heinz
24.
7.48
Siemens
Huttner, Günter
25.
3.50
Krone
Kabbert, Bernd
27.
1.51
Kaiser, Wolfgang
29.
1.49
AEG Brunnenstr.
Kretschmer, Doris
28.
4.52
TFR
Matthies, Hildegard
5.
7.51
Berthold
Nielsen, Reinhard
1.
10.49
DeTeWe
Plass, Gabriele
25.
7.37
SEL
Prczygodda, Gerhard
1.
9.43
Vobra
Schaake, Ilse
13.
1.51
Siemens
Schuster, Stefan
14.
9.50
AEG Brunnenstr.
Tacke, Gerold
14.
3.51
Flohr-Otis
Töle, Ingolf
23.
3.51
Osram WM-B
Willier, Volker
23.
2.48
Wrede, Franz Josef
20.
4.51
Daimler-Benz
Die Personalchefs in den Betrieben sind nicht allein auf diese Form der Denunziation angewiesen. Sie können sich auf den vierteljährlich aktualisierten Computer-Ausdruck des DGB -Hauptvorstands verlassen. Sämtliche gefeuerten Mitglieder werden mit Name, Anschrift, Geburtsdatum und Ausschlußgrund aufgelistet. Sind sie erst einmal von der Gewerkschaft geschaßt, sind die Mao-Anhänger vogelfrei. Ohne Rechtsschutz können sie sich gegen Kündigungen kaum noch zur Wehr setzen. Die Auswirkungen der Radikalendebatte haben auch das 208 politische Klima in der Kirche nachhaltig beeinflußt. Heute geht es schon längst nicht mehr um vermeintliche »Verfassungsfeinde«. Schon werden Pastoren an den Rand der Legalität gedrängt, deren kirchliches Verständnis sich nicht mit der vorherrschenden Meinung deckt. Der Norderstedter Pfarrer Theodor Lescow ist zur Zielscheibe heftiger CDU-Attacken geworden, weil er auf der Suche nach der Wahrheit am Karfreitag 1977 eine unbequeme Meinung von sich gegeben hat: Die Baader-Meinhof-Hysterie würde bei uns sicher nicht so Hohe Wellen schlagen, wenn wir hier nicht ein paar Menschen gefunden hätten, an denen wir alle unser schlechtes politisches Gewissen abreagieren können.« Statt das Gespräch mit dem Pfarrer zu suchen, entfachte der CDUOrtsverband mit Rückendeckung des Kieler Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg eine Hetz- und Rufmordkampagne: »Dieser Pastor predigt nicht mehr das Wort Gottes, sondern das des Teufels«, erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Würzbach. Und in einem Flugblatt stachelte die Unionspartei die Gemeindemitglieder gegen ihren Pfarrer auf: »Von Staeck bis Wallraff, vom Halbkriminellen RBJ bis zur linksgesteuerten Anti-Atom-Initiative - sie alle trafen und treffen sich dort. (Schalom-Gemeindehaus, d. Verf.) Und Herr Lescow gibt seinen >Segen< dazu.« Und prompt schreibt die konservative »Frankfurter Allgemeine Zeitung« im Oktober 1977, Lescow »verunglimpfe als linksextremer Pfarrer die Union«. Wie erfolgreich der Unionsbeschluß ist, beweist die Reaktion der nordelbischen Kirchenleitung in Kiel. Sie hat denn auch den Pastor »dringend aufgefordert, seine Äußerung in aller Form zurückzunehmen« und Lescow an das Pfarrgesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands erinnert, die jedem Seelsorger vorschreibt, »die Grenzen zu beachten, die sich für Art und Maß seines politischen Handelns ergeben«. Dabei haben die KirchenOberen keine Scheu vor doppelbödiger Argumentation. Zwar verkünden sie, daß ihnen »in jüngster Zeit ein Klima zunehmender gegenseitiger Verdächtigungen Sorge bereite«, gleichzeitig aber schreckt diese Sorge die nordelbische Kirchenleitung nicht ab, mit einem spektakulären Polizei-Großeinsatz das Hamburger MartinLuther-King-Haus der 209
evangelischen Studentengemeinde (ESG) räumen zu lassen. Anlaß für die Polizeiaktion war die friedliche Besetzung des Hauses durch ESG-Mitglieder, die über die Schließung ihres wöchentlichen Treffpunkts während der Semesterferien im Foyer diskutieren wollten. Die friedliche und gelassene Stimmung dieses Treffens veranlaßte die Polizei, sich dezent zurückzuhalten. Doch die Kirchenbürokratie heizte den Konflikt unnötig an. Mit einem Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs zwang sie die Polizei zur Räumung des Gebäudes. In den frühen Morgenstunden des 20. Juli 1978 nahmen 50 Polizisten daraufhin 35 übernächtigte Jugendliche fest, um sie erkennungsdienstlich zu behandeln. Auf diesen ersten Polizeieinsatz gegen kirchliche Protestgruppen in Hamburg reagierte die Mehrheit der Pastoren einhellig: »Man faßt es nicht.« Freiheit 1978 - Amen. 210 Spiel mit dem Feuer Die Handlung ist frei erfunden. Die Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht zufällig. Die Übereinstimmung der Zitate mit Politikersprüchen der Gegenwart ist beabsichtigt. Die kursiv zitierten Gesetzestexte und Gerichtsurteile sind ebenso echt wie die Parallelen aus den letzten drei Jahrzehnten. Die Eilmeldung der Deutschen Presseagentur tickert um 9.40 Uhr über die Fernschreiber der Zeitungen und Rundfunkstationen: »Generaldirektor entführt/ zwei Tote /Aktion der RAF?« Es sind noch vier Wochen bis zur nächsten Bundestagswahl. Generaldirektor Kurt Becker von den Wolfsburger Motorenwerken (WM) war am frühen Morgen beim Verlassen seiner Dienstvilla von vier vermummten Männern entführt worden. Maschinenpistolensalven hatten Beckers Sicherheitsbeamte, die den 56jährigen Direktor seit der Schleyer-Entführung ständig begleiteten, in Sekundenschnelle durchsiebt. Einziger Augenzeuge: die Putzfrau Gisela Gerhardt. Sie hatte gerade den auf der anderen Straßenseite liegenden Bungalow verlassen und lief durch den Vorgarten, als sie unvermittelt erregte Schreie und dröhnende Schußgarben hörte. Bei der politischen Polizei der Wolfsburger Kripo kann sich die Putzfrau nur daran erinnern, daß der Wagen »gelb wie ein Postauto« war. Machart, Präzision und Kaltschnäuzigkeit, so mutmaßt Hauptkommissar Gerald Rümpker am Tatort, »verraten die Handschrift der Roten Armee Fraktion«. Trotz sofortiger Ringfahndung - von den Kidnappern und dem entführten Konzernherrn, der erst kürzlich in einer großen 211 Anzeigenkampagne für die CDU/CSU geworben hatte, fehlt seither jede Spur. Die Nachricht platzt in die heißeste Phase der Wahlkampfschlacht. Geheime Umfrageergebnisse aller Parteien sagen wieder ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Hauptthema des Parteienstreits ist, wie schon Ende der sechziger Jahre, die Ostpolitik. Der Führer der oppositionellen CDU, Helmut Conrades, hatte dem regierenden sozialdemokratischen Bundeskanzler Herbert Lenzinger gerade vorgeworfen, mit den Kommunisten in der DDR unter einer Decke zu stecken. Auf einer Großveranstaltung in der Kieler Ostseehalle erklärte Conrades: »Die Strategie der SPD ist es, die Kommunisten in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in das Leben der Europäischen Gemeinschaft mit einzubeziehen.« So habe sich Lenzinger bei seinem offiziellen Staatsbesuch in Polen insgeheim in der Grenzstadt Stettin (Szczeczin) mit SED-Chef Erich Honecker getroffen. Bei dieser Begegnung, an der auch DDR-Ministerpräsident Willi Stoph teilgenommen habe, seien - angeblich im Interesse des ungestörten Zugangs nach West-Berlin - gemeinsame Maßnahmen gegen Fluchthelfer auf den Transit-Autobahnen verabredet worden. Außerdem hätten sich SED-Honecker und SPD-Lenzinger darauf geeinigt, die Bundespräsenz in West-Berlin nach und nach abzubauen. Dafür habe die DDR-Spitze der Bundesregierung zugesichert, in den nächsten zehn Jahren ausschließlich den Wolfsburger WM-Golf und nicht, wie zunächst vorgesehen, den französischen Renault zu importieren. CDU-Vorsitzender Conrades: »Das ist Verrat an Deutschland und ein Beweis für das Zusammengehen von Sozialisten und Kommunisten.« Die empörten Sozialdemokraten nannten Conrades »eine ungemeine Dreckschleuder« und bezichtigten ihn, ä la Adenauer mit üblen Tricks und Verleumdungen zu arbeiten. Dieser hatte 1953 kurz vor der Bundestagswahl auf einer Frankfurter Parteiveranstaltung die SPD-Funktionäre Schroth und Scharley beschuldigt, »von der Ostzone Geld bekommen zu haben«. Nach der Wahl, bei der die CDU/CSU 50,2 Prozent der Stimmen erhielt, erwies sich der Vorwurf in einer Gerichtsverhandlung als eine unhaltbare Erfindung. Einen Tag nach der Entführung des WM-Generaldirektors: 212 Anders als bei der Kölner Schleyer-Fahndung sind bei der Polizei nur wenige brauchbare Hinweise eingegangen. Auch haben die Terroristen bislang keinerlei Forderungen gestellt. Weder das Bundeskriminalamt noch die Landespolizeien, weder das Bundesamt für Verfassungsschutz noch seine Landesämter verfügen über genug
Fakten, mit denen sich gezielt arbeiten ließe. Nicht einmal das gelbe Fluchtauto ist gefunden worden. Im Bonner Krisenstab des Kanzleramts müssen sich Experten und Politiker eingestehen, daß alle Vorsorgemaßnahmen versagt haben: Die Nachrichtendienste, die sonst immer vorgeben, die konspirativen Treffs der linken Szene unter Kontrolle zu haben, die Computer des Bundeskriminalamts mit ihren Millionen Daten, welche sogar Stimmen und Dialekte von Terroristen identifizieren. BKA-Chef Horst Hermann, erst kürzlich vom Bundespräsidenten wegen seiner Erfolge in der Computerfahndung mit dem Bundesverdienstorden I. Klasse ausgezeichnet, ist völlig konsterniert. »Von den noch gesuchten Terroris ten kann keiner dabeisein«, stammelt er immer wieder zum Kanzler. »Wir haben alle ihre Reisebewegungen genau beobachtet. Seit einem Jahr ist keiner mehr in der Bundesrepublik gewesen«, versichert der computergläubige Hermann der Bonner Krisenrunde. Daß »der blutige Anschlag auf den Rechtsstaat abermals von links kommt« (Kanzler Lenzinger), daran zweifelt nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre niemand. Erst recht nicht die CDU/CSU-Opposition, die nach den Kopf-an-Kopf-Wahlprognosen nunmehr »die Gunst der Stunde nutzen will, einen Wahlsieg zu erringen, der Adenauers absolute Mehrheit nach dem Korea-Krieg in den Schatten gestellt«, verkündet CDU-Generalsekretär Heiner Röndler in der Parteizentrale. Den zaghaften Einwand seines Parteichefs Conrades, der gerade aus der ersten Krisenstabssitzung kommt, ob es denn opportun sei, »den Pfad der Solidarität aller Demokraten zu verlassen«, bejaht Röndler. Er hatte vor einer halben Stunde einen Anruf vom CSU-Chef Richard Bussard aus München bekommen. Die CSU, so habe ihm Bussard unmißverständlich erklärt, sehe überhaupt keine Veranlassung, den Wahlkampf einzustellen, nachdem die Regierung 213 nun nachweislich bankrott sei. Nach elfjähriger Oppositionszeit müsse dem Bürger klargemacht werden, wen er zu wählen habe. Außerdem habe die Schleyer-Fahndung vor einigen Jahren doch gezeigt, daß die Stillhaltetaktik der Unionsparteien und die Nachrichtensperre nur der Regierung Profit eingebracht hätten. Die Union habe weder den Meuchelmord an Hanns Martin Schleyer verhindern können, noch sei die sozialliberale Koalition auch nur in einem Punkt auf die CDU/CSU- Sicherheitsgesetzentwürfe eingegangen. Im Gegenteil: Der Kanzler habe in der Öffentlichkeit aufgetrumpft, als sei er der Kaiser von Mogadischu. Deshalb schlage Bussard vor, den Krisenstab nur mit der zweiten Garnitur zu besetzen. Die Spitzenpolitiker müßten jetzt jeden Abend auf einer Großveranstaltung zum Thema Sicherheit und Ordnung in Deutschland sprechen. Der Klartext des CSU-Chefs schafft Fakten, an denen auch Conrades nicht mehr vorbeikann. Sonst muß er befürchten, sein Angstgegner Bussard werde sich definitiv von der CDU lossagen und mit der CSU bei den nächsten Wahlen bundesweit marschieren. Zudem könnte die CSU schon im kommenden Bundestag eine eigene Fraktion bilden und ihn nicht zum Kanzler wählen. Augenblicklich wirft die zentrale Einsatzleitung in der Bonner Adenauer-Allee die gesamte Wahlkampfstrategie über den Haufen. In einer Tag-und-Nacht-Aktion werden bundesweit die Stellschilder mit dem Slogan »Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten« überklebt. An den Litfaßsäulen und auf den Großstellwänden präsentieren sich jetzt Conrades und Bussard einträchtig als die starken Männer der Nation. Ihr Konterfei wirkt vertrauenerweckend und energisch zugleich. Ihr neuer Slogan signalisiert die Situation der Stunde: »Wir retten die Republik.« Am Abend desselben Tages spricht nach der Tagesschau der Kanzler zur Bevölkerung. In gewohnt staatsmännischer Manier, den Scheitel wie mit dem Lineal gezogen, mit der Brille auf der Nase sagt er: » Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, muß innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und 214 geboten ist. Folglich kann für die Bekämpfung von Terroristen nur der Grundgedank e der Sicherung bestimmend sein. Und das heißt: Wir müssen sie hinter Schloß und Riegel bringen.« Der doppelzüngigen Ansprache des Regierungschefs (»Es hat doch keinen Sinn, Emotionen anzuheizen«) folgen am Spätabend in der eingeplanten Fernsehrunde »Journalisten fragen, Politiker antworten« bissige Attacken der Opposition. Der hessische CDU-Landesvorsitzende Alfred Dähnhardt wirft der sozialliberalen Koalition vor, die Polizei für den Ernstfall einer bewaffneten Auseinandersetzung mit linken Gewalttätern nicht genügend an ihren neuen Waffen -Maschinengewehren und Handgranaten - ausgebildet zu haben. Für die Union erklärt er unwiderruflich: »Die Ge meinsamkeit der demokratischen Parteien unseres Landes ist in der Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung zerbrochen.« Der CSU-Politiker Joseph Timmermann vermutet: »Die Terroristen wissen längst, daß starke Worte nach Art unserer Regierung leeres Gerede sind. Was erforderlich ist, sind Taten. Und die Todesstrafe wäre tatsächlich ein wirksames Mittel zur Eindämmung des Gewaltverbrechertums.« Erregt ermahnt der SPD-Vorsitzende Willy Brunner die CDU/CSU: »Die Parteien müssen vor diesem Hintergrund darauf verzichten, sich gegenseitig kleine Stimmenvorteile abzujagen. Solidarität der Demokraten heißt in dieser Stunde, daß den für Sicherheit und Fahndung Verantwortlichen die Arbeit erleichtert wird.« Und
an die Terroristen richtet Brunner einen beschwörenden Appell: »Sind Sie von Sinnen? Oder was sind Sie? Wissen Sie nicht, daß Sie, statt mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit für die breiten Schichten in unserem Land zu schaffen, die Geschäfte der finsteren Reaktion, ja, der Neo-Nazis betreiben ? Machen Sie - bevor es endgültig zu spät sein könnte - Schluß.« Drei Minuten vor Sendeschluß kommt es zum Eklat. Aus seinem schwarzen Diplomatenkoffer holt der hessische CDU-Politiker Dähnhardt eine 7,65 mm Heckler & Koch-Pistole und steckt sie sich demonstrativ mit der Bemerkung in die Weste: »Hier war ich noch sicher. Draußen muß ich ja neuerdings auf alles gefaßt sein, Herr Brunner!« 215 Schon für den nächsten Abend hat die CDU/CSU ihre Rednereinsätze umdirigiert. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Arnold, der als lächelnder Landesfürst »vor allem unsere Alten vorzüglich anspricht«, so der CDUDemoskop Professor Werner Fleiter, soll bei den Rentnern für klare Wahlverhältnisse sorgen. In der Schützenhalle im oldenburgischen Hude, wohin die CDU-Organisatoren an die tausend ältere Menschen zu Kaffee und Kuchen haben karren lassen, tönt er nach der Blasmusik: »Unsere älteren Mitbürger konnten früher ohne Angst spät abends nach Hause gehen. Damals gab es keinen Terrorismus. Und dies ist auch nicht ohne Zusammenhang mit dem Regierungswechsel in Bonn.« Unter dem tosenden Beifall der Zuhörer in den ersten zehn Reihen zitiert er sodann aus seinem Buch »Der Staat - Idee und Wirklichkeit«: »Der Staat muß sich jetzt ernsthaft fragen, wie er nun mit dem Terrorismus fertig wird. Es kann sittlich geboten sein, eine Information durch Folter zu erzwingen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, ein namenloses Verbrechen zu verhindern.« Im Auditorium Maximum der Universität Hamburg versucht CDU-Generalsekretär Heiner Röndler, das hanseatisch-liberale Bürgertum auf seine Seite zu ziehen. Leidenschaftslos bemerkt er: »Wir wissen, daß die marxistische Theorie ein Ursachenbereich des Terrorismus ist. Die Denunzierung unseres freiheitlichen und sozialen Rechtsstaats als spätkapitalistischen Ausbeuterstaat zeigt, wie notwendig es ist, die vorherrschende Kapitalismuskritik an unseren Schulen und Universitäten endlich durch eine systematische Marxismuskritik zu ergänzen.« In München läßt sich Hessens CDU-Chef Dähnhardt gemeinsam mit CSU-Boß Bussard vom dritten Programm des Bayerischen Fernsehens interviewen. »Der Verfassungsschutz muß durch Gesetzesänderung den erforderlichen Spielraum erhalten, um mit dem Mörderpack aufräumen zu können«, fordert der Politiker. Unterdessen zeichnet ein Kamerateam im Bonner Konrad-Adenauer-Haus eine neue Wahlsendung der CDU auf, die am nächsten Abend über die Mattscheibe flimmern soll. Der Journalist Werner P. Dahms fragt CDU-Chef Helmut Conrades, wer in Staat und Gesellschaft die 216 Verantwortung für dieses Desaster trage. Conrades, mit einem neuen Brillen-Design auf modern getrimmt, antwortet mit ernster Miene: »Es war und bleibt unverständlich, wieder ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann Frau Meinhof mit >Sehr geehrte gnädige Frau< hat anschreiben können, eine Frau, die Banküberfälle und das Schießen und Töten, das Kidnappen und Erpressen in ihren politischen Kampf miteinbezogen hatte. Es war und bleibt unverständlich, daß der ehemalige Bischof von Berlin, Kurt Scharf, glaubte, diese Frau persönlich besuchen zu müssen. Es war und bleibt unverständlich, wie ein angesehener Literat wie Herr Böll offen seine Sympathie für die Motive dieser Leute hat bekunden können. Das alles hat doch zu dem Klima beigetragen, in dem sich so extreme politische Verwirrungen bis zum schändlichsten Verbrechen auswachsen.« Die Wahlkampfoffensive der CDU/CSU ist in ihrer Argumentation breit gefächert, und sie ist total. SPD und FDP sind paralysiert. Sie wissen der Opposition aus dem Stand nichts entgegenzusetzen. Neben dem Krisenstab im Kanzleramt haben sich deshalb auch in den Parteizentralen des Erich-Ollenhauer-Hauses und des ThomasDehler-Hauses Einsatzstäbe konstituiert. Ratlosigkeit, ohnmächtige Wut bis hin zu übermüdeten Trotzreaktionen wechseln einander ab. Denn niemand hatte mit einem derartigen Paukenschlag der Unionsparteien gerechnet. In der kleinen Kanzlerrunde verständigen sich inzwischen Lenzinger und sein FDP-Vize Dieter Gerner darauf, der Bevölkerung eine handlungsfähige Regierung zu präsentieren. Lenzinger: »Schließlich haben wir nicht umsonst die vielen Sicherheitsgesetze durch den Bundestag gepaukt.« Nur so glauben die sozialliberalen Strategen, »den Amoklauf« (Gerner) der CDU/CSU wirksam unterlaufen zu können. Gleichzeitig weisen die beiden Spitzenpolitiker ihre Bundesgeschäftsführer an, sämtliche Wahlkampfaktivitäten ab sofort einzustellen. FDP-Vizekanzler Gerner: »Damit wird auch dem letzten Wähler das unverantwortliche Verhalten der CDU/CSU bewußt.« Die Republik hat sich schlagartig verwandelt. Bonn am Rhein gleicht einer Festung eines vom Krieg bedrohten Landes. 217
Tonnen von Sandsäcken verbarrikadieren M inisterien und Politiker-Villen. Nachts kreisen Suchscheinwerfer um Parteizentralen und Bundestag. Scharfschützen lauern in winkligen Ecken. Panzerspähwagen patrouillieren durch breite Ausfallstraßen und verschlungene Gassen der Innenstadt - so, als gelte es, den Terroristen hier und heute mit militärischen Mitteln den Garaus zu machen. Der Staat demonstriert Macht und Ohnmacht zugleich. Auf einem Empfang der britischen Botschaft anläßlich einer Philatelisten-Ausstellung über das Empire kann sich Botschafter Robert McLloyd die Bemerkung nicht verkneifen: »Die überspitzte militante Art, mit Krisen fertig zu werden, ist wohl etwas typisch Deutsches.« Im Inselreich, wo in Nordirland nun schon seit Jahren der Bürgerkrieg tobe, kämen die Politiker gar nicht auf die Idee, vor der Londoner Downing Street 10 - dem Sitz des britischen Premierministers - Panzer und Scharfschützen zu postieren. Dort stehe nach wie vor nur ein Bobby, und der sei nicht einmal bewaffnet. Wie überdreht die angespannte Atmosphäre in diesen Tagen ist, zeigt auch eine Äußerung des sonst eher wortkargen Frankfurter Bankiers Hermann Josef Angermeier. Vor seinen Freunden im Lions Club lobt er die südamerikanischen Militärdiktaturen. »Die Art und Weise, wie Argentinien mit dem Terrorismus fertig wird, ist bewundernswert. Wir wissen nicht, was uns noch erwartet, doch glaube ich, daß die deutsche und die argentinische Situation Parallelen aufweisen.« Im Krisenstab des Kanzleramts kommt es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Regierungschef Lenzinger und dem parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion, Karl-Ludwig Seifert. Der gestreßte Kanzler - Reyno-Zigaretten, Coca-Cola und Hallo-Wach-Tabletten halten ihn fit - gerät in Rage, als Seifert ihm erklärt, der CDU-Vorsitzende werde an den Sitzungen nicht mehr teilnehmen, er, Seifert, sei sein Vertreter. Lenzinger raunzt über den ovalen Tisch: »Was Sie mit Ihrem Panikgeschrei nach draußen und Ihrer Obstruktionspolitik nach innen anrichten, bringt unser Land in die größte Gefahr. Sie sind noch gefährlicher als die Terroristen, weil Sie hinterfotziger und unberechenbarer sind.« 218 Seifert, ein Politiker der zweiten Garnitur, hat des Kanzlers Ausbrüche bisher nur vom Hörensagen gekannt. Er kontert unsicher, aber vorprogrammiert: »Ihre arrogante Großmannssucht geht dem ganzen Land auf die Nerven. Versagt haben Sie, ja versagt - und zwar auf der ganzen Linie. Wenn Sie auf meine Mitarbeit verzichten wollen, kann ich ja gehen.« Seifert packt sein Aktenbündel zusammen und verläßt schnurstracks den verqualmten Kabinettssaal. Nach diesem Intermezzo sind die Sozialliberalen erst einmal unter sich. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Justizminister Roland Volkert schlägt der vertrauten Runde vor, die 91 im Gefängnis einsitzenden Terroristen sofort mit der Kontaktsperre zu belegen. Nach Paragraph 31 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz können die Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) von der Außenwelt und untereinander völlig isoliert werden, wenn »eine gegenwärtige Gefahr für Leben und Leib oder Freiheit einer Person« besteht, »die Gefahr von einer terroristischen Vereinigung ausgeht« und wenn zur Abwehr einer solchen Gefahr die »Kontaktsperre« erforderlich ist. Schon eine halbe Stunde später holen Vollzugsbeamte Radios, Fernseher und Plattenspieler aus den Zellen der Terroristen. Kein Anwalt darf mehr zu ihnen, kein Anwalt darf wenig später die unter dem Verdacht der Kooperation mit den Terroristen Verhafteten besuchen, um ihr mögliches Alibi zu rekonstruieren. Für die polizeiliche Fahndung will Innenminister Rudolf Borchers eine »absolute Mobilmachung« aller Beamten erreichen. »Gegenwärtig eingesetzt«, so der Innenminister, »sind in unserer Grenzfahndung 1400 Beamte im Grenzschutz -Einzeldienst. Hinzu kommen etwas mehr als 600 Verstärkungskräfte aus den Bundesgrenzschutzverbänden (BGS). Außerdem können wir jetzt auf insgesamt 36 mobile Fahndungsgruppen mit je vier Leuten des Bundeskriminalamts (BKA) zurückgreifen«. Auch der Zoll mit seinen 5000 Beamten soll diesmal auf Terroristensuche gehen. Borchers: »Die sind mit ihren Eingriffsmöglichkeiten, die sie bei der Rauschgiftfahndung haben, nicht zu unterschätzen.« Vor allem an den Westgrenzen der Bundesrepublik will der Innenminister zwölf weitere mobile Kommandos zu je 219 50 Mann aufstellen. Neben sechs Funkaufklärungstrupps, die schon ständig im Einsatz seien, habe das Bundeskriminalamt ein besonderes Programm unter dem Stichwort »Zielfahndung« entwickelt, »um an den kontrollierten Grenzen die Durchlässigkeit noch geringer zu machen«. Trotzdem bleiben die Grünen Grenzen nach Frankreich, Belgien, Holland und in die Schweiz das größte Problem. Borchers: »Es gibt mehr als 1000 Straßenübergänge. Insgesamt haben wir schon 400 gesperrt. Nur wenn wir dort noch weitere Kräfte konzentrieren, werden die Grünen Grenzen auch für die Terroristen zum Risiko.« Borchers fordert deshalb zusätzlich Beamte vom Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen Abschirmdienst an. Gesetzliche Grundlage sei der Artikel 35 des Grundgesetzes: »Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe« Trotz der ebenfalls beschlossenen Mobilmachung der insgesamt 22000 Mann starken Grenzschutzverbände, trotz des Einsatzes aller 130000 Polizisten in den Bundesländern, trotz der Amtshilfe der Geheimdienste - dem
Kanzler erscheinen die Maßnahmen »als nicht ausreichend«. Lenzinger: »Für die Grenzsicherung müssen wir keine Geheimdienstler einsetzen. Die brauchen wir woanders. Das können doch die Feldjäger von der Bundeswehr machen.« Justiz- und Verteidigungsmi nister äußern rechtliche Bedenken. Die Bundeswehr dürfe nur im Falle des inneren Notstands eingreifen. Der Regierungschef: »Das nehme ich ganz allein auf meine Kappe.« Notfalls werde er diese Maßnahme mit Paragraph 34 des Strafgesetzbuchs begründen, der jedem Bürger ein übergesetzliches Notstandsrecht einräumt. Darin heißt es: »Wer in einer gegenwärtigen, anders nicht abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre oder Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.« Den Einwurf des Gesamtdeutschen Ministers Theodor Platz, dies gelte jedoch nur für Einzelpersonen, nicht 220 für den Staat, dessen Handeln durch Gesetzesnormen geregelt werde, überhört der Kanzler. Verteidigungsminister Hans Pferd erklärt sich schließlich doch bereit, fürs erste 6000 Feldjäger abzukommandieren. Seine Bedingung: »Sie sollten dem BGS zugeordnet werden und BGS -Uniformen tragen, damit wir international kein Aufsehen erregen.« Noch in derselben Nacht läuft das Kleiderbeschaffungsprogramm unter dem Codewort »Grüne Jacke« an. Schon 48 Stunden später hat der Bundesgrenzschutz eine neue »Sollstärke« von 28000 Mann erreicht. Drei Tage nach der Entführung des WM-Generaldirektors: Die noch immer unentdeckten Kidnapper haben der Bundesregierung ihre Forderungen übermittelt. Bei der Londoner »Sunday Times« ist ein am Vortag in Glasgow abgestempelter Brief eingegangen. Die Bedingungen für die Freilassung des WM-Managers werden in den Abendnachrichten verlesen: »Erstens: Schluß mit der Lohn-Ausbeutung in den WM-Zweigwerken Singapur und Sao Paulo; zweitens: Schluß mit der Produktion von Rüstungsgütern; drittens: Freilassung aller politischen Gefangenen in der BRD; viertens: fünf Millionen Mark in kleinen Dollar-Noten.« Um den freien Abzug der Kidnapper zu garantieren, soll sich - nach dem Vorbild des Berliner Pfarrers Heinrich Albertz bei der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz im Februar 1975 - der Betriebsratsvorsitzende Werner Heintzel als Geisel zur Verfügung stellen. Noch in der Nachrichtensendung erklärt Heintzel seine Bereitschaft dazu. Für den Fall, daß die Bundesregierung den Forderungen nicht nachkommt, kündigen die Terroristen »einen Katastrophenfall in einem bisher noch nicht erlebten Ausmaß« an. Um die Echtheit des Briefes zu beweisen, haben sich die Kidnapper eine besondere Variante einfallen lassen, welche die Staatsorgane noch weiter verunsichern soll. Auf einem Fahndungsformular des BKA mit dem Vermerk »VS - nur für den Dienstgebrauch«, den sie dem Erpresserbrief beigelegt haben, präsentieren sie einen Daumenabdruck ihres »kämpferischen Helden Andreas Baader«. Der Verdacht, daß es sich um eine linke Terroraktion handelt, scheint jetzt bestätigt. Angesichts der Tatsache, daß 221 es den Terroristen gelungen ist, in den Besitz von Unterlagen des Bundeskriminalamts zu kommen, erreicht die parteipolitische Auseinandersetzung eine neue Dimension. Der frühere rheinland-pfälzische Innenminister Heinrich Schwager spricht von einem »einzigartigen Skandal in der Nachkriegsgeschichte«. Schwager bezichtigt das BKA, sich objektiv zum »Helfershelfer der Terroristen« gemacht zu haben. Auf einer Pressekonferenz im Bonner Hotel Tulpenfeld läßt er sich zu der Äußerung hinreißen: »Wer die anarchistischen Gewaltverbrecher in der Bundesrepublik bekämpfen will, muß doch zunächst einmal den Sympathisanten-Sumpf austrocknen.« Obwohl sich schon nach kurzer Zeit herausstellt, daß sowohl das BKA-Formular als auch Baaders Fingerabdruck eine plumpe Fälschung sind, distanziert sich Schwager von seiner abenteuerlichen Unterstellung nicht. Im Gegenteil: In einer eilends hektografierten Rechtfertigungsbroschüre schreibt er: »Elf Jahre regiert jetzt die sozialliberale Koalition, und es wird vertuscht, verzerrt, falsch informiert.« - Der Wahlkampf hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Mittlerweile haben Verfassungsschutz-Präsident Günther Maseloh und BKA-Chef Horst Hermann den Entführer-Brief analysiert. Beide glauben, »qualitative Erkenntnisse« gewonnen zu haben. Anders als bei der Schleyer-Affäre, bei der es der RAF nur um die Freipressung ihrer Komplizen ging, sei jetzt eine neue Qualität erreicht. Mit ihren Forderungen -»Schluß mit der Lohn-Ausbeutung; Schluß mit der Rüstungsproduktion« - sei von den Terroristen der Versuch unternommen worden, politische Ziele linker Gruppen in ihre Aktivitäten mit einzubeziehen. Diese These werde auch durch zahlreiche Indizien erhärtet, wonach es in der RAF zu heftigen Flügelkämpfen gekommen sein soll, ob die selbstgewählte Isolation von den linken Strömungen in der Gesellschaft nicht langfristig ein schwerwiegender Fehler sei. Der geänderten Strategie, die »revolutionäre Basis« zu erweitern, so die Staatsschützer, müßten erfolgversprechende Kontakte der Terroristen zu bisher unverdächtigen Personen vorausgegangen sein. Zum einen, folgern BKA -Experten weiter, sei sonst eine
Änderung der alten Terror-Konzeption in der RAF nicht ohne weiteres durchsetzbar, zum anderen ergebe es keinen 222 Sinn, daß die politischen Forderungen zuerst genannt würden, wenn es der RAF doch nur um die Befreiung ihrer Genossen gehe. Dann hätte man von vornherein so wie bei der Schleyer-Entführung verfahren können. Als Adressatengruppen macht der Verfassungsschutz die maoistis chen K-Gruppen wie den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), aber auch den Verband der Kriegsdienstverweigerer, die Bunten und Grünen Listen, linke Gewerkschaftszirkel und konspirative Vereinigungen in der evangelischen Kirche aus. Verfassungsschutz-Präsident Maseloh: »Wenn wir diese Gruppen als neue Ansprechpartner der Terroristen einstufen, dann ist ihre Katastrophendrohung logisch. Die wollen ein Kernkraftwerk besetzen.« Im Krisenstab ist die Marschroute schnell abgesteckt. Kanzler Lenzinger gibt die Order aus, »die gesamte Szene auf den Kopf zu stellen, auszuleuchten und auch der kleinsten Spur nachzugehen«. Lenzingers Anweisung klingt wie ein Hilfeschrei. Denn er hat nicht mehr viel Zeit und nicht mehr viel zu verlieren. Es sind noch drei Wochen bis zur Bundestagswahl. Wenn es ihm bis dahin nicht gelingt, für sich vorzeigbare Erfolge zu verbuchen, ist er nicht nur die längste Zeit Regierungschef gewesen. »Die Tragik ist, daß Sozialdemokra ten der nächsten Generationen mit einem Terroristen-Stigma herumlaufen«, sagt er halb resigniert. BKA-Chef Hermann redet seinem Parteifreund gut zu: »Mit der Fähigkeit, alle gespeicherten Fakten miteinander zu kombinieren, die wir aus allen Bereichen, aus dem Verfassungsschutz, dem MAD, den Landeskriminalämtern, aus dem Bundeszentralregister, der Ausländerkartei und aus dem Kraftfahrzeugbundesamt, ja sogar aus den EDVAnlagen der Rentenversicherer beziehen, stoßen wir mit Sicherheit auf neue Erkenntnisse. Vor ein paar Jahren wäre das alles noch nicht möglich gewesen.« Die größte Computerfahndung in der »dritten kriminaltechnischen Revolution« hat unter dem Arbeitstitel »operandi« begonnen. NADIS (Nachrichtendienstliches Informationssystem), der Computer des Bundesamts für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendiensts und des Militärischen Abschirmdiensts ruft von den Landesämtern für Verfassungsschutz Daten und 223 Fakten ab. Die Computer-Dateien - bis zu 720 Meter lang, 150000 gespeicherte Fälle - liefern die Namen • von 14283 Kriegsdienstverweigerern, die sich öffentlich negativ über die freiheitliche demokratische Grundordnung geäußert haben oder in verfassungsfeindlichen Organisatio nen arbeiten; • von 23118 Gewerkschaftsmitgliedern, die entweder in verfassungsfeindlichen Organisationen tätig sind oder gegen die nach Anti-Kernkraftdemonstrationen ein Strafverfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt beziehungsweise Landfriedensbruchs eingeleitet worden ist; • von 182 Pastoren, die sich in verfassungsfeindlichen Gruppen engagiert haben und denen zum Teil ein kirchliches Disziplinarverfahren bevorsteht; • von 627 Professoren, die über die Thematik Gewalt und Revolution hart an der Grundgesetz-Grenze entlanggeschrieben haben. Bei Bedarf wären auch die Namen von Männern mit homosexuellen Neigungen aus »sicherheitsrelevanten Betrie ben« lieferbar. In wenigen Minuten gibt der NADIS-Computer in Köln die insgesamt 38210 verdächtigten Personen via Datenfernleitung in den PlOS-Computer des Bundeskriminalamts nach Wiesbaden. PIOS steht für P (Personen), I (Institutionen), O (Objekte) und S (Sachen). PIOS ist das zentrale elektronische Hirn für die Terroristenfahndung. Millionen Daten und Fakten sind im PIOS-System gespeichert. Von den 38210 eingegebenen Namen siebt der Computer auf Anhieb 31187 Kriegsdienstverweigerer, Gewerkschaftsmitglieder, Pastoren und Professoren aus. PIOS kann mit ihnen nichts anfangen, weil sie nicht einmal im Vorfeld der Terror-Szene eine Rolle gespielt haben. Für den Rest der 7023 weist PIOS über zweihunderttausend Fundstellen aus. Allein beim linksorientierten Professor Manfred Benske aus Hannover erscheinen auf dem Monitor 93 Hinweise, die der Computer jetzt hintereinander auswirft. Die Erkenntnisse: Benske, 1945 in Köln geboren, hat sich während seiner Marburger Studentenzeit der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) angeschlossen - einer trotzkistischen 224 Organisation, die in der Vierten Sozialistischen Internationale arbeitet. Ihr führender Theoretiker ist der belgische Professor Ernest Mandel, der schon seit zehn Jahren vom Bundesinnenministerium mit einem Einreiseverbot belegt worden ist.
Benske hat in der Frühphase der Anarcho-Aktivitäten den gesuchten Terroristen Ulrike Meinhof und Heinz Ruhland in seiner Wohnung in Hannover, Lavesallee 3, zweiter Stock links, Telefon: 327896, Unterschlupf gewährt. Er wohnt auch heute noch dort. Benske steht seit vier Jahren in engem Kontakt mit dem in London lebenden deutschen Schriftsteller Erich Fried. Fried hatte in der linksliberalen Zeitung »Guardian« behauptet, Ulrike Meinhof sei in Stuttgart-Stammheim von Vollzugsbeamten vergewaltigt und erwürgt worden. Benske unterhält seit drei Jahren Verbindungen zu dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, der Andreas Baader in Stammheim besucht hat. Benske soll auch den nach Paris geflohenen Rechtsanwalt Croissant vor seiner Verhaftung in Frankreich besucht haben. Benske hat in Amsterdam eine Resolution zur Abschaffung der »Isolationsfolter« in der Bundesrepublik unterschrieben. Benske ist seit einem Jahr Teilhaber der linken Buchhandels kette »Alternative«, die in Berlin, Bremen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Kassel, Karlsruhe, Marburg und München Filialen unterhält. Auch ohne den NADIS-Hinweis zählte Benske für das BKA schon zur BEFA-Szene (Beobachtende Fahndung). Seine Reiseaktivitäten in den letzten zwölf Monaten ergaben: Err hielt sich jeweils eine Woche vorher in den Städten auf, in denen die Terroristen durch Banküberfälle insgesamt 2,2 Millionen Mark erbeuteten. Der Computer spuckt die Namen und Adressen der Hotels, die Daten der An- und Abreise aus. Strafbare Handlungen im Sinne des Strafgesetzbuches sind Benske bisher nicht nachgewiesen beziehungsweise zur Last gelegt worden. Das Gebot der Stunde lautet jedoch anders. - An diesem Abend der totalen Fahndung in Hannovers Lavesallee 3. Benske hat Gäste zu sich nach Hause eingeladen, die sich meistens am ersten Dienstag des Monats zu einem Jour Fixe bei ihm versammeln. Das macht er schon 225 über zehn Jahre, seitdem der Club Voltaire abgewirtschaftet hat. Benskes Publikum ist eine buntgemischte Gesellschaft. Leute, die nonkonformistisch reden, sich aber am liebsten zwischen Biedermeier- und englischen Möbeln bewegen. Der Kabarettist Dieter Kittel parodiert die Gesellschaft gern im Arbeiteraufzug mit dem Song »Der Staat hat drei Haken«. Professoren von der Technischen Universität, die einst den Marsch durch die Institutionen propagierten, unterhalten sich beflissen über ihre Institute. DKP-Genossen ereifern sich über Rechtsruck und Berufsverbote, arrivierte Jusos beschmunzeln den biederen SPD-Oberbürgermeister Herbert Breitstieg, weil für ihn der Textileinkauf ein Stangengeschäft geblieben ist. Bekannte Antiquitätenhändler, die ihre Läden unter der einzigen Arkade der City unter Dach und Fach gebracht haben, palavern über den kaufmännischen Mißerfolg ihrer Lehrlinge, die am Wochenende am Leine-Flohmarkt stehen. Aber auch das liberale Bürgertum läßt sich bei Benskes sehen. Denn Aufklärung und kritischer Zeitgeist > lassen sich nun einmal nicht voneinander trennen. Da nimmt man den einen oder anderen schon mal in Kauf. Im Grunde verbindet das Publikum in der Lavesallee 3 eines viel mehr als das vorgegebene Bildungsbürgertum á la Voltaire. Die geistig kulturelle Avantgarde einer Stadt zu sein, deren Vielfalt bei den Betonsilos am Mühlenberg beginnt und auf den leerstehenden Parkplätzen des Messegeländes endet. Punkt 21.30 Uhr gongt es bei Benske. Vor seiner Wohnungstür stehen vier Kripobeamte in Zivil, dahinter vier Polizisten des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der nie dersächsischen Landespolizei. Ihre Maschinenpistolen halten sie gezielt im Anschlag. Vor dem Hauseingang haben sich vier weitere MEK-Kämpfer postiert, acht weitere sitzen abrufbereit im Einsatzwagen. Oberkommissar Egon Luchter zeigt dem erschrockenen Professor einen richterlichen Haft- und Durchsuchungsbefehl. Gesetzliche Grundlage ist § 129a StGB, wonach bei Benske der dringende Verdacht besteht, »Mitglied einer terroristischen Vereinigung« zu sein. Während Benske sich wortlos in Handschellen abführen läßt, steht seine illustre Gesellschaft wie versteinert daneben. 226 Die ersten seiner Gäste wollen schon das Weite suchen, da ordnet Oberkommissar Luchter eine Identitätskontrolle nach § 163b der Strafprozeßordnung an. Die 23 Besucher stellen sich widerspruchslos in Reih und Glied auf und treten jeweils einzeln vor. Neben Luchter stehen zwei MEK-Kämpfer. Unter Berufung auf § 163b der Strafprozeßordnung läßt Luchter zwei Untergebene Akten-, Hosen- und Damentaschen filzen. Nach den beiden Gesetzen muß sich jeder unverdächtige Bürger ausweisen können und sich zur Identifizierung seiner Person bereit erklären. Durchsuchungen gegen den Willen des Unverdächtigen sind nur zur Aufklärung einer terroristischen Straftat zulässig (§ 111 in der Strafprozeßordnung in Verbindung mit § 129a des Strafgesetzbuches). Nach § 136b Absatz 2 der Strafprozeßordnung bedarf es in allen sonstigen Fällen der Einwilligung des Bürgers. Doch nur vier Leute haben einen Personalausweis bei sich. Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Regenbogen aus Braunschweig glaubt, seinen Ausweis in die Manteltasche gesteckt zu haben, den er am Nachmittag im Landtag hat liegen lassen. »Das können Sie gleich dem
Polizeipräsidenten erzählen«, herrscht Luchter den aufgeregten Regenbogen an, dem auch sein Taschentuch wenig nützt; ihm treten immer neue Schweißperlen auf die Stirn. Die Vergangenheit hat Regenbogen eingeholt. Seit Monaten ist der Jude Regenbogen Zielscheibe antisemitischer Kampagnen. Als seine Schreckminute vorüber ist, schießt ihm der letzte Satz aus einem Schmähbrief durch den Kopf: »Du Judensau hast in unserer Stadt nichts zu suchen. Merke Dir: Vor 46 Jahren haben wir Adolf Hitler in Braunschweig zum Regierungsrat ernannt.« Regenbogen schaut sich die MEK-Kämpfer an: blaues Barett, darunter ein Biermann-Schnauzbart, an der linken Hüfte eine Neun-Millimeter-Pistole, rechts einen Revolver, vorm Bauch zwei Handgranaten. Sie fuchteln mit den Maschinenpistolen herum. Die blankgewienerten schwarzen Schaftstiefel sind mit Eisen beschlagen. Gleichzeitig sieht Regenbogen, wie sechs dazugekommene Beamte in Zivil Bücher aus den Regalen reißen und die Schreibtischschubladen auskippen. In Regenbogen kommt eine traumatische Kindheitserinnerung hoch. »Wie Sie hier vorgehen«, sagt er halblaut, »das 227 habe ich als Achtjähriger schon einmal erlebt. So sind meine Eltern 1933 von der Gestapo in Frankfurt abgeholt worden.« Für Oberkommissar Luchter war das laut genug. Er zuckt ganz kurz, geht einen Schritt auf Regenbogen zu und droht ihm mit erhobenem Zeigefinger: »Noch so einen Spruch, und wir werden Sie in Handschellen abführen. Das hier ist eine Terroristenfahndung, und Regenwürmer Ihrer Art kennen wir zu Genüge, oder was machen Sie hier!« »Führen Sie ihn doch ab«, schreit der langmähnige Antiquitätenhändler Peter Riechel, der auch keinen Ausweis bei sich hat. »Sie sind doch sowieso die neue SS!« Flugs kassiert Riechel von einem MEK-Mann einen Tritt in den Hintern, bekommt Handschellen angelegt und wird aus der Wohnung geschubst. Über Polizeifunk läßt Luchter fünf weitere Einsatzwagen in die Lavesallee kommen. Er glaubt tatsächlich, das Risiko sei zu groß, die neunzehn Personen im Mannschaftswagen zum Polizeipräsidium am Waterloo-Platz zu bringen, wo die Identität überprüft und Verdachtsmomente mit Hilfe des PIOS-Computers in Wiesbaden ausgelotet werden sollen. Jeweils zu zweit, von zwei MEK-Beamten eskortiert, verlassen Benskes Gäste das Haus in der Lavesallee. Allen voran Oberlandesgerichtspräsident Regenbogen. Er murmelt vor sich hin: »Ein Eklat ist das, einen Eklat gibt das«. Nach einer halben Stunde sind Benskes Gäste wieder frei. Polizeipräsident Fritz Bögel hat sogar gegenüber Regenbogen Worte der Entschuldigung gefunden: »Peinlich, daß Ihnen das passieren mußte.« Doch für den Polizeireporter Mirko Protic, der sich als fre ier Mitarbeiter für Boulevard-Blätter durchschlägt, ist der Aufmacher des nächsten Tages schon geschrie ben. Er hatte den Polizeieinsatz über Funk im Autoradio mitgehört. So wie er immer die Kurzwelle anschaltet, wenn in der Stadt »Sauregurkenzeit« ist. Und bei der Polizei hat Protic einen besonderen Helfer. Den Polizeisprecher Ferdinand Rück, der auch gern Journalist geworden wäre. So steht es zumindest in seinem Abituraufsatz. An diesem Abend bezeichnet Rück den Einsatz in der Lavesallee als »einen vielversprechenden Anfang und als f einen gezielten Schlag gegen den Terrorismus«. Natürlich 228 wird Informant Rück nicht namentlich zitiert. Aus gut informierter Polizei-Quelle, heißt die Floskel im Hannoverschen Wochenblatt. Und die Schlagzeile dazu ist vierspaltig aufgemacht: »Unglaublicher Skandal! Einsatzkommando hob Terroristen-Versteck im Nobelviertel aus - Linker Professor verhaftet - Gerichtspräsident festgenommen - Noch immer kein Lebenszeichen vom Generaldirektor!« Parallel zum Einsatz in Hannover durchstöbern Polizeikräfte im gesamten Bundesgebiet 144 linke Buchläden; darunter auch die, an denen Manfred Benske beteiligt ist. Grundlage ist § 130a des Strafgesetzbuchs. Er lautet: »Wer eine Schrift, die die Anleitung zu einer der in § 126, Abs. I Nr. 1-6 genannten rechtswidrigen Taten* enthält und bestimmt sowie nach den Umständen geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern, solche Taten zu begehen, verbreitet, öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht oder herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist... wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« In derselben Nacht stoppen Fahndungstrupps den Eilzug E 3032 zwischen Göttingen und Hannover. Drei Hochschullehrer, die sich vor drei Monaten geweigert hatten, ein Loyalitätsbekenntnis des niedersächsischen Wissenschaftsministers Ehrenfried Nestel zum Staat zu unterschreiben, werden festgenommen. Rechtsgrundlage ist § 129a des Strafgesetzbuches - Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Auf der Strecke München-Nürnberg hält die bayerische Polizei den Inter-City-Zug »Hermes« an. Den Sekretär der französischen Jungkommunisten, J.M. Rongier und zwei Trauen, die Mitreisende für Angelika Speitel und Brigitte Mohnhaupt halten, holen die Ordnungshüter aus dem Abteil.
In West-Berlin hebt die Abteilung Staatsschutz mit der Begründung »Gefahr im Verzug« ohne Durchsuchungsbefehl 221 Wohngemeinschaften und Kommunen aus. In den Kreuzberger Redaktionsräumen des linken Blattes »Info Berliner - undogmatische Gruppen« kommt es zu einer Massenschlägerei, * Es handelt sich um Landfriedensbruch, Mord, Totschlag oder Völkermord, schwere Körperverletzung, Menschenraub, Geiselnahme, Raub oder räuberische Erpressung oder gemeingefährliche Verbrechen.
229 als Beamte die Aktenschränke leerräumen. Vierzig Personen werden verhaftet. In Köln stürmt eine MEK-Einheit die Wohnung des Sohnes von Schriftsteller Heinrich Böhm. Passanten hatten über eine Notrufsäule die Polizei verständigt, daß Jugendliche gerade Schnellfeuerwaffen und kistenweise Bücher ins Haus schleppen. In Bergisch-Gladbach durchwühlt eine Spezialtruppe ein Jugendheim zur Rehabilitation rauschgiftabhängiger Jugendlicher. Anlaß war der Hinweis eines Kleinstädters, der ein Transparent vor dem Heim mit der Aufschrift gesehen hat: »Wer den Tod abschaffen will, muß erst den Kapitalismus beseitigen.« Im Schleswig-holsteinischen Ebel spürt die Polizei ein Druckzentrum der Grünen Liste im Bauernhof des Journalisten Gerald Granz auf. Beamte beschlagnahmen Flugblätter und Broschüren. Darin verteidigen Kernkraft-Demonstranten ihr Verhalten während der Protestmärsche in Brokdorf, Grohnde und Kalkar, wo es zu schweren Zusammenstößen mit Polizei und Grenzschutzeinheiten gekommen ist. Rechtsgrundlage der Konfiszierung des Materials ist § 140 des Strafgesetzbuchs, in dem es heißt: »Wer eine der in § 138 Abs. 1 Nr. 1-5 und in § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 genannten rechtswidrigen Taten, nachdem sie begangen oder in strafbarer Weise versucht worden ist, belohnt, in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften billigt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft.« - Der Untersuchungsrichter ordnet eine Stunde später Haft für Granz und seine Verlobte Lena an. Und noch etwas passiert in dieser Nacht: Zwei Menschen werden erschossen. Vor der Villa des SPDVorsitzenden Willy Brunner spielen zwei Bundesgrenzschutzbeamte Jerry Cotton. Nach dem Motto, der erste Schuß muß tödlich sein, trimmen sie sich aus lauter Langeweile beim Wacheschieben auf Schnelligkeit. Wer die Heckler & Koch schneller zieht, bekommt zehn Pfennig. Das geht eine Stunde gut, bis sich aus dem Pistolenlauf von Roland Neumann ein Schuß löst und seinen Kollegen Lindner direkt ins Herz trifft. 230 Drei Tage später wird Claus Lindner in seiner Heimatstadt Lörrach beigesetzt. Fanfarenstöße aus der Trompete, ein Abschiedslied seiner Kollegen: »Ich hatt' einen Kameraden, einen besseren findst du nicht ...«. Auch der Innenminister Horchers ist trotz der angespannten Bonner Lage für fünfzehn Minuten nach Lörrach gejettet: von Bonn bis Zürich mit der Hundesluftwaffe, von Zürich bis Lörrach mit einem BGS-Hubschrauber. Beide Fernsehprogramme sind mit ihren Übertragungswagen auf dem Friedhof. Aktuell sollen 55 Sekunden in den Heute-Nachrichten und 125 Sekunden in den Tagesthemen kommen. Mittelfristig plant Richard Löffelmann im ZDF-Magazin einen Beitrag über die Opfer des Terrorismus. »Wir werden dem Terrorismus mit einer bisher ungewohnten Härte begegnen. Wir werden diese Seuche, die unseren Lebensnerv töten will, ausrotten«, sagt der Innenminister mit Blickkontakt zur Kamera. Gemeinsam mit seinem persönlichen Referenten Heinz Brehm legt er bedeutungsvoll einen Kranz der Bundesrepublik Deutschland nieder, kondoliert artig und schüttelt jedem die Hand, der sie anfassen will. Dann läuft Borchers eilig zum hundert Meter entfernt stehenden Hubschrauber hinüber. Denn Bonn ruft, und er ruft Bonn. Während die Rotoren den Trauergästen die Hüte vom Kopf fegen, funkt Borchers schon den Krisenstab an: »Hier Siko eins, Siko eins, Roger, Roger ...« Um den anderen Toten dieser Nacht der Fahndung nach den Entführern von WM-Direktor Kurt Becker wird nicht soviel Aufhebens gemacht. Seine durchschossene Leiche liegt in einem Brettersarg, und der steht zwischen Koffern und Paketen in der Gepäckabfertigungshalle A der Lufthansa auf dem Frankfurter Flughafen. Ein Sicherheitsbeamter und ein BKA-Hauptmeister warten darauf, daß der Flug LH 754 nach London aufgerufen wird. Dann schieben Gepäckträger den mit grüner Kartonpappe verpackten Sarg in den Laderaum der Boeing 727 - und ein weiteres Kapitel über einen Fahndungseinsatz im Morgengrauen is t damit abgeschlossen. In den Morgenstunden nämlich glaubte das Bundeskriminalamt, endlich eine ganz heiße Spur zu den Entführern des WM-Generaldirektors gefunden zu haben. Scotland Yard 231 hatte den in Glasgow aufgegebenen und an die Londoner »Sunday Times« gerichteten Erpresserbrief nochmals auf alle Fingerabdrücke hin überprüft. Nach den vielen Daktyloskopie-Untersuchungen konnte nur eine Person nicht ausfindig gemacht werden, die des Schotten Eric Follow, der früher in Glasgow gewohnt und wegen schweren Diebstahls schon einmal für zwei Jahre hinter Gittern gesessen hatte. Dieser Follow, das konnte
Scotland Yard noch ermitteln, lebt seit drei Jahren in der Bundesrepublik. Der INPOL-Computer (InformationPolizei) spuckte in der Tat einen Follow, Eric, Stuttgart 65, Regensburger Straße 29, aus. Als zwei Dutzend Beamte der Stuttgarter Bereitschaftspolizei in Zivil in die Regensburger Straße einrücken und am Türschild keinen Namen finden, gibt der Einsatzleiter Schätzle den Befehl: »Vorsicht - Eigensicherung.« Mit entsicherten Maschinenpistolen und dem Finger am Abzug stürmen ein paar Mann die Wohnung. Ein nackter Mann wird aus dem Schlaf gerissen, erschrickt, glaubt, er stehe Einbrechern gegenüber, bekommt Angst und versucht zu fliehen. Ein Polizist verliert die Nerven und drückt ab. Schon am Tatort klärt sich der verhängnisvolle Irrtum auf. Der Tote hieß Clive Fenner, war Jurastudent und wohnte seit zwei Jahren in der Regensburger Straße. Der gesuchte Follow, so die Auskunft des Stuttgarter Einwohnermeldeamts, hatte sich vor vierundzwanzig Monaten nach Schweden abgesetzt. - Eine folgenschwere Panne der ziviltragenden Einsatzpolizisten und des INPOL-Computers, in den der Wohnortwechsel nicht eingespeichert worden war. Dennoch, für den Bonner Krisenstab war die Fahndungsnacht ein voller Erfolg. Zumindest so erfolgreich, daß sich Kanzler Lenzinger und sein Vize Gerner am nächsten Morgen um ii Uhr der Bundespressekonferenz stellen und einen »Lagebericht« abgeben. Der Regierungschef: »In den vergangenen 48 Stunden ist es unseren Ermittlungsbehörden gelungen, die terroristische Infrastruktur in unserem Land empfindlich, wenn nicht sogar entscheidend zu stören. Insgesamt wurden 348 Personen nach geltenden Grundsätzen unseres Rechtsstaates verhaftet. Die mobilen Fahndungstrupps der Länder und des Bundeskriminalamts haben insgesamt 232 387 Objekte durchsucht. Dabei sind riesige Mengen illegal erworbener und gehandelter Waffen beschlagnahmt worden. Darunter 442 Pistolen, 392 Karabiner, 144 Schnellfeuergewehre, 19 Maschinenpistolen, 80000 Schuß Munition, acht Stangen Sprengstoff, sechs Handgranaten, zwei Minen, eine Rakete, drei Panzerfäuste und vier Behälter mit radioaktivem Material.« Den zweiten Erfolg darf der Koalitionspartner der Öffentlichkeit vermelden. Vize -Kanzler Gerner: »Von den - zig Tonnen Unterlagen, die die Sicherheitsorgane im Zug ihrer Fahndungsmaßnahmen beschlagnahmt haben, ergeben sich interessante Hinweise darauf, wo in nächster Zeit Anschläge geplant waren. Ich will Ihnen hier nur soviel sagen: Es gibt Listen, die wir gefunden haben, aus denen sich ein Code-System für bestimmte Orte ergibt. Da steht zum Beispiel für Köln bei allen übereinstimmend >Konrad< oder >Adenauer<. Da Adenauer nun schon lange tot ist, ist damit sicher nicht ein Entführungsopfer, sondern ein Schlüsselbegriff für die Stadt Köln gemeint. Genauso steht zum Beispiel übereinstimmend in allen diesen Aufzeichnungen für Zürich das Wort >Käse<, also ein Schlüsselbegriff, der sicherlich nichts mit einer terroristischen Aktion zu tun hat. Und so steht für Rom >Alt. Ma.< oder in der holländischen Aufzeichnung, die wir haben ->Alte Man<. Dies wurde von allen so ausgelegt, daß damit der Papst gemeint sei, um eben hier auch einen Schlüsselbegriff für Rom zu haben.« Die veröffentlichten Einzelheiten faszinieren den Bonner Studioleiter des Westdeutschen Rundfunks, Friedrich Welti. Am Freitagnachmittag wirft er seine Abendsendung »Bericht aus Bonn« um. Regierungssprecher Caspar Olling, so hofft er auch diesmal, könnte doch in seiner Sendung »ein bißchen exklusiver« sein: »Herr Welti, ich kann noch einmal wiederholen, was der Kanzler soeben am Telefon dem amerikanischen Präsidenten Carter gesagt hat.« - Welti: »Tun Sie das, Herr Olling.« - »Wir haben zwar noch nicht unser Ziel erreicht, daß Kurt Becker wieder unversehrt bei uns ist, aber die bisherigen Ergebnisse können schon als entscheidender Erfolg gewertet werden. Der Kanzler sagte weiter, dies sei nicht nur auf die verantwortlichen Politiker zurückzuführen, 233 sondern auch auf das energische Zusammmenwirken aller Sicherheitsorgane bis hin zum letzten Polizisten. Der Kanzler gab dann noch seiner Hoffnung Ausdruck, Herr Welti, daß die CDU/CSU ihre Obstruktionspolitik aufgibt und zur Tugend der Solidarität aller Demokraten zurückkehrt .« - »Das war's aus Bonn. Guten Abend, meine Damen und Herren.« Am nächsten Morgen übergibt das Verfassungsschutzamt Hannover auf Anweisung des niedersächsischen Innenministers Pfau der Wolfsburger WM-Unternehmensleitung eine Liste von Werksangehörigen, die Verbindung zu linksextremistischen Kreisen haben und früher einmal eine spontane Arbeitsniederlegung wegen mangelhaften Kantinenessens inszeniert hatten. Man müsse davon ausgehen, daß einige Arbeiter zu den Entführern Kontakt hätten. Rechtsgrundlage dieser Information: Nach § 6 des niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes, das 1976 nach dem Vorbild anderer Bundesländer verabschiedet worden ist, kann die Schlapphut-Behörde mit Zustimmung des Innenministers ihre Erkenntnisse auch an private Organisationen und Unternehmen weitergeben, wenn »dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Beistandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes erforderlich ist«. Die WM-Konzernspitze entschließt sich zur fristlosen Kündigung von zwanzig Arbeitern, die alle der Gewerkschaft angehören. Fünf verhaftet die politische Polizei gleich auf dem Werksgelände. Rechtsgrundlage: § 112 Absatz 3 der Strafpro zeßordnung, in der Fassung von 1976, wonach jeder, der der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dringend verdächtigt wird, ohne weiteres verhaftet werden kann.
Auf Ersuchen des BKA soll das niedersächsische Landeskriminalamt den Hinweis 2117 überprüfen. Die Niedersachsen hatten den Tip des Forstmeisters Wolf Riedel aus Königslutter zunächst in der »VerrücktenKartei« abgebucht. Naturfreund Riedel, erklärt Obermeister Gerhard Harms dem BKA, sei am Telefon volltrunken und kaum zu verstehen gewesen. Er und seine Kollegen, die sich das Gespräch noch einmal vom Tonband angehört haben, dachten eher an Jägerlatein als an eine ernstzunehmende Spur, zumal der Anruf kurz vor Mitternacht angenommen wurde. 234 Bereits vor fünf Tagen war dem 58jährigen Forstmeister ein gelber Transporter in einer Scheune in der Nähe des Tetzelsteins im Elm, 30 Kilometer südlich von Wolfsburg, aufgefallen. Fünf Tage blieb dieser Hinweis unbearbeitet und unbeachtet. Doch zumindest eine Konsequenz haben die Fahnder aus dem Mängelbericht des früheren Innenministers Hermann Höcherl über die Polizei-Pannen im Fall Schleyer gezogen: Selbst absurd erscheinende Beobachtungen aus der Bevölke rn ng, die bei den örtlichen Dienststellen eingehen, müssen an das Bundeskriminalamt weitergegeben werden. Die Spur 2117, das hatten die BKA-Kriminalisten über ihre Computer schnell heraus, weist auf eine interessante Fährte hin. Das Anwesen, auf dem Forstmeister Riedel den gelben Transporter gesehen haben will, gehört dem 28jährigen Bodo Schneckenburg. Nach den gespeicherten NADIS-Informationen des Verfassungsschutzes ist Schneckenburg ein Neffe des früheren Wehrmachtsobersten Ulrich Rodel, eines hochdekorierten Offiziers im Zweiten Weltkrieg. Vor zwei Jahren verließ Schneckenburg die NPD wegen »starker Linkstendenzen«. Er gründete mit zwanzig »Kampfgefährten« die Vereinigung »Stahlhelm«. Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte Schneckenburg, als er vor der Ostberliner Mission in Bonn die DDRFahne mit dem Ruf »Spalter raus« zerrissen hatte. Vor dem Eingang der »documenta«-Ausstellung in Kassel lud Schneckenburg eine Fuhre Mist ab »aus Protest gegen den gesteuerten Kulturverfall«. In Offenbach schmiß er die Fensterscheiben eines Sex-Shops ein, »weil die Enthemmung von Arbeitern und Jugendlichen die Voraussetzung für die kommunistische Revolution ist«. Vor dem rechtsradikalen »Schillerbund e.V. - deutscher Kulturverband«, forderte Schneckenburg zur Beseitigung der parlamentarischen Demokratie auf. »Die aufrechten Deutschen können es sich nicht mehr länger mit ansehen, daß zwar die Memoiren einer Hure als nicht jugendgefährdend freigegeben werden, während die Memoiren eines tapferen Offiziers aus dem letzten Krieg auf den Index kommen.« Im Eigenverlag »Stahlhelm« - Herausgeber Bodo Schnekkenburg - veröffentlicht der 28jährige Bücher und Broschüren. Seine Titel: »Sex als politische Waffe«, »Rassismus und 235 Lebensschutz«, »Sommer '78 - Auf Adolf Hitlers Autobahnen«, »Rudolf Hess: Ich bereue nichts«, »Die Deutschen, ein aussterbendes Volk«, »Europäische Neuordnung durch die faschistische Internationale«. Eine wertvolle Information im Fall Schneckenburg liefert diesmal auch der Bundesnachrichtendienst aus München-Pullach: Die Befreiung des SS-Schergen Herbert Kappler aus dem römischen Gefängnis im August 1977 habe Schneckenburg logistisch und operativ mit zwei Komplizen aus der »NS-Kampfgruppe Mainz« vorbereitet und verwirklicht. Die offizielle Version, Frau Kappler aus Soltau habe ihren Mann allein herausgeholt, sei eine rührselige Schnulzenstory. Die Nachforschungen über alle Kfz-Verkäufe in den letzten zwei Jahren haben ergeben: Bodo Schneckenburg hat tatsächlich vor acht Wochen in Georgsmarienhütte bei Osnabrück einen gelben Ford-Transporter mit dem amtlichen Kennzeichen OS-PD-73I gekauft. Die Nachricht löst im Krisenstab des Kanzleramts zunächst Erleichterung aus. »Nur ein Rechtsradikaler«, atmet der Innenminister auf. Doch der Justizminister erinnert an die Selbstentführung des ultrarechten Professors Bertold Rubin aus Köln im Jahre 1969, der damit die Bundestagswahl beeinflussen wollte. Das muß auf jeden Fall verhindert werden. Mit einer absoluten Nachrichtensperre wollen die Sozialliberalen denkbaren Eskalationen auf der linken Seite zuvorkommen. Lenzinger realistisch: »Wir überstehen das alles nur, wenn es bei den Studenten und den Gewerkschaften ruhig bleibt. Immerhin sind aus dieser Ecke an die 400 Leute verhaftet worden.« Die Krisenrunde will sich gerade auf den Abend vertagen, da stürzt Regierungssprecher Caspar Olling in den Kabinettssaal. In seiner Hand flattert eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur. Die dpa beruft sich auf das Hamburger Nachrichten-Magazin »Prisma«, das in seiner neuesten Ausgabe in einer Titelgeschichte über den Terroranschlag der neo-nazistischen Stahlhelm-Organisation berichtet. »Prisma« zitiert dabei vor allem aus internen Vorgängen zwischen Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und Krisenstab. Autor dieser Enthüllungsgeschichte ist der Bonner Korrespondent 236 Moritz Reich, ein deutsches Pendant der zwei amerikanischen Watergate-Reporter. Reichs spitzfindige Recherchen haben ergeben: In wesentlichen Punkten hat das Bundeskriminalamt den Regierungschef falsch
informiert. Die großen Waffenfunde aus der ersten Fahndungsnacht, von denen der Kanzler am nächsten Morgen der Bundespressekonferenz so ausführlich berichtet hat, haben überhaupt nichts mit der Terroristen-Szene zu tun. Im Gegenteil: BKA-Beamte und BND-Agenten haben in der besagten Nacht einen internationalen Waffenschieberring ausgehoben. Die Fahndungstruppe aus beiden Behörden ist den Bandenmit gliedern schon seit einem Vierteljahr auf den Fersen gewesen. Seit drei Wochen weiß auch der BKA-Chef Horst Hermann, daß der Boß dieser Organisation der Frankfurter Oberstaatsanwalt Dr. Sebastian Fischer ist. Während der bundesweiten Razzia hat Hermann angeordnet, auch Fischer zu verhaften. Im Gefängnis hat dieser dann gestanden, wo sich im einzelnen die Waffenlager befinden. In der Lagebesprechung am nächsten Morgen hat es Hermann unterlassen, den Kanzler davon /.u unterrichten, daß die Waffenfunde nicht aus Terroristenkreisen stammen. In einem Kommentar der Hamburger Illustrierten »Mond« fragt Chefredakteur Hermann Breuer, »wer die Hintermänner dieses verrotteten Intrigenspiels sind, die diesen Staat systematisch zugrunde richten wollen«. Breuer schreibt: »Hätte mir jemand vor einem halben Jahr die Geschichte der Terroristenjagd und der Verhaftung des Frankfurter Oberstaatsanwalts als Chef einer Waffenschieberorganisation er-zählt, hätte mir jemand prophezeit, daß der Kanzler schon wenige Stunden später völlig unwissend der Öffentlichkeit und am Telefon dem amerikanischen Präsidenten Carter dies als einen Schlag gegen den Terrorismus verkauft - dem hätte ich gesagt: sie haben zuviel Science-fiction und zu viele Kriminalromane gelesen.« Die Ereignisse lassen sich nicht mehr stoppen, sie gewinnen ihre Eigendynamik. Im Wolfsburger WM-Werk bricht der erste spontane Streik aus. Betriebsrat und Gewerkschaft fordern die Freilassung der fünf verhafteten Kollegen und die Wiedereinstellung der zwanzig fristlos entlassenen Arbeiter. 237 Als sich die Staatsanwaltschaft weigert, die Arbeiter freizulassen, kommt es zu den ersten Krawallen. Arbeiter stecken das Reifenlager in Brand. In den Zweigwerken Hannover, Braunschweig, Emden und Kassel treten Teile der Belegschaft in Sympathiestreiks. Zum Beginn der nächsten Frühschicht stehen alle Bänder still. Die Vertrauensleute fordern in einer Resolution die ersatzlose Streichung von § 6 des Verfassungsschutzgesetzes. Handzettel der »Roten Zelle WM« zirkulie ren, auf denen ein »Stopp der militärischen Produktion« verlangt und die niedersächsische Landesregierung als »faschistisch« attackiert wird. Es sind noch zwei Wochen bis zur Bundestagswahl. In Hannover fordern Rektorat und Asta der Technischen Universität die sofortige Freilassung ihres Professors Manfred Benske. Als die Staatsanwaltschaft dies ebenfalls ablehnt, brechen Studenten und Hochschullehrer ihre Vorlesungen ab. Sie versammeln sich alle im Audi Max. Professor Eberhard Stein erklärt: »Die Bundesrepublik ist ein neuer SS-Staat!« Der Asta-Vorsitzende Volker Hemminghaus sieht im Anschlag von rechts die »Drahtzieher in der CDU/CSU«. »Was die reaktionären Kräfte in diesem Land unter Demokratie verstehen, hat Bussard im faschistischen Chile, in dem Tausende von fortschrittlichen Demokraten ermordet und zu Tode gefoltert worden sind, doch offen zu verstehen gegeben. Zum Diktator Pinochet hat er gesagt: >Sorgen Sie dafür, daß die Freiheit in Ihrem Lande erhalten bleibt!<« Hemminghaus weiter: »Die CDU/CSU, die seit dem Terroranschlag nur noch mit Diffamierung, Hetze und Rachsucht agiert, will ein Chaos schaffen, in dem sie die kritische Intelligenz dieses Landes beseitigen kann.« Die emotionale Eruption läßt sich nicht mehr aufhalten. Über 20000 Studenten mit ihren Professoren ziehen in einer Demonstration durch die Innenstadt. Der Marsch bewegt sich zunächst an den Hannoverschen GummiWerken vorbei. In Sprechchören fordert die Masse Arbeiter und Angestellte auf, dem Beispiel ihrer Wolfsburger WM-Kollegen zu folgen und die Arbeit niederzulegen. Während die Gastarbeiter aus Angst vor Repressalien am Fließband bleiben, schließen sich mehrere tausend Gewerkschaftsmitglieder den Studenten an. 238 Unterdessen ist im hannoverschen Polizeipräsidium Innenminister Georg Pfau eingetroffen. Da die Demonstration nicht angemeldet und damit auch nicht genehmigt worden ist, könnte er sofort die Auflösung des Marsches verlangen. Doch n will die kaum zu umgehende Massenschlägerei zwischen der Bereitschaftspolizei und der Menschenmenge vermeiden. Das gelingt zunächst auch. Denn in Hannover ist die bedrückende Vision George Orwells aus seinem utopischen Roman »1984« schon Wirklichkeit. Im Dezember 1976 hatte Hannovers Polizei für 700000 Mark Deutschlands modernste TV-Anlage zur Überwachung der Innenstadt erhalten. »Frei von Hektik können wir uns jetzt einen umfassenden Lageüberblick verschaffen«, sagte Polizeipräsident Fritz Bögel zur Einweihung. Live und rund um die Uhr, auf neunzehn 6ier Bildschirmen wird das Leben der City wiedergegeben. Die Kameras sind um 359 Grad schwenkbar und mit Zoom-Objektiven ausgestattet, die sich vom Panorama-Weitwinkel bis zum 144-Millimeter-Tele ausführen lassen. Beamte bedienen sie zentral im Präsidium. Was mit Richtfunk nicht mehr möglich wäre, weil das die Post strikt ablehnt, hat sich per Kabel verwirklichen lassen. Im TV-System werden alle Signale elektronisch verstärkt, so daß ein Abbild bei Nacht besser sein kann als das Vorbild. Und in Hannover sind in der City schon 14 Kilometer Kabel verlegt worden. An die Übertragungsanlage ist auch ein Videorecorder angeschlossen - zur Beweissicherung.
Im Studio des Präsidiums, das der ARD-Koordinationszen-i rille für Satellitenübertragungen ähnelt, sind neben dem Innenminister und dem Polizeichef auch Ministerpräsident l inst Arnold nebst seinem Pressesprecher Hilmar von Plöker eingetroffen. Minuziös verfolgen sie auf Monitoren den Verlauf des Marsches und die Gesichter der Demonstranten. Ab und zu zeigt Innenminister Pfau mit dem Hinweis auf eine Figur: »Auch schon aktenkundig.« Als der Verkehr in der Innenstadt zusammenbricht, gibt Pfau Anweisung, die Demonstration aufzulösen. Die ersten Hundertschaften der eilig herbeigefahrenen Bereitschaftspolizeien aus Hildesheim, Hannoversch-Münden und Braunschweig rücken vor. Polizei-Reiterstaffeln, Hundeketten, 239 Wasserwerfer mit Tränengas, Rauchbomben auf der einen Seite; auf der anderen eine brodelnde Menge, die immer wieder schreit »Polizei-SA-SS.« Steine fliegen, Schaufensterscheiben klirren auf dem Theaterplatz. Dann brennt das Theater. Gegen 22 Uhr herrscht auf dem Schlachtfeld Friedhofsruhe, im Marienkrankenhaus Panik. Sechs Demonstranten und zwei Polizisten sind in Lebensgefahr. Erst am nächsten Morgen sind sie gerettet. Der niedersächsische Innenminister Pfau befürchtet, daß sich die Demonstrationen und Streiks wie Flächenbrände ausweiten und die Polizeikräfte des Landes nicht mehr Herr der Lage sein werden. Nachdem ihn dann noch der Verfassungsschutz gewarnt hat, daß es zu weiteren Streiks und Entführungen kommen könnte, fordert er unter Berufung auf § 9 Absatz 1, Ziffer3 des Bundesgrenzschutzgesetzes von Bundesinnenminister Borchers BGS-Truppen an: »Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes« und zum »Schutzziviler Objekte«. Im Schwarzen Kanal von SED-Propagandist Karl-Eduard von Schnitzler äußert sich auch erstmals die DDR zu den blutigen Unruhen von Hannover. Von Schnitzler: »Da redet die Reaktion der Entspannungsfeinde in der BRD immer wieder vom sogenannten 17. Juni, dem sogenannten Tag der deutschen Einheit, diese Abenteurer. Nach Hannover sollten sie schauen. Was sich dort heute ereignet hat, ist in unserem sozialistischen Staat seit über drei Jahrzehnten tägliche Praxis. Ich meine das Zusammenwirken von Arbeitern und Intelle ktuellen. In Hannover demonstrierten sie heute eingehakt für ihre Rechte, gegen Ausbeutung, gegen Ausspähung, gegen den revanchistischen Imperialismus. Die BRD-Machthaber kannten nur eine Antwort. Sie ließen die fortschrittsliebenden Menschen brutal niederknüppeln.« Während von Schnitzler seinen Kommentar abspult, ordnet die DDR-Führung eine Teilmobilmachung der Nationalen Volksarmee an. Der Grund: In Schützenpanzern und Mannschaftswagen sind 15000 BGS-Männer ins Zonenrandgebiet zwischen Wolfsburg und Hannover verlegt worden. Ferner haben die Länderpolizeien Bremen, Hamburg, Schleswig- Holstein 240 und Hessen weitere 12000 Mann nach Niedersachsen geschickt. Die Schlagzeile des westdeutschen Millionenblatts »Zeitung« heizt die aufgeladene Atmosphäre in der Bundesrepublik weiter an. In großen Lettern vermeldet die Redaktion des Reiter-Konzerns: »Die Russen kommen.« Auf der zweiten Seite werden den besorgten Hausfrauen schon Tips für Hamsterkäufe gegeben. Auch in Bonn spitzt sich die Lage rapide zu. Der Verband deutscher Studentenschaften (VDS) empfiehlt allen Kommilitonen einen »totalen Vorlesungsboykott« - und zwar so lange, bis die 400 bei der Terroristenfahndung verhafteten Personen wieder frei sind. Für die nächste Woche will der VDS einen Sternmarsch nach Hannover organisieren. »Wir werden über 100 000 Menschen mobilisieren. Dieser Marsch wird eine Manifestation für die demokratischen Freiheitsrechte«, verkündet Leo Reckewell, der Sprecher des VDS. SPD-Kanzler Herbert Lenzinger ruft den Krisenstab zusammen. Erstmals nehmen jetzt auch CDU-Chef Helmut Conrades und der CSU-Vorsitzende Richard Bussard an der Sitzung teil. Der CSU-Politiker erklärt, er sei nur gekommen, um unmißverständlich klarzumachen, »daß der Notstandsfall da ist«. Überraschend schließen sich dem auch Verteidigungsminister Hans Pferd und sein Generalinspekteur Gottfried Schützer an. Schützer meint, er könne für die Sicherheit der Bundesrepublik nur dann die Verantwortung übernehmen, wenn ihm außerordentliche Befugnisse eingeräumt werden. Kanzler Lenzinger bittet sich zwei Stunden Bedenkzeit aus. Nach einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion, bei der Lenzinger politisch alle Vollmachten erhält, ist er bereit, die Bundeswehr im Innern des Landes marschieren zu lassen. Entmutigt und entnervt davon, daß er vom Bundeskriminalamt derart hinters Licht geführt worden ist, glaubt er, nur mit äußerster Stärke nach außen den Autoritätsverfall in der (Öffentlichkeit bremsen zu können. Im Hinblick auf die Teilmobilmachung der DDR erklärt der Bundestag noch am selben Abend mit Zweidrittelmehrheit den Spannungsfall (Artikel 80a Absatz I Grundgesetz). Damit wird nach Artikel 87a Absatz 3 des Grundgesetzes der 241
Einsatz der 500 000 Bundeswehrsoldaten auch »zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen« im Innern der Republik möglich. Entsetzt über die Notstandspolitik der Regierung Lenzinger spaltet sich um Mitternacht der linke Flügel der SPD von der Mutterpartei ab. Ex-Juso-Chef Wolfgang Schwarz sagt: »Diese Todsünde soll uns historisch nicht belasten.« Sein Kollege Manfred Schlottik gibt vor dem Fernsehen eine Erklärung für die abtrünnigen Genossen ab. »Der Terroranschlag wird von der CDU/CSU in zynischer Weise wider besseres Wissen mißbraucht, um wieder einmal Terroristen, Sozialisten und kritische Demokraten in einen Topf zu werfen, um sie dann alle gleichmäßig als Staatsfeinde behandeln zu können. Gerechtfertigt wird diese üble Diffamierung mit dem Kampf gegen das sogenannte >geistige Umfeld< des Terrorismus. Mit ähnlicher Argumentation hat schon Bismarck die >Sozialistengesetze< erlassen. Diese Diffamierung gehört also zur guten Tradition der reaktionären Kräfte in Deutschland. Das Zusammenspiel zwischen reaktionären Kräften und terroristischen Anschlägen hat übrigens schon Karl Marx erkannt, als er die Anarchisten als >eine Bande von agents provocateurs der Reaktion< bezeichnete. Wir werden dieses durchsichtige Spiel nicht länger mitmachen. Meine Kollegen und ich werden uns zu einer eigenen Fraktion der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammenschließen.« Solidaritäts- und Sympathiebekundungen für die USPD werden von den Staatsorganen sogleich präventiv geahndet. Gegen die Lehrerin Hilde Meinders und den städtischen Arbeiter Uly Pirkner, die sich der neuen USPD anschließen, wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Gleichzeitig werden sie vorläufig des Dienstes enthoben. Begründet wird dies mit der Behauptung, die USPD verfolge verfassungsfeindliche Ziele. Vergeblich berufen sich Meinders und Pirkner darauf, daß nur das Bundesverfassungsgericht für eine solche Feststellung kompetent sei, nicht aber der Regierungspräsident in Lüneburg. Ihnen wird ein Be schluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 entgegengehalten, wonach dieses »Parteienprivileg« nicht 242 gelte, wenn es um die Beurteilung der Verfassungstreue eines Beamten durch den Dienstherrn geht. Zugleich erinnert das niedersächsische Innenministerium in einer »Information für die Presse« an die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz. Die dortigen Richter hätten schon in einemJJrteil zum Radikalenerlaß am 29. August 1973 festgestellt: »Schon eine Neutralität gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung ist ein Eignungsmangel... Deshalb muß der öffentliche Dienst ständig und ausnahmslos von Personen freigehalten werden, die der Grundordnung ablehnend oder gleichgültig gegenüberstehen.« Im übrigen habe das Verwaltungsgericht Ansbach bei Nürnberg diese Rechtsauffassung fünf Jahre später bestätigt. In Niedersachsen bezeichnet CDU-Innenminister Pfau die USPD sogar als »verfassungswidrig«, ohne daß sich die Mitglieder der neuen Partei dagegen wehren können. Denn in einem Urteil vom 29. Oktober 1975 hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden: »Es ist verfassungsrechtlich legitim, wenn die obersten Verfassungsorgane versuchen, eine Partei, die sie für verfassungswidrig halten, durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung in die Schranken (zu) verweisen.« Um den vom Verband deutscher Studentenschaften geplanten Sternmarsch nach Hannover zu verhindern, beschließt das Donner Parlament gegen die Stimmen der USPD-Abgeordneten, die eine Fraktionsstärke von 38 Parlamentariern haben, im Schnellverfahren ein Ausführungsgesetz zum Grundgesetz-Artikel II. Dadurch kann die Freizügigkeit der Bundesbürger zeitweilig drastisch eingeschränkt werden, um eine drohende Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung abzuwehren. Die Regierung will damit nicht nur den Studentenmarsch stoppen. Nach Informationen des Verfassungsschutzes ist auch damit zu rechnen, daß sich gewerkschaftliche Demonstrationszüge vom Ruhrgebiet aus nach Wolfsburg in Marsch setzen. Ferner ordnet die Bundesregierung auf Grund des Arbeitssicherstellungsgesetzes von 1968 (das zum Notstandspaket gehört) die Dienstverpflichtung »amtlicher Bus- und LKW-Fahrer für die Dauer des Spannungszustands an. 243 Das Versteck der mutmaßlichen Terroristen im Elm ist bereits seit 72 Stunden von Scharfschützen der BGSElitetruppe GSG 9 aus Bonn umstellt. Seit 24 Stunden ist Betriebsratsvorsitzender Werner Heintzel als Austauschgeisel bei den Entführern gefangen. Die Insassen des Hauses, die als Flugziel ein südamerikanisches Land ihrer Wahl genannt haben, wissen nicht, daß Bundesinnenminister Rudolf Borchers und sein Länderko llege Pfau den nach dem neuen Polizeirecht erlaubten Todesschuß längst befohlen haben. Doch zwischendurch kommt es in der Elitetruppe noch zu einem Disput. Drei BGS-Jäger, die den Gehorsam verweigern (»Wir töten nicht gezielt«) müssen sich von ihrem Kommandeur Wagenbach Sätze aus einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vorhalten lassen, das am 18. Februar 1970 gegen einen aufmüpfigen Soldaten entschieden hatte: »Mit seiner Aufforderung, den Befehl zur Ausbildung im Straßenkampf zu verweigern, hat der Beschwerdeführer seine Dienstpflicht verletzt. Solche Umtriebe können in einem Gemeinwesen, das sich auf das Prinzip der streitbaren Demokratie gründet, nicht hingenommen werden.«
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages verlassen fünf Männer das Bauernhaus. Drei haben Seidenstrümpfe über den Kopf gezogen, zwei tragen nur dunkle Sonnenbrillen. Sofort nehmen die Scharfschützen die drei Maskierten unter Feuer. Die Männer mit den Sonnenbrillen reißen die Arme hoch. Als die Beamten und Sanitäter zum Tatort rasen, stellen sie fest: sie sind auf einen bösen Trick hereingefallen. Die blutüberströmt am Boden liegenden Männer mit den Strumpfmasken sind WM-Chef Kurt Becker, Betriebsratsvorsitzender Werner Heintzel und ein Terrorist. Trotz Bluttransfusionen kommt jede Hilfe zu spät. Wenige Minuten später sind alle drei tot. Das dilettantische Vorgehen der Polizeiführung putscht die Erregung der Arbeiterschaft weiter hoch. Warnstreiks greifen jetzt auf den gesamten Bereich der Metallindustrie über. Der libera le Fernsehjournalist Ulrich Trappel fragt: »Wer profitiert von diesem Durcheinander am Wahltag? Die Sehnsucht nach dem starken Mann wächst.« Es ist noch eine Woche bis zur Bundestagswahl. 244 Die Gewerkschaftsführung der IG Metall, die sich bisher vornehm zurückgehalten hatte, gerät zunehmend unter Druck von der Basis. Heintzel war nämlich kein x-beliebiger Be triebsratsvorsitzender. Er war bei den Arbeitern beliebt und galt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des IG Metall-Chefs Eugen Florian. Nach seinem tragischen Tod ist Florian im Zugzwang. Er und seine Kollegen wollen nach Wolfsburg fahren, um dort »ungebrochene Solidarität« mit den noch immer streikenden Arbeitern zu demonstrieren. Die Metall-Arbeitgeber kontern mit einer totalen Aussperrung aller Arbeiter. Florian will in seiner Eigenschaft als stellvertretender WM-Aufsichtsratsvorsitzender das Werksgelände betreten (Florian: »Die Aussperrung ist ein Relikt aus der Steinzeit«), wird aber durch die BGS-Posten mit Gewalt daran gehindert. Tausende von aufgebrachten Arbeitern, die vor den Werkstoren stehen, erzwingen sich und Florian jetzt gewaltsam Zugang zur Automobilfabrik. Die ersten Schüsse fallen. BGS-Posten, die die Lage nicht mehr überblicken, geben erst Warnsalven ab, knallen aber dann wahllos in die Menschenmenge. Drei Arbeiter sterben im Kugelhagel, 28 müssen zum Teil schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden. In einem Telefon-Interview mit dem »Kurier am Morgen« des Norddeutschen Rundfunks erklärt der niedersächsische Innenminister Pfau, nach einem zweifelsfreien Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Februar 1975 sei die Gewerkschaftsführung durch die Werksbesetzung, bei der sie gewalt same Auseinandersetzungen mit der Polizei riskiert habe, zu einer »kriminellen Vereinigung« geworden. Außerdem sei das gesetzwidrige Verhalten völlig unverständlich. Pfau: »Es sind doch immer die Gewerkschaftsfunktionäre gewesen, die den Verfassungsschutz mit Materialien aus der extremistischen Ecke versorgt haben.« Nach einer Beratung des Landeskabinetts geht Pfau noch einen Schritt weiter. Die Ausschreitungen in Wolfsburg hätten bewiesen, daß die Gewerkschaft die Verantwortung für die Toten trage. Damit seien der Vorstand der IG Metall und die sonstigen Werksbesetzer möglicherweise sogar eine terroristische Vereinigung nach § 129a des Strafgesetzbuches. Noch am 245 selben Abend verhaften niedersächsische MEK-Kämpfer die Vorstandsmitglieder als Rädelsführer. Auch sympathisierende Demonstranten werden auf Grund dieses 1976 ins Strafgesetzbuch eingefügten Paragraphen festgenommen. Der Kommentator der Frankfurter Rundschau, Karl-Udo Berdoll, wird im beschleunigten Verfahren (§ 212 StPO) und nach dem neuen § 88a des Strafgesetzbuchs wegen der Befürwortung der Gewaltaktion von Wolfsburg verurteilt. Er hatte eine Schrift der Evangelischen Kirche zitiert (... »auch aus dem Blickwinkel christlicher Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar sein ...«) und die Frage gestellt, ob die Vorgänge von Wolfsburg nicht einen Verlauf genommen hätten, bei dem diese Ausnahmesituation gegeben gewesen sei. Zwei besonders dienstbeflissene Kleinstadt-Polizisten führen in Hameln sogar den Gastwirt Stephan Würwohl in Handschellen ab. Ihm wird vorgeworfen, er habe es versäumt, die Polizei zu rufen, als ein Gast in seinem Lokal Unterschriften für eine Solidaritätserklärung mit den Werksbesetzern gesammelt habe. Würwohl hat sich damit nach § 129a in Verbindung mit § 138 Strafgesetzbuch in der Fassung von 1974 strafbar gemacht. Die In haftierung der IG Metall-Spitze beantwortet der Deutsche Gewerkschaftsbund mit einem Generalstreik. Neunzig Prozent der Arbeiter folgen dem DGB-Aufruf. Die Folge: Die Bundeswehr marschiert in die Werke ein. Sie will die Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten - gestützt auf Artikel 87 a, Absatz 3 des Grundgesetzes (Schutz ziviler Objekte). Als es daraufhin in den sozialdemokratisch regierten Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen zu blutigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Soldaten kommt, fordert die Generalität die Bundesregierung auf, entsprechend Artikel 37 des Grundgesetzes beim Bundesrat den »Bundeszwang« für die beiden Bundesländer zu beantragen. Ziel ist es, die offenkundig unfähigen Landesregierungen ihrer Amtsbefugnisse zu entheben und zentral gesteuerte Gegenmaßnahmen zu ermöglichen.
Der SPD-Kanzler Lenzinger weigert sich, den Forderungen der Generale nachzugeben. Bei Bundespräsident Erhard 246 Scheler erreicht er, daß die in zwei Tagen stattfindende Bundestagswahl um ein halbes Jahr verschoben wird. Daraufhin bezichtigen ihn die Unionspolitiker Conrades und Bussard: »Der Kanzler hat Angst, die Macht zu verlieren, er hat Angst, daß seine Partei die Wahlen verliert. Er plant den Staatsstreich und will durch die Hintertür die Diktatur des Proletariats errichten.« Die Inspekteure der drei Waffengattungen erklären jetzt übereinstimmend unter Berufung auf das in Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes für alle Deutschen garantierte Widerstandsrecht, daß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland seiner Amtsbefugnisse enthoben sei. Die Generale verweisen darauf, daß schon bei den Beratungen des Artikels 20 Absatz 4 im Jahre 1968 klargestellt worden sei, daß es auch ein »Widerstandsrecht von oben« gebe, wenn dies »das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist.« Deshalb würden sie jetzt die oberste Befehlsgewalt ausüben. Die neuen starken Männer der Republik können sich der Peinlichkeit nicht entziehen, welche die Glückwunschtelegramme dreier Diktatoren verursachen. Absender sind Chiles Präsident Augusto Pinochet, Argentiniens Staatschef George Videla und Ugandas Allein herrscher Idi Amin. Während sich das westliche Ausland noch auffallend zurückhält, schreibt das sowjetische Parteiorgan »Prawda«: »Mit einer reaktionären Tendenzwende in der HRD haben die politischen Beobachter schon lange gerechnet. Den Revanchisten ist die Entspannungspolitik seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge.« Nach den Tagesschau-Nachrichten dieses historischen Tages spricht Generalinspekteur Schützer zur Bevölkerung. Knapp sagt er: »Widerstand werden wir nicht dulden. Opposition wird mit allen Mitteln gebrochen.« Unterdessen ist CDU-Chef Conrades in geheimer Mission nach Washington gereist. Als Oppositionsführer ist er bisher von US-Präsident Jimmy Carter nicht empfangen worden. Unter den veränderten politischen Vorzeichen klappt es diesmal. Conrades erklärt Carter, die CDU/CSU stehe hinter den Maßnahmen der Militärs. Nach seiner Einschätzung, und die sei mit der Bundeswehr abgesprochen, würden die Generale 247 nur für eine Übergangszeit die Macht ausüben. Ihr Ziel sei es, die aus dem Osten eingeschleusten »subversiven Kräfte« auszuschalten. Im übrigen sei diese Ausnahmesituation bewußt ins Grundgesetz eingebaut worden. Die Bundeswehr versucht, nach dem Beispiel südamerika nischer Militärdiktaturen mit Hilfe von Notverordnungen - so mit einem Ausgehverbot zwischen 19 Uhr abends und sieben Uhr morgens - Herr der Lage zu werden. Ein Drittel der Bundestagsabgeordneten ruft daraufhin das Bundesverfassungsgericht an, um die Gesetzwidrigkeit dieser Maßnahmen feststellen zu lassen. Bevor es jedoch zu einem Urteilsspruch kommt, schließt der II. Senat zwei seiner liberalen Mitglieder aus. Begründung: Sie hätten schon in früheren Schriften gegen den Begriff »streitbare Demokratie« Stellung bezogen und müßten deshalb als »befangen« gelten. Das Gericht verhält sich ebenso wie schon am 16. Juni 1973. Damals hatte der II. Senat beim Verfahren über den Grundlagenvertrag mit der DDR auf Antrag Bayerns den Verfassungsrichter Joachim Rottmann wegen Befangenheit ausgeschlossen. Damals hieß es: Rottmann habe schon früher erklärt, daß das ehemalige Deutsche Reich nicht mehr fortbestehe und durch zwei deutsche Staaten abgelöst worden sei. Im Urteilsspruch räumt das gesäuberte Verfassungsgericht dann zwar ein, daß die Proklamation der drei Bundeswehr-Inspekteure und die Notverordnungen mit den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht in Einklang stünden. Doch dann greifen die Richter in der roten Robe auf die Rechtsprechung im sogenannten Abhörurteil vom 15. Dezember 1970 zurück. Damals seien »system-immanente Modifikationen«, auch unumstößlicher Verfassungsprinzipien im Rahmen des tragenden und allgemeinen Verfassungsprinzips der streitbaren Demokratie für gerechtfertigt erklärt worden. Zugleich bescheinigt das Gericht mit einem Zitat aus dem KPD-Verbotsurteil von 1956 den Militärs die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens: »Ein Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtswidrigkeiten kann es nur im konservierenden Sinne geben, das heißt als Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung.« 248
Das Urteil des II. Senats wird im Bundesgesetzblatt verkündet und erhält damit Gesetzeskraft. Es ist für die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder und für alle Gerichte und Behörden bindend. Auf einer Konferenz der Sozialistischen Internationale in Paris wird SPD-Chef Willy Brunner stürmisch begrüßt. Frankreichs Sozialistenführer Mitterrand, Schwedens Ex-M inisterpräsident Palme und Österreichs Kanzler
Kre isky gründen ein Komitee zur »Rettung der demokratischen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland«. Dem Pariser ARD-Korre spondenten Heiko Engel untersagt Major Günter Witt vom Bundespresseamt die Ausstrahlung seines Berichts im ersten Programm. Als einziger Partei gestatten die Militärs der CDU/CSU im Bonner Hofgarten eine Großkundgebung. Vor zehntausend Menschen rechtfertigt Conrades die Notverordnungspolitik der Bundeswehr. Unter dem Motto: »Kampf für einen neuen Anfang« fordert er das Verbot der DKP, der maoistischen K-Gruppen und der USPD. Conrades: »Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, kann die Gegenwart nicht gestalten und die Zukunft nicht bewältigen. Was wir brauchen, sind demokratischer Patriotismus und Vaterlandsliebe.« Der autoritäre Verfassungsstaat ist rechtlich und politisch installiert. 249 Dokumente und Gerichtsurteile Urteil der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 8. November 1977 (Az.: DS 10/75). Gegen den Studienrat Fritz Güde, der als Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) u.a. Zeitungen und Flugblätter verteilt hatte, verfügte das Stuttgarter Kultusministerium am 16. August 1974 die vorläufige Dienstenthebung. Das Karlsruher Gericht unter dem Vorsitz von Dr. Fuchs erkannte auf Entfernung aus dem Dienst: »Schon allein die Mitgliedschaft im KB W und die aktive Mitarbeit in dieser eindeutig verfassungswidrigen Vereinigung ... rechtfertigen und erfordern die Verhängung dieser schwersten gegen einen aktiven Beamten möglichen Disziplinarstrafe, denn ein Beamter, der sich nicht für, sondern gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes entscheidet, kann nicht im Amt belassen werden.« Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 1970 (2 BvR 531/68). Ein Stabsunteroffizier der Bundeswehr hatte sich in der Diskussion mit Kameraden positiv über die Aktionen der A PO geäußert und war deshalb vom Truppendienstgericht mit Arrest bestraft worden; am 27. September 1968 wurde er fristlos aus dem Dienst entlassen. In Karlsruhe wurde seine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen: »Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie, die von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung erwartet und einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen diese Ordnung nicht hinnimmt... Dieses Prinzip der streitbaren Demokratie gilt auch für die innere Ordnung der Bundeswehr ... Daher ist es unabdingbar, daß Offiziere und Unteroffiziere, die sich an politischen Diskussionen zulässigerweise beteiligen, keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß sie auf dem Boden der freiheitlichen Ordnung stehen und bereit sind, für sie jederzeit einzutreten. Ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie gegründetes Gemeinwesen kann es nicht dulden, daß seine freiheitliche Ordnung hei politischen Diskussionen innerhalb der Truppe und während 253 des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt, geschweige denn bekämpft wird ... Mit der provozie renden Behauptung, in der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitlich-demokratische Ordnung.« Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 1970 (2 BvR 481/68). Ein Gefreiter der Bundeswehr hatte vor der Kaserne Flugblätter verteilt, in denen er als Mitglied der »Soziallistischen Deutschen Arbeiterjugend« gegen die Notstandsgesetze vom 24. Juni 1968 Stellung nahm und insbesondere den vorgesehenen Einsatz der Truppe gegen den »inneren Feind« verurteilte. Er wurde vom Truppendienstgericht mit Arrest bestraft und am 13. September aus dem Wehrdienst entlassen. In Karlsruhe wurde seine Verfassungsbeschwerde verworfen: »Mit seiner Aufforderung, den Befehl zur Ausbildung im Straßenkampf zu verweigern, hat der Beschwerdeführer seine Dienstpflicht verletzt. Solche Umtriebe können in einem Gemeinwesen, das sich auf das Prinzip der streitbaren Demokratie gründet... nicht hingenommen werden.« Urteil der Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12. August 1977 (AZ.: DS 20/76). Gegen den Oberstudienrat Günther Deckert, der in der NPD verschiedene Ämter bekleidete und u.a. als Versammlungsleiter und Bundestagskandidat hervorgetreten war, leitete das Stuttgarter Kultusministerium am 13. Februar 1975 ein Disziplinarverfahren ein und enthob ihn vorläufig des Dienstes. Das Karlsruher Gericht unter dem Vorsitz von Dr. Fuchs sprach ihn frei: »Die Disziplinarkammer (hat) Zweifel, ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Partei ist... Unterstellt man die Verfassungswidrigkeit der NPD, so durfte der Beschuldigte trotzdem in nicht vorwerfbarer Weise davon ausgehen, daß die NPD keine verfassungsfeindlichen Ziele hat und er daher durch Mitgliedschaft und Tätigkeit für die Partei 254
nicht gegen seine Beamtenpflichten verstößt. Zwar spricht die Tatsache, daß ein Beamter eine verfassungsfeindliche Partei für verfassungsmäßig hält, nicht für, sondern gegen den Beamten ... Dies kann aber ... nicht gelten, wenn es sich um die NPD handelt. Der genannte Grundsatz wurde bei linksra dikalen Parteien entwickelt, deren verfassungsfeindliche Zielsetzung aus Statuten und Programmen eindeutig zu entnehmen ist...« Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 (2 BvL 13/73). Im ersten gerichtlich verhandelten Berufsverbotsfall der Bundesrepublik legte das Verwaltungsgericht Schleswig dem Verfassungsgericht die Frage vor, ob die entsprechenden schleswig-holsteinischen Landesregelungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Das Gericht bestätigte in seinem Grundsatzurteil die Vereinbarkeit: »Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums ..., daß den Beamten eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und seiner Verfassung obliegt ... Die Treuepflicht gebietet, den Staat und seine geltende Verfassungsordnung ... zu bejahen und dies nicht bloß verbal, sondern insbesondere in der beruflichen Tätigkeit ... Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung ... Die Einstellungsbehörde entscheidet über den Antrag auf Übernahme in das Beamten Verhältnis, ohne verpflichtet zu sein, vorher den Bewerber zu ihren Zweifeln anzuhören. Hei dieser Entscheidung gibt es keine >Beweislast<, weder für den Bewerber ... noch für die Einstellungsbehörde ... Zweifel an der Verfassungstreue< hat hier nur den Sinn, daß der für die Einstellung Verantwortliche im Augenblick seiner Entscheidung nicht überzeugt ist, daß der Bewerber die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten ... Es handelt sich um ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers, nicht lediglich um die Feststellung einzelner Beurteilungselemente 255 ... Ein Stück des Verhaltens, das für die hier geforderte Beurteilung der Persönlichkeit des Bewerbers erheblich sein kann, kann auch die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt unabhängig davon, ob ihre Verfassungswidrigkeit durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts festgestellt ist oder nicht.« Dieser Punkt der Begründung verstößt nach Meinung der Verfassungsrichterin Rupp-von Brünneck gegen Artikel 21 des Grundgesetzes. In ihrem Sondervotum heißt es: »... wenn das sog. Parteienprivileg in erster Linie die Parteiorganisation vor staatlichen Eingriffen schützen soll, erstreckt es seine Wirkung notwendigerweise auch auf Funktionäre, Mitglieder und sonstige Anhänger. Die in Art. 21 GG garantierte Parteienfreiheit erschöpft sich nicht in der Freiheit, eine Partei zu gründen. Die Partei muß auch frei sein, Mitglieder zu haben und neue Mitglieder zu werben. Wenn daher ihre Mitglieder nur wegen ihrer Mitgliedschaft durch staatliche Maßnahmen Nachteile erleiden oder wenn durch ein faktisches Verbot einem größeren Kreis - wie den Beamten oder den Bewerbern um Beamtenstellen - der Parteieintritt unmöglich gemacht wird, so bedeutet dies - zumal in einem Staat, in dem die Zahl der Beamten beträchtlich ist - in Wahrheit eine Aushöhlung des Parteienprivilegs; denn eine Partei >existiert< nur durch ihre Mitglieder.« Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Februar 1975 (3 StR7/74 I). Gegen sechs Beteiligte an einer Hausbesetzung in der Hamburger Ekhofstraße hatte das Landgericht Hamburg Strafen verhängt wegen Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein, um zusätzlich eine Verurteilung wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu erreichen. Dazu stellte der Bundesgerichtshof fest: »Bei den Hausbesetzern handelt es sich um eine kriminelle Vereinigung i. S. des Paragraphen 129 I StGB ... alle Teilnehmer an der Aktion (verfolgten) mindestens den gemeinsamen 256 Zweck, das Haus in ihre Gewalt zu bringen und auf diese Weise gegen Fehlentwicklungen im Wohnungsbau, gegen die Höhe der Mieten und die Wohnungsknappheit sowie gegen das weitgehende Fehlen von Kontaktmöglichkeiten in Neubauvierteln und die darauf beruhende Vereinsamung des einzelnen zu demonstrieren. Insoweit fühlten sie sich als einheitlicher Verband ... Hat somit entgegen der Ansicht des Landgerichts eine kriminelle Vereinigung i. S. des Paragra phen 129 StGB bestanden, so haben die Angeklagten durch ihr Verhalten diese auch unterstützt, indem sie sich mehrfach im Hause aufgehalten und durch ihre Anwesenheit die zur Verteidigung der Hausbesetzung Entschlossenen in ihrem ... Verteidigungswillen mindestens bestärkt haben. Sie sind daher der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung schuldig.« Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. April 1972 (I BvL 13/67). Ein DDR-Film über den Kongo-Krieg war für das Verwaltungsgericht Frankfurt/Main der Auslöser, das Verfassungsgericht am 22. Mai 1967 anzurufen, ob Paragraph 5 Absatz i und 2 des Gesetzes zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote (GÜV) vom 24. Mai 1961 mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Der Paragraph verbietet, »Filme, die nach ihrem Inhalt geeignet sind, als Propagandamittel gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ... zu wirken«, einzuführen und verpflichtet dazu, ein Kopie jedes
eingeführten Films dem Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft vorzulegen; westliche Länder sind von der Regelung ausgeschlossen. Die Karlsruher Richter entschieden: »Das Schutzgut, das bei der Einfuhr eines in dem dargelegten Sinne verfassungsfeindlichen Films der Kunstfreiheitsgarantie gegenüberstehen könnte, ist insbesondere der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Rang dieses Schutzgutes kann die Kunstfreiheitsgarantie dann zurücktreten lassen, wenn durch die Wirkung eines solchen Films auf den verständigen Durchschnittsbetrachter eine unmittelbare und gegenwärtige 257 Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik und ihrer Grundordnung herbeigeführt wird ... Paragraph 5 Absatz i und Absatz 2 GÜV verstoßen nicht gegen das Zensurverbot des Artikels 5 Abs. i Satz 3 GG ... Mit der in Rechtsprechung und Schrifttum herrschenden Meinung ist unter >Zensur< im Sinne des Art. 5 Abs. i Satz 3 GG nur die Vorzensur zu verstehen ...« Dazu schrieben die Verfassungsrichter Rupp-von Brünneck und Dr. Simon in einem Sondervotum: »... die Abschirmung der Bürger der Bundesrepublik vor staatsgefährdenden Einflüssen vermittels einer Informationsbeschränkung (erscheint) generell als denkbar ungeeignetes Mittel, um den Bestand der Bundesrepublik einschließlich ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu sichern. Ein Staat, der in enger Nachbarschaft zu totalitär regierten ... Staaten lebt, kann seine eigenständige Ordnung nicht wirksam verteidigen, indem er Augen und Ohren seiner Bürger vor den von draußen kommenden Informationen und Einflüssen verschließt.« Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69). Auf Antrag der Hessischen Landesregierung und aufgrund der Verfassungsbeschwerden von sechs Juristen entschied das Gericht über die Vereinbarkeit des Artikels 10 Absatz 2 GG, der eine Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ohne Mitteilung an den Betroffenen ermöglicht (1968 vom Bundestag beschlossen), und Artikel 79 Absatz 3 GG, der eine Änderung der Grundsätze in den Artikeln i bis 20 (darunter das Post- und Fernmeldegeheimnis) ausschließt: »Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war von Anfang an im Grundgesetz nicht vorbehaltlos geschützt; vielmehr waren immer schon Beschränkungen zulässig ..., die in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage bedurften ... Der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitliche Verfassungsordnung sind ein überragendes Rechtsgut, zu dessen wirksamen Schutz Grundrechte ... eingeschränkt werden 258 können ... Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz ... auf dem formal-legalistischen Weg ... beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann ... es (handelt) sich um eine Ausnahmevorschrift, die jedenfalls nicht dazu führen darf, daß der Gesetzgeber gehindert wird, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren.« Pastor Heinrich Albertz in seiner Laudatio auf Verfassungsrichter Helmut Simon bei der Verleihung der Carl von Ossietzky-Medaille am 4. Mai 1978: »Der elende Streit um den Namen dieser jungen Universität in Oldenburg - an dem der Staat durch die beiden großen Parteien - und die 3. kleine dazu - in wechselnder Verantwortung beteiligt war, treibt jedem ehrlichen Demokraten die Schamröte ins Gesicht. Dieser Streit ist ein Symbol für die wachsende Verwirrung der Gemüter und zeigt auf erschreckende Weise, daß ein Mann vom Range Carl von Ossietzkys in dieser Republik schon wieder keinen Platz mehr hat, so wie ihn die vorige Republik und die Nazis bis zum Tode verfolg ten. Auch der Tote hat nur in Esterwegen Platz, aber nicht mitten unter den vergeßlichen Bürgern dieser Stadt. Ossietzky stände mit Sicherheit auf den Listen des Verfassungsschützes und in der Reihe der Sympathisanten und käme, falls er sich je bewerben sollte, ... ganz sicher nicht in irgendeinen öffentlichen Dienst, in irgendeine Hochschule als Lehrer, in irgendeine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als Redakteur. So weit sind wir gekommen. Das ist der Punkt.« Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. Januar 1978 (Nr. AN 954-1/77). Die Regierung von Mittelfranken lehnte am u. November 1976 den Antrag Hans Heinrich Häberleins auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Volksschulen 259 ab. Das Verwaltungsgericht bestätigte diesen Bescheid gegen den bayerischen Vorsitzenden der »Deutschen Friedensgesellschaft - Internationale der Kriegsdienstgegner«, weil er sich gegen die kommunistischen Mitglieder seines Verbandes nicht genügend abgrenze:
»Es ist nicht auszuschließen, daß der Kläger diese (kommu nistischen) Zielsetzungen gar nicht erkennt, und daher auch nicht in der Lage ist, dann aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, wenn sie in Gefahr ist. Er ist dann vielleicht in die Situation eines Mannes gedrängt, der ratlos den Geschehnissen zusieht, sich freilich nicht etwa aktiv am Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beteiligen wird, aber auch nicht in der Lage sein wird, diesem Sturz durch eigenes aktives Verhalten entgegenzutreten. Der Kläger ist damit nicht etwa zu einem sogenannten Verfassungsfeind abgestempelt.« Für die Verhinderung einer auf den 7. Oktober 1977 angesetzten Dichterlesung Luise Rinsers schickte das baden-württembergische Staatsministerium den Gerlinger Stadträten Höschele und Maisch folgendes Dankschreiben: Sehr geehrter Herr Maisch, sehr geehrter Herr Höschele, für Ihren Brief vom 22. Oktober 1977 und die beiliegende Dokumentation möchte ich im Namen des Herrn Ministerpräsidenten recht herzlich danken. Sie haben im Fall Rinser einen klaren und begründeten Standpunkt bezogen. Es ist durchaus das Recht jedes Bürgers, elitäre linke Gruppen zu kritisieren und sich in der Volkshochschule für seine eigenen politischen Vorstellungen einzusetzen. Bei der derzeitigen Rechtslage ist es sehr schwierig, die Sympathisanten-Szene strafrechtlich zu erfassen. Auch im vorliegenden Fall erscheint es nach unseren Informationen nicht möglich, strafrechtlich vorzugehen. Das Justizministerium hat den Fall überprüft und einen hinreichenden Tatverdacht verneint. Daher erfolgt die Übersendung an das Innenministerium. Der Grundgedanke Ihres Vorgehens liegt uns am Herzen: wir müssen gemeinsam die Wurzel des Terrorismus erkennen und mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Deshalb sind die geistige Erneuerung in Familie und Schule in diesem Jahr landespolitische Schwerpunkte. Nur wenn es uns gelingt, uns auf unsere gemeinsamen Grundwerte zu besinnen und diese unserer Jugend zu vermitteln, werden wir langfristig dem Terrorismus keine Chance geben. Über die von Ihnen bewie sene Zivilcourage hat sich der Herr Ministerpräsident gefreut und wünscht Ihnen für Ihr politisches Wirken weiterhin viel Erfolg. Mit freundlichen Grüßen Dr. Kilian Ministerialdirigent Beschluß des Dritten Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 22. Oktober 1975. Der Bundesgerichtshof machte sich die Meinung namhafter Sachverständiger zu eigen, daß die Isolationshaft der in Stammheim inhaftierten Terroristen eine wesentliche Ursache für ihre Verhandlungsunfähigkeit war: »Professor M. führt den Zustand der Angeklagten wahrscheinlich nicht in erster Linie< auf die Haftbedingungen, sondern auf die psychische Belastung durch die Länge der Untersuchungshaft und vor allem durch das Strafverfahren selbst zurück... Die Beschwerdeführer leben unter anderen (als den üblichen) Haftbedingungen. Sie müssen Beschränkungen auf sich nehmen, die nach dem Urteil von Professor R. durch die ihnen gewährten >Privilegien< nicht aufgehoben werden. Indessen haben sie diese ihre Verhandlungsunfähigkeit mitbestimmenden Umstände selbst zu verantworten... Die Beschwerdeführer gehören einer zahlenmäßig verschwindend geringen Gruppe der Bevölkerung an, die es im Gegensatz zu dieser für unerläßlich hält, den gewiß in mancherlei Hinsicht verbesserungsbedürftigen Zustand der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland... nicht mit dem demokratischen Mittel der Überzeugung der Wähler, sondern gegen deren Willen unter Anwendung rücksichtsloser Waffengewalt zu verändern.« 261 Prof. Dr. Hans Buchheim, Das Grundgesetz und das Konzept des modernen Verfassungsstaates. Herausgegeben vom Kultusministerium Rheinland-Pfalz. Mainz 1977. Auszug des Textes, der an den rheinland-pfälzischen Schulen verteilt worden ist: »Maßgebend für die Auslegung des Grundgesetzes kann nicht das sein, was eine isolierte Betrachtung einzelner ihrer Werte und Bestimmungen äußerstenfalls an Konsequenzen hergibt, sondern maßgebend ist allein das Konzept des Verfassungsstaates selbst. Auch die vier Grundprinzipien des Artikels 20, das demokratische, das sozialstaatliche, das föderale und das rechtsstaatliche dürfen nicht je für sich allein gesehen werden, sondern gewinnen ihren Sinn nur aus dem Zusammenhang des Gesamtkonzepts der freiheitlichen Verfassung ... Unter den Lebensbedingungen der hochindustrialisierten Gesellschaft unserer Zeit stellt sich die alte Aufgabe des Staates, Frieden und Freiheit möglich zu machen, auf ganz neue, bisher ungekannte Weise: Insbesondere drohen die Erfordernisse und Folgen der technologisch organisierten Daseinsvorsorge die im privaten und öffentlichen Bereich erlangte Freiheit wieder zunichte zu machen. Daher wird es weiteren Fortschritt nur geben, wenn der Verfassungsstaat auch diese neue Herausforderung bewältigt. Alle Errungenschaften der modernen Technik wären für uns und für die ganze Menschheit kein Gewinn, wenn wir sie mit der bisher erreichten Freiheit bezahlen müßten. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis des Sozialis mus zum modernen Verfassungsstaat, weil sich der Sozialis mus selbst als die einzig mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Moderne versteht. Sofern mit dem Begriff Sozialismus der Anspruch verbunden ist, eine eigenständige Gesellschaftstheorie und ein theoretisch begründetes Konzept für seine Politik zu besitzen, sofern
also Sozialismus sich als politische Richtung ernst nimmt, weist er mindestens zwei Merkmale auf, die mit dem Konzept des modernen Verfassungsstaates nicht vereinbar sind. Das heißt: Sie lassen sich in der Alltagspraxis mit dem Verfassungsstaat zwar bis zu einem gewissen Grade arrangieren, stehen jedoch im Grunde dazu im Widerspruch. Erstens zielt der Sozialismus auf eine 262 »Vergesellschaftung« der normativen und institutionellen Ord nung, weil er im Gegensatz zum Konzept des Verfassungsstaates von der Überzeugung ausgeht, daß jegliche Objektivie rung menschlicher Beziehungen die ursprüngliche Freiheit des Menschen beeinträchtigt, unter Umständen sogar aufhebt. Der Sozialismus betrachtet die institutionelle Ordnung nicht als unentbehrliche Voraussetzung der Realisierung der Freiheit, sein Konzept ist vielmehr darauf angelegt, daß die Gesellschaft die tägliche Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten, die der >Staatsapparat< angeblich usurpiert hat, wieder selbst in die Hand nimmt. Zweitens unterstellt der Sozialismus im Gegensatz zum Konzept des Verfassungsstaates, daß die Gesellschaft unmittelbar, also ohne die Vermittlung staatlicher Allgemeinheit Subjekt und Objekt der Politik sein könne. Sozialisten verstehen unter >Staat< nur den Staatsapparat, während sie, wenn sie das politische Gemeinwesen als Ganzes bezeichnen wollen, von >Gesellschaft< sprechen. Sie bezeichnen die politische Ordnung als >gesellschaftliche Ordnung<, ohne zu fragen, ob eine freiheitliche Ordnung der Gesellschaft eine andere als eine staatliche Ordnung sein könne.« Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1957 (I BvB 2/51). In seinem Urteil stellte das Gericht die Verfassungswidrigkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) fest und entsprach damit dem Antrag der Bundesregierung. Es konzentrierte sich in der Begründung auf die allgemeine Zielrichtung der Partei, klammerte dagegen die Handlung und Gesinnung von Einzelpersonen aus: »Im Straf recht handelt es sich darum, für eine bestimmt abgrenzbare, in der Vergangenheit liegende Handlung einer Einzelperson eine Strafe zu verhängen, die Sühne für begangenes Unrecht ist. Daher muß sich im Falle des § 81 StGB die Vorbereitung eines konkreten ... verfassungsfeindlichen Un ternehmens erweisen lassen, und es ist zu billigen, daß von der Rechtsprechung an das Begriffsmerkmal der Bestimmtheit strenge Anforderungen gestellt werden... Anders der verfassungsrechtliche 263 Tatbestand der Verfassungswidrigkeit einer Partei: Hier wird ein konkretes Unternehmen im Sinne des § 81 StGB nicht erfordert, dagegen muß der politische Kurs der Partei durch eine Absicht bestimmt sein, die grundsätzlich und dauernd tendenziell auf die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet ist. ... Andererseits können politische Aktionen, die mit der Absicht unternommen werden, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, noch nicht zur Anwendung des Art. 21 Abs. 2 GG gegen politische Parteien führen, wenn es sich um Einzelfälle ... einzelner Mitglieder oder Anhänger ... handelt. Auch darin kommt zum Ausdruck, daß die Vorschrift nicht eine Sanktion für Vergangenes, sondern eine Sicherung vor zukünftigen Gefahren bezweckt.«
An 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demonstration vor der Berliner Oper tödlich verletzt. Von Stund an eskalierten Gewalt und Gegengewalt. Der Todesschütze - Kriminalhauptmeister Kurras -, wurde wegen “psychogenem Ausnahmezustand” freigesprochen. www.bmi.bund.de. Verantwortlich: Rainer Lingenthal Redaktion: Gabriele Holtrup, Dirk Inger, Eva Schmierer, Dr.lngrid von Stumm Pressereferat im Bundesministerium des Innern, Alt-Moabit 101 D, 10559 Berlin E-Mail:
[email protected] Telefon: 01888/681-1022/1023, Fax: + 49 1888/681-1083/1084 Bei denen sollte es Auskünfte geben. Laut Gespräch mit einer Sachbearbeiterin (49 1888/681-2744) Kann ein e-m@il-Abbo über die innenpolitischen Aktivitäten der Bundesregierung bestellt werden. Ich rate zu einem Nick.