HAUSMITTEILUNG
Blühende Landschaften nach der Verwüstung, es gab sie wirklich. Die im Mai 1949 gegründete Bundesrepublik wurde zu einem Erfolg, den damals niemand erahnt hatte. Doch wie krisenfest ist das längst wiedervereinigte Land heute? In dieser Ausgabe zieht SPIEGEL GESCHICHTE Bilanz und umreißt die Aufgaben der Zukunft, gestützt auf eine umfassend recherchierte SPIEGEL-Serie sowie viele weitere Artikel, Interviews und Gastbeiträge, unter anderem von der Schriftstellerin Thea Dorn (Seite 72) und dem Politologen Franz Walter (Seite 140).
Am Abgrund – die Spaltung der Welt nach 1945
Hatun und Mehmet Ates¸ arbeiteten von 1968 bis 1988 in Berlin. Inzwischen sind sie Rentner und in die Türkei zurückgekehrt. Um Karen Andresen und Henryk M. Broder über ihr Leben als „Gastarbeiter“ zu erzählen, floSeyran, Mehmet, Hatun Ates¸, Broder, Andresen gen sie eigens in die deutsche Hauptstadt. Zuvor waren allerdings noch einige bürokratische Hürden zu nehmen: Für einen Besuch in Deutschland benötigt das Ehepaar eine Einladung und ein Visum. Das Gespräch (Seite 116) fand schließlich in der Wohnung von Tochter Seyran statt, die als Anwältin und Publizistin in Berlin lebt.
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ (O.); RAINER SENNEWALD / DER SPIEGEL (U.)
Die Dunkelkammer in seinem Haus in Königswinter ist das Allerheiligste des Fotografen Konrad R. Müller. Mit einem alten polnischen Vergrößerungsgerät Marke „Krokus“ fertigt Müller hier seine Schwarzweißbilder an, jeder Abzug ein Unikat. Redakteur Dietmar Pieper und Layouter Rainer Sennewald durften ihn in seiner Werkstatt besuchen, gemeinsam wählten sie aus seinem Lebenswerk eine Porträtgalerie der Bundeskanzler aus (Seiten 46 bis 59). Zur Fotografie ist Müller als Student der Berliner Kunsthochschule gekommen: Er skizzierte Konrad Adenauer, weil ihn, wie er sagt, „dieses verwitterte Gesicht faszinierte“. 1965 suchte er Adenauer erstmals mit der Kamera auf. Seitdem hat Müller alle deutschen Kanzler porträtiert, auch Angela Merkel hat ihm bereits zugesagt.
Gebunden | 320 Seiten mit Abb. € 19,95 (D) ISBN 978-3-421-04398-6
Müller, Adenauer-Skizze
Als Buchautor hat sich SPIEGEL-Redakteur Norbert F. Pötzl mit zwei Per-
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die beiden ehemaligen Bündnispartner USA und UdSSR in eine erbitterte Konfrontation der Gesellschaftssysteme. SPIEGEL-Redakteure und renommierte Historiker schildern anschaulich, wie sich die zeitweilig hochgefährliche Auseinandersetzung der beiden Machtblöcke entspann, die bis zum Fall der Berliner Mauer die gesamte Welt in Atem hielt.
sönlichkeiten, die er in diesem Heft beschreibt, intensiv beschäftigt. Über den ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, den er auf dessen letzter Reise 1993 ins chilenische Exil begleitete, hat Pötzl 2002 eine Biografie veröffentlicht. Das Wirken des einstigen DDR-Anwalts und innerdeutschen Unterhändlers Wolfgang Vogel schilderte er in dem 1997 erschienenen Buch „Basar der Spione“; dessen Präsentation fand an der Glienicker Brücke statt, wo mit Vogels Hilfe dreimal im Kalten Krieg Ost- gegen Westagenten ausgetauscht wurden (Seiten 84 und 138). Erhältlich im Buchhandel und bei www.spiegel.de/shop
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IN DIESEM HEFT
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VEREHRUNG Kein anderer Kanzler wurde so gemocht wie Willy Brandt.
WIRTSCHAFTSWUNDER Schnell wuchs nach dem Krieg der Wohlstand.
DAS ERBE DER GRÜNDER
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Die goldene Chance Anfangs ließen sich die Westdeutschen nur widerwillig auf die Staatsgründung ein
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Chronik Sechzig deutsche Jahre Die Republik mit dem Hammer Als die DDR im Oktober 1949 gegründet wurde, hatte die Demokratie keine Chance
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„Die Leute verstanden wenig und jubelten“ Gespräch mit dem früheren Fernsehmoderator Friedrich Nowottny über die Bonner Republik
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Seitenblick: Das Deutschland-Memory UMFRAGE
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60 Jahre, 60 Köpfe Wer war wichtig für die Deutschen? Eine Rangliste
Gesichter des Bösen Der Auschwitz-Prozess führte den Deutschen die NS-Verbrechen wieder vor Augen
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Glück des Neuanfangs
Helmut Kohl Die Autorin Thea Dorn über ihr Bild vom Kanzler der Einheit
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Konrad Adenauer Interview mit der
Ist das Grundgesetz noch zeitgemäß?
Kanzler-Vertrauten Anneliese Poppinga
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Dompteure der Macht
Helmut Schmidt Interview mit dem ehemaligen Regierungssprecher Klaus Bölling
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Willy Brandt Eine Porträtskizze des
Die Kanzler haben das Land geprägt, auch wenn ihre Befugnisse eng begrenzt sind
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KANZLER UND KOALITIONEN
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Eine klitzekleine Utopie Mit den Grünen erreichte der außerparlamentarische Protest 1983 den Bundestag
Biografen Peter Merseburger
Erich Honecker Der starke Mann der DDR Franz Beckenbauer SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweit über den Fußball-Kaiser
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Kati Witt West-östliche Diva Steffi Graf Königin des deutschen Tennis
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DPA (L.); A. HENNIG/PICTURE-ALLIANCE/DPA (O.); G. PFEIFFER/SÜDDEUTSCHER VERLAG (U.)
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STERNSTUNDE Vor sechzig Jahren unterzeichnete Konrad Adenauer das Grundgesetz.
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DER ANFANG VOM ENDE DER DDR Die Deutsche Demokratische Republik war nie mehr als ein sowjetisches Protektorat. An diesem Geburtsfehler ging sie zugrunde.
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Udo Lindenberg Rocklegende mit Hut Alice Schwarzer Die Feministin und der
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Günter Grass / Marcel Reich-Ranicki
Generationenkonflikt
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Süchtig nach Wachstum
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„Moralische Nötigung“
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Der Grenzgänger
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Wer zu spät kommt, darf regieren
Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sind seit langem populär 106
H.-G. GAUL/ACTION PRESS
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Aufstieg aus der Baracke Die Karriere des Krupp-Generalbevollmächtigten Berthold Beitz
Das Bonner Projekt Kanzler Adenauer sorgte für eine verlässliche Westbindung der Bundesrepublik
Die Dauerfehde zwischen dem Nobelpreisträger und dem Kritikerpapst WIRTSCHAFT
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AUSSENANSICHTEN
Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer über die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg und die politischen Folgen Im Kalten Krieg war der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel ein einzigartiger Vermittler zwischen Ost und West Essay von Franz Walter über Zeitverzögerung als Merkmal der deutschen Politik
„Geschlossene Gesellschaft“ Auch im Wohlfahrtsstaat wächst die Kluft zwischen Arm und Reich
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„Süßes für die Polizei“
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„Er sitzt und kommandiert“
Gespräch mit der Berliner Anwältin Seyran Ate¸s und deren Eltern über ihr Leben als „Gastarbeiterfamilie“ in Berlin Die Historikerin Ute Frevert über Frauenrechte
Titelbild: Schaulustige während der Berliner Luftbrücke. Ausflüglerin mit Goggomobil. AntiAtom-Protest. FDJ-Aufmarsch mit einem Porträt von Walter Ulbricht. Schauspielerin Romy Schneider. Reichstagsgebäude. Bundeskanzler Konrad Adenauer. Fotos: BPK (2), Corbis, DPA, AKG, ARGUS, TV-Yesterday
3 Hausmitteilung | 144 Schauplätze | 144 Buchempfehlungen | 146 Vorschau | 146 Impressum
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DAS ERBE DER GRÜNDER
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Zwischen Trümmern und Ruinen geht das Leben weiter. Die neuen Herren sitzen in Washington und Moskau, in wenigen Jahren beginnt der Kalte Krieg, der das Land mitten entzweireißt. BERLIN IM JULI 1945 Von US-Soldaten bewacht, werden Schwarzhändler auf einem amerikanischen Armee-Lastwagen abtransportiert.
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Die Anzahl der kriegsgefangenen Wehrmachtsoldaten geht in die Millionen. Der Wiederaufbau daheim ist zu einem großen Teil Sache der Frauen. FRANKREICH 1944, BERLIN 1948 US-Militärs bewachen deutsche Rekruten in der Normandie. Sogenannte Trümmerfrauen räumen den Schutt von einem Fabrikgelände.
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SEITE 7: CORBIS; SEITE 8: FRANK SCHERSCHEL / TIME & LIFE PICTURES / GETTY IMAGES (L.); CORBIS (R.)
DAS ERBE DER GRÜNDER
Die Amerikaner haben bald ein starkes Interesse daran, dass der besiegte Feind wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Die Startbedingungen der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, sind ungleich schwieriger. GELDTRANSPORT 1948, STRASSENHÄNDLER 1945 US-Militärpolizei überwacht die Anlieferung der neuen Deutschen Mark. Vor der Währungsreform leben viele Menschen vom Tauschhandel.
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DPA / ULLSTEIN BILD (L.); PRESSEBILDERDIENST KINDERMANN (R.)
KAPITEL I
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Die goldene
CHANCE
Vor 60 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft – die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Nur widerwillig und von den Amerikanern angetrieben, hatten sich die Westdeutschen auf ihre Staatsgründung eingelassen. Bis zuletzt stand das Vorhaben auf der Kippe.
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Treffen britischer und sowjetischer Truppen in Berlin 1945
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Von KLAUS WIEGREFE
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er Vier-Sterne-General mit dem akkuraten Scheitel und dem Siegelring an der linken Hand ist ein Gentleman des amerikanischen Südens. Mit leiser Stimme, höflich, ein Mann mit Haltung und Übersicht, selbst in größter Bedrängnis. Seit er 1944 im westfranzösischen Cherbourg, dem Nachschubhafen der Amerikaner, in nur wenigen Tagen das Chaos beseitigte, das die alliierte Invasion gegen Hitler zu stoppen drohte, geht dem Logistikexperten der Ruf voraus, er könne alles managen, die USArmee ebenso wie General Motors oder U. S. Steel. Doch was Lucius Dubignon Clay aus Georgia, Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands, in diesen Julitagen 1948 erlebt, bringt selbst ihn aus der Fassung. Da bieten die USA, Großbritannien und Frankreich – Sieger des Zweiten Weltkriegs – den Ministerpräsidenten von knapp
macht will den Deutschen Vollmachten geben, und die Deutschen erklären, diese Vollmachten gar nicht in Anspruch nehmen zu wollen“. Als der General am 14. Juli im ehemaligen I.-G.-Farben-Gebäude in Frankfurt am Main, damals Hauptquartier der USStreitkräfte, die Länderchefs seiner Zone empfängt – Hans Ehard (CSU) aus Bayern, Wilhelm Kaisen (SPD) aus Bremen, Christian Stock (SPD) aus Hessen, Reinhold Maier (FDP/DVP) aus Württemberg-Baden –, ist die Atmosphäre frostig. Wochenlang habe er bei den britischen und insbesondere französischen Verbündeten auf einen Weststaat gedrängt, erklärt Clay den Gästen mit schneidender Stimme. Nun sei er „sehr enttäuscht“; die Deutschen würden eine „goldene Chance“ verpassen. Und damit auch niemand vergisst, wer hier das Sagen hat, erinnert er an die weltpolitische Lage: „Sie haben mit Ihren Entschlüssen Ihre wirklichen Helfer und Freunde, die Amerikaner, brüskiert.“ O-Ton Clay: „Wenn wir im Westen nicht hier wären, wären Sie längst russisch.“
Die Chefs der elf Länder verlangen nur eine „einheitliche Verwaltung“. 50 Millionen Deutschen die Gründung eines neuen Staates an, und die Politiker verweigern sich. Drei Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reichs“ sind Kartoffeln und Zucker immer noch rationiert, in Schleswig-Holstein lebt fast die Hälfte der Bevölkerung in Barackenlagern und anderen provisorischen Unterkünften. Deutsche dürfen nicht ins Ausland reisen. Und dennoch lehnen die Chefs der elf Länder einen neuen Staat ab. Keine Verfassung, keine Hauptstadt, keine Regierung. Stattdessen verlangen sie nur eine „einheitliche Verwaltung“ der drei Besatzungszonen. Die Ministerpräsidenten fürchten nämlich alles, „was geeignet sein könnte, die Spaltung zwischen West und Ost weiter zu vertiefen“. Denn Deutschland ist im Sommer 1948 geteilt. Im Osten etablieren die Sowjets in ihrer Zone mit Hilfe deutscher Genossen die SED-Diktatur, diesseits des Eisernen Vorhangs treiben die Amerikaner und ihre Verbündeten die Gründung eines Weststaats voran. Ein „sonderbarer Zustand“, schimpft Clay, „ich als Vertreter einer Sieger-
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Clays Strafpredigt ist vermutlich die erfolgreichste Ruckrede der deutschen Geschichte. In der Woche darauf einigen sich die Ministerpräsidenten im Jagdschloss Niederwald bei Rüdesheim ruck, zuck auf eine Kurskorrektur. Es gebe zwar zwei Optionen, stellt nun der wendige Maier fest: einen neuen Staat zu gründen oder „ohne eigene Rechte dahin(zu)vegetieren“. Doch Letzteres sei „im Grunde gar nicht mehr möglich“. Wenige Wochen später wählt jedes Landesparlament Mitglieder für den sogenannten Parlamentarischen Rat, der die von den Alliierten angemahnte Verfassung ausarbeiten soll. Am 1. September beginnen die 70 Abgeordneten in Bonn ihre Beratungen, die sich über neun Monate hinziehen. Das Grundgesetz tritt in der Nacht zum 24. Mai 1949 um 0 Uhr in Kraft – und seitdem gibt es die Bundesrepublik Deutschland. Deren Gründung liegt im kommenden Mai 60 Jahre zurück, und es herrscht heute allseits Einigkeit, dass es der beste Staat ist, den Deutsche je zustande gebracht haben.
Aus dem verwüsteten Land, in dem fast jeder Sechste durch Krieg, Holocaust, Vertreibung umgekommen war und in dem beinamputierte Kriegsversehrte mit abgenähten Hosen durch Ruinenlandschaften irrten, ist eine angesehene Mittelmacht mit blühenden Landschaften geworden: demokratisch, liberal, wohlhabend.
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SEITE 13: CORBIS; SEITE 15: AP
Mit 53 gegen 12 Stimmen nimmt der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 das Grundgesetz an. Die Befürworter applaudieren stehend, Ort der Versammlung ist die Pädagogische Akademie in Bonn.
Niemand wirft den Deutschen mehr vor, nach einem Weltimperium zu streben wie einst unter Adolf Hitler. Inzwischen fürchten die Sieger von ehedem vielmehr Deutschlands Friedfertigkeit, denn wann immer der Ruf nach einem Kampfeinsatz von Bundeswehrsoldaten laut wird, stößt der in Berlin zunächst einmal auf Skepsis.
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Die Distanz zur braunen Diktatur könnte kaum größer sein. Ein deutsches Gefängnis, in dem gefoltert wird, wie es die Amerikaner in Guantanamo unterhalten? Undenkbar. Putschgefahr durch rechte Militärs wie in Frankreich 1958, als Offiziere während des Algerien-Kriegs nach der Macht greifen wollten? Ausgeschlossen. Selbst auf
dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus 1977 blieb die damalige Bundesregierung den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit treu. Kein Wunder, dass angesichts einer solchen Bilanz ein Datum wie der 60. Geburtstag nun ausgiebig gefeiert werden soll – mit einem großen Festakt in Berlin, bei dem voraussichtlich Bun-
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despräsident Horst Köhler auftritt, mit Sondersitzungen von Bundestag und Bundeskabinett, mit einem „Tag der deutschen Vielfalt“ der Länder, mit Vorträgen und Ringvorlesungen in Karlsruhe, Wuppertal, Berlin und anderswo. Der Anteil der Alliierten wird dabei allerdings eher im Hintergrund stehen, und das hat Tradition. Schon der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, erklärte in der Eröffnungssitzung, man sei in den anstehenden Entscheidungen „völlig frei und völlig selbständig“ gegenüber den Alliierten, und diese Version deutscher Unabhängigkeit fand bald Verbreitung. Den Westdeutschen wurde es dadurch vermutlich erleichtert, den neuen Staat als eigenen anzunehmen, worin man eine List der Vernunft sehen kann.
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Wenn fortan von Wirtschaftswunder und Demokratisierung die Rede war, meinte man vor allem sich selbst, und mancher vergaß darüber, wem die Deutschen nach dem Scheitern der Weimarer Republik ihre „zweite Chance“ (Fritz Stern), eine Demokratie zu etablieren, verdankten.
Die Dokumente von Siegern wie Besiegten erzählen nämlich eine andere Geschichte. Es waren vor allem der Amerikaner Clay und seine Militärregierung, die den politischen Wiederaufbau vom Herbst 1945 an vorantrieben, oft gegen den Widerstand deutscher Politiker. Die USA gaben dabei einen engen Korridor vor, in dem sich die Gründerväter bewegen durften, zunächst in den Ländern ihrer Zone, dann in ganz Westdeutschland. Grundrechte, parlamenta-
rische Demokratie, Bundesstaat, Marktwirtschaft – ohne Washingtons Einfluss würde die heute vielbewunderte Bundesrepublik anders aussehen, wenn es sie denn überhaupt gäbe. In Bayern, Hessen und WürttembergBaden wollten Landespolitiker die Planwirtschaft einführen, was die Amerikaner so lange blockierten, bis der rheinische Kapitalismus erste Erfolge zeigte und die Westdeutschen von den Vorzügen des freien Markts überzeugte. Später rühmten sich Clay und seine Mitarbeiter ihrer „freundlichen Überzeugungsarbeit“; darauf allein verließen sich Amerikaner und Briten allerdings nicht. Zwar sind die entsprechenden Papiere immer noch größtenteils gesperrt, aber auch so ist erwiesen: Zumindest Adenauer wurde abgehört, andere Mitglieder des Parlamentari-
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ARCHIV PROVAN
Eine amerikanische Frachtmaschine vom Typ C-54 wird in Frankfurt am Main mit Baustoffen beladen. Die Luftbrücke nach West-Berlin existiert von Juni 1948 bis Mai 1949.
US-Militärgouverneur Lucius D. Clay
CORBIS
schen Rates wurden bespitzelt. Von Sympathie für die Besiegten ließ sich die Supermacht, deren Truppen im Frühjahr 1945 die Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald befreit hatten, nicht leiten. „Wir werden den Deutschen klarmachen, dass sie die Leiden über sich und die ganze Welt durch ihre eigenen Taten gebracht haben“, erklärte Clay im Juni 1945. Doch dann führte eine Abfolge von zunächst pragmatisch bestimmten Entscheidungen zum Wiederaufbau im Westen. „Ist es für uns von Nutzen?“ – diese Frage habe man sich immer zuerst gestellt, berichtete später freimütig Hans
Simons, höchster US-Verbindungsmann zum Parlamentarischen Rat. Und von Nutzen war es, die Kosten für die teure Besatzungszone zu senken, indem man den Deutschen wieder auf die Beine half. Von Nutzen war es, Kreml-Diktator Josef Stalin den Zugang nach Westeuropa zu verstellen, indem man die Bundesrepublik gründete. Von Nutzen war es, den alten Kontinent aufzubauen, was ohne die Deutschen nicht ging. Deren Interessen nahmen indes stets „den untersten Rang ein“, wie der Marburger Historiker Wolfgang Krieger urteilt.
Dafür ist es allerdings verdammt gut gelaufen. Mit zunächst rund drei Millionen Soldaten hatten Russland, die USA, Frankreich und Großbritannien das geschlagene „Dritte Reich“ 1945 besetzt, jede Besatzungsmacht hatte in ihrer Zone eine Militärverwaltung etabliert. Dort standen dann 12 000 Amerikaner, 25 000 Briten, 11 000 Franzosen und 60 000 Sowjets im Sold. Zu ihrer Überraschung trafen die Amerikaner auf eine demoralisierte Bevölkerung; nicht brauner Widerstand, sondern das Elend der Besiegten wurde rasch zum Hauptproblem. Der Bombenkrieg hatte 3,6 Millionen Wohnungen zerstört, und in dem, was übrig geblieben war, drängten sich nicht nur die Ausgebombten, sondern auch Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten.
Schon wenige Monate nach der Kapitulation begann für viele ein Überlebenskampf. „Heizmaterial kommt nicht zur Verteilung. Die meisten Menschen laufen mit geschwollenen Fingern und offenen Wunden umher“, notierte im November 1945 der Hamburger Schriftsteller Hans Erich Nossack. In Leipzig starben 16 Prozent der Säuglinge vor dem ersten Geburtstag. Aus Berlin berichtete ein sowjetischer Funktionär, die Menschen würden Gras und Rinde essen. Dreimal am Tag Suppe aus der Feldküche – das solle den Deutschen genügen, hatte während des Kriegs der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt erklärt. Aber Hungertote und zerlumpte Kinder, die in Ruinen hausten? Menschen, die Hunde verzehrten? Erst verteilten die US-Militärs Milchpulver und Mehl aus eigenen Beständen, bald trafen tonnenweise Lieferungen für die Besiegten ein. Allein bis April 1946 importierten die Amerikaner für umgerechnet 578 Millionen Euro Lebensmittel in ihre Zone. Und das war nur der Anfang. Experten der US-Armee sahen das Desaster kommen, und der zuständige Kriegsminister versuchte bereits im Sommer 1945 die wirtschaftliche Verantwortung für das besetzte Deutschland an das Außenministerium weiter-
Das Elend der Besiegten wurde rasch zum Hauptproblem. Der Bombenkrieg hatte 3,6 Millionen Wohnungen zerstört. SPIEGEL GESCHICHTE
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Zum „Weltfriedenstag“ am 2. Oktober 1949 öffnen die Sowjets kurzfristig die Grenze zwischen Thüringen und Bayern. Zahlreiche Menschen nutzen die Gelegenheit zur Flucht.
zureichen. Doch Präsident Harry Truman entschied, die U. S. Army müsse die Lebensmittellieferungen in die Zone aus ihrem Haushalt zahlen – und traf damit eine der wichtigsten Entscheidungen für die Zukunft Deutschlands. Denn fortan zeigten seine Militärs großes Interesse daran, den Deutschen zu helfen: wirtschaftlich, um Kosten zu sparen. Politisch, weil nur dann eine Chance bestand, die Zone an das State Department abzustoßen, wenn es deutsche Verwaltungsstellen gab – deren Beaufsichtigung war ja eher eine zivile Aufgabe. Und da die Militärs darüber entschieden, ob Länder gegründet, wann Wahlen abgehalten und welche Parteien zugelassen wurden, trieben Clay und seine Berater die Dinge energisch voran. Am 19. September entstanden per Anordnung die ersten drei (Teil-)Bundesländer: Bayern, Groß-Hessen (später Hessen) und der Kunststaat Württemberg-Baden (1952 mit Württemberg-
Hohenzollern und Baden aus der französischen Zone zu Baden-Württemberg vereint). Das Spitzenpersonal, die Ministerpräsidenten, suchte Clay persönlich aus. Gelegentlich lud er die Männer zum Kaffee ein, hielt sonst aber Distanz. Bezeichnenderweise verfügten die Gebäude der US-Militärregierung über separate Toiletten – für Sieger und für Besiegte.
Die Macht der Amerikaner war allumfassend. Weil Bayerns Ministerpräsident, der CSU-Mitbegründer und spätere Bonner Finanzminister Fritz Schäffer, die Erwartungen nicht erfüllte, bestellten die US-Militärs am 28. September 1945 ihn und zwei seiner Minister ein. Der aus dem Schweizer Exil zurückgekehrte Wilhelm Hoegner (SPD), ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter, musste ebenfalls kommen. Ein Oberst empfing die Besucher hinter einem Schreibtisch, umgeben von
Offizieren mit Stahlhelm. Die Deutschen hatten sich im Halbkreis aufzustellen. Der Offizier machte es kurz: „Sie, Herr Fritz Schäffer, Ministerpräsident von Bayern, sind hiermit abgesetzt. Hier ist Ihr Brief.“ Dann wandte er sich an den Sozialdemokraten: „Sie, Dr. Wilhelm Hoegner, werden hiermit zum Ministerpräsidenten von Bayern ernannt. Hier ist Ihr Brief. Haben die Herren noch etwas zu sagen?“ Die Herren verneinten. Bei der Auswahl des Personals stützte sich Militärgouverneur Clay auf sogenannte Weiße Listen des US-Geheimdienstes, die eine erstaunliche Treffsicherheit aufwiesen. Sie enthielten die Namen von Deutschen, die aufgrund ihrer Vergangenheit als vertrauenswürdig galten, zumeist bürgerliche Honoratioren wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss und natürlich Adenauer, der in der britischen Zone lebte. Auch der Sozialdemokrat Hoegner fand sich darauf.
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Die Ministerpräsidenten suchte Clay persönlich aus. Gelegentlich lud er die Männer zum Kaffee ein. 2 | 2009
Alles Politiker, die im Kaiserreich aufgewachsen und bereits in der Weimarer Republik dabei gewesen waren. Der 61-jährige Heuss hatte wie der drei Jahre jüngere Hoegner im Reichstag gesessen. Adenauer, langjähriger Oberbürgermeister Kölns, war schon 1926 als Reichskanzlerkandidat gehandelt worden. Die Bundesrepublik und ihre Länder wurden von erfahrenen Männern (und einigen erfahrenen Frauen) gegründet. Die Überprüfung der Deutschen – Entnazifizierung genannt – fiel den Amerikanern dabei leichter als den Briten oder Sowjets, weil sie die Zentralkartei der NSDAP in einer Münchner Papierfabrik gefunden hatten. 870 000 Deutsche verloren in den Westzonen vorübergehend ihre Stellung; 230 000 wurden interniert, teilweise für mehrere Jahre. In den Nürnberger Prozessen mussten sich 200 Spitzenfunktionäre, Generäle, Ärzte und andere verantworten. Allgemein gilt die Entnazifizierung als gescheitert. Zwar sollten viele besonders üble Täter später vor Gericht gestellt werden; da aber mit dem Beginn des Kalten Kriegs der Verfolgungseifer erlosch, gingen sie straffrei aus. Einen Effekt hatten die Verfahren dennoch: Die meisten Altnazis hielten sich zurück, denn die Alliierten ließen keinen Zweifel daran, dass sie einen Griff nach der Macht nicht dulden würden. Selbst nach Gründung der Bundesrepublik intervenierten sie noch und verhafteten 1953 einige ehemalige NS-Funktionäre, die den FDP-Landesverband von Nordrhein-Westfalen zu übernehmen drohten. Ohne diesen alliierten Schutz hätten es die Demokraten der ersten Stunde vermutlich äußerst schwer gehabt. Im April 1946 erklärte in einer Meinungsumfrage über die Hälfte der Interviewten, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee – nur schlecht ausgeführt. Und nicht nur Hermann Brill, Chef der hessischen Staatskanzlei, vermutete, die stärkste Partei in Deutschland sei die „nichtorganisierte Partei der Nazis“. Der Blick auf diese stille Mehrheit ließ Ministerpräsidenten und andere Landespolitiker zögern, als Clay Ende 1945 Kommunalwahlen anordnete und die Ausarbeitung von Länderverfassungen verlangte. Das deutsche Volk befinde sich doch noch „in tiefer Betäubung“, suchte Hoegner zu bremsen. Vergebens. Allerdings baute Clay eine Reihe von Sicherungen ein. So waren ehemalige Nazis vom Wahlrecht ausgeschlossen;
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rechtsextreme Parteien wurden gar nicht erst zugelassen. Und allein in Bayern berichteten einige tausend gutbezahlte German Investigators, zu Deutsch Spitzel, aus dem politischen Innenleben des Landes. In seinen Erinnerungen schreibt Clay, nie sei er „so gespannt gewesen, die Wahlbeteiligung zu erfahren“, wie bei den Kommunalwahlen in der US-Zone. Angehörige seines Stabs fuhren über die Dörfer, um sich ein Bild zu machen. Gegen Mittag gaben sie Entwarnung: Überall warteten lange Schlangen vor den Wahllokalen. Die Beteiligung betrug gut 85 Prozent.
1945
BESATZUNGSZONEN bezogen auf das heutige Bundesgebiet
beunruhigten. Clay fürchtete, das Parlament könne die Amerikaner ganz zum Rückzug aus Europa zwingen – so wie der Senat das Engagement der USA auf dem alten Kontinent nach dem Ersten Weltkrieg beendet hatte. Eine deutsche Verwaltung schuf da Entlastung, denn sie ermöglichte Clay, einen Teil seiner Leute nach Hause zu schicken: „Je schlanker der Apparat, desto eher bekommen wir Unterstützung.“
Nicht der Kalte Krieg, sondern zunächst die Kosten der Besatzung führten zur politischen Wiedergeburt der Westdeutschen.
1947
LÄNDER mit Gründungsdaten
SCHLESWIG-HOLSTEIN Bizone alliierte 1946 übergeordnete Hauptquartiere Sitz des Alliier- Verwaltungsstellen MECKLENBURG* HAMBURG ten Kontrollrats 1947 1946 BREMEN BERLIN 1947 BRANDENBURG* NIEDERSACHSEN 1947 1946 Bad BERLIN Minden Oeynhausen Bielefeld SACHSENKarlsNORDRHEINANHALT* horst WESTFALEN 1947 1946 SACHSEN* HESSEN Bonn 1947 THÜRINGEN* 1945 Frankfurt 1946 Bad Homburg RHEINLAND*Diese fünf Länder BadenPFALZ wurden 1952 in Frankfurt der DDR durch Baden 1947 14 Bezirke ersetzt. SAARLAND WÜRTTEMBERGteilautonom, BADEN 1945 Und auch sonst gefiel, ab 1957 zur BAYERN Bundesrepublik Stuttgart 1945 wie Hitlers Deutsche bei Württemberg-Baden, WÜRTTEMBERGden ersten Urnengängen Baden und Württemin den Westzonen ab- berg-Hohenzollern BADEN HOHENZOLLERN fusionierten 1952 zu Quelle: Atlas 1947 stimmten: durchschnitt- Baden-Württemberg. 1947 Sonderstatus zur deutschen Kreis Lindau, Zeitgeschichte, lich jeweils gut 35 Prozent ab 1955 zu Bayern Ploetz für SPD und CDU/CSU; die KPD sowie die liberalen Parteien, Gegenüber der Staatsmaschinerie, die die sich 1948 zur FDP zusammen- nun langsam Tempo aufnahm, blieben schlossen, erhielten ungefähr 9 Prozent. die Parteien allerdings zurück – sie wurDie USA waren nicht die einzige Be- den zurückgehalten. Die SPD etwa, die satzungsmacht, die Länder aufbaute, an die Zeit vor 1933 anknüpfen konnte. aber sie übertrugen im Gegensatz zu Bri- Kurt Schumacher, der angehende Parten und Sowjets diesen umfassende Be- teichef, residierte in einem dunklen, verfugnisse. Der föderalistische Gedanke gitterten Büro in der Jakobstraße 10 in war (und ist) in Clays Heimat, den Süd- Hannover. Schumacher war ein Charisstaaten der USA, stark verankert. Sein matiker, der sich auch während seiner Vater vertrat lange Jahre den Staat KZ-Haft den Nazis nie gebeugt hatte. Georgia im US-Senat, kein Wunder, dass Im Ersten Weltkrieg hatte er einen Arm der General viel von einer bundesstaat- verloren, bald musste ihm ein Bein amlichen Ordnung hielt. putiert werden. Als Symbolfigur für das Davon abgesehen saß ihm der Kon- gute Deutschland erhob der Mann mit gress im Nacken, den die Kosten der Mi- dem ausgezehrten Gesicht und den litärverwaltung im fernen Deutschland leuchtenden Augen den Anspruch, die amerikanisch britisch sowjetisch französisch
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Nation zu führen. Doch die Briten erteilten ihm zum Jahresende 1945 lediglich eine Zulassung für den SPD-Stadtkreis Hannover. Ähnlich schleppend startete das bürgerliche Lager. Ehemalige Zentrumspolitiker wie Adenauer, Jakob Kaiser oder Karl Arnold sahen in der konfessionellen Spaltung eine der Ursachen für das Scheitern von Weimar. Zwei überkonfessionelle Volksparteien entstanden aus dieser Überlegung: die CDU und in Bayern die CSU. Es dauerte freilich Jahre, ehe Adenauer, Chef der CDU in der britischen Zone, die vielen Strömungen in seiner Partei zusammenzuführen vermochte. Manche Betrachter haben später aus dem Tempo, das Clay vorlegte, auf einen Masterplan der USA geschlossen, um Deutschland zu teilen und sich Westeuropa als Absatzmarkt für die boomende US-Wirtschaft zu sichern. Weit gefehlt. Es wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn Stalin die Absprache mit den Angloamerikanern von 1945 eingehalten hätte, der zufolge die Russen Lebensmittel in die Westzonen liefern und im Gegenzug von dort demontierte Industrieanlagen erhalten sollten. Schließlich verfügten die Sowjets über die ehemaligen Kornkammern des Reichs in Ostdeutschland.
Aber der Kreml-Diktator verweigerte die Zusammenarbeit, wie Clay verärgert registrierte: „Die Sowjetzone ist wirtschaftlich unabhängig. Die Westzonen sind es nicht, und die Existenz künstlicher Grenzen und Beschränkungen hat die wirtschaftliche Gesundung derart verlangsamt, dass jetzt der völlige wirtschaftliche Zusammenbruch droht.“ Etwas musste also geschehen, zumal die Briten, die ihrerseits Lebensmittel nach Deutschland importierten, mittlerweile den finanziellen Kollaps befürchten mussten. In US-Außenminister James Byrnes fand Clay schließlich einen mächtigen Verbündeten. Am 5. September 1946 landete der Chefdiplomat in Berlin und bestieg noch am selben Abend den bequemen, schwergepanzerten Sonderzug, der aus Hitlers Beständen stammte und ihn über Nacht nach Stuttgart brachte. Truppen hatten dort die Straßen zum Opernhaus abgesperrt; dahinter drängten sich erwartungsvoll Tausende Deutsche. Nur einige wenige durften Byrnes’ Rede in dem Musikhaus selbst verfolgen. Es war ein historischer Auftritt. 20
Denn Byrnes verkündete die frohe Botschaft, Washington wünsche, „dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben“. Die sogenannte Hoffnungsrede war anderthalb Jahre nach der totalen Niederlage das Signal an die Welt, dass der Wiederaufbau Vorrang haben müsse – notfalls auch vor der Gemeinsamkeit der Siegermächte. Wenige Wochen später schlossen sich die angloamerikanischen Zonen zur sogenannten Bizone zusammen. Widerstand von deutscher Seite ist nicht überliefert, obwohl er angebracht gewesen wäre. Denn das „Vereinigte Wirtschaftsgebiet“ mit fast 40 Millionen Einwohnern erwies sich als bürokratisches Ungetüm, mit einer Verwaltung, die über Minden (Wirtschaft), Bad
Westdeutsche Volksparteien
800
Mitglieder, in tausend
SPD 600
Quellen: Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Parteiangaben
CDU
400
KPD
1956 verboten
200
CSU
FDP*
*keine früheren Angaben vorhanden
1945
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48
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50
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Homburg (Finanzen), Frankfurt am Main (Post und Fernmeldewesen), Bielefeld (Verkehr) und Stuttgart (Ernährung und Landwirtschaft) zerstreut lag. Als 1947 ein Jahrhundertwinter hereinbrach, zeigte sich die Bizonenverwaltung völlig überfordert. „5 Grad minus ist die normale Temperatur in den Wohnungen. Und keine Kohlen! Und zwei Stunden am Tag elektrischer Strom! Und die Menschen halb verhungert und ausgemergelt“, so steht es in einem Brief aus Hamburg an einen Emigranten in New York. Im Rückblick gewinnt die Bizone ihre Bedeutung paradoxerweise vor allem daraus, dass sie die Probleme nicht zu bewältigen vermochte. Wer weiß, viel-
leicht hätte sie andernfalls als Provisorium noch viele Jahre bestanden. So aber folgte Reform auf Reform, und schließlich wurde die Bizone durch die Bundesrepublik ersetzt. Man schrieb das Jahr 1948, und in Washington wuchs die Angst, aus dem zerstörten Europa könne – wie zu Zeiten Hitlers – Gefahr für Amerika erwachsen. Stalin hatte nämlich begonnen, den Ostteil des alten Kontinents seinem Machtbereich einzugliedern. Die Sorge lag nahe, der Kreml-Diktator könne das Nachkriegschaos zwischen Atlantik und Elbe nutzen, um auch den Westteil unter seine Kontrolle zu bringen. Das beste Gegenmittel schien massive Wirtschaftshilfe zu sein. Bereits am 5. Juni 1947 hatte der neue US-Außenminister George Marshall sein legendäres Programm verkündet. Und weil ein Wiederaufbau Europas die deutsche Volkswirtschaft erforderte, wurden die Westzonen einbezogen. Danach ging es Schlag auf Schlag: Eine Währungsreform war nötig, um die Hilfsgelder sinnvoll einzusetzen, denn Hitler hatte den Krieg mit Anleihen und Schuldverschreibungen für 390 Milliarden Mark finanziert. Statt mit wertlosen Reichsmarkscheinen bezahlten die Deutschen lieber mit Lucky Strike. Die Amerikaner starteten daher die höchst geheime Operation „Bird Dog“ und druckten im Herbst 1947 in New York und Washington Geldscheine mit der Aufschrift „Deutsche Mark“; am 20. Juni 1948 hielten die Westdeutschen die neue Währung erstmals in den Händen. Die Umstellungskurse wurden so gewählt, dass sie 80 Prozent des westdeutschen Geldvermögens vernichteten, mit der Folge, dass sich für die D-Mark etwas kaufen ließ. Noch am Tag der Währungsreform füllten sich die Auslagen, denn Schwarzhandel lohnte sich nun nicht mehr. Im Sommer 1948 gab es also eine Währung, doch fehlte der dazugehörige Staat. Amerikaner und Briten mussten zunächst Frankreich die Sorge nehmen, der östliche Nachbar könne erneut zu einer bedrohlichen nationalen Größe zurückfinden. Wirtschaftshilfe und die Aussicht auf ein dauerhaftes Engagement der USA in Europa stützten die Bemühungen. Zum 1. Juli bestellten Clay und die beiden anderen westlichen Militärgouverneure die Ministerpräsidenten ihrer Zonen ein. Die fünf Sozialdemokraten, fünf Unionsvertreter und der eine Libe-
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Vertriebenenfamilie in Düsseldorf 1949
rale erhielten den Auftrag, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die eine „angemessene Zentralinstanz“ auf den Weg bringen sollte.
ERNST GROSSAR / BPK
In Washington hing der US-Militärregierung zu diesem Zeitpunkt längst der Ruf an, Fürsprecher der Deutschen zu sein. Aus den heute zugänglichen Aufzeichnungen, Briefen, Akten geht indessen hervor, wie anstrengend der General und seine Leute die deutschen Ministerpräsidenten und Parteichefs fanden. Denen gehe „jede politische Vorstellungskraft“ ab, sie seien „ängstlich“ und „provinziell“, klagte im Juli 1948 US-Verbindungsmann Simons. Simons stand unter dem Eindruck der teilweise scharfen Kritik, welche die Ministerpräsidenten, aber auch Adenauer und Schumacher an einer Weststaatsgründung geübt hatten. Einige
bemängelten, dass sich die Alliierten diverse Rechte vorbehielten, andere störte, dass die geplante Republik mit einer internationalen Kontrolle des Ruhrgebiets verbunden war (woraus später die Montanunion hervorging). Wohl alle fürchteten um die deutsche Einheit, denn die Sowjetzone blieb ganz außen vor. Man wolle sich auf keinen Fall zum „Erfüllungsgehilfen fremder Staaten (machen), die vielleicht ein Interesse daran hatten, Deutschland in zwei Teile zu spalten“, so Carlo Schmid (SPD), stellvertretender Regierungschef von Württemberg-Hohenzollern und im Parlamentarischen Rat der große Gegenspieler Adenauers. Dieser rief sogar zunächst dazu auf, die Mitarbeit zu verweigern, um „wenigstens (die) Ehre vor der Nachwelt zu retten“. In dieser Situation erwies sich der Kalte Krieg als Katalysator, der gar
nicht überschätzt werden kann, denn Stalin suchte die sich anbahnende Staatsgründung zu sabotieren und verhängte eine Blockade über West-Berlin. Die einstige Reichshauptstadt, aufgeteilt in vier alliierte Sektoren, befand sich im sowjetisch beherrschten Teil des alten Deutschlands, und Moskau schnürte die Verkehrsadern Richtung Westen ab. Die West-Berliner waren auf eine Luftbrücke der Alliierten angewiesen. Das Druckpotential der Angloamerikaner gegenüber den Westdeutschen wuchs infolgedessen enorm an. Sollten die Ministerpräsidenten bei ihrer ablehnenden Haltung bleiben, „würde sich (das) negativ auf die Bereitschaft, Berlin zu halten, auswirken“, drohten Mitarbeiter Clays. Allerdings bestanden die Ministerpräsidenten darauf, dem neuen Staat
Stalin suchte die sich anbahnende Staatsgründung zu sabotieren und verhängte eine Blockade über West-Berlin. SPIEGEL GESCHICHTE
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DAS ERBE DER GRÜNDER
den Charakter eines Provisoriums zu verleihen. Von einem „Zweckverband administrativer Qualität“ war die Rede (Schmid). Und vermutlich glaubten viele wirklich, die Bundesrepublik werde keine zehn Jahre bestehen, wie sie immer wieder betonten. So ist auch zu erklären, warum die Verfassung den Namen „Grundgesetz“ trägt – es klingt nicht so endgültig. Der Begriff sei in den Beratungen „wie vom Himmel gefallen“, erinnerte sich später Ministerpräsident Maier, er „bemächtigte sich unserer Köpfe und Sinne, gewiss nicht der Herzen“. Und die verfassunggebende Versammlung? Sie erhielt den Titel Parlamentarischer Rat – unprätentiöser kann ein Staat kaum beginnen. Die Konstituante, die keine sein wollte, tagte in der Pädagogischen Akademie in Bonn. Die Arbeitsbedingungen schienen den Widerwillen gegen diesen Neubeginn zu dokumentieren. Die 70 Abgeordneten mussten sich eine Handvoll Mitarbeiter teilen. Für ihre Arbeit erhielten die Parlamentarier 350 Mark im Monat, viele mussten damit zwei Wohnsitze und auch ihr Sekretariat finanzieren, was kaum möglich war. Immer wieder sammelten sich Volksvertreter vor Raum 84, dem Büro des Korrespondenten vom Nordwestdeutschen Rundfunk, weil dieser für Interviews anständig zahlte. Elf Wachtmeister sowie ein Polizeiobermeister sicherten das Gebäude, und sie hatten wenig zu tun, denn die Deutschen interessierten sich nicht besonders dafür, was die Parlamentarier trieben. Immerhin konnten die Einwohner Bonns ihre Vorratskammern füllen, indem sie einen Abgeordneten als Untermieter aufnahmen. Dann gab es 600 Gramm Seifenpulver, 150 Gramm Waschzusatzmittel und 90 Gramm Kaffee-Ersatz extra. Über die Gründungsväter und -mütter ist später viel gespottet worden. Es sei ein Seniorenkonvent (das Durchschnittsalter lag bei 55 Jahren), es fehle an Frauen (nur vier weibliche Abgeordnete), die Unterschichten seien nicht ausreichend vertreten (nur einige gelernte Arbeiter saßen im Rat, hingegen zu über 60 Prozent Beamte). Alles richtig, und doch zählten eindrucksvolle Persönlichkeiten dazu, wie Berlins Oberbürgermeister Ernst Reuter, einst Volkskommissar in Lenins Sowjetunion, dann zur SPD gewechselt und später Berater der türkischen Re-
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gierung in Wirtschaftsfragen. Oder Rudolf Katz, Justizminister in SchleswigHolstein. Er war vor den Nazis nach China geflohen und hatte dort im Auftrag des Völkerbundes die Regierung von Chiang Kai-shek beraten. „In keinem anderen westdeutschen Nachkriegsparlament versammelten sich so viele Gegner des Nationalsozialismus“, schreibt der Publizist Christian Bommarius. Aus dem Parlamentarischen Rat kamen der erste Kanzler (Adenauer), der erste Bundespräsident (Heuss), der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts (Hermann Höpker-Aschoff ), 16 Landes- und 9 Bundesminister, dazu 37 Bundestagsabgeordnete. Die Parlamentarier wählten den 72jährigen Adenauer zum Präsidenten des Rates; der Kölner wusste das Amt für
Als eigentlicher Vater des Grundgesetzes erwies sich der Sozialdemokrat Carlo Schmid, ein glänzender Jurist. die Vorbereitung seiner weiteren Karriere meisterhaft zu nutzen. Als eigentlicher Vater des Grundgesetzes erwies sich hingegen der 51-jährige Carlo Schmid, ein glänzender Verfassungsjurist, Kind einer deutsch-französischen Familie, Mann von Welt und berühmt für seine Bonmots („Als ich jung war, glaubte ich, ein Politiker müsse intelligent sein. Heute weiß ich, dass Intelligenz wenigstens nicht schadet“). Die von ihm geprägte Verfassung stand unter dem Leitspruch „Nie wieder“: • Nie wieder sollte ein Präsident die Möglichkeit haben, Regierungschefs nach Belieben einzusetzen. So hatte Paul von Hindenburg 1933 Hitler ernannt, obwohl diesem der Rückhalt des Reichstags fehlte. Der Bundespräsident des Grundgesetzes übernimmt vor allem repräsentative Aufgaben. • Nie wieder sollte ein Parlament Grundrechte, Rechtsstaat, Demokratie abschaffen können, wie es der Reichstag unter dem Druck der Nazis 1933 getan
hatte. Im Grundgesetz sind sie durch eine Ewigkeitsklausel geschützt. • Nie wieder sollten Wähler die Möglichkeit haben, gegen die Demokratie zu stimmen, so wie 1932, als KPD und NSDAP mehr als die Hälfte der Stimmen erhielten. Laut Grundgesetz können verfassungsfeindliche Parteien verboten und Gegnern der Demokratie Grundrechte entzogen werden. Eine tiefe Skepsis gegenüber dem Souverän und seinen Vertretern prägte die Beratungen – eine verständliche Skepsis. Eine US-Umfrage ergab 1948, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung immer noch antisemitisch oder rassistisch dachte. „Stellen Sie sich einmal vor, die Besatzungsmacht sei nicht mehr da“, hielt Thomas Dehler, der starke Mann der Liberalen im Parlamentarischen Rat, den Kollegen entgegen, „wie wird diese Demokratie dann aussehen, wie jammervoll und schwach wird sie sein!“
Die Bundesrepublik wurde eine Demokratie, weil die Alliierten den Gründervätern den Raum dafür frei machten. Und manches, was heute am Grundgesetz gerühmt wird, hätte es ohne Order der Besatzungsmächte möglicherweise nicht gegeben. So fanden Teile der SPD, aber auch der CSU, ein Provisorium wie die angehende Bundesrepublik brauche keinen Grundrechtskatalog. Zum Glück setzten sie sich nicht durch. Die Angloamerikaner hatten gehofft, sie könnten vor allem mit Hilfe der Emigranten die Beratungen beeinflussen; gerade diese hielten sich allerdings zurück, um den Vorwurf der Illoyalität zu vermeiden. Und so griffen Briten und Amerikaner zu anderen Mitteln. Adenauers Telefon wurde abgehört; im Bundesarchiv findet sich etwa ein britischer Bericht, der ein Gespräch Adenauers mit dem Großbankier Robert Pferdmenges zum Inhalt hat. Brisant daran: Adenauer bat Pferdmenges, dafür zu sorgen, „dass die CSU nicht mehr Geld bekommt“. Die Schwesterparteien stritten damals über den Einfluss der Kirchen auf das Schulwesen und viele andere Fragen. Bei manchen Abgeordneten wurde die Post geöffnet, und es wurden Informationen aus dem Umfeld gesammelt; der US-Geheimdienst CIC legte über mindestens ein Dutzend der Parlamentarier Akten an. Nimmt man die bislang freigegebenen Unterlagen zum Maßstab, hätte sich der CIC diesen Aufwand
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SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO
Das Grundgesetz musste von den Alallerdings schenken können. Was die Department eingezogen, der die Politik Franzosen in dieser Hinsicht unternah- seines Vorgängers auf den Prüfstand liierten genehmigt werden. Nach nur stellte. Er „verstehe nicht, wie wir je zu wenigen Verhandlungsrunden zwischen men, ist bislang unbekannt. Die Alliierten unterhielten damals in der Entscheidung gekommen sind, eine den Alliierten und einer Delegation des Bonn Verbindungsbüros und suchten ihre westdeutsche Regierung oder einen Parlamentarischen Rates war die StimSchützlinge mit Speis und Trank zu kö- westdeutschen Staat einzurichten“, mung vergiftet. Es sei die Zeit gekomdern, wie Adenauer verärgert feststellte: schimpfte Acheson. Das müsse wohl men, erklärte schließlich US-Verbin„Was tun denn die Abgeordneten der ver- „das geistige Kind von General Clay dungsmann Simons, „wo man einmal schiedensten Parteien immer wieder bei sein“ und nicht eine Regierungsent- ganz deutlich reden“ müsse. Sie würden den Verbindungsstäben, wenn sie mor- scheidung. Ernsthaft sondierten seine immer wieder mit den gleichen Vorgens, mittags und abends dort ein- und Diplomaten Pläne für ein neutrales Ge- schlägen und Fragen kommen, und die Unterhändler der Verbinausgehen, essen, Cocktails trindungsstäbe hätten nicht mehr ken und Einladungen annehgenug Worte zur Verfügung, men? Sie sprechen doch über „um immer wieder das Gleinichts anderes als die Arbeiten che zu sagen und dabei nicht dieses Hauses.“ immer die nämlichen Worte Der zuständige britische zu wiederholen“. Verbindungsoffizier notierte, Insbesondere die SozialdeHeinrich von Brentano, spämokraten zeigten sich wenig ter Bonner Außenminister kompromissbereit; „vielleicht und CDU/CSU-Fraktionsvorwäre es am besten, wenn man sitzender im Bundestag, Thodie Sache in Bonn hochfliemas Dehler, später Justizmigen“ lasse, meinte Carlo nister und FDP-Vorsitzender, Schmid zu Simons. Dann könund auch Carlo Schmid, späne man „ja etwas abwarten“ ter Vizepräsident des Bundesund sehen, wie die Sache weitags und Bundesratsminister, tergehe. hätten viel erzählt. Selbst Clay plädierte für eiAber es gab zugleich andenen „neuen Anfang“, am besre. Hermann von Mangoldt ten „auf Bizonenbasis“. etwa. Der ausgewiesene VerAlso alles zurück auf null? fassungsexperte textete die Es wird vermutlich nie zu Verbindungsoffiziere zu deklären sein, wer Anfang April ren Verdruss mit seinen Erin1949 in den USA der Presse nerungen an die Marine voll einen Tipp gab, Washington und gab wenig Politisches erwäge einen Abzug aus Eupreis. Oder Georg August ropa. Der Protest beiderseits Zinn, später Ministerpräsides Atlantiks fiel jedenfalls so dent in Hessen, der auch lieheftig aus, dass Acheson sober Geschichten von früher fort alle Alternativplanungen erzählte. Und Heuss, der das fallenließ. Spiel der Alliierten durchSchriftlich teilten Acheson schaute, verdarb den Siegersowie die Außenminister mächten manchen Empfang, Frankreichs und Großbritanweil er das Thema wechselte, niens mit, fast „jede vom Parwenn er bemerkte, dass Kollamentarischen Rat vorgelegen Interna ausplauderten. Ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung Heute gilt die Besatzungs- des Grundgesetzes wurde Bonn zur Hauptstadt gewählt. schlagene Bestimmung wird nun wohlwollende Würdipolitik der Westmächte als beispielhaft für eine besonders gelunge- samtdeutschland und einen weitgehen- gung“ erfahren. In gerade einmal drei Tagen wurden alle ausstehenden Frane Aufbauarbeit nach Krieg und Re- den Truppenabzug. Aber auch Clay strafte alle Vorwürfe gen geklärt. Der Weg war jetzt frei. gimewechsel. Dabei wird leicht überAm 8. Mai 1949 um 23.55 Uhr, vier sehen: Die Gründung der Bundesrepu- Lügen, er sei zu germanophil, und ging blik hing zeitweilig an einem seidenen auf Distanz zu dem angehenden Staat, Jahre nach der bedingungslosen Kapidenn der Föderalist war vom Grundge- tulation, nahm der Parlamentarische Faden. Denn kurz vor Schluss, im Frühjahr setz-Entwurf „überaus enttäuscht“. Die Rat das Grundgesetz mit 53 zu 12 Stim1949, als der Parlamentarische Rat sich geplante Bundesrepublik schien ihm zu men an. In Jubel brachen die Abgeordbereits auf einen Entwurf für das Grund- zentralistisch, zumal er die SPD ver- neten nicht aus; immerhin trat angesetz geeinigt hatte, stand auf einmal dächtigte, nach einem Wahlsieg mit Hil- schließend Konrad Adenauer an das fe einer starken Regierungszentrale Mikrofon und verkündete: „Für uns alles wieder in Frage. In Washington war mit Dean Ache- doch noch bundesweit den Sozialismus Deutsche ist es der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933.“ son ein neuer Außenminister ins State einführen zu wollen.
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CHRONIK 1949–2009
SECHZIG DEUTSCHE JAHRE Der Parlamentarische Rat beschließt das Grundgesetz. Zwei Tage später wird Bonn zur vorläufigen Hauptstadt gewählt.
September 1949
Die Bundesversammlung wählt Theodor Heuss (FDP) am 12. September zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik. Konrad Adenauer wird drei Tage später mit nur einer Stimme Mehrheit zum ersten Bundeskanzler gewählt. Er steht einer Koalition aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) vor.
ist damit souverän und wird am 9. Mai Mitglied der Nato. Als Reaktion darauf wird am 14. Mai der Warschauer Pakt gegründet, in dem die DDR Mitglied wird. Am 20. September bestätigt die Sowjetunion per Staatsvertrag die Souveränität der DDR.
September 1955
Während eines Besuchs in Moskau erreicht die deutsche Delegation unter Führung von Konrad Ade-
13. August 1961
Um den Flüchtlingsstrom nach Westen zu stoppen, riegelt die DDR-Regierung die Sektorengrenzen zwischen Ost- und West-Berlin ab und beginnt mit dem Bau der Mauer. Bis 1989 kommen 98 Menschen beim Fluchtversuch in den Westen ums Leben.
22. Januar 1963
Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle unter-
Dezember 1970
17. Juni 1953
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1961: Flucht über Stacheldraht in den Westen Berlins nauer, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen heimkehren können.
Bei der Fußballweltmeisterschaft siegt die deutsche Elf im Finale gegen Ungarn. Das „Wunder von Bern“ wird nationales Ereignis.
Januar 1957
5. Mai 1955
Mit den „Römischen Verträgen“ entsteht die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Bundesrepublik ist mit Frankreich, Italien und den BeneluxStaaten Gründungsmitglied.
Die Pariser Verträge, mit denen im Oktober 1954 das Ende des Besatzungsstatuts für die Bundesrepublik beschlossen wurde, treten in Kraft. Die Bundesrepublik
Bei Demonstrationen gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs in Berlin erschießt ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg. Mit den Protesten nach dem Tod Ohnesorgs formiert sich die 68er-Bewegung, auch Außerparlamentarische Opposition (Apo) genannt.
Bei der Bundestagswahl am 28. September erringen SPD und FDP die Mehrheit. Willy Brandt wird der erste sozialdemokratische Regierungschef Nachkriegsdeutschlands. Beginn der sozial-liberalen Ost- und Entspannungspolitik.
Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Am 11./12. Oktober werden Wilhelm Pieck zum ersten Präsidenten und Otto Grotewohl zum Ministerpräsidenten gewählt.
4. Juli 1954
2. Juni 1967
Herbst 1969
7. Oktober 1949
Volksaufstand in Ost-Berlin und in der DDR. Auslöser sind Proteste der Arbeiter gegen eine Erhöhung der Arbeitsnormen. Die sowjetischen Truppen schlagen die Revolte gewaltsam nieder.
sind die Notstandsgesetze, wogegen sich ein breiter gesellschaftlicher Widerstand bildet.
Nach einer Volksabstimmung wird das Saarland zehntes Bundesland.
25. März 1957
zeichnen in Paris den Elysée-Vertrag. Er besiegelt die Aussöhnung der ehemaligen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich.
Dezember 1963
In Frankfurt beginnt der Prozess gegen SS-Täter des Konzentrationslagers Auschwitz. Verkündung der Urteile ist am 19. August 1965.
Dezember 1966
Große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU). Eines ihrer Projekte
Willy Brandt besucht Warschau und kniet vor dem Mahnmal des ehemaligen jüdischen Ghettos nieder. Auch wegen dieser Geste erhält er im Oktober 1971 den Friedensnobelpreis.
3. Mai 1971
Sturz Walter Ulbrichts. Sein Nachfolger als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED wird Erich Honecker.
5. September 1972 Während der Olympischen Spiele in München entführen und töten palästinensische Terroristen elf israelische Sportler. Auch ein Polizist und fünf Terroristen kommen ums Leben.
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PETER LEIBING / KEYSTONE
8. Mai 1949
April 1986
Der Super-GAU in einem Atomkraftwerk im ukrainischen Tschernobyl sorgt in der Bundesrepublik für Panik. Mit östlichen Winden gelangt Radioaktivität auch nach Deutschland.
September 1989
Vor der Nikolaikirche in Leipzig demonstrieren Hunderte DDR-Bürger für Reisefreiheit, es ist der Beginn der legendären Montagsdemonstrationen.
September 1977: Tatort der Schleyer-Entführung in Köln
1973
Ölkrise: Die erdölexportierenden Staaten verknappen die Ölförderung, woraufhin die Preise drastisch in die Höhe gehen. In der Bundesrepublik gelten an vier Sonntagen Fahrverbote.
6. Mai 1974
Nachdem Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt ist, tritt Kanzler Brandt zurück – Nachfolger wird Helmut Schmidt.
August 1975
Nach zweijährigen KSZEVerhandlungen unterzeichnen die meisten europäischen Staaten sowie die USA, die Sowjetunion und Kanada die Schlussakte von Helsinki. Darin verpflichten sich die Unterzeichner unter anderem zur friedlichen Beilegung von Konflikten.
SPIEGEL TV (O.); FRANK MAY / AFP (U.)
Herbst 1977
„Deutscher Herbst“: Am 5. September entführt die Baader-Meinhof-Gruppe Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, um elf RAF-Häftlinge freizupressen. Am 13. Oktober kapern palästinensische Terroristen die Lufthansa-Ma-
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schine „Landshut“. Kanzler Schmidt gibt den Forderungen der RAF nicht nach. Am 18. Oktober befreien Angehörige der GSG 9 die Geiseln, am selben Tag begehen die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Am darauffolgenden Tag wird Schleyer ermordet aufgefunden.
9. November 1989
Fall der Mauer: Die DDR öffnet überraschend ihre Grenzübergänge. Noch in der Nacht strömen Tausende Ost-Berliner in den Westteil der Stadt.
1979
Mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums lösen CDU/CSU und FDP Helmut Schmidt als Bundeskanzler ab. Nachfolger wird Helmut Kohl (CDU).
Oktober 1998
Erste rot-grüne Bundesregierung. Kanzler ist Gerhard Schröder (SPD), Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen). Die Koalition schickt deutsche Soldaten in den Kosovo und nach Afghanistan, und sie beschließt ein Paket umstrittener Sozialreformen („Hartz-Gesetze“).
Das Ende der D-Mark. Neues Zahlungsmittel in Deutschland und elf anderen EU-Staaten ist der Euro.
November 2005
13. Januar 1980
1. Oktober 1982
Am 20. September werden bei einem Angriff Rechtsextremer auf ein Ausländerwohnheim im sächsischen Hoyerswerda 30 Menschen verletzt. Damit beginnt eine Serie von ausländerfeindlichen Anschlägen. Im November 1992 sterben drei Türkinnen bei einem Brandanschlag auf ein Haus im schleswig-holsteinischen Mölln, im Mai 1993 kommen fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen ums Leben. Tausende demonstrieren gegen Fremdenfeindlichkeit.
1. Januar 2002
Trotz heftiger Proteste auch von Sozialdemokraten stimmt Kanzler Helmut Schmidt dem Nato-Doppelbeschluss zu. Die Friedensbewegung erhält großen Zulauf.
Aus mehreren sozialen Gruppierungen und Bürgerinitiativen gründen sich in Karlsruhe „Die Grünen“. 1985 wird in Hessen die erste rot-grüne Landesregierung vereidigt.
September 1991
2002: Einführung des Euro
18. März 1990
Erste freie Wahlen für die Volkskammer der DDR. Die CDU kommt auf fast 41 Prozent der Stimmen.
3. Oktober 1990
Die DDR tritt der Bundesrepublik bei. Zuvor hatten beide Staaten den Abschluss eines Grenzvertrages mit Polen vereinbart.
Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Angela Merkel wird Kanzlerin und ist damit die erste Frau an der Spitze einer deutschen Bundesregierung.
2007 bis 2009
Die Finanzkrise, die in den USA als „Subprime-Krise“ ihren Anfang nahm, trifft auch Deutschland. Mehrere Banken müssen von der Regierung vor der Pleite gerettet werden. Die deutsche Wirtschaft stürzt in eine tiefe Rezession.
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Die Gründung der DDR im Oktober 1949 weckt anfangs Hoffnungen vor allem bei Sozialisten, Intellektuellen und manchen bürgerlichen Nazi-Gegnern. Doch die SED lässt der Demokratie keine Chance.
Die Republik mit dem Hammer
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er neue Staat zeigt junge Gesichter. Erst 22 Jahre alt ist die Volkskammerabgeordnete Margot Feist, eine dunkel gelockte Arbeitertochter aus Halle. „Im Namen des deutschen Volkes“ gratuliert sie Wilhelm Pieck am 11. Oktober 1949 im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium zu seiner Wahl zum Präsidenten der Deut-
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schen Demokratischen Republik (DDR). Die jüngste Abgeordnete überreicht dem Staatsoberhaupt einen Strauß weißer und gelber Chrysanthemen. Vier Tage zuvor ist die DDR gegründet worden, vier Jahrzehnte hat sie noch vor sich. Margot Feist wird später Volksbildungsministerin und Ehefrau Erich Honeckers, der 1971 aufsteigt zum führenden Mann der DDR. Im Oktober 1949
ist Honecker 37 Jahre alt und Chef der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Am Tag der Präsidentenwahl organisiert er eine Machtdemonstration. Er lässt per Bahn und Lkw 200 000 Jugendliche nach Berlin bringen, vor allem aus der sowjetischen Besatzungszone. In Reihen zu 16 Mann marschieren die jungen Leute mit schwarz-rot-goldenen Flaggen und den blauen Fahnen der
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PROGRESS-FILMVERLEIH/DEFA
Von UWE KLUSSMANN
Im Mai 1950 marschieren Hunderttausende Jugendliche durch Ost-Berlin, sie demonstrieren „revolutionäre Kampfkraft“. Auf ihnen ruhen die Blicke der neuen Staatsführung, darunter Otto Grotewohl (l.) und Walter Ulbricht (M.).
FDJ ins Zentrum Berlins. Die Fackeln der Staatsdemonstranten erleuchten die kriegszerstörten Prachtbauten Unter den Linden. Mit dabei ist der 21-jährige Maschinenschlosser Hans Modrow, der wie viele andere noch viereinhalb Jahre zuvor als überzeugter Hitlerjunge im „Volkssturm“ gegen die Rote Armee gekämpft hat. 40 Jahre später wird Modrow nach dem Sturz Honeckers die letzte sozialistische Regierung der DDR führen. Die neue Staatsmacht scheut weder die Form des von den Nationalsozialisten bei der Machtübernahme 1933 erprobten Fackelzugs, noch NS-Worthülsen wie die „endlosen Kolonnen“, von denen ein Ost-Berliner Rundfunkreporter berichtet. Honecker verspricht, der neue Staat bringe „Frieden und ein besseres Leben“. Auf Transparenten steht „Nieder mit der Bonner Spalter-Regierung“. Die Marschierer fordern ein „einheitliches, friedliebendes, demokratisches Deutschland“.
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Wieder einmal vollzieht sich im Schein von Fackeln ein Systemwechsel, in sozialer Hinsicht radikaler als je zuvor in der deutschen Geschichte. Den Großgrundbesitz haben die Machthaber in der sowjetischen Zone seit 1945 durch eine Bodenreform zerschlagen, das Gros der Industrie in zentral verwaltetes „Volkseigentum“ verwandelt, die von Nazis durchsetzte Beamten- und Lehrerschaft durch neues Personal ersetzt.
Die Staatsgründung soll breite Volksschichten ansprechen. Die „provisorische Regierung“ des am 7. Oktober ausgerufenen Staates sieht aus wie eine Koalition aus Linken und Bürgerlichen. Neben dem Kommunisten Pieck steht Ministerpräsident Otto Grotewohl, ein alter Sozialdemokrat, der wie Pieck nun der Sozialistischen Einheitspartei (SED) angehört. Außenminister ist ein CDUMann. Als Volkskammer-Präsident amtiert der Liberaldemokrat Johannes Dieckmann, einst enger Mitarbeiter
Gustav Stresemanns, des bedeutendsten Außenministers der Weimarer Republik. Von Sozialismus und Klassenkampf ist keine Rede in dem „Manifest der Nationalen Front“, das Pieck zur Staatsgründung verliest. Der Präsident warnt mit nationalem Tremolo vor einer drohenden „kolonialen Versklavung“ Westdeutschlands durch die „imperialistischen Westmächte“ und ruft zur „Rettung der Nation“ auf. Bescheiden, etwas schüchtern und ein wenig bedrückt wirkt der gelernte Tischlergeselle bei seinem Auftritt. Als würde den früheren Bremer SPD-Bürgerschaftsabgeordneten eine Ahnung beschleichen, die Staatsgründer könnten scheitern, mahnt er zu „verantwortungsbewusster, loyaler und freundschaftlicher Zusammenarbeit“, damit „wir dereinst vor dem Urteil der Geschichte bestehen können“. Mit dem Versprechen, ein neues Deutschland zu schaffen, lockt die OstRepublik linksorientierte Intellektuelle
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DAS ERBE DER GRÜNDER
und Künstler an. Aus Israel kommt der preußisch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig und wird Präsident der Akademie der Künste. Der sozialkritische Philosoph Ernst Bloch („Das Prinzip Hoffnung“) ist aus den USA einem Ruf an die Universität Leipzig gefolgt. Bürgerschreck Bertolt Brecht erhält, in der damaligen Bundesrepublik undenkbar, ein Theater, das „Berliner Ensemble“. Die Schriftsteller Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger senden vom kalifornischen Los Angeles „unsere herzlichsten Wünsche“. Die Romanciers bekunden der „jungen Republik“ ihre „tiefe Teilnahme“. Was den Dichtern im sonnigen Kalifornien als Geburtsstunde einer neuen Demokratie erscheint, ist ein kühl berechnetes Schauspiel. Der Regisseur heißt Josef Stalin. Bei einem Besuch in Moskau vom 16. bis 28. September hatte die SED-Spitze um Pieck, Grotewohl und den immer einflussreicher werdenden Walter Ulbricht die Staatsgründung detailliert mit der sowjetischen Führung abgestimmt. Der neuen Republik fehlt die demokratische Legitimation. Freien Wahlen will sich die SED nicht stellen. Die „provisorische Volkskammer“ ist nicht vom Volk gewählt, sondern hervorgegangen aus einer Sammlungsbewegung der SED und ihrer Verbündeten. Auf einer Parteivorstandssitzung am 4. Oktober 1949 schärft der künftige DDR-Regierungssprecher Gerhart Eisler den Genossen ein: „Als Marxisten müssen wir wissen: Wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen noch durch andere Methoden.“ Und Walter Ulbricht fügt hinzu: „Das haben einige noch nicht verstanden.“
Von dieser Debatte erfahren die Bürger des neuen Staates nichts. Doch schon ein Gang ins Kino zeigt ihnen den Geist der neuen Macht. „Unser täglich Brot“ heißt ein Spielfilm der staatlichen Deutschen Film-AG (Defa) über eine kriegszerstörte Fabrik im Berliner Osten, die Beschäftigte mühsam wieder aufbauen. „Wir wollen, dass die Güter dieser Welt gerecht verteilt werden“, verkündet in dem Film der Arbeiterdarsteller Harry Hindemith, auch im wirklichen Leben SED-Mitglied. Der Schauspieler, fünf Jahre zuvor noch NSDAP-Mann und im Nazi-Propagandafilm „Junge Adler“ zu sehen, wettert gegen Zweif30
Hammer, Ährenkranz und später auch Zirkel werden DDR-Symbole.
ler und Kritiker: „Dass man uns nicht verstehen will! Ins Gehirn möchte man es ihnen trommeln.“ Dafür findet die Republik das geeignete Symbol: einen Hammer, umrahmt von einem Ährenkranz, entworfen von Hobbymaler Grotewohl. Der Zirkel als Symbol der Intelligenz-Schicht kommt 1953 hinzu. Die Nationalhymne bestellt Pieck bei dem Lyriker Johannes R. Becher, der „Deutschland, einig Vaterland“ beschwört. Die Melodie komponiert Hanns Eisler, Bruder des Regierungssprechers. Uraufgeführt wird „Auferstanden aus Ruinen“, im Westen als „Becher-Hymne“ geschmäht, am 7. November 1949 zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Deren kommunistische Idee soll die SED in Ostdeutschland durchsetzen. In einem „Bildungsheft“ zur Parteischulung preist die SED schon im September 1948
ihren 1,7 Millionen Mitgliedern die sowjetische Staatspartei KPdSU als „Musterbeispiel“. Stalin dankt 1949 mit einem Telegramm nach Ost-Berlin, in dem er die DDR-Gründung als „Wendepunkt in der Geschichte Europas“ rühmt. Christdemokraten und Liberalen bleibt kaum mehr als eine Statistenrolle. Lebensmittelpakete („Pajok“) mit Schnaps, Butter, Fleisch und Erbsen von der sowjetischen Besatzungsmacht und Schmeicheleien machen aus bürgerlichen Politikern „kopfnickende Blockbrüder“, wie der SPIEGEL im Februar 1950 spottet. Wer sich nicht fügt, dem droht Verhaftung. CDU und Liberaldemokraten treten im Oktober 1950 mit der SED auf einer Einheitsliste der „Nationalen Front“ zur Volkskammerwahl an. Die DDR-Bürger haben keine Wahl. 197 788 von ihnen stimmen im gleichen Jahr mit den Füßen ab und flüchten in den Westen. Am Wahltag drängen SED-Genossen Zögernde massiv zum Urnengang. Am Ende steht ein sowjetisches Ergebnis mit 99,72 Prozent für die SEDgeführte Liste. Diese trügerische Einmütigkeit will die SED mit aller Macht festigen. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), gegründet am 8. Februar 1950, wird zum zentralen Machtinstrument der Partei. Zum Staatssekretär beruft sie einen Mann, der sich nach dem Mord an zwei Polizisten 1931 aus Berlin nach Moskau abgesetzt hatte, Erich Mielke. Bald schon überzieht die Staatssicherheit das Land mit einem dichten Spitzelnetz und sorgt dafür, dass 1950 etwa 20 000 politische Gefangene in der DDR einsitzen, darunter zahlreiche Sozialdemokraten. Die Masse der Bevölkerung richtet sich im neuen System ein und hofft auf ein besseres Leben. Vielen Zukurzgekommenen eröffnet die DDR Aufstiegschancen. Arbeiter- und Bauernfakultäten bereiten junge Leute aufs Studium vor und verbreiten Aufbruchstimmung. In manchem zeigt sich der Osten moderner als der Westen. 1950 streicht die Volkskammer das Recht des Mannes, der Ehefrau eine Berufstätigkeit zu verbieten. Im Westen fällt die anachronistische Regelung erst sieben Jahre später. Ebenfalls 1950 setzt die DDR das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre herab. Die Bundesrepublik zieht erst ein Vierteljahrhundert später nach. Während westdeutsche Lehrer ihre Schüler in den fünfziger Jahren noch mit Ohrfeigen traktieren, sind Schläge in DDR-Schulen tabu.
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IGEL / DPA
Solche Wandlungen werden im Westen kaum wahrgenommen. Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnt im Januar 1951 ein Gesprächsangebot Ministerpräsident Grotewohls ab. Der WestKanzler verdammt seinen Ost-Berliner Kollegen auch dann, wenn der weitsichtig handelt wie bei der Anerkennung der polnischen Westgrenze im Juni 1950. Wer „auf das deutsche Gebiet östlich der Oder und Neiße Verzicht geleistet“ habe, tönt Adenauer, könne mit der Bundesregierung nicht über eine Wiedervereinigung sprechen. Zwar beugt sich die Ost-Berliner Führung im Abkommen mit Polen dem sowjetischen Willen. Dennoch ist die Grenzanerkennung ein Schritt zu friedlicher Nachbarschaft, zu der sich ab 1968 auch Willy Brandt bekennt.
eigener Kraft“, in einem Staatsvolk der kleinen Leute Widerhall. Brechts Refrain „Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut“ trifft das Lebensgefühl vieler. Die SED versucht zudem, die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes noch lebendige Volksgemeinschaftsidee auf ihren Staat zu übertragen. Die DDR ruft zum „Nationalen Aufbauwerk“, ver-
thefeiern“, „Berufswettkämpfe“ und „Wochen des Buches“ erleben ein Revival in Rot, begleitet von Fanfarenzügen. Vizepremier Walter Ulbricht, führender SED-Kopf, findet im November 1949 in der Volkskammer freundliche Worte über „zahlreiche ehemalige Nazi-Mitglieder, die als Aktivisten ihrer Betriebe in der vordersten Front des Aufbaus ste-
Ulbricht findet freundliche Worte für „ehemalige Nazi-Mitglieder“.
hen“. Sie könnten, so Ulbricht zuvor in einem Interview, „bestimmte Leistungen aufweisen“, anders als bürgerliche Politiker, „die nach Washington und London schielen“. Früheren Nazis, die schon vor 1933 Der ostdeutsche Staat, von der mit Hitler gebrochen haben, stehen soBundesregierung im Februar 1950 auf gar führende Posten offen. Der ehemaDruck der USA mit einem Stahlembargo lige NS-Propagandist Bodo Uhse, von belegt, ist zudem durch FabrikdemonJoseph Goebbels einst als „konsequentagen der sowjetischen Besatzungster Sozialist“ gelobt, avanciert 1950 macht geschwächt. In dieser Lage umzum Vorsitzenden des Schriftstellerverwirbt die SED die Jugend und setzt auf bandes und Abgeordneten der VolksEnthusiasmus. kammer. Zu Pfingsten 1950 organisiert die Noch gehören dem Parlament der FDJ, die, nach eigenen Angaben, bereits DDR markante Persönlichkeiten an rund 40 Prozent der ostdeutschen Juwie der Romanistik-Professor gend in ihren Reihen hat, ein Victor Klemperer, Autor der „Deutschlandtreffen“ in Berlin. „Sprache des Dritten Reiches“ (er Da gibt es Aufmärsche, Sport und wurde posthum berühmt durch Sinnenfreude. seine Tagebücher über die NSDenn unter Honecker, der sich Judenverfolgung). Volkskammerbeim Anblick hübscher Mädchen Mandate haben auch Widergern die Lippen leckt, geht es standskämpfer wie der russolockerer zu als zuvor in den sitphile Nationalrevolutionär Ernst tenstrengen, nach Geschlechtern Niekisch, der von einem roten getrennten Jugendverbänden des Preußen träumte, und Robert NS-Regimes. Havemann, später prononcierter Großveranstaltungen sind eine Kritiker des Stalinismus. Sie eint willkommene Abwechslung in eidie Hoffnung auf eine „geistige nem rauen Alltag. Die OstdeutErneuerung der deutschen Naschen stehen an nach Schuhen, tion“. Die verspricht Ministerderen Sohle sich meist nach wepräsident Grotewohl in seiner nigen Tagen löst. Frauen tragen ersten Regierungserklärung. Perlonstrümpfe, die schon vor Doch je mehr die DDR ihr dem Rendezvous reißen. Provisorium zum Idealzustand DDR-Bewohner essen nur verklärt, desto weniger gelingt es halb so viel Fleisch und Fett wie ihr, Menschen für sich zu gewindie Deutschen Mitte der dreißinen. 40 Jahre nach ihrer Grünger Jahre. Sie löffeln abends dündung geht die Republik an den ne Suppen in oft dunklen ZimSpätfolgen ihrer Geburtsfehler mern, weil immer wieder der als sowjetisches Protektorat zu Strom ausfällt. Sie fahren in ZüGrunde. Da vollzieht sich unter gen, die erst ab minus neun Grad Michail Gorbatschow in Moskau geheizt werden. Dennoch findet die SED-Pa- Margot Feist, die spätere Frau Honecker, gratuliert die endgültige Abkehr vom DDRGründervater Stalin. role, man schaffe den „Aufbau aus 1949 Staatspräsident Wilhelm Pieck zur Wahl. SPIEGEL GESCHICHTE
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teilt „Nationalpreise“, 1950 auch für den Film „Unser täglich Brot“, und plaziert einen „Nationalrat der Nationalen Front“ im früheren Gebäude des Reichspropandaministeriums. SED und FDJ benutzen NS-Propagandaklischees gegen den Westen. So stellt der Defa-Film „Immer bereit“ über die FDJ 1950 dem „verbrecherischen Treiben der angloamerikanischen Kriegstreiber“ plakativ ein „Bekenntnis zu Deutschland“ entgegen. Ungeniert bedient sich die FDJ aus dem Fundus der Hitlerjugend, die 1933 mit der Parole angetreten war: „Durch Sozialismus zur Nation“. Deren „Goe-
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Im Wirtschaftswunder-Deutschland schien es, als wäre das „Tausendjährige Reich“ seit tausend Jahren vorbei. Erst der AuschwitzProzess führte vielen Deutschen die NS-Verbrechen klar vor Augen.
Die Gesichter des Bösen Von GEORG BÖNISCH
AP (L.); ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO (O.); JAD WASHEM (R.)
SS-Mann Oswald Kaduk sitzt 1939 dem Fotografen mit seiner Familie Porträt. 24 Jahre später verfolgt er (r., 3. Reihe) mit dem Mitangeklagten Wilhelm Boger (vorn l.) den Prozess in Frankfurt am Main.
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amen sind mitnichten Schall und Rauch, und die schlichte Kombination aus Zahlen und Buchstaben kann das Grauenhafte des Grauens nur auf den ersten, schnellen Blick verbergen. 4 Ks 2/63 – oder „Strafsache gegen Mulka und andere“: zwei Chiffren, die für das bekannteste Strafverfahren in der deutschen Geschichte stehen. Und das wahrscheinlich wichtigste: den Auschwitz-Prozess. Auschwitz, auf Polnisch O´swiecim, jene Kleinstadt, die einmal Zentrum jü-
discher Religion und jüdischer Intelligenz war – und zur Massenmordstätte wurde. Zum Synonym für „eine Revolution gegen die Menschheit schlechthin“, wie der israelische Geschichtsforscher Yehuda Bauer schrieb. Zum Symbol des Genozids mit seiner industriellen Vernichtung von sechs Millionen Juden und Hunderttausenden Sinti und Roma. In Frankfurt am Main, wo dieser Prozess vom Dezember 1963 bis zum August 1965 stattfand, ging es um die Ermordung von etwa 29 000 Menschen, vor allem jüdischer Menschen – nur 29 000. Und vor Gericht standen nicht
die Chefs, die Organisatoren, die Erfinder der monströsen Todesfabrik. Sondern 22 Männer aus der dritten, vierten, fünften Reihe, kleine und ganz kleine Lichter. Da war der Kaduk, Oswald Kaduk, ein Unterscharführer der SS, niedriger Dienstgrad also. Aber fast jeder Häftling in Auschwitz zitterte vor Angst, wenn es hieß: „Der Kaduk kommt!“ Oder der Boger, Wilhelm Boger, ein Hauptsturmführer. Er hatte sich ein besonders qualvolles Folterinstrument ausgedacht, die „Boger-Schaukel“. Der Klehr, Josef Klehr, ein Tischlergeselle, Oberscharführer. Mit Phenol spritzte er
In Auschwitz-Birkenau werden ungarische Juden nach ihrer Ankunft im Mai 1944 selektiert.
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dem die, die ihn am eigenen Leibe erfahren haben, gestorben sein werden“. Damit meinte er weniger die Verbrechen der Nazis als vielmehr die „tiefgründige Umformung der deutschen Gesellschaft durch das totalitäre System“ (Historiker Manfred Görtemaker) – mit der Konsequenz, dass sozusagen die Rücknahme dieser Umformung nachfolgende Generationen beschäftigen würde.
Die im Umfeld des Prozesses unter den Bürgern zu beobachtende Ambivalenz, ja Widerläufigkeit – Interesse einerseits, Ablehnung andererseits – zieht sich durch die aufwachsende Bundesrepublik. Hier der Neubeginn in einer erst einmal so gut wie unbekannten Demokratie, die Orientierung zum Westen hin und damit notwendigerweise verbunden ein „normativer Bruch mit der NS-Vergangenheit“, wie es der Zeitgeschichtler Clemens Vollnhals formulierte. Dort die Frage, wie denn nun ein Millionenheer ehemaliger Nationalsozialisten, ob Täter oder Mitläufer, in diesen neuen Staat zu integrieren sei. Hier die gewaltig hohe Mauer des Schweigens und die Überzeugung fast der Hälfte aller Bürger, noch Mitte der fünfziger Jahre, ohne den Krieg wäre Hitler einer der größten deutschen Staatsmänner geworden. Dort ein Bestseller, der die Mitverantwortung fast aller Zeitgenossen an dieser schrecklichen Ära und den späteren Gedächtnisverlust fast einer ganzen Nation darüber beschreibt – die „Blechtrommel“ von Günter Grass. Und im Theater war das Stück „Das Tagebuch der Anne Frank“ 1957 das meistgespielte überhaupt. Wer an der Vernichtung der Juden beteiligt war, der reüssierte häufig in Politik und Wirtschaft und ließ es sich gutgehen in neubürgerlicher Sekurität. Wer aber Juden gerettet hatte, wie etwa der Industrielle Berthold Beitz, dem schlug erst einmal Misstrauen entgegen – wie auch jenen, die die Ideen der Widerständler gegen Hitler verteidigten. Gerade Intellektuelle sorgten sich, das fragile Gebilde Bundesrepublik könne schnell wieder Schaden nehmen. „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“, urteilte etwa der Philosoph Theodor W. Adorno. Anfangs, nach dem Schock vom 8. Mai 1945 und noch vor den schnellen Urteilen der Alliierten im Nürnberger Haupt-
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Menschen einfach tot. „Heute bin ich lich war. Aus ihren Expertisen entstand dann eine der wichtigsten Publikatioder Lagerarzt“, jubelte er dabei. Und dann der Mulka, Robert Mulka, nen jener Zeit – Titel: „Anatomie des Adjutant des Lagerkommandanten, der SS-Staates“. Ohne Zweifel, der Auschwitz-Prozess sich als feiner Pinkel gerierte und von nichts gewusst haben wollte. Das Ge- war ein Durchbruch. Immer mehr Deutricht wies ihm jedoch nach, dass er sche wurden sich nun klar über die mehrfach an der Rampe gestanden hat- Dimension der Menschenvernichtung te – dort, wo die Selektionen stattfan- (noch waren die Begriffe Holocaust oder den. Wer fähig zur Arbeit war, der durf- Schoa nicht geläufig) und über die Rolte noch leben, wer es nicht war, der starb le, die sie selbst im sogenannten Dritten kurze Zeit später nach minutenlangem Reich gespielt hatten – entweder als seine begeisterten Anhänger oder zuminTodeskampf in der Gaskammer. 183 Tage lang verhandelte die Straf- dest als jene, die es tolerierten. Und der Prozess sorgte schließlich für kammer, sie hörte 359 Zeugen, 248 von ihnen waren Häftlinge in Auschwitz. Als eine Änderung der juristischen Praxis. der Vorsitzende Hans Hofmeyer die Ur- Erst verlängerte die Politik die Verjähteile verkündete, stockte ihm mehrfach rungsfristen für Mord, später hob sie die die Stimme, und als er die Ermordung Mordverjährung ganz auf. Deshalb könvon Kindern schilderte, brach er in Trä- nen NS-Verbrecher heute noch, egal, wie alt sie sind, vor Gericht nen aus. Auschwitz, gestellt werden. sagte Hofmeyer zum Ob aber der AuschSchluss, sei die Hölle witz-Prozess als ein gewesen – eine „Hölle, wirklicher Wendedie für das normale punkt in der jüngeren menschliche Gehirn deutschen Geschichnicht auszudenken ist“. te beschrieben werden Gewiss, angesichts kann, wie es viele Fordieser Beschreibung fiescher und Deuter tun, len die Urteile recht wird wohl immer ummilde aus: drei Freistritten bleiben, auch sprüche, elf Freiheitswenn er maßgeblichen strafen zwischen 42 Einfluss auf die GeneMonaten und 14 Jahren, ration der protestierensechsmal lebenslängden 68er hatte. Erslich. „Es ist“, kommentens war er so eigenttierte ein französischer lich nicht gewollt – nur Korrespondent, „als ob Ankläger Fritz Bauer 1967 die Hartnäckigkeit eiein Meer von Blut im Sand versickert“. Dennoch: Das erste (von nes einzelnen Mannes, des hessischen mehreren) Auschwitz-Verfahren, konsta- Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, machtieren die beiden Autoren Gerhard Wer- te ihn möglich. Zweitens kam er viel zu le und Thomas Wandres, habe bei vie- spät – ein Großteil des Volkes hatte es len eine „ungeheure Wirkung“ gezeitigt. sich längst bequem gemacht in der Ecke des Vergessens und Verdrängens. Und drittens spricht gegen diese TheDie Berichterstattung war nämlich so massiv, dass bald schon die Täter- se die Dramatik der Zahlen. Als der Pronamen – Kaduk oder Boger, Klehr oder zess ein halbes Jahr lief, da votierten bei Mulka – einer Mehrheit unter den West- einer Umfrage des Divo-Instituts 39 Prodeutschen durchaus geläufig waren, das zent der befragten Bürger dafür, dass es Böse hatte also ein Gesicht bekommen. eigentlich so viele Jahre nach KriegsUnd der Andrang vor dem Gerichtssaal ende Verfahren dieser Art gar nicht ließ nie nach. Etwa 20 000 Zuhörer, un- mehr geben dürfe. Schließlich, im Feter ihnen viele Schülerinnen und Schü- bruar 1965 und weit vor den Urteilen, ler, erlebten – und erlitten – im Lauf der waren laut einer Wickert-Erhebung Hauptverhandlung die Konfrontation über 60 Prozent dafür, die Strafverfolgung von NS-Verbrechern einzustellen. mit der Düsternis. In der politischen Kultur DeutschAuch hatten Gutachter die bis dahin der Öffentlichkeit weitgehend verbor- lands, prophezeite deshalb der US-amegen gebliebenen Strukturen der NS-Tö- rikanische Politologe Sidney Verba, tungsmaschinerie offengelegt, so detail- werde die Erfahrung des Nationalsozialiert, wie es nach der Quellenlage mög- lismus noch zu spüren sein, „lange nach-
Deportation aus dem Gefängnis Hohenasperg: Sinti und Roma werden im Mai 1940 durch das württembergische Städtchen Asperg zum Abtransport nach Polen geführt.
kriegsverbrecherprozess, hatten fast 80 Prozent der Westdeutschen es für richtig erachtet, alle NS-Führungskräfte auf die Anklagebank zu setzen. 1950, die Folgeprozesse waren kaum beendet, da stimmten gerade noch 38 Prozent dafür – wohl, weil vielen dämmerte, sie könnten von einer umfassenden Entnazifizierung selbst betroffen sein. Plötzlich ging es gegen die vermeintliche „Siegerjustiz“, plötzlich war man für die Einstellung jeglicher Strafverfolgung, das Wort der Jahre hieß einfach: Schlussstrich. Kaum jemand sprach über die Blutrichter der Nazis mit ihren Tausenden Todesurteilen. Die Verstrickung der Wehrmacht war angeblich gar kei-
gerichtete Ludwigsburger „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ schon einiges an Material gesammelt. Die entscheidenden Dokumente jedoch bekam ein Redakteur der „Frankfurter Rundschau“, Thomas Gnielka, in die Hand, als er den Holocaust-Überlebenden Emil Wulkan besuchte: amtliche Protokolle über Häftlinge in Auschwitz, die angeblich „auf der Flucht“ erschossen worden waren. Gnielka überließ sie Bauer, und der kämpfte bis zum Bundesgerichtshof darum, einen Prozess in Frankfurt zu organisieren – gegen den Widerstand seiner
Staatsanwalt Bauer setzte auf die Wucht eines einzigen, großen Prozesses. ne. Die Deportation der Juden, der Massenmord: kein Thema. Ein Volk fieberte im Wirtschaftswunder, das „Tausendjährige Reich“ schien tausend Jahre vorbei zu sein. Wenn es nicht Männer wie den hessischen Generalstaatsanwalt gegeben hätte – und eher zufällige Aktenfunde, die, schreibt die Bauer-Biografin Irmtrud Wojak, zu einem „außerordentlichen Staatsverbrechen“ führten, das auch deswegen bislang keinerlei Beachtung gefunden hatte, weil der Tatort Auschwitz weit weg lag: am Rande von Oberschlesien, und Oberschlesien gehörte inzwischen zu Polen.
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Zwar gab es bereits in Stuttgart eine Strafanzeige gegen den SS-Hauptsturmführer Boger, auch hatte die gerade ein-
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eigenen Leute, die das Verfahren liebend gern abgegeben hätten, nach Stuttgart. Und gegen die Bestrebungen des Gerichtsvorsitzenden Hofmeyer, der eigentlich einen „Riesenprozess“ verhindern und den angeklagten Sachverhalt in Etappen verhandeln wollte. Ansonsten, so argumentierte die Leitung des Landgerichts, sei die Kammer allein „durch den Umfang … überfordert“, erinnerte sich ein Untersuchungsrichter. Auch jetzt setzte sich Bauer durch. Ihm war klar, dass kleinere Prozesse nacheinander nie die Wucht eines einzigen, großen Prozesses erzielen würden; Hofmeyer bewies denn auch (vor allem sich), dass eine solche Mammutverhandlung durchaus erfolgreich sein konnte. Dennoch riet er nur wenig später öffentlich an, „derartige Prozesse“
sollten demnächst „unter allen Umständen“ vermieden werden. Hofmeyer wollte eigentlich, da war er ganz Strafrichter, nicht die historische Besonderheit des Verfahrens sehen und auch nicht urteilen „über die Geschichte“ (Wojak). Ihm ging es um die persönliche Schuld der Angeklagten in einem „gewöhnlichen Strafprozess“. Also in der „Strafsache gegen Mulka und andere“, Aktenzeichen 4 Ks 2/63. Vielleicht deshalb auch hat der Prozess eines nicht verhindern können – dass sich eine Front der Leugner aufbaute, die immer wieder antisemitische Tendenzen propagierten und forcierten. Für dieses Verbrechen, die Verleugnung der Judenmorde, hat sich ein viel zu harmlos klingender Begriff eingebürgert: Auschwitz-Lüge. Und statt die kollektive Erinnerung einzufordern, wurde beständig diskutiert über eine kollektive Schuld. So tat sich denn auch in Westdeutschland eine „weltweit einmalige Generationskluft“ auf, wie der Sozialwissenschaftler Edgar Piel bemerkt. Wie verquer die Denklinien liefen, zeigt ein kleines Beispiel – Dachau. Das KZ im Weichbild Münchens gilt als früheste Großeinrichtung des NS-Repressionsapparates. Eine 1950 begonnene Dauerausstellung dauerte gerade mal drei Jahre, wenig später hätte auf Anregung bayerischer Landespolitiker das Areal der Menschenverachtung eingeebnet werden sollen. Nur internationale Proteste verhinderten dies; 1965, die Bundesrepublik existierte schon 16 Jahre, wurde in Dachau dann eine Gedenkstätte errichtet. Es war das Jahr der Urteile zu Auschwitz – aber nur zufälligerweise.
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Sechzig Jahre hat das Grundgesetz die Menschenwürde garantiert. Heute erweist es sich oft als Hindernis. Ist die Verfassung noch zeitgemäß?
Glück des neuen Anfangs Von THOMAS DARNSTÄDT
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rauer Teppich dämpft die Schritte auf dem schmalen Gang, der zwischen der Geschichte und der Zukunft Deutschlands liegt. Links, an Sechsertischen, die Vorkämpfer des Fortschritts, einer neuen, kontinentalen Ordnung. Rechts an Sechsertischen die Verteidiger der 60 Jahre gewachsenen deutschen Verfassung. Auf der einen Seite die Europäer – auf der anderen die Grundgesetzpatrioten: Das ist die Schlachtordnung. Was soll aus dem Grundgesetz werden? In dessen sechzigstem Jahr streiten sie an zwei Tagen im Februar im hellen, warmen Glaspavillon am Karlsruher Schlossgarten, nippen an Tafelwasser
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aus kleinen Glaskaraffen auf den Sechsertischen. Vorn die deutsche Fahne mit einer goldenen Spitze. Daneben acht Richter des Bundesverfassungsgerichts, die Notizen in ihre Kladden krakeln. Die Patrioten haben Klage gegen die Europäer erhoben. Es gilt zu klären, ob die Zustimmung des Deutschen Bundestags zum Vertrag von Lissabon, der umstrittenen Runderneuerung der EU, gekippt werden muss, weil sie das Grundgesetz gefährde. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat: Haben Parlament und Regierung in Berlin die Grundwerte der deutschen Verfassung für das Linsengericht europäischer Einigung an Brüssel verraten? Das Urteil, so viel steht schon während der Verhandlung fest, wird zur
Wegmarke der deutschen Geschichte. Scheinwerfer hängen von der Decke und beleuchten die Männer und Frauen in ihren roten Roben, die schließlich entscheiden werden: eine schöne Verfassungsgeburtstagszeremonie. Sechzig Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes geht es nicht allein um den Vertrag von Lissabon, es geht um alles. Es wird darüber debattiert, ob die deutsche Verfassung, die gute alte Schwarte, noch brauchbar ist für die neue Zeit. „Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949“, konstatiert Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der vor Gericht für eine europäische Ordnung streitet. „Verfassungsdämmerung“ nennt Horst Dreier, Staatsrechtler und Her-
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PAUL LANGROCK / ZENIT
Vereinigungsfeier im Oktober 1990 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin
ausgeber eines der führenden Grundgesetz-Kommentare, den Zug der Zeit. Der „Sog der Weltgesellschaft“, so dämmert dem Verfassungsrichter Udo Di Fabio, Berichterstatter im Lissabon-Prozess, bringe das gehätschelte und hochgelobte Geburtstagskind in Gefahr. Und mit ihm das Gericht: Die mächtigen EUInstanzen, durch den Lissabon-Vertrag noch mächtiger, dürften die Karlsruher Verfassungshüter eher über kurz als über lang entmündigen; der Europäische Gerichtshof übernimmt. An den Rand gedrängt würde dann das mächtige Verfassungsgericht, das im September 1951 die Arbeit aufgenommen hat. Es könnte ihm ergehen wie der Deutschen Bundesbank, von der heute
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niemand mehr weiß, wozu sie eigentlich noch gut ist.
Verfassungsdämmerung: Die Europäische Union, der Brüsseler Superstaat, „marginalisiert“ nach dem Urteil des Historikers Christian Meier die deutsche Demokratie. Und das ist kein Wunder in den Augen der Vordenker des deutschen Verfassungspatriotismus: „Globalisierung heißt Entdemokratisierung“, befindet der deutsch-britische Altliberale Ralf Dahrendorf. Wirtschaftskrise, Terror, Umweltschutz – die Probleme im weiten Raum der globalisierten Welt scheinen fürs Grundgesetz eine Nummer zu groß. „Viel Entscheidungssubstanz wandert
auf die internationale Ebene aus“, analysiert der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm, da dürfe man „nicht mehr alle Hoffnungen auf das Grundgesetz setzen“. Die deutsche Verfassung – ein hoffnungsloser Fall? 1949 war eine liberale, demokratische, rechtsstaatliche deutsche Verfassung die Lösung. Heute ist sie das Problem. Die Regierung eines wiedervereinten Deutschlands sieht sich nicht nur in Europa, sondern weltweit in der Pflicht – und von den engherzigen Bindungen der Staatsgewalt im Grundgesetz behindert. Wie solle man denn, gab Schäuble vor Gericht in Karlsruhe zu bedenken, den internationalen Terrorismus bekämpfen, wenn jede Form der
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grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sofort im Polizeistaatsverdacht steht? Ringsum im alten Europa der Nationalstaaten werden bereits die Konstitutionen aufgeweicht. Um in der neuen Welt des Lissabon-Vertrags mitspielen zu können, hat die stolze französische Nation unter dem Druck ihres „Conseil Constitutionnel“ in mehreren Punkten zur Einschränkung der eigenen Souveränität die Verfassung umgeschrieben. Nicht anders in Polen. Als das oberste Gericht 2005 die Regierung aufforderte, binnen 18 Monaten entweder die Verfassung zu ändern oder schleunigst aus der EU auszutreten, machten die Polen ihr Grundgesetz europafähig. Großbritannien entging vergleichbaren Auflö-
Kann ein Gesetz sich selbst für ewig erklären? In Deutschland schon.
Der Sonderweg der Deutschen zu ihrem Grundgesetz begann mit dem Entsetzen über die Nazi-Diktatur. Und er ist gesäumt von den Urteilen eines mächtigen Gerichts, von dem sich die Patrioten des neuen, besseren Deutschland 60 Jahre lang erklären ließen, was gut ist. Die Republik des Grundgesetzes ist die letzte Idylle inmitten der bröckelnden Staatenwelt. Ein Nebeneinander von Idylle und Chaos hat die deutsche Verfassung geprägt. Widerborstig und zerrissen, harmoniebedürftig und idealistisch: Das war der Geist der Männer, die auf den Trümmern des Deutschen Reichs das
Ein Nebeneinander von Idylle und Chaos hat das Grundgesetz geprägt. sungserscheinungen nur, weil es gar keine geschriebene Verfassung hat. Derweil versammeln sich die Freunde des Grundgesetzes in Karlsruhe um einige Männer und Frauen in roten Roben und beschwören den Untergang ihrer Verfassungswelt. So festgezurrt sind die Ideen von 1949, dass eine Änderung unmöglich ist. Das Bundesverfassungsgericht kann, ja muss die Modernisierung wesentlicher Bestandteile des Grundgesetzes verbieten: Artikel 79 erklärt die Grundlagen der Verfassung für ewig unabänderbar.
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Gute wollten, für immer, aber nur vorläufig. Die Entstehungsgeschichte des Nachkriegsprovisoriums mit der Ewigkeitsklausel ist widersprüchlich wie das, was dabei herauskam. Es war eine Notgeburt. Chaos herrschte unter alliierter Besatzung, die Sieger hatten die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder in diesem Trümmerjahr 1948 angewiesen, eine neue Verfassung zu machen, aber schnell, bevor der sowjetische Diktator Josef Stalin seine Machtsphäre über die Elbe hinaus aufs ganze Land ausbreiten konnte. Ein Boll-
werk westlicher Bauart wollten die Westalliierten errichtet sehen – irgendetwas mit Föderalismus, Demokratie und Rechtsstaat, eine „angemessene Zentralinstanz“ (US-General Lucius D. Clay): So stand es in den „Frankfurter Dokumenten“, dem Auftrag für die Neuerfindung der Deutschen. Am Himmel brummten die Flugzeuge der amerikanischen Luftbrücke, 1400 Tonnen Grundnahrungsmittel pro Tag brauchten die Berliner, um nicht zu verhungern, dazu 4000 Tonnen Kohle. Am Gelingen des kühnen Plans, die in Trümmern liegende deutsche Metropole vor dem Zugriff Stalins mit der friedlichen Waffe der Milchpulversäcke zu verteidigen, würde sich – so sollten es später Historiker sehen – die Weltgeschichte entscheiden. Der noch viel kühnere Plan wurde derweil in der Idylle geschmiedet: Auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee setzten sich Politiker und Juristen aus den neugebildeten deutschen Ländern zusammen und entwarfen etwas, das der Staatsrechtler Carlo Schmid, Wortführer der Runde, widerwillig als „Zweckverband administrativer Qualität“ bezeichnete, für den man zu allem Übel eine „Satzung irgendwelcher Art“ brauche. Das Gemaule über die große Aufgabe rührte aus dem Unwillen, so viel Arbeit in ein Provisorium zu stecken. Eine Verfassung, so schien den Männern im alten Schloss am See, durfte nicht von Dauer sein, weil sie ja nur für die Westzone des besetzten Deutschland, den Einflussbereich von Franzosen, Amerikanern und
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WINFRIED ROTHERMEL / AP
Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Briten, geschrieben wurde. Das deutsche Volk, klagte der niedersächsische Regierungschef Hinrich Wilhelm Kopf, „ist zurzeit nicht in der Verfassung, sich eine Verfassung zu geben“. Wenigstens ein bisschen nett wollten sie es haben. Am 10. August 1948, dem ersten Arbeitstag der Gründungsväter, war für sechs Uhr abends eine gemeinsame Bootsfahrt vorgesehen, anschließend ein „Nachtessen“. Zwischen „10 Uhr und 10 Uhr 15“, so stand es im Plan, „wird eine Bouillon serviert“.
Weder Blut noch Tränen – das deutsche Grundgesetz wurde mit Bouillon geschrieben. Der Münchner Staatsrechtslehrer Peter Huber urteilt von heute aus: ein Werk „typisch deutscher Introvertiertheit“. Dafür war, was schließlich herauskam, eine Weltneuheit. Das „Grundgesetz“, vom Bonner Parlamentarischen
Rat verabschiedet und von den Westalliierten nach heftigem Streit genehmigt, hatte wenig mit dem zum Scheitern verurteilten Vorgänger von Weimar zu tun, auch kaum mit der amerikanischen Verfassung. Die Grundrechte der neuen Verfassung behandelten zum ersten Mal die Bürger als Individuen, die ihre Freiheiten aus eigenem Recht, unabhängig vom Staat, besitzen – als Menschenrechte. „Alle Menschen sind frei“, formulierten die Verfassungsväter auf der Insel, vier Wörter, so einfach. So etwas entstand im „Schimmern von Romantik“ bei Vollmond am Chiemsee, wovon der Organisator der Runde, Bayerns Staatsminister Anton Pfeiffer, gern schwärmte. Später, in der vom sachlichen Vormittagslicht geprägten Endfassung, findet sich das Grundrecht als „allgemeine Handlungsfreiheit“ wieder. Und erst acht Jahre später führte das Verfassungsge-
richt den Deutschen vor, wie genial diese Vollmondgeburt vom Chiemsee war. Der Anlass dazu war ein etwas schwieriger Bürger namens Wilhelm Elfes, der als führendes Mitglied im Bund der Deutschen allerhand Weisheiten über die Zukunft Deutschlands verbreitete, die der Westpolitik Adenauers und der damit verbundenen Wiederaufrüstung zuwiderliefen. Der Staat reagierte im vertrauten deutschen Obrigkeitsstil. Elfes Reisepass wurde nicht mehr verlängert, damals eine Ausreisesperre, gedacht als Akt der Gefahrenabwehr: Mit seinen Ansichten, im Ausland verbreitet, säe er Unsicherheit über die Zuverlässigkeit des deutschen Wehrwillens. Elfes klagte vergebens. Über Ausreisefreiheit stehe nichts im Grundgesetz, befand das Bundesverwaltungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht erklärte 1957 in seinem berühmt gewordenen „Elfes-Urteil“, was Freiheit unterm
ISBN 978-3-473-55228-3
Grundgesetz ist: alles. Es sei nicht nötig, über mehrere dort weitgehend rechtlos sagiere und darum verboten, ebenso wie entschieden die Richter, dass alles, was gehaltene und gefolterte mutmaßliche die in den USA seit Guantanamo salondie Bürger dürfen, im Grundgesetz be- Terror-Sympathisanten zu urteilen hat- fähige Idee, Terroristen zu foltern, um schrieben sei. Vielmehr müsse sehr ge- te, beschäftigte sich in seinen langen Ur- sie zur Preisgabe von Attentatsplänen nau formuliert und gerechtfertigt sein, teilssprüchen in keinem Wort mit den zu zwingen. wenn ausnahmsweise jemand etwas Menschenrechten der Gefangenen. Den Begriff „Menschenwürde“ sucht man in Dem Menschenwürde-Satz des nicht dürfen soll. „Warum?“ wurde die wichtigste der US-Verfassung vergebens – sie kennt Grundgesetzes ist es zu verdanken, dass deutsche Denker, die mit dem präventiBürgerfrage. Sie war jedem Polizisten, je- keine solche Garantie. ven Einsatz der Mendem Lehrer, jedem wichschenquälerei liebäutigtuerischen Parkwächgeln, so behutsam vorter und jedem Innenmigehen müssen wie der nister entgegenzuhalten, Osnabrücker Philosoph der irgendetwas verlangRainer Trapp, der die te. Nur wenn die ObrigFolter gern als „selbstkeit gewichtige Gründe verschuldete Rettungsfür ihre Verbote nennen befragung“, kurz: „SRB“, kann, und auch nur dann, bezeichnet. wenn es gar nicht anders geht, hat sie etwas zu saGlückwunsch, Grundgen. Mit einem Urteil gesetz. Eine Verfassung, wurde aus dem Volk der die selbst Profi-Denker Blockwarte ein Volk der zu lächerlichen VerrenInfragesteller. kungen zwingt, wenn sie dunkle Ideen verfolgen, Das „lückenlose Syskann nicht ganz schlecht tem der Handlungsfreisein. heiten“, so sieht es Dieter Grimm, der zeitweise Auch die Kläger im in Harvard lehrte, sei eiKarlsruher Lissabonner der großen UnterProzess argumentieren Staatsrechtler Schmid (M.), Mitstreiter 1948 in Herrenchiemsee schiede des Deutschen mit der MenschenwürArtikel 1 Absatz 1 Satz 1 des Grund- de. Ist nicht zu befürchten, dass das heiGrundgesetzes gegenüber dem über 200 Jahre alten System der amerikani- gesetzes – „Die Würde des Menschen lige Gut der Deutschen künftig konkurschen Verfassung. In der US-Konstitution, ist unantastbar“ – ist es, der die deut- rieren muss mit so profanen Brüsseler die in ihrer ersten Fassung überhaupt sche Verfassung so besonders macht in Zielen wie dem Binnenmarkt und dem keine Grundrechte enthielt, sind Rechte der Welt. Nicht umsonst ist es gerade freien Wettbewerb? „In Europa werden wie Freiheit der Meinungsäußerung diese getragene Formulierung, die nun viele Freiheiten gegen die wirtschaftlioder der Bestandsschutz des Eigentums vom Verfassungsgericht als letzte Brem- chen Ziele abgewogen“, sagt Grimm, steerst nach und nach durch „Amendments“ se gegen die Versuche der deutschen In- ter Kritiker europäischer Verfassungsoder durch rechtsschöpfende Urteile des nenpolitik gezogen wird, den Staat im pläne. „Das betrifft auch die VerfasKrieg gegen den Terror mit immer neu- sungsgarantie der Menschenwürde.“ Supreme Court installiert worden. Tatsächlich könnte sich die deutsche Doch wohin es mit einem Land en Vollmachten aufzurüsten. Das gekommt, das die „allgemeine Handlungs- zielte Abschießen von Passagierflug- Verfassungsgarantie als unüberwindlifreiheit“ nicht als Verfassungsgrundsatz zeugen in Terroristenhand, entschied ches Hindernis für die europäische Eipflegt, ließ sich zuletzt in Guantanamo Karlsruhe 2006, sei eine Missachtung nigung erweisen. Die „Ewigkeitsklaubeobachten. Der Supreme Court, der der Menschenwürde unschuldiger Pas- sel“ in Artikel 79 nämlich stellt die Men-
„Spannend, lehrreich, großartig! Ein Jugendbuch über deutsche Nachkriegsgeschichte, das auch Erwachsene begeistern wird.“ GODEHARD UHLEMANN, RHEINISCHE POST Eine umfassende Dokumentation der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von der Gründung bis zur aktuellen Gegenwart von Hermann Vinke. Mit zahlreichen Biografien und Abbildungen.
2AVENSBURGER "UCHVERLAG
AKG
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hinwegschreitet. Doch damit schenwürde unter ihren ist man in einen Bereich einSchutz. Artikel 1 kann von getreten, in dem den Hankeiner Macht der Welt eindelnden vielleicht sein Gegeschränkt oder gar abgewissen zu rechtfertigen verschafft werden. Und da im mag; von Rechts wegen freiPrinzip alle Grundrechte des sprechen kann ihn nichts.“ Grundgesetzes laut BundesAm Ende bekamen die verfassungsgericht spezielle Deutschen ihre problematiAusprägungen des einen sche Menschenwürde. Und großen Menschenwürdeweil sie den Gründern von Satzes sind, stehen sie alle damals so wichtig war, unter Ewigkeitsschutz: Presmachten sie die Sache gleich sefreiheit und Reisefreiheit, noch problematischer: Die Wahlrecht und VersammMenschenwürde „zu achten lungsrecht, Privatsphäre und und zu schützen ist VerGlaubensfreiheit. pflichtung aller staatlichen Dem Berliner Publizisten Gewalt“ – so heißt es weiter Christian Bommarius zufolin Artikel 1. ge tauchte die Menschen„Da steht es.“ Sechzig Jahwürde als Verfassungsidee re später klopft Wolfgang bereits bei den Verschwörern Schäuble, Vertreter jener und intellektuellen Unterstaatlichen Gewalt, mit der stützern des 20. Juli 1944 auf. stumpfen Seite des Bleistifts Als die Männer über die auf die schlimme Stelle der Frage diskutierten, welche Grundgesetz-TaschenausgaOrdnung im Erfolgsfall die be. Er sei „verpflichtet“, er Hitler-Barbarei ablösen wiederholt: „verpflichtet“, könnte, kursierte im „Kreidie Würde der Menschen im sauer Kreis“ ein Entwurf, der Lande zu schützen. Und dies zur Grundlage einer neuen Deckblatt des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee werde er, allen Anfeindun„Rechts- und Friedensordnung“ die „unverletzliche Würde der Schmitt, inspiriert manche Verfas- gen zum Trotz, „mit allen rechtsstaatlich zulässigen Mitteln tun“. Notfalls mit sungsjuristen bis heute. menschlichen Person“ erklärte. Doch Karl Schmid hatte sich extra in Computerspionage, mit dem Abschuss Auf Herrenchiemsee formulierte Carlo Schmid: „Der Staat ist um des Men- „Carlo“ Schmid umbenannt, um niemals von Terror-Flugzeugen. Er klopft auf Arschen willen da, nicht der Mensch um des wieder, und sei es aus Versehen, mit dem tikel 1 Absatz 1 Satz 2 herum. „Da sehen Staates willen. Die Würde der menschli- Ungeist dieses furchtbaren Fast-Na- Sie, dass ich recht habe. Der Staat gemensvetters in Berührung zu kommen. fährdet nicht die Freiheitsrechte, er chen Persönlichkeit ist unantastbar.“ Kein Widerspruch, nirgends. Proteste In seinen Notizen sinnierte er noch im schützt sie.“ gab es dann aber, als jemand nach Wei- Nachhinein über das Notstandsproblem marer Vorbild forderte, die Grundrech- bei der bayerischen Klausur: „Manche Eine heikle Sache: der Staat als Prote sollten per Notverordnung außer Leute vergessen, dass aus dem Leben blem und als Lösung zugleich – mit dieKraft gesetzt werden können, wenn „der der Staaten der tragische Fall nicht aus- sem Widerspruch quält sich die zweite Bestand des Staates“ gefährdet sei. Die zuschließen ist, dass man dem Gebot ih- deutsche Republik bis heute. Das MenIdee vom „Ausnahmezustand“, in An- res Lebensrechts nur gerecht werden schenbild des Grundgesetzes ist unklar. lehnung an den Nazi-Staatsrechtler Carl kann, wenn man über ein anderes Recht Seine „Würde“ erlangt der Mensch in Au-
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klärung. Und dass das Gericht bis heute in der veröffentlichten Meinung ein so hohes Ansehen genießt, liegt ganz wesentlich an dieser Entscheidung. Allerdings ging dabei unter, dass das Gericht zugleich mit der Erfindung der „objektiven Wertordnung“ die Weichen in eine andere, die Karlsruher Republik gestellt hatte. Denn zum Vollstrecker der Wertordnung bestellte das Gericht sich selbst. Zu den Freiheiten kamen Werte, und so wurde die bürgerliche WarumFrage des liberalen Verfassungsrechts durch eine weitere Frage ergänzt, um die sich deutsche Juristen schon immer gern gemüht haben: Was ist gut? Beim ersten Mal tat es noch nicht weh, da bereitete das Verfassungsgericht im Dienste der Rundfunkfreiheit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Weg. Was aber hier galt – die Pflicht des Gesetzgebers, das Gute zu erzwingen –, musste ebenso für das Recht auf Leben gelten, das steht schließlich auch im
Aus Misstrauen gegen den Staat war Misstrauen gegen das Volk geworden. tor Erich Lüth zum Boykott der Filme des Nazi-Regisseurs Veit Harlan („Jud Süß“) aufgerufen, was ihm Produzent und Verleih gerichtlich verbieten ließen. Sieben Jahre lang lag der Fall vor Gerichten, doch in Karlsruhe bekam der Bürger Lüth endlich recht: Das Grundrecht der Meinungsfreiheit Lüths müsse nicht nur vom Staat respektiert werden, sondern indirekt auch von allen Privatpersonen, auch Film-Verleihern oder Produzenten, die mit der Keule des Zivilrechts den Grundrechtsträger Lüth daran hindern wollen, sich die Freiheit unliebsamer Meinungen zu nehmen. Auch Zivilgesetze, alle Gesetze, müssen seitdem so ausgelegt und notfalls korrigiert werden, dass die grundrechtlichen Freiheiten der Bürger möglichst umfassend verwirklicht werden können. Denn, so damals die Richter, das Regelwerk der Grundrechte statuiere eine „objektive Wertordnung“, die das gesamte öffentliche und private Leben präge. In diesem Geiste sei das gesamte Recht zu ordnen. Auch ein Filmverleih müsse die Einschränkung der Geschäftstätigkeit durch die Meinungsfreiheit des Senatsdirektors hinnehmen. Für die Presse, Hauptnutznießer der Meinungsfreiheit, wurde das Urteil so etwas wie eine Unabhängigkeitser-
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Grundgesetz. Also entschieden die Richter 1975 im Urteil zur „Fristenlösung“ bei der Abtreibung: Die „Schutzpflicht“ des Staates gegenüber dem „objektiven“ Verfassungswert des werdenden Lebens zwinge den Gesetzgeber, Schwangerschaftsabbruch unter Strafe zu stellen. „Dies verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil“, kritisierten in ihrem Minderheitenvotum die Richter Wiltraut Rupp-von Brünneck und Helmut Simon. Karlsruhe, befand damals der Staatsrechtler Erhard Denninger, sei drauf und dran, mit seiner „Wertordnung“ die Freiheitsordnung des Grundgesetzes zur „Pflichtordnung“ zu machen. Wenn sie mit der Wirklichkeit zusammenstößt, zeigt sich die deutsche Freiheitskonzeption als schwach. Das erwies sich schon in der ersten Krise der Bundesrepublik: im Streit um die Notstandsgesetze. Damals, in den Sechzigern, hatten die Westalliierten das von ihnen genehmigte Grundgesetz als zu liberal im Kampf mit dem Kommunismus gefunden. Die kalten Krieger äußerten eine Reihe von Umbauwünschen, unter anderem die Einschränkung des Telefongeheimnisses zugunsten des Verfassungsschutzes. Die Deutschen parierten. Artikel 10, der das Kommunikationsgeheimnis
schützt, wurde eingeschränkt. Wer aus irgendwelchen Gründen in den Verdacht gerät, verfassungsfeindlichen Bestrebungen nachzugehen, kann seit 1968 belauscht werden, ohne dass er es jemals erfährt, ohne dass dagegen Rechtsschutz möglich wäre. Die Totalabschaffung des Grundrechtsschutzes für jedermann inklusive des ebenso verfassungsrechtlich geschützten Rechtswegs dagegen wurde vom Gericht gebilligt. Aus dem Misstrauen gegen den Staat war das Misstrauen gegen das Volk geworden. Und die Parteien, in der ersten Großen Koalition vereint, ließen es geschehen. „Wieder scheint der Untertanengeist zu siegen, als Vertrauen, die Regierung werde es schon machen“, wütete damals der Philosoph Karl Jaspers.
Die nächste Krise gab dem Grundgesetz fast den Rest. Im Deutschen Herbst verhängte die Justiz gegen inhaftierte Terroristen eine Kontaktsperre, damit sie nicht über ihre Anwälte mit den Entführern Hanns Martin Schleyers und untereinander kommunizieren konnten. Das Bundesverfassungsgericht wies die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde zurück. Im Urteil prägte das Gericht den folgenschweren Satz: „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.“ Das sind Worte von fataler Aktualität. Das Gericht, kritisiert heute Erhard Denninger, habe mit diesem langen Satz die „Gefahr eines nie zu Ende kommenden präventionsstaatlichen Kontrollund Interventionsaktivismus“ heraufbeschworen. Und tatsächlich gibt es kaum eine Grundsatzrede des Innenministers Wolfgang Schäuble, in der dieser Satz nicht als Leitmotiv für den Krieg gegen den Terrorismus vorkommt. Mit der alten Schwarte kann man’s ja machen: All dies, und auch das Gegenteil, lässt sich aus dem Grundgesetz herauslesen. Das Bundesverfassungsgericht hat es stets verstanden, den Geist der Zeit mit klugen Sprüchen und unangefochtener Autorität als das jeweils Gute zu verkaufen. Doch nun will das nicht mehr gelingen. Erstmals scheint es, dass sich das Grundgesetz nicht mehr anpassen lässt.
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DPA (O.); MIGUEL VILLAGRAN / AP (M.); JÖRG KOCH / DDP (U.)
tonomie und Selbstverantwortlichkeit, andererseits ist die höhere Macht, die ihn dabei behütet, nicht etwa der liebe Gott, sondern ausgerechnet der liebe Staat. Das Bundesverfassungsgericht, mit einer umfassenden Deutungshoheit über das Grundgesetz ausgestattet, hat die Widersprüche der Verfassungsväter zum Ausbau einer ungewöhnlichen Machtstellung genutzt. Es mag ja sein, sagt ExVerfassungsrichter Grimm, dass die Welt der Werte und Ideen, die das Bundesverfassungsgericht über die Bonner Republik stülpte, „im Grundgesetz angelegt war“. Doch das Ausmaß, „in dem sein Sinn durch die Rechtsprechung geprägt wurde, ist ohne Zweifel weitreichend“. Die erste große Überraschung lieferte die Karlsruher Verfassungszentrale 1958 mit dem „Lüth-Urteil“. Der Rechtsfall, der die Republik prägen sollte wie kaum ein anderer, begann schon, bevor es das Bundesverfassungsgericht gab. 1950 hatte der Hamburger Senatsdirek-
WAS DARF DER STAAT? Demonstration gegen die Notstandsgesetze 1968. Protest gegen Innenminister Schäubles Pläne zur Vorratsdatenspeicherung 2008. Luftwaffenangehörige üben einen Einsatz zum Schutz vor Terrorangriffen.
Zu heftig laufen die Maximen des weltweiten politischen Krisenmanagements und des deutschen Verfassungspatriotismus auseinander. Mittlerweile steht der Verfassungsstaat als Ganzes in Frage.
Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie, seit Jahrzehnten ein kritischer Begleiter des deutsch verfassten Sonderwegs, weist darauf hin, dass „regionale oder globale Vorhaben wie Handelsliberalisierung, freier Informationsfluss und die Bekämpfung des Klimawandels national gar nicht mehr bearbeitet werden können“. Unabweisbar sei die „Bündelung politischer Souveränität“ über den Köpfen der Verfassungsstaaten. „Multilaterale Arrangements“, so Leggewie, müssten „bewusst der täglichen Bürgerbeteiligung vorenthalten werden“. Weniger Demokratie wagen: Wer das große Ganze „unmittelbarer Kontrolle unterstellen würde, zerstört seinen Sinn“. Vorbild für den neuen Weg politischer Entscheidungsfindung könnten nach Ansicht des Wissenschaftlers Gremien wie das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) sein, dessen Weltklimapolitik 2007 mit dem Friedensnobelpreis anerkannt wurde. Dessen überstaatlicher „Mechanismus wissenschaftlicher Konsensfindung“ und dessen „moralische Mobilisierung“ könnten nach Meinung von Demokratietheoretikern an die Stelle herkömmlicher demokratischer Entscheidungsverfahren treten – die Welt zerfiele in Gelehrtenrepubliken. Doch in der Realität sitzen nicht Gelehrte am Ruder, sondern Verwalter. In der Luxemburger Rue Mercier, im Morgengrauen, lässt sich beobachten, wie es zugeht in der Bürokratenrepublik: Da heben, wenn die Verfassungspatrioten daheim noch schlafen, jeden Morgen Gabelstapler tonnenschwere Container herum; es ist das „Amt für amtliche Veröffentlichungen“ der Europäischen Union.
Sechs Tonnen Post gehen jeden Tag von hier nach Europa, in die Regierungszentralen der Mitgliedstaaten. Im größten Teil der Pakete steckt das tägSPIEGEL GESCHICHTE
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lich erscheinende Amtsblatt: fast eine Million Seiten pro Jahr, Anordnungen und Erklärungen der Macht von Brüssel, in Tagesrationen verpackt für Parlamente, Ministerien, die Regenten der Staaten, die immer noch behaupten, sie seien souverän. „Output-Demokratie“ ist das Zauberwort der neuen Weltordnung, entgegengesetzt der „Input-Demokratie“, die sich dadurch auszeichnete, dass die Willensbildung vom Volk zum Staat führte. Gerade im kritischen Bereich der Staatsfinanzen mögen Experten immer weniger auf demokratische Willensbildung vertrauen. Während sich in Deutschland unter dem Schutz des Grundgesetzes Bund und Länder noch
immer um Steuerverteilung und Schuldenbremse in der föderalen Ordnung balgen, denken die Strategen einer Weltfinanzordnung bereits darüber nach, den Staaten die Finanzhoheit – und damit den Parlamenten das Budgetrecht – aus der Hand zu nehmen. „Der Entnationalisierungsprozess ist in vollem Gange“, befindet die amerikanische Soziologin Saskia Sassen. Die Verfassungsdämmerung hat alle westlichen Demokratien erreicht: Wir erleben, so Sassen, eine „tiefgreifende Veränderung der konstitutiven Regeln des liberalen Staates“, jener Gesellschaftsordnung, die seit der Gründung der Vereinigten Staaten 1787 als verblüffend haltbares Konstrukt Freiheit, Frieden
und Wohlstand, ja sogar, der Verheißung der US-Unabhängigkeitserklärung zufolge, Glückseligkeit über die Menschen gebracht hat. Der Bürger, sagt Staatsrechtler Denninger, „steht einer neuen Informalität gegenüber“ – informelle Runden in Brüssel, in Washington, bei der Welthandelsorganisation bestimmen über das, was geschehen soll. Transnationale Bedürfnisse wie jenes der Terrorbekämpfung, so Denninger, lösen den Rechtsstaat auf. Wo früher staatliches Handeln an gesetzlich formulierte und parlamentarisch legitimierte Voraussetzungen gebunden war, sei nun fast alles erlaubt, was nutzt: „Es zählt weniger der Rechtsstaat“, klagt Denninger, „es
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Unterzeichnung des LissabonVertrages 2007
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Berlin wird John F. Kennedy ein Denkmal setzen 7ILLY "RANDT ZUM 4OD VON *&+
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zählt nur noch effektiver Rechtsgüterschutz.“ In dieser Situation spielt das Bundesverfassungsgericht eine zentrale Rolle. Die acht an der Macht erwecken den Eindruck, als könnten sie die Verfassungsdämmerung aufhalten. Eine ganze „Kette von Entscheidungen“ registriert Denninger, in denen namentlich der Erste Senat, zuständig für Verfassungsbeschwerden und den Streit um Grundrechte, der freiheitlichen Seite des Grundgesetzes zu neuem Glanz verhilft. Es begann mit der Entscheidung von 2004, in der die Richter mit praktisch unerfüllbaren Auflagen den „Großen Lauschangriff“ auf Wohnungen Verdächtiger wesentlich erschwert haben. Es folgten zwei Verdikte gegen präventive Telefonüberwachung, das spektakuläre Urteil zum Luftsicherheitsgesetz,
barkeit der Menschenwürde her. Dies zeugt auch vom Machtwillen des Gerichts: Wenn Karlsruhe sich auf die heilige Garantie beruft, hat der Innenminister, haben selbst überstaatliche Instanzen schlechte Karten. Dann ist selbst mit einer Verfassungsänderung nichts mehr auszurichten. Der Geist von Karlsruhe ist ewig. Wie ewig ist ewig? Die Frage, ob die Deutschen jemals wieder aus ihrer Menschenwürdeverpflichtung herauskommen, mag zynisch klingen, ist aber sehr aktuell. Nicht nur in den Gelehrtenstuben des Staatsrechts, ebenso beim Bundesverfassungsgericht wie im Berliner Innenministerium denken die Fachleute heimlich über einen Artikel des Grundgesetzes nach, den kaum ein Bürger kennt. Er trägt die Nummer 146 und ist ein Re-
Der Geist von Karlsruhe ist ewig. Aber wie ewig ist ewig? das den Abschuss entführter Passagierflugzeuge verbot. Als vorläufigen Schlusspunkt spendierte vor einem Jahr das Gericht ein ganz neues „Grundrecht auf Integrität informationstechnischer Systeme“, mit dem es die Schnüffelei auf Festplatten und im Mail-Verkehr begrenzte. Alle fünf Entscheidungen – wesentlich aus der Feder des Richters und Hamburger Staatsrechtlers Wolfgang Hoffmann-Riem – leiten ihre Argumentation aus der Garantie der Unantast-
likt aus den Zeiten, in denen die Männer auf Herrenchiemsee an „so einer Satzung irgendeiner Art“ bastelten. Trotzig steht da: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Manche Rechtspolitiker sehen die Zeit für Artikel 146 gerade jetzt gekom-
men: Brauchen wir eine neue Grundordnung, europagängig, anti-terrorkompatibel, mit weniger Freiheiten und mehr Eingriffsmöglichkeiten des Staates und supranationaler Instanzen?
Eine neue Verfassung könnte die Position Deutschlands in der Viel-EbenenDemokratie zwischen Uno, Europa, Bund und den 16 Bundesländern neu gestalten. Das „Glück und die ganze Schwierigkeit des Neuanfangs“, die der Historiker Christian Meier in der Stunde der Grundgesetzgebung vor 60 Jahren entdeckte, könnten daran erinnern. Schon fragt der Berichterstatter im Lissabon-Prozess, Udo Di Fabio, halb scherzhaft, halb ernst: „Wäre es nicht ehrlicher, die Deutschen verzichten in einer ganz neuen Verfassung ausdrücklich auf ihre Souveränität, und wir machen dafür einen richtigen europäischen Bundesstaat?“ Doch bei aller Verlockung, die eine neue Verfassung in sich bergen mag, ist klar: Eine Einigkeit des verfassungsgebenden Souveräns, des Volkes, würde eine Stunde null voraussetzen. Das könnte, wie beim Vorbild der ersten französischen Verfassung von 1791, eine Revolution sein – das wüsste in Deutschland der Verfassungsschutz zu verhindern. Oder eine Katastrophe wie vor der Geburt des Grundgesetzes – vor der die Deutschen hoffentlich eben dieses Grundgesetz bewahrt. Schlechte Zeiten für Verfassungsdämmerung. Die Deutschen werden weiter mit ihrem Provisorium leben müssen. Auf ewig? Jedenfalls vorerst.
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KAPITEL II
KANZLER UND KOALITIONEN
Dompteure der
MACHT Die Befugnisse des Bundeskanzlers sind eng begrenzt. Immer wieder haben die Amtsinhaber aber auch den Mut zu großen Entscheidungen gefunden, mit denen sie sich Respekt verschafften. Geliebt wurde bisher nur einer.
FOTOS: KONRAD R. MÜLLER
Von JAN FLEISCHHAUER und CHRISTOPH SCHEUERMANN
KONRAD ADENAUER „1966. Seit einem Jahr fotografiere ich als ungebetener, aber nicht abgewiesener Zaungast den jetzt 90-Jährigen. Einige Male trampe ich von Berlin nach Bonn, im Gepäck Vaters Kamera aus dem Jahre 1935. Die ersten Bilder entstehen bei einer Wahlkampfveranstaltung. Ich suche den Kontakt zu Adenauers Chauffeur, zu seinen Sicherheitsleuten und seinen Sekretärinnen. Man amüsiert sich über den jungen Mann im schwarzen Anzug, aber seine Hartnäckigkeit verschafft ihm im März 1966 eine kurze Audienz während des CDU-Parteitags in Bonn. Ich sage Konrad Adenauer nicht, dass es mein 26. Geburtstag ist, aber mein Triumph an diesem Tag ist grenzenlos.“ Konrad R. Müller hat seit Adenauer alle deutschen Kanzler porträtiert, nur ein bereits zugesagter Termin mit Angela Merkel steht noch aus. Der 1940 in Berlin geborene Fotokünstler arbeitet stets mit seiner Mittelformat-Kamera und dem gleichen Schwarzweißfilm, ohne Blitz. Die Abzüge – einen von jedem Negativ – fertigt er selbst an: „Das Bild entsteht in der Dunkelkammer“, sagt Müller. Eine Galerie seiner Porträts hängt im 7. Stock des Kanzleramts.
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DIRK KRÜLL / LAIF
D
er Schreibtisch, mit dem das Abenteuer De- haben die Position des Kanzlers, mit Blick auf die Weimarer mokratie in Deutschland begann, steht noch Republik, gestärkt – und ihn gleichzeitig mit einer Reihe von genau an dem Platz, an den ihn der erste Kanz- Institutionen umstellt, die ihm hereinreden können und soller der Bundesrepublik rücken ließ. Er ist von len, das Parlament zu allererst, das jede Regierungsvorlage abeinem matten Braun, mit einer geschwunge- segnen muss, dann der Bundesrat, in dem die eifersüchtig nen Kante und leicht ausgestellten Beinen; Konrad Adenau- über ihre Zuständigkeiten wachenden Länderfürsten sitzen, er hatte ihn von einem Mitarbeiter aus einem Kölner Möbel- schließlich das Verfassungsgericht, das alle Gesetze auf ihre haus herbeischaffen lassen. Drei Kanzlern hat er als Arbeits- Grundgesetztreue prüfen kann. Die Ausgangsbedingungen sind also von Anfang an eher platz gedient, nach Adenauer noch Ludwig Erhard und Kurt ungünstig für beeindruckende Machtentfaltung, und sie werGeorg Kiesinger, erst Willy Brandt wollte einen neuen. den mit der Zeit nicht Es liegt alles so da besser. Gemessen an wie vor 60 Jahren im Padem Handlungsraum, lais Schaumburg, rechts den der Parteienstaat der Aktenbock mit der noch dem Gründungsbraunen Ledermappe kanzler eröffnete, sind obenauf, ein Geschenk die Nachfolger in ihrer der Sekretärin, auf der Platte eine Stiftschale, Entscheidungsfreiheit zwei Tischuhren, das stark eingeengt. Kästchen für NotizzetAlles ist mehr gewortel, dazu zwei schwere den: die Zahl der Leute, Telefone, eines für die die mitreden wollen, die internen AmtsgespräRegelungen und Vorche, das andere für den schriften, die es zu beKontakt nach draußen. rücksichtigen gilt, wenn Nur die Standuhr in der man etwas Neues auf Ecke ist verstummt und den Weg bringen will. tickt nicht mehr. 612 Abgeordnete sitEs ist kein schlechter zen heute im Parlament, Ort, um zu beginnen. 202 mehr als zu Beginn Links geht der Blick in im ersten Deutschen den Garten, Ahorn, BuBundestag, und die Machen, in der Ferne fließt schine rattert ohne Under Rhein. Alles wirkt terlass: 400 Gesetze Adenauers Schreibtisch im Palais Schaumburg angenehm zivil, fast heiwurden allein in der verter, man verspürt Lust, den Armlehnstuhl an den Tisch zu gangenen Wahlperiode beschlossen, das sind im Durchschnitt rücken und mit der Arbeit anzufangen, der ersten Kabinetts- 11,11 pro Monat. Die Zahl der Verbände, die offiziell beim vorlage, den Mappen mit der Korrespondenz. Es fehlt nur Deutschen Bundestag registriert sind, beläuft sich gegenwärnoch, dass die Tür aufgeht und jemand den ersten Besucher tig auf 2058 Organisationen, mehr als 4500 Lobbyisten arankündigt. beiten rund um die Uhr in Berlin, um ihre Interessen bei der Am 20. September 1949 machte sich ein deutscher Bun- Legislative vertreten zu sehen. deskanzler zum ersten Mal daran, Deutschland zu regieren. Es gibt viele Gründe, sich als Kanzler machtlos zu fühlen Der Tag ist den Deutschen ein wenig aus der Erinnerung ge- – und einige empfinden auch so, wenn sie oben angekommen rutscht, dabei nahm an ihm nach der verheerenden Nieder- sind. Dennoch haben immer wieder Amtsinhaber die Kraft zu lage, die man erst Kapitulation und dann Befreiung nannte, der großen Entscheidungen: Helmut Kohl setzte, gegen viele Bezweite Versuch in Demokratie seinen Ausgang. Die Hoffnung denken, die deutsche Einheit durch, Gerhard Schröder die war groß, dass dieser Anlauf nicht wieder in einem Desaster Agenda 2010, obwohl alle Lobbyverbände des Sozialstaats daenden würde, die Skepsis nach den Erfahrungen der Vergan- gegen anrannten. Gerade mal drei Tage hat Angela Merkel genheit noch größer. gebraucht, um mit dem Rettungspaket für die Banken das Die zweite deutsche Republik war ein realpolitisches Ex- möglicherweise folgenreichste Gesetz in der Geschichte der periment, auch mit einem neuen Typus von Regierung. Bundesrepublik durch alle Instanzen zu pauken. Am Ende Freundlicher sollte diese sein, bürgernäher, gleichzeitig aber war sie selbst etwas überrascht von dem Tempo. die Fehler von Weimar vermeiden, allen voran die VerantEs braucht einen ausgeprägten Machtinstinkt, Ausdauer wortungsflucht der Mächtigen angesichts schwieriger Auf- und im entscheidenden Moment einfach Mut, um sich an der gaben. Gewünscht war eine zupackende und dann auch wie- Spitze durchzusetzen – und sich dort zu halten. So gehen von der zurückgenommene Politik, eine Führung, die den Bür- den sieben Regierungschefs, die bislang im Kanzleramt saßen, gersinn zu stimulieren verstand und auf ihn vertraute, ohne einige am Ende als große Männer durchs Ziel und andere als führungsschwach und entscheidungsscheu zu sein. kleine. Über die Frau, die jetzt dort sitzt, ist es noch zu früh, Das Grundgesetz, über neun Monate im Parlamentarischen ein Urteil zu fällen. Es lohnt sich, zu fragen, wo die UnterRat beraten und dann am 23. Mai 1949 verkündet, bildete die schiede liegen, was den einen Kanzler heraushebt und den anVorlage, von der in der Geburtsstunde allerdings niemand sa- deren vernichtet. Die Macht zu nutzen ist mindestens so gen konnte, ob sie funktionieren würde. Die Verfassungsväter schwer, wie sie zu erwerben.
CORNELIUS PAAS / DAS FOTOARCHIV
Gleich der Anfang geriet erstaunlich sicher, ja selbst- keine Vorgänger hat, muss sich nicht an ihnen messen lassen, bewusst. Niemand wäre verwundert gewesen, wenn sich jeder Schritt ist maßgeblich. Adenauer ist daran gelegen, dass die Mitglieder des ersten deutschen Kabinetts vorsichtig in sich die Bundesrepublik nach Westen orientiert, zugleich das unbekannte Gehäuse dieser neuen Demokratie hinein- treibt er die Souveränität des Landes voran. Er wirbt für die getastet hätten. Alles war ja fremd und unerprobt: Die ers- europäische Integration und unterzeichnet 1951 den Vertrag te Kabinettssitzung musste im Hörsaal des Bonner Natur- zur Montanunion, einem Vorläufer der Europäischen Gekundemuseums stattfinden, an einer ausgestopften Giraffe meinschaft. 1955 wird die Bundesrepublik Mitglied der Nato, im Lichthof vorbei, weil das zum Kanzleramt bestimmte die wesentlichen Schritte zur Westbindung sind damit vollPalais Schaumburg am Rheinufer noch nicht bezugsfer- zogen. Nie wieder ist ein Kanzler so mächtig wie der Alte aus Rhöndorf, die Historiker sprechen im Nachhinein von tig war. der „KanzlerdemokraMacht braucht Kulistie“, weil die Gegense, auch die Demokratie kann nicht auf Gepränge gewichte, die alle Nachund Repräsentation verfolger beschweren, bei zichten. Der Kanzler soll ihm noch nicht wirken. dicht bei den Menschen Das Bundeskanzlersein, aber nicht wie sie, amt wird das Kernstück er soll bodenständig wirder großen Staatsmaken, aber gleichzeitig schine, mit 19 Beamten wollen die Bürger zu ihm des höheren Dienstes aufsehen können. Die zunächst bescheiden Verwandlung vom Abgeausgestattet. Dass die ordneten zum Staatenkleine Truppe ausreicht, lenker schafft der Politidie Minister und die ker nicht aus eigener Fraktionen unter KonKraft, dazu braucht es trolle zu halten, verden Apparat im Hinterdankt sie einem korrekt grund, und so beginnt gescheitelten Juristen Adenauer noch am Tag, mit rundlichem Gesicht, an dem er seine ErnenAnfang fünfzig, kathonungsurkunde in Hänlisch und im Besitz von den hält, die Regierungsaußerordentlichem Orzentrale nach seinen ganisationseifer und eiVorstellungen zu gestalnem sicheren Gespür Palais Schaumburg in Bonn, bis 1976 Sitz des Kanzleramts ten. für loyale Mitarbeit. MiDer Abglanz seiner adligen Vergangenheit liegt noch in den nisterialdirigent Hans Globke verfügt aus Adenauers Sicht Räumen des neuen Kanzleramts, als Adenauer im November über zwei weitere Vorteile. Er liegt politisch ganz auf Linie des mit seinem Stab einzieht. Bis alles fertig ist, muss er allerdings Kanzlers, und er hat einen Makel, der ihn auf die Gnade des noch mit Handwerkern kämpfen. Farbe blättert von den Wän- Kanzlers angewiesen sein lässt: In seinem Vorleben als Oberden, die Decken sind morsch, heißes Wasser gibt es nicht. Der regierungsrat des Reichsinnenministeriums war er einer der spätklassizistische Bau, einst Prunksitz des Geschlechts zu amtlichen Kommentatoren zu den Nürnberger RassegesetSchaumburg-Lippe, nun Keimzelle demokratischer Macht, ist zen. Rücktrittsforderungen begegnet Adenauer in seiner joein wackliges Provisorium, so wie die ganze Republik. vial-herablassenden Art: „Ich wüsste keinen, den ich an seine Mit aller Kraft stürzt der Kanzler sich in die Ausstaffierung Stelle setzen könnte.“ des Palais, lässt sich Zeichnungen und Baupläne vorlegen und Globke wird Adenauers Ingenieur der Kanzlermacht. Er diktiert Anweisungen an den Innenarchitekten. „Ich weiß bildet Abteilungen und Unterabteilungen, rekrutiert Beamte, nicht“, schreibt er dem Möbelrücker, „ob Ihnen schon aufge- ernennt Referatsleiter und knüpft Verbindungen in die umfallen ist, dass sowohl der Schreibtisch wie auch diese Sessel liegenden Häuser. Sorgfältig baut er die Kabinettsstruktur im mit Armlehnen alles andere als stabil sind.“ Miniaturformat nach, jedes Ministerium wird durch ein eigenes Referat repräsentiert. Mit Hilfe dieser sogenannten Spiegelreferate ist Globke in der Lage, aus dem Palais SchaumDIE STAATSMASCHINE burg heraus die Arbeit der Minister zu überwachen und seiAdenauer ist nach außen der Prototyp des knorrigen Patriar- nen Kanzler jederzeit über Konflikte und Intrigen zu unterchen; ein wortkarger Kölner, Liebhaber der Rosenzucht und richten. Tatsächlich ist er so erfolgreich, dass seine Schöpfung der Gartenkunst, verwitwet, konservativ und politisch unbe- der Misstrauensbürokratie bis heute überlebt hat und jedem lastet, eine Vaterfigur, zu der die Deutschen aufsehen können. Kanzler seither gute Dienste erweist. Adenauer nimmt sich die Macht, als wäre sie für ihn reDaneben gibt es den Machtmenschen, der nichts dem Zufall überlässt, nicht einmal die Farbe der Fensterläden, unnach- serviert gewesen, das macht einen Teil seines Nimbus aus. giebig bei der Durchsetzung seiner Interessen, im Notfall ver- Der Tag beginnt um neun Uhr mit Besprechungen und Sitzungen, mittags wird geruht, in seinen Privaträumen hatte schlagen und manipulativ. Es ist eine Last, der erste Kanzler zu sein, es gibt kein Vor- der alte Herr eine hölzerne Gartenliege aufstellen lassen, mit bild, keine Anleitung – es ist aber auch ein großes Glück. Wer dickem Polster. Es sind gemütliche Jahre, ein wenig bieder
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KONRAD R. MÜLLER
LUDWIG ERHARD „1972. Es ist der 4. Februar. Ich darf Ludwig Erhard zu seinem 75. Geburtstag in Bonn besuchen und einige Porträts von ihm machen. Es geht wie immer ohne große Show vonstatten. Ich arbeite bei Tageslicht, mit Kamera und Stativ. Fünf Jahre später sehe ich Erhard ein letztes Mal. Es ist sein 80. Geburtstag. Es gelingt mir, eine von ihm angerauchte Zigarre zu entwenden. Es wird eine der letzten gewesen sein, denn wenige Wochen später stirbt der zweite bundesdeutsche Kanzler in Bonn.“
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KONRAD R. MÜLLER
KURT GEORG KIESINGER „1969. Es ist Wahlkampf in Deutschland, der Bundeskanzler reist durchs Ländle. Mit imponierender Geste und großer Rhetorik warnt er vor der angeblich herannahenden Flut aus Fernost: ‚Ich sage nur China, China, China‘, eigentlich sagt er Kina, Kina, Kina. Später im Jahr, am Wahlabend, während sich Kiesinger von seinen Parteifreunden schon als Wahlsieger feiern lässt, haben Walter Scheel und Willy Brandt die rechnerisch mögliche, später realisierte erste sozial-liberale Koalition verabredet.“
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vielleicht, der Kanzler kann sich zum Regieren noch Zeit neh- Jeder Kanzler, der nach Ludwig Erhard in den Bungalow einzog, men. Die Öffentlichkeit bleibt auf respektvoller Distanz, Jour- veränderte Details, Schmidt ließ Wände einreißen und Bäder nalisten sind keine „Wegelagerer“, wie Helmut Schmidt sie versetzen, Kohl spannte Tapete vor die verklinkerten Wände später nannte, sondern, bis auf Ausnahmen, Gesprächspartner. und brachte Spiegelleisten an. Behutsam wie Archäologen haEine durchaus vordemokratische Einstellung zur Presse ben die Sanierer jetzt Schicht für Schicht wieder abgetragen. zeigt sich während der „SPIEGEL-Affäre“ 1962, die sich zur Als Erhard im Herbst 1963 zum Kanzler gewählt wird, will Regierungskrise ausweitete. Die Redaktionsräume des SPIE- er vor allem gute Stimmung verbreiten. Seinen Mitarbeitern GEL waren von der Polizei durchsucht und besetzt worden, begegnet Erhard fast väterlich. Er gibt Partys und Empfänge; weil Verteidigungsminister Franz Josef Strauß das Magazin es sieht aus, als wollte er die Republik nicht führen, sondern mit des Landesverrats für schuldig hielt; Redakteure wurden ver- ihr feiern. Die Macht rinnt ihm durch die Finger, bevor er sie haftet, auch der Herausrichtig packen kann. Er geber Rudolf Augstein. hat viele gute Pläne, aber Strauß musste danach führt nichts zu Ende. zurücktreten, Adenauer Die Menschen mawar mit beschädigt. chen Witze über ihn Das Ende kommt und seinen Bungalow, für den ersten Kanzler das „Palais Schaumdennoch überraschend, bad“ mit dem Minitrotz seines Misstrauens Schwimmbecken in der und Globkes ÜberwaMitte. Wofür, fragen die chungsapparats. AusgeZeitgenossen, braucht rechnet sein erfolgreiein Nichtschwimmer cher Wirtschaftsminiseinen Pool? Die Abter, der pausbäckige, geordneten im Hausnach Zigarre und Gehaltsausschuss quälen mütlichkeit riechende ihn mit Kostenvorgaben Ludwig Erhard führt und streichen ihm das den Streich. Für die poliGeld für einen neuen tisch Feinfühligeren hinWeg zwischen Bungagegen hatte es sich seit low und Kanzleramt. längerem angekündigt: Der Kanzler muss LochAdenauer ist 83 Jahre alt, bleche verlegen lassen, als er 1959 seine Ambidamit sein Dienstwagen tionen auf einen Wechbei Regen nicht im RaKanzlerbungalow in Bonn, entworfen von Sep Ruf sel in das Amt des Bunsen versinkt. despräsidenten erkennen lässt. Das ist zu viel, selbst den eigeErhard scheitert, weil er der Nette sein will, der gemochte nen Parteifreunden. Kanzler. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Führung zu zeiEr hat die Macht überdehnt, auch das kann in der Demo- gen und Gefolgschaft zu erzwingen. Widersacher können gekratie den Machtverlust einleiten, wie sich hier erstmals zeigt. kauft oder kaltgestellt werden. In jedem Fall aber braucht es die Der Grund ist eine Wahrnehmungsstörung, die sich fortan Präsenz im Kanzleramt, den Willen zur Führung. Kanzlerimmer wieder im Laufe einer Kanzlerschaft einstellen wird schaften sind zunächst Ausdauerleistungen. Nur wer über eine und dann das Ende befördert: Der Bezugsrahmen reduziert robuste Natur verfügt, eine eiserne Gesundheit und eine gewisse sich auf den Kreis der Gefolgsleute und am Kanzlerhof zuge- Gefühllosigkeit, hält durch. Die nachdenklichen, empfindsalassenen Satrapen. Damit erreichen den Regierungschef nur meren Naturen kommen in der Regel gar nicht so weit nach noch die Informationen, die ihm gefallen, sein Ehrgeiz er- oben, schaffen sie es doch einmal, wirken sie merkwürdig verlahmt und auch sein Gefahrensinn. loren, da hilft selbst die Machtmaschine im Hintergrund nicht. Auch der Schwabe Kurt Georg Kiesinger erweist sich, wie sein Vorgänger Erhard, als Kanzler des Übergangs, beliebt beim IM BUNGALOW Volk, ohne daraus Kapital schlagen zu können. Wie jener ist er Das Haus steckt in dem sanft zum Rhein abfallenden Rasen, undiszipliniert, mit einem Hang zum Wolkigen, Unbestimmten. Kiesinger, der den Kanzlerbungalow als Wohnhaus überals hätte jemand zwei große Klötze ein wenig versetzt nebeneinander auf dem Boden abgesetzt. Es ist ein moderner nimmt, fühlt sich im Gegensatz zu Erhard in den beiden Bau, entworfen in dem von Adenauer verachteten Bauhaus- Blöcken nie wirklich wohl. Er schläft schlecht, häufig steigt er Stil, der Alte musste nie darin wohnen, doch er hasste ihn aus früh um vier aus seinem Bett, schlurft ins Studierzimmer, der Ferne. Die Fenster reichen vom Boden bis zur Decke und liest Romane oder schreibt Gedichte. Nach seinem Auszug überschwemmen die Räume so hell mit Tageslicht, als woll- 1969 finden die Packer wichtige Mappen mit Dienstvorgängen te Ludwig Erhard, der neue Regierungschef, durch die Schie- hinter den Büchern im Regal. Die Geschichte ist mit Kiesinger nicht sehr freundlich umbetüren rufen: Meine Politik ist Offenheit! Der Bungalow, den der Vater des Wirtschaftswunders planen gegangen, er gilt heute als eher mediokre Gestalt, am ehesten und von seinem Architekten Sep Ruf bauen ließ, steht heute ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Sekretärin wieder da wie vor 40 Jahren. Handwerker haben ihn mit Stif- Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedtungsgeldern weitgehend in den Erhard-Zustand zurückgebaut. schaft verpasste. Dass Kiesinger vermutlich der gebildetste, in
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JENS SCHICKE
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Wie viele Charismatiker wirkt er durch seine Aura. Seine Reden sind ordentlich, aber nicht herausragend, oft sogar sehr nüchtern, wie der Historiker Manfred Görtemaker festgehalten hat. Die Bürger berührt nicht so sehr, was er sagt, DAS NEUE AMT sondern mehr, wie er es sagt. Wenn Adenauer das Vertrauen Den sozialdemokratischen Herren, die 1969 in die mit Wand- in die Demokratie begründet hat, dann kommt mit Brandt die teppichen und Standuhren ausstaffierten Räume des Palais Leidenschaft für diese Staatsform. Im Nachhinein hat sich das Bild eines Träumers festgeSchaumburg einziehen, ist schon beim Einzug klar, dass sie hier nicht lange bleiben wollen. Kaum hat Willy Brandt an Adenau- setzt, dabei ist der Kanzler, zumindest in seiner ersten Amtsers Schreibtisch Platz genommen, erteilt sein Kanzleramtschef zeit, auch ein ausgesprochen fleißiger Arbeiter. Aber er hat immer längere Phasen inHorst Ehmke den Aufnerer Abwesenheit. Es trag zu einem Neubau kommt selbst bei Gegleich nebenan. Das Pasprächen mit ausländilais ist ihnen zu vermufft, schen Regierungsmitzu sehr fünfziger Jahre, gliedern vor, dass Brandt insgesamt zu klein für die minutenlang ins Leere Ansprüche der ersten sostarrt, den Blick verhanzial-liberalen Regierung. gen. Nach der WiederDen neuen Machthabern wahl 1972, die mit dem schwebt etwas Moderhöchsten Wahlergebnis nes, Zeitgemäßes vor, das in der Geschichte der den Elan und FortSPD endet, verfestigen schrittsoptimismus der sich die Absenzen zu neuen Ära verkörpert. Depressionen. Immer Der Bau, der in Sichtöfter muss nun Ehmke weite emporwächst, ist zu ihm nach Hause eiein mit bronzefarbenem len und ihn aus dem Bett Aluminiumblech umrütteln: „Willy, aufstemantelter Zweckbau, hen, wir müssen regiemehr Versicherung als ren.“ Machtzentrale. Vor alDas innenpolitische lem aber ist das neue Erbe Brandts ist eher Kanzleramt groß, man kläglich, deshalb stellen braucht Platz für die vieKanzleramt in Bonn, entworfen von der Planungsgruppe Stieldorf seine Bewunderer spälen Beamten. Mehr als hundert neue Mitarbeiter stellt Ehmke ein, aus der ver- ter auch immer die Ostpolitik in den Vordergrund. Die Sozialgleichsweise schlanken Verwaltung unter Adenauer mit einem politik ist mit Schulden finanziert, auf die Wirtschaftskrise, die Staatssekretär an der Spitze, zwei Abteilungen und neun Re- Deutschland Mitte der siebziger Jahre trifft, ist die Regieferaten wird eine Großbehörde: Chef Bundeskanzleramt, zwei rung nicht vorbereitet. Als die Gewerkschaft des Öffentlichen Staatssekretäre, fünf Abteilungen, 22 Gruppen und Referate. Dienstes 15 Prozent Lohnerhöhung fordert, fühlt sich Brandt Der ehemalige Staatsrechtler Ehmke träumt vom perfekt zu schwach, um standhaft zu bleiben. Am Ende reicht eine Akorganisierten Gemeinwesen, Fehler sind für ihn nicht die Fol- tenmappe mit Andeutungen über Frauengeschichten, um ihn ge menschlicher Unzulänglichkeit, sondern mangelhafter Pla- aus dem Amt zu kippen. Es ist ein Anschlag auf einen, der nung. Sein Amt soll eine Art Politik-Leitwarte werden mit nicht mehr kämpfen will: Verfassungsschutzchef Günther ihm am Steuerpult. Sein ganzer Stolz ist dabei das von ihm Nollau hat die Geschichten im Nachgang zur Guillaume-Affäre erdachte „Vorhaben-Erfassungssystem“, mit dem er Willkür sammeln lassen, die Mappe geht an SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, und der hält den Kanzler nicht vom Rücktritt ab. und Chaos in den Griff bekommen will. Jedes Ministerium muss auf Datenblättern Rechenschaft So kommt Schmidt, als Ausputzer und Manager der Krise. Das Urteil der Historiker über Schmidt ist nicht so einüber geplante Vorhaben ablegen. Das Verteidigungsministerium stellt einen Computer zur Datenverarbeitung zur Ver- deutig wie das des Volkes, das den 90-Jährigen bedenkenlos fügung. Jeden Monat spuckt der Rechner eine Liste aus, auf unter die größten lebenden Staatsmänner einordnet. Görteder sich ablesen lässt, wer welche Gesetze plant, was sie kos- maker hält ihn für einen „Mann ohne Fortune“; Arnulf Baring beschreibt ihn gar als „erstaunlich rachsüchtigen, ressentiten sollen und wie lange die Umsetzung dauern wird. Es ist ein seltsames Gespann, das nun die Geschicke des mentgetriebenen Politiker“. In jedem Fall ist kein Kanzler je so diszipliniert gewesen. Landes leitet. Vorn, in Rufweite des Kanzlers, der ungestüme, von Arbeitsattacken heimgesuchte Umkrempler Ehmke, hin- Was ihm an Charisma fehlt, macht Schmidt durch Präzision ten, im Kanzlerbüro, der oft in sich gekehrte Melancholiker und Fleiß wett. Sein Aktenhunger ist legendär; wenn er im UrBrandt. Mit dem Sohn einer Verkäuferin betritt ein Politiker- laub ist, lässt er sich alle Vorgänge ins Ferienhaus bringen. Und typus die Bühne, wie es ihn so in Deutschland noch nicht ge- er hat zwei weitere Eigenschaften, die den Normalbürger für geben hat – und bis heute auch nie wieder gab. Die Kanzler vor ihn einnehmen: seine Vergangenheit als deutscher Offizier und nach ihm wurden geachtet und respektiert, wenn es gut- und sein scharfgeschnittenes Profil, das ihn von den weichen, wattierten Gesichtern in seiner Umgebung vorteilhaft abhebt. ging, vielleicht sogar verehrt. Brandt wurde geliebt.
FRITZ FISCHER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
jedem Fall aber der intellektuellste aller Kanzler war, ist in Vergessenheit geraten.
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WILLY BRANDT „1976. Brandt ist auf einer seiner legendären Wanderungen durch Deutschland. Wir sind ein überschaubarer Tross, der den SPD-Vorsitzenden und Altbundeskanzler durch den Teutoburger Wald begleiten darf. Wir summen die Melodie von ‚Herrn Pastor sin Kau‘, während Willy Brandt auf einer Mandoline spielt und gefühlte 200 Strophen zum Vortrag bringt. Abends muss der Friedensnobelpreisträger mit hundertjährigen Parteimitgliedern am Ehrentisch sitzen, während wir es uns mit der Dorfjugend gutgehen lassen.“
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KONRAD R. MÜLLER
HELMUT SCHMIDT „1980. Der Kanzler reist in einem Salonwagen aus den dreißiger Jahren durch Deutschland. Es ist Wahlkampf, und die Fortbewegung in einem Sonderzug ist für heutige Verhältnisse unfassbar gemütlich. Das Zugpersonal muss allerdings fast rund um die Uhr arbeiten, denn nach der letzten Großkundgebung kehrt die gesamte Mannschaft, der Bundeskanzler an der Spitze, in den bereitstehenden Sonderzug zurück.. Dann beginnt der gemütliche Teil des Tages, und manch einer ist froh, dass sein Bett nur drei oder vier Waggons entfernt ist.“ SPIEGEL GESCHICHTE
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Schmidt beweist, dass man es trotz schlechter Nachrichten Links neben den Schreibtisch kommt ein Fischtank, in die zu beträchtlicher Popularität bringen kann. Krisenzeiten kön- Bücherregale wird die Mineraliensammlung geräumt, danenen für einen Kanzler durchaus gute Zeiten sein. In seine ben die Münzen. Es ist ein Bekenntnis zur Normalität, eine Amtsperiode fallen die Ölkrise, der Deutsche Herbst, die Demonstration des Biedersinns, die auch so verstanden wird. Nachrüstungsdebatte. Als Problem erweist sich dabei nicht das Mit Kohl hält der Strickjacken- und Pantoffelkonservativismus Volk, das auf den Kanzler hört, sondern die eigene Partei. Einzug: Nie wäre es Schmidt eingefallen, am Arbeitsplatz die Was bei der Mehrheit für Autorität sorgt, wird dort als auto- Schuhe auszuziehen, um in bequeme Slipper zu schlüpfen. ritär verachtet. Die Linke hält Kohl lange für einen Betriebsunfall der GeDie Partei ist die natürliche Machtbasis jedes Kanzlers. Sie schichte, den die nächste Wahl bereits korrigieren würde. Er verschafft ihm die Akklamations- und Bestätigungskulisse, ist der Dicke, die Birne, der Trampel. Ganze Generationen die es braucht, um im von Journalisten schreiNamen des Volkes zu ben sich die Finger sprechen. Die Bundeswund, um ihn zu erleditagswahl alle vier Jahre gen. Es werden Gegenreicht als Legitimation spieler aufgebaut, Ropolitischen Handelns chaden durchgespielt nicht aus, ständig wird und Intrigen befördert, ein Kanzler mit Umfraaber immer sitzt Kohl gen und Landtagswahlam Aquarium, trinkt seiergebnissen konfronnen Pfälzer Riesling und tiert, die als Abstimregiert das Land, rund mung über seine Politik und selbstzufrieden wie interpretiert werden. ein Buddha, bis man sich Aus der Partei droht am Ende gar nicht mehr damit auch die größte an eine Zeit ohne ihn erGefahr. Wenn die eigeinnern kann. nen Leute das Zutrauen Kohl ist der deutsche verlieren oder sich der Volkskanzler. Er repräFührung verweigern, ist sentiert viel mehr die das Ende nah. Dann Mitte als die meisten, bleibt nur der Rücktritt die das später von sich wie bei Adenauer oder behaupten. Kein Kandidas Ausharren bis zum dat hat jemals so viele Koalitionsbruch, was Stimmen auf sich vereiKohls Arbeitszimmer im Bonner Kanzleramt 1985 Schmidt als Lösung benen können wie der vorzugte. Gerade die SPD macht es ihren Kanzlern traditionell schwarze Riese. Auf sagenhafte 43,7 Prozent der Wahlbeschwer. Regieren heißt, Überzeugungen zurückzustellen: Wer rechtigten bringt es Kohl 1976, auf 43,1 Prozent noch einmal eher am Machterhalt als an Programmen interessiert ist wie 1983. Zum Vergleich: Schröder konnte 1998 33,2 Prozent der die CDU, hat damit weniger Probleme, wer hingegen von ei- Wahlberechtigten für sich gewinnen, was zum Einzug ins nem ideologischen Anspruch lebt, quält sich im Regierungs- Kanzleramt reichte, Angela Merkel rettete sich mit 26,9 Proalltag. So sehnt sich die SPD, kaum an die Macht gekommen, zent ins höchste Regierungsamt. zurück in die Opposition. Es gab früh Hinweise, dass die Kritiker falsch lagen mit der Sechs Jahre hat Schmidt regiert, als er beim Streit um den Einschätzung von Kohl als deutschem Simpel. Hinter der FasNato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung der in Deutschland sade des Biedermanns steckt ein gewiefter Taktiker, der gut stationierten US-Raketen endgültig den Keil zwischen sich kalkuliert, wie weit er gehen kann. Wie viele Kanzler ist Kohl und die Partei treibt. Vielleicht hat er die SPD unterschätzt, die lesefaul, was Akten angeht, ihn interessieren als Lektüre eher in großen Teilen zur Friedensbewegung überläuft, vielleicht Biografien und historische Werke; dafür besitzt er eine rahat er sie auch provozieren wollen. Jedenfalls will die Partei sche Auffassungsgabe für politische Stimmungen und ein feiihren Kanzler zwingen, die Nachrüstung mit neuen Atom- nes Gespür dafür, wo Gefahr lauern könnte. Im Zweifel ist er raketen abzusagen, auch aus einem romantischen Pazifismus, sogar recht skrupellos in der Absicherung der Macht, wie für den Schmidt, der Offizier, nur Verachtung übrig hat. spätestens die Spendenaffäre zeigt. So verlieren die Sozialdemokraten 1982 nicht nur das KanzKaum einer hat den Deutschen so viel zugemutet wie Kohl. leramt, weil die FDP entnervt wegen der Dauerquerelen die Er führt sie entschlossen in die Einheit, zementiert ihren Seiten wechselt: Sie sind auf Dauer geschwächt, weil die Grü- Platz in Europa, was sie mit der Aufgabe nationaler Entnen, die sich in diesen Jahren bilden, sich nicht als das Über- scheidungsrechte bezahlen, und nimmt ihnen am Ende sogar gangsphänomen erweisen, das die SPD-Führung in ihnen die D-Mark. Wäre es nach den Umfragen gegangen, hätte er sieht, sondern als vierte politische Kraft. keines der Projekte so durchziehen dürfen: Immer ist die Mehrheit skeptisch, manchmal sogar ablehnend, aber am Ende lassen die Bürger ihn gewähren und honorieren die EntAM AQUARIUM scheidungsfreude mit Wiederwahl. In der Außenpolitik legt Der neue Hausherr im Kanzleramt richtet sich in seinem der Kanzler ein Temperament an den Tag, das in auffälligem Reich so wohnlich ein, als müsse er es nie wieder verlassen. Kontrast zu der bräsigen Vorsicht steht, mit der er in innen-
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ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO
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Christian Bach / BACH & PARTNER
Es gibt nicht viele Politiker, die in ihrer Karriere so verlässpolitischen Fragen agiert. Der parlamentarische Betrieb hasst schnelle, ungestüme Entscheidungen, aber gerade sein lich auf die Unterstützung der Medien bauen konnten wie Vorwärtsdrang lässt Kohl alle Widerstände überwinden, weil Schröder, das trägt ihm den Ruf des „Medienkanzlers“ ein. Mit Hilfe der Journalisten ist er aufgestiegen, gegen den Widerer ihnen nie genug Zeit lässt, sich richtig aufzubauen. Je länger Kohl regiert, desto weniger will er von der stand in weiten Teilen der Partei; mit ihrer Hilfe erobert er das Welt wissen – er erlahmt und wird bequem. Vor Unter- Kanzleramt, und als er endlich drin sitzt, vertraut er auf sie als redungen bekommen Besucher den Rat, gleich zu Beginn Übermittler und Erklärer seiner Politik. Schröder eignet sich vorzüglich als Titelheld. Er spricht ein ihr Anliegen in zehn knappen Sätzen vorzutragen, weil sie danach nicht mehr zu Wort kommen werden. Es gibt lan- klares, allgemeinverständliches Deutsch. Er verfügt über Mutge Abende im Bungalow, zu denen sich die Getreuen einfin- terwitz und eine beträchtliche Portion Charme. Vor allem aber weiß er sich die den, aber die Runden größte Schwäche der drehen sich um die Medienleute, ihre Eitelimmer gleichen Thekeit, zunutze zu mamen. Man darf sich vorchen: Er gewährt großzeitig entschuldigen, zügig Zugang und gibt doch es wird als Unauf Wunsch den Maartigkeit vermerkt. cher, den Rabauken oder Nach der dritten den Feingeist, der sich Wiederwahl 1994 ist für Kunst und Literatur Kohl nicht mehr willens interessiert. „Porträt sitund in der Lage zum zen“ nennt er die GeNeuanfang – und einen spräche mit den ReporNachfolger kann er tern, die ihm ins Haus nicht akzeptieren. So geschickt werden. verliert er erst das VerSein halbes Leben hat trauen von FraktionsSchröder auf die Kanzchef Wolfgang Schäuble, lerschaft hingearbeitet, der als Einziger den aber als er sie endlich Machtverlust hätte abbesitzt, weiß er nicht gewenden können, dann nau, was er mit ihr anden Kontakt zur Mitte fangen soll. Er will es zu der Gesellschaft, auf die vielen recht machen und er sich immer verlassen verzettelt sich. Die Neukonnte. „16 Jahre sind Kanzleramt in Berlin, entworfen von Axel Schultes en im Amt bringen Gegenug“ oder, kürzer noch, „Kohl muss weg“ reicht der anderen Seite als Slogan, um setze ein, die so schludrig gearbeitet sind, dass sie nicht funktionieren. Sie machen rückgängig, was die Vorgänger noch zu gewinnen. Als am Abend des 27. September 1998 die ersten Zahlen ein- an Reformen auf den Weg gebracht haben, um bald festzugehen, sitzen alle ein letztes Mal im Bungalow zusammen stellen, dass dies ein Fehler ist. Nun erweist sich auch das und trinken Wein aus dem reich bestückten Keller. Die Stim- Bündnis mit den Medien als weniger belastbar als gedacht. In einem Kraftakt ringt sich Schröder zu einem großen mung ist gelöst, fast heiter. Reformpaket durch, er nennt es „Agenda 2010“, doch ausgerechnet jetzt verlässt ihn das Glück. Die Zahl der Arbeitslosen NACH DEM UMZUG steigt auf über fünf Millionen, ihm fehlt die Zeit, die er am AnVier Jahre dauern die Arbeiten am Kanzleramt in Berlin, fang vertan hat. Er müsste jetzt Geduld beweisen, bis sich die 238 Millionen Euro hat es gekostet, am 2. Mai 2001 kann Wirtschaftsdaten bessern und die Stimmung wieder dreht. Gerhard Schröder einziehen. Es ist ein hochaufragendes, Vergebens redet sein Freund Frank-Walter Steinmeier auf ihn lichtdurchflutetes Gebäude mit breiten Sichtachsen, ein Thea- ein, jetzt bloß nicht aufzustecken, aber Schröder ist nicht der terbau für die große Politik, der die Sparkassenbescheidenheit richtige Mann fürs Zuwarten. Er braucht die Auseinanderdes Bonner Amtssitzes bis ins Detail der Türgriffe hinter setzung, um auf Touren zu kommen, die Aufregung des Wahlkampfs. Deshalb erzwingt er vorzeitige Neuwahlen, auch um sich lässt. Das Amt symbolisiert die wiedergewonnene Souveränität den elenden Wartezustand zu beenden. So sitzt Schröder am 21. November 2005 zum letzten Mal des vereinigten Deutschland, es steht für eine Republik, die über die Jahre gereift ist und nun auch in den staatlichen an dem großen, blaugrauen Schreibtisch, den ein Berliner Repräsentationsbauten selbstbewusst ihre Größe und Be- Tischler nach Maß gefertigt hat. Das meiste ist schon in Kisten deutung herzeigt. Schröder äußert sich beim Einzug eher verpackt, die wenigen persönlichen Erinnerungsstücke, das missmutig, ihm gefällt das Haus nicht, schon weil es Kohls Bild seiner Frau, der umgedrehte Adler von Baselitz. Es ist ein Vermächtnis ist. Außerdem ist es ihm zu protzig geraten, sagt windig-kalter Tag, man kann aus dem Kanzlerbüro die Mener jedenfalls. „Wir fahren nicht vor, wir kommen“, hat er als schen in der Kuppel des Reichstags sehen. Am anderen Tag wird der Nächste hier sitzen und sein Motto ausgegeben, um den Bruch mit dem Vorgänger zu markieren, ein Anspruch, dem er selbst sogar erstaunlich Glück versuchen, eine Frau diesmal. Ein neues Kapitel kann beginnen in der Geschichte der Kanzlermacht. lange gerecht wird.
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HELMUT KOHL „1991. Der Bundeskanzler ist auf seiner Amerika-Reise in San Francisco eingetroffen. Die gesamte Delegation, inklusive der Flugzeugbesatzung, macht eine Schiffsreise durch die Bucht vor der Stadt, um auf einer kleinen Felseninsel das ehemalige Zuchthaus Alcatraz zu besuchen. Bei Ausflügen dieser Art müssen immer alle mit. Helmut Kohl spielt den Reiseleiter und ist mit unwiderlegbaren Fakten präsent.“
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GERHARD SCHRÖDER „2001. An einem Samstag im März besucht das Ehepaar Schröder das im Bau befindliche neue Kanzleramt in Berlin. Der Architekt Axel Schultes hat unverrückbare Vorstellungen von der Innenausstattung des gesamten Hauses. Dem wollen sich die Schröders nicht beugen und inspizieren mit einer befreundeten Innenarchitektin und mir die 7. Etage, Arbeitsebene des Bundeskanzlers. Es geht darum, die generell verlegte, türkisfarbene Auslegware zumindest im Kanzlertrakt zu verhindern. Bei der Gelegenheit zeigt mir Gerhard Schröder, an welcher Stelle er exakt seinen Schreibtisch installieren möchte. Die Leiter dient der Ortsbestimmung. Später erscheint der Architekt, wahrscheinlich informiert über den unangemeldet aufgetauchten Hausherrn. Die Unterhaltung verläuft frostig, vor allem Frau Schröder hält mit ihrer Ablehnung des noch von Helmut Kohl bestellten Neubaus nicht hinterm Berg. Das Ehepaar setzt sich zumindest auf dieser Etage mit seinen Änderungswünschen durch. Im Lauf der Jahre hat sich der Bundeskanzler mit seinem Amtssitz ausgesöhnt.“
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Atomkraftgegner, Pazifisten, Frauenrechtlerinnen – in den siebziger und achtziger Jahren schickte sich eine Generation an, die Gesellschaft zu verändern. Mit den Grünen erreichte der Protest auch die Parlamente.
Eine klitzekleine Utopie Von MANFRED ERTEL
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wei Tage lang hatten sie sich redlich gemüht, einem der großen politischen Projekte im Nachkriegsdeutschland auf die Beine zu helfen. Sie wollten eine Alternative zu den etablierten Parteien schaffen: die Grünen. Linke und Landschaftsschützer, Anarchos und Anthroposophen, Christen und kommunistische Kader hatten gestritten, getrickst und gepöbelt. Und sich immer wieder zusammengerauft. Sie hatten in der stickigen Halle geduldig skurrilen Minderheiten zugehört und über jede noch so krude Idee immer schön basisdemokratisch abgestimmt. Doch dann, gegen 17.10 Uhr, steht plötzlich wieder alles auf der Kippe. „Wir haben jetzt noch vier Minuten“, verkündet Versammlungsleiter DietrichWilhelm Plagemann.
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loren, unter anderem sind Die Ansage ist für viele sie mit ihrer Forderung ein Schock. Bis spätesnach einem „Recht auf tens 17.15 Uhr, so Notwehr und soziawollte es die Verlen Widerstand“ unsammlung, muss die terlegen. Vor allem Parteigründung beaber soll Aktivisten schlossen sein – oder in K-Gruppen und eben nicht. Eine VerBunten Listen eine längerung um eine Doppelmitgliedschaft Viertelstunde ist da bei den Grünen verschon inklusive, ein wehrt sein. weiterer Nachschlag eiPlagemann will die Pargentlich ausgeschlossen. tei retten, noch bevor sie Doch immer neue Abstimrichtig am Leben ist. Er vermungen und Auszählungen Parteilogo 1980 liest einen Antrag auf eine lähmen den Saal, die Schlussabstimmung scheint in weiter zweite Verlängerung: „15 Minuten mehr, das müsste reichen.“ Das Protokoll der Ferne. Geschulten Wortführern aus dem historischen Sitzung vermerkt an dieser Kommunistischen Bund wie Jürgen Stelle: „Anhaltender Widerspruch“. „Die Uhr geht nach“, ruft plötzlich Reents, heute Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, ist das nur recht. Sie einer aus dem Saal. Tatsächlich hat wohl haben wichtige Richtungskämpfe ver- jemand den großen Chronografen in der
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REINHARD JANKE
Demonstration vor dem Atomkraftwerk Brokdorf im Juni 1986
Halle vorübergehend angehalten, um Zeit zu schinden. „Zehn Minuten“ lang, wie Wilhelm Knabe, später einer der Grünen-Vorsitzenden, feststellt. Ein anderer meldet sich „im Namen der norddeutschen Delegierten“ zu Wort und lehnt jede weitere Verlängerung strikt ab. Die Sammelkarte für die Rückfahrt mit der Bahn nach Hamburg würde sonst verfallen: „Wir haben einige Gehbehinderte, wir müssen jetzt praktisch los.“ Am Ende siegt doch noch die Vernunft. Die Versammlung einigt sich auf 15 zusätzliche Minuten, die letzte Auszählung wird in Ruhe beendet, danach über den Gründungsbeschluss abgestimmt. „Die Mehrheit ist da“, verkündet schließlich der niedersächsische Grüne Heiner Ohmstedt erleichtert vom Präsidium herab. Es ist der 13. Januar 1980, als in der Karlsruher Stadthalle mit der Gründung der grünen Bundespartei eine neue po-
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litische Zeitrechnung beginnt. 1004 Delegierte, Bürger- und Umweltbewegte, Sozialisten und Radikaldemokraten, Altbürgerliche und Alternative, beenden einen langen Marsch durch die außerparlamentarische Opposition, um sich ab sofort auf einen neuen Weg zu machen: die Erstürmung der Parlamente.
Die Delegiertenzahl ist nicht ohne Hintersinn gewählt. 1004 ist die Nummer des Bohrlochs in Gorleben und damit Symbol des Atomprotests in jenen Tagen, Symbol auch einer ganzen Generation, die für Auflehnung gegen staatliche Obrigkeit und politische Bevormundung steht. Es ist eine politisch bewegte und bewegende Zeit. Die Sowjets sind in Afghanistan einmarschiert, die Nato hat mit Unterstützung der Bundesregierung den „Doppelbeschluss“ zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen durchge-
setzt, die SPD hat auf ihrem Berliner Parteitag die Mitglieder auf strammen Atomkurs eingeschworen. Und Franz Josef Strauß schickt sich an, als Kanzlerkandidat von CDU und CSU nach der Macht in Bonn zu greifen. Dass unter diesen Vorzeichen politisch etwas ganz Neues gelingen könnte, „das lag in der Luft“, sagt Lukas Beckmann, einer der Gründungsväter der Grünen und seit vielen Jahren Geschäftsführer der Bundestagsfraktion: „Die Leute wollten nicht immer Feuerwehr sein und zum Protest von einem neuen Kraftwerksstandort zum anderen eilen. Sie wollten endlich eine Stimme haben.“ Der Bauernsohn und gelernte Landwirt, der erst später Abitur machte und in Bielefeld Soziologie studierte, ist ein exemplarischer Typ für das Lebensgefühl einer ganzen Generation in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts.
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Vor allem Umweltskandale und Öko-Ängste munitionieren den Widerstand auf der Straße. Aber auch hier ist das Spektrum bunt. Es geht um Atomkraft, Waldsterben, Dioxin oder Chemie-Katastrophen wie in Seveso oder bei Boehringer. Der SPD-Wahlkampflosung von 1961, „Blauer Himmel über der Ruhr“, waren keine politischen Taten gefolgt. Erst ein Report des Club of Rome aus dem Jahr 1972 über die „Grenzen des Wachstums“ erschüttert die Technik- und Fortschrittsgläubigkeit der Deutschen nachhaltig. Der eigentlich unlesbare Wälzer wird zum Bestseller. Annemarie Sacherer ist eine einfache Weinbäuerin am südbadischen Kaiserstuhl. Zusammen mit Mann und Kindern sowie ihren Eltern bewirtschaftet sie einen mittelgroßen Winzerhof rund acht Kilometer entfernt von Wyhl. Mit großer Politik hat sie nicht viel im Sinn, bis 1971 das erste Mal vom Bau eines Atomkraftwerks in der Region die Rede ist, damals noch in Breisach, später in Wyhl. Der Kampf dagegen ist für sie „selbstverständlich“, sagt sie später. Ebenso für Tausende Winzer, Hausfrauen, Priester oder Bauern in der Re-
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gion. „Nai hämmer gsait“, hämmern sie den politisch Verantwortlichen in landsmannschaftlicher Mundart auf Flugblättern und Plakaten ins Bewusstsein. In 100 000 Einsprüchen formulieren sie ihr „Nein, haben wir gesagt“ auch auf Amtsdeutsch. An einem kalten Februartag 1975 schaffen es die Wyhler endgültig bis in die Nachrichten der Republik. Rund 150 Weinbauern okkupieren am 18. Februar kurzerhand das Baugelände im Wyhler Wald. Sie setzen sich auf Raupenbagger, mit denen die Bäume abgeräumt werden sollen. „Hört auf damit, geht nach Hause“, rufen sie den Arbeitern zu. Es dauert nicht einmal drei Tage, bis mehrere Hundertschaften Polizei anrücken, mit Hunden, Wasserwerfern und Panzerwagen. Die Polizisten räumen Wald und Bauplatz und sind dabei nicht zimperlich. „Wenn das Beispiel Schule macht, ist dieses Land nicht mehr regierbar“, rechtfertigt der badenwürttembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) sein hartes Durchgreifen gegen solche Proteste. Auf eine gewisse Art sollte er recht behalten, wenn auch ganz anders, als er sich das gedacht hatte. Denn kurz danach sind sie wieder da, im Wyhler Forst. Nur kommen diesmal nicht 150, sondern über 15 000 und später sogar 30 000 Demonstranten. Und Wyhl ist erst der Anfang. Brokdorf, Grohnde, Kalkar, Gorleben folgen. Die Demonstrationen werden häufiger, größer und blutiger. Es sind nicht mehr nur Nachbarn und Anlieger, Atomgegner mit ihren Ängsten kommen zu Zehntausenden, von überall her. Und treffen an den Bauzäunen auf eine hochgerüstete und kompromisslose Polizei. Am 13. November 1976 verteidigen Polizisten auf Pferden und mit Wasserwerfern gegen 40 000 Menschen ein mit tiefen Gräben und Nato-Draht gesichertes Wiesengelände bei Brokdorf in der Wilster Marsch. Drei Monate später sind in Brokdorf schon 60 000 Demonstranten, in Grohnde im März erneut 30 000. Wieder kommt es am Bauzaun zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Im September marschieren 50 000 Atomkraftgegner vor den Schnellen Brüter in Kalkar am Niederrhein, eineinhalb Jahre später sind es rund doppelt so viele in Gorleben vor dem geplanten atomaren Endlager. Der Anti-Atom-Protest ist auf seinem Höhepunkt und zugleich an einem Wen-
Grüne Demonstranten Otto Schily, Lukas Beckmann, Petra Kelly 1983
Künstler Joseph Beuys 1993
Öko-Bauer Baldur Springmann 1979
DDR-Regimekritiker Rudolf Bahro 1980
Abgeordneter Herbert Gruhl 1978
SPIEGEL GESCHICHTE
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Schon vor seinem Hochschulabschluss 1978 interessiert sich Beckmann für Entwicklungspolitik und die ungerecht verteilten Lebenschancen zwischen Nord und Süd. Er engagiert sich in der kirchlichen Jugendarbeit, macht mit bei Amnesty International, in DritteWelt-Gruppen oder einem Arbeitskreis Umwelt. Im Frühjahr 1978 gehört er zu den Initiatoren einer Bunten Liste Bielefeld und pflegt seine Freundschaft mit dem Aktionskünstler Joseph Beuys. Wie Beckmann sind damals viele auf der Suche, ältergewordene 68er und Nachgewachsene. Die meisten vagabundieren durch zahllose Polit-Zirkel und Grüppchen. Diese „neuen sozialen Bewegungen“, wie sie später genannt werden, haben vor allem eines gemeinsam: Sie sind „anti“. Gegen Immobilienspekulanten, gegen repressive Erziehung, gegen Frauenunterdrückung, gegen Atomkraft. Zwischen 15 000 und 20 000 Bürgerinitiativen wollen Historiker und Parteienforscher wie Lilian Klotzsch und Richard Stöss Mitte der siebziger Jahre in der Bundesrepublik gezählt haben. Die Summe der Umweltschutz-Initiativen schätzen sie zu diesem Zeitpunkt bereits auf 3000 bis 4000.
depunkt. Die brutalen Kämpfe an den Bauzäunen, von radikalen Gruppen für eigene Ziele genutzt, bringen die Anliegen der Widerstandsbewegung mehr und mehr in Misskredit.
Viele Aktivisten suchen nach neuen politischen Spielräumen. Die bieten ihnen nur die Parlamente. Als kleine, noch lokale Polit-Gruppen schießen Grüne und Bunte Listen aus dem Boden und bringen es bei Kommunalwahlen zu respektablen Anfangserfolgen. Im Herbst 1977 ziehen Grüne Listen und Atomkraftgegner in die Kreistage in Hildesheim und Hameln ein. Bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 1978 schafft eine „Bunte Liste / Wehrt Euch“ auf Anhieb einen Achtungserfolg: 3,5 Prozent für die Alternativen, dazu ein Prozent für konkurrierende Umweltschützer. Im Oktober 1979 erobern grüne Politiker erstmals ein Landesparlament. 5,1 Prozent reichen für vier Sitze in der Bremischen Bürgerschaft. Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer schlagkräftigen Bundespartei bleibt allerdings die schillernde Vielfalt der Grüppchen und ihrer Wortführer. Sie versammeln sich hinter dem gemeinsamen Label Umweltschutz, könnten aber unterschiedlicher kaum sein. Da ist der konservative CDU-Dissident Herbert Gruhl mit seinem Bestseller „Ein Planet wird geplündert“ ne-
Er ist es, der Dutschke in nächtelangen Sitzungen beschwatzt, sich mit dem CDU-Dissidenten Gruhl zu treffen. „Gruhl war der erste Konservative, der für uns interessant war“, sagt Horacek. Und das in doppelter Hinsicht. Denn der konservative Umweltschützer hatte sein Bundestagsmandat nach seinem Austritt aus der Union behalten und sollte später der erste grüne Abgeordnete werden. In Gruhls Abgeordnetenbüro in Bonn setzen sich Dutschke und Gruhl zusammen – und finden überraschend einen Draht zueinander. Vor allem „menschlich war es okay zwischen beiden“, erinnert sich Beckmann. Wieder ist eine Hürde auf dem Weg zur grünen Bundespartei genommen, die Bandbreite „von Gruhl bis Dutschke“ wird zum Symbol. Im Juni 1979, bei der ersten Europawahl, kandidierten die Grünen schon einmal bundesweit, als „Sonstige Politische Vereinigung“, und brachten es aus dem Stand auf 3,2 Prozent. Das reichte zwar noch nicht für einen Sitz im neuen Europaparlament, aber immerhin für 4,8 Millionen Mark Wahlkampfkostenerstattung. Der Batzen Geld bildet jetzt, kurz vor der Gründung, den finanziellen Grundstock für den Aufbau einer Parteiorganisation. In einem kleinen Büro hinter der Bonner SPD-Baracke und vis-à-vis des Konrad-Adenauer-Hauses der CDU wird das Logo erdacht: eine Sonnenblu-
Im Oktober 1981 demonstrieren in Bonn 300 000 für Abrüstung. ben akademischen Freidenkern wie Lukas Beckmann; da ist der bäuerliche Eigenbrötler Baldur Springmann neben den Frankfurter Spontis um Joschka Fischer. Alle sind sie unterwegs, irgendwie und irgendwohin. Der aus der DDR ausgebürgerte Sozialist Rudolf Bahro soll bei der neuen Partei ebenso dabei sein wie der einstige Studentenführer Rudi Dutschke, der 1968 bei einem Attentat in Berlin schwer verletzt wurde. Geeint werden die kunterbunten Aktivisten vor allem von Lukas Beckmann und Milan Horacek, einem tschechischem Elektromonteur, der seit dem niedergeschlagenen Prager Frühling 1968 in Frankfurt lebt und dort Politikwissenschaften studiert. Horacek engagiert sich bei der Grünen Liste Hessen und ist eng befreundet mit Dutschke.
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me, wie sie den Umschlagdeckel einer Zeitschrift der „Jungen Europäischen Föderalisten“ zierte. Beuys ist einverstanden. Und als endlich auch Dutschke seinen Widerstand gegen den Namen „Die Grünen“ aufgibt, kann der Gründungparteitag im Winter 1980 stattfinden.
Eineinhalb Jahre später geht es wieder um Minuten – vier Minuten bis zum Weltuntergang zeigt eine „Überlebensuhr der Menschheit“ auf dem evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg. Eine bunte Schar ist an die Elbe gekommen, Junge und Alte, lässige Alternative und irgendwie engagierte Christen – die meisten bekennende Nicht-Kirchgänger. Sie tragen lila Halstücher, „Umkehr zum Leben“ steht darauf. Gut hunderttausend sind es diesmal.
Es ist eine andere Protestbewegung, die jetzt heranwächst, sanfter und fröhlicher. Helmut Gollwitzer, in den sechziger Jahren ein väterlicher Freund von Rudi Dutschke, gehört dazu, Pastor Heinrich Albertz, ein christlicher Querdenker, die Links-Theologin Dorothee Sölle oder die grüne Theologin Antje Vollmer. Manche haben schon in den fünfziger Jahren gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung demonstriert. Sie geben dem Protest ein neues Gesicht und eine neue Richtung. Im Oktober 1981 werben im Bonner Hofgarten 300 000 Menschen für Abrüstung und Frieden, die bislang größte Demonstration der Nation. Das Wetter ist schön, zusammen singen sie „Das weiche Wasser bricht den Stein“ und „Wir wollen wie das Wasser sein“. Ein paar Monate später, beim Besuch von US-Präsident Ronald Reagan, sind es 500 000.
Am 29. März 1983 zieht die Partei in den Bundestag ein. Vor der ersten Sitzung rollen die neuen Abgeordneten eine mannshohe Weltkugel durch die Bonner Straßen zum Parlament. Joschka Fischer und Marieluise Beck-Oberdorf schleppen eine vom sauren Regen gerupfte Tanne mit sich, von der sie Helmut Kohl nach seiner Wahl zum Kanzler einen dürren Zweig überreichen. Der Protest ist im Parlament angekommen, der Widerstand gesellschaftsfähig geworden. Wie sehr, zeigt einige Jahre später eine Anzeige, in der sich 554 Richter und Staatsanwälte aus der ganzen Republik mit einer Sitzblockade von 20 ihrer Kollegen vor der US-Airbase Mutlangen solidarisieren. Am 12. Januar 1987 hatten die Juristen bei 20 Grad minus den Weg zum Stützpunkt verstellt, in dem die neuen Pershing-Raketen der Nato stationiert worden waren. So etwas hat es nie zuvor in der Bundesrepublik gegeben. „Ich träume von einer gerechten Gesellschaft, das ist eine Utopie. Aber gerade deshalb versuche ich, hier etwas zu tun, was ein kleiner, ein klitzekleiner Bestandteil dieser Utopie ist“, heißt es in dem Aufruf. Elf Monate später, am 8. Dezember, paraphieren Michail Gorbatschow und Ronald Reagan den INF-Abrüstungsvertrag zum Abbau aller Mittelstreckenraketen. Es dauert noch drei Jahre, dann sind Mutlangens Pershings und all die anderen verschrottet. In den letzten beiden Depotbunkern werden nur noch Streusalz und Altpapier gelagert. 63
Nowottny und sein Kollege HansJoachim Reiche interviewen im Mai 1980 Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt.
SPIEGEL-GESPRÄCH
„Die Leute verstanden wenig und jubelten“ Der frühere Fernsehmoderator Friedrich Nowottny über die erste Große Koalition der Bundesrepublik, die Affäre Guillaume und das Verhalten von Politikern vor der Kamera 64
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FRIEDRICH NOWOTTNY Der Fernsehjournalist leitete zwischen 1967 und 1985 die Sendung „Bericht aus Bonn“ und wurde zu einem der beliebtesten Moderatoren der Republik. Von 1985 bis 1995 war Nowottny, 79, Intendant des WDR.
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SPIEGEL: Herr Nowottny, als Sie 1967 nach Bonn kamen und die Sendung „Bericht aus Bonn“ machten, befand sich das Land in einer Rezession und wurde von einer Großen Koalition regiert – ähnlich wie heute. Wie war die Stimmung damals? Nowottny: Vor 42 Jahren gab es weniger als 500 000 Arbeitslose, das haben wir aber schon als tiefgreifende Erschütterung empfunden. Das Haushaltsdefizit lag bei 10,6 Milliarden Mark, machte also immerhin mehr als 13 Prozent des Haushaltsvolumens von fast 80 Milliarden aus. Man war unsicher und auch immer noch
geprägt von den Erinnerungen an die Weltwirtschaftkrise der dreißiger Jahre. Die hatten viele der Handelnden ja noch selbst erlebt. SPIEGEL: Heute haben viele Bürger den Eindruck, die Politiker wissen nicht so genau, was sie tun sollen, um der Krise Herr zu werden. War das damals anders? Nowottny: Die Lage ist jetzt unübersichtlicher. Ich habe nachgedacht, wann die Unsicherheit je so groß war wie heute, mir ist nur die Kuba-Krise eingefallen, in der es um Krieg und Frieden zu gehen schien. SPIEGEL: Viele Wirtschaftswissenschaftler bewerten die Arbeit
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der ersten Großen Koalition nicht so positiv. Nowottny: Ich finde – auch im Rückblick –, sie hat die Chancen, die sie hatte, gut genutzt. Die haben doch eine Menge gemacht. Es gab den gescheiten SPDProfessor Karl Schiller als Wirtschaftsminister. Und Franz Josef Strauß von der CSU, der war nach dem Urteil von Leuten, die davon etwas verstehen, einer der herausragenden Finanzminister der damaligen Zeit. Die Spannung, die sich zwischen den beiden ergab, führte dazu, dass überzeugendere Lösungen gefunden wurden als heute. Und sie haben ihre Politik damals auch besser verkauft. SPIEGEL: Plisch und Plum waren die Spitznamen von Schiller und Strauß. Eine ihrer Erfindungen hieß „Mittelfristige Finanzplanung“, genannt Mifrifi, eine andere „Konzertierte Aktion“. Haben die Bundesbürger die Politiker damals besser verstanden – oder haben sie einfach auf die Weisheit von Plisch und Plum vertraut? Nowottny: Im Wahlkampf 1969 war ich mit Schiller in Dortmund unterwegs. Da standen vielleicht 20 000 Leute auf einem Riesenplatz. Schiller redete fast eine Stunde zum Thema Wechselkurse. Die spielten damals eine gewaltige Rolle. Es war ein strahlender Herbsttag, und diese 20 000 Menschen waren still wie in einer Kirche. Sie hörten zu, verstanden wenig und jubelten. Auch die Journalisten hatten Schwierigkeiten zu folgen. Aber Schiller trug so überzeugend vor, dass die Leute gesagt haben, Alternativen kann es gar nicht geben. SPIEGEL: Auf die Große Koalition folgte 1969 die sozial-liberale Regierung mit Willy Brandt an der Spitze. Nowottny: Ostpolitik, Ölkrise, Koalitionszerfall, Stichworte nur – oft voller Dramatik. Das Spannendste war das konstruktive Misstrauensvotum am 27. April 1972. In den Fabriken ruhte die Arbeit, Frauen und Männer unterbrachen ihre Einkäufe, große Menschentrauben versammelten sich vor Radios und Fernsehgeräten. SPIEGEL: Nach Übertritten von FDPund SPD-Abgeordneten zur Union schien es, als habe die sozial-liberale Koalition im Parlament die Mehrheit für ihre Ostpolitik verloren. Nowottny: Deutschland stand still während dieser Abstimmung, und dann
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der Jubel in den Betrieben, als das Misstrauensvotum niedergestimmt worden war – eine unglaubliche Geschichte, die sich so wohl nie wiederholen wird. SPIEGEL: Erst später stellte sich heraus, dass zwei Abgeordnete, die das Votum gegen Brandt zu Fall brachten, gekauft waren. Und die Abstimmung, die der Kanzler als großen Triumph empfand, änderte auch nichts daran, dass ihm eine klare parlamentarische Mehrheit fehlte. Nowottny: Alle Fraktionen einigten sich deshalb auf Neuwahlen, und so kam es zu der legendären „Willy-Wahl“ am
Minister Schiller, Strauß (1967)
19. November 1972. Mit der höchsten Beteiligung überhaupt, 91,1 Prozent, und mit dem damals unglaublichen SPD-Wahlslogan: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“. Das muss man sich mal vorstellen, ein Sozialdemokrat sagte das. Die Leute hielten den Atem an. SPIEGEL: Im Laufe seiner Kanzlerschaft wirkte Brandt immer entrückter. Wie haben Sie ihn als Interviewpartner erlebt? Nowottny: Was Sie „entrückt“ nennen, war wohl eine Schutzreaktion darauf, dass man ihn jahrelang kübelweise mit Dreck beworfen hatte, als Emigranten, als unehelichen Sohn, als Vaterlandsverräter. Daraus erwuchs die Fähigkeit, Dinge an sich ablaufen zu lassen. Im Umgang mit Journalisten war er sehr zurückhaltend, er fiel keinem um den Hals. Ich erinnere mich vor allem an dieses peinliche Interview, das ich mit ihm gemacht habe. SPIEGEL: Wann war das?
Nowottny: Nach dem ersten deutschfranzösischen Gipfel mit Brandt und dem französischen Präsidenten Georges Pompidou 1970 hier in Bonn. Ich hatte Regierungssprecher Conrad Ahlers gesagt: „Drei Fragen, drei Antworten, eine Minute dreißig“. Ahlers geht zu Brandt, und ich sehe schon von weitem: „Onkel Willy“, im Vollbesitz dieses Überstaatsmännischen, das man nach so einem Gipfeltreffen offenbar mit auf den Weg nimmt, fällt das Gesicht runter bis zum Gurt. Ich stelle also meine Fragen, und Brandt antwortet nur mit Ja und Nein. Einmal hat er, glaub ich, noch gesagt, das werde er hier nicht erzählen. Es war schrecklich. SPIEGEL: Wie viel hatten Sie als Berichterstatter denn mit Günter Guillaume zu tun, Brandts engem Mitarbeiter, der ein Spion der DDR war? Nowottny: Wir kannten den alle und schätzten ihn als guten Organisator. Der hat für mich mal Willy Brandts Wahlzug angehalten. SPIEGEL: Wieso das? Nowottny: Weil Freitag anstand und damit der „Bericht aus Bonn“. Wir waren in Stuttgart, und über Nacht reiste der Zug nach Norddeutschland. Damals war die RAF schon aktiv, wir fuhren von Bombendrohung zu Bombendrohung. Ich hatte den Studiofahrer nach Koblenz bestellt. Es war vereinbart, dass Brandts Zug dort hielt. Irgendwann kam dann die Nachricht, wir haben wieder eine Bombendrohung, wir fahren nicht über Koblenz. SPIEGEL: Und da trat Guillaume in Aktion? Nowottny: Der hat das mit der Bahn geregelt. Der Zug blieb auf freier Strecke stehen, ein grauer VW der Bahnpolizei wartete schon auf mich. Ich musste einen steilen Hang runter, dort fing mich ein Bahnpolizist auf. Oben winkte Guillaume noch kurz, schloss die Tür, und weiter ging die Fahrt. SPIEGEL: Wie war Ihre Reaktion, als Guillaume im April 1974 aufflog? Nowottny: Ich war mit meiner Frau und unseren beiden kleinen Kindern auf dem Rückweg aus dem Urlaub. Wir fuhren gerade in die Tiefgarage eines Hotels in Ulm, als die Meldung von der Festnahme Guillaumes kam. Ich habe laut gelacht, weil ich mir vorstellte, wie der in Handschellen abgeführt wurde. Aber dann wurde mir plötzlich klar, wie sich alle die Merkwürdigkeiten erklärten, die mir
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CHARLES WILP
KANZLER UND KOALITIONEN
KANZLER UND KOALITIONEN SPIEGEL: Helmut Kohl ist lange als „Birne“ verspottet worden. Warum wurde der Mann so unterschätzt? Nowottny: Weil die meisten in ihrer unglaublichen Arroganz geglaubt haben, da kommt wirklich so etwas wie eine Birne. Adenauer hielt man für den Vater des Vaterlandes, Ludwig Erhard für den Retter von Ökonomie, Aufschwung und Wachstum. Kiesinger war ein Zwischenereignis der deutschen Geschichte, Brandt der große überhöhte Staatsmann, der das Land nach Osten öffnete. Und Helmut Schmidt war der Mann, der die Republik souverän durch schwierige Zeiten gesteuert hat. SPIEGEL: Woran dachte man bei Helmut Kohl? Nowottny: Lange nur an seinen Weinkeller. Er war der erste Normalfall auf dem Stuhl des Bundeskanzlers, einer, von dem man nicht viel erwartete. Und dann ist er in die Geschichte eingegangen als jemand, dem es gelungen ist, nach vielen Irrungen und Wirrungen die Wiedervereinigung zu stemmen. Und Helmut Kohl hat immerhin 16 Jahre regiert – zwei Jahre länger als Konrad Adenauer. SPIEGEL: Mit den Grünen zog 1983 eine neue Partei in den Bundestag ein. Empfanden Sie die als Bereicherung? Nowottny: Da war ich mir nicht sicher. Andererseits merkte ich in meiner eigenen Familie, dass sich bei jungen Leuten etwas entwickelte. Meine Tochter kam nachts nicht nach Hause, und als ich nach ihr fragte, sagte meine Frau streng: „Sie blockiert das Verteidigungsministerium, Tor vier.“ SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert? Nowottny: Ich fuhr zu Tor vier, da hockten Tausende von jungen Leuten und sangen Lieder. Der Morgen dämmerte, plötzlich steht dahinten eine auf, meine Tochter. Unglaublich, das hat mich sehr berührt. Man musste die Grünen mit ihrem Schlabberlook nicht mögen, aber sie haben die politische Landschaft vorübergehend geprägt, und sie haben ihr gutgetan. SPIEGEL: Herr Nowottny, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Mitglieder der Grünen-Bundestagsfraktion im Mai 1983
Das Gespräch führten Karen Andresen und Hartmut Palmer.
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Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten dort vertrauter als heute in der Millionenstadt Berlin? Nowottny: Der ehemalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der in Berlin oft eine schlechte Presse hatte, hat einmal gesagt, in Bonn wäre es ihm anders ergangen, weil man sich häufiger traf. Da ist was dran. Politiker, die sich nicht fair behandelt fühlten, konnten die Reporterin oder den Reporter leichter am Kragen fassen und sagen, was du da geschrieben hast, war großer Mist. Parlament, Kanzleramt, Redaktionsbüros lagen fußläufig beieinander. SPIEGEL: Heute spielt die äußere Erscheinung beim Medienauftritt von Politikern eine wichtige Rolle. Auch Angela Merkel inszeniert sich sorgfältig. War das damals schon so? Nowottny: Ja. Helmut Schmidt hatte immer einen kleinen Kamm in der Hand, den man kaum sehen konnte, mit dem fuhr er sich schnell noch durchs Haar. Außerdem bestand er stets darauf, im Studio auf eine ganz bestimmte Art plaziert zu werden, mit dem Hinweis, er höre auf der anderen Seite schlecht. Er hörte wirklich schlecht, dennoch war das wohl nicht die ganze Wahrheit. Ich hab mal zu ihm gesagt, Herr Bundeskanzler, Ihr Berater hat Ihnen doch gesagt, dass dort Ihre Schokoladenseite ist. Aber davon mal abgesehen: Wenn Sie mich fragen, wer von den vielen Politikern, mit denen ich es zu tun hatte, der Kompetenteste und der Präziseste war, dann sage ich ohne zu zögern: Helmut Schmidt.
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in den Wochen zuvor um Willy Brandt herum aufgefallen waren. SPIEGEL: Welche Merkwürdigkeiten? Nowottny: Der Kanzler war plötzlich vollkommen abgeschirmt, den gab es für uns nicht mehr. Ich weiß noch, wie wir über das Presseamt, den Büroleiter, den Fraktionschef versuchten, an Willy Brandt ranzukommen. Nichts. In unserer Not schrieben wir eine Notiz und übergaben sie dem bekannten Herrn Guillaume. SPIEGEL: Da hatte der Verfassungsschutz den Mann schon lange als Spion im Visier, ihn aber im Kanzleramt belassen, um weitere Beweise zu sammeln. Nowottny: Das war ein wohlgehütetes Geheimnis, von dem wir alle nichts wussten. Also schrieb ich: „Lieber Herr Guillaume, wir brauchen dringend ein Interview mit dem Bundeskanzler.“ Guillaume ging mit dem Zettel zu Reinhard Wilke, Brandts Büroleiter, und Wilke, sonst ein sehr netter und auch hilfsbereiter Mensch, kriegte einen irrsinnigen Wutanfall, kam rübergerannt und pfiff mich an, warum ich mich an den Guillaume gewandt hätte. „Sie müssen doch unsere Not verstehen“, antwortete ich, aber er brummelte nur und verschwand. SPIEGEL: Und? Haben Sie Ihr Interview bekommen? Nowottny: Natürlich nicht. Brandt war wie vom Erdboden verschwunden. SPIEGEL: Sie haben im „Bericht aus Bonn“ einen frecheren Befragungsstil eingeführt als in den betulichen Adenauer-Jahren üblich. Gab es da Ärger? Nowottny: Dazu fällt mir noch eine Begebenheit mit Willy Brandt ein. In einer Wahlnacht habe ich ihm mal angekündigt: „Herr Brandt, gleich werde ich sagen: ,Meine Damen und Herren, die Vorsitzenden der hier versammelten Parteien haben mich beauftragt, den Wählerinnen und Wählern, die sie jeweils gewählt haben, in ihrem Namen auf diesem Wege herzlich zu danken. So sparen wir etwa drei Minuten.‘“ Ich tat das, und Brandt war stocksauer. SPIEGEL: Bonn ist eine kleine Stadt. War das
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Was ist typisch deutsch? Eine Spurensuche in 52 Bildern
NEUSCHWANSTEIN-LAND Nur zwei Motive waren für Hemme „gesetzt“: Schloss Neuschwanstein und das Brandenburger Tor. So also sieht das Land aus, wenn man es auf zwei Bilder reduzieren muss: ein klassizistisches preußisches Stadttor aus dem 18. Jahrhundert, das zum Symbol für Teilung und Wiedervereinigung wurde. Und ein romantisches Märchenschloss aus dem 19. Jahrhundert, das unvollendet über das Voralpenland ragt Memory-Motive: Brandenburger Tor, Schäferhund, Leuchtturm von Westerhever und für 172 Ta(Schleswig-Holstein), Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar, Schloss Neuschwanstein ge Wohnsitz des bayerischen KöFragen gibt’s, die sollte man vielleicht besser nicht be- nigs Ludwig II. war. Deutschland, das ist feierliche Strenge und ein bisschen Wahnsinn. antworten. „Was ist Deutschland?“ ist eine davon. Aber in einer kleinen Stadt tief im Süden des Landes gibt Das von Lothar Hemme gestaltete Spiel ist die Version 3.0, es Leute, die haben eine Antwort gefunden, weil sie eine es kam 2006 auf den Markt. 1985 war das erste Deutschfinden mussten. Sie arbeiten in Ravensburg und stellen land-Memory erschienen, sieben Jahre später brachte der Spiele her, unter anderem Memorys, unter anderem das Verlag eine modernisierte Fassung heraus. Deutschland-Memory. 104 Kärtchen, 52 Bilder, ein Land: In der Version 3.0 ist nur weniges noch so wie Mitte der achtziger oder Anfang der neunziger Jahre. Von RavensDeutschland. Wie sieht es aus? Was ist deutsch? Zu sehen sind, zum Beispiel, die Würzburger Residenz burg aus gesehen, hat die Republik sich gewaltig verändert. und das Schweriner Schloss, das Segelschiff „Gorch Fock“ Verschwunden sind, logischerweise, das Fünf-Markund ein ICE 3, reife Dornfelder Weintrauben und eine Stück und die DDR-Briefmarke. Aber auch der Gartenausladende Eiche, der Eulenspiegel-Brunnen in Mölln zwerg und der Nussknacker fehlen im aktuellen Bilderreigen, ebenso der grünberockte Polizeiwachtmeister und und das Leipziger Bach-Denkmal. Alle Motive sind einleuchtend, aber keines davon ist zwin- der Schornsteinfeger, die Käthe-Kruse-Puppe und das gend. Für Lothar Hemme, den Redakteur dieses Spiels, Porzellan-Sparschwein. war die Auswahl eine Knobelarbeit. Er wollte Bauwerke Nur sechs Motive haben die Jahrzehnte überdauert: die und Kultur, Industrie und auch Lebensart zeigen und vie- Wartburg, der Schäferhund, die alemannische Fastle Regionen berücksichtigen. „Das erste Raster war nachtsmaske, das frisch gezapfte Glas Bier, das ReetNord/Süd, Ost/West“, sagt Hemme. Sein Deutschland dachhaus und Neuschwanstein. Ein Heimatmuseum in wurde am Ende mehr Provinz als Metropole. Er hat sich sechs Bildern. für die Lüneburger Heide und die Sächsische Schweiz Das Brandenburger Tor fehlte 1985 noch. Im Kalten Krieg, entschieden; aber die Frankfurter Skyline oder der Ham- sagt Hemme, war das Bauwerk, das auf Ost-Berliner Boden stand, „politisch problematisch“. Dietmar Pieper burger Hafen kommen nicht vor.
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Helmut Kohl
Bundeskanzler 1982–1998
KAPITEL III
UMFRAGE
60 Jahre, 60 Köpfe Wer war wirklich wichtig in den Jahrzehnten seit 1949? Welche Frauen und Männer haben das Land geprägt? Eine großangelegte Exklusiv-Umfrage zeichnet ein Bild mit vielen Überraschungen.
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UMFRAGE
Die Rangliste des Ruhms Auf die Ostdeutschen kann Helmut Kohl sich verlassen. Ihre friedliche Revolution 1989 hat ihm wahrscheinlich die Kanzlerschaft gerettet und seiner Regierungszeit historische Größe verliehen. Und in einer exklusiven Umfrage für SPIEGEL GESCHICHTE waren es jetzt erneut die Ostdeutschen, die Kohl zur Nummer eins gemacht haben. Wäre es nach den Wessis gegangen, hätte Konrad Adenauer seinen politischen Enkel knapp überflügelt (siehe Grafik). Umfassend wie nie zuvor hat das beauftragte Institut TNS Forschung ermittelt, welche Frauen und Männer
(Platz 50). Sie sind in der Auswertung nicht berücksichtigt worden. Das hier gedruckte Ergebnis zeigt also die 60 bedeutendsten Deutschen. Die erste Lehre daraus ist: Wer sich wirklich einen Namen machen will, muss Politiker werden. Ruhm kommt von Macht: Ganz vorn liegt die Phalanx der Bundeskanzler mitsamt dem früheren DDR-Diktator Erich Honecker. Aber auch der ewige Außenminister Hans-Dietrich Genscher und die bayerische Kraftnatur Franz Josef Strauß schaffen es unter die Top Ten.
Top Ten aus sechzig Jahren „Welche Persönlichkeiten haben seit 1949 Deutschland nachhaltig geprägt?“ Angaben in Prozent
Helmut Kohl Konrad Adenauer Helmut Schmidt Willy Brandt Erich Honecker Ludwig Erhard Angela Merkel Hans-Dietrich Genscher Franz Beckenbauer Franz Josef Strauß
GESAMT
WEST
OST
40,6 36,8
40,5
41,0
40,8
22,6
37,8
28,4
26,6
24,7
10,6
11,6
11,1
8,8
8,7
7,1
7,0
9,2
8,4
4,4
7,2
5,9
10
35,8 26,2 10,8 10,6 8,3 7,5 7,5 6,9
das Land in den vergangenen sechs Jahrzehnten geprägt haben. Die 2000 Befragten ab 18 Jahren konnten nach eigenem Ermessen bis zu sechs Namen nennen, eine Vorlage gab es nicht. Die so entstandene Rangliste zeigt ein farbiges und überraschendes Bild. Insgesamt haben die repräsentativ ausgewählten Teilnehmer 422 Personen genannt, die ihrer Meinung nach in der Bundesrepublik oder in der DDR eine bedeutende Rolle gespielt haben (oder noch spielen); die vollständige Liste reicht von Helmut Kohl bis Otto Wolff von Amerongen. Obwohl ausdrücklich nach den „wichtigsten Deutschen“ gefragt worden ist, tauchen auch einige Nichtdeutsche prominent auf, allen voran der frühere Sowjetchef Michail Gorbatschow (Platz 27), der 1989 gestorbene österreichische Stardirigent Herbert von Karajan (Platz 28) und der Unterhaltungskünstler Johannes Heesters, der aus den Niederlanden stammt
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NACH ALTERSGRUPPEN
20
30
40
50
18–24 30–44 45– 59 60 Jahre und älter TNS Forschung; 2000 Befragte vom 5. bis 7. Januar 2009
Die zweite Lehre heißt: Die Deutschen lieben ihre Sportler. Franz Beckenbauer, der „Kaiser“, hat in den Augen seiner Fans geradezu Kanzlerformat. Und als wär’s ein Auftragswerk für den Tag der Deutschen Einheit, liegen die Sport-Königinnen Katarina Witt (Ost) und Steffi Graf (West) beinah gleichauf unter den 20 wichtigsten Persönlichkeiten des Landes. Die dritte Lehre lautet: Da fehlt doch jemand! Wo sind die Unternehmer, die Manager, die Helden des Wirtschaftswunders, die Bannerträger der Exportnation? Alle unter „ferner liefen“. Als Erster kommt, ausgerechnet, Peter Hartz in Sicht (Platz 94), gefolgt von der Familie Krupp (Platz 117) und Krupp-Manager Berthold Beitz (Platz 120, siehe auch Seite 106). Ist das schlechte Abschneiden der Wirtschaftsgrößen schon ein Tribut an die große Krise? Wohl kaum. Es ist eher so, dass die Deutschen den Erfolg schätzen, aber nicht die Erfolgreichen. Dietmar Pieper
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OBEN: WUNDSHAMMER/BPK (L.); ULLSTEIN BILD (M.); WÖSTMANN/DPA (R.); MITTE: ULLSTEIN BILD (L.); BUNDESBILDSTELLE/ULLSTEIN BILD (M.); INSIDE FOTO/ACTION PRESS (R.); UNTEN: PICTURE-ALLIANCE/DPA (L.); PICTURE-ALLIANCE/DPA (M.); VISUM (R.)
2 Konrad Adenauer
3 Helmut Schmidt
4 Willy Brandt
5 Erich Honecker
6 Ludwig Erhard
7 Angela Merkel
8 Hans-Dietrich Genscher
9 Franz Beckenbauer 10 Franz Josef Strauß
Bundeskanzler 1949–1963 (siehe Seite 76)
DDR-Staatsratsvorsitzender 1976–1989 (siehe Seite 84)
Von 1969 bis 1992 saß der Liberale im Kabinett, 18 Jahre lang als Außenminister.
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Bundeskanzler 1974–1982 (siehe Seite 78)
Bundeskanzler 1963–1966, zuvor erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik
Mit dem FC Bayern und der Nationalelf gewann er, was es zu gewinnen gab (siehe Seite 86).
Bundeskanzler 1969–1974 (siehe Seite 80)
Bundeskanzlerin seit 2005, als erste Frau und erste Ostdeutsche
Der CSU-Politiker war Jahrzehnte einer der starken Männer in Bonn, wurde aber nie Kanzler.
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UMFRAGE
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WEST 11 OST 15
FRAUEN 8 MÄNNER 12
Gerhard Schröder
WEST 15 OST 27
FRAUEN 16 MÄNNER 17
Udo Lindenberg
Der Niedersachse (geb. 1944) war sieben Jahre Kanzler der rot-grünen Koalition. Die Hartz-Gesetze und der Krieg in Afghanistan haben seine Amtszeit überdauert.
Von klein auf spielte er Schlagzeug, später wurde er als „PanikRocker“ sprachschöpferisch auffällig und formte sich zu einem Markenzeichen (siehe Seite 90).
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WEST 12 OST 20
FRAUEN 10 MÄNNER 14
Boris Becker
WEST 14 OST 45
FRAUEN 14 MÄNNER 23
Steffi Graf
Dreimal gewann der heute 41-Jährige das Tennisturnier in Wimbledon, seine Spielweise war oft spektakulär. Und immer beschäftigt sein Liebesleben das Land.
377 Wochen, länger als jede andere Tennisspielerin, stand sie an der Spitze der Weltrangliste. Von ihrem Manager-Vater löste sie sich souverän (siehe Seite 89).
13
19
WEST 13 OST 12
FRAUEN 15 MÄNNER 13
Michael Schumacher
WEST 17 OST –
FRAUEN 17 MÄNNER 18
Theodor Heuss
Mit sieben WM-Titeln ist er der erfolgreichste Rennfahrer der Formel-1-Geschichte. Um Steuern zu sparen, wohnt der 40-Jährige mit seiner Familie in der Schweiz.
Als erster, durch und durch demokratisch gesinnter Bundespräsident trug der FDP-Politiker (1884–1963) wesentlich zum Erstarken der jungen Republik bei.
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20
WEST 16 OST 8
FRAUEN 21 MÄNNER 11
Walter Ulbricht
WEST 23 OST 18
FRAUEN 19 MÄNNER 22
Herbert Grönemeyer
Der gelernte Tischler aus Leipzig (1893–1973) war Staatschef der DDR. Unter seiner Ägide wurde 1961 die Mauer gebaut, später fiel er in Moskau in Ungnade.
In Bochum wuchs er auf, das Rock-Album „4630 Bochum“ war 1984 sein erster großer Erfolg. Der 52-jährige Musiker legt viel Wert auf soziales Engagement.
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21
WEST 19 OST 13
FRAUEN 13 MÄNNER 24
Katarina Witt
WEST 20 OST 54
FRAUEN 18 MÄNNER 28
Heinz Rühmann
Noch zu DDR-Zeiten begann die Seriensiegerin im Eiskunstlaufen eine Profikarriere. Als TV-Moderatorin läuft sie dem großen Erfolg noch hinterher (siehe Seite 88).
Kein Adventsprogramm ohne „Die Feuerzangenbowle“, keine Fernsehwoche ohne Rühmann-Film. Der Charme des Schauspielers (1902–1994) ist unverwüstlich.
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WEST 18 OST 16
FRAUEN 20 MÄNNER 15
Richard von Weizsäcker Als Bundespräsident ärgerte er regelmäßig seinen CDU-Parteifreund Helmut Kohl – und sei es nur, weil der 1920 geborene Jurist kluge Reden zu halten verstand.
82
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WEST 22 OST 40
FRAUEN 22 MÄNNER 20
Thomas Gottschalk Nach katholisch-humanistischer Jugend zog es ihn zum Radio, dann vor die TV-Kameras. „Wetten, dass …?“ sieht aus wie für den heute 58-Jährigen erfunden. SPIEGEL GESCHICHTE
2 | 2009
V.O.N.U.: HERLINDE KOELBL/AGENTUR FOCUS; KAY NIETFELD/DPA; ZIMMER; PHOTOAGENTUR WENDE/HYPO-BANK-B; CHRISTIAN FISCHER/GETTY IMAGES; AKG; ANDREAS MEICHSNER/VISUM; CAMERA 4/ULLSTEIN BILD; DER SPIEGEL: BUNDESBILDSTELLE; ECKEHARD SCHULZ/REUTERS
Platz in der Rangliste
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WEST 21 OST –
FRAUEN – MÄNNER 16
Fritz Walter
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WEST 25 OST –
FRAUEN 24 MÄNNER 49
Günther Jauch
Aus Kaiserslautern ließ sich das Fußball-Idol (1920–2002) auch durch höchst lukrative Angebote nicht weglocken. Beim deutschen WM-Sieg 1954 war er Kapitän.
Seinen spitzbübischen Humor erprobte er zunächst im Radio. Seit fast zehn Jahren macht der konservative Familienvater (geb. 1956) im Fernsehen Millionäre.
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30
WEST OST
– 11
FRAUEN 32 MÄNNER 19
Wilhelm Pieck
WEST 33 OST 28
FRAUEN 40 MÄNNER 27
Günter Grass
Anfangs war er Sozialdemokrat, dann Kommunist. Der gelernte Tischler (1876–1960) gehörte zu den SED-Gründern und war erster und einziger DDR-Präsident.
Wo Grass ist, da ist Streit: Diskreditiert ihn seine Jugendzeit in der Waffen-SS? Was taugen die Romane des Literaturnobelpreisträgers wirklich (siehe Seite 94)?
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WEST 24 OST 23
FRAUEN 30 MÄNNER 21
Jürgen Klinsmann
WEST 28 OST –
FRAUEN 38 MÄNNER 30
Walter Scheel
In seiner ansehnlichen FußballKarriere hat es den Schwaben (geb. 1964) bisher nirgends richtig lange gehalten. Seit Sommer 2008 trainiert er den FC Bayern.
Der FDP-Politiker (geb. 1919) war Außenminister und Bundespräsident. Seine Darbietung des Volksliedes „Hoch auf dem gelben Wagen“ wurde 1974 zu einem Hit.
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WEST 27 OST 37
FRAUEN 27 MÄNNER 32
Joschka Fischer
WEST 35 OST 25
FRAUEN 34 MÄNNER 33
Jens Weißflog
Schulabbrecher, Straßenkämpfer, Außenminister – die Vita des 60-Jährigen ist einzigartig. Seine grünen Parteifreunde waren oft seine schwierigsten Gegner.
Der Mann aus dem Erzgebirge (geb. 1964) ist der erfolgreichste deutsche Skispringer. Er siegte vor und nach der Wiedervereinigung, im Parallel- und im V-Stil.
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WEST 26 OST 49
FRAUEN 22 MÄNNER 44
Alice Schwarzer
WEST 32 OST 34
FRAUEN 25 MÄNNER 55
Marcel Reich-Ranicki
Als uneheliches Kind wuchs sie bei ihren Großeltern auf. 1977 erschien die erste Ausgabe der von ihr gegründeten Zeitschrift „Emma“ (siehe Seite 92).
Besonders leidenschaftlich ging der wirkungsmächtigste deutsche Literaturkritiker der Nachkriegszeit (geb. 1920) mit Günter Grass ins Gericht (siehe Seite 94).
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WEST 55 OST 19
FRAUEN 26 MÄNNER 43
Henry Maske Im Trikot der DDR errang er 1988 den Mittelgewicht-Olympiasieg, dann begann seine Profi-Karriere. Der „Gentleman-Boxer“ (geb. 1964) war Publikumsliebling. SPIEGEL GESCHICHTE
2 | 2009
WEST 48 OST 21
FRAUEN 33 MÄNNER 39
Gregor Gysi Dass die SED (später PDS) den Zusammenbruch der DDR überlebte, hat sie auch der Redekunst des 1948 geborenen Spitzenmanns der Linken zu verdanken.
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V.O.N.U.: THOMAS KÖHLER/PHOTOTHEK.NET; CHRISTIAN O. BRUCH / VISUM; F. JANSEN/HOLLANDSE HOOGTE/LAIF; JENS SCHLÜTER / DDP; NILS BAHNSEN; THOMAS GRABKA / ACTION PRESS; MARTIN MEISSNER / AP; ULLSTEIN BILD / BPA; SÜDD. VERLAG; DPA; AP; HIPP-FOTO
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WEST 35 OST 30
FRAUEN 42 MÄNNER 28
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WEST 43 OST 45
FRAUEN 38 MÄNNER 53
Uwe Seeler
Horst Köhler Der amtierende Bundespräsident zeigt sich gern volksnah. In den Finanzmärkten sah der 1943 geborene Ökonom schon „Monster“, als die Krise noch fern schien.
Besonders groß gewachsen ist er nicht, aber als Mittelstürmer war der Hamburger (geb. 1936) sprungstark und gelenkig. Bei vier WM-Turnieren traf er ins Tor.
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WEST – OST 17
FRAUEN 31 MÄNNER 46
WEST 41 OST –
FRAUEN 34 MÄNNER –
Peter Maffay
Kurt Masur 1989 war der damalige Gewandhauskapellmeister (geb. 1927) ein Held in der „Heldenstadt“ Leipzig. Wenig später wurde er Chef der New Yorker Philharmoniker.
Als Schlagersänger war der Mann aus Siebenbürgen (geb. 1949) schon fest etabliert, als er sich zum Deutschrocker wandelte – und Erfolg auf Erfolg häufte.
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WEST 40 OST 31
FRAUEN 29 MÄNNER 53
Wolf Biermann
WEST 34 OST –
FRAUEN 59 MÄNNER 37
Edmund Stoiber
Aus Überzeugung zog er als 17-Jähriger 1953 in den Osten. 1976 wurde der Liedermacher nach einem Konzert in Köln von den DDR-Oberen ausgebürgert.
Lange Zeit war er der bayerische Löwe der Politik. Wie Franz Josef Strauß scheiterte der heute 67-jährige CSU-Politiker aber beim Versuch, Kanzler zu werden.
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WEST 29 OST –
FRAUEN – MÄNNER 26
Michael Ballack
WEST 37 OST –
FRAUEN 36 MÄNNER –
Gustav Heinemann
Am ganz großen Sieg bei einer Fußball-WM oder in der Champions League ist der 32-jährige Mittelfeld-Regisseur aus Chemnitz bisher immer vorbeigeschrammt.
Erst im dritten Wahlgang wurde er 1969 zum Bundespräsidenten gewählt, mit Hilfe der FDP. So leitete der Sozialdemokrat (1899–1976) die sozial-liberale Ära ein.
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WEST 30 OST –
FRAUEN – MÄNNER 25
Sepp Herberger
WEST 41 OST –
FRAUEN – MÄNNER 35
Herbert Wehner
Erst Reichs-, später Bundestrainer, war er für seine Fußballer der „Chef“. Mit dem Sieg bei der WM 1954 beflügelte der Mannheimer (1897–1977) das ganze Land.
Um den knurrigen SPD-Mann (1906–1990) war immer etwas Geheimnisvolles – sei es wegen seiner KPD-Vergangenheit, sei es beim Rücktritt von Willy Brandt.
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WEST 31 OST –
FRAUEN – MÄNNER 31
Max Schmeling Weltmeister im Schwergewicht war der Boxer von 1930 bis 1932, aber den größten Sieg errang er 1936 gegen Joe Louis. Als er 2005 starb, war er fast hundert. SPIEGEL GESCHICHTE
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WEST 44 OST 54
FRAUEN 52 MÄNNER 40
Heinrich Böll Sein politisches Engagement trug dem Literaturnobelpreisträger (1917–1985) viele Anfeindungen ein. Sogar als Terroristenhelfer wurde er verdächtigt.
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WEST 38 OST –
FRAUEN 45 MÄNNER 45
V. O. N. U.: FRANK AUGSTEIN / AP; ROLF HAID / DPA; FRANK OSSENBRINK; URSULA DÜREN; AP; ANDREAS SCHÖLZEL; JAN BAUER / AP; CINETEXT; ACTION PRESS; FRINKE / IMAGO; WEREK / IMAGO; FOTEX; AP; PANDIS MEDIA
Dieter Bohlen
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WEST – OST 33
FRAUEN – MÄNNER 35
Frank Elstner
Der in Oldenburg aufgewachsene Diplomkaufmann (geb. 1954) ist mit Leib und Seele Produzent: von Disco-Hits, BoulevardSchlagzeilen, Büchern, Sprüchen.
Der TV-Allrounder (geb. 1942) erfand 1981 die ZDF-Show „Wetten, dass …?“, die er lange moderierte.
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Harald Juhnke
WEST 39 OST –
FRAUEN 28 MÄNNER –
Annemarie Renger Als Privatsekretärin Kurt Schumachers kam sie in die Politik. 1972 wurde die Sozialdemokratin (1919–2008) Bundestagspräsidentin, als erste Frau in diesem Amt.
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WEST 46 OST –
FRAUEN 41 MÄNNER 52
Karl Schiller Der in Breslau geborene Professor (1911–1994) verkörperte mit jeder Faser Sachverstand – als Wirtschafts- und zeitweilig auch Finanzminister von 1966 bis 1972.
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WEST 45 OST –
FRAUEN – MÄNNER 41
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WEST 59 OST 57
FRAUEN – MÄNNER 34
Schauspieler, Sänger, Frauenheld, Alkoholiker – als Berliner Original (1929–2005) ist er unübertroffen.
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WEST – OST 23
FRAUEN 42 MÄNNER –
Regine Hildebrandt Die brandenburgische SPD-Politikerin (1941–2001) war wegen ihrer Direktheit beliebt und gefürchtet.
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WEST 47 OST –
FRAUEN – MÄNNER 57
Roman Herzog Als Bundespräsident hielt der 1934 in Landshut geborene CDUPolitiker die berühmte Ruck-Rede.
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WEST 48 OST –
FRAUEN – MÄNNER 49
H.-J. Kulenkampff
Heinz Erhardt Der aus Riga stammende Künstler (1909–1979) brachte das Land wieder zum Lachen – mit Sprachwitz und einer geschickt ausgespielten Unbeholfenheit.
„Kuli“ (1921–1998) war der erste große Quizmaster des deutschen Fernsehens.
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Rudi Völler
WEST 50 OST –
FRAUEN 37 MÄNNER –
Nena Ihr Lied von den „99 Luftballons“ wurde Anfang der achtziger Jahre zum Welthit. In Hamburg gründete die heute 49-Jährige 2007 eine Privatschule.
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WEST – OST 22
FRAUEN – MÄNNER 46
Gustav-Adolf „Täve“ Schur Neunmal hintereinander wurde der Radrennfahrer (geb. 1931) zum DDR-Sportler des Jahres gewählt. Er saß in der Volkskammer und – für die PDS – im Bundestag. SPIEGEL GESCHICHTE
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WEST 53 OST –
FRAUEN 46 MÄNNER –
Torjäger, Weltmeister, Teamchef – und ab und zu gönnt sich der 48jährige Fußballer einen Wutanfall.
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WEST 51 OST –
FRAUEN – MÄNNER 42
Xavier Naidoo Der 1971 in Mannheim geborene Gesangsstar („Was wir alleine nicht schaffen“) unterrichtet auch.
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WEST OST
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FRAUEN – MÄNNER 38
Sepp Maier Als Torwart sammelte der heute 65-Jährige Titel und Pokale und pflegte seinen eigenen Humor.
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UMFRAGE
All seinen Erfolgen zum Trotz – Helmut Kohl taugt nicht zum Vorbild.
Verdruckster Patriarch Von THEA DORN Versucht man, sich ein Bild der Rolle zu machen, die Kohl Schatten im Gegenlicht. Die Deutschen haben Hel- im Prozess der deutschen Wiedervereinigung gespielt hat, mut Kohl zum wichtigsten Mann in der Geschichte stößt man auf Widersprüchliches. Einigkeit herrscht lediglich der Bundesrepublik gekürt. Den versierten Hor- darüber, dass er die deutsche Einheit mit aller Entschlossenrorfreund darf dieses Szenario nicht erschrecken. heit und einigem politischen Geschick betrieb. Darüber hinEr weiß: Der schwarze Mann taucht noch einmal aus reicht das Spektrum vom „Staatsmann des Jahrzehnts“ – auf, sobald sich der Zuschauer in Sicherheit wiegt. Die Zeitge- eine Auszeichnung, die Kohl vom New Yorker EastWest Innossin jedoch gesteht: Ihr ist der Schreck in die Glieder gefah- stitute 1999 verliehen wurde – bis zum vernichtenden Urteil ren. Nicht Schmidt, nicht Brandt, nicht Adenauer, sondern aus- des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Bohrer: „Der Begriff ‚politische Lebensleistung‘ ist nichts angerechnet Kohl soll der größte Bundesrepublikaner sein?! Unweigerlich fällt ihr der Aufkleber ein, der im Wahlkampf deres als der Euphemismus für geballte Mittelmäßigkeit und 1983 ihre Schultasche zierte: „Birne muss Kanzler bleiben!“ Gestalt gewordene Trivialität, die der Zufall in eine Epoche Am 1. Oktober des Vorjahres, als Helmut Schmidt im Bun- großer Entscheidungen warf.“ Das Bild bleibt unklar: Deutsch-europäische Zugmaschine destag gestürzt und Helmut Kohl vereidigt wurde, hatte sie vor dem Fernseher gesessen und geweint. Wenig später war sie be- oder doch nur ein – zugegebenermaßen massiges – Blatt im geistert, als Joschka Fischer das hessische Ministerparkett Sturm der Geschichte? Die ganze Ambivalenz zeigt sich in einer Anekdote, die auf Turnschuhsohlen betrat. Lange vorbei. Wäre es nicht an der Zeit, die von den altlinken Birneverächtern wie Hans Condoleezza Rice, damals schon außenpolitische Beraterin bei Traxler und Klaus Staeck genährte Kohl-Aversion abzulegen Präsident Bush senior, erzählt: Gorbatschow ist im Mai 1990 nach Washington gereist. Es geht um den ebenso zentralen wie und einen gerechteren Blick auf den Alt-Kanzler zu wagen? Es gibt einen Kohl-Witz, der das bekannte Bild von „Hel- heiklen Punkt, ob die UdSSR zustimmt, dass ein wiedervermut, dem Tölpeligen“ übersteigt: Kohl steht am Rhein und be- einigtes Deutschland Mitglied der Nato bleibt. Nach langen tet zu Gott um ein Wunder, damit die Menschen endlich an ihn Verhandlungen sagt Gorbatschow endlich ja. Washington ruft glauben. Das Wunder geschieht, Kohl schreitet über den Bonn an, um die frohe Botschaft zu überbringen. In ihrem Buch über den deutschen WiedervereinigungsRhein. Doch was rufen die Leute? „Seht ihr, er prozess schreibt Rice: „Es war, als sei die Inforkann noch nicht mal schwimmen.“ mation so umwerfend, dass sie, selbst wenn Bush Ob Kohl an diesen Witz gedacht hat, als ihn am sie in Riesenlettern geschrieben hätte, einfach Tag eins nach dem Mauerfall ein schmähliches nicht durchdrang.“ Insider kolportieren, in jener Pfeifkonzert empfing, als er vor jenem Rathaus zu Nacht habe die Präsidentenberaterin sich wenireden begann, vor dem Kennedy einst sein „Ich ger diplomatisch ausgedrückt: „Kohl doesn’t get bin ein Berliner“ gerufen hatte? Und was erzählt es it.“ Kohl kapiert’s nicht. über ihn, dass es ihm nicht gelang, in dieser histoParadoxerweise scheint gerade die Tatsache, rischen Stunde auch nur einen einzigen Satz zu dass auch im Ausland niemand Kohl für einen prägen, an den wir uns heute noch erinnern könn„großen Deutschen“ gehalten hat, sein größter ten? Willy Brandt hat es mit seinem „Jetzt wächst Trumpf als Staatsmann gewesen zu sein. „Er ist zusammen, was zusammengehört“ geschafft. THEA DORN die verkörperte Entwarnung und hätte einen HeiVielleicht war es tatsächlich der Wunsch, Wunne nicht um den Schlaf gebracht“, bescheinigte der zu tun, der Kohl wenig später zu der höchst Mit Kriminalroihm Jürgen Habermas Mitte der neunziger Jahre. fragwürdigen Entscheidung trieb, den Umtausch- manen und TheaUnd in der Tat schien der leutselig dröhnende Pfälkurs von Ost- in West-Mark im Wesentlichen auf terstücken wurde zer auch George Bush, Michail Gorbatschow, seieins zu eins festzusetzen. Denn siehe da: Plötzlich die 1970 gebonen französischen Männerfreund François Mitliebten ihn die Menschen. Zumindest im Osten. rene Autorin terrand und sogar die von ihm leicht dauergenervte „Helmut! Helmut!“-Chöre, wo immer sich der wer- bekannt. Große Margaret Thatcher nicht um den Schlaf gebracht dende „Kanzler der Einheit“ zwischen Anklam Beachtung fand zu haben. Allenfalls, indem er sie in den „Deidesund Zwickau blicken ließ. Der Jubel währte indes 2006 ihr Buch heimer Hof“ zu den berüchtigten Saumagen-Genicht lange: Realsozialistische Industriebrachen „Die neue F-Klaslagen mitschleppte. Solch deutsches Wesen hatte ließen sich nicht über Nacht in blühende Land- se. Wie die Zudie Drohung, an ihm möge die Welt genesen, schaften verwandeln. Als Kohl im Mai 1991 in Hal- kunft von Frauen glaubhaft im Riesling ertränkt. Kohls größte le auftrat, flogen Eier und Tomaten. gemacht wird“.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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S. 70/71: PAUL SCHIRNHOFER / AGENTUR FOCUS ; MARC SCHULTZ-COULON / T & T (L.)
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Plötzlich ist er wieder da. Ein mächtiger
AP
außenpolitische Leistung – die seine größte innenpolitische smarten „Golfern“, die ihre stets frisch gebügelten DesignerLeistung ermöglicht hat – dürfte darin liegen, den Rest der hemden mit großer Selbstverständlichkeit zwischen Berlin, Welt endgültig von der Harmlosigkeit Deutschlands über- Katmandu und London zu tragen wissen. Bei genauerem Hinzeugt zu haben. Allerdings ist vor diesem Hintergrund zu be- sehen reduziert sich der Unterschied jedoch tatsächlich auf fürchten, dass Kohls zweites großes Verdienst, sein Engage- den zwischen Strickjacke und Designerhemd. Am Ende von „Generation Golf“, jenem im Jahre 2000 ment für den europäischen Einigungsprozess, weniger einer politisch-kulturellen Vision von den „Vereinigten Nationen erschienenen „Kultbuch“, bedankt sich Florian Illies bei Europas“ entsprang als vielmehr dem Bedürfnis des Gast- seinem Literaturagenten. Und bei Helmut Kohl. Dass mehr gebers, möglichst viele an seiner Tafel zu versammeln, um es dahintersteckt als ein Scherz, wird klar, wenn man sich die ansich in harmonisch-stimmungsvoller Runde gutgehen zu deren Bücher von Illies anschaut: In seiner „Anleitung zum Unschuldigsein“ erteilt er seinen Landsleuten launige Ratlassen. Bei aller Harmlosigkeit im Weltmaßstab: Die Liste der schläge, wie sie ihre diversen Schuldmacken überwinden Skandale und Fehltritte, die Kohl sich im Laufe seiner könnten. Muss man sie nicht im Kontext von Kohls missrate16-jährigen Kanzlerschaft geleistet hat, zeugt davon, dass sein ner Rede vor dem israelischen Parlament im Jahre 1984 lesen, Machtsystem nach innen so harmlos nicht gewesen sein kann. als dieser die „Gnade der späten Geburt“ bemühte, um seine Im Flick-Skandal, als er den der Bestechlichkeit beschuldig- Erleichterung auszudrücken, dass er zu jung gewesen war, ten Graf Lambsdorff von seinem Kabinettstisch hätte entfer- um sich in Nazi-Deutschland die Hände schmutzig zu manen müssen, stellte er sich störrisch vor den Wirtschaftsmi- chen? Und singt Illies in seinem jüngsten Buch „Ortsgespräch“ nicht ein Loblied auf die Kindnister. In Bitburg beharrte er heit in der hessischen Provinz, darauf, zusammen mit Ronald in das Kohl bei einem guten Reagan einen Friedhof zu „Schöppsche“ sofort einstimbesuchen, auf dem sich unter men könnte? anderem 49 Gräber von Angehörigen der Waffen-SS beKarl Heinz Bohrers Schimpffanden – ein Detail, das Kohls wort von der „hedonistischen Stab bei der ersten FriedhofsProvinz“ trifft mitnichten nur begehung wohl übersehen auf Oggersheim zu. Berlinhatte. Die Namen der illegalen Mitte darf sich getrost ebenso Parteispender verschweigt der angesprochen fühlen. Alt-Kanzler bis heute ebenso Die „Park Avenue“, jenes wie die Zwecke, für die das unlängst eingestellte Magazin, Geld der schwarzen Konten in dem die nicht mehr ganz eingesetzt wurde. Das Irritiejunge, aber dennoch nicht errendste an all dem: Kohls bräwachsene Generation sich Kohl in Wut nach Eierwürfen in Halle 1991 siger Trotz, seine alles niederselbst bespiegelte, widmete walzende Selbstgerechtigkeit. Wie gut hätte es nicht nur sei- dem „Eur-Opa“ Kohl in ihrer letzten Ausgabe ein langes Pornem, sondern dem Ansehen der deutschen Politik insgesamt trät. Die zentrale Botschaft: „Er wirkt wirklich sehr nett, wenn getan, hätte er ein einziges Mal den Satz sagen können: „Ja, ich man seine Freunde so hört.“ habe Fehler gemacht.“ Exakt diese Fähigkeit unterscheidet Nichts gegen „nett“. Doch was bedeutet es für das intelden souveränen Patriarchen vom verdrucksten. lektuell-politische Klima eines Landes, wenn „nett“ zum LeitWas verrät es nun aber über uns, dass wir ausgerechnet wert erhoben wird? Und ist es nicht ein unseliger GeneratioKohl zum wichtigsten Bundesrepublikaner gewählt haben? nenfrieden, den Illies & Co. mit Kohl geschlossen haben, inEs lohnt sich, das „wir“ genauer zu betrachten. Es sind al- dem sie ihm offensichtlich nach wie vor dankbar sind, dass er len voran die 30- bis 44-Jährigen. Jene Jahrgänge, die sich von sie mit der Illusion hat aufwachsen lassen, sie dürften an ihren Florian Illies weitgehend widerspruchslos als „Generation Playmobil-Burgen weiterbasteln und die Politik getrost Papa Golf“ haben taufen lassen. überlassen? Das Prinzip Harmlosigkeit war eine überzeuDas Ergebnis muss man wohl als weiteres Indiz für die gende Abkehr von der „Blonden Bestie“. Aber ist es zu Beginn Geschichtsvergessenheit und infantile Egozentrik dieser des 21. Jahrhunderts nicht höchste Zeit für ein drittes Prinzip Generation deuten. Mit Kohl sind sie 16 Jahre lang auf- – das Prinzip Verantwortung? Um dies anzuerkennen, wäre es gewachsen. Kohl hat ihre Kindheit beziehungsweise Jugend unerlässlich, nach Figuren Ausschau zu halten, die über ein geprägt – und dass es auf der Welt etwas Größeres als ihre zeitgemäßes republikanisches Pathos verfügen, den Bürgern Kindheit und Jugend geben kann, übersteigt ihren Horizont. keine vollen Tische versprechen und gleichzeitig ahnen, dass Wobei die Überhöhung Kohls durch die 30- bis 44-Jährigen die Haushaltskasse leer ist, die Lust wecken am öffentlichen mit ostdeutscher Vergangenheit noch eher zu verstehen ist: Streit um Inhalte, anstatt das Land in falscher Konsens-UmFür sie hat er Horizonte geöffnet, die zuvor vom Eisernen armung zu ersticken. Vorhang versperrt waren. Wenn sie „Kohl“ sagen, dürften sie Noch ist unklar, ob seine schwer angeschlagene Gesundheit weniger an ihr erstes Nutella-Brot denken, als vielmehr an ihre es Helmut Kohl erlauben wird, an den Feierlichkeiten zum 20. erste Reise nach Paris, New York, Ibiza. Jahrestag des Mauerfalls teilzunehmen. Als Privatmensch Dem flüchtigen Blick mag es so scheinen, als ob Welten wünsche ich ihm alles Gute. Als Staatsbürgerin bekenne ich: lägen zwischen dem biederen Strickjackenträger, der es Über der Vorstellung, „den Alten“ noch einmal auf einer wohnsitzhalber dann doch nur von Ludwigshafen-Friesen- schwarz-rot-gold beflaggten Empore stehen zu sehen, liegt ein heim bis Ludwigshafen-Oggersheim geschafft hat, und den Hauch von Horror.
SPIEGEL GESCHICHTE
2 | 2009
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UMFRAGE
Kanzler Adenauer, Mitarbeiterin Poppinga 1961
Anneliese Poppinga über ihre Arbeit für Konrad Adenauer, den Tag des Mauerbaus, die Wahl im Herbst 1961 und Adenauers Einwände gegen Ludwig Erhard
SPIEGEL: Frau Poppinga, als Sie sich im Sommer 1958 bei Konrad Adenauer vorstellten, waren Sie noch nicht mal 30, der Kanzler war 82. Wie hat er auf Sie gewirkt? Poppinga: Mir war vorher gesagt worden, Adenauer sehe aus wie ein alter Indianer. Ich kam gerade aus Japan zurück, hatte mich viel mit Buddhismus beschäftigt und dachte, als ich ihm gegenüberstand,
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an einen hohen buddhistischen Würdenträger, einen Lama aus Tibet. Er strahlte eine ungeheure Würde und Gelassenheit aus. Und Distanziertheit. SPIEGEL: Kurze Zeit nach dem Vorstellungsgespräch haben Sie bei ihm angefangen … Poppinga: … und hatte bald darauf im Oktober 1958 meine erste große Feuerprobe zu bestehen. SPIEGEL: Erzählen Sie.
Poppinga: Der britische Premierminister
Harold Macmillan war auf Staatsbesuch in Bonn. Abends um acht sollte ein großes Essen im Palais Schaumburg beginnen. Mit Frack und Orden, feierlicher geht es nicht. Adenauer hatte vorher noch eine Besprechung. Um sich umzuziehen, blieb ihm deshalb nur wenig Zeit. Vielleicht so Viertel vor acht ertönte aus der Gegensprechanlage Adenauers Stimme: „Ich habe keine Frackweste!“
SPIEGEL GESCHICHTE
2 | 2009
LAURINPRESS
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„Distanz und Würde“
FRANK DARCHINGER/DARCHINGER.COM
SPIEGEL: Waren Sie auch für die Klei-
dung zuständig? Poppinga: Nein, das war eine andere Dame, die sogenannte Beschließerin des Palais Schaumburg. Immer wenn so ein Staatsbesuch anstand, bekam Adenauer in seinem Haus in Rhöndorf ein Köfferchen mit, darin waren Frack und Orden. SPIEGEL: Nun war die Frackweste vergessen worden. Was haben Sie gemacht? Poppinga: Nach einigem Hin und Her habe ich dem Protokollchef der Bundesregierung, Sigismund von Braun, die Frackweste abgenommen. Der war ziemlich ungehalten, aber ich hab ihm gesagt, der Kanzler ist jetzt wichtiger. SPIEGEL: Und die Weste passte? Poppinga: Sie war zu groß. Meine Rettung war, dass es in der großen Lederschatulle für den britischen Orden, den Adenauer anlegen musste, Sicherheitsnadeln gab. Mit denen steckte ich die Weste am Rücken Adenauers ab. Draußen waren schon Polizeisirenen zu hören, die Macmillans Ankunft ankündigten. SPIEGEL: Haben Sie es noch rechtzeitig geschafft? Poppinga: Ja, aber während des ganzen Essens habe ich gebangt, dass eine der Nadeln aufspringen und den Kanzler piksen könnte, wenn der gerade einen Toast auf seinen Gast ausbringt. SPIEGEL: Wie hat Adenauer auf die Panne reagiert? War er erbost? Poppinga: Ich hatte erwartet, es käme ein Donnerwetter am nächsten Tag, aber er war ganz ruhig. Die einzige Konsequenz war, dass er aus Rhöndorf einen Koffer mit drei Westen mitbrachte, die fortan im Palais Schaumburg deponiert wurden. SPIEGEL: Sie waren drei Jahre auf Ihrem Posten, als am 13. August 1961 in Berlin mit dem Bau der Mauer begonnen wurde. Adenauer ist viel kritisiert worden, weil er nicht sofort nach Berlin geflogen ist. Wie erinnern Sie sich an diese dramatischen Tage? Poppinga: Am 14. August kam Adenauers persönlicher Referent zu mir und sagte, er habe die Amerikaner um ein Flugzeug nach Berlin gebeten, die Amerikaner hätten aber abgelehnt. Einen deutschen Flieger durfte der Kanzler wegen des Viermächtestatus der Stadt ja nicht nehmen. SPIEGEL: Fünf Tage später reiste der amerikanische Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach Berlin und machte auf dem Weg in Bonn Station.
SPIEGEL GESCHICHTE
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Poppinga: Adenauer holte ihn am Flug-
wesen. Selbst CDU-Leute dachten, der hafen ab, und schon auf dem Weg in die Kanzler habe Berlin im Stich gelassen, Stadt sagte er ihm, er würde gern mit und sind aus der Partei ausgetreten. Bei nach Berlin fliegen. Johnson reagierte seinen Auftritten gelang es Adenauer imnicht auf diese Bitte. mer wieder, diese Stimmung zu kippen. SPIEGEL: Willy Brandt, damals Regie- SPIEGEL: Wo waren Sie am Wahlabend? render Bürgermeister von West-Berlin, Poppinga: In Rhöndorf bei Adenauer im hat scharf bei US-Präsident John F. Ken- Hause. Der Kanzler ist um 23 Uhr ins nedy gegen die Tatenlosigkeit der Al- Bett gegangen. liierten nach dem MauSPIEGEL: Kannte er erbau protestiert. denn da schon ein EndANNELIESE ergebnis? Poppinga: Das war ausPOPPINGA gezeichnet. Brandt als Poppinga: Nein, ich saß Bürgermeister konnte Die heute 80-Jährige wurde vor dem Fernseher, so etwas machen, der 1958 Adenauers Sekretärin habe die Ergebnisse für Kanzler nicht. Die Lage und arbeitete auch nach ihn notiert und sie ihm war sehr gefährlich. dessen Rücktritt 1963 bis zu dann auf den SchreibWenn da was passiert seinem Tod 1967 als wissentisch gelegt. wäre, dann hätte es schaftliche Assistentin für SPIEGEL: Im Hause zu einem Atomschlag den CDU-Politiker. Sie hat Adenauer gab es einen kommen können. Ade- zahlreiche Bücher über den Fernseher, den der nauer hat noch am ersten Kanzler der BundesKanzler, so wird er13. August eine Pres- republik veröffentlicht und zählt, eigens angeseerklärung abgegeben, war bis Dezember 1990 Geschafft hatte, um seine in der es hieß, unsere schäftsführerin der Stiftung zwei jungen Hausgewestlichen Bündnis- Bundeskanzler-Adenauerhilfinnen davon abzupartner würden die Haus in Rhöndorf bei Bonn. bringen, abends in erforderlichen GegenKneipen zu gehen und, maßnahmen treffen. Er Gott behüte, dort vielbat alle Deutschen, leicht Männer kennendarauf zu vertrauen. zulernen. War es dieses Aber es geschah nichts, Gerät, vor dem Sie die gar nichts. Amerikaner, Wahlergebnisse verBriten und Franzosen folgten? wollten keine VerPoppinga: Ja, das war schärfung. der einzige Fernseher im Kanzlerhaus. Er SPIEGEL: Brandt war stand in einem kleidamals auch Kanznen Vorraum zur Külerkandidat der SPD che, Adenauer saß dort für die bevorstehende nie. Wahl im September 1961. Am 14. August SPIEGEL: Mit dem griff Adenauer seinen Verlust der absoluten Kontrahenten auf einer Mehrheit wurde der Wahlveranstaltung scharf an und Konkurrenzkampf zwischen dem Kanzschmähte ihn als „Herrn Brandt alias ler und seinem Stellvertreter Ludwig ErFrahm“, eine Anspielung auf Brandts hard schärfer. Die beiden mochten sich uneheliche Geburt und sein Exil in nicht. Skandinavien. Poppinga: Ich habe die Briefe von ErPoppinga: Halt, halt! Brandt hatte am hard an Adenauer gelesen, der hat seiAbend vor dem Mauerbau eine haar- nen Chef viele Jahre geradezu verehrt. sträubende Schimpfkanonade gegen SPIEGEL: Das Gefühl wurde aber nicht Adenauer losgelassen. „Brandt alias erwidert. Frahm“ war Adenauers kurze Replik. Poppinga: Als Wirtschaftsminister schätzPolitisch hat ihm das allerdings sehr ge- te Adenauer Erhard sehr, aber als Regieschadet. rungschef wollte er ihn nicht. Erhard war SPIEGEL: Bei der Wahl im Herbst 1961 ihm zu sehr den USA zugeneigt. Adeverloren CDU und CSU ihre absolute nauer wollte ein unabhängiges Europa, Mehrheit im Parlament. Hatten Sie da- keinen amerikanischen Vasallen. Und außerdem war Erhard ihm zu weich. mit gerechnet? Poppinga: Schon im Wahlkampf war die Kanzler, fand Adenauer, müssten härter Interview: Karen Andresen Stimmung teilweise sehr feindselig ge- sein.
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UMFRAGE
Der ehemalige Regierungssprecher Klaus Bölling über den Führungsstil Helmut Schmidts, dessen Verhältnis zu Willy Brandt und die Frage, warum der Altkanzler sich zunehmender Beliebtheit erfreut
„Bitte kein Quallenfett!“
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Wenn man ihm allerdings widersprach, musste die Argumentation fugendicht sein. Schmidt sagte: „Bitte kein Quallenfett!“ Das Wort findet sich nicht im Duden, auch Meeresbiologen kennen es nicht. Das ist wohl eine Erfindung von ihm. Er wollte damit sagen: Keine Redundanz und kein leeres Stroh bitte! SPIEGEL: Also doch eine gewisse Herablassung? Bölling: Im Kleeblatt herrschte durchaus eine menschliche Wärme – nicht die eines Skatvereins, sondern immer unter Wahrung der Distanz, auch wenn die Hierarchie für anderthalb Stunden nicht relevant war. Wir sind gelegentlich in Zeitungsartikeln als „Paladine“ bezeichnet worden, wobei manche Autoren wohl nicht wussten, was Paladine sind: nicht Kammerdiener, nicht Adjutanten oder Ordonnanzen, sondern das waren am Hofe Karls des Großen Leute von Rang.
sondern er lag auch im Streit mit großen Teilen seiner eigenen Partei über Themen wie Atomkraft, Nachrüstung, Ökologie. Hätten Sie, anders als der parteilose Kurt Becker, Ihr Interims-Nachfolger, die Gräben zwischen Schmidt und der SPD eher einebnen können? Bölling: Nein, da würde ich mich gewaltig überheben. Die Erosion zwischen ihm und der SPD hätte niemand aufhalten können. SPIEGEL: Schmidt hat später ja bedauert, von Willy Brandt nicht auch die Parteiführung übernommen zu haben. Bölling: Ich habe ihm mal gesagt: Herr Bundeskanzler, selbst wenn Sie versucht hätten, an die Spitze der Partei zu kommen, das wäre misslungen. Sie wären nicht gewählt worden, und es wäre eine schreckliche Demontage gewesen. SPIEGEL: Woran lag das schlechte Verhältnis Schmidts zur SPD? KLAUS BÖLLING Der gebürtige Potsdamer war unter anderem Moderator des „Weltspiegel“, Leiter des ARD-Studios Washington und Intendant von Radio Bremen. Von 1974 bis 1982 war er Regierungssprecher, unterbrochen von 14-monatiger Tätigkeit als Ständiger Vertreter Bonns in der DDR. Bölling, 80, lebt in Berlin.
Die waren bekannt für ihre Loyalität zum Kaiser, aber sie waren unabhängige Köpfe, keine Kreaturen des Mächtigen. SPIEGEL: Schmidt hat es nachträglich als schweren Fehler bezeichnet, dass er Sie 1981 als Leiter der Ständigen Vertretung nach Ost-Berlin hat ziehen lassen – eine Entscheidung, die er nach 14 Monaten ja auch revidierte. Eine hypothetische Frage: Hätte seine Kanzlerschaft vielleicht einen anderen Verlauf genommen, wenn Sie ihm als Regierungssprecher zur Verfügung gestanden hätten? Nicht nur die FDP hat sich von ihm abgewandt,
Bölling: Die Liebe der Partei blieb Brandt
ja auch nach dessen Rücktritt als Kanzler erhalten. Schmidt wurde als große Begabung geachtet, aber er vermittelte vielen in der Partei das Gefühl, sie wie eine Division kommandieren zu wollen. Herbert Wehner sagte mal zu mir: „Sagen Sie Ihrem Herrn Oberleutnant …“ SPIEGEL: War Schmidt auf Brandt eifersüchtig? Bölling: Vielleicht hat er Brandt ein bisschen beneidet wegen dessen Charisma. Jeder von uns braucht Zeichen von Zuwendung und Empathie. Die vermittelt
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SPIEGEL: Herr Bölling, in seinem Erinnerungsbuch „Weggefährten“ schreibt Helmut Schmidt über Sie: „Er sprach manchmal so, wie Thomas Mann geschrieben hat.“ Ein süffisantes Lob für einen Regierungssprecher, oder? Bölling: Das war Schmidtsche Ironie. Er hat mich freundschaftlich auf die Schippe genommen, mit einer gewissen Achtung vor Professionalität, die er mir attestieren wollte. SPIEGEL: Sie waren nicht nur „his Master’s Voice“, sondern auch einer der engsten politischen Berater des Kanzlers in dem legendären „Kleeblatt“. Was war das für eine Runde? Bölling: Über das Kleeblatt sagt Schmidt in seinem aktuellen Bestseller „Außer Dienst“, er habe sich in keinem anderen politischen Gremium „jemals mehr zu Hause gefühlt“. Ihm gehörten der Chef des Kanzleramts, Manfred Schüler, der Staatsminister – das war die längste Zeit Hans-Jürgen Wischnewski – und ich als Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung an. Das Kleeblatt war kein Küchenkabinett. SPIEGEL: Worin liegt der Unterschied? Bölling: Mitglieder eines Küchenkabinetts haben nicht notwendigerweise ein staatliches Amt inne, aber sie haben eine enge menschliche Beziehung zu dem, den sie beraten. So werden in einem Küchenkabinett bisweilen Entscheidungen vorbereitet am Kabinett, an den Ministern vorbei. Im Kleeblatt wurde zwar über alle Tagesprobleme mit großer Offenheit geredet, aber es war kein Gremium, in dem irgendetwas präjudiziert wurde. SPIEGEL: Wie verhielt sich Schmidt in dieser Runde? Bölling: Auch ein Mann, der von einiger Selbstgewissheit ist, braucht, wenn er klug ist, Widerspruch – und den hat Schmidt nicht aus Koketterie verlangt.
JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES
Kleeblatt-Runde im Kanzleramt 1977: Schmidt, Wischnewski, Bölling, Schüler (2. v. r.: Büroleiter Klaus Dieter Leister)
Schmidt anderen nur äußerst selten, aber er selbst würde sie ganz gern spüren. SPIEGEL: Von Schmidt wird das auf Politiker gemünzte Zitat kolportiert, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Ist es nicht ein Grundübel der Politik, dass sie kaum über den Tellerrand des nächsten Wahltags hinausblickt? Bölling: Diese Äußerung Schmidts – das ist jetzt meine Interpretation – hatte bestimmt eine Menge zu tun mit seinem Verhältnis zu Brandt. Er fand, dass Brandt gelegentlich zu einer gewissen politischen Schwärmerei neigte. SPIEGEL: Kann man ein Land nur mit kühler Rationalität regieren? Bölling: Es spricht für Schmidts schelmische selbstkritische Art, wenn er sagt: „Die Leute halten mich für einen großen Kantianer, aber ich habe ja nur einen Bruchteil von Kant gelesen.“ Man kann nicht sagen, dass erst nach Brandts Regierungszeit im Sinne von Henry Kis-
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singer die Realpolitik begonnen hätte, aber an das sozialistische Himmelreich hat Schmidt nie geglaubt. SPIEGEL: Viele sagten, er sei der richtige Mann in der falschen Partei. Bölling: Er hat das immer richtiggestellt. Er bezeichnet sich als „Sozi“ – ein saloppes Wort, das von Gegnern gern etwas verächtlich benutzt wird – „bis zum Ende meiner Tage“. SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür, woher die in letzter Zeit zunehmende Verehrung Schmidts kommt? Bölling: Er hat die Begabung eines bedeutenden Navigators. Schmidt hat in schweren Zeiten – Flutkatastrophe, Ölpreisschock, RAF-Terrorismus – Führungskraft bewiesen. Und nun sagen die Leute: Der würde uns bei den aktuellen Verwerfungen der Weltfinanzmärkte die Sicherheit wiedergeben, die vielen abhandengekommen ist. Seine diagnostischen Fähigkeiten sind schon erstaunlich.
SPIEGEL: Manchen geht er allerdings mit seinen therapeutischen Ratschlägen auf die Nerven. Bölling: Ja, er hat die Neigung, den Leuten seine Therapien zu verkünden. Die scheinen heute besser aufgenommen zu werden als in früheren Zeiten. SPIEGEL: Man verbindet Adenauer mit der Westintegration der Bundesrepublik, Brandt mit der Ostpolitik, Kohl mit der Einheit. Was bleibt vom Kanzler Schmidt? Bölling: Sicher, er hat kein großes Thema zu fassen bekommen. Aber er ist von allen deutschen Kanzlern der einzige, der den unauflöslichen und sich dramatisierenden Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik verinnerlicht hat. Es gibt kaum eine Rede, in der er nicht alles verbindet mit der Ökonomie und der Wirtschaftskraft eines Landes. Man muss ihn nicht den Weisesten nennen, aber er ist ein Mann von überlegener Führungsqualität. Interview: Norbert F. Pötzl
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UMFRAGE
Wie kein anderer Kanzler wurde Willy Brandt von den Deutschen verehrt, ja geliebt. Seine Ostpolitik verschaffte der Bundesrepublik internationales Ansehen und bereitete den Weg zur Wiedervereinigung.
Die Zeit der großen Gefühle Von PETER MERSEBURGER
gen war das Motto seiner ersten Regierungserklärung. Und wenn der neue Kanzler versicherte, wir seien nicht am Ende unserer Demokratie, „nein: Wir fangen erst richtig an!“, dann schwang viel von den Erfahrungen mit, die der junge Antifaschist Willy Brandt im skandinavischen Exil machen konnte, wo ihn das schwedische Sozialstaatsmodell so beeindruckt hatte. Mit seinem Motto trug er auch dem Zeitgeist Rechnung, für den er stets besonderes Gespür entwickelte und der in den wilden sechziger Jahren mit Studentenrebellion, Anti-Vietnam-Bewegung und sexueller Revolution stürmisch auf Neues drängte. Brandt wollte ein Reformkanzler sein, für den Demokratie nicht nur die Organisationsform des Staates ist, sondern als konstitutives Prinzip Wirtschaft und Gesellschaft durchdringt und die Menschen durch Mitverantwortung, ja Mitbestimmung von Abhängigen zu Mündigen macht. Das waren hochgesteckte Ziele, die von seiner Regierung nur ansatzweise verwirklicht werden konnten, aber jeder künftigen sozialdemokratischen Regierung sollten sie Richtschnur sein. Damals haben sie einen Erwartungshorizont geschaffen, der Enttäuschungen bedingte. Viele Anhänger Brandts mussten erst lernen, dass sich der Fortschritt im Kriechgang der Schnecke bewegt. Mit keinem Namen der Nachkriegszeit ist so viel Hoffnung auf moralische Erneuerung der Politik, auf mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit verbunden wie mit dem Brandts. Seine Wahl markiert Abschied und Aufbruch zugleich: Abschied von einer muffigen Obrigkeitsdemokratie, in der die CDU unangefochten 20 Jahre lang als die qua-
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KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew und Willy Brandt 1971 auf der Krim
si „geborene“ Staatspartei regierte, und Aufbruch in eine Zeit der Hoffnung, die allerdings oft als Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche diente.
Brandt gab der überbordenden Euphorie, die nach seiner Kanzlerwahl bei seinen Anhängern herrschte, noch Nahrung. Jetzt, sagte er, gebe es die Chance, das „Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit“ zu gestalten, das für August Bebel, den Arbeiterkaiser, einst Ideal gewesen sei. Vorsorglich setzte er allerdings hinzu: soweit man das eben auf Erden zustande bringen könne. Für junge Schriftsteller, Filmemacher und Künstler wurde Brandt zum Hoffnungsträger, wenn nicht zur Lichtgestalt. Auch weil er nicht, wie Ludwig Er-
hard, kritische Einwände von Intellektuellen als dummes Kläffen „ganz kleiner Pinscher“ denunzierte, sondern die Kluft zwischen Geist und Macht zu verringern suchte. Wichtig war für viele auch: Der Antifaschist Brandt stand für den Bruch mit der Frühzeit der Bundesrepublik, auf die ja der Nationalsozialismus noch immer seinen Schatten warf: mit einem Minister Theodor Oberländer im Kabinett Adenauer, der NS-Parteigenosse der ersten Stunde gewesen war, mit einem Hans Globke, Staatssekretär in Adenauers Kanzleramt, der Hitler als Kommentator der Nürnberger Rassegesetze gedient hatte, und mit dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger als Kanzler der Großen Koalition.
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Mehr Demokratie wa-
Brandt dagegen verkörperte ein Stück ungebrochener Freiheitstradition, wie sie im Nachkriegsdeutschland selten war: Er hatte gegen beide Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gekämpft – als Emigrant gegen die Nationalsozialisten, als Regierender Bürgermeister in Berlin gegen die Kommunisten, welche die Westmächte vertreiben und WestBerlin zur Freien Stadt machen wollten.
Auch wenn Brandt sich selbst gern als Reformkanzler sah, ist er doch vor allem der Kanzler der Ostpolitik. Und wer nach deren Wurzeln sucht, findet sie an der Mauer in Berlin. Weil die West-Alliierten am 13. August 1961 nichts gegen die flagrante Verletzung des Viermächtestatus Berlins unternahmen, fühlten sich die West-Berliner verraten, und ihr Regierender zeigte sich zutiefst enttäuscht. Auch er hatte erwartet, amerikanische Panzer würden die Absperrungen niederwalzen. Stattdessen musste er lernen, dass ein Mann wie John F. Kennedy die Mauer eher als Anfang vom Ende der BerlinKrisen verstand: Wer eine Mauer um Ost-Berlin zieht, will den Rest der Stadt nicht überrennen und die Westmächte nicht zum Abzug zwingen. So arrangierte sich der Westen mit dem Status quo minus. Und weil der alleingelassene Regierende die Mauer weder wegschreien, wegfluchen noch wegdemonstrieren konnte, blieb ihm nur, sie transparent zu machen, sie zu durchlöchern, damit die Berliner-West und die Berliner-Ost wieder zueinanderkommen konnten. Er folgte dabei seiner Devise, dass eine Politik nichts taugt, die nicht den Menschen nützt.
langen Atem erforderte. und wollte ihn per MissEr strebte nach Dialog antrauensvotum aus dem stelle von Konfrontation, Amt jagen. Der Versuch forderte Kulturaustausch schlug fehl, weil, wie wir und Ausbau des Handels, heute wissen, zwei Abgeweil er sich von mateordnete der CDU/CSUriellen Verbesserungen Fraktion gekauft wurden und einer Hebung des Le– mindestens einer von bensstandards entspanihnen im Auftrag von nende Wirkungen in der Markus „Mischa“ Wolf, „Zone“ (wie damals die dem Chef der DDR-SpioDDR bei ihm noch heißt) nage. PETER versprach. Zwar sah sich Brandt MERSEBURGER Dazu eine langsame bei Neuwahlen im NoMilderung des Terrorsys- Der Publizist und vember geradezu triumtems in zunächst homöo- Fernsehjournalist, phal bestätigt, denn er pathischen Dosen bis hin Jahrgang 1928, erzielte mit 45,8 Prozent zur schrittweisen Libera- veröffentlichte 2002 der Stimmen den bislang lisierung. Ziel ist, dass die die Lebensgeschichte größten SPD-Wahlerfolg Deutschen wieder zuein- Willy Brandts und überhaupt. Doch seine anderkönnen und das Be- 2007 eine Biografie zweite Amtszeit als Kanzwusstsein lebendig bleibt, über Rudolf Augstein. ler stand unter keinem einer Nation anzugehören. guten Stern. Die StrapaSo wandelte sich der Regierende Bür- zen des Wahlkampfs hatten ihn mitgegermeister Brandt vom Kalten Krieger, nommen, er war gesundheitlich angeder er bis Anfang der sechziger Jahre schlagen, wirkte ausgelaugt und entgewesen war, zum Kanzler der Versöh- scheidungsschwach. Auch stellte sich nung, der das geordnete Nebeneinander die Frage, ob er der richtige Kanzler ist zweier Staaten einer Nation festschrieb, für eine Zeit der Ölkrise und der daraus zugleich aber die Option auf die natio- folgenden wirtschaftlichen Probleme. nale Selbstbestimmung in dem Vertrag mit Moskau und im Grundlagenvertrag Im Grunde hatte er schon in der mit der DDR offenzuhalten verstand. ersten Amtszeit erreicht, was er für unDie Kanzlerzeit Brandts – das waren erlässlich hielt. Erst die Vertragspolitik Jahre der großen Gefühle und des inne- gegenüber Polen und der Sowjetunion ren Aufruhrs, dramatische Jahre voller machte die Bundesrepublik zum PartGeheimnisverrat, Bestechung und Kor- ner, der nach allen Seiten voll handruption. Brandts Politik polarisierte. Ge- lungsfähig war, und mit dem Eintritt in stützt auf eine winzige Mehrheit setzte er die Vereinten Nationen gewann Bonn an die Anerkennung der Realitäten durch, Gewicht. Seither spielt die Bundesrepudie Abschied von den Illusionen der frü- blik in der internationalen Liga mit. Heute wissen wir auch um den wichhen Bonner Jahre bedeutete. Aber diese winzige Mehrheit bröckelte, auch weil tigen Beitrag, den Brandts Ostpolitik zur deutschen Einheit geleistet hat: Dass ein Michail Gorbatschow an die Spitze der KPdSU aufstieg, war nur möglich, weil Brandts Politik entscheidend dazu beigetragen hatte, das Feindbild vom deutschen Revanchismus abzubauen. Wie beim Misstrauensvotum gegen die Union Zweiflern in den Koalitionsfraktionen interessante Angebote machte. ihn hatte die Stasi auch bei seinem RückBrandt erkannte die Oder-Neiße-Li- tritt ihre Hand im Spiel. Brandt stürzte nie als polnische Westgrenze an, weil er über den Spion im Kanzleramt, Günter genau wusste, dass die westlichen Bünd- Guillaume. Aber die Art, wie er von der nispartner einer deutschen Vereinigung Macht Abschied nahm, setzt moralische nur innerhalb der jetzigen Grenzen bei- Maßstäbe: Macht ist ihm nicht alles, er der deutscher Staaten zustimmen wür- klammert sich nicht verbissen an seinen den. Kaum hatte er dies getan, wurden Kanzlerstuhl. Das Bild vom Kniefall in Parolen wie „Brandt an die Wand“ auf Warschau, das noch heute in aller Bewusstsein ist, zeigt Brandt als den StaatsFabrikmauern gesprayt. Die christdemokratische Union be- mann, für den Macht und Moral keine zichtigte ihn des nationalen Ausverkaufs Gegensätze waren.
OLIVER STRATMANN / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Ziel war, dass die Deutschen in Ost und West wieder zueinanderkonnten. So begann er mit einer Politik der kleinen Schritte, erreichte ein Passierscheinabkommen, das wiederum nicht möglich war, ohne die andere Seite wenigstens offiziell zur Kenntnis zu nehmen. Peu à peu wurde daraus dann die Strategie des Wandels durch Annäherung, die mit allen Tabus der bisherigen Deutschlandpolitik bricht. Brandt dachte jetzt die deutsche Vereinigung nicht mehr als einmaligen Schritt mit freien Wahlen, sondern als Prozess mit vielen Stationen, der einen
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Erich Honecker organisierte den Mauerbau und drängte seinen Ziehvater Walter Ulbricht mit Intrigen aus dem Amt. 18 Jahre stand er an der Spitze der DDR, die er mit seiner Subventionspolitik in den Ruin führte.
Spießer mit Machtinstinkt Von NORBERT F. PÖTZL
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ten Zone und späteren DDR rasch Karriere: Erst avancierte er zum Chef der „Freien Deutschen Jugend“, dann wurde er Politbüro-Mitglied und Sekretär für Sicherheitsfragen im SED-Zentralkomitee. In dieser Eigenschaft organisierte er 1961 den Bau der Berliner Mauer mit höchster Präzision – sein Gesellenstück, das ihn zur Nummer zwei in der Parteihierarchie machte.
Von 1963 an ging Honecker, bis dahin ein treuer Paladin Walter Ulbrichts, auf Konfrontationskurs zu seinem Förderer. Der hatte gerade eine vorsichtige Liberalisierung der Jugend- und Kulturpolitik verordnet. Auf der 11. Tagung des SED-Zentralkomitees im Dezember
teten Dienstvilla regelmäßig mit drei Skatfreunden Karten spielte und als Lieblingsspeisen „gegrillte Wurst mit Kartoffelpüree“ und „Makkaroni mit Speck“ angab, mutierte zu einem sozialistischen Sonnenkönig. Er gab Anweisung, auf flüchtende DDR-Bürger rücksichtslos zu schießen, beschied Eingaben seiner Untertanen nach feudalherrlichem Gutdünken („Einverstanden E. H.“) und buhlte mit dosierten Wohltaten, etwa genormtem Plattenbau (vulgo „Arbeiterschließfächer“), um die Zuneigung seines Volkes. Er verkündete die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ – ein ideologisch motiviertes Subventionssystem, das zum Scheitern verurteilt war.
„In Ökonomie macht mir keiner was vor.“ 1965, die als „Kahlschlag-Plenum“ in die Geschichte der DDR einging, trat Honecker als Hardliner auf und setzte strenge Zensurmaßnahmen in Literatur und Film durch. Offensichtlich opponierte er nicht aus innerer Überzeugung gegen seinen Ziehvater, sondern aus Lust am Widerspruch und aus Machtstreben. Denn er attackierte Ulbricht unter anderem wegen dessen Gesprächsbereitschaft gegenüber westdeutschen Politikern, die er später selbst pflegte. Honecker schwärzte Ulbricht beim Kreml-Fürsten Leonid Breschnew an und entmachtete ihn schließlich 1971 auf demütigende Weise: Er ließ Fotos verbreiten, die Ulbricht als gebrechlichen Kranken in Morgenmantel, Trainingshose und Pantoffeln zeigten. Honecker, privat ein spießiger Kleinbürger, der in seiner plüschig eingerich-
Wenn etwa gebackenes Brot billiger war als Getreide, wurde eben Brot an die Schweine verfüttert. Weil mit den lächerlich geringen Mieten die Häuser nicht einmal notdürftig instand gehalten werden konnten, verfiel die Bausubstanz. Die verordneten Löhne, so niedrig sie waren, entsprachen bei weitem nicht der Produktivität – die kollabierte DDR hinterließ schließlich eine marode Industrie und eine ökologische Giftküche. Anfangs kokettierte Honecker noch damit, dass er in wirtschaftlichen Dingen ein Laie sei. Später hielt er sich für einen Experten: „In Ökonomie macht mir keiner was vor.“ Wie entrückt Honecker zuletzt war, zeigte sich im Januar 1989, als er bekräftigte, die Mauer werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Grün-
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Der erste Mann im zweiten deutschen Staat gab oft ein jammervolles Bild ab, wenn er, mit leierndem Singsang und ganze Silben verschluckend, seine Reden vom Blatt ablas. Erich Honeckers linkische Art bei öffentlichen Auftritten wirkte bisweilen peinlich. Steif und hölzern erlebten ihn westliche Gesprächspartner, die er mit propagandistischen Floskeln traktierte. „Mir ist nie klargeworden“, wunderte sich Helmut Schmidt, „wie dieser mittelmäßige Mann sich an der Spitze des Politbüros so lange hat halten können.“ Immerhin prägte Honecker die Geschichte des geteilten Landes mehr als ein Vierteljahrhundert; 18 Jahre lang führte er die DDR-Staatspartei SED – länger, als jeder westdeutsche Kanzler regierte. Das gelang ihm, weil er sich, von wenigen ihm intellektuell überlegenen Genossen abgesehen, im obersten Führungsgremium mit lauter Jasagern und Kopfnickern umgab. Selbst Stasi-Chef Erich Mielke, der auch nur insgeheim über den Parteichef moserte, resignierte vor der Unterwürfigkeit seiner Politbüro-Kollegen gegenüber Honecker: „Alle haben Angst vor Erich.“ Honeckers Defizit an intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten verleitete indes auch leicht dazu, den grauen Parteifunktionär zu unterschätzen. Was dem SED-Generalsekretär an Geist und Ausstrahlungskraft fehlte, machte er mit Machtinstinkt, taktischem Talent und Bauernschläue wett. Der 1912 geborene Saarländer mit abgebrochener Dachdeckerlehre, der seine Schulung vorwiegend in Kaderschmieden der Kommunistischen Partei erhalten und unter den Nazis im Zuchthaus gesessen hatte, machte nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetisch besetz-
de nicht beseitigt sind“. Das sei, sagte er, auch deshalb „erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen von denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören“. Honecker, sein Leben lang ein Satrap der Sowjetunion, verstand die Signale nicht mehr, die von Moskau ausgingen. Vor Glasnost und Perestroika schottete er seine kleine Republik hermetisch ab. Vergebens mahnte ihn der Reformer Michail Gorbatschow beim 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober 1989: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Gut eine Woche später wollte Honecker sogar Panzer durch Leipzig rollen lassen, zwecks Abschreckung der hunderttausend Montagsdemonstranten, die er als „Mob“ beschimpfte. Die Idee ließ er sich ausreden. „Na, denn nicht“, gab er kleinlaut nach. Seinen Sturz am 17. Oktober beschloss er wi-
derwillig, aber systemkonform im Politbüro mit – es musste ja immer Einstimmigkeit herrschen im Gremium der Gerontokraten. Vertrieben aus dem Bonzenparadies Wandlitz, fand der Atheist Honecker erst Unterschlupf bei einem Pastor, dessen Kinder im DDR-System um ihre Bildungschancen gebracht worden waren, dann begab er sich in die Obhut der noch in Ostdeutschland stationierten Sowjetarmee. Seiner drohenden Verhaftung entzog er sich im März 1991 durch Flucht nach Moskau.
Dem Drängen Bonns auf Auslieferung gaben, nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991, der russische Präsident Boris Jelzin und die konservative chilenische Regierung nach, in deren Botschaft sich der ehemalige DDRMachthaber zuletzt geflüchtet hatte. Eine manipulierte Krankenakte erleichterte die Abschiebung des uner-
wünschten Gastes: Dieselben Ärzte einer Moskauer Klinik, die im Februar 1992 einen Tumor in der Leber diagnostiziert hatten, fanden drei Wochen später angeblich keinen Krebsherd mehr – Honecker stand als Simulant da. Schon die erste medizinische Untersuchung in Deutschland bestätigte indes, dass das Moskauer Gutachten verfälscht worden war. Aber nach seiner Rückführung konnte Honecker in Berlin der Prozess wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze gemacht werden – ein fragwürdiger Versuch, die moralische und politische Schuld eines Staatsmannes unter die Normen des Strafrechts zu bringen. Als klar war, dass Honecker das Ende des Prozesses nicht mehr erleben würde, wurde er im Januar 1993 aus der Haft entlassen, das Verfahren eingestellt. So verabschiedete er sich als gebrochener, todkranker Greis aus der Weltgeschichte. Am 29. Mai 1994 starb er in Chile.
Vor seinem Ferienhaus am Drewitzer See in Mecklenburg besichtigt Honecker 1989 nach der Jagd die Strecke, neben ihm die Politbüro-Mitglieder Günter Mittag und Erich Mielke.
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Wenn kleine und auch große Jungs träumen, dann kann es gut sein, dass sie so werden wollen wie der Mann, der dem deutschen Fußball die Eleganz geschenkt hat.
Ich war immer Beckenbauer Von DIRK KURBJUWEIT
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Ich erinnere mich nicht gern, aber unter den Freunden, Wenn alles so gekommen wäre, wie ich es im Alter von acht Jahren minutiös geplant habe, mit denen ich in meiner späten Jugend auf den Ruhrwiesen würde man mich heute den zweiten Beckenbauer Fußball spielte, hatte ich den Spitznamen „Delze“. Das bezog nennen. Es ist nicht so gekommen, aber ich kann sich auf Günter Delzepich, der eine Zeit lang für Alemannia immerhin behaupten, dass Franz Beckenbauer ei- Aachen in der zweiten Bundesliga gespielt hat. Er war groß ner der wichtigsten Menschen meines Lebens ist. und schwer und, nun ja, ein bisschen ungelenk. Ich kann nur Unsere Geschichte begann an einem Samstag im Jahr 1970 sagen, dass es gar nicht so schwer ist, in sich selbst etwas oder 1971. Es muss ein Samstag gewesen sein, weil ich bei ei- komplett anderes zu sehen als alle anderen. Die Pässe, die ich nem Freund die „Sportschau“ gesehen habe. Zu Hause gab es damals spielte, kamen mir elegant und lässig aus dem Fußgekeinen Fernseher. Plötzlich sah ich einen Mann, der so elegant lenk, nach meinem Gefühl, und das ist ja wohl maßgeblich. Im und lässig spielte, dass mir der Atem stockte. Das war nicht die Verein spielte ich längst nicht mehr. Piefigkeit der Berliner Neubausiedlung, in der ich lebte, das war nicht die Schäbigkeit der Fußballplätze, die ich kannte, wo Im Jahr 1988 war Franz Beckenbauer Bundestrainer, und dicke Männer in laubenpieperhaften Vereinsheimen Buletten ich war für ein paar Monate in Sambia, einem armen Staat im fraßen und Biere kippten. Was ich auf dem Bildschirm sah, Süden Afrikas. Ein deutscher Entwicklungshelfer nahm mich war ganz großes Dasein, ganz großes Leben, und mein Leben eines Tages mit zum Training einer sambischen Mannschaft, damals war vor allem Fußball. Von da an hatte ich ein Projekt: die in der zweiten Liga spielte. Das waren alles athletische Ich wollte werden wie Beckenbauer. Burschen und Könner am Ball. Das Spiel lief weitgehend an Eleganz und Lässigkeit wurden, erst unbewusst, dann be- mir vorbei, es war heiß, und diese Jungs spielten viel zu wusst, die Leitwörter meines Lebens. Ich spielte damals schnell und zu gut für mich. bei Wacker 04, einem kleinen Verein, den es heute nicht Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich in 90 Minuten mehr gibt. Weil ich so groß war, musste ich ins Tor, aber ich drei Ballkontakte. Der erste wurde zu einer Torvorlage, beim war jung und war zuversichtlich, dass zweiten Mal schoss ich ein Tor und beim ich meinen heimlichen Plan würde umdritten Mal auch, eine herrliche BogenEIN LEBEN FÜR DEN FUSSBALL setzen können. lampe. Eigentlich hatte ich nur versucht, 1972 wurde Deutschland Europaden Ball ganz schnell wieder loszuwermeister, 1974 Weltmeister. Ich saß verden, weil zwei, drei dieser Athleten auf zaubert vor dem Fernseher und sah nie mich zustürmten. das ganze Spiel, ich sah immer nur einen Nach dem Spiel versammelte der Deutschlands Fußballer des JahSpieler, Beckenbauer. Und in meinem Trainer seine Mannschaft, wies auf mich res wurde er zum ersten Mal nach ganzen Leben habe ich nur einen Menund sagte, sie hätten ein Beispiel deutder WM in England 1966. Seitdem schen abgrundtief gehasst, und das ist scher Fußballschule erleben dürfen, eihat Franz Beckenbauer (geb. 1945 der Holländer Johan Cruyff, weil ein nen Spieler wie Beckenbauer. Alle in München) wie kein zweiter paar Leute behaupteten, er sei noch besklatschten. deutscher Spieler Fußballgeser als Franz Beckenbauer. Ich glaube, es war der glücklichste schichte geschrieben. Nicht nur Ich lebte mittlerweile in Essen, und Moment meines Lebens. für den FC Bayern und die Natiodie größeren Essener Fußballvereine Leider habe ich den Fehler gemacht, nalelf holte er zahlreiche Titel, hatten mich abgelehnt, aber das war in der folgenden Woche wieder zum sondern auch im Trikot des Hamnicht weiter schlimm. Rot-Weiß Essen Training zu gehen. Das Wort Beckenburger SV (Deutscher Meister hatte nicht den Ruf, Jahrhunderttalente bauer fiel nicht mehr. 1982) und von Cosmos New York entdecken zu können. Wenn der FC BayZwei Jahre später führte Beckenbau(US-Meister 1977, 1978, 1980). Seit ern München im Georg-Melches-Staer die deutsche Mannschaft zum WM1994 ist er Präsident des FC Baydion antrat, saß ich mit meinem Onkel Titel in Italien. Ich denke manchmal ern München, 2006 leitete er das Karl auf der Tribüne und war berauscht noch an den Moment, wie er nach dem Organisationskomitee der Weltvon Beckenbauers Eleganz und LäsSchlusspfiff allein über den Rasen ging, meisterschaft in Deutschland. sigkeit. in Gedanken versunken, die Hände hin-
„Kaiser“ Franz
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Trainer Beckenbauer während des WM-Endspiels 1990 in Rom
ter seinem Rücken verschränkt. Als ich mal einen Journalistenpreis gewonnen habe, habe ich es so ähnlich gemacht. Es war keine ganz unkomplizierte Weltmeisterschaft für mich, denn 1990 war ich im besten Fußballalter, 27. Aber Beckenbauer hatte mich nicht nominiert für die deutsche Nationalmannschaft. Ich spielte Fußball immer nur donnerstags um 17 Uhr auf der Hamburger Moorweide mit den Kollegen von der „Zeit“, wo ich damals Redakteur war. Es war nicht mehr zu übersehen, dass ich es nicht geschafft hatte und nicht mehr schaffen würde. Aber ich war glücklich. Weltmeister.
Die nächste Station meines Lebens mit Franz Beckenbauer ist das Jahr 2006. Ich spielte Fußball nur noch mit meinen Kindern. Ich war immer Beckenbauer. Mit meinen Kindern geht das, sie sind milde, verständige Menschen. Es war das Jahr der Weltmeisterschaft in Deutschland, und ich habe sie als Reporter für den SPIEGEL hautnah erlebt. Es waren drei wundervolle Wochen, ich fuhr von Spiel zu Spiel und sah mein Land, wie ich es noch nie gesehen hatte, fröhlich, ausgelassen, glücklich.
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Und ich konnte ganz entspannt im Stadion sitzen. Ich war 43 und musste nicht mehr dort unten auf dem Platz stehen. Niemand konnte das von mir erwarten, nicht mal ich selbst. Ich will nicht sagen, dass Franz Beckenbauer die deutsche Verzückung bewirkt hat. Aber er hatte die WM nach Deutschland geholt, und der Geist des Gelingens, der über seinem Leben schwebt, hat sich auch dieser Weltmeisterschaft angenommen.
So hat er mir und Deutschland einen WM-Titel als Spieler beschert, einen WM-Titel als Trainer und ein großes WM-Fest als Organisator. Mehr geht wirklich nicht. Die vielen Erfolge mit Bayern München will ich hier gar nicht erwähnen, weil ich ja weiß, wie schrecklich das für andere ist. Beckenbauer wurde von einem Journalisten gefragt, was er am Tag nach der WM machen würde. „Ich gehe nach Hause“, hat er gesagt. Ich finde, das ist die Antwort eines großen Mannes. Er hat für Deutschland eine traumhafte Weltmeisterschaft organisiert, und danach macht er das, was jeder tut, wenn seine Arbeit erledigt ist. Einfach nach Hause gehen. Ich bin Franz Beckenbauer nie begegnet. Das ist fast verwunderlich bei meinem Beruf, bei dem man im Lauf der Zeit so ziemlich jeden trifft, der irgendwie auffällig geworden ist. Vielleicht habe ich es nicht gewollt, weil ich Angst habe vor der Entzauberung. Ich weiß, dass er eine Menge nicht allzu kluge Dinge gesagt hat. Aber nie zu mir. Wobei nicht ganz stimmt, was ich weiter oben geschrieben habe. In Wahrheit bin ich Beckenbauer oft begegnet. Das war auf dem Fußballfeld, ausverkauftes Stadion, Endspiel einer Weltmeisterschaft, gegen Brasilien. Wir Deutschen spielten mit zwei Liberos, Beckenbauer und mir, und das war so erfolgreich, dass ich mich immer noch wundere, warum niemand dieses System aufgreift. Franz und ich spielten uns den Ball auf eine Weise zu, die man nur glanzvoll nennen kann. Wir passten und flankten aus dem Fußgelenk, bis einer von uns das Tor machen konnte. Das entscheidende Tor habe immer ich gemacht, elegant und lässig nach einem elegant-lässigen Pass von ihm. Schlusspfiff, Riesenjubel. Ich habe mir das oft ausgemalt, wenn ich als Junge wach im Bett lag und all die Schlitzer und Monster jener Nächte in mein Zimmer schlichen. Später habe ich es mir ausgemalt, wenn die Gedanken an die Mädchen, die mich nicht lieben wollten, zu schmerzlich wurden. Wenn ich es recht bedenke, ist dies das Beste, was ich über Franz Beckenbauer sagen kann: Er konnte mich retten. Und wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen: Er kann es immer noch. 87
UMFRAGE
Ihre Stasi-Akte liest sie heute wie ein Tagebuch über ihr Leben in der DDR. In der Marktwirtschaft ist Katarina Witt schon vor dem Mauerfall komfortabel angekommen.
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Honecker. Sie kann
sich heute köstlich amüsieren über Erich Honecker. Wie sie mit ihm in der 1. Reihe saß bei irgendeinem dieser piefigen Empfänge und der alte Mann auf sie einnuschelte. Ständig musste sie den Genossen Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR peinlich unterbrechen mit ihrem sächselnden: „Wie bidde?“ Irgendwann hat Katarina Witt dann aufgegeben und dem für sie entflammten Staatschef sicherheitshalber dauerhaft freudig zugenickt. Dass der einstige ostdeutsche Kufenstar solche Geschichten wieder freiwillig zum Besten gibt, war lange Zeit undenkbar. Mit der Wiedervereinigung setzte eine wahre Hexenjagd auf die einst volkseigene „Kati“ ein. Die „SED-Ziege“ („Bild“) galt als besonders systemtreu. Vom „schönsten Gesicht des Sozialismus“ und „Marxens schöner Tochter“, die dem Ostblock im Klassenkampf auf dem Eis zwei olympische Goldmedaillen und vier Weltmeistertitel beschert hatte, blieb nur „Honeckers bevorzugtes Kussobjekt“. Mit vermutlich guten Kontakten zur Staatssicherheit. Aus Kati wurde plötzlich Frau Witt. Dabei war Katarina Witt ihren wütenden Landsleuten einfach nur genau ein Jahr voraus. Im November 1988 hatten die alten Männer der Partei die verdiente Genossin in den Westen expediert, ausgerechnet zum Klassenfeind Nummer eins, den USA. Bei „Holiday on Ice“ tanzte die schöne Karl-Marx-Städterin für Devisen, während es ihre Landsleute gerade bis zum Plattensee schafften.
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Dann fiel die Mauer. In Amerika, erinnert sich Witt später, wurde sie fortan „zu einem Freiheitssymbol“. Sie sei „der lebende Beweis“ für die Grenzöffnung gewesen. Marktwirtschaft hatte Witt schneller gelernt als die realsozialistischen Bonzen. Mit hochdotierten Werbeverträgen für Coca-Cola und Moderationen bei CBS stürmt sie in die neue Zeit. Während der Staat Erich Honeckers untergeht, wird aus der Genossin Witt der erste weltumspannende Superstar aus dem Osten. Nur die Daheimgebliebenen in der kleinen DDR zeigen sich wenig beeindruckt. Dieser „bonzenrote“ VW-Golf, den die Diva seit 1988 fuhr und den der Karl-Marx-Städter SED-Chef besorgt
hatte, war der nicht ein Skandal in einer Republik, in der doch angeblich alle gleich sein sollten? Und der Plattenbau am Potsdamer Platz mit Blick auf die Mauer, wer durfte da schon wohnen? Vom Reisepass mit West-Visum ganz zu schweigen. Die „Super“-Zeitung titelt: „Kati. Ja, Stasi! Wen hat sie verraten?“ Nach Aktenlage scheinbar niemanden. Bändeweise Stasi-Akten mit Tausenden Seiten über ihr Leben hat Katarina Witt durchgesehen. Der Geheimdienst hatte aus Angst, sie könnte die Republik verlassen, den operativen Vorgang „Flop“ gestartet. Auf Schritt und Tritt wurde die Sportlerin vor allem bewacht. Aber auch von der Stasi unterstützt und gefördert. Für Witt ist die Akte heute eine Art Tagebuch, in dem sie blättert und sich an ihre Jugend in der DDR erinnert. Sie kann über viele Episoden daraus herzlich lachen. Mit fünf Jahren hatte sie in Karl-Marx-Stadt mit dem Eislaufen begonnen; als die Mauer fiel, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, war sie in Amerika und erst 23 Jahre alt. Sie war inzwischen westlicher als mancher Wessi. Sie konnte gar nicht untergehen im neuen System. „Ich habe mich immer nur über Leistung definiert“, sagt Katarina Witt heute. Und sie hat immer auf ihre Vermarktung geachtet, auch in den Jahren nach dem letzten Titel. Nie sei sie von der Bildfläche verschwunden, erzählt sie stolz, nie habe sie sich über die Jahre hinweg verloren. Die Menschen grüßen freundlich, wenn sie ihr in Berlin begegnen. Sie sagen Witt wieder Kati zu ihr. Wie früher. Steffen Winter
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WOLFGANG WILDE
West-östliche Diva
Sie war Tennis-Wunderkind und gefeierter Star, und die Skandale, die mit ihrem Namen verbunden waren, hat sie souverän überstanden. Heute führt Steffi Graf ein zurückgezogenes Familienleben.
Bodenständiges Weltkind
INFUSLA-20 / INFGOFF / BULLS
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Lange nichts mehr
von ihr gehört. Aber das muss nichts Schlechtes heißen, im Gegenteil. Was man so mitbekommt, geht es ihr blendend. Lebt glücklich in den USA mit ihrem Mann und den beiden Kindern, um die sie sich neben ihrem Geschäftskram rührend kümmert. Ab und zu sieht man sie im Fernsehen, da schaut sie entspannt aus und lächelt meist unaufdringlich. In diesem Jahr wird sie 40 – ach, ist das alles wirklich schon so lange her? Es gibt nicht viele Superstars des Sports, über die man so sprechen könnte wie über Stefanie Maria Graf aus dem badischen Städtchen Brühl – wie über eine entfernte alte Freundin. Schließlich hat sie lange mit uns im Wohnzimmer gelebt, im Fernseher. Schon mit 13 Jahren war sie Vollprofi geworden, Mitte der Achtziger stieg sie in die Weltspitze auf und entfachte mit Boris Becker einen nie dagewesenen Tennishype. Fast jeden Tag wurde irgendein Turnier irgendwo auf der Welt übertragen, und bei den Frauen gewann meist Steffi Graf. Man schaute ihr gern zu. Ihr Spiel war weder Püppchen- noch Powertennis, es hatte den natürlichen Elan eines Jahrhunderttalents. Es war auch die Zeit, als Sportstars zur Oberschicht der Prominenz emporstiegen. Steffi Graf mochte die mit dem Erfolg verbundene Aufmerksamkeit nie. Für Deutschlands fünfmalige Sportlerin des Jahres war Tennis Selbstzweck, um die Lust an der Bewegung und den Ehrgeiz zu stillen. In Pressekonferenzen hingen ihr oft die Haare wie ein schützender Vorhang ins Gesicht; Steffi Graf war nie beseelt davon, dem Publikum zu gefallen. Sie war und blieb echt. Sie siegte in 902 Matches, holte 107 Titel, darunter 22 Grand-Slam-Turniere, gewann Olympiagold und stand 377 Wochen an der Spitze der Weltrangliste. An Körper und
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Graf
Geist hinterließen die Erfolge Verschleißspuren, und nach einem famosen Comeback trat sie 1999 zurück, um jenes Maß an Privatheit zurückzugewinnen, das während der Karriere verlorengegangen war. Sie war in Skandale verwickelt, ohne sie ausgelöst zu haben. Sie trugen ihren Namen, aber es waren nicht wirklich
es ein Leichtes gewesen, die Klatschspalten zu beherrschen. Sie ließen es sein. Die Familie führt am Rande von Las Vegas ein zurückgezogenes Leben. Ein Steffi-Graf-Leben. Jahrelang gehörte sie zu den bekanntesten Gesichtern Deutschlands auf dem Globus. „Ich bin in der Welt groß geworden … Ich fühle mich im besten Sinne als Kosmopolitin“, hat sie einmal gesagt. Sie liebt New York, aber sehnt sich nach dem deutschen Wald, weil es in Las Vegas „nur Palmen“ gibt. Trotzdem ist die Stadt ihre Wahlheimat, die Amerikaner bedrängen sie nicht, und sie kann sich die Zeit nehmen, die sie als Tennisprofi nie hatte. Statt Sohn Jaden Gil, 7, und Tochter Jaz Elle, 5, mit einer Schar Bediensteter zu umsorgen, geht sie mit ihnen einkaufen und bringt sie zum Fußball, Schwimmen, Baseball oder Eiskunstlaufen, je nachdem, woran sie Spaß haben. Eine Umfrage hat einmal ergeben, dass die Deutschen ihre Mitmenschen weniger aufgrund von Erfolg mögen,
Ihr Spiel hatte den natürlichen Elan eines Jahrhunderttalents. ihre Affären, sondern die des Vaters und Managers. Peter Graf wurde von einem „Nacktmodell“ und einem „Boxpromoter“ erpresst und zahlte Schweigegeld. Steuern dagegen zahlte er eher nicht, weshalb er 1997 ins Gefängnis wanderte. Böser Papa, arme Steffi? Die Öffentlichkeit trennte das wohlwollend und hielt zur Tochter. Nicht einmal 2001, als sie Andre Agassi heiratete und ihr bodenständiges Wesen unerwartet Glamour bekam, ließ sie sich dazu hinreißen abzuheben. Agassi war früher durch Löwenmähne und bunte Klamotten in der weißen Tenniswelt aufgefallen, gemeinsam wäre
sondern eher Ausstrahlung, Bescheidenheit und ein glückliches Familienleben schätzen. Steffi Graf kommt diesem Ideal ziemlich nahe. Sie kümmert sich mit ihrer Stiftung „Children for Tomorrow“ um Kinder aus Krisengebieten. Sie und Agassi fahren Autos mit Hybridantrieb, um die Umwelt zu schonen. Sie schreibt Fitnessbücher für Mütter. Sie selbst treibt Sport nur noch, um gesund zu bleiben, sie joggt mit Vorliebe, betreibt etwas Krafttraining und macht Pilates. Und manchmal bekommt sie sogar einen Muskelkater davon. Detlef Hacke
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UMFRAGE
Seine trockenen Reime sind längst geflügelte Worte. Ein Mann von gestern ist Udo Lindenberg aber noch nicht.
Udo Lindenberg ist
den so bekannt wie die Müller-Lüden- Auftreten ist dekadent“, schreibt die Sta27 Jahre alt, als er die scheidts und Doktor Klöbners von Lo- si in seiner Akte. Der „Homo panicus“ (so nennt ihn Marke Udo Lindenberg riot. Der Panik-Präsident erlangt das Joder Kulturwissenschaftler Bazon Brock) erfindet: einen in hau- del-Diplom. Die Bundesrepublik erlebt mit ihrem bleibt ein „Homo politicus“. Er macht tenge, schwarze Jeans gekleideten Hutträger mit schlaksigem exzentrischen Udo aber auch die Selbst- Wahlkampf für die Grünen, verehrt PeGang und eigener Sprache: „Ey, locker, besinnung eines deutschen Stars nach tra Kelly, unterstützt Greenpeace, AmMann, mal gucken, was da geht, ey.“ Sein dem Zweiten Weltkrieg. Lindenberg nesty International, Bürgerinitiativen, epileptischer Tanzstil, minimalistische besingt Nazi-Väter, die DDR-Dikta- Frauenhäuser, die Drogen- und AidshilMimik und ein paar lässige Gesten run- tur, Achtundsechziger und die RAF fe und die West-Berliner Hausbesetzer. den die Kreation ab. Mit 27 entscheidet („Eine traurige Nachhut von Ausge- 1989 verleiht ihm Walter Momper das Udo Lindenberg, wer Udo Lindenberg klinkten“). 1979 tritt er auf beim ersten Bundesverdienstkreuz, doch mit dem Fall der Mauer stürzt auch künftig sein soll. Seit 36 JahLindenbergs Weltbild zuren hält er sich daran. sammen. Im Kalten Krieg Als er gerade mal zwölf ist, sozialisiert, fällt es ihm nun beginnt seine musikalische schwer, die neuen VerhältLaufbahn als Trommler. In nisse in Musik umzusetzen. den sechziger Jahren gelingt Die Kunstfigur Udo gerät ihm die Flucht aus der Enge ins Wanken. „Da ging ich seiner westfälischen Heimat. mir selber ein bisschen verEr wird GI-Schlagzeuger in loren“, sagt er später in eiLibyen, Mitglied mehrerer nem Interview. Er malt mit Jazz- und Rockbands, verLikör und stellt zu seinem sucht sich als Kellner in ei50. Geburtstag 1996 Selbstnem Düsseldorfer Hotel, stuporträts unter dem Titel diert ein bisschen Musik, „100 Arschgesichter“ aus. geht zum Bund und verlässt Als selbst treue Fans die Armee nach einem Nerschon glauben, er sei ein venzusammenbruch. Aus seiMann von gestern, bringt er ner Zeit als Drummer bei der 2008 nach achtjähriger PauJazzrock-Formation Passport se sein 40. Album „Stark wie stammt sein erstes Album Lindenberg im Ost-Berliner Palast der Republik 1983 zwei“ heraus, das auf Platz „Lindenberg“. Doch erst das dritte Album, auf dem deutschen „Rock gegen Rechts“ („Wir eins der deutschen Charts landet. Plötzer deutsche Texte singt, wird ein Erfolg: müssen die rechten Ochsenköppe stop- lich haben es alle schon immer gewusst: pen“). Er kommentiert die Außenpolitik Udo ist der Größte, der Johnny Cash von „Alles klar auf der Andrea Doria“. Käufer und Kritiker sind begeistert. im Kalten Krieg („Am Tag, als der Rea- der Alster, der mit seinem neuen ProDie Entscheidung des Sängers, es in ei- gan kam“) und innenpolitische Themen duzenten gerade das Rick-Rubin-Zeitner Zeit mit deutschen Texten zu ver- („Ali ist ein Türkenjunge aus Ham- alter durchlebt. Im Februar 2009 gewinnt er nach 17 Jahren sogar seinen suchen, in der entweder „Schlageraffen“ burg“). Ein Auftritt in der DDR, wo Linden- zweiten Echo-Musikpreis – den ersten (Lindenberg) die Welt verklären oder Pop und Rock auf Englisch daherkom- berg viele Fans hat, gelingt ihm 1983, ob- hatte er 1992 für sein Lebenswerk erwohl er im Lied „Sonderzug nach Pan- halten. „Hinterm Lebenswerk geht’s men, zahlt sich aus. Mit der Zeile „Alles klar auf der An- kow“ den Staatsratsvorsitzenden Erich weiter“, kommentiert er gewohnt drea Doria“ witzelt sich Lindenberg ins Honecker verhohnepipelt („Och, Erich trocken. Ist 2008 tatsächlich der alte Udo wieGedächtnis seiner Zuhörer, die immer ey, bist du denn wirklich so ein sturer mehr wissen wollen von der „Lindi- Schrat?“). Die geplante Tournee verbie- derauferstanden? Auf „Stark wie zwei“ Welt“, in der Song-Figuren wie Schau- tet Honecker, 1987 kommt es zu einer singt er: „Mann, ich hab mich selber fast spieler auftreten: Johnny Controlletti, ziemlich angespannten Begegnung. verlor’n / doch so’n Hero stürzt ab, steht Rudi Ratlos oder Bodo Ballermann wer- „Lindenbergs gesamtes Verhalten und auf / startet von vorn.“ Jochen Brenner
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DIETER KLAR / PICTURE-ALLIANCE / DPA
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Homo panicus
V.O.N.U.: THOMAS KÖHLER/PHOTOTHEK.NET; CHRISTIAN O. BRUCH / VISUM; F. JANSEN/HOLLANDSE HOOGTE/LAIF; JENS SCHLÜTER / DDP; NILS BAHNSEN; THOMAS GRABKA / ACTION PRESS; MARTIN MEISSNER / AP; ULLSTEIN BILD / BPA; SÜDD. VERLAG; DPA; AP; HIPP-FOTO
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WEST 35 OST 30
FRAUEN 42 MÄNNER 28
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WEST 43 OST 45
FRAUEN 38 MÄNNER 53
Uwe Seeler
Horst Köhler Der amtierende Bundespräsident zeigt sich gern volksnah. In den Finanzmärkten sah der 1943 geborene Ökonom schon „Monster“, als die Krise noch fern schien.
Besonders groß gewachsen ist er nicht, aber als Mittelstürmer war der Hamburger (geb. 1936) sprungstark und gelenkig. Bei vier WM-Turnieren traf er ins Tor.
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WEST – OST 17
FRAUEN 31 MÄNNER 46
WEST 41 OST –
FRAUEN 34 MÄNNER –
Peter Maffay
Kurt Masur 1989 war der damalige Gewandhauskapellmeister (geb. 1927) ein Held in der „Heldenstadt“ Leipzig. Wenig später wurde er Chef der New Yorker Philharmoniker.
Als Schlagersänger war der Mann aus Siebenbürgen (geb. 1949) schon fest etabliert, als er sich zum Deutschrocker wandelte – und Erfolg auf Erfolg häufte.
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WEST 40 OST 31
FRAUEN 29 MÄNNER 53
Wolf Biermann
WEST 34 OST –
FRAUEN 59 MÄNNER 37
Edmund Stoiber
Aus Überzeugung zog er als 17-Jähriger 1953 in den Osten. 1976 wurde der Liedermacher nach einem Konzert in Köln von den DDR-Oberen ausgebürgert.
Lange Zeit war er der bayerische Löwe der Politik. Wie Franz Josef Strauß scheiterte der heute 67-jährige CSU-Politiker aber beim Versuch, Kanzler zu werden.
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WEST 29 OST –
FRAUEN – MÄNNER 26
Michael Ballack
WEST 37 OST –
FRAUEN 36 MÄNNER –
Gustav Heinemann
Am ganz großen Sieg bei einer Fußball-WM oder in der Champions League ist der 32-jährige Mittelfeld-Regisseur aus Chemnitz bisher immer vorbeigeschrammt.
Erst im dritten Wahlgang wurde er 1969 zum Bundespräsidenten gewählt, mit Hilfe der FDP. So leitete der Sozialdemokrat (1899–1976) die sozial-liberale Ära ein.
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WEST 30 OST –
FRAUEN – MÄNNER 25
Sepp Herberger
WEST 41 OST –
FRAUEN – MÄNNER 35
Herbert Wehner
Erst Reichs-, später Bundestrainer, war er für seine Fußballer der „Chef“. Mit dem Sieg bei der WM 1954 beflügelte der Mannheimer (1897–1977) das ganze Land.
Um den knurrigen SPD-Mann (1906–1990) war immer etwas Geheimnisvolles – sei es wegen seiner KPD-Vergangenheit, sei es beim Rücktritt von Willy Brandt.
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WEST 31 OST –
FRAUEN – MÄNNER 31
Max Schmeling Weltmeister im Schwergewicht war der Boxer von 1930 bis 1932, aber den größten Sieg errang er 1936 gegen Joe Louis. Als er 2005 starb, war er fast hundert. SPIEGEL GESCHICHTE
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WEST 44 OST 54
FRAUEN 52 MÄNNER 40
Heinrich Böll Sein politisches Engagement trug dem Literaturnobelpreisträger (1917–1985) viele Anfeindungen ein. Sogar als Terroristenhelfer wurde er verdächtigt.
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UMFRAGE
Wenn Frauen in Deutschland heute mehr Rechte haben als ihre Mütter, so verdanken sie das nicht zuletzt Alice Schwarzer. Aber wie die Jüngeren mit ihren Freiheiten umgehen, gefällt der Veteranin der Emanzipation oft nicht.
Alice und ihre Töchter gab es in den ersten Jahren zu wenig, später ließ sie ihn nicht schenkte mir Alice Schwarzer eine Rose. Ich mehr zu. Der Erfolg hatte sie kritikunfähig gemacht. Das kann habe mich aufrichtig gefreut, es schien mir Männern und Frauen gleichermaßen passieren. Ende der achtziger Jahre startete Schwarzer eine neue ein gutes Omen für die nächsten Lebensjahre zu sein. Das war 2006. Wir hatten uns große Aktion, die Anti-Porno-Kampagne. Was sie sexistisch für ein SPIEGEL-Gespräch getroffen. Schwarzer trug eines ih- fand, die Fotos von Helmut Newton beispielsweise, war rer wallenden Gewänder, sie verbreitete eine ansteckende in den Augen vieler Jüngerer einfach sexy. Die Töchter der Siebziger-Jahre-Feministinnen hatten einen eigenen Energie, war präzise und humorvoll in ihren Antworten. Am Rande meiner Erinnerungen gehörte Alice Schwarzer Blick entwickelt. Es dauerte dann noch Jahre, bis sie sich schon immer zu meinem Leben. Irgendwo zwischen den vie- zu Wort meldeten mit Büchern wie „Wir Alphamädchen“. Aber die Porno-Kampagne markiert len Bildern meiner Kindheit ist da auch den Scheidepunkt. das Bild einer Frau mit lockigem Haar, Weil es Bücher gab wie Schwarzers einer Eulenbrille und einer rauen, lus„Der kleine Unterschied“ über die setigen Stimme, die im Fernsehen mit anxuelle Unterdrückung von Frauen, haderen Menschen streitet. ben die Töchter zu einer selbstbeIch erinnere mich an Gespräche stimmteren Haltung gefunden. Für sie zwischen meiner Mutter und ihren ist es gerade Ausdruck ihrer GleichbeFreundinnen über den Paragrafen 218, rechtigung, dass sie beim Sex nicht die ich belauschen konnte, weil sie mehr Wie-du-mir-so-ich-dir denken mich, das Kind in ihrer Mitte, übersamüssen, sondern mal alles vergessen hen, so hitzig debattierten sie. Und eidürfen. Es ist fast ein bisschen tragisch, nes Tages lag bei uns zu Hause auch dass Alice Schwarzer gerade dort den die „Emma“ herum. Bevor ich begriff, Kontakt zur nächsten Generation verwas Gleichberechtigung bedeutet oder loren hat, wo diese am meisten von gar Feminismus, kannte ich Alice ihrem Lebenswerk profitiert. Schwarzer. Die heute 30- und 40-Jährigen Mit dieser Erfahrung stehe ich kämpfen um differenziertere Ziele, als sicher nicht allein in der GeneraSchwarzer und ihre Gefährtinnen sie tion der 40-Jährigen. Wir sind die vor 40 Jahren ins Auge fassen konnte. Es Frauen, die nicht mehr nach Holland geht darum, Männer und Frauen aus zu fah-ren brauchten, um eine unihren starren Rollen zu befreien, in Begewollte Schwangerschaft abzubreziehungen, in Familien, am Arbeitsplatz. chen. Die berufstätig sein können, Dabei löst sich auch die Rolle der klasohne mit der Behauptung ausgebremst sischen Emanze auf. zu werden, unser Job sei mit den Erstes „Emma“-Titelbild Februar 1977 „Pflichten in Ehe und Familie“ nicht Wenn sich Alice Schwarzer dadurch mit Schwarzer (2. v. l.) vereinbar. gekränkt fühlt – so klang es zumindest in Diese Unbeschwertheit ist vor allem Alice Schwarzers Ver- ihrer Rede zur Börne-Preisverleihung im Mai 2008 – ist das dienst. Der Feminismus in Deutschland trägt ihr Gesicht. Dar- schade. Denn sie hat nach wie vor scharfe Gedanken beizutragen. an erkennt man ihren Erfolg, darin liegt aber auch ein Ver„Werden wir Frauen die Schlacht um unsere Körper gewinhängnis, denn sie lässt bis heute niemanden neben sich gelten. nen?“, fragte sie im SPIEGEL-Gespräch. Der Druck, lebenslang Wahrscheinlich brauchte die Bewegung eine so kampfes- jung und attraktiv zu sein, steige permanent, sagte Schwarzer, lustige Person wie sie, um wahrgenommen zu werden. Frü- „was glauben Sie, wie viel Kraft und Lebenslust da auf der here Gefährtinnen berichten, dass die Angriffe auf Schwarzer Strecke bleiben“. So spricht eine kluge 66-Jährige, die Kapital anfangs so verletzend waren, dass deren Schärfe eine schlägt aus jener Perspektive, die ihr Alter ihr erst ermöglicht. Auseinandersetzung unter den Feministinnen verhinderte. Wie wäre es, Frau Schwarzer, wenn Sie uns Jüngeren ein Man wollte Schwarzer nicht noch in den eigenen Reihen bisschen mehr zutrauen würden? Und trotzdem bitte nie den schwächen, sie wurde zur Vorzeige-Emanze, Widerspruch Mund halten. Claudia Voigt
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DDP / ULLSTEIN BILD
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Zu meinem vierzigsten Geburtstag
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WEST 38 OST –
FRAUEN 45 MÄNNER 45
V. O. N. U.: FRANK AUGSTEIN / AP; ROLF HAID / DPA; FRANK OSSENBRINK; URSULA DÜREN; AP; ANDREAS SCHÖLZEL; JAN BAUER / AP; CINETEXT; ACTION PRESS; FRINKE / IMAGO; WEREK / IMAGO; FOTEX; AP; PANDIS MEDIA
Dieter Bohlen
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WEST – OST 33
FRAUEN – MÄNNER 35
Frank Elstner
Der in Oldenburg aufgewachsene Diplomkaufmann (geb. 1954) ist mit Leib und Seele Produzent: von Disco-Hits, BoulevardSchlagzeilen, Büchern, Sprüchen.
Der TV-Allrounder (geb. 1942) erfand 1981 die ZDF-Show „Wetten, dass …?“, die er lange moderierte.
48
Harald Juhnke
WEST 39 OST –
FRAUEN 28 MÄNNER –
Annemarie Renger Als Privatsekretärin Kurt Schumachers kam sie in die Politik. 1972 wurde die Sozialdemokratin (1919–2008) Bundestagspräsidentin, als erste Frau in diesem Amt.
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WEST 46 OST –
FRAUEN 41 MÄNNER 52
Karl Schiller Der in Breslau geborene Professor (1911–1994) verkörperte mit jeder Faser Sachverstand – als Wirtschafts- und zeitweilig auch Finanzminister von 1966 bis 1972.
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WEST 45 OST –
FRAUEN – MÄNNER 41
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WEST 59 OST 57
FRAUEN – MÄNNER 34
Schauspieler, Sänger, Frauenheld, Alkoholiker – als Berliner Original (1929–2005) ist er unübertroffen.
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WEST – OST 23
FRAUEN 42 MÄNNER –
Regine Hildebrandt Die brandenburgische SPD-Politikerin (1941–2001) war wegen ihrer Direktheit beliebt und gefürchtet.
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WEST 47 OST –
FRAUEN – MÄNNER 57
Roman Herzog Als Bundespräsident hielt der 1934 in Landshut geborene CDUPolitiker die berühmte Ruck-Rede.
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WEST 48 OST –
FRAUEN – MÄNNER 49
H.-J. Kulenkampff
Heinz Erhardt Der aus Riga stammende Künstler (1909–1979) brachte das Land wieder zum Lachen – mit Sprachwitz und einer geschickt ausgespielten Unbeholfenheit.
„Kuli“ (1921–1998) war der erste große Quizmaster des deutschen Fernsehens.
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Rudi Völler
WEST 50 OST –
FRAUEN 37 MÄNNER –
Nena Ihr Lied von den „99 Luftballons“ wurde Anfang der achtziger Jahre zum Welthit. In Hamburg gründete die heute 49-Jährige 2007 eine Privatschule.
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WEST – OST 22
FRAUEN – MÄNNER 46
Gustav-Adolf „Täve“ Schur Neunmal hintereinander wurde der Radrennfahrer (geb. 1931) zum DDR-Sportler des Jahres gewählt. Er saß in der Volkskammer und – für die PDS – im Bundestag. SPIEGEL GESCHICHTE
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WEST 53 OST –
FRAUEN 46 MÄNNER –
Torjäger, Weltmeister, Teamchef – und ab und zu gönnt sich der 48jährige Fußballer einen Wutanfall.
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WEST 51 OST –
FRAUEN – MÄNNER 42
Xavier Naidoo Der 1971 in Mannheim geborene Gesangsstar („Was wir alleine nicht schaffen“) unterrichtet auch.
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WEST OST
– –
FRAUEN – MÄNNER 38
Sepp Maier Als Torwart sammelte der heute 65-Jährige Titel und Pokale und pflegte seinen eigenen Humor.
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UMFRAGE
Die wechselvolle Fehde zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki ist ein Signum der bundesdeutschen Literaturgeschichte.
Das seltsame Paar
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Wenderoman „Ein weites Feld“ verriss – und das Buch auf dem Titelbild scheinbar regelrecht zerriss. Zwar handelte es sich um eine Fotomontage, was aber die Wut des Schriftstellers nicht minderte. Ob er mit dem Kritiker darüber geredet Der Nobelpreisträger und der Krihabe, wurde Grass gefragt. Die Antwort: tikerpapst: Sie sind das bekannteste Duo „Nein, nein, das ist vorbei. Da ist eine der deutschen Nachkriegsliteratur, bis Grenze überschritten. Mit diesem Mann heute. Das wechselhafte Verhältnis zwispreche ich nicht mehr.“ schen Günter Grass, 81, und Marcel Trotz allem: Als Grass im Jahr 1999 Reich-Ranicki, 88, gleicht einer schwieden Nobelpreis erhielt, freute sich auch rigen Ehe: Es gab gute und böse Phasen, Reich-Ranicki: „Na also, endlich! Es Zeiten der Empörung und Zeiten der ist gut so, dass er den Preis bekommen Entspannung, des Streits und der Nähe. hat.“ Grass hat einmal von einer Zwangsehe Der Kritiker besitzt immerhin gesprochen, in der es dem Dicheine Zeichnung von Grass. Es hat ter nicht möglich sei, sich scheiseine ganz eigene Bewandtnis den zu lassen. damit. Reich-Ranicki: „Ich habe Das erste Mal trafen sie sich einmal erzählt, wie ich, nach der 1958 in Warschau: Grass ein LyFlucht aus dem Warschauer riker, der an einem Roman Ghetto, die Leute, die meine Frau schrieb, Reich-Ranicki ein Kriund mich versteckt hatten, mit tiker in Polen, der für deutsche Geschichten aus der WeltliteraLiteratur schwärmte und noch tur unterhalten habe, nachts, als im selben Jahr in die Bundeses keinen Strom gab. Grass fragrepublik übersiedeln sollte. „Er te mich: Darf ich das verwenden? hatte so einen merkwürdigen Ich sagte: ja. Jahre später hat er Blick“, erinnert sich Reich-Radas Motiv in ‚Aus dem Tagebuch nicki. „Später erfuhr ich, dass er einer Schnecke‘ aufgegriffen, unmittelbar vor unserem Trefsehr stark verändert – der fen eine ganze Flasche Wodka Geschichtenerzähler wird bei getrunken hatte. Aber er ging Reich-Ranicki, Grass 1995 in Frankfurt am Main ihm ‚Zweifel‘ genannt und spielt aufrecht und stramm geradeaus.“ Der eigentliche Beginn der literari- seines Weges“ angelangt. Und so ging es Marionettentheater –, für meinen Geschen Liaison zwischen Grass und weiter: „Der Butt“ (1977) war für ihn „ein schmack hat er es verschlechtert; als ich Reich-Ranicki war der 1. Januar 1960. künstlerischer Fehlschlag“, „Die Rättin“ ihn dann wieder traf, sagte ich zu ihm, An diesem Tag besprach der damals 39- (1986) fand er „ungenießbar“. Da blieb ob er mich nicht am Honorar beteiligen jährige Kritiker in der „Zeit“ den Roman dem Dichter wenig Trost: etwa die wie- wolle. Grass wurde blass. Ich schlug ihm „Die Blechtrommel“ des gerade 32-jähri- derkehrende, aber auch ein wenig gön- vor, er solle mir eine Grafik schenken. Er gen Autors. Reich-Ranicki verriss und nerhafte Beteuerung des Rezensenten, war einverstanden, ich sollte nur ein Blatt verkannte ein Werk, das wie kein zwei- Grass zähle zu den „größten Meistern auswählen. Ich entschied mich für eine Nonne. Das Bild trägt die – doppelsintes zum Aushängeschild der neuen bun- der deutschen Sprache unserer Zeit“. Die Härte in der Auseinandersetzung nige – Widmung: ‚Für meinen Freund desdeutschen Literatur werden sollte. Kein guter Roman, befand damals der hatte nichts mit Antipathie zu tun; sie (Zweifel) Marcel Reich-Ranicki‘. Ein Kritiker. Der Grundeinfall sei nicht übel, zeigte, im Gegenteil, wechselseitigen Re- denkwürdiger Tag. Wir haben damals bei der Autor habe aber leider nicht viel dar- spekt. Das Enttäuschtsein des einen vom ihm auch einen Butt gegessen.“ Der Dichter und der Kritiker: Das aus zu machen gewusst. Fazit: Selbst anderen resultiert aus hochgespannten seltsame Paar ist längst in die deutsche wenn man mindestens 200 Seiten strei- Erwartungen auf beiden Seiten. Der große Eklat kam 1995, als Reich- Literaturgeschichte eingegangen. chen würde, wäre das Buch „kein beVolker Hage Ranicki im SPIEGEL den missglückten deutendes Werk“. Übrigens war Reich-Ranickis Rezension nicht der einzige Verriss und nicht einmal der schärfste. Dennoch schrieb der Kritiker, seltener Fall, 1963 eine selbstkritische Revision – was nicht heißt, dass er „Die Blechtrommel“ nun für vollständig gelungen hielt. Auf Reich-Ranicki konnte sich Grass nie recht verlassen. Da mochte der Kritiker noch so sehr die Novelle „Katz und Maus“ (1961), den Gedichtband „Ausgefragt“ (1967) oder die Erzählung „Das Treffen in Telgte“ (1979) loben, schon mit dem Roman „Örtlich betäubt“ (1969) sah er den Schriftsteller „auf einem Tiefpunkt
Sommerschlussverkauf 1958 in Frankfurt am Main
KAPITEL IV
WIRTSCHAFT
J. DARCHINGER IM ADSD DER FES
Süchtig nach WACHSTUM Nach dem Krieg war die Planwirtschaft so populär wie nie. Im Westen siegte der Markt – doch bis heute rufen die Deutschen bei jedem Abschwung nach dem Staat. Von ALEXANDER JUNG
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WIRTSCHAFT
INTERFOTO (O.L.); FOTOARCHIV JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES (O.R/U.R.); DODENHOFF / AKG (U.L.)
I
m Sommer 1948, als die D-Mark noch druckfrisch war und die Staatsgründung nicht mehr fern, wollte Ludwig Erhard wissen, was die Westdeutschen denn nun von dem Neustart hielten. Der Ökonom, damals Wirtschaftsdirektor der Bizone, beauftragte das gerade gegründete Allensbacher Institut für Demoskopie mit einer Umfrage. Das Ergebnis war erschütternd. Die Bürger misstrauten dem neuen Geld. Viele fürchteten, die D-Mark könnte zur Weichwährung werden; zu frisch war noch die Erinnerung an die Hyperinflation von 1923. Überhaupt betrachteten sie eine Wirtschaftsordnung, so frei und unreguliert, wie sie dem Professor vorschwebte, mit Skepsis. Ludwig Erhard, der legendäre Vater des Wirtschaftswunders – damals war kaum ein Politiker weniger populär als er. Die Menschen lehnten die Marktwirtschaft ab, auch eine, die sich „sozial“ nannte. Selbst bürgerliche Kreise zweifelten grundsätzlich am Kapitalismus und seiner Fähigkeit, das Land in eine bessere, friedliche Zukunft zu führen. Aber wie sollte stattdessen die neue deutsche Wirtschaft verfasst sein? Die Bürger hatten eine klare Vorstellung. In Hessen votierten 71,9 Prozent der Wähler Ende 1946 dafür, Artikel 41 in die Landesverfassung aufzunehmen; er sah vor, Schlüsselindustrien wie Bergbau oder Stahlerzeugung in Gemeineigentum zu überführen. Noch im Frühjahr 1949 sprach sich ein großer Teil der Deutschen dafür aus, dass der Staat Lebensmittel zuteilt und Preise festsetzt. Die Sehnsucht war groß nach der lenkenden Hand des Staates. Und die Parteien spiegelten diese Gemütslage. Die soziale Marktwirtschaft sei nichts als eine „Lügenparole“, ätzte SPD-Chef Kurt Schumacher, „ein dicker Propaganda-Ballon des Unternehmertums“, gefüllt mit den „Abgasen des verwesenden Liberalismus“. Niemals dürfe Deutschland kapitalistisch, „sondern nur sozialistisch wieder neu erbaut werden“, rief er den Genossen im SYMBOLE DES AUFSCHWUNGS Käfer-Modelle im Wolfsburger VWWerk 1957, Datenverarbeitung beim Versandhaus Quelle in Fürth 1958, Stapellauf des Frachtmotorschiffs „Mailand“ auf der Werft Blohm & Voss in Hamburg 1961, Montage von Radiogeräten bei Telefunken in Stuttgart 1958 (im Uhrzeigersinn)
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Ölkrise im November 1973: An einem autofreien Sonntag wird die Straße zum Radweg.
Die Bürger würden schon noch „die Vorzüge einer freien Wirtschaft“ erkennen, da war er sich sicher. Dass sich der Mann mit der dicken Zigarre damit durchsetzen konnte, ist vielleicht das größte Wirtschaftswunder. Ganz und gar verinnerlicht haben die Deutschen Erhards liberale Überzeugung allerdings nie.
DER FÜRSORGESTAAT Immer wenn die Konjunktur schwächelte, war die Marktskepsis wieder da, und sogleich ertönte der Ruf nach dem Staat. So geschah es, als die Republik 1967 ihre erste Rezession erlebte, als die Ölpreisschocks 1973 und 1979 die Volkswirtschaft erschütterten, als der Einheitsboom 1993 verebbte, als die Börsenblase 2000 platzte. Und auch heute, in der Weltwirtschaftskrise, der tiefsten Rezession seit dem Krieg, setzen die Bürger alle Hoffnung auf die Zentralgewalt: Vater Staat
soll’s richten. Das Vertrauen in ihn ist schier unerschütterlich, tiefverwurzelt die Sympathie für eine gesteuerte Wirtschaft. Seit 60 Jahren bewegt sich die deutsche Volkswirtschaft im Spannungsfeld zwischen Marktradikalität und Staatseinfluss, zwischen Freiheit und Fürsorge. Im Laufe der Jahre sind die Regierungen freilich mehr und mehr von Erhards Prinzipien abgerückt. Immer wieder hat der Staat massiv ins Wirtschaftsgeschehen eingegriffen; im Aufschwung hielt er sich zurück, im Abschwung intervenierte er umso stärker: mit Gesetzen und Verordnungen, mit Bürgschaften und Subventionen oder, wie zuletzt, mit Rettungsschirmen für ganze Branchen. Das Phänomen hat der Berliner Volkswirt Adolph Wagner bereits 1863 beobachtet und daraus das „Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit“ formuliert. Demnach neigen Gemeinwesen im Übergang vom Ordnungs- zum WohlRUDI MEISEL / VISUM
Mai 1946 zu. „Oder wir werden aufhören, ein deutsches Volk zu sein.“ An den Christdemokraten sollte es nicht scheitern. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, lautete der berühmte erste Satz des Ahlener Programms, im Februar 1947 von der CDU in Nordrhein-Westfalen beschlossen. Karl Marx hätte ihn nicht prägnanter formulieren können. Nie war die Planwirtschaft in Deutschland so populär wie nach dem Krieg – und doch erwies sich schon bald der Markt als stärker. Er entfaltete in den Anfangstagen der Republik seine ganz eigene Überzeugungskraft. Die Waschmaschine, die Einbauküche, der Kabinenroller: Je stärker der Wohlstand wuchs und die Aussicht, ihn zu mehren, umso schneller verblasste die sozialistische Alternative, wie sie im Osten verwirklicht wurde. Genau darauf hatte Erhard gesetzt.
Je stärker der Wohlstand wuchs, umso schneller verblasste die sozialistische Alternative. 100
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Abschied vom Wirtschaftswunder
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bis 1990: Westdeutschland
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Pro-Kopf-Verschuldung
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fahrtsstaat dazu, sich immer neue Aufgaben zu suchen. Erhard sah diese Tendenz mit Sorge. Der Ökonom hielt es für anmaßend, wenn der Staat glaube, er wisse am besten mit Geld umzugehen und Krisen zu meistern. Bloß: Wer sonst soll das System stabilisieren, wenn es in eine Schieflage gerät? Vor 60 Jahren stellte sich eine solche Frage nicht, damals war der Staat noch vollauf damit beschäftigt, sich neu zu organisieren – die Wirtschaft, das Geschäft aufzubauen. „Wir wollten vorwärts“, sagt der Bietigheimer Hemdenfabrikant Eberhard Bezner. So schlicht lässt er sich beschreiben, der Zauber der ersten Jahre. Bezner, 73, steht in seinem Büro am Rande der Kleinstadt nahe Stuttgart, an der Wand hängen Bilder von ihm mit Franz Josef Strauß und mit Papst Benedikt. Der Schwabe schaut hinaus auf die Felder, er erinnert sich. Daran wie er als Junge mit dem Fernglas das Anrücken der US-Truppen beobachtete. Wie sein Vater in der heimischen Waschküche die ersten Hemden produzierte und sich seine Erfindung, den Dickstoffkragen, patentieren ließ. Und wie sie sich Fallschirmseide orga-
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nisierten: Morgens um fünf ging es mit dem Pferdefuhrwerk los, 50 Kilometer zuckelten sie über die Autobahn bis nach Wendlingen zu einer Fabrik, die in Kriegszeiten die Wehrmacht ausgestattet hatte. Im Gepäck ein Korb Äpfel, um die Kontrollposten wohlzustimmen. Abends um zehn waren sie zurück: „Das genügte dann für ein paar hundert Hemden“, erzählt der Unternehmer. Die Bezners lieferten, was die Deutschen dringend brauchten. „Olympia“ sollte das Unternehmen zunächst heißen, aber dagegen hatte das Nationale Olympische Komitee etwas. Also nannten sie es „Olymp“. Heute gehört die Firma neben Eterna und Seidensticker zu den drei großen Herstellern in Deutschland, täglich werden 17000 Hemden mit dem „O“ auf der Brust produziert und in aller Welt verkauft: ein Global Player der Bekleidungsindustrie. Und eine typische Geschichte des Wirtschaftswunders. Viele Unternehmer starteten in jenen Tagen unter ähnlich abenteuerlichen Umständen ihre Karriere. Kurt Körber besaß nur eine Aktentasche mit Zeichnungen, als er 1946 in Hamburg die Hauni Maschinenfabrik gründete. Und
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Heinz-Horst Deichmann fertigte anfangs Sandalen mit Sohlen aus Pappelholz aus dem Garten eines Freundes, heute ist er Europas größter Schuheinzelhändler. Solche Gründer nutzten die historische Chance, die nur Umbruchzeiten bieten. Allen Akteuren bot sich ein weites Feld, das sie frei bespielen konnten. Keine Flächennutzungspläne, Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Statistikpflichten hielten sie auf. Erlaubt war, was funktionierte. Und die Politik gewährte den Unternehmen diesen Freiraum. Schon in den dreißiger Jahren hatten Wissenschaftler an Konzepten für eine künftige Wirtschaftsordnung getüftelt. Eine „sozial gesteuerte Marktwirtschaft“ schwebte dem münsterschen Professor Alfred Müller-Armack vor, ein dritter Weg zwischen Marktwirtschaft pur und Lenkungswirtschaft. Was genau man sich darunter vorzustellen hatte, ließ er im Ungefähren. Erst sein Kollege Erhard füllte den Begriff mit Leben. Ein durchaus starker Staat, so dessen Vorstellung, sollte zwar einen Rahmen vorgeben, darin aber müsste der freie
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Markt sich selbst überlassen bleiben. te westliche Welt: In Frankreich wer- 1961 folgten weitere 3,5 Millionen „Der Markt ist der einzige demokrati- den die 30 Jahre von 1945 bis 1975 „Les Flüchtlinge aus der DDR. Überwiegend sche Richter, den es überhaupt in der Trente Glorieuses“ genannt, in England waren die Emigranten leistungswillig modernen Wirtschaft gibt“, mahnte Er- sprach man von der „Society of Success“. und aufstiegshungrig. Und schließlich verhalf auch die hard. Soziale Ziele ließen sich seiner AnDie Menschen genossen ein fast versicht nach am besten durch liberale Me- gessenes Lebensgefühl, sie konnten sich Weltpolitik den Deutschen zu alter Stärthoden erreichen. Kein Wunder, dass wieder etwas leisten. 1950 mussten die ke. Der Korea-Krieg ließ ab 1950 global das „Wall Street Journal“ ihn seinerzeit deutschen Durchschnittshaushalte noch die Nachfrage ansteigen, die deutsche als „Deutschlands entschiedensten Ver- die Hälfte ihres Einkommens für Le- Wirtschaft besaß freie Kapazitäten und treter der Laisser-faire-Wirtschaft“ cha- bensmittel ausgeben, bis 1973 war der belieferte die Kunden rund um den rakterisierte. Anteil auf weniger als ein Drittel ge- Erdball: mit Maschinen, Anlagen und Fahrzeugen, die sich Alles begann mit der auch dank einer notoWährungsreform. Als risch unterbewerteten am 20. Juni 1948 die D-Mark im globalen D-Mark die ReichsWettbewerb durchsetmark ersetzte, löste die zen konnten. Die ExFreigabe der Preise den portquote, also der Ankräftigsten und längsteil der Ausfuhren am ten Aufschwung aus, Sozialprodukt, kletterden Deutschland je erte von 0,9 Prozent 1950 lebt hat. Plötzlich wainnerhalb von nur ren nicht nur die Regazehn Jahren auf 19 le in den Läden gefüllt Prozent. und der Schwarzmarkt Gegen Ende der verschwunden, auf einfünfziger Jahre zeigte mal mobilisierten auch das Land ein veränderbislang kränkelnde Betes Gesicht. Niemand legschaften ungeahnte hätte es für möglich Energien, wunderte gehalten, dass der Aufsich Erhards Stellverstieg aus den Trümtreter Edmund Kaufmern so rasch und mann: „Es ist zwecklos, reibungslos gelingen sich darüber sittlich zu könnte. entrüsten.“ Und niemand hätte Der ökonomische wohl geglaubt, dass der Erfolg erleichterte es endgültige Übergang den Bürgern, sich mit von der Agrar- zur Inder jungen Bundesredustrie- und Dienstleispublik zu identifizietungsgesellschaft ohne ren. Die Menschen größere Widerstände flüchteten sich in den vonstattengehen konnAufbau des Landes, te. Immerhin gaben viele verdrängten so Protest gegen Arbeitslosigkeit 1979 in Frankfurt am Main zwischen 1949 und auch ihre braune Vergangenheit. Der Bielefelder Historiker schrumpft. Sie kauften weniger Kartof- 1973 rund 3,5 Millionen Bauern die BeHans-Ulrich Wehler diagnostiziert ei- feln, dafür aßen sie fast doppelt so viel wirtschaftung der Höfe auf und brachen damit eine oft jahrhundertelange Familinen „tiefverankerten Wachstumsfeti- Fleisch. schismus“, der bis heute anhalte. Die Ganz von allein kam der fulminante entradition. Das Land hatte in wenigen Jahren Westdeutschen wurden geradezu süch- Aufschwung natürlich nicht in Gang. tig nach Wachstum, Wohlstand und Zum einen trug der Marshallplan zum Unvorstellbares erreicht, die Bürger geMassenkonsum. Erfolg bei. Allerdings war weniger das wöhnten sich an den wachsenden WohlVon 1950 bis 1973 stieg das monatli- Geld entscheidend, sondern die Psycho- stand. Es gab etwas zu verteilen. Und che Volkseinkommen von 850 Mark pro logie. Der wirtschaftliche Aufschwung schon erlebte der Staat sein erstes Kopf auf 2300 Mark, die Wirtschaft machte aus Besatzern Partner und Vor- Comeback. Die Rentenreform von 1957 ist das wuchs Jahr für Jahr um sechs Prozent, bilder, gerade in ökonomischer Hinsicht, der Anteil, den die Bundesrepublik am und er öffnete den Weg zu Deutschlands früheste Zeichen für diesen Umschwung. Die laufenden Altersbezüge Weltexport hielt, hatte sich auf fast größtem Markt: Europa. zwölf Prozent mehr als verdreifacht. Es Zum anderen profitierte West- wurden um mehr als 60 Prozent erhöht, war „das goldene Zeitalter“, wie der bri- deutschland von dem gewaltigen Zu- die Höhe koppelte die Regierung Konrad tische Historiker Eric Hobsbawn be- strom an Vertriebenen. Fast zehn Mil- Adenauers an die Einkommenszuwächmerkte, und das traf nicht nur auf West- lionen Menschen aus den früheren Ost- se. Wirtschaftsminister Erhard war alles deutschland zu, sondern auf die gesam- gebieten fanden Aufnahme im Land, bis andere als begeistert.
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KLAUS ROSE / ULLSTEIN BILD
WIRTSCHAFT
Das zwölfte Kapitel seines im selben Jahr erschienenen Bestsellers „Wohlstand für alle“ trägt bezeichnenderweise den Titel „Versorgungsstaat, der moderne Wahn“. Darin warnt er vor der „wachsenden Sozialisierung der Einkommensverwendung“ und der „zunehmenden Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat“, die zur „Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit“ führe. Dabei war die Rentenreform erst der Anfang. Damals lag der Anteil der Sozialleistungen am Inlandsprodukt unter einem Fünftel – bis 1975 sollte die Quote auf ein Drittel hochschnellen. All das schien finanzierbar, weil die Wirtschaft florierte, der Export stetig wuchs und die Beschäftigungslage entspannt war. Es gab zeitweise mehr offene Stellen als Arbeitslose. Immer mehr Kräfte wurden im Ausland geworben, die Erfahrungen waren überwiegend positiv, wie die Bundesanstalt für Arbeit vermerkte: „Die Italiener eigneten sich besonders gut für Hackfruchtarbeiten und für den Gemüsebau.“ Das Landesarbeitsamt Niedersachsen bestätigte, dass „entgegen der ursprünglichen Bedenken“ auch die Süditaliener „gut eingeschlagen“ seien. Spätestens aber mit der Rezession 1967 änderte sich das ökonomische Klima im Land. Erstmals seit dem Krieg schrumpfte die deutsche Volkswirtschaft, wenn auch nur kurz und in geringem Umfang. Das Phänomen konjunktureller Zyklen, schon überwunden geglaubt, war zurückgekehrt. Die damals regierende Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) reagierte darauf, indem sie weiter von Erhards Prinzipien abrückte und auf eine Strategie umschwenkte, die der britische Ökonom John Maynard Keynes eine Generation vorher als Antwort auf die Große Depression entwickelt hatte. Nun sollte sie auch in der kleinen Rezession helfen. „Globalsteuerung“ hieß ein Zauberwort. Mit ihrer Hilfe wollte man die Konjunktur auf Trab bringen, und mit der „Konzertierten Aktion“: Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) hatte Arbeitgeber und Gewerkschafter an einem Tisch versammelt, gemeinsam sollten sie auf Basis wissenschaftlicher Prognosen die Wirtschaft lenken. Ein
„magisches Viereck“ wurde definiert aus den Zielen Preisstabilität, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht – und alle wollte man zugleich erreichen. Eine eigene Magie freilich konnte das Viereck nie entfalten, die Globalsteuerung scheiterte grandios.
DER WEG IN DIE SCHULDENREPUBLIK Die Konjunktur kam viel schneller wieder in Fahrt, als die Ökonomen berechnet hatten. Die zwei Hilfspakete der Regierung entfalteten ihre Wirkung erst, als die Krise schon vorbei war. Schlimmer noch: Sie trugen dazu bei, dass die Wirtschaft überhitzte. Das ist die Crux solcher Programme. Sie beruhen auf Prognosen, die sich schnell als überholt herausstellen; die punktgenaue Steuerung der Wirtschaft bleibt Illusion. Als dann die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt, die inzwischen in Bonn regierte, die Dynamik der Wirtschaft wieder dämpfen wollte, tat sie dies ebenfalls zur Unzeit, wie sich später herausstellte: mitten in den Ölpreisschock 1973/74 hinein. „Das konjunkturpolitische Handeln verstärkte das ökonomische Desaster“, meint der Frankfurter Historiker Werner Plumpe. Dennoch mochte keine Regierung mehr auf das Schnüren von Konjunkturpaketen verzichten. Schließlich erweckt es den Anschein von Handlungsfähigkeit. „Mit marktwirtschaftlichen Mitteln allein ist das nicht mehr zu schaffen“, rechtfertigte Finanzminister Helmut Schmidt Ende 1973 die Versorgung der Wirtschaft mit öffentlichen Aufträgen. Das Problem: Das Staatsgeld floss noch weiter, als die Krise längst nicht mehr akut war. Die Zeit des Wirtschaftswunders, so wurde nun deutlich, war die Ausnahme und nicht der Normalzustand. Aber man wollte das Wunder am Leben erhalten, nun eben mit staatlicher Hilfe. Gemeinden bauten sich Schwimmbäder, Kläranlagen und Dorfgemeinschaftshäuser, größere Städte leisteten sich Umgehungsstraßen oder sogar einen Autobahnring. Der Staat wurde zum „Generalagenten der Lebenszufriedenheit“ seiner Bürger, wie es der SPD-Ana-
lytiker Peter Glotz einmal formulierte, „mit nahezu allumfassender Zuständigkeit“. Und das hatte seinen Preis: Insgesamt wuchs der Anteil der Staats- und Sozialversicherungsausgaben am Inlandsprodukt auf annähernd 50 Prozent. Die SPD wollte laut Parteitagsbeschluss von 1971 den Spitzensteuersatz auf bis zu 60 Prozent hochtreiben, worauf Minister Schiller die Parteifreunde entsetzt anfuhr: „Genossen, lasst die Tassen im Schrank!“ Über Jahre kämpfte der Standort mit einem wachsenden Haushaltsdefizit, einer verhängnisvollen Kombination aus Stagnation und Inflation sowie einer sprunghaft steigenden Zahl von Arbeitslosen, 1975 überschritt sie erstmals wieder die Marke von einer Million. Kanzler Schmidt wollte lieber fünf Prozent Inflation als eine Arbeitslosenrate von fünf Prozent, am Ende bekam er beides. Die Bürger verwendeten das öffentliche Geld nicht für den Konsum, sie sparten lieber. Und die Unternehmen bedienten sich gern aus den Fördertöpfen, investiert hätten sie freilich ohnehin. Nur eines konnte die Volkswirtschaft Mitte der siebziger Jahre beleben: die Nachfrage aus dem Ausland. Und darauf hatte die Regierung beim besten Willen keinen Einfluss. Der Spielraum des Staates engte sich zusehends ein, die Politik reagierte, indem sie einfach mehr Geld aufnahm. Als 1979 die zweite Ölpreiskrise die deutsche Wirtschaft erschütterte, waren die Kassen leer, die Verschuldung sprengte alle Grenzen. Erst da begann die Regierung gegenzusteuern. Das soziale Netz müsse von „überflüssigem und von zu teurem Rankenwerk“ befreit werden, bemerkte Schmidt, aber es war zu spät. Die sozial-liberale Koalition zerbrach 1982 vor allem an der Unfähigkeit, die Schuldenlast abzubauen. Solche Krisenzeiten sind immer auch Zeiten beschleunigten Strukturwandels. Zechen wurden stillgelegt, die Stahlbranche und der Schiffbau durchlitten existentielle Krisen. Das Ruhrgebiet verlor seine einst so überragende Bedeutung, dafür stiegen Bundesländer wie Bayern, Hessen und Baden-Württemberg in die erste Wirtschaftsliga auf. Roboter und Mikroelektronik automatisierten die Produktionsabläufe in den
Die Zeit des Wirtschaftswunders war die Ausnahme und nicht der Normalzustand. SPIEGEL GESCHICHTE
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WIRTSCHAFT
Betrieben, einfache Tätigkeiten fielen weg oder wurden ins Ausland verlagert. Vor allem die Textilindustrie schrumpfte bis zur Unkenntlichkeit, von 1970 bis 1980 hat sich die Zahl der Betriebe fast halbiert, die Zahl der Beschäftigten sank von mehr als 500 000 auf rund 300 000. Spinner, Schneider und Kleidermacher waren nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber den Billigkräften in Asien. Auch Olymp-Chef Bezner gab die Produktion in Deutschland auf und suchte sich neue Fertigungsstätten, überall dort, wo die Bedingungen am günstigsten waren. Hinter seinem Schreibtisch in Bietigheim hängt eine Weltkarte, übersät mit Fähnchen. Sie bezeichnen die Orte, die er schon besucht hat. Erst ließ Bezner in Hongkong produzieren, bis es dort zu teuer wurde, dann in Taiwan und auf den Philippinen, es folgten Indonesien und China, zuletzt ist Vietnam dazugekommen. Und in der Schublade, sagt er, liege Kambodscha. Genau 87 Arbeitsschritte umfasse die Herstellung eines Hemdes, erklärt der Seniorchef, das meiste davon sei Handarbeit. In Deutschland kostet die Arbeitsstunde rund 27 Euro, in Vietnam weniger als einen Euro. „Wenn wir damals nicht gegangen wären, gäbe es uns heute nicht mehr“, sagt Bezner. Die Textilindustrie war der Vorreiter. Die Autobranche, der Maschinenbau, die Chemieindustrie, große Teile der Wertschöpfung verlagerten die Unternehmen ins Ausland, die Arbeitsteilung sortierte sich neu. Der Wettbewerb nahm eine wahrhaft globale Dimension an, das Marktprinzip gewann an Einfluss. In Großbritannien privatisierte die Regierung Margaret Thatchers (1979 bis 1990) einen Großteil der öffentlichen Betriebe und schränkte die Sozialleistungen ein. In den USA senkte Ronald Reagan (1981 bis 1989) die Steuern insbesondere für Unternehmen erheblich. Auch der neue deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl versprach einen Neuanfang. „Eine Wirtschaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem Einzelnen seine Freiheit lässt“, sagte der Pfälzer in seiner Regierungserklärung am 4. Mai 1983
und kündigte an: „Wir führen den Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurück.“ Tatsächlich aber war das, was Kohl als „Wende“ deklarierte, bestenfalls eine Kurskorrektur. Es wurde ein wenig liberalisiert und dereguliert, insbesondere im Post- und Telekommunikationssektor, doch der Prozess verlief schleppend. Vor allem aber bekam die Regierung die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff; sie begnügte sich damit, einen öffentlichen, zweiten Arbeitsmarkt einzurichten. Und beim Management der deutschen Einheit vertraute Kohl wieder ganz der Gestaltungskraft des Staates, um jeden Preis.
KOSTEN DER WIEDERVEREINIGUNG Bis heute belaufen sich die Kosten der Vereinigung auf schätzungsweise 1,8 Billionen Euro, bezahlt vornehmlich von Steuerzahlern und Sozialversicherten aus den alten Bundesländern. Nur ein Bruchteil der Summe wurde für Investitionen verwendet, das meiste floss in den Konsum: Autos, Telefone, Fernseher. Zeitweise lebte jeder zweite Ostdeutsche überwiegend von Sozialtransfers. Dank der Staatshilfe näherten sich die neuen Bundesländer schnell dem westdeutschen Lebensniveau an; dabei war die Ost-Wirtschaft höchstens ein Drittel so produktiv. Der Maschinenpark war veraltet, die Infrastruktur marode. Die Industrie brach zusammen, die Arbeitslosenrate schoss in die Höhe. Der Staat entdeckte die Grenzen seiner ökonomischen Handlungsmacht, wieder einmal. Das Paradoxe daran: Während die Bundesregierung auf den Mauerfall keynesianisch reagierte und den Osten mit Geld flutete, verlieh das Ende des Kommunismus überall sonst auf der Welt dem Marktprinzip enorme Schubkraft. Nun war die Alternative zum Kapitalismus weggefallen, Russen und Chinesen, Balten und Inder – Hunderte Millionen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft traten ein in den globalen Wettbewerb. Beschleunigt wurde die Entwicklung durch die Revolution der Informationstechnologie, die jedem Menschen auf der Welt, zumindest theore-
tisch, die Chance eröffnete, am Wohlstand teilzuhaben. Die deutsche Volkswirtschaft profitierte dank ihrer Exportstärke besonders davon. Nicht nur großen Konzernen eröffneten sich neue Absatzmärkte, auch Mittelständler konnten sich vor Aufträgen kaum retten. Olymp zum Beispiel macht inzwischen ein Drittel seines Geschäfts mit Kunden im Ausland. In 41 Länder der Welt vertreibt der Textilhersteller seine Artikel, in Russland etwa, Dubai oder China. Dort ist die kaufkräftige Mittelschicht sogar bereit, 90 Euro für ein Hemd auszugeben, das im deutschen Einzelhandel für 50 Euro zu haben ist – und wahrscheinlich sogar in Fernost gefertigt wurde. So groß ist die Faszination deutscher Marken. Einst beschäftigte Olymp in Deutschland 800 Mitarbeiter, inzwischen sind es nur noch 370, ihnen bleiben Aufgaben im Design, Marketing oder Vertrieb. Genäht und gebügelt wird von inzwischen rund 3000 Beschäftigten bei ausländischen Subunternehmern. „Sie erhalten die Arbeitsplätze hier“, erklärt Bezner die Mischkalkulation. Das ist die ungemütliche Seite der Globalisierung. Der weltweite Wettbewerb hat den Druck auf jeden Mitarbeiter erhöht, auch auf die Führungsebene. Sie müssen kurzfristiger denken und kurzatmiger entscheiden. Und sie müssen höheren Renditeerwartungen entsprechen, gegenüber Banken und Investoren. Das gilt vor allem für Aktiengesellschaften. Ihr Wert bemisst sich beinahe nur noch am Börsenkurs. Dieser Aktionärskapitalismus erlebte seinen Höhepunkt um die Jahrtausendwende. Fusionsfieber und Internet-Euphorie verwandelten selbst die sonst so marktskeptischen Deutschen kurzzeitig in ein Volk von Spekulanten. „Die Telekom geht jetzt an die Börse, da geh ich mit“, warb der Schauspieler Manfred Krug 1996 für den Kauf von T-Aktien, fast zwei Millionen Deutsche schlugen zu, für 28,50 Mark pro Wertpapier. Innerhalb von drei Jahren kletterte der Kurs auf fast 105 Euro. Firmen wie AOL oder Yahoo, die aus dem Nichts zu kommen schienen, waren auf einmal Milliarden wert. DaimlerBenz schuf mit Chrysler eine transatlantische „Welt AG“, wie Konzernchef
Dank der Staatshilfe näherten sich die neuen Bundesländer schnell dem westdeutschen Lebensniveau an. 104
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Am 17. November 1998 geht DaimlerChrysler an die Wall Street (2. v. l.: der damalige Konzernchef Jürgen Schrempp).
Jürgen Schrempp prahlte. Selbst die rotgrüne Regierung huldigte dem Shareholder-Value und befreite etwa die Erlöse aus Beteiligungsverkäufen von der Steuerpflicht. Der SPIEGEL titelte im März 2000 „Unternehmen Größenwahn“, als der Dax mit 8136 Punkten ein Rekordhoch markierte. Dann platzte die Internet-Blase, die Fusionen endeten überwiegend als Enttäuschungen, die Bilanzskandale des Energiehändlers Enron oder des Kommunikationsunternehmens Worldcom stellten Manager unter Generalverdacht. Die Regierungen in Europa und Amerika formulierten neue Regelwerke. Doch in einem Bereich zumindest blieb die Aufsicht unzureichend: in der Welt der Banken, dem einzigen Gewerbe, wie der Londoner Ökonom Andrew Hilton bemerkt, „in dem es zu viel Innovation gibt, nicht zu wenig“. Dort wurden hochriskante Finanzprodukte entwickelt, die keinerlei Bezug mehr zur realen Wirtschaft besaßen und die kaum kontrolliert wurden. Der
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massenhafte Kreditausfall löste eine Vertrauenskrise aus, die das ganze System an den Rand des Zusammenbruchs befördert und das Vertrauen in die Marktkräfte erschüttert hat. Nie in 60 Jahren Bundesrepublik ist das Pendel so schnell in Richtung Staat zurückgeschwungen wie in den vergangenen Monaten. Eben noch schienen die Politiker machtlos der Globalisierung gegenüberzustehen. Jetzt übernehmen sie, mit gewisser Genugtuung, die Rolle der Weltenretter, greifen beherzt ins Geschehen ein – und vergrößern den Schuldenberg, der zuvor schon gewaltige Ausmaße angenommen hatte und dessen Abbau sie nie ernsthaft angegangen sind, nicht einmal in Boomzeiten. Nun haben Regierungen und Notenbanken weltweit die unfassbare Summe von neun Billionen Dollar an Hilfen bereitgestellt. Banken werden teilverstaatlicht, Steuern auf breiter Front gesenkt, Unternehmen unter Schutzschirme gestellt und milliardenschwere Fonds auf-
gelegt, um notleidende Branchen zu stützen. Ausgerechnet die öffentliche Hand soll der Wirtschaft wieder das Wirtschaften beibringen. In mancher Hinsicht erinnert dieses fast verzweifelte Staatsvertrauen an die Stimmung im Deutschland der Nachkriegszeit, als die Bürger ebenfalls am liebsten dem Staat das Kommando über die Wirtschaft gegeben hätten. Zu glauben, dass Politiker „das Schicksal eines Volkes für lange Zeit vorausbestimmen“ können, hielt Ludwig Erhard jedenfalls für „grenzenlosen Illusionismus“. Manche Anhänger der Staatswirtschaft seien da zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen, lästerte er. Als nach dem Weltkrieg die Wirtschaft am Boden lag, hätten sie errechnet, dass auf jeden Deutschen in Zukunft „nur alle 5 Jahre ein Teller komme, alle 12 Jahre ein Paar Schuhe, nur alle 50 Jahre ein Anzug“. Und jeder dritte Bundesbürger hätte überhaupt die Chance, „in seinem eigenen Sarge beerdigt zu werden“.
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WIRTSCHAFT
Der gelernte Bankkaufmann Berthold Beitz machte eine Karriere, wie sie nur im Nachkriegsdeutschland möglich war: Mit 40 wurde er Generalbevollmächtigter von Krupp – und lenkt seit 55 Jahren den Konzern.
Aufstieg aus der Baracke Von NORBERT F. PÖTZL
A
uf der Pritsche eines Lastwagens kam im Juni 1945 ein seltsam gekleideter 31-jähriger Mann nach Hamburg. Er trug eine bayerische Lederhose und einen amerikanischen Sonnenhut, beides Geschenke von hilfsbereiten Menschen. In der Hansestadt hatte der gelernte Bankkaufmann, der aus Vorpommern stammte und als Feldwebel das Kriegs-
Ehepaar Else und Berthold Beitz vor ihrem Privathaus in Essen 1984
ende erlebte, zuletzt seinen zivilen Beruf ausgeübt, in der Revisionsabteilung der Shell AG. Nun suchte er hier wieder Arbeit. Weil es für ihn keine andere gab, verdingte er sich bei einem Bauern in einem Dorf südlich der Elbe als Landarbeiter. Obdach fand er bei seinen Schwiegereltern, die, nachdem ihre Wohnung zerbombt worden war, in einem Barackenlager im Hamburger Stadtteil Bramfeld lebten.
So bescheiden begann die Nachkriegskarriere des Berthold Beitz, der schon nach wenigen Jahren an der Spitze von Krupp, einem der größten deutschen Konzerne, stand – der Prototyp des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders. Erste Station seines Aufstiegs war die britische Besatzungsmacht. Die baute gerade ein Aufsichtsamt für das Versicherungswesen in ihrer Zone auf und
suchte dafür fähige Leute. Eine Freundin von Else Beitz, der Ehefrau, arbeitete bei den Engländern und schwärmte ihrem Chef vor, was für ein Organisationstalent Beitz sei – und schon war der, ab August 1946, dort engagiert, obwohl er nach eigenem Bekunden nichts von Versicherungen verstand. Beitz lernte schnell, vor allem knüpfte er Kontakte zu Unternehmen. Im Juni 1949 wechselte er als Generaldirektor zur Iduna-Germania-Versicherung, die er binnen vier Jahren vom 16. auf den 3. Rang der Branche hievte.
JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES
Bald gehörte Beitz zur hanseatischen Hautevolee. Er bezog eine Wohnung in einer Jugendstilvilla nahe der Alster, war Stammgast in „Schümanns Austernkeller“ und verkehrte in den feinen Hamburger Kreisen, etwa mit dem Verleger Axel Springer oder dem ehemaligen Box-Weltmeister Max Schmeling. Urlaube verbrachte Beitz standesgemäß auf Sylt. Dort lernte er Jean Sprenger, einen Bildhauer, kennen, der ihm eine Bronzeplastik für sein neues Verwaltungsgebäude schuf. Als Beitz den Künstler einmal in dessen Atelier in Essen besuchte, machte er, im Sommer 1952, zufällig die Bekanntschaft von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dem Alleineigentümer des Krupp-Konzerns. Die einstige „Waffenschmiede des Reiches“ steckte in Schwierigkeiten. Im Krieg waren rund 30 Prozent der Fabrikanlagen zerstört, danach weitere 40 Prozent durch Demontage vernichtet worden. Alfried Krupp war 1948 wegen „Plünderung“ und „Sklavenarbeit“ als Kriegsverbrecher zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und 1951 begnadigt worden. Der Firmenchef lud Beitz am 25. September 1952, am Vorabend von dessen 39. Geburtstag, zum Abendessen ins Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten ein. Nach dem Dessert gingen die beiden Männer noch ein bisschen an der Alster spazieren, und Krupp machte Beitz ein Angebot: „Ich möchte gern, dass Sie mit mir Krupp wieder aufbauen.“ Als Generalbevollmächtigter des Eigentümers, sagte Krupp, solle er „handeln können wie ein Unternehmer“. Das reizte Beitz: nicht nur angestellter Manager zu sein, sondern uneingeschränkt schalten und walten zu können. Im November 1953 trat Beitz in Essen an. Aus Krupps Sicht war die Berufung von Beitz ein geschickter Schachzug. Die Kanonenkönige von der Ruhr stan-
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den im Ruf, mitschuldig zu sein an beiden Weltkriegen. Für das Image konnte es nur förderlich sein, an die Spitze des Konzerns einen Mann zu stellen, der nicht nur unbelastet durch die NS-Zeit gekommen war, sondern sich überdies Verdienste bei der Rettung von Juden erworben hatte. Beitz war nach Kriegsausbruch als kaufmännischer Direktor einer Ölförderfirma ins besetzte Polen geschickt worden. Wohl mehrere hundert jüdische Zwangsarbeiter bewahrte er vor dem Tod, indem er ihre Tätigkeit als kriegswichtig und unverzichtbar darstellte – womit er oft seinen eigenen Kopf riskierte. Die israelische Gedenkstätte Jad Waschem ernannte ihn und seine Frau, die jüdische Kinder in ihrem Haus versteckte, deshalb später zu „Gerechten unter den Völkern“. Krupps Makel, Handlanger Hitlers gewesen zu sein, konnte durch Beitz als Aushängeschild kaschiert werden. Auch die Siegermächte, die den ruhrindustriellen „Schlotbaronen“ feindselig
Stahlkrise geriet der Essener Konzern in Geldnot. Der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen halfen der Firma im März 1967 mit Bürgschaften von insgesamt 450 Millionen Mark über die Runden. Dafür musste sich Krupp verpflichten, das Familienunternehmen in eine Kapitalgesellschaft umzuwandeln. Da fügte es sich gut, dass Beitz den einzigen Sohn Alfried Krupps, Arndt von Bohlen und Halbach, schon im September 1966 – gegen eine Millionen-Apanage – zum Verzicht auf sein Erbe überredet hatte. Das Krupp-Vermögen wurde in eine Stiftung eingebracht. Beitz musste die operative Führung der Firma abgeben. „Nun ist er am Boden, nun fällt er um und ist tot“, lästerten Rivalen an der Ruhr über den Aufsteiger. Beitz schien abgeschoben auf den Posten des Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung, wozu ihn Alfried Krupp auf Lebenszeit ernannt hatte. Doch Krupp starb überraschend im Juli 1967 – und Beitz war als Herrscher über die Stiftung, damals die alleinige
Adenauer hatte „Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit“ von Beitz. gesinnt waren, konnten an dem revierfremden Beitz nichts aussetzen. Im März 1953 hatten die Alliierten Krupps Unterschrift unter ein Abkommen erzwungen, mit dem die Firma durch Teilverkäufe aufgespalten werden sollte. Beitz unterlief jedoch trickreich alle Versuche, den Konzern zu zerschlagen. Er kurbelte nicht nur in Westeuropa und Amerika den Export wieder an, sondern erschloss sich vor allem neue Märkte im kommunistischen Ostblock – was bei Kanzler Konrad Adenauer „Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit“ von Beitz auslöste. Zunächst engagierte sich Beitz in Polen. Die erste Einladung der Warschauer Regierung zu einem Besuch des Landes überbrachte ein Mann, den Beitz 1943 im galizischen Boryslaw vor der Erschießung bewahrt hatte. Beitz traf alle Mächtigen Osteuropas, auch der sowjetische KP-Chef Nikita Chruschtschow empfing ihn im Mai 1963 im Kreml. Die Ostgeschäfte hatten allerdings einen Haken: Die devisenschwachen Kunden brauchten immer lange Zahlungsziele, Krupp musste vorfinanzieren, und im Zusammenhang mit einer allgemeinen
Eignerin des Krupp-Konzerns, wieder obenauf. 1970 übernahm er (bis 1989) den Vorsitz im Aufsichtsrat. In den siebziger Jahren, als die Kapitaldecke des Konzerns wieder mal dünn wurde, holte Beitz den Schah von Persien als 25-Prozent-Partner – der iranische Mullahstaat hielt noch bis vor kurzem Anteile. In den neunziger Jahren betrieb Beitz als Strippenzieher hinter den Kulissen die Fusionen mit den alten StahlKonkurrenten Hoesch und Thyssen.
Alles geschah stets auch zum Nutzen der Stiftung, die Beitz immer noch führt und die mit 25,1 Prozent der Konzern-Aktien über eine Sperrminorität verfügt. Aus den Dividenden hat die Stiftung bisher rund 550 Millionen Euro für Projekte in Wissenschaft, Bildung, Medizin, Kultur und Sport verteilt. Täglich gegen 10 Uhr steigt Berthold Beitz, inzwischen 95 Jahre alt, aufrecht und mit festem Schritt die Stufen hinauf in den ersten Stock des ehemaligen Gästehauses der Villa Hügel über dem Baldeneysee. Dort sitzt der Patriarch an seinem Schreibtisch und hält auch heute noch die Fäden des ThyssenKrupp-Konzerns fest in der Hand. 107
WIRTSCHAFT
Die Deutschen sind stolz auf ihren Wohlfahrtsstaat. Doch während die Leistungen beständig ausgeweitet wurden, vertiefte sich die Kluft zwischen Arm und Reich.
„Geschlossene Gesellschaft“ Von MICHAEL SAUGA
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Zwei Bilder aus Sachsen: UnternehmensEmpfang auf Schloss Eckberg in Dresden, Demonstration gegen Hartz IV in Leipzig
SVEN DÖRING / VISUM (L.); R SEYBOLDT / SEYBOLDT-PRESS (R.)
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ie Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zählt zu den feineren Tagungsadressen der Hauptstadt. Eine weißglänzende Marmortreppe führt in den Konferenzsaal, prächtige Stuckgirlanden zieren die Seitengewölbe, aus den Fenstern geht der Blick auf einen der schönsten Plätze Berlins, den klassizistischen Gendarmenmarkt. Mal bewundern Naturwissenschaftler in der stilvollen Umgebung die „Eleganz mathematischer Algorithmen“, mal debattieren Umweltpolitiker über „die neue grüne Welle“. Ende 2008 nutzte Arbeitsminister Olaf Scholz die geschichtsträchtigen Räume, um die Elite der deutschen Sozialhistoriker auf einen „bemerkenswerten Wandel der öffentlichen Meinung“ aufmerksam zu machen. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise gehe „die Ära der Staatsverächter und Marktprediger zu Ende“, dozierte der SPDPolitiker. Während Banken zusammenbrechen und Finanzanlagen wertlos werden, schöpften die Deutschen wie-
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der „Vertrauen in die Politik“. „Der Sozialstaat“, befand Scholz, sei „eine der großen kulturellen Leistungen des letzten Jahrhunderts“. So sieht das in ihrem vierten Jahr die gesamte Große Koalition. Von Kanzlerin Angela Merkel bis zu Finanzminister Peer Steinbrück feiert die Regierung das Comeback des deutschen Wirtschaftsund Sozialmodells. Renten- oder Arbeitslosenversicherung seien hierzulande erfolgreich saniert. Weitere Einschnitte sind nicht erforderlich.
Im Gegenteil: Die Regierung baut die sozialen Sicherungssysteme wieder kräftig aus. Arm in Arm haben Union und SPD das Arbeitslosengeld für Ältere verlängert und die Renten außerplanmäßig erhöht, sie zahlen mehr Hilfen für Langzeitarbeitslose und beschlossen eine neue Sozialleistung namens Elterngeld. Es gehe um „Teilhabe für den, der sich anstrengt“, sagt Sozialminister Scholz, und „sozialen Aufstieg für diejenigen, die sich bemühen“. Ein schönes Versprechen, wenn es denn eingelöst würde. Doch genau dar-
an haben viele Experten Zweifel. Während die Regierung den Wohlfahrtsstaat neu beatmet, sorgt sich die Fachwelt zunehmend um den Ertrag des Multimilliarden-Euro-Aufwands. Nach sechs Jahrzehnten ununterbrochener sozialpolitischer Bemühung fließt fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts als Sozialausgabe an Pensionäre, Familien oder Pflegebedürftige. Die gesetzlichen Großversicherungen gegen Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit schützen fast 90 Prozent der Bevölkerung und beschäftigen mit rund 300 000 Mitarbeitern mehr Personal in Deutschland als Konzerne wie Siemens oder Daimler. Doch die enormen Geldflüsse haben die Gerechtigkeit im Land nur mäßig erhöht, klagen linke wie rechte Professoren. Der Sozialstaat hat den Staat kaum sozialer gemacht. Der Kölner SPD-Politiker und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa moniert, dass sich die Republik trotz wachsender Transferleistungen immer stärker „in einen Zwei-Klassen-Staat“ verwandelt. Das Gesundheitswesen privilegiere Privatversicherte, das Bil-
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Dass die gesellschaftliche Schieflage mit einem Füllhorn wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ausgeglichen werden könnte, war ein Gedanke, der den Vätern des Grundgesetzes noch fernlag. Zwar beschrieben sie die neue Republik in Artikel 20 ausdrücklich als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“. Zugleich aber wehrten sie sich dagegen, konkrete Forderungen etwa nach einem „Recht auf Arbeit“ in ihren Grundrechtekatalog aufzunehmen. Das, befand etwa SPD-Vertreter Carlo Schmid, würde rasch „ins Uferlose“ führen. Doch die Zurückhaltung der Verfassungsväter ging im rasanten Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegsjahre rasch verloren. Je wohlhabender die Deutschen wurden, desto eifriger mühten sich die Regierungen, gesellschaftliche Fehlentwicklungen mit neuen sozialpolitischen Leistungen zu kontern. Wenig erfolgreich blieben die Versuche, die Schere zwischen Arm und Reich durch mehr Bildung oder eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital der Volkswirtschaft zu schließen. Ansätze wie das Vermögensbildungsgesetz der Regierung Adenauer von 1961 blieben zaghaft. Verschärft wird die Schieflage durch das Sozialsystem selbst. Die meisten Volkswirtschaften bezahlen ihren Wohlfahrtsstaat zu großen Teilen aus Steuergeld, mit dem erwünschten Nebeneffekt, dass wohlhabendere Kreise mehr zu seiner Finanzierung beitragen als die sozial Schwachen. Die Bundesrepublik dagegen knüpfte nach dem Krieg nahtlos an das Bismarcksche System der Sozialversicherung an. Dessen Prinzipien atmeten gleich in mehrfacher Hinsicht den Geist des ständisch organisierten Kaiserreichs: • Mitglieder sind Arbeiter und Angestellte. Andere Bevölkerungsgruppen wie Beamte, Selbständige oder Freiberufler dürfen sich privat versichern oder sind Mitglieder eigenständiger Berufskassen.
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dungssystem halte Arme dumm. Anders samtbevölkerung gerade einmal einen als in anderen Ländern zähle in der Bun- Anteil von 0,5 Prozent. Hinter dem Missverhältnis wird eine desrepublik „Herkunft mehr als Talent Gesellschaft sichtbar, die auf Abstamoder Leistung“. Kaum anders sieht das der Sozialhis- mung mehr Wert legt als auf Können toriker Hans-Ulrich Wehler. In seiner und deren Bildungswesen die soziale „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ Spaltung noch vertieft. In der Theorie sieht der Bielefelder Wissenschaftler sollen Schule und Hochschule die die Vermögens- und Einkommensverteilung der Bundesrepublik von „exMinister Blüm tremen Disparitäten“ be1986 in Bonn herrscht. Hinter der „glänzenden Fassade“ des Wirtschaftswunders, so Wehler, breiteten sich in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft „vertraute Ungleichheitsmuster“ aus, wie sie etwa auch die Weimarer Republik beherrscht haben. Tatsächlich ballen sich hierzulande Reichtum und Besitz in wenigen Händen. Nach einer aktuellen Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verfügt das obere Zehntel der Bevölkerung über fast 62 Prozent des Privatvermögens. Fast ein Drittel der Deutschen dagegen besitzt so gut wie nichts oder ist verschuldet. Unter dem Mikroskop der Verteilungsforscher wird eine scharfe Klassengesellschaft sichtbar. Vom Tellerwäscher zum Millionär schafft es in Deutschland kaum jemand, und auch der umgekehrte Weg ist höchst selten. Stattdessen zeigt sich eine nahezu „geschlossene Gesellschaft“, so der Schwächeren fördern. In der Praxis proDarmstädter Soziologe Michael Hart- fitiert die Oberschicht, deren Kinder im mann. Wer hierzulande in eine Beam- sogenannten gegliederten Schulwesen tenfamilie geboren wird, strebt oft eben- gezielt nach oben geschleust werden – falls eine Beamtenkarriere an. Unter- heute wie vor 60 Jahren. nehmerkinder werden Unternehmer, Wie kommt es, dass sich hinter die Arbeiterschaft rekrutiert sich aus der der Fassade der Leistungsgesellschaft Arbeiterschaft. wieder Züge eines Ständestaates herausbilden konnten? Warum hat der Ein Wechsel zwischen den Schichten Ausbau von Sozialleistungen den Abist nicht vorgesehen, vor allem nicht an stand zwischen oben und unten nicht der Spitze der Einkommenspyramide. verkleinert? Was ist der Grund für Mehr als 50 Prozent aller Top-Manager die „stabile Zusammenballung von stammen aus dem Großbürgertum, so Vermögen auf der obersten Etage hat Hartmann ermittelt. Dabei hat die der westdeutschen Marktgesellschaft“ gesellschaftliche Top-Elite an der Ge- (Wehler)?
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• Die Beiträge sind an den Lohn ge- modell zu verändern – obwohl sie es koppelt. Andere Einkunftsquellen hartnäckig versuchten. wie Zinsen, Dividenden oder Miete werden nicht berücksichtigt. Im Herbst 1946 legte der Alliierte • Eine sogenannte Bemessungsgrenze Kontrollrat den Plan für einen radikalen deckelt die Beitragslasten von Bes- Umbau des Sozialstaats vor: Eine staatliserverdienern. Wer mehr Lohn nach che Einheitsversicherung sollte nicht nur Hause bringt, führt einen kleineren sämtliche Arbeitnehmer, sondern auch Anteil an die Renten- oder Kranken- Beamte, besserverdienende Angestellte kasse ab. und Selbständige organisieren. Nur UnIn der Folge werden die Kosten des ternehmer, die mehr als fünf Angestellte Sozialstaats vorrangig auf die beitrags- beschäftigten, blieben ausgenommen. zahlenden Arbeitnehmer gelegt. Wer Das Konzept war weit gediehen. „Die seinen Lebensunterhalt als Aktionär, haben uns zum Zeitpunkt unserer BeerStaatsdiener oder leitender Angestellter digung eingeladen“, stöhnte ein Vertreter bestreitet, trägt vergleichsweise wenig der Betriebskrankenkassen, als die Besatzur Finanzierung bei. „In Deutschland zungsmächte die deutschen Sozialpolitiist die Mittelschicht mit der Unter- ker erstmals über ihre Pläne informierten. schicht solidarisch“, sagt der WirtDoch mit Klagen hielten sich die schaftsweise Peter Bofinger. „Die Ober- mächtigen Interessenvertreter des deutschicht darf sich ausklinken.“ schen Gesund32 Entsprechend unbeliebt war das Mo- heitswesens nicht dell stets bei linken Gewerkschaftern und 31 Sozialdemokraten. Auch die Interes30 senvertreter der Wirtschaft 29 machten regelmäßig Vorbehalte geltend; schließlich 28 steigerte das Beitragsmo27 dell die Lohnkosten der 26 Betriebe. Doch wann im25 mer im Nach24 kriegsSozialleistungsquote, in Prozent 23 des Bruttoinlandsprodukts
Soziale Last
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Quellen: Sozialbudget-Daten 2007 (BMGS), 1950 bis 1959: Daten geschätzt (Jens Alber: „Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950 bis 1983“ von 1989)
Ludwig Erhard Kanzler Konrad Adenauer
Kurt Georg Kiesinger Willy Brandt
CDU/ CDU/CSU, CDU/ CDU/CSU, CDU/ CSU, FDP, DP, CSU, FDP CSU, FDP, DP GB/BHE DP SPD 50
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Angela Merkel Helmut Schmidt
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deutschland eine wichtige sozialpolitische Weichenstellung anstand, setzten sich die Bismarck-Jünger durch. Von der Rente bis zur Pflege wurden die wichtigsten Zweige des Wohlfahrtsstaats als Versicherungskasse organisiert, zum Nutzen der bessergestellten Stände und nicht zuletzt der politischen Klasse. Sie merkte bald, welch schönes Instrument ihnen das deutsche Sozialstaatsmodell in die Hände gab, sich als Wohltäter des kleinen Mannes zu inszenieren. Das zeigte sich bereits vor Gründung der Bundesrepublik. Nicht einmal die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vermochten das deutsche Sozialstaats-
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Helmut Kohl
SPD, FDP 70
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CDU/ CSU, SPD
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Gerhard Schröder
CDU/CSU, FDP
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lange auf, sie organisierten den Widerstand. Die privaten Krankenversicherungen, die große Teile ihrer Kundschaft verloren hätten, mobilisierten genauso gegen die Pläne wie die Ärztelobby. Entscheidend aber war, dass sich schließlich auch bei den Gewerkschaften die Bedenkenträger durchsetzten. Die alliierten Pläne, so fürchteten sie, würden insbesondere unter bessergestellten Beschäftigtengruppen wie den Angestellten zu viele Verlierer produzieren. Die Reform müsse den Effekt haben, dass „nicht die Angestellten heruntergesetzt, sondern die Arbeiter heraufgehoben werden“, verlangte etwa DGB-
Chef Hans Böckler. Es könne nicht Aufgabe einer Neuordnung sein, „bisher bessergestellte Schichten auf ein Niveau herabzusetzen, das in vielen Fällen als nicht tragbar angesehen wurde“. Und so kam es, dass die alliierten Konzepte am Ende nur in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, umgesetzt wurden. In den Westzonen dagegen wurde die Reform auf die Zeit einer künftigen bundesdeutschen Regierung vertagt. Der chancenreichste Versuch, in der Bundesrepublik eine Bürgerversicherung nach britischem oder skandinavischem Vorbild einzuführen, war gescheitert. Fortan bauten die Westdeutschen ihren Sozialstaat wieder im BismarckStil auf, begünstigt von den Gegensätzen der Parteien. Die SPD verstand sich als Anwalt der gesetzlichen Rentenoder Krankenkasse. Die CDU war gespalten in einen sozialstaatsfreundlichen Gewerkschaftsflügel und ihre Mittelstandsabteilung, die sich vorrangig für die Versorgungssysteme von Selbständigen und Freiberuflern einsetzte. Die Kompromisse waren vorgezeichnet. Das zeigte sich nirgends deutlicher als bei der Rentenreform des Jahres 1957, der wichtigsten sozialpolitischen Weichenstellung der Bundesrepublik. Um die Nöte der Kriegsgeneration zu lindern, erfand Konrad Adenauer die „dynamische Rente“. Die Altersbezüge sollten künftig im Gleichklang mit den Löhnen wachsen und, in einem ersten Schritt, außerplanmäßig kräftig angehoben werden. Im Gegenzug sollten die Beiträge für die Beschäftigten steigen. In den eigenen Reihen stieß der Plan auf Widerstand. Finanzminister Fritz Schäffer fürchtete um die Stabilität der Staatsfinanzen, der populäre Wirtschafts-Ressortchef Ludwig Erhard warnte vor Inflation. Auch Adenauers Berater murrten. Damit die neue Rentenformel nicht durch rückläufige Geburten- und Beschäftigtenzahlen aus dem Gleichgewicht kippen kann, so forderten sie, müsse gleichzeitig eine Familienkasse zur Förderung des Kinderreichtums eingeführt werden. Doch der Kanzler wischte alle Bedenken zur Seite. Seine Experten stellte er mit dem berühmten Ausspruch „Kinder bekommen die Leute sowieso“ ruhig, Wirtschaftsminister Erhard verbuchte es schon als Erfolg, wenigstens die Selbständigen aus dem neuen System herausgehalten zu haben.
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Streik unter Tage: Bergleute im Siegerland protestieren im Dezember 1961 gegen die Schließung ihrer Erzgrube.
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Was folgte, war eine Rentenerhöhung um mehr als 50 Prozent und ein historischer Wahlsieg für die CDU. Kein anderes Gesetz hat jemals eine so positive Resonanz gehabt wie die Rentenreform, ermittelte das Institut Allensbach.
Kein Wunder, dass Adenauers Triumph zum Vorbild für alle folgenden Politikergenerationen wurde. Im Wettlauf um die Gunst der Wähler bauten Union und SPD den Sozialstaat kräftig weiter aus. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde eingeführt und die Kriegsopferrente angepasst, die Unterstützung für Bergleute verbessert und der Leistungskatalog der Krankenkassen erweitert. Geld gab es genug, das Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung sorgte für steigende Einnahmen. Anfang der siebziger Jahre entdeckten die Volksparteien schließlich eine neue, noch ergiebigere Finanzierungsquelle: Sie verteilten Beitragsgelder, die es noch gar nicht gab. Wegen der anhaltenden Hochkonjunktur sagten amtliche Analysen der Rentenkasse einen
CDU-Politiker Kurt Biedenkopf mit seinem Plan einer steuerfinanzierten Grundrente forderte, hielt das Sozialpolitik-Establishment gar nichts. Wenn die Rente von der Kinderzahl abhinge, müsste in „Indien oder Bangladesch eine hervorragende Alterssicherung geboten werden“, argumentierte Kohls langjähriger Arbeitsminister Norbert Blüm mit verblüffender Schlichtheit und klebte jenen Werbeslogan an eine Bonner Litfaßsäule, der zum Symbol der realitätsblinden deutschen Sozialpolitik werden sollte: „Denn eins ist sicher: Die Rente“. Die christlich-liberale Koalition (1982 bis 1998) bürdete dem Sozialstaat weitere Lasten auf, insbesondere die Kosten der deutschen Vereinigung ab 1990. Wäre es nach dem ökonomischen Lehrbuch gegangen, hätte die Regierung die Übernahme der maroden DDR-Wirtschaft aus allgemeinen Steuern bezahlen müssen; schließlich handelte es sich um eine nationale Aufgabe. Doch Kanzler Kohl hatte versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen. Und
ULLSTEIN BILD / DPA
Aus dem Milliardenüberschuss wurde quasi über Nacht ein Defizit.
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Überschuss von bis zu 50 Milliarden Euro voraus, eine Prognose, die den Parteien vor den Wahlen des Jahres 1972 nicht ungelegen kam. Die Union setzte höhere Altersgelder für Kleinrentner durch, die SPD erstritt bessere Leistungen für Mütter und ältere Arbeitnehmer. Nach den Wahlen jedoch stürzte die Wirtschaft als Folge der ersten Ölkrise in eine schwere Rezession. Der Konjunktureinbruch verwandelte den errechneten Milliardenüberschuss quasi über Nacht in ein fast ebenso großes Defizit – und leitete zugleich eine grundlegende Wende ein. Statt Geschenke verteilen zu können, mussten die Sozialpolitiker fortan den Mangel verwalten. Die Regierung schnürte ein erstes Sparpaket, und nicht wenige Experten sagten den Sozialkassen wegen niedrigerer Wachstumszahlen eine düstere Zukunft voraus. Wenn nichts geschehe, so warnten zahlreiche Institute Ende der siebziger Jahre, würden die Rentenbeiträge auf über 30 Prozent nach oben schnellen. Doch die Bundesregierung war nur mäßig alarmiert. Von grundlegenden Korrekturen, wie sie etwa der
so versteckte die Koalition die Kosten in den Wohlfahrtssystemen. Zu Lasten der beitragszahlenden Arbeitnehmer wurden Hunderttausende Ostdeutsche in die Frührente geschickt, Milliardenbeträge gingen für Arbeitsbeschaffungsund Umschulungsprogramme drauf.
Alle Versuche, die wohlhabenderen Schichten über den Solidaritätsbeitrag hinaus mit Sondersteuern oder Arbeitsmarktabgaben an den Einheitskosten zu beteiligen, scheiterten am Einwand von Finanzminister Theo Waigel. Der CSU-Politiker, sagt der Heidelberger Historiker Gerhard Ritter, „zog die relativ geräuschlose und politisch viel leichter durchsetzbare Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen den notwendigerweise mit scharfen Spannungen verbundenen Steuererhöhungen vor“. So lief es auch beim nächsten sozialpolitischen Großprojekt der Kohl-Regierung: der Einführung der Pflegeversicherung 1995. Bis dahin trat die Sozialhilfe mit Steuermitteln ein, wenn sich Alte oder Kranke nicht mehr allein zu helfen wussten.
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Nun gründete die Regierung eine Wähler zu erkaufen. Nun bekamen sie Netz der Krankenhäuser ist dichter als weitere Sozialkasse nach dem Bismarck- deren Zorn zu spüren, als sie versuchten, in fast jedem anderen Land der Erde. Die durchschnittlichen Leistungen für Prinzip. Wieder wurde eine Leistung, ihn wieder einzudampfen. Die Regierung Kohl wurde nach ihren Arbeitslose liegen noch immer höher als die bislang alle Bürger gemeinsam finanzierten, den Beitragszahlern aufge- zaghaften Reformanläufen bei Rente in den meisten europäischen Ländern. Doch zugleich hat der Ausgabensedrückt. Wieder erhielten Beamte, Selb- und Gesundheit 1998 abgewählt. Der ständige und Besserverdienende eine SPD erwuchs im Gefolge der Hartz-Ge- gen die soziale Schieflage nicht gemilPrivatversicherung, die den Vorzug hat- setze mit der Linkspartei Konkurrenz dert. Im Gegenteil: Die Spaltung zwite, dass ihr Mitgliederkreis gesünder war im eigenen Lager. Deren Erfolge ent- schen Arm und Reich war in der Nachspringen nicht zuletzt dem weitverbrei- kriegszeit noch nie so groß wie heute. als in der gesetzlichen Kasse. Die Folgen schlugen sich schon kurz teten Gefühl, bei der Sanierung des Sodarauf in den Bilanzen der Versiche- zialstaats gehe es ungerecht zu. Vor allem aber ist der Sozialstaat für Tatsächlich bekamen die Kürzungen viele Niedrigverdiener zu einem schlechrungssysteme nieder. Während die gesetzlichen Pflegekassen rasch auf neue der vergangenen Jahre vor allem die un- ten Geschäft geworden. Mehr als 40 ProDefizite zusteuerten, häuften die Pri- teren Abteilungen der Verdienstskala zu zent ihres Bruttolohns müssen die Bevatversicherungen Rückstellungen in spüren. Wer heute als 40-Jähriger wenig triebe als Beiträge an die gesetzliche Renverdient, muss sich darauf einstellen, in ten-, Kranken- oder Arbeitslosenversizweistelliger Milliardenhöhe an. Der Ausbau des traditionellen Wohl- 30 Jahren nur noch eine Rente auf So- cherung abführen. Doch die Leistungen, fahrtsstaats vertiefte nicht nur die Gräben zialhilfeniveau zu erhalten. Dass zahl- die die Arbeitnehmer dafür erhalten, zwischen Arm und Reich, er begann auch reiche medizinische Leistungen privat übersteigen in vielen Fällen kaum noch die Wirtschaft zu überfordern. In den zu bezahlen sind, belastet vor allem jene die Ansprüche von Hartz-IV-Empfänneunziger Jahren stiegen die gern. Was einst erfunden Beitragssätze zur Arbeitslowurde, um die soziale Lage senversicherung um mehr des kleinen Mannes zu ver+ 31 bessern, drückt ihn heute als 50 Prozent, die zur Ren- Veränderung des durchschnittlichen tenversicherung um 9 Pro- realen Nettoeinkommens pro Kopf häufig erst recht unter die zent und die zur Kranken- gegenüber 1992, in Prozent Armutsschwelle. versicherung um 11 Prozent. Was zu tun wäre, um Bei den reichsten 10 % + 11 die Benachteiligung unterer Viele Betriebe konnten der Bevölkerung sich den beständigen AnGehaltsklassen zu beseitiDurchschnitt stieg der sogenannten Lohngen, haben Experten schon insgesamt häufig dargelegt. Die Sozialnebenkosten nicht mehr staatsprivilegien einzelner leisten. Dadurch gerieten Quelle: DIW Berufs- und Gehaltsgruppen Renten- und Krankenversimüssten beseitigt und eine cherung in Finanznot, die gemeinsame VolksversicheBeiträge stiegen ein weiteBei den ärmsten 10 % res Mal, und die Unterneh– 10 rung für alle geschaffen der Bevölkerung werden. Es wäre gerechter, men starteten die nächste die Wohlfahrtssysteme stärEntlassungswelle. So kam 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 ker über Steuern und weniein Teufelskreis in Gang, der ger über Beiträge zu finandie Langzeitarbeitslosigkeit auf einen Rekordwert trieb und Deutsch- Bürger, die ohnehin wenig Geld zur Ver- zieren. Die Abgabenbelastung von Niedrigverdienern müsste gezielt gesenkt land den Ruf eintrug, der „kranke Mann fügung haben. In der bundesdeutschen Klassenge- werden. Doch die Große Koalition hat Europas“ zu sein. sellschaft haben sich die Sozialsysteme jeden Ehrgeiz abgelegt, sich an größeAls der Rentenbeitrag Ende der selbst in kleine Klassengesellschaften ren Umbauten zu versuchen. Wozu neunziger Jahre dem Höchstwert von verwandelt. Das Gesundheitswesen ho- auch? Die Reformen der rot-grünen Vorfast 21 Prozent entgegenstrebte, sah fiert Privatversicherte und benachtei- gänger-Regierung haben die Sozialsysteauch die politische Elite ein, dass es so ligt Kassenpatienten. Die Arbeitslosen- me halbwegs saniert, und die Erfahrunnicht weiterging. Ein halbes Jahrhun- versicherung kümmert sich stärker um gen mit großkoalitionären Gesetzen wie dert hatten die Deutschen ihren Sozial- Kurzzeitarbeitslose als um Hartz-IV- der Rente mit 67 oder dem Gesundheitsstaat beständig aufgepustet, nun began- Empfänger. Weil sie im Schnitt länger fonds waren alles andere als ermutigend. Ausbau statt Umbau, heißt wieder die nen die Regierungen Kohl und Schrö- leben, schneiden in der staatlichen Rentenversicherung Gutverdiener besser ab Devise. Stolz verweist Arbeitsminister der (1998 bis 2005) mit dem Rückbau. Das Rentenniveau wurde gesenkt und als die Angehörigen ärmerer Schichten. Scholz auf das, was „in den letzten 60 JahEntsprechend zwiespältig fällt die Bi- ren im Hinblick auf die soziale Sicherung die Zuzahlung bei Medikamenten erhöht, die Arbeitslosenhilfe gestrichen lanz des heutigen Wohlfahrtsstaats aus. in unserem Land gelungen ist“ und verund der Berufsunfähigkeitsschutz ein- Noch immer können sich die Deutschen spricht: „Der Sozialstaat hat Zukunft.“ geschränkt, das Krankengeld gemindert rühmen, eines der umfangreichsten Sound eine Praxisgebühr eingeführt. Jahr- zialsysteme der Welt zu haben. Den Der Autor ist Verfasser des Buches „Wer arbeitet, zehntelang hatten die Parteien den So- Rentnern des Jahres 2009 geht es so gut ist der Dumme – Die Ausbeutung der Mittelschichzialstaat benutzt, um sich die Gunst der wie keiner Seniorenkohorte vor ihr. Das ten“. Piper Verlag, München; 238 Seiten; 14 Euro.
Wachsende Kluft
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Ehepaar Ate¸s, Tochter Seyran in deren Berliner Wohnung
Die Anwältin und Publizistin Seyran Ates¸, ihre Mutter Hatun und ihr Vater Mehmet über ihre Erfahrungen als türkische „Gastarbeiterfamilie“ im Berlin der sechziger und siebziger Jahre
„Süßes für die Polizei“
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WIRTSCHAFT SPIEGEL: Frau Ate¸s, Sie sind im
Juli 1968 ohne Ihre Familie nach Berlin gegangen. Wie kam es dazu? Hatun Ate¸s: Eigentlich wollte mein Mann in Deutschland arbeiten. Er hatte sich auch schon beim Arbeitsamt in Istanbul registrieren lassen. Aber drei, vier Jahre vergingen, ohne dass etwas passierte. Mehmet Ate¸s: Wir warteten und warteten. Ein Arbeitskollege in der Fabrik sagte mir schließlich, Frauen nehmen die deutschen Arbeitgeber sofort. Schick deine Frau vor, und die lädt dich dann ein nachzukommen. Hatun Ate¸s: Mein Mann fragte mich: „Würdest du allein gehen?“ Ich sagte: „Wie soll ich das machen?“ Wir hatten fünf Kinder, der Älteste war zehn Jahre alt, die jüngste Tochter erst fünf Monate. Aber dann habe ich mich doch überreden lassen. Mehmet Ate¸s: Zusammen mit einer Nachbarin hat sie sich beim Arbeitsamt gemeldet und alle Papiere ausgefüllt. Hatun Ate¸s: Außerdem mussten wir uns röntgen lassen. Urin, Blut und Zähne wurden geprüft. Alles, von Kopf bis Fuß. Mehmet Ate¸s: Ja, sogar die Zähne. Als ich später auch für die Ausreise nach Deutschland von den Ärzten angeschaut wurde, fehlte mir vorne ein Schneidezahn. Da haben sie mir gesagt, geh und komm mit einem kompletten Gebiss zurück. Hatun Ate¸s: In Berlin gab es dieselbe Prozedur dann noch einmal. SPIEGEL: Was waren das für Ärzte? Hatun Ate¸s: Ärzte der Firma Siemens, für die wir ja zunächst gearbeitet haben. Später sind wir dann zu Osram gegangen. SPIEGEL: Konnten Sie ein wenig Deutsch? Gab es auch einen Sprachtest?
ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ (L.)
HATUN, MEHMET UND SEYRAN ATE¸S Hatun Ate¸s (Jahrgang 1938) und ihr Mann Mehmet (Jahrgang 1937) kommen aus Kömürkaya in Mittelanatolien. Sie heirateten 1954 und zogen 1959 nach Istanbul. 1968 ging Hatun, ein Jahr später auch Mehmet nach Deutschland. Sie blieben 20 Jahre. Tochter Seyran wurde 1963 geboren. Sie veröffentlichte 2003 das Buch „Große Reise ins Feuer“ über ihre Familiengeschichte. 2007 erschien „Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“.
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Mehmet und Hatun Ate¸s mit ihrem Sohn Cemal um 1963 in Istanbul SPIEGEL: Da waren Ihre Kinder noch
Hatun Ate¸s: Überhaupt nicht, bei dem
Gesundheitstest hatten wir einen Übersetzer. Und als ich dann zwei Tage nach meiner Ankunft in Berlin in der Fabrik anfing, war da auch jemand, der uns jeden Handgriff auf Türkisch erklärte. Ich musste Teile für Fernsehgeräte kontrollieren und Fehlstücke aussortieren. SPIEGEL: Wo haben Sie gewohnt? Hatun Ate¸s: In einem Wohnheim für Arbeiterinnen in der Nähe der Fabrik. Ich habe dort viel geweint. Ich hatte meine fünf Kinder zurückgelassen, und das konnte ich nur schwer ertragen. Die anderen Frauen im Wohnheim haben mich die „weinende Frau“ genannt. SPIEGEL: Im Februar 1969 ist Ihr Mann nachgekommen und hat in derselben Fabrik angefangen zu arbeiten wie Sie. Haben Sie da beide im Wohnheim gelebt? Hatun Ate¸s: Einen Monat lang. Mein Mann im Männerwohnheim, ich etwa 15 Minuten Fußweg entfernt weiterhin in dem für Frauen. Mein Mann hat mich besucht, und wir konnten zusammen unten im Salon sitzen. Oben waren die Schlafräume, da durften Männer nicht hin. Seyran Ate¸s: Das Bemerkenswerte war, dass es in der Männerabteilung derlei Einschränkungen nicht gab. Mehmet Ate¸s: Im März haben wir dann eine Wohnung im Wedding gefunden. Ein Mann aus dem Dorf, in dem wir als Kinder mit unseren Eltern gelebt hatten, hat uns mit jemandem bekannt gemacht, der dort Hausmeister war.
in der Türkei? Hatun Ate¸s: Die holte ich erst im Sommer 1969 nach Berlin. Ich habe mir fünf Wochen Urlaub genommen und bin nach Istanbul gefahren. Eigentlich wollte ich dableiben, aber Mehmet bestand darauf, dass ich zurückkomme. SPIEGEL: Mit den Kindern? Hatun Ate¸s: Allein, er wollte, dass wir weiter nur zu zweit in Berlin sind und dass wir beide dann sehr bald zusammen für immer zurückgehen. Seyran Ate¸s: Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. Meine Eltern waren sich nicht einig, was mit uns Kindern passieren sollte. Mein Vater wollte nicht, dass wir mit ihnen in Berlin lebten. Mehmet Ate¸s: Ich hatte mir vorgestellt, in Deutschland möglichst schnell genug Geld zu verdienen, um in der Türkei einen Lebensmittelladen aufzumachen. Das war mein Traum. SPIEGEL: Wie lange wollten Sie ursprünglich bleiben?
Fabrikarbeiterin Ate¸s (r.) in den achtziger Jahren Hatun Ate¸s: Geredet haben wir immer über ein Jahr. Aber ich konnte meine Kinder nicht noch einmal in der Türkei zurücklassen. Weil wir uns einen Flug nicht leisten konnten, bin ich mit vier Kindern im Zug nach Deutschland gereist. Die Jüngste blieb bei der Oma in der Türkei und kam erst 1970 zu uns. SPIEGEL: Wie lange dauerte die Reise? Hatun Ate¸s: Drei Tage und drei Nächte, ohne Schlafwagen. Im Abteil waren wir noch mit drei anderen Erwachsenen zusammen. Unterwegs mussten wir in München umsteigen.
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WIRTSCHAFT Seyran Ate¸s und ihre Eltern, Mitte der siebziger Jahre in Berlin
Seyran Ate¸s: Ich war damals sechs Jahre alt und kann mich noch erinnern, dass ich nur am Rock meiner Mutter hing. Sie konnte nicht mal allein den Koffer die Treppe hinauftragen. Ich hatte solche Angst, dass sie wieder weggeht. SPIEGEL: Was hatte man Ihnen denn gesagt, als die Eltern die Türkei verließen, um in Deutschland zu arbeiten? Seyran Ate¸s: Gar nichts. Das war ja mein Trauma, und das ist ein Trauma vieler Kinder aus diesen sogenannten Gastarbeiterfamilien. Als wir dann in Berlin in der Wohnung ankamen, hat mein Vater, der uns nicht vom Bahnhof abgeholt hatte, zu meinem ältesten Bruder Kemal gesagt: „Was machst du denn hier?“ Wir Kinder haben ihm das lange nicht verziehen. Mehmet Ate¸s: In Berlin gab es keine türkischen Schulen. Ich wollte nicht, dass wir uns hier niederlassen. SPIEGEL: Aber jetzt waren Sie zu sechst in der Weddinger Wohnung. Wie groß war die? Hatun Ate¸s: Das war eine Einzimmerwohnung. Das Wohnzimmer war ungefähr 22 Quadratmeter groß, die Küche war klein, sitzen und essen konnte man dort nicht. Die Toilette befand sich außerhalb der Wohnung, eine Treppe runter, und wir mussten sie mit anderen teilen. Anfangs gab es im Klo nicht einmal Licht, irgendwann haben wir eine Leitung aus unserer Wohnung dorthin verlegt. Seyran Ate¸s: In Istanbul wohnten wir auch in einem Armenviertel, aber da hat-
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ten wir wenigstens eine einfache Dusche. In Berlin gab es nicht einmal das. Unser einziger Luxus war ein Gasboiler für warmes Wasser. Mama kaufte eine riesige Plastikwanne, darin wurden wir Kinder gebadet. Meine Eltern duschten in der Firma. SPIEGEL: Wie lange sind Sie in dieser Wohnung geblieben? Hatun Ate¸s: Ein Jahr. Wir haben ständig nach einer größeren gesucht, aber sie haben uns beim Wohnungsamt keine gegeben. Für eine freie Wohnung wurden jeweils drei oder vier Familien als mögliche Mieter vorgeschlagen, den Zuschlag bekamen am Ende immer Deutsche. Als eine Nachbarin in unserem Haus auszog, haben wir ihre Einzimmerwohnung dazugemietet und später noch eine weitere Wohnung, so dass wir Ende der siebziger Jahre die ganze zweite Etage bewohnten. SPIEGEL: Wie sind Sie mit den Nachbarn ausgekommen? Waren das Deutsche? Hatun Ate¸s: Außer dem Hausmeister waren alle Deutsche in dem Haus. Wir hatten zwei Nachbarinnen, die uns schikaniert haben. Sie beschwerten sich ständig, wir seien zu laut. Die eine trank zusammen mit ihrem Freund, stritt dann mit ihm und machte einen furchtbaren Lärm. Seyran Ate¸s: Die Drohung war, die Polizei wird geholt, und die schmeißt uns raus. Sogar an Silvester hat eine Nachbarin die Polizei gerufen. Aber die Beamten waren immer freundlich. Ich kann mich an viele Male erinnern, dass sie kamen, und meine Mutter servierte ihnen Baklava oder andere Süßigkeiten. Die saßen ein wenig bei uns und gingen dann wieder.
Hatun Ate¸s: Ganz anders als die Nach-
barin von unten war die Rentnerin, die neben uns wohnte. Wir hatten im Grunde eine Wohnung, die geteilt war. Sie lebte auch in einer Einzimmerwohnung, und wenn sie in ihre Räume wollte, musste sie durch unseren Flur gehen. Ich bete für diese Frau. Allah sei Dank, sie war eine herzensgute Person und hat uns viel geholfen. Mit mir ist sie zum Arzt gegangen, mit Seyran hat sie geübt, ihren Namen und ihre Adresse sagen zu können. Seyran Ate¸s: Damit ich nicht verlorengehe, hat sie mir den Satz beigebracht: „Ich heiße Seyran Ate¸s und wohne Liebenwalder Straße 22, Vorderhaus, 2. Stock.“ Sie hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben, und eigentlich habe ich dieser Nachbarin auch meine Karriere zu verdanken. SPIEGEL: Inwiefern? Seyran Ate¸s: Sie hat meine Geschwister und mich an die Hand genommen und in einer Schule angemeldet, in die ansonsten nur deutsche Kinder gingen. Alle anderen türkischen Kinder in der Nachbarschaft wurden fünf Straßen weiter in eine Schule geschickt, in der nur türkische Kinder waren. Unsere Nachbarin hat die Schule für uns ausgesucht, meine Eltern hatten doch null Ahnung. So haben wir Ate¸s-Kinder ganz schnell fließend Deutsch gelernt … SPIEGEL: … und konnten für die Eltern übersetzen. Seyran Ate¸s: Vor allem ich musste übersetzen. Für die ganze Sippe, wir hatten ja auch noch Onkel und Tanten in Berlin. Mit zwölf Jahren machte ich meinen ersten Lohnsteuerjahresausgleich.
Die fünf Ate¸s-Kinder mit ihrem Vater und einer Tante. Links mit Puppe: Seyran. Das Foto wurde 1968 für die Mutter in Berlin gemacht.
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Mehmet Ate¸s: Ich habe ihr das Formular hingelegt und gesagt, Kind, du bist so klug, du kannst gut Deutsch. Übersetz mir, was da steht, und ich sag dir, was du da reinschreiben musst. SPIEGEL: Und das hat geklappt? Seyran Ate¸s: Meine Eltern haben sogar Geld zurückbekommen. Also haben sie gemerkt, die kann das, und von da an war ich verloren. Fortan musste ich für alle immer den Lohnsteuerjahresausgleich machen. Mehmet Ate¸s: Ich habe nie wirklich Deutsch gelernt. Auch auf der Arbeit habe ich fast nur Türkisch geredet, all die Jahre lang. Hatun Ate¸s: Die meisten Arbeiter bei uns waren Türken, deutsche Arbeiter gab es kaum. Aber die Vorarbeiter, das waren Deutsche. Die waren sehr nett, die kamen zu uns und haben uns auch mit Handschlag begrüßt. Manche der türkischen Frauen haben dann ihre Hände hinter dem Rücken versteckt und den Kopf geschüttelt, weil sie es für unschicklich hielten, einem fremden Mann die Hand zu geben. Wir waren nicht so, ich habe immer die Hand gegeben. SPIEGEL: Trugen die Frauen Kopftücher? Hatun Ate¸s: Als ich bei Siemens anfing, trug ich ein Kopftuch – als Einzige. Da habe ich das Tuch abgenommen und nie wieder umgebunden. SPIEGEL: Sie sind beide gläubige Muslime. Sind Sie in Berlin auch in die Moschee gegangen? Mehmet Ate¸s: Am Freitag soll man zur Moschee gehen. So bin ich gegangen, manchmal. Ich hatte doch wenig Zeit. Meine Frau und ich haben uns ja mit dem Schichtdienst abgewechselt, damit einer von uns immer bei den Kindern sein konnte. Hatun Ate¸s: Außerdem gab es Schwierigkeiten. Über eine Moschee, in der die Kinder unterrichtet werden sollten, haben uns andere Eltern erzählt, dort würden Drogen verkauft. Meine Söhne wollten ohnehin nicht mehr hingehen, nachdem der Religionslehrer sie geschlagen hatte. SPIEGEL: Haben Sie während der Ramadan-Zeit gefastet? Hatun Ate¸s: Ja, das haben wir immer eingehalten. SPIEGEL: Mit Ihren wenigen deutschen Kollegen, gab es da auch irgendeinen privaten Kontakt? Das Gespräch führten die Redakteure Karen Andresen und Henryk M. Broder.
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Hatun Ate¸s: Ich hatte eine Vorarbeiterin, die mich sehr mochte. Margot hieß sie. Ich habe sie zu uns nach Hause eingeladen. Dreimal ist sie gekommen, und am nächsten Tag hat sie erzählt, was es alles bei Ate¸s zu essen gab. SPIEGEL: Hat Margot Sie auch eingeladen? Hatun Ate¸s: Einmal, aber nicht zum Essen. Meine Mutter war gestorben, und wir hatten kein Telefon zu Hause. Da durfte ich aus ihrer Wohnung in der Türkei anrufen. Seyran Ate¸s: Und dann war da noch Bernd, der war ganz oft bei uns und hat sogar die Familie in der Türkei besucht.
STICHWORT
„Gastarbeiter“ Die Bundesrepublik begann 1955, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben. Italien machte den Anfang, es folgten sieben weitere Länder, darunter 1961 die Türkei. Wie wichtig die Arbeitsimmigranten in der Wirtschaftswunder-Zeit waren, zeigten Arbeitgebervertreter 1964: In Köln beschenkten sie den millionsten „Gastarbeiter“, den Portugiesen Armando Rodrigues de Sá, feierlich mit einem Moped. Als Bonn 1973 einen Anwerbestopp erließ, waren rund 2,6 Millionen auslän2 dische Arbeiter angeworben wor1 den, darunter mehr als Angabe in Millionen, Quelle: 600 000 Bundesanstalt für Arbeit Türken. 1955
1960
1970 1973
Hatun Ate¸s: Er war in der Fabrik unser
Maschinenmeister. Ein junger Mann von vielleicht 18 Jahren. Wir haben ihn geliebt, er war wie ein Sohn für mich. Seyran Ate¸s: Das war eine ganz besondere Konstellation. Bernd war so ein 68er. Ein Hippie. Und Bernd kiffte. Ich seh ihn noch vor mir, wie er bei uns zu Hause saß, seinen Joint drehte und rauchte. SPIEGEL: Wie haben Ihre Eltern reagiert? Hatun Ate¸s (lacht): Ich habe ihm Tee serviert. Ich wusste doch nicht, dass er keine normalen Zigaretten rauchte. Mir ist zwar aufgefallen, dass seine Selbstge-
drehten immer so dick waren, aber wir haben überhaupt nicht daran gedacht, dass das Drogen sein könnten. SPIEGEL: Gab es auch Menschen, die Sie schlecht behandelt haben? Hatun Ate¸s: Bei der Arbeit nicht. Wir waren beide sehr beliebt, alle mochten uns. Aber wenn wir rauskamen aus der Fabrik, stand manchmal an der Bushaltestelle „Türken raus“. Das fing schon in den Siebzigern an. SPIEGEL: Und auf den Ämtern? Hatun Ate¸s: Manchmal haben sie uns unfreundlich zurechtgewiesen, aber ich muss sagen, dass die Beamten in der Türkei einen schlimmer behandeln als hier in Deutschland. SPIEGEL: Nach 20 Jahren in Deutschland sind Sie, Herr und Frau Ate¸s, 1988 in die Türkei zurückgekehrt. Hatun Ate¸s: Die Firma wollte Personal abbauen und hat uns eine Abfindung angeboten. Die haben wir angenommen. Wir haben uns in der Nähe von Istanbul ein Haus mit Garten gekauft. Es ist groß genug, dass die Kinder uns immer besuchen können. Mehmet Ate¸s: Meine Frau war hier viel krank; nachdem wir zurückgegangen sind, war sie zehn Jahre lang ganz gesund. Hatun Ate¸s: Nicht einmal Kopfschmerzen hatte ich. Wir haben die Türkei immer vermisst. Seyran Ate¸s: Solange ich denken kann, wurden bei uns Sachen für die Rückkehr gesammelt. Meine Mutter kaufte ein – Töpfe, Teller, Handtücher, Gardinen – und sagte, das benutze ich in der Türkei. Erst lagerte einiges unten im Kleiderschrank und obenauf, später, als wir nicht mehr so beengt lebten, stapelten sich Kartons über Kartons in der Wohnung. Hatun Ate¸s: In unserem Haus bin ich jetzt immer noch am Auspacken. SPIEGEL: Von den drei Söhnen und zwei Töchtern ist niemand mit zurück in die Türkei gegangen? Seyran Ate¸s: Alle leben hier, fünf Kinder und 13 Enkel. Zwei meiner Brüder sind Handwerker und haben einen eigenen Betrieb. Mein ältester Bruder hat eine Ausbildung als Erzieher, meine Schwester ist gelernte Friseurin. Mehmet Ate¸s: Als wir uns entschieden haben, in die Türkei zurückzukehren, hat unsere jüngste Tochter gesagt, sie würde mitgehen. Aber ich habe ihr abgeraten. Sie ist seit ihrer Kindheit in Deutschland, sie würde sich nicht eingewöhnen in der Türkei. SPIEGEL: Frau Ate¸s, Herr Ate¸s, Seyran, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Demonstration zum Internationalen Frauentag in Hamburg 1980
Bis in die sechziger Jahre galt in der Bundesrepublik die Hausfrau als ideale Ehepartnerin. Die DDR förderte die Berufstätigkeit der Frauen dagegen schon früh, die ungleichen Rollenmuster aber verschwanden auch dort nicht.
„Er sitzt und kommandiert“
I
m Grundgesetz von 1949 heißt es lapidar: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Der Satz klingt heute selbstverständlich; damals war er heiß umkämpft. Dass er Eingang in die Verfassung fand, war der SPD zu verdanken – und dem öffentlichen Druck von Frauen aus allen Parteien und Organisationen. Noch im Dezember 1948 hatte der Hauptausschuss des Parlamentarischen
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Rats mit elf zu neun Stimmen gegen den Antrag der SPD gestimmt. Zwar war niemand gegen Gleichberechtigung, die bereits 1919 in der Weimarer Reichsverfassung verankert worden war. Nur zu weit gehen sollte sie nicht. Deshalb plädierte die Mehrheit dafür, die Einschränkungen von Weimar beizubehalten. In der damaligen Verfassung hatte es geheißen: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbür-
gerlichen Rechte und Pflichten“ – ein Tribut an den jahrzehntelangen Kampf um das Frauenwahlrecht. Mehr Rechte wollten Konservative den Frauen auch 1948 nicht einräumen. Eine Gleichberechtigung „auf allen Gebieten“, wie sie die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert forderte, stieß auf Widerstand. Warum? Nach 60 Jahren fällt es heute schwer, die scharfen Auseinanderset-
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KEYSTONE
Von UTE FREVERT
HARALD LANGE
Arbeiterin im VEB Motorradwerk in Zschopau, Sachsen, 1961
Andererseits hatte Weimar gezeigt, zungen von damals nachzuvollziehen. Gleichberechtigung ist heute so normal, dass männliche Ängste vor weiblicher dass wir die Konflikte von 1948 kaum Mitregierung weit übertrieben waren. noch begreifen können. Aber es lohnt, Dass die erste deutsche Republik zusie noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. grunde ging, lag nicht an den Frauen. Schon dass die „staatsbürgerliche“ Sie wählten häufiger als Männer gemäGleichberechtigung von Frauen und ßigte Parteien und gaben ihre Stimme Männern 1948 nicht mehr zur Debatte mehrheitlich männlichen Kandidaten. stand, war gar nicht so selbstverständ- Sie störten oder veränderten das politilich. Dreißig, vierzig Jahre zuvor hatte es sche Geschäft nicht. Deshalb hatten selbst Konservative 1948 darum noch erbitterte Wortnichts mehr dagegen, die gefechte gegeben. KonservaUTE Formulierung aus der Weitive und Liberale wähnten FREVERT marer Verfassung ins Grundden Staat in Gefahr, wenn Frauen darin mitbestimmen Die Professorin für gesetz zu übernehmen. Aber was hatte Elisabeth dürften. Und als die Natio- Neuere GeschichSelbert im Sinn, als sie sagnalsozialisten 1933 began- te, Jahrgang 1954, te, „dass man heute weiternen, Frauen aus sämtlichen ist Wissenschaftgehen muss als in Weimar“? politischen Ämtern zu ent- liches Mitglied Es ging im Wesentlichen um fernen, war ihnen der Bei- der Max-Planckzweierlei: um Familie und fall der rechten Mitte ge- Gesellschaft und um Arbeit. wiss. „Dem Manne der Staat, Direktorin des „Gleicher Lohn für gleider Frau die Familie“ – die- Max-Planck-Instiche Arbeit“, das war seit den ser Schlachtruf des 19. Jahr- tuts für Bildungszwanziger Jahren eine ebenhunderts wirkte auch im forschung in Berlin. so dringende wie unerfüllte 20. Jahrhundert nach. SPIEGEL GESCHICHTE
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Forderung von Gewerkschafterinnen. Nach wie vor enthielten Tarifverträge spezielle Frauenlohngruppen und Frauenabschlagsklauseln. Begründet wurde das wechselweise mit geringeren Qualifikationen, mit niedrigerer Leistungsfähigkeit oder bescheideneren Bedürfnissen. Selbst dort, wo Frauen tatsächlich die gleiche Arbeit leisteten wie Männer, wurden sie anders eingestuft und bekamen weniger Geld. Solche mehr oder weniger subtilen Formen der Lohndiskriminierung konnten zwar nur mit Einverständnis der Tarifparteien beseitigt werden, aber dieser Konsens war selbst bei den Gewerkschaften schwer zu beschaffen. Da bot ein in der Verfassung verankertes allgemeines Gleichberechtigungsgebot immerhin eine rechtliche Handhabe, sich gegen ungleiche Entlohnung zu wehren. Deshalb setzten sich gerade Frauen, die gewerkschaftlich organisiert waren, dafür ein. Sie überschütteten den Parlamentarischen Rat mit Petitionen und Briefen, wandten sich an die Presse –
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WIRTSCHAFT
und hatten schließlich Erfolg. DDR-Frauen 1971 in Zinnwald im Erzgebirge Im Januar 1949 stimmte der Hauptausschuss dem Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ohne Gegenstimme zu. Zur Debatte standen aber auch Fragen der Familie. Hier waren die Widerstände ausgeprägter – und, wie die Jahre nach 1949 zeigten, äußerst zählebig. Gleichberechtigung hieß, das Familienrecht gründlich umzukrempeln, denn gerade hierin waren gravierende Ungleichheiten verpackt. So unterstellte das Bürgerliche Gesetzbuch das Vermögen der Frau „der Verwaltung und Nutznießung“ des Ehemanns; der Mann konnte seiner Frau verbieten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, er entschied auch in strittigen Erzie- Nation, bestätigte 1953, dass die Frauen hungsfragen sowie „in allen das ge- „selbständiger“ geworden und „für die meinschaftliche eheliche Leben betref- alte Form der Patriarchen-Ehe“ nicht fenden Angelegenheiten“. mehr zu haben seien. Dummerweise wollten das viele Männer nicht wahrSolche Privilegien waren mit dem haben, weshalb Hollander eine „Krise Prinzip gleicher Rechte nicht vereinbar, der Ehe“ diagnostizierte und auf steiund sie passten auch nicht mehr in die gende Scheidungsziffern verwies. Zwar Zeit. Im Krieg hatten Frauen alle wich- waren die Zahlen aus heutiger Sicht tigen Entscheidungen selber treffen und lächerlich niedrig (auf 100 Eheschliedas Überleben der Familie sichern müs- ßungen kamen Anfang der sechziger sen. Selbst wenn sie diese „Ermächti- Jahre 10 Scheidungen, heute sind es gung“ nicht herbeigewünscht hatten, etwa 50), aber der Trend war unübergewöhnten sie sich doch rasch daran – sehbar. und reagierten allergisch, wenn ihre Männer nach Kriegsende alte Vorrechte wieder einklagten. Enttäuscht schrieb eine Leserin 1948 an die Frauenzeitschrift „Constanze“: „Nach fast fünf Jahren ist mein Mann aus Aus der Rückschau mag es deshalb der Gefangenschaft zurückgekommen. Die ersten drei, vier Wochen waren wir verwundern, dass noch in den fünfziger sehr glücklich. Aber nun gibt es einen Jahren ein wahrer Kulturkampf um die Streit nach dem anderen. Grund: Er kom- anstehende Reform des Familienrechts mandiert herum und ist mit allem unzu- ausbrach. Von „Gleichmacherei“ war die frieden. Ich hätte mich so verändert, sagt Rede und vom Angriff auf die „natürer, und ich wäre gar keine richtige Frau liche Ordnung“. Nur gegen große Wimehr. Als wir heirateten, war ich 23. Jetzt derstände konnte das Leitbild der partbin ich 31. Von den acht Jahren war ich nerschaftlichen Ehe rechtlich verankert sechs Jahre allein und musste zusehen, werden – ohne allerdings die Norm wie ich durchkam. Jetzt müsste er mir der „Hausfrauenehe“ zu gefährden. Erst doch eigentlich eine Hilfe sein. Aber er die Rechtsreformen der späten sechverlangt, dass ich den ganzen Haushalt ziger und der siebziger Jahre verab(wir haben zwei niedliche Kinder) be- schiedeten sich von dem traditionellen sorgen soll, und er sitzt in der Ecke, liest Frauenbild. Wie zäh um solche Veränderungen Zeitung, schimpft und kommandiert.“ Auch Walther von Hollander, in den gekämpft werden musste, wie langsam fünfziger Jahren der Eheberater der und mühevoll sich der Grundsatz glei-
cher Rechte in der Bundesrepublik durchsetzte, zeigt sich besonders krass im Blick auf die DDR. Hier wurde über die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht lange debattiert. Sozialistische Parteien hatten seit dem späten 19. Jahrhundert gleiche Rechte für Mann und Frau gefordert. Da war es für den „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ selbstverständlich, ihnen Verfassungsrang einzuräumen. Bereits 1949 wurden „alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen“, aufgehoben. Die revidierte Verfassung von 1968 machte die „Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung“, zu einer „gesellschaftlichen und staatlichen Aufgabe“. Dahinter verbarg sich nicht nur das klassische sozialistische Dogma, wonach Frauen nur dann wirklich emanzipiert seien, wenn sie Erwerbsarbeit leisteten. Darin spiegelte sich zudem die wirtschaftliche Notlage der DDR, ihr dramatischer Mangel an Arbeitskräften. Um die ehrgeizigen Produktionsziele zu erreichen und die bis zum Mauerbau 1961 anhaltenden Verluste durch „Republikflucht“ auszugleichen, war die DDR existentiell darauf angewiesen,
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Frauen in die Betriebe zu holen. Schon 1950 wurde gesetzlich festgelegt, dass „unabhängig von Geschlecht und Alter für gleiche Arbeit gleicher Lohn zu zahlen“ sei. Als das Reservoir junger und kinderloser Frauen ausgeschöpft war, bemühte die DDR sich, auch Müttern die Erwerbsarbeit schmackhaft zu machen – mit einem bezahlten „Haushaltstag“ pro Monat und mehr Krippen und Kindergärten. Die weibliche Erwerbsquote stieg denn auch rasch an: von 52 Prozent im Jahr 1950 auf 81 Prozent 1970. Als die DDR 1989 zusammenbrach, waren 90 von 100 Frauen zwischen 15 und 65 Jahren erwerbstätig – in der Bundesrepublik nur 56.
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KURT KLINGNER
Auf 100 Eheschließungen kamen nur 10 Scheidungen.
OTFRIED SCHMIDT / ULLSTEIN BILD
Trotz hoher ErwerbsquoOben-ohnete und rasch umgesetzter Party 1970 Gleichberechtigung war die in München DDR beileibe kein Frauenparadies, auch wenn hier manches einfacher war: Das Recht auf Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung beispielsweise erlangten DDR-Bürgerinnen eher als ihre bundesrepublikanischen Schwestern. Und die Modernisierung des Schul- und Hochschulwesens, im Osten viel zielstrebiger in Angriff genommen als im Westen, sicherte Mädchen gleiche Bildungschancen, die sie beherzt ergriffen. Schon bald sprach man von einer „Feminisierung“ der Lehrerund Arztberufe. Aber Frauen gingen auch in bislang klassische Männerberufe, wurden Ingenieure oder Kranführer. Gerade wenn es um die Versorgung Andererseits blieb die Politik so männerlastig wie eh und je, und im Privatle- kleiner Kinder geht, ist die „natürliche ben machte die Gleichberechtigung Arbeitsteilung“ weiterhin intakt. Allerebenfalls wenig Fortschritte. Die „natür- dings entscheiden sich immer mehr liche Arbeitsteilung“, die Konservative Frauen dafür, entweder ganz auf Kinder im Westen so beharrlich verteidigten, zu verzichten oder nur ein Kind zur gab es auch in DDR-Familien. Dass Welt zu bringen. Ein Grund ist die ErMänner bei der Haushalts- und Erzie- fahrung, dass es Frauen schwer haben, hungsarbeit mitmachten, kam hier wie Familie und Beruf zu „vereinbaren“. Krippen- und Kindergartenplätze stedort nur selten vor. Im Unterschied zu den klassischen hen vielerorts nicht ausreichend zur Hausfrauen der Bundesrepublik aber Verfügung und bieten in der Regel keine konnten es sich die erwerbstätigen ganztägige Betreuung. Hier wirkt bis DDR-Frauen finanziell eher leisten, ih- heute die konservativ-kirchliche Trarer Unzufriedenheit Ausdruck zu ver- dition der bundesrepublikanischen Faleihen und die Scheidung einzureichen. milienpolitik nach, die Kinder am besten Auch deswegen lag die Scheidungshäu- bei Muttern aufgehoben sah. Zwar wandelt sich diese Meinung unter dem Einfigkeit in der DDR konstant höher. druck prekärer Familienverhältnisse In der Bundesrepublik galt die und gravierender Schulprobleme – nicht Frauenpolitik der DDR vielen als Bei- nur im Migrantenmilieu! – inzwischen, spiel einer „Zwangsemanzipation“. Frau- dennoch sind die alten Strukturen ofen müssten, hieß es hier, wählen kön- fenbar nur schwer aufzubrechen. Was sich ebenfalls nur langsam und nen, ob und wann sie erwerbstätig sein oder sich ganz der Familie widmen woll- unwillig ändert, ist die Benachteiligung ten. Bis heute allerdings wird eine sol- von Frauen am Arbeitsplatz. Obwohl che Wahlfreiheit nur für Frauen rekla- immer mehr Frauen erwerbstätig sind, miert – Männern ist es nach wie vor bleiben ihre Aufstiegschancen begrenzt. selbstverständlich, sich ganz auf ihren Die besten – und bestbezahlten – PosiBrotberuf zu konzentrieren. Als 1986 tionen sind nach wie vor in Männerin der Bundesrepublik erstmals ein Er- hand, in den Chefetagen der Banken und ziehungsgeld für Eltern eingeführt wur- Unternehmen ebenso wie in der Wissende und das Familienministerium jun- schaft und öffentlichen Verwaltung. Dabei sind Frauen bildungsmäßig in ge Väter ausdrücklich ermutigte, ein paar Monate zu Hause zu bleiben, war vielen Bereichen bereits an Männern die Resonanz verschwindend gering. vorbeigezogen. Sie legen häufiger als Rund 98 Prozent der Anträge kamen von Männer das Abitur ab und haben meist die besseren Noten. Noch vor 50 JahFrauen.
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ren sah das ganz anders aus. Damals waren Mädchen in Gymnasien krass in der Minderzahl, und an den Universitäten stellten sie weniger als ein Viertel aller Studierenden. Den Umschwung brachten hier vor allem die siebziger Jahre. Die Zeichen standen auf Reform, im Recht ebenso wie im Bildungswesen und in der Familie. Daran hatte die westdeutsche Frauenbewegung keinen geringen Anteil. Der neue Feminismus, der besonders junge, gutausgebildete Frauen anzog, verschreckte zwar mit seinen provokanten Aktionen und frechen Sprüchen so manchen Macho. Aber er zeugte von einem neuen Selbstbewusstsein vieler Frauen, die keine Scheu mehr hatten, auch das sogenannte Private öffentlich und damit politisch zu machen: Gewalt (auch in der Ehe), Sexualität, Pornografie, Abtreibung.
Eigene Zeitschriften entstanden, wie Alice Schwarzers „Emma“, die 2007 ihren 30. Geburtstag feierte. Auch andere Medien widmeten sich dem Thema. Selbst wenn die aktive Basis der Frauenbewegung eher schmal war, ihre Forderungen und Parolen vermochten ein großes Publikum zu interessieren und zu mobilisieren. Schließlich war selbst die Politik gezwungen, sich mit den Anliegen der Frauen zu beschäftigten. Fast alle Parteien führten, oft gegen erbitterten Widerstand, Frauenquoten ein – allen voran die Grünen, die für viele Feministinnen der ersten und zweiten Stunde zur politischen Heimat wurden. Die erste Bundeskanzlerin aber, 2005 gewählt, kommt aus der CDU – und aus dem Osten. Darin spiegelt sich zum einen die Selbstverständlichkeit, mit der gerade Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind, Gleichberechtigung leben. Zum anderen zeigt es den langen Weg, den die Bundesrepublik zurückgelegt hat. Debatten wie 1948/49 im Parlamentarischen Rat wären heute undenkbar. Zugleich lässt sich nicht übersehen, dass Frauen auf diesem Weg weiter und schneller gegangen sind als Männer. Und dass sie noch einen langen Weg vor sich haben.
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Willy Brandt 1970 in Warschau
KAPITEL V
AUSSENANSICHTEN
Das Bonner
PROJEKT Verlässlichkeit statt Sonderwege, Westbindung statt Revanchismus: Der erste Bundeskanzler legte die Bahnen fest, in denen sich Deutschland seither in der Welt bewegt.
SVEN SIMON
Von GERHARD SPÖRL
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A
m 21. September 1949 fuhr Konrad Adenauer auf den Petersberg, um den drei Hohen Kommissaren seine Aufwartung zu machen. Seit wenigen Tagen war er Bundeskanzler der kleinen westlichen Republik, aber was hieß das schon? Die wahre Handlungsmacht und Regierungsgewalt lag bei den drei Siegermächten. Sie diktierten den Westdeutschen, was die durften und mussten, was ja auch kein Wunder war, nur vier Jahre nach Hitler, Krieg und Kapitulation. Weder im Westen noch im Osten besaß die Bundesrepublik feste Grenzen. Eigentlich war sie nicht mehr als ein ungefügtes Gebilde ohne Souveränität. So stand es in dem Besatzungsstatut, einem Regelwerk der Alliierten für die
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Westdeutschen, das Adenauer an diesem Tag in Empfang nehmen sollte. Die drei Kommissare wollten es feierlich überreichen, mit ein bisschen Pomp, dem Ereignis angemessen, aber es kam etwas dazwischen. Den Amerikaner John McCloy hielten Dienstgeschäfte davon ab, pünktlich zu sein. Der Staatsakt ließ auf sich warten. Und auf diese Weise entspann sich eine Episode, die charakteristisch war für das Verhalten Adenauers gegenüber den Siegermächten, für seinen Willen zur Selbstbehauptung unter widrigen Umständen, für sein Talent, kaum vorhandenen Spielraum zu erweitern. Adenauer weigerte sich, den Petersberg, ein ehemaliges Hotel, das später zum Gästehaus der Bundesregierung wurde, zu betreten und irgendwo zu warten, bis er vorgelassen würde. Sein
Biograf Henning Köhler beschreibt die innere Verfassung des Bundeskanzlers an diesem Septembertag so: Mit Pomp das Besatzungsstatut zu empfangen, „das war ihm bei seinem ausgeprägten Sinn für Würde und seiner Abneigung gegen Diskriminierungen zuwider. Er wollte kein Dokument feierlich entgegennehmen, das nichts anderes beinhaltete als die eigene Inferiorität“. Adenauer und seine kleine Delegation blieben draußen vor dem Petersberg unter dem Portikus stehen. Es regnete, es war unschön, Adenauer schien sich verrannt zu haben. Aber dann kam McCloy heraus und löste die Spannung mit einem Satz auf: „Ich kann mir vorstellen, was Sie denken, Herr Bundeskanzler – ich wollte sagen, Sie denken jetzt sicher an Canossa.“
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ROHWEDDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Konrad Adenauer empfängt den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle 1962 im Kölner Rathaus.
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Sie gingen hinein. Das alliierte Protokoll sah vor, dass die drei Kommissare auf einem Teppich stehen sollten, und Adenauer sollte davorstehen. Natürlich war das ein Symbol des Gefälles zwischen den westlichen Siegermächten und den Deutschen. Aber wieder spielte Adenauer nicht mit, kühlen Blutes beging er einen Regelverstoß, missachtete das Protokoll und stellte sich vor John McCloy, André François-Poncet und Brian Robertson auf den Teppich. Auf Augenhöhe. Symbolisch. Und nahm das Besatzungsstatut entgegen. Konrad Adenauer konnte sich manches herausnehmen, weil er nicht der typische Deutsche war. Im Spätsommer 1949 war er 73 Jahre alt, seine prägenden Jahre lagen weit zurück, vor dem Ersten Weltkrieg. Er war kein Nazi gewesen, kein Antisemit und auch kein Revisionist, denn Rückkehr zur Vergangenheit und zu verblichener Größe lagen ihm fern. Er war ein trickreicher Realist, er wollte der Republik Geltung verschaffen, in Europa und der Welt. Und er wollte beweisen, dass von diesen Westdeutschen nach 1945 keine Gefahr mehr ausgehen würde: keine Ressentiments, kein Revanchismus, kein Militarismus wie nach 1918.
Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit, „weil Absichten und Möglichkeiten identisch waren“, schrieb Rudolf Augstein über den Bundeskanzler. Was den Alliierten vorschwebte, machte sich Adenauer zu eigen. Deutschland, der Urheber des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, sollte in internationalen Organisationen gezähmt werden. Der Kanzler forcierte die Westbindung, um Souveränität für sein geschrumpftes Land zu gewinnen. Adenauer war Rheinländer, ein Antipreuße, nie ein Freund der Hauptstadt Berlin, über die er nach 1945 gesagt haben soll, sie habe ihren Charakter verloren. Er setzte Prioritäten, und die Wiedervereinigung gehörte nicht dazu. 60 Jahre sind seither vergangen. 60 Jahre sind in der Geschichte eine enorm lange Periode. Knapp 60 Jahre und Welten liegen zwischen Napoleon und der Bismarckschen Reichsgründung 1871. Etwas mehr als 60 Jahre und Welten liegen zwischen der Reichsgründung und Hitlers „Machtergreifung“ 1933.
Adenauer aber ist etwas ziemlich Einmaliges geglückt, er hat die Fundamente der Republik gelegt, die heute noch unverändert stehen. Die Welt hat sich ungemein gewandelt, aber die Bindungen und Bedingungen, unter denen deutsche Kanzler und Außenminister bis heute operieren, sind gleich geblieben: Europäische Gemeinschaft und Nato, besondere Beziehungen zu Frankreich und den USA, besondere Beziehungen auch zu Israel, Verständigung mit Russland. Darauf bauten seine Nachfolger auf. Und so kam das ruhelose Deutschland endlich zur Ruhe. Keine Sonderwege mehr, sondern ungemein viel Kontinuität. Im Rückblick erscheinen diese 60 Jahre wie eine lange, lineare Erfolgsgeschichte. Aus Feinden werden Freunde. Aus Nazis werden Demokraten. Aus dem Objekt der Siegermächte wird ein souveräner Staat. Vor allem aus heutiger Perspektive, angesichts der globalen Kapitalismuskrise, in der dieses Modell gefährdet zu sein scheint, wirken die vergangenen 60 Jahre wie eine Anhäufung von kleinen Wundern. Aber nichts ergab sich wie von selbst. Wenig ging glatt. Oft genug halfen die Zeitläufte, die weltpolitischen Veränderungen, die Adenauer zu seinem Vorteil zu nutzen verstand. Die Republik war, nach innen und außen, sein Projekt, das lange im Werden war, oft auch gefährdet, denn Berlin war die gefährlichste Stadt der Welt, in der sich ein Konflikt entzünden konnte, weil sich hier die atomar bewaffneten Weltmächte Amerika und die Sowjetunion gegenüberstanden. In das kollektive Gedächtnis der Deutschen ist Adenauer vor allem als ein Kanzler mit schlichten Ansichten über den Kommunismus eingegangen, der Leute wie Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, ins Kanzleramt holte und für den Mief der fünfziger Jahre verantwortlich war. Alles richtig. Wichtiger aber in den Gründerjahren der Republik war der andere Adenauer, der unruhige Geist, der Drängler, der danach strebte, den Status quo zu verändern, damit die Westrepublik keine „Macht zweiten Ranges“ bleiben musste. Der Außenpolitiker, der
Frieden stiftete mit den Feinden von gestern, vor allem mit Frankreich. Bis zur feierlich-staatstragenden Versöhnung in der Kathedrale von Reims im Juli 1962 war es allerdings ein weiter Weg. Noch kurz vor Gründung der Bundesrepublik hielt Robert Schuman eine Rede, in der er von seinem Wunsch nach „mehreren Deutschlands“ sprach, die sich „in autonomen Staaten organisieren“ sollten, ein Flickenteppich wie in früheren Jahrhunderten. Einen anderen Konfliktherd bildete das Saargebiet, an dessen Gruben und Eisenbahnen Frankreich, wie nach dem Ersten Weltkrieg, Interesse hegte. Wieder war die Saar so gut wie annektiert, der Franc war die Währung. Die Bundesrepublik akzeptierte die Abtrennung unter dem Vorbehalt, dass ein Friedensvertrag die Westgrenze festlegen sollte, genauso wie die im Osten. Mehr ging erst einmal nicht, damals. In die Geschichtsbücher ist Robert Schuman eingegangen als der Mann, der den Nachkriegsdeutschen als Erster die Hand reichte. In Wahrheit war Adenauer die treibende Kraft, während Schuman zunächst zögerte. Am 21. März 1950 gab der Kanzler ein Interview, in dem er den überraschenden Vorschlag unterbreitete, Deutschland und Frankreich sollten eine Union bilden, zuerst ein Wirtschaftsparlament, nach dem Vorbild des deutschen Zollvereins im 19. Jahrhundert, und daraus sollte sich alles andere entwickeln. Es war der Versuch, aus der Isolation auszubrechen, und Schuman hielt, wie erwartet, nicht viel davon. Aber ein anderer Franzose, der später die Versöhnung mit Deutschland vollenden sollte, erwies Adenauer seine Reverenz, indem er ihn einen „guten Deutschen“ nannte: Charles de Gaulle, der damals ohne Amt war, aber als Kriegsheld eine überlebensgroße Autorität in seinem Land. Das half.
Bald darauf platzte die „kleine Atombombe“, wie John McCloy den französischen Vorschlag nannte, der als Schuman-Plan in die Geschichte einging. Am 23. Juli 1952 trat die Montanunion in Kraft, ein europäischer Wirtschaftsverbund, dem außer der Bundesrepublik und Frankreich Belgien, Italien,
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die Niederlande und Luxemburg angehörten. Alle sechs Länder schufen einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl, für den der Zoll entfiel. „Zum ersten Mal nach der Katastrophe von 1945“, so schrieb Adenauer an Schuman, würden „Deutschland und Frankreich gleichberechtigt an einer gemeinsamen Aufgabe wirken“. Die Montanunion war das Kerngehäuse der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die fünf Jahre später gegründet wurde und sich bis hin zur Europäischen Union weiterentwickelte. Ein Anfang. Den Nordatlantischen Pakt, für den sich bald das Kürzel Nato durchsetzte, gab es schon seit April 1949. Die Pariser Zeitung „Le Monde“ schrieb bei der Gründung ziemlich hellsichtig, „dass die deutsche Wiederaufrüstung im Atlantikpakt enthalten sei wie der Keim im
terview, in dem er über Wiederbewaffnung räsonierte. Es war einer seiner typischen Alleingänge, vorbei am Kabinett, vorbei am Parlament; demokratische Prozesse verlaufen anders. Die Alliierten erwärmten sich erst für diese Idee, als der Korea-Krieg im Sommer 1950 ausbrach. Die kleine Republik wollte beides, sie wollte Anerkennung in der Welt finden, und sie verlangte größtmögliche Sicherheit. Das war damals so, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Im Frühjahr 1952 waren die Dinge noch im Fluss, als bei den Westmächten zwei diplomatische Noten eingingen, Sendschreiben von Stalin. Der sowjetische Diktator, der den anderen deutschen Teilstaat seinem Imperium einverleibt hatte, machte den Vorschlag, es sollte eine gesamtdeutsche Regierung gebildet werden, mit der dann ein Friedensver-
Johannes Rau. Der junge Erhard Eppler war auch dabei, er schrieb über Stalin und sein Angebot: „War es nicht möglich, ja sogar einleuchtend, dass er ein neutrales, freiheitlich-demokratisches Deutschland hinzunehmen bereit war, wenn sich nur nicht die Nato, von deutschen Divisionen unterstützt, an der Elbe etablierte?“ Die Patrioten aus protestantischem Geist suchten den dritten Weg für ihr Land. Für sie hatte die Wiedervereinigung Vorrang vor der Westbindung, und wenn sie nur mit Neutralität zu bekommen war, dann sollte es eben so sein, ein neutrales Land zwischen Ost und West. Ein Jahr später war es vorbei, mit dem dritten Weg, mit der GVP. Erst starb Stalin, dann brach der Aufstand in der DDR aus und wurde niedergewalzt. Die große Debatte der Westdeutschen, was Vorrang haben
US-Panzer am Berliner Checkpoint Charlie im August 1961
trag geschlossen werden könne. Die Besatzungstruppen sollten binnen Jahresfrist abziehen, Deutschland dürfte eine eigene Streitmacht besitzen, aber keinem militärischen Bündnis angehören.
sollte, Westbindung oder Wiedervereinigung, die Sicherheit unter Obhut der Alliierten oder das Risiko des dritten Wegs, war damit geklärt. Der Kanzler bekam bei der Bundestagswahl 1953 großen Zulauf. Jetzt hatte er seine Mehrheit. Am 6. Mai 1955, zehn Jahre nach dem Krieg, den Deutschland über die Welt gebracht hatte, trat die kleine Republik in die Nato ein. Die Einbindung in den Westen war weit gediehen. Vieles war anders gekommen, als es die Alliierten im Sinn hatten. Vieles war anders gekommen, als es die Deutschen befürchten mussten, als Hitler tot war und das Land in Ruinen lag. Adenauers Werk war eigentlich vollendet, das Projekt gewann Konturen, es bewegte sich in den richtigen Bahnen. Jetzt endete auch das Besatzungsstatut,
Ei“. Die Regierung Adenauer verpflichtete sich allerdings im selben Jahr, „die Neubildung irgendwelcher Streitkräfte“ mit „allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln“ zu verhindern. Das entsprach der Stimmung der Deutschen, sie waren antimilitaristisch. Sie wollten arbeiten, ihren Kindern zu essen geben, Möbel anschaffen, in absehbarer Zeit ein Auto kaufen und irgendwann mal in Urlaub fahren, nach Italien. Sie wollten in Ruhe gelassen werden, sie hatten genug von Waffen und Soldaten, von Krieg, Tod und Verstümmelungen. Sie hatten Angst vor neuen Konflikten und neuen Berlin-Krisen. Der Bundeskanzler hatte anderes im Sinn. Er gab einer US-Zeitung ein In-
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Ein verlockendes Angebot, sagten die Patrioten, für die Wiedervereinigung an erster Stelle stand. Ein vergiftetes Angebot, sagte Adenauer. Die Stalin-Noten lösten eine ungeheure Aufregung aus, sie spalteten das Land. Für viele Deutsche war die Teilung eine Wunde. Einige Patrioten sammelten sich in einer kleinen Partei, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, in der Gesamtdeutschen Volkspartei. Sie war der Hort des deutschen Protestantismus, das Gegenstück zur katholischen CDU. Zwei spätere Bundespräsidenten gehörten ihr an, Gustav Heinemann und
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Kluge, kreative Außenpolitik bestand ein ums andere Mal darin, einen engen Spielraum zu erweitern. die Bonner Republik war so souverän, wie sie sein konnte. Der Bundeskanzler war jetzt 79 Jahre alt, ein alter Herr. Vermutlich wäre heute sein Bild in Stein gemeißelt, hätte er 1955 die Größe besessen, seinen Abschied zu nehmen. Er besaß sie nicht, genauso wenig wie Churchill oder de Gaulle. Aus Adenauers Sicht war diese kleine Republik nur eine Macht zweiten Ranges. Mittlerweile hatte Großbritannien erfolgreich Atomwaffen getestet, und Frankreich folgte. Adenauer wollte nach-
GAMMA / LAIF
Politiker aus Ost und West besiegeln das Ende der deutschen Teilung.
ziehen, er erhob Anspruch darauf, dass auch sein Land Nuklearwaffen habe sollte. Er verstieg sich so weit, dass er später den Atomwaffensperrvertrag einen „Morgenthau-Plan im Quadrat“ nannte, weil die Bundesrepublik so eine Macht zweiten Ranges bleiben musste. Helmut Schmidt sagte später zu den nuklearen Ambitionen Adenauers, die Franz Josef Strauß teilte: „Die Ausstattung der Bundesrepublik mit nuklearen Raketen, die Leningrad oder Moskau in Schutt und Asche legen konnten, musste die Sowjetunion in der gleichen Weise provozieren, wie etwa die Ausstattung Kubas mit derartigen Raketen die USA herausfordern musste.“ Ein Grund, um eine Weltkrise zu verursachen, um Krieg zu wagen. Der Kanzler ging nicht, er erlebte seine bitterste Niederlage im Amt, 1961, als
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in Berlin die Mauer gebaut wurde. Auch wenn sie in Europa den Kalten Krieg eindämmte, schien seine Behauptung widerlegt zu sein, aus der Westbindung werde sich die Wiedervereinigung schon ergeben, irgendwie. In den westdeutschen Gründerjahren gab es so etwas wie das Gesetz des Ortes. Für Adenauer, den Rheinländer, der im Ruch des Separatismus stand, lag die Versöhnung mit Frankreich nahe. Wer, wie Willy Brandt, Regierender Bürgermeister der „Frontstadt“ Berlin war, für den lag es nahe, die Teilung zu mildern, die Mauer durchlässig zu machen. Wieder bestand kluge, kreative
1963 und 1966 konnten die West-Berliner mit Passierscheinen für einen Tag in den Osten fahren, zunächst nur in der Weihnachtszeit. Da die Bonner Republik und das „Regime in Pankow“, wie die DDR im Westen abschätzig hieß, einander nicht anerkannten, musste man sich für die bürokratische Abwicklung etwas einfallen lassen: Aus dem Osten kamen angebliche Mitarbeiter der Deutschen Post zur Ausgabe der Passierscheine in den Westen, in Wahrheit Mitarbeiter der Stasi, wie jeder wusste. 1969 erlebte die kleine Republik den ersten Machtwechsel, Willy Brandt, der Emigrant, der Sozialdemokrat, wurde Bundeskanzler und machte sich zügig
Außenpolitik darin, einen engen Spielraum zu erweitern. Wahrscheinlich haben weder Brandt noch Adenauer ernsthaft erwartet, dass Kennedy militärisch den Mauerbau verhindern würde. Es blieb beim symbolischen Aufmarsch der US-Truppen an der Sektorengrenze. „Amerikaner, Briten und Franzosen waren der Meinung: Berlin lohnt keinen Krieg, die Deutschen lohnen auch keinen Krieg, und in Europa sind wir ohnehin zu schwach, um einen Krieg zu führen. Es war erschütternd“, sagt in der Rückschau Egon Bahr, Brandts Wortschmied und Chefdenker, dem die Formel „Wandel durch Annäherung“ einfiel.
daran, seine Ostpolitik in die Wirklichkeit umzusetzen. Binnen drei Jahren verabschiedete der Bundestag die Ostverträge: den Gewaltverzichtsvertrag mit der Sowjetunion, das Abkommen mit Polen und schließlich den Grundlagenvertrag mit der DDR. Die drei Verträge gehören zusammen, sie bilden ein Gesamtkunstwerk. Die Deutschen machten ihren Frieden mit der Sowjetunion, der vierten Siegermacht, die Deutschland geteilt hatte. Die Bonner Republik erkannte die DDR an, allerdings unter dem Vorbehalt, der in einem Brief formuliert wurde, dass der Vertrag „nicht im Widerspruch zu dem Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Dazu er-
Anfangs war die Ostpolitik nichts als praktische Lebenshilfe für die Berliner in beiden Teilen der Stadt. Zwischen
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Jubelnde Kosovaren begrüßen im Juli 1999 Kanzler Schröder in Prizren.
Allerdings wäre die Regierung Brandt an ihrer Ostpolitik fast gescheitert. Die kleine westliche Republik erlebte eine gewaltige Zerreißprobe, das Land war gespalten, der Kanzler musste sich als Landesverräter bezichtigen lassen, der 130
vor den Sowjets kapituliere. „So nicht!“, hielt ihm Oppositionsführer Rainer Barzel entgegen. Die Papiere und Vorlagen, die Egon Bahr, eine zentrale Figur in den Verhandlungen mit Moskau, schrieb, fanden ihren Weg in die Presse. Die Regierung verlor die Mehrheit im Bundestag und überstand mit Glück und einiger Nachhilfe für finanziell zugängliche Unionsabgeordnete ein konstruktives Misstrauensvotum. Und wieder sorgte eine Bundestagswahl für klare Verhältnisse: Eine Mehrheit der Deutschen war für Frieden und Gewaltverzicht, für die Ergänzung der Westbindung durch Ost- und Entspannungspolitik. „Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an“, sagte Brandt. Sie konnte es tun, weil die beiden antagonistischen Weltmächte Interesse an Entspannung in Europa hegten. Der bipolare Konflikt verlagerte sich seit Jahren auf andere Kontinente: auf Asien, wo Amerika verhindern wollte, dass erst Vietnam und dann andere Dominosteine dem Kommunismus zufielen, vergebens, auch auf Afrika, wo Land auf Land in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Im Vergleich dazu war Europa fast ein friedlicher Erdteil, zumindest einer,
auf dem sich der Kalte Krieg eindämmen ließ.
„Mir war bewusst“, schreibt Brandt in seinen „Erinnerungen“, „dass unser nationales Interesse es keinesfalls erlaube, zwischen dem Westen und dem Osten zu pendeln.“ Er erzählt auch, in leicht mokantem Ton, vom „nur mühsam verborgenen Misstrauen“ in den westlichen Hauptstädten – „nach meiner Wahrnehmung am wenigsten in London; in Paris mit erheblichen Schwankungen zwischen sanftem Verständnis und wilder Spekulation; in Washington lagen die Dinge so einfach: ,Wenn schon Entspannung mit der Sowjetunion, dann machen wir sie‘“. Der größte Skeptiker war der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus, Henry Kissinger, Emigrant aus Fürth und Inbegriff des kühlen Realpolitikers. Natürlich gingen die USA voran in der Entspannungspolitik, Kissinger fand dafür die Formel „Kooperation statt Konfrontation“. Dennoch waren ihm die Deutschen nicht geheuer, er befürchtete, sie könnten ins alte Fahrwasser des Nationalismus zurückfinden, dem Historiker stand Rapallo vor Augen, ein neuer deutscher Sonderweg mit Russland, wie nach dem Ersten Weltkrieg.
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kannte die Regierung Brandt nun auch die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an. Über das kleine Polen hatte Hitler-Deutschland grenzenloses Unglück gebracht. Am 7. Dezember 1970 reiste der Kanzler nach Warschau und legte am Mahnmal im jüdischen Ghetto einen Kranz nieder. Er bückte sich, ordnete die Schleifen und sank plötzlich auf die Knie. So verharrte er einen Augenblick, stand auf und ging schweigend davon. Natürlich wurde Brandt gefragt, ob er einer spontanen Eingebung gefolgt sei. Karg antwortete er, so hat es Egon Bahr überliefert: „Ich hatte plötzlich das Gefühl, stehen allein reicht nicht.“ Das Bild des knienden Kanzlers ging um die Welt, es ist zum Inbegriff einer politischen Symbolhandlung geworden, die mehr sagt als Worte. Auch dafür, vermutlich, erhielt Brandt ein Jahr später den Friedensnobelpreis.
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Kanzlerin Merkel begegnet 2007 afghanischen Schülern in Kabul.
Die Bindung der Republik an den Westen hatte aber Wurzeln geschlagen. Brandt schrieb lakonisch: „Die US-Regierung wusste, dass wir nicht im Traum auszuscheren gedachten, es im Übrigen auch gar nicht gekonnt hätten.“ Nichts hatte sich seit Adenauer geändert, deutsche Außenpolitik bestand darin, Souveränität durch internationale Verträge zu erlangen. So, wie die Dinge standen, konnten deutsche Regierungen Macht in den Verhältnissen gewinnen, aber nicht Macht über die Verhältnisse. So ist es auch heute noch. Im Jahr 1973 wurden die beiden deutschen Staaten gemeinsam in die Vereinten Nationen aufgenommen. Die Ostpolitik, die mit Willy Brandt verbunden ist, ergänzte die Westpolitik, die mit Konrad Adenauer verbunden bleibt. Der Kreis schloss sich. Die großen historischen Entscheidungen in diesem Kalten Krieg schienen fürs Erste gefallen zu sein. Helmut Schmidt ist ein geschichtsbewusster Mann. Von Anfang an lag ein Schatten über seiner Kanzlerschaft.
Was blieb ihm? In seiner Regierungserklärung sprach er 1974 davon, er werde sich „in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche“ beschränken, seine Leitmotive lauteten „Konzentration und Kontinuität“.
Zur Außenpolitik, wie sie Helmut Schmidt verstand, gehörte strategisches Denken, ein Verständnis für nukleare Waffenpotentiale auf allen Seiten. Amerika und die Sowjetunion übten damals auf ihre Weise Entspannung, sie froren die Anzahl ihrer atomar bestückten Interkontinentalraketen ein, ein Fortschritt nach damaligem Maßstab. Daraus ergab sich aber schon bald eine Raketenlücke, wie der Kanzler fand. Denn die Sowjetunion ging daran, ihre Mittelstreckenraketen zu modernisieren, und führte die SS-20 ein, abzufeuern von mobilen Abschussrampen, mit dem Ziel Westeuropa. Schmidt machte in einer berühmt gewordenen Rede in London am 28. Oktober 1977 auf die Lücke aufmerksam. Er belehrte den amerikanischen Präsi-
denten Jimmy Carter über die Gefahr für Europa. Tatsächlich kam es so weit, dass in mehreren europäischen Ländern mit der Stationierung von 108 amerikanischen Pershing-Raketen und 464 Marschflugkörpern begonnen wurde. Aber die Stimmung in Europa war nicht mehr auf Kalten Krieg eingestellt, auf die Logik der atomaren Abschreckung. Eine breite Friedensbewegung formierte sich, mit besonderer Schlagkraft in der Bonner Republik. Politisch gesehen, war sie im Großen, was die Gesamtdeutsche Volkspartei im Kleinen gewesen war: die Suche nach dem dritten Weg, der jetzt Äquidistanz hieß, gleicher Abstand zu beiden nuklearen Weltmächten. Es fügte sich auch, dass eine Ikone dieser Bewegung, die grundsätzliche Kritik am herrschenden Materialismus und Pragmatismus übte, biografisch im Protestantismus der fünfziger Jahre wurzelte: Erhard Eppler. Wieder war die kleine Republik gespalten. Es blieb der Regierung Helmut Kohls vorbehalten, den Nato-Doppelbe-
Henry Kissinger befürchtete, die Deutschen könnten ins alte Fahrwasser des Nationalismus zurückfinden. SPIEGEL GESCHICHTE
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schluss durchzusetzen. Die kleine Republik blieb verlässlich. Kontinuität in der deutschen Außenpolitik erwies sich 1983 als der entscheidende Anker. Eigentlich war Helmut Kohl die Verkörperung des Weiter-so, er berief sich oft auf Adenauer und den Konservativismus der fünfziger Jahre. Das Neue war ihm verdächtig, auch in der Außenpolitik. Als Michail Gorbatschow auf die Bühne trat, ein neuer Typus des Sowjetführers, rhetorisch gewandt, gab Kohl dem Magazin „Newsweek“ ein Interview, in dem er sagte: „Ich bin kein Narr. Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations.“ Das war, im Herbst 1986, nicht der erste Fauxpas. Im Jahr zuvor hatte er Ronald Reagan über den Soldatenfried-
Die Wiedervereinigung ergab sich wirklich aus der Westbindung. Das Irgendwie erfüllte sich in Gorbatschow. hof in Bitburg geschleppt, ein Skandal, da dort auch Mitglieder der Waffen-SS begraben lagen. 40 Jahre waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, doch diese Vergangenheit übte Macht über die Gegenwart aus. Als Kanzler der Einheit aber hat sich Helmut Kohl historische Verdienste erworben. „Glückwunsch, Kanzler!“, schrieb Rudolf Augstein im SPIEGEL. Plötzlich zeigte sich, dass die Gegenwart sich aus den Fesseln der Vergangenheit lösen konnte. Deutschland, das 1945 wie zur Strafe für Hitler, für den Krieg und für Auschwitz mit der Teilung belegt worden war, wurde wieder eins. Und dafür sorgte Michail Gorbatschow, der in diesem welthistorischen Drama eine Rolle übernahm, die es so kaum je gegeben hatte: den großzügigen Verlierer.
Über den Wandel mitten in Europa waren die westlichen Alliierten allerdings wenig glücklich. Damals habe er, schrieb François Mitterrand, in der „Dialektik von erlebter Vergangenheit und vorgestellter Zukunft“ gelebt. Die 132
Vergangenheit war der Krieg Hitlers, die Zukunft, so schien es Mitterrand, war die Wiederauferstehung eines ruhelosen Deutschlands mitten in Europa, das die Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten verändern würde. Nicht anders wertete Margaret Thatcher die Konsequenzen der friedlichen Revolution. Helmut Kohl zitiert in seinen Memoiren Äußerungen der britischen Premierministerin aus dem Herbst 1989. Sie habe gesagt: „England und Westeuropa haben kein Interesse an einer deutschen Wiedervereinigung. Sie würde eine Änderung der Nachkriegsgrenzen bedeuten – und das wollen wir nicht, weil sich dadurch die internationale Lage destabilisiert und unsere Sicherheit bedroht werden kann.“ Mitterrand begab sich noch im Dezember 1989 auf Inspektionsreise nach Ost-Berlin und Kiew. Thatcher versuchte den amerikanischen Präsidenten George Bush davon zu überzeugen, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Die Regierung in Washington stand wohl nur eine kurze Weile unter Schock, wog dann aber die Nachteile gegen die Vorteile auf: Das Ende der bipolaren Welt war ein Segen, so blieben die USA als alleinige Weltmacht zurück. Und da war ja auch Helmut Kohl, der Vertraueneinflößende. Er versprach Kontinuität, und so kam es, wie niemand gedacht hätte, dass es kommen würde: Das vereinte Deutschland blieb in den gewachsenen Bindungen, in der Nato, in der Europäischen Gemeinschaft. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag besiegelte im September 1990 den Wandel. Die neue Republik gewann volle Souveränität, die Siegermächte gaben sie frei. Der Kreis schloss sich. Ironischerweise hatte Konrad Adenauer nicht falschgelegen: Erst die Westbindung, dann Wiedervereinigung, irgendwie, lautete seine Wunschvorstellung. Die Wiedervereinigung ergab sich wirklich aus der Westbindung. Das Irgendwie erfüllte sich in Gorbatschow. Acht Jahre blieb Helmut Kohl noch Kanzler. Außenpolitisch war diese Kontinuität vorteilhaft, denn so verebbte die Angst vor den Deutschen in Europa und der Welt. Der Kanzler federte auch Sonderwünsche aus seiner Regierung ab. So fand FDP-Außenminister Klaus Kinkel 1993, dass Deutschland Anspruch auf Aufnahme in den Kreis der ständigen
Mitglieder im Sicherheitsrat der Uno habe: „Die Deutschen müssen nach der Wiedervereinigung und der neugewonnenen vollen Souveränität runter von den Zuschauerbänken und voll handlungsfähig werden. Dazu gehört ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat.“ Zu forsch, zu schnell. Der Kanzler ließ Kinkel gewähren und distanzierte sich zugleich von ihm: „Ich war nicht einer von denen, die gesagt haben, die Deutschen müssen jetzt unbedingt in den Weltsicherheitsrat.“
1998 endete Kohls Ära. Jetzt breche „Normalität“ an, sagten Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die Matadoren der 68er-Generation. Was immer sie auch vorgehabt hatten: Auch die rot-grüne Regierung bewegte sich in den bekannten Bahnen deutscher Außenpolitik. Sie kam Wünschen der USA nach Teilnahme an zwei Kriegen nach. Und als sie sich dem Wunsch Amerikas verschloss, sich beim Abenteuer im Irak militärisch zu engagieren, stand sie keineswegs allein, sondern mit Frankreich – und Russland – gegen George W. Bush. Der Krieg im Kosovo 1999 war ein tiefer Einschnitt, der erste große Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg (siehe Seite 134). Als die Luftangriffe im Frühjahr 1999 wenig Wirkung erzielten, schwärmten die Minister aus und legitimierten den Krieg mit moralischem Überschwang: Dort unten auf dem Balkan gelte es, Massenmord zu verhindern – nie wieder Auschwitz, so war Fischer zu verstehen, sei wichtiger als nie wieder Krieg. Schröder und Fischer schlugen den hohen Ton an, sie gaben sich aus als Lordsiegelbewahrer der politischen Moral, eingedenk deutscher Vergangenheit. Auschwitz war die ultimative Legitimation und wurde seither auch nicht mehr bemüht. Die Regierung ging davon aus, dass die friedfertig gewordenen Deutschen anders nicht auf diesen Krieg einzustimmen seien. 60 Jahre ist es her, seit die kleine Republik gegründet wurde. Sie ist jetzt groß, sie blüht nicht mehr so strahlend wie früher, die weltweite Krise des Kapitalismus bildet eine gewaltige historische Zäsur und lädiert auch das deutsche Modell. Deutschland ist eine ökonomische Großmacht in Europa und eine gehobene Mittelmacht nach internationalem Maßstab. Zuverlässig. Auf diplomatische Konfliktlösung spezialisiert. In sicheren Bündnissen. Adenauers Projekt mit viel Kontinuität. SPIEGEL GESCHICHTE
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Im Kosovo beteiligten sich 1999 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten an einem Waffengang. Es war eine Zäsur für das Land und eine Zerreißprobe für Rot-Grün.
„MORALISCHE NÖTIGUNG“ Von ANTJE VOLLMER
schlussdokument. Dabei hatte er seine berühmte Rede vom Amselfeld schon gehalten, in der er das Kosovo zum Herzstück eines aggressiven serbischen Chauvinismus erklärte. An die Möglichkeit, das Kosovo unter internationalen Schutz zu stellen, wollte damals niemand denken. Die anhaltende Nichtbeachtung und der offensichtliche Misserfolg der gewaltfreien Strategie gehörten zu den Ursachen, die im November 1997 zum ersten öffentlichen Auftreten der militanten Befreiungsbewegung UÇK führten. Marion Gräfin Dönhoff, 1950 Die UÇK war, nach damals allgemeiner Einschätzung, eine Gruppe von Terroristen, eng mit den mafiösen Strukturen ie Niederlage bei der Suche nach einer friedli- von Waffenhandel und Prostitution verbunden. Bei dem sehr chen Lösung des Kosovo-Konflikts begann fragilen Zustand in Bosnien-Herzegowina, bei den zunehfrüh. 1990 war Ibrahim Rugova, der Anführer menden gewaltsamen Übergriffen der serbischen Sicherdes gewaltfreien Kampfes der Kosovaren, zu heitskräfte und Paramilitärs auf die Kosovaren, gelang es einem Besuch in Bonn. Er suchte die Unter- der UÇK bald, zeitweise bis zu 40 Prozent des Landes unter stützung der bundesdeutschen Politik und der bundesdeut- die eigene Kontrolle zu bringen. Auch für die Nato wurde sie schen Öffentlichkeit, die in seinen Augen eine bedeutende immer interessanter, falls es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen sollte. Hilfe gegenüber der Regierung in Belgrad bedeutet hätte. Überhaupt lag die Planung von potenDamals war es unmöglich, für ihn tiellen Gegenstrategien, die Vorbereitung einen Gesprächstermin im Auswärtigen eventueller Luftschläge und damit das SuAmt zu bekommen. Aber auch zu einer chen nach einer möglicherweise geeignePressekonferenz in Bonn erschien nur eine ten Bodentruppe überwiegend in den einsame Praktikantin der Katholischen Händen der Nato. Russland mit seinen Nachrichten-Agentur. Ich war damals bekannt guten Beziehungen und EinflussFraktionssprecherin und setzte einige möglichkeiten auf Belgrad wurde brüsgrüne Mitarbeiter in den Raum, mit Block kierend außer Acht gelassen, was der und Bleistift, damit es nicht gar so trostlos damaligen Geringschätzung nach der aussah. Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Niederlage im Kalten Krieg vollkommen bisschen Druck aus den wichtigsten Meentsprach. tropolen der westlichen Welt ganz sicher Logischerweise vermieden es die Unausgereicht, um dem serbischen Präsiterstützer der kosovarischen Sache auch denten Slobodan Milosˇevic´ seine Grenzen weitgehend, den Uno-Sicherheitsrat mit zu zeigen. der anwachsenden Krise zu beschäftigen, Das Desinteresse am Kosovo setzte sich befürchtete man doch ein Veto der gefort bis zur Dayton-Konferenz 1995, die kränkten Russen und eventuell auch der den Bürgerkrieg in Bosnien beendete. ANTJE VOLLMER Chinesen. Die Resolutionen des SicherÜber Ibrahim Rugova hieß es hinter vorDie Theologin zog 1983 für heitsrats zum Thema Kosovo vom 31. gehaltener Hand, er sei ein Mann von gedie Grünen zum ersten Mal ins März 1998 und 23. September 1998 (Restern mit vielen persönlichen Problemen. Bonner Parlament ein. Von solutionen 1160 und 1199) enthalten – Milosˇevic´ war noch nicht in Ungnade ge1994 bis 2005 war die heute mancher späteren Interpretation zum fallen, sondern wurde eingeplant, als wich65-Jährige Vizepräsidentin Trotz – definitiv kein Mandat zu kriegetiger stabilisierender Faktor für das Abdes Deutschen Bundestags. Dennoch besteht kein Zweifel darüber, dass viele verantwortungsbewusste Persönlichkeiten damals geglaubt haben, sie könnten mit Hilfe der neuen Prinzipien das Chaos in der Welt steuern. Heute wissen wir, dass es wichtiger ist, die Kontinuität des Rechts durch die allgemeine Verwirrung der Angriffe zu retten, auch wenn dabei einige Halunken ihrer Strafe entgehen, als zu versuchen, sie alle mit einem Sonderrecht dingfest zu machen.
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WAECHTER / CARO
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rischen Maßnahmen. Nur einen Tag später, am 24. September, aktivierte der Nato-Rat seine ersten Vorbereitungen für den Luftkrieg. Es sollte sich bald zeigen, dass dadurch die Nato auf sich selbst den größten Handlungsdruck ausübte. In dieser Zeit herrschte in Deutschland Wahlkampf, und gleichzeitig stieg im Kosovo die Zahl der Flüchtlinge aus den militärischen Schwerpunktgebieten des anwachsenden Bürgerkriegs.
Am 27. September endete die Bundestagswahl zum ersten Mal mit einer rot-grünen Mehrheit. Am 16. Oktober 1998 trat der Bundestag noch in den alten Mehrheitsverhältnissen zusammen, da die neue Regierung bisher nicht vereidigt war. Thema: die Teilnahme der Bundeswehr an einem eventuellen Luftkrieg gegen die Republik Jugoslawien zur Abwendung einer „humanitären Katastrophe“. Ein Mandat des Uno-Sicherheitsrats lag nicht vor. Kurz zuvor waren der designierte Außenminister Joschka Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einem Blitzbesuch in die USA geflogen, um sich vorzustellen, aber auch um die Haltung der neuen Regierung für den Kosovo-Kriegsfall zu klären. Bei der Hinfahrt waren sie fest entschlossen, die traditionelle Haltung aller Bundesregierungen einzunehmen, nämlich dass die Deutschen an einem solchen Krieg aufgrund ihrer Verfassungslage nicht teilnehmen könnten. Als sie wiederkamen, ließen sie verlauten, das sei von der Clinton-Regierung akzeptiert worden. Bis heute ist nicht klar, was in der Woche darauf geschah. Eine Einflussnahme noch durch die alte Regierungsmehrheit lässt sich durchaus vermuten, jedenfalls hieß es wenige Tage später: Die Frage der deutschen Beteiligung entscheide definitiv über die Regierungschancen von Rot-Grün, die neue Koalition müsse sich im Spannungsfeld von Blockade des Uno-Sicherheitsrats, Bündnisloyalität und Völkerrecht gegen die bis dato vorherrschende Völkerrechtsinterpretation entscheiden. Dem völkerrechtlich und verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen Militäreinsatz stimmten dann 99 Prozent der anwesenden Abgeordneten der CDU/CSU, 95 Prozent der Abgeordneten der FDP, 87 Prozent der Abgeordneten der SPD und 63 Prozent der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen zu. Der völkerrechtliche Sündenfall war theoretisch, aber noch nicht praktisch vollzogen. Zunächst einmal schien die Drohkulisse zu funktionieren. Erneut schalteten sich die Russen ein, und es kam zu der OSZE-Mission im Kosovo, die allerdings von allen beteiligten Nationen weit unterhalb der zugesagten Mannstärke verblieb und die mit ihrem Leiter William Walker erhebliche Mühe hatte, eine neutrale Position im Konflikt einzunehmen. Das zeigte insbesondere das sogenannte Massaker von Racˇak vom 15./16. Januar 1999, dessen Hergang immer noch Rätsel aufgibt. Bis heute ist unklar, ob die als Zivilisten ausgewiesenen Opfer nicht zum Teil gefallene UÇKKämpfer waren, die an einem bestimmten Ort zusammengetragen wurden. Internationale Medienvertreter sind an den Ort des Schreckens geführt worden, ehe eine kriminalistische Untersuchung stattgefunden hatte. Von diesem Datum an galt die OSZE-Mission als gescheitert; die meisten westlichen Medien zeichneten ein
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AUSSENANSICHTEN KOSOVO-CHRONIK
Krise und Krieg Bundeswehr-Konvoi vor der Grenze zum Kosovo im Juni 1999
23. März 1989 Das serbische Parlament beschließt die Aufhebung der in der Verfassung garantierten Autonomie des Kosovo. 26. Mai 1992 Die Kosovo-Albaner wählen eine Schattenregierung mit Ibrahim Rugova an der Spitze. Juni 1998 Die „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK) kontrolliert rund 40 Prozent der Provinz. Die Anzahl der Flüchtlinge wächst in die Hunderttausende. Oktober/November 1998 In mehreren separaten Beschlüssen gibt der Bundestag grünes Licht für eine deutsche Beteiligung an Nato-Operationen zum Schutz des Kosovo. 24. März 1999 Nach gescheiterten Friedensverhandlungen und anhaltenden serbischen Attacken gegen Zivilisten beginnen die Nato-Luftangriffe. 10. Juni 1999 Einstellung der Nato-Luftangriffe. Das Kosovo kommt unter Uno-Verwaltung.
Bild, in dem die Alleinschuld der Serben an der wachsenden Brutalität des Bürgerkriegs wie eine feste Gewissheit erschien. Dazu kamen Übertreibungen und Ausmalungen, die immer wieder die unglaublichen Verbrechen in Srebrenica wachriefen, bei denen im Juli 1995 etwa 8000 bosnische Muslime getötet worden waren. Vom 6. bis zum 23. Februar 1999 kam es zu einer Konferenz in Rambouillet, zu der von kosovarischer Seite zum ersten Mal die bisher auch im Westen als Terrororganisation eingeschätzte UÇK als Verhandlungspartner einbezogen wurde. Ibrahim Rugova galt als vernachlässigbare Größe. Bei der rot-grünen Regierung herrschte noch die Illusion, durch das gemeinsame Vorgehen von Amerikanern und Europäern habe man die USA und die Nato unlösbar an eine
Methodik der Krisenprävention gebunden, wie sie immerhin der amerikanische Diplomat Richard Holbrooke schon einmal am 13. Oktober 1998 gegenüber Milosˇevic´ erfolgreich durchgesetzt hatte. Aber diesmal wendete sich das Blatt: Nicht die Nato wurde an die Beschwichtigungsstrategie gebunden, sondern die Europäer klebten an ihrem leichtfertig gegebenen Vorratsbeschluss. Der Rest war Formsache. Die kosovarischen Vertreter unterschrieben auf Druck von US-Außenministerin Madeleine Albright die Erklärung von Rambouillet, die Vermittlungsversuche der Russen wurden zurückgewiesen, von Milosˇevic´ wie von den westlichen Staaten. Am 24. März 1999 flogen die ersten Bomber Richtung Belgrad, und ein Krieg, der kein völkerrechtliches Mandat hatte, begann.
AFP
17. Februar 2008 Das Parlament in Prisˇtina erklärt die Unabhängigkeit. Bisher erkennen 54 Länder, darunter die meisten Mitglieder der Europäischen Union, das Kosovo als souveränen Staat an.
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Was waren die Fehler auf dem Wege dahin?
Während für die Clinton-Regierung eher realpolitische Kriegsziele galten – die Stärke und Entschlossenheit der Nato 1. Die mangelnde Unterstützung für sollte demonstriert, die Bundesrepublik Jugoslawien von weidie gewaltfreie Position im Kosovo, solange es teren Gewalttaten abgeschreckt und die militärischen Fähignoch Zeit war; keiten von Milosˇevic´ systematisch eingeschränkt werden –, lautete die Begründung in 2. die NichtberücksichtiDeutschland: Dieser Krieg gung des KosovoSerbische sei unausweichlich, um die Problems im DaytonSERBIEN Enklaven „humanitäre Katastrophe“ Abkommen; im Kosovo neuer Völkermorde zu ver3. die Duldung und späteM O N T Ehindern, das entspreche re Anerkennung der NEGRO den Lehren aus der blutiUÇK als potentielle BoPriština gen Geschichte der NSKOSOVO dentruppe; Zeit. Račak Der politische Preis für 4. die Nichteinbeziehung Prizren die Grünen war besonders der Russen in die hoch. Auf dem Bielefelder Konfliktregelungen; Parteitag am 13. Mai 1999 ALBANIEN MAZEDONIEN 5. die mangelnde Unter– also mitten im Kriege – 50 km stützung der OSZEversuchte Joschka Fischer Mission; mit einem machtpolitica. 90 % Albaner ca. 5 % Serben Bevölkerung: schen Bravourritt den hef6. die kampagnenhafte ca. 5 % andere tigen Widerspruch in der Einseitigkeit in den poMio. ca. Minderheiten grünen Partei niederzurinlitischen Stellungnahgen. Das gelang ihm, nach men und in den westlieiner Farbbeutelattacke, durch eine die Lehren von Auschchen Medien, die immer den Serben die alleinige Schuld witz wachrufende moralische Nötigung. Es führte aber zu gaben, den Kosovaren aber die Opferrolle zubilligten; einer tiefen Kluft zwischen den Grünen und der sie ehe7. der Versuch, die Nato-Gremien zu den entscheidenden mals tragenden Friedensbewegung. Nicht wenige MitglieRegelinstanzen zu machen und nicht den Uno-Sicherder verließen die Partei, um wieder nur außerparlamentaheitsrat; risch zu arbeiten oder sich dann später den heutigen Linken anzuschließen. 8. generell: der Bruch des Völkerrechts; Was nach innen hin nur mit einem geradezu missionari9. die westliche Favorisierung eines unabhängigen kososchen Idealismus und machtpolitischem Zwang durchzudrüvarischen Staats, unterstützt sogar von allen späteren cken war, wurde in den Medien als schlichte realpolitische NotVerantwortlichen für die Kosovo-Mission der Vereinten wendigkeit gewertet, die jede deutsche Regierungspartei nach Nationen Unmik. Am Ende stand ein Staat, der selbst 1989 zu vollziehen habe. In der Konsequenz wurden mit der nicht lebensfähig ist und der zum Präzedenzfall für den Entgrenzung des Auftrags der Bundeswehr und einer faktiBruch des Völkerrechts wurde. schen „Entrechtung“ des Völkerrechts außenpolitische Bindungen verlassen, die während des Kalten Kriegs nie in Zweifel geFür die rot-grüne Regierung und besonders für die Grünen zogen worden waren. Das „Neue Denken“ der neokonservatibedeutete die Teilnahme am Kosovo-Krieg eine tiefe Zäsur. ven Revolutionäre hatte die Sphäre der Außenpolitik erreicht. Bundeskanzler Schröder, Verteidigungsminister Rudolf ScharDiese Lust an der Umwertung aller Werte kam dann mit dem ping und Außenminister Fischer versuchten deswegen, die Be- rot-grünen Nein zum Irak-Krieg an ihr Ende. Für viele Grüne, gründung für einen solchen Einsatz moralisch zu überhöhen auch für mich, war erst mit diesem Nein wieder klar, dass sich und ihn als „alternativlos“ hinzustellen. der hohe Preis für die Regierungsbeteiligung doch gelohnt hat.
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Nach 2000 Jahren wird es höchste Zeit, den Staub von der Geschichte zu blasen Es ist eine Geschichte der Gegensätze, Gutes und Böses, Freude und Leid, Versagen und Erfolg eng beieinander, aber gerade deshalb faszinierend und mitreißend. Christian v. Ditfurth nimmt Sie mit auf eine Reise zu wilden Horden, zu Königen, Kaisern, Ketzern und Kriegen. Er erzählt eine Geschichte von Heiligen, Heiden, Idealisten, Träumern und Spinnern, wie sie dachten, stritten, eiferten, unser Land und die Welt veränderten.
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Vom Historiker und Autor Christian von Ditfurth
AUSSENANSICHTEN
Im Kalten Krieg, als die Regierungen der beiden deutschen Staaten jeden offiziellen Kontakt mieden, wurde der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel zum einzigartigen Vermittler zwischen Ost und West.
Der Grenzgänger
I
m berüchtigten Stasi-Gefängnis Bautzen II meuGefangene beim Hofgang in Bautzen 1989 terten im Dezember 1989 die Häftlinge. Anderthalb Monate nach dem Sturz des Staats- und Parteichefs Erich Honecker, vier Wochen nach der Öffnung der Mauer saßen 45 politische Gefangene noch immer ein, ohne dass die DDR-Justiz Anstalten machte, die wegen versuchter Republikflucht, „staatsfeindlicher Hetze“ oder „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“ meist zu mehrjährigen Haftstrafen Verurteilten freizulassen. Die Häftlinge traten deshalb am 4. Dezember in einen Hungerstreik und verweigerten die Arbeit. Am 12. Dezember präsentierte sich der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in einem Schreiben an den Anstaltsleiter als „Anwalt aller Mandanten, die sich in Ihrer Einrichtung befinden und wegen politischer Tatbestände verurteilt sind“. Er habe für diese Leute „Gnadenerweise“ oder „möglichst unverzügliche Straf- fuhr der Anwalt zum letzten Mal durch aussetzung … angeregt“ und bitte dar- den Grenzübergang Invalidenstraße, mit den letzten vier Freigelassenen. um, eine Versammlung einzuberufen. Damit endete die Mission des OstDrei Tage später stellte sich Vogel den aufgebrachten Gefangenen, die eine bin- Berliner Juristen, der mehr als ein Vierdende Zusage forderten, bis Weihnach- teljahrhundert als Vermittler zwischen ten in Freiheit zu sein. Vogel versicher- den beiden deutschen Staaten gewirkt te, er werde „selbst mit meiner Zahn- hatte. bürste in den Knast einrücken“, wenn dies nicht der Fall sei. Begonnen hatte sie in den späten Nach und nach wurden die Bautzener fünfziger Jahren. In jener Phase des KalHäftlinge in den folgenden Tagen in die ten Krieges, als Bonn jede amtliche BeOst-Berliner Kanzlei Vogels gebracht, ziehung zur damals noch sogenannten der sie mit seinem Privatwagen, einem Sowjetzone mied, brauchte man für die goldmetallicfarbenen Mercedes, durch unumgänglichen Kontakte Institutionen die noch bestehende Mauer nach West- und Mittelsmänner, die keine staatlichen Berlin chauffierte. Am 21. Dezember Funktionen hatten.
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So wurden die innerdeutschen Geschäfte auf westlicher Seite über die „Treuhandstelle für den Interzonenhandel“ abgewickelt, formal eine privatwirtschaftliche Einrichtung des Deutschen Industrie- und Handelstages. Zur Lösung menschlicher Probleme im geteilten Deutschland bedienten sich die Regierenden in Bonn und Ost-Berlin, die nicht direkt miteinander kommunizieren mochten, des Rechtsanwalts Vogel, der so in eine einzigartige Stellung geriet. Durch psychischen Druck – der Jurist wurde des Kontakts mit einem Republikflüchtigen verdächtigt – hatte ihn die Stasi 1953 zur Zusammenarbeit verpflichtet. Auf deren Betreiben beantragte der Ost-Anwalt seine Zulassung auch an West-Berliner Gerichten, die er 1957 erhielt. Durch Kontakte zu Bundesbehörden im Westteil der Stadt bekam Vogel Aufträge, sich für die Freilassung inhaftierter Westdeutscher in der DDR einzusetzen, was ihm in einigen Fällen gelang . Auf Empfehlung der Stasi bediente sich auch der sowjetische Geheimdienst KGB des DDR-Advokaten. Der verhandelte 1961/62, ohne seinen wahren Auftraggeber zu kennen, mit einem amerikanischen Anwalt über den Austausch des in New York verurteilten russischen Meisterspions Rudolf Abel gegen den US-Piloten Francis Gary Powers, der bei einem Aufklärungsflug über dem Ural abgeschossen worden war. Der Coup gelang, Vogel war fortan auch international als Unterhändler gefragt. Spektakuläre Höhepunkte waren 1985 und 1986 die nach mehrjährigen
SPIEGEL GESCHICHTE
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WERNER SCHULZE / IMAGO
Von NORBERT F. PÖTZL
geheimen Verhandlungen vermittelten Übergaben von insgesamt 38 verurteilten Spionen auf der dadurch berühmt gewordenen Glienicker Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin.
Seit dem Mauerbau 1961 stieg die Zahl politischer Häftlinge in der DDR. Für westdeutsche Politiker und Vertreter der Kirchen, die sich um deren Freilassung bemühten, war Vogel die einzig mögliche Anlaufstelle. Der CDU-Politiker Rainer Barzel, Minister für gesamtdeutsche Fragen in der Adenauer-Regierung, billigte 1963 ein Geschäft Men-
schleusen. Er habe kurz über die Idee nachgedacht, sie aber alsbald verworfen. 1966 siedelte seine erste Frau Eva, die ihn seit dem Mauerbau bedrängt hatte, die DDR zu verlassen, mit den beiden Kindern, damals 19 und 15, in den Westen über. Sein Platz sei in der DDR, befand Vogel auch, als er 1968 seine spätere zweite Ehefrau Helga kennenlernte: Er überredete die aus Essen stammende Westdeutsche, zu ihm in den Osten zu ziehen. Er habe, erläuterte der Unterhändler, sein Arbeitsfeld doch nicht im Stich lassen können.
AP / SÜDD. VERLAG
Der frühere DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel auf der Glienicker Brücke 1997
schen gegen Bargeld oder Waren, an denen es der DDR mangelte. Vom Sommer 1964 an wurde der Freikauf systematisch betrieben: Anhand von Namenslisten, die Vogel übergeben wurden, und für ein Kopfgeld von zunächst 40 000, später knapp 96 000 West-Mark wurden Häftlinge ausgesucht, die in Bussen in den Westen ausreisen durften. Nach 25 Jahren summierte sich deren Zahl auf 33 755. Vogel hatte sich, wie er erst nach dem Ende der DDR preisgab, selbst einmal mit Fluchtgedanken getragen. 1962 habe ihm ein CIA-Mitarbeiter angeboten, ihn und seine Familie mit amerikanischen Militärfahrzeugen außer Landes zu
SPIEGEL GESCHICHTE
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Vogel war ein Grenzgänger und Gratwanderer, der auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Anerkennung erfuhr, aber auch Argwohn erweckte. Immer stand er in Gefahr, bei seiner Obrigkeit in Ungnade zu fallen. Der Staatssicherheit erschien er oft zu nachgiebig, aber Honecker hielt seine schützende Hand über ihn.
Vogel hatte ein Gespür dafür, wie weit er bei seinen Zusagen gehen durfte, und er schöpfte diesen Spielraum aus. Wenn etwa in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin DDRBürger Zuflucht suchten, um ihre Ausreise zu erzwingen, stellte er ihnen
Straffreiheit und baldige Übersiedlung in Aussicht, wenn sie an ihre Wohnorte zurückkehrten – Honecker sorgte dann dafür, dass Vogels Versprechen stets eingehalten wurden. Der Anwalt war jedoch nicht nur Honeckers „persönlicher Beauftragter in humanitären Fragen“, sondern auch dessen innerdeutscher Sonderbotschafter. „Vogelfluglinie“ hieß im Politjargon der inoffizielle Dienstweg, auf dem zwischen Bonn und Ost-Berlin Nachrichten ausgetauscht und Meinungsverschiedenheiten geklärt wurden. Vogel arrangierte im Mai 1973 ein verschwiegenes Treffen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner mit Honecker, und auch die DDR-Reise Helmut Schmidts im Dezember des Jahres 1981 hatte Vogel, den der Kanzler salopp „unseren Briefträger“ nannte, vorbereitet. Für das innerdeutsche Klima zahlte sich aus, dass die DDR keinen linientreuen Apparatschik vorschickte, sondern einen weltläufigen Mann mit bürgerlicher Bonhomie, der sich offen westlichen Luxus gönnte. Mancher Verhandlungspartner im Westen vergaß darüber manchmal fast, dass ihm ein Abgesandter der DDR gegenübersaß. In den neunziger Jahren, nach dem Untergang der DDR, wurde Wolfgang Vogel wegen angeblicher Erpressung von einstmals ausgereisten DDR-Bürgern angeklagt – sie hatten gemäß DDR-Vorschriften ihre Immobilien vor der Übersiedlung veräußern müssen. Der Anwalt saß sogar mehr als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, wo ihn Altkanzler Schmidt demonstrativ besuchte. Der Bundesgerichtshof sprach Vogel in letzter Instanz frei. Im vergangenen Jahr ist Wolfgang Vogel 82-jährig in seiner oberbayerischen Wahlheimat Schliersee gestorben. Helmut Schmidt sagte in einem Nachruf: „Wir alle schulden ihm Dankbarkeit und Respekt.“
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AUSSENANSICHTEN
Der gesellschaftliche Wandel folgt seinen eigenen Gesetzen, Wechsel in der politischen Führung vollziehen häufig nach, was im Land bereits passiert ist. Nach der Wahl im Herbst könnte das wieder so sein.
WER ZU SPÄT KOMMT, DARF REGIEREN Von FRANZ WALTER
H
istoriker bedienen sich gern der Daten von Regierungswechseln, um daran den gesellschaftlichen Wandel festzumachen. Aber damit greifen sie allzu leicht daneben. Denn die Mentalität einer Gesellschaft verändert sich durchaus nicht entlang den Zeitstrukturen politischer Macht. In der bundesdeutschen Geschichte haben neue Regierungen keineswegs neue soziale oder gesellschaftliche Tatsachen geschaffen, wie es durchweg zum Anspruch der politischen Akteure gehörte und gehört. Überwiegend haben sie lediglich vorangegangene, schon weit fortgeschrittene gesellschaftliche Prozesse zum Abschluss gebracht, haben sie rechtlich sanktioniert. Das zeigt, um ein erstes Beispiel zu nennen, ein näherer Blick auf die Kultur der „inneren Reformen“, als Antwort auf den eher patriarchalischen Konservatismus der Adenauer-Ära. Diese Reformkultur begann nicht erst 1969 mit Brandt und Scheel, sondern bereits in den frühen sechziger Jahren, nach der Entstehung einer neuen liberal-akademischen Öffentlichkeit im Zuge der „SPIEGEL-Affäre“. Die leidenschaftlichen Diskussionen um Bildung als Bürgerrecht, um Chancengleichheit und Reformuniversitäten fanden in den Jahren 1965/66 statt. Die kühnsten Träume von den Möglichkeiten rationaler staatlicher Planung und Steuerung durchlebte die Republik in den Jahren 1967/68. Als Bundeskanzler ritt Willy Brandt gleichsam diese Welle, die schon vor ihm entstanden war und mit ihm rasch darauf verebbte. Jedenfalls: Übersetzt man „Sozialliberalismus“ mit Aufbruchstimmung, gesellschaftspolitischem Veränderungsehrgeiz, Zukunftsgewissheit, Planungsenthusiasmus – dann war die beste Zeit dieser politischen Strömung im Sommer 1970 abgelaufen. Seither kühlte sich der Reformoptimismus gleichsam Monat für Monat ab. Allein der grandiose Wahlsieg der Sozial- und Freidemokraten im November 1972 – freilich mehr ein Plebiszit über die Ostverträge denn ein Votum für die innenpolitischen Vorhaben – überdeckte für kurze Zeit den
frühen Verschleiß der sozial-liberalen Blütenträume. Spätestens 1973, im Angesicht der Erdölkrise, verloren Zukunftsgewissheiten, Progressivitätsgebaren, Planbarkeitsversprechen erheblich an Plausibilität, erst recht an Aura. Im Kanzlerwechsel 1974 vollzog sich der Wandel der Mentalitäten dann auch personell: An die Stelle des Visionärs der Zukunft trat der Manager gegenwärtiger Krisen. Kurzum: Der Zauber all jener Beglückungsslogans, wie Emanzipation, Demokratisierung und Partizipation, verflog schon im frühen Stadium der sozial-liberalen Ära. Noch 1968 hatte sich beinahe die Hälfte der Deutschen begeistert für grundlegende Reformen ausgesprochen. 1973/74 wollte nicht einmal ein Viertel mehr irgendetwas davon wissen. Die oft nostalgisch erinnerte Sozialliberalität war gut acht Jahre vor dem Aus der SPD/FDP-Koalition bereits versiegt. Helmut Kohls geistig-moralische Wende erfolgte also nicht erst 1982 mit dem Beginn seiner Regierungsübernahme, sondern von 1973/74 an, unter Schmidt und Genscher. Damals begann die Zeit der sogenannten Tendenzwende, als neokonservative Ideen aufkamen, als die klassischen Staatsfunktionen eine Renaissance erfuhren, als man der Stabilität wieder entschieden den Vorrang vor Veränderungen einräumte. Die politischen Angriffsspitzen dieser Strömung, die in ihren Bundesländern während der siebziger Jahre fulminante Wählerzuwächse verzeichneten, waren Hans Filbinger, Franz Josef Strauß und Alfred Dregger. Erst wechselte also der Zeitgeist, zunächst changierte das gesellschaftliche Klima, bis zuletzt die politische Wende in Bonn lediglich den Schlussakt dieses Prozesses markierte. Als Kohl ins Kanzleramt gelangte, erlebte die Kultur der Republik keineswegs ein restauratives Comeback alter Werte und Tugenden. Denn ausgerechnet (oder bezeichnenderweise) jetzt ging die Zeit von Filbinger, Strauß und Dregger zu Ende. Die achtziger Jahre wurden stattdessen zum schönsten Jahrzehnt rot-grüner Mentalitäten, zum Kulminationspunkt postmaterieller Einstellungen. Jetzt also legte sich das Land die vielen Fahrradwege zu, feierte noch unbekümmerte mul-
Brandt ritt auf einer Welle, die mit ihm verebbte.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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DPA (O.); BERT BOSTELMANN / WIRTSCHAFTSWOCHE (U.)
Studentenprotest gegen die Verhaftung von SPIEGEL-Redakteuren im Oktober 1962 in Frankfurt
tikulturelle Stadtteilfeste, demonstrierte für Frieden, gegen heit wurzelt. Schwarz-Gelb würde wohl zu Beginn noch einmal Umweltverschmutzung und staatlich oktroyierte Volksbefra- den Sound vergangener Jahre von Wettbewerb, Marktdynagungen. In diesem Jahrzehnt stellten etliche Kommunen und mik, Eigenverantwortlichkeit, Entstaatlichung, Privatisierung öffentliche Einrichtungen erstmals ganze Legionen von neu anstimmen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Bundesbürger den Refrain aus voller Brust mitsingen. Gleichstellungs- und Frauenbeauftragten ein. Die Deutschen verlangen sich seit einigen Jahren vieles Als Rot-Grün, zudem noch mit acht Jahren Verspätung, 1998 an die Macht gelangte, hatten sich die gesellschaftlichen ab. Sie bilden sich kommunikationstechnisch unentwegt fort, Unterströmungen der achtziger Jahre längst schon in alle Po- sorgen für private Vorsorge und Kapitalbildung, sind zu Umren der Gesellschaft hinein diffundiert. Wie sonst hätte wenig zügen und allerlei anderen Mobilitäten bereit. Vorangekommen sind aber seit Jahren die wenigsten; Einspäter eine protestantische, geschiedene Frau an bußen erlebt haben die meisten. Daher ist das die Spitze einer von ihrer ganzen Tradition her Volk inzwischen mehrheitlich der drängenden hochkonservativen, entschieden patriarchaliVeränderungsimperative von oben überdrüssig schen und überwiegend katholisch geformten geworden. Die Morgenappelle zur steten Reform Partei aufsteigen können, um fünf Jahre später empfindet gerade die gesellschaftliche Mitte Kanzlerin zu werden? Wie sonst hätten seither mittlerweile nicht mehr als Befreiungsruf, sonchristdemokratische Ministerpräsidenten in aller dern als Bedrohungsszenarium. Öffentlichkeit neue Liebesbeziehungen eingehen Allerdings liegt gerade im Verlangen der Mitkönnen, ohne dass stürmische Protestwellen der te nach Berechenbarkeit und Ordnung die große Traditionsbataillone sie aus ihren Ämtern spülChance für Schwarz-Gelb, im Herbst 2009 die ten? All das zeigt: Als Rote und Grüne in die Rearithmetische Mehrheit für eine Regierungsgierungszentrale einzogen, war ihr mittlerweile FRANZ koalition zu erlangen. Es könnte für eine Regiedomestiziertes sozial-kulturelles Projekt schon WALTER rung Merkel-Westerwelle reichen, weil diese Alweitgehend realisiert. Sie bekamen es daher dann lianz jenseits der Großen Koalition das einzige rasch mit Aufgaben zu tun, zum Beispiel in Af- Ein Gespür für Trends Bündnis wäre, das so etwas wie Stabilität und ghanistan oder mit der Agenda 2010, auf die sie hat der Politologe Übersichtlichkeit in Aussicht stellt. Alles andere biografisch keineswegs vorbereitet waren. Sie mehrmals bewiesen: wären hochfragile Konstellationen à la Ampel, mussten das Gegenteil von dem beschließen, was Das vorzeitige Ende der Kanzlerschaft Jamaika oder gar Rot-Rot-Grün – ein Horror für sie zuvor jahrzehntelang postuliert hatten. die stabilitätsbedürftigen Bundesbürger. KurzSo könnte es 2009 ebenfalls kommen. Einiges Gerhard Schröders um: Schwarz-Gelb käme, wenn es denn kommt, spricht dafür, dass im September ein schwarz-gel- sah er ebenso komals Objekt von Berechenbarkeits- und Ordber Machtwechsel bevorsteht. Dann aber dürfte men wie die Große nungswünschen, nicht als Projektionsfläche stürein weiteres Mal ein Bündnis regieren, dessen po- Koalition. Walter, 53, mischer Wandlungsbegehrlichkeiten. litisches Mantra hoffnungslos in der Vergangen- lehrt in Göttingen. SPIEGEL GESCHICHTE
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AUSSENANSICHTEN
Angela Merkel und Guido Westerwelle bei einer inszenierten Cabrio-Fahrt im Mai 2001 in Berlin
Man kann die Mentalitätsrestauration, von der SchwarzGelb paradoxerweise profitieren mag, auch mit ökonomischen Kategorien beschreiben: Die modernen europäischen Gesellschaften sind nicht durch einen Mangel an Wettbewerb, an Freiheitsräumen, an Individualisierung, an Autonomie, an Optionen charakterisiert. All das ist weiterhin reichlich vorhanden. Zur Mangelware aber sind, als Folge des liberalen Wandels der letzten Jahre, die Kohäsionsnormen geworden: Es fehlt vielfach an Sinn, an Zielen, an Einbettungen, an kollektiven Behausungen, an Stabilitätsstrukturen, an voraussetzungslos verlässlichen Bezügen. Nicht zuletzt deshalb flackern immer wieder die festlichen Gemeinschaftsinszenierungen rund um das Brandenburger Tor auf. Symptomatisch ist auch die Faszination für eine politische Heilandsfigur wie Barack Obama, der im dafür günstigen Weltenmoment Umkehr predigt. Es ist wohl so, dass alle 20 bis 30 Jahre das Pendel umschlägt. Von solchen historischen Rhythmen innergesellschaftlicher Einstellungsmuster sind zumindest nicht ganz wenige kluge Deuter der Geschichte überzeugt. Auf Phasen des Individualismus folgen Passagen kollektiver Orientierungen. Zeiten liberaler Wirtschaftsideen werden von Abschnitten etatistischer Planungs- und Regelungsversprechen abgelöst. So erleben wir gerade das vorläufige Ende der goldenen Jahre neuliberaler Gesellschaftsinterpreten. Einiges spricht dafür, dass man in den nächsten Jahren stärker über integrative und stabilisierende Gesellschafts-
muster räsonieren wird, vielleicht auch über eine Restrukturierung des Politischen generell. Darauf allerdings sind die möglichen Koalitionspartner von Schwarz-Gelb lebensgeschichtlich nicht vorbereitet. Die meisten von ihnen sind in der unbekümmerten Frühlingsstimmung der individualistischen Aufbrüche der vergangenen Jahre politisch großgeworden. Ihnen fehlt daher das Sensorium für die Probleme im anstehenden Herbst eines kooperations- und steuerungsschwachen Liberalismus. Der nonchalante Neuliberalismus passte kongenial in die Zeit des pausbäckigen Marktvertrauens und enthemmten Renditestrebens. Doch selbst im gewerblichen Bürgertum glaubt mittlerweile niemand ernsthaft, dass mit der schlichten Forderung nach drastischer Steuersenkung und mit Attacken auf Staat und Gemeinwohl den politischen und gesellschaftlichen Fragen ernsthaft beizukommen ist. Mithin: Es mag schon sein, dass der Neuliberalismus personell demnächst den Einzug ins Kabinett schafft. Aber all diejenigen, denen dabei unbehaglich wird, müssen sich im Grunde nicht ängstigen. Nach allen Erfahrungen der bundesrepublikanischen Geschichte würde ein solcher Regierungswechsel signalisieren, dass der alt gewordene Neuliberalismus tatsächlich seine besten Tage hinter sich hat. Auch Schwarz-Gelb wird dann eine Agenda entwickeln müssen, für die ihre politischen Protagonisten ursprünglich nicht angetreten sind. In dieser Paradoxie gründet die historische Räson der Regierungswechsel während 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland.
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PAUL ROSE / BILD ZEITUNG
SchwarzGelb fehlt das Sensorium für die Probleme.
SCHAUPLÄTZE
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DEUTSCHE STATIONEN Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Willy-Brandt-Allee 14, Bonn Initiator des mitten im ehemaligen Regierungsviertel gelegenen Museums war Helmut Kohl. Im Juni 1994 eröffnete der damalige Kanzler das Haus in der Bonner Museumsmeile. Inzwischen ist der – kostenlose – Besuch für BonnTouristen ein Muss. Jährlich kommen Zigtausende, um die auf mehr als 4000 Quadratmetern präsentierten rund 7000 Ausstellungsstücke anzuschauen – etwa den Dienst-Mercedes Konrad Adenauers oder den Eisenbahn-Salonwagen bundesdeutscher Regierungschefs, einen
Kinosaal aus den fünfziger Jahren oder den Haftbefehl für Erich Honecker. Hinzu kommen zahlreiche Wechselausstellungen, etwa zu Wahlkämpfen oder zu deutschen Nationalsymbolen. Wer will, kann seine Museumseindrücke mit einem Spaziergang durch das frühere Bonner Regierungsviertel vervollständigen. Der bald zweistündige „Weg der Demokratie“, der am Haus der Geschichte beginnt, führt zu wichtigen historischen Stätten in der langjährigen Bundeshauptstadt. Zur einstigen Pädagogischen Akademie beispielsweise, in der sich mit dem Parlamentarischen Rat, mit dem Deutschen Bundestag und Bundesrat drei gewichti-
ge Entscheidungsträger versammelt haben. Oder zu dem Ort, an dem am 1. Juli 1999 die letzte Sitzung des Bundestages in Bonn stattfand. In dem Gebäude, das heute als Konferenzzentrum für nationale und internationale Tagungen dient, befand sich von 1992 bis 1999 der Plenarsaal des Bundestages. Zu der Tour gehören auch: das umgebaute Wasserwerk, in dem die Parlamentarier zwischen 1986 und 1992 tagten, das Palais Schaumburg, von dem aus unter anderen Konrad Adenauer regierte, das 1976 von Helmut Schmidt erstmals bezogene Bundeskanzleramt und die Villa Hammerschmidt, die bis heute zweiter Amtssitz des Bundespräsidenten ist. Die Stiftung „Haus der Geschichte“ unterhält außerdem noch eine Dependance in Leipzig („Zeitgeschichtliches Forum Leipzig“, Grimmaische Straße 6), die über Opposition, Widerstand und Zivilcourage in der DDR informiert.
BUCHEMPFEHLUNGEN Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main; 928 Seiten; 17,90 Euro. Gutgeschriebener, faktenreicher Überblick zur bundesdeutschen Geschichte. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen (2 Bände). Verlag C. H. Beck,
München; 1412 Seiten; 39,90 Euro. Ein Klassiker. Der 2. Band beschäftigt sich mit der Zeit vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung.
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Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5.: Bundesrepublik und DDR 1949–1990.
Verlag C. H. Beck, München; 528 Seiten; 34,90 Euro. Das Buch schließt Wehlers monumentale Gesellschaftsgeschichte seit 1700 ab und schildert die Bundesrepublik als Erfolgsmodell, während die DDR stets nur eine „sowjetische Satrapie“ gewesen sei.
Daniel Koerfer: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer.
Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel.
DVA, München; 832 Seiten; 25 Euro. Obwohl schon mehr als 25 Jahre alt, bleibt Barings Buch das Standardwerk zur Geschichte der sozial-liberalen Koalition und zu den Hintergründen der Ostpolitik.
Propyläen Verlag, Berlin; 952 Seiten; antiquarisch. Koerfer analysiert die Hintergründe der Rivalität zwischen den beiden Politikern. Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie.
Rowohlt Verlag, Berlin; 288 Seiten; 19,90 Euro. Verfassungsgeschichte, spannend erzählt.
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HANS-GÜNTHER OED
Museum „Haus der Geschichte“ in Bonn
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Ehemaliger Checkpoint Charlie
KLAUS-DIETMAR GABBERT / DPA
Friedrichstraße, Berlin Der einstige Grenzübergang verband den US-amerikanischen Sektor mit dem sowjetischen. Westliche Alliierte, Ausländer und Diplomaten passierten hier die Mauer. Der Grenzabschnitt war Schauplatz dramatischer Fluchtversuche. 1962 verblutete im Todesstreifen Peter Fechter, ein 18-jähriger Maurergeselle. Das Mauermuseum zeigt umgebaute Autos, Heißluftballons und andere Hilfsmittel, mit denen Flüchtlinge versuchten, in den Westen zu gelangen.
Gedenkstätte Berliner Mauer Bernauer-, Ecke Ackerstraße, Berlin Die Mauer teilte die Bernauer Straße in ihrer ganzen Länge, die Fenster in den
im Osten liegenden Wohnungen wurden zugemauert. Die Gedenkstätte existiert seit 1998. 60 Meter Grenzstreifen sind zu besichtigen. Eine ständige Ausstellung widmet sich dem Bau der Mauer, den Reaktionen darauf und den Auswirkungen auf das Leben der Bürger.
Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn Helmstedt/Marienborn war der größte innerdeutsche Grenzübergang. Die Siegermächte haben ihn im Juli 1945 eingerichtet, im Juni 1990 wurden die Kontrollen eingestellt. Seit 1996 gibt es hier ein Dokumentations- und Informationszentrum. Ausstellung und Videofilm informieren über die Geschichte des Ortes und über historische Zusammenhänge.
Peter Zolling: Das Grundgesetz – Unsere Verfassung – wie sie entstand und was sie ist. Carl Hanser
Hans-Peter Schwarz: Adenauer. 1. Bd.: Der Aufstieg, 1876–1952; 2. Bd.: Der Staatsmann, 1952–1967.
Verlag, München; 200 Seiten; 14,90 Euro. Das anschaulich geschriebene Buch wendet sich ganz besonders an junge Leser.
DVA, München; 1. Bd. 1020 Seiten; antiquarisch; 2. Bd. 1084 Seiten; 35 Euro. Die herausragende Biografie unter den Werken über Konrad Adenauer. Klaus Dreher: Helmut Kohl. Leben mit Macht.
928 Seiten; 32 Euro. Eine elegant geschriebene Biografie des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik.
DVA, München; 672 Seiten; antiquarisch. Dreher bietet einen kenntnisreichen Blick hinter die Kulissen des „Systems Kohl“.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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VORSCHAU
Die nächste Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE erscheint am Dienstag, dem 26. Mai 2009
Jerusalem, magische Stadt
Seit mehr als 3000 Jahren haben spektakuläre Ereignisse diesen Ort geprägt. Hier herrschten Israeliten und Babylonier, Perser und Römer, Kreuzritter, Mamluken, Osmanen und Briten. Keine Stadt ist wie sie: so verehrt, so magisch, so heilig und so umkämpft – bis heute. Wem gehört Jerusalem?
IMPRESSUM SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG Brandstwiete 19, 20457 Hamburg TELEFON (040) 3007-0 TELEFAX (040) 3007-2246 (Verlag), (040) 3007-2247 (Redaktion) E-MAIL
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Mathias Müller von Blumencron STELLV. CHEFREDAKTEUR Dr. Martin Doerry VERANTWORTLICH Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl REDAKTION Karen Andresen, Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Annette Großbongardt, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Rainer Traub; Autor: Stephan Burgdorff REDAKTEURIN DIESER AUSGABE Karen Andresen CHEF VOM DIENST Katharina Lüken, Thomas Schäfer GESTALTUNG Rainer Sennewald BILDREDAKTION Claus-Dieter Schmidt INFOGRAFIK Martin Brinker, Thomas Hammer, Gernot Matzke, Cornelia Pfauter SCHLUSSREDAKTION Karl-Heinz Körner; Reinhold Bussmann, Bianca Hunekuhl, Tapio Sirkka DOKUMENTATION Sonny Krauspe; Ulrich Booms, Dr. Heiko Buschke, Johannes Erasmus, Dr. André Geicke, Renate Kemper-Gussek, Peter Kühn, Dr. Walter Lehmann, Rainer Lübbert, Sandra Öfner, Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina SchlüterAhrens, Andrea Schumann-Eckert, Stefan Storz, Dr. Eckart Teichert, Ursula Wamser, Karl-Henning Windelbandt TITELBILD Stefan Kiefer; Constanze von Kitzing, Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Arne Vogt ORGANISATION Angelika Kummer, Antje Wallasch PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann HERSTELLUNG Mark Asher VERANTWORTLICH FÜR ANZEIGEN
Norbert Facklam ANZEIGENOBJEKTLEITUNG Arne Stefan Stiller VERANTWORTLICH FÜR VERTRIEB
HEILIGE METROPOLE Nirgends sonst kommen sich Juden, Christen und Muslime so nah, hier treffen die Ursprünge dreier Weltreligionen aufeinander. Doch der Glaube war an diesem Schauplatz der Bibel immer auch Werkzeug der Machtpolitik.
© SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, März 2009 ISSN 3632-6037
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SIEG DER JUDEN Der Staat Israel erklärte Jerusalem zur Hauptstadt. Der Historiker Tom Segev analysiert die fatalen Folgen der Kriege von 1948 und 1967.
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GEBETE DER CHRISTEN Pilger wandeln auf den Spuren ihres Herrn Jesu. Einst war Jerusalem christliches Königreich, heute sind die Christen eine Minderheit.
TRAUM DER MUSLIME Al-Kuds, so Jerusalem auf Arabisch, ist die nach Mekka und Medina wichtigste Stätte des Islam. Hier soll Mohammed in den Himmel geritten sein.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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EITAN / EYEDEA / HOA-QUI / LAIF (O.); D. RUBINGER / AFP (L.); ALAMY / MAURITIUS IMAGES (M.); AKG (R.)
Thomas Hass DRUCK appl druck GmbH & Co. KG, Wemding OBJEKTLEITUNG Sabine Krecker GESCHÄFTSFÜHRUNG Ove Saffe