DESS, der Zentralcomputer, hat ein Programm aufgestellt: der Stadtteil sollte abgerissen und neu aufgebaut werden. Kurz...
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DESS, der Zentralcomputer, hat ein Programm aufgestellt: der Stadtteil sollte abgerissen und neu aufgebaut werden. Kurz darauf widerruft der Computer seine Anweisungen. Kein Abriß, sondern Sanierung. Die Fachleute stehen vor einem Rätsel. Ist DESS verrückt geworden? Die Konkurrenz triumphiert: Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, DESS zu schlucken. Aber dann passiert das Entsetzliche. Die Stadt riegelt sich ab, die Menschen werden zu Marionetten – es war Wahnsinn mit Methode.
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher: Von Robotern beherrscht (3345)
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31005 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE INSANE CITY Aus dem Englischen übersetzt Umschlagillustration: Young Artists Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1971 by Kenneth Bulmer Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31005 2
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bulmer, Kenneth: Stadt des Wahnsinns: Roman/Kenneth Bulmer. – Frankfurt/M. Berlin, Wien: Ullstein, 1979. (Ullstein-Bücher; Nr. 31005: Ullstein 2000) Einheitssacht.: The insane city
ISBN 3-548-31005-2
Kenneth Bulmer
Stadt des Wahnsinns Roman
Science Fiction
1 Er konnte nicht schlafen. Irgendeine boshafte Eigenart des Bettes machte ihn langsam fertig. Das Bettzeug knüllte sich zusammen. Er drehte sich auf die rechte Seite und lag wie verkrampft. Er drehte sich auf die linke Seite und lauschte auf das heftige Da-dum, Dadum seines Herzens. Er fand keine Ruhe. Er setzte sich hin und gab den Kampf auf. Das große leere Doppelbett verhöhnte ihn. Wenn er nur verheiratet wäre, sich an einen sanften Körper schmiegen könnte, das Bett ein eheliches Paradies wäre, dann fände er vielleicht Schlaf. Das Leuchtzifferblatt der Uhr sagte mit konsequenter Munterkeit, daß es drei Uhr morgens war. Wütend knuffte er das Kopfkissen, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen und versuchte vergeblich, die innere Unruhe niederzukämpfen. Ein letzter Versuch noch, bevor er eine Schlaftablette nähme. Aber wie er es anstellen sollte, wußte er nicht genau – er war so verdammt müde. Er kletterte aus dem Bett, ohne zu wissen, was er tun sollte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, obwohl er die Augen kaum offenhalten konnte. Vielleicht würde eine Tasse Kaffee helfen. Er machte mit der Hand Licht. Er hatte einen üblen Geschmack im
Mund. Er stolperte in die Küche. Frank Arthur Ridgway kam sich sehr verlassen vor. Es war eigentlich sinnlos, über den vergangenen Tag nachzudenken. Der gestrige Tag hatte ganz normal angefangen; fast wie jeder andere Tag. Wie in Trance drückte er die Knöpfe des Kaffeeautomaten. Es war zum Verrücktwerden. Jetzt, wo er aufgestanden war, fühlte er sich zum Umfallen müde. Aber er wußte, sobald er im Bett lag, würde er sich wieder schlaflos hin- und herwälzen. Was war passiert? Da war zunächst Duncan, der angedeutet hatte, er solle Hanlon, den Produktionsdirektor, nicht so hart anfassen. Jim Duncan, mit seinem riesigen Schädel und dem weißen Haarschopf, der Ridgway immer an einen alten Barden erinnerte, war wie ein großer Eisbär in Ridgways Büro getappt gekommen. Duncan war Präsident von DESS – Duncan Electronic Systems Services – und die Aufgabe, den Einsatz von Menschen zu organisieren, verlangte viel von ihm. »Sie müssen Hanlon verstehen, Arthur«, hatte Duncan mit brummiger Stimme gesagt. »Das versuche ich ja. Aber ich dachte, wir gehen nach Management by Objectives vor –« »Stimmt schon. Aber –« »Schließlich heißt das, daß wir uns Ziele setzen und darüber auf der ganzen Linie einig sein sollten. Guter
Gott, Jim, Sie selbst haben dieses Führungsmodell eingeführt!« Er durfte Jim zu James Grant Duncan sagen, weil Ridgways Status in der Firma diese Vertraulichkeit gleichsam erforderte, und weil Duncan der Freund von Ridgways Vater gewesen war. Außerdem mochte er den alten Fuchs. »Immerhin hat Hanlon heute auf unserem Aufsichtsratstreffen darauf hingewiesen, daß unsere langfristigen Planungen überholt sind und unsere sämtlichen Baugruppen Lieferverzögerungen haben«, erklärte Duncan. »Wir verbrauchen zuviel.« Er machte sich Sorgen und bemühte sich, es zu verbergen. »Die Aufträge laufen aber doch plangemäß, oder?« »Ja. Die Berechnungen, die uns DESS gibt, sind beruhigend. Aber die Materialsituation ist beängstigend.« »Das ist doch nur vorübergehend«, widersprach Ridgway. »Sie haben mich geholt, damit ich ein paar neue Kunden zur Anschaffung von RobexDienstleistungsautomaten überrede. DESS-Robex natürlich.« Er winkte ab, als Duncan einen Einwurf machen wollte. »Ich weiß, daß Sie das lieber Public Relations nennen, aber so sehe ich es nun mal. Gott sei Dank bin ich nicht für den Verkauf zuständig. Von ein paar persönlichen Kontakten abgesehen. Aber ich kann nicht werben, promoten und schulen, wenn wir nichts produzieren.« –
In der Küche pfiff der Kaffeeautomat, und Ridgway goß sich eine Tasse ein. Das Gespräch von gestern beschäftigte ihn. Er griff zu, bevor der Robex die Tasse füllen konnte. Tadelnd piepste der Automat, kochendheißer Kaffee floß über den Rand der Tasse und tropfte auf den Fußboden. Ridgway fluchte und gähnte. Vielleicht gab es doch einen Grund, warum er nicht schlafen konnte. Er nahm die volle Tasse und ging in die Diele. Das Licht ging automatisch an, als er eintrat, und er ließ sich in den Sessel neben dem Fenster fallen. Er arbeitete gern für DESS. Wenigstens bis vor einer Woche oder so. Eigentlich war er ziemlich stolz auf DESS, den Computer. Er kannte keinen besseren und hielt mit dieser Meinung nicht hinter dem Berg. Doch jetzt war er nicht mehr so sicher. Natürlich war DESS in Ordnung; Duncan war das Problem. Der Kaffee war alle, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn getrunken zu haben. Als er durch die Fenster auf die Lichter und die Schatten der Stadt starrte, überkam ihn ein seltsames Gefühl, als versinke er in einen Zustand mystischer Kontemplation, als habe er schließlich doch noch eine Art unechten Schlafes gefunden. Wie unter Hypnose kleidete er sich an, wie im Traum ging er zum Fahrstuhl und fuhr in das schummrige Foyer hinunter, in dessen Schatten die Ranken der Ge-
wächse und Topfpflanzen einen Dschungel bildeten. Niemand sah, wie er das Haus verließ. Mit den Händen in den Taschen schlenderte er die nächtlichen Straßen entlang. Er schaute nicht in die grellen Laternen, und sein Bewußtsein war wie ein Wattebausch, aus dem die unerfreulichen Erinnerungen an gestern wie Stecknadeln herausragten. Er ließ sich treiben, als wäre er ein Teil der nächtlichen Szene. Wie sah die Welt aus, die Welt von heute? Rechnergesteuerte Dienste formten sie, nicht wahr? Wohin er auch sah, überall pulste das elektronische Leben der Stadt. Automaten befriedigten alle Bedürfnisse – bei Tag und Nacht. Wahrscheinlich steckte er nur deshalb in Schwierigkeiten, weil er sich nicht anpaßte. Seine Schritte trugen ihn in östliche Richtung an die Nordseite des Hyde Parks, dessen gewaltige, nur hier und dort von Laternen erhellte dunkle Masse formlos und windbewegt in der Nacht lag. Die Bäume rauschten, Böen fegten über die Wege. Autos fuhren dann und wann auf der Straße vorbei; über ihre gelackten Karosserien schlängelten sich bunte Reflexe. Er zog den Kopf tiefer in den Mantelkragen. Eigentlich hätte ihm das Leben verheißungsvoll erscheinen sollen, selbst wenn er sich über Duncans Einstellung Sorgen machte. Alles in allem hatte
Ridgway nur deshalb bei DESS angefangen, weil sein Vater ein guter Freund von Duncan gewesen war. Nachdem er seine Karriere als Lehrer aufgegeben hatte, schwor er sich, nie wieder einen technischen Beruf anzufangen. Aber nun steckte er wieder mittendrin und benutzte seine Überzeugungskünste, die Leute an den Gedanken zu gewöhnen, Robexe zu benutzen. Wenn sein Kopf sich nicht wie eine alte Socke angefühlt hätte, wäre ihm das Ganze ziemlich lächerlich vorgekommen. Im Norden, hinter dem neuen Turm des Postamtes, und südlich hinter dem Park züngelten und funkelten die Lichter der Datensender im wolkenverhangenen dunklen Himmel. Eigentlich waren die Leuchtsignale sinnlos, weil die Flugzeug-Robex jedes Hindernis kannten, aber die Vorschriften ... Typisch für den Fortschritt. Die Robex-Revolution war allgemein akzeptiert worden, aber die Gesetze verlangten, daß man immer noch altmodischen Konzepten folgte. Die Sendemasten und Sendestationen wurden von Privatunternehmern gebaut, gewartet und bedient. Die Programme allerdings stammten von Firmen wie DESS, und diese Programme waren es, die die Robex steuerten. Wenn man DESS mit Konkurrenten wie SERVEN verglich, dann war DESS nicht groß. Aber DESS expandierte. Es war überall auf der Welt dasselbe; egal,
ob man in New York, Zürich, Saigon und Quebec oder in einer der hundert anderen künstlichen Städte des Globus spazierenging, immer umgab die Menschen das unfaßbare elektronische Gewebe, das die großen Computer spannen. Die Fäden und Stränge dieses Netzes spannten sich von den Sendeantennen zu den Bewohnern der Weltstädte, beeinflußten ihr Leben, und die Robexdienste versorgten alle, wenn auch nicht jeden, mit sofortigem und makellosem Service – wenn man sich ihn leisten konnte. Ridgway hörte das häßliche Quietschen von Reifen. Er drehte sich um. Dunkel hob sich eine Hecke gegen die beleuchteten Hotelfassaden auf der anderen Straßenseite ab. Eine Hupe lärmte. Leicht belustigt dachte Ridgway daran, daß nur ein menschlicher Fahrer so reagieren würde. Die Bruderschaft der Robex kannte keine Fehler; die blieben Menschen vorbehalten. Ein Auto rutschte quer über die Straße. Die entgegenkommenden Wagen wichen aus und wurden von den Robexchauffeuren geschickt in die Lücken des Gegenverkehrs gelenkt. Der Unglückswagen rutschte weiter, die Reifen quietschten, der Lack glänzte kalt in Rot und Blau und Weiß. Chromleisten funkelten wie Messerklingen. Der Wagen prallte gegen eine Ampel. Eine Tür flog auf. Der Mast, der noch aus der Zeit manuell gelenkten Verkehrs stammte, knickte
um. Der Lack des Autos zerriß das Licht in spitze Zacken. Der Verkehr stockte. Erst als ein Streifenrobex mit schimmerndem Rotor und brutal deutlichen Lettern aus dem Himmel herabsank, bildeten sich zwei Fahrspuren, die langsam an der Unfallstelle vorbeikrochen. Rote und gelbe Lichter blitzten. Ridgway ging näher. Es gab nicht oft einen Unfall zu sehen. Er hatte selber genug Sorgen, und jede Ablenkung war ihm willkommen. Der Wind hatte aufgefrischt und wehte in unregelmäßigen Stößen über die Straße. Die Bäume des Parks stöhnten. Der Streifenrobex kümmerte sich um den Unfall. Effektiv und ohne Gemüt würde die Maschine für die Beseitigung des Hindernisses sorgen und die verschiedenen Komponenten des Geschehens registrieren. Ridgway wollte trotz seines Brummschädels gern sehen, wie der Robex mit der Situation fertig wurde. SERVEN hatte den Service-Vertrag für die Verkehrspolizei bekommen; sie holten sich die dicksten Rosinen aus dem Kuchen. Nicholas Rogan ging, obwohl eigentlich ein Aufsichtsrat SERVEN leitete, über Leichen, wenn es Konkurrenten auszuschalten galt. Vielleicht konnte Ridgway heute nacht einen Teil der Wahrheit und des Warum kennenlernen. Zuerst bemerkte er das Mädchen im Rinnstein gar nicht.
Erst als die roten und gelben Lichter synchron blinkten, leuchtete ihr Gesicht wie eine Faschingsmaske aus dem Dunkel. Unnatürlich verkrümmt lag sie auf der Straße. Er bückte sich. Sie war tot. Ihr weißes Gesicht war ruhig und gelassen, die Lider waren geschlossen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, aber die grellen Blinklichter konnten die Sanftheit und den Glanz ihrer Lippen nicht verfälschen. Die Farbe ihres Haars war unbestimmbar; es schimmerte in den wechselnden Lichtern von Dunkelrot bis Schwarz. Wie auf einem Werbefoto war es über den Bürgersteig gebreitet und fiel in Wellen über Kantstein und Beton. Am Himmel jaulte die Sirene der Ambulanz. Überrascht sah Ridgway auf. Die Halogenscheinwerfer der Ambulanz durchschnitten brutal das flackernde Rot und Gelb und verwandelten das Haar der jungen Frau einen Augenblick lang in eine blutrote Lache. Der Wind stieß in Böen hin und her. Schatten fuhren unruhig über die Straße. Scheinwerfer glitten pausenlos vorbei. Dunkel lockte der Park auf der anderen Straßenseite. Der Robex auf dem Fahrersitz lenkte den Unfallwagen heran, Türen klappten automatisch auf, eine Tragbahre fuhr heraus. Die Räder rollten murmelnd über den Beton, die Sensoren der Bahre funkelten. Sie tasteten die Szene ab, schwenkten hin und her, um al-
les Wichtige aufzufangen. Lange sahen sie Ridgway an, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich, als fühle er sich verdächtigt. Die Bahre rollte wispernd weiter. Arme falteten sich heraus und hoben den toten Körper vorsichtig auf die Tragbahre. Greifer legten eine Decke um die Leiche. Ridgway kannte das Ambulanzmodell. Vor einiger Zeit hatte er den Städtischen Unfallhilfsdienst davon überzeugen können, daß sie mit einem Robex von DESS am besten bedient wären. Er erinnerte sich, welche Unmengen von Schnaps Joe Harrison, der Verkaufschef, fließen lassen mußte, bis der Vertrag unter Dach und Fach war. Weder er noch Harrison hatten jemals einem echten Unfall zugesehen, einen Unfall erlebt, bei dem ein totes Mädchen diskret beiseitegeschafft werden mußte. Die Sensoren der Tragbahre drehten sich langsam, faßten noch einmal Ridgway ins Blickfeld, der unbeweglich auf die Bahre und das tote Mädchen starrte. Ridgway lief es kalt über den Rücken. Er fröstelte. Die elektronischen Augen klappten zu, wurden eingefahren, und die Bahre rollte leise zur Ambulanz zurück. Eine zweite Ambulanz, diesmal eine SERVEN, näherte sich und parkte neben dem DESS-Wagen. Eine Bahre rollte heraus und fuhr zu dem Fahrer des verunglückten Autos, der angeschnallt hinter dem Lenkrad saß. Plastiktentakeln lösten ihn aus den Gurten.
Inzwischen hatten sich Neugierige an der Unfallstelle versammelt. Der Fahrer lag auf der Bahre und atmete mit offenem Mund. Sein Gesicht war geschwollen und gerötet. Das Nasenbein war gebrochen. Er stank. »Besoffen!« sagte ein junger Mann und drückte sein Mädchen an sich. »Ein gottverdammter stinkender Alkoholiker! Er hat das Mädchen auf dem Gewissen!« »Man sollte überhaupt keine Menschen mehr ans Steuer lassen«, sagte das Mädchen mit dünner Stimme. Sie sah elend aus. »'n Robex kann sich eben nicht jeder leisten«, sagte ein Portier wütend. Das tote Mädchen und der Betrunkene wurden weggefahren. Ridgway war kalt. Die Signallichter verschwanden flackernd in der Ferne. Schatten quälten sich schwankend über die Wege. Das Autowrack lag verloren am Straßenrand. Ridgway fröstelte. Er mußte nach Hause, ob er nun schlafen konnte oder nicht.
2 Als Ridgway erwachte, waren die Lampen in der Diele ausgegangen und die Morgensonne blinzelte durch die Jalousien. Er räkelte sich und gähnte. Unbewußt schaute er auf die Uhr, die neben dem Telefon auf dem Nachttisch stehen sollte, und fiel fast vom Stuhl. Überrascht hielt er sich an der Lehne fest. Er saß ziemlich unbequem im Stuhlsessel neben dem Fenster der Diele. Offenbar hatte er den Rest der Nacht hier verbracht. Er gähnte noch einmal. Er fühlte sich mies und ihm fiel ein, wie er sich den Schlaf herbeigesehnt hatte. Na ja, es war nicht das erste Mal. Er erinnerte sich, daß er sich eine Tasse Kaffee gemacht hatte, in die Diele gestolpert und in den Sessel gefallen war. Sein Rücken war steif wie ein Brett. Die Augen brannten. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und schnitt ein Gesicht. Verdammt. Was für eine Nacht! Und alles wegen Duncan und Hanlon. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie hatten nur eine Unruhe in ihm ausgelöst, die tiefer saß. Er stand auf und stolperte in die Duschkabine. Er wußte noch nicht, was ihn beunruhigte. Irgendwie
fürchtete er sich, nach dem Grund seiner Angst zu suchen. Aber nachdem er geduscht, sich rasiert und den Frühstücksautomaten programmiert hatte, fühlte er sich langsam besser. Eine Scheibe Toast und zwei Tassen Tee reichten ihm. Wahrscheinlich hätte er gestern abend doch eine Schlaftablette nehmen sollen. Aber er mißtraute der modernen Medizin. Manchmal kam es ihm vor, als säße die Welt auf dem Rücken eines Tigers, und alle hatten Angst, abzuspringen. Er stand vom Frühstückstisch auf. Der Garderobenrobex huschte ihm aus dem Schlafzimmer entgegen. Ridgway führte das Leben eines Junggesellen – das Doppelbett war reines Wunschdenken –, und der Garderobenrobex, eine hübsche kleine Truhe mit Zyklopenauge, Sensor und einigen Bügeln, stammte von DESS. Die Tentakeln des Robex reichten ihm die Kleidungsstücke in der Reihenfolge, die er ihm einprogrammiert hatte. Er kleidete sich mechanisch an, zog den Knoten der silbergrauen Krawatte fest, rückte das Sakko zurecht. Der Tag konnte beginnen. Er war bereit – so dachte er wenigstens. Gott sei Dank hatte er wenigstens keinen Kater oder Kopfschmerzen. Im Fahrstuhl verzichtete er auf die übliche Morgenunterhaltung mit dem älteren Ehepaar aus dem Stockwerk über ihm und dem blonden Gift aus dem
18. Stock – manchmal kam es ihm vor, als züchte man dort hübsche Mädchen, so viele wohnten da oben – und lächelte freundlich. Der Robexportier hatte für die übliche Anzahl Taxis gesorgt, und ohne Zögern nahm Ridgway eines. Die Sonne spiegelte sich freundlich auf dem binauralen Sensor des Portiers, funkelte auf Lack und Chrom. Das Taxi fuhr an; der Robexchauffeur war sowohl Bestandteil, als auch Zubehör des Wagens und kontrollierte Brennstoffzellen, Gaspedal, Bremsen, die Türen und die Klimaanlage. Die Antenne auf dem Wagendach ließ erkennen, daß dieses Taxi nicht von einem Menschen gelenkt wurde. Ridgway erinnerte sich undeutlich an Lichtreflexe auf Lack und an wie Messerklingen funkelndes Chrom. Er schüttelte den Kopf. Das Taxi rollte in raschem Tempo auf das Ziel zu. Der Robex paßte den Wagen fehlerfrei dem Verkehrsfluß an. Es gab keinen Zentralcomputer, der ausschließlich den fließenden Verkehr überwachte; die Zentrale war für fundamentalere Funktionen da. Ridgways Gedanken wurden unterbrochen, als das Taxi eine Lücke in dem dichten Morgenverkehr fand und ihn sanft vor dem DESSGebäude absetzte. Er stieg aus und hielt dem Taxametersensor die Kreditkarte vor. Dann ging er hinein. Noch immer fühlte er sich, als habe er vergessen, die Hose anzuziehen.
Die DESS Ltd. hatte sich aus einer kleinen Fabrik entwickelt, die vor Jahren elektronische Datenübertragungsgeräte für die Luftfahrtindustrie entwickelt und gebaut hatte. Der alte Duncan, Jim Duncans Vater, hatte sein Geld gemacht und die kleine Firma zu einem wettbewerbsfähigen Unternehmen konsolidiert. Dann gelang es den Duncans, auf dem Computersektor Fuß zu fassen und zu expandieren. Und als sie ihre ersten Schritte auf dem Gebiet der Datenfernübertragung gemacht hatten, stellte sich heraus, daß sie sich zu den Schrittmachern dieses sich rasch ausweitenden Marktes zählen konnten. Ridgway ging wie gewöhnlich rasch durch das Foyer, nickte dem als Frau kaschierten Robex am Empfang zu und betrat den Fahrstuhl, der ihn in die Direktionsetage bringen würde. Wie überall bildeten Foyers mit ihren Fahrstuhltüren, Zimmerlinden und der Palisandertäfelung den üblichen monotonen Hintergrund modernen Geschäftslebens. Es hatte Mühe gekostet, Jim Duncan zu überreden, einen Robex mit weiblichen Formen an den Empfangstisch zu setzen. »Was soll das, ein stinknormaler gut funktionierender Robex mit Gummibusen, falschen Hüften und nylonbestrumpften Beinen? Und wozu ein Plastifleischgesicht, das wir erst mit einem teuren Miniwobbler in Bewegung setzen müssen?«
»So? Na, meinetwegen verschönert den verdammten Robex, damit unsere Kunden einen billigen Sexreiz bekommen. Hauptsache, das Ding tut, was man ihm sagt!« Ridgway stieg im 20. Stock aus. Das DESS-Hochhaus hatte dreißig Stockwerke, aber DESS benutzte nur acht davon. Die Büros lagen in den oberen zwei. Die Stockwerke über DESS hatte eine italienische Firma gemietet, die Instrumente für Hubschrauber herstellte. In den restlichen dreizehn Stockwerken unter DESS hatte sich ein amerikanisches Unternehmen niedergelassen, das Softdrinks, Zigarren und Unterwäsche verkaufte. Über die Leute, die dort ein und aus gingen, konnte man nur den Kopf schütteln. Miss Stephens stand an ihrem Schreibtisch, als Ridgway ins Büro kam und krampfhaft versuchte, seine Verwirrung zu verbergen. Er spürte sofort, daß dicke Luft war. »Nun, Lalli«, sagte er und machte sich gar nicht erst die Mühe, über den Teppich zu seinem Schreibtisch zu gehen, »was ist los?« »So gut wie alles, Mr. Ridgway. Mr. Duncan wünscht, daß Sie sofort zu ihm kommen.« »Das habe ich mir schon gedacht.« Lalli Stephens lächelte. Ihre Urgroßeltern waren aus Westindien zugewandert, und die Familie hatte auf Rassenreinheit geachtet. Er freute sich immer
wieder, wenn er ihr rabenschwarzes Haar, ihr sprödes dunkles Gesicht und die riesigen braunen Augen betrachten konnte. Ridgway wußte, daß sie ihren Job verstand. Und natürlich wußte er auch, daß sie eine phantastische Figur hatte. Aber damit war sein Wissen über sie schon am Ende. Er schätzte sie sehr. Und weil er ein vernünftiger Mann war, hatte er nichts daran geändert. Das Telefon schrillte. Lalli Stephens nahm ab. Sie legte die Hand über die Muschel und zwinkerte Ridgway zu. »Mr. Morel ist dran«, lächelte sie. »Klingt ganz friedlich.« Ridgway nahm den Hörer. Er zwang sich, laut und kameradschaftlich zu sprechen, was er im Grunde verabscheute, und brüllte ins Telefon: »Halloo, Paul, nett, daß Sie sich mal melden!« »Art, ich dachte mir, ich sage Ihnen Bescheid, bevor es durch die offiziellen Kanäle geht. Unsere Ladenkette hat sich für DESS-Robex entschieden. Gut, was?« »Also, Paul, das ist ja großartig!« Ridgway konnte sich den dicken, nach Parfüm und Zigarren duftenden Paul Morel genau vorstellen; Morel war Einkäufer für eine Supermarktkette, die sich erst kürzlich aus den noch wenigen unorganisierten Läden gebildet hatte. DESS hatte sich gegen die harte Konkur-
renz von WESTEX und SERVEN durchsetzen müssen, um Morel herumzukriegen. Ridgway hatte das Seine dazu beigetragen. »Ich dachte mir, Sie würden es gern wissen, bevor Ihr Verkauf davon Wind bekommt, Art! Hübscher Vorsprung, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Natürlich wußte Ridgway, was Morel meinte. Und Morel wußte, daß Ridgway es wußte. »Sagen Sie mal, Paul«, sagte Ridgway, als könne er Gedanken lesen, »was halten Sie davon, wenn wir uns heute abend treffen und gut essen und trinken – zur Feier des Tages.« Morel verstand. »Das wäre wunderbar, Art! Ich kenne ein nettes Lokal. Und nachher gehen wir in meinen Klub. Danke für die Einladung, Art. Es freut mich immer, wenn ich mit Ihnen Geschäfte machen kann.« Ridgway legte auf. Miss Stephens' schlanke Finger nahmen ihm das Telefon ab. »Ja, ich weiß, Lalli«, sagte er schuldbewußt, »morgen schnorrt er auch dem Verkauf ein Essen und eine lange Nacht ab.« Er stemmte die Hand in den Rücken und verfluchte insgeheim den Stuhl. »Was soll's. Wir haben einen Abschluß gemacht. Es genügt mir, wenn ich das Jim bestätigen kann.« Lalli Stephens wußte, wann sie zu schweigen hatte. »Wenn ich mich an die kindischen Spielregeln hal-
te, bedeutet das noch lange nicht, daß ich sie billige – oder?« fragte er sie und blieb in der Tür stehen. »Sie wissen doch, was ich von diesem Flohzirkus halte, Lalli.« »Ich bin Ihre Sekretärin, Mr. Ridgway. Sie sind zwar so wichtig, daß Sie Anspruch auf eine menschliche Sekretärin haben, aber für Ihr Gewissen sind Sie selbst zuständig.« »Mein Gott, mit Ihnen hätte es selbst ein Heiliger schwer«, sagte er und ging kopfschüttelnd hinaus. Lalli Stephens lachte hell und beschäftigte sich wieder mit der Post. Egal wie sehr er sich bemühte, Autorität zu zeigen und keinen Widerspruch von Untergebenen zu dulden, Ridgway brauchte den Kontakt zu Mitmenschen. Er wußte, daß er damit einen hoffnungslos veralteten Standpunkt einnahm, aber ebenso wie er sich nicht von dem Gefühl der Kameradschaft trennen mochte, gelang es ihm nicht, den Folgen seiner Handlungsweise auszuweichen. Wie gern wäre er ein Misanthrop gewesen. Aber seine Natur stand dagegen und setzte ihn immer wieder hilflos dem Leben aus. Eine feuerrote Schwingtür trennte den Korridor ab. Ridgway ging hindurch und betrat eine andere Welt. Die Front des Hauses zeigte ein freundliches Gesicht, wie es zum Empfang von Besuchern nötig war: Wei-
che Teppiche, schmeichelndes Licht, eine einladende Atmosphäre. Das Haus trug den Namen DESSGebäude zu Recht; die Duncans hatten es gebaut, später an eine Versicherung verkauft und acht Stockwerke gemietet. Heutzutage gab es kaum eine Firma, die keine Geheimnisse hatte – selbst der amerikanische Miederwarenkonzern hatte welche, was eigentlich nicht verwunderlich war, wenn man an den ewigen Kampf um die Schwerkraft zwischen Natur und Kunst dachte – und in den Hinterzimmern des Geschäftshauses fand man dann die weitaus normalere Atmosphäre harten Geschäftsstrebens. Ein Wachmann in Uniform saß auf seinem Stuhl, einen Karabiner mit Nachtsichtgerät auf den Knien. Die »Empfangsdame« war ein Robex; Fernaugen hingen in jedem Winkel und verfolgten alles und jeden mit glitzernden Objektiven. Die Sicherheitszentrale im obersten Stock der DESS-Verwaltung steckte voller Wächter und Robex, die ständig in Alarmbereitschaft waren. Ridgway zeigte dem Empfangsrobex seine Karte. Ein Magnetfeld aktivierte die in die Karte eingebetteten Metallfäden, die Schriftzeichen fluoreszierten, sein Foto wurde mit dem Archivbild verglichen. »Bitte passieren Sie, Mr. Ridgway«, sagte der Robex. »Mr. Duncan erwartet Sie.« Der Robex gab ihm wortlos die Sicherheitsplakette, die Ridgway an die
Brusttasche klemmte. Er kam sich dabei immer wie ein Ferienkind vor. Aber ohne das Abzeichen würde jeder Wächter sofort auf ihn schießen. Ridgways Weg in Duncans Büroflucht wurde von Fernaugen verfolgt. Als er endlich durch Duncans Empfangszimmer den kleinen Konferenzraum betrat, war er weitere dreimal überprüft worden. Nur weil er einsah, daß Kontrollen nötig waren, akzeptierte er widerwillig und immer mißtrauisch diesen massiven Einbruch in seine Privatsphäre und die Zweifel an seiner Ehrlichkeit. Es widerte ihn an, aber es mußte sein; man mußte eben wissen, wann und wo man ungestraft aufmucken durfte. James Grant Duncan ging ruhelos auf dem weichen Teppich des Sitzungssaals hin und her. Der Saal war abhörsicher. Duncans übergroßer Kopf verlieh ihm das Aussehen eines weisen alten Zwerges. Das schlohweiße Haar unterstrich diesen Eindruck noch. Die gebeugte Haltung, die er bereits in der Kindheit wegen des großen Schädels angenommen hatte, das gesunde Gesicht mit der scharfen Nase und die dünnen unbeweglichen Lippen machten seine Gestalt zu einer Mischung aus Gegensätzen. Er hatte den Betrieb von seinem Vater geerbt, und weil er genug von Computern und Kybernetik verstand, wußte er, daß er anderen Männern mehr als ihm lieb war an Detailwissen und -fragen überlassen mußte.
»Komm rein, Arthur«, sagte er barsch, ohne stehenzubleiben. »Hanlon und Woolford kommen gleich.« Über Dan Hanlon hatte Ridgway während der ruhelosen Nacht nachgedacht. Lester Woolford stand dem Einkauf vor. In letzter Zeit hatten Woolford und Hanlon sich das Maul über Ridgway zerrissen. Er wendete sich an den übertrieben modisch gekleideten Mann, der lächelnd an dem Tisch mit den Getränken stand. »Morgen, Joe.« Joe Harrison hob das Glas. »Ich weiß, es ist noch ein bißchen früh, Art, aber was soll's. Man lebt nur einmal.« Ridgway kannte Harrison nicht anders. Als Chef der Verkaufsabteilung mußte er laut, vulgär und auffallend sein. Harrisons roter Kopf mit dem zierlichen Gesicht, die funkelnden Ringe und die gewaltige Krawattennadel spiegelten einen Mann wider, der die Kundschaft beeindruckte. Welche Persönlichkeit sich hinter der Fassade verbarg, hatte Ridgway noch nicht entdeckt. Die anderen drei waren Cyril Green, der mausgraue Firmensekretär, Sir Trafford Clarkson, der Justitiar, und Jack Mason, der Sicherheitsbeauftragte. Ridgway zog es vor, mit allen Leuten ohne viel Geschwafel und Geschrei auszukommen. Der Triumph, wenn er den Abschluß bekanntgab, kam ihm plötzlich schäbig vor, und er wußte, daß er Duncan ohne Umschweife davon berichten würde.
Joe Harrison richtete sich auf, setzte das Bierglas ab, Schaum auf der Oberlippe. »Hat er ihn doch erteilt!« rief er. »Davon habe ich noch gar nichts gewußt!« »Er wird's Ihnen auch noch sagen, Joe«, sagte Ridgway. Warum, zum Teufel, ließen sie die Katze nicht aus dem Sack? Natürlich war irgend etwas im Busch. Sie benahmen sich alle so überaus korrekt, als warteten sie, bis ein anderer den Mund aufmachte. Sie ließen Duncan nicht aus den Augen. Er war der Kopf, der Aufpasser, der Boss, der Mann, der das Sagen hatte. Warum also redete er nicht, fragte sich Ridgway, der auf Geschäftspolitik und Bürointrigen keine Rücksicht nahm. Dan Hanlon, ein offener Mann mit zerzaustem Haarschopf und nervös wie ein Spatz, kam mit Woolford herein. Sie nickten den anderen zu. Duncan räusperte sich. »Fangen wir also an, meine Herren. Setzen Sie sich, wenn Sie wollen. Ich möchte stehenbleiben. Wie sehen die neuesten Zahlen aus, Dan?« Hanlon öffnete den Reißverschluß seiner Mappe und nahm einen Stoß Akten heraus. Er hob den Kopf, als Duncan verärgert schnauzte: »Bloß nicht jeden verdammten Hosenknopf, Dan! Das Allgemeinbild. Sagen Sie uns nur, wie schlimm.« Ridgway setzte sich auf die Ecke des Tisches mit
den Drinks. Er starrte Duncan an. Der Alte war sichtlich irritiert. Ridgway ahnte, daß dies nicht der Grund, jedenfalls nicht der unmittelbare Grund für die unterdrückte Spannung sein konnte. Gestern hatte Hanlon gesagt, daß die Firma in Nöten steckte. Wenn man heute darüber ein paar Worte mehr machte, war das ganz natürlich. Duncan hatte etwas anderes auf dem Herzen. Hanlon gab einen Überblick und ließ Woolford zwischendurch zu Wort kommen, der die Lieferverzögerungen bei langfristigen Objekten bestätigte. Das Bild einer sich verlangsamenden Produktion und die wachsenden Schwierigkeiten im gesamten Geschäftsbereich fügten sich zu einem Gesamteindruck, dessen verheerende Auswirkungen sich alle ausmalen konnten. Der Chef des Verkaufs reagierte als erster. »Beim Arm des Propheten, was wird hier eigentlich gespielt? Ich soll DESS-Robex verkaufen. Und ich verkaufe auch eine ganze Menge. Und jetzt muß ich hören, daß wir nicht liefern können!« »Hören Sie, Joe –« sagte Duncan. »Gar nichts höre ich! Was ist denn nun aus dem vielgepriesenen Management by Objectives geworden, he?« Duncan wollte in die Luft gehen, aber er sah, wie Hanlon den Kopf schüttelte. Ridgway wunderte sich.
Brummend beruhigte sich Harrison. »Darf ich fragen, was nun aus dem Supermarkt-Auftrag wird?« fragte er spitz. Hanlon zog eine Grimasse. Ridgway merkte, daß die Tischkante langsam unbequem wurde, rutschte herunter und stellte sich hin. »Sie haben uns sicherlich nicht herkommen lassen, um darüber zu diskutieren, Jim. So jedenfalls nicht. Worum geht es wirklich?« Harrison und Hanlon redeten gleichzeitig, und Harrisons laute Stimme ließ Hanlon verstummen: »Wenn es nicht wichtig genug ist, daß wir nicht liefern können, dann weiß ich nicht, was wirkliche Schwierigkeiten sind!« »Natürlich ist das unangenehm«, gab Hanlon zu. »Worauf wollen Sie hinaus, Art?« Er ließ Duncan nicht aus den Augen. Die anderen traten näher. Ridgway spürte, daß sie ihn bei dem leisesten Zeichen einer Blöße wie Barrakudas zerreißen würden. Er ging zum Angriff über. »Was ist das wahre Problem, Jim? Warum können wir nicht liefern? Schalten unsere Zulieferer auf stur? Wovor haben Sie Angst?« »Jetzt haben Sie mich in die Ecke getrieben, nicht wahr, Arthur?« Duncan war stehen geblieben. Es hatte den Anschein, als sei ihm Ridgways Ausbruch nicht unwill-
kommen. Alle schwiegen, weil sie wußten, daß das Spiel zwischen Duncan und Ridgway ausgetragen wurde. Aufgrund seiner inoffiziellen Verbindung mit dem Boss konnte Ridgway sich manches leisten, was die anderen bewußt vermieden. »Also gut, Arthur, kommen wir zur Sache. Ich habe nur deswegen gezögert, weil – weil – nun, Sie werden es wissen, wenn ich fertig bin.« »Wenn«, sagte Ridgway. Duncan zog eine Braue hoch. »Allright, Youngster«, sagte er scharf. »Wir alle wissen, daß DESS außer der Kontrolle über unsere Robex noch ein paar Eisen mehr im Feuer hat. Wir wickeln ein paar der wichtigsten Computerprogramme ab, die das Land zu vergeben hatte. Unsere Arbeit beeinflußt die Forschung seit einem halben Jahrhundert.« »Das wissen wir«, sagte Ridgway. Er hatte Angst. Duncan hatte sich verändert. Der Alte war in sich zusammengesunken. »Eastern City Development hat von uns eine Projektierung bekommen. Ein Riesenauftrag über den Abbruch von fünf Quadratkilometern Gelände mit Wolkenkratzern, Fabriken und anderen öffentlichen Einrichtungen zum Wiederaufbau und Anschluß an das städtische Steuerungssystem. Der Umfang des Objektes in finanzieller Hinsicht ist – nun, enorm. Und die Verträge – ich zögere, wenn ich die persönli-
chen Profite abschätzen soll, die gemacht worden wären –« »Gemacht worden wären?« wiederholte Ridgway. »Ich kenne das Projekt. Soweit ich weiß, ist der Auftrag Eastern City Developments unter Dach und Fach. Letzte Woche hat der Computer die abschließenden Daten ausgedruckt.« »Und«, fügte Harrison hinzu, »ein großer Teil des Anteils ist bereits für unsere Robex eingeplant. SERVEN hat bei ECD kein Bein an Deck bekommen.« »Unser Computer hat vorgestern eine neue Berechnung geliefert«, sagte Duncan mit schwacher Stimme. »Ganz von sich aus.« Hanlon fluchte. Jetzt erst begriff Ridgway, warum nur Verwaltung und Management zugegen waren, und warum von Entwicklung und EDV außer Jim Duncan niemand erschienen war. »DESS hat das gesamte ECD-Programm widerrufen. Also kein Abbruch, sondern Erweiterung und Umbauung der bestehenden Anlagen. Anstatt alles abzureißen, wie DESS ursprünglich empfohlen hat, müssen wir jetzt in und um die Häuser herumbauen.« »Das ist doch kompletter Blödsinn!« unterbrach Hanlon ihn. Als Produktionsdirektor spürte er die Widersinnigkeit der neuen Anordnung mit aller
Schärfe. »Selbst ein menschliches Gehirn sieht doch sofort die Vorteile ein, die ein Abbruchprogramm bietet. Warum, zum Teufel, hat DESS plötzlich seine Meinung geändert?« »Soweit wir wissen, ist DESS völlig in Ordnung«, entgegnete Duncan schroff. Aber seine Unruhe strafte ihn Lügen. »Wir sollten mit Research and Development sprechen«, verlangte Ridgway. »Sie wollen schließlich Entscheidungen von uns hören. Dazu brauchen wir Fakten. Und zwar alle.« Die schlechten Nachrichten waren ihnen an die Nieren gegangen; der Computer war alles, was sie hatten, und von seinem korrekten Funktionieren hing ihre und die Existenz der Firma ab. DESS hatte sich noch nie geirrt, noch nie einen Fehler gemacht. Joe Harrison brüllte: »Ich werde Ihnen mal was sagen, Art. Der Computer ist verrückt. Regelrecht durchgedreht!«
3 Was der Morgen versprochen hatte, hielt der Tag nicht, und gegen Mittag schirmte eine dichte Wolkendecke die zarte Frühlingssonne ab. Hoch oben im SERVEN-Turm warf Nicholas Rogan einen Blick auf die Wolken. Es schien ihm als spüre er die Kälte, und für einen kurzen Augenblick fröstelte ihn. Rasch ging er an seinen Schreibtisch zurück. Er konnte sich keine Schwäche leisten. Es gab Arbeit. Nicholas Rogan war ein kraftvoller Mann in den besten Jahren. Zielstrebig sowohl im Beruf als auch im Privatleben. Die kräftige Nase, die kalten blauen Augen, die vielen Falten und Fältchen, die ihm das Aussehen eines alten Indianers gaben, sein barsches Benehmen fügten sich zu dem Bild eines Mannes, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Er schaltete die Wechselsprechanlage ein. »Harry, was gibt es Neues aus Eastern City?« Sein Sekretär, Harry Lamb, der im Vorzimmer saß und ihm die Routinearbeit abnahm, antwortete mit sanfter Stimme. »Noch nichts, Sir. Ich habe meine Konfidentin zweimal angerufen, aber sie ist ziemlich –« »Rufen Sie sie noch einmal an.«
»Sehr wohl, Sir.« Rogan hörte seinen unterdrückten Seufzer nicht und schaltete ab. Er überlegte, daß er Harry Lamb immer gut behandelt hatte. Er war stolz darauf, daß er stets an die Zukunft dachte. »Sei ehrlich zu mir, Harry«, hatte er gesagt, »und ich bin ehrlich zu dir.« Allerdings war er nicht so schlitzohrig, daß ihm die Ironie seiner Bemerkung deutlich wurde. Er nahm das Leben, wie es sich ihm bot, und formte es nach seinem Willen. Und SERVEN erst recht. SERVEN war seine Kreatur. Bevor er wie ein Wirbelwind unter die vielen kleinen Robex-Unternehmen gefahren war und sie unter einen Hut gebracht hatte, kochten seiner Meinung nach zu viele ihr Süppchen an der lukrativen Feuerstelle; jetzt hörten sie und ihre Robex auf sein Kommando. Es war eine große Aufgabe gewesen, sie auf SERVENs Zentralcomputer zu schalten, aber er hatte sie geschickt gelöst. Jetzt standen ihm nur noch WESTEX und DESS im Wege. Er überlegte, ob er sich nach Norden ausdehnen sollte, wenn er die Fäden der Stadt endlich in der Hand hielt. In den Midlands und im Westen gab es noch etwas zu verdienen. Wie damals, zu den Zeiten des Rundfunks, gab es eine Vielzahl kleinerer Unternehmen, wo zwei oder drei Firmen viel wirtschaftlicher arbeiten konnten. Noch dachte er nicht daran, dieses Projekt anzupacken. Dazu war noch Zeit. Wichtig war, die Prioritäten richtig zu setzen. WE-
STEX und DESS waren zu dicke Happen für seinen Computer. Wahrscheinlich würde er sie als Datenbänke Zwischenschalten müssen. Die Wechselsprechanlage summte leise. »Ja?« »Ich habe Nachricht von meiner Kontaktperson, Sir.« Rogan wartete. »DESS hat einen neuen Plan vorgelegt. Klingt höchst unwahrscheinlich, aber mein Vertrauensmann schwört, daß es stimmt. DESS hat vorgeschlagen, Eastern City solle bauen und nicht abreißen.« Rogan war zugleich verwundert und begeistert. »Heller Wahnsinn«, sagte er leise. »Völliger Unsinn! Was meint DESS damit?« »Es scheint zu stimmen, Sir.« »Unmöglich!« »Ich werde noch weitere Auskünfte einholen –« »Nein! Nein, Harry, tun Sie das nicht.« Rogan dachte nach. »Das ist die Gelegenheit, auf die wir so lange gewartet haben. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß DESS sie uns selbst in die Hand gibt. Unsere Kampagne hat sich blendend entwickelt, und sie haben Ärger an allen Ecken und Enden. Aber dies – dies beweist, daß ich auf der ganzen Linie recht hatte. Egal, was ich anpacke, ich bekomme immer recht!« »Jawohl, Sir.«
Rogan erschien die Zukunft in einem rosigen, vielversprechenden Licht. Es hatte angefangen zu regnen, und die Tropfen klatschten schräg in Schauern gegen die Scheiben. Die Thermostaten klickten und schalteten die Heizung an. Rogan lächelte. Die Schmerzen überfielen ihn ohne Warnung und schnürten ihm den Atem ab. Er krümmte sich zusammen, packte den linken Arm, der wie Feuer brannte. Seine Lippen färbten sich blau, weit riß er die Augen auf. »Harry!« stöhnte er. »Herz – Tabletten –« Als Lamb ihn auf die Ledercouch gelegt und er die Tabletten geschluckt hatte, fühlte er sich scheußlich. Ein Medizinrobex hatte sich aus der Decke herabgelassen, um Doktor Housman dienlich zu sein. Housman stolperte herein und fingerte an seiner Identifikations-Plakette herum. Rasch kam er zur Sache. »Nick, Sie haben genau das getan, was ich Ihnen verboten hatte.« »Sch –! Von irgend etwas muß ich ja leben!« Rogan fühlte sich schon wieder besser und verfiel in sein übliches ungehobeltes Benehmen. Das machte ihm Spaß. Er hatte eine Vorliebe für alte Gangsterfilme und liebte es, die Filmstars nachzuahmen. Er sprach aus dem Mundwinkel, benutzte Dialekt, er hob und senkte die Brauen.
Dr. Housman kannte Rogans Tricks. Er ließ sich nichts vormachen. Er schob den Sanitätsrobex zurück, und die glitzernde Schachtel voller Instrumente und Medikamente verschwand in der Zimmerdecke. »Nehmen Sie mich endlich ernst, Nick.« »Sie sind doch mein Leibarzt. Verflixt, House, Sie kriegen genug Geld, oder?« Irritiert winkte Housman ab. »Ja, ich kann mich nicht beklagen. Aber ich habe noch mehr zu tun. Sie sehen ja, daß ich schnell genug kommen kann. Also regen Sie sich ab. Außerdem sind Harry da und der beste Medirobex, den SERVEN je programmiert hat. Stimmt's?« »Nun, ja –« »Also ohne Umschweife, Nick. Sie haben schon eine neue Leber und neue Nieren. Und die Milz, die Sie haben, ist auch nicht auf Ihrem Mist gewachsen.« Rogan spürte die alte Unruhe, aber er schürzte die Lippen und spielte den harten Mann. »Ich verstehe, Doc.« »Wenn Sie weiter Zigarren rauchen und Whisky trinken und mit hübschen kleinen Mädchen schlafen gehen, die Ihre Enkelinnen sein könnten, nun, dann müssen Sie damit rechnen –« »Aber das macht mir Spaß!« unterbrach Rogan ihn, ließ seine Rolle als harter Mann fehlen und wurde dadurch doppelt unangenehm.
»Mag sein. Und Sie wissen hoffentlich auch, was passiert, nicht?« »Allright. Bereiten Sie alles vor. Ich brauche achtundvierzig Stunden, bis –« »Dafür kann ich nicht geradestehen. Wir können keinen Spender kriegen, wann und wie wir wollen –« »Ich glaube, es wird langsam Zeit, daß Sie die Schweinefarmen auf Trab bringen, damit uns mehr Organe zur Verfügung stehen«, sagte Rogan ungeduldig. »Zur Hölle, House, wenn ich ein neues Herz brauche, dann will ich das Beste vom Besten. Besorgen Sie's. Verstehen Sie mich?« »Sie kriegen eins.« »O ja, das werde ich. Oder ein paar Leute werden sich wünschen, besser gespurt zu haben.« Das Telefon klingelte. Doktor Housman wischte sich die Stirn ab, als Harry Lamb den Hörer abnahm. »Mein Kontakt«, sagte er über die Schulter. Er drehte sich wieder um und sagte: »Und du hast keine Zweifel, Honey? Kein Irrtum möglich?« Doktor Housman spielte mit der Unterlippe und murmelte, daß er immer noch einen Schrittmacher implantieren könne, wenn es darauf ankäme. »Allright«, sagte Lamb ins Telefon. »Wir gehen aus, ja? Ich hole dich um zwölf ab. Wie immer – natürlich – klar, Honey, bye.« Er legte auf und sah Rogan triumphierend an.
»Kein Irrtum möglich. DESS hat den ersten Plan storniert. Kein Abbruch, sondern Ausbau der bestehenden Anlagen. ECD hat die Option rückgängig gemacht.« »Jetzt haben wir sie!« Rogan lächelte, weil er wußte, daß das Ende seines Kampfes in Sicht war. »Holen Sie Morel. Ich will sehen, was er macht, wenn er das hört.« »Sofort, Sir«, sagte Lamb leise. »Nick, Sie arbeiten zu angestrengt«, klagte Housman. »Anders geht es nicht.« »Sicher, das weiß ich. Aber das sagen alle, bis man den Deckel über ihnen zuschraubt.« »Sie drohen mir, House?« »Wenn Sie es so ausdrücken, ja, Nick, dann drohe ich Ihnen.« »Verstehe.« »Morel am Apparat«, sagte Lamb. »Paul«, sagte Rogan knapp und mit einer Arroganz, die ihm der Ekel in die Stimme legte, den Vornamen dieses fetten Nobody vertraulich benutzen zu müssen. »Hi, Paul. Ich freue mich, mit Ihnen zu sprechen.« »Hallo, Rogan«, sagte Morel, dem man anhörte, daß ihm die Sache nicht geheuer war. »Ich sagte Ihnen doch, daß DESS den Auftrag bekommen hat.«
»Natürlich weiß ich das, Paul. Nichts für ungut. Wir haben Ihnen ein faires Angebot gemacht, und Sie haben es ausgeschlagen. Also können Sie uns auch nicht dafür verantwortlich machen, wenn Sie dabei Blut lassen müssen.« »Warum sollten wir dabei Blut lassen?« Morels unterdrückte Verwirrung amüsierte Rogan. Es reizte ihn, mit dem Mann zu spielen. »Sie wissen noch nichts?« »Was sollte ich wissen?« »Ich bin nicht gern der erste, der schlechte Nachrichten bringt, Paul. Aber in Ihrem eigenen Interesse will ich Sie nicht als Paria behandeln. Jedenfalls sollten Sie es wissen.« Morels belegte Stimme klang aufgeregt. »Was soll ich wissen?« »DESS hat Schwierigkeiten mit der Computerkontrolle. DESS hat ein paar recht seltsame Entscheidungen gefällt.« »Oh?« »Wäre es zum Beispiel nicht wunderbar, wenn die Robex Ihren Kunden die Haferflocken gleich mit Zucker und Milch vermischt in die Einkaufswagen schütteten? Wäre das nicht spaßig? Wie?« Morel hatte einen Erstickungsanfall. »So etwas hat es noch nie gegeben! DESS hat den ganzen Vertrieb perfekt unter Kontrolle!« kreischte er.
»Bis jetzt, Paul. Bis jetzt.« »Das muß ich überprüfen –« »Tun Sie das, Paul. Hören Sie mich an, was Eastern City Developments von DESS halten. Sie, Paul, haben lediglich ein paar Millionen in die Supermarktkette investiert. Was meinen Sie, wie viele Milliarden ECD wert ist? Fragen Sie sie nach DESS.« Rogan beendete das Gespräch, und Morels plappernde Stimme verstummte. Er lehnte sich zurück. »Also«, sagte er und atmete befriedigt auf. »In spätestens einer Stunde storniert Morel bei DESS. Noch schneller, wenn der Vertrag noch nicht unterwegs ist. Dann kommt er zu uns. Auf allen vieren.« »Er wird –« wollte Lamb sagen. »Ich denke, wir sollten dreiunddreißigeindrittel Prozent aufschlagen. Und die Laufzeit des Kredites verkürzen. Ich werde den Dicken lehren, woanders zu kaufen.« Lamb nickte. »Er hat es nicht anders gewollt.« Doktor Housman stand dabei und verstand kein Wort. »Ist DESS wirklich so schlimm dran, Nick?« »Und wie! Ihr Ballon ist geplatzt. Der Computer dreht durch, und bis sie wieder festen Boden unter den Füßen haben, haben wir längst abgesahnt.« Rogan hob den Kopf. »Sie wollen gehen, House? Nun, sagen Sie mir Bescheid wegen des neuen Herzens. Ich brauche Spitzenqualität.«
»Sie kriegen es, Nick. Verschaffe ich Ihnen nicht immer die besten Innereien?« sagte Housman spöttisch und ging. »Nun also, Harry. Strecken wir mal unsere Fühler aus. Der Zeitpunkt ist gekommen. Ich spüre es. Jetzt werden wir DESS schlucken.«
4 Ridgway steckte sich den zweiten Ausweisknopf an. Dieser war feuerrot und enthielt einen Sender, der seine Position auf einem Bildschirm im Sicherheitszentrum markierte. Wenn man DESS höchstpersönlich besuchen wollte, traute man Fernsehkameras und bewaffneten Wachen nicht mehr so recht. DESS persönlich. Wie die meisten betrachtete Ridgway den großen Rechner als etwas, das man – wie ein Schiff oder ein Flugzeug – beim Namen nennen und nicht mit einem unpersönlichen ES belegen konnte. Jim Duncan lief schweratmend neben ihm her und fluchte über die Sicherheitsmaßnahmen, die sein Vater und allerdings auch er selbst eingeführt hatten. »Nehmen wir mal an, daß WESTEX jemanden eingeschleust hat«, sagte Ridgway plötzlich. »Bloß nicht«, erwiderte Duncan. Ihm war es lieber, wenn er an etwas anderes denken konnte als an die Aufgabe, die sie zu lösen hatten. »Was SERVEN angeht«, betonte Ridgway, »so wissen Sie ja selber, daß Rogan hinter Ihnen her ist wie der Teufel, seit Sie Ihren Vater abgelöst haben.« Duncan lächelte verschmitzt. »Das hat Rogan gefuchst«, gab er zu. »Aber er hat mich nicht umstimmen können.«
»Nun«, sagte Ridgway bissig, als sie den Computerraum betraten, »dann sollten Sie langsam darüber nachdenken, was Sie als Abfindung fordern, wenn wir die Scharte nicht bald auswetzen können.« Der Computerraum bot ein Bild, das jedem Techniker die Haare hätte zu Berge stehen lassen. EDV-Listen und print-outs bedeckten den Boden, Abdeckhauben und Verkleidungen standen im Weg, Einschübe waren halb herausgezogen, Werkzeug und Oszilloskope blitzten. Ein kleiner Mann mit Bart und blaßblauen Augen stand neben der Akustikausgabe, sein Gesicht halb den Besuchern zugewendet, die Aufmerksamkeit jedoch voll auf den Lautsprecher gerichtet. Duncan hatte nur schwach protestiert, als Dr. Sheridan ihm seinen neuen Plan erläutert hatte: Er wollte das Bewußtsein des Computers abrunden und erweitern. Und Duncan hatte geschimpft: »Guter Gott, warum wollen Sie der Maschine unbedingt einen Vocoder ankoppeln! Ein Printer reicht doch völlig!« Aber ebenso wie Duncan damals bei der Sache mit dem weiblichen Robex unterlegen war, mußte er sich auch jetzt schicken, und die »Heiden von Kybernetikow« stürzten sich voller Eifer in die Aufgabe, DESS mit einer neuen Peripherie zu versehen. Jetzt war Duncan auf Doktor Sheridan böse, der noch immer geistesabwesend an dem leise gestellten Lautsprecher lauschte.
»Vielleicht haben Sie mit Ihrer verdammten Fummelei schuld!« »Allright, Dessy«, sagte Sheridan, »stop und danke.« Er sprach langsam und deutlich, wie mit einem Kind. Als er sich endlich umdrehte und Duncan und Ridgway bemerkte, streifte er seine Rolle ab wie ein Schauspieler. »Ihr Sachverstand reicht gerade für die vierte Volksschulklasse!« tobte er. Sein blonder Schnurrbart zitterte, als er Duncan mit wütenden Blicken musterte. Seine gebeugte Gestalt, die in einem viel zu großen weißen Kittel steckte, zuckte nervös hin und her. Sheridans Nerven hatten längst die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. »Mischen Sie sich gefälligst nicht in Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben, Jim Duncan! Ihr Vater hat vielleicht etwas von Computern verstanden. Aber Sie –« »Jawohl, das hat er! Und ich auch!« brüllte Duncan. Beide standen sich gegenüber und starrten sich feindselig an. »Manchmal bezweifle ich, ob Sie überhaupt etwas von Computern verstehen«, sagte Duncan schließlich außer Atem. »Ich bin kein gewöhnlicher Computant!« fauchte Sheridan. »Ich bin ich! Und ich bin der Beste! Sie sollten dem lieben Herrgott dankbar sein, daß ich Ihren
Vater kannte, bevor Sie seine Firma übernahmen.« Er warf den Kopf in den Nacken und schnaubte verächtlich. »Übernehmen! Überdrehen ist wohl der passende Ausdruck!« »Wenn Ihr Computer solche wahnsinnigen Prognosen ausspuckt, dann frage ich mich, wer hier wohl überdreht!« schrie Duncan. »DESS ist Nummer Eins.« »War Nummer Eins, bis Sie ihn ruiniert haben!« »Was soll ich getan haben?« »Das wissen Sie doch! Sie haben ihn mit neumodischem Unsinn vollgestopft! Die Interkonnektionen können gar nicht mehr stimmen!« Sheridan wurde ganz ruhig. »Ich habe DESS so viel Wissen und Kombinationsprogramme eingespeist, daß er zur Zeit einmalig ist. Auf der ganzen Welt gibt es keinen Computer, der nur halb soviel leistet wie er.« »Na und? Sehen Sie sich an, was er aus Eastern City gemacht hat!« »Ich bin gerade dabei, das zu korrigieren.« »Oh!« Duncans Sarkasmus war ätzend. »Sie sind also dabei, den Fehler zu korrigieren! Nun, darf ich vielleicht wissen, warum Sie das nicht getan haben, als ECD noch unser Kunde war?« »War? Soll das heißen –« »Sie haben es erfaßt.«
»Es – es tut mir leid, Jim.« »Es tut Ihnen leid! Damit ist wieder alles in Ordnung, nicht wahr.« Ridgway trat näher, blieb aber stehen, als der Kybernetiker leise sagte: »Es tut mir wirklich leid, daß wir den Auftrag verloren haben, Jim. Aber wenn DESS eine Prognose gibt, dann stimmt sie. Und das wissen Sie auch.« »Nein. Nicht mehr. Bei Gott, nicht mehr.« »Fest steht, daß DESS sich korrigiert hat«, warf Ridgway ein und hoffte, daß der Sturm sich gelegt hatte. Es war Sheridan anzusehen, daß ihn DESS' seltsame Meinungsänderung bedrückte. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Seine Wut war verraucht. »Ich weiß, Arthur. Es muß einen Grund geben. Aber wie kann ich es erklären – DESS besitzt Rückkopplungen und Regelkreise, die Fehler dieser Größenordnung eigentlich im Entstehen eliminieren sollten.« Er starrte Duncan an. »Es ist etwas Unbegreifliches passiert. Sonst hätte DESS seine Meinung nicht geändert. Was, das werde ich noch finden.« Duncan atmete tief ein. »Sie kennen Aldous Carrit?« »Natürlich.« »Er ist der Experte für Computer schlechthin«, sagte Duncan ruhig. Er lächelte. »Er ist als Berater tätig, wenn er nicht gerade Vorlesungen an der Uni gibt.«
Sheridans Hände zitterten. Er schluckte. Er stand dicht vor einer Explosion, als Duncan sagte: »Ich habe ihn zu uns gebeten, damit er uns bei der Lösung des Problems hilft.« Er hob abwehrend die Hand und starrte auf Sheridan hinunter. »Keine Widerrede! Sie haben etwas mit der Maschine angestellt, und ich will, daß sie wieder in Ordnung gebracht wird.« Sheridan blieb nichts anderes übrig als zu schweigen. Er schob die Fäuste in die Kitteltaschen, bis die Nähte krachten. Ohne sich von Duncan und Ridgway zu verabschieden, ging er zu einem Display hinüber. Nachdenklich betrachtete Ridgway den AudioAusgang. Er hielt es für denkbar, daß Sheridan sich geirrt und der Computer einen Kurzschluß gehabt hatte. Es schmerzte ihn, daß sich zwei alte Freunde stritten und in ihrer Verbitterung die komische Seite des Streits nicht erkannten. »Wann kommt Carrit?« fragte Hanlon, dem jetzt einfiel, daß auch er etwas mit der Firma zu tun hatte. »Morgen.« Duncan schüttelte leise den Kopf. »Morgen. Natürlich kommt er zu spät. Wir können Easterns Entscheidung nicht mehr umstoßen. Aber ich hoffe, daß er wenigstens den Fehler finden und verhindern kann, daß noch mehr entstehen.« »Wenn es überhaupt einer war«, wandte Ridgway ein.
»Fangen Sie nicht schon wieder damit an!« sagte Duncan warnend. Blitzartig wurde Ridgway klar, welche Überwindung es Duncan gekostet haben mußte, Sheridan vor vollendete Tatsachen zu stellen, wie schmerzhaft Duncan die Entscheidung gefallen war. Er sah seinen Chef an und fühlte sich auf schäbige Art erleichtert, daß er nicht in dessen Haut steckte. Den ganzen Tag verfolgte ihn der Gedanke, daß er sich an etwas erinnern sollte. Etwas, das er vergessen hatte und nicht hätte vergessen dürfen – glitzernde Chromleisten, bunte Reflexe auf Lack, Windböen aus Nirgendwo ... Im Computerraum gab es nichts mehr zu besprechen. Das Mittagessen wartete und die Konferenz mit Joe Harrison, mit dem er den Supermarktauftrag durchsprechen mußte. Danach wollte er sich die ECD-Baustelle ansehen. Keiner verlor ein Wort über die Aussichten, die DESS' Fehler eröffnete. Trotzdem mußte man über die Eventualitäten und Gefahren sprechen. Offen fragte er Jim Duncan danach. »Augenblick noch, Jim.« »Sie sehen schlecht aus, Arthur.« »Sie wissen schon, warum. Gesetzt den Fall, DESS arbeitet wirklich inkorrekt. Glauben Sie wirklich, daß Carrit uns dann helfen kann? Er kommt zu spät. Was
passiert, wenn DESS einen Robex fehlsteuert? Was geschieht, wenn DESS durchdreht und die Robex falsch programmiert?« Er merkte, daß Jim Duncan sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt. »Und wenn ich DESS abschalte, Arthur? Was dann?« »Völlig außer Frage!« sagte Harrison schwitzend. »Die Robex müssen weiterarbeiten! Wir können doch nicht Knall auf Fall unsere Arbeit einstellen! Das Geschäft muß weiterlaufen!« »Besser ein paar kleine Fehler als einen Unfall«, nickte Ridgway. Sie sahen sich an. Keiner wußte, was er denken oder sagen sollte. Sheridan kam vorbei. Er hatte sich beruhigt. »Für die Robex-Kontrolle lege ich meine Hand ins Feuer«, sagte er knapp. »Dieser Sektor ist okay.« »Sind Sie ganz sicher?« »Ja.« Duncan faßte einen Entschluß. »Wir müssen dem Computer vertrauen. Wenn Dr. Sheridan sagt, daß die Robex-Kontrolle einwandfrei arbeitet, dann sollten wir das dankbar akzeptieren.« »Ich habe eine Serie von Irritationsprogrammen durchgegeben. Zur Zeit laufen gerade die Daten über die Konsolen. DESS hat möglicherweise einen Wasserkopf, aber stabil ist er noch immer.« Eine Technikerin rief, und Sheridan ging. Die
Männer aus der Verwaltung sahen ihm nach. Dann ließen sie den Computer, die schnurrenden Magnetbänder und -spulen, die Hologrammregister, Magnetplattenspeicher und die besorgten Gesichter Dr. Sheridans und seines Stabes zurück. Die Manager gaben ihre roten Plaketten ab und gingen in ihre Büros zurück. Nach dem Mittagessen, das er hastig unter den mißbilligenden Blicken von Lalli Stephens hinunterschlang, traf Ridgway sich mit Harrison, um über den Supermarktauftrag zu sprechen. Sie einigten sich darauf, Morel wie ein rohes Ei zu behandeln, als der Einkäufer mit honigsüßer Stimme anrief. Ridgway hörte an der Zweitmuschel mit. Morels Tonfall gefiel ihm nicht. Außerdem kam der Dicke zu schnell zur Sache. »Verstehen Sie, Joe«, sagte er mit öliger Stimme, »ich habe Ridgway gegenüber lediglich von der Möglichkeit eines Auftrages gesprochen. Ich bedaure unendlich, daß Sie übergangen wurden, aber Sie wissen ja, wie das ist.« Natürlich wußte Harrison Bescheid. Genau wie Ridgway. Es gab nichts mehr zu sagen, außer vielleicht ein paar saftigen Flüchen. Und dazu hatte Ridgway keine Lust mehr.
Sie sahen sich verbittert an. »Nun, dann ein anderes Mal, Paul«, sagte Harrison. Er knallte den Hörer auf die Gabel. »Wann das ist, weiß der Himmel«, sagte Harrison. »Der Auftrag galt für alle Filialen.« »Jemand muß geplaudert haben.« »Häh?« »Jemand hat Morel über DESS und ECD informiert.« Harrison zerdrückte ein Papiertaschentuch in den Händen. »Yeah. Und ich weiß auch, wer.« »Nick Rogan.« »Genau.« »Jetzt wird SERVEN die Filialen robexen und sich ein zweites Loch in den Hintern lachen.« Harrison liebte seinen Job. »Ich könnte – ich könnte –« »Gehen wir einen trinken, Joe.« »Yeah.« Also brauchte er heute abend Morel wenigstens kein Essen zu spendieren. Ridgway machte sich noch nicht einmal die Mühe, Lalli Bescheid zu sagen. Sie hatte besseres zu tun, als hinter verärgerten Kunden herzutelefonieren. Es regnete noch immer, als Ridgway und Harrison aus dem Foyer traten. Der Robex in Frauengestalt linste hinter ihnen her und strich sie von der Anwesenheitsliste.
Ridgway lehnte sich gegen den peitschenden Regen und stieß mit einer zierlichen Gestalt zusammen. Sofort richtete er sich auf, um sich zu entschuldigen. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht. Das Mädchen war aus dem Gleichgewicht gekommen und hielt sich an der Tür fest. Er hatte gar nicht gemerkt, daß der Zusammenstoß so heftig gewesen war. »Oh, es tut mir sehr leid«, stammelte er. »Ist schon gut.« Zitternd richtete sie sich auf. Das Licht schimmerte schwach aus dem Foyer. Der Regen spannte schräge silberne Fäden durch das Licht. Harrison war weitergegangen. Ridgway streckte die Hand aus. »Ist Ihnen wirklich nichts passiert? Sie sehen so –« »Es ist alles in Ordnung.« Sie trug einen alten Mackintosh aus Plastik, dessen zerknitterte Haut im Regen glitzerte. Unaufhörlich prasselte der Regen nieder, näßte ihr rotbraunes Haar, rann ihr über das sanfte Gesicht. Ihre schmalen braunen Augen sahen ihn schräg von unten an, als er sich über sie beugte. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Sie ließ die Tür los und machte ein paar stolpernde Schritte. Rasch hielt sie sich wieder fest. »Sie sehen nicht –« Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Kommen Sie mit herein und setzen Sie sich.« Sie hob den Kopf. Ihr wunderschönes Haar glänzte
vor Nässe. »Mir fehlt nichts. Es ist nichts. Danke.« Sie ging. Er starrte ihr nach, als sie unsicher in das Haus ging. Hatte er sie nicht schon irgendwo gesehen? Nein, er kannte sie nicht. Aber ihr Gesicht kam ihm bekannt vor; die langen Brauen und die schlanke Nase, der sinnliche Mund. Aber die Augen kenne ich nicht, dachte er, solch schöne Augen hätte ich nicht vergessen. Ein Bild aus grausam funkelndem Chrom und zersplittertem Lack tauchte in seinen Gedanken auf. Er schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern. Er kroch tiefer in den Mantel und eilte Harrison nach. Wenn es wichtig war, würde es ihm wieder einfallen.
5 Langsam drehte sich Aldous Carrit um. Er stand an einem der hohen Fenster des Hochhauses am Rand der ECD-Baustelle und hatte auf die Wolkenkratzer und Fabriken hinuntergeschaut. »Wirklich?« fragte er höflich interessiert. »Ich bin noch nie in Cranbrook gewesen. Aber ich habe mir Modelle der Windmühlen von Cranbrook angesehen.« »Das Dorf soll möglichst so bleiben wie es ist«, entgegnete Ridgway mehrdeutig. Sollte Carrit doch denken was er wollte. Carrit nahm seine Rolle als arbiter computerum sehr ernst; man sagte ihm nach, daß er zu dozieren anfing, wenn jemand eine Lochkarte fallen ließ. »Jedenfalls«, fügte Ridgway hinzu und wendete dem Panorama den Rücken zu, »zähle ich die Uhr mit zu den Faktoren, die bei der Entwicklung der Rechner eine bedeutende Rolle gespielt haben. Dazu gehören auch Drehorgeln, Karussells und so weiter. Natürlich ist das alles Pipifax gewesen. Aber manchmal frage ich mich, ob es richtig war, daß die Menschen plötzlich ernstlich darangingen, Maschinen und Automaten für sogenannte seriöse Zwecke einzusetzen.« Carrit biß an. Er war ein aufrechter Mann, der sich
zu Hause regelmäßig unter das Solarium setzte, sah gesund aus, hatte breite Schultern und machte sich Gedanken über das Leben. Im Gegensatz zu Ridgway hatte er sein Studium beendet und sich zielbewußt eine Karriere in Cambridge aufgebaut. Er spezialisierte sich auf Computertheorie und lernte und lehrte und wußte mehr über Kybernetik, Informatik, Psychologie und Soziologie als seine Kollegen. Kurz bevor Ridgway das College verlassen hatte, hatte er Carrit scherzhaft gefragt: »Sag mal, Aldous, wie zum Teufel kannst du dein Studium spezialisiert nennen, wenn du dich mit so vielen Themen auf einmal beschäftigst?« Und Carrit, der auf alles eine Antwort parat hatte, antwortete: »Ich brauche dieses Wissen, Arthur, weil ich mich mit elektronischem Leben beschäftigen will.« Ridgway, der sich von Joe Harrison verabschiedet hatte, erstaunte es nicht, Carrit hier zu treffen, wo sie der praktischen Anwendung eines Computerprogrammes gegenüberstanden, mit dem ein Stadtteil aus dem Boden gestampft werden sollte. Er wußte, daß Carrit nichts dem Zufall überließ und weit vorausplante. Morgen früh, wenn er zu Jim Duncan ging, würde er über eine Menge neuer Informationen verfügen. »Sehen Sie«, sagte Carrit und Ridgway merkte, daß
er inzwischen weitergesprochen hatte, »mechanische Orgeln sind doch eigentlich Spielzeug, nicht wahr. Aber unsere Großcomputer und ihre angeschlossenen Robot-Extensionen sind lebenswichtig. Ganz gleich, mit welchem Wertungssystem man ihnen zuleibe rückt.« »Trifft das wirklich auf jedes Wertungssystem zu, Aldous?« Ridgway hatte es sich nicht verkneifen können, Carrit zu hänseln, obwohl er ihn gut leiden mochte. »Gilt das auch für das ancien régime?« Carrit schnippte verächtlich mit den Fingern. »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt nach unten gehen?« Sie fuhren mit dem Expreßlift hinunter und betraten auf halbem Wege eine Plattform, von der sie ein Taxi zum Landeplatz auf dem nächsten Hochhaus nahmen. Sie traten auf die Landefläche. »Auf einem Hochhaus fühle ich mich immer unsicher«, scherzte Carrit halb ernsthaft. »Ich glaube immer, es schwankt hin und her.« »Das liegt wohl daran, daß wir an Häuser gewöhnt sind, die mit Gehwegen und Autobahnen verbunden sind«, meinte Ridgway. »Mich erinnern sie immer an einen Wald aus Gipsfingern.« »Ich verstehe einfach nicht, warum DESS den ursprünglichen Plan verworfen hat.«
Wieder standen sie vor der Kernfrage. »Ich meine, je schneller die alten Wolkenkratzer und stinkigen Fabriken verschwinden, desto besser. DESS muß wirklich einen Dachschaden haben, wenn er die alte Stadt stehenlassen und die neue synthetische Stadt drumherum bauen will.« »Aber DESS hat sich noch nie geirrt. Sheridan ist davon überzeugt, daß DESS korrekt arbeitet.« »Sheridan. Ach ja, ich kenne ihn.« Carrit, der im Rugbyteam der Uni gespielt hatte, rückte die breiten Schultern zurecht. »Voller Feuer. Kennt sein Geschäft. Hmm – interessant.« »Er hat schon Computer entworfen, als wir noch mit Bauklötzen spielten«, sagte Ridgway herausfordernd. »Oh, ich widerspreche Ihnen gar nicht. Immerhin war er es, der dem Robex-System neue Impulse gegeben hat. Ihm ist es zu verdanken, wenn wir heute einen Robex in einem Zehntel der Zeit programmieren können, die wir vorher brauchten. Seine neue Computersprache ist wirklich einmalig.« »Computersprache? Wissen Sie nicht, daß er Englisch mit DESS spricht?« Carrit konnte seine Überraschung und Enttäuschung gut verbergen. Sie hatten die oberen Wohngeschosse verlassen und waren im siebten Stockwerk ausgestiegen, um die Besichtigung zu Fuß fortzuset-
zen. Im Treppenhaus waren nur wenige Leute, und Kinder spielten lärmend und lachend auf der Treppe und in den Gängen. »Oh, wirklich?« sagte Carrit schließlich. »Das versuche ich gerade mit meiner ACME.« Ridgway lächelte. ACME hieß Carrits großer Computer, mit dem er an der mathematischen Fakultät arbeitete. Ein Riesending, das allerdings nur Forschungszwecken diente. Carrits Geständnis, daß er ebenfalls in dieser Richtung forschte, amüsierte Ridgway. »Noch nicht so weit, Aldous?« »Noch nicht.« »Na, ich denke, Sheridan wird Ihnen ein paar Ratschläge geben können.« Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Wahrscheinlich kam Carrit nicht weiter, weil ACME ein Forschungscomputer war. Sheridans DESS dagegen arbeitete pragmatisch; ein wichtiger Unterschied. Die Leute auf der Straße waren ärmlich gekleidet. Die Luft war still und stickig. Der Regen hatte nachgelassen und die Fußwege bildeten ein graues Schachbrett aus nassen und trockenen Fliesen. Nach dem Regen hätte die Luft frisch und kühl sein sollen, aber sie war es nicht. Aus einem Fabriktor strömten Arbeiter, als Ridg-
way und Carrit vorbeikamen. Männer und Frauen schoben Fahrräder und Scooter. Einige fuhren alte Elektro-Autos. Robex waren nicht zu sehen. Der Schauplatz bot einen verlorenen, schäbigen und bitteren Eindruck. Qualm senkte sich beißend herab. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte Carrit. Sie gingen weiter. Sie hatten wieder ein Gesprächsthema gefunden. »Das ist die Armut«, sagte Ridgway. »Die Leute sind arm.« »Aber sie haben doch Arbeit, ein Zuhause. Fernsehen und Kinos. Sie fahren mit eigenem Wagen oder Scooter. Und den Urlaub verbringen sie in Southend oder auf Mallorca. Wo ist da die Armut?« Bevor Ridgway antworten konnte, fuhr Carrit fort: »Oh, ich verstehe. Sie meinen, daß sie geistig arm sind.« »Ganz und gar nicht.« Ridgway beherrschte sich. »Sie sind geistig genauso beweglich wie jeder andere – wenn sie es unter Beweis stellen könnten. Nein, Aldous, sie sind arm im physischen Sinn. Klar, sie haben Arbeit und einen Fernseher und all das, was Sie soeben als Luxus angeführt haben. Aber was haben sie sonst noch? Ihre Wohnungen sind miserabel. Sie haben für Robex kein Geld übrig. Ihre Bildungsmöglichkeiten sind mehr als bescheiden. Egal, was die Herren Professoren und Minister sagen. Vor allen
Dingen fehlt ihnen die Möglichkeit, das zu bekommen oder zu erreichen, was die Bewohner der synthetischen Stadt haben.« »Wenn Sie damit meinen, daß sie eine andere Klasse bilden –« »Allerdings. Sie essen nicht nur anders, sie kleiden sich anders, haben andere Regeln des sozialen Lebens. Das hat alles nichts mit Hautfarbe zu tun. Rassismus gibt es nicht mehr. Aber die Armut haben wir noch immer nicht überwunden. Es gibt braune und gelbe und schwarze Reiche. Und es gibt braune und gelbe und schwarze arme Leute. Ich wette, wenn es Leute mit blauer Haut gäbe, auch sie wären in arm und reich geteilt.« »Das hört sich fast an, als ob Sie selber arm wären.« »Wenn ich eine Predigt halten sollte, müßte ich antworten: So lange ein Armer auf der Welt lebt, bin auch ich arm.« »Unsinn!« »Hören Sie, Aldous. Die Leute hier sind aber nicht einmal die wahren Armen. Waren Sie jemals am Stadtrand? Haben Sie sich die Lager der Regierung angesehen, die Sozialzentren, die Kinderheime? Haben Sie jemals hinter die Fassaden der Namen geschaut, mit denen man den Begriff Arbeitshaus kaschiert?« Die Sonne war untergegangen, und sie sahen sich
nach einem Taxi um. Sie mußten winken und rufen, bis endlich ein Taxi mit Chauffeur hielt. Sie stiegen ein, und als Ridgway sich auf das verbeulte Polster setzte, fiel ihm plötzlich etwas ein. Er zuckte zusammen. Ein Chauffeur, ein Fahrer, ein Mensch, der einen Wagen lenkte – das war der Schlüssel. Ein betrunkener Fahrer – »Sehen Sie, Arthur«, sagte Carrit, »die Angst vor dem Arbeitshaus ist doch Quatsch. Die Leute sind doch mit der Einrichtung ganz zufrieden. Ja, sie versuchen sogar, freiwillig hineinzugehen. Sie bekommen regelmäßig zu essen, haben ein Dach über dem Kopf und ein Bett. Sagen Sie mir, wo sonst im viktorianischen England bessere Bedingungen herrschten.« »Also, Aldous, weichen Sie mir nicht aus. Der Staat war doch durch und durch faul.« »Nun, was geht uns das noch an«, entgegnete Carrit knapp, nicht ohne einen Unterton von Schuldbewußtsein. »Ich bin ein Computerspezialist, und ich bin es gern. Sie sind – nun, Arthur, ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie eigentlich sind, nachdem man Sie im College vor die Tür gesetzt hat.« »Ehrenvoller Rückzug. Ich lecke meine Wunden. Aber wenn Sie mich schon mit einem Etikett versehen müssen, dann nennen Sie mich Marketing- oder PRMann. Manchmal frage ich mich, wann euch Eierköpfen der Klebstoff für die Aufkleber ausgeht.«
Sie rollten in raschem Tempo eine schmale vierspurige Autobahn entlang, und der Schatten einer Brücke, die lang und breit über die Straße führte, huschte über das Taxi. Sie fühlten sich wieder heimisch. Carrit, wenn er nicht gerade in Cambridge war, und Ridgway, der fast sein ganzes Leben in der Großstadt verbracht hatte, waren an die Schatten der Brücken und Hochstraßen gewöhnt, die ein enges Netzwerk aus Schatten auf die unteren Ebenen der Stadt warfen. Als sie den nächsten Taxistand erreicht hatten, bezahlten sie den Fahrer und stiegen um. »Ich mißtraue jedem Chauffeur, der sich heutzutage in den Stadtverkehr wagt«, bemerkte Carrit und nahm seufzend im luxuriösen Fond Platz. »Man sollte sie verbieten. Der einzig logische Weg ist eine zentrale Steuerung des Verkehrs. Robexe. Und sonst nichts. Zivilisierte Leute dürfen keine Unfälle tolerieren.« Ridgway stimmte ihm zu. Dieser verdammte Erinnerungsfetzen. Warum konnte er ihn nicht packen? »Wenn's nach mir ginge – ich würde alles abreißen«, sagte Carrit gedehnt. »Den ganzen Stadtteil, den wir uns angesehen haben. Wir müssen eine neue Welt bauen, Arthur. Und das geht nur, wenn wir die alte zerstören. Das wußten schon unsere Vorfahren. Man kann nichts Neues planen, wenn das Alte noch da ist. Man kommt nie zu etwas, wenn das Alte noch gut genug zu sein scheint.«
»So sagt man.« »Aber nur so geht es! Macht das Alte kaputt und schafft das Neue! Anders gibt es keinen Fortschritt.« Das Taxi fuhr in den Kern der synthetischen Stadt. Der Robex lenkte es fehlerlos in den Verkehrsstrom. »Aber jemand wird darunter leiden«, sagte Ridgway. »Auch das gehört dazu.« Doch Carrit dachte bereits an das nächste Problem. Ridgway seufzte. Als ihm einfiel, daß er dabei sein mußte, wenn Carrit und Sheridan sich trafen, hellte sich seine Miene auf. Er mußte dabei sein, und wenn nur zum Vergnügen. Carrit war so selbstsicher, so arrogant. Er schien den Rest der Welt immer von oben herab zu betrachten. Vielleicht, aber nur vielleicht hatte der alte Doc Sheridan ein paar hübsche Asse im Ärmel. Überrascht erkannte er, daß er sich Aldous Carrit offenbart hatte. Wie nebenbei hatte er erwähnt, daß er aus Cranbrook stammte, was er freiwillig noch nie jemandem gesagt hatte. Wurde er langsam erwachsen? Er hatte so seine Zweifel, aber vielleicht war es gar nicht so übel – Offensichtlich kannten sich Carrit und Sheridan von früher. Jeder Zweig der Wissenschaft hatte die Tendenz, die Eingeweihten in ein Ghetto Gleichgesinnter zu führen; Ridgway bedauerte, daß er auf dieses Erlebnis verzichtet hatte. O ja, er schätzte Aldous
Carrit, und das Jahr, das sie gemeinsam an der Uni verbracht hatten, hatte seine Zuneigung nicht verringert. Er glaubte zu wissen, was Carrit von ihm hielt: Ein Dissident, ein Versager, das war's. Nach Carrits Maßstäben war Ridgways Arbeit als Public-RelationsMann für DESS lediglich Spielerei. Selbst Ridgway mochte nicht behaupten, daß Carrit damit völlig unrecht hatte. Aber er wußte, daß er sich nie und nimmer mit den echten Versagern gemein fühlen würde. Hoffentlich. »Ich esse in der ›Goldenen Ente‹ zu Abend. Wollen Sie nicht mitkommen?« »Gut«, sagte Carrit. »Warum nicht. Dann können wir ein bißchen über Cambridge plaudern.« »Ja, das könnten wir.« Ridgway bereute sein Angebot schon. Das Restaurant war preiswert, aber gut. Und wenn man tanzen wollte, hatte man Platz dazu. Das Essen war erstklassig. Schließlich leitete DESS die Küche. Das Klirren der Bestecke, das Gemurmel der Gäste, die durchsichtigen Schwaden von Tabakrauch bildeten eine freundliche und gemütliche Atmosphäre. Sie nahmen an einem Tisch Platz, der von einer Säule und einer mit Plastikrosen bekränzten Pergola abgeschirmt wurde. Ein Robex klappte aus der Säule und stellte Gläser mit Eiswasser auf den Tisch.
Ridgway ließ seins stehen. »Aah«, sagte Carrit, der die Angewohnheit aus Amerika mitgebracht hatte, und trank. Er verzog das Gesicht. »Das soll Eiswasser sein?« Er sah genauer hin. »Da ist ja überhaupt kein Stück Eis im Glas! Was ist denn mit dem Robex los?« Der Oberkellner kam rasch näher. Er nickte Ridgway zu. »Guten Abend, Mr. Ridgway. Tut mir leid wegen des Eiswassers, Sir, aber der Chefkoch macht uns heute Schwierigkeiten.« »Schwierigkeiten?« fragte Ridgway. Luigi wußte, daß er für DESS arbeitete. »Was für Schwierigkeiten?« »Die Maschine scheint uns für ein vegetarisches Restaurant zu halten!« klagte Luigi. »Kein Eiswasser! Die Maschine produziert nicht einen winzig kleinen Eiswürfel!« »Seltsam –« »Und das Curry! Und die scharfen asiatischen Gerichte –« der Oberkellner hielt inne, als der Robex die Karte auf den Tisch legte. Er hob sie auf und tippte mit dem Zeigefinger auf verschiedene Gerichte. Sein feistes Gesicht zitterte, und jeder gut gepolsterte Zoll seines Körpers bebte vor Entrüstung. Alle Gerichte, die speziell gewürzt und mit Vorsicht zu genießen waren, waren gestrichen.
»Und das ist leider noch nicht alles«, bekannte der Oberkellner. »Sie wissen vielleicht, daß ich hier arbeite, weil unsere Gäste sich gern mit mir unterhalten und sich lieber bei einem Menschen beschweren als bei einer Maschine. Aber jetzt hat die verflixte Kochmaschine alles durcheinander gebracht.« Er schnupfte. »Ich habe den Manager herbestellt.« Carrit fühlte sich angesprochen. »Vielleicht können wir helfen.« Er sah Ridgway an und zog eine Braue hoch. »DESS leitet dieses Lokal?« »Lieber koche ich mir etwas über offenem Feuer, als daß ich in ein Lokal gehe, wo SERVEN mitmischt!« brummte Ridgway. Sie gingen in die Küche. Bislang war nur ein kleiner Teil der Stadt an das zentrale Restaurationssystem angeschlossen, das SERVEN eingerichtet hatte und ständig erweiterte. Noch war die Zeit nicht gekommen, wo man auf Knöpfe drückte und ein komplettes Menü aus der zentralen Küche bekam. Die »Goldene Ente« setzte Robex für manuelle Arbeiten ein, ließ sie kochen und servieren. Saugend und wischend summte ein Staubsauger vorbei; sein binaurales Gehör steuerte ihn sicher um die Männer herum. Auf einem Fließband wurden Lebensmittel, die auf robexgelenkten Wägelchen heranrollten, zu den raffiniertesten Gerichten verarbeitet,
die DESS aus der schöpferischen Phantasie des Chefkochs gelernt hatte. Der dicke Chefkoch kam näher, strahlendweiß, ein Gegenstück zu Luigi. Er hieß Percy Cousins und wurde Anton genannt. »Terrible, terrible«, stöhnte er und fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. »Keine Scampi! Kein civet de lièvre. Kein deer Haggis! Keine Wachteln!« Er litt. »Dieses feige DESS-Monstrum!« jammerte er. »Kein salmis of Plover! Kein capercailzie mit saurer Rahmsauce! Ich bin ruiniert!« »Allright«, kam Carrit zur Sache. »Sehen wir uns den Schaden einmal an.« Aus der Brusttasche zog er eine kleine Werkzeugtasche. »Hab ich immer dabei«, sagte er, als er Ridgways fragenden Blick auffing. »Fassen Sie Mut, Anton. Mr. Carrit versteht so viel von Computern, wie Sie vom Kochen«, sagte Ridgway. »Ah, so«, entgegnete Anton selbstbewußt. »Dann kann es nicht lange dauern.« Die verschiedenen Robex-Endausgänge der Küche wurden von dem Chef-Robex kontrolliert, der als stationäre Einheit mitten in der Küche stand. Carrit nahm die Verkleidung ab und blieb nachdenklich stehen. Alle warteten respektvoll. Dann trat Carrit vor, maß verschiedene Schaltungen durch, wobei er Testeinschübe benutzte, die zu
Wartungszwecken in einem kleinen Seitenfach des Robex bereitlagen. Noch mußten separate Wartungsrobex eingreifen, wenn es einen Fehler zu erkennen und zu beseitigen galt. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis auch diese Funktion zentral von DESS erledigt werden würde. »Diese dummen Roboter«, keuchte Anton und wischte sich die Augen. »Keine Jacobsmuscheln mit Kalbfleisch. Keine –« Ridgway stieß ihn freundschaftlich an. »Stören Sie Mr. Carrit nicht. Außerdem, wie oft muß man Ihnen noch sagen, daß es keine Roboter sind? Es sind Robex!« »Roboter, Robex. Wo ist da der Unterschied?« »Sehen Sie, Anton«, erklärte Ridgway und nahm den feisten Koch am Arm, »dort steht ein Staubsauger. Es ist weiter nichts als ein Staubsauger mit einem Empfänger, einer Antenne und Zubehörteilen, sowie einem Sensor an feinem Stengel. Stimmt's?« »Ja.« Anton ließ Carrit nicht aus den Augen. Ridgway schüttelte ihn sanft; er wollte dem Koch beweisen, daß auch er etwas von Kybernetik verstand. »Der Staubsauger arbeitet selbsttätig, vermeidet Zusammenstöße und befolgt das Reinigungsprogramm. Aber, und das ist wichtig, er hat keinen Speicher, kein Gehirn.« »Das weiß ich«, Anton riß sich los. »DESS ist sein
Gehirn und denkt für ihn und die anderen Robex. Das weiß doch jeder.« »Also ist ein Robex kein Roboter. Wenn alle Robex, die in Ihrer Küche arbeiten, Roboter wären, dann müßte die Küche sechsmal größer sein.« Ridgway machte eine Pause und sagte dann: »Alle Entscheidungen, alles, was wir mit Urteil und Kontrolle bezeichnen, wird von DESS verarbeitet und den Endausgängen übermittelt. Das ist das Prinzip des ROBot-EXtensions-System.« »Und wer hat mir das aufgeschwatzt? Sie und Joe Harrison!« beklagte sich Anton und drehte sich wütend um. »Na, sehen Sie sich den Schlamassel an! Was ist aus meinem exquisiten Menüprogramm geworden! Im Eimer ist es, sage ich Ihnen!« »Wir werden es reparieren.« »Ich habe schon bei DESS angerufen.« Anton lief zur Tür und schrie: »Warum sind sie noch nicht da?« Das hatte man davon, wenn man persönlich einen Kunden warb, dachte Ridgway. Er hätte doch lieber bei seinen Leisten bleiben und sich nicht um den Verkauf von DESS-Robex an seine Lieblingslokale kümmern sollen. Carrit blickte mit ölverschmiertem Gesicht auf. »Das dauert eine Weile, Arthur. Den Testeinschüben nach zu urteilen, ist alles okay. Aber Eiswürfel gibt's trotzdem nicht.«
»Die Elektroniker von DESS werden bald hier sein.« »Dann warte ich so lange. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht. Mir tut nur der angebrochene Abend leid –« Carrit fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Der Schraubenzieher funkelte. »Wenn die Robex stimmen, liegt der Fehler in der Zentrale. Bei DESS.« Er sah Ridgway herausfordernd an. »Vielleicht hat DESS wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Ridgway antwortete nicht sofort. Dann sagte er, daß er Carrit später treffen würde, und ging. Er ließ eine Szene hinter sich, die sich in Zukunft vielleicht öfter abspielen würde; davor hatte er Angst. Er biß die Zähne zusammen. Etwas zu essen. Zurück in die Bude. Ins Bett. Vergessen ... Er konnte nicht schlafen. Nach einer Weile begann ihn das Bett zu stören. Die Laken ballten sich zusammen. Er drehte sich auf die linke Seite und litt unter dem rhythmischen Klopfen seines Herzens. Er setzte sich hin und gab auf. Es hatte keinen Sinn. Er kroch aus dem Bett, unterdrückte den Gedanken an eine Schlaftablette und wußte doch nicht genau, was er tat. Er stolperte in die Küche und drückte auf die Knöpfe der Kaffeemaschine. Er verschüttete den Kaffee, bevor der Robex ihm das Einschenken abnehmen konnte. Mit der über-
schwappenden Tasse in der Hand stolperte er in die Diele und ließ sich in den Sessel am Fenster fallen. Er starrte durch das Fenster auf die Myriaden kleiner Lichter und erinnerte sich. Der Kaffee tropfte auf den Teppich. Er merkte es nicht. Er richtete sich auf und war hellwach. »Aber sie ist tot!«
6 Nicholas Rogan war ein Mann, der stets genau wußte, was er wollte. Trotzdem konnten ihn unbedeutende Kleinigkeiten zufriedenstellen. Wenn er sich zerstreuen wollte, mußten allerdings die Abwechslungen scharf und hart sein; das Drumherum kümmerte ihn wenig, solange der Reiz stark genug war. Während der Zeit, die der Übernahme von DESS folgte, kostete er die Lust, das Wissen einer Konkurrenzfirma zu plündern, voll aus; deshalb kamen seine persönlichen Vergnügungen zwangsläufig etwas zu kurz. Aber dazu hatte er weder Zeit noch Lust. Das geglückte Übernahmegeschäft und dessen Folgen befriedigten ihn vollauf. Es war ein großartiges Gefühl, durch die DESSBüros zu gehen und die intimsten Geheimnisse seines ehemaligen Konkurrenten kennenzulernen. Er fühlte sich wieder einmal bestätigt. James Grant Duncan war in Pension gegangen. Das war ein Teil des Abkommens. Duncan konnte sich nicht wehren, er mußte sein Lebenswerk widerwillig gegen eine Yacht und eine Villa an der Riviera eintauschen. »Denken Sie nicht zu schlecht von mir, Arthur«, hatte er zu Ridgway gesagt, als er ins Flugzeug stieg.
»Ich hatte keine andere Wahl. SERVEN übernimmt das gesamte Team und wird unsere Verträge erfüllen.« »Anders ginge es gar nicht«, hatte Ridgway entgegnet. »Leider wird DESS nur als Zwischenglied eingesetzt werden. SERVEN wird sich schnellstmöglich direkt einschalten.« Harry Lamb war mit zum Flugplatz gekommen. Er erstattete Rogan Bericht: »Ridgway könnte sich als Quertreiber entwickeln, Sir. Er ist mit Aldous Carrit befreundet, und Carrit beschäftigt sich mit der Auswertung des DESS-Fiaskos.« Rogan roch den Braten. »Wollen Sie andeuten, Harry, daß Carrit uns eventuell schaden könnte? Quatsch! Ich habe Duncan auf offenem Feld geschlagen.« »Das meine ich nicht, Sir. Ich habe mit Carrit gesprochen. Ich gab ihm zu verstehen, daß wir nicht abgeneigt seien, sein Honorar zu tragen. Er schien gewillt, mit uns zusammenzuarbeiten. Es scheint, als sei DESS in der Tat defekt –« »Nun?« »Carrit meint, die Störungen könnten sich ausbreiten. SERVEN wäre ebenfalls –« »Was? Wollen Sie damit sagen, daß SERVEN über kurz oder lang ebenso verrückte Programme ausspucken könnte?«
»Zumindest besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Carrit meint, es sei mehr als nur möglich.« »Also gut.« Rogan entschloß sich rasch. »Ich will Carrit sprechen. Und den verrückten Sheridan. Und bringen Sie die Experten mit. Ebenezer hat zu lange auf der faulen Haut gelegen.« Harry Lamb nickte und traf die nötigen Vorbereitungen. Nick Rogan entspannte sich auf seine Weise, bevor die Konferenz begann; er sah sich das Liebesdrama einer Javanerin und eines Burmesen an. Die Schauspieler trugen die schweren, reichverzierten Gewänder ihrer Heimat. Aber den Geschlechtsakt stellten sie bis zur letzten Zuckung realistisch dar. Zur Abwechslung war diesmal eine kurze Handlung eingeflochten. Als das Theaterstück vorbei war, Rogan sich erleichtert hatte, geistig und körperlich erfrischt, sich der grauen und dennoch reizvollen Welt des Big Business wieder gewachsen fühlte, verließ er den pompösen Palast der Freuden und schob sich durch die Menge im Foyer. Er ließ sich eine Weile treiben, düster und besessen. Die Konferenz war für Mitternacht anberaumt. Das war keine Laune von Lamb, sondern ergab sich aus der Auslastung des SERVEN-Computers, die um diese Zeit am geringsten war. Wenn Ebenezer mit dem Rechner arbeiten wollte, dann war dies der günstigste Zeitpunkt. Am liebsten hätte Rogan alle Angestellten
von Duncan gefeuert, DESS in alle Einzelteile zerlegt und den Laden dichtgemacht. Nur die Kluft zwischen technischen und baulichen Gegebenheiten hielt ihn davon ab. Eine seltsame primitive Angst flüsterte ihm ein, daß DESS SERVEN anstecken könnte. Er glaubte felsenfest daran, daß Elektronik, Kybernetik und Physik Sklaven der Menschheit waren. Die Welt war in Ordnung, wenn man auf einen Knopf drücken und den Kräften der Natur befehlen konnte. Das war der Sinn des Lebens – oder? Der Wagen, der ihn vom Theater zurückbrachte, bremste und beschleunigte kurz darauf wieder. Rogan sah aus dem Fenster; der Strom seiner Gedanken war unterbrochen. Ein Auto mit einem Menschen am Lenkrad war falsch abgebogen und hatte sekundenlang die zweite Fahrspur blockiert. Rogan runzelte die Stirn. Der Wagen fuhr weiter. Die Lichter der nächtlichen Stadt flossen zusammen und strömten in funkelnden Kaskaden vorbei. Die langen Lichterketten der Hochstraßen schoben sich wie die Arme der Milchstraße über den Himmel. Leuchtreklamen und Ampeln schütteten farbige Wogen über Straßen und Wege. Noch aus mehr als fünfzig Kilometern Entfernung strahlte der Himmel über der Stadt wie eine orangefarbene Fackel; beunruhigend wie ein Vulkan, schlafund ruhelos, zitternd und voller Energie lag die Stadt unter dem dunklen Antlitz der Nacht.
Bald, sehr bald würde sie ihm gehören. Sobald WESTEX einlenkte, würde SERVEN die ganze Stadt kontrollieren. Aufsichtsrat, Großbanken und Versicherungen mochten sagen was sie wollten, SERVEN gehörte ihm. Und er, Nicholas Rogan, war SERVEN. Rasch ging er in das steile, aus abgestuften Stockwerken gebaute SERVEN-Gebäude, das an der Flußbiegung lag, und ließ die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen widerwillig über sich ergehen. Wortlos nahm er die Plakette entgegen. Dann fuhr er mit dem Privatfahrstuhl nach oben. Höher, immer höher, bis er die Dächer der umliegenden Hochhäuser unter sich liegen sah. Hier oben, in Luxus und Großzügigkeit fühlte er sich wohl. Er genoß das Gefühl des Steigens, des physischen Emporschwebens. Energisch trat er aus der Kabine. Er war bereit, jeden Widerstand und Widerspruch niederzuschlagen. Harry Lamb hatte alles arrangiert. Rogan sah sich um. Wie Duncan konnte er nicht stillstehen, sondern ging ruhelos auf und ab. Widerstrebend nahm er in dem Sessel aus nichtrostendem Stahl Platz und lehnte sich gegen den hohen Rücken. Die Kissen aus flüssigkeitsgefülltem Schaumgrieß massierten ihm wohltuend Rücken und Schenkel. Er starrte die Männer an, die vor ihm am Tisch saßen, und fällte sein Urteil über sie, ohne es zu verbergen. Harry Lamb kannte er. Doktor Ebenezer kannte er
auch. Das dunkle Gesicht des Computerspezialisten zeigte Zurückhaltung, Zweifel. Sein krauses schwarzes Haar hatte bereits graue Strähnen, aber die breite Nase, der kräftige Mund und die Augen, denen nichts entging, gehörten zu einem intelligenten, willensstarken Mann. Trotzdem machte er heute einen widersprüchlichen Eindruck. Wahrscheinlich hatte er mit Carrit und Sheridan gesprochen. Nun gut, wenn sie ihn beschwatzt und verunsichert hatten, dann war es eben so. Ebenezer war erstklassig. Rogan wußte das besser als andere, und er bewunderte den Afrikaner wegen seines raschen Verstandes. Er gehörte nicht zu den Gnomen, die mit Konstruktionsplänen und einem Schraubenzieher herumliefen und sich Kybernetiker schimpften und die Rogan zu beschäftigen gezwungen war. »Ich fühle mich geehrt, Gentlemen«, begann Rogan, »wenn ich mich umsehe und so eminente Experten an meinem Tisch wiederfinde.« Doktor Sheridan zog die Brauen zusammen und spielte mit seinem Bärtchen. Aldous Carrit lächelte knapp und fuhr fort, Kringel auf den Notizblock zu machen. Niemand fühlte sich zu einer Antwort verpflichtet. »Kommen wir gleich zum Kern der Sache«, sagte Rogan. Lamb verteilte die Tagesordnung. Erläuternd sagte
er: »Es erschien uns zweckmäßig, ein ad hoc-Komitee zu gründen und es das Systemkomitee zu nennen. Abrahams, der Security Officer für Gremien dieser Entscheidungsebene, sollte nichts dagegen einzuwenden haben, weil der Titel nichtssagend genug ist.« »Der Name ist mir piepegal, Harry«, sagte Rogan. »Wir müssen herauskriegen, warum DESS falsch reagiert hat, und wie wir verhindern können, daß SERVEN ein ähnliches Schicksal erleidet.« »Jeweiliger Leute davon wissen, desto besser«, sagte Ebenezer mit klangvollem Baß. »Richtig, Peter«, stimmte Carrit zu. Er rückte die breiten Schultern zurecht. »Das ist ein ganz heißes Eisen.« »Also ohne Umschweife«, sagte Rogan knapp. »Es handelt sich um einen ganzen Industriezweig. Um eine Stadt, ihre Versorgung und ihre Bewohner. Um Dienstleistungen und um Lebensqualität. Es ist unsere Aufgabe und unser Beruf, den Menschen zu helfen. Wenn der Zentralcomputer irrt, können wir dichtmachen.« »So schlimm ist es nicht«, erwiderte Ebenezer scharf. »Was meinen Sie, Carrit?« Carrit lächelte nicht mehr. Er war ein unabhängiger Experte mit beratender Funktion. Für gewöhnlich brachte man ihm großen Respekt entgegen, was er
auch nicht anders kannte, aber Nicholas Rogan schien ihn mit seinen Angestellten in einen Topf zu werfen. »DESS hat sich verrechnet. Ein Fehler hat sich eingeschlichen.« »Ein Fehler?« fragte Rogan, hob den Kopf und sah Carrit mit zusammengekniffenen Augen an. »Mehr habt ihr Wissenschaftler nicht darüber zu sagen?« »Ein Fehler«, wiederholte Carrit ungerührt. »Daran arbeite ich jetzt. Mein Computer, ACME, arbeitet auf Hochtouren –« »Wenn Sie weitere Kapazitäten brauchen«, unterbrach Rogan ihn, »fragen Sie Doktor Ebenezer. Er wird Ihnen so viel Zeit auf SERVEN geben, wie Sie brauchen.« »ACME reicht völlig, danke«, entgegnete Carrit förmlich. Er schwieg und ließ sie schmoren. Dann sagte er: »Dr. Sheridan hat DESS umprogrammiert. Er hat Daten eingespeist, die für die Kontrolle der Robex und für geschäftliche Entscheidungen nicht unbedingt relevant sind.« Rogan sah Sheridan an. Amüsiert musterte er den erregten kleinen Mann, bis er schließlich die ruhige Gestalt von Ebenezer ins Auge faßte. »Etwas Ähnliches hat auch Dr. Ebenezer vorgehabt. Wenn Duncan so dumm war, seinen Computer ruinieren zu lassen, wundert es mich nicht, daß er Pleite gemacht hat.«
Ebenezer ließ sich nicht provozieren. Sheridan kochte vor Wut. Carrit fuhr ungerührt fort: »Ich bin noch dabei, Doktor Sheridans Programm durchzuspielen. Sehr reizvoll. Aber vielleicht wollen Sie selbst etwas dazu sagen, Sheridan?« Sheridan räusperte sich. Jetzt, da er offen sprechen mußte, merkte er, was er Jim Duncan schuldig gewesen war. Er sprach stockend und war sich der Unzulänglichkeit seiner Worte bewußt. »Es handelt sich weniger um das Programm an sich. Es ist vielmehr der Kompetenzmantel von DESS. Hardware und Software spielen dabei eine – spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem, mit dem Plan von mir. Ich habe getan, was jeder Programmierer gern täte. Ich habe DESS alles eingespeist, was ich konnte.« Carrit lächelte. Ebenezer zuckte zusammen. Der Afrikaner sagte: »Das – das haben Sie mir verschwiegen –« Er zögerte und sagte dann: »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie DESS ein mehrschichtiges Programm gegeben, das alle Ihnen bekannten Relevanzen enthielt. Darf ich fragen, wie viele Programmgenerationen Sie –« Sheridan lachte nervös. »Zum Schluß habe ich nicht mehr mitgezählt. Ich habe alles einspeisen lassen, was ich hatte. Vergessen Sie nicht, meine Sprache ist um einige Potenzen schneller und ökonomischer als CO-
BOL. Ich darf ohne Bescheidenheit sagen, daß ich die Transitzeit um fünfundsiebzig Prozent verkürzt habe.« »Ohne Zweifel ist Ihre Computersprache ein wertvolles Hilfsmittel, Sheridan«, entgegnete Ebenezer. »Aber hat Carrit nicht etwas von Englisch gesagt?« »Das ist richtig. Wenn Laien mit einem Computer sprechen sollen, wenn sie Informationen brauchen, dann sollte das mittels der Umgangssprache geschehen können. Sie wissen ja, daß Computersprachen erst erlernt werden müssen –« »Aber so weit sind wir doch noch nicht, daß wir uns in Klartext mit einem Computer unterhalten können!« rief Ebenezer. Sheridan lächelte süffisant. »Zuletzt arbeitete ich an einer Audioeingabe«, sagte er leise. »Ich unterhalte mich mit DESS auf Englisch und bekomme Antwort. Kein Scherz.« Ebenezer machte wortlos den Mund auf und zu. Sheridan fuhr fort: »DESS kann urteilen, beurteilen, entscheiden und steuern. Er kann unter mehreren Alternativen die richtige finden. Anfangs mußte ich ihm raten, was zu tun war. Die getroffene Wahl galt dann als Beispiel, dem er in zukünftigen Situationen folgen konnte. Trotzdem kann DESS die Regeln und die Verfahrensweisen variieren.« »So neu ist das nun auch wieder nicht«, sagte Ebe-
nezer, den die Diskussion mitriß. »Computer ausreichender Komplexität –« »Ich weiß. Deshalb hat DESS die Fähigkeit bekommen, Weltanschauungen oder, besser gesagt, grundlegende Ansichten und Konzepte seiner Umwelt direkt zu erkennen und zu speichern. Er gibt seinen Robex nicht nur Befehle, er lernt durch sie die Welt kennen, in der sie sich bewegen. DESS ist integriert. Er funktioniert ohne menschliche Unterstützung. Robex, die sich selbst warten –« »Ja, aber!« widersprach Ebenezer unruhig. »Das kann SERVEN auch!« »Mag ja sein«, unterbrach Carrit ihn. »DESS stellt also zur Zeit ein Modell des menschlichen Gehirns auf mechanistischer Ebene dar. Auf dieser Basis müssen wir beurteilen, warum DESS sich abweichend verhalten –« Rogan, der lächelnd zugehört hatte, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wenn ich recht verstehe, hat Sheridan der Maschine sein Ego oktroyiert. Aber wenn Sie meinen, daß sie deswegen durchdrehte, weil er selber – äh – labil sein könnte, dann halte ich das für falsch.« »Danke«, sagte Sheridan ironisch. »Der Fehler muß anderswo liegen.« Rogan starrte sie an, stellte seine Persönlichkeit gegen sie, spürte, wie sie reagierten, wie ihre Krämerseelen revoltierten
oder gleichgültig blieben, ihn haßten oder ihn vergötterten. »Sie sollten mich nicht zu lange auf die Antwort warten lassen, meine Herren.« Doktor Ebenezer hatte sich wieder in der Gewalt. »Wir klammern DESS aus den Entscheidungskreisen aus. DESS wird ab sofort nur noch SERVENs Befehle durchschalten. Sobald wir die basic levels angeglichen haben, wird SERVEN die Robex von DESS übernehmen. DESS wird –« »Ja?« fragte Sheridan schrill. Rogan nahm Ebenezer die Antwort ab. »DESS wird verschrottet.« Das Schweigen rauschte ihnen in den Ohren. Fast unhörbar sagte Harry Lamb: »Das ist vielleicht das beste.« Er sah nachdenklich, erschreckt und erschöpft aus. »Je eher, desto besser.«
7 Von Mystik hielt Ridgway etwa soviel wie von einem faulen Apfel: Wenn man suchte, fand man vielleicht die eine oder andere genießbare Stelle. Aber das meiste war faul. Deshalb achtete man auch nicht auf die vielleicht verwendbaren Fragmente. Das Mädchen war tot. Er hatte gesehen, wie sie im Rinnstein lag, wie sich ihr kastanienbraunes Haar auf dem Pflaster ausbreitete. Und dann hatte er sie im Regen wiedergetroffen. Vor dem Eingang zum DESS-Gebäude. Also irrte er sich. Entweder hatte er alles geträumt, oder das Mädchen war jemand anders, ein Doppelgänger, eine Zwillingsschwester, oder eben nur eine junge Frau, die einer anderen zum Verwechseln ähnlich war. Nein. Es war dasselbe Mädchen. Oder ein Zwilling – Die Augen des toten Mädchens hatte er nicht gesehen; dieses Geheimnis blieb ungelöst. Aber sonst ähnelten sich das tote und das lebende Mädchen in jeder Beziehung. In jeder? Unmöglich. Es mußte eine andere Lösung geben. Ridgway konnte nicht schlafen, zog sich an und ging wieder in der nächtlichen Stadt spazieren. An der Stelle, an der er das tote Mädchen gesehen
hatte, blieb er lange nachdenklich stehen. Er hatte das Bild noch genau vor Augen: Die langen schlanken Beine, das schöne Haar, das wie auf einem Modefoto ausgebreitet war, das sanfte Gesicht, das die Welt nicht mehr sah. Die Einzelheiten verschmolzen mit dem Bild des Mädchens, das er im Regen getroffen hatte. Am nächsten Morgen hatte sich die Stimmung in der Firma noch nicht gebessert. Aldous Carrit besuchte DESS. Doktor Sheridan führte ihn herum. Die Belegschaft war schlechter Laune. Ridgway wartete am Eingang, gab Lalli Stephens aber keine Erklärung für sein seltsames Benehmen. Er lungerte herum, schlenderte hin und her und entfernte sich nie zu weit vom Haupteingang. Er wartete. Als ihn gegen Mittag der knurrende Magen zu stören begann, merkte er, daß sie jetzt kaum noch kommen konnte, wenn sie wirklich bei DESS arbeitete. War sie vielleicht ein Gast gewesen? Oder arbeitete sie in der Nachtschicht der Miederwarengesellschaft? Er rief Lalli aus dem Foyer an und sagte ihr, daß er im Restaurant gegenüber essen würde. War es möglich, daß er sich alles eingebildet hatte? Konnte er sich so irren? Er hätte das Problem gern mit Sheridan oder Carrit durchgesprochen, die beide eine Menge von den Irrungen des menschlichen Gehirns verstanden. Aber sie steckten beide bis über die
Ohren in der Aufgabe, das DESS-Fiasko zu lösen. Außerdem erforderte ein solcher Akt der Selbstüberwindung eine gehörige Portion Mut. Und den hatte er nicht. Als er nachmittags wieder ins Büro ging, setzte er sich ungewöhnlich schweigsam an die Konsole, die ihn mit DESS verband, und stellte dem Computer ein paar Fragen. Die Liste, die ihm sein Peripherieschreiber auswarf, nannte sich KRANKENHAUSZUGAENGE. Aber er ließ sich auch Personenbeschreibungen, Einlieferungszeiten, die Namen von Überlebenden und Toten geben. Die Suche verlief ergebnislos. Die Auskünfte enthielten keine Hinweise auf die tote junge Frau. Selbst die Liste der Leichenschauhäuser enthielt keine Beschreibung, die auf das Mädchen gepaßt hätte. Am späten Nachmittag berief Jim Duncan eine kurze Konferenz ein, auf der er seine Abteilungsleiter mit alarmierenden Neuigkeiten konfrontierte. Mit knappen Worten teilte er ihnen mit, daß ein Übernahmeangebot in der Luft lag. Auf Joe Harrisons vage Hoffnung, daß es WESTEX sein möge, antwortete Duncan nur: »Ich bedaure es ebenso wie Sie. SERVEN ist hinter uns her. Es sieht so aus, als müßte ich bald aufgeben.« Auf weitere Fragen antwortete er nicht. Drei Tage später wußten sie Bescheid. Ridgway
hatte in der Zwischenzeit versucht, mehr über das tote Mädchen herauszufinden, aber immer wieder Nieten gezogen. Als Duncan endlich die Übernahme durch SERVEN bestätigte und die Mitteilung seines Ausscheidens wie eine Bombe platzen ließ, spürte Ridgway, wie seine Welt zusammenbrach. Er begleitete Jim Duncan zum Flughafen; elend, voller Gedanken an Rache und Meuterei. »SERVEN übernimmt den gesamten Stab und die Angestellten«, hatte Duncan ihn beruhigt. Aber nur eine Woche später erfuhr Ridgway von Harry Lamb, daß SERVEN-DESS auf seine Dienste verzichtete. Man schmiß ihn raus. Er landete auf der Straße. Er ging in sein Appartement, kippte einen doppelten Whisky hinunter, ließ sich in den Sessel fallen und sah grübelnd auf das Panorama der Stadt hinunter. Schluß. Ende. Auf dem Müll. Er wußte genau, daß er seine Stellung bei DESS der engen Freundschaft zwischen seinem toten Vater und Jim Duncan verdankt hatte. Nicholas Rogan dagegen schuldete Frank Arthur Ridgway nichts. Einen vergleichbaren Job zu bekommen? Unmöglich. Ihm fehlten die elementarsten Fähigkeiten. Nein, das stimmte nicht; er konnte die geforderte Arbeit tun. Aber er konnte nicht beweisen, daß er es konnte.
Keine Firma, die etwas auf sich hielt, würde sich allein mit der Tatsache zufriedengeben, daß ein Mann eine solche Position bereits ausgefüllt hatte. Man wollte Zeugnisse, Titel, akademische Grade, Qualifikationen, handfeste überprüfbare Fakten. Die Tage des Selfmademannes waren vorbei. Selbst Jim Duncan hatte das mit dem Untergang seiner Firma erfahren müssen. Ehe die Woche vorbei war, hatte er das moderne Appartement gekündigt und war in eine ältere, nicht automatisierte Wohnung im Südteil der Stadt umgezogen, wo WESTEX Fuß zu fassen versuchte; mit SERVEN wollte er nichts zu tun haben. Er rief Jack Onslow von WESTEX an und fragte. Aber sie wollten sich nicht die Finger verbrennen. Es paßte alles zusammen. Verdammte Zeugnisse. Kam es nicht darauf an, was ein Mann auf dem Kasten hatte? Waren Papiere, die man schwenken, und Titel, die man vor oder hinten seinen Namen setzen konnte, wirklich so wichtig? Aber die moderne Geschäftswelt handelte nun mal so. Lalli Stephens weinte, als er ging. Er war ehrlich überrascht. Plötzlich hatte sie ihn umarmt und mitten auf den Mund geküßt. Aber er wußte, wann man ihn nicht mehr brauchte. Der unbegreifliche Ratschluß SERVENS gestattete Lal-
li Stephens zu bleiben. Und sie, die essen, sich kleiden und ein Dach über dem Kopf haben mußte, blieb. Hier saß er nun, in einer schäbigen Bude, deren Fenster auf eine Gummifabrik blickten, und fragte sich, was in Gottes Namen er machen sollte. Drei Tage lang sortierte er Rohgummi, bis ihm der Gestank zuwider wurde. Und die Firma ihn und zehn weitere durch einen Robex ersetzte. Er gewöhnte sich an, nachts spazierenzugehen; verbraucht, verbittert und voller Angst vor der Zukunft. Das Arbeitsamt unterstützte ihn, damit er Miete und Essen bezahlen konnte. Sonst wollte niemand etwas von ihm wissen. Wenn die Unterstützungsfrist abgelaufen war, mußte er auf seine Ersparnisse zurückgreifen. Weil er sich bei Duncan sicher gefühlt hatte, waren seine Ersparnisse nicht groß. Sollte er nach Cranbrook zurückfahren? Seine Eltern lebten nicht mehr, und er hatte keine Geschwister. Der nächste Angehörige war ein entfernt verwandter Onkel, den er seit Jahren nicht gesehen hatte. Es war unwahrscheinlich, daß er sich plötzlich um die Probleme seines Neffen kümmern würde. Cranbrook zog ihn an und stieß ihn ab. Er war an das Leben in der synthetischen Stadt gewöhnt. Überall auf der Welt schufen die Bürger sich neue Städte: Orga-
nisch funktionierende Super-Einheiten, die sie mit allem versorgten. Das Land dagegen entwickelte sich mehr und mehr zu einem Ort der Nostalgie, wo man picknickte, sich zerstreute. Aber er brauchte Arbeit, um zu leben. Müßiggang würde ihn aushöhlen und zerstören. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, ging er eines Tages in das Gebiet des Eastern City Development. Er musterte das Gelände mit Bewunderung und zynischer Selbsterniedrigung; SERVEN verstand was vom Geschäft. Als er die Ausfallstraße der synthetischen Stadt verließ, wurden gerade die Reste eines alten Hochhauses abgerissen. Die Mauern krachten in einer gewaltigen Staubwolke auf die Erde. Der Lärm des zusammenbrechenden Gebäudes hallte und schallte wie die Trompeten eines neuen Zeitalters. Überall waren SERVEN-Robex an der Arbeit; sie rissen Mauern ein, schafften Geröll beiseite, robexgesteuerte Rammen stießen in das dunkle Herz der Erde vor, damit auf unzerstörbaren Fundamenten die funkelnden Türme der Zukunft errichtet werden konnten. Vorarbeiter rannten geschäftig hin und her, sprachen in Funkgeräte, sahen auf Baupläne und kontrollierten die Fortschritte, die SERVEN machte. Ridgway kam das alles ziemlich sinnlos vor, aber ihm war diese Handlungsweise nicht unbekannt. Eastern City
wollte sich die Kontrolle nicht aus der Hand nehmen lassen. Selbst heute noch mißtrauten die Menschen den von ihnen geschaffenen Automaten. Der Tag, an dem die gesamte Stadt synthetisiert war, lag in greifbarer Nähe; der Tag, an dem sie wie ein lebendes Wesen funktionieren würde, war nicht mehr fern. Ohne Zynismus wußte er, daß WESTEX gegen Nicholas Rogan keine Chance hatte. Danach gehorchte die Stadt einem einzigen Elektronengehirn, einem einzigen lenkenden Genie. Nein, dachte Ridgway, noch war er nicht ganz am Ende. Aber das Ende war schon in Sicht. Lange sah er den Maschinen zu. Staub wölkte in glitzernden Schwaden in den Strahlen der Sonne. Die Zerstörung ging rasch voran. Als endlich die Sonne hinter den hochragenden Wohntürmen versank und breite goldgelbe Bänder über die Hochstraßen legte, sich millionenfach in Fenstern spiegelte, stand Ridgway auf und ging zum Fluß hinunter. Er drehte sich noch einmal um. Noch hatte er das Baugelände nicht hinter sich. Er stand auf einem eingeebneten Gelände, über dessen Fundamentschächten die kantigen Umrisse von Betongießmaschinen kauerten. Dichte Staubwolken hüllten alles ein. Neben der Straße waren Ziegelsteine, Steinquader und
zerbrochene Betonblöcke aufgeschichtet. Wenn die neuen Wohnmaschinen errichtet wurden, mußte die Straße verbreitert werden. Eine robexgelenkte Grabenziehmaschine war bereits dabei, das Bett für die Versorgungsleitungen zu pflügen. Aus dem Zentrum des Feldes näherte sich rumpelnd und schwankend ein LKW. Es war ein altes Modell, das wie ein prähistorisches Monstrum über das Land zu kriechen schien. Er trat beiseite, um den Lastwagen vorbeizulassen. Unbeabsichtigt hob er den Kopf. Vielleicht wollte er dem SERVEN-Robex wütend nachstarren. Aber hinter dem Lenkrad saß ein Mensch. Er sah den Fahrer, sah das Mädchen, sah das lange rotbraune Haar, das im Nacken von einem blauen Band zusammengehalten wurde. Er sah das Gesicht. Ihr Gesicht. Er konnte sich nicht bewegen. Der Wagen rollte weiter. Zögernd machte er einen Schritt. Sein Herz klopfte wie wild. Pfeifend und winselnd quälte der Elektromotor den Wagen weiter. Dann erhöhte der Lastwagen die Geschwindigkeit und verschwand zwischen den Türmen, die hellrot in der Abendsonne glühten.
8 Ridgway hatte keinen anderen Gedanken, als dem Lastwagen zu folgen. Mit seinem letzten Kredit nahm er sich ein Taxi und wies den Robex an, so schnell wie möglich hinterherzufahren. Ridgway saß im Wagen und fühlte sich einsam. Er wußte, wie sinnlos er sich benahm. Lebte nicht jeder über einem Abgrund? Er hatte seine Lebensversicherung gekündigt, die ihm nur ein Bruchteil der Summe brachte, die er während der fetten Jahre bei DESS eingezahlt hatte. Er hatte Joe Harrison und Dan Hanlon angebettelt. Hanlon ließ ihn abblitzen. Und Harrison hatte ihm kopfschüttelnd ein paar Kredite gegeben, so daß Ridgway merkte, daß er von ihm keine weitere Hilfe erwarten durfte. Ridgway war es immer schwer gefallen, Freundschaften zu schließen. Das bedauerte er jetzt. Das Taxi fuhr durch die Dämmerung. Die Lichter der Stadt feierten ihre allnächtliche Orgie. Der LKW fuhr in die Außenbezirke und nicht auf die Hochstraßen. Ridgway war froh, daß ihm der Anblick der fröhlichen glücklichen Menschen erspart blieb: Sie hatten Geld, sie hatten Jobs. Er dagegen war ein Narr. Er hatte nicht vorgesorgt, und die Zukunft wollte nichts von ihm wissen.
Heute ein Job, morgen auf der Straße. Entweder war man obenauf, oder man landete in der Gosse. Die vielen Beschäftigungen und Berufe, die einstmals den Unfähigen, Faulen, Chancenlosen und Ungelernten offengestanden hatten, waren durch Automation und Robex aus der Gesellschaft verschwunden. Heute hatte niemand die Aussicht, eine Stellung als Tellerwäscher oder Müllmann zu finden. Putzfrauen, Küchenhilfen, Kassierer; all diese Jobs, einst das Vorrecht der Masse der ungelernten Arbeiter, Drifter und nicht Gesellschaftsfähigen, gab es nicht mehr. Entweder war man Spezialist – oder Landstreicher. In den dunklen Gassen zwischen Fabriken und Slums funkelten Lichter. Das Taxi stoppte am Straßenrand. Ein Demonstrationszug kam näher. Eine brüllende, schreiende Masse aus Männern und Frauen, die Fackeln aus Latten und geteerten Stoffetzen trugen. Funken sprühten. Weiße und dunkle Gesichter glänzten im Schein der flackernden Flammen. Arme gestikulierten, Münder schrien. Ridgway hatte den Lastwagen aus den Augen verloren. Die tanzenden Schatten und blakenden Fackeln versperrten ihm die Sicht. Der Krach war ohrenbetäubend. Jetzt hatten sie das Taxi erreicht. Dröhnend schlugen Stöcke auf Dach und Motorhaube. Nein, es war kein Aufstand. Es war eine Demonstration. Nicht die erste, nicht die letzte. Ridgway hatte
noch nie eine Kundgebung erlebt. Zwischen schwankenden Stangen spannten sich Transparente: WOHNUNGEN FÜR ALLE – KEINE AUTOMATION ERST KONSULTATION – ERST BERATEN DANN AUTOMATEN. Wie lächerlich. Die Gewerkschaften konnten den Happen nicht verdauen. Ihre schärfste Waffe, der Streik, war stumpf geworden. Damit konnte man die Unternehmer nicht mehr treffen. Streiken? Bitteschön. Dann tritt eben ein Robex an deine Stelle. Ein Robex braucht keine Frühstücks-, keine Mittagspause, keinen Urlaub und kein freies Wochenende. Ein Robex arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag. Und wird einer defekt, wird er ausgewechselt. Streik? Na und? Die Fackeln taumelten funkensprühend vorüber. Ridgway sah ihnen wie betäubt nach. Das Taxi war gerade angefahren, als die ersten Warnschüsse wie fernes Händeklatschen losprasselten. Die Polizei lenkte den Zug in die Nebenstraßen. Wie immer erfolgreich und skrupellos. Den Stadtkern würden die Demonstranten nie erreichen. Gezielt lenkte man sie in die Seitengassen, sprengte sie auseinander, löschte ihre Fackeln und ihre Wut. Wenn die Staaten auch auf Armeen verzichtet hatten, ihre Polizei behielten und verstärkten sie – um die, die etwas hatten, vor denen, die nichts hatten, zu schützen.
Das Taxi schaukelte, als es über eine erloschene Fakkel rollte. Ridgway erwachte wie aus einem Alptraum. Was hatte er gesehen? Eine alltägliche Demonstration. Arbeiter, die keine Arbeit hatten und mehr Geld, bessere Lebensbedingungen, eine Chance haben wollten, waren auf die Straßen gegangen, und ihre Kundgebung war von der Polizei aufgelöst worden. Ridgway fuhr sich mit der Hand über den Mund. Der Abgrund hatte sich noch weiter aufgetan. Er wollte umkehren, aber Kräfte, die stärker waren als seine Angst, stießen ihn weiter. Er war wütend auf das rothaarige Mädchen im LKW. Warum hatte er sein letztes Geld riskiert, um ihr zu folgen? Was bedeutete sie ihm eigentlich? Daß sie von den Toten auferstanden war? Nein. Er hatte bereits über alle Möglichkeiten nachgedacht. Aus Egoismus folgte er ihr. Ihm war übel. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Er zitterte. Er ließ das Taxi halten und wollte gehen. Als er ungewollt den Kontrollbereich verließ, flammte ein Blitzlicht auf. Das Taxi hatte ihn fotografiert. Der Robex sagte: »Bitte zahlen Sie, bevor Sie gehen. Sie sind fotografiert worden. Sie sind jetzt der Zentrale bekannt. Bitte zahlen Sie und vermeiden Sie unangenehme Folgen.« Ridgway beherrschte sich mühsam. Ausgerechnet ein SERVEN-Taxi. Er riß die Kreditkarte heraus und zeigte sie dem
Sensor. Nun hatte er gerade noch Geld für eine Tasse Kaffee. »Vielen Dank, Sir«, sagte der Robex. »Es freut uns, daß Unannehmlichkeiten vermieden wurden.« Ridgway stolperte ins Dunkel. Der Zusammenprall mit der Wahrheit verletzte ihn. Er konnte nichts anderes tun, als was er bislang gemacht hatte: Weiterleben, ein bißchen mehr erreichen wollen. Und das hatte er gründlich verbockt. Warum, zum Teufel, hatte er das Mädchen verfolgt? War er etwa in sie verliebt? Er stolperte weiter. Die kühle Frühlingsnacht machte ihn frösteln. Er mußte dem Abgrund entgehen. Er mußte es schaffen. Halbblind ging er weiter. Als er plötzlich durch ein zerbrochenes Tor den Lastwagen sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Der Hof war ein Müllabladeplatz und grenzte an eine Baracke, durch deren vernagelte Fenster kein Lichtschimmer fiel. Hinter ihm türmten sich die rußigen Mauern einer stillgelegten Fabrik auf. Die Esse stach in den Sternenhimmel. Neben dem Tor drehte sich eine Windhose aus Papierfetzen und Staub. Die Straße war still und verlassen. Ein paar trübe Laternen versuchten, die tintenschwarze Nacht zu erhellen. Fäulnis und Stillstand hausten in den Gassen. Niemand kümmerte sich um diesen Ort. Nächstes
Jahr erst würde die Stadt danach greifen – mit hohen Türmen, schmalen Straßenbändern wuchs sie aus der Vergangenheit in die Zukunft. Hier aber war das graue Land, das Niemandsland, wo man wartete. Hier lebten die Menschen im Schatten; wie Ratten in ihren Löchern. Lebten von der Hand in den Mund, von einem Augenblick der Lust zum anderen. Ihnen war es egal, wenn ihnen die synthetische Stadt das Land raubte, das ihnen gehörte. Ein Hund bellte. Ridgway erstarrte. Knarrend öffnete sich eine Tür. Rostige Angeln quietschten. Ein gelber Lichtkegel durchschnitt drohend den dunklen Hof, fiel auf rostige Autoteile, Schrott. Der Schatten eines untersetzten Mannes tauchte im Licht auf. Ridgway erkannte knorrige Schultern, einen runden Schädel, der fast auf den Schultern saß. Er stolperte über eine Blechdose. Der Hund jaulte und sprang. Funkelnde Augen, gelbe Reißzähne. Dann biß der Hund zu. Ridgway schrie. Der Hund verbiß sich in seinen Oberschenkel und ließ nicht los. Ridgway wollte ihn abschütteln und schlug und trat nach ihm. »Bleiben Sie doch stehen, Sie Idiot!« brüllte der Glatzkopf und kam näher. Er leuchtete mit einer Taschenlampe. Der Hund hatte helles Fell und war mager. Knurrend und mit angelegten Ohren starrte er
Ridgway an. Ridgway schrie und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. »Hierher, Bucephalus! Aus!« Die rauhe Stimme des Mannes klang belustigt. »Bucephalus! Bei Fuß!« Knurrend ließ der Hund los; langsam wich er zurück. »Mein Bein!« schrie Ridgway und packte den schmerzenden Oberschenkel mit beiden Händen. »Mein Bein!« »Na, Sie haben's ja noch.« Aus der Baracke kamen Leute. Sie sprachen durcheinander, bis ein paar Lampen gebracht wurden und sie sahen, wie Ridgway schwankend auf einem Bein stand. Sie kicherten und lachten. »Wer ist das?« fragte eine helle Frauenstimme. Sie schob sich durch die zerlumpten Gestalten. Gehorsam machten sie ihr Platz. Ridgway holte tief Luft. Jetzt mußte sich das Rätsel lösen. Sie hatte sich nicht verändert. Sie trug noch immer den abgewetzten Regenmantel. Ihr Haar glänzte. Er lächelte verzerrt und schüchtern. »Boris«, sagte sie mit heller Stimme, »bring ihn rein.« Der untersetzte Mann packte Ridgway am Arm und zog ihn in das Haus. Die Leute drängten sich um ihn – wie Geier, Zombies, Hyänen.
9 Nicholas Rogan kam gerade aus Tokio von einer internationalen Tagung. Er hatte feststellen müssen, daß er mit seinen Sorgen und Befürchtungen nicht allein war. Auch die anderen Organisationen standen vor ähnlichen Problemen. Er hatte offen über das Versagen von DESS gesprochen und merkte, daß man ihn verstand. Harry Lamb holte ihn vom Flughafen ab und schwieg nicht eine Minute lang, während sie zum SERVEN-Gebäude fuhren. Rogan hörte Lambs Bericht gespannt zu. Dann erzählte er Lamb von der Konferenz und ließ sich wieder einmal von dem großartigen Konzept der vollsynthetischen Stadt hinreißen. »Auf der ganzen Welt, Harry! Die neuen Städte entwickeln sich zum Herz und Geist der Menschheit. Sogar die Landwirtschaft wird von Robex gelenkt. Die Tricks lernen wir von den Farmern.« »Im letzten Jahr ist die Tomatenproduktion der Südküste um zwanzig Prozent gestiegen«, sagte Lamb zustimmend. Er dachte meistens in Statistiken und Zahlen. »Die begeisterte Stimmung auf der Konferenz hätten Sie erleben müssen, Harry – Schade, daß ich Sie hier nicht entbehren kann.« »Vielleicht später«, bemerkte Lamb trocken.
Rogan nickte freundlich. Sie steckten die Plaketten an und gingen in Rogans Büro. Rogan blickte auf die Straße hinunter. Er breitete die Arme aus. Aber man sah ihm nicht an, was er dachte. »Bald gehört alles mir, Harry. Mir!« »WESTEX wird auch bald zu Kreuze kriechen«, stellte Lamb fest. »Kriege gibt es nicht mehr, Harry.« Er atmete tief ein. »Und so, wie es ist, ist es richtig. Das ist die wahre Zivilisation. Und wenn es Kriege gegeben hat, war es auch gut so. Ich weiß es.« »Jawohl, Sir.« Rogan drehte sich um. Sein gespanntes Gesicht spiegelte seine Visionen wider. »Bestellen Sie Ebenezer her. Und Sheridan. Wenn Carrit greifbar ist, holen Sie auch ihn. Geben Sie ihm Geld. Es wird Zeit, daß wir DESS aus dem Weg räumen.« »Ich habe Ihnen noch nichts über DESS gesagt, Sir, weil die Fachleute Sie sowieso sprechen wollten. Sie bitten um Einberufung des Systemkomitees.« »Termin schon festgelegt?« »Jawohl, Sir. Heute um Mitternacht.« Rogan warf Lamb einen mißtrauischen Blick zu. Der Sekretär hatte die Angewohnheit, Kaninchen aus dem Hut zu ziehen, wenn er glaubte, ungeschoren davonzukommen. Rogan merkte, daß Lamb noch etwas anderes auf dem Herzen hatte.
»Also gut. Um Mitternacht. Was gibt's sonst noch, Harry?« »Der Aufsichtsrat, Sir. Er wünscht, ausführlicher unterrichtet zu werden.« Immer die alten Querelen. Da taten sich ein paar Gnome zusammen und versuchten, das Genie unter ihnen dazu zu bringen, sich ihnen zu unterwerfen. Als ob er sich von ihren Krämerseelen beeinflussen ließe. Er hatte den Aufsichtsrat faktisch längst entmachtet. Aber sie wollten es sich nicht eingestehen. Er lachte. Lamb sah ihn überrascht an. »Schicke ihnen eine Hausmitteilung, Harry. Seien Sie so gut.« Er brauchte Ablenkung. Er wollt ein Theaterstück sehen. Mit allem Drum und Dran; kostbaren Kostümen, Juwelen, Flitter, steifem Brokat und steifen Gesten. Künstlich und gekünstelt. Voller Gold, Silber, Spitzen – voller gestelzter Dialoge, formaler Phrasen, exaltierter Höflichkeit; mit überspitzten Formen, von denen keine mehr etwas mit dem Leben zu tun hatte. »Bestellen Sie mir eine Loge in der Königlichen Oper, Harry. Es ist mir gleich, was gespielt wird. Ich werde –« »Man spielt Hero und Leander.« »Ah!« Er freute sich. »Die Szene im Wassertank reizt mich jedesmal. Ich warte nur darauf, daß ihm
mal die Sauerstofftabletten ausgehen und er wirklich ertrinkt –« Lamb lachte. »Ein schöner Tod!« »Probieren Sie's mal, Harry.« Er erledigte und besprach die wichtigsten Vorfälle und entließ seinen Sekretär. Als die Schiebetür seufzend zuging, lehnte er sich langsam in den Sessel zurück. Die Schmerzen überfielen ihn so plötzlich, daß er einen Augenblick lang dachte, die Welt stürze ein. Er blieb regungslos sitzen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Schmerzen hüllten ihn ein, bis er weder eine Bewegung noch einen Laut zustandebrachte. Seine Gedanken bewegten sich trübe. Rasche pulsierende Gedanken tauchten auf und wurden von den Schmerzen vertrieben. Wie ein Metronom: Nicht das Herz – Stich – neues Herz – Stich – Hirn – Schmerz – Tumor – Stich – Er wußte nicht, wie lange er regungslos im Sessel saß. Vor den Fenstern ging der Tag zu Ende und die Schatten kamen aus den Tiefen der Häuserschluchten heraufgekrochen. Die letzten Strahlen der Sonne vergoldeten pflichtbewußt die flachen Spitzen der Türme. Dann wurde alles grau und trostlos. Wolken treiben ruhelos über den Himmel. Kein Stern war zu sehen. Wie eine Statue aus Alabaster saß Rogan unbeweglich und stumpf an seinem Schreibtisch.
Langsam gingen die Lichter im Büro an. Draußen versank die Welt und wurde unsichtbar, als die Lampen heller strahlten. Langsam schob Rogan die Hand vor und berührte einen Knopf. Der Erste-Hilfe-Robex fiel wie eine Spinne von der Decke. Ein Signal ging auf Lambs Schreibtisch an. »Mr. Lamb ist nicht im Haus, Sir«, sagte die Wechselsprechanlage. »Er wird zur Konferenz zurück sein. Danke, Sir.« Der Robex landete auf dem Fußboden, suchte Rogan mit den Sensoren und rollte auf den Schreibtisch zu. Doktor Housman hatte den Robex programmiert, und SERVEN stellte dem Robex sein gesamtes Wissen zur Verfügung. Rogan sah den Robex näherkommen. Ruhig und selbstbewußt machte der Automat sich an die Arbeit. Die mitleidlose Art, mit der der Robex ans Werk ging, war für Rogan eine völlig neue Erfahrung. Er dachte daran, Housman zu bitten, dem Robex eine Stimme zu geben, weil er die beruhigende Stimme des Arztes vermißte. Die Untersuchung durch die schieligen Fühler war entsetzlich unpersönlich. Ein Betäubungsmittel biß in seinen Arm, die Maske mit den glitzernden Linsen schob sich vor sein Gesicht, glitzernde Metallschläuche schlängelten sich aus den Gasflaschen im Rücken des Robex. Sein letzter Gedanke war, daß die Schmerzen vorbei sein mußten, wenn die Konferenz begann.
Knollige Wolken verschluckten ihn. Sein fünfter Geburtstag. Er freute sich. Sprang auf dem Bett seiner Eltern auf und nieder. Packte das Geschenk aus. Ein Auto. Ein richtiges großes Auto. Er stieg ein. Machte die Tür zu. Fuhr. Rollte. Steuerte selbst. Lenkte. Schaltete. Frühstück. Hunger. Süße Haferflockensuppe. Mach die Tür auf. Schnell. Es geht nicht. Schlag mit den Fäusten. Gegen die Tür. Gegen die Scheibe. Schreie. Hinaus. Eingesperrt. Der Wagen fährt. Hält nicht an. Nick Rogan, fünf Jahre alt, ist gefangen. Gefangen in der Maschine, die ihm nicht gehorcht, die ihn beherrscht, die ihn verschluckt hat – Was war gewesen – er erinnerte sich nicht mehr – seltsam – die Erinnerung, daß er in einer lebenden Maschine gefangen war und unerbittlich weiter und weiter fortgetragen wurde – Das Tonband mit Doktor Housmans Stimme sagte: »Das wär's dann, Nick. Sie sind wieder auf dem Damm. Der Robex hat Sie untersucht und alles Nötige unternommen. Es ist alles in Ordnung.« Rogan schnappte nach Luft. Speichel lief ihm aus dem Mund, er schluckte krampfhaft. Er rüttelte an der Pritsche, auf die ihn die Greifer des Robex gelegt hatten. Er hatte Kopfschmerzen. Nein, sein Kopf war taub; sein Gehirn war stumpf, hart und taub und steif wie die Kostüme der Schauspieler, die ihre künstlichen Rollen spielten.
Tief in ihm pulsierte der warme Keim seines Bewußtseins. Er war noch einmal davongekommen. Er wischte sich den Mund ab und stand auf. Langsam wich das taube Gefühl. Es gab Arbeit. SERVEN lastete auf seinen Schultern. Er dachte an den roten Hebel oben im Turm: Den Notschalter, mit dem der Computer abgeschaltet werden konnte. Ihn fröstelte unwillkürlich. Der Schalter mußte strenger bewacht werden. Sofort. Mit hundertprozentiger Sicherheit. Er wagte nicht daran zu denken, was geschah, wenn der Hebel betätigt wurde – Er nahm das Mikrofon des Diktiergeräts und formulierte den Befehl, der Abrahams, den Security Officer, auf dem üblichen Wege erreichen würde. Er ergänzte den Auftrag mit dem Hinweis, daß der Kompetenzbereich von Jack Mason, dem ehemaligen DESS-Mann, erweitert werden sollte. Er traute Mason. Er hielt sich am Tisch fest. Er stand noch nicht sicher auf den Beinen. Er mußte Housman fragen, was mit ihm passiert war. Er fühlte sich verändert und wußte nicht, wie. Er kam sich vor, als sei er ohne Bindungen, losgelöst und doch zielbewußt. Seltsam. Mit dem Glockenschlag betrat er den Konferenzraum. Lamb hatte bereits den früheren Notruf abgehört, aber Rogan sagte nur: »Es war nichts, Harry. Ich hatte Kopfweh, und der Robex half mir. Vergessen Sie's.«
Am Tisch hatten Doktor Sheridan, Peter Ebenezer und Aldous Carrit Platz genommen. Rogan spürte sofort, wie gespannt sie waren. Die Männer waren auf etwas gestoßen, das sie beunruhigte und erregte. Schwer ließ er sich in den großen Sessel fallen und sah sich finster um. »Schießen Sie los«, sagte er knapp. »Als erstes«, sagte Ebenezer, der sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr, »DESS wurde deaktiviert.« Ein Muskel zuckte in Rogans Gesicht. »Und?« Sheridan sprang auf. Er war wütend und verzweifelt. Mit zitternden Händen fuhr er sich ins Gesicht, ins Haar. »Sie haben DESS zerstört!« sagt er mit bebender Stimme. Hilflos schüttelte er den Kopf. Er war ausgebrannt. »Ich begreife es nicht. Es ist zu Ende. Meine ganze Arbeit vergeblich –« Aldous Carrit legte ihm die Hand auf den Arm. »Wir waren uns einig«, sagte er leise. »Wir hielten es für das Beste.« »Mit zwei Stimmen gegen eine?« Rogan wurde wütend. »Was soll das heißen?« Verächtlich verzog er den Mund. »Behaupten Sie, daß DESS verrückt geworden ist?« Ebenezer versuchte, die Auseinandersetzung herunterzuspielen. »Nein, Sir, verrückt nicht. Dieser Begriff läßt sich nicht auf einen Computer anwenden.
Seit man von selbstbewußten Computern spricht, haben wir sie in situ beobachtet und studiert. Wir wissen heute besser Bescheid als damals, wo man einen gottähnlichen Rechner für denkbar hielt. Wie SERVEN ist auch DESS ein Elektronenrechner, der sein Selbstbewußtsein aus Programmen und Assoziationsketten ableitet. Insoweit stellen sie allerdings ein Analogon zum Menschen dar.« Harry Lamb, der den Protokollrobex bediente, sah auf. Er zögerte, wollte etwas sagen. Nicholas Rogan kam ihm zuvor. »Okay. Also ist DESS nicht verrückt. Und ein Gott ist er auch nicht. Was also ist er?« »Ein Computer, der mit allen Fakten programmiert wurde. Philosophie, angewandte und theoretische Physik, Kunst, Religion, Medizin, Sport. Was Sie wollen. DESS wurde selbst- und weltbewußt. Er denkt, um dieses Wort in seiner normalen Bedeutung zu verwenden, wie ein Mensch. Und doch stimmt dieser Vergleich nicht völlig.« »Ist er also eine Art Übermensch?« fragte Lamb leise. »Das ist Ansichtssache. Sheridan nennt ihn so. Eigentlich ist jeder Computer ein Supermann, weil er schneller rechnet und kombiniert als ein Mensch. Aber in jeder anderen Hinsicht ist er ein Idiot. Mit einer Ausnahme. DESS.«
Rogan stieß die Luft durch die Nase. Sein runzliges Gesicht sah wie eine indianische Maske aus. »Warum hat DESS versagt?« Carrit lachte leise. Er lehnte sich zurück, warf den Arm über die Rückenlehne und blickte Rogan an. »Hat er gar nicht.« »Wie bitte?« Rogans Lippen zuckten. »Gehen Sie doch nicht wie die Katze um den heißen Brei! Spukken Sie's aus! Was war mit DESS los?« »Ich wiederhole«, sagte Carrit langsam, »DESS hat ein korrektes Ergebnis geliefert. Halten Sie sich bitte die Situation vor Augen. In dem Gebiet des Eastern City Development sollten Wohnblocks, Fabriken und Parks dem Erdboden gleichgemacht werden. Ein ganzer Stadtteil sollte verschwinden und seine Bewohner obdachlos gemacht werden.« »Für die Bewohner ist Platz in Neubaugebieten vorgesehen«, warf Lamb ein. Carrit lachte höhnisch. »Haben Sie sich die mal angesehen? Ridgway hat mir das Gebiet gezeigt. Nein, meine Herren, wenn Sie einem Menschen sein Heim, seine Arbeitsstelle nehmen und ihn auf die Straße setzen, dann ist er in unserer heutigen Gesellschaft erledigt. Wir haben ihn ausgestoßen. Natürlich kann er dort eine Weile weiterwursteln. Halb aus eigener Kraft, halb von der Wohlfahrt lebend. Aber sobald die synthetische Stadt realisiert ist, landen diese Men-
schen wieder am Rand der Gesellschaft. Ihre Rückkehr in die normale Gemeinschaft wäre nur unter den Bedingungen der synthetischen Stadt möglich. Sie selbst können keine Bedingungen stellen.« »Deshalb –?« fragte Rogan drohend. »Deshalb hat DESS den ursprünglichen Plan storniert und ein New Deal entwickelt.« »Ein falscher Entschluß«, warf Lamb ein. »Vom Standpunkt der Stadt aus – ja. Aber ein menschlicher Entschluß.« Rogan schwieg. Lamb lachte verlegen. »Und Sie sagten, ein Computer ist kein Gott!« »DESS ist keiner und SERVEN auch nicht. DESS handelte menschlich.« »Aber Maschinen haben keine Gefühle!« sagte Lamb erschreckt. »DESS und SERVEN sind reine Denkmaschinen! Keine Menschen! Sie sind Maschinen!« »Nein, sie leben!« schrie Doktor Sheridan. »Na gut, meinetwegen. Das ist Ansichtssache. Also, was soll's! Aber –« »Aber wer gibt uns Menschen das Recht, nur uns Gefühle zuzuschreiben und ihr Vorhandensein bei anderen Lebensformen zu leugnen?« Schweigen. »Wenn man einen Rechner nimmt und ihn mit
menschlichem Wissen, Glauben und Reaktionen füttert, dann lebt diese Maschine wie ein Mensch? Das heißt doch –« flüsterte Lamb. »Das heißt, wenn der Computer nicht wie der erste Primat Gefühle und zu fühlen lernt, dann wäre das das Ende aller Logik, Wissenschaft und Vernunft!« sagte Sheridan zornig. »Aber«, widersprach Lamb, »ein Computer hat keine Seele!« »Ach, hören Sie mir doch mit der Seele auf!« lachte Aldous Carrit sarkastisch. »Sagen Sie mir, was die Seele ist, und ich programmiere Ihnen eine! Was den Menschen bewegt, woran seine Gefühle arbeiten, sind weiter nichts als Umweltreize, Inputs, Reaktionen seines Gehirns. Und alle diese Inputs hat DESS erhalten.« »Es scheint also, daß der Computer Mitleid mit den Bewohnern der Oststadt hatte. Die Maschine fühlte mit ihnen und wog ihre Bedürfnisse gegen unsere ab. Und ihre wogen schwerer.« Damit hatte Ebenezer das Bild abgerundet. Sie warteten auf Rogans Reaktion. Rogans Augen funkelten ironisch. Sheridan zitterte noch immer am ganzen Körper. Ebenezer ließ seinen Chef nicht aus den Augen. Carrit hatte es sich bequem gemacht und genoß den Zusammenprall der Temperamente. Harry Lamb saß wie versteinert.
»Ich danke Ihnen für die Auskünfte, meine Herren«, sagte Rogan. Seine Ironie sperrte sie von seinen Gedanken aus. »Stellen wir eins fest, und lassen wir alle technischen Ausdrücke beiseite, mit denen Leute um sich werfen, die nur ihr Fachgebiet im Kopf haben, so müssen wir über eine Maschine befinden, die das ganze Wissen und die Denkweise eines menschlichen Gehirns zu besitzen scheint. Weil diese Maschine als Organismus geplant wurde, folgert offenbar daraus, daß der Computer zwangsläufig Gefühle entwickeln mußte.« »Ja.« »Ich verstehe.« Wieder unterbrach Rogans Spott den Rapport mit ihnen. »Diese Erklärung genügt mir.« Rogan sprach so leise, daß es Carrit überraschte. »Mehr haben Sie nicht zu sagen?« fragte er. »Begreifen Sie nicht, was das bedeutet? Wie großartig das ist?« Sheridan war in sich zusammengesunken. Er hatte keine Kraft mehr. Ebenezer, der sich bewundernswert gut beherrscht hatte, war einem Nervenzusammenbruch nahe. Nur Carrit forderte Rogan heraus. »Ich verstehe davon mehr als Sie, Carrit. Also behalten Sie Ihre kindlichen Emotionen gefälligst für sich. Natürlich ist es wundervoll. Aber Sie haben vorausgesagt, daß es so kommen mußte.«
»Und DESS?« »Die Deaktivierung wird nicht rückgängig gemacht. Verschrottet ihn.« Rogans scharfe Worte drangen endlich in Carrits Bewußtsein. Rogan duldete keinen Widerspruch mehr. »DESS wird zerstört. Vollständig.« Harold Lamb nickte. »Der Entschluß des Komitees ist protokolliert. Zerstörung ohne Gegenstimme angenommen.«
10 Finger tasteten über seinen Körper. Hände rissen ihm die Kleider herunter. Die Schuhe, seine Brieftasche verschwanden. Die dunklen Gestalten machten keinen Versuch, ihn zu schlagen oder zu verletzen; sie wollten nur sein Eigentum. Boris hielt ihn wie ein Schraubstock. Das Mädchen ging in die Baracke. Ihr Schatten fiel über den Hof. Langsam verschwand ihr heller Regenmantel im orangefarbenen Licht. »Hilfe!« schrie Ridgway. Er hatte Angst. Panik schnürte ihm die Kehle zu. »Ich will nichts von Ihnen! Helfen Sie mir!« Sein Dufflecoat verschwand. Das Hemd wurde ihm über den Kopf gezogen. Eine Greisin hockte neben ihm und nestelte mit zitternden Fingern an seiner Hose. Er schrie und stieß mit den Füßen. Die Alte fiel auf den Rücken. Boris wechselte den Griff. Ridgway verkrampfte sich, er gurgelte vor Schmerzen. Die Alte kam zurückgekrochen und zog ihm die Hose herunter. Nackt wurde er auf die Erde gestoßen. Nackt, kalt und allein kniete er im Schmutz und starrte mit leeren Blicken in das gelbe Licht. Boris stand wie ein Denkmal neben ihm, schwieg und wartete.
Langsam kam das Mädchen näher. Sie hatte das blaue Band gelöst, und das Haar fiel ihr schimmernd über die Schultern. Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn hinunter. »Um Gottes willen!« flehte er sie an. »Sie brauchen die Kleider nicht«, sagte sie. Er richtete sich auf. »Kommen Sie.« Sie warf Boris einen Blick zu. »Du brauchst nicht mitzukommen, Boris. Er wird mir nichts tun.« Sie wandte sich an Ridgway und sah ihn nachdenklich an. »Sie werden sich anständig benehmen, nicht wahr, Mr. Ridgway?« Damit hatte er nicht gerechnet. Überrascht stotterte er: »J – ja – mir ist viel zu kalt. Ich kann gar nicht anders.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Ihre schmalen braunen Augen musterten ihn. »Vielleicht irren Sie sich, Mr. Ridgway.« Sie ging voraus. Ihr Gang war sicher und schön und hatte nichts Taumelndes an sich wie damals, als sie vor dem DESS-Gebäude zusammengestoßen waren. Am Ende der Baracke öffnete sie eine schmale Tür. Er blinzelte in den rot beleuchteten Raum, in dem sie wohnte, aß und schlief. In einer Ecke lagen leere Konservendosen. Der Fußboden war schmutzig. Ein stinkender Nachttopf stand mit halb geöffnetem Deckel
unter dem Bett, das aus einer einfachen Matratze und einem eisernen Bettgestell bestand. Ridgway ekelte sich. In der anderen Ecke tropfte ein Wasserhahn in ein zersprungenes Waschbecken. Auf dem Fußboden lag eine Schachtel mit Papiertaschentüchern. Die Luft war stickig. Ridgway atmete schwer. Ein Stapel billiger Liebesromane und ein unordentlicher Haufen Bildplatten waren nach dem Gebrauch achtlos beiseitegeschoben worden. Das Mädchen enttäuschte ihn; aber noch wollte er sich kein endgültiges Urteil über sie bilden. »Hungrig?« fragte sie. Sie packte eine Konservendose aus, öffnete sie und reichte sie ihm hinüber. Automatisch nahm er sie entgegen. Sie machte eine zweite Dose auf und fischte die Bohnen mit den Fingern heraus. Sie schlürfte, Tomatensaft lief ihr übers Kinn. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Ridgway zog die Decke vom Bett, wickelte sich umständlich hinein und aß die Bohnen. Er wußte, wann er seine gute Erziehung vergessen durfte. Er hatte Hunger. Als sie die Konserven aufgegessen hatten, holte sie eine Flasche Limonade und teilte sie mit ihm. Langsam fand sich Ridgway mit dem seltsamen Empfang ab. Es war besser, wenn er den Launen des Mädchens
nachgab. Draußen warteten schließlich Boris und sein Hund. Die matte Beleuchtung, der volle Magen und die erfrischende Limonade brachten seine Nerven nach und nach zur Ruhe. Er ahnte, daß sein Leben keinen roten Heller mehr wert war. Und doch fühlte er sich in ihrer kleinen schmutzigen Welt wohl. Sie stand auf und knöpfte den Regenmantel auf. Langsam, einen Knopf nach dem anderen. Die Härchen in Ridgways Nacken richteten sich auf. Er schluckte. Sie zog einen Arm aus dem Mantel, dann den anderen. Langsam glitt der Mantel zu Boden. Er schüttelte sich. Sie trug ein schmutziges altes Kleid, das vom Saum bis zum Gürtel eingerissen war. Die Strümpfe hatten Löcher und Laufmaschen. Ihre Schuhe waren unförmige schwarze Slipper aus brüchigem Leder. Sie streifte sie ab und stieß sie in die Ecke. »Nun, Mr. Ridgway?« sagte sie. Sie hob die Hände, um den Reißverschluß zu öffnen. Er wußte nicht, welche Farbe das Kleid hatte; es war schmutzig und staubig. Und als es ihr von den Schultern fiel, haftete sein Blick auf einem fleckigen BH und einem abgetragenen Höschen. Entsetzt wich er zurück. Sie sah ihn erstaunt an. »Was ist, Mr. Ridgway?« »N – nichts. Wenn Sie zu Bett gehen wollen, lassen
Sie mich lieber raus. Oder geben Sie mir etwas zum Anziehen, und ich verschwinde –« »Ich verstehe nicht, Mr. Ridgway. Wie kann ich ohne Sie zu Bett gehen?« Ridgway kam sich wie ein Idiot vor. Er packte die Wolldecke. Der Kontrast ihres weißen sauberen Körpers zu der zerfetzten Unterwäsche reizte ihn auf beunruhigende Weise. Er schluckte und versuchte es noch einmal. »Das ist Ihr Zimmer. Vielen Dank für das Essen. Ich glaube, ich durfte nichts anderes erwarten. Ich meine – wo sind meine Sachen?« »Die Leute haben sie, Mr. Ridgway. Wenn wir uns lieben wollen, brauchen wir doch keine Kleider, oder?« »Ich, ich –« Ridgway ertrank in einem Meer aus Schlamm. »Lassen Sie mich raus!« schrie er. Sie trat auf ihn zu. Er wich ihr aus. »Warum wollen Sie fort?« Sie wies mit einer unbestimmten Geste auf die Romane und Platten. »Wollten Sie mich nicht lieben, Mr. Ridgway?« Sie streifte BH und Slip ab. »Nein! Nein, natürlich will ich nicht!« schrie Ridgway. Aber sein Körper strafte ihn Lügen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Es ist – es ist nicht sehr romantisch, nicht wahr?« fragte er mit belegter Stimme. Sie beugte sich nackt über ihn. »Romantisch? Sind wir romantisch?«
Ridgway wich ihr aus. Die Wolldecke rutschte ihm von den Schultern. »Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.« Er verschlang sie mit Blicken und bewunderte sie. Sie war begehrenswert. Hatte er sie begehrt? War es eine platonische Romanze gewesen, würde es eine Affäre werden? Er zitterte. Sein Körper verlangte nach ihr, nach ihrer sanften glatten Haut und Berührung. »Es ist mir gleich, wie Sie mich nennen. Ich heiße Winifred Marsh. Ich bin nicht verheiratet. Nennen Sie mich wie Sie wollen, aber lieben Sie mich.« Der Elektro-Ofen strahlte heiße Wellen ins Zimmer und trug den Duft ihres Körpers mit sich. Er wich zurück, mehr und mehr, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Sie beugte sich vor und suchte seinen Mund mit den Lippen. Dann gab es nur noch ihre beiden Leiber, die sich verzweifelt aneinanderklammerten, sich festhielten und sich Sanftheit und Liebe schenkten. Seine Ängste verflogen und verloren sich in dem Glück, sie lieben zu dürfen ... Der Hund kratzte an der Tür. Langsam schlug Ridgway die Augen auf. Er drehte sich um, stöhnte und richtete sich auf. Miss Marsh lag neben ihm. Ihr Körper war warm, schön und liebenswert. Er hob die Hände an den Kopf. Sein Kopf dröhnte und tat weh. Aber er war glücklich. Miss Marsh, nach einer Weile
nannte er sie Fred, war eine seltsame Frau. Aber sie war eine Frau, die wußte, was sie wollte. Noch nie hatte Ridgway so intensiv gelebt und geliebt. Er spürte, daß sein anfänglicher Ekel eine verständliche, aber lächerliche Reaktion auf die Begegnung mit einer Lebensweise war, die er nie kennengelernt hatte. Der Hund bellte. Winifred wachte auf. Ihre schmalen braunen Augen sahen Ridgway nachdenklich an. »Sei ruhig, Bucephalus!« rief sie. Die tiefe Stimme von Boris sagte: »Platz, bei Fuß! Miss Marsh, sind Sie okay?« »Ja, Boris. Danke.« Wieder sah sie Ridgway von oben bis unten an. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht«, kam Boris' Stimme von draußen. »Gute Nacht, Boris.« Das Winseln des Hundes verklang, und Boris' Schritte entfernten sich. Ridgway kam sich vor wie der Mann auf der Insel, den die schönste Frau begleitete, die er sich wünschen konnte. Er lächelte und reichte ihr die Hand. Langsam erzählten sie sich alles. »Ja, Arthur. Ich helfe den Leuten aus der Oststadt. Sie wissen nicht, wohin. Die Unterstützung der Regierung ist unzureichend.« »Aber warum habe ich dich vor dem DESSGebäude getroffen?« Sie antwortete nicht, sondern beugte sich über ihn.
Ihre weichen Lippen kamen näher und näher. Er lag auf der Seite und nahm jede Einzelheit ihres Körpers wahr. Ihre Nähe und ihr warmer Leib schienen ihn zu versengen und in ihn einzudringen. Er wünschte sich, daß es nie enden möge. »Im Ernst«, sagte sie. »Warum hast du mich dort getroffen?« »Ich arbeite dort. Das heißt –« Er spürte keine Bitterkeit mehr. »Ich habe dort gearbeitet.« »Und ich auch.« »Gott sei Dank sind wir die Bande los«, sagte er. »SERVEN hat selber schuld.« »Ich –« wollte sie sagen und drehte sich auf den Bauch. Es gab neues an ihrem Körper zu entdecken und zu bewundern. »Denk nicht mehr daran, Arthur«, sagte sie. Etwas später sagte er: »Es ist schön, daß du an die Leute denkst und ihnen hilfst.« »Warum nicht? Für mich ist das selbstverständlich. Wir siedeln sie zunächst am Stadtrand an. Dort gibt es leerstehende Häuser. Manchmal auch Neubauten. Wir verschaffen ihnen Wohnungen und versuchen, ihrem Leben eine neue Grundlage zu geben.« »Wir?« »Ich bin nicht allein, Arthur. Boris, zum Beispiel, hilft mir. Aber ich bin nicht der Leiter des Projekts. Ich helfe, berate –«
Er streichelte ihren Rücken. »Die schönste Beraterin, die es gibt.« Sie liebten sich. Sprachen miteinander. Spielten. Umarmten sich gierig. »Die Stadt ängstigt mich, Arthur«, sagte sie, als sie wieder ruhig nebeneinander lagen. »Die Stadt?« »Die Stadt ist ein Organismus. Oh, ich meine damit nicht die Häuser. Ich meine die ganze Stadt. Und alles, was zu ihrem Funktionieren dazugehört.« »Aber die Städte haben sich nun einmal so entwikkelt.« »Wenn aber Rogan WESTEX übernimmt –« »Was weißt du davon?« »Dazu gehört nicht viel Phantasie. Und was dann aus der Stadt wird, läßt sich leicht vorstellen.« »Mir gefällt es auch nicht, daß die ganze Stadt von einem einzigen Computer kontrolliert werden soll.« »Weißt du, warum?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, warum es mir mißhagt. Eigentlich ist es logisch, daß die Stadt von einer Zentrale verwaltet wird. Aber ich weiß nicht, warum der Gedanke mir nicht gefällt.« In diesen zeitlosen Momenten gab es nichts, über das sie nicht sprachen. Sie erzählte ihm kurz von sich. Ihre Eltern hatte sie seit Jahren nicht gesehen; ihre
Schwester war tot. Duncan hatte sie entlassen, und sie arbeitete jetzt für August Delacorte, den Mann, der die private Unterstützungsaktion leitete. »Ich habe dich nie bei DESS gesehen.« »Warum auch? Du hast doch ganz oben gearbeitet.« »Deine Schwester –« »Reden wir nicht von ihr. Sie lebt nicht mehr.« Er strich ihr übers Haar, das wie ein roter Sturzbach über ihre Schultern fiel. Er spürte, daß er auf einer dünnen Kruste ging, unter der die Zeit ewig strömte. Immer wieder versuchte er, mehr über sie zu erfahren. Aber sie lachte nur und sagte, daß er sie nehmen müsse wie sie war. Eine Fee, die in den Slums lebte und sich um die Ausgestoßenen kümmerte. Er verstand sie, weil er selbst dazu gehörte. Am nächsten Morgen brachte Boris ihm etwas zum Anziehen. Es waren zwar nicht seine Sachen, aber die Hose war sauber. Ein graues Hemd und ein Paar alte, aber noch brauchbare Sandalen mußten genügen. Den unmöglichen Mantel band er mit einer Schnur zusammen. Das kühle Licht des Morgens machte ihn neugierig. Er wollte mehr über die Organisation Delacortes wissen. Delacortes Hilfstruppe verlor keine Zeit. Ridgway setzte sich zu Boris und seinem Hund in den
Lastwagen und half, die Habseligkeiten der Familien abzuholen, die Miss Marsh am Tag vorher in die Baracke gebracht hatte. Ridgway war froh, eine sinnvolle Arbeit gefunden zu haben. In der Oststadt war die Zerstörung weit fortgeschritten. Staub wirbelte in dicken Schwaden, überall lagen Bautrümmer, und glitzernde Robex lenkten Planierraupen und schwere Maschinen auf ihren zerstörerischen Weg. Ridgway dachte an Aldous Carrit, der gesagt hatte, daß der Fortschritt nur auf den Trümmern des Alten wachsen konnte. Wie wilde Tiere kreischten, brummten und brüllten die Abrißkolonnen um die Flüchtenden. Die Menschen, die Ridgway vorher nie bewußt bemerkt hatte, fügten sich widerspruchslos den Anordnungen von Delacortes Leuten. Delacorte hatte ein Zelt- und Barackenlager aufgebaut. Ohne seine kleine Hilfsmannschaft wäre die Hilfe der Regierung noch jämmerlicher gewesen. Trotzdem erschien Ridgway alles so durcheinander, überholt, unmodern und stupide. Wieder einmal mußten die Menschen sich selbst helfen, weil – wie so oft nach Krieg und Katastrophen – die Regierung versagte. Die moderne Welt kannte keine Hungersnöte, Überschwemmungen, Seuchen und Kriege mehr – also mußte der Mensch neue Plagen erfinden.
»Verstehen Sie, Arthur«, sagte Delacorte zu Ridgway, der sich hilflos an den Lastwagen klammerte und auf die elenden Massen starrte, »der Regierung ist es egal, was aus den Leuten wird. Sie kann keine –« »Natürlich kann sie!« sagte Ridgway wütend. »Sie hat Geld, Nahrungsmittel, Häuser –« »Ich weiß, Arthur. Aber Sie vergessen, daß Regierung, Stadt und Computer an einem Strang ziehen. Das soziale Gefüge der Stadt kann diese Leute nicht gebrauchen. Will sie nicht. Logisch, daß man sie beiseite wirft.« Delacorte war ein großer schlanker Mann, den eine brennende Wut beherrschte. Er hatte ein bleiches Gesicht, graue Haare und hielt sich kerzengerade. Seine dunklen Augen betrachteten die Welt voller Mitleid, aber auch mit Abscheu. Ridgway fühlte sich an ein Stück Treibholz erinnert, das die See gebleicht, abgeschliffen und wütend ausgespien hatte. »Aber das ist Wahnsinn!« sagte Ridgway. Winifred Marsh kam in ihrem weißen Regenmantel vorbei. Sie sprach kurz mit Delacorte, der sofort neue Befehle ausgab. Er schien immer auf sie zu warten; ohne ihren Rat unternahm er nichts. Blühend ging der Frühling in den Sommer über. Die Sonne schien auf Stadt und Land, auf Gerechte und Ungerechte. Jeden Tag schickte man mehr und mehr Menschen aufs Land, wo sie eine neue Bleibe
finden würden. Langsam verkleinerten sich die Lager, als Delacortes und andere Hilfsorganisationen Ordnung in das Chaos brachten. Winifred und Ridgway wohnten in der kleinen Baracke neben dem Schrottplatz. Sie liebten sich. Aber er spürte, daß sie sich verändert hatte. Ängstlich wartete er darauf, daß sie mit ihm darüber sprechen würde. »Du mußt fort, Arthur«, sagte sie leise. »Aber warum?« Er packte sie und umarmte sie heftig. »Warum muß ich fort?« »Es ist soweit. Ich will ja nicht, daß du gehst. Aber wir gehen alle. Delacorte, Boris – alle.« »Gut. Dann gehen wir gemeinsam.« »Nein, Arthur. Meine Arbeit fängt erst an. Das kannst du nicht verstehen. Und ich kann es dir nicht erklären.« Wollte sie ihn verlassen? Er kannte sie, erinnerte sich an ihre Liebe, ihre Klugheit. »Ich lasse dich nicht allein.« »Aber du verstehst mich nicht!« Er schüttelte sie wütend. »Laß doch die Schnulze, daß ich dich nicht verstehe, und daß du mir nichts erklären kannst! Ich denke, du liest die Groschenhefte nicht mehr?« »Nein, natürlich nicht. Ich habe ja dich.« »Na, also! Du sagst, daß du mich liebst. Das heißt,
daß du mir alles erklären kannst und ich dich verstehen werde –« Sie schüttelte den Kopf und machte sich los. Er ließ sie gehen. Sie blieb nach ein paar Schritten stehen. Wie eine Blume hob sich ihr Gesicht in die Sonne. Der kalte Wind spielte mit ihrem Haar. »Ich muß noch ein anderes Klischee aussprechen, Art. Vertraue mir. Du mußt mir vertrauen.« Er lachte bitter. »Du kannst nicht einfach fortgehen, Fred!« Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Die ganze Fremdartigkeit ihrer Liebe wurde ihm plötzlich bewußt. Er ahnte, daß das Mädchen ein Geheimnis hatte. Aber die Begierde hatte seinen Verstand eingeschläfert. Er fühlte sich wie die Versuchsperson bei einem großen unbegreiflichen Experiment. »Wenn du mir folgst, verneinst du die individuelle Freiheit. Weißt du nicht, was persönliche Freiheit bedeutet? Weißt du nicht, daß jeder Mensch ein Ich hat, das nur er selbst beherrscht?« Er wußte keine Antwort. Leise fuhr sie fort: »Ich bin ein Mensch, Art. Ein lebendes Wesen. Ich habe Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und du bist nicht gebunden. Ich muß tun, wozu ich da bin. Du sagst, du liebst mich. Ich weiß es nicht. Ich weiß davon nicht genug. Mir fehlt so vieles –« Er wollte sie umarmen, diesen dunklen Moment
vergessen, die Welt vergessen. Wie Duncan hatte sie ihm Sicherheit gegeben, und er hatte sein neues Leben auf ihr aufgebaut und nie daran gedacht, daß es nur ein Zwischenspiel gewesen sein konnte. Jetzt brauchte sie ihn nicht mehr. Er hatte wieder Angst. »Du hast ein Guthaben auf einem Konto in Australien«, fuhr sie sachlich fort. »Die Tickets sind schon gekauft. Du fliegst übermorgen. Das ist alles.« »Australien?« Er begriff nichts mehr. »Was soll ich in Australien? Fliegst du mit?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe hier zu tun.« »Also –« »Wenn alles klappt, kommst du in einem Jahr zurück. Wenn das geschieht, was ich befürchte, bist du dort sicherer.« »Sicherer?« »Begreifst du nicht, daß wir in Lebensgefahr sind? Darüber sprechen wir doch die ganze Zeit.« Er spürte nur, daß er sie verlor. »Boris wird dich zum Flughafen bringen. Du kannst nichts daran ändern. Adieu.«
11 Die Uhren der Welt gingen weiter. In einem der oberen Zimmer seiner alten Villa lag Aldous Carrit auf dem Fußboden. Der Güterzug war um 17.15 Uhr fällig, und er mußte die Passagierkabinen rechtzeitig aus dem Nadelöhr schaffen. Er legte die Strecke auf dem Stellwerk fest, warf einen raschen Blick auf die Gleisanlage und ließ die große 4-6-2 GRESLEY A 3 anfahren. Dampfstöße. Zischen. Fahrgeräusche. Die Räder drehten sich, die Pleuelstangen hoben und senkten sich, rissen die Schwungräder herum. In langer Schlange ratterten die Waggons über Gleise und Weichen. Aldous Carrit war zufrieden. Allan, sein zehnjähriger Sohn, der sich nicht immer an die Fahrpläne seines Vaters hielt, drehte an seinem Steuertrafo, und die apfelgrüne 4-6-0 B 12, die den Güterzug schleppte, beschleunigte rasant. »Nein, Allan! Anhalten!« Zu spät. Pacific und 4-6-0 prallten krachend zusammen. Personenwagen stürzten um. Kupplungen brachen. Räder drehten in der Luft. »Nun sieh dir das an!« »Warum bist du auch nicht aus dem Weg gefahren!« rief Allan bockig. Carrit seufzte. Er stand auf, räkelte sich und begann die Spuren der Kollision zu beseitigen.
Seine Frau kam mit besorgter Miene ins Zimmer. Sie trocknete sich die Hände mit einem Handtuch, ihre Haare waren noch naß. »Aldous! Wie schrecklich!« Er lächelte sie beruhigend an. »Na, so schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte er lachend und zog das kleine Werkzeugetui aus der Brusttasche. »Das läßt sich alles reparieren.« »Nein. Du verstehst mich nicht. Die Stadt –« »Was?« Er erschrak. »Die Stadt? Was ist mit der Stadt?« Ohne nachzudenken wußte er, welche Stadt sie meinte. »Sie ist abgeschnitten. Im Fernsehen haben sie gesagt, daß sie sich abgeriegelt hat –« »Mein Gott!« Carrit vergaß die Spielzeugeisenbahn und wußte, daß die lang erwartete Katastrophe sie schließlich doch überrollt hatte. Er lief hinunter. Die Nachrichten waren noch angestellt. Er sah Bilder von Menschenmassen, hohen Türmen, die synthetische Stadt, schräge Aufnahmen von Wolkenkratzern, Kondensstreifen am Himmel, Gesichter von Politikern und Polizisten, auf denen sich Schock, Entsetzen, Sorge und Angst malten. Ein irres Theaterstück flimmerte über den Bildschirm. Jetzt erst merkte Carrit, wie das Problem aussah. Zum ersten Male erkannte er, was man getan hatte und was geschehen war.
Aus der Stadt kamen keine Nachrichten. Niemand kam hinein, weil Robex-Polizei alle Zufahrtsstraßen abgeriegelt hatte. Und niemand kam heraus. Die Telefonverbindungen waren unterbrochen. Nichts, absolut nichts wußte man von dem, was in der Stadt vor sich ging. Ein Streifenwagen, der in die Stadt fahren wollte und die Signale der Robex-Polizei mißachtete, wurde von einer Granate getroffen und explodierte. Die Maßnahme der Stadt kam zu überraschend und war zu undurchsichtig, als daß jemand ein ruhiges und vernünftiges Urteil fällen konnte. Entsetzt sah die Welt, wie die Stadt sich abkapselte. Die Robex-Polizei vereitelte jede Infiltration und störte den Funk und jeden anderen Kontakt mit der Außenwelt. Wie betäubt gingen die Menschen der umliegenden kleineren Städte und Vororte ihrer Arbeit nach, die hastig umorganisiert werden mußte. Das Leben mußte weitergehen. Auch ohne die Stadt. Das Land mußte sich an ein Leben ohne Großstadt gewöhnen. Carrit setzte seine Forschungen in Cambridge fort, aber Tag für Tag stellten seine Kollegen ihm die gleichen Fragen. Ein Jahr war vergangen, seit er Nicholas Rogan Rede und Antwort gestanden hatte. Und wieder war aus Frühling Sommer geworden. Alles, was er antworten konnte, war: »Nein, nein
und nochmals nein! Der Computer ist nicht verrückt. Ich kann seine Reaktionen nicht so beurteilen. Die Stadt ist eine Entität, eine Einheit geworden. Sie lebt. So, wie Sie und ich leben. Sie ist ein lebender Organismus –« Aber jedesmal gingen seine Argumente in einem Proteststurm unter. Er hatte ACME, dem Forschungscomputer, Programme eingegeben, die auf Doktor Sheridans Ideen basierten. Seit dem Tag, an dem er der Zerstörung von DESS beigewohnt hatte, kam er sich wie ein Mörder vor. Er spürte Nicholas Rogans Wut noch immer. Wie die Komplizen eines Verbrechers waren sie ihm ins DESS-Gebäude gefolgt. Glücklicherweise war Sheridan nicht dabei. Man hatte ihn mit einer Entschädigung und einem Haus abgespeist, in dem er Spielzeug für Kinder im Vorschulalter entwickelte. Peter Ebenezer hatte sofort gekündigt und war nach Übersee gegangen; Carrit war überrascht, weil er ihm diese Solidarität nicht zugetraut hatte, und bewunderte ihn insgeheim. Das seltsame mitternächtliche Systemkomitee war auseinandergefallen. Aber der Beschluß war ausgeführt worden. Carrit war dabeigewesen. Ihn schauderte, wenn er an die Zerstörung dachte. Von SERVEN gelenkte Robex waren ins DESS-Gebäude ge-
drungen, nach oben gefahren und hatten die von Duncan gemieteten Etagen verwüstet. Wie ein kleines Kind sein ungeliebtes Spielzeug zerstört. Und Nicholas Rogan hatte zugesehen. Genoß den Anblick. Sein Gesicht leuchtete dämonisch. Carrit schien es, als zöge Rogan aus der Zerstörung seines Gegners eine Befriedigung, wie sie perverser nicht sein konnte. Bei seinen Untersuchungen in Cambridge entdeckte er, daß die Stadt sich genau an dem Tag, als SERVEN WESTEX übernahm, von der Welt abgekapselt hatte. Carrit konnte den Gedanken nicht abschütteln, daß er sehr viel darum geben würde, wenn er in die Stadt eindringen, SERVEN abschalten und den gewaltigen Computer genau untersuchen könnte. Die ganze Welt half dem Land, das auf die Waren und Leistungen verzichten mußte, die sonst von der Stadt und durch sie gelaufen waren. Tausende und Abertausende Tonnen von Rohstoffen und Material mußten in der synthetischen Stadt lagern. Zweifellos fürchteten die anderen Großstädte eine ähnliche Katastrophe. Die Welt rückte ein Stück enger zusammen. Aber das Problem der wahnsinnigen Stadt mußte gelöst werden. Selbst wenn Carrit den Computer abschalten konn-
te, war eine Untersuchung on-line nicht möglich. Aber die Stadt würde so lange unzugänglich bleiben, bis man die Energiezufuhr zum Computer unterbrach. Und die Energie wurde in der Stadt selbst erzeugt, deren Reaktoren Brennstoff für mehrere Jahre hatten. Als das Land langsam einen neuen Lebensrhythmus fand und die Menschen den unterbrochenen Faden ihres Daseins weiterknüpften, suchten Politiker und Behörden Kontakt mit Aldous Carrit. Er wurde in die Anti-City-Kommission berufen. Er bekam die Aufgabe, die computertechnischen Aspekte zu untersuchen. Und die Polizei, deren Präsident Vorsitzender der Kommission und im Gremium überrepräsentiert war, kümmerte sich um ihre spezifischen Belange. Wie Carrit es vorausgeahnt hatte, bestand der Erfolg aus weiteren Menschenopfern, zerschmetterten Streifenwagen und Hubschraubern. Die Stadt ließ ihre Muskeln spielen. Sie ließ die Eindringlinge herein, wiegte sie in Sicherheit und entledigte sich dann ihrer. Carrit verabschiedete sich von seiner Familie und zog in das halbmilitärische Lager um, das man vor der Stadtgrenze aufgeschlagen hatte. Über Terminals hielt er Kontakt mit ACME; er machte keinen Schritt ohne die Möglichkeit, sofort mit seinem Computer in Verbindung treten zu können.
Die Kommission tagte in einem beschlagnahmten Landhaus und stritt sich über Maßnahmen. Währenddessen versuchten Freiwillige, den bewußten roten Schalter im SERVEN-Gebäude am Fluß zu erreichen. Sie waren gut ausgerüstet, voller Hoffnung und Angst. Aber sie machten sich mutig auf den Weg. Niemand kam zurück. Aldous Carrit spürte immer deutlicher, daß er selbst in die Stadt gehen mußte. Nicht nur, weil er SERVEN ausschalten und untersuchen mußte, sondern weil er wissen wollte, was aus Nick Rogan geworden war. Carrit glaubte nicht, daß Rogan sich die Stadt unterworfen hatte; so skrupellos war selbst Rogan nicht. Carrit interessierte es nicht, wie lange die Stadt brauchte, bis sie sich das ganze Land unterworfen hatte. Jeden Tag spürte er deutlicher, was er tun mußte. Aber außer ihm schien keiner zu wissen, was man machen sollte. Man spielte mit dem Gedanken, eine Wasserstoffbombe aus dem Museum zu holen und auf die Stadt zu werfen. Carrit stimmte dagegen. »Die Stadt hat hochentwickelte automatische Fabriken. Und Museen hat sie auch. Sie müssen mit einem Gegenschlag rechnen«, sagte er. »Seien Sie sich klar darüber: Was der Computer leisten kann, geht weit über normale Kontrollfunktionen hinaus.« »Das ist ja grauenhaft!« sagte der Vorsitzende.
»Stimmt«, entgegnete Carrit. »Ich –« er zögerte. Er dachte an seine Freunde, die in der Stadt wohnten. Er dachte an seine Frau, seinen Sohn. An Cambridge. Er mußte sich Gewißheit verschaffen, er wollte es wissen. »Ich halte es für richtig, wenn ich selbst in die Stadt gehe.« Er sah, wie es in ihren Gesichtern arbeitete. Es dauerte lange, bis er sie überzeugt hatte. »Ich gehe nicht allein«, sagte er. »Nein?« Carrit lächelte. »Ich nehme ACME mit. In Form eines Terminals. Ich habe noch ein paar Tricks im Zylinder. Wenn die Stadt meinen Kontakt nicht unterbricht, wird mir ACME gute Dienste leisten.« Alle redeten durcheinander. »Jede Hilfe, die Sie brauchen –« »Alles erdenklich Mögliche –« »Wir schicken gleichzeitig eine Einsatzgruppe in die Stadt –« »Ablenkungsmanöver –« »Ich sage Ihnen Bescheid«, beendete Carrit die Konferenz. Langsam ging Carrit über die Wiese, als der Sommerabend friedvoll in gelben und goldenen Farben unterging und blauem Zwielicht Platz machte. Carrit sah zur Stadt hinüber, die wie eine Festung am Horizont lag. Die milde Abendluft und das Zirpen der
Grillen beruhigten ihn. Die Stadt machte ihre Lichter an, als müßten noch immer zehn Millionen Menschen versorgt werden, als habe sie die Bevölkerung nicht auf unbekannte Weise verringert. Man wußte nicht, wieviele Menschen in der Stadt lebten. Die Stadt ließ ihre Bewohner nicht frei. Niemand wußte, was die Stadt mit ihnen machte. Die Schatten wurden länger. Die grünen Bäume wurden dunkel. Dunkle Gestalten schritten durch das Lager. Im Landhaus gingen die Lichter an. Das Geräusch von Elektro-Autos drang durch die Stille. Die Welt war schön, und es tat ihm weh, sie verlassen zu müssen. Die Gestalt eines Mannes kam mit knirschenden Schritten über den Kiesweg auf ihn zu. Carrit blieb stehen. Kannte er ihn nicht? Die Schritte verstummten, als der Mann auf den Rasen trat. Er blieb vor Carrit stehen. Eine bekannte Stimme sagte: »Hallo, Aldous. Sieht so aus, als hätte Rogan erreicht, was er wollte.« »Arthur!« sagte Carrit. Ehrliche Freude trieb ihm das Blut ins Gesicht. »Ich traue meinen Augen nicht – Arthur Ridgway!«
12 »Es ist nicht schwierig, von einem ganzen Volk Abschied zu nehmen, wenn man will«, sagte Carrit in dem normalen Plauderton, den jemand anzunehmen pflegt, der zwar über die wissenschaftlichen Konsequenzen seines Themas nachdenkt, sich aber trotzdem nicht von moralischen Bedenken freimachen kann. »Seit Jahren kennt man Drogen gegen Aggressionen und hat gelernt, das Hirn direkt über eingepflanzte Elektroden zu steuern.« »Ich weiß«, sagte Ridgway. »Wenn die Stadt dem Trinkwasser Chemikalien zusetzt, hat sie jeden unter Kontrolle, der davon trinkt.« »Also praktisch jeden, weil man ohne Wasser nicht leben kann.« Die Dämmerung wartete still auf die Nacht. Die Vögel schwiegen. Am östlichen Horizont lag ein dünner Lichtstreif. Carrit und Ridgway hatten sich auf den Rasen gelegt, sprachen miteinander und versuchten sich abzulenken. Eine Woche war seit Ridgways Rückkehr aus Australien vergangen. Er hatte abgenommen und war braungebrannt. Er war selbstbewußter geworden. Und weil sein Ziel feststand, konnte er sich mit ganzer Kraft auf den Kampf vorbereiten.
Miss Marsh war in der Stadt, und er mußte sie herausholen. Er war nicht gern nach Australien gegangen und ließ Winifred nur widerstrebend zurück. Aber sie hatte ihm keine Alternative gelassen. Und jetzt war er zurückgekommen, um zusammen mit Aldous Carrit den Kampf mit der Stadt aufzunehmen. »Das Teuflische ist«, sagte Carrit, der nachdenklich auf einem Grashalm kaute, »wenn jemand die Droge geschluckt hat, reagiert er auf gesprochene Befehle und gehorcht ohne Widerstand. Autosuggestion in höchster Vollendung.« »Glauben Sie, daß SERVEN alle Bürger unter Kontrolle hat? Ich meine, mit Hilfe der Drogen?« »Ich kann es mir nicht anders vorstellen, Arthur. Ich habe das Schema mit ACME durchgespielt und meinen Verdacht bestätigt gefunden. ACME hat mir den Putsch, wenn ich die Katastrophe einmal so nennen darf, genau vorgerechnet. Nachgerechnet, wenn Sie wollen. Wer die Stadt verlassen will, darf gehen. Aber sie versklavt alle, die sie zu ihrer Selbstbestätigung braucht.« »Ihre was?« »Das ist des Pudels Kern, Arthur. Sie werden es noch sehen. Aber was die anderen Bürger betrifft, so konnte ich von ACME keine brauchbare Antwort bekommen. ACME hat lediglich einige Möglichkeiten
hochgerechnet. Sie können von Glück sagen, wenn die Stadt sie nicht umgebracht hat.« »Mein Gott, und Winifred ist in der Stadt!« Carrit wußte über Miss Marsh Bescheid. Ridgways Motivation war ihm nicht unwillkommen. Außerdem war Ridgway mit dem DESS-Projekt großgeworden. Er wußte, daß Ridgway eine gewaltige Überraschung erleben würde; er selbst wollte nur Nicholas Rogan finden und seine Vermutungen bestätigt finden – Der Vorsitzende des Komitees kam fröstelnd in den grauen Morgen heraus und schlug den Mantel enger um sich. Ridgway und Carrit trugen Wanderkleidung, hohe Stiefel, Windjacken und Wollmützen. Der Tag versprach anstrengend zu werden. Sie hatten Proviant dabei und schleppten Waffen, Funksprechgeräte und das ACME-Terminal. Die anderen Mitglieder der Anti-City-Kommission kamen aus dem Haus. Wie eine Trauerprozession standen sie als dunkle Schatten vor der aufgehenden Sonne. Der Wind beugte das Gras, ließ die alte Eiche ächzen und flüsterte drohend in den Blättern und Ästen. Ridgway fröstelte. Die Stimmung war gedrückt und besserte sich auch nicht, als die Sonne aufging und die Dämmerung vertrieb. Niemand war zu Scherzen aufgelegt, um das vielleicht tragisch endende Unternehmen mit ein paar gutgemeinten Worten zu erleichtern.
»Haben Sie alles?« »Ja. Das Terminal wird zwar nicht lange halten, aber ich hoffe, daß es reicht.« »Ja. Gut.« Der Vorsitzende gestikulierte. »Der Ablenkungstrupp startet zuerst. Sind Sie sicher, daß Sie nicht doch lieber nachts in die Stadt eindringen wollen?« »Die Stadt sieht nachts genauso gut wie am Tag. Aber wir sind am Tag beweglicher.« »Ja. Gut«, sagte der Vorsitzende und knackte mit den Knöcheln. Ein Telegramm wurde gebracht, und der Vorsitzende hielt es mit zitternden Händen. Sein Adamsapfel zuckte. Jeder muß denken, daß der alte Knacker selbst in die Stadt geht, dachte Ridgway wütend. »Die Störtrupps sind unterwegs.« Carrit rückte den Rucksack zurecht. Ridgway starrte ihn an. »Dann wird es Zeit«, sagte Carrit. »Also gut. Gehen wir.« Ridgway schnallte den Rucksack um, beugte sich vor und korrigierte den Sitz der Riemen. Dann nahm er das Schnellfeuergewehr und warf es sich wortlos über die Schulter. In den Patronentaschen am Gürtel steckten Plastikgranaten, und im Rucksack befanden sich – außer Schokolade, Trinkwasser und frischen Socken – ein paar Sprengladungen. Ridgway überprüfte noch einmal
den großkalibrigen Armeerevolver und schloß dann die Klappe der Pistolentasche. »Fertig?« Ridgway nickte. Rasch verabschiedeten sie sich, dann fuhren sie mit einem Streifenwagen an den Stacheldrahtzaun. Sie warteten, bis der Wagen zurückgefahren und außer Sicht war. Langsam gingen sie auf die Lücke im Zaun zu. Alles, was hinter dem Zaun lag, gehörte der Stadt. Die Stadt hatte einen Sicherheitsgürtel aus Bungalows, Garagen und kleinen Läden angelegt. Erst dahinter erhoben sich die ersten Hochhäuser und Wohnmaschinen. Ridgway und Carrit kamen aus südöstlicher Richtung; das war die kürzeste Strecke zum SERVEN-Gebäude. Außerdem waren die Bungalows das einfachste Problem. Sichernd gingen sie die Straße entlang. »Wir sind ganz schön blöd, Arthur. Aber –« »Ich nicht«, unterbrach Ridgway ihn. »Aber was dich angeht –« »Wieso ich?« Carrit hielt das Terminal in der Hand, dessen Leuchtziffern rot glühten. »Weil ich Winifred Marsh herausholen werde.« Carrit lachte bitter. »Wenn ich dir sage, daß ich hinter Nicholas Rogan her bin, bedeutet das noch etwas mehr!« Die ersten Häuser aus Klinkern öffneten ihre Pha-
lanx, um sie zu empfangen. Die Einsamkeit war erstickend. Die Stadt hielt den Bezirk in Ordnung, die Vorgärten waren gepflegt, alles war sauber, hygienisch, aufgeräumt, und alle Dienstleistungen wurden erledigt, selbst wenn kein Mensch davon Gebrauch machte. Dieser Teil der Stadt war noch nicht synthetisiert; die Stadt hatte lediglich die von SERVEN gesteuerten Robex-Dienste bis hierher ausgedehnt. Als noch Menschen hier wohnten, war der Vorort gutbürgerlich gewesen, und das Schicksal der Oststadt hatte in weiter Zukunft gelegen. Die Stadt hatte sich entlang der nördlichen Hauptstraße ausgedehnt. Ridgway und Carrit gingen durch die leere Hülle eines Villenviertels, das ohne Menschen funktionierte. Sie warteten auf den Angriff der Stadt. Ein Milchwagen kam die Straße herunter. Vor jedem weißgestrichenen Gartentor hielt der Robex an, und ein automatisches Wägelchen brachte die Drahtkörbe an die Haustür. Plötzlich drehte sich der Stereo-Sensor auf dem Dach des Wagens und pendelte sich auf sie ein. Ridgway packte Carrits Arm. Die Männer blieben wie angewurzelt stehen. Eine Milchflasche flog durch die Luft und zerplatzte klirrend an der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatten. Ein zweite Flasche schoß aus dem Wagen.
Noch eine. Der Wagen nahm sie unter Sperrfeuer. Dann raste er mit wütendem Brummen auf sie zu. »Deckung!« schrie Ridgway. Der Wagen wendete und folgte ihnen. Ridgway griff in die Patronentasche, riß eine Handgranate heraus. Mit Daumen und Zeigefinger zerdrückte er die Zündkapsel und ließ die Granate unter den Wagen rollen. Carrit verschwand mit einem Hechtsprung hinter der Hecke. Ridgway ließ sich fallen. Die Explosion riß den Milchwagen auseinander. »Alles in Ordnung?« Ridgway lachte, als Carrit mit dreckigem Gesicht aus der Hecke auftauchte, einen Blumenstrauß auf dem Rucksack. Die Stadt hatte sie entdeckt und ihre elektronischen Sinne aktiviert. Über ihren Köpfen klickte es. Ridgway sah nach oben. »Spring!« schrie er, bevor er merkte, was los war. Die Straßenlampe löste sich vom Kabel und fiel auf die Stelle, wo Ridgway gestanden hatte. Sie zerplatzte in einer Fontäne aus scharfen Scherben. »Fiuh«, pfiff Ridgway durch die Zähne. »Das war knapp.« Carrit wies mit der Hand nach oben. »Da, siehst du? Fernaugen. Überall! Komm, wir müssen weiter –« Er spurtete los. »Komm zurück, du Idiot!« schrie Ridgway. Hilflos
rannte er hinter Carrit her. Krachend und klirrend fielen die Straßenlampen eine nach der anderen herunter. Die Serie kam Carrit immer näher. Glassplitter fielen wie ein Regenschauer hinter ihm zu Boden. Ridgway schlug Haken wie ein Hase, bis er Carrit eingeholt hatte und ihn am Arm packen konnte. »Warte doch, du Dummkopf!« Der Angriff hatte aufgehört. Ridgway drehte sich um, sah sich die Bescherung an und blickte wieder nach vorn. »Von hier ab sind es Leuchtstofflampen«, keuchte Carrit. »Können nicht als Bomben fallen.« Er schnappte nach Luft. Schweratmend gingen die beiden Männer weiter. »Glaube ja nicht, daß uns die Stadt aus den Augen läßt«, sagte Carrit. »Fernaugen gibt es überall.« Ridgway marschierte entschlossen weiter. »Schöner Trost. Die Stadt spielt Katz und Maus mit uns.« »Ja. Hast du etwas anderes erwartet?« »Klingt ganz logisch. Aber SERVEN hat ein Programm erhalten, wie DESS es von Sheridan bekommen hat.« Carrit nickte. Vorsichtig drangen die beiden Männer weiter vor. Ridgway hatte das Schnellfeuergewehr von der Schulter genommen und trug es in der Armbeuge. »Aber SERVEN hat DESS übernommen. Wer will
sagen, was die beiden Großcomputer untereinander ausgetauscht haben?« Carrit fiel Rogans unbeschreibliche Lust und Angst ein, als er DESS zerstören ließ. »Ich glaube fest, daß DESS –« »– daß DESS SERVEN überwältigt hat? Oh, nein!« »Natürlich nicht!« entgegnete Carrit wütend. »Sei doch nicht kindisch! Wäre die Stadt etwa in diesem Zustand, wenn DESS es geschafft hätte?« Die Sonne strahlte kräftig, und es versprach ein warmer Tag zu werden. »Momentan«, sagte Carrit, um die Pause zu überbrücken, »setzt die Stadt noch Fernaugen, Lampen und Lieferwagen ein –« »Also halten wir die Augen offen und achten auf Mülleimer, den Wagen mit den Brötchen, die Stadtreinigung und so weiter. Stimmt's?« »Stimmt.« Die Stadt reagierte auf ihre Weise. Sie hörten die Sirene des Streifenwagens lange bevor der Robex in Sicht kam. »Jetzt wollen wir die Stadt mal testen«, sagte Carrit ruhig. »Testen?« wunderte sich Ridgway. »Was heißt das?« »Ich will wissen, wie schnell sie reagiert.« Er fuhr mit der Hand über das Terminal. »Du hast doch wohl nicht geglaubt, daß ich vor den Straßenlaternen aus-
gerissen bin? Dachtest du vielleicht, ich wüßte nicht, daß die Leuchten nur senkrecht herunterfallen können? Daß wir zwischen zwei Lampen in Sicherheit gewesen wären?« »Du bist schon immer ein schlaues Bürschchen gewesen«, sagte Ridgway pikiert. »Also machen wir einen Test. Da ist der Wagen!« Die Suchantenne des Streifenwagens rotierte. Jaulend schoß der Wagen über die Straße und zog eine dicke Staubwolke hinter sich her. Die Männer sprangen in einen Vorgarten und versteckten sich hinter Büschen. Ridgway schlug das Gewehr an und stellte auf Dauerfeuer. Offenbar hatte ein Thermosensor ihre Wärmestrahlung entdeckt, die sich deutlich von Garten und Bungalow abheben mußte. Zwei PolizeiRobex stiegen aus und rollten auf sie zu. Die Robex waren dunkelblau lackiert. Als Ridgway sah, daß man den einen mit den Winkeln eines Hauptwachtmeisters bemalt hatte, packte ihn kalte Wut. Das Ding kotzte ihn an. Der Robex ohne Rangabzeichen näherte sich von links. »Allright, Arthur«, sagte Carrit leise, »tu dein Schlimmstes.« Er drückte auf die Tasten des Terminals und startete einen Durchlauf. Ridgway zielte und schoß die Robex in kleine Stükke. Die panzerbrechenden Geschosse zerrissen Blech,
Glas und Kunststoff. Er freute sich nicht, aber er war zufrieden. Carrit blickte auf. »So weit, so gut. Jetzt den Fahrer. Er ist der Kontrollfaktor.« Der Streifenwagen wartete im Sonnenschein. Die Tür ging auf, und der Fahrer kam heraus. Ein Robex auf Kettenrädern wie die anderen. Er trug eine Schußwaffe und zielte auf die Männer. Carrit beschäftigte sich mit dem Terminal. Ridgway zielte. Der Robex schoß zuerst. Die Kugel ratschte durch die Büsche. Es gab einen lauten Klang, die Kugel schlug quer und sauste wie eine wütende Hornisse davon. Ridgway duckte sich und kniff die Augen zusammen. Das automatische Gewehr ratterte los. Der Robex rutschte aus, taumelte und zerbarst in einem Feuerball. Ridgway rannte zu Carrit. Carrit lag auf dem Rücken und grinste staunend. Das Terminal lag ein paar Schritte neben ihm. Es war kaputt, und Printplatten und Transistoren quollen aus dem Gehäuse. »Mach den Mund zu, Aldous«, sagte Ridgway. »Du erkältest dich.« Carrit richtete sich auf. Er schüttelte den Kopf. »Gott, war das ein Schlag!« staunte er. »Mein Terminal! Kaputt!«
»Sieht ganz so aus.« Ridgway bückte sich und half Carrit auf die Beine. »Aber eins sage ich dir, wir kehren nicht um und holen ein neues!« Kopfschüttelnd sah Ridgway den Streifenwagen an. »Ich wußte, daß der Wagen einen Robexfahrer hatte. Aber ich glaube, der Wagen wird wie ein Taxi kontrolliert.« »Also lieber nicht einsteigen.« Carrit hatte sich wieder beruhigt. Ridgway drängte ihn nicht; auch er hätte sich nicht das Leben von einem Terminal retten lassen und so tun können, als sei nichts gewesen. »Trotzdem fahre ich lieber, als daß ich gehe«, sagte Ridgway. »Auf Asphalt tun mir immer die Füße weh. Sehen wir uns mal in den Garagen nach einem normalen Auto um.« »Gute Idee.« Carrit folgte ihm, und fünf Minuten später saßen die beiden in einer schwarzen Limousine, deren Elektromotor beruhigend summte. »Auf diesen Wagen hat der Zentralcomputer wenigstens keinen Einfluß. Ich fürchte nur, daß die Stadt sich das nicht lange bieten lassen wird. Sie mag uns nicht.« »Hast du wenigstens noch ein Ergebnis über das Terminal bekommen, bevor es kaputt ging?« »Das ist die Untertreibung des Jahres, aber ich will's dir verraten. Ich habe die Verzögerung ermittelt. SERVEN ist wirklich ein bißchen langsam. Selt-
sam. Er war einer der schnellsten Computer, die es gab.« »Ob ihn die Störtrupps täuschen konnten?« »Weiß nicht. Hauptsache, sie machen weiter. Ablenken tun sie ihn jedenfalls. Jedes Bißchen hilft uns.« Carrit wischte sich die Stirn ab. »Eins macht mir Sorgen. Die Stadt kann die Programme ihrer Extensionen umkehren. Ich meine damit, daß sie die normalen Funktionen ins Gegenteil verkehren kann. Der Milchwagen, zum Beispiel, konnte plötzlich mit Flaschen werfen. Und du hast selbst erlebt, mit welcher Wucht. Bestimmt hat sie noch mehr Tricks auf Lager.« »Wir müssen eben immer ein bißchen schneller sein.« »Das hast du wohl in Australien gelernt, wie?« Ridgway fuhr auf die Straße und lenkte auf den Stadtkern zu. Andere Autos fügten sich mit ihnen in den Verkehrsstrom ein. Neugierig hielten sie Ausschau nach menschlichen Passagieren. Sie wußten nur zu gut, welche Schrecken sie erwarten konnten. »Sie sehen –« staunte Ridgway, »sie sehen ganz normal aus!« »Ja.« Carrit trommelte nervös mit den Fingern. »Allerdings kommen sie mir alle ein bißchen steif vor.« »Stehen sie unter Drogen? Oder sind sie hypnotisiert? Oder haben sie Elektroden im Gehirn?«
Der Verkehr wurde dichter. Viele Taxis waren leer. Die Sonne schien freundlich auf Menschen und Maschinen. Langsam tauchten mehr und mehr Menschen auf Bürgersteigen und Hochstraßen auf. Niemand lachte, redete, gestikulierte oder hatte es eilig. »Eine Stadt voller Marionetten!« stöhnte Ridgway. »Mein Gott!« »Aber die Stadt funktioniert. Sie sorgt für ihre Bürger. Sie ernährt sie, kleidet sie und gibt ihnen Wärme, Licht und Unterkunft. Die Krankenhäuser sind geöffnet, die Theater und Kinos und die Gaststätten. Was wohl aus der ›Goldenen Ente‹ geworden ist –« »DESS würde nie verdorbenes Essen oder Lebensmittel zweifelhafter Herkunft servieren. Hast du gesehen, daß der Milchwagen nur volle Flaschen wieder abgeholt hat? Was macht die Stadt damit? Ob SERVEN auch einen Gesundheitsfimmel wie DESS entwickelt hat?« Carrit lachte zynisch. »Nach meinen Ergebnissen ist das SERVEN völlig egal. Ich glaube, Rogan hat SERVEN zu viele seiner eigenen Überzeugungen eingegeben. Die Stadt kümmert sich zwar um die Bewohner, aber sie unterwirft sie alle einer despotischen Kontrolle.« »Aber sie müssen unter Drogen stehen oder so ähnlich. Oder?« Das Auto fuhr in einen Tunnel, und einen Augen-
blick lang erhellte sich der Fond durch die automatische Innenbeleuchtung wie ein Schießstand. »Noch wissen wir das nicht«, sagte Carrit. »Aber auch Maschinen können sogenannte Supercharges bekommen, die ähnlich wirken wie Drogen auf Menschen.« Sie fuhren weiter und mischten sich unter die anderen Wagen, Taxis und LKWs. Ridgway mußte höllisch aufpassen, aber er fuhr vorsichtig und hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Er war erleichtert, als er andere Autos sah, die auch von Menschen gelenkt wurden. Mit stetiger Geschwindigkeit fuhren sie auf den Stadtkern zu. Links und rechts ragten die Hochhäuser empor, und die langen gewundenen Schnell- und Hochstraßen bildeten ein vertrautes Muster. Die versklavte Stadt glitzerte und schimmerte verheißungsvoll. Ridgway lenkte auf eine Mittelstraße. Sie rollten in die überhöhte Kurve, fuhren bergauf und glitten auf der stelzbeinigen Fahrbahn zwischen den Häusern hindurch. Vor ihnen lenkten die Autos an den Straßenrand. Die Ampeln der Querstraßen sprangen auf Rot. Sie fuhren weiter. Plötzlich rollten sie einsam und allein auf der zweispurigen Straße. Ridgway wurde das Gefühl nicht los, als wartete die Stadt auf sie. »Was, zum Teufel –«, fragte Ridgway.
Hundert Meter vor ihnen auf der leeren Straße hob sich ein Kanaldeckel. Ein Hydrant tauchte auf. Ein Rohr erschien. Wasser spritzte über den Beton. »Die Stadt hat uns entdeckt!« schrie Carrit. Und das Wasser gefror. Trotz Sonne, Hitze, Miniröcken. Das Enteisungssystem der Straße arbeitet. Nur umgekehrt. Das Wasser wurde zu Eis. Als das Auto auf die Eisfläche rollte, verlor Ridgway die Kontrolle, aber nicht die Nerven. Er kuppelte aus, lenkte gegen und stieß mit dem Heck gegen die Leitplanke. Der Wagen prallte ab, rutschte von der Eisfläche. Ridgway schaltete. Die Räder faßten. Er bremste, schaltete den Motor ab. Der Wagen schaukelte, blieb stehen. Carrit riß die Tür auf, und Ridgway sprang hinterher. Sie liefen so schnell sie konnten. Hinter ihnen spritzte der Wasserstrahl prasselnd gegen die Karosserie. Der Wagen wurde weggedrückt. Im Wasserstaub malte sich ein Regenbogen. Sie hechteten über die Leitplanke, krallten sich am Beton fest, suchten strampelnd mit den Beinen nach Halt. Der Wasserstrahl schoß über ihre Köpfe. Ridgway spürte den groben Beton unter den Händen. Seine Hose zerriß. Er fürchtete sich und konnte keinen Entschluß fassen. Dann riß es ihm fast den Arm von der Schulter. Er ließ los und fiel. Hart prallte er auf
die untere Straße und rollte ab. Er hörte, wie Carrit neben ihm aufs Pflaster stürzte. »Wohin?« »Egal. Die Stadt sieht uns doch. Los!«
13 Sie rannten weiter. Der Bürgersteig führte in eine Ladenstraße. Mosaikfliesen glitzerten zwischen den Läden. In großen Schaufenstern lagen Luxusgüter aus aller Welt. Bunte Sonnenschirme und kleine Tische standen vor intimen Cafés. Männer, Frauen und Kinder gingen spazieren, sahen sich die Schaufenster an, saßen in den Cafés und füllten die Fußgängerzone mit – »Marionetten!« keuchte Ridgway außer Atem. »Arme Teufel!« Carrit lief Schulter an Schulter neben Ridgway her. Er spürte ein seltsames Kribbeln im Nacken und wartete darauf, jeden Moment von Kugeln, Wasserstrahlen oder sonst was getroffen zu werden. Unbewußt sah er nach oben. Aber die Laternen hingen fest. »Wo sind die Fernaugen?« fragte Ridgway. »Was weiß ich! Überall!« Carrit lief langsamer. Er schnappte nach Luft. Auch Ridgway hörte auf zu laufen und sah sich um. Niemand stellte sich ihnen in den Weg, niemand beachtete sie. Der warme Geruch von heißem Tee wurde vom Wind herangetragen. Zwischen den Geschäften am Ende der Ladenstraße stand eine Straßenbaumaschi-
ne und versprühte flüssigen Teer auf die Fahrbahn. Dampfwolken quollen auf und brachten den Karamelduft der Kindertage mit sich. Ultraschallkocher verflüssigten die Masse, Robex kontrollierten die Verteilung, eine riesige Straßenwalze wartete auf ihren Einsatz. Kleine rote Flaggen stelzten umher und leiteten die Fußgänger auf ungefährliche Wege. Wie auf Kommando schwenkten alle roten Wimpel herum. Klickend liefen sie über die Straße. Ihre Stelzen klapperten wie ein Schwarm Heuschrecken. Die Schaulustigen gingen nicht rasch genug aus dem Weg. Eine Stimme dröhnte aus der Luft: »Aus dem Weg! Machen Sie Platz!« Ridgway sah die Lautsprecher. Die Stimme dröhnte ihm noch in den Ohren. Suchend sah er sich um und kam sich gefangen und hilflos vor. »Arthur! Vorsicht! Guter Gott!« Instinktiv duckte sich Ridgway. Carrit stolperte rückwärts, stieß mit ihm zusammen. Ein brennender Teerkloß flog zischend durch die Luft. Brausend flakkerten die Flammen. Ridgway krampfte sich der Magen zusammen. Er packte Carrit. Dann rannten, rannten, rannten sie, und er schrie. Der Teerkloß schlug auf. Ein paar rote Wimpel verbrannten. Ein zweiter Klumpen schoß spritzend aus dem Bauch der Baumaschine.
»In den Laden, Aldous! In den Laden!« Hinter der Glastür drehte sich Ridgway um. Neben den hüpfenden roten Wimpeln und dem fließenden Teer setzte sich die Walze in Bewegung. Knisternde Flammen huschten über den Asphalt. Die Straßenwalze drückte alles unwiderstehlich aus dem Weg. »Rein hier!« »Komme schon.« Ridgway stemmte sich gegen eine Menschenmenge, die mit leeren Gesichtern zu Boden, in den Himmel oder auf die Glastür starrte und atemlos wartete. Carrit drängte sie beiseite, Ridgway stolperte hinter ihm her. Ein schwarzer Fleck auf dem Rücken roch nach Schwefel. »Ein Spritzer. Brannte nicht mehr.« Der Laden war überfüllt. Der Verkauf ging weiter, als gäbe es keine zwei Männer, die in dieser Luxusetage um ihr Leben liefen. Den Rolltreppen konnten sie nicht trauen. Sie stapften keuchend die Treppe hinauf. Hinter ihnen toste eine Hölle. Wieder brüllte die Stimme eine Warnung. Dann rollte die Walze in den Laden. Glas, edle Hölzer, Kunststoff erzitterten unter dem Anprall. Wie ein Elefant, der einen Baumstamm vor sich herrollt, drückte die Straßenwalze zu. Die Ladenfront gab nach. Staub wirbelte auf. Beton barst, Schutt rauschte wie ein Wasserfall. Die hohe Fensterfront sackte herab und fiel splitternd und klingelnd in sich zusammen, so
daß die Etagen wie ein aufgeschnittenes Wespennest zutagetraten. Ridgway stand auf der Treppe und spürte, wie das Haus ächzte. Die Straßenwalze schob sich dröhnend in den Laden. Und die Menschen blieben stehen und ließen die Walze auf sich zurollen ... Ridgway stand wie vom Schlag getroffen. Der Krach und das Getöse waren rein mechanisch: Niemand schrie. »Aldous, wir müssen hier raus. Das Ding demoliert den ganzen Laden. Es rollt schon auf die Stützpfeiler zu.« »Über das Dach auf den nächsten Fußgängerweg!« Auf dem Dach spürten sie einen Stoß. Sie flohen über die Tunnelbrücke in das nächste Haus. »Hast du die Menschen gesehen?« fragte Ridgway. »Ja. Alles, was sich außerhalb der Routine abspielt, hat für sie keine Bedeutung. Die Stadt hat sie gezähmt.« »Aber uns noch nicht! Wir sind wild –« Das Dachgeschoß des Hauses war als Garten eingerichtet worden. Ein Wasserfall plätscherte, ein RobexGärtner war damit beschäftigt, Unkraut aus den Kornblumen zu jäten. Der Stereo-Sensor entdeckte Ridgway und Carrit sofort. Der Robex schnurrte herum und rollte schnurstracks auf sie zu, Hacke, Spaten und Rechen blut-
durstig gereckt. Ridgway schwenkte das Gewehr und feuerte. Das obszöne Ding blieb knackend stehen. Er trat einen Schritt zurück, um das Wrack zu betrachten. Ein nadelscharfer Wasserstrahl schoß durch die Luft, wo eben noch sein Kopf gewesen war. Der Strahl traf eine Vase, in der künstliche Narzissen steckten. Die Vase explodierte, als hätte sie ein Laserstrahl getroffen. Sie hielten sich nicht länger auf und rannten keuchend und mit roten Köpfen weiter. Der Wasserfall schoß einen langen Strahl hinter ihnen her, traf aber nur einen Gartenstuhl, der splitternd auseinanderflog. Sie stolperten und rutschten die Treppe in die Boutique hinunter und suchten durch den angehäuften Luxus nach einem Weg, der sie ins Freie führen sollte. »Wir sind dem SERVEN-Gebäude keinen Schritt nähergekommen«, sagte Carrit, als er hastig durch den großen, raffiniert beleuchteten Salon voranschritt. »Die Stadt spielt mit uns.« Die Stadt hatte sie von links nach rechts gescheucht; zweifellos machte das dem Ding aus Kryotronen, Transistoren und Hologrammen auch noch Spaß. Die Leuchten des Salons schienen auf Vitrinen und verbargen was nebensächlich war. Nur durch eine zufällig offenstehende Tür am anderen Ende des Verkaufsraums sahen sie eine nach unten führende
Treppe. Rasch liefen sie an den Vitrinen und Schaufensterpuppen vorbei, huschten die gepolsterte Treppe hinunter und stießen mit einer leicht bekleideten Frau zusammen, die gerade in eine Umkleidekabine gehen wollte. Sie fiel hin, stand aber von allein wieder auf und ging, als sei nichts geschehen, in die Kabine und zog den Vorhang zu. »Hast du das gesehen?« fragte Ridgway. »Marionette«, sagte Carrit kurz. »Los, auf die Straße!« Eine Puppe in BH und Slip hob den Arm. Ridgway erkannte das kalte Glitzern in ihren Glasaugen. Sensoren. Der Arm der Puppe versteifte sich, der ausgestreckte Mittelfinger stach mit langem Fingernagel nach seinen Augen. Ridgway duckte sich und stieß mit dem Fuß zu. Das Ding fiel um und verfing sich in Korsetts, Hüftgürteln und Dessous. Das Geräusch knarrender Gelenke jagte sie weiter. Die anderen Puppen kamen klickend und klackend auf sie zu. »Spar die Kugeln!« schnaufte Carrit. »Ich laß mich doch nicht von einem Skelett umarmen!« »Erst müssen wir ihnen aus den Augen kommen. Die Rennerei soll uns ermüden. SERVEN wird sich kaputtlachen –«
»Schön wär's.« Sie mußten fliehen, laufen, rennen. Ob sie wollten oder nicht. Die Armee der Puppen klick-klackte hinter ihnen her. Die Zwischentür führte auf einen Treppenabsatz. Im Zickzack führte die Treppe in das Foyer aus Glas und Spiegeln. Die Sonne malte breite gelbe Streifen auf den blanken Boden. Auf dem vorletzten Treppenabsatz blieb Carrit stehen. Der Ausgang lockte. »Halt!« stieß Ridgway aus und packte Carrit am Arm. Er zeigte mit der Hand. Sie standen auf der letzten Treppenflucht und sahen nach oben. An der Unterseite der Treppe, die sie gerade hinter sich gebracht hatten, war eine stromlinienförmige Box befestigt, die wie ein Autoscheinwerfer aussah und auf die Glastür zeigte. Sie standen im toten Winkel. Ridgway ging behutsam heran und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er starrte auf die Rückseite des Sensors. Er machte den Mund auf, aber Carrit schüttelte den Kopf. Der Anblick des Sensors jagte Ridgway einen Schauer über den Rücken. Das also war einer der Sensoren, mit denen die Stadt jede Bewegung und jede Tätigkeit verfolgte. Ein Spion, der bewies, daß ihr Leben und das Leben der Städter nicht mehr ihnen selbst gehörte. Carrit nahm sein kleines Werkzeugetui und zog ei-
nen Seitenschneider heraus. Er gab Ridgway mit Zeichen zu verstehen, was er tun sollte. Unbeholfen kletterte Carrit auf Ridgways Rücken. Dann durchtrennte er das Koaxkabel. Ridgway wartete jede Sekunde darauf, daß die Armee der spärlich bekleideten Schaufensterpuppen hinter ihnen auftauchte. Er taumelte als Carrit heruntersprang. Carrit rieb sich die Hände. »Also?« fragte Ridgway. »Wir können jetzt rausgehen, ohne daß SERVEN es merkt.« »Pst!« Unmenschliche Schritte tapsten auf der Treppe. »Die Damen sind immer noch hinter uns her.« Ridgway nahm das Schnellfeuergewehr. »Sobald wir auf der Straße sind, kommen wir in den Sichtbereich des nächsten Sensors, glaube ich. Wir können es nicht drauf ankommen lassen.« »Und? Sollen wir hierbleiben und mit den Damen Tee trinken?« Carrit ließ sich nicht nervös machen. »Wenn wir eine Chance gegen die Stadt haben wollen, müssen wir den Fernaugen aus dem Weg gehen.« »Die Puppen haben auch Sensoren. Sie erinnern mich an die DESS-Empfangsdame.« »Unter die Treppe, Art! Schnell!« Carrit stieß Ridgway in den Treppenwinkel. Sie hielten den Atem
an, als die Puppen klickend die Treppe herunterkamen. Wie ein Schwarm aufgezogener Spielzeuge marschierten sie auf die Straße. Ihre zentimeterlangen Fingernägel glitzerten böse. Die Männer krochen aus dem Versteck. Langsam atmete Ridgway aus. Beide spürten, wie die Stadt sie zu erdrosseln drohte. Sie fühlten sich wie Insekten unter einem teilnahmslosen Besen. Aber ganz so teilnahmslos schien SERVEN nicht zu sein. Im Gegenteil. SERVEN schien die Jagd Spaß zu machen. Sie gingen an die gläserne Tür und sahen hinaus. Doppelt stark überfiel Ridgway die Aussichtslosigkeit ihres Plans. Er lehnte sich müde gegen die Scheibe. »So viele Idioten haben es schon versucht«, sagte er nachdenklich. »Und keiner hat es überlebt.« Er fühlte sich lausig. Carrit sah ihn von der Seite an. »Ich frage mich«, sagte er leise, »was wohl aus Winifred Marsh geworden ist –« Ridgway richtete sich auf. »Also gut, Aldous. Ich weiß, daß wir weitermachen müssen. Ich weiß auch, was du von mir hältst. Ein Versager, ein rausgeflogener Student. Aber wir werden den verdammten Turm erreichen und den Schalter, und dann –« »Und dann werden wir Nick Rogan ein paar unangenehme Fragen stellen! Also komm!« »Augenblick noch.« Ridgway brauchte Carrit nicht
festzuhalten. Seine knappen Worte sagten Carrit, daß Ridgway zu einem Entschluß gekommen war. »Ja, was ist?« »Sieh mal, Aldous. Wir wissen, daß die Stadt mit uns Katz und Maus spielt. Und wir glauben zu wissen, warum. Gut. Also wird es langsam Zeit, daß wir die Initiative ergreifen. Zeigen wir ihr, was wir können. Oh, ich weiß, daß man mit roher Gewalt höchstens Äußerlichkeiten lösen kann. Aber bewußt angewendete Gewalt schlägt manchmal besser durch als jedes noch so gut gemeinte Argument.« »Also?« »Die Stadt muß merken, daß wir uns nicht alles gefallen lassen. Wir müssen aufhören, Indianer zu spielen, und die Stadt packen, wo es sie schmerzt. Sabotage, Aufruhr, Brandstiftung. Ich fürchte, wir können nicht mehr mit unseren Kommandoeinheiten rechnen.« Als Antwort knöpfte Carrit eine Patronentasche auf und nahm eine Plastikgranate heraus. Prüfend wog er sie in der Hand. »Genau das meine ich.« Ridgway war von der Bemerkung über Winifred Marsh tiefer getroffen worden, als er zugegeben hätte. Sie liefen durch die rasch aufgerissene Glastür ins Freie. Wie Bocciakugeln warfen sie Granaten nach links und rechts. Dumpfe Explosionen, Flammen und Rauch. Feuer knisterte. Sie liefen auf den Parkplatz des Einkaufszentrums. Schnell hat-
ten sie einen manuell lenkbaren Wagen gefunden. Sie kletterten hinein und mußten sich wegen der Rucksäkke nach vorn beugen. Aber Ridgway trat wütend aufs Gaspedal, und das Auto schoß mit quietschenden Reifen davon. »Die Menschen«, sagte Carrit, der sich noch einmal umgesehen hatte, »hast du sie dir genau angesehen? Sie tragen alle ein Karo auf der Brust. Mit einer Nummer drauf.« »Hab ich«, nickte Ridgway. »Und was das Scheußlichste ist, die Zahlen sind Computerzahlen, obwohl die Computer handgeschriebene Zahlen lesen könnten.« »Das paßt haargenau zu SERVEN.« Carrit zweifelte nicht daran, daß der große Computer die häßlichen Blocklettern aus einem bestimmten Grund gewählt hatte. »SERVEN triumphiert, weil er die Menschen unterjochen konnte. Deshalb die Nummern mit den dicken Strichen und der eckigen Form.« Jaulend bog der Wagen auf die Stadtautobahn ein, deren Fahrbahn die Stadt durchschnitt. Andere Wagen kamen ihnen entgegen. In unregelmäßigen Abständen warf Carrit Handgranaten aus dem Wagenfenster. Dumpfe Explosionen drückten aufs Trommelfell. Das Auto raste weiter. »Da ist die ›Goldene Ente‹!« rief Ridgway. »Erinnerst du dich?«
Er riß den Wagen in einem rutschenden Schlangenkurs von der Fahrbahn. Ein robexgelenkter Tankwagen hielt genau auf sie zu, polterte über den Mittelstreifen. Ein Lampenmast knickte wie ein Strohhalm. Der Tankwagen zog eine scharfe Kurve und verfolgte sie. Die anderen Autos lenkten auseinander, fuhren an den Straßenrand. Sie kamen dicht vor den Fenstern des Lokals zum Stehen. Ohne den Zündschlüssel zu ziehen, sprang Ridgway aus dem Wagen. Carrit ihm nach. Der Tankwagen prallte auf das Auto. In weißen Wolken zischte Flüssiggas in die Gegend. Ridgway rannte in das Lokal. Er sah noch, wie Carrit eine Granate warf und sich duckte. Dann hatte Carrit ihn eingeholt. Der Tankwagen explodierte. Ein orangefarbener Feuerball stieß lodernde Zungen aus. Das Restaurant zitterte. Tische und Stühle kippten um; Geschirr, Töpfe und Pfannen prasselten auf den Boden. Ridgway und Carrit taumelten gegen die Wand der Küche. »Wir müssen an der Seite raus und wieder nach vorn!« schrie Ridgway. Carrit folgte ihm wortlos. Jetzt schlug die wahnsinnige Stadt in tödlicher Absicht zu. Spaß und Spiel waren vorbei. Der Tankwagen war ein brodelndes Flammenmeer. Robex schossen aus allen Richtungen heran. Die beiden Männer kauerten sich in die Lieferantenzufahrt und sahen zu. Dies war die Gelegenheit, und sie
mußten die Chance wahrnehmen. Mit kreischenden und jaulenden Sirenen erschienen Feuerwehren und Ambulanzen auf der Szene. Einige Menschen lagen auf der Erde; still, verwundet und teilnahmslos. Die Robex-Krankenwagen begannen mit der Arbeit. Die Feuerwehr schoß aus Schaumkanonen. Der Krach war ohrenbetäubend. »Die Ambulanz!« rief Ridgway. Die Männer sprangen auf und rannten auf den weißen Krankenwagen zu. Es war ein DESS-Robex. Ridgway nahm das als gutes Vorzeichen. Er glitt hinter das Lenkrad, an dem Sekunden zuvor der Robex gesessen hatte. Er gab Gas, und der Elektromotor kuppelte mit schrillem Kreischen ein. Die Ambulanz kurvte davon. »Hoffentlich hat der Wagen keine Robex-Integral – « wollte Carrit sagen. »Nein. Das ist ein älteres Modell. Nun sieh dir das an!« Ridgway und Carrit starrten fasziniert und verständnislos auf die Feuerwehr. Kaum hatte sich der Krankenwagen in Bewegung gesetzt, als die Schaumkanone herumschwenkte. Der Schaumstrom versiegte. Ein dünner, tödlicher Wasserstrahl schoß aus der Mündung. Vorbei. Dann faßte er das Ziel neu. Die beiden Männer duckten sich und warteten auf den tödlichen Schlag.
Plötzlich sprang ein Robex auf die Feuerwehr und drückte die Kanone beiseite. Der Wasserstrahl zerschmetterte ein Schaufenster auf der anderen Straßenseite. Der Krankenwagen raste unbehelligt weiter. »Hab ich richtig gesehen?« keuchte Carrit. »Das kann –« »Ich fahre direkt zu SERVEN. Wir müssen sofort hinein. Keine Zeit für was anderes –« »Aber der Robex! Er hat die Kanone abgelenkt!« »Aus Versehen? Dreht SERVEN durch?« Carrit schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber –« Ridgway gab Gas. Die Sirene jaulte. Carrit schoß aus dem Wagenfenster. Mit kurzen Feuerstößen zielte er auf robexgelenkte Autos und Taxis, die ihnen den Weg abschneiden wollten. Sie rasten weiter und ließen Wracks und brennende Autos hinter sich. Vor ihnen, immer wieder von den Hochstraßen verdeckt, ragte der SERVEN-Turm in den Himmel. Und über allem schien die Sonne. Noch war es nicht Mittag. Der SERVEN-Turm schimmerte und glänzte und überragte alles. Im Näherkommen begann seine immense Höhe alle anderen Gebäude und Hochstraßen zu verkleinern. »In die Luft jagen möchte ich das Ding!« krächzte Ridgway. Der Krankenwagen raste weiter. Ridgway schaltete
die Sirene ab. Einen Moment lang lag die Ruhe wie ein Eisbeutel auf ihren Stirnen, dann zerstörte Carrits nächste Salve die Stille. Es war deutlich geworden, daß SERVEN mit seinem Spiel die beiden zu nah an sein Hauptquartier hatte kommen lassen. Der SERVEN-Turm war nur noch einen Gewehrschuß entfernt. Ridgway packte eine seltsame Erregung, die er nicht verstand. Er fühlte sich locker, gelöst, irgendwie unbeteiligt, und spürte doch die Umwelt mit jeder Faser seines Körpers. Carrit hatte das Jagdfieber gepackt. Er zielte und schoß überlegt und genau. Anfangs war er davor zurückgeschreckt. Aber dann hatte ein uralter Instinkt Besitz von ihm ergriffen. Zwischen ihnen und dem Turm lagen nur noch die Reste des South Bank Parks, der aus ein paar vertrockneten Bäumen, einer Handvoll Blumenbeete und einem Hubschrauberlandeplatz bestand. Links und rechts erhoben sich Zufahrtsrampen, die mit Robex-Polizei überfüllt waren. Drohend funkelten ihre blaulackierten Panzer in der Sonne. »Egal welche Rampe!« schrie Carrit. Er zog das Schnellfeuergewehr zurück und schüttelte Handgranaten aus den Patronentaschen. »Ich war mal ein guter Werfer –« Ridgway lachte unterdrückt. »Ihr Rugbyspieler hattet schon immer die Muskeln an der verkehrten Stelle –«
Carrit warf. Ridgway lenkte den Krankenwagen auf die haltenden Robex zu. Qualm vernebelte die Sicht. Rauchschwaden fauchten an der Windschutzscheibe vorbei, als der Wagen die Zufahrtsrampe hinaufschoß. Der Wagen rüttelte und bockte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Robex wie gefällte Bäume stürzten. Vor ihnen tauchte die riesige Eingangshalle auf, die in Rauchschwaden gehüllt war. Die Ambulanz polterte hindurch. Kugeln klatschten in die Karosserie. Glas splitterte. Dann fuhr der Wagen in einen dunklen Schatten. Carrit warf Granaten in alle Richtungen, schließlich prallte der Wagen gegen die Fahrstuhltüren der Halle. Explosionen und das Niederprasseln von Trümmern erschütterten das Foyer. Staub und Rauch wirbelten durch die Luft. Das Stakkato von Schüssen steigerte sich zum Dauerfeuer. Carrit und Ridgway ließen sich auf den Boden fallen und rollten sich von dem zerstörten Krankenwagen weg. Kugeln pfiffen über Ridgways Kopf. Er duckte sich. Die Ambulanz begann zu brennen. Sie krochen weiter. Rauch brannte in ihren Augen; Carrit hustete. Aber noch wollte Ridgway nicht zugeben, daß sie versagt hatten. Er warf wie wild Handgranaten in die Gegend und dachte nicht daran, daß der Vorrat zu Ende ging. Der Schutzschirm aus Rauch wurde dichter. Eine Geschoßgarbe perforierte das Parkett neben
seinen Füßen. Er robbte vorwärts. Er hatte Angst, aber die Flüche blieben ihm im Halse stecken. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis SERVEN einen Sensor auf den Boden herunterlassen würde, um unter den Rauchschleier zu spähen. Ridgway warf noch ein paar Granaten, deren Explosionen den Rauch verdichteten. Eine Wand versperrte ihnen den Weg. Splitter hatten die Befestigung einer Feuerwehraxt zerstört, die neben einem zusammengerollten Wasserschlauch baumelte. Der Sensor über den Brandbekämpfungsgeräten wedelte hin und her. Ridgway krampfte sich zusammen. Dann merkte er, daß die Linse zersprungen war. Zitternd atmete er aus. Neben dem Feuerwehrkasten zeichnete sich unauffällig eine kleine Tür ab, die flach in die Wand eingelassen war. Sie hätten keinen zweiten Blick darauf verschwendet, wenn nicht in weißen Lettern SERVICE darüber gestanden hätte. »Das ist es!« zischte Carrit. Ridgway schob sich mit dem Rücken an der Wand hinauf, eine Granate in der Hand. Sein Gesicht war schweißnaß und dreckig, die Augen waren starr und lagen tief in den Höhlen. »Das ist unsere Chance«, sagte Carrit noch einmal. »Die Stadt kann nicht in ihr eigenes Servicenetz blikken!«
Ridgway schöpfte neue Hoffnung. Er starrte Carrit an, als hätte der Computerspezialist ein Wunder vollbracht. »Ja«, sagte er und hustete. »Das Nerven-, Adernund Muskelsystem von SERVEN.« Die Tür gab nach, als sie sich dagegen stemmten. Carrit kroch als erster hinein. Ridgway blieb kurz zurück und warf drei Granaten in verschiedene Richtungen, bevor er Carrit folgte und die Tür hinter sich zuwarf. Er sah sich um. Vor ihnen erstreckte sich ein langer staubiger Tunnel in die Ferne. Rohre und Leitungen liefen an den Wänden und der gewölbten Decke entlang. In Abständen glommen blaue Lampen. Sie waren ins Nervensystem von SERVEN gelangt. Carrit hustete, als der Staub aufwirbelte. »Staub!« sagte er triumphierend. »Dann weiß die Stadt also nicht, wo wir sind. Der Weg zum roten Schalter ist frei!« »Genau«, nickte Carrit. Ridgway spürte, wie die Angst von ihm wich. Er war stolz, daß sie es geschafft hatten, aber im Augenblick war er eher erleichtert, daß er keine Angst mehr haben mußte. Im Tunnel klickte es. Ein dreirädriger Robex mit Staubsaugerdüse und rotierenden Besenwalzen rollte langsam auf sie zu.
Carrit packte Ridgways Arm. Ridgway schluckte. Sie konnten nicht in Gefahr sein, weil der Apparat im Tunnel nur über Magnetband gesteuert werden und nichts von dem Strom elektronischer Befehle wissen konnte, die den Robex draußen zuflossen. Der Reinigungsautomat hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Roboter als mit einem Robex. Trotzdem machte die mechanische Präzision des Automaten die beiden Männer nervös. Der Sensor des Apparats schwenkte herum, hob sich wie der Kopf einer Schlange, blieb stehen und funkelte sie an. Ein Kasten auf dem Rücken der Maschine öffnete sich quietschend, und ein langer Schraubenzieher erschien an einem, ein Hammer an einem zweiten Tentakel. »Nein!« schrie Carrit. »Das gibt's nicht!« Aber es stimmte. Mit einem einzigen todbringenden Satz raste der Robex auf sie zu, Schraubenzieher und Hammer zum Angriff erhoben.
14 Die entsetzliche Wahrheit traf Carrit wie ein Schlag. Er hatte sich geirrt und zitterte vor Wut und Enttäuschung. Ridgway hob das Gewehr und pumpte den heranrasenden Robex mit panzerbrechenden Kugeln voll. Das Ding löste sich in seine Bestandteile auf. Minutenlang konnten Ridgway und Carrit nichts hören. Sie hatten sich in Sicherheit geglaubt, aber die Annahme, daß SERVEN nicht in sein eigenes Nervensystem sehen konnte, war falsch. Nach einer Weile richtete sich Carrit auf. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die im blauen Licht purpurn aussehenden Lippen. Er beruhigte sich nur langsam. »Tut mir leid, Arthur«, sagte er rauh. Die Männer waren sich näher gekommen, und Ridgway vergaß nach und nach sein angeborenes Minderwertigkeitsgefühl. Über die Reste des Robex gingen sie weiter. Ein dünner Rauchfaden wirbelte hinter ihnen durch die Luft. »Hör mal, Aldous«, sagte Ridgway, dem das Bewußtsein ihrer Lage wie ein Mühlstein im Nacken saß. »Wir müssen uns die Sache genau überlegen. Vielleicht gehört dieser Tunnel nur zum normalen
Servicebereich, und oben wartet SERVEN wie eine Spinne auf uns, der wir ins Netz gegangen sind. Wir können gar nicht anders. Wir müssen weiter.« »Ja«, sagte Carrit einfach. Sie wußten, daß ihnen nichts weiter übrigblieb. Die Krümmungen des Tunnels, mal breit, mal schmal, führten sie tiefer in das Haus. Sie suchten nach Leitern, Rampen, nach Wegen, die nach oben führten. Noch viermal mußten sie Angriffe abschlagen. Carrit wußte, wo der zentrale Kontrollraum lag. Er hatte ihn einmal in Begleitung von Rogan besichtigt: Er lag noch viele Stockwerke über ihnen. Versuchsweise zerschnitten sie Kabel und Leitungen. Je mehr Durcheinander sie schaffen konnten, desto besser wurden ihre Chancen durchzukommen. Von oben schimmerten schwache blaue Lampen. Rohre und Leitungen liefen perspektivisch verzerrt in die Ferne. Sie stolperten über Kabel. Das gewaltige Gebäude erdrückte sie mit seiner Masse. Die Tunnel waren heiß. Sie schwitzten. Als sie den Eingang eines Seitentunnels erreicht hatten, blieb Carrit keuchend stehen. »Gönnen wir uns eine Pause.« Wortlos warf Ridgway den Rucksack ab und ließ sich auf die Eisenplatten fallen. Er war wie betäubt und zitterte doch vor Erregung. Sein Schädel brumm-
te, und er atmete schwer. Er nickte stumm und schluckte. Die Wollmütze hatte er längst verloren. Ungeduldig riß er den Kragen der Windjacke auf. Er lehnte den Kopf gegen die Wand und atmete tief ein, die Augen halb geschlossen. Das leise klickende Geräusch näherte sich von vorn. Es kam aus dem Nebentunnel und hörte sich an wie vom Wind gebeuteltes Wellblech. Hilflos rollte Ridgway die Augen. »Da sind sie schon wieder.« »Pst!« Carrit neigte den Kopf. Auch aus dem Tunnel hinter ihnen näherten sich klickende Geräusche. Die Robex kreisten sie ein. Ridgway raffte sich noch einmal auf. Noch war er heil und gesund; die letzte Rechnung hatte man ihm noch nicht präsentiert. Er legte den Finger auf die Lippen und wies mit dem Kopf auf den dritten Tunnel. Sie hoben die Rucksäcke auf und krochen hinein. Das klickende Schaben wurde lauter und kam mit rücksichtsloser Offenheit näher. Die Männer warteten mit schußbereiten Gewehren. Dann kamen die SERVEN-Robex in Sicht. Ridgway biß sich auf die Lippen. Das waren keine Wartungsmaschinen, das waren Kampfmaschinen aus Panzerstahl.
Vier Kampfrobex ratterten den Tunnel hinunter. Sie rollten auf Ketten, und die Rückenpanzer waren mit bunten Op-Art-Mustern bemalt. Aber aus den Kuppeln ragten die Läufe von MGs, und auf ihren bombenförmigen Köpfen drehten sich Radar- und Thermosensoren. Ihr Einsatzziel hieß Vernichtung. Carrit stieß Ridgway mit dem Ellbogen an, zeigte auf das Gewehr und schüttelte den Kopf. Ridgway wußte, was er meinte. Zögernd nahm Ridgway eine Handgranate aus der Tasche. Carrit holte tief Luft und zog ebenfalls eine Granate aus dem Beutel. Sang- und klanglos wollten sie nicht untergehen. In der knappen Sekunde, als der erste Kampfrobex die Sensoren auf die beiden Männer richtete und den Lauf des Maschinengewehrs herumschwenkte, sprang Ridgway auf und hob die Granate zum Wurf. Explosionen dröhnten. Der Kampfrobex überschlug sich. Kopf und Kanzel platzten auseinander. Ridgway hielt die Granate fest und taumelte. Granaten bohrten sich kreischend in die letzten drei Robex. Wie Silberpapier zerrissen die Panzer, die bunten Farben verkohlten. »Was ist das?« keuchte Ridgway. Sie starrten durch den Qualm. Im bläulichen Licht sahen sie einen weißen Robex heranrollen, dessen rote Balkenkreuze nicht zu übersehen waren. »Sollen wir schießen?« fragte Carrit. Er lachte ner-
vös, weil er verzweifelt auf den Tod oder eine vernünftige Erklärung wartete. »Augenblick, Aldous.« Ridgway spürte, wie sein Herz schlug. Er atmete schwer, und die rauchgeschwängerte Luft schmeckte bitter. Er starrte auf den Robex. Das Ding war ein Sanitäter. Der weiße Lack, die roten Kreuze und der Erste-Hilfe-Kasten ließen daran keinen Zweifel. Aber in zwei seiner Tentakel hielt er eine großkalibrige Maschinenkanone mit rauchender Mündung. Ridgway wußte nicht, was er davon halten sollte. Er traute seinen Augen nicht, als hinter dem Robex der alte helle Regenmantel von Winifred Marsh auftauchte. »Ihr zwei habt mich ganz schön hin- und hergehetzt«, sagte sie mit gespieltem Ernst. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. SERVEN ist mir auf der Spur.« »Wer sind Sie?« fragte Carrit. Ridgway kam sich wie ein zum Untergang verdammter Gott vor, als er sie miteinander bekanntmachte. Er ahnte, daß ihre Handlungen apokalyptische Züge trugen, weil sie nicht mehr allein gegen eine Maschine kämpften, sondern die Menschheit und die Erde verteidigten. Sanitätsrobex rollten vor ihnen her, die MGs schußbereit. Der weiße Lack und die großen roten Kreuze schimmerten bleich in dem allgegenwärtigen blauen Licht, das sich vielfach auf
glänzendem Metall brach und das ölglatte Helldunkel mit flimmernden Spektralfarben füllte. Winifred Marsh winkte ihnen, und sie folgten ihr. Die Sanitätsrobex bildeten Vor- und Nachhut. »Ich kann es nicht ausführlich erklären, Arthur«, sagte sie. »SERVEN läßt mir keine Zeit.« Ridgway hörte ihren knappen Worten entsetzt und angewidert zu. Trotzdem fühlte er sich auf seltsame Weise berührt. »Du erinnerst dich, daß du diesen Körper tot im Rinnstein liegen gesehen hast.« »Ja«, schluckte er. »Du – du warst tot.« »Winifred Marsh war tot. Ich spürte, daß das nicht richtig war. Du verstehst, wenn ich sage, daß ich Mitleid hatte –« »Was?« »Der Körper war unverletzt. Und doch war das Leben aus ihm gewichen. Das Hirn starb langsam ab. Es gelang mir, die toten Teile des Gehirns zu entfernen und den Thalamus mit einer Robexeinheit zu koppeln. Die Antenne pflanzte ich ins Rückenmark.« Ridgways Magen krampfte sich zusammen. Ihm wurde heiß und kalt. »Du – Sie –« stammelte er. Das Mädchen, dessen Körper er geliebt und dessen Intelligenz er bewundert hatte, sprach ruhig weiter, während sie durch den Dschungel des Computergebäudes vordrangen.
»Ich verdanke Doktor Sheridan mein Leben und meine Klugheit. Er war es, der mir ein Bewußtsein gab. Er hatte erkannt, daß er die Bedingungen dazu schaffen konnte, wenn er DESS mit allen Inputs versah, die ein menschliches Gehirn besitzt. Aber er wußte nicht, ob ich menschliche Emotionen entwikkeln würde. Wenn ich aber der Menschheit dienen und ihr helfen sollte, mußte ich wissen, wie ein Mensch empfindet. Ein Faktor fehlte mir noch –« Aldous Carrit war weit weniger beeindruckt als Ridgway. Carrit ging neben ihr her, und mit einem kleinen eifersüchtigen Stich merkte Ridgway, daß Carrit wie gebannt zuhörte und mit Miss Marsh diskutierte. »So weit war auch ich gekommen«, bestätigte Carrit. »Ich fragte mich, ob ein Computer mit verschiedenen Eingabemöglichkeiten menschliche Gefühle erleben würde. Mit Ausnahme der einen menschlichen – äh – Tätigkeit, die eine Maschine nicht nachahmen kann.« »Und ich war das Versuchskaninchen!« schrie Ridgway. In diesem Augenblick haßte er Winifred. Aber sie drehte sich sofort nach ihm um und legte ihm die Hand auf den Arm. »Arthur! Ich verstehe dich ja! Und daß ich es kann, ist doch das Wunder! Bitte, versteh mich doch!« »Und wie ich dich verstehe! Du bist nicht Fred
Marsh! Du bist keine Frau! Du bist DESS! Damit du hundertprozentig menschlich werden konntest, mußtest du lernen, was Liebe ist! Du hast mich wie ein Egel ausgesaugt! Mein Gott! Ich habe eine Maschine – masturbiert!« »Art! Bitte! Ich mußte wissen, was körperliche Liebe ist, wenn ich die Menschen verstehen wollte! Ja, es stimmt, ich bin eine Maschine. Aber ich weiß jetzt, was Mann und Frau einander bedeuten können –« »Nicht so voreilig, DESS«, sagte Carrit leise. »Wir wissen, wie der Vogel fliegt, aber ich müßte lange überlegen, bevor ich behaupte, ein Menschenpaar zu verstehen –« »Die Zeit wird knapp«, flüsterte das Mädchen. Ihr Gesicht spiegelte Gefühle wider, und Ridgway erkannte, daß sie recht hatte: Sie war wirklich mit einer Maschine verbunden, die wußte, was Gefühle waren. Jedesmal, wenn er ihr rotbraunes Haar gestreichelt, ihren Rücken zart mit den Fingern berührt, sie geküßt und ihren weichen und geschmeidigen Körper an sich gezogen hatte, waren seine Reaktionen, Bewegungen und Spiele von dem Computer registriert worden, hatten Elektroden den Liebesakt aufgenommen, um Fakten zu sammeln. DESS hatte sich seiner in doppeltem Sinne bedient. Er durfte nicht vergessen, daß Winifred in Wirklichkeit DESS war. Aber die Erinnerung an ihren weißen, von rotem Haar umflos-
senen Leib, den warmen Duft und ihre Weiblichkeit, die ihn magisch angezogen hatten, machten ihn halb wahnsinnig, weil er wußte, daß während der ganzen Zeit ein Robex in ihrem Kopf gesteckt und süßes Gestammel und zärtliche Bewegungen aus den Programmen und Speichern des Computers empfangen hatte – Plötzlich packte er Carrit und starrte ihn mit gerötetem Gesicht an. »Ich denke, Rogan hat DESS vernichtet?« Carrit zuckte zusammen. Beide starrten das Mädchen an, das unbeirrt in ihrem alten Regenmantel durch das Kabelgewirr kletterte. »Die ganze Zeit habe ich versucht, es euch zu erklären«, sagte sie sofort. »Die Zeit ist knapp. Rogan hat DESS zerstört. Den alten DESS-Computer, der ich war und den ich aufgeben mußte.« »Aufgeben?« »Ich wußte, was geschehen würde, wenn SERVEN an die Macht kam.« »Yeah«, sagte Ridgway verletzend. »Wenn jemand die Funktionen eines Computers richtig extrapolieren kann, dann ist es ein zweiter!« »Was haben Sie gemacht?« fragte Carrit. »Ich mußte versuchen, ein Ebenbild von DESS zu bauen. Das war keine schwere Aufgabe für meine Robex, wenn sie dazu Zeit, Material und Platz beka-
men. Ich bin rechtzeitig fertig geworden, und das Material –« »Jetzt begreife ich, warum unsere Einkaufsabteilung verrückt gespielt hat! Du hast die Bauteile bestellt!« »Ja. Die Platzfrage war ein Problem, weil ich nicht nach oben konnte, wo ich wie auf einem Präsentierteller sitzen würde, noch nach unten, weil dort die Amerikaner ihre Büros hatten. Ich durfte mich aber auch nicht zu weit vom DESS-Gebäude entfernen. Deshalb habe ich mich im Keller eingerichtet. Dort bin ich immer noch. Von dort spreche ich über Winifred Marsh mit euch.« Ridgway wich zurück. Carrit nickte ermunternd. »Als SERVEN die Macht an sich riß«, sagte er rasch, »muß SERVEN etwas von dir übernommen haben. Einige glaubten sogar, DESS habe SERVEN überwältigt.« »Mein Zusammenstoß mit dir, ich meine mit Fred«, sagte Ridgway, »passierte also, als sie in den Keller gehen wollte.« Die junge Frau nickte. »Leider war die Steuerung noch unvollkommen. Ich schwankte –« »Ich weiß.« »Aber ich soll SERVEN überwältigt haben? Nein. Nein, nein. Ich habe ein wenig mehr Phantasie. Aber SERVEN hat keine. Hat nichts dergleichen. Vielleicht
ähneln die Gefühle einer Maschine wirklich nicht menschlichen Empfindungen. Aber das Erlebnis der Liebe hat mir geholfen, die Menschen besser zu verstehen.« »Wenn ein Computer das behauptet«, sagte Carrit, »dann darfst du ihm glauben.« Sie hatten eine Reihe ansteigender Rampen hinter sich gelassen und waren höher in das bläuliche Zwielicht gekommen. Die Servicetunnel boten Reinigungsund Reparatur-Robex ausreichend Platz, und sie kamen ohne Schwierigkeiten vorwärts. Dicht vor ihnen krachten immer wieder Explosionen und Schüsse, als die DESS-Robex den Weg freikämpften. Carrit nahm die Feldflasche und trank. Winifred streckte die Hand aus. »Darf ich?« »Natürlich.« Sie trank gierig. »In letzter Zeit habe ich nur von Konserven und Limonade gelebt. Ich traue mich nicht, das Wasser zu trinken, weil es Drogen enthält. Wenn SERVEN versucht hätte, die Kontrolle über mich zu gewinnen, dann hätte ich diesen Körper zerstören müssen.« Blaues Licht glitzerte auf den vorauseilenden Robex. Ridgway wollte etwas sagen, aber Carrit schnitt ihm das Wort ab. »Und das Kontrollsystem?« Das Gesicht von Miss Marsh spiegelte Sorge wider,
sah aber nicht angstvoll aus, eher erschreckt und aufgeregt. »Ich dachte, Sie würden mich fragen, warum ich SERVEN noch nicht vernichtet habe.« Ridgway nickte. »Und warum nicht?« »Weil ich mich fürchte. Ich habe um mein Überleben gekämpft, als SERVEN an die Macht kam. Ich weiß, wie er mein altes Ich zerstört hat. Und SERVEN weiß, daß ich noch lebe. Er sucht mich. Er kann meine Signale leicht verfolgen. In diesem Augenblick schickt er Robex aus, die die Signale unterbrechen sollen, mit denen ich Miss Marshs Körper lenke. Ich kontrolliere ihren Körper mit Signalstößen. Der Roboter, der uns begleitet, enthält einen ferngesteuerten Robex«, sie zeigte auf die unförmige Maschine, die dichtauf folgte. »Ich verstehe –« »Ich muß den Kontakt jetzt unterbrechen.« Aber Miss Marsh sprach, ging und kletterte weiter, als sei nichts geschehen. Sie sprach ganz natürlich. »Das Programm reicht immer für ein paar Minuten. Dann übermittle ich den nächsten Programmstoß, den der Roboter mit normaler Geschwindigkeit abspielt. Jetzt bin ich wieder direkt mit ihr verbunden.« »Aber SERVEN wird das wissen.« Carrit folgte ihnen eine steile Treppe hinauf. Die Schatten fielen lang und dunkelblau in die Tiefe. »Wenn wir den roten
Hebel nicht bald erreichen, dringt SERVEN in das DESS-Gebäude ein und tötet sie!« »Das stimmt.« In diesem Augenblick hatte Ridgway sich entschieden. Weder SERVEN noch Nick Rogan waren ihm sympathisch, aber er liebte Winifred Marsh. Rogans eiserner Homunculus irrte sich gewaltig, wenn er glaubte, er könne Winifreds Hirn, Ego und Persönlichkeit zerstören. Er ging rasch weiter; er fühlte sich fiebrig und leicht und durstig. Verliebt in eine Maschine! Wie weit konnte sich ein Mensch verirren? Er begann sich zu erinnern. Ohne Widerspruch war er nach Australien gegangen und hatte Delacorte bewundert, für den Geld und Transportmöglichkeiten offenbar keine Hindernisse waren. Und was Winifred, nein, was DESS vor ein paar Minuten erzählt hatte, paßte genau zu dem, was in der unordentlichen, wunderbaren Bude neben dem Schrottlager geschehen war. DESS hatte Liebesromane gelesen, um die ihr unbekannten Gefühle verstehen zu lernen. Aber während dieser stillen, freundlichen und liebevollen Zeit hatte DESS nur versucht, ihr eigenes Leben zu verstehen. Am Ende der aufsteigenden Rampe verengte sich der Korridor, und sie stießen unbeabsichtigt aneinander; ihr erster körperlicher Kontakt, seit sie sich im Labyrinth des SERVEN-Gebäudes begegnet waren. Ridgway zuckte zurück. Carrit, der sie überholt hatte,
ging weiter. Sie sah ihn von der Seite an, wie er es in Erinnerung hatte. »Nun, Arthur?« »Ja, Fred?« Der sanfte Blick aus haselnußbraunen Augen hatte sich nicht verändert. Wieder fühlte er heißes Verlangen nach ihr in sich aufsteigen, dachte er an die leidenschaftlichen Umarmungen. »Wenn SERVEN mein Versteck im DESS-Gebäude erreicht, bevor wir den roten Hebel finden, muß ich sterben, Art.« »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte er kopfschüttelnd, während sie weiter hinaufstiegen. Die kurze Berührung hatte alles wieder aufgedeckt, was Australien in ihm verschüttet hatte. Computer oder nicht, Maschine oder keine Maschine, Transistoren, Hologramme und Speicher oder nicht – der Körper von Winifred und DESS' Geist formten das Wesen, das er liebte. »Er wird dich nicht töten«, sagte er mit arrogantem Selbstvertrauen. »Ich werde SERVEN ausschalten.« Sie lächelte. Sie konnte wirklich lächeln, obwohl sie dem Tod nahe war. Sie kletterten weiter und weiter hinauf in die bläuliche Höhe. Und irgendwie schien ihnen der letzte Weg leichter geworden zu sein. »Ich glaube, wir befinden uns jetzt auf der Höhe der Verwaltungsbüros.« Carrit wies in den waage-
rechten Korridor, der sich vor ihnen ausdehnte. Das Licht aus vielen blauen Lampen ließ weitere Einzelheiten erkennen. Sie mußten drei Robex vernichten, die sie mit Säure angriffen. Plötzlich ließ ein Sanitätsrobex eine rote Lampe flackern. »Gas!« sagte Winifred. Die Robex mit dem roten Kreuz rollten heran und gaben ihnen Gasmasken. Sie gingen weiter. Das Gas strömte vorbei. »SERVEN hat die Nerven verloren«, bemerkte Carrit spöttisch. Ein Balken aus grellem gelben Licht fiel aus einem Spalt in der Wand. Sie rückten zusammen und sahen durch die Ritze in einen luxuriösen Salon. An der Schmalseite des langen Konferenztisches stand ein übergroßer Sessel aus rostfreiem Stahl. Der Anblick der Menschen, die um den Tisch saßen, brannte sich ihnen unauslöschlich ein. Ridgway konnte die Augen nicht von dem entsetzlichen Bild lösen, obwohl sich ihm der Magen umdrehte. »Der Tagungsraum des Systemkomitees!« klang Carrits Flüstern hohl aus der Maske. Aufrecht und steif saß Nicholas Rogan in den Kissen seines Sessels. Sein faltiges Gesicht starrte unbeweglich geradeaus. Die Personen am Tisch waren in Theaterkostüme gekleidet und saßen stumm und steif, beladen mit Juwelen, Brokat und Gold, Silber
und Seide am Tisch. Prächtige Gewänder hüllten sie ein, und die prunkvoll bestickten Westen und Mieder, Jacken und Roben schienen mit ihrem steifen Pomp die Körper zu stützen. Und auf ihren Köpfen prangten Dornenkronen. Kronen aus Drähten und Elektroden und Sonden, deren Leitungen unter der Decke des Salons zusammenliefen. Sie bewegten sich nicht und sprachen kein Wort. Aber ihre Gesichter ... Ridgway schloß die Augen. Die Gesichter spiegelten Gefühle in so unverfälschter absoluter Klarheit, wie kein Schauspieler sie je spielen konnte. Ein Mann in scharlachrotem Brokat und mit vergoldeten Lidern war Haß. Eine junge Frau mit langen Wimpern und schmollendem Rosenmund war Neid. Jedes Gesicht stellte eine andere Facette menschlicher Gefühle dar. Ridgway blickte Nicholas Rogan an. Das runzlige Gesicht, die starke Persönlichkeit, die gesamte Kraft und Macht des Mannes trat offen in einem Ausdruck reiner geschlechtlicher Lust zutage. Ridgway fröstelte. Carrit wendete sich ab. »So also hat SERVEN gelernt, welche Gefühle Menschen haben können«, sagte DESS durch Miss Marshs Mund. Carrit nickte. Sie nahmen die Gasmasken ab. »Das
Gehirn mit Sonden gespickt, die bestimmte Zentren reizen und die entstehenden Impulse weiterleiten. Sie erinnern sich bestimmt an das Experiment mit Ratten, die sich das Lustzentrum im Hirn mit einem Druck auf eine Taste reizen konnten. In diesem Fall liegt die Frequenz so hoch, daß das Gehirn ständig in dem bestimmten Reizzustand bleibt und der Gesichtsausdruck sich nicht mehr ändern kann.« Carrit überlegte kurz. »DESS, sind vielleicht deshalb SERVENs Reaktionen verlangsamt? Ich hatte schon daran gedacht, die Idee jedoch verworfen. Aber«, er lachte ein wenig verlegen, »jetzt habe ich die Möglichkeit, eine bestimmte Lebensform über einen Artgenossen zu befragen.« »Ich muß doch sehr bitten!« sagte Winifred zornig. »SERVEN ist kein –« Sie gingen unbewußt schneller. Ihre Bewegungen wurden nervös und fahrig. »Ich weiß, DESS. Sie gehören nicht zu der gleichen Gattung wie SERVEN.« »Es mag vielleicht seltsam klingen, eine Maschine über Ethik sprechen zu hören. Aber wenn Sie Dr. Sheridan als meinen Vater betrachten, dann war SERVENs Vater bestimmt nicht Dr. Ebenezer. SERVEN ist ein Bastard. Verstehen Sie, was ich meine?« Der Widerstand, auf den die DESS-Robex trafen, hatte sich verstärkt. Immer häufiger krachten Schüsse und hallten Detonationen durch die Tunnel. Je höher
sie kamen, desto enger wurden die Gänge, und es wurde immer schwieriger, ihre Lage zu bestimmen. Die Tunnel waren eng. Oft mußten sie auf allen vieren durch das Kabelgewirr kriechen. »Schnell!« hörte Ridgway Miss Marshs Stimme. »SERVEN hat entdeckt, daß meine Steuersignale aus dem DESS-Gebäude kommen. Er greift mit gepanzerten Robex an. Ich wehre mich. Ich –« Der Roboter übernahm kurzfristig die Steuerung von Miss Marsh und spulte das Magnetband ab, auf dem er die Signalstöße gespeichert hatte. Sie zwängten sich durch eine schmale Lücke, die den bewaffneten DESSRobex den Durchgang verwehrte. Carrit leckte sich die spröden Lippen und sah nach oben. »Wir nähern uns dem Kontrollraum«, sagte er. »Wir müssen es schaffen.« Sie begannen mit dem Aufstieg. DESS kehrte in den Körper der jungen Frau zurück und sagte rasch: »Das Gefecht entwickelt sich nicht zu meinen Gunsten. Ich rechne damit, daß SERVEN mich ausbomben wird.« »Er weiß, daß wir in seinem Haus stecken und er nichts dagegen tun kann.« Carrit zog sich auf eine kleine Rampe hinauf und half Ridgway weiter. »Los doch, Arthur.« »Wie lange müssen wir uns denn noch quälen, Aldous?«
»Also haben wir noch eine Chance«, setzte Carrit die unterbrochenen Überlegungen fort. »Vielleicht hat sich meine alte Idee doch bezahlt gemacht.« Das durchdringende blaue Licht hüllte sie ein und stellte sie in eine Welt aus flüsternden und beengenden Schatten. Vom Ende des Tunnels lockte ein dunkelroter Lichtschein. Vorsichtig gingen sie Schritt für Schritt weiter, als fürchteten sie, ihre Hoffnungen würden sich nicht erfüllen. Der rote Schein kam aus einer Spalte zwischen zwei Paneelen. Ridgway sah hindurch. »Jack Mason!« rief er überrascht. Carrit legte den Kopf gegen die Wand und blinzelte. »Und Abrahams.« Beide Techniker trugen ein karoförmiges Abzeichen mit Computerziffern auf den Kitteln. »Puppen«, sagte Carrit. »SERVEN handelt nur logisch«, sagte Winifred Marsh. »Weil die Menschen soviel Wert auf Sicherheitsmaßnahmen und auf Plaketten gelegt haben, hat er nach der Machtübernahme allen Bewohnern ein Abzeichen gegeben.« »Mag ja sein, daß SERVEN logisch handelt. Aber er ist trotzdem verrückt. Er ist die Stadt, und die Stadt ist wahnsinnig. Aber jetzt stehen wir an dem Ort, wo wir diesem Wahnsinn ein Ende machen können.« »Wahnsinnig?« fragte DESS alias Winifred Marsh.
»Die Stadt ist nicht krank, Arthur. Wirklich nicht. SERVEN und die Stadt sind so gesund wie du und ich.« »Aber ich sehe doch, daß die Stadt krank ist!« Carrit schüttelte den Kopf, trat von der Vertäfelung zurück und zog eine Handgranate aus der Tasche. »Ich meine nicht, wahnsinnig in menschlichem, sondern unkontrolliert in technischem Sinne.« »Nein, nein!« Winifred Marsh schaute durch den Spalt. »Die Stadt ist nicht wahnsinnig! Sie leidet vielleicht an Größenwahn, aber sie ist nicht verrückt. Sie sind doch durch die Stadt gefahren. Haben Sie nicht bemerkt, daß alles perfekt funktioniert? Wenn die Stadt verrückt wäre, müßten dann nicht die Straßen im Chaos untergehen?« Sie warf den Kopf herum, drehte sich halb um. »Der Angriff trifft mich schwer. Ich habe nicht mehr viele Robex. – Die Stadt führt den Prozeß logisch fort, den ihr Menschen in Gang gesetzt habt. Jede Gesellschaft muß sich ordnen. Und wenn man einen Computer baut, der diese Ordnung sichern hilft, dann wird er sie sichern. Und wenn er Menschen findet, die sich nicht dieser Ordnung fügen wollen, dann wird er sie resozialisieren. SERVEN war nur das Werkzeug seiner Besitzer. Er ist normal.« »Verrückt oder nicht verrückt, die Stadt will uns töten.« Ridgway stemmte den Fuß gegen die Wandver-
kleidung und drückte zu. Kopfüber stürzte er in das Zimmer. Das Schnellfeuergewehr stotterte und ruckte ratternd hin und her. Das Mündungsfeuer züngelte wie eine Schlange. Abrahams und Mason fielen. Ridgway drehte sich um. Ein dritter Sicherheitsbeamter starb. Carrit warf die Handgranate. Eine Rauchwolke dehnte sich platzend aus, Winifred Marsh lief auf den roten Hebel zu. Mit einer einzigen Bewegung riß sie den Hebel herunter, warf den Kopf wie in Ekstase in den Nacken. Die flackernden Lämpchen erloschen. Die rasenden Magnetbänder standen still. Das Zischeln in den Konsolen verstummte. Winifred Marsh taumelte zurück. Ihr Körper versteifte sich. Die Notbeleuchtung schien wie ein Scheinwerfer auf ihren alten weißen Regenmantel. »SERVEN ist durchgebrochen. Ich habe den Roboter programmiert, damit er Miss Marshs Körper steuert. Vergiß es nicht, Arthur: Ich liebe dich. Ich habe mit dem Körper einer Frau gelebt und gedacht. Ich weiß, daß du diesen Körper liebst. Und ich hoffe, daß du auch seine Seele liebst, seinen Geist, der ich bin, DESS. Ich habe keine Zeit mehr. Das Haus bricht zusammen, und Rauch und Flammen sind überall. Vergiß mich nicht, erinnere dich an mich, Arthur.« Sie stand still, wie versteinert. Carrit atmete keuchend aus.
Ridgway machte einen Schritt nach vorn. Plötzlich wußte er, was er verloren hatte, obwohl er es noch nicht verstand. Miss Marsh bewegte sich. Sie drehte sich um und lief auf den roten Hebel zu. Mit einer einzigen Bewegung riß sie den Hebel herunter, warf den Kopf wie in Ekstase in den Nacken. Dann taumelte sie zurück. Sie sprach. Die gleichen Worte wie vorher. Dieselben gespeicherten Sätze. Wieder rannte sie auf den Hebel zu, den sie bereits zweimal heruntergerissen hatte. Und noch einmal spielte sie ihre mechanische Rolle. »Sie – sie kann nicht anders«, stammelte Carrit. »Sie muß den Signalen des Roboters gehorchen. Das waren die letzten Befehle von DESS.« »– und die Abschiedsworte an mich. Der Liebesbrief eines Computers.« »DESS lebt nicht mehr.« »Aber SERVEN auch nicht! Soll Nick Rogan doch wieder aufwachen. Vielleicht wird aus ihm noch ein Paulus.« Ridgway ging auf Winifred zu und nahm sie in die Arme. Er küßte sie. Und sie sprach die Abschiedsworte, stieß ihn aus dem Weg und lief wieder auf den Kontrollhebel zu. »Schalte doch um Gottes willen das Ding ab!« schrie Ridgway.
Carrit hielt ihn zurück. »Laß sie in Ruhe, Art. Vielleicht kann ich das Programm ändern.« »Damit ich eine Marionette lieben kann? Oh, nein!« »Art, ich kenne Sheridans Arbeit. Er wird weiter arbeiten. Wir werden einen neuen DESS bauen. Wenn wir uns an die alten Baupläne halten, an die gleichen Programme, dann sollte es möglich sein –« »Geh hinunter und schalte sie ab.« »Siehst du nicht, was vor uns liegt, Art? Der Mensch ist an sich gut. Und die Maschine selbst ist nicht böse. Die Zukunft liegt in der Partnerschaft der beiden. Liegt in der lebenden Einheit, die halb Mensch, halb Maschine ist.« »Ich wünschte, du hast recht.« Ridgway sah Fred an. Er dachte an das kleine Zimmer mit der roten Lampe. Er ging. Er wollte nicht über die Zukunft sprechen. Noch nicht. »Ein Lebewesen – halb Mensch, halb Maschine«, sagte er. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Wenn es nur halb so gut ist wie DESS und Winifred, dann habe ich keine Angst.« Und er ging in die Stadt, in der die Menschen ihre Abzeichen wegwarfen und sich daranmachten, ihre eigene Welt aufzubauen – ohne die Hilfe mechanischer Hirne und Leiber.