DIE ANDERE BIBLIOTHEK Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger
Isaac Bashevis SINGER
WAHNSINNS GESCHICHTEN Aus dem...
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DIE ANDERE BIBLIOTHEK Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger
Isaac Bashevis SINGER
WAHNSINNS GESCHICHTEN Aus dem Amerikanischen von Ellen Otten
Verlegt bei Franz Greno Nördlingen 1986
Die Erzählung »Der Bart« wurde von Alma Singer übersetzt. Copyright © 1986 für diese Ausgabe bei Greno Verlagsgesellschaft m.b.H., Nördlingen. Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages, München, Wien. Ein ausführlicher Drucknachweis findet sich am Schluß des Bandes.
Wie es in New York so Der Kabbalist oft geschieht, hatte sich vom East Broadway die Gegend verändert. Aus den Synagogen waren Kirchen geworden, aus den Jeschiwas Restaurants oder Garagen. Hier und da konnte man noch ein jüdisches Altersheim finden, einen Laden, der hebräische Bücher verkaufte, und als Treffpunkt für die ›Landsleit‹ aus Dörfern in Rumänien oder Ungarn diente. Ich mußte mehrmals in der Woche in diese Gegend, weil die jiddische Zeitung, für die ich schrieb, dort noch immer ihre Redaktion hatte. In der Cafeteria an der Ecke konnte man früher jiddische Schriftsteller, Journalisten, Lehrer, Geldsammler für Israel und dergleichen Leute treffen. Damals gab es auch noch die vertrauten Gerichte : Blintzes, Borscht, Kräppelach, Leberhäckerle, Reispudding und Eierküchelach. Jetzt kamen dort hauptsächlich Neger und Puertoricaner hin. Die Stimmen waren anders, die Gerüche waren anders. Trotzdem ging ich noch immer gelegentlich in diese Cafeteria, zu einem schnellen Imbiß oder um eine Tasse Kaffee zu trinken. Jedesmal, wenn ich sie betrat, sah ich auf den ersten Blick einen Mann, ich will ihn Joel Jabloner nennen, einen alten jiddischen Schriftsteller, dessen Spezialität die Kabbala war. Er hatte Bücher veröffentlicht über den heiligen Isaak Luria, über Rabbi Moses Cordovero, den Baalschem und Rabbi Nachman aus Braclaw. Jabloner hatte einen Teil des ›Sohar‹ ins Jiddische über5
setzt. Er schrieb auch Hebräisch. Nach meiner Berechnung mußte er Anfang siebzig sein. Joel Jabloner, groß, mager, mit gelblichem, runzeligem Gesicht, hatte einen glänzenden, völlig kahlen Schädel, eine scharfe Nase, eingefallene Wangen, eine Kehle mit auffallendem Adamsapfel. Seine hervorstehenden Augen waren bernsteinfarben. Er trug einen schäbigen Anzug, und das nicht zugeknöpfte Hemd ließ das weiße Haar auf seiner Brust sehen. Jabloner hatte nie geheiratet. In seiner Jugend war er schwindsüchtig gewesen, und die Ärzte hatten ihn in ein Sanatorium nach Colorado geschickt. Dort war er, wie jemand mir erzählt hatte, gezwungen worden, Schweinefleisch zu essen und darüber schwermütig geworden. Ich hörte ihn selten ein Wort äußern. Wenn ich ihn begrüßte, nickte er kaum und wendete den Blick oft ab. Er lebte von ein paar Dollar, die ihm der jiddische Schriftstellerverband jede Woche auszahlte. In seiner Wohnung in der Broome Street gab es weder ein Bad, noch Telephon oder Zentralheizung. Er nahm weder Fisch noch Fleisch, nicht einmal Eier, und keine Milch zu sich – nur Brot, Gemüse und Obst. In der Cafeteria bestellte er immer eine Tasse schwarzen Kaffee und eine Portion Backpflaumen. So saß er stundenlang da, starrte die Drehtür an, den Kassierer oder die Wand, an die vor vielen Jahren einmal ein Plakatmaler den Markt in der Orchard Street mit seinen Schubkarren und Händlern gepinselt hatte. Jetzt blätterte die Farbe ab. 6
Der Vorsitzende des Schriftstellerverbands erzählte mir, daß zwar alle New Yorker Freunde und Bewunderer von Joel Jabloner gestorben waren, er aber im Lande Israel noch Verwandte und Schüler habe. Man hatte ihn oft eingeladen, sich dort niederzulassen. Man würde seine Bücher veröffentlichen, versprach man ihm (er hatte Koffer voller Manuskripte), man würde ihm eine Wohnung verschaffen und in jeder Weise für ihn sorgen. Jabloner hatte einen Neffen in Jerusalem, der Professor an der dortigen Universität war. Es gab noch immer einige zionistische Führer, die in Joel Jabloner ihren geistigen Vater sahen. Warum saß er dann hier am East Broadway, ein schweigsamer, vergessener Mann ? Der Schriftstellerverband würde ihm seine Pension nach Israel schikken, auch hätte er die Altersrente bekommen können, um die er sich aber nie gekümmert hatte. Hier in New York war schon einigemal bei ihm eingebrochen worden. Bei einem Straßenüberfall waren ihm die letzten drei Zähne ausgeschlagen worden. Eiserman, der Zahnarzt, der Shakespeares Sonette ins Jiddische übertragen hatte, erzählte mir, daß er Jabloner angeboten hätte, ihm ein Gebiß zu machen. Aber Jabloner hatte ihm geantwortet : »Es ist nur ein Schritt von falschen Zähnen zu einem falschen Gehirn.« »Ein großer Mann, aber merkwürdig«, sagte Eiserman zu mir, während er in meinen Zähnen bohrte und einige Plomben machte. »Oder vielleicht will er auf diese Weise für seine Sünden büßen. Ich habe 7
gehört, er soll in seiner Jugend Liebesaffairen gehabt haben.« »Jabloner und Liebesaffairen ?« »Jawohl, Liebesaffairen. Ich kannte selbst eine Hebräischlehrerin, Deborah Soltis, die war wahnsinnig verliebt in ihn. Sie war eine Patientin von mir. Sie starb vor etwa zehn Jahren.« Im Zusammenhang damit erzählte mir Eiserman eine merkwürdige Geschichte. Joel Jabloner und Deborah Soltis trafen einander über zwanzig Jahre lang, ergötzten sich an ausgedehnten Gesprächen, diskutierten hebräische Literatur, Feinheiten der Grammatik, Maimonides und Rabbi Juda Halevi, aber das Paar ging nie so weit, sich zu küssen. Am nächsten kamen sie dem noch, als sie gemeinsam die Bedeutung eines Wortes oder einer Redensart in Ben Jehudas großem Wörterbuch nachschlugen und ihre Köpfe sich versehentlich berührten. Jabloner war in einer übermütigen Laune und sagte : »Deborah, laß uns unsere Brillen austauschen.« »Wozu ?« fragte Deborah Soltis. »Nur so. Nur für ein Weilchen.« Die beiden Liebenden tauschten ihre Lesebrillen aus, aber er konnte nicht mit ihrer und sie nicht mit seiner lesen. So setzten sie sich wieder ihre eigenen Brillen auf die eigenen Nasen – und das war die intimste Berührung, zu der es zwischen den beiden je kam. Später ging ich nicht mehr zum East Broadway. Ich schickte meine Artikel mit der Post an die Redakti8
on. Ich vergaß Joel Jabloner. Ich wußte nicht einmal, ob er noch am Leben war. Und dann, eines Tages, als ich in Tel Aviv die Halle eines Hotels betrat, hörte ich Beifall aus einem angrenzenden Saal. Die Tür zu dem Saal war halb offen und ich schaute hinein. Da stand Joel Jabloner auf dem Podium und hielt einen Vortrag. Er trug einen Alpakka-Anzug, ein weißes Hemd, ein seidenes Käppchen, und sein Gesicht sah frisch, rosig und jung aus. Er hatte den ganzen Mund voller neuer Zähne und hatte sich ein weißes Ziegen-bärtchen wachsen lassen. Ich hatte gerade nichts besonderes zu tun, suchte mir einen freien Stuhl und setzte mich. Jabloner sprach nicht das moderne Hebräisch, sondern das alte biblische, in der Aussprache der aschkenasischen Juden. Wenn er gestikulierte, sah ich die glitzernden Manschettenknöpfe in seinen blütenweißen Manschetten. Ich hörte ihn sagen, in dem beim Studium des Talmud üblichen Singsang : »Wie konnte der Unendliche, der ja allen Raum ausfüllt, das Weltall erschaffen, da es doch, wie der ›Sohar‹ es ausdrückt, keinen Raum gibt, der von Ihm nicht erfüllt wäre.« Rabbi Chajim Vital gab die Antwort : »Vor der Schöpfung waren die Eigenschaften des Allmächtigen denkbar, aber nicht vorhanden. Wie könnte einer König sein ohne Untertanen, und wie kann es Gnade geben, ohne jemanden, sie zu empfangen ?« Jabloner strich sich über seinen Bart und blickte in seine Notizen. Ab und zu nahm er einen Schluck Tee aus einem Glas. Ich sah eine ganze Anzahl von Frau9
en, sogar junge Mädchen, unter den Zuhörern. Einige Studenten machten Notizen. Seltsam, da saß auch eine Nonne. Sie mußte Hebräisch verstehen. ›Der jüdische Staat hat Joel Jabloner wiederbelebt‹, sagte ich mir. Man hat selten Gelegenheit, sich über das Glück eines anderen zu freuen, und für mich war Joel Jabloners Triumph ein Symbol des Ewigen Juden. Jahrzehnte hatte er als einsamer, vernachlässigter Mann verbracht. Jetzt war er zu seinem Recht gekommen. Ich hörte den Vortrag weiter an, anschließend konnten Fragen gestellt werden. Es war unglaublich, der traurige Mann hatte wirklich Humor. Man sagte mir, der Vortrag sei von dem Komitee veranstaltet worden, das sich die Veröffentlichung von Jabloners Werk zur Aufgabe gemacht hatte. Eines der Mitglieder des Komitees kannte mich und fragte mich, ob ich an dem Bankett zu Ehren Jabloners teilnehmen wollte. »Da Sie Vegetarier sind«, fügte er hinzu, »haben Sie Glück. Es wird nur Gemüse, Früchte und Nüsse geben. Wann gibt es schon mal ein vegetarisches Bankett ? Einmal in einem ganzen Leben.« Zwischen dem Vortrag und dem Bankett ging Joel Jabloner auf die Terrasse, um sich auszuruhen. Es war ein heißer Tag gewesen, jetzt am Spätnachmittag kam eine Brise vom Meer. Ich ging auf ihn zu und sagte : »Sie erinnern sich nicht an mich, aber ich kenne Sie.« »Ich kenne Sie sehr gut. Ich habe alles gelesen, was Sie geschrieben haben«, erwiderte er. »Selbst hier versuche ich, Ihre Geschichten zu bekommen.« 10
»Wirklich ? Es ist eine große Ehre für mich, Sie das sagen zu hören.« »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er und zeigte auf einen Stuhl. Gott im Himmel, der schweigsame Mann war gesprächig geworden. Er fragte mich nach allem möglichen in Amerika, am East Broadway und über jiddische Literatur. Eine Frau kam auf uns zu. Über ihrem weißen Haar trug sie einen Turban, um die Schultern ein Satincape, und Männerschuhe mit niedrigen breiten Absätzen. Sie hatte einen großen Kopf, hohe Backenknochen, die Hautfarbe einer Zigeunerin, schwarze Augen, die vor Zorn glühten. Mit kräftiger, männlicher Stimme sagte sie zu mir : »Adoni, [mein Herr], mein Mann hat soeben einen anstrengenden Vortrag gehalten. Er muß noch bei dem Bankett sprechen, und ich möchte, daß er sich ein wenig ausruht. Seien Sie so freundlich, ihn in Ruhe zu lassen. Er ist kein junger Mann mehr und darf sich nicht zu sehr anstrengen.« »Oh, verzeihen Sie.« Jabloner runzelte die Stirn. »Abigail, dieser Herr ist ein jiddischer Schriftsteller und mein Freund.« »Er mag ein Schriftsteller und dein Freund sein, aber deine Kehle ist überanstrengt. Wenn du dich mit ihm streitest, wirst du nachher heiser sein.« »Abigail, wir streiten uns nicht.« »Adoni, bitte hören Sie auf mich ! Er kann nicht selber auf sich aufpassen.« 11
»Wir werden uns später unterhalten«, sagte ich. »Sie haben eine treu ergebene Frau.« »So sagt man mir.« Ich nahm an dem Bankett teil. Aß, was es gab, Nüsse, Mandeln, Avocados, Käse und Bananen. Jabloner hielt wieder einen Vortrag, diesmal über den Autor eines kabbalistischen Buches ›Abhandlung über die Chassidim‹. Seine Frau saß neben ihm auf dem Podium. Jedesmal, wenn seine Stimme heiser wurde, reichte sie ihm ein Glas mit weißer Flüssigkeit – eine Art Joghurt. Nach dem Vortrag, in dem Jabloner seine Gelehrsamkeit bewiesen hatte, verkündete der Vorsitzende, daß ein Assistent der Hebräischen Universität an einer Biographie von Jabloner arbeite, und daß für die Veröffentlichung des Buches gesammelt werde. Man rief den Autor auf das Podium. Er war ein junger Mann mit einem runden Gesicht, blitzenden Augen und dem winzigsten Käppchen, das in seine pomadisierten Haare überging. In seinen Schlußworten dankte Jabloner seinen alten Freunden, seinen Studenten, all denen, die zu seinen Ehren erschienen waren. Er dankte auch seiner Frau Abigail, ohne deren Hilfe seine Manuskripte nie in Ordnung gebracht worden wären. Er erwähnte auch ihren ersten Mann, den er ein Genie nannte, einen Heiligen, eine Säule der Weisheit. Aus einer riesigen Tasche, die einem Handkoffer ähnlicher war als einer Damenhandtasche, nahm Frau Jabloner ein rotes Taschentuch, wie sie früher von altmodischen Rabbi12
nern benutzt wurden, und schneuzte sich mit einem Geräusch, das durch den Saal hallte. »Möge er für uns Fürsprache einlegen vor dem Thron der Herrlichkeit !« rief sie aus. Nach dem Bankett ging ich zu Jabloner und sagte : »Wie oft, wenn ich Sie so ganz allein in der Cafeteria sitzen sah, wollte ich Sie fragen, warum Sie nicht nach Israel gehen. Warum haben Sie so lange gewartet ?« Er schwieg, schloß seine Augen, als ob die Frage Überlegung verlangte, und zuckte die Achseln. »Der Mensch lebt nicht nach den Regeln der Vernunft.« Wieder vergingen einige Jahre. Der Setzer der Zeitung, für die ich arbeitete, hatte eine Seite meines letzten Artikels verloren, und da dieser am nächsten Tage – Samstag – erscheinen sollte, war keine Zeit, den Durchschlag mit der Post zu schicken. Ich nahm ein Taxi und fuhr direkt in die Setzerei. Ich gab die fehlende Seite dem Setzer und ging dann in die Redaktion, um mit dem Redakteur und ein paar alten Kollegen zu sprechen. Es war ein Wintertag, es wurde früh dunkel. Als ich wieder auf die Straße trat, spürte ich nach langer Zeit wieder einmal das geschäftige Hin und Her des nahenden Sabbats. Obwohl die Gegend nicht mehr vorwiegend jüdisch war, waren einige Synagogen, Jeschiwas und chassidische Lehrhäuser trotzdem geblieben. Hier und da sah ich durch ein Fenster eine Frau die Sabbatkerzen anzünden. Männer in breitkrempigen Velvet- oder Pelz13
hüten gingen zum Gebet, begleitet von Knaben mit langen Schläfenlocken. Die Worte meines Vaters fielen mir ein : »Der Allmächtige will immer sein Quorum haben.« Ich erinnerte mich an die liturgischen Gesänge vom Sabbatbeginn : »Lasset uns jauchzen«, »Komm, mein Freund«, »Der Palast des Königs«. Ich hatte es jetzt nicht mehr eilig, und ich entschloß mich, in der Cafeteria eine Tasse Kaffee zu trinken, ehe ich mit der Untergrundbahn nachhause fuhr. Ich stieß die Drehtüre an. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß sich nichts geändert hätte, und dachte, ich hörte noch jene Stimmen meiner ersten Jahre in Amerika : die Cafeteria war voller Intellektueller aus der Alten Welt, die laut ihre Ansichten über Zionismus, jüdischen Sozialismus, Leben und Kultur in Amerika äußerten. Aber die Gesichter waren mir nicht mehr vertraut. Spanisch war die Sprache, die ich hörte. Die Wände waren übermalt worden, die Szenen vom Orchard Street Markt mit seinen Schubkarren und Händlern waren verschwunden. Plötzlich sah ich etwas, das ich nicht glauben konnte. An einem Tisch in der Mitte des Raumes saß Joel Jabloner – ohne Bart, in einem schäbigen Anzug und einem nicht zugeknöpft ten Hemd. Er war abgemagert, runzelig, ungekämmt, sein Mund schien wieder eingefallen und leer. Seine hervorstehenden Augen starrten auf die leere Wand gegenüber. Irrte ich mich ? Nein, es war wirklich Jabloner. Sein Gesichtsausdruck zeigte etwas von der Verzweiflung eines Men14
schen, der in einem unlösbaren Dilemma gefangen ist. Ich blieb stehen, mit der Kaffeetasse in der Hand. Sollte ich ihn begrüßen, ihn bitten, mich an seinen Tisch setzen zu dürfen ? Jemand stieß mich an, und ich verschüttete die Hälfte des Kaffees. Der Löffel fiel klirrend zu Boden. Jabloner drehte sich um, und eine Sekunde lang begegneten sich unsere Augen. Ich nickte ihm zu, aber er erwiderte den Gruß nicht. Dann wandte er sich ab. Ja, er hatte mich erkannt, hatte aber keine Lust zu einer Unterhaltung. Ich bildete mir sogar ein, daß er eine abwehrende Kopfbewegung gemacht hatte. Ich suchte einen Tisch an der Wand und setzte mich. Ich fing an, den Rest meines Kaffees zu trinken, während ich Jabloner von der Seite her aufmerksam betrachtete. Warum hatte er Israel verlassen ? Hatte er sich dort nach etwas in New York gesehnt ? Lief er vor jemandem davon ? Ich hatte das Verlangen, zu ihm zu gehen und ihn zu fragen, aber ich wußte, ich würde nichts aus ihm herausbekommen. Eine Macht, die stärker war als der Mensch und seine Berechnungen, hatte ihn aus dem Paradies vertrieben, zurück in die Hölle, folgerte ich. Er ging offensichtlich auch nicht einmal zu dem Freitagabendgottesdienst. Er war nicht nur den Menschen, sondern auch dem Sabbat feindlich gesinnt. Ich trank meinen Kaffee aus und ging. Einige Wochen später las ich unter den Todesanzeigen, daß Joel Jabloner gestorben war. Er war irgend15
wo in Brooklyn begraben worden. In dieser Nacht lag ich bis drei Uhr wach und dachte über ihn nach. Warum war er zurückgekommen ? Hatte er die Sünden seiner Jugend nicht abgebüßt ? Fand seine Rückkehr zum East Broadway möglicherweise eine Erklärung in den Lehren der Kabbala ? Hatten sich vielleicht einige heilige Funken aus der Welt der Offenbarung in die Heerscharen des Bösen verirrt ? Und war es möglich, daß sie nur in dieser Cafeteria gefunden und an den Ort ihres heiligen Ursprungs zurückgebracht werden konnten ? Ein anderer Gedanke kam mir – vielleicht wollte er in der Nähe der Lehrerin liegen, mit der er die Brillen getauscht hatte ? Ich erinnerte mich der letzten Worte, die ich von ihm gehört hatte : »Der Mensch lebt nicht nach den Regeln der Vernunft.«
Ich saß im Café Royal mit Max Peschkin – so Eigentum werde ich ihn hier nennen. Ich war jung und gerade erst aus Polen gekommen : er war ein ehemaliger Anarchist, dessen Erinnerungen eben in drei Bänden erschienen waren. In den dreißiger Jahren hatte der Anarchismus in den Vereinigten Staaten schon ausgespielt (das war Peschkins eigener Ausdruck), aber es gab noch Reste der alten Gruppe, und die veröffentlichte eine jiddische Zeitschrift. Max Peschkin hatte mich zum Lunch eingeladen und mir seine Bücher als Geschenk mitgebracht. Er war klein, hatte milchweißes Haar, ein rundes rotes Gesicht und Augen, die noch keineswegs müde waren. Wir aßen Zwiebelbrötchen mit saurer Sahne, tranken Kaffee im Glas und Peschkin sagte : »Was es früher hier einmal gab, das ist vorbei. Unsere Sozialisten sind mächtig abgekühlt. Sie gebrauchen zwar noch die alten Phrasen, aber es steckt nichts mehr dahinter. Und was unsere Kommunisten angeht, die lesen jeden Morgen das Rote Blatt und wiederholen es wie Bibelworte. Gestern war Bucharin ein großer Führer ; heute ist er ein Verräter. Und stünde in ihrem Blatt, daß Stalin ein Feind des Volkes sei und ein toller Hund, würden sie auch das wiederholen. Die Anarchisten waren anders. Der Anarchismus zog immer Leute mit eigener Persönlichkeit an – noch die Unwissenden unter ihnen hatten eine Art Unabhän17
gigkeit. Als ich in den frühen neunziger Jahren nach Amerika kam, ging es mit dem aktiven Anarchismus schon bergab, obwohl noch immer über die Protestversammlung im Haymarket in Chicago gesprochen wurde und auch über die Vier, die man aufgehängt hatte : Spies, Parsons, Fischer und Engel. Die Marxisten hatten die Führung übernommen. Aber in der jiddischen Gegend an der Lower East Side blühte der Anarchismus noch. Nicht alle von uns wollten darauf warten, bis der Konzentrationsprozeß des Kapitals abgeschlossen war und Kautsky oder de Leon das Zeichen gab, daß die Stunde der Revolution gekommen sei. Es ist richtig, wir hatten keine bedeutenden Theoretiker oder Führer in New York, aber wir bekamen Schriften aus London, wo Kropotkin König war. Außerdem kamen Besucher aus Rußland und Deutschland, manchmal sogar aus Spanien. Unsere Versammlungen waren immer überfüllt. Die meisten der russischen Delegierten sprachen jiddisch. Wir waren so verblendet zu glauben, daß wenn ein paar Bomben explodieren würden, die Massen, wie ein Mann aufstehen und alle Regierungen abschaffen würden. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Anarchismus ein Name für viele verschiedene Theorien und Bewegungen ist. Zwischen Proudhon und Bakunin besteht ein großer Unterschied. Und was Stirner angeht, der ist ein Kapitel für sich. Ehe ich nach Amerika kam, war ich Student. Ich las alle Theoretiker – erst in 18
Rußland, dann in England. Aber hier, in der Lower East Side, konnten die meisten unserer Leute nicht einen vom anderen unterscheiden. Sie waren gefühlsmäßige Anarchisten. Sie pflegten zu sagen : ›Laßt uns erst einmal die Tyrannen loswerden, dann geschieht schon etwas.‹ Alexander Berkman saß im Gefängnis und war schon halb vergessen, aber Emma Goldman und ihre Predigten über die freie Liebe machten riesigen Eindruck – besonders auf die Frauen. Wenn Sie meine Erinnerungen lesen, werden Sie die Namen von Maurice und Libby finden. Ich konnte nicht alles schreiben, was ich über die beiden weiß, weil noch Leute leben, die sie gekannt haben und die sie wiedererkennen würden, selbst mit veränderten Namen. Hinzu kommt, daß nur ein Romanschriftsteller dieser Geschichte gerecht werden könnte. Vielleicht interessiert es Sie. Wenn Sie Zeit haben und nichts Besseres zu tun, würde ich sie Ihnen gern erzählen.« »Ich habe Zeit und auch nichts Besseres zu tun«, versicherte ich ihm. »Gut. In fünfzig Jahren wird man nichts mehr von all dem wissen. Sie sind aber noch ein junger Mann. Wie alt sind Sie ? Noch nicht fünfunddreißig ? Ich hielt Sie für älter.« »Im Juli werde ich dreiunddreißig.« »Nu, da sind Sie noch ein Säugling. Maurice lernte ich etwa 1893 kennen, vielleicht war es auch 94 oder 95. Hier in den Vereinigten Staaten redeten die Anar19
chisten damals nur, aber in Rußland ging es wild zu. Da gab es ein Dutzend verschiedener Gruppen : ›Die schwarze Fahne‹, ›Brot und Freiheit‹, ›Anarchie‹, ›Die Motivlosen‹. Die bemerkenswerteste Gruppe von allen war die letztere, die behauptete, der Mensch dürfe töten, rauben, Feuer legen, ohne jedes Motiv, nur um der staatlichen Autorität zu trotzen. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber sie warfen eine Bombe in das Hotel Bristol in Warschau. Sie waren damals wahrscheinlich noch nicht auf der Welt. In Odessa jagten sie ein Schiff in die Luft. In Bialystok wurde eine Führerin des ›Bunds‹, Esther Riskin, von einer ihrer Bomben getötet. Später hörten wir, eine Anzahl dieser Anarchisten seien gewöhnliche Banditen geworden – vielleicht waren sie es von Anfang an. Maurice war ein kleiner Mann mit schwarzen Augen und langem, lockigem Haar. Er trug auch einen Bart – einen winzigen. Er sprach immer auf unseren Versammlungen. Ich geniere mich, es zu gestehen, aber von allem, was wir anstellten, waren unsere berüchtigten Jom Kippur Bälle das wichtigste Ereignis. Es galt unter Atheisten als ›mizwa‹, als Vorschrift, ausgerechnet am Jom Kippur, dem höchsten Feiertag, einen Ball zu veranstalten, nicht koscher zu essen, mit Vorliebe sogar Schweinefleisch, und damit den Allmächtigen zu ärgern. Maurice war die Seele dieser Veranstaltungen – nicht als Tänzer, sondern als Propagandist. Was er für seinen Lebensunterhalt tat ? Nichts, so viel ich weiß. Seine Frau Libby war 20
der Verdiener. Sie nähte Damenblusen für die Konfektion. Ich glaube, sie nähte auch Herrenhemden. Obwohl ich selbst noch ein Neuling war, unterrichtete ich Ausländer in Englisch, in einem Bildungsverein. Ich suchte damals gerade ein Zimmer. Wo ich wohnte, war es schrecklich schmutzig. Das Essen war unbeschreiblich. Irgend jemand erzählte mir, Maurice habe ein Zimmer zu vermieten. Er war ein komischer Typ. Er trug immer eine Pelerine, einen schwarzen, breitrandigen Hut und einen flatternden Schlips. Obgleich er klein und zart war, hielt er feurige Reden. Für gewöhnlich hatte er eine sanfte Stimme, aber wenn er das Thema ›Kapitalismus‹ anschnitt, dann wurde sie schrill. Er griff die Anarchisten, die sich nur mit Propaganda beschäftigten, heftig an. Er glaubte nur an Terror. Seine Frau kam meistens mit und hörte ihm zu, aber ich glaube, sie nahm ihn nicht sehr ernst. Sie war kaum größer als er, dunkel, anziehend. Sie trug langes Haar, in einem Knoten aufgesteckt, nicht kurz geschnitten wie die Anarchistinnen. Wenn sie lächelte, erschien ein Grübchen in ihrer linken Wange. Oft trug sie einen Faltenrock und eine Bluse mit hohem Kragen. Maurice wetterte gegen Rockefeller, und sie saß auf einer Bank hinten im Raum und gähnte. Manchmal brachte sie auch ihr Strickzeug mit. Eines Abends ging ich nach seiner Rede zu ihm und fragte, ob es wahr sei, daß er ein Zimmer zu vermieten hätte. Er schien erfreut und rief Libby. Sie er21
zählte mir von ihrer großen Wohnung in der Attorney Street und sagte, daß sie sehr gerne jemanden aus ihrem Kreis als Untermieter nehmen würde. Damals war es eine Kleinigkeit für mich, umzuziehen. Ich mußte nur meinen Koffer packen und ihn von der Rivington Street nach der Attorney Street tragen. Das Haus, in dem sie lebten, war in einer Gegend, die man heute heruntergekommen nennen würde, die Wohnung lag im dritten Stock, es gab keinen Aufzug. Die Toilette war in der Diele, wer ein Bad nehmen wollte, mußte zum Barbier gehen, der auch der Bademeister war. Mein Zimmer war klein, das Fenster ging auf die Straße, und die Einrichtung bestand aus einem eisernen Bettgestell. Was brauchte ich mehr ? Wo ich vorher gewesen war, schliefen wir zu dritt in einem Alkoven. Über der Tür zum Wohnzimmer hing ein Schild ›Eigentum ist Diebstahl‹ ein Satz von Proudhon. Bilder von Godwin, Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Johann Most hingen an den Wänden, und, natürlich, auch die Märtyrer von Chicago. Vielleicht hätte Maurice auch Stirner noch aufgehängt, aber es gab kein Bild von ihm. Sozialistische und anarchistische Broschüren füllten ein Bücherregal. Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich ein überzeugter Anhänger von Stirner war. Ich hatte nicht nur Stirner, sondern auch Feuerbach gelesen, dessen Schüler Stirner gewesen war, ehe er sich gegen ihn auflehnte. Mein Ideal war eine ›Gemeinschaft von Einzigen‹. Ich wollte der vollendete 22
Einzige‹ werden – eine ›Weltgeschichte in mir selbst‹, ich war bereit ›mir und dem, was mein ist‹ zu dienen. Das waren Stirnersche Sätze. Für Proudhon war Eigentum böse, für Stirner war es das Wesentliche des Humanismus. Was wirkliche Toleranz bedeutete, wußte keiner von uns. Da ich mit dem Slogan über der Tür nicht übereinstimmte, begann ich sofort, mit Maurice zu debattieren. Und das wollte er gerade. Er war immer bereit, zu argumentieren. Ich zitierte Stirner und er Proudhon. Ich hatte nur das Zimmer gemietet, ohne Essen, aber Libby machte auch für mich Abendessen. Wir saßen zu Dritt am Tisch und Maurice zog gegen das Eigentum zu Felde und gegen Alles, was damit zu tun hatte. Er sah voraus, daß nach der Revolution Worte wie ›mein‹ und ›dein‹ aus dem Wörterbuch verschwinden würden. Ich fragte ihn : ›Wie willst du dann einem Mann die gute Nachricht überbringen, daß seine Frau ihm einen Sohn geboren hat ?‹ Und Maurice schrie : ›Die ganze Einrichtung der Ehe wird verschwinden ! Sie ist auf der Sklaverei aufgebaut. Welches Recht hat ein Mensch auf den anderen ?‹ Er regte sich so auf, daß er fast den Tisch umwarf. Libby sagte zu ihm : ›Dein Teller – ich meine, unser Teller – wird gleich hinfallen, und unser Magen wird leer bleiben. Außerdem werden wir auch noch Flecke auf unsere Hosen machen.‹ Ich lachte, die Frau hatte wirklich Humor. Aber Maurice blieb todernst. Er brüllte : ›Du machst noch Witze, was ? Alle Ungerechtigkeit, alles Böse kommt 23
vom Eigentum. Warum springen sich die Imperialisten gegenseitig an die Gurgel ? Worauf beruht alle Ausbeutung ?‹ In seiner Wut griff er auch Stirner an : ›Was ist das für ein Widerspruch‹ – ›eine Gemeinschaft von Einzigen‹. Ich sagte : ›Und wie steht es mit der Liebe ? Wenn ein Mann eine Frau liebt, dann will er sie für sich und nicht für andere.‹ ›Eifersucht ist kein natürliches Gefühl‹, antwortete Maurice. ›Eifersucht ist ein Produkt des Feudalismus und des Kapitalismus. Im Altertum, als die Menschen noch in Gemeinschaften lebten, gehörten alle Kinder der Gemeinschaft.‹ ›Woher weißt du das‹, fragte Libby. ›Warst du dabei ?‹, und Maurice sagte : ›Das ist eine feststehende Tatsache.‹ Er erwähnte Buckle oder irgendeinen anderen Historiker. Wir diskutierten bis ein Uhr früh. Währenddessen wusch Libby ab. Sie öffnete die Küchentüre und sagte : ›Ich bin todmüde. Könnt ihr nicht morgen weiter diskutieren ? Die Probleme halten sich.‹ Maurice war so aufgeregt, er antwortete ihr nicht einmal. Sie sagte : ›Wie Ihr wollt, ich gehe schlafen.‹ Dann wandte sie sich an mich : ›Dein Bett – ich meine, unser Bett – ist gemachte« »Wurde sie Ihre Geliebte ?« fragte ich. Max Peschkin hob die Augenbrauen. »Sie besitzen eine starke Intuition, ohne Zweifel. Aber nicht so eilig. Geduld.« »Ich habe vergessen, Ihnen zu erzählen, daß ich nach dem Abendessen eine kleine Auseinandersetzung mit Libby hatte. Ich fragte sie nach dem Preis 24
des Essens, und sie war beleidigt. ›Ich bin nicht deine Köchin‹, sagte sie. ›Ich habe dich als einen Freund eingeladene Am nächsten Morgen sagte ich nach dem Frühstück : ›Einmal kann man eingeladen werden, aber dauernd umsonst zu essen, das geht wirklich nicht.‹ Ich verdiente fünf Dollar in der Woche, und das war damals ein anständiges Gehalt. Ich sagte ihr, daß ich nicht mehr bei ihnen essen würde, bis wir uns über die Kosten geeinigt hätten. Nach einigem Hin und Her fiel die Entscheidung : ich durfte die Unkosten bezahlen. Nach wenigen Tagen waren wir wie alte Freunde. Ich ging für sie auf den Markt in der Orchard Street und kaufte billig ein. Ich schleppte ihre Pakete zu und von den Geschäften, für die sie arbeitete. Sie sprach Russisch und Polnisch recht fließend, aber ihr Englisch war schlecht und ich bot an, ihr Privatstunden zu geben. Jetzt wollte sie mich bezahlen, und wir stritten uns wieder. Wir alle waren damals jung, wußten es aber nicht. Da ich von Natur aus eifersüchtig bin, konnte ich mir nie vorstellen, daß andere es nicht sind. Ich bemühte mich, Maurice nicht eifersüchtig zu machen. Aber er schien sehr zufrieden, daß Libby und ich uns angefreundet hatten. Einmal wollte ich spazieren gehen, und er schlug vor, Libby sollte mich begleiten. Libby errötete und sagte : ›Was soll das ? Vielleicht will er lieber alleine gehen.‹ ›Unsinn‹, sagte Maurice, ›es ist viel netter zu zweit.‹ Ein anderes Mal hatte ich zwei Karten für das Jiddische Theater, und er schlug mir 25
vor, Libby mitzunehmen. ›Sie sitzt den ganzen Tag an der Nähmaschine‹, sagte er. ›Sie soll sich auch einmal vergnügen.‹ Ich nahm sie mit in das Theater, und wir sahen Jacob Adler – den Großen Adler, wie man ihn nannte – in einem Melodrama von Gordin. Dann gingen wir in die Grand Street, um Knisches zu essen. Die Straßen waren voll mit Leuten, die die jiddische Zeitung vom nächsten Morgen kauften und sich über die Leitartikel und die Theaterstücke, die in der Second Avenue gespielt wurden, unterhielten. Wir kamen spät nachhause ; Maurice strahlte vor Entzükken. Er arbeitete an einer Rede über den Güteraustausch in einer freien Gesellschaft. Ehe Libby zu Bett ging, sagte sie zu mir : ›Vielen Dank für den Abend.‹ ›Sich bedanken ist nicht genug‹, sagte Maurice. ›Was soll ich tun – ihm zu Füßen fallen ?‹ Und Maurice sagte : ›Er hat zumindest einen Kuß verdiente ›Man hat mich nicht so erzogen, daß ich fremde Männer küsse‹, sagte Libby, ›aber wenn du es befiehlst, so will ich es tun‹. Sie kam zu mir, legte beide Hände an meine Wangen, und küßte mich auf den Mund. Ich muß Ihnen dazu sagen, daß ich damals noch eine Jungfrau war. Ich hatte schon kleine Liebeleien gehabt, aber sie waren alle romantisch und platonisch gewesen. In der Attorney Street, gleich gegenüber unserem Haus, war ein Bordell, aber diese Frauen waren mir widerlich. Außerdem, wie kann ein Idealist sich mit weißer Sklaverei abgeben ? Das war eine kapitalistische Einrichtung, ein Sport für die Morgan & Co. 26
An diesem Abend war Maurice müde und ging gleichzeitig mit Libby zu Bett. In meinem Zimmer brannte eine Gaslampe. Es war schon einige Male passiert, daß ich eingeschlafen war, ohne das Licht zu löschen. Die Tür öffnete sich, und Libby erschien in Nachthemd und Hausschuhen. Ihr Haar hing lose bis auf die Schultern. Sie sagte : ›Wenn du nicht mehr lesen willst, mache ich das Licht aus. Es ist schade, Gas zu verschwenden.‹ Und sie lächelte und blinzelte mir zu. Mehr als vierzig Jahre sind seit diesem Abend vergangen, aber mir ist, als sei es erst gestern gewesen. Damals schlief ich sofort ein, wenn ich nur den Kopf auf das Kissen legte. Aber in dieser Nacht war ich zu unruhig zum Schlafen. Libbys Kuß hatte mich erregt – nicht einmal so sehr der Kuß, wie die Art, auf die sie mein Gesicht gehalten hatte. Ihre Hände waren warm gewesen, fast heiß. Trotzdem schlief ich nach einer Weile ein. Es war Winter, und die Nächte waren lang. Ich wachte auf und wußte nicht, hatte ich eine Stunde geschlafen oder sechs. Es war nicht ganz dunkel im Raum, der Schein einer Straßenlaterne fiel herein. Plötzlich sah ich Libby. Sie stand an meinem Bett. Obgleich ich mich für einen Freidenker hielt, glaubte ich doch ein paar Sekunden lang, daß sie eine jener Teufelinnen sei, eine der Lilith-Geister, die Talmudschüler zur Sünde verlok-ken. Ich sagte : ›Libby ?‹ Sie beugte sich über mich und in ihrem Flüstern lag sowohl Leidenschaft 27
wie Spott : ›Laß mich in dein Bett, mir ist kalt.‹ Ich starb fast vor Angst. Meine Zähne klapperten. ›Wo ist Maurice ?‹ fragte ich. ›Er hat es mir erlaubt‹, sagte sie. ›Er will keinerlei Eigentum besitzen.‹ Würde mir so etwas heute zustoßen, bekäme ich wahrscheinlich einen Herzanfall, aber damals war ich dreiundzwanzig und mein Blut kochte. Ich vergaß alle Verbote. Vor einiger Zeit las ich, daß ein Mann, den man gezwungen hatte, vierzig Tage zu fasten, eine Ratte aß. Es gibt eine Form des Hungers, die alle anderen Gefühle abtötet. Erst als sie mich nach einer halben Stunde verließ, wurde mir klar, was wir getan hatten. Aber ich war so erschöpft, ich konnte nicht wach bleiben. Am nächsten Morgen frühstückten wir alle Drei wie gewöhnlich, und Maurice schien etwas feierlich, fast glücklich. Er sagte : ›Ich kann nicht eine Sache predigen und das Gegenteil davon tun. Unter uns herrscht Brüderlichkeit.‹ Damals wußten wir noch nicht, was wir heute wissen. Aber ich hatte Forel gelesen, vielleicht war es auch Krafft-Ebing – genau weiß ich es nicht mehr – und ich wußte, es war nicht reiner Altruismus. Es gibt Männer, und auch Frauen, die den Drang haben, alles zu teilen. Ich war ein Glückspilz ; ich hatte alles in einem – ein Zimmer, Essen und eine Geliebte. Maurice wurde ganz überwältigend freundschaftlich. Er lobte mich über den grünen Klee. Er küßte mich sogar. Hielt er eine Rede, so mußte ich mit Libby in der ersten Reihe sitzen. Und 28
immer fand er Gelegenheit, mich zu zitieren. Er war bereit, mir alles zuzugestehen, nur nicht Stirner. Er kritisierte ihn immer noch erbarmungslos. Zu jener Zeit war Stirner noch nicht ins Jiddische übersetzt, und unsere Genossen wußten wenig von ihm. Aber Maurice griff ihn bei jeder Gelegenheit an. Tatsächlich war er es, der Stirner in der Lower East Side bekannt machte. Zwei Jahre vergingen, und sie schienen meine glücklichsten Jahre. Bald brachte ich meine Lohntüte Libby – the paydy, wie es in unserem amerikanisierten Jiddisch hieß –, und sie vollbrachte Großes mit diesen fünf Dollar. Ich glaube, ich bekam sogar eine Gehaltserhöhung. Sie gab mir Essen, kaufte meine Kleider und verwöhnte mich. Es gibt keine Geheimnisse. Die Lower East Side ist wie ein Dorf. Außerdem verheimlichte Maurice unsere Liebschaft nicht. Er prahlte sogar damit. Unsere Genossen unterhielten sich darüber. Alle stellten die gleiche Frage : was wird werden, wenn ein Kind kommt ? Aber wir paßten schon auf, daß keines kam. Nach einiger Zeit wurde alles Routine, und ich bemerkte, daß Libby nicht mehr so feurig war. Die Leute in der Attorney Street fingen an, schlecht über uns zu reden. Libbys ›Landsleit‹ schrieben an ihre Verwandten in der Heimat und berichteten von unserem schändlichen Treiben. Man drohte uns sogar mit Deportation. Wir planten, in den Westen zu ziehen. Irgendwo im Staate Oregon sollte es noch Reste der 29
frühen Kommunen geben, die Sozialisten und Utopisten gegründet hatten. Sie brachen allerdings auseinander, weil jedes Mitglied nicht nur seine eigenen Ideen darüber hatte, wie die Menschheit zu befreien sei, sondern auch, wie Heu zu stapeln und Kühe zu melken seien. Viele der Mitglieder wurden faul und wollten nicht arbeiten. Einige wurden verrückt. Wie wir mitten drin waren in all dem, gab es eine Sensation : ein russischer Revolutionär, der zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden war, aber fliehen konnte, hatte nach vielen Wochen oder Monaten des Umherirrens durch Wälder und Tundren Amerika erreicht. Er hatte sich zum Pazifik durchgeschlagen und soll als blinder Passagier auf einem Frachter in San Francisco gelandet sein. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe vergessen, wie er hieß. War es Baruschkin ? Oder Kaluschin ? Nein, auch nicht. Das ist das Schlimme im Alter – man vergißt Namen. Ich erwähne ihn in meinen Erinnerungen. Aber es stellte sich bald heraus, daß er kein Revolutionär war, sondern ein verbrecherischer Lügner, ein Scharlatan. Er war nicht als Bombenwerfer verurteilt worden, wie man uns erzählt hatte, sondern wegen Diebstahls. Aber das heißt, das Pferd am Schwanz aufzäumen. Wir glaubten damals, eine Hauptstütze der russischen Revolution besuchte New York und daß er seinen wahren Namen nur deshalb nicht preisgab, weil er vorhatte, nach Rußland zurückzukehren. In der jiddischen Presse erschien eine Notiz, er wer30
de in einem der größten Säle der südlichen Stadt sprechen. Man hörte sogar, er sei ein rebellischer Sohn russischer Aristokraten. Alles gelogen. Nur etwas war richtig : er war ein Großrusse, kein Jude, ein Riesenkerl, blond, blauäugig, und er sprach echtes Russisch. Bei unseren Genossen galt das als Zeichen der Vornehmheit. So viele der Besucher aus Rußland waren unsere eigenen Brüder gewesen – klein und dunkel –, und sie alle sprachen Russisch mit einem Akzent. Man hatte so viel Reklame gemacht, daß viele hundert Getreue, die gekommen waren, ihn zu hören, keinen Einlaß fanden. Sie blieben draußen – ich unter ihnen. Ich kam spät. Maurice sollte ihn einführen, und Libby saß ganz vorne. Natürlich konnte ich nicht hören, was Maurice sagte, aber der Mann aus Moskau hatte die Stimme eines Löwen. Ich kann mich erinnern, daß ich, nachdem er zehn Minuten gesprochen hatte, zu einem Nachbarn sagte : ›Wenn der ein Revolutionär ist, will ich ein Tatar sein.‹ Man könnte einen ganzen Roman über die Sache schreiben, aber ich will mich an die Tatsachen halten : Libby verliebte sich in ihn. Sie hat es mir später selbst gesagt : sie warf nur einen Blick auf ihn und sie wußte, ihr Schicksal war besiegelt. Es ist seltsam, ich kann mich genau daran erinnern, wie unsere Affaire begann, aber wie sie endete, habe ich vergessen. Ich glaube, ich schlief in dieser Nacht überhaupt nicht in Maurices Wohnung. Es kann sein, daß Maurice den Mann aus Moskau mit nachhause 31
genommen hatte nach dem Vortrag, und daß ich woanders hingehen mußte. Es kam alles so plötzlich. An einem Tag hatte ich alles bei Maurice – und am nächsten Tag mußte ich packen und fortgehen. Sie waren beide vernarrt in ihn, Maurice und Libby – Maurice sogar noch mehr als sie. Jetzt, wo es einen Freud gibt, wissen wir wenigstens, wie man so ein Verhalten nennt. So ist der Mensch, kaum hat er einen Namen für eine Sache, schon ist sie kein Rätsel mehr. Aber damals hatten wir noch keine Namen dafür. Selbst wenn man sie hatte, ich wußte nichts davon. Ich erinnere mich, meinen Koffer den East Broadway entlanggeschleppt zu haben und alle paar Schritte stehen geblieben zu sein. Ich war aus dem Paradies vertrieben worden, ohne meine Sünde zu kennen. Nach einigen Monaten wurde der Schwindler entlarvt. Es kamen Briefe aus Rußland, die alle seine Behauptungen bestritten. Zu jener Zeit war ich schon aufgewacht. Ich begriff, daß Leute wie Maurice Heldenverehrer sind. Und in ihrem Zusammenleben war Libby auch so geworden. Jetzt, da sie mich so leicht gegen irgendjemand anderen auswechseln konnten, erkannte ich, daß unsere Beziehung von Anfang an keinen wirklichen Gehalt gehabt hatte. Bei einem so verdrehten Paar zu leben, konnte einem jungen Mann nicht guttun. Es dauerte nicht lange, und ich traf die Frau, die ich heiratete und die die Mutter meiner Kinder wurde. Sie starb vor einiger Zeit. Was aus Libby und Maurice wurde ? Sie ließen sich 32
scheiden. Himmel und Erde verbünden sich, damit solche Dinge nicht von Dauer sind. Libby heiratete einen älteren Mann, einen Apotheker. Maurice ging, wenn ich mich nicht irre, nach Oregon, wo er so lange blieb, bis die Kolonie sich auflöste. Er kehrte mit einer häßlichen Frau zurück, die älter war als er. Sowohl Libby wie er zogen sich völlig von der Bewegung zurück. Viele Jahre später traf ich ihn in Miami Beach. Ich suchte damals eine Wohnung mit allem Komfort, und man hatte mir ein Haus in der Meridian Avenue empfohlen. Ich trat in die Halle und sah Maurice. Er war der Besitzer. Eine Mieterin zankte sich gerade mit ihm, weil sie kein heißes Wasser hatte. Er war dick geworden und wabbelig, trug nach der Mode von Miami Beach Shorts und ein rosageblümtes Hemd. Er war auch kahl geworden. Ich wartete ein Weilchen und hörte zu, dann trat ich näher und sagte : »Maurice, mein Lieber, ›Eigentum ist Diebstahl‹.« Er umarmte mich und weinte wie ein Kind. Er hatte sich von seiner zweiten Frau scheiden lassen und wieder geheiratet. Er bot mir eine Wohnung zu einem Spottpreis an. Seine Frau prahlte, ihre Kräppelach seien weltberühmt. Mir stand der Sinn nicht nach Scherzen. Außerdem war seine dritte Frau noch häßlicher als die zweite. Beide sind tot.« »Was wurde aus Libby ?« fragte ich. Max Peschkin schloß die Augen. »Auch sie ist schon in einer Welt, wie wir sie alle hier auf Erden zu verwirklichen suchten – einer besseren Welt.«
Man sagt, dauerndes Herumhetzen sei eine Die Aktentasche typisch amerikanische Krankheit. Obwohl ich kein gebürtiger Amerikaner bin, so bin ich doch ein Opfer dieser Krankheit. Manchmal bin ich in einer solchen Hetze, daß ich mich anstrengen muß, mich daran zu erinnern, daß ich Kohn heiße. Ich bin immer in Eile, selbst wenn ich schlafe. In jenem Winter arbeitete ich an einer Zeitung, schrieb Bücher, ging auf Vortragsreisen, und nahm eine Gastprofessur an einer Universität im Mittleren Westen an, wo ich Vorlesungen über moderne Literatur halten sollte. Obwohl ich nur jede zweite Woche zwei Tage dort sein mußte, nahm, ich mir eine Wohnung und ließ ein Telephon legen. Die Universität stellte mir ein Büro zur Verfügung und dort gab es auch ein Telephon. Die Telephone läuteten dauernd ; jedesmal, wenn ich eine der Türen öffnete, begrüßte mich das Geklingel. Professoren wollten mich kennenlernen, ihre Frauen luden mich zum Lunch oder Abendessen ein, Studenten brachten ihre Arbeiten zum Durchsehen, ältere Semester der Journalistik wollten Interviews, Mitglieder der lokalen jüdischen Gemeinde baten mich, in ihrem Gemeindehaus einen Vortrag zu halten. Da ich nicht nein sagen kann, sagte ich zu allem ja. Mein kleines Notizbuch war so überfüllt mit Telephonnummern und Adressen, daß ich meine eigene 35
Handschrift kaum entziffern konnte. Ich hatte eine Wohnung in Manhattan und ein Büro bei der Zeitung, infolgedessen erhielt ich Post und Bücher an vier verschiedene Adressen. Ich hatte keine Zeit, die Haufen von Papier, die sich überall ansammelten, auch nur durchzusehen. Manchmal öffnete ich nicht einmal die Umschläge. Leute wie ich haben gewöhnlich Sekretärinnen, aber ich war nie lange genug an einem Ort. Außerdem durfte niemand von all meinen verrückten Beziehungen zu Frauen wissen. Über die Jahre meines langen Junggesellenlebens hatte ich einen unsichtbaren Harem von Verflossenen oder Verpaßten angesammelt. Allen machte ich Versprechungen. Einige waren noch verhältnismäßig jung, andere inzwischen alt geworden. Eine hatte Krebs. Verschiedene hatten geheiratet, manche sogar zum zweiten oder dritten Mal. Ihre Töchter behandelten mich wie ihren Stiefvater. Man erwartete von mir, daß ich Glückwünsche und Geschenke zu ihren Geburtstagen und anderen Gedenktagen schickte. Die meisten vernachlässigte ich und wachte nachts mit schlechtem Gewissen auf. Ich trat oft auf telepathischem Wege mit ihnen in Verbindung, und sie schienen auf dem gleichen Wege zu antworten. Telepathie, Hellseherei und Vorahnungen ersetzten Briefe, Telephonanrufe und Besuche. Ich tat allen Unrecht, und trotzdem überschütteten mich diese Frauen weiterhin mit Liebe. Vielleicht weil ich – in Gedanken zumindest – ihnen immer noch ergeben war. Vor dem Einschlafen betete ich für sie. 36
Im Februar jenes Winters hatte ich eine Woche ohne Verpflichtungen. Der Rabbiner einer kalifornischen Gemeinde, vor der ich sprechen sollte, war plötzlich gestorben, und mein Vortrag wurde vertagt. Kaum hatte ich die Nachricht erhalten, da beschloß ich, die freien Tage mit Reisl zu verbringen. Die Nacht vorher war ich bei ihr in der Bronx. Mein Flugzeug sollte mittags um zwölf abfliegen. Ich stand um sechs Uhr auf. Reisls kranke Mutter Lea Hinda schlief immer lange. Reisl hatte mir Frühstück gemacht. Als ich um acht Uhr bei mir in der Wohnung eintraf, fand ich unter die Tür geschoben ein Telegramm, das meinen Vortrag absagte. Ehe ich ging, hatte Reisl sich beklagt : »Früher bliebst du tagelang bei mir. Jetzt bleibst du höchstens eine Nacht.« Und plötzlich hatte ich eine ganze freie Woche ! Zuerst legte ich mich auf die Couch und versuchte, den versäumten Schlaf nachzuholen. Wir waren erst um ein Uhr morgens aus dem Theater nachhause gekommen. Das Telephon läutete und ich ließ es läuten. Ich dachte an die Worte Esaus : »Siehe, ich muß doch sterben, was soll mir denn die Erstgeburt ?« Die Art von Leben, die ich führte, gab mir das Gefühl, langsam Selbstmord zu verüben. Ich war schon so weit, daß ich nie mehr als fünf Rasierklingen kaufte. Zehn zu kaufen, hieße das Schicksal herausfordern – ich konnte jeden Tag eine Herzattacke oder einen Nervenzusammenbruch bekommen. 37
Gegen elf wachte ich auf, genau so müde, wie ich mich hingelegt hatte. Ich sah mich im Zimmer um. Die Putzfrau hatte operiert werden müssen und war zur Erholung zu ihrer alten Mutter nach Puertorico gefahren. Die Wohnung war schmutzig. Bücher, Zeitschriften, Unterhosen, Krawatten, Taschentücher lagen am Boden verstreut. Der Schreibtisch war mit Papieren bedeckt. Obwohl ich versuchte, Ordnung zu halten, lebte ich doch in dauernder Unordnung. Ich konnte nie etwas finden. Ich verlor Rechnungen. Ich verlegte meinen Füllfederhalter und meine Brille. Ich zog einen Schuh an und konnte den zweiten nicht finden. Eines Tages vermißte ich meinen Cashmeremantel. Ich suchte überall, selbst an Orten, die für ein Unterhemd zu klein gewesen wären, er war verschwunden. War bei mir eingebrochen worden ? Nirgends waren Zeichen eines Einbruchs. Warum sollte ein Dieb nur den Mantel nehmen ? Ich öffnete den Schrank noch einmal und fand den Mantel zwischen meinen anderen Sachen. Kann man vor lauter Geistesabwesenheit blind sein ? Ich rief Reisl an und teilte ihr die gute Nachricht von meiner freien Woche mit. »Komm sofort hierher !« rief sie. »Nein. Komm du und verbringe den Tag bei mir. Später gehen wir dann zu dir.« »Du weißt, daß ich meine Mutter nicht allein lassen kann.« »Du kannst, auf ein paar Stunden.« 38
Nach vielem Hin und Her stimmte Reisl zu, ›in die Stadt zu kommen‹, so nannte sie den Weg nach Manhattan. Lea Hinda hatte eine alte Nachbarin, die nach ihr sehen würde. Lea Hinda litt an hohem Blutdruck und einem halben Dutzend anderer Krankheiten, aber irgendwie schaffte sie es, am Leben zu bleiben. Sie nahm zahllose Tabletten und hielt die strengste Diät, von der ich je gehört hatte. Nachdem sie das Leben im Getto und in Konzentrationslagern überstanden hatte, war sie entschlossen, neunzig zu werden. Obwohl Reisl versprochen hatte, in einer Stunde da zu sein, wußte ich doch, es würden drei werden. Zuhause lief sie halbnackt und in ausgetretenen Hausschuhen herum. Aber wenn sie sich in die Stadt begab, dann trug sie ihr Sabbat-Kleid. Bevor sie fortging, legte sie der Mutter alle Tabletten hin, die sie brauchte, herzstärkende, entwässernde, vitaminhaltige. Lea Hinda lernte nie, mit diesen amerikanischen Medizinen umzugehen. Jetzt hatte ich Zeit, mich zu rasieren, zu baden, vielleicht sogar ein Manuskript anzusehen. Aber das Telephon ließ mir keine Ruhe. Ich hatte meinen Rasierapparat verlegt und verbrachte eine Viertelstunde damit, ihn zu suchen. Plötzlich erinnerte ich mich, ihn in den Koffer gelegt zu haben, den ich nach Kalifornien mitnehmen wollte. Als ich ihn auspackte, läutete das Telephon wieder. Die Stimme war die eines Erwachsenen, der ein Kind nachahmt, und ich tippte 39
auf Sara Pitzeller. Obwohl sie krebskrank war, hatte sie ihren Humor bewahrt. »Weißt du, daß deine Sara gestorben ist ?« sagte sie mit der kindlichen Stimme. Ich war sprachlos. »Warum antwortest du nicht ? Hast du Angst vor den Toten ? Die tun dir nichts. Denen kannst du auch nicht mehr wehtun. Ist das nicht großartig ?« Sie legte den Hörer auf. Es läutete dreimal an der Tür. Das mußte Reisl sein. Sie kam immer in einem Aufruhr an. Sie trug in sich die Spannungen des Gettolebens, der heimlichen Grenzübertritte, der Barackenlager Verschleppter und Heimatloser. Sie war blond, blauäugig, schlank, und obwohl sie bald vierzig war, sah sie aus wie ein Mädchen in den Zwanzigern. Sie war Schneiderin von Beruf, man hatte sie sogar als Mannequin beschäftigen wollen. Aber sie sprach kein Englisch. Außerdem hatte sie sich im Getto das Trinken angewöhnt. Noch ehe sie die Tür geschlossen hatte, schrie sie : »Nie wieder fahre ich irgendwohin mit der Untergrundbahn. Lieber sterbe ich.« »Was war denn los ?« »Ein Kerl hing sich an mich. Ich sagte zu ihm : ›Go, mister, I no understand English.‹ Aber er hörte nicht auf, mich zu belästigen. Besoffen wie Lot. Und Augen wie ein Mörder. Als ich ausstieg, stieg er auch aus. Vater im Himmel ! Ich dachte, jeden Moment zieht er das Messer heraus.« 40
»Dein Kleid ist ein bißchen zu auffallend, und deshalb …« »Du verteidigst ihn noch. Du bist immer auf der Seite meiner Feinde. Du wärst imstande, selbst Hitler zu verteidigen. Das ist ein ganz einfaches Kleid. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe den Stoff für einen Dollar von einem Restetisch gekauft … Ich habe meine Zündhölzer vergessen. Ich muß eine Zigarette rauchen.« – Ich brachte Reisl Zündhölzer. Sie zog den Rauch ein, blies eine Rauchwolke von sich und sagte : »Ich muß was trinken.« »So früh am Tag ?« »Gib mir ein Glas Kognak. Ich habe dir was zu essen mitgebracht.« Jetzt erst bemerkte ich, daß sie einen Korb trug. Ich hatte sie oft gebeten, mir kein Essen mitzubringen. Das zog nur Küchenschaben und Mäuse an. Aber sie machte, was sie wollte. Sie schlug auch meine Warnungen in den Wind, daß sie vom Trinken und Rauchen krank werden würde. Sie rauchte drei Päckchen am Tag. Sie rauchte auch mitten in der Nacht. Ich wollte ihr ein kleines Glas eingießen, aber sie riß mir die Flasche aus der Hand und goß ein Wasserglas voll. Sie trank es mit der Hast eines Alkoholikers, und für einen Augenblick war ihr Gesicht seltsam verzerrt. Dann wurde sie vergnügt. Sie hatte Lunch für uns beide mitgebracht, aber ich mußte fast alles allein essen. Zigaretten und Alkohol genügten ihr. Sie hatte die Gerichte gekocht, die ihr 41
von zuhause vertraut waren : Kartoffelpudding, gebackene Nudeln, Grütze mit Pilzen, und Backpflaumen. Während ich aß, sagte sie : »Im Getto wagte ich nicht einmal, von so einer Mahlzeit zu träumen. Wir beteten um trockenes Brot. Ich habe einmal gesehen, wie sich zwei Juden um eine verschimmelte Brotkruste prügelten. Die Nazis peitschten beide aus wegen Störung der öffentlichen Ruhe. Wo ist der Gott, über den du schreibst ? Er ist ein Mörder, nicht ein Gott. Wenn ich die Macht hätte, würde ich jeden aufhängen, der über Ihn plappert.« »Dann würdest du mich an den Galgen bringen ?« »Dich nicht, Liebling. Ich würde dir den Mund verstopfen, das ist alles. Du weißt nicht, was du sagst – du bist wie ein kleines Kind ohne Verstand. Wie ein Bub wie du überhaupt Bücher schreiben kann, ist ein Wunder. Die Wahrheit ist, du schreibst sie gar nicht – ein Dibbuk ist in dich gefahren. Er schreibt. Wenn du den Pudding nicht bis auf den letzten Krümel aufißt, gehe ich nachhause und seh dich nie wieder an. Gib mir noch ein Glas.« »Ich gebe dir nichts mehr – nicht einmal, wenn du dich auf den Kopf stellst.« »Komm schon ! Ich will diese dreckige Welt ein paar Sekunden lang vergessen. Mit wem bist du ins Theater gegangen, zur ›Türkischen Hochzeit‹ ?« »Mit niemandem.« »Aber du hast doch in deiner Besprechung eine Begleiterin erwähnt.« 42
»Ach, das ist nur mein Stil, in dem ich mich ausdrücke.« »Schöner Stil ! Drück dich nicht so gebildet aus mit mir. Ich weiß genau, daß du mit Weibern herumziehst. Mögen sie alle in Flammen aufgehen ! Genüge ich dir nicht ? Du bist mit irgendeiner Nutte zur ›Türkischen Hochzeit‹ gegangen. Die Plagen des Pharao sollen sie treffen ! Sie hat sich wahrscheinlich hier im amerikanischen Luxus gewälzt, während ich in einem Bunker mit Ratten und Läusen verfaulte. Jetzt stiehlt sie mir noch meinen Mann. Sie soll in der Hölle braten !« »Du verfluchst jemanden, der gar nicht existiert.« »Doch existiert sie, und die anderen auch. Ich wünschte, es gäbe sie nicht. Deshalb trinke ich ja. Gib mir noch einen Schluck.« »Nein.« »Du willst nicht ? Dann bist du ein kaltblütiger Mörder. Du magst von Rabbinern abstammen, aber ich glaube, deine Mutter hat einen Bastard zur Welt gebracht. Sieh mich nicht so an. Das ist schon vorgekommen in unserer verfluchten Geschichte. Wie erklärst du dir sonst die blonden Köpfe und Stupsnasen unter uns ? Wir sind gar keine Juden. Die Christen verfolgen Christen ! Die wirklichen Juden sind schon lange ausgestorben. Vielleicht gibt es noch eine Handvoll in Jerusalem. Gib mir noch einen kleinen Kognak oder ich sterbe.« »Tu’s nur.« 43
Reisl heftete ihre hellblauen Augen auf mich. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich dich liebe. Was sehe ich in dir ? Jahrelang habe ich mich nach einem Mann gesehnt. Schließlich fand ich einen. Und der ist verrückt und schlecht.« Wir umarmten uns, ich hob sie hoch und einer ihrer Schuhe fiel zu Boden. Das Telephon läutete. Meine Universität. Der Dekan der Abteilung für Englisch wollte mich nur daran erinnern, daß ich morgen eine Vorlesung zu halten hatte. Himmel, das hatte ich völlig vergessen. Ich fragte ihn, ob man sie verschieben könnte. Er sagte, man hätte extra einen bestimmten Saal reserviert und eine Verschiebung käme nicht in Frage. Während ich noch sprach, stieg Reisl das Blut ins Gesicht. Sie riß sich von mir los und humpelte zu ihrem zweiten Schuh. Sie fiel hin. Wie sie da lag, fing sie an zu schreien : »So geht es mit allen unseren Plänen ! Ich verfluche den Tag, an dem …« »Komm mit mir.« »Du weißt, daß ich das nicht kann, du Schlappschwanz. Oder ich muß vorher meine Mutter vergiften.« »Aber ich muß gehen.« »So geh. Aber bei deiner Rückkehr wirst du zwei Leichen vorfinden. Ich habe dieses Schicksal verdient, weil ich am Leben bleiben wollte. Niemand sollte so etwas überleben – es ist Sünde. Um mich herum starben sie wie die Fliegen, und ich träumte von gebra44
tenem Schnitzel und Liebe. Dafür werde ich jetzt bestraft. Komm nicht in meine Nähe. Du bist mein schlimmster Feind.« Ich sah sie an und ich sah eine knochige Nase, ein spitzes Kinn, eingefallene Wangen. Als sie gekommen war, sah sie wie ein junges Mädchen aus. Jetzt hatten die Jahre sie eingeholt. Ich bemerkte auch die Krähenfüße um ihre Augen. Ihre Nasenlöcher weiteten sich. Sie schrie auf. »Gib mir die Flasche ! Ich muß mich besaufen.« »Nicht in meiner Wohnung.« »Gib mir die Flasche. Es gibt für mich nur noch den Suff. Warum hat Gott die Welt erschaffen? Beantworte mir das. Er ist kein Gott. Er ist ein Teufel. Er ist auch ein Hitler – und das ist die bittere Wahrheit.« »Halt den Mund !« »So, jetzt bist du auch noch fromm geworden, was ? Du fürchtest dich vor meinen Gotteslästerungen ? Er saß in Seinem siebenten Himmel und sah zu, wie man Kinder in die Gaskammern schleppte. Die Engel sangen zu Seinen Ehren und Er sonnte sich in der himmlischen Glorie. Gib mir die Flasche. Wenn du es nicht tust, bringe ich mich sofort um.« Meine Vorlesung hieß ›Hat die Literatur des Unterbewußten und des Absurden eine Zukunft ?‹ Während ich sprach, spürte ich, daß die Zuhörer mir nicht zustimmten. Man hörte Gemurmel und Hu45
sten, gefolgt von feindlichem Schweigen. Eine Frau versuchte, mich zu unterbrechen. Ich war mir dessen nicht bewußt, aber ich hatte die Psychologisierer und Soziologisierer unter den heutigen Romanschreibern angegriffen. Während der Diskussion warfen die Studenten Kafka und Joyce als Argumente gegen mich in die Debatte. Und wie stand es um die Symbolisten ? Wollte ich wirklich die Uhr der Literaturgeschichte zurückdrehen bis zu Flauberts Realismus ? Einige meiner Studenten hatten lange, undurchsichtige Arbeiten geschrieben, die den ›inneren Menschen‹ wiedergeben sollten. Andere versuchten, in ihren Arbeiten die Gesellschaft neu aufzubauen – oder zumindest die alte zu zerstören. Ein Professor wies auf den Widerspruch zwischen meiner Theorie der Literatur und meinen eigenen Schriften hin, die symbolisch, oft sogar mystisch seien. Ich versuchte, meine Ansichten zu erklären, aber der Vorsitzende teilte mit, es sei Zeit für Erfrischungen. Wir gingen in einen Saal, wo es Punsch und Schnäpse gab. Dieser Empfang war mir zu Ehren gegeben worden, aber die Literaturprofessoren übersahen mich und unterhielten sich untereinander. Sie erzählten sich Witze, die gerade ›in‹ waren. Ich zog mich in eine Ecke zurück, nippte an meinem Punsch – ich war ein Außenseiter. Eine Frau kam zu mir heran. Ich erkannte sie, aber konnte mich nicht an ihren Namen erinnern oder wo wir uns begegnet waren und wann. Sie sah sowohl 46
jung aus wie gealtert, als ob sie gerade einer schweren Krankheit oder einer Krise entronnen sei. War sie eine Studentin höheren Semesters oder ein Professor, überlegte ich. Sie hatte schwarze Augen, schwarzes krauses Haar, eine hohe Stirn und ein leicht behaartes Kinn. Das schwarze Kleid stand ihr nicht. Ihr Glas war fast leer. Sie sprach zögernd, als sei sie beschwipst. »Erkennen Sie mich nicht ?« »Ich kenne Sie«, sagte ich, »aber ich habe keine Ahnung wer Sie sind.« »Rosalie Kadisch.« »Mein Gott !« Wir wollten uns einen Kuß geben, aber die Gläser waren im Weg. Ich hatte Angst, sie mit Punsch zu begießen. Sie sagte : »Ich bin alt geworden, aber du hast dich nicht verändert.« »Was bleibt einem anderes übrig, als alt zu werden ?« sagte ich. »Aber was machst du hier ? Wo kommst du her ? Was hast du inzwischen erlebt.« Sie lächelte verschmitzt und zeigte weit auseinanderstehende, gelbe Zähne. »Ich komme aus dem Heiligen Land und gebe hier einen Kurs über moderne hebräische Literatur. Außerdem schreibe ich an meiner Doktorarbeit.« »Was wurde aus deinem christlichen Freund ?« »Du erinnerst dich also doch. Er heiratete eine geschiedene Frau mit Geld.« »Und will er nicht mehr die Menschheit erlösen ?« »Seine Frau hat ihn fest am Wickel. Sie hat vier Kin47
der von ihrem ersten Mann und ist wieder schwanger.« »Wo leben sie ?« »In Kalifornien, wie alle, die einen Knacks haben.« »Und was ist mit dir ?« Sie zwinkerte. »Mit mir ?« Dann erzählte sie von sich. In Jerusalem hatte sie sich in einen jungen Professor verliebt, der jeden Moment geschieden werden sollte, dann aber doch bei seiner Frau blieb. Danach hatte sie eine Affaire mit einem italienischen Studenten gehabt, der viel jünger war als sie, eine Heirat mit ihm war ausgeschlossen. Sie hatte auch etwas mit einem Araber gehabt. Jetzt wollte sie von der Liebe nichts mehr wissen. »Was tust du stattdessen ?« »Ich rauche Marihuana.« »Genügt dir das ?« »Immer noch besser, als mir die Geständnisse impotenter Männer anzuhören.« »So weit ist es mit dir gekommen ?« »Ja, ich bin zynisch geworden«, sagte sie. »Ich habe keinerlei Illusionen mehr, über niemanden und nichts. Aber ich muß meinen Doktor machen. Sonst verdient man so gut wie nichts.« »Wie geht es deinen Eltern ?« »Sie erwarten nichts Gutes mehr von mir.« Es war spät geworden. Rosalie sagte : »Ich habe eine Wohnung hier. Willst du auf eine Tasse Kaffee oder Tee herüberkommen ? Ich gehe nie vor zwei Uhr schlafen. Ich muß morgen 48
auch nicht unterrichten. Hab keine Angst, ich werde dich nicht verführen.« Ich wollte mich verabschieden, aber der Dekan und seine Frau waren schon gegangen. Die anderen Gäste kannte ich nicht. Diese Universität war wie eine ganze Stadt. Als wir gingen, nahm Rosalie meinen Arm. Draußen war es eiskalt. Ein scharfer Wind wehte. Ich hatte mir besonders warme Schuhe, dicke Handschuhe und eine wollene Gesichtsmaske gekauft. Ich kam mir vor wie ein Mitglied des Ku-Klux-Klan, wenn ich durch die Schlitze lugte. Wir gingen durch schwach beleuchtete, schneebedeckte Straßen, während der Wind gegen uns drückte. Er blies durch meine Kleidung, ich fror erbärmlich. Treibender Schnee wirbelte um uns herum. Mir fiel die Beschreibung von Reisen an den Nord- oder Südpol ein, die ich als Junge gelesen hatte. Die schneebeladenen Lampen verbreiteten nur ein schwaches Licht. Es war glatt, und wir klammerten uns aneinander, um nicht zu fallen. Ein grünblauer Stern funkelte über einem Dach. Hier unten war es elf Grad unter Null ; dort oben mochten es hundert Millionen Grad über Null sein. Rosalie Kadisch und ich stiegen drei Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Überall lagen Bücher und Zeitschriften herum – auf ihrem Klappbett, auf den Stühlen, auf dem Boden, selbst auf dem Eisschrank und auf dem Gasherd. Sie räumte schnell einiges beiseite und setzte den Kessel auf. Sie brachte Schnäpse und Kekse. Ich bin kein großer Trinker, aber ich woll49
te mich nach dem Spaziergang etwas erwärmen. Wir tranken einander zu, und sie sagte : »Ich habe dich nie vergessen. Ich wollte meine Doktorarbeit über dein Werk schreiben, aber ich konnte nicht genügend Material darüber finden.« Plötzlich fiel mir ein, daß ich Reisl anrufen sollte. Da saß sie in der Bronx und wartete. Vielleicht versuchte sie, mich zu erreichen. Als ich mit Rosalie davon sprach, sagte sie : »Du mußt dich nicht genieren. Ruf sie an.« Ich wählte und hörte Reisels Stimme. Sie klang schrill. Sie hatte mir mein Fortgehen noch nicht verziehen. Sie sagte : »Wie gings mit der Vorlesung ?« »Soso.« »Du hast wohl vergessen, daß es hier schon eine Stunde später ist ? Ich wollte ins Bett gehen.« »Man hatte mir noch eine Cocktail Party gegeben. Ich konnte nicht von dort aus anrufen.« »Bist du jetzt in deiner Wohnung ?« »Ja«, log ich, und bereute es sofort. »Das ist nicht wahr. Du bist ein Betrüger und ein Lügner. Ich habe vor fünf Minuten in deiner Wohnung angerufen.« »Ich bin gerade nachhause gekommen«, sagte ich, und wußte, es würde alles nur schlimmer machen. Reisl sagte : »O.K. Häng ein. Ich ruf dich gleich zurück.« Ich wollte noch etwas sagen, aber sie hatte schon aufgelegt. Ich saß benommen da. Ich hörte das Telephon in meiner leeren Wohnung läuten. Ich hör50
te auch Reisls wütende Reden. Ja, dachte ich, diesmal hab ich sie verloren. Zwischen uns ist alles aus. Rosalie sah mich von der Seite an. »Keine Angst«, sagte sie, »sie wird sich schon wieder mit dir aussöhnen.« »Niemals.« »Versuchs mal mit Marihuana. Von einer wirst du nicht süchtig.« »Nein. Ich möchte lieber noch ein Glas Schnaps.« Ich versuchte, mich zu trösten. Diese verfluchte Liebe, dachte ich ; dieser ganze romantische Unfug war keinen Pfifferling wert. Wie recht hatte die jüngere Generation – sie verlangten keine ewige Treue mehr und Eifersucht kannten sie nicht. Neunundneunzig Komma neun Prozent unserer sogenannten Instinkte waren uns von sozialer Hypnose aufgezwungen. Rosalie brachte Tee und Gebäck. Es war unsinnig, jetzt nachhause zu eilen. Sie war kultiviert, sah nicht schlecht aus. Jedenfalls gehörten wir beide einem Stamm an, der dabei war, sich selbst zu zerstören. Eine Woche oder mehr verging. Ich begab mich auf eine andere Vortragsreise. Das Wetter wurde immer schlechter. Die Zeitungen kündeten Schneestürme und nie dagewesene Kältewellen für das ganze Land an. Die Züge blieben stecken, und man mußte den halberfrorenen, hungrigen Reisenden Hilfe bringen. Im Winter reiste ich lieber mit dem Zug als mit dem 51
Flugzeug. Mein kleines Notizbuch erinnerte mich daran, daß ich am Abend in der Stadt M. sein sollte – im Mittleren Westen, auch das Hotel hatte ich aufgeschrieben. Irgendwo hatte ich noch einen Brief von der Organisation, die mich eingeladen hatte, aber der war schon mit meinen Notizen für den Vortrag in der Aktentasche verstaut. Im allgemeinen brauchte ich weder Adressen noch Telephonnummern. Sobald ich im Hotel ankam, holte mich derjenige ab, der die ganze Veranstaltung abwickelte. Bis zu meiner Abreise würde er sich um mich kümmern. Ich hielt den gleichen Vortrag in Synagogen und Universitäten, vor den Damen der zionistischen Frauenorganisationen und vor Bibliothekaren. In Chicago versuchte ich einen Schlaf- oder Liegewagen zu bekommen. Es gab keinen. Wegen des Wetters mußte ich vierzehn Stunden vor dem Vortrag dort ankommen. Mein Zug würde um vier Uhr morgens eintreffen. Das macht nichts, beschloß ich. Ich könnte im Hotel bleiben und arbeiten. Die Vertreter der Organisation würden mich sicher zu den Mahlzeiten einladen. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, mit der Eisenbahn zu fahren, aber ich gebe mich nicht lange mit solchen Kleinigkeiten ab. Ich fand einen Platz am Fenster. Es war warm. In Chicago hatte ich Zeitungen, Zeitschriften und die Autobiographie eines Sexbesessenen gekauft. Ich hatte auch ein Sandwich und einen Apfel bei mir, falls ich während der Nacht hungrig werden sollte. Ich hatte Angst, daß 52
sich irgendein langweiliger Patron neben mich setzen könnte, aber der Wagen blieb halb leer. Wir fuhren durch eine von Schnee und dichtem Nebel fast unsichtbare Stadt. Lastwagen und Autos krochen die Straßen entlang. Aus den Fabrikschornsteinen quoll Rauch. Hier und da zuckte Feuer aus Schloten. Nach einiger Zeit zog ich das Rouleau herunter und fing an zu lesen. Wie gewöhnlich brachte die Zeitung das Neueste über Morde, Vergewaltigungen und Feuersbrünste ; die Leitartikel handelten von der Mafia und von der Gefahr, die von Drogensüchtigen ausging. In der Zeitschrift stand ein langer Artikel über eine Schauspielerin, die plötzlich berühmt geworden war und für einen Auftritt zwanzigtausend Dollar bekam. Der Sexbesessene beschrieb die Umstände, die zu seiner Psychose geführt hatten : ein zerrüttetes Elternhaus, ein trinkender Vater, seine Bordellbesuche, die Liebhaber seiner Mutter. All das war erschreckend und ermüdend. Ich begann über die Zukunft der Literatur nachzudenken : was konnte ein Romanschriftsteller den nackten Tatsachen noch hinzufügen ? Sensationen und Melodramen waren unser täglich Brot. Das Unglaubliche war nur allzu glaubhaft. Ich gähnte und blätterte in dem Buch. Obwohl ich nicht hungrig war, aß ich das Sandwich und den Apfel. Für einen Vierteldollar mietete ich ein Kissen von dem Schaffner, lehnte mich zurück und versuchte zu schlafen. Allmählich wurde es dunkel im Zug. Ich 53
schloß die Augen, halb dämmerte ich, halb dachte ich nach. Reisl hatte ich bestimmt verloren. Wenn ich anrief, legte sie sofort den Hörer auf. Es wird sich schon noch jemand neben mich setzen, dachte ich. Ich begann zu träumen, hörte aber immer noch den Schaffner den Namen der Stationen ausrufen. Dann muß ich fest eingeschlafen sein, denn er weckte mich. Wir waren in M. angekommen. Ich nahm meinen Mantel herunter, meinen Kleidersack und die Aktentasche. Ich war der einzige Reisende, der hier ausstieg. Ein eiskalter Wind blies. Es war ein ziemliches Stück zu gehen von meinem Wagen bis zum Bahnsteig. Hundert Jahre lang war die Station ein Symbol für Tumult und Lärm gewesen, jetzt war sie dunkel und leer. Ein Schwarzer schnarchte auf einer Bank. Ich trat auf die Straße, um ein Taxi zu suchen. Zuerst schien es hoffnungslos, aber schließlich tauchte eines auf. Der Fahrer nahm mein Gepäck. Ich nannte ihm den Namen des Hotels. »Wo soll das sein ? Nie gehört.« Ich griff in meine Brusttasche, um die Adresse nochmals zu überprüfen. Mein Notizbuch war nicht da. Der Fahrer holte ein Büchlein und eine Taschenlampe heraus, um nachzusehen. Ich war überrascht. Für gewöhnlich buchte man für mich ein Zimmer in einem bekannten und erstklassigen Hotel. Wir kamen durch hell erleuchtete Straßen, dann fuhren wir durch dunkle, enge Gassen. Mich beschlich Mißtrauen. Hatte er vielleicht vor, mich zu berauben ? Das 54
Taxi hielt vor einem schäbigen, drittklassigen Hotel. Ich war wütend auf die Veranstalter, die mich eingeladen hatten. Ich beschloß, am nächsten Morgen sofort nach New York zurückzukehren. Ich bezahlte den Fahrer, der an der verschlossenen Tür läutete und klopfte. Nach einiger Zeit kam ein verschlafener Bursche heraus. Er trug einen Sweater. Ich fragte, ob für mich ein Zimmer reserviert sei. Er zuckte die Achseln. »Reserviert ? Nein.« Irgend etwas stimmte nicht. In diesem Haus gab es nicht einmal einen Aufzug. Der Bursche führte mich eine schmale Treppe hinauf. Es stank nach Gas und Kohlendunst. Er öffnete eine Tür und machte Licht : eine nackte Birne hing an der Decke. In dem Zimmer blätterten die Tapeten von den Wänden, das Linoleum hatte Löcher, die Einrichtung bestand aus einem Metallbett und einer wackeligen Kommode. Es erinnerte mich an die möblierten Zimmer, die ich in den Zeiten meiner Armut bewohnt hatte. Der Angestellte ging. Erst jetzt bemerkte ich, daß mich ein großes Unglück befallen hatte. Die Aktentasche, die ich aus dem Zug mitgenommen hatte, war nicht meine eigene, und in meiner befanden sich meine Vorträge und andere wichtige Papiere ; offenbar hatte ich auch mein kleines Notizbuch in die Aktentasche getan. Und um das Unglück voll zu machen, hatte ich meine Traveller Schecks auch dort hineingestopft. Warum ich das gemacht hatte, weiß ich bis heute nicht, es sei denn, die Mächte, die das Lebten eines Menschen bestimmen, 55
wollten mir die größten Qualen bereiten. Alles, was ich besaß, waren zwei Dollar und etwas Kleingeld. Ich blickte mich nach einem Telephon um, aber in dem Zimmer gab es keines. Etwas in mir machte sich, bei aller Sorge, über die Falle lustig, in der ich saß. Ich hatte eine Hoffnung – meine Gastgeber würden mich am nächsten Tag abholen. Aber mich beschlichen Zweifel, ob ich in das richtige Hotel gegangen war. Keine Organisation würde ihren Redner in so einer Bruchbude unterbringen. Es mußte alles ein Irrtum sein. Es wurde mir immer klarer, daß dies die Strafe für mein Verhalten Reisl gegenüber war. Ihre Flüche hatten sich erfüllt. Wie immer, wenn ich in Schwierigkeiten geriet, erwachte mein Glaube von neuem. Ich merkte, daß es im Zimmer kalt war. Der Heizkörper war mit Staub bedeckt, und die Farbe blätterte ab, es kam keine Wärme. Ich schlug die Decke zurück und bekam ein graues Laken und ein schmutziges Kopfkissen zu sehen. Es roch leicht nach einem Wanzenmittel. Ich schloß meine Augen, versuchte dem Unterbewußten in mir zu lauschen, der Macht, die nach von Hartmann, immer das Richtige trifft. Wer und was hatte mich in diese Kalamität gebracht ? Es sah eigentlich so aus, als hätte ich es selbst getan. Ich zog mich aus und benutzte meinen Mantel als zweite Decke. Wenn ich nur mein kleines Notizbuch bei mir hätte ! Ich konnte mich an keine einzige Telephonnummer erinnern, außer meiner eigenen und 56
Reisls. In meiner Wohnung in New York war natürlich niemand und Reisl würde nicht mit mir sprechen. Ich hatte Angst, nicht einschlafen zu können, aber ich schlief sofort tief und fest. Am nächsten Tag ging ich in eine Telephonzelle und rief Reisl an – als Gespräch, das der Angerufene zu zahlen hat. Es meldete sich niemand. Nach einer Stunde versuchte ich es wieder, dann nach zwei und drei Stunden, ohne Erfolg. Gewöhnlich nahm die Mutter das Telephon ab, wenn Reisl fort war. Hatte sie die Mutter umgebracht und dann sich selbst ? Ich versuchte, mich an andere Telephonnummern zu erinnern, aber ich war von Gedächtnisverlust befallen. Es gab nur eine Möglichkeit – irgendeinen Juden zu finden, der vielleicht wußte, wo mein Vortrag heute abend stattfinden sollte. Aber erst mußte ich etwas zu mir nehmen. Ich hatte nicht gefrühstückt, und der Hunger nagte an mir. Ich ging in eine Cafeteria, aß Pfannkuchen und zwei Brötchen und trank Kaffee. Das kostete fünfundachtzig Cents. Mein Vermögen bestand jetzt aus einem Dollar und achtundfünfzig Cents. Zu einem Taxi reichte es nicht mehr. Ich ging durch die Straßen, bis ich einige Läden fand. Unter den Namen war einer – Morris Shapiro. Dort kann ich vielleicht etwas erfahren, dachte ich. Möglicherweise wollte Morris Shapiro heute abend zu meinem Vortrag kommen. Ich betrat das Geschäft. Es war groß, aber die Ware war schäbig. Die Tische 57
waren bedeckt mit Nachthemden, Blusen, Kleidern, Sweatern, Schals, Strümpfen – billiger Ramsch aller Art. Es war heller Tag, aber die Lampen brannten. Ich mußte an die Geschichte von König Salomon denken. Asmodi, der böse Geist, hatte ihn vierhundert Meilen entfernt von Jerusalem aussetzen lassen. Der König Israels ging herum und rief : »Ich bin Salomon !« Er war wenigstens ein König. Aber wer war ich schon ? Einer von Tausenden von Schriftstellern in Amerika – und ein jiddischer noch dazu. Ich sah mich nach jemandem um, der Morris Shapiro hätte sein können, aber ich sah nur Käuferinnen und Verkäuferinnen. Ich ging auf eine zu. »Ist Morris Shapiro zu sprechen ?« Lächelnd schätzte sie mich ab. »Mr. Shapiro ist nicht im Hause.« »Wann wird er zurück sein ?« »Was wollen Sie von ihm ?« Stammelnd fing ich an zu erzählen. Sie hörte nur mit halbem Ohr. Zwischendurch rief sie einer anderen Verkäuferin etwas zu. Ihr Puppengesicht war von blondgefärbtem, welligem Haar umrahmt. »Mr. Shapiro ist heute in Chicago«, sagte sie endlich. »Könnten Sie mir die Adresse einer Synagoge oder eines Rabbiners geben ?« »Ich bin nicht jüdisch. Hallo, Sylvia !« Sie zeigte auf eine kleine Frau mit schwarzem Haar, die den gleichen hellblauen Kittel trug wie alle anderen Verkäu58
ferinnen. Sylvia war gerade mit einer Kundin beschäftigt. Ich wartete, während eine ältere Frau zweimal eine Schürze anprobierte, und sich nicht entscheiden konnte, ob sie sie kaufen sollte. Sylvia stand geistesabwesend neben ihr, Kaugummi im Munde. Schließlich sagte die Kundin : »Ich will mal in den Spiegel schauen.« Ich fing an, Sylvia von meinem Dilemma zu berichten. Sie sah ärgerlich aus. Ich verschwendete ihre Zeit. Sie sagte : »Es gibt mehrere Synagogen hier, aber ich glaube, sie sind nur am Sabbat offen.« »Wissen Sie vielleicht, wo einer der Rabbiner wohnt ? »Nein. Sehen Sie im Telephonbuch nach.« »Wo kann ich eines finden ?« »Im Büro der Western Union.« »Und wo ist das ?« »Über die Straße.« Ich dankte ihr und ging. Ich konnte das Zeichen der Western Union nirgends finden. Hatte sie mich zum Narren gehalten oder wurde ich blind ? Nach meiner Uhr war es jetzt zwei Uhr fünfzehn. In sechs Stunden sollte ich meinen Vortrag halten. Trotz der Kälte war die Straße gestopft voll mit Fußgängern, und Autos und Lastwagen krochen Stoßstange an Stoßstange vorwärts, wie in New York oder Chicago. Die Leute sahen mürrisch und ungeduldig aus. Eine ältere Frau zog ihren Hund an der Leine. Er 59
hatte an einem Baumstamm haltgemacht und rührte sich nicht. Die Frau fluchte. »Herr des Himmels, wozu hast Du all dies geschaffen ?« murmelte ich. In diesem Augenblick sah ich das Büro der Western Union. Ich ging hinein, griff nach einem Telephonbuch und blätterte bis zu ›J‹. Es gab keine Organisation, die mit dem Wort ›Jewish‹ begann. Die Juden im Mittleren Westen legten offenbar keinen besonderen Wert darauf, ihre Jüdischkeit hervorzuheben. Was sollte ein Mensch unter diesen Umständen tun – sich hinlegen und sterben ? Ich hatte meinen Verleger in New York, konnte mich aber nicht an seine Telephonnummer erinnern. Außerdem war das Unternehmen so gut wie bankrott. Kürzlich hatte sich eine Sekretärin beklagt, daß sie schon seit fünf Wochen kein Gehalt bekommen hatte. Und mein Lektor ließ sich gerade scheiden und war irgendwo in Reno. Ich suchte in den gelben Seiten unter der Überschrift »Kirchen«. Ich fand zwei Synagogen angeführt. Ich wollte schon anrufen, hatte aber keine passenden Münzen. Inzwischen hatte jemand die einzige Telephonzelle betreten. An der Art und Weise, wie er sich dort niederließ, konnte ich erkennen, daß er nicht so bald wieder herauskommen würde. Während der Jahre, in denen ich meinen Lebensunterhalt mit Schreiben und Vorträgen verdiente, hatte ich den Geschmack der Armut vergessen. Jetzt kam er zurück. Ich hatte spät gefrühstückt, aber ich war wieder hungrig. Ich wartete auf den Angestellten der 60
Western Union, er sollte mir Geld wechseln. Aber er saß an seinem Telegraphenapparat und sah nicht in meine Richtung. Ich dachte, Schriftsteller sollen eben nicht reich werden. Sie sollten nicht einmal ein regelmäßiges Einkommen haben. Die Gutgenährten können die Hungrigen nie verstehen. Leute, die ein Heim haben, können sich niemals mit denen identifizieren, die auf der Straße schlafen. Erinnerung, Phantasie reichen nicht aus. Vielleicht wollte mich die Vorsehung an meine Sendung als Schriftsteller erinnern ? Nachdem ich zehn oder fünfzehn Minuten gewartet hatte, wechselte mir der Angestellte meinen Vierteldollar. Ich rief beide Synagogen an. Keine Antwort bei der ersten. Bei der zweiten kam eine Sekretärin an den Apparat und teilte mir mit, der Rabbiner sei abwesend – er verbrachte ein Studienjahr in England. Sie wußte von keinem Vortrag, der für den heutigen Abend in der jüdischen Gemeinde angesetzt war. Sie klang irritiert, es würde keinen Sinn haben, ihr meine Geschichte zu erzählen. Ich leistete einen heiligen Schwur : wenn mich der Allmächtige aus dieser schrecklichen Lage erlöste, würde ich in Zukunft freundlicher all denen gegenüber sein, die zu mir um Hilfe kamen. Noch einmal – »zum allerletzten Mal«, sagte ich mir – rief ich bei Reisl an. Keine Antwort. Es war ganz klar, daß dort eine Katastrophe passiert war. Lea Hinda war gestorben oder hatte einen Herzanfall gehabt. Oder hatte Reisl ihr untersagt, das Telephon anzurühren ? 61
Ich ging zurück in das Hotel und durchsuchte meine drei Anzüge. Vielleicht würde sich ein anderes Notizbuch oder Geld in den Taschen finden. Alles, was ich fand, war eine Stange Kaugummi, mit der ich meinen Hunger stillte. Dann begann ich, mich mit der Aktentasche zu beschäftigen, die ich aus dem Zug mitgenommen hatte. Ich machte meinem Ärger Luft und brach das Schloß auf. Was ich schon vermutet hatte, traf zu : sie gehörte einer Frau. Ich nahm ein Nachthemd, einen Kosmetikbeutel aus Plastik, Strümpfe, Wäsche, eine Bluse und einen Pullover heraus. Keine Spur eines Namens oder einer Adresse. In meiner Aktentasche war meine Adresse und auch meine New Yorker Telephonnummer, aber selbst wenn die Frau dort anrief, dort war niemand, der antworten könnte. Ich konnte ja nicht einmal sicher sein, daß sie meine Aktentasche hatte. Sie konnte sie auch zu einem Fundbüro gebracht haben. Ich hätte den Bahnhof anrufen sollen, aber die Kräfte verließen mich. Ich streckte mich auf dem Bett aus und dachte an Selbstmord. Wenn das Leben und die Seelenruhe eines Menschen von einer Aktentasche voller Papiere abhingen, dann war das Leben keinen Pfifferling wert. Man braucht nur ein paar Fetzen Papier zu verlieren und schon ist man ein Niemand. Ob ich meine Anzüge verpfänden sollte ? Oder meine Uhr ? Es war drei Uhr und zwanzig Minuten. In einer Stunde etwa würde es dunkel werden. Die Heizröhren waren kaum lauwarm. Ich hatte mich 62
nicht rasiert, nicht einmal die Zähne geputzt. Stoppeln bedeckten mein Gesicht. Sollte ich zur Polizei gehen ? Gab es irgendeine Institution, die für derartige Fälle zuständig war ? Ich döste vor mich hin, riß mich aber dann zusammen. Ich mußte nochmals versuchen, Reisl zu erreichen. Es fiel mir ein, daß ich die Auskunft nach den Telephonnummern der Leute fragen konnte, deren Adressen ich wußte. Warum war ich nicht früher darauf gekommen ? Meine Schwierigkeit ist, daß ich sofort den Kopf verliere, wenn irgend etwas schiefgeht. Jeder andere in meiner Lage hätte längst einen Ausweg gefunden. Ich schämte mich, so hilflos zu sein und machte mir Vorwürfe, letzten Endes noch immer ein Jeschiwaschüler zu sein. Wenn es nur nicht so kalt gewesen wäre, vielleicht hätte ich dann auch mehr Energie gehabt. Die Kälte lähmte mich. Ich zog zwei Pullover an und nahm einen Schal um, ehe ich ausging. Ich fürchtete mich vor der Dunkelheit in dieser fremden, kalten Stadt. Ich ging in einen Drugstore, in der Nähe des Hotels. Ohne hinzusehen, zählte ich das Geld in meiner Tasche. Im Geiste machte ich eine Liste derer, die bereit wären, mir zu helfen. Ich hob einen fortgeworfenen Umschlag vom Boden auf und kritzelte darauf die Namen von Freunden und Bekannten, deren Adressen ich zu wissen glaubte. Das Schlimme war, sicher war ich bei keiner einzigen. Es gab vier Kabinen in diesem Drugstore, alle 63
waren besetzt. Während ich wartete, flehte ich den Herrn, dessen Gebote ich nicht gehalten hatte, an, mich von meiner Pein zu erlösen. Ich gelobte, achtzehn Dollar an wohltätige Vereine zu geben. Ein wenig später fügte ich noch einmal achtzehn hinzu. Ich mußte Buße tun, davon war ich überzeugt. Ich wurde dafür bestraft, daß ich die Vorschriften der Tora nicht befolgt hatte. Der Spötter in mir machte sich über meine Frömmigkeit lustig und sagte voraus, daß ich wieder mein altes Ich sein würde, sobald ich nach New York zurückkehrte. Offenbar erhörte Gott mein Gebet. Ich rief die Auskunft der Stadt an, wo ich Gastprofessor war, erhielt die Nummer von Rosalie und – ich traute meinen Ohren nicht – sie war am Telephon. Nachdem sie meinen Namen gehört hatte, war sie bereit, das Gespräch zu bezahlen. Ich erklärte ihr, was mir zugestoßen war, und sprach mit der Dringlichkeit eines Menschen, der sich in tödlicher Gefahr befindet. »Ich werde alles tun, was ich kann, mein Lieber«, sagte sie. »Ich werde dir telegraphisch Geld schicken. Ich würde es selber bringen, aber ich habe morgen eine Verabredung mit meinem Doktorvater.« »Rosalie, bis zu meinem letzten Atemzug werde ich dir das nie vergessen. Natürlich zahle ich dir das Geld gleich zurück.« »Warum bist du so verängstigt ? Finde doch heraus, wo du den Vortrag halten sollst.« 64
»Aber wie ?« »Geh zur Polizei. Die finden alles, was sie wollen.« Ich gab Rosalie die Adresse meines Hotels. Wiederum schwor ich ihr ewige Dankbarkeit. Sie sagte : »Ich wünschte, ich könnte zu dir kommen. Ich habe meine Doktorarbeit satt.« Mit zitternder Hand legte ich auf, überwältigt von meinem Erfolg, als sei ich soeben vom Tode errettet worden. Ich war voller Liebe zu Rosalie. Sie war ausschweifend und sie rauchte Marihuana, aber der göttliche Funke war noch lebendig in ihr, denn sie war bereit, einem anderen Menschen zu helfen. Sie ist tausendmal besser als Reisl, schrie eine Stimme in mir. Ich war bereit, Rosalie vom Fleck weg zu heiraten. Ihre Vergangenheit ging mich nichts an. Was wir brauchten, war ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Der Langeweile und dem Betrug des heutigen Familienlebens mußte ein Ende gemacht werden. Meine Münze war durchgefallen, und ich steckte sie wieder in den Schlitz, um nochmals Reisls Nummer anzurufen. Eine übernatürliche Macht sagte mir, diesmal würde ich sie erreichen. Ich sah sie vor mir, wie sie in der Nähe des Telephons stand. Ich hörte es läuten und dann ihre Stimme. Atemlos sagte ich : »Reisl, ich flehe dich an, bei allem was dir heilig ist, bitte nimm dieses Gespräch an.« »Wollen Sie dieses Gespräch bezahlen oder nicht ?« fragte die Telephonistin ungeduldig. 65
Nach kurzem Zögern sagte Reisl ja. Ihre Stimme klang heiser, als ob sie sich gestritten oder geweint hätte. »Reisl, mir ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe meine Aktentasche verloren, meine Traveller Schecks und mein kleines Notizbuch. Ich habe keinen Pfennig Geld, und ich sitze fest in einem kalten, verdächtig aussehenden Hotel in dieser Stadt. Höre mich an, wenn du nur noch einen Funken Menschlichkeit in dir hast.« »Wo bist du – du Mörder, Hund, du Biest ?« »Reisl, jetzt ist nicht die Zeit für Auseinandersetzungen. Es sei denn, du willst, daß ich sterbe.« Da Rosalie mir schnellste Hilfe versprochen hatte, war mir klar, daß ich nicht mehr verzweifeln mußte. Aber ich war doch nicht so sicher, ob sie ihr Versprechen halten würde. Ich erzählte Reisl die ganze Geschichte, stöhnend, zitternd, beschämt darüber, wie ich meine Gefahr übertrieb. Reisl sagte : »Wahrscheinlich hast du eine deiner Nutten getroffen, und sie hat dich ordentlich ausgenommen.« »Ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit.« Sie schwieg einen Augenblick. »Was soll ich denn tun ?« sagte sie dann. »Ich kann Mutter nicht allein lassen.« »Dann telegraphiere mir wenigstens etwas Geld. Ich muß raus aus diesem Rattenloch.« »Gut. Gib mir deine Adresse.« 66
Ich sagte ihr, wo ich war. Wenn die beiden Frauen ihr Versprechen hielten, würde ich zwei telegraphische Geldanweisungen bekommen, aber man weiß ja nie, wie Menschen sich verhalten oder was sonst geschehen kann. Jedenfalls hatte mir das Schicksal geholfen, sowohl Reisl wie Rosalie telephonisch zu erreichen – ein sicheres Zeichen, daß ich noch nicht umkommen sollte. Wieder auf der Straße fühlte ich mich völlig erschöpft von der Kälte, dem Wind und meiner Erregung. Ich ging in einen Supermarkt und kaufte Milch und Brot. Nun blieben mir noch vierundneunzig Cents. Als ich herauskam, war es schon dunkel. Obwohl ich mir den Weg gemerkt hatte, fand ich doch nur mit Mühe in das Hotel zurück. Es wurde immer kälter und meine Nase gefühllos. Ein nebliger Dunst verhinderte die Sicht. Alle paar Minuten fühlte ich in meiner Tasche, ob der Zimmerschlüssel und das Stück Papier mit der Hoteladresse noch da waren. Am Rande des Bürger Steiges hackten Tauben nach einer Brotkruste, die jemand ihnen zugeworfen hatte. Sie konnten weder damit fertig werden, noch es aufgeben. Diese Geschöpfe erfüllten mich mit Mitleid für sie und Wut gegen ihren Schöpfer. Wo verbrachten sie die Nacht bei diesem schrecklichen Wetter ? Ihnen mußte kalt sein und sie waren sicher hungrig. Vielleicht werden sie in dieser Nacht sterben. Ich hätte ihnen gern das Stück Brot zerkleinert, aber ich wußte, sie würden wegfliegen, sobald ich mich dem 67
Brot näherte. Ich nahm mein Brot heraus, zerkleinerte einige Stücke und streute sie ihnen hin. Vorübergehende rempelten mich an, aber die Tauben nahmen meine Gabe. Ich biß mehr Brot ab und warf es ihnen hin. Ein Polizist kam auf mich zu. »Sie behindern den Verkehr«, sagte er. »Außerdem gibt es ein Gesetz, das Taubenfüttern in den Straßen verbietet.« »Aber sie sind hungrig.« »So hungrig auch wieder nicht.« Er sah mich ärgerlich an. Ich ging weiter, aber sobald er außer Sicht war, warf ich den Tauben noch ein Stückchen Brot zu. Erschreckt flogen sie davon. Die Kabbalisten haben recht : die unsere ist die schlechteste aller Welten. Hier herrscht Satan. Ich fragte jemanden nach dem Weg. Es stellte sich heraus, ich stand genau neben dem Eingang zum Hotel. Der Hotelangestellte rief herüber : »Wie lange werden Sie bleiben ?« »Ein oder zwei Tage. Ich erwarte telegraphische Geldüberweisungen.« Er sah mich von oben bis unten zweifelnd an. »Ihr Zimmer ist ab übermorgen besetzt.« Ich ging nach oben und setzte mich zu meinem Abendessen hin. Wie mir das frische Brot und die Milch schmeckten. Jeder Schluck machte mich lebendiger. Ich aß im Halbdunkel. Ich kostete die Heiligkeit der Armut. Plötzlich fiel mir ein, ich hatte kei68
nerlei Ausweis bei mir. Selbst wenn das Geld kam, vielleicht würden sie es mir nicht aushändigen. Was täte ich dann ? In diesem Augenblick hörte ich Schritte und ein heftiges Klopfen an meiner Tür. Ich sprang auf. Meine Finger fummelten an dem Türschloß. Im Licht des Korridors sah ich den Hotelangestellten und mehrere andere Herren. Einer von ihnen sagte: »Warum ist es so dunkel?« Dann nannte er meinen Namen. In wenigen Minuten hatte sich alles aufgeklärt. Die Organisation, die mich eingeladen hatte, hatte schon die ganze Stadt abgesucht. Ich machte das Licht an. Ich sah die Gesichter wohlsituierter Gemeinderepräsentanten. Alle redeten auf einmal. Den ganzen Tag suchten sie mich schon. Sie hatten in Hotels, bei der Bahn, am Flughafen nachgefragt. Man hatte auch die Polizei informiert. Die Frau mit meiner Aktentasche hatte angerufen. Dann fiel einem von ihnen ein, ich könnte in ein falsches Hotel gegangen sein. Das elende Loch, in dem ich mich befand, hatte einen ähnlichen Namen wie das Luxushotel, in dem ein Zimmer für mich bereitstand. Einer sagte stolz : »Vor uns können Sie sich nicht verstecken.« »Er ist ein Sherlock Holmes«, sagte ein anderer, und zeigte auf den ersten Sprecher. Sie machten Witze und lachten. Einer stellte sich als der Präsident vor und zeigte verächtlich auf das halbgegessene Brot und die Milch. »Kommen Sie sofort mit«, rief er, »der Saal ist ausverkauft.« 69
»Ich habe meinen Vortrag nicht bei mir. Er ist in meiner Aktentasche.« »Wir werden jemanden hinschicken, sie abzuholen. Es ist nur fünfzehn Meilen von hier. Die Frau, die sie hat, ist unser Mitglied.« »Aber ich habe mir Geld hierher anweisen lassen.« »Das wird man weiterleiten an das Hotel, wohin wir Sie jetzt bringen.« Einer nahm meinen Kleidersack, ein anderer die Aktentasche, die nicht mehr zuging. Ich bemerkte, daß ich die Rechnung noch nicht bezahlt hätte, aber der Präsident sagte, es sei schon erledigt. Unten starrte mich der Angestellte überrascht an. Er nickte und entschuldigte sich. Das Blitzlicht von Photographen flammte auf. Ich hätte mich über den Gang der Ereignisse freuen sollen, stattdessen war ich traurig. Dämonen hatten ihr Spiel mit mir getrieben. Ich wußte, es war nicht ihr letzter Streich gewesen. Man fuhr mich in einer Limousine zum feinsten Hotel. Ich hatte kaum Zeit, mich zu rasieren, zu duschen und mich umzuziehen, und schon wirbelte man mich in ein Restaurant zu einem Essen mit vielen Leuten. Inzwischen brachte jemand meine Aktentasche. Dann kam ein Journalist des Lokalblatts, um mich zu interviewen. Spät am Abend, in meinem Hotelzimmer, rief ich Reisl und Rosalie an. Wie einfach es war, von einem großen Hotel aus zu telephonieren, die Taschen voll 70
mit Traveller Schecks und dazu noch das Honorar für den soeben gehaltenen Vortrag. Beide waren nicht zuhause. Ich ging zu Bett und sank in einen tiefen Schlaf. Ich erwachte gegen zehn am nächsten Morgen, badete und bestellte das Frühstück. Ich mußte im Hotel bleiben, bis das Geld kam. Ich brauchte es zwar nicht mehr unbedingt, aber es war mir wichtig zu wissen, ob sie Wort gehalten hatten. Außerdem mußte ich mich erst von diesem schrecklichen Erlebnis erholen. Gegen ein Uhr kam der Präsident, um mich zum Lunch abzuholen. Dann zeigte er mir im Wagen die Stadt. Wir kamen an Morris Shapiros Geschäft vorbei. Ich blickte hinüber zu dem Büro der Western Union und erkannte die Cafeteria, wo ich gefrühstückt hatte. Der Präsident drehte dauernd eine Zigarre zwischen den Fingern und wiederholte, M. sei nur eine kleine Stadt. Er schien sich für die Kleinheit zu entschuldigen. Ich sagte : »Trotzdem kann man hier leicht verloren gehen.« »Unmöglich !« Er wollte mir alles zeigen, was die Stadt zu bieten hatte: das Museum, Schulen, die landwirtschaftliche Hochschule. Aber ich hatte wenig Geduld für all dies. Ich war noch müde und hatte gehofft, vor dem Essen zu dem mich der Vorsitzende abholen würde, noch etwas schlafen zu können. Endlich fuhr mich der Präsident ins Hotel zurück. Es war schon dunkel. Die Fensterscheiben sahen bläulich aus. Ich legte mich in den 71
Kleidern hin. Von Zeit zu Zeit fühlte ich in meiner Hüfttasche nach den Traveller Schecks. Ich schlief ein. Ein Klopfen weckte mich. Es war ganz dunkel. Erschreckt richtete ich mich auf. Ich wußte nicht, wo ich war. Meine Beine waren kraftlos, wie nach einer Krankheit. Ich öffnete die Tür. Im Licht des Korridors sah ich zwei mir wohlbekannte Gesichter: Reisl und Rosalie. Ich starrte sie an. Reisl trug den schäbigen Pelzmantel, den sie in einem deutschen Lager erstanden hatte. Auf dem Kopf hatte sie einen weißen Schal. Rosalie trug auch einen Pelzmantel. Beide schleppten Taschen. Ich war zu verschlafen, um erstaunt zu sein. Rosalie sagte : »Nun, willst du uns nicht hereinbitten ?« Sie hatten offenbar beide beschlossen, persönlich zu kommen, um mich aus meiner Lage zu befreien. Sie hatten sich vielleicht in dem anderen Hotel getroffen, dachte ich, oder in dem Flugzeug, das einen Zwischenhalt in Chicago machte. Ich war viel zu müde, nach einer Erklärung zu fragen oder mich zu rechtfertigen. Ich war erstarrt. Ich sah sie lange Zeit an. Die Kobolde hatten mir einen neuen Streich gespielt – sie hatten nicht vor, mich in Ruhe zu lassen. Rosalie lachte mit den Augen. Reisl sah mich mit spöttischem Mitleid an. War dies mein endgültiger Untergang ? Oder hatten die höheren Mächte ein Gebet erhört, das ich gar nicht auszusprechen gewagt hatte ? Ich hörte mich sagen : »Kommt herein. Mazel tow ! Dies ist die Nacht der Wunder.«
Jacob Getzelles war der Leiter eines Verlages, Der Bischofsmantel den ein Millionär namens Bernard Neihaus hauptsächlich aus Prestigegründen ins Leben gerufen hatte. Neihaus hatte ein Vermögen mit Grundstücks- und anderen Geschäften verdient. Der Verlag gab nicht mehr als fünf bis sechs Bücher im Jahr heraus, Judaica – meistens Übersetzungen aus dem Hebräischen. Jacob Getzelles hatte das Hebrew Union College absolviert, aber er war nicht Rabbiner geworden. Einige Zeit hatte er an einem kleinen College im Mittelwesten Hebräisch unterrichtet. Dann hatte er viele Jahre lang eine Stellung bei einer philanthropischen Organisation in New York. Die ihn kannten, witzelten, Jacob Getzelles einziges Talent sei, mit seinem Chef zu Mittag zu essen. Jacob war ein kleiner Mann von dunkler Hautfarbe, mit runden rötlichen Backen, welligem Haar ohne eine Spur von Grau, obwohl er über sechzig war. Er hatte eine breite Nase, krause Augenbrauen und braune Augen, die wie die eines Kindes funkelten. Gerüchte wollten wissen, daß er in seiner Jugend allerlei Liebeleien gehabt hatte. Nach wenigen Ehejahren war seine Frau an Krebs gestorben, er hatte nie wieder geheiratet. Zu dieser Zeit wurde er der Leiter in Bernard Neihaus’ Verlag. Bernard Neihaus gab Bücher nicht heraus, wie es andere Verleger tun. Er spielte mit ihnen. Erst mußte 73
er sich in den Originaltext verlieben. Dann brauchte er viel Zeit, bis er den richtigen Übersetzer fand. Wenn das Werk illustriert werden sollte, suchte er lange nach dem geeigneten Künstler. Bernard Neihaus war ebenso klein wie Jacob, aber rund wie eine Tonne ; er wog 250 Pfund. Mit Bernard Neihaus zum Lunch zu gehen, war eine langwierige Angelegenheit. Alle geschäftlichen Entscheidungen wurden während dieser schweren Mahlzeiten getroffen. Die Ärzte hatten Neihaus darauf aufmerksam gemacht, daß sein Blut fast nur noch aus Cholesterol bestünde, aber Bernard pflegte zu sagen : »Es gibt kein Cholesterol. Es ist eine Erfindung der Ärzte.« Am Tage nach seinem neunundsiebzigsten Geburtstag bekam Bernard Neihaus einen Herzanfall und starb. Ob das Cholesterol daran schuld war, das erfuhr man nie. Bald darauf lösten seine Söhne den Verlag auf, und Jacob Getzelles war ohne Stellung. Aber die Mächte, die sich um Jacob Getzelles kümmerten, sandten ihm Bessie Feingevirtz, die Witwe eines Mannes, der Hotels gebaut hatte. Sie war die frühere Vorsitzende einer Organisation, die gegründet worden war, um Studenten in Palästina finanzielle Hilfe zu gewähren, und baute selbst Hotels. Sie war einige Jahre älter als Jacob, sie hatte eine fleischige, pickelige Nase und die Stimme eines Mannes, und, seitdem sie ihr eigenes Haar verloren hatte, trug sie eine rote Perücke. Nach dem Tode ihres Mannes war Bessie einigemal drauf und dran gewesen zu heira-
ten, aber die Kandidaten zogen sich zurück und beschwerten sich, daß es mit ihrem herrischen Charakter nicht auszuhalten sei. Jacob Getzelles jedoch war gewöhnt, sich zu fügen. Nachdem sie verheiratet waren, prahlte Bessie, sie hätte bei ihrem ersten Zusammentreffen zu Jacob gesagt : »Jacob, mein Lieber, Sie werden mein Ehemann.« Und er wurde ihr Mann. Anfangs war noch die Rede davon, den Verlag wieder aufleben zu lassen – Bessie hatte einen Hang zu Kultur und berühmten Leuten. Aber bald merkte sie, daß Jacob nicht genügend Initiative besaß, um ein Verleger zu sein. Außerdem konnte das Verlegen von Büchern Hunderttausende verschlingen. Sie redeten und planten vergebens, bis sie schließlich entschieden, für sie wäre es das beste, den Rest ihres Lebens irgendwo in Kalifornien zu verbringen. Sam Feingevirtz hatte keine Kinder hinterlassen, und Bessie behauptete, sie besitze genug für sie beide, um in Luxus zu leben, selbst wenn sie hundertzwanzig Jahre alt würden, und obendrein könnte sie noch einen schönen Batzen für wohltätige Zwecke hinterlassen. Erst ging das Paar auf eine fünfmonatige Weltreise. Dann sah sich Bessie nach einem Haus in Kalifornien um. Sie fand bald, was sie suchte : ein üppig möbliertes Haus mit einem Garten und einer Doppelgarage in Hollywood Hills. Wie immer hatte Bessie vorteilhaft gekauft ; eine Woche nach der Unterzeichnung des Kaufvertrags bot man ihr schon viel mehr, als sie bezahlt hatte. 75
Der Umzug nach Kalifornien war mühsam. Bessie brauchte viel Zeit, bis alles so war, wie sie es wollte. Als das getan war, konnte sie sich Jacob widmen. Sie hatte beschlossen, daß Jacob ein Buch schreiben und auch mit ihr an ihrer Autobiographie arbeiten sollte, in der sie die frühen Jahre in dem polnischen Städtchen Pisznica beschreiben würde, dann ihre Ankunft in Amerika, die Arbeit in den Werkstätten der Konfektion, das Erlernen der englischen Sprache, ihre Heirat mit Sam Feingevirtz, ihre Tätigkeit in der Organisation, in der sie Vorsitzende wurde, und ihren Kampf mit den eifersüchtigen Damen, die sie schließlich zwangen, zurückzutreten. Bessie hatte einen genauen Plan ausgearbeitet, in dem festgelegt wurde, wann und was Jacob essen sollte, welche Art Kleidung er wann zu tragen hatte (sie bevorzugte seidene Hemden, auffallende Krawatten, Samtjacken und Pantoffel mit Pompons), und wann er arbeiten sollte. Aber in Kalifornien wurde Jacob faul und apathisch. Er gähnte und döste vor sich hin. Er litt an Schreibkrampf und bekam ein nervöses Zucken am linken Auge. Auf der Hochzeitsreise hatte Jacob jeden Tag ein Liebesgedicht für Bessie geschrieben. Er hatte ihr Anekdoten über Schriftsteller, Übersetzer und die Berühmtheiten, denen er begegnet war, erzählt, und komische Geschichten über Bernard Neihaus und seine Launen. Jetzt war Jacob schweigsam geworden ; Bessie mußte die Worte aus ihm herausziehen. Der Garten um das Haus hätte einen Mann 76
zur Pflege gebraucht, aber Jacob zeigte kein Interesse für Gartenarbeit. Den ganzen Tag lief er im Bademantel herum und ging nicht einmal zum Friseur. In Los Angeles und seinen Vororten war es unbedingt notwendig, daß man autofahren konnte. Bessie ordnete Fahrstunden für Jacob an. Nach der dritten Stunde rief der Fahrlehrer Bessie an und sagte : »Es tut mir leid, aber das ist ein hoffnungsloser Fall. Ihr Mann würde auf seiner ersten Ausfahrt jemanden umbringen.« Bessie fing an, sich mit dem Gedanken an Scheidung zu tragen. Aber dann traf sie Phyllis Gurdin, eine jüdische Frau aus Philadelphia, die Witwe eines spiritistischen Bischofs, Thomas Delano Gurdin, der bei einem Flugzeugabsturz umgekommen war. Er hatte seiner Frau ein Haus in der Nähe von Bessies Haus hinterlassen. Sie war ein Hypnotiseur, ein Medium, ein Wunderheiler, sie war eine Sachverständige in der Auslegung von Tarokkarten, und sie war das Oberhaupt einer Gruppe, die ›in Zungen sprach‹. Zwischen den beiden Frauen entstand eine enge Freundschaft. Als einige Bäume in Bessies Garten einen spinnwebartigen Befall entwickelten, empfahl Phyllis Gurdin nicht nur ein Spritzmittel, sondern auch ein spezielles Gebet gegen den Schwamm. Bessie bekam Warzen auf dem Kinn, und Phyllis gab ihr einen Trank und einen Zauberspruch, der sie eintrocknen lassen sollte. Nach einiger Zeit lud Phyllis Gurdin Jacob und 77
Bessie zu einem Gottesdienst derer, die in Zungen sprachen. Er fand in Phyllis Gurdins Wohnzimmer statt. Sie küßte alle, Männer und Frauen, bei ihrem Eintreten. Bald war das Zimmer voller Männer mit grauem Haar und Frauen mit gefärbtem Haar. Phyllis Gurdin hatte ein dunkelhäutiges Gesicht, schwarze Augen, buschige Brauen. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern. Ihre Haarfarbe war ein grelles Orangerot. Auf ihrer Oberlippe war ein weißer Flaum sichtbar. Sie trug ein weißes Gewand und einen roten Turban. Phyllis Gurdin führte die Gemeinde im Singen der Hymnen an. Sie tanzte, und die Gemeinde tanzte mit ihr. Der Gesang wurde lauter. Sie tanzten wie rasend, klatschten in die Hände, stießen laute Worte des Lobes für Gott, Jesus und Phyllis Gurdin aus. Plötzlich fingen sie an, Worte zu schreien, die Bessie noch nie gehört hatte. Das war keine Sprache, das war ein Kauderwelsch : Laute wie »charopakitcichi«, »hatchomarumbi«, »leptochocalduku«. Aller Augen strahlten vor Freude. Männer umarmten Frauen. Frauen umarmten Männer. Ein Trommler trommelte. Ein Trompeter stieß in eine Trompete, die einen großen Trichter hatte. Sie schrien, sprangen, schüttelten sich, gerieten in einen Zustand der Verzückung. Bessie sah voller Erstaunen zu. War dies Wahnsinn ? Zauberei ? Eine Orgie ? Ein Bacchanal ? Bessie wurde es heiß. Sie hatte keinen Alkohol getrunken, kam sich aber betrunken vor. Seit Jahren litt sie an Arthritis und Krampfadern – jetzt wurden ihre 78
Füße seltsam leicht. Plötzlich fing auch Bessie an zu hopsen, zu klatschen und in einer Sprache zu schreien, die sie nicht verstand. War es Griechisch, Persisch, Tatarisch ? War ein Dibbuk in sie gefahren ? Der Boden unter ihren Füßen schwankte. Die Wände drehten sich. Bessie hörte sich selbst kreischen : »Mutchiefalkosy ! Sappolachia ! Rinchiehoppler ! Saltalafonta !« Liebe zu allen überwältigte sie, als seien sie alle ihre Brüder und Schwestern. Sie lief zu Jacob hinüber, der in einer Ecke bei der Tür stand, drückte ihn an ihren Busen, lachte, weinte, und heulte : »Katcharololshy ! Poladumbka ! Zakafier !« Jacob fuhr zusammen, lächelte und antwortete mit heiserer Stimme in einer Mischung von Jiddisch, Hebräisch und Aramäisch : »Pitchapoi ! Yegar Sadussa ! Otz koytzetz den koytzetz !« Bessie befürchtete, Jacob könne ihre geistige Wiedergeburt ebenso zu verhindern suchen wie manche ihrer anderen Pläne und Programme. In dem Fall war sie bereit, für eine schnelle Scheidung nach Reno zu gehen. Aber diesmal machte Jacob mit. Er schloß sich eng an Phyllis Gurdin an. Stundenlang saß er mit ihr und Bessie vor dem Ouija-Brett und half die Mitteilungen entziffern, die Phyllis Gurdins Kontrollgeist, ein Indianer, der sich Rotäugiger Häuptling nannte, aus der anderen Welt sandte. Jacob und die beiden Frauen legten ihre Hände auf einen Tisch ohne Nägel, und fühlten ihn vibrieren, Antworten klopfen, sich 79
leicht abheben. Er nahm an den Zusammenkünften derer, die in Zungen redeten, teil, und fing ein sinnloses Geschwätz an, das Phyllis wegen seiner bizarren Folgerichtigkeit erstaunte. Sie versicherte Jacob und Bessie, dies sei eine Sprache, die auf einem Planeten außerhalb des Sonnensystems gesprochen werde. Könnte man den Schlüssel dazu finden, so würde die Menschheit Einsicht in die Geheimnisse des Universums gewinnen. Jacob war überrascht, die bisher so knauserige Bessie in großem Stile Geld ausgeben zu sehen. Die Gemeinden der Sekte derer, die in Zungen reden, brauchten eine Kirche, und Bessie stiftete einen riesigen Betrag. Phyllis Gurdin brauchte einen Kombiwagen, um die Alten und Behinderten zu den Versammlungen zu bringen, und Bessie übernahm die Kosten. Die beiden Frauen küßten sich, wann immer sie sich trafen, und nannten einander »Baby«, »Liebling«, »Süßes«, »Schatz«, »glückliche Seele« und mit anderen Kosenamen. Bessie, die auf ihrer Weltreise eifersüchtig gewesen war und Szenen gemacht hatte, wenn Jacob auch nur mit einer Kellnerin freundlich sprach, verlangte jetzt, daß er Phyllis wie eine Schwester behandle noch inniger als eine Schwester. Bessie schalt ihn, wenn er Phyllis nicht beim Kommen oder Gehen küßte. Wenn Bessie nach Los Angeles fuhr – sie hatte einen Makler am Wilshire Boulevard, der sie bei ihren Geschäften beriet – bereitete Phyllis das Mittagessen für Jacob, das aus Brunnenkresse, Pilzen, langkörnigem, 80
braunem Reis und Joghurt bestand. Sie erinnerte ihn daran, seine Medikamente zu nehmen und sich nach dem Essen hinzulegen. Sie erzählte ihm von der erhabenen Liebe, die zwischen ihr und dem seligen Bischof bestanden hatte, und beschrieb die intimsten Details. Bei jeder Gelegenheit sprach sie von ihrer Jüdischkeit und daß sie sich ihres Ursprungs stets bewußt sei. Am Jom Kippur fastete sie. Sie hatte eine Großmutter gehabt, die aus Rußland nach Amerika ausgewandert war und nie Englisch gelernt hatte. Phyllis hatte Jiddisch mit ihr gesprochen ; sie erinnerte sich noch an viele Worte. Wann immer sie an die Ostküste fahren mußte, verfehlte sie nie, in Philadelphia Halt zu machen, um sich an den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern niederzuwerfen, hebräische Gebete zu sprechen und Blumen dort zu lassen. Als Phyllis einmal in Trance geriet, erschienen ihr die Geister der Vorfahren und versicherten ihr, daß sie ihr Verhalten billigten und sie bei ihrem Tode willkommenheißen würden. Wo sie waren, gab es keine Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, weiß und schwarz, Amerikanern und Europäern. Alle Seelen lebten zusammen, strebten nach geistiger Entwicklung, stiegen auf von Wohnung zu Wohnung, und halfen den Neuangekommenen, ihre geistige Heimat zu finden. Eines Abends blieb Phyllis länger in Bessies Haus als gewöhnlich. Der Tisch vibrierte, begierig danach, sich in die Luft zu heben. Bessie und Phyllis mußten 81
Gewalt anwenden, damit er nicht an die Decke stieg. Unter dem Tisch drückte Phyllis ihr Knie gegen das Jacobs und ein Zittern lief über seinen Rücken. Das Schreibgerät schrieb schnell und genau, enthüllte Geheimnisse und überbrachte Grüße von vielen verstorbenen Verwandten. Im Trancezustand verkündete Phyllis, daß Jacobs Mutter gegenwärtig sei und daß sie ihren geliebten Sohn nicht vergessen habe. Sie wachte über ihn im Himmel und legte Fürsprache für ihn ein. Seine Mutter sprach durch den Mund von Phyllis auf Jiddisch mit englischen Brocken, nannte ihn ›Jankele, mein Täubchen‹, und küßte ihn mit Phyllis Lippen. Später sprach der Bischof. Mit tiefer Stimme verkündete er, daß Bessies und Jacobs Umsiedlung nach Los Angeles und der Kauf eines Hauses in der Nähe von Phyllis, kein Zufall gewesen seien. Die Himmlischen Mächte hatten all das veranlaßt, denn sowohl Bessie wie Jacob seien ausersehen, eine wichtige Rolle in der religiösen Erneuerung zu spielen, die durch das Verschmelzen von Judentum und Christentum entstehen würde – eine neue Epoche auf dem Wege zur Erlösung. Gegen ein Uhr wurde Jacob so schläfrig, daß er seine Augen nicht mehr offenhalten konnte. Bessie und Phyllis brachten ihn zu Bett, deckten ihn zu, gaben ihm einen Gutenachtkuß und wünschten ihm beseligende Visionen. Bald schlief er fest. Als er erwachte, war es noch dunkel. Er streckte die Hand nach Bessie aus, aber es war eine fremde Brust, die er berühr82
te. Er lauschte und hörte das Schnarchen zweier Nasen. Auch Bessie erwachte. »Liebster, wundere dich nicht. Es wurde sehr spät und ich wollte Phyllis nicht nachhause gehen lassen. Ich bestand darauf, daß sie hier mit uns schlafen sollte, weil …« Phyllis hörte auf zu schnarchen. »Ich werde auf das Sofa gehen.« »Nein, Phyllis, mein Mann ist dein Mann«, sagte Bessie feierlich. »Jacob, du sollst wissen, daß wir heute abend einen Bund geschlossen haben. Wir beide sind wie Rahel und Lea, und du bist unser Jacob. Umarme sie, küsse sie, liebkose sie. Eine Schwester ist nicht eifersüchtig auf die andere. Im Gegenteil.« »Ich habe dich ihr für ein Bund Alraunen abgekauft.« Die gelehrte Phyllis wandelte die Geschichte aus der Genesis ab. Sie sprach mit ersticktem Lachen. Jacob Getzelles war stumm. Die totgeglaubte Leidenschaft erwachte wieder. »Träume ich ?« fragte er. »Nein, Jacob, mein Geliebter, es ist Wirklichkeit.« Bessie sprach mit zitternder Stimme. »Phyllis’ Mann, der Bischof, hat dich erwählt. Er erschien uns und sagte …« »Jacob, seine Seele ist in dich eingegangen«, unterbrach Phyllis. »Du wirst seinen Platz in unserer Gemeinde einnehmen.« Dinge geschehen mir, noch dazu in meinem Alter, dachte Jacob bestürzt. Er zitterte, überwältigt von der ewigen männlichen Furcht vor Hilflosigkeit. Er zog 83
Phyllis an sich, und sie drängte sich an ihn. Er küßte sie, und sie biß seine Lippen mit solcher Inbrunst daß alle Zweifel augenblicklich verflogen. Begierde überfiel ihn. Bessie schrie : »Nimm sie ! Tu, was sie will !« »Mein Gemahl, komm zu mir«, flehte Phyllis ihn an. Der Tag brach an, als Jacob leise das Bett verließ. Nach längerem Flüstern und Kichern waren Phyllis und Bessie wieder eingeschlafen. Jetzt ging Jacob auf wackeligen Beinen in das Badezimmer. Diese Nacht der Zügellosigkeit war vorüber, sie hatte ihn mit einer Schwäche in den Lenden und Stechen in der Blase zurückgelassen. Jacob Getzelles litt seit Jahren an einer Vergrößerung der Prostata. Mit Hilfe von Medikamenten und Massage hatte er eine Operation umgangen, aber der Arzt in New York hatte ihn gewarnt, ein Hinausschieben der Operation könnte Komplikationen verursachen. Jetzt stand er vor dem Spiegel – zerzaust, runzelig, gelbgesichtig. »Bin ich glücklich ?« fragte er sich. »War ich vorher glücklicher ?« Kopf und Knie schmerzten. Er ging auf die Toilette, um zu urinieren. Aber das Wasser kam nur mit Unterbrechungen und tropfenweise. Er sagte sich : »Es ist zu spät für ein solches Glück.« Als Phyllis Gurdin in den okkultistischen Zeitschriften bekanntgab, daß der Geist von Thomas Delano Gurdin auf den Planeten Erde zurückgekehrt und in den Körper von Jacob Getzelles eingegangen sei, einem hebräischen Gelehrten, einem Philo84
sophen und Mystiker, erwartete sie viele begeisterte Zuschriften und Besuche der Anhänger des Bischofs. Aber aus irgendeinem Grunde gab es keinen Widerhall. Selbst ihre eigene Gruppe blieb skeptisch. Jacob Getzelles war gerade operiert worden und sah verfallen aus. Er sah dem Bischof so gar nicht ähnlich. Thomas Delano Gurdin war hoch gewachsen und blauäugig gewesen, hatte langes Haar gehabt und mit einer kräftigen Stimme im biblischen Stil gesprochen. Er hatte einen magnetischen Blick gehabt. Jacob Getzelles war klein und schüchtern und sprach Englisch mit einem Akzent. Er gestattete Phyllis, sein Sprachrohr zu sein und nickte nur sanft zu allem, was sie sagte. In dem Bischofsmantel, den Phyllis enger und kürzer gemacht hatte, und mit der Mitra, die sie ihm aufsetzte, sah Jacob Getzelles aus wie ein Schlemihl. Tatsächlich gab es unter den Gläubigen Intrigen gegen Phyllis. Sie hatte Geld für den Kirchenbau in Empfang genommen und dem Komitee keine Rechenschaft darüber abgelegt. Sie hatte einen ungünstigen Vertrag mit einem Bauunternehmer abgeschlossen, und viele Gemeindemitglieder verdächtigten sie, von ihm dafür Prozente bekommen zu haben. Ihre Beziehung zu Bessie, die an der Börse spekulierte und Grundstücksgeschäfte machte, schickte sich nicht für jemanden, der angeblich schon mit einem Fuß im Himmel stand. Phyllis erhielt sowohl anonyme als auch unterzeichnete Briefe, in denen sie Heuchler, Dieb, Veruntreuer genannt wurde, und Ja85
cob Getzeiles Schwindler und Betrüger. Jemand erstattete Anzeige beim Staatsanwalt. Wenn Jacob Getzelles sich am Nachmittag in seinem Zimmer hinlegte, hörte er Bessies lange telephonische Unterhaltungen mit Phyllis, und sie sprachen nicht von den höheren Sphären, sondern über Zinsen, Hypotheken und Kredite. Phyllis blieb nicht mehr über Nacht in Bessies Haus, und Jacob Getzelles brauchte sich keine Sorgen um seine Männlichkeit zu machen. Alles endete in einem Fiasko. Der Boden, auf dem die Kirche hätte stehen sollen, erwies sich als gefährlich, die Sachverständigen warnten, daß bei heftigen Regenfällen die Kirche den Hügel hinunterrutschen könnte. In dem Mitteilungsblatt ihrer Sekte wurde Phyllis Gurdin bezichtigt, ein falscher Prophet zu sein. Der Sommer war ungewöhnlich heiß. Die meisten Mitglieder von Phyllis’ Kreis gingen in die Rokky Mountains oder ans Meer, um Kühlung zu finden. Andere nahmen an okkulten Zusammenkünften in Texas, Wisconsin, Pennsylvania oder New Jersey teil. Einige erforschten die Gesetze des Karma und Nirwana in Kalifornien, in einer vegetarischen Kolonie unter der Leitung eines weißbärtigen Guru. Tage vergingen, ohne daß Phyllis anrief. Bessie versuchte, sie telephonisch zu erreichen. Aber es meldete sich niemand. Jacob merkte, daß Bessie vor Ärger krank wurde. Sie sprach kaum mehr mit ihm. Sie verbrachte ihre Zeit mit Rauchen und dem Kritzeln von Zahlen. Er sah sie nie etwas essen. Auch Jacob 86
machte eine Krise durch. Trotz der Operation hatte er immer noch Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Der Arzt riet zu einer nochmaligen Operation. Vor einiger Zeit hatte Phyllis ihm einen Koffer voller Bücher über Spiritismus, Theosophie und Astrologie gebracht. Jacob las die Werke von Mme. Blavatsky, Gurdjieff, Uspensky, Ford und die Bibel der übersinnlichen Forschung »Phantasms of the Living« von Gurney, Myers und Podmore. Obwohl Bessies Haus klimatisiert war, blieb die Luft feucht, und Jacob lief den ganzen Tag in seiner Unterwäsche herum. Er lag auf dem Sofa, stierte durch die Sonnenbrille in seine Bücher und sprach mit sich selbst. Die Geschichte von dem Mann, den seine Frau auf einem Schiff mitten im Atlantik besuchte, obwohl sie ihr Haus im Westen Amerikas nie verlassen hatte, war wirklich bemerkenswert. Beruhte nur dieser eine Fall auf Wahrheit, so mußten alle Werte umgewertet werden. Aber war dieser Fall echt ? Er hätte ja ein Traum, eine Halluzination oder auch einfach ein Schwindel sein können. Wie viele Wunder schrieb man nicht jedem kleinen Wunderrabbi, jeder Wahrsagerin zu ? Wie viele Offenbarungen empfing Phyllis nicht jeden Tag ? Schließlich verlor Jacob jedes Interesse, selbst an dem Übersinnlichen. Sein Kopf war schwer. Er lag den ganzen Tag auf dem Sofa. Manchmal schlief er ein und wachte erschrocken wieder auf. Er duselte ein, schlug die Augen wieder auf, verstört von einem 87
Traum, den er sofort wieder vergaß. Nichts störte ihn mehr – nicht die Hitze, nicht die Feuchtigkeit und auch nicht das Stechen in seiner Blase. Die Warnung seines Arztes, daß er in Gefahr war, eine Harnvergiftung zu bekommen, erschreckte ihn nicht. Jacob hatte einen Mordbericht in der Zeitung gelesen, aber weder konnte er Mitleid mit dem Opfer, noch Haß gegen den Mörder empfinden. Wenn das Telephon läutete, nahm er den Hörer nicht ab. Der Briefträger brachte einen Eilbrief, er ließ ihn ungeöffnet liegen. Auch seine Schlaflosigkeit störte ihn nicht mehr. Bessie konnte auch nicht schlafen. Sie seufzte, kratzte sich und murmelte vor sich hin. Obgleich sie zusammen in einem großen Bett schliefen, schien sie weit entfernt zu sein, und er vergaß sie gänzlich. Manchmal sprach sie zu ihm, aber es war ihm unmöglich, sie aufmerksam anzuhören. Er hörte sie sagen : »Jacob, unser Leben ist ein einziger großer Irrtum. Ich sehe keinen Ausweg.« An jenem Morgen rief Bessie ihn nicht zum Frühstück in die Küche. Sie verließ das Haus, ohne ihm zu sagen, wohin sie ging. Sie kam mittags nicht nachhause. Aus irgendeinem Grunde hatten der Durst, der Jacob quälte, und der häufige Drang zum Wasserlassen aufgehört. Aus reiner Gewohnheit öffnete er eines der Bücher, die Phyllis ihm gebracht hatte – er konnte kaum die Worte lesen. »Ist es schon Dämmerung oder bekomme ich den Star ?« Es wurde ihm bewußt, daß er von sich wie von einem Fremden dachte. 88
Plötzlich flog die Tür auf und Bessie taumelte herein. »Sie ist auf und davon, diese Betrügerin, diese Verbrecherin ! Sie hat den Laden dichtgemacht und sich nicht einmal verabschiedet. Es ist deine Schuld, deine, deine !« Bessie schrie hysterisch : »Du hast mich mit all diesen Verrückten und Bekloppten zusammengebracht. Sie ist mit meinem Vermögen durchgebrannt. Ich bin nackt und bloß. Selbst das Haus gehört uns nicht mehr. Sie hat mich in den Wahnsinn hypnotisiert !« Bessie riß ihm das Buch aus der Hand und warf es auf den Boden. Sie stieß den kleinen Tisch um, auf dem die Zeitschriften lagen, und kreischte : »Was liest du da für Blödsinn, vergräbst dich in diesem Mist ? Es ist alles Schwindel. Wenn sie eine Heilige ist, bin ich der Papst. Auch ihr Mann war ein Hochstapler. Es ist alles Schwindel ! Bischof Jacob Getzelles, daß ich nicht lache ! Weh über mein elendes Leben ! Mörder !« Das letzte Wort sprach Bessie auf Jiddisch aus : »Rozoach !‹‹ Sie trat die Bücher mit Füßen und spie auf sie. »Was sollen wir jetzt tun ? Gott hat mich gestraft und mir den Verstand genommen. Diese Hexe hat mich mit ihrem heiligen Geschwätz und ihrer falschen Liebe geblendet. Diese Räuberin, diese Hochstaplerin, diese Abenteurerin. Ich will nicht mehr leben ! Hörst du mich oder hörst du mich nicht ?« stöhnte Bessie. »Ich will auf der Stelle sterben.« Ihre rote Perücke fiel herunter, und mit kahlem Schädel, von dem nur ein paar weiße Haarsträhnen hingen, stand sie da. 89
In Jacobs Innerem zerbrach etwas. »Sei still. Wenn wir schon sterben müssen, laß uns würdig sterben.« »Es lohnt nicht mehr zu leben. Alles ist verloren. Verflucht sei der Tag, an dem meine Augen dich zum erstenmal erblickten, dich und sie. Sie hat mich zum Bettler gemacht. Wenn du noch leben willst, geh in ein Altersheim.« »Bessie, ich will nicht leben.« »Ich geh in die Küche und dreh den Gashahn auf.« »Ja, tu das.« »Steh auf. Ich habe nicht einmal einen Platz auf dem Friedhof. Sollen sie mich zu den Hunden werfen.« Bessie lief zur Klimaanlage und stellte sie ab. Sie riß die Kissen und die Decke vom Sofa an sich und rannte in die Küche. Jacob folgte ihr. Seltsam : zum erstenmal fühlte er etwas wie Liebe für diese wilde Frau. Bessie schloß die Küchentür und die Fenster, löschte die Stichflammen aus und öffnete alle Hähne am Herd. Jacob starrte sie an. Er war sich nicht klar darüber, aber er spürte keine Furcht mehr vor dem Tod. Er fühlte sich wie einer der Astralkörper, über die er gelesen hatte – gewichtlos, ergeben, einer außerhalb seiner selbst liegenden Macht unterworfen. So stirbt man also ? überlegte er. Aber er war nicht einmal mehr neugierig. Er war ein Kind, und Bessie brachte ihn ins Bett. Sie breitete die Sofadecke über den Boden und warf die Kissen darauf. »Wir wollen nicht auf den harten Fliesen sterben.« 90
Bessie half Jacob, sich hinzulegen. Sie streckte sich neben ihm aus und küßte ihn. Ihr Gesicht war heiß und feucht. »Wenn es einen Gott gibt oder was immer Er ist, bald werden wir es wissen.« »Es gibt dort nichts«, antwortete Jacob, über seine eigenen Worte erstaunt. Im Korridor läutete das Telephon, Bessie fuhr auf. »Wer kann das sein ? Ganz gleich.« Es läutete noch lange. Dann wurde es still. Bessie umarmte Jacob. Sie fragte ihn : »Soll ich das Gebet sprechen ›Höre, Israel ?‹« Und Jacob murmelte : »Nicht nötig.« Das waren seine letzten Worte. Am nächsten Tag fand man ihn und Bessie tot auf. Nach vielen Monaten, als Bessies Anwälte in New York ihren Nachlaß ordneten, zeigte es sich, daß er immer noch vierhunderttausend Dollar betrug, außer dem Besitz, den sie Phyllis überschrieben hatte und den die Anwälte versuchten, zurückzuerhalten. »Sie ist sicher nicht wegen Mangel an Geld gestorben«, sagte einer der Anwälte, ein kleiner Mann mit spitzem Schädel, spitzer Nase und spitzen Augen. »Warum hat sie keinen Brief hinterlassen ?« Während er sprach, spitzte er einen Bleistift, der schon sehr gut gespitzt war. Der andere Anwalt, ein großer, schwerer Mann mit gelben Augenbrauen und einem wabbeligen Doppelkinn, dachte lange nach und sagte dann : »Ich habe Dutzende von Briefen von Selbstmördern gelesen, aber kein einziger hat je die Wahrheit gesagt.«
Als ich an einer jiddischen Zeitung arbeitete Verloren und ratsuchende Leser beriet, kamen alle möglichen Leute mit ihren Problemen zu mir : betrogene Ehemänner und Ehefrauen ; Verwandte mit Streitigkeiten aus der alten Heimat ; Einwanderer, die vor vielen Jahren nach Amerika gekommen waren und jetzt amerikanische Staatsbürger werden wollten, aber weder die Daten ihrer Ankunft noch die Namen der Schiffe wußten. In den meisten Fällen bestand meine Hilfe im Zuhören und in Worten des Trostes. Manchmal gab ich ihnen die Adresse der HIAS* oder die einer Organisation, die Rechtshilfe erteilte. Gewöhnlich kamen diese Ratsuchenden in der Mitte der Woche – fast nie am Freitag. Während der Jahre, die ich diese Tätigkeit ausübte, lernte ich, daß selbst Juden, die am Samstag arbeiten, den Freitag als Vorbereitungstag für den heiligen Sabbat ansahen. Ob dies eine Sache der Tradition oder des Atavismus ist, hat hier nichts zu suchen. Aber einer kam an einem Freitag zu mir, spät am Nachmittag, als ich schon nachhause gehen wollte, ein Mann, der in den Siebzigern zu sein schien. Sein Rücken war gebeugt. Er hatte ein weißes Spitzbärtchen und Säcke unter den Augen. Er trug einen langen schwarzen Mantel, und ich dachte * Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society. (Jüdische Schutz- und Einwandererhilfsgesellschaft von Amerika.)
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mir, er müsse ein Neuankömmling in Amerika sein. Aber kaum hatte er sich an meinem Tisch niedergelassen, als er sagte : »Wie Sie mich hier sehen, habe ich vor über sechzig Jahren angefangen, Ihre Zeitung zu lesen, am Tag meiner Ankunft hier.« Ich fragte ihn, wo er herkomme, und er nannte mir eine Stadt in Polen. Er erzählte mir, daß er in eine Jeschiwa gegangen sei und versucht hätte, die Zulassungsprüfung zur Universität zu bestehen. In Amerika wurde er dann Lehrer an einer Talmudschule, später, nach seiner Ausbildung, Zahntechniker. Jetzt arbeitete er natürlich nicht mehr. Er sagte : »Ich weiß, Sie sind hier, um Leuten Rat zu erteilen, aber darum will ich Sie nicht bitten. Was für einen Rat könnten Sie einem Mann von dreiundachtzig Jahren geben ? Ich habe alles, was ich brauche, und wenn ich sterbe, so wartet schon ein Stückchen Erde auf dem Friedhof auf mich, das mir meine ›Landsleit‹ vorbereitet haben. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich glaube, daß Sie interessieren könnte, was mir zugestoßen ist. Sie schreiben oft über die geheimnisvollen Mächte. Sie glauben an Dämonen, Kobolde – und sonst allerlei. Ich werde mich nicht mit Ihnen über deren Existenz streiten. Weder Sie noch ich haben sie gesehen. Selbst wenn Dämonen existieren sollten, in New York gibt es keine. Was sollte ein Dämon in New York tun ? Er würde von einem Auto überfahren werden oder sich in der Untergrundbahn verirren und nie mehr herausfinden. Dämonen brau94
chen eine Synagoge, ein rituelles Badehaus, ein Armenhaus und eine Dachstube mit zerfledderten Gebetbüchern – all das Drum und Dran, das Sie in Ihren Erzählungen beschreiben. Trotzdem, verborgene Mächte, die niemand erklären kann, gibt es überall. Ich rede nicht nur von Theorien. Ich habe Erfahrung darin. Die jiddischen Zeitungen haben darüber berichtet, und sogar die in englischer Sprache. Aber wie lange schreibt man schon über irgend etwas ? Wenn der Himmel sich öffnete, und der Erzengel Gabriel mit seinen sechs feurigen Flügeln herunterflöge und am Broadway spazierenginge, hier in Amerika würde man höchstens ein oder zwei Tage darüber schreiben. Wenn Sie es eilig haben und gehen wollen, um die Kerzen anzuzünden und den nahenden Sabbat zu segnen, komme ich ein andermal wieder«, sagte er, lächelte und zwinkerte mir zu. »Obwohl man bei einem Mann meines Alters da nie ganz sicher sein kann.« »Ich habe es nicht eilig«, sagte ich. »Bitte setzen Sie sich und erzählen Sie.« »Wo soll ich anfangen ? Ich werde dort anfangen, wo alles begann, auf einem Schiff. Ich bin nicht hierher gekommen wie die anderen Grünschnäbel, arm. Mein Vater war wohlhabend. Ich war sein ältester Sohn. Er wollte, daß ich Rabbiner werde, aber damals hatte sich die Aufklärung langsam von Litauen nach Polen ausgebreitet. Heimlich las ich Sokolows Zeitung ›Morgenröte‹, und die neuen Ideen verführten 95
mich. Als ich zum Militär eingezogen werden sollte, wollte mein Vater, daß ich mich selbst verstümmle : ich sollte mir einen Finger abschneiden, oder – entschuldigen Sie den Ausdruck – einen Hodenbruch zuziehen. Aber ich war ein gesunder junger Mensch – groß und stark –, und ich sagte meinem Vater deutlich, daß ich mich nicht zum Krüppel machen würde. ›Und was hast du vor, zu tun ?‹ fragte er mich. ›Dem Zaren dienen und Kommißfraß essen ?‹ Und ich antwortete : ›Ich will nach Amerika gehen.‹ Zu jener Zeit war es ein Schandfleck für eine Familie, einen Sohn in Amerika zu haben – so wie einen Konvertiten oder einen Selbstmörder etwa. Aber ich bestand darauf, und meine Eltern mußten zustimmen. Mein Vater gab mir fünfhundert Rubel als Reisegeld, was damals ein Vermögen war. Die meisten Einwanderer kamen ohne einen Pfennig nach Amerika. Sie reisten im Zwischendeck. Ich reiste zweiter Klasse auf einem deutschen Schiff. Bevor ich Europa verließ, legte ich meinen langen Kaftan ab. Ich nahm das Buch ›Do you speak English ?‹ mit. Verglichen mit anderen Einwanderern, reiste ich wie ein Graf. Im Speisesaal gab es einen besonderen Tisch für die Passagiere, die koscheres Essen bekamen. Ich saß dort. Wir waren nur fünf oder sechs. Da waren ein deutscher Rabbiner und ein reicher Kaufmann, auch aus Deutschland. Gerade mir gegenüber saß ein Mädchen, das, wie ich, allein reiste. Sie kam aus Kowno. Sie war ungefähr in meinem Alter. Ich war schüchtern, aber 96
wenn ein junger Mann und ein junges Mädchen siebzehn Tage lang an einem Tisch sitzen, müssen sie sich ja kennenlernen. Sie hatte das Gymnasium besucht, und ein jüdisches Mädchen, das auf das Gymnasium ging, war eine solche Seltenheit, daß ich sie für eine Prinzessin hielt. Sie benahm sich auch wie eine solche. Sie war zurückhaltend und sprach selten. Sie war blond, schlank und ziemlich groß für ein Mädchen. Sie war elegant gekleidet und sprach sowohl Russisch wie Deutsch. Nach einigen Tagen fingen wir an, uns zu grüßen, und gingen sogar zusammen auf dem Deck spazieren. Sie erzählte mir, daß sie zwar nichts von den Speisegesetzen halte, aber ihrem Großvater hoch und heilig versprochen habe, koscher zu essen. Ich hörte, daß sie eine Waise war. Ihr Vater war ein reicher Holzhändler gewesen, und ihrem Großvater gehörten eine Anzahl Häuser in Kowno. Ich fragte sie, warum sie nach Amerika gehe. Anfangs vermied sie es, zu antworten ; dann vertraute sie mir an, daß sie auf dem Wege zu ihrem Verlobten sei – einem Studenten, der in der revolutionären Bewegung aktiv gewesen war und vor der Polizei hatte fliehen müssen. Der Verlobte lebte in New York und sollte dort an einer Universität studieren.« »Wie hieß sie ?« fragte ich. »Anna Davidowna Barzel. Eines Morgens erschien sie spät zum Frühstück, und sobald ich sie sah, wußte ich, daß ihr etwas Schreckliches zugestoßen war. Sie war weiß wie die Wand. Sie aß nichts von dem, 97
das man ihr vorsetzte. Die anderen am Tisch bemerkten ebenfalls, daß sie elend war und befragten sie, aber ihre Antwort war nicht zu verstehen. So war sie, übermäßig stolz. Nach dem Frühstück sah ich sie an der Reeling stehen und sich so weit hinausbeugen, daß ich Angst bekam vor dem, was sie tun könnte. Zögernd näherte ich mich ihr und fragte : ›Anna Davidowna, was sehen Sie dort unten ?‹ Sie fuhr zusammen und fiel fast um. Erst sah sie verärgert aus, weil ich sie gestört hatte, und ich fürchtete, sie könnte böse sein. Dann beruhigte sie sich. Sie hatte sich völlig verändert – sie schien abgemagert, krank und niedergeschlagen. Plötzlich wurde ich mutiger und sagte : ›Anna Davidowna, ich flehe Sie an, bei allem, was mir heilig ist, sagen Sie mir, was geschehen ist. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.‹ ›Nein, Sie können mir nicht helfen‹, sagte sie. Mit der Zeit erzählte sie mir folgende Geschichte. Ehe sie Kowno verließ, hatte ihr Großvater ihr tausend Rubel gegeben. Sie hatte in einer Bank die Rubel in Dollar gewechselt und diese in einem Beutelchen um den Hals getragen, zusammen mit einem kleinen Notizbuch mit der Adresse des Verlobten. Er hatte einen ungewöhnlichen Namen – Wladimir Machtei. Als sie sich am vergangenen Abend auskleidete, entdeckte sie, daß sowohl das Geld wie das Notizbuch aus dem Beutelchen verschwunden waren. Stattdessen fand sie den Abschnitt einer Schiffskarte und andere belanglose Papiere, die in ihrem Koffer gewe98
sen waren. Sie hatte eine Kabine für sich, da sie mit niemandem Zusammensein wollte. Sie erinnerte sich mit Sicherheit, daß sie am Morgen, als sie sich anzog, Geld und Notizbuch in dem Beutelchen gehabt hatte. Sie war ebenfalls ganz sicher, daß sie nicht den Billettabschnitt und die Papiere aus dem Koffer genommen hatte. Wozu ? Der Abschnitt eines Billetts ist wertlos. In Gedanken sind wir alle ein bißchen zynisch, und mir kam der Gedanke, daß sie sich vielleicht mit einem jungen Mann vergnügt hatte, und daß er sie bestohlen haben könnte. Ich erwähnte diese Idee beiläufig und Anna wurde noch bleicher, als sie ohnehin war. ›Sie sind rüde und ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben‹, sagte sie und ließ mich stehen. Ich war beschämt. In Wirklichkeit gab es keinen einzigen jungen Mann in der zweiten Klasse, mit dem sie sich hätte einlassen können. Ich sah sie nie mit irgend jemandem sprechen. Sie hatte keinen Liegestuhl. Wo immer sie hinging, trug sie ein Buch bei sich. Sie war ein zurückhaltendes Fräulein, wie es sie heute nicht mehr gibt. Von diesem Tage an bis zum Ende der Reise sprach Anna kein Wort mehr mit mir. Wenn ich sie grüßte, grüßte sie nicht zurück. Ich ging so weit, den Kellner zu bitten, ihr einen kurzen Brief zu überbringen, in dem ich mich für meine Unhöflichkeit entschuldigte. Der Kellner berichtete mir, daß sie den Brief zerrissen habe, als sie meinen Namen sah. Ich habe verges99
sen, Ihnen meinen Namen zu sagen. In der Heimat hieß ich Schmuel Opalowsky. Hier bin ich Sam Opal. Nachdem mir der Kellner das gesagt hatte, richtete ich es so ein, daß ich erst zu Tisch kam, wenn sie mit dem Essen schon fertig war. Ich blieb den Mahlzeiten zuweilen auch ganz fern. Ich fürchtete mich vor der Verachtung, die sie mir zeigte. Endlich kamen wir in dem Land an, in dem ›die Straßen mit Gold gepflastert‹ sind. Im allgemeinen schickte man die Einwanderer nach Ellis Island, aber als ich das Geld vorwies, das ich bei mir hatte, durfte ich unverzüglich an Land gehen. Ich war gerade im Begriff, das Schiff zu verlassen, als ich Anna sah. Sie weinte. Sie versuchte, mit den Einwanderungsbeamten Russisch zu sprechen, dann Deutsch, aber sie verstanden sie nicht. Ich fragte sie, was geschehen sei, und als sie mich sah, lag Erleichterung in ihrem Blick. Es schien, daß Wladimir Machtei nicht gekommen war, um sie abzuholen. Ob sie verzweifelt war, weil man sie nach Ellis Island schicken wollte, oder weil sie kein Geld hatte und nicht wußte wohin, daran erinnere ich mich nicht. Sie war in Not, und dies gab mir Gelegenheit, meine Dummheit wieder gutzumachen. Ich half ihr beim Zoll, nahm einen Wagen – Autos gab es damals noch nicht – und brachte sie in ein Hotel in der Avenue C. Wir fingen sogleich an, nach Wladimir Machtei zu suchen, aber wir fanden ihn nie. So weit wir feststellen konnten, gab es niemanden dieses Namens in den Vereinigten Staaten. 100
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich, als diese Dinge geschahen, auf den Verdacht kam, sie hätte alles erfunden – den Verlobten, das Geld und das Notizbuch. Aber später überzeugte ich mich von der Wahrheit ihrer Berichte. Sie zeigte mir die Briefe von Wladimir Machtei, wenn sie auch die Umschläge fortgeworfen hatte. Sie sagte mir, daß er aus Poltawa stammte. Anna schrieb an seine Tante dort, und die Tante antwortete, sie habe lange Zeit nichts von ihrem Neffen gehört und habe auch nicht seine Adresse. Mein lieber Freund, ich weiß, Sie sind ein sehr beschäftigter Mann, ich erzähle Ihnen daher nur die nackten Tatsachen. Wir heirateten. Ich habe eine Tochter von ihr, Enkelkinder und Urenkel. Das Kind wurde zwei Jahre nach unserer Heirat geboren. Aber die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, fängt eigentlich jetzt erst an. Ich lebte mit Anna sechs Jahre. In dieser Zeit kam ich zu der Überzeugung, daß ich eine Frau geheiratet hatte, die nicht von dieser Welt war. Vor allem war sie das schweigsamste Wesen, dem ich je begegnet bin. Sie sagte nicht einmal ja oder nein – sie nickte nur mit dem Kopf. Gesprächig wurde sie nur, wenn sie etwas verloren hatte, und das geschah so oft, daß ich sogar jetzt, wenn ich davon spreche, schaudere. Nach Jahren besprach ich den Fall mit Psychiatern, und sie boten mir allerlei Theorien zur Erklärung an : Freud, Schmeud ; Komplex, Schmomplex. Tatsache ist, daß Dinge buchstäblich vor ihren Augen verschwanden und manch101
mal sogar vor meinen. Brachte ich ihr ein Buch aus der Bibliothek – ein russisches, denn sie lernte Englisch nie – so verschwand es plötzlich. Ich kaufte ihr einen Diamantring, und nach kurzer Zeit war der Ring nicht mehr da. Ich gab ihr Wirtschaftsgeld und sah selbst, wie sie die zehn Dollar in ihr Portemonnaie tat. Eine halbe Stunde später war das Geld verschwunden. Jedesmal, wenn sie etwas verlor, wurde sie hysterisch. Sie stellte buchstäblich die ganze Wohnung auf den Kopf. Sie trennte selbst die Matratzen auf. Von Natur bin ich ein geselliger Mensch, aber während ich mit ihr lebte, blieb ich praktisch isoliert. Ich brachte fast nie jemanden nachhause. Sie lehnte es ab, Jiddisch zu sprechen, oder vielleicht konnte sie es wirklich nicht. Es mangelte nicht an russischsprechenden jungen Leuten, aber die wenigen Male, die ich einige von ihnen einlud, kümmerte sie sich nicht um sie. Wir lebten in einer Krise nach der anderen und in dauernder Unruhe, denn Anna verlor immer irgend etwas. Oft sagte sie zu mir : ›Ein Dämon verfolgt mich – ein Teufel.‹ Ich hatte viele Bücher der Aufklärer gelesen und war weit davon entfernt, an Dämone, Kobolde, Geister – den ganzen Zauber – zu glauben. Ich war ein geborener Rationalist, und nach allem, was mir geschehen ist, kann ich noch immer nicht an das Übernatürliche glauben. Wir wollen uns nichts vormachen. Flugzeuge fliegen, Züge fahren, und wenn Sie den richtigen Knopf drücken, können Sie Caruso 102
hören. Kein Dämon hat je ein Flugzeug oder einen Zug zum Halten gebracht. Aber das Leben mit Anna machte mich so nervös, daß ich mitten in der Nacht aufwachte, um mich zu versichern, daß meine Uhr, mein Geld und meine Einwanderungspapiere sich nicht verflüchtigt hatten. In anderer Hinsicht paßten wir auch nicht sehr gut zusammen. Eine schweigsame wortlose Liebe kann es vielleicht zwischen Tieren geben, aber für mich gehört zur Liebe das Gespräch. Sie war neun Monate schwanger, und ich kann mich nicht erinnern, daß sie einmal darüber gesprochen hätte. Die Schwester in der Klinik, in der das Kind zur Welt kam, erzählte mir, daß Anna nicht einmal das leiseste Stöhnen von sich gab. Ich hatte gehofft, die Ankunft des Kindes würde ihren Charakter ändern, nichts dergleichen. Sie tat alles, was eine Mutter tun soll, aber schweigend. Meine Tochter fing an zu plappern, als sie ein Jahr alt war. Mit zweieinhalb Jahren stellte sie ihrer Mutter unzählige Fragen. Anna zuckte nur die Achseln. Ich war noch Lehrer an der Talmudschule, und sobald ich nachhause kam, widmete ich mich ganz dem Kind, beantwortete seine Fragen und spielte mit ihm. Ich muß Ihnen sagen, daß Anna das Kind auf ihre Weise liebte. Wenn Spielzeug verschwand – und das geschah oft, zu oft – wurde Anna rasend. Das Kind schien sich auch zu fürchten. Eines Tages brachte ich ihm einen Teddybär. Fast sofort verschwand der Bär. Unsere Wohnung war klein, und es gab eigentlich kein Plätzchen, wo er hätte hin103
geraten können. Ich fürchtete schon, das Kind könnte das schreckliche Schicksal seiner Mutter geerbt haben. Gottseidank, es ist eine ganz normale Frau geworden. Ich erinnere mich an die Szene mit dem Teddybär, als hätte sie sich gestern zugetragen. Ich war in die Küche gegangen, um Tee zu machen – Anna war keine sehr gute Hausfrau, und ich mußte vieles selber tun. Ich hörte das Kind schreien. Ich ging zurück in das Wohnzimmer, und Anna stand dort, weiß im Gesicht. ›Der Teddybär ist fort‹, sagte sie. ›Der Teufel hat ihn ihr aus den Händchen gerissen.‹ Ich war wütend und schrie : ›Du bist eine Lügnerin ! Du hast ihn aus dem Fenster geworfene Sie sagte : ›Schau aus dem Fenster.‹ Ich tat es, natürlich war der Teddybär nicht da. Wir lebten in einer guten Gegend. Man konnte Sachen tagelang draußen liegenlassen und niemand würde sie anrühren. ›Du hast ihn in den Abfalleimer geworfen !‹ brüllte ich. ›Geh und sieh im Abfalleimer nach‹, sagte sie. Ich nahm die ganze Wohnung auseinander, aber es war keine Spur des Teddybären zu finden. Selbst heute denke ich noch, daß Anna den Teddybär irgendwo versteckt haben muß – aber wo und aus welchem Grund ? Anna weinte selten. Diesmal strömten ihr Tränen über die Wangen. Ich habe in all diesen Jahren niemals darüber gesprochen – die Leute würden mich für verrückt gehalten haben. Selbst als das geschah, was ich Ihnen jetzt berichten werde, habe ich niemandem die ganze Geschichte er104
zählt. Vor einiger Zeit erörterten Sie in einem Aufsatz den Fall eines Bauern, der vor den Augen von Frau und Kindern verschwunden war. Erinnern Sie sich an diesen Aufsatz ?« »Ja, ich erinnere mich. Ich las darüber in einer Zeitschrift und einer Reihe anderer Veröffentlichungen.« »Wie hieß doch der Bauer ? Wann geschah das ?« fragte mich Sam Opal mit der Genugtuung des Lesers, der stolz darauf ist, daß er sich besser an das Geschriebene erinnert als der Schreiber selbst. »Das habe ich wirklich vergessen.« »Ich wußte, Sie würden sich nicht erinnern, aber ich erinnere mich. Der Name des Bauern war David Lang, und der Hof war ein paar Meilen entfernt von Gallatin in Tennessee. Ich erinnere mich sogar an das Datum – September 1890.« »Sie haben ein erstaunliches Gedächtnis.« »Ich erinnere mich, weil mich die Sache ungeheuer interessierte. Damals sagte ich mir, daß Sie der Einzige wären, der mich nicht für verrückt halten würde. Ich habe sogar versucht, dem Fall selbst nachzugehen und schrieb an den Bürgermeister von Gallatin. Ich bekam nie eine Antwort. Sie müssen wissen, daß genau das gleiche mit meiner Frau geschah«, sagte Sam Opal. »Sie verschwand am hellichten Tag hier in Manhattan. Ich war nicht dabei, denn ich hatte sie vor dem Fenster eines Schuhgeschäftes stehen lassen und war nachhause gegangen. Aber selbst wenn ich dagewesen wäre – es hätte keinen Unterschied ge105
macht. Sie kehrte nie wieder nachhause zurück. Ihre Zeitung berichtete über ihr Verschwinden und auch andere. Die New Yorker Polizei müßte ein Protokoll darüber haben – sie haben Protokolle über Tausende von verschwundenen Leuten. Für die ist das ein alltägliches Vorkommnis. Ihre Erklärung ist immer einfach : fortgelaufen, entführt. Seit kurzem benutzen sie auch das Wort ›Amnesie‹. Keine dieser Antworten paßt auf den Fall. Könnten Sie mir ein Glas Wasser spendieren ?« Ich ging an den Wasserhahn und brachte dem Mann einen Pappbecher mit Wasser. Alle Journalisten waren gegangen, selbst die Reporter, die in der Lokalredaktion arbeiteten. Freitags schloß die Drukkerei etwas früher als an anderen Wochentagen. Sam Opal trank den Becher halb aus und fragte : »Haben Sie irgendwelche Einzelheiten über den Fall David Lang ?« »Nein, aber ich habe darüber in einer ganzen Reihe von okkulten Zeitschriften gelesen.« »Wie legen die Psychologen ein solches Geschehnis aus ?« »Psychologen kümmern sich nicht um solche Sachen. Was man nicht erklären kann, wird für unwissenschaftlich gehalten.« »Es geschah 1898, im Juni«, fuhr Sam Opal fort. »Unsere Tochter war schon etwas über drei Jahre alt. Ich habe einen wichtigen Punkt vergessen zu erwähnen. 106
Anna hatte immer Angst, Natascha zu verlieren – so hieß unser kleines Mädchen. Anna war auf ihre Weise ein russischer Patriot, obgleich wir gar keinen Anlaß hatten, das zaristische Rußland zu lieben. Ja, sie fürchtete immer, das Kind könne verschwinden. Ich fürchtete es auch. Wenn es einem Teddybär zustoßen kann, warum nicht einem Kind ? Anna ließ Natascha fast nie allein, und wenn sie unbedingt irgendwohin gehen mußte, dann nahm sie sie mit. An jenem Tag war es kühl und regnerisch. Anna hatte beschlossen, Schuhe zu kaufen. Wir wollten in ein Hotel ins Gebirge fahren, in die Catskills, und sie brauchte ein Paar Sommerschuhe. Unsere Nachbarn hatten eine fünfzehnjährige Tochter. Dieses Mädchen liebte unsere kleine Natascha. Sie hieß Dorothy. Anna hatte großes Vertrauen zu Dorothy, und sie ließ Natascha bei ihr. Annas schlechtem Englisch wegen begleitete ich sie. Sie betrat keinen Laden, ohne etwas zu kaufen, sie wollte den Besitzer nicht enttäuschen. Aber wenn es sich um Schuhe handelt, kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich sollte aufpassen, daß sie keine Schuhe kaufte, die zu eng waren, oder ein Paar, das der Verkäufer los sein wollte. Wir wohnten an der Second Avenue Ecke Eighteenth Street, was damals als gute Gegend galt, und viele wohlhabende Leute waren dorthin gezogen. Zu jener Zeit war ich schon Zahntechniker. Es war ein neuer Beruf für Amerika und wurde gut bezahlt. Es gab viele Schuhgeschäfte in der Avenue, und wir blie107
ben vor den Schaufenstern stehen und gingen von einem zum andern. Nach einiger Zeit wurde mir die Sache zu viel. Ich hatte in meiner Wohnung ein Laboratorium, und ich wollte zu meiner Arbeit zurückkehren. Anna hatte schon Strümpfe und Höschen für die Kleine gekauft, sie gab sie mir und sagte : ›Wenn ich hier nicht die Schuhe finde, die ich will, versuche ich es vielleicht in der Fifth Avenue.‹ Das waren die letzten Worte, die sie mit mir sprach. Dies war das letztemal, daß ich sie sah. Viele Stunden später ging ich zur Polizei. Es war Abend. Der irische Polizist betrachtete die ganze Sache als Scherz und riet mir, noch den späteren Abend abzuwarten oder den nächsten Tag. Gegen ein Uhr ging ich wieder auf die Polizeistation, und der Polizist, der Nachtdienst hatte, meinte, daß meine Frau wahrscheinlich bei ihrem Freund sei. Immerhin schrieb er alles auf und sagte mir, ich solle am nächsten Tag wiederkommen, falls sie nicht zurückgekommen sei. Tage und Wochen ging ich zur Polizei. Anna war verschwunden wie ein Stein im Wasser. Die Leute kamen mit all den Theorien, die man erwarten kann. Vielleicht hatte sie einen heimlichen Liebhaber. Vielleicht hatte sie ihren verlorenen Bräutigam, Wladimir Machtei, wiedergefunden, und die alte Liebe war neu entbrannt. Vielleicht hatte sie sich entschlossen, nach Rußland zurückzukehren und eine Bombe auf den Zaren zu werfen. Bei der Polizei hatte ich gehört, daß in Amerika nicht nur Männer, sondern auch Frau108
en davonliefen. Aber keiner der Fälle, die ich gehört hatte, war meinem vergleichbar. Anna hatte keine Liebhaber. Das Kind war ihr teuer. Wenn Wladimir Machtei wissen wollte, wo Anna sich aufhielt, hätte er an ihre Großmutter schreiben können. In all den Jahren, die wir in Amerika waren, hatte er kein Lebenszeichen gegeben. In meinem tiefsten Innern ahnte ich die tragische und unglaubliche Wahrheit : Anna war von Natur aus oder durch Bestimmung – nennen Sie es, wie Sie wollen – ein Wesen, das dazu geboren war, zu verlieren und verloren zu werden. Sie verlor ihr Geld, ihre Besitztümer, ihren Verlobten. Wäre sie nicht selbst verloren gegangen, hätte sie vielleicht auch das Kind verloren. Ich sage ›in meinem tiefsten Innern‹, denn mein Verstand würde etwas so Irrationales niemals annehmen. Was soll das heißen ? Wie kann ein Ding Nichts werden ? Die Pyramiden stehen seit sechstausend Jahren am gleichen Platz, und falls es nicht ein ungewöhnliches Erdbeben gibt, überdauern sie vielleicht noch weitere sechstausend oder sechzigtausend. Im British Museum und hier im Metropolitan Museum finden sie Mumien und Kunstgegenstände, die viele Jahrhunderte überstanden haben. Wenn die Materie sich in Nichts verwandeln kann, dann ist die ganze Natur ein böser Traum. Das sagt mir meine Logik. Im Falle des Bauern in Tennessee glaubten einige, daß die Erde sich geöffnet und ihn verschluckt habe, so wie es in der Bibel von der Rotte Korah heißt. Hätte sich aber die Erde an 109
jenem Tag in der Second oder Fifth Avenue geöffnet, dann hätte sie mehr als nur Anna verschluckt.« »Sie glauben also, daß ein Dämon oder mehrere sie holten ?« fragte ich. »Nein, das glaube ich auch nicht.« Lange saßen wir schweigend, dann fragte ich : »Haben Sie wieder geheiratet ?« »Nein. Ich hätte leicht geschieden werden können, aber ich blieb die ganzen Jahre allein. Das heißt, ich habe nicht geheiratet.« »Warum nicht ? Haben Sie Anna so sehr geliebt ?« »Das war nicht der Grund. Selbst die treuesten Männer und Frauen heiraten wieder nach dem Tod ihres Partners, aber was mir geschehen ist, hielt mich davon zurück. Ich hatte gehofft, lange genug zu leben, um des Rätsels Lösung zu finden, aber ich bin am Ende meines Weges angelangt und habe die Antwort nicht gefunden. Wer das erlebt hat, was ich erlebt habe, der kann keine Pläne mehr machen, kein Haus mehr bauen, sich nicht mehr an Menschen anschließen. Geistig bin auch ich verloren gegangen.« »Es ist doch möglich, daß sie noch irgendwo lebt«, sagte ich. »Wo ? Eine Frau von achtzig Jahren oder mehr. Ja, möglich ist es. – Irgendwie hatte ich gehofft, daß Sie mir eine Erklärung geben könnten. Ich wäre schon mit einer Theorie zufrieden, aber sie müßte vernünftig sein.« »In der Genesis heißt es von Enoch : ›Gott nahm 110
ihn hinweg, und ward nicht mehr gesehen.‹« »Glauben Sie daran ?« »Ich weiß nicht, woran ich glauben soll.« »Also, ich will Sie nicht länger aufhalten. Aber ich wüßte gern, was ein Wissenschaftler sagen würde, wenn ich ihm diese Geschichte aufzwingen würde ? Er müßte irgendeine Lösung finden.« »Er könnte sagen, daß Ihre Frau eine pathologische Lügnerin war, oder vielleicht geisteskrank.« »Aber wo ist sie ?« »Im Hudson, im Meer, zurück in Rußland oder vielleicht hier mit Wladimir Machtei.« Sam Opal stand von seinem Stuhl auf, und ich stand auch auf. Eine Minute lang starrten wir einander an, und keiner von uns sprach. Dann sagte ich : »Da ich kein Wissenschaftler bin, werde ich Ihnen meine eigene, unwissenschaftliche Theorie geben.« »Und welche ist das ?« »Wladimir Machtei war der Dämon, der Annas Geld auf dem Schiff stahl, der kleinen Natascha den Teddybär fortnahm und später Anna entführte. Sie war von Anfang an mit einem Dämon verlobt.« »Warum sollte der Dämon gerade sie ausgesucht haben ?« »Man sagt, daß sie von den Schüchternen und den Schönen angezogen werden.« »Aber er hatte eine Tante in Poltawa.« »Die Tante eines Dämons ist auch ein Dämon.«
Es herrschte draußen drückende Hitze, aber in der Cafeteria war es kühl. Während des Tages, zwischen drei und fünf, war es hier fast leer. Ich setzte mich an einen Tisch an der Wand, trank Kaffee, aß langsam ein Stück Apfelkuchen und las in einer okkulten Zeitschrift. Unter den Briefen an die Redaktion war einer von einer Frau, deren Katze von einem Wagen überfahren worden war. Sie hatte sie beerdigt, aber jede Nacht kam die Katze sie besuchen. Die Frau gab ihren Namen an und ihre Adresse in einem Dorf in Texas. Ihr Brief klang aufrichtig, er war mit Sicherheit nicht erfunden. Aber gibt es den Astralleib wirklich ? überlegte ich. Und gibt es ihn auch bei Tieren ? Wenn dem so ist, mußte ich meine ganze Philosophie überprüfen. Ehe ich so einen großen Auftrag übernahm, ging ich erst an die Theke und holte mir noch eine Tasse Kaffee. »Eine Wirklichkeit hat nichts mit der anderen zu tun«, sagte ich mir. Ich sah mir die wenigen Leute an, die um mich herumsaßen. Ein junger Mann in einem rosa Hemd studierte die Prognosen für ein Pferderennen und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen, sein Aschenbecher war bis obenhin mit Stummeln und Asche gefüllt. Zwei Tische weiter las ein Mädchen die ›Gesucht‹-Anzeigen in der Zeitung. Links neben der Tür saß ein großer Mann mit einem weißen Bart und langem, weißem Haar – ein Überbleibsel des alten Amerika. Ich hatte ihn oft gesehen. Er sah arm, aber
sauber aus und trug immer ein Buch bei sich. Der Dritte Ob er fromm war ? Ob er ein Freidenker der alten Schule war, ein Pazifist, ein Vegetarier, ein Spiritist, ein Anarchist ? Er hatte mich schon seit längerer Zeit interessiert, aber ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, herauszufinden, wer er war. Die Tür ging auf, und jemand kam herein, den ich zwar erkannte, aber weder konnte ich mich an seinen Namen erinnern noch daran, wo ich ihn getroffen hatte. Er war ein kleiner Mann mit einer sandfarbenen Mähne. Sein Kopf war zu groß für seinen Körper. Er konnte ebenso gut vierzig wie fünfundfünfzig sein. Sein Gesicht war von verwelkter Hagerkeit. Er hatte hohe Backenknochen, eine lange Oberlippe und das winzige Kinn eines Säuglings. Er trug ein Sporthemd und Leinenhosen. Am Automaten zögerte er. Seine gelben Augen schossen von rechts nach links, als suche er jemanden. Dann sah er mich und sein Gesicht belebte sich. Er zog kräftig an dem Automaten und nahm den Bon heraus, der Automat klingelte laut. Er kam mit vorsichtigen Schritten auf meinen Tisch zu. Er trug Sandalen mit zwei Riemen. Er schien sich der New Yorker Hitze angepaßt zu haben, während ich einen Anzug, Hut und Schlips trug. Als er bei mir angelangt war, sagte er in dem vertrauten PolnischJiddisch der Lubliner Gegend : »Was machen Sie hier mitten am Tag ? Sich abkühlen ? Kann ich mich zu 113
Ihnen setzen ? Darf ich Ihnen etwas holen ?« Seine Stimme war leicht nasal. »Danke. Nichts. Setzen Sie sich.« »Sie haben mir einmal versprochen, mich anzurufen«, sagte er. »Aber so geht es hier in dieser Stadt niemand hat Zeit oder Geduld. Sicher haben Sie meine Telefonnummer verloren. Es geht mir auch so – ich schreibe Adressen und Nummern auf, und sie verschwinden. Kommen Sie oft hierher ? Früher war ich hier Stammgast, aber seit kurzem nicht mehr. Meine Frau hat mehrmals nach Ihnen gefragt. Wohnen Sie in der Nähe ?« Ehe ich antworten konnte, lief er mit kleinen schnellen Schritten zur Theke hinüber. »Wer ist er ?« fragte ich mich. Eigentlich hatte ich gehofft, allein zu bleiben. Er kam zurück mit einem Glas geeisten Kaffees und Blaubeerkuchen. »Ich wäre gern ins Kino gegangen«, sagte er, »aber wer geht gern allein ? Ich weiß nicht, was gegeben wird, aber vielleicht würden Sie mit mir kommen. Als mein Gast.« »Danke, aber mir ist überhaupt nicht nach einem Film zumute.« »Nein ? Gewöhnlich gehe ich nicht ins Kino, wenn meine Frau mich nicht dazu zwingt, aber heute wäre ich bereit, ein paar Stunden dazusitzen und die Eintönigkeit des Alltags zu vergessen. Meistens sehe ich gar nicht auf die Leinwand. Ich lasse sie reden, schießen, singen oder was immer ihnen Spaß macht, ohne mich. Da man weiß, daß man an dem, was da oben 114
vor sich geht, nichts ändern kann, wird man Fatalist. Manchmal denke ich, die Wirklichkeit ist nur ein anderer Film. Geht es Ihnen auch so ?« »Ja, aber in dem wirklichen Film spielen wir alle mit und haben alle eine Rolle und stehen vor der Wahl, sie gut zu spielen oder zu verspielen.« »Sie glauben also an den freien Willen. Ich glaube nicht daran – absolut nicht. Wir sind Marionetten – das ist alles. Jemand zieht an einem Faden und wir tanzen. Ich bin ein überzeugter Determinist.« »Trotzdem, wenn Sie über die Straße gehen und ein Auto kommt, dann rennen Sie.« »Auch das ist vorbestimmt. Ich las einmal in der Zeitung, daß ein junger Mann und seine Freundin zu Abend aßen und sich dann zum russischen Roulette hinsetzten. Zwischen ja und nein erschoß er sich. Jeder will das Schicksal versuchen. Warum habe ich in der letzten Zeit Ihren Namen nicht mehr in der Zeitung gesehen ?« »Ich habe nichts anbringen können.« »Aus dem Grund bin ich Hausbesitzer geworden, wenn man das so nennen kann. Ich habe ein Haus mit möblierten Zimmern gekauft und davon lebe ich. Manche Wochen geht es gut, manche schlechter, aber ich muß mir wenigstens nicht mehr die Ansichten der Redakteure anhören. Die Leute zahlen im voraus. Alle Arten von Leuten. Der Mann mag ein Mörder sein, ein Dieb oder ein Zuhälter, aber er gibt mir die fünf Dollar, und ich gebe ihm den Schlüssel. Heute 115
hätte ich gern ein Zimmer auf ein paar Stunden für mich gehabt, aber es war alles besetzt. Man weiß das nie.« Er trank einen Schluck Kaffee, zog seine Augenbrauen hoch und sagte : »Sie wissen nicht, wer ich bin, nicht wahr ?« »Ich kenne Sie, aber ich muß gestehen, ich kann mich nicht an Ihren Namen erinnern. Das ist wie Gedächtnisschwund bei mir.« »Ich habe es gleich gemerkt. Fingerbein – Selig Fingerbein. Das ist mein Schriftstellername. Niemand nennt mich mehr bei meinem richtigen Namen. Wir sind uns im Café Royal begegnet.« »Natürlich. Jetzt weiß ich alles«, sagte ich. »Sie haben eine sehr hübsche Frau – Genia.« »Sie erinnern sich also doch ! Ich vergesse oft Gesichter und Begebenheiten. Früher schrieb ich Gedichte und veröffentlichte sie auch, aber wer braucht heute Gedichte ? Sie sind überflüssige Ware. Und doch gibt es Gefühle, die nur ein Gedicht ausdrükken kann. Stellen Sie sich das Hohe Lied in irgendeiner anderen Form vor ! Aber es ist veraltet : ›Liebe ist stark wie der Tod. Und ihr Eifer ist fest wie die Hölle.‹ Othello, ebenfalls. Eifersüchtig zu sein und jemanden zu erdrosseln ist heute nichts so Besonderes mehr. Wahre Liebe ist Vergeben. Der zivilisierte Mensch muß die allergrößte Kunst erlernen : die Eifersucht zu besiegen. Rauchen Sie ?« »Nein.« »Warum nicht ? Eine Zigarette hilft manchmal. 116
Frauen mußten Generationen lang leiden – Vielweiberei, Harems, Männer, die aus den Kriegen mit Konkubinen heimkehrten. Jetzt werden die Männer sich fügen müssen. Frauen haben genau die gleichen Gelüste wie wir – vielleicht sogar noch mehr. Lachen Sie mich nicht aus, aber die Unterwelt ist in diesen Dingen viel weiter als wir, obwohl die Europäer große Schritte vorwärts gemacht haben sollen, wie ich höre. Wenn der König von England seinen Thron aufgibt, um eine geschiedene Amerikanerin zu heiraten, so ist das nicht nur Stoff für Schlagzeilen, sondern auch symptomatisch für die neue Zeit und den neuen Menschen.« Selig Fingerbein legte seine kleine Faust auf den Tisch. Er kostete den Blaubeerkuchen und schob den Teller zurück. Er fragte : »Haben Sie etwas Zeit ?« »Ja, ich habe Zeit.« »Ich weiß, daß ich bereuen werde, was ich jetzt tue. Aber da ich nicht ins Kino gegangen bin und Sie hier getroffen habe, will ich Ihnen etwas erzählen, was mit Ihnen zu tun hat.« »Mit mir ? Wieso ?« »Eigentlich mit dem, was Sie schreiben – nicht mit Ihnen persönlich.« Der kleine Mann, der sich Selig Fingerbein nannte, drehte seinen Kopf, als fürchte er, gehört zu werden. Seine gelben Augen beobachteten mich, halb lächelnd, halb fragend. Er sagte : »Niemand darf je erfahren, was ich Ihnen jetzt erzählen werde. Je117
der muß einem Menschen etwas anvertrauen können. Wenn niemand Ihr Geheimnis kennt, dann ist es kein Geheimnis, sondern nur eine verborgene Sache. Es handelt sich um eine Frau. Zwischen uns besteht eine große Liebe. Als ich Junggeselle war, dachte ich immer, es könne keine Liebe geben zwischen den Leuten, die unter dem Hochzeitsbaldachin standen und ein Schlafzimmer teilten. Keine andere Einrichtung wird so viel belächelt und angespuckt wie die Ehe. Aber die meisten Spötter gehen früher oder später zum Rabbiner oder zum Priester und knüpfen das Band. Geht eine Ehe schief, versuchen sie es ein zweites, drittes – ein fünftes Mal. Natürlich gibt es eine Menge alter Junggesellen und alter Jungfern, aber heiraten möchten sie alle. Sie suchen, bis sie sterben. Sie sagten eben, meine Frau sei schön. Danke. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie schön sie als Mädchen war. Wir sind beide aus Kielce. Wir gehörten der ›Zionistischen Jugend‹ an, so trafen wir uns. Alle jungen Männer waren in sie verliebt, manche ganz wahnsinnig. Ich bin äußerlich nichts besonderes als Mann – das kann man sehen –, aber ich war intelligenter als die anderen, und Genia und ich verliebten uns ineinander. Ich wollte nicht in der polnischen Armee dienen, so gingen wir 1924 nach Amerika, am gleichen Tag, an dem Amerika die freie Einwanderung abschaffte. Wir waren arm wie die Nacht, und Genia arbeitete in einem Laden, damit ich meine Gedichte kritzeln konnte. Sie glaubte, ich würde 118
ein zweiter Slowacki oder Byron werden. Wie meine Mutter zu sagen pflegte : ›Wer denkt, macht sich zum Narren.‹ Ich muß Ihnen nicht sagen, was es heißt, in New York ein jiddischer Dichter zu sein. Unter diesen Umständen würde Lord Byron auch ein Hausbesitzer geworden sein. Langsam verlor ich den Glauben an meine schöpferischen Kräfte. Aber unsere Liebe litt nicht darunter. Was eine Frau in einem Manne sieht und was ein Mann in einer Frau sieht, wird kein Dritter je ergründen. Der Tag mochte noch so schwer gewesen sein, unsere Abende waren immer Festtage. Ganz gleich, wo wir wohnten, in Broome Street, Ocean Avenue, Brighton Beach, unsere Wohnung war immer wunderschön. Wir hatten beide gern schöne Sachen um uns, und damals konnte man Antiquitäten in der Third Avenue für ein Butterbrot bekommen. Zu unserem Bedauern hatten wir keine Kinder. Ich wurde Lehrer für Jiddisch und verdiente anständig. Hie und da, wenn ein Redakteur irgendwo eine Lücke hatte, veröffentlichte er etwas von mir in seiner Zeitschrift. Genia wurde befördert in ihrem Laden. Wir gaben nicht alles aus, was wir verdienten. Im Sommer gingen wir in ein Hotel ins Gebirge, in die Catskills. Wir reisten in den Vereinigten Staaten. Wir fuhren sogar nach Europa. Und trotzdem konnte ich mich nicht mit meinem Versagen als Dichter abfinden, und Genia litt darunter. Eines unserer wirklichen Vergnügen war Lesen. Ich liebte die Literatur, und Genia konn119
te ohne Bücher nicht existieren. Im Anfang lasen wir Jiddisch und Polnisch, später, als wir die Sprache gelernt hatten, Englisch. Ich will nicht angeben, aber wir beide haben guten Geschmack. Sie erinnern sich an den Vorsänger, der sagte : ›Singen kann ich nicht, aber ich verstehe Singen‹. Genias Geschmack ist noch besser als meiner. Es ist komisch, daß Leute, die dumm und taub sind, Kritiker und Professoren für Literatur werden können, während Genia, die das absolute Gehör für Worte hat, in einem Laden arbeitet. Na, das gehört alles zur Heuchelei dieser Welt. Überarbeitet haben wir uns nicht, weder Genia noch ich ; ihr Job ließ ihr viel freie Zeit, und in einer jiddischen Schule ist auch nicht so viel zu tun. Wir luden Leute zum Abendessen ein ; wir gaben kleine Gesellschaften, gewöhnlich für die wenigen gleichen Freunde. Aber am liebsten waren wir allein und oft dankten wir Gott, wenn die Gäste gegangen waren. Wie viele Paare führen so ein Leben ? Aber wie sehr ich auch meine Frau liebte, ich war anderen Frauen gegenüber nie gleichgültig. Ich muß Ihnen das nicht erklären. Wie kann der heutige Mensch sich gegen die Befriedigung seiner Gelüste wehren ? Ich war nicht fromm, und selbst wenn ich es gewesen wäre, mehr als eine Frau zu besitzen, ist nach dem jüdischen Gesetz keine wirkliche Sünde. Das Verbot der Vielweiberei ist uns von den Christen aufgezwungen worden. Ich war vielleicht kein Byron, aber mein Appetit auf Frauen war so groß wie sei120
ner. Sie kennen unser Milieu. Es gab immer Gelegenheiten. Ich war nie ernsthaft verstrickt, aber von Zeit zu Zeit schlief ich mit einer anderen Frau. Anfangs hielt ich es vor Genia geheim, aber Genias Instinkt ist stark – manchmal denke ich, sie kann Gedanken lesen. Als ich schließlich beichtete, machte sie nicht viel her damit. ›Tu, was du willst, aber komm zu mir zurück‹, sagte sie. ›Keine Frau kann dir das geben, was ich dir geben kann.‹ Typisch weibliches Gerede. Es wurde mir auch klar, daß meine sogenannten Abenteuer neues Verlangen in ihr weckten. Auch das ist nichts Neues. So ging es eine ganze Reihe von Jahren. Wir verbrachten unsere Abende und Nächte im Gespräch – Phantasien, Tatsachen, was wir gelesen hatten. Wie die meisten Männer, wollte ich Freiheit, wenn es sich um andere Frauen handelte, und gleichzeitig wollte ich eine sittsame Frau. Anfangs hatte Genia gedroht, daß, wenn ich mir Freiheiten nähme, sie es auch tun würde. Aber die Zeit verging, und alles blieb wie vorher. Von Natur aus ist Genia schüchtern – die Art Schüchternheit, die von Gott weiß wie vielen Großmüttern ererbt ist. Der Gedanke an einen anderen Mann machte sie schaudern, so sagte sie mir. ›Was wäre, wenn –‹ war ein Spiel, das wir oft spielten. ›Stell dir vor, du wärst in dieser Situation, was würdest du tun ?‹ Die Situationen fanden wir oft in Ihren Geschichten in den jiddischen Zeitungen. Ob Sie sich wohl klar darüber sind, wie weitgehend die Literatur 121
das Leben beeinflußt ? Wir haben uns wahrscheinlich mehr die Köpfe über Ihre Helden zerbrochen als Sie. Ich könnte bis morgen mit Ihnen hier sitzen und hätte Ihnen noch kein Tausendstel von dem erzählt, was geschah. Aber ich werde mich kurz fassen. Genia kam allmählich zu der Ansicht, daß es keinen wesentlichen Unterschied gebe zwischen der männlichen und weiblichen Psychologie, sie sprach sogar davon, sich einen Mann zu suchen. Ich nahm es nicht ernst. Ihre Worte erregten mich und Anregung tut gut. Sie wollte wissen, wie ich es aufnehmen würde, wenn sie jemand kennen lernen sollte, der sie anzog und dem sie in einem leidenschaftlichen Augenblick nachgeben würde. Würde ich sie verlassen – sie nicht mehr lieben ? Und täte ich das, wäre es nicht der Beweis, daß ich verschiedene Maßstäbe anlegte ? Ich versicherte ihr, ich würde es nicht tun ; was mir recht war, sollte ihr billig sein. Aber das wollte alles nichts heißen – Genia erhielt viele Anträge, und sie sagte immer ›nein‹. Sie gestand mir, sie habe sich entschlossen, es mir gleich zu tun – einmal wenigstens –, nur um sich zu beweisen, daß sie eine moderne Frau sei und keine verschlafene Tante, die hinter dem Ofen saß. Sie bekam einen regelrechten Komplex. Warum sollte sie nicht tun können, was Mme. Bovary, Anna Karenina, Ihre Hadassa und Clara getan haben ? Die Mädchen in ihrem Laden prahlten mit ihren Erfolgen. Heutzutage muß der Teufel nicht sehr laut spre122
chen, um uns zu versuchen. Die neun Musen tun seine Arbeit. Und da war Genia und lief herum wie eine Art heilige Jungfrau. Sie fing an, über ihre Rückständigkeit in einem Jargon zu sprechen, den sie aus Büchern von Ärzten und Liebesexperten zusammengelesen hatte. Lachen Sie nicht, aber Genia verlangte von mir, ich solle ihr helfen, einen Liebhaber zu finden. Ist das nicht verrückt ? Sie sagte : ›Ich kann es nicht ohne dich. Finde du mir jemanden.‹ Sie wollte wenigstens einmal versuchen, was es heißt, ›fortschrittlich‹ zu sein. Eines Abends setzten wir uns hin und stellten tatsächlich eine Liste möglicher Kandidaten auf. Es war ein Spiel. Ich bin schon über fünfzig und Genia ist nicht viel jünger. Wir könnten Großeltern sein. Stattdessen saßen wir da, mitten in der Nacht, und stellten Listen möglicher Liebhaber auf. Komisch, was ?« »So komisch auch wieder nicht.« »Warten Sie. Ich hole mir einen Kaffee.« Selig Fingerbein brachte zwei Tassen Kaffee, eine für sich, eine für mich. Er trank einen Schluck und sagte : »In den Büchern, die ich las, kam oft das Wort ›Hausfreund‹ vor. Ich habe nie den Sinn dahinter verstanden. Warum sollte ein Mann seiner Frau gestatten, ihn zu betrügen ? Warum läßt er ihn überhaupt in sein Haus ? Ich hielt das für eine Erfindung der Romanschriftsteller und Dramatiker. In Kielce gab es so etwas nicht. Aber hier in Amerika habe ich er123
lebt, daß es das gibt – bei Schauspielern, Ärzten, Geschäftsleuten. Es gibt wirklich Männer, die sich mit dem Liebhaber ihrer Frau anfreunden. Sie essen zusammen, trinken zusammen und gehen zusammen ins Theater. Daß mir das einmal passieren könnte, war jenseits meiner wildesten Phantasien, aber jetzt habe ich einen Hausfreund und deshalb sitze ich hier mit Ihnen. Deshalb wollte ich ins Kino gehen. Wenn er kommt, gehe ich. Ich gehe sogar, bevor er kommt. Vielleicht ist er kein richtiger Hausfreund, aber er kommt ins Haus, und ich weiß es. Es begann folgendermaßen. Vor einigen Jahren tauchte ein Flüchtling aus Polen auf. Vielleicht kennen Sie ihn, deshalb werde ich nur seinen Vornamen nennen – Max. Angeblich war er ganz polonisiert, aber er sprach Jiddisch. Er ist Maler – das behauptet er jedenfalls. Er macht ein paar Kleckse auf eine Leinwand, und das soll ein Sonnenuntergang in Zakopane oder ein Stierkampf in Mexiko sein. Die Hauptsache, die Leute kaufen es. Der moderne Käufer ist genau so ein Scharlatan wie der Verkäufer. Steht eine Gestalt auf ihren Füßen, ist es banal. Aber wenn Sie sie auf den Kopf stellen, dann ist es originell. Ich begegnete ihm im Café Royal. Er ist ein aalglatter Bursche, mit hungrigen Augen, die um Liebe und Freundschaft betteln – weiß der Teufel, was noch. Wir wurden miteinander bekanntgemacht, und er stürzte sich auf mich, als sei ich sein seit langem verloren geglaubter Bruder. Sofort wollte er mein Portrait malen. Er 124
erzählte mir, daß er in Kielce Familie hatte, und es stellte sich heraus, daß ich ein entfernter Verwandter von ihm bin. Wenn Männer besonders freundlich zu mir sind, ist es meistens wegen Genia, und sie machen auch kein Geheimnis daraus, aber Genia war nicht dabei, als ich Max kennenlernte, und als er sie schließlich sah, war er nicht beeindruckt. Genia war beleidigt. Sie ist nicht gewöhnt, von Männern ignoriert zu werden. Max malte mein Portrait, und ich sah halb aus wie ein Affe, halb wie ein Krokodil. Das ist alles, was sie können. Es stellte sich heraus, daß er ein gerissener Geschäftsmann war. Er handelte mit Antiquitäten und Schmuck. Gestern war er erst in Amerika angekommen und schon kannte er alle Welt und alle Welt kannte ihn. Er bot uns Gelegenheitskäufe an : silberne Gewürzbüchsen, elfenbeinerne Torazeiger, Etrogdosen, Tabakdosen und sonst allerlei. Genia ist verrückt nach Nippsachen, und er verkaufte sie ungewöhnlich billig. Er brauchte Monate, um mein Bild fertig zu malen. Er sah mich mit schmachtenden Augen an, und bei jeder Gelegenheit berührte er mich. Einmal versuchte er, mich zu küssen. Ich war entsetzt. Nach einiger Zeit erklärte er mir geradeheraus, er liebe mich. Ich hätte mich übergeben können ! Ich sagte zu ihm : ›Max, mach dich nicht lächerlich. Ich bin von dieser Art Verrücktheit so weit entfernt wie der Himmel von der Hölle.‹ Er fing an zu seufzen wie ein verschmähter Liebhaber. 125
Ich erzählte Genia alles, und sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Über so etwas liest man, aber wenn es einem selber begegnet, ist es unbegreiflich. Jetzt hatten wir ein neues Thema, über das wir uns am Abend unterhalten konnten. Genia war empört, daß ich für einen Mann anziehender war als sie. Ich entschloß mich, ihn loszuwerden, aber wie? Max ist nicht der Mensch, der einen losläßt. Er kam immer wieder zu uns, und jedesmal brachte er ein Geschenk mit. Er kannte alle Leute vom Theater – vom Broadway, nicht nur vom Jiddischen Theater in der Second Avenue – und er bekam Karten für uns. Da saßen wir, zu dritt, in der ersten Reihe und sahen ein Stück, auf das wir sonst Monate hätten warten müssen. Er führte uns aus zu Lindy und sonst überall hin. So wird man also ein Hausfreund, dachte ich. Im Theater versuchte er, meine Hand zu halten, aber ich sagte ihm, wenn er etwas derartiges noch einmal täte, wäre er bei mir unten durch. Die ganze Geschichte ekelte mich an. Aber plötzlich entstand zwischen Genia und mir etwas wie ein Wettbewerb. Es machte mir fast Spaß. Da versuchte eine schöne Frau, die Aufmerksamkeit dieses Halunken zu erregen, und der gaffte mich an. Wenn Genia zu ihm sprach, tat er, als ob er sie nicht hörte ; sagte ich die blödesten Dinge, schrie er vor Entzücken. Können Sie sich etwas Lächerlicheres vorstellen ? Aber es wurde mir langsam klar, daß er unser Familienleben zerstörte. Jeden Abend dachten Genia und ich uns die verschiedensten Vorwän126
de aus, um ihn aus unserem Leben verschwinden zu lassen. Wir faßten feste Entschlüsse. Am nächsten Tag rief Max an, um zu sagen, daß er ein Geschenk oder einen Gelegenheitskauf oder eine aufregende Geschichte hätte, die er uns erzählen müßte. Ehe ich noch nein sagen konnte, hatte Genia ihn schon zum Abendessen eingeladen. Später fand ich heraus, daß seine Antiquitäten aus einer Fabrik stammten, die Reproduktionen herstellte. Ich erfuhr auch, daß die meisten seiner Gemälde Kopien waren. Dieser Mann war durch und durch eine Fälschung. Ich will es nicht in die Länge ziehen. Genia fing an, ihn alleine zu treffen. Sie hatte ihren ganztägigen Job aufgegeben und arbeitete nur zwei Tage in der Woche. In der Zwischenzeit hatte ich das Haus mit den möblierten Zimmern gekauft, und das beschäftigte mich vollauf. Ich hatte keine Geduld mehr mit diesem Bluffer und seinen liebeskranken Blicken. Genia sagte immer noch schreckliche Dinge über ihn, aber offensichtlich wollte sie ihn mir wegstehlen. Er benahm sich tatsächlich wie eine Frau. Er klatschte, er liebte Spielereien, er trug Ringe mit Steinen an fast allen Fingern. Sein Haar war lang und glänzte von Öl. Kleidung war seine idée fixe. Ich bin klein, nicht er, aber er trug Schuhe mit erhöhten Absätzen. Und seine Krawatten ! Welche Frau konnte das aushalten ? Sie werden denken, ich bin naiv, aber es kam mir wirklich nicht in den Sinn, daß Genia eine Affaire mit ihm haben könnte.« 127
»Eine Affaire ? Obwohl er ein Homosexueller ist ?« fragte ich. »Weiß der Teufel, was er ist. Da alles andere bei ihm Schwindel ist, ist es das vielleicht auch. Möglicherweise hat er nur mit mir geflirtet, um an Genia heranzukommen. Er ist ein schlauer Fuchs. Langsam, während ich mich von ihm abwandte, wurden Genia und er dicke Freunde. Sie gingen zum Lunch und zum Abendessen ; sie gingen ins Theater und ins Kino, zu Ausstellungen. Wenn ich protestierte, sagte Genia : ›Auf wen bist du eifersüchtig ? Er interessiert sich mehr für dich als für mich.‹ Um die Wahrheit zu sagen, jedesmal, wenn sie ausgingen, wurde ich aufgefordert mitzukommen, aber ich lehnte immer ab. Genia schwor, daß er sie nie berührt hätte, und ich glaubte ihr. So ging es monatelang. Es ist erstaunlich, welcher Selbsttäuschungen man fähig ist. Außerdem hatte ich genug von all diesen Filmen, Theatern und Gelegenheitskäufen. Die Wohnung mußte gestrichen werden und wo sollten wir all den Trödel hintun ? Millionen Dinge sind erfunden worden, aber noch niemand hat etwas erfunden, um die Katastrophe des Streichens einer Wohnung zu verhindern. Plötzlich wird dein ganzes Hab und Gut ausgeräumt. Die Bilder werden von den Wänden genommen. Bücherhaufen liegen auf dem Boden. Man ist ein Fremder in seinem eigenen Haus. Der Gestank der Farbe macht einem übel. Man erkennt die bittere Wahrheit : ein Heim ist, wie alles andere, nur eine Illusion. 128
Allmählich bemerkte ich, daß alles auseinanderfiel, und eines Abends gestand mir Genia, daß sie ein Verhältnis mit ihm hatte.« Selig Fingerbein trank seinen kalten Kaffee in einem Zug aus. Er sah mich vorwurfsvoll an. »Warum sind Sie so entsetzt ? Sie schreiben wie ein moderner Mensch, und dann sitzen Sie da mit Ihren alten Moralbegriffen und Vorurteilen. Ich hatte sie früher auch, aber ich habe mich davon freigemacht. Man kann eine moderne Frau nicht dazu verurteilen, ihr ganzes Leben mit dem gleichen Mann zu leben und wenn sie ihn noch so sehr anbetet. Es gibt keine zurückhaltendere Frau als Genia, aber sie lebt im zwanzigsten Jahrhundert, und Sie können nicht von ihr verlangen, daß sie Selig Fingerbein für den einzigen Mann in New York hält. Trotzdem, als mir Genia von ihrem Verhältnis berichtete, machte es mich krank. Mein ganzes Leben schien mir zerstört. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte sie vor das Sanhédrin geschleppt und sie steinigen lassen – wie es in alten Zeiten geschah. Aber in New York gibt es kein Sanhédrin. Ich hätte meine Sachen packen können und gehen – aber wohin hätte ich gehen sollen ? Und zu wem hätte ich gehen sollen ? Am Abend, als sie es mir erzählt hatte, lag ich mit Genia im Bett, und sie weinte wie ein kleines Mädchen. ›Was soll ich tun ? Wenn du bereit bist, zu sterben, dann will ich mit dir sterben – nur um dir zu zeigen, daß ich zu dir gehöre und zu niemandem sonst.‹ Sie jammerte und zitterte, 129
daß das Bett bebte, und ich – Sie können mich einen Idioten nennen –, ich tröstete sie. Ich sagte ihr, es sei keine Tragödie, aber dabei klapperten mir die Zähne. An jenem Abend schworen wir, daß unsere Verbindung mit Max aus und vorbei sei, aber ich wußte, es war nicht so. Die Schöpfer der Religionen kannten Gott nicht, aber die menschliche Natur kannten sie. In den ›Sprüchen der Väter‹ heißt es, daß eine Sünde eine andere nach sich zieht. Ein Schritt vom Wege der Tugend, und alle Tabus sind gebrochen. Sie schreiben über Religion, Ehe und Sex. Sie scheinen den modernen Menschen mit all seinen Verwicklungen und Irrtümern zu verstehen. Aber Sie können auch nicht mehr tun als kritisieren, den Weg zurück zum Glauben zeigen auch Sie nicht. Ohne die Frömmigkeit unserer Eltern und Großeltern ist es uns unmöglich, uns so zu benehmen, wie sie es taten. Ich will Ihnen etwas sagen, obwohl ich mich schäme, es zu gestehen. An jenem Abend schlief Genia schließlich ein, nachdem sie ein paar Tabletten genommen hatte, aber ich konnte überhaupt nicht schlafen. Ich zog meinen Schlafrock an und meine Hausschuhe und ging in meine Bibliothek. Ich sah die Bücher an und wußte, kein einziges konnte mir die Richtung weisen. Was können Tolstoj oder Dickens oder Balzac einen lehren ? Sie hatten Talent, aber sie waren ebenso verwirrt wie wir. Plötzlich sah ich einen Band des Talmud, und ich dachte, da mich die Weltlichkeit so im Stich gelassen hat, sollte ich vielleicht 130
zu Gott zurückkehren. Ich nahm das Traktat Beza heraus, schlug es auf und fing an, wie in alten Zeiten zu murmeln. ›Wenn ein Ei an einem Feiertag gelegt wurde, so sagt die Schule des Schammaj : das Ei darf gegessen werden. Und die Schule von Hillel sagt : es darf nicht gegessen werden.‹ Eine gute halbe Stunde lang nickte und murmelte ich wie ein Jeschiwaschüler. Anfangs war es wie süßes Heimweh, aber je länger es dauerte, desto schwerer wurde mir zumute. So lange man daran glaubte, daß diese Gesetze Moses auf dem Berge Sinai gegeben wurden, ergab alles einen Sinn. Ohne diesen Glauben war alles nur pure Scholastik. Ich wurde müde und ging zu Genia zurück. Wir schlafen in einem Bett. An diesem Abend kam ich zu dem Schluß, daß der Mann den stärksten Instinkt in sich abtöten muß : eine Frau zu besitzen als Teil seines Eigentums. Wenn es einen Gott gibt, vielleicht führt Er uns in diese Richtung.« »Und was geschah dann ?« »Es gab kein ›dann‹. Genia hatte versprochen, obwohl ich es nicht von ihr verlangt hatte, daß sie Max nicht wiedersehen würde. Aber sie trifft ihn immer noch. Ihre Arbeit hat sie ganz aufgegeben. Sie braucht es nicht mehr, und ich kann ja nicht den ganzen Tag und die ganze Nacht mit ihr zusammen sein. Seit einiger Zeit habe ich mit allem die Geduld verloren : mit Genias Schuld und mit dem, was wir Kultur nennen. Ich kann aus den Stücken, die am Broadway gespielt werden, und aus Picassos Bildern keinen Fe131
tisch machen. Selbst gute Literatur interessiert mich nicht mehr. Die Wand, die die Welt von der Unterwelt trennt, ist zu dünn geworden. Der Richter, der Anwalt und der Mörder hegen alle die gleichen Ideen, lesen die gleichen Bücher, besuchen die gleichen Nachtklubs, reden das gleiche Kauderwelsch. Wir kehren zur Höhle zurück, auch wenn es eine Höhle mit Telefon, Elektrizität und Fernsehen ist. Früher glaubte ich, Genia durch und durch zu kennen, aber seit diese Mißgeburt in unser Haus eingedrungen ist, entdecke ich immer neue Züge an ihr. Selbst ihre Stimme ist nicht mehr die gleiche. Was Max angeht, so kann ich ihn nicht einmal hassen, was mich wirklich überrascht. Ich weiß nicht, was er ist, und es ist mir auch gleich. Ich weiß nur, daß er dasselbe will, wie wir alle – so viel Vergnügen als möglich, ehe wir auf ewig verschwinden.« »Er ist also kein Homosexueller ?« »Weiß der Teufel, was er ist ! Vielleicht sind wir alle Homosexuelle. Ich habe vergessen, Ihnen das Wichtigste zu sagen : Genia geht seit einiger Zeit zu einem Psychoanalytiker. Max geht seit Jahren zu ihm. Sie wollten mich auch zu einem Mitglied ihres Klubs machen, aber ich ziehe es vor, über das Ei nachzudenken, das an einem Feiertag gelegt wurde.« Ich hatte nicht bemerkt, daß die Cafeteria sich gefüllt hatte. Ich sagte zu Selig : »Gehen wir. Man wird uns sonst rauswerfen.« Wir traten auf den Broadway, und die Glut eines 132
Hochofens schlug mir entgegen. Es war noch Tag, aber die Neonlichter brannten schon und kündigten in feuriger Sprache den Segen an, den Pepsi-Cola, Bonds Anzüge, Camel Zigaretten und Wrigleys Kaugummi über uns bringen würden. Lauwarmer Gestank stieg aus den Untergrundbahnrosten auf. Über einem Kino hing, vier Stockwerke hoch, das Plakat einer halbnackten Frau, von Scheinwerfern angestrahlt – mit zerzaustem Haar, wilden Augen, gespreizten Beinen, eine Pistole in jeder Hand. Um ihre Taille trug sie eine Schärpe mit Fransen, die ihre Geschlechtsteile bedeckte. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt und starrte sie an. Männer machten Witze, Frauen kicherten. Ich sah Selig an. Die eine Hälfte seines Gesichts war grün, die andere rot – wie ein modernes Bild. Er starrte sie an, bewegte seine Lippen, ein Auge lachte, das andere weinte. Ich sagte zu ihm : »Wenn es keinen Gott gibt, dann ist sie unser Gott.« Selig Fingerbein zitterte, als sei er aus einem Trancezustand aufgewacht. »Was die verspricht, kann sie auch liefern.«
Ich war noch nicht lange in New York, als mich Ihr Sohn eines Tages ein Dichter zum Essen in Sholums Café einlud. Er genoß unter den jiddischen Schriftstellern den Ruf eines Gecken, Zynikers und Schürzenjägers. Seine Frau war so fett, daß sie kaum durch eine Tür ging – jedenfalls hatte man mir so etwas erzählt. Sie aß aus Kummer über die Liebschaften ihres Mannes. Er war schon nahe an siebzig, aber sein Haar war noch immer goldblond. Er hatte blaue Augen, eine hohe Stirn, und eine Nase und ein Kinn, die ihm einen welterfahrenen Ausdruck gaben. Sein Anzug war nach englischem Schnitt, und er rauchte eine Havannazigarre. Sein Hemd war rot und grau gestreift, seine Krawatte goldbestickt. Er trug einen Diamantring und Manschettenknöpfe mit Monogramm. Es fiel mir auf, daß er Oscar Wilde ähnelte. Er schrieb auch wie Wilde – paradoxe Bemerkungen und Aphorismen. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, soeben aus Warschau angekommen, und er sprach zu mir wie ein älterer Schriftsteller zu einem Anfänger, indem er seinen Rat anbot. Er sagte : »Sie sehen aus wie ein Talmudschüler, aber an der Art, wie Sie schreiben, kann ich erkennen, daß Sie über Frauen Bescheid wissen.« Die Tür des Cafés öffnete sich, ein Mann mit einem zerbeulten Hut trat ein. Sein Gesicht war blaß, unrasiert ; seine Augen waren blutunterlaufen, schläf135
rig und voll der Schwermut der Verzagten. Er kam geradewegs an unseren Tisch. Wortlos griff mein Gastgeber – ich will ihn Max Blender nennen – in die Tasche, zog einen Scheck heraus und überreichte ihn dem Neuankömmling. »Na, Bill, sehen Sie jetzt schon, wie es weitergeht ?« fragte er. »Es wird alles immer nur schlimmer«, murmelte der Mann. »Und das Darlehen hat nicht geholfen ?« »Mir kann nichts mehr helfen.« Er sprach Jiddisch mit amerikanischem Akzent. Obgleich seine Stimme leise klang, hörte sie sich doch an wie ein gedämpfter Schrei. Bitterkeit lag um seine Lippen. Eine Schulter war höher als die andere. Der billige Schlips, den er trug, saß schief. An seinem Mantel fehlte ein Knopf. Von weitem schien er in den Fünfzigern zu sein, aber in der Nähe sah ich, daß er viel jünger war. »Also, ich gehe wieder«, sagte er. »Vielleicht trinken Sie ein Glas Kaffee mit uns ? Dieser junge Mann hier –« »Ich muß gehen !« »Wohin ?« »Jemandem in den Hintern kriechen, damit ich hundert Dollar für die Hypothekenzinsen leihen kann. Wenn ich sie nicht bekomme, werde ich das Haus verlieren und mit meiner Familie auf der Straße liegen.« Max Blender biß sich auf die Unterlippe. »Warten Sie. Ich gebe Ihnen die hundert Dollar, und Sie brauchen niemandem in den Hintern zu kriechen.« 136
»Mir ist alles gleich.« Max Blender öffnete seine Brieftasche und zählte hundert Dollar ab. Er schüttelte den Kopf und blinzelte mir zu. Bill raffte das Geld zusammen, murmelte irgend etwas, das ein Gruß gewesen sein mochte, und ging. Auf mich warf er keinen Blick. »Wohl ein Verwandter, was ?« sagte ich. Max Blender lächelte und zeigte dabei ein falsches Gebiß. »Ein Sohn, aber nicht meiner. Er hat mich als seinen Vater adoptiert, und er hat auch ein Recht darauf. Aber woher wußte er, daß er dieses Recht besaß ? Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen, wenn Sie wollen. Ich schwöre beim Barte des Asmodi, daß ich sie noch nie erzählt habe. Ich wollte immer einmal darüber schreiben, aber ich bin ein Dichter, kein Prosaschriftsteller. Warten Sie, ich bestelle noch eine Portion Blintzes. Lassen Sie uns den Tag gemeinsam verbringen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein.« »Lassen Sie mich nur noch anzünden.« Er nahm eine Zigarre und rollte sie zwischen seinen Fingern. »Ich mache es so kurz wie möglich«, sagte er. »Ich hatte vor vierzig Jahren eine Geliebte, die größte Liebe meines Lebens. Sie ist nun schon siebenunddreißig Jahre tot, aber es vergeht kein Tag, ohne daß ich an sie denke. Man könnte sagen, keine Stunde. Ich hatte andere große Liebschaften. Selbst heute stecke ich noch bis hierhin in Dummheiten mit Weibern« – er hielt einen Finger an die Kehle – »aber keine ist ihr vergleich137
bar und keine wird es je sein. Sie war verheiratet, natürlich, was sonst ? Und sie hatte nicht nur einen Ehemann, sondern einen Ehemann, der sie auch noch mit wilder Leidenschaft liebte. Und sie haßte ihn ebenso glühend, wie er sie liebte. Ihr Name war Sonja, der gewöhnlichste Name, den ein russisches Mädchen haben kann. Sie hatte nichts besonderes an sich, die üblichen dunklen Augen, schwarze Zöpfe, alles Drum und Dran, wie man es in jiddischen Romanen lesen kann. Aber als ich sie im ›Verein ehemaliger Szydlower‹ traf– die Familie meiner Mutter kam aus Szydlow – und ein paar Minuten mit ihr gesprochen hatte, verliebte ich mich hoffnungslos in sie, und, glauben Sie mir, hoffnungslos ist keine Übertreibung. Ich brannte an allen Gliedern und dazu merkte ich noch, daß es ihr ebenso ging. Tödliche Angst befiel uns, vor einander und vor dem, was sich anbahnte. Ihr Mann saß da oben auf dem Podium – er war der Vorsitzende des Vereins – und schlug mit einem kleinen Hammer auf den Tisch, um die Leute zur Ruhe zu mahnen. Ich vergaß, Ihnen das Wichtigste zu sagen : sie war zwölf Jahre älter als ich und hatte vier Kinder. Alles Mädchen. Sie lebten an der Avenue C, im Süden der Stadt, und er war, Gott sei gepriesen. Handlungsreisender. Er verkaufte Textilien und mußte oft nach Fall River in Massachusetts fahren, das ist das Lodz von Amerika. Sein Name war Chaskell Wallach. Sonja hatte etwas von einer Intellektuellen. Sie hatte Arcybasevs ›Sanin‹ gelesen und kannte ganze Sei138
ten aus ›Eugen Onegin‹ auswendig. Sie hatte auch versucht, Gedichte auf Jiddisch zu schreiben. Wenn ihr Mann unterwegs war, ging sie in die Oper. Sie las sozialistische Broschüren. Chaskell Wallach haßte und bewunderte zugleich ihre Vornehmheit. Er hatte eine riesige Nase, die vorstehenden Augen eines Golem und die Stimme eines Stiers. Er konnte nicht sprechen, nur brüllen. Sonja erzählte mir, noch im Bett schreie er mit ihr. Er hatte den dummen Ehrgeiz gehabt, Präsident des ›Vereins ehemaliger Szydlower‹ zu werden. Auf den Sitzungen wurde nur über eine Sache gesprochen – den Friedhof. Er nahm an dem Begräbnis jedes verstorbenen Mitglieds teil. Diesem Grobian hatte der Tod Gelegenheit gegeben, Vereinspräsident zu werden und sich mit Knisches vollzustopfen und Likör zu trinken auf Kosten des Vereins. Er verstand von Sex und Liebe so viel wie ein Eunuch. Nach einiger Zeit gestand mir Sonja, daß in all den Jahren, die sie zusammen waren, er sie nie befriedigt hatte. Bald nach der Hochzeit fing sie an, von Liebhabern zu träumen, aber im Grunde ihres Herzens war sie eine kleinstädtische, zurückhaltende Frau, wenn sie auch in Augenblicken der Leidenschaft Worte hervorstoßen konnte, die den Marquis de Sade überrascht hätten. Unsere Affaire begann beim allerersten Treffen. Sonja sagte, ihr sei heiß, und ich lud sie zu einem Eis in der Houston Street ein. Auf der Treppe küßten und bissen wir uns wie zwei Wahnsinnige und bis 139
wir in der Eisdiele anlangten, hatten wir verabredet, nach Kalifornien oder Europa auszureißen. Es gibt Feuer, die plötzlich ausbrechen. Vielleicht haben Sie von dem Feuer im Triangle Gebäude gehört ? In ein paar Minuten verbrannten dort Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Fabrikarbeiterinnen. Steht ein solches Unheil ins Haus, muß man es nicht erst anfachen. Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich habe ein wenig Naturwissenschaft studiert. Ich kenne die Theorien und all das Gerede über Evolution. Das ist ein einziger großer Schwindel. Das Weltall entstand in einer Sekunde. Gott selbst, wenn es Ihn gibt, war einfach da. Vorher gab es nur das Nichts. Ganz plötzlich war alles da – Gott, die Welt, Leben, Liebe, Tod. Oh, hier kommen unsere Blintzes.« »Die Blintzes erschienen nicht so urplötzlich«, bemerkte ich. »Hier in Sholums Café ? Wenn dieser Koch Gott wäre, hielten wir immer noch bei der Schöpfung.« Wir aßen unsere Blintzes und Max Blender fuhr fort. »All das Gerede über das Ausreißen führte zu nichts. Eine Mutter von vier Kindern läuft nicht einfach davon. Das alte Spiel des Betrugs begann. Wenn Chaskell unterwegs war, konnte uns nichts zurückhalten. Sie traf mich in einem Hotel oder einem möblierten Zimmer, das ich gemietet hatte. Ich war damals verheiratet, aber wir hatten keine Kinder. War ihr Mann 140
in der Stadt, dann wurde es schwierig. Er ließ sie nicht einen Augenblick allein. Er konnte weder schreiben noch rechnen, und sie war seine Sekretärin. Außerdem bestand er darauf, daß sie seine Lieblingsgerichte kochte – gefüllte Kischkes, fette Suppen, und weiß der Teufel was noch. Sie schlich sich manchmal auf eine Stunde fort, und wir fielen hungrig übereinander her. Sie erzählte die erstaunlichsten Geschichten, hatte im Wachen phantastische Träume und Visionen – oder wie soll ich es nennen ? Was mich angeht, ich wurde in ihrer Nähe ein wahrer Riese. Die gewöhnlichen Liebesgeschichten kühlen sich mit der Zeit ab, aber die unsere wuchs mit den Jahren, und so etwas nimmt kein gutes Ende. Meine Frau entdeckte, daß ich eine andere liebte – mit meinen kleineren Affairen hatte sie sich abgefunden –, und sie benutzte jedes Mittel, das einer Frau zur Verfügung steht, um mich von Sonja zu trennen. Sie nahm sogar die Tochter ihrer Schwester ins Haus – ein Mädchen von neunzehn Jahren – und versuchte, sie für mich zu verführen. Hätte ich es nicht erlebt, ich würde nicht glauben, wie weit eine eifersüchtige Frau gehen kann. Sie drohte sogar, mich zu betrügen, aber wer betrügt, droht nicht. Sie gehörte zu den Frauen, die nur einen Mann wollen. Ob das biologisch oder eine Art Selbsthypnose ist, kann ich nicht sagen. Hypnose selbst ist ja biologisch. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Hypnose. 141
Um es kurz zu machen : Sonjas Mann kam dahinter. Als ich das erfuhr, erschrak ich zu Tode. Er hätte mich mit einem Schlag niederstrecken können. Er hatte ein Paar Pranken wie ein Kutscher. Ich bin kein Held und es war nie mein Ideal gewesen, für ein romantisches Abenteuer mein Leben zu lassen. Aus lauter Furcht verließ ich vorübergehend die Stadt. Sonja rief mich an, um mir zu berichten, welchen Kummer er ihr machte. Er zerschlug das ganze Geschirr. Er schlug sie. Er hielt die Kinder in Angst und Schrecken. Er erzählte den Mitgliedern des Vereins alles über uns. Aber aus einem mir ganz unverständlichen Grunde versuchte er nicht, sich an mir zu rächen. Er rief nicht einmal meine Frau an, was das mindeste ist, was man erwarten kann. Vielleicht hielt er alle Schriftsteller für Scharlatane, zu tief unter ihm, sie ernst zu nehmen. Wie auch immer, niemand weiß, was im Gehirn eines anderen vor sich geht. Jemand, der so viel durchgemacht hat wie ich, weiß aber, daß Psychologie keine Wissenschaft ist und nie eine sein wird. Er benutzte eine andere Methode – er schwängerte Sonja, damit sie keine Zeit für Liebesgeschichten hätte. Nach der Geburt der vierten Tochter hatten sie eine Art Geburtenverhütung praktiziert. Aber jetzt bestand er darauf, daß sie noch ein Kind bekäme. Sonja war in den Vierzigern und glaubte nicht mehr an eine mögliche Schwangerschaft. Aber es passierte und Sonja gebar den Burschen, den Sie gerade hier ge142
sehen haben. Er ist ihr Sohn. Ich weiß, was Sie denken. Nein, er ist nicht mein Sohn. Er sieht aus wie sein Vater, obwohl der ein Kraftmeier war und er ein Schwächling ist. Übrigens, ich vermute, daß ich steril bin. Wie dem auch sei, Sonja wurde schwanger und es war die schwerste Schwangerschaft, die ich je gesehen habe. Als sie im fünften Monat war, sah sie aus wie im neunten. Sie wurde gelb, als hätte sie Gelbsucht. Er hatte sie physisch und seelisch vergewaltigt. Wir waren beide sicher, daß sie im Wochenbett sterben würde. Die wenigen Male, die wir uns trafen, sprach sie nur vom Tod. Ich mußte ihr versprechen, daß ich mich neben ihr beerdigen ließe, wenn meine Zeit gekommen sei. Unglücklicherweise läßt sich das nicht machen. Chaskell liegt schon neben ihr. Und der Friedhof ist so voll mit den ›Landsleit‹ aus Szydlow, daß ich mich woanders werde beerdigen lassen müssen. Nein, sie starb nicht bei der Geburt. Sie lebte noch fast zwei Jahre, aber sie waren ein langsames Sterben. Ihr Mann schwängerte sie nochmals, und dieses Mal hatte sie eine Fehlgeburt. Keine Einzelheiten. Von dem Tage an, als ich von ihrer Schwangerschaft erfuhr, hörte jede körperliche Beziehung zwischen uns auf. Wir hatten weder den Wunsch danach, noch die Gelegenheit. Ich war an ihrem Tode schuld, und das Schuldgefühl war zu stark, um Raum für andere Gefühle zu lassen. Ich fürchtete auch, mein eigenes Ende sei nahe. Ich besuchte Sonja auf dem Sterbebett, und sie sagte zu mir : ›Verlaß Welwel nicht.‹ Welwel 143
ist der Name, den sein Vater dem Knaben gegeben hatte. Später wurde aus Welwel Bill. Ich mochte den Knaben nie. Erstens war er an Sonjas Tod schuld, obwohl er nichts dafür konnte. Zweitens hatte er etwas vom Charakter seines Vaters, wenn auch nicht dessen Stärke. Ein Jahr nach Sonjas Tod heiratete Chaskell wieder und zog nach Brooklyn. Nachdem Jahre bitterster Reue für mich vergangen waren, kehrte das alte Feuer zurück. Aber ich konnte nicht mit Frauen Zusammensein, ohne mir Sonja vorzustellen, ohne mich zu der Vorstellung zu zwingen, sie alle seien Sonja. In solchen intimen Augenblicken nannte ich jede Frau Sonja. Jahrelang litt ich an Halluzinationen. Ich sah Sonja auf der Straße, in der Untergrundbahn. Einmal sah ich sie im Central Park. Ich hatte vergessen, daß sie tot war, und sprach zu ihr. Sie löste sich vor meinen Augen auf. Sonja hatte mir einen Packen Gedichte, an mich gerichtet, hinterlassen. Ich muß ihnen nicht erklären, daß diese keine Gedichte im herkömmlichen Sinne waren. Aber sie waren von höchster Aufrichtigkeit und dadurch von echter Kraft. Völlige Aufrichtigkeit ist mit den Kräften der Natur verbunden. Ich lese diese Gedichte noch heute. Ich kann sie auswendig. Einige sind über diesen Welwel, den sie Benjamin und Benoni nannte, nach dem Sohn der Mutter Rahel. Sonja liebte die Heilige Schrift. Sie besaß eine jiddische Bibelübersetzung, die von den christlichen Missionaren herausgegeben war. In ihren Ge144
dichten nennt sie ihn ›Dein Sohn‹, denn ich war der Grund, daß er auf die Welt kam. Es ist eine Art geistiger Vaterschaft. Jahre vergingen, ohne daß ich mit Sonjas Kindern in Berührung kam. Zu ihren Lebzeiten sagte sie mir, daß die Mädchen mich verfluchten – wenigstens die beiden älteren. Chaskell hatte seinen Kindern die Augen geöffnet und Haß gegen mich in ihre Herzen gesät. Meinetwegen hatten sie eine Stiefmutter ! Diese romantischen Lieben, die die Dichter so überschwenglich preisen, können in Wirklichkeit Leben zerstören. Unsere frommen Großeltern betrachteten, was wir Liebe nennen, als Verbrechen, und so ist es auch. Wenn diese Art von Liebe wirklich eine Tugend wäre, so würden die heutigen Menschen sie nicht so vergöttern. Sie ist das Gegenteil des freien Willens – die äußerste Form der Hypnose und des Fatalismus. Unsere gottesfurchtigen Mütter und Väter lebten ohne diese Sklaverei ein sittsames Leben, und glauben Sie mir, Sie waren hilfsbereiter zueinander als die in Liebesgeschichten Verstrickten. Und das gilt auch für mich. Die Liebe unserer Zeit ist nur zu oft Verrat und Treuebruch. Und Haß dazu. Ja, so vergingen Jahre, und ich hörte nichts von Chaskell. Er war mehr als zwanzig Jahre älter als ich. Dann hörte ich, er sei gestorben – wahrscheinlich hatte er sich überfressen. Eines Tages läutete das Telephon. Es war sein Sohn. Er sagte : ›Mein Name ist Bill – Welwel. Ich bin Sonjas Sohn.‹ 145
Seine Stimme mißfiel mir. Schon damals hörte ich den Vorwurf im Ton. Trotzdem verabredete ich mich mit ihm. Drei seiner Schwestern hatten geheiratet, berichtete er. Die jüngste war nach England gegangen. Nach Chaskells Tod hatte sich die Familie aufgelöst, wie es so geht. Bill sagte einen ganzen Katalog des Jammers her. Sein Vater hatte ihn drangsaliert. Die Schwestern verzogen und haßten ihn zugleich. Die Schule hatte er nicht abgeschlossen. Er hatte viele Stellungen gehabt und war um alle betrogen worden. Er brauchte Geld. Er blickte mich an, wie ein Sohn den ihm entfremdeten Vater. Er bat nicht, er verlangte. Alles an ihm ärgerte mich, und am liebsten hätte ich gesagt : ›Ich schulde Ihnen nichts, scheren Sie sich davon.‹ Stattdessen gab ich ihm alles, was ich hatte. Er nahm es und bedankte sich nicht einmal. Nachdem er gegangen war, schwor ich mir, diese elende Kreatur nie wiederzusehen. Aber ich wußte, daß ich ihm gegenüber hilflos war. Ich schuldete ihm etwas, das ich niemals zurückzahlen konnte.« Max Blender hielt einen Augenblick inne, um mehr Kaffee zu bestellen. »Ich habe viele Nichtsnutze in meinem Leben gesehen«, fuhr er fort, »aber einen größeren Schlemihl als diesen Bill gibt es in der ganzen Welt nicht. Er fing alles verkehrt an. Er wollte nichts lernen, er wollte keine Ausbildung, er eignete sich nicht fürs Geschäftsleben. Was immer er versuchte, es ging schief. Wie das Sprichwort sagt : ›Wenn er mit Leichentüchern handelt, stirbt niemand.‹ Manch146
mal macht so jemand noch eine gute Partie und heiratet eine tüchtige Frau, die ihm hilft. Aber er heiratete ein faules Mädchen – einen richtigen Klumpen –, und sofort begann sie, ihn mit Kindern zu überschütten. Kinder werden mal krank, Erwachsene auch, aber sein Haus war wie ein Krankenhaus. Das halbe Einkommen ging für Ärzte und Medizin drauf. Auch sonst hatte er viel Pech. Einmal brach Feuer aus. Ein andermal gab es einen Rohrbruch, und die Decke stürzte ein. Bei jeder Katastrophe kam er schweißgebadet zu mir gerannt. Und ich tat, was ich konnte. Sie können das nicht wissen, aber jahrelang besaß ich eine Druckerei – meine eigenen Bücher brachten so gut wie nichts. Ich habe nie nachgerechnet, was mich dieser Bill gekostet hat, aber es waren Tausende von Dollar. Ich habe ihm auch geholfen, das Haus zu kaufen, von dem wir gerade sprachen. Natürlich weiß er, Hypothekenzinsen werden fällig, aber jedesmal, wenn es soweit ist, kommt er angelaufen – am letzten Tag. Ich bedauere wirklich, nicht alle seine Unglücksfälle und Katastrophen aufgeschrieben zu haben. Ein ganzes Buch könnte man daraus zusammenstellen und es wäre sowohl tragisch wie komisch. Es gab Zeiten, da wollte ich aufbegehren. Schließund endlich, er war nicht mein Fleisch und Blut. Wäre ich ganz sicher, daß es ein Jenseits gibt und daß Sonja, wo immer sie auch sein mag, weiß, was ich für ihren Liebling tue, dann würde ich Himmel und 147
Erde in Bewegung setzen, ihn zu beschützen. Gibt es aber nichts dort oben und Sonja ist nur ein Häufchen Staub, für wen bringe ich dann all diese Opfer ? Ihm ist noch nie eingefallen, mir irgendeine Kleinigkeit zu Chanukka oder zum Geburtstag mitzubringen. Wenn meine Bücher erschienen, gaben mir meine Kollegen gelegentlich ein Festessen. Ich ließ ihn immer dazu einladen. Er ist nie gekommen. Sie haben gesehen, wie er an sich riß, was ich ihm gab. Nicht einmal ein Dankeschön. Und so geht es seit Jahren. Dieser Nebbich ist mein Feind, weil er irgendwie ahnt – nennen Sie es Unterbewußtsein oder einfach Instinkt –, daß ich dafür verantwortlich bin, daß er auf der Welt ist. Er hegt einen Groll gegen mich. Er scheint zu glauben, ich sei auch irgendwie an seinen Fehlschlägen schuld. Ein Kabbalist erzählte mir, daß, wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt oder ihr gegen ihren Willen ein Kind gibt, er eine Seele, die nicht auf die Welt gehört, vom Throne der Herrlichkeit zerrt, und daß diese Seele in der Welt umherirrt wie im Chaos. In den wenigen Unterhaltungen, die ich mit diesem Bill hatte, wiederholte er immer ›Ich lebe nicht lange‹. Das hinderte ihn aber nicht, darauf anzuspielen, ich möge ihn in meinem Testament bedenken. Er ist aus Widersprüchen zusammengesetzt. Vielleicht ist das ganze Weltall ein einziger Widerspruch. Gott selbst hat sich widersprochen, und daraus entstand die Welt. Was halten Sie von dieser Philosophie ? 148
Hören Sie weiter. Ich habe Ihnen von Bills fünf Töchtern erzählt – eine klüger als die andere. Ausgerechnet mit den Kindern hatte er Erfolg. Er hatte kein Geld, sie auf ein College zu schicken, aber drei von ihnen schafften es allein. Sie bekamen außerdem Stipendien. Mich interessierten seine Töchter. Oft habe ich ihn gebeten, sie kennenlernen zu dürfen, aber er hielt mich von ihnen fern. Sie werden es nicht glauben, er lud mich niemals zu sich ein, in das Haus, das ich ihm geholfen hatte zu kaufen. Ich hatte angenommen, daß er eines der Mädchen nach seiner Mutter nennen würde, aber er gab ihnen allen christliche Namen : Jean und Beatrice und Nancy und ähnliche. Er will von der Jüdischkeit nichts wissen. Weihnachten kauft er einen Baum ! Und der hat tatsächlich das Feuer in seinem Haus verursacht. Ich habe mich damit abgefunden, ihm mein ganzes Leben lang etwas schuldig zu sein, aber hinterlassen werde ich ihm keinen Pfennig. Außerdem habe ich wenig zu vererben. Meine Druckerei habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Jetzt kommt aber erst das tollste Stück. Vor ein paar Monaten kam mein Buch ›Das Bernstein-Idol‹ heraus. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an. Ich habe ungewöhnliche Titel gern. Irgendwo bin ich zuinnerst ein Dadaist, ein Futurist – wie immer Sie das nennen wollen. Wenn es goldene, silberne, steinerne Idole gibt, warum nicht eines aus Bernstein ? Und selbst wenn es sie nicht in Wirklichkeit gibt, warum 149
nicht in der Dichtung ? Sie wissen besser als ich, daß die Kabbala auf Buchstabenkombinationen beruht. Bringt man zwei Dinge zusammen, die vorher niemals zusammengehörten, so beginnen sie eine neue Existenz und vielleicht werden dadurch die Sphären bereichert. Kurzum, meine guten Kollegen gaben mir wieder einmal ein Fest. Sie fragten, wen sie einladen sollten und ich gab ihnen die Liste der Neujahrskarten, die meine Frau zu verschicken pflegt. Wir aßen, und wir lästerten über andere Schriftsteller, wie das so geht. Während ich mit einem zähen Hühnerviertel kämpfte, kam Sonja an den Tisch. Ja, Bills Tochter. Sie hieß Nancy, aber es war Sonja, wie sie mit achtzehn Jahren ausgesehen haben mochte. Ich war sprachlos. Sie sagte zu mir : ›Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Ihretwegen lernte ich Jiddisch, damit ich Ihre Gedichte lesen konnte. Ich bin Sonjas Enkelin !‹ Und sie lächelte, als wäre dies alles ein Scherz. Ich konnte kaum die Tränen zurückhalten. ›Sie sehen genau wie Ihre Großmutter aus‹, brachte ich hervor. Um nicht erst Illusionen aufkommen zu lassen, sagte sie rasch, daß sie einen Freund hätte und daß sie bald heiraten würden. Er studierte an der Universität Princeton und stammte aus der Gegend von Arizona. Sie sagte noch mehr : ihr zukünftiger Ehemann – wahrscheinlich bereits ihr Liebhaber – interessierte sich auch für meine Arbeit und wollte ebenfalls Jiddisch lernen. Er studierte Literatur. 150
Ich hörte kaum, was sie sagte. Die Gläubigen sprechen von der Auferstehung, und hier geschah sie vor meinen Augen. Aber Sonja war Sonja, und dies hier war Nancy. Ihr fehlte die Intensität ihrer Großmutter. Ich bat sie, sich neben mich zu setzen. Bald würden die Reden beginnen. Ich hörte sie sagen : ›Warum besuchen Sie uns nie ? Wir betrachten Sie alle als unseren Großvater. Jetzt, wo wir das Haus auf dem Lande haben, könnten Sie sich dort ausruhen oder schreiben. Wir haben ein Gastzimmern ›Ein Haus auf dem Lande ?‹ fragte ich. Sie sagte : ›Hat mein Vater Ihnen nichts davon erzählt ? So etwas ! Er kann kaum die Hypothek auf dem alten Haus abzahlen und geht hin und kauft ein neues Haus mit neuen Schulden. Mein Vater muß sich immer um etwas sorgen können, sich den Kopf zerbrechen. Das alte Haus ist fast abbezahlt, und wir Mädchen verdienen jetzt auch. Wir könnten bald schuldenfrei sein. Aber er kauft ein Sommerhaus, und es wird neue Krisen geben. Da haben Sie meinen Vater.‹ Ich war so aufgeregt, daß ich den Reden nicht zuhörte, und als ich dran war, zu antworten, verhedderte ich mich. Dabei galt ich als guter Redner. An jenem Abend ruinierte ich meinen Ruf. In dieser Nacht schloß ich kein Auge. Ich schwor den heiligsten Schwur, Bill bei seinem nächsten Auftauchen am Kragen zu nehmen und ihn zum Teufel zu jagen. Ich schimpfte mich selbst ›Ochse‹, ›Pferd‹, ›Dummkopf‹. Kaum eine Woche verging und er stand 151
wieder vor mir, schief zugeknöpft, in zerlumpten Kleidern, mit bleichem Gesicht, Düsternis im Auge – ein Bild der Verzweiflung. Er blickte mich an wrie das Opfer den Mörder und sprach : ›Es gibt nur noch einen Ausweg – mich aufzuhängen !‹ Ich wollte ihn anschreien : ›Verkaufen Sie Ihr Sommerhaus, Sie Schwindler ! Sie Schmarotzer ! Sie lausiger Schnorrer !‹ Und gleichzeitig dachte ich, warum soll er denn kein Sommerhaus haben ? Warum soll er nicht etwas besitzen, wo er hingehen und ausruhen kann ? Und wenn er sein Wort hielt und sich wirklich erhängte ? Ich habe Idioten aus dem Fenster springen sehen, beim Wall Street Börsenkrach von 1929, als ihre Aktien in die Tiefe sausten. Den Rest wissen Sie schon. Ich zahle wie ein Vater. Sie waren soeben Zeuge. Was sagen Sie zu all dem ?« »Spinoza behauptet, daß alles zur Leidenschaft werden kann. Und ›alles‹ schließt auch alle möglichen Gefühlsregungen ein«, sagte ich. »Mitleid auch ?« »Auch Mitleid.« »Und wie steht es mit der Liebe ?« fragte er. »Spinoza vergleicht die Liebenden mit den Geisteskranken«, sagte ich. »So? Ja, er ist durchaus im Recht. Aber nach all diesen Jahren ist es zu spät für mich, gesund zu werden.«
Daß ein jiddischer Schriftsteller reich würDer Bart de und das obendrein auf seine alten Tage, schien unglaublich. Aber bei Chaim Pupko, einem kleinen, kranken, pockennarbigen Mann mit einem blinden Auge und einem lahmen Fuß, kam es so. Während er sich mit seinen körperlichen Leiden abquälte und mit den Theaterstücken, die er nie zu Ende brachte, den Gedichten, die niemand las, und den Romanen, für die er keinen Verleger fand, befolgte er den Rat eines Verwandten und kaufte für 4.000 $ Aktien an der Over the Counter Börse, die Aktie zu 2 $. Das Geld bekam er anfänglich von großzügigen Geldgebern und wohltätigen Verbänden. Die Aktien stiegen im Verlauf von ein paar Monaten auf das beinahe Hundertfache ihres ursprünglichen Kaufpreises. Später gab ihm derselbe Verwandte den Rat, einige halb verfallene Gebäude an der Third Avenue in New York zu kaufen. Eine Bauunternehmung wollte das Grundstück haben und zahlte ihm dafür eine riesige Summe. Niemand in der Cafeteria, unserem Stammlokal, erfuhr jemals, wer der mysteriöse Ratgeber war, aber wir wußten, daß Chaim Pupko von Tag zu Tag reicher wurde. Er selbst gestand uns, daß ihm zu seiner ersten Million nicht mehr viel fehlte. Dennoch trug er dieselben schäbigen Kleider, die er immer getragen 153
hatte. Er saß mit uns an einem Tisch, rauchte Zigaretten, hustete, aß Reispudding und stöhnte : »Was kann ich mit meinem Geld anfangen ? Gar nichts.« »Du kannst es mir geben«, sagte Pelta Mannes, der Fabeln schrieb. »Was würdest du damit tun ? Nimm dir ein Eierkichel und einen Kaffee auf meine Rechnung.« Chaim Pupko war einer jener primitiven Schriftsteller, die nie lernen, was korrekter Satzbau ist und von Grammatik keine Ahnung haben, aber trotzdem talentiert sind. Manchmal warf ich einen Blick in seine veröffentlichten Werke. Sie hatten keinerlei Ordnung, aber auf jeder Seite fand ich einige überraschende Zeilen. Er schilderte halbirre Menschen, notorische Geizkragen, verjährte Dispute aus der alten Heimat, die schon so lange dauerten, daß niemand mehr wußte, wie sie angefangen hatten oder worum es sich eigentlich handelte, und tragische Liebesgeschichten, die in polnischen Dörfern begannen, sich in den EastsideSpelunken von New York fortsetzten und schließlich bis in die Hotels von Miami Beach führten. Seitenlang machte er keine Absätze. Plötzlich tauchte er mitten im Dialog eines Helden auf. In Amerika hatte Pupko zum ersten Mal etwas von Freud gehört und nun versuchte er seine Helden nach Freudscher Theorie zu erklären. Er brauchte einen Redakteur, aber er erlaubte nicht einmal, seine Interpunktion zu ändern. 154
Als ich einmal Redakteur eines literarischen Blattes war, brachte er mir eine Erzählung, die mit den Worten begann : »Der Tag war wolkig und der Himmel getreu.« Als ich ihn fragte, was er mit »getreu« meinte, starrte er mich mit seinem guten Auge voller Ärger und Mißtrauen an und rief : »Laß mich in Ruhe mit diesem gebildeten Blödsinn. Entweder veröffentliche es oder geh zum Teufel.« Er riß das Manuskript an sich und lief davon. Obwohl er seit über 40 Jahren in Amerika lebte, konnte er nicht mehr als ein paar Wörter Englisch sprechen. Er las ausschließlich seine jiddischen Zeitungen. »Psychologie« nannte er »Pyschologie«. Jemand meinte, man könne ein ganzes Wörterbuch von Pupkos Fehlern zusammenstellen. Aber manchmal sprach er wieder wie ein Gelehrter. Er wohnte irgendwo in Brownsville und er war kinderlos. Ein Mann erzählte mir, daß Chaim Pupkos Frau einen starken Bart habe, der früher schwarz gewesen, aber dann grau geworden sei. Er nahm sie nie mit, wenn er ausging. Niemand konnte verstehen, warum sie den Bart nicht abrasierte. Ich hatte es längst aufgegeben, in meinem Bekanntenkreis nach Erklärungen zu suchen. Ein Komiker der Jiddischen Bühne, der für seine frechen Redensarten bekannt war, wurde plötzlich religiös, ließ sich Schläfenlocken wachsen und nahm sich in Jerusalem eine Wohnung in der Gegend der 100 Tore. Ein orthodoxer Rabbiner ließ sich scheiden, gab seine Synagoge 155
auf und wurde Kommunist. Zwei Rabbinerfrauen aus Brooklyn ließen sich scheiden und fingen an, als lesbisches Liebespaar zusammenzuleben. Selbst Pupkos zunehmender Reichtum hätte uns nicht zu sehr überrascht, aber er unterließ es nie, uns immer wieder darauf hinzuweisen. Täglich kam er und rühmte sich seiner finanziellen Erfolge. Er begann, uns Ratschläge zu geben, wie wir unsere Ersparnisse anlegen sollten. Eines Tages prahlte er damit, daß der Kritiker Gabriel Weitz über ihn ein Buch schreibe. Das konnten wir nicht glauben. Weitz hatte sich bei jeder Gelegenheit abfällig über Pupkos Werke geäußert. Er nannte ihn einen Ignoramus, einen Dorfphilosophen und Schundschriftsteller. Wir fragten uns alle : »Wie ist das möglich ?« Chaim Pupko zwinkerte mit seinem schlechten Auge, lächelte schlau und sagte : »Wer gut schmiert, fährt gut.« Dann zitierte er einen Spruch aus dem Talmud : »Geld kann selbst einen Bastard reinwaschen.« Pupko sprach ganz offen mit uns. »Alle diese literarischen Größen kann man für einen Pappenstiel kaufen.« Er, Pupko, habe mit Gabriel Weitz klipp und klar gesprochen. »Was würde es kosten, mein Freund ?« und der Kritiker habe ihm einen Preis genannt : Fünftausend Dollar. Wir waren alle entsetzt. Gabriel Weitz kam niemals in unser Café. Er galt als seriöser Schriftsteller. Wir waren alle der Meinung, daß Chaim Pupko uns etwas vormachte. Aber dann erschien in ei156
nem literarischen Blatt ein Artikel von Gabriel Weitz über Chaim Pupko, der als Fragment eines größeren Werkes angezeigt war. Darin erklärte Gabriel Weitz, Chaim Pupko sei ein Klassiker. Er nannte ihn genial. Er sprach eingehend über Pupkos Bedeutung für die jiddische Literatur. Chaim Pupko hatte uns nichts vorgemacht : Gabriel Weitz hatte sich für fünftausend Dollar kaufen lassen. Ich sagte zu Pupko : »Was hast du schon davon, wenn du dafür zahlen mußt ! Was taugt solche Berühmtheit ?« und Pupko antwortete : »Man muß alles kaufen. Wenn du eine Frau hast, mußt du für sie sorgen, sonst verklagt sie dich. Wenn du eine Geliebte hast, mußt du sie ins Restaurant ausführen, ihr Hotel bezahlen und sie mit Geschenken überhäufen. Selbst deine eigenen Kinder würden zu Feinden werden, wenn du nicht mehr für sie sorgst. Früher oder später schickt dir jeder eine Rechnung. Warum soll Ruhm eine Ausnahme sein ?« Zu mir sagte er : »Du wirst mich eines Tages auch noch loben.« Ich schauderte bei dieser Bemerkung und antwortete : »Ich habe eine hohe Meinung von dir, aber keine Summe Geldes könnte mich veranlassen, über dich zu schreiben.« Er lachte und wurde sofort ernst. »Nicht einmal für zehntausend Dollar ?« »Nicht einmal für zehn Millionen Dollar.« Jemand am Tisch bemerkte : »Chaim, du verdirbst dir dein eigenes Geschäft. Vielleicht hätte er einmal über dich geschrieben.« 157
»Ja, vielleicht«, sagte ich, »Aber jetzt ist es vorbei.« Chaim Pupko neigte zustimmend den Kopf. »Und doch, – wenn du wüßtest, daß du für eine gute Kritik über mich den Rest deines Lebens behaglich verbringen könntest, – du brauchtest keine Artikel mehr zu schreiben und könntest nach Belieben in Kalifornien sitzen, – dann würdest du dir den Fall schon zweimal überlegen. Warum ist es eine Sünde, einzugestehen, daß Chaim Pupko Talent hat ?« »Es ist keine Sünde, und du hast wirklich Talent, aber seit du angefangen hast, Kritiker zu bestechen, würde ich um keinen Preis mehr über dich schreiben.« »Und wenn dir jemand den Revolver an die Stirn setzte ? Würdest du dann nachgeben ?« »Ja, es ist sicher nicht der Mühe wert, dafür zu sterben«, antwortete ich in unserem üblichen Cafeteriastil. »Nun gut, iß deinen Reispudding. Ich gebe dir ohnehin keine zehntausend Dollar. Du wirst es noch viel billiger machen.« Und er lachte und zeigte seine Zähne, die schwarz und krumm waren wie rostige Nägel. Ungefähr ein Jahr verging. Eines Tages kam ich in die Cafeteria und setzte mich an unsern Stammtisch. Eine Zeitlang drehte sich das Gespräch um ein Gedicht, das ein Kollege in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte. Einer von uns hielt es für ein geniales Werk, während ein anderer sagte, es enthalte nichts 158
als leere Phrasen. Eine Weile waren wir in dieses Thema vertieft. Dann fragte der Fabelschriftsteller. »Hast du das Neueste von Chaim Pupko gehört ?« »Was ist passiert ?« »Er hat Krebs.« »So, das ist das Ende von all seinem Reichtum«, sagte einer. Wir aßen unsern Reispudding, tranken unsern Kaffee und die Frage, ob das Gedicht ein geniales Werk oder ein wertloses Fabrikat sei, verlor an Bedeutung. Einer von uns bemerkte : »Wir treten ab und kein Nachwuchs kommt. In zwanzig Jahren wird keiner mehr wissen, daß wir existierten.« »Und selbst wenn sie es wüßten, würde uns das was nützen ?« Nach einer Weile ging ich nach Hause, in meine Junggesellenstube. Mein Schreibtisch war mit Manuskripten, Erzählungen und Romanen überhäuft, die ich nie zu Ende brachte. Alles war mit Staub bedeckt. Ich hatte ein schwarzes Dienstmädchen, das einmal wöchentlich für mich sauber machte, aber ich hatte ihr verboten, meine Papiere anzurühren. Außerdem war sie alt und halb gelähmt. Ich bezahlte ihr oft ihren Tageslohn und schickte sie heim, da ich sah, daß sie keine Kraft hatte, zu arbeiten. Ich fürchtete, sie würde bei der Arbeit in meiner Wohnung zusammenbrechen. An diesem Tag legte ich mich auf das Sofa und las einen Brief, dessen Datum zeigte, daß ich ihn schon 159
vor zwei Jahren erhalten hatte. Ich hatte ihn gefunden, als ich in der inneren Brusttasche meiner Jakke herumkramte. Der Absender war nicht mehr leserlich. Da klopfte jemand an meine Tür. Ich öffnete und was sich meinem Blick darbot, war wie ein Alptraum. Draußen stand eine Frau in einem schwarzen Kleid, mit Männerschuhen und Hut und einem weißen Bart. Sie stützte sich auf einen Stock. Ich wußte sofort, wer sie war – Frau Pupko. Ich fürchtete, daß meine lauernden Nachbarn sie sehen und über sie lachen würden. Ich sagte : »Treten Sie ein, Frau Pupko.« Sie sah mich erstaunt an. Ihr Stock war zuerst über der Schwelle. Sie sagte mit männlicher Stimme : »Ihr Aufzug funktioniert nicht… Ich mußte fünf Treppen steigen.« »Es tut mir leid, es ist ein altes Haus. Setzen Sie sich.« »Darf ich rauchen ?« »Ja, gewiß.« Sie zog eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an. Vielleicht ist es ein Mann, dachte ich mir. Aber ich sah, daß sie einen großen Busen hatte. Wahrscheinlich ein Zwitter, dachte ich. Sie sagte : »Mein Mann ist schwer krank.« »Ja, ich habe es gehört. Es tut mir sehr leid.« »Sie sind schuld an seiner Krankheit«, sagte sie mit lauter Stimme. Erschüttert fragte ich : »Was sagen Sie da ?« 160
»Ich weiß, was ich sage. Vor einiger Zeit ließen Sie ihn wissen, daß Sie um keinen Preis in der Welt über ihn schreiben würden. Für Sie war das bloß so dahingesagt, eine Wichtigtuerei. Aber es gibt ein Sprichwort : ›Einen Schlag vergißt man, aber nie ein böses Wort.‹ Mit Ihren Worten haben Sie ihn mehr verletzt, als Sie sich vorstellen können. Wie hat er das verdient ? Mein Mann hat großes Talent. Gabriel Weitz nennt ihn genial. Chaim hat eine hohe Meinung von Ihnen. Als Sie ihm sagten, daß Sie nie über ihn schreiben würden, nahm er sich das sehr zu Herzen. Sie werden nie wissen, wie ihn das verletzt hat. Als er heim kam, war er gelb wie Wachs. Ich fragte ihn, was los sei. Erst wollte er es mir nicht erzählen, aber ich bekam es aus ihm heraus. Sie werden es mir nicht glauben, aber von dem Tag an war er nie mehr derselbe. Obwohl er kränklich war, war er doch immer voller Lebensfreude. Er machte Pläne jahrelang im voraus. Aber seit jenem Tag nahm er nie mehr die Feder zur Hand. Er fing an, unter Magenkrämpfen zu leiden.« »Frau Pupko, das kann nicht wahr sein«, unterbrach ich sie. »Gott weiß, daß es wahr ist.« »Ich bin kein Kritiker. Gabriel Weitz schreibt ein ganzes Buch über ihn.« »Er hält nicht viel von Gabriel Weitz. Wir kennen ihn alle und wissen, was er ist, ein intellektueller Langweiler. Nur Verstand, kein Gefühl. Er versteht 161
von Literatur soviel wie mein linker Fuß. Denken Sie ja nicht, daß man Chaim etwas vormachen kann. Sie sind etwas ganz anderes. Er liest jedes Wort, das Sie schreiben. Manchmal lesen wir Ihre Sachen zusammen. Wir leiden beide an Schlaflosigkeit. Wir liegen wach bei Nacht, und wenn die Sprache auf Sie kommt, sagt er immer dasselbe, ›der hat Talent‹. Und Sie mußten ihm solch einen Schlag versetzen. Er ist empfindlicher, als Sie glauben. Literatur ist sein ein und alles. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie ; Vielleicht kenne ich Sie sogar besser, als Sie sich selber kennen. Ich bin mit Chaim über vierzig Jahre verbunden. Wissen Sie, was es heißt, ein Leben vierzig Jahre lang zu teilen ! Er liest mir jede Zeile vor. Wenn er Schwierigkeiten hat mit seiner Arbeit, fragt er mich um Rat. Wir sind kinderlos, aber seine Werke sind unsere Kinder. Sie haben nie mit jemandem geteilt und verstehen nichts von solchen Dingen. Sie schreiben über Liebe, aber Sie verstehen nichts davon. Verzeihen Sie mir, Sie beschreiben Leidenschaft, nicht Liebe, die Opfer bringt und mit den Jahren wächst. In dieser Beziehung überragt Sie Chaim um mehr als Haupteslänge. Haben Sie einen Aschenbecher ?« Ich brachte ihr einen Aschenbecher und sie streifte die Asche ihrer Zigarre ab. Sie hob ihre buschigen Augenbrauen, und ich sah dunkle Augen, fast nur Pupille. Hexen, die samstags bei Nacht auf Besenstielen zur schwarzen Messe flogen und dann auf dem 162
Scheiterhaufen verbrannt wurden, müssen so ausgesehen haben. »Warum starren Sie mich so an ? Ich bin eine Frau, kein Mann.« »Darf ich Sie fragen, warum –« »Ich weiß, was Sie fragen wollen. Mir wuchs ein Bart, als ich noch ein junges Mädchen war. Sie werden es nicht glauben, aber ich war schön. Ich versuchte ihn abzurasieren oder sogar die Wurzeln auszubrennen, aber je mehr ich dagegen zu tun versuchte, desto schneller wuchs er. Denken Sie nur nicht, daß ich die einzige bin. Tausende von Frauen haben Bärte. Ein Bart ist kein Vorrecht des Mannes. Als ich Chaim kennenlernte und er mich auf die Wange küßte, rief er : ›Bella, dir wächst ein Bart !‹ Und er fiel in ein seltsames Entzücken. Er war in meinen Bart verliebt. Unglaublich ? Ich konnte es selbst nicht glauben, daß das wahr sein könnte. Er sprach sich mit mir aus. Er war bereit, mich zu heiraten, aber nur unter einer Bedingung, – daß ich meinen Bart wachsen lasse. Es war nicht leicht, so etwas zu versprechen. Ich dachte, er sei verrückt.« »Er muß homosexuelle Neigungen haben«, sagte ich. »Oh, ich wußte, daß das kommen würde. Jedermann sagte das. Von ihnen hätte ich etwas Originelleres erwartet. Er ist kein Homosexueller. Die Menschen haben Vorlieben, die man nicht mit irgendwelchen Theorien erklären kann. Es war keine 163
Kleinigkeit, mich dem anzupassen. Es bedeutete vollkommene Isolierung. Als meine Mutter nach unserer Heirat zu Besuch nach Odessa kam und mich mit dem Bart sah, wurde sie fast ohnmächtig. Ich wurde ein vollkommener Einsiedler. Aber Chaims Wunsch war mir wichtiger als ein angenehmes Leben. Das ist jene Liebe, die Sie nicht verstehen. Hier in Amerika wurde ich noch einsamer. Ich könnte Ihnen noch mehr erzählen, aber ich bin nicht hierhergekommen, um meinen Bart zu rechtfertigen, sondern um Sie wissen zu lassen, daß Sie Chaim umbringen.« »Bitte, sagen Sie so etwas nicht, Chaim ist mein Freund.« »Dann bringen Sie Ihren Freund um.« Eine Zeitlang führten wir das Gespräch noch weiter. Ich gab Frau Pupko mein Ehrenwort, daß ich über ihren Mann etwas schreiben würde. Sie sagte zu mir : »Es ist vielleicht zu spät, ihn zu retten, aber ich möchte ihm die Genugtuung verschaffen, etwas aus Ihrer Feder über sich zu lesen.« »Darf ich fragen, warum Sie Zigarren rauchen ?« »Nu, man muß doch nicht alles wissen.« Im Stillen sandte ich ein Stoßgebet zu Gott, daß keiner meiner Nachbarn sehen würde, wie sie aus meiner Wohnung wegging, aber als ich die Tür für Frau Pupko öffnete, sah ich meine Nachbarin, eine geschiedene Frau, im Gang lauern. Der Aufzug war noch immer nicht in Betrieb, und Frau Pupko muß164
te die Stiegen hinuntergehen. Sie rief mir zu : »Seien Sie ein Kavalier und helfen Sie mir hinunter.« Sie hielt sich an meinem Arm fest, und ihre Brust berührte meinen Ellbogen. Als wir hinunterstiegen, waren alle Nachbarstüren auf allen Stockwerken aus irgenwelchem Grund offen. Ich hörte Kinder schreien : »Mama, sieh doch, eine Frau mit einem Bart.« Ein bellender Hund rannte aus einer Wohnung und verbiß sich in Frau Pupkos Kleid, mit Mühe und Not vertrieb ich ihn. Am selben Abend setzte ich mich hin, um Chaim Pupkos Werke wieder zu lesen. Nach ein paar Wochen hatte ich einen Artikel über ihn geschrieben, aber der Redakteur des Blattes, an den ich den Aufsatz sandte, schob die Veröffentlichung so lange hinaus, daß Chaim Pupko darüber starb. Er hatte gerade noch die Korrekturfahnen lesen können und auf die letzte Seite hatte er mit zitternder Hand geschrieben : »Hab ich es dir nicht gesagt ?« Eines Tages, als ich in dem Automatencafé an der Sixth Avenue nicht weit von der Stadtbibliothek saß, öffnete sich die Tür, und Frau Pupko kam herein. Sie stützte sich auf einen Stock und eine Krücke. Obwohl sie schon zwei Jahre Witwe war, trug sie noch immer ihren Bart und Männerhut und Stiefel. Sie hinkte sofort herüber zu meinem Tisch und setzte sich, als ob sie mit mir eine Verabredung hätte. Alle Gäste in dem Automatenrestaurant starrten sie an, winkten ihren Nachbarn zu und lachten. Ich 165
wollte Frau Pupko fragen, warum sie noch immer ihren Bart beibehielt, obwohl ihr Mann nicht mehr am Leben war, aber ich erinnerte mich an ihren Ausspruch : »Nun, man muß doch nicht alles wissen.«
Harry Bendiner wachte um fünf Uhr mit dem Späte Liebe Gefühl auf, daß, was ihn betraf, die Nacht vorbei war und er keinen Schlaf mehr finden würde. Tatsächlich wachte er jede Nacht ein dutzendmal auf. Vor Jahren war er an der Prostata operiert worden, aber der konstante Druck auf der Blase war dadurch nicht behoben worden. Er schlief eine Stunde oder weniger und wachte dann auf, weil er hinaus mußte. Selbst seine Träume drehten sich um diesen Drang. Er stand aus dem Bett auf und tappte auf wackeligen Beinen ins Badezimmer. Auf dem Weg zurück trat er auf den Balkon seiner Eigentumswohnung im elften Stock hinaus. Zur Linken sah er die Wolkenkratzer von Miami, zur Rechten das rollende Meer. Die Luft war während der Nacht etwas kühler geworden, aber sie war noch immer tropisch lau. Es roch nach toten Fischen, Öl und vielleicht auch nach Orangen. Harry blieb lange dort stehen und genoß die Seebrise auf seiner feuchten Stirn. Obwohl Miami Beach sich zu einer großen Stadt entwickelt hatte, glaubte er, noch die Nähe der Everglades zu spüren, mit den Gerüchen und Dünsten ihrer Vegetation und ihrer Sümpfe. Manchmal erwachte eine Möwe in der Nacht und schrie. Es kam auch vor, daß die Wellen den Kadaver eines Barracuda oder eines jungen Walfisches an den Strand spülten. Harry Bendiner schickte seinen Blick in die Richtung von Hollywood. Wie lange war es 167
her, daß die ganze Gegend noch unentwickelt war ? Innerhalb von wenigen Jahren war eine unbebaute Wüste in ein besiedeltes Gebiet verwandelt worden, voller Hotels, Eigentumswohnungen, Restaurants, Supermärkte und Banken. Die Straßenlampen und Neonlichter verdunkelten die Sterne am Himmel. Selbst mitten in der Nacht rasten Wagen durch die Straßen. Wohin eilten alle diese Leute vor Sonnenaufgang ? Schliefen Sie denn nie ? Welche Kraft trieb sie voran ? »Nun, das ist nicht mehr meine Welt. Wenn man erst mal über achtzig ist, ist man schon so gut wie eine Leiche.« Er stützte seine Hand auf das Geländer und versuchte, sich des Traumes, den er eben gehabt hatte, zu entsinnen. Er konnte sich nur erinnern, daß alle die, die in dem Traum erschienen waren, jetzt tot waren – Männer sowohl wie Frauen. Träume nahmen offenbar keine Notiz vom Tod. In seinen Träumen waren seine drei Frauen noch am Leben, ebenso wie sein Sohn Bill und seine Tochter Sylvia. New York, seine Heimatstadt in Polen und Miami Beach verschmolzen in eins. Er, Harry oder Herschel, war gleichzeitig erwachsen und ein Chederschüler. Er schloß seine Augen für einen Augenblick. Warum war es unmöglich, sich an Träume zu erinnern ? Er konnte sich auf jede Einzelheit von Ereignissen besinnen, die vor siebzig oder fünfundsiebzig Jahren stattgefunden hatten, aber die Träume der heutigen Nacht lösten sich auf wie Schaum. Irgendeine Kraft 168
bewirkte, daß auch nicht die geringste Spur übrigblieb. Ein Drittel des Lebens eines Menschen stirbt daher schon, bevor er ins Grab sinkt. Nach einiger Zeit setzte Harry sich auf den Plastiksessel, der auf dem Balkon Stand. Er blickte hinüber aufs Meer, nach Osten, wo bald der Tag dämmern würde. Es hatte eine Zeit gegeben, da er morgens als erstes schwimmen gegangen war, besonders während der Sommermonate, aber jetzt verspürte er keine Lust mehr zu solchen Dingen. Manchmal standen in den Zeitungen Berichte darüber, daß Haifische Schwimmer angegriffen hatten, und es gab noch andere Geschöpfe des Meeres, deren Bisse schwere Folgen haben konnten. Ihm genügte es jetzt, ein warmes Bad zu nehmen. Seine Gedanken wendeten sich geschäftlichen Dingen zu. Er wußte genau, daß Geld ihm nicht helfen konnte ; trotzdem, man konnte nicht immer über die Tatsache nachdenken, daß ›alles ganz eitel war‹. Es war einfacher, über praktische Sachen nachzudenken. Aktien und Obligationen stiegen oder fielen. Dividenden und andere Einkünfte mußten bei der Bank eingezahlt werden und für die Steuer mußte darüber Buch geführt werden. Telephon- und Elektrizitätsrechnungen mußten bezahlt werden, ebenso die Unterhaltung der Wohnung. Einen Tag in der Woche kam eine Frau zum saubermachen und um seine Hemden und Unterwäsche zu bügeln. Ab und zu mußte ein Anzug gereinigt und Schuhe repariert 169
werden. Er erhielt Briefe, die beantwortet werden wollten. Das ganze Jahr hindurch hatte er nichts mit der Synagoge zu tun, aber an Rosch haschana und an Jom Kippur mußte er dort für die Gottesdienste seinen Platz haben, und deshalb bekam er Aufrufe zugunsten Israels, Bitten um Unterstützung von Lehranstalten, Talmudschulen, Altersheimen und Hospitälern. Jeden Tag kam so ein Haufen »Abfallpost«, und bevor er sie wegwarf, mußte er sie mindestens öffnen und überfliegen. Da er sich entschlossen hatte, den Rest seines Lebens ohne Frau und auch ohne Haushälterin zu verbringen, hatte er sich selbst um seine Mahlzeiten zu kümmern, und jeden zweiten Tag ging er in den benachbarten Supermarkt einkaufen. Er schob sein Wägelchen durch die Gänge und wählte aus dem Angebot Milch, Hüttenkäse, Obst, Büchsengemüse und Hackfleisch aus, gelegentlich auch Pilze, ein Glas Borscht oder gefilten Fisch. Er hätte sich ohne weiteres den Luxus eines Mädchens leisten können, aber manche Mädchen galten als unehrlich. Und was sollte er mit sich anfangen, wenn jemand anderer ihn bediente ? Er erinnerte sich an ein Wort aus der Gemara, daß Trägheit zu Wahnsinn führe. Er fühlte sich frischer, wenn er sich mit dem elektrischen Herd in der Küche befaßte, auf die Bank ging, die Zeitungen las – besonders den Wirtschaftsteil – und ein oder zwei Stunden im Büro der Maklerfirma Merrill Lynch verbracht hatte, wo er die Kurse der New Yorker Börse 170
vorbeiflimmern sah. Kürzlich hatte er sich ein Fernsehgerät angeschafft, aber er benutzte es selten. Seine Nachbarn im Hause fragten ihn oft spitz, warum er alles selbst mache, was doch andere für ihn tun könnten. Man wußte, daß er reich war. Man gab ihm Ratschläge und stellte Fragen : Warum habe er sich nicht in Israel niedergelassen ? Warum ging er während des Sommers nicht in ein Hotel im Gebirge ? Warum heiratete er nicht wieder ? Warum hatte er keine Sekretärin ? Er hatte den Ruf, ein Geizhals zu sein. Sie erinnerten ihn dauernd daran : »Sie können es doch nicht mitnehmen« – als ob das eine überraschende Offenbarung sei. Aus all diesen Gründen ging er nicht mehr zu den Mieterversammlungen und auch nicht zu den Parties. Jeder versuchte, auf diese oder jene Weise etwas aus ihm herauszuholen, aber ihm würde niemand auch nur einen Penny geben, wenn er in Not wäre. Vor ein paar Jahren war er in einen Bus von Miami Beach nach Miami eingestiegen, und ihm hatten zwei Cent am Fahrgeld gefehlt. Alles, was er bei sich hatte, waren Zwanzigdollarscheine. Niemand hatte sich erboten, ihm entweder die zwei Cent zu geben oder einen Schein zu wechseln, und der Fahrer hieß ihn aussteigen. In Wirklichkeit fühlte er sich in keinem Hotel so wohl wie in seiner Wohnung. Die im Hotel servierten Mahlzeiten waren viel zu reichlich für ihn und nicht so gekocht, wie er es brauchte. Er mußte sich schon selbst darum kümmern, daß er eine Diät be171
kam, die salzfrei, cholesterinarm und ungewürzt war. Außerdem waren Flugreisen und Taxifahrten zu anstrengend für einen Mann mit seiner zarten Konstitution. Es wäre auch unvernünftig, in seinem Alter nochmals zu heiraten. Jüngere Frauen verlangten Sex, und an einer alten Frau war er nicht im geringsten interessiert. Da er nun einmal so veranlagt war, war er dazu verurteilt, alleine zu leben und alleine zu sterben. Ein rötlicher Schein begann den östlichen Himmel zu färben, und Harry ging ins Badezimmer. Einen Augenblick blieb er vor dem Spiegel stehen und betrachtete sein Bild – eingefallene Backen, ein kahler Schädel mit ein paar Büscheln weißen Haares, ein deutlich sichtbarer Adamsapfel, eine Nase mit abwärts gekrümmter Spitze wie ein Papageienschnabel. Die blaßblauen Augen standen nicht symmetrisch, das eine war höher als das andere, sie zeigten sowohl Müdigkeit wie Spuren jugendlicher Glut. Er war einmal ein sehr männlicher Mann gewesen. Er war verheiratet gewesen und hatte Liebschaften gehabt. Er besaß viele Liebesbriefe und Photos, die irgendwo herumlagen. Harry Bendiner war nicht wie die anderen Einwanderer arm und ohne Bildung nach Amerika gekommen. Bis zum Alter von neunzehn Jahren war er in seiner Heimatstadt in das Lehrhaus gegangen ; er konnte Hebräisch und hatte heimlich Zeitungen und weltliche Bücher gelesen. Er hatte Unterricht in Rus172
sisch, Polnisch und sogar Deutsch genommen. Hier in Amerika war er zwei Jahre lang in die Gewerbeschule »Cooper Union« gegangen, weil er hoffte, Ingenieur zu werden. Aber er hatte sich in ein amerikanisches Mädchen verliebt, Rosalie Stein, hatte sie geheiratet, und ihr Vater, Sam Stein, hatte ihn in sein Bauunternehmen aufgenommen. Rosalie starb mit dreißig an Krebs, und er war mit zwei kleinen Kindern zurückgeblieben. In dem Maß, wie das Geld ihm zufiel, nahm der Tod ihm die Seinen. Sein Sohn Bill, ein Chirurg, war mit sechsundvierzig an einem Herzanfall gestorben und hinterließ zwei Kinder, von denen keines jüdisch sein wollte. Ihre Mutter, eine Christin, lebte irgendwo in Kanada mit einem anderen Mann. Harrys Tochter Sylvia war an der gleichen Art von Krebs wie ihre Mutter erkrankt und im gleichen Alter. Sylvia hinterließ keine Kinder. Harry hatte sich geweigert, noch andere Generationen in die Welt zu setzen, obwohl seine zweite Frau ein oder zwei Kinder von ihm gewollt hatte. Ja, der Engel des Todes hatte ihm alles genommen. Zuerst hatten seine Enkelkinder ihn manchmal von Kanada aus angerufen und zum neuen Jahr eine Karte geschickt. Aber jetzt hörte er nichts mehr von ihnen, und er hatte sie aus seinem Testament gestrichen. Harry rasierte sich und summte eine Melodie – woher sie stammte, wußte er nicht. War es etwas, das er im Fernsehen gehört hatte oder eine Melodie aus Po173
len, die ihm wieder in Erinnerung gekommen war ? Er hatte kein musikalisches Gehör und sang immer falsch, aber die Gewohnheit, im Badezimmer zu singen, hatte er beibehalten. Seine Morgentoilette dauerte sehr lange. Seit Jahren hatten die Pillen, die er gegen Verstopfung nahm, nicht mehr geholfen, und jeden zweiten Tag machte er sich selbst ein Klistier – eine langwierige und mühsame Angelegenheit für einen Mann in den Achtzigern. Er versuchte, in der Badewanne Turnübungen zu machen, hob seine mageren Beine und planschte mit den Händen im Wasser, als seien sie Paddel. Das waren alles Maßnahmen, das Leben zu verlängern, aber selbst während er sie durchführte, fragte er sich : »Wozu weiterleben ?« Welche Würze besaß sein Leben noch ? Nein, sein Leben hatte keinen Sinn mehr – aber war das seiner Nachbarn sinnvoller ? Das Haus war voll alter Leute, alle waren wohlhabend, manche sogar reich. Einige Männer konnten nicht mehr laufen oder schlurrten mit den Füßen ; einige Frauen stützten sich auf Krücken. Eine ganze Anzahl litt an Arthritis oder an der Parkinsonschen Krankheit. Dies war kein Wohnhaus mehr, sondern ein Krankenhaus. Leute starben, und er erfuhr es erst Wochen oder Monate später. Obwohl er einer der ersten Bewohner gewesen war, kannte er kaum jemanden. Er ging auch nicht in den Swimmingpool und spielte nicht Karten. Frauen und Männer grüßten ihn im Lift und im Supermarkt, aber er wußte nicht, wer sie waren. Von Zeit zu Zeit fragte ihn jemand : 174
»Wie geht es Ihnen, Mr. Bendiner ?« Und seine Antwort war gewöhnlich : »Wie kann es einem in meinem Alter schon gehen ? Jeder Tag ist ein Geschenk.« Dieser Sommertag begann wie jeder andere. Harry hatte sich in der Küche sein Frühstück gemacht – Rice Krispies mit Magermilch und koffeinfreien Kaffee mit Saccharin gesüßt. Gegen halb zehn fuhr er im Lift nach unten, um die Post zu holen. Es verging kein Tag, an dem er nicht einige Schecks erhielt, aber heute war es ein ganzer Haufen. Die Aktien waren gefallen, aber die Gesellschaften zahlten Dividenden wie immer. Harry bekam Hypothekenzinsen, Mietzahlungen, Zinsen von Obligationen und von allen möglichen geschäftlichen Beteiligungen, an die er sich kaum mehr erinnern konnte. Von einer Versicherungsgesellschaft bekam er eine Rente. Und seit Jahren erhielt er einen monatlichen Scheck von der Altersversicherung. Die Ernte dieses Morgens betrug über elftausend Dollar. Sicher, ein großer Teil davon mußte für die Steuer zurückbehalten werden, aber ihm blieben noch immer über fünftausend Dollar. Während er die Zahlen addierte, überlegte er : sollte er in das Büro von Merrill Lynch gehen, um zu sehen, was an der Börse los war ? Nein, das hatte keinen Sinn. Selbst wenn die Aktien am Morgen stiegen, am Ende des Tages würde es nur wieder Verluste geben. »Der Markt ist vollkommen verrückt«, murmelte er vor sich hin. Es war für ihn eine eiserne Regel gewesen, daß es nur bei steigendem Markt Inflation 175
geben könnte, niemals bei fallendem. Aber jetzt brachen sowohl der Dollar wie die Aktien zusammen. Ja, nichts war sicher auf dieser Welt, nur der Tod. Gegen elf Uhr ging er hinunter, um die Schecks einzuzahlen. Die Bankfiliale war nur klein ; alle Angestellten kannten ihn und begrüßten ihn. Er hatte ein Safe dort, in dem er Wertsachen und Schmuck aufbewahrte. Es hatte sich so ergeben, daß seine drei Frauen ihm alles hinterlassen hatten ; keine hatte ein Testament gemacht. Er wußte selbst nicht genau, wieviel er besaß, aber es konnte kaum weniger als fünf Millionen Dollar sein. Trotzdem ging er auf die Straße in einem Hemd und in Hosen, die sich noch der Ärmste hätte leisten können, und mit der gleichen Mütze und den gleichen Schuhen, die er schon seit Jahren trug. Er stützte sich auf seinen Stock und machte winzige Schritte. Ab und zu sah er sich um. Vielleicht folgte ihm jemand. Vielleicht hatte irgendein Verbrecher herausgefunden, wie reich er war und plante, ihn zu entführen. Obwohl es hellichter Tag war und die Straße voller Leute, würde sich doch niemand einmischen, wenn man ihn ergreifen, in ein Auto zerren und in eine Ruine oder Höhle verschleppen würde. Niemand würde Lösegeld für ihn bezahlen. Nachdem er seine Geschäfte in der Bank erledigt hatte, kehrte er wieder nach Hause zurück. Die Sonne stand hoch am Himmel und goß glühendes Feuer herunter. Frauen standen unter dem Schatten der Markisen und betrachteten Kleider, Schuhe, Strümp176
fe, Büstenhalter und Badeanzüge in den Schaufenstern. Ihre Gesichter drückten Unentschlossenheit aus – kaufen oder nicht kaufen ? Harry warf einen Blick auf die Schaufenster. Was könnte er dort kaufen ? Es gab nichts, was er brauchte. Von jetzt an bis um fünf Uhr, wenn er anfangen würde, sein Abendessen vorzubereiten, brauchte er absolut nichts. Er wußte genau, was er tun würde, wenn er nach Hause kam – auf dem Sofa ein Schläfchen machen. Gott sei Dank, niemand hatte ihn entführt, niemand hatte ihn überfallen, niemand war in die Wohnung eingebrochen. Die Klimaanlage arbeitete vorschriftsmäßig, und auch im Badezimmer war alles in Ordnung. Er zog seine Schuhe aus und legte sich auf das Sofa. Seltsam, er hatte immer noch Wachträume : er phantasierte von unerwarteten Erfolgen, wiedergewonnenen Kräften und männlichen Abenteuern. Das Gehirn weigerte sich, das Alter zu akzeptieren. Wie in seiner Jugend pulste es noch von Leidenschaften. Oft sagte Harry zu seinem Gehirn : »Sei nicht dumm. Es ist für alles zu spät. Es gibt nichts mehr zu hoffen.« Aber das Gehirn war so beschaffen, daß es dennoch fortfuhr zu hoffen. Wer hatte das gesagt : Der Mensch nimmt seine Hoffnungen mit ins Grab ? Er war eingenickt und wurde von einem schrillen Geräusch an der Tür geweckt. Er wurde unruhig. Niemals kam jemand ihn besuchen. »Es muß der Kam177
merjäger sein«, sagte er sich. Er öffnete die Tür, so weit die vorgelegte Kette es erlaubte, und sah eine kleine Frau mit roten Backen, gelblichen Augen und strohblonden Haaren, die sie hoch aufgetürmt trug. Sie hatte eine weiße Bluse an. Harry öffnete die Tür, und die Frau sagte auf englisch, das sie mit einem starken Akzent sprach : »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt. Ich bin Ihre Nachbarin zur Linken. Ich wollte mich Ihnen vorstellen. Ich heiße Ethel Brokeles. Ein komischer Name, nicht wahr ? Das war der Name meines verstorbenen Mannes. Mein Mädchenname ist Goldmann.« Harry sah sie erstaunt an. Seine Nachbarin zur Linken war eine alleinstehende alte Frau gewesen. Er erinnerte sich an ihren Namen – Mrs. Halpert. Er fragte : »Was ist mit Mrs. Halpert geschehen ?« »Das, was allen geschieht«, antwortete die Frau gleichmütig. »Wann ist es denn passiert ? Ich wußte nichts davon.« »Es ist schon über fünf Monate her.« »Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Leute sterben, und man weiß es nicht einmal«, sagte Harry. »Sie war eine nette Frau, sehr zurückhaltend.« »Ich habe sie nicht gekannt. Ich habe die Wohnung von ihrer Tochter gekauft.« »Bitte, nehmen Sie Platz. Ich habe gar nichts, was ich Ihnen anbieten könnte. Irgendwo habe ich eine Flasche Likör, aber –« 178
»Ich brauche keine Erfrischung und Likör trinke ich nicht. Nicht mitten am Tag. Darf ich rauchen ?« »Gewiß, gewiß.« Die Frau setzte sich auf das Sofa. Geschickt handhabte sie ein Feuerzeug und zündete ihre Zigarette an. Ihre Nägel waren rot lackiert, und Harry fiel ein großer Brillant an einem ihrer Finger auf. Die Frau fragte : »Leben Sie hier allein ?« »Ja, allein.« »Ich bin auch allein. Was kann man tun ? Ich habe fünfundzwanzig Jahre mit meinem Mann gelebt, und es gab keinen schlechten Tag. Unser gemeinsames Leben kannte nur Sonnenschein, es gab keine Wolke. Plötzlich starb er und ließ mich allein und elend zurück. Das Klima in New York ist ungesund für mich. Ich leide an Rheumatismus. Ich werde bis zum Ende meiner Tage hier leben müssen.« »Haben Sie die Wohnung möbliert übernommen ?« fragte Harry geschäftsmäßig. »Ja, alles. Die Tochter wollte nichts für sich behalten, außer Kleider und Wäsche. Sie überließ mir alles für einen Spottpreis. Ich hätte nicht die Geduld gehabt, herumzulaufen und Möbel und Geschirr zu kaufen. Leben Sie hier schon lange ?» Die Frau stellte eine Frage nach der anderen, und Harry gab bereitwillig Auskunft. Sie sah verhältnismäßig jung aus – nicht älter als fünfzig, vielleicht sogar weniger. Er brachte ihr einen Aschbecher und stellte ein Glas mit Limonade und einen Teller mit Keksen auf den 179
kleinen Tisch vor ihr. Zwei Stunden vergingen, er bemerkte es kaum. Ethel Brokeles schlug die Beine übereinander, und Harry warf ab und zu einen Blick auf ihre runden Knie. Sie war inzwischen zu Jiddisch, das sie mit polnischem Akzent sprach, übergegangen. Sie strömte die Vertraulichkeit einer Verwandten aus. In Harry frohlockte etwas. Es mußte so sein, der Himmel hatte seinen heimlichen Sehnsüchten nachgegeben. Erst jetzt, als er ihr zuhörte, wurde ihm klar, wie einsam er in diesen langen Jahren gewesen war, wie niedergedrückt durch die Tatsache, daß er kaum ein Wort mit jemandem wechselte. Sie zum Nachbarn zu haben, war besser als nichts. In ihrer Gegenwart wurde er jünger und beredt. Er erzählte ihr von seinen drei Ehen, von den Tragödien seiner Kinder. Er erwähnte sogar, daß er nach dem Tode seiner ersten Frau eine Geliebte gehabt hätte. Die Frau sagte : »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ein Mann ist ein Mann.« »Ich bin alt geworden.« »Ein Mann ist nie alt. Ich hatte einen Onkel in Wloclawek, der hat mit achtzig geheiratet, ein Mädchen von zwanzig. Und sie hat ihm drei Kinder geboren.« »Wloclawek ? Das ist nicht weit von Kowal, meiner Heimatstadt.« »Ich weiß. Ich bin in Kowal gewesen. Ich hatte eine Tante dort.« 180
Die Frau sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist ein Uhr. Wohin gehen Sie zum Lunch ?« »Nirgends. Ich frühstücke nur und esse dann am Abend.« »Müssen Sie eine Diät einhalten ?« »Nein, aber in meinem Alter –« »Hören Sie schon auf, von Ihrem Alter zu reden !« schalt ihn die Frau. »Wissen Sie was ? Kommen Sie zu mir, und wir essen zusammen. Ich esse nicht gerne allein. Für mich ist allein essen noch schlimmer als allein schlafen.« »Wirklich, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Womit habe ich das verdient ?« »Schon gut ; reden Sie keinen Unsinn. Wir sind in Amerika, nicht in Polen. Mein Eisschrank ist vollgepackt mit Leckereien. Ich werfe mehr weg, als ich esse, Gott möge es mir verzeihen.« Die Frau benutzte jiddische Ausdrücke, die Harry über sechzig Jahre nicht mehr gehört hatte. Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn zur Tür. Er brauchte nur ein paar Schritte zu gehen. In der Zeit, in der er seine Tür zuschloß, hatte sie die ihre geöffnet. Die Wohnung, die er betrat, war größer als seine und heller. Bilder hingen an den Wänden, verzierte Lampen und Nippsachen standen herum. Das Fenster ging direkt auf das Meer. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Blumen. Die Luft in Harrys Wohnung roch nach Staub, hier war sie frisch. »Sie will irgend etwas ; sie verfolgt einen Zweck«, sagte sich Harry. Er erinnerte sich daran, was er in den 181
Zeitungen über weibliche Betrüger gelesen hatte, die Männer um ihr Vermögen gebracht hatten, und auch Frauen. Die Hauptsache war, nichts zu versprechen, nichts zu unterschreiben, nicht einen einzigen Penny auszuhändigen. Sie setzte ihn an einen Tisch, und aus der Küche kam bald das sprudelnde Geräusch der Kaffeemaschine und der Duft von frischen Brötchen, Obst, Käse und Kaffee. Zum erstenmal seit Jahren verspürte Harry mitten am Tag Appetit. Nach einem Weilchen setzten sich beide zum Lunch hin. Zwischen zwei Bissen zog die Frau an ihrer Zigarette. Sie klagte : »Die Männer laufen mir nach, aber wenn es ernst wird, wollen sie alle nur wissen, wieviel Geld ich habe. Sobald sie anfangen, von Geld zu reden, mache ich Schluß. Ich bin nicht arm ; ich bin sogar – toitoi-toi – wohlhabend. Aber ich will nicht wegen meines Geldes genommen werden.« »Gottlob brauche ich von niemandem Geld«, sagte Harry. »Ich habe genug, selbst wenn ich tausend Jahre werden sollte.« »Das ist gut.« Allmählich fingen sie an, ihre finanziellen Dinge zu besprechen, und die Frau zählte ihre Besitztümer auf. Ihr gehörten Häuser in Brooklyn und auf Staten Island ; sie besaß Aktien und Obligationen. Nach dem zu urteilen, was sie sagte, und den Namen, die sie erwähnte, glaubte Harry, daß sie die Wahrheit sagte. Hier in Miami hatte sie ein Bankkonto und 182
ein Safe in der gleichen Bank wie Harry. Er schätzte, daß sie mindestens eine Million schwer war, vielleicht sogar mehr. Sie bediente ihn mit der Hingabe einer Tochter oder Frau. Sie sprach davon, was er essen sollte und was nicht. Solche Wunder waren in seiner Jugend geschehen. Frauen hatten ihn kennengelernt, waren im Nu innig vertraut geworden, waren bei ihm geblieben, und hatten ihn nie wieder verlassen. Aber daß ihm so etwas in seinem Alter widerfahren sollte, schien wie ein Traum. Er fragte abrupt : »Haben Sie Kinder ?« »Ich habe eine Tochter, Sylvia. Sie lebt ganz allein in einem Zelt in Britisch-Columbien.« »Wieso in einem Zelt ? Meine Tochter hieß auch Sylvia. Sie könnten auch meine Tochter sein«, fügte er hinzu, und wußte nicht, warum er es gesagt hatte. »Unsinn. Was sind schon Jahre ? Mir ist es immer lieber gewesen, wenn ein Mann viel älter war als ich. Mein Mann – er ruhe in Frieden – war zwanzig Jahre älter als ich, und das Leben, das wir zusammen geführt haben, wünsche ich jeder jüdischen Tochter.« »Ich bin sicher vierzig Jahre älter als Sie«, sagte Harry. Die Frau legte ihren Löffel hin. »Für wie alt halten Sie mich ?« »So um fünfundvierzig«, sagte Harry, und wußte, daß sie älter war. »Zählen Sie zwölf Jahre hinzu, dann stimmts.« »Man sieht es Ihnen nicht an.« 183
»Ich habe ein gutes Leben mit meinem Mann gehabt. Ich konnte alles von ihm haben – der Mond, die Sterne, nichts war ihm zu teuer für seine Ethel. Deshalb wurde ich nach seinem Tode melancholisch. Außerdem machte mich meine Tochter ganz krank. Ich habe ein Vermögen für Psychiater ausgegeben, aber sie konnten mir nicht helfen. So wie Sie mich hier sehen, war ich sieben Monate in einer Anstalt, einer Klinik für Nervenkrankheiten. Ich hatte einen völligen Zusammenbruch und wollte nicht mehr leben. Man mußte mich Tag und Nacht bewachen. Er rief nach mir aus dem Grab. Ich möchte Ihnen etwas sagen, aber bitte, mißverstehen Sie mich nicht.« »Was ist es ?« »Sie erinnern mich an meinen Mann. Darum –« »Ich bin zweiundachtzig Jahre«, sagte Harry und bedauerte es sofort. Er hätte ganz leicht fünf Jahre abziehen können. Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu : »Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, würde ich Ihnen einen Antrag machen.« Wiederum bedauerte er seine Worte. Sie waren ihm ohne sein Zutun von den Lippen gekommen. Die Angst, in die Hände einer ›Goldgräberin‹ zu fallen, setzte ihm noch zu. Die Frau sah ihn neugierig an und zog eine Braue hoch : »Da ich mich entschlossen habe zu leben, nehme ich Sie, wie Sie sind.« 184
»Wie ist so etwas möglich ? Wie kann das sein ?« fragte sich Harry wieder und wieder. Sie sprachen davon, daß sie heiraten und die Wand durchbrechen lassen würden, um aus ihren beiden Wohnungen eine zu machen. Sein Schlafzimmer lag neben dem ihren. Sie erklärte ihm alle Einzelheiten ihrer finanzielllen Verhältnisse. Sie besaß etwa anderthalb Millionen. Harry hatte ihr bereits mitgeteilt, wieviel er besaß. Er fragte : »Was sollen wir mit all dem Geld anfangen ?« »Ich wüßte auch nicht, was ich mit Geld tun sollte«, sagte die Frau, »aber gemeinsam könnten wir eine Weltreise machen. Wir werden eine Wohnung in Tel Aviv oder in Tiberias kaufen. Die heißen Quellen dort sind gut gegen Rheumatismus. Wenn ich an Ihrer Seite bin, werden Sie noch lange leben. Ich garantiere Ihnen hundert Jahre, wenn nicht mehr.« »Alles liegt in Gottes Hand«, sagte Harry, und wunderte sich über seine eigenen Worte. Er war nicht religiös. Seine Zweifel an Gott und Seiner Vorsehung hatten sich im Laufe der Jahre verstärkt. Er sagte oft, daß man nach allem, was den Juden in Europa geschehen war, ein Narr sein müsse, an Gott zu glauben. Ethel stand auf, er auch. Sie umarmten und küßten sich. Er drückte sie an sich und spürte, wie ein jugendliches Verlangen ihn durchströmte. Sie sagte : »Warte, bis wir unter dem Hochzeitsbaldachin gestanden sind.« Harry kam zu Bewußtsein, daß er diese Worte schon einmal gehört hatte, im gleichen Tonfall. Aber 185
wann ? Und von wem ? Seine drei Frauen waren alle schon gebürtige Amerikanerinnen gewesen und hätten diesen Ausdruck nicht benutzt. Hatte er es geträumt ? Kann man im Traum die Zukunft vorhersehen ? Er senkte den Kopf und dachte nach. Als er wieder aufblickte, erschrak er. Innerhalb dieser wenigen Sekunden hatte sich das Aussehen der Frau in bestürzender Weise verwandelt. Sie hatte sich etwas von ihm entfernt, und er hatte es nicht bemerkt. Ihr Gesicht war bleich geworden, war geschrumpft und gealtert. Ihr Haar schien ihm plötzlich wirr. Sie sah ihn von der Seite an, mit stumpfem, traurigem, fast strengem Blick. Ob ich sie beleidigt habe ? überlegte er. Er hörte sich fragen : »Stimmt etwas nicht ? Fühlst du dich nicht wohl ?« »Doch, aber geh jetzt lieber in deine Wohnung«, sagte sie mit einer plötzlich hart, fremd und ungeduldig klingenden Stimme. Er hätte sie gern nach dem Grund für diesen unvermittelten Stimmungsumschwung gefragt, aber ein längst vergessener (oder nie vergessener) Stolz meldete sich. Bei Frauen wußte man wirklich nie, woran man war. Trotzdem fragte er : »Wann werden wir uns wiedersehen ?« »Heute nicht mehr. Vielleicht morgen«, sagte sie nach einigem Zögern. »Auf Wiedersehen. Vielen Dank für den Lunch.« Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zur Tür zu begleiten. Als er wieder in seiner Wohnung war, dachte er, nun, sie hat es sich anders überlegt. 186
Ein Gefühl der Scham überwältigte ihn, seinetwegen und auch ihretwegen. Hatte sie nur ein Spiel mit ihm gespielt ? Hatten sich boshafte Nachbarn verschworen, ihn zum Narren zu halten ? Seine Wohnung kam ihm halb leer vor. Ich werde nicht zu Abend essen, beschloß er. Er fühlte einen Druck im Magen. »In meinem Alter sollte man keinen Narren aus sich machen«, murmelte er vor sich hin. Er streckte sich auf dem Sofa aus und schlief ein, und als er wieder aufwachte, war es draußen dunkel. Vielleicht wird sie wieder bei mir läuten. Vielleicht sollte ich sie anrufen ? Sie hatte ihm ihre Nummer gegeben. Zwar hatte er geschlafen, fühlte sich aber jetzt beim Aufwachen erschöpft. Er hätte Briefe beantworten sollen, aber er verschob es auf den nächsten Tag. Er ging auf den Balkon hinaus. Eine Seite seines Balkons war einem Teil des ihren gegenüber. Sie könnten sich hier sehen und auch miteinander sprechen, falls sie noch Interesse an ihm hatte. Die Brandung klatschte und schäumte. In großer Entfernung zog ein Frachter vorbei. Am Himmel donnerte ein Jet. Ein einzelner Stern, den weder Straßenlampen noch Neonlichter verdunkeln konnten, erschien über ihm. Wie gut, daß man wenigstens einen Stern sehen kann ! Sonst würde man vielleicht ganz und gar vergessen, daß es überhaupt einen Himmel gibt. Er saß auf dem Balkon und wartete, ob sie vielleicht käme. Was dachte sie wohl ? Wie hatte ihre Stimmung so plötzlich umschlagen können ? Eben war sie noch 187
zärtlich und gesprächig wie eine verliebte Braut gewesen ; im nächsten Augenblick war sie eine Fremde. Harry schlief wieder ein, und als er erwachte, war es spät am Abend. Er war nicht müde, und wollte eigentlich hinuntergehen und die Abendausgabe der Morgenzeitung mit dem New Yorker Börsenbericht holen ; statt dessen legte er sich auf sein Bett. Er hatte ein Glas Tomatensaft getrunken und eine Tablette genommen. Nur eine dünne Wand trennte ihn von Ethel, aber Wände besaßen eine ganz eigene Kraft. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß manche Menschen lieber in einem Zelt leben, dachte er. Er fürchtete, daß seine Grübeleien ihn vom Schlaf abhalten würden, aber er schlief schnell ein. Er wachte mit einem Druck auf der Brust auf. Wie spät war es ? Das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr zeigte ihm, daß er zweieinviertel Stunden geschlafen hatte. Er hatte geträumt, konnte sich aber nicht erinnern, was er geträumt hatte. Ihm war nur der Eindruck nächtlicher Schrecken geblieben. Er hob seinen Kopf. Schlief sie oder wachte sie ? Er konnte auch nicht das leiseste Geräusch aus ihrer Wohnung hören. Er schlief wieder ein und wachte diesmal vom Lärm vieler Stimmen auf, Türen wurden zugeschlagen, auf dem Korridor war Hin- und Hergelaufe zu hören. Er hatte immer Angst vor Feuer gehabt. Er hatte Zeitungsberichte gelesen über alte Leute, die in Altersheimen, Krankenhäusern und Hotels verbrannt waren. Er stand auf, zog Hausschuhe und Morgenrock 188
an und öffnete die Tür zum Korridor. Dort war niemand. Hatte er sich alles eingebildet ? Er schloß die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Nein, von Feuerwehrleuten keine Spur. Nur einige Leute, die spät nach Hause kamen, oder in Nachtklubs gingen und betrunken lärmten. Manche Wohnungsbesitzer vermieteten während des Sommers an Südamerikaner. Harry ging wieder zu Bett. Ein paar Minuten lang war es still ; dann hörte er wieder Lärm auf dem Korridor und Männer- und Frauenstimmen. Irgend etwas war geschehen, aber was ? Er hatte den Wunsch aufzustehen und nochmals nachzusehen, aber er tat es nicht. Er lag angespannt da. Plötzlich hörte er das Summen des Haustelephons in der Küche. Als er den Hörer abhob, sagte eine Männerstimme : »Falsch verbunden.« Harry hatte das Neonlicht in der Küche angemacht und die Helligkeit störte ihn. Er öffnete den Eisschrank, nahm einen Krug mit gesüßtem Tee heraus und goß sich ein halbes Glas ein, wobei er nicht wußte, ob er es tat, weil er durstig war oder um sich etwas zu beleben. Dann mußte er Wasser lassen und ging ins Bad. In diesem Augenblick läutete es an seiner Tür und das Geräusch unterbrach seinen Drang. Vielleicht war im Hause eingebrochen worden ? Der Nachtportier war ein alter Mann und Eindringlingen kaum gewachsen. Harry konnte sich nicht entschließen, ob er an die Tür gehen sollte oder nicht. Er stand zitternd vor der Toilette. Dies könnten meine letzten Augen189
blicke auf der Welt sein, schoß es ihm durch den Kopf. »Allmächtiger Gott, hab Erbarmen mit mir«, murmelte er. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er ein Guckloch in der Tür hatte, durch das er den Vorraum draußen überblicken konnte. Wie konnte ich das vergessen ? dachte er. Ich muß schon ganz senil sein. Leise ging er zur Tür, hob den Deckel des Gucklochs und schaute hindurch. Er sah eine weißhaarige Frau im Morgenrock. Er erkannte sie ; sie war seine Nachbarin auf der rechten Seite. In einer Sekunde wurde ihm alles klar. Sie hatte einen gelähmten Mann, und ihm war etwas passiert. Er öffnete die Tür. Die alte Frau hielt ihm einen unfrankierten Brief hin. »Entschuldigen Sie, Mr. Bendiner, die Dame von nebenan hat diesen Brief vor Ihrer Tür gelassen. Es steht Ihr Name drauf.« »Welche Dame ?« »Von links. Sie hat Selbstmord begangen.« Harry Bendiners Inneres verkrampfte sich, und innerhalb weniger Sekunden wurde sein Leib gespannt wie eine Trommel. »Die blonde Dame ?« »Ja.« »Was hat sie getan ?« »Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.« Harry streckte die Hand aus. Die alte Frau gab ihm den Brief. »Wo ist sie ?« fragte er. »Man hat sie abgeholt.« 190
»Tot ?« »Ja, sie ist tot.« »Mein Gott !« »Das ist schon der dritte derartige Vorfall hier. In Amerika verlieren die Leute den Verstand.« Harrys Hand zitterte, und der Umschlag flatterte, als hätte ihn ein Windstoß ergriffen. Er dankte der Frau und schloß die Tür. Er ging seine Brille holen, die er auf den Nachttisch gelegt hatte. »Ich darf nicht hinfallen«, ermahnte er sich. »Was mir jetzt noch fehlte, wäre eine gebrochene Hüfte.« Er stolperte zu seinem Bett hinüber und knipste die Nachttischlampe an. Ja die Brille lag, wo er sie hingelegt hatte. Ihm war schwindlig. Die Wände, die Vorhänge, der Toilettentisch, der Umschlag – alles war in zuckender Bewegung, wirbelte wie ein unscharfes Bild im Fernsehen. Werde ich blind oder was ist das ? überlegte er. Er setzte sich und wartete darauf, daß der Schwindel vorüberginge. Er hatte kaum die Kraft, den Brief zu öffnen. Das Blatt war mit Bleistift beschrieben, die Zeilen waren schief, und die jiddischen Worte fehlerhaft. Er las : Lieber Harry, verzeih mir. Ich muß dahin, wo mein Mann ist. Wenn es Dir nicht zu viel Mühe macht, bitte sage Kaddisch für mich. Ich werde dort, wohin ich gehe, Fürsprache für Dich einlegen. Ethel 191
Er legte das Blatt und seine Brille auf den Nachttisch und löschte das Licht. Er lag da, bekam Aufstoßen und Schlucken. Sein Körper zuckte, und die Bettfedern vibrierten. Nun, von jetzt an werde ich auf nichts mehr hoffen, sagte er sich mit der Feierlichkeit eines Mannes, der einen Eid leistet. Ihm war kalt, und er deckte sich mit der Decke zu. Als er aus seiner Benommenheit erwachte, war es zehn Minuten nach acht. Hatte er geträumt ? Nein, der Brief lag auf dem Nachttisch. An diesem Tag ging Harry Bendiner nicht hinunter, um die Post zu holen. Er machte sich kein Frühstück, nahm sich auch nicht die Mühe, zu baden und sich anzuziehen. Er blieb auf dem Plastiksessel auf dem Balkon sitzen und dachte über die andere Sylvia nach – Ethels Tochter – die in einem Zelt in Britisch-Columbien lebte. Warum ist sie so weit fortgelaufen ? fragte er sich. Hatte der Tod ihres Vaters sie zur Verzweiflung getrieben ? Konnte sie ihre Mutter nicht leiden ? Oder hatte sie schon in ihrem jugendlichen Alter die Sinnlosigkeit aller menschlichen Bemühung begriffen und sich entschlossen, ein Einsiedler zu werden ? Ist sie bemüht, sich selbst zu entdecken, oder Gott ? Eine abenteuerliche Idee kam dem alten Mann : sollte er nach Britisch-Columbien fliegen, die junge Frau in der Wildnis suchen, sie trösten, ihr ein Vater sein, und vielleicht mit ihr gemeinsam darüber nachdenken, warum der Mensch geboren wird und warum er sterben muß ?
Zuerst schrieb sie mir einen langen Brief, des Die Verehrerin Lobes voll. Unter anderem sagte sie, daß meine Bücher ihr geholfen hätten, sich selbst zu »finden«. Dann rief sie an, und wir trafen eine Verabredung. Bald danach rief sie wieder an, denn es hatte sich herausgestellt, daß sie an diesem Tag schon etwas vorhatte, und sie schlug ein anderes Datum vor. Zwei Tage später kam ein langes Telegramm. Offenbar mußte sie am Tag des neuen Treffens eine gelähmte Tante besuchen. Ich hatte noch nie ein so langes Telegramm erhalten, mit so vielen hochtrabenden englischen Worten. Wieder folgte ein Anruf, und wir trafen eine neue Verabredung. Während einer früheren Unterhaltung am Telephon hatte ich erwähnt, daß ich Thomas Hardy bewundere. Nach einigen Tagen brachte ein Bote eine Luxusausgabe der Werke von Thomas Hardy. Der Name meiner Verehrerin war Elizabeth Abigail de Sollar – ein bemerkenswerter Name für eine Frau, deren Mutter, wie sie mir erzählt hatte, aus der polnischen Stadt Klendev stammte und die Tochter des dortigen Rabbiners war. Am Tag des angekündigten Besuches machte ich meine Wohnung sauber und legte all meine Manuskripte und unbeantworteten Briefe in den Deckelkorb für Schmutzwäsche. Mein Gast sollte um elf Uhr kommen. Fünfundzwanzig Minuten nach elf läutete das Telephon und Elizabeth Abigail de Sollar 193
schrie : »Sie haben mir eine falsche Adresse gegeben ! Dieses Haus gibt es nicht !« Sie hatte offenbar die East und West Side verwechselt. Ich sagte ihr nochmals genau, wie sie gehen müßte. Wenn sie meine Straße auf der West Side gefunden hätte, sollte sie durch ein Tor gehen, das die Nummer trug, die ich ihr gegeben hatte. Das Tor führe in einen Hof. Dort würde sie einen Eingang mit einer anderen Nummer finden, die ich ihr gab, und ich erklärte ihr, daß ich im elften Stock wohnte. Der Personenlift sei gerade außer Betrieb und sie müsse den Lieferantenaufzug nehmen. Elizabeth Abigail de Sollar wiederholte alle meine Anweisungen und versuchte gerade, in ihrer Handtasche ein Notizbuch und einen Bleistift zu finden, um sie aufzuschreiben, als die Telephonistin eine weitere Münze verlangte. Elizabeth de Sollar hatte keine Münze und stieß atemlos die Nummer der Telephonzelle hervor, von der sie sprach. Ich rief sofort zurück, aber niemand meldete sich. Ich mußte eine falsche Nummer gewählt haben. Ich nahm ein Buch zur Hand und fing dort an zu lesen, wo ich es in der Mitte aufgeschlagen hatte. Da sie ja meine Adresse und Telephonnummer hatte, würde sie früher oder später erscheinen. Ich war noch nicht bis zum Ende des Absatzes gekommen, als das Telephon läutete. Ich nahm den Hörer ab und hörte einen Mann husten, stammeln und sich räuspern. Nach einiger Zeit konnte er endlich sprechen und sagte : »Mein Name 194
ist Oliver Leslie de Sollar. Kann ich mit meiner Frau sprechen ?« »Ihre Frau hat sich geirrt und ist zu einer falschen Adresse gegangen. Sie müßte aber bald hier sein.« »Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber unsere Tochter ist plötzlich erkrankt. Sie fing an heftig zu husten und zu würgen, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie leidet an Asthma. Elizabeth gibt ihr in solchen Fällen Tropfen, aber ich kann sie nicht finden. Ich bin verzweifelt.« »Rufen Sie einen Arzt ! Rufen Sie die Ambulanz !« schrie ich in die Muschel. »Unser Arzt ist nicht in seiner Praxis. Einen Augenblick, entschuldigen Sie mich …« Ich wartete einige Minuten, aber Oliver Leslie de Sollar kam nicht zurück, und ich legte den Höcer auf. »Das kommt davon, wenn man sich mit Leuten einläßt – sofort entstehen Schwierigkeiten«, sagte ich mir. »Das Tun an sich ist eine Sünde«, ich zitierte aus einem heiligen indischen Buch, aber aus welchem ? War es die Bhagavadgita oder die Dhammapada ? Sollte das Kind ersticken, was Gott verhüten möge, so wäre ich indirekt dafür verantwortlich. Meine Türklingel schrillte lange und eindringlich. Ich eilte, die Tür zu öffnen und erblickte eine junge Frau mit blonden Haaren, die ihr bis auf die Schultern fielen, sie trug einen Strohhut mit Blumen und Kirschen, von der Art, wie man sie trug, als ich noch in die Vorschule ging, eine weiße, am Ausschnitt 195
und an den Ärmeln mit Spitzen besetzte Bluse, einen schwarzen bestickten Rock und geknöpfte Schuhe. Obwohl es draußen sonnig war, hielt sie einen Schirm mit Bändern und Schleifen in der Hand – alles in allem, ein Bild aus einem Photoalbum. Noch ehe sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte ich : »Ihr Mann hat gerade angerufen. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber Ihr Kind hat einen Asthmaanfall bekommen, und Ihr Mann kann den Arzt nicht erreichen. Er will wissen, wo die Tropfen sind.« Ich war überzeugt, meine Besucherin würde ans Telephon stürzen, es stand auf einem Tisch in der Diele, statt dessen betrachtete sie mich von Kopf bis Fuß und wieder zurück, während sich ein süßes Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte. »Ja, Sie sind es !« Sie streckte eine Hand in einem weißen Handschuh, der bis zum Ellbogen reichte, aus und überreichte mir ein in glänzendes schwarzes Papier gewickeltes Paket, das mit einem roten Band verschnürt war. »Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte sie. »Das macht er jedesmal, wenn ich irgendwohin gehe. Er kann es nicht ertragen, wenn ich das Haus verlasse. Es ist reine Hysterie.« »Und was ist mit dem Kind ?« »Bibi ist genauso halsstarrig wie ihr Vater. Sie will auch nicht, daß ich fortgehe. Sie ist sein Kind von einer früheren Frau.« »Bitte, kommen Sie doch herein. Vielen Dank für das Geschenk.« 196
»Ach, Sie haben die Leere in meinem Leben ausgefüllt. Ich bin mir selbst immer fremd gewesen. Zufällig entdeckte ich einen Ihrer Romane in einem Buchladen, und seither habe ich alles gelesen, was Sie geschrieben haben. Ich glaube, ich habe Ihnen erzählt, daß ich die Enkelin des Rabbiners von Klendev bin. Von Mutterseite her. Von der Seite meines Vaters her stamme ich von Abenteurern ab.« Sie folgte mir ins Wohnzimmer. Sie war klein und schlank, mit einer so glatten weißen Haut, wie man sie bei Erwachsenen selten findet. Ihre Augen waren blaßblau mit etwas Gelb getönt und leicht schielend. Ihre Nase war schmal und eher lang, ihre Lippen dünn, das Kinn fliehend und spitz. Sie war nicht geschminkt. Im allgemeinen kann ich mir von einem Menschen eine Vorstellung nach seinem Aussehen machen, aber von dieser jungen Frau konnte ich mir kein klares Bild machen. Nicht gesund, dachte ich : empfindsam, aristokratisch. Ihr Englisch schien mir nicht amerikanisch, sondern fremdländisch zu sein. Während ich mit ihr sprach und sie bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, wickelte ich das Paket aus und entnahm ihm ein Ouija-Brett mit einem Schreibgerät, offenbar handgemacht, aus kostbarem Holz und mit Elfenbein eineingefaßt. Sie sagte : »Ich habe aus Ihren Geschichten ersehen, daß Sie sich für das Okkulte interessieren, und ich hoffe, daß dies ein passendes Geschenk ist.« »Oh, Sie überschütten mich mit Geschenken.« 197
»Sie verdienen sie alle.« Ich stellte ihr Fragen, und sie beantwortete sie bereitwillig. Ihr Vater, ein Anwalt, hatte sich zur Ruhe gesetzt. Er hatte sich von Elizabeths Mutter getrennt und lebte mit einer anderen Frau in der Schweiz. Die Mutter litt an Rheumatismus und war nach Arizona gezogen. Sie hatte dort einen Freund, einen alten Mann von achtzig. Elizabeth Abigail hatte ihren Mann im College kennengelernt. Er war ihr Philosophieprofessor gewesen. Außerdem war er ein Amateurastronom, und sie hatte oft die halbe Nacht mit ihm aufgesessen, um im Observatorium die Sterne zu beobachten. Ein Jude ? Nein, Oliver Leslie war Christ, in England geboren, aber von baskischer Abkunft. Nachdem sie zwei Jahre verheiratet gewesen waren, wurde er krank, fiel in eine Dauerdepression, kündigte seinen Job und ließ sich in einem Haus, einige Meilen von Croton-on-Hudson entfernt, nieder. Er hatte sich völlig zurückgezogen. Er war dabei, ein Buch über Astrologie und Numerologie zu schreiben. Elizabeth Abigail lächelte das Lächeln derer, die schon seit langem die Nichtigkeit menschlicher Bemühungen erkannt haben. Zeitweise blickten ihre Augen melancholisch und sogar verängstigt. Ich fragte, was sie in diesem Haus in Croton-onHudson täte, und sie erwiderte : »Ich werde verrückt. Leslie spricht tage- oder wochenlang überhaupt nicht, außer mit Bibi. Er unterrichtet sie – sie geht nicht zur Schule. Wir leben nicht wie Mann und Frau mitein198
ander. Für mich sind Bücher das Wesentlichste meines Daseins geworden. Wenn ich ein Buch finde, das zu mir spricht, so ist das ein großes Ereignis in meinem Leben. Und darum –« »Wer kümmert sich um den Haushalt ?« »Eigentlich niemand. Wir haben einen Nachbarn, einen ehemaligen Bauern, der seine Familie verlassen hat, und er kauft für uns im Supermarkt die Lebensmittel ein. Manchmal kocht er auch für uns. Ein einfacher Mann, aber auf seine Art ein Philosoph. Er fährt auch unseren Wagen, denn Leslie kann ihn nicht mehr fahren. Unser Haus steht auf einem Hügel, der furchtbar schlüpfrig ist, nicht nur im Winter, sondern auch sowie es regnet.« Meine Besucherin wurde schweigsam. Ich war schon daran gewöhnt, daß viele von denen, die mir schrieben oder mich aufsuchten, exzentrisch waren – sonderbare, verlorene Seelen. Zufällig ähnelte Elizabeth Abigail ein wenig meiner Schwester. Da sie aus Klendev stammte und die Enkelin eines Rabbiners war, könnte sie sogar eine Verwandte sein. Klendev ist nicht weit von den Orten, in denen Generationen meiner Vorfahren gelebt hatten. Ich fragte : »Wie kommt es, daß Bibi bei ihrem Vater ist und nicht bei ihrer Mutter ?« Elizabeth antwortete : »Die Mutter hat Selbstmord begangen.« Das Telephon läutete, und ich vernahm das gleiche Stammeln und Räuspern, das ich vorhin schon ge199
hört hatte. Sofort rief ich Elizabeth, die langsam näherkam, zögernd, wie jemand, der weiß, was ihn erwartet. Ich hörte, wie sie ihrem Mann sagte, wo die Tropfen seien, und ihm schneidend verbot, sie nochmals zu stören. Er sprach lange, und sie antwortete mit kurzen gelegentlichen Ausrufen : »Was ? Mein Gott, nein.« Schließlich sagte sie : »Das weiß ich nicht«, in ungeduldigem Ton. Sie kehrte in das Zimmer zurück und setzte sich wieder auf das Sofa. »Sie haben eine Methode daraus gemacht – sobald ich irgendwohin gehe, bekommt Bibi diese Asthmaanfälle, und ihr Vater ruft mich an, um mich zu beunruhigen. Er kann nie die Tropfen finden, die sowieso nichts helfen, denn ihr Asthma wird von ihm mit Absicht herbeigeführt. Dieses Mal habe ich ihm nicht einmal gesagt, wo ich hingehe, aber er lauscht an den Türen. Ich wollte Sie so viel fragen, aber er hat mich jetzt ganz konfus gemacht. Ja, wo in aller Welt liegt dieses Klendev ? Ich konnte es auf keiner Karte finden.« »Es ist ein Dorf in der Gegend von Lublin.« »Sind Sie je dort gewesen ?« »Zufällig ja. Ich war von zu Hause weggegangen und irgend jemand empfahl mich dorthin als Lehrer. Ich habe eine einzige Unterrichtsstunde gegeben, und die Schulbehörden und ich, wir waren uns sofort darüber einig, daß ich kein Lehrer bin. Schon am nächsten Tag verließ ich den Ort wieder.« »Wann war das ?« »In den zwanziger Jahren.« 200
»Oh, damals lebte mein Großvater schon nicht mehr. Er starb 1913.« Obwohl meine Besucherin nichts zu sagen hatte, was von besonderem Interesse war, hörte ich aufmerksam zu. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, daß sie von dem Rabbi von Klendev, seinem Milieu und seinem Leben nur eine Generation entfernt war. Auf geheimnisvolle Weise hatte sich ihr Gesicht dem der Angelsachsen angepaßt, deren Kultur sie in sich aufgenommen hatte. Ich entdeckte Spuren anderer Länder, andeerr Himmelsstriche in ihr. Wäre es möglich, daß Lysenko letzten Endes doch recht hätte ? Die Uhr zeigte halb eins, und ich lud meinen Gast ein, mit mir zum Lunch hinunterzugehen. Sie sagte, daß sie nie Lunch esse. Sie würde höchstens ein Glas Tee trinken, aber wenn ich essen wolle, würde sie mich begleiten. Schließlich gingen wir in die Küche, und ich machte Tee. Ich legte Plätzchen auf einen Teller für sie, und für mich machte ich Brote mit Hüttenkäse. Wir saßen einander an einem Spieltisch gegenüber, wie ein Ehepaar. Eine Schabe kroch über den Tisch, aber weder Elizabeth noch ich machten den Versuch, sie zu stören. Die Schaben in meiner Wohnung wußten offenbar, daß ich Vegetarier bin und keinen Haß auf ihre Spezies empfinde, die Hunderte Millionen Jahre älter ist als die des Menschen und ihn auch überleben wird. Elizabeth trank starken Tee mit Milch, ich trank meinen schwach, mit Zitrone. Beim Trinken hielt ich ein Stück Zucker zwi201
schen den Zähnen, wie es in Bilgoraj und Klendev üblich gewesen war. Sie rührte das Gebäck nicht an, und langsam begann ich, es aufzuesssen. Zwischen uns hatte sich eine Vertrautheit entwickelt, die keiner Präliminarien bedurfte. Ich hörte mich fragen : »Wie lange ist es her, daß Sie nicht mehr mit ihm geschlafen haben ?« Elizabeth errötete langsam, aber als das Blut die Hälfte ihres Gesichtes gerötet hatte, floß es wieder ab. »Ich will Ihnen etwas sagen, wenn Sie es auch nicht glauben werden.« »Ich werde alles glauben, was Sie sagen.« »Ich bin körperlich eine Jungfrau.« Diese Worte stieß sie hervor, und sie schien selbst erstaunt, sie ausgesprochen zu haben. Um ihr zu zeigen, daß sie mich nicht schockiert hatte, sagte ich beiläufig : »Ich dachte, das sei eine ausgestorbene Spezies.« »Es gibt immer einen letzten Mohikaner.« »Haben Sie nie mit einem Arzt über die Situation gesprochen ?« »Nein, nie.« »Und wie wäre es mit einer Analyse ?« »Weder Leslie noch ich glauben daran.« »Brauchen Sie denn keinen Mann ?« fragte ich, von meiner eigenen Kühnheit verwirrt. Sie hob ihr Glas und trank einen Schluck Tee. »Sehr sogar, aber ich bin noch nie einem Mann begegnet, mit dem ich hätte Zusammensein wollen. So war es, ehe ich Leslie traf, und so ist es seither geblie202
ben. Als ich aber Leslie kennenlernte, dachte ich sofort, daß er körperlich der Mann für mich sei, aber er wollte damit warten, bis wir verheiratet wären. Das erschien mir dumm, aber wir warteten. Als wir verheiratet waren, versuchten wir es einigemal, aber vergeblich. Manchmal glaubte ich, daß der Rabbiner von Klendev nicht wollte, daß es dazu käme, weil Leslie doch kein Jude ist. Nach einiger Zeit empfanden wir beide wachsenden Widerwillen gegen all das.« »Sie sind eben beide Asketen«, sagte ich. »Was ? Das glaube ich nicht. In meiner Phantasie schwelge ich in Vorstellungen leidenschaftlicher Liebesabenteuer. Ich habe Freud, Jung und Stekel gelesen, aber ich bin überzeugt davon, daß sie mir nicht helfen können. Ich bin über meine Offenheit Ihnen gegenüber ganz erstaunt. Ich habe nie zuvor einem Schriftsteller geschrieben. Im allgemeinen schreibe ich keine Briefe. Es fällt mir sogar schwer, an meinen Vater zu schreiben. Plötzlich schreibe ich Ihnen und rufe Sie an. Es ist, als ob einer Ihrer Dibbuks in mich gefahren wäre. Da Sie jetzt sozusagen eine versiegelte Quelle in mir geöffnet haben, werde ich Ihnen noch etwas sagen. Seitdem ich angefangen habe, Ihre Bücher zu lesen, sind Sie in meinen Phantasien der Liebhaber geworden. Sie haben alle anderen verjagt.« Elizabeth trank noch einen Schluck Tee. Sie lächelte und fügte hinzu : »Fürchten Sie nichts. Dies ist nicht der Zweck meines Besuches.« Ich fühlte eine Trockenheit in meiner Kehle und 203
hatte Mühe, mit klarer Stimme zu sprechen. »Erzählen Sie mir von Ihren Phantasien.« »Ach, ich verbringe meine Zeit mit Ihnen. Wir gehen zusammen auf Reisen. Sie nehmen mich mit nach Polen und wir besuchen all die Dörfer, die Sie beschrieben haben. Es ist merkwürdig, aber ich habe mir in meinen Phantasien Ihre Stimme so vorgestellt wie sie jetzt ist, und ich kann mir nicht erklären, wie das kommt. Selbst Ihr Akzent ist so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Das ist wirklich etwas Irrationales.« »Jede Liebe ist irrational«, sagte ich, von meiner eigenen Interpretation etwas verwirrt. Elizabeth neigte ihren Kopf und dachte darüber nach. »Manchmal schlafe ich über diesen Phantasien ein, und sie verwandeln sich in Träume. Ich sehe Städte, die voller Bewegung sind. Ich höre Jiddisch sprechen, und obwohl ich die Sprache nicht kann, verstehe ich im Traum alles. Wüßte ich nicht, daß alle diese Orte zerstört worden sind, würde ich dorthinreisen, um zu sehen, ob alles so ist wie in meinen Träumen.« »Nichts ist mehr wie es gewesen ist.« »Meine Mutter hat mir oft von ihrem Vater erzählt, dem Rabbiner. Sie war mit ihrer Mutter – meiner Großmutter – nach Amerika gekommen, als sie acht Jahre alt war. Mein Großvater hatte mit fünfundsiebzig Jahren zum zweitenmal geheiratet, ein achtzehnjähriges Mädchen, und das Ergebnis dieser Ehe war meine Mutter. Sechs Jahre später starb mein 204
Großvater. Er hinterließ viele Auslegungen der Bibeltexte. Die ganze Familie kam unter den Nazis um, und alle seine Manuskripte wurden verbrannt. Meine Großmutter nahm ein kleines hebräisches Buch, das er veröffentlicht hatte, mit, und ich habe es in meiner Handtasche in der Diele. Würden Sie es gern sehen ?« »Sicher.« »Lassen Sie mich abwaschen. Sie bleiben hier. Ich hole Großvaters Buch, und während ich abwasche, können Sie das Buch ansehen.« Ich blieb am Tisch sitzen, und Elizabeth brachte mir ein dünnes Buch, mit dem Titel »Der Aufschrei Mordechais«. Auf der Titelseite hatte der Verfasser seinen Stammbaum angegeben, und als ich mich darein vertiefte, sah ich, daß meine Besucherin und ich wirklich verwandt waren durch eine viele Jahrhunderte zurückliegende Verbindung, Wir stammten beide von Rabbi Moses Isseries ab und ebenso von dem Verfasser des Buches »Der Enthüller des Verborgenen«. Das Buch des Rabbiners von Klendev war eine Streitschrift gegen den Rabbiner von Radzyn, Reb Gerschon Henoch, der glaubte, im Mittelmeer die Stachelschnecke gefunden zu haben, deren Sekret im alten Israel dazu benutzt wurde, die rituellen Schaufäden blau zu färben, obwohl die Tradition besagte, daß die Stachelschnecke nach der Zerstörung des Tempels versteckt worden war, um erst beim Erscheinen des Messias wiedergefunden zu werden. 205
Reb Gerschon Henoch hatte nicht mit dem Proteststurm der anderen Rabbiner gerechnet, und er hielt seine Anhänger dazu an, die blauen Schaufäden zu tragen. Dies erregte große Kontroversen in der rabbinischen Welt. Elizabeths Großvater nannte Reb Gerschon Henoch »Verräter Israels, Abtrünniger, Bote des Teufels, von Lilith, Asmodi und ihren Heerscharen des Bösen«. Er sagte voraus, daß die Sünde des Tragens dieser falschen Schaufäden schwere Bestrafungen von Seiten des Himmels herbeiführen könnte. Die Seiten des Büchleins »Der Aufschrei Mordechais« waren vergilbt und so ausgetrocknet, daß Papierfetzchen von den Rändern abfielen, als ich die Seiten umblätterte. Elizabeth wusch und spülte inzwischen unsere Teller und Gläser. »Was steht da drin ?« fragte sie mich. Es war nicht ganz einfach, Elizabeth de Sollar den Disput zwischen dem Rabbiner von Radzyn und den anderen Rabbinern und Talmudgelehrten seiner Generation zu erklären, aber irgendwie fand ich die richtigen Worte. Ihre Augen glänzten, während sie zuhörte. »Faszinierend !« Das Telephon läutete, und ich verließ Elizabeth und nahm den Hörer ab. Es war wiederum Oliver Leslie de Sollar. Ich sagte ihm, ich würde seine Frau rufen, aber er sagte : »Warten Sie. Kann ich Ihnen etwas sagen ?« »Ja, natürlich.« Oliver Leslie de Sollar begann zu husten und sich 206
zu räuspern. »Meine Tochter Bibi ist bei dem heutigen Anfall fast gestorben. Wir haben sie gerade noch gerettet. Wir haben hier einen Nachbarn, Mr. Porter, der unser Freund ist, und der fand eine Medizin, die ein anderer Arzt einmal verschrieben hatte. Jetzt schläft sie. Ich muß Ihnen sagen, daß meine Frau ein kranker Mensch ist, physisch sowohl wie psychisch. Sie hat schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Beim zweitenmal nahm sie so viele Schlaftabletten, daß sie drei Tage in einer eisernen Lunge gehalten werden mußte. Sie hat eine ungeheuer hohe Meinung von Ihnen und liebt Sie auf ihre Art, aber ich möchte Sie warnen, sie nicht darin zu bestärken. Unsere Ehe ist äußerst unglücklich, aber ich bin wie ein Vater zu ihr, weil ihr eigener Vater sie und ihre Mutter verlassen hat, als Elizabeth noch ein Kind war. Die Gleichgültigkeit ihres Vaters hat bei ihr zu einem Puritanismus geführt, der unser Zusammenleben zu einem Alptraum gemacht hat. Versprechen Sie ihr nichts, denn sie lebt vollkommen in ihrer eingebildeten Welt. Sie müßte psychiatrisch behandelt werden, aber sie lehnt das ab. Ich bin sicher, daß Sie Verständnis haben und wie ein verantwortungsbewußter Mensch handeln werden.« »Sie können sich darauf verlassen.« »Sie lebt nur von Beruhigungsmitteln. Ich war früher Professor der Philosophie, aber nach unserer Heirat konnte ich das Lehramt nicht mehr ausüben. Zum Glück sind meine Eltern wohlhabend und hel207
fen uns. Ich habe durch sie so viel gelitten, daß ich selbst krank geworden bin. Sie gehört zu dem Typ Frauen, die den Mann seiner Potenz berauben. Wenn Sie, was Gott verhüten möge, sich mit ihr einlassen würden, wäre Ihre Begabung das erste Opfer. Hätte sie im sechzehnten Jahrhundert gelebt, hätte man sie bestimmt als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Seit ich sie kenne, glaube ich mehr und mehr an schwarze Magie – als psychologisches Phänomen natürlich.« »Ich habe gehört, daß Sie ein Buch über Astrologie schreiben ?« »Das hat sie Ihnen erzählt ? Unsinn ! Ich arbeite über die letzten dreißig Jahre von Newton und seine religiösen Überzeugungen. Sie wissen sicher, daß Newton die Schwerkraft für eine göttliche Kraft hielt – den reinsten Ausdruck des göttlichen Willens. Der größte Naturwissenschaftler aller Zeiten war auch ein großer Mystiker. Da die Schwerkraft das Universum beherrscht, folgt daraus, daß die himmlischen Körper die organische und geistige Welt auf jede Art und in jeder Form beeinflussen. Das ist Äonen entfernt von der gewöhnlichen Astrologie mit ihren Horoskopen und ähnlichem Kram.« »Soll ich Ihre Frau rufen ?« »Nein. Sagen Sie ihr nicht, daß ich angerufen habe. Sie ist imstande, mir schreckliche Szenen zu machen. Einmal hat sie mich mit einem Messer angegriffen …« Während Oliver Leslie mit mir sprach, ließ Eliza208
beth sich nicht blicken. Ich wunderte mich, wie man so lange brauchen konnte, um zwei Teller und Gläser abzutrocknen, aber ich nahm an, daß sie meine Unterhaltung nicht stören wollte. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, ging ich sofort in die Küche, aber Elizabeth war nicht dort. Ich erriet, was geschehen war. Ein enger Gang führte von der Küche zu meinem Schlafzimmer, wo ein Nebenapparat auf dem Nachttisch stand. Ich öffnete die Tür, die in den Gang führte, und Elizabeth stand auf der Schwelle. Sie sagte : »Ich mußte ins Badezimmer.« An der Art, wie sie es sagte – schnell, schuldbewußt, im Ton der Verteidigung –, erkannte ich, daß sie log. Sie mochte auf dem Weg ins Badezimmer gewesen sein (aber woher konnte sie wissen, daß diese Tür dorthin führte ?) und das Telephon entdeckt haben. Aus ihrem Blick sprach eine Mischung von Ärger und Spott. So eine bist du also, dachte ich. Jede Spur von Zurückhaltung, die ich ihr gegenüber gehabt haben mochte, verschwand. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern. Sie zitterte, und ihr Gesicht nahm den spitzbübischen Ausdruck eines kleinen Mädchens an, das dabei ertappt worden war, wie es etwas stibitzt oder sich die Kleider der Mutter angezogen hatte. »Für eine Jungfrau sind Sie ein ganz gerissenes Luder«, sagte ich. »Ja, ich habe alles gehört und ich werde nie mehr zu ihm zurückgehen«, sagte sie mit einer Stimme, die 209
fester, aber auch jugendlicher geworden war. Es war, als ob sie eine Maske abgeworfen hätte, die sie lange Zeit getragen hatte, und im Bruchteil einer Sekunde eine andere geworden war – jemand junges und lustiges. Sie spitzte die Lippen, als ob sie mich küssen wollte. Verlangen nach ihr überfiel mich, aber ich erinnerte mich an Oliver Leslies Warnung. Ich neigte mich ihr zu, und unsere Augen kamen sich so nah, daß ich nur noch die Bläue sah, die Bläue einer Grotte. Unsere Lippen berührten sich, küßten aber nicht. Meine Knie preßten sich gegen die ihren, und sie begann, zurückzuweichen. Während ich sie leicht und spielerisch zurückschob, mahnte mich eine feierliche Stimme : »Paß auf ! Du gehst in eine Falle !« In diesem Augenblick läutete das Telephon abermals. Ich sprang so heftig vorwärts, daß ich sie fast umstieß. Ein läutendes Telephon erweckt in mir eine Reaktion wilder Erwartung – ich vergleiche mich selbst oft mit den Pawlowschen Hunden. Einen Augenblick lang schwankte ich, ob ich vorwärts in mein Schlafzimmer eilen sollte oder rückwärts in die Diele ; dann lief ich in die Diele, Elizabeth mir auf den Fersen. Ich hob den Hörer ab, und sie versuchte, ihn mir zu entwinden, offenbar war sie überzeugt davon, daß es wiederum ihr Mann sei. Ich glaubte es auch, aber ich hörte die feste Stimme einer Frau mittleren Alters, die fragte : »Ist Elizabeth de Sollar bei Ihnen ? Ich bin ihre Mutter.« Zuerst verstand ich den Sinn der Worte nicht – in meiner Verwirrung hatte ich den 210
Namen meiner Besucherin vergessen. Aber bald erholte ich mich. »Ja, sie ist hier.« »Ich bin Mrs. Harvey Lemkin. Mein Schwiegersohn, Dr. Leslie de Sollar, hat mich gerade angerufen und hat mir erzählt, daß meine Tochter Ihnen einen Besuch macht und daß sie ihre kranke kleine Stieftochter allein gelassen hat und ich weiß nicht was sonst noch alles. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß meine Tochter gemütskrank und unzurechnungsfähig ist. Mein Schwiegersohn, Professor de Sollar, und ich, wir haben schon ein Vermögen ausgegeben, um ihr zu helfen, ohne jeden Erfolg, wie ich leider sagen muß. Mit dreiunddreißig ist sie noch wie ein Kind, obwohl sie hochintelligent ist und Gedichte schreibt, die ich für recht bemerkenswert halte. Sie sind ein Mann, und ich kann mir gut vorstellen, daß Sie es reizvoll linden, wenn ein hübsches und sehr begabtes junges Geschöpf ihre Bewunderung zum Ausdruck bringt, aber lassen Sie sich nicht mit ihr ein. Sie würden in ein Schlamassel geraten, aus dem Sie nie wieder herauskämen. Ihretwegen habe ich New York verlassen, das ich von ganzem Herzen liebe, und habe mich hier draußen in Arizona vergraben. Meine Tochter sprach so viel von Ihnen, lobte Sie so sehr, daß auch ich angefangen habe, alles von Ihnen zu lesen, was es auf englisch und jiddisch gibt. Ich bin die Tochter des Rabbiners von Klendev, und mein Jiddisch ist noch ganz gut. Ich könnte Ihnen viel erzählen, und ich wäre sehr froh, wenn ich Sie 211
in New York treffen könnte – ab und zu komme ich dorthin –, aber ich flehe Sie an bei allem, was mir heilig ist : Lassen Sie meine Tochter in Ruhe !« Während der ganzen Zeit, in der ihre Mutter zu mir sprach, stand Elizabeth etwas abseits und sah mich von der Seite an, fragend, halb erschreckt, halb beschämt. Sie machte eine Bewegung, als ob sie näher kommen wollte, aber ich scheuchte sie mit meiner linken Hand fort. Sie ließ mich an ein Schulmädchen denken, das in Gegenwart seiner Eltern zuhört, wie es von einem Lehrer oder dem Direktor beschuldigt wird, und es nicht lassen kann, die Anklagen zu bestreiten. Die Stimme ihrer Mutter war so laut, daß sie jedes Wort gehört haben mußte. Gerade als ich im Begriff war, etwas zu sagen, sprang Elizabeth vor, riß mir den Hörer aus der Hand und rief mit durchdringender Stimme : »Mutter, das werde ich dir nie verzeihen ! Nie ! Nie ! Du bist nicht mehr meine Mutter, und ich bin nicht mehr dein Kind ! Du hast mich an einen Psychopathen verkauft, einen Kapaun … Ich brauch dein Geld nicht und dich brauche ich auch nicht ! Wann immer ich einen Augenblick des Glücks erwische, verdirbst du mir alles. Du bist mein schlimmster Feind. Ich werde dich umbringen ! Ich mache einen Leichnam aus dir, für das, was du mir antust … Miststück ! Diebin ! Verbrecherin ! Käufliche Hure ! Du schläfst mit einem achtzigjährigen Gangster und läßt dich dafür bezahlen ! Ich spucke dich an ! Ich spucke, spucke, spucke !« 212
Ich stand dabei und sah, wie Schaum aus ihrem Mund quoll. Sie beugte sich vornüber und krümmte sich vor Schmerzen. Sie griff nach der Wand. Ich wollte sie halten, aber in diesem Augenblick fiel sie krachend zu Boden und riß das Telephon mit sich. Sie lag verkrampft da und zitterte, während ihre eine Hand wie rasend auf den Boden schlug, als ob sie dem Mieter unten eine Botschaft zukommen lassen wollte. Ihr Mund verzerrte sich, und ich hörte sie keuchen. Ich wußte, was da vor sich ging – Elizabeth hatte einen epileptischen Anfall erlitten. Ich nahm das Telephon auf und schrie hinein : »Mrs. Lemkin, Ihre Tochter hat einen Anfall !« Aber die Verbindung war unterbrochen. Sollte ich eine Ambulanz rufen ? Wie machte man so etwas ? Offenbar war mein Apparat gestört. Ich wollte das Fenster öffnen und um Hilfe rufen, aber in dem Lärm und Getöse des Broadway würde niemand mich hören, wenn ich vom elften Stock herunterrief. Statt dessen lief ich in die Küche, holte ein Glas Wasser und goß es Elizabeth ins Gesicht ! Das veranlaßte sie, unheimlich aufzuheulen, wobei mir ihr Speichel auf die Stirn spritzte. Ich lief auf den Korridor hinaus und hämmerte an die Tür meines Nachbarn, aber niemand öffnete. Erst jetzt bemerkte ich, daß vor der Tür ein Haufen Zeitschriften und Umschläge lag. Ich wollte in meine Wohnung zurückkehren und sah zu meinem Entsetzen, daß ich die Tür hatte zufallen lassen. Ich hatte keinen Schlüssel bei mir. Ich lehnte mich mit aller Kraft gegen die 213
Tür, aber ich gehöre nicht zu den Kraftmeiern, die eine Tür eindrücken können. In meiner Verzweiflung erinnerte ich mich plötzlich, daß ein zweiter Schlüssel im Büro im Hof hing. Dort konnte ich auch bitten, daß man eine Ambulanz bestellte. Mir war ganz klar, welche Anklagen Elizabeths Mann und Mutter gegen mich erheben könnten, falls sie in meiner Wohnung sterben sollte. Sie könnten mich sogar des Mordes beschuldigen … Ich drückte auf den Knopf des Lieferantenaufzugs, doch der Pfeil zeigte an, daß er im siebzehnten Stock hielt. Ich rannte die Treppen hinunter und im Geiste – vielleicht sogar laut – verfluchte ich den Tag, an dem ich geboren worden war. Während ich lief, hörte ich den Aufzug hinunterfahren. Ich erreichte die Halle, wo zwei Möbelpacker den Ausgang mit einem Sofa verstellt hatten. Jemand im siebzehnten Stock zog aus. Die Halle war vollgepfropft mit Möbeln, mit Glaskrügen voller Blumen, mit Bücherhaufen. Ich bat die Leute, mich hindurchzulassen, aber sie taten, als ob sie mich nicht hörten. Nun, dachte ich, dieser Besuch wird mein Tod sein. Dann fiel mir ein, daß im sechsten Stock ein Setzer wohnte, der für die Zeitung arbeitete, deren Mitarbeiter ich war. Wenn irgend jemand von der Familie zu Hause war, würde man mir helfen, eine Ambulanz zu rufen und nach dem zweiten Schlüssel im Büro zu telephonieren. Ich fing an, die Treppen in den sechsten Stock hinaufzulaufen. Mein Herz hämmerte, und ich brach in Schweiß 214
aus. Ich läutete an der Tür des Setzers, aber niemand öffnete. Ich wollte schon wieder hinunterlaufen, als die Tür sich bei vorgelegter Kette öffnete. Ich sah ein Auge, und eine weibliche Stimme fragte : »Was wünschen Sie ?« Ich fing an, der Frau zu erklären, was geschehen war. Ich sprach in abgerissenen Sätzen und mit der Erregung eines Menschen, der sich in tödlicher Gefahr befindet. Das eine Auge der Frau durchbohrte mich. »Ich bin nicht hier zu Hause. Die Wohnungsinhaber sind im Ausland. Ich bin eine Cousine.« »Ich bitte Sie, mir zu helfen. Glauben Sie mir, ich bin kein Dieb oder Räuber. Ihr Vetter setzt alle meine Manuskripte. Vielleicht haben Sie meinen Namen schon einmal gehört ?« Ich erwähnte den Namen der Zeitung, ich nannte selbst einige Titel meiner Bücher, aber sie hatte nie von mir gehört. Nach einigem Zögern sagte sie : »Ich kann Sie nicht hereinlassen. Sie wissen, wie es heutzutage zugeht. Warten Sie hier, ich werde über das Haustelephon im Büro anrufen. Wiederholen Sie bitte Ihren Namen.« Ich wiederholte ihr meinen Namen, gab ihr auch die Nummer meiner Wohnung, und dankte ihr überschwenglich. Sie schloß die Tür. Ich erwartete, daß sie mir jeden Augenblick mitteilen würde, sie habe das Büro erreicht und Hilfe sei unterwegs, aber sieben Minuten waren bereits vergangen, und die Tür öffnete sich nicht. Da stand ich, angespannt und elend, 215
und bedachte die menschliche Existenz. Der Mensch ist vollkommen abhängig, ein Sklave der Umstände. Das leiseste Mißgeschick – und alles bricht zusammen. Es gibt nur eine Lösung : sich völlig freizumachen von der Illusion, daß das Leben ein Festtag, ein ewiger Sabbat, sei, und zurückzukehren zu der Gleichgültigkeit der Kausalität, zum Tode, der die Substanz des Weltalls ist. Weitere fünf Minuten waren vergangen, und die Tür hatte sich noch immer nicht geöffnet. Ich sprang die Treppen hinunter, während sich in meinem Gehirn Vorstellungen jagten, wie ich dieses herzlose Weib bestrafen würde, wäre mir unbeschränkte Macht gegeben. Ich erreichte die Halle, das Sofa war fort. Ich sah Mr. Brown, den Portier, und sprudelte meine Geschichte hervor. Er sah mich erstaunt an. »Niemand hat angerufen. Kommen Sie, ich gebe Ihnen den Schlüssel.« Der Lieferantenaufzug war frei, und ich fuhr in den elften Stock hinauf, schloß die Tür auf und fand Elizabeth Abigail de Sollar im Wohnzimmer auf dein Sofa liegen, mit feuchtem wirren Haar, blassem Gesicht und ohne Schuhe. Ich erkannte sie kaum wieder. Sie schien mir viel älter, wie eine Frau in mittleren Jahren. Sie hatte ein Handtuch unter ihren Kopf gelegt. Sie sah mich mit dem stillen Vorwurf einer kranken Frau an, deren Mann sie allein gelassen hatte, und zu seinem Vergnügen irgendwohin gegangen war. Ich schrie sie fast an : »Meine liebe Elizabeth, Sie 216
müssen zu Ihrem Mann nach Hause gehen ! Ich bin zu alt für solche Sachen.« Sie dachte über meine Worte nach ; dann sagte sie mit matter Stimme : »Wenn Sie mich wegschicken, werde ich gehen, aber nicht zu ihm zurück. Ich bin fertig mit ihm und mit meiner Mutter auch. Von jetzt an stehe ich allein in der Welt.« »Wohin wollen Sie gehen ?« »In ein Hotel.« »Ohne Gepäck wird man in kein Hotel hineingelassen. Wenn Sie kein Geld haben, könnte ich –« »Ich habe mein Scheckbuch bei mir, aber warum kann ich nicht hier bei Ihnen bleiben ? Ich bin nicht ganz gesund, aber es ist nichts Organisches – nur funktionell. Die haben mich krank gemacht. Ich kann tippen. Ich kann auch etwas Stenographie. Ach, ich habe vergessen, daß Sie ja jiddisch schreiben. Das kann ich nicht, aber ich würde es mit der Zeit lernen. Meine Mutter sprach mit meiner Großmutter jiddisch, wenn sie nicht wollten, daß ich sie verstehe, dabei habe ich eine ganze Menge Worte aufgelesen. Ich habe einmal ein vegetarisches Kochbuch gekauft, und ich würde vegetarische Mahlzeiten für Sie kochen.« Ich sah sie schweigend an. Ja, sie war verwandt mit mir – die Gene unserer Vorfahren führten in gerader Linie bis zu uns beiden. Der Gedanke, daß es Blutschande sein könnte, wenn wir zusammen wären, schoß mir durch den Kopf – eine dieser unwillkom217
menen Ideen, die von Gott weiß woher auftauchen und durch ihre lächerliche Belanglosigkeit schockieren. »Das hört sich an wie das Paradies, aber leider kann es nicht sein«, sagte ich. »Warum nicht ? Wahrscheinlich haben Sie jemand anderen. Ja, ich verstehe. Aber gibt es irgendeinen Grund, warum Sie nicht ein Mädchen haben sollten ? Ich will alles für Sie sein – Mädchen und auch Köchin. Ihre Wohnung sieht vernachlässigt aus. Wahrscheinlich essen Sie in einer Cafeteria. In meinem eigenen Haus tue ich nichts, weil ich mich nicht dafür interessiere, aber meine Mutter ließ mich einen Haushaltungskurs mitmachen. Ich würde für Sie arbeiten, und Sie brauchen mir nichts dafür zu bezahlen. Meine beiden Eltern sind stinkreich, und ich bin ihre einzige Tochter. Ich bin an Ihrem Geld nicht interessiert …« Ehe ich noch antworten konnte, hörte ich ein schrilles Läuten der Türklingel. Gleichzeitig läutete das Telephon. Ich griff schnell nach dem Hörer, sagte dem Anrufer, wer immer er sein mochte, daß jemand an der Tür sei, und lief, die Tür zu öffnen. Ich sah einen Mann, der kein anderer als Oliver Leslie de Sollar sein konnte – groß, mager, mit langem Gesicht und Hals, eine Krause verblichenen blonden Haares um einen kahlen Schädel –, der einen karierten Anzug trug, einen steifen Kragen und eine schmale Krawatte mit einem noch schmaleren Knoten, der mich an die Warschauer Stutzer erinnerte. Ich nickte und 218
kehrte ans Telephon zurück. Ich war sicher, daß es Elizabeths Mutter sein würde, aber eine rauhe Männerstimme nannte meinen Namen und verlangte die Bestätigung, daß ich der Betreffende sei. Dann sagte der Anrufer langsam und im Ton einer Amtsperson : »Ich bin Howard William Moonlight und ich vertrete Mrs. Harvey Lemkin, die Mutter von Mrs. Elizabeth de Sollar. Ich bin sicher, Sie wissen, wer …« Ich unterbrach ihn und rief : »Mr. de Sollar ist hier ! Er wird mit Ihnen sprechen !« Ich stürzte zur Tür, wo mein Besucher noch immer, aufrecht und höflich, stand und darauf wartete, hereingebeten zu werden. Ich rief : »Mr. de Sollar, es sind kaum zwei Stunden vergangen, seit Ihre Frau zu mir kam, und schon ist die Hölle los ! Ich habe bereits Drohanrufe von Ihnen, von Ihrer Schwiegermutter und jetzt von einem Anwalt erhalten. Ihrer Frau ist es gelungen, einen epileptischen Anfall zu bekommen und Gott weiß was sonst noch. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Ihre Frau geht mich überhaupt nichts an, ebensowenig wie Ihre Schwiegermutter, deren Anwalt oder die ganze verrückte Geschichte. Tun Sie mir den Gefallen und bringen Sie sie nach Hause. Wenn nicht, werde ich …« Die Worte verließen mich für einen Augenblick. Ich wollte gerade sagen, daß ich die Polizei rufen würde, aber die Worte kamen nicht. Ich blickte zum Telephon hinüber und sah zu meinem Erstaunen, daß Elizabeth in den Hörer murmelte, während ihre Au219
gen auf mich und meinen Besucher gerichtet waren. Dieser sagte mit dünner Stimme, die nicht zu seiner Erscheinung paßte : »Ich glaube, es handelt sich um ein Mißverständnis. Ich bin nicht derjenige, der Sie angerufen hat. Ich bin Dr. Jeffrey Lifschitz, ich bin Professor der Literatur an der Universität von Kalifornien und ein großer Bewunderer Ihrer Bücher. Ein Freund von mir wohnt in diesem Haus, und er ist auch einer Ihrer dankbaren Leser, und als ich ihn heute besuchte, kamen wir auf Sie zu sprechen, und er erzählte mir, daß Sie sein Nachbar sind. Ich wollte Sie anrufen, konnte Ihren Namen aber nicht im Telephonbuch finden, und so dachte ich, ich würde einmal bei Ihnen läuten. Verzeihen Sie bitte die Störung.« »Es war keine Störung. Ich freue mich sehr, daß Sie mein Leser sind, aber in meiner Wohnung hat es einige Unruhe gegeben. Bleiben Sie längere Zeit hier ?« »Ich werde die ganze Woche hier sein.« »Würde es Ihnen passen, mich morgen zu besuchen ?« »Ja, gern.« »Sagen wir morgen vormittag um elf ?« »Es wird mir ein Vergnügen und eine Ehre sein. Nochmals, verzeihen Sie, daß ich Sie so überfallen habe …« Ich versicherte Professor Lifschitz, daß es mich sehr freuen würde, ihn zu sehen, und er ging. Elizabeth hatte den Hörer aufgelegt. Sie blieb bei 220
dem Apparat stehen, als wartete sie, daß ich zu ihr käme. Ich blieb ein paar Schritte entfernt stehen und sagte : »Es tut mir leid. Sie sind eine großartige Frau, ich verstehe Ihre Lage, aber ich kann mich nicht in Kämpfe mit Ihrem Mann, Ihrer Mutter und nun auch noch mit einem Anwalt einlassen. Was wollte er ? Warum hat er angerufen ?« »Ach, die sind alle verrückt. Aber ich habe gehört, was Sie dem Besucher, den Sie für meinen Mann hielten, erzählt haben, und ich schwöre Ihnen, ich werde Sie nicht mehr belästigen. Was heute geschehen ist, hat mir bewiesen, daß es nur einen Weg gibt, mich selbst zu befreien. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß Ihre Diagnose falsch war. Ich bin keine Epileptikerin.« »Was ist es dann ?« »Die Ärzte wissen es auch nicht. Eine Art Überempfindlichkeit, die ich von Gott weiß woher geerbt habe, vielleicht von unserem gemeinsamen Vorfahren. Wie hieß sein Buch ?« »Der Enthüller des Verborgenen.« »Was hat er denn an Verborgenem enthüllt ?« »Daß keine Form der Liebe verlorengeht«, sagte ich, obwohl ich niemals auch nur ein Wort von diesem Vorfahren gelesen hatte. »Sagt er, wo alle Liebe, alle Träume, alle Wünsche enden ?« »Sie sind irgendwo.« »Wo ? Im Verborgenen ?« 221
»In einem himmlischen Archiv.« »Selbst der Himmel wäre nicht groß genug für ein solches Archiv. Ich muß gehen. Ach, es läutet schon wieder. Bitte, nehmen Sie nicht ab ! Bitte nicht !« Ich nahm den Hörer ab, aber es meldete sich niemand. Ich legte auf, und Elizabeth sagte : »Das war Leslie ! Das ist einer seiner Tricks. Was hat denn der Enthüller des Verborgenen über den Wahnsinn gesagt ? Ich muß gehen ! Wenn ich nicht den Verstand verliere, werden Sie von mir hören. Vielleicht heute, vom Hotel aus.« Elizabeth de Sollar hat mich nie wieder besucht, mir nie wieder geschrieben. Sie ließ ihren verzierten Schirm zurück, den sie nie abholte, und auch das Buch ihres Großvaters, »Der Aufschrei Mordechais«, das angeblich das einzige Exemplar und ihr so kostbar war. Es ist mir ein Geheimnis geblieben. Aber ein anderes, mit ihrem Besuch verknüpftes Geheimnis wurde bald gelüftet. Ich traf meinen Hausgenossen, den Setzer, und erzählte ihm von seiner Cousine, die mir versprochen hatte, im Büro anzurufen, und die sich nie wieder gezeigt hatte. Er lächelte, schüttelte den Kopf und sagte : »Sie haben an der falschen Tür geklopft. Ich wohne im fünften, nicht im sechsten Stock.«
»In einer Kultur des reinen Egotismus, wie Die Hexe kann man da jemanden einen Egotisten nennen ?« halb dachte das Mark Meitels, halb murmelte er es vor sich hin. Aber in der Tat, Lenas Eigenliebe verwirrte einen. Selbst ihre Mutter sprach davon. Alle Freunde von Mark behaupteten, daß Lena nur fähig sei, sich selbst zu lieben. Ein Arzt hatte sie einmal als narzißtischen Typ bezeichnet. Ja, er, Mark Meitels, hatte einen verhängnisvollen Irrtum begangen. Aber er mußte wenigstens nicht fürchten, daß Lena sich in jemand anderen verlieben würde. Jetzt hatte Lena gerade ihr Frühstück beendet. Das Mädchen, Stasia, hatte das Schlafzimmer aufgeräumt, und Lena hatte sich auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt. Sie war eine zierliche Frau mit schwarzem Haar, das sie hoch frisiert trug, mit schwarzen Augen und hohen Backenknochen. Mit siebenunddreißig sah sie noch immer wie ein Mädchen aus, genauso, wie er sie kennengelernt hatte. Lena weigerte sich, Kinder zu bekommen. Sie hatte Mark bei vielen Gelegenheiten gesagt, daß sie nicht die leiseste Neigung habe, schwanger zu werden und eine Geburt durchzumachen, nur damit noch ein Gör in der Welt herumliefe. Es war ihr nie eingefallen, eine Stellung anzunehmen, um Mark zu helfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Im Bett er223
mahnte sie ihn, ihre Frisur nicht durcheinander zu bringen und ihr seidenes Nachthemd nicht zu zerdrücken oder zu zerreißen. Er küßte ihren winzigen Mund, aber sie erwiderte den Kuß nur selten. In ihrem geblümten Kimono und den Hausschuhen mit Pompons sah sie ganz japanisch aus. Alles an ihr war zierlich geblieben, glatt und zart. Sie erinnerte Mark an die Porzellanpuppen, die man manchmal in den Fenstern von Antiquitätengeschäften sieht. »Lena, ich muß gehen.« »Was ? Ja, geh.« Er beugte sich zu ihr hinunter, um ihre Stirn zu küssen. Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte sie ihre Lippen schon stark geschminkt. Ihre Fingernägel waren lang, spitz und frisch manikürt. Ihr Frühstück hatte sie genau nach der Vorschrift des Arztes eingenommen – ein Ei, eine einzige Scheibe Brot, und eine Tasse schwarzen Kaffee. Lena ging mehrmals am Tag auf die Waage, und wenn sie auch nur ein Viertelpfund zugenommen hatte, so bemühte sie sich sofort, es wieder loszuwerden. Sie verbrachte den Tag damit, Modezeitschriften zu lesen, zu Schneiderinnen und Putzmacherinnen und zu dem Friseur Stanislaw zu gehen. Manchmal bummelte sie die Marszalkowska Straße entlang, um die Schaufenster anzusehen. Sie war immer darauf aus, billig einzukaufen, und war ganz versessen auf allerlei Krimskrams und Schmuck – Mark verstand nie warum –, auf eine mit Elfenbein eingelegte Spieluhr, die ›Guten Morgen‹ spielte, auf 224
zahllose unechte Perlenschnüre in allen Farben und Schattierungen, auf exotische Ohrringe, Armbänder und Halsketten, die man höchstens zu einem Maskenball tragen konnte. Mark Meitels war schon lange zu der Einsicht gekommen, daß Lena noch immer ein Kind war, aber ohne jede kindliche Freude – ein verwöhntes, ungezogenes kleines Mädchen, immer bereit zu schmollen, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. »Ein Irrtum, ein verhängnisvoller Irrtum«, stöhnte Mark Meitels zum hundertstenmal. Aber sich von so einem Geschöpf scheiden zu lassen, wäre unmöglich. Sie würde krank werden, und ihre Mutter würde einen Skandal machen. Irgendwie hatte er sich an ihre Launenhaftigkeit gewöhnt. Die Wohnung war immer tadellos in Ordnung. Stasia fürchtete sich vor Lena und tat ihr alles zu Willen. Der Fußboden glänzte immer, und jedes Möbelstück wurde täglich abgestaubt und poliert. Ohne selbst auch nur einen Finger zu rühren, führte Lena einen gepflegten Haushalt. Glücklicherweise war Stasia ein kräftiges Mädchen und außerdem noch gutmütig. Sie arbeitete von halb sieben Uhr morgens bis spät in die Nacht und nahm nur jeden zweiten Sonntag einige Stunden frei, um in die Kirche zu gehen oder vielleicht einen Freund zu treffen. Mark Meitels war ein hochgewachsener Mann von Anfang vierzig, der an einem privaten Mädchengymnasium Mathematik und Physik unterrichtete. Er hätte davon nicht existieren können, wenn er nicht 225
noch eine andere Beschäftigung gehabt hätte – Lehrbücher für polnische Schulen zu schreiben, die lobende Besprechungen in pädagogischen Zeitschriften erhielten. Mark Meitels war Offizier in der Pilsudski Legion gewesen und hatte während des polnischbolschewistischen Krieges von 1920 eine Tapferkeitsmedaille erhalten. Er gehörte zu jenen seltenen Menschen, die sich in allem, was sie tun, auszeichnen. Er sprach mehrere Sprachen, spielte Klavier, ritt, und hatte den Ruf, einer der besten Lehrer in ganz Warschau zu sein. Seine Schülerinnen waren in ihn verliebt, aber er vermied jede Unbesonnenheit. In seiner aufrechten Haltung und in seinem ganzen Benehmen hatte er noch etwas Militärisches an sich. Er sprach wenig und nur zur Sache. Er war höflich gegenüber den Schulbehörden und den Schülerinnen. Sein Hauptverdienst lag in der Tatsache, daß er Mädchen, die nicht die leiseste mathematische Begabung hatten, eine algebraische Formel oder einen geometrischen Lehrsatz erklären konnte. Er hatte viele Angebote von Direktoren anderer Gymnasien erhalten, aber er blieb an der Schule, an der er seine Laufbahn als Lehrer begonnen hatte. Jetzt, ehe er das Haus verließ, prüfte sich Mark Meitels noch einmal im Spiegel in der Diele. Der Mantel hing glatt an seiner aufrechten Gestalt, die Krawatte saß gerade, der Hut paßte genau. Mark Meitels hatte ein langes Gesicht und eine lange Nase, volle Lippen, ein schmales Kinn, und große, schwarze Augen 226
unter dunklen Brauen. Sein Blick drückte Sinn für Disziplin aus und die Gemessenheit eines Menschen, der genau weiß, wie er sich zu benehmen hat, und der genügend innere Kraft hat, beständig zu sein. Seine Freunde, männliche wie weibliche, die alle Lehrer waren, sprachen mit Bewunderung von ihm. Mark Meitels lebte nach den Grundsätzen, die er verkündete, verlor nie seinen Gleichmut, und mied alle Intrigen und üble Nachrede. Hatte er auf einer Gesellschaft ein Gläschen getrunken, konnte er wohl etwas ironisch werden, aber selbst dann benahm er sich mit Würde. Doch daß seine Heirat ein Fehlschlag war, das war unbestreitbar. Allerdings, seine Schwiegermutter war reich, und im gegebenen Moment würde er ihr Vermögen erben, vorläufig jedoch war sie bei bester Gesundheit und knauserig dazu. Anfang der dreißiger Jahre war die Situation in Polen nicht so, daß man weit vorausplanen konnte. Mark Meitels hätte leicht nebenbei Liebschaften haben können, aber soweit man wußte, blieb er seiner Frau treu. Dabei war es für jedermann ganz offensichtlich, daß Lena ihm weder geistige noch körperliche Befriedigung bieten konnte. In einem schwachen Augenblick hatte er dies sogar einem Vertrauten gestanden, und das ›Geheimnis‹ wurde bald allgemein bekannt. Um seine Kräfte auszuleben, machte Mark Meitels lange Wanderungen. Im Sommer schwamm er in der Weichsel, und ehe er schlafen ging, übte 227
er sich im Gewichtheben und rieb sich kalt ab. Das führte zu Streit mit Lena, die sich darüber beschwerte, daß er den Fußboden im Badezimmer naß machte und das Arbeitszimmer in Unordnung brachte. In Wirklichkeit war Lena nicht nur sein absolutes Gegenteil, sondern ein bitterer Feind. Wenn er ein Buch lobte, hatte sie etwas daran auszusetzen. Gefiel ihm ein Stück, so zwang sie ihn, das Theater vor dem zweiten Akt zu verlassen. Lena haßte Mathematik, Physik und alles, was mit den Naturwissenschaften zusammenhing. Sie las die gängigen Romane von Dekobra und Margueritte. Sie bevorzugte sentimentale Dramen und Tragödien. Mit ihrer dünnen kleinen Stimme sang sie die Schlager aus der Operette ›Qui pro Quo‹ und anderen Revuen. Sie ließ Stasia oft Gerichte kochen, die Mark nicht ausstehen konnte – Fleischbrühe, die in winzigen Tassen serviert wurde, Kuchen, die von Creme aufgeweicht waren, und viel zu süßen Kakao. Mark war nach dem Essen immer hungrig. Auf seinen langen Abendspaziergängen über die Praga Brücke hinüber bis Pelcowizna oder an Mokatów vorbei nach Wilanów, kaufte er sich oft ein Pumpernickelbrot oder eine Tüte Äpfel. Lenas Selbstliebe wurde besonders spürbar im Schlafzimmer. Tage vor und nach ihrer Periode untersagte sie ihm, ihr nahe zu kommen. Sie mochte sich auch nicht im Bett mit ihm unterhalten, und legte ihm die Hand auf den Mund, wenn er etwas sagte, was sie für unästhetisch hielt. Ehe sie schlafen 228
ging, verbrachte sie eine Stunde vor dem Spiegel, probierte verschiedene Frisuren aus, schmierte sich ein, salbte und parfümierte sich. Sie sagte oft, daß sie den Geschlechtsverkehr schmutzig und brutal finde. Sie trieb ihn an, sich zu beeilen und beklagte sich, daß er ihr wehtue. Wenn es wirklich wahr ist, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, dachte Mark oft, dann hatte sich entweder jemand schwer geirrt oder sich einen üblen Spaß erlaubt.
2 Es gelang Mark Meitels immer, pünktlich das Haus zu verlassen, so daß er zu Fuß zum Gymnasium gehen konnte. Er mochte die überfüllten Straßenbahnen nicht und vertrat sich gerne die Beine, ehe er mit dem Unterricht anfing. Es war merkwürdig : er war in Warschau geboren und aufgewachsen, aber die Stadt erschien ihm oft fremd. Er hatte wenig Beziehungen zu den Polen. Obwohl seit achthundert Jahren Juden in Polen ansässig waren, klaffte zwischen den beiden Völkern ein Abgrund, den die Zeit nicht hatte überbrükken können. Wie auch immer, die Juden waren Mark ebenso fremd wie die Polen -– nicht nur die Orthodoxen mit ihren langen Kaftanen und ihren Kappen, sondern auch die Modernen. Mark Meitels Vater, der ein assimilierter Jude gewesen war, ein Architekt, ein 229
Liberaler und ein Atheist, hatte seinem einzigen Sohn keinerlei religiöse Erziehung gegeben. Von Kindheit an hatte Mark allerlei spöttische Bemerkungen über die Chassidim und ihre Rabbiner gehört, über ihren Schmutz und ihren Fanatismus, aber er hatte eigentlich nie herausgefunden, wofür sie eintraten. Nach dem Ersten Weltkrieg war der jüdische Nationalismus aufgeblüht. Die Balfour-Deklaration war herausgekommen, und viele junge Juden gingen als zionistische Pioniere nach Palästina. An dem Gymnasium, an dem er unterrichtete, war der Lehrplan um einige Stunden Hebräisch erweitert worden, aber ihn hatte weder die Religion noch Palästina angezogen, dieses halbe Wüstenland in Kleinasien. Eine noch größere Abneigung empfand er gegen die jüdischen Kommunisten und ihre Demonstrationen. Sein Vater hätte nichts dagegen gehabt, wenn Mark zum Christentum übergetreten wäre, aber Mark hatte kein Interesse an Jesus. Die assimilierten Juden in Warschau nannten sich Polen mosaischen Glaubens, aber Mark hatte keinen anderen Glauben als den an wissenschaftlich belegte Fakten. Viele seiner früheren Kameraden aus der Legion waren mit hohen militärischen Rängen entlassen worden und nach dem Pilsudskiaufstand von 1926 in wichtige Positionen im Ministerium aufgestiegen. Mark Meitels hatte sich ihnen entfremdet und nahm an ihren Zusammenkünften nicht teil. Dort wurden zu viele Schwerter geschwungen, und viele der ehemaligen Legionäre wa230
ren Antisemiten geworden. Die Zeitungen, selbst die halboffizielle Gazeta Polska, stichelten gegen die jüdische Minderheit. In Deutschland gewann die Nazipartei immer mehr Anhänger. In Sowjetrußland verhaftete man die Trotzkisten und schickte Millionen von Bauern, die sogenannten Kulaken, nach Sibirien. Als Mark Meitels so die Marszalkowska Straße entlangging, fühlte er sich wie ein Fremder, Aber wo könnte er sich schon zuhause fühlen ? Der Gryzbow Platz bot jeden Tag einen neuen Grund zum Mißbehagen. In der Mitte einer europäischen Hauptstadt hatten die Juden ein Getto geschaffen. Frauen mit ›Scheitel‹ und Haube verkauften faulendes Obst, Kichererbsen und Bohnen, Kartoffelpuffer, die mit Lumpen zugedeckt waren. Sie riefen ihre Ware in einem Kauderwelsch mit weinerlichem Singsang aus. Männer mit schwarzen oder roten Bärten, hängenden Schultern und schweren Stiefeln machten dunkle Geschäfte miteinander. Manchmal kam ein Trauerzug vorbei – ein schwarzer, glänzender Leichenwagen, ein Pferd, das mit einem schwarzen Tuch mit Sehschlitzen verhüllt war, und Trauernde, die mit schrillen Stimmen wehklagten. Nicht einmal in Bagdad bekam man so etwas noch zu sehen, dachte Mark Meitels. Inmitten dieses ganzen Durcheinanders gab es plötzlich ein Laufen und Jagen. Zerlumpte Jugendliche mit Mützen, die sie bis über die Augen gezogen hatten, hatten irgendwo eine rote Fahne aufgetrie231
ben und schrien : »Lang lebe die Sowjetunion ! Nieder mit dem Faschismus ! Alle Macht den Arbeitern und Bauern !« Sie wurden von Polizisten verfolgt, die Revolver und Gummiknüppel schwangen. Selbst im Gymnasium war es nicht mehr wie früher, Die alten Lehrer waren pensioniert oder entlassen worden. Andere waren gestorben. Die neuen Lehrer waren meist jüdische Nationalisten. Bei vielen der Schülerinnen war es sinnlos, ihnen Logarithmen oder Trigonometrie beibringen zu wollen : ihre Gedanken beschäftigten sich nicht mit Mathematik, auch würden sie später kaum Verwendung dafür haben. Sie alle wollten nur eins – das Diplom bekommen, so daß sie gut heiraten und Kinder haben könnten. Die meisten von ihnen waren vollentwickelte Geschöpfe, deren Körper den unverhohlenen Drang zeigten, sich zu paaren und zu vermehren. Ein Mädchen im besonderen brachte Mark Meitels zum Bewußtsein, daß all seine Mühe vergeblich war. Sie nannte sich Bella, aber ihr Geburtsschein trug den Namen Beile Zippa Silberstein. Mark gab von der fünften Klasse ab Unterricht und hatte so Gelegenheit, seine Schülerinnen wirklich kennenzulernen. Bella kam aus einer armen Familie. Ihr Vater war in einem Laden in der Gnojna Straße angestellt, wo man Öl und Schmierseife verkaufte. Er hatte noch ein halbes Dutzend anderer Kinder zu Hause. Das Gymnasium hatte das Schulgeld schon bis auf ein Minimum ermäßigt, aber ihr Vater konnte nicht einmal 232
diese wenigen Zloty aufbringen. Wenn sie wenigstens noch begabt gewesen wäre ! Aber Bella erhielt die schlechtesten Noten. Sie war schon in der achten Klasse, aber Mark Meitels wußte, daß sie noch immer nicht die einfachsten Regeln der Arithmetik erfaßt hatte. Eigentlich schaffte sie es in keinem Fach. Sie war je zwei Jahre in der sechsten und in der siebenten Klasse gewesen, und es war allen klar, daß sie das Abschlußzeugnis nie bekommen würde. Der Schuldirektor hatte Bellas Eltern zu sich gebeten und ihnen nahegelegt, sie in eine Berufsschule zu schicken, aber es war ihr Entschluß, daß ihre älteste Tochter das Diplom machen, auf die Universität gehen und Ärztin, oder zumindest Zahnärztin, werden müsse. Zu allem war Bella auch noch häßlich – das unansehnlichste Mädchen in der ganzen Schule. Ihr Kopf war zu groß für den Körper, ihre niedrige Stirn schien eingesunken, ihre Augen waren schwarz und hervorstehend – Kalbsaugen –, ihre Nase war gebogen ; ihr Busen war üppig, ihre Hüften breit und ihre Beine krumm. Die Mutter gab sich Mühe, das Mädchen anständig anzuziehen, aber was immer Bella trug, sah lächerlich aus. Die anderen Mädchen nannten sie das »Monstrum«. Mark Meitels war sich klar darüber, daß es seine Pflicht war, Bella die Grundsätze der Mathematik wieder und wieder zu erklären. Er begann mit den Axiomen : Zehn Groschen zu zehn Groschen addiert, 233
ergibt zwanzig Groschen. Wird jeder Einheit von zehn Groschen eine gleiche Zahl hinzugefügt, sind die Ergebnisse die gleichen. Wird eine gleiche Zahl abgezogen, so sind die Ergebnisse immer noch gleich … Aber obgleich definitionsgemäß Axiome selbstverständliche Wahrheiten sind, konnte Bella sie doch nicht verstehen. Sie öffnete ihre dicken Lippen, ließ zwei Reihen unregelmäßiger Zähne sehen, und lächelte in schuldbewußter Angst, mit der Unterwürfigkeit eines Tieres, das versucht, menschliche Begriffe zu verstehen. Aber auf einem Gebiet zumindest war Bella überbegabt – auf dem der Gefühle. Sie saß auf ihrer Bank und ließ den Blick ihrer großen schwarzen Augen nicht von Mark. Sie drückten Liebe und Verehrung aus, wie man es manchmal in Hundeaugen sieht. Sie folgte Meitels mit ihrem Blick, und ihre Lippen wiederholten jedes seiner Worte. Wenn Mark sie aufrief, wurde sie blaß und begann zu zittern. In den seltenen Fällen, in denen er sie an die Tafel rief, kam sie mit schwankenden Schritten näher, und Mark befürchtete, daß sie ohnmächtig werden könnte. Das Stück Kreide entfiel ihrer Hand, und die Klasse machte sich über sie lustig. Einmal bat Mark Meitels sie, zu bleiben, nachdem die anderen gegangen waren. Er versuchte, ihr Nachhilfeunterricht zu geben. Er ließ sie sich auf die Bank setzen und fing von Anfang an. Wie hatte der primitive Mensch die Zahlen entdeckt Indem er die Finger 234
seiner Hände abzählte … Mark nahm Bellas Handgelenk. Ihre Hand war feucht und zitterte. Ihr Busen hob und senkte sich. Sie sah ihn voller Furcht und mit einer Verzückung an, die ihn erstaunte. Was mag sie in mir sehen ?, fragte er sich. Mit der Spitze seines Zeigefingers fühlte er ihren Puls. Er ging so schnell und stark wie bei hohem Fieber. Mark fragte : »Was ist los, Bella, sind Sie krank ?« Sie riß ihre Hand aus seiner und brach in kindliches Weinen aus. Ihr Gesicht verzerrte sich und war tränenüberströmt wie das eines kleinen Mädchens, das gerade einen unerträglichen Schlag erlitten hat.
3 Lena war oft ihr eigener Arzt. Sie nahm unentwegt Medikamente. Wenn sie sagte, daß sie sich nicht so gut fühle, hatte Mark das nicht zu ernst genommen, aber jetzt bemerkte er, daß ihr Gesicht eine leicht gelbliche Tönung bekam. Es stellte sich bald heraus, daß sie an einer schweren Krankheit litt, an Krebs der Milz. Die Ärzte sagten es Lena nicht, aber sie schien zu merken, daß sie nur eine geringe Chance hatte. Eine Gruppe von Ärzten, die man konsultiert hatte, beschloß ihre Überführung in ein Krankenhaus – zu Hause konnte sie nicht die nötige Pflege haben –, aber Lena weigerte sich, auch nur in eine Privatklinik zu gehen. Ihre Mutter kam und versuchte sie zu überre235
den, dem Rat der Ärzte zu folgen, aber Lena blieb bei ihrer Entscheidung, und die Mutter nahm eine Privatschwester, die sie zu Hause pflegen sollte. Drei Frauen – ihre Mutter, Stasia und die Krankenschwester – pflegten Lena. Jeden Tag kam ein Arzt, aber es gab keine Besserung. Der Arzt sagte Mark die Wahrheit – der Krebs hatte sich bereits in anderen Organen ausgebreitet, und es gab keine Rettung mehr. Mark nahm mit Erstaunen wahr, wie die einst so verwöhnte Lena ihr Schicksal mit Ruhe und Ergebenheit auf sich nahm, sie, die sich angestellt hatte, wenn ihr ein Fingernagel abgebrochen oder eine Füllung aus einem Zahn gefallen war. Sie lag im Bett in einem seidenen Nachthemd, gepudert, geschminkt, parfümiert, frisiert und manikürt, und las die gleichen Modezeitschriften wie vorher. Ihre Mutter brachte ihr die neuesten polnischen und französischen Romane und polnische und ausländische Illustrierte. Lena hatte wenig Freundinnen, zwei oder drei frühere Klassenkameradinnen aus dem Gymnasium, eine davon war eine Kusine, und sie machte ein Testament, in dem sie bestimmte, wer was nach ihrem Tod bekommen sollte – den Pelzmantel, die Kleider, den Schmuck und den Rest ihrer Nippsachen. Erst jetzt wurde Mark Meitels bewußt, daß Lenas Egotismus in Wirklichkeit auf dem Instinkt eines Menschen mit nicht ausreichenden Kräften beruhte, der diese Kräfte nicht allzu bald verausgaben wollte. 236
Eines Abends, als sie allein waren, kniete er an ihrem Bett nieder und bat sie für seine harten Worte und Vorwürfe um Verzeihung, für all die Mißverständnisse, die sich in ihrer Beziehung entwickelt hatten. Lena strich über sein Haar (das in der Mitte schon dünn wurde, der Anfang einer kahlen Stelle) und sagte : »Du warst gut zu mir. Es ist nicht dein Fehler. Nächstesmal suche dir jemand gesünderen.« »Nein, Lena, ich will keine andere.« »Warum nicht ? Du wolltest immer ein Kind haben, ich wollte keine Waisen zurücklassen.« »Sollte das heißen, daß sie wußte, sie würde nicht lange leben ?«, fragte sich Mark später. »Hat sie mit dem Bewußtsein gelebt, früh sterben zu müssen ?« Aber wie war das möglich ? Hatten die Ärzte es ihr gesagt ? Gab es etwas in einem Menschen, das die Zukunft voraussehen konnte ? Es war alles ein Rätsel – daß er sich in Lena verliebt hatte, die Entfremdung, die sich später zwischen ihnen entwickelt hatte, die Jahre, die ohne wirkliche Nähe vergangen waren, und das jetzige Finale. Er hätte sich von neuem in Lena verlieben können, aber sie war offenbar für Gefühle nicht mehr empfänglich. Sie wurde härter, schweigsamer, ging völlig in sich auf. Sie verlangte, daß er im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafe. Sie beschäftigte sich nur noch mit den Illustrierten, den oberflächlichen Geschichten über die Königshöfe, über amerikanische Millionäre und Hollywood-Filmgrößen. Interessierte sie das 237
wirklich oder wollte sie nur vergessen ? Mark Meitels wurde klar, daß die Entfremdung zwischen ihm und Lena sich nicht mehr vermindern würde. Es wurde immer offensichtlicher, daß sie ihn mied. Sie sprach ihn nie zuerst an, und wenn er mit ihr sprach, antwortete sie kurz und auf eine Art, die nichts mehr zu sagen erlaubte. Sie blickte nicht einmal aus ihrer Zeitschrift auf. Wahrscheinlich hegte sie irgendeinen Groll gegen ihn, war aber entschlossen, diesen mit ins Grab zu nehmen. Der Arzt sagte Mark ganz offen, daß er nichts anderes für sie tun könne, als ihre Schmerzen mit starken Mitteln zu betäuben. Nach einiger Zeit gab Lena das Lesen fast vollständig auf. Wenn Mark die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, fand er sie oft schlafend. Zu anderen Zeiten lag sie mit offenen Augen, tief in Gedanken, zu denen ein gesunder Mensch keinen Zugang hatte. Allmählich wurde sie ihrem Aussehen gegenüber gleichgültig, benutzte keine Kosmetika mehr und telephonierte auch nicht mehr mit ihrer Mutter. Lena schien jetzt nur noch einen Wunsch zu haben – allein gelassen zu werden. Aber die Besucher kamen immer noch. Die Freundinnen, die sie in ihrem Testament bedacht hatte, brachten Blumen, alle möglichen Delikatessen, die Lena nicht anrührte, und Illustrierte, die sie nicht mehr interessierten. Der Arzt äußerte immer die gleichen Banalitäten, die den Patienten ermutigen sollten : »Sie hat die Suppe getrunken ? Gut, 238
ausgezeichnet. Und sie hat die Tablette genommen ? Wunderbar !« Er ließ die Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen. Als die Krankenschwester verkündete, sie habe die Patientin mit Eau de Cologne abgerieben, rief er aus : »Vorzüglich !« Wenn Mark Meitels während eines Arztbesuches zu Hause war, riet der Arzt ihm immer : »Vernachlässigen Sie Ihre eigene Gesundheit nicht. Sie sehen auch nicht sehr wohl aus.« Er empfahl Mark, Vitamine zu nehmen, die damals in Polen noch eine Neuheit waren. Während der ganzen Krisenzeit mußte Mark weiterhin am Gymnasium unterrichten und ein Lehrbuch der Geometrie fertigstellen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in Druck gehen sollte. Der Winter war vorüber gegangen, und der Frühling war gekommen. Die Schülerinnen der achten Klasse benahmen sich jetzt so, als ob die Schule eine Art Scherz sei. Sie hörten auf, Mark als Lehrer zu behandeln, standen nicht mehr auf, wenn er die Klasse betrat, und sprachen mit provozierendem Lächeln und ironisch mit ihm. Sie kleideten sich in aufreizender Weise, was den Schülerinnen verboten war. Obwohl sie sich auf das Schlußexamen vorbereiteten und nächtelang über ihren Büchern saßen, betrachteten sie die Schulfächer nur als Hülsen, die zu öffnen und fortzuwerfen waren. Der Kern von allem, die Hauptsache war, den richtigen Mann zu finden, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ihre Mütter warteten ungeduldig auf die Befriedigung, die die Enkelkinder 239
bringen würden. Die Väter sehnten sich danach, von der Bürde, die die Erziehung der Töchter bedeutete, befreit zu werden. Mark schien es, als hätte er diese Mädchen die ganze Zeit getäuscht und daß sie endlich seine Täuschung bemerkt hatten – gut geformte Beine und eine schöne Nase waren wichtiger als alle euklidischen Lehrsätze. Der einzige Wert des Abschlußzeugnisses lag darin, daß es für eine bessere Partie von Vorteil war. Die Mädchen betrachteten Bella, wie Lenas Freundinnen Lena betrachteten – als hoffnungslosen Fall. Bella hatte nicht die leiseste Chance, ihr Diplom zu erhalten. Es galt sogar als schlechte Note für das Gymnasium, daß man sie bis zur achten Klasse hatte gehen lassen. Der Direktor war entschlossen, sie von den Schlußprüfungen fernzuhalten. Es gab noch ein paar Schülerinnen, die schlechte Noten bekommen hatten, aber sie kamen aus wohlhabenden Familien und waren außerdem noch hübsch. Eine war sogar schon verlobt, und ihr Bräutigam wartete jeden Nachmittag vor der Schule auf sie. Mark Meitels vermied es, Bella anzusehen. Es gab keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Sie saß auf ihrer Bank und starrte ihn an, halb lachend, halb beschwörend, Verehrung im Blick. Offenbar hatte sie sich eingeredet, daß er die Dinge für sie zum Guten wenden könnte. Aber sie war im Irrtum. Wenn die Prüfungszeit gekommen war, würde er nichts anderes tun können, als gegen sie zu stimmen. 240
4 Lenas letzte Wochen waren ein fortgesetzter, langsamer Verfall. Die Ärzte hielten sie unter schmerzstillenden Mitteln, aber die Schmerzen blieben. Ihr Gesicht hatte sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es wurde bräunlichgelb, erstarrte, ähnlich den Gesichtern, die man in Wachskabinetten zu sehen bekommt. Man bereitete Hühnchen für sie zu, aber sie rührte sie nicht an. Die Medizin, die man ihr gab, rann wieder aus ihrem Mund. Und selbst wenn sie etwas sagte, war ihre Stimme zu schwach, als daß man sie hätte verstehen können. Lena wartete auf den Tod, aber der Tod hatte es nicht eilig, sie zu holen. Ihr Herz schlug noch, wenn auch schwach und zögernd. Irgendwie arbeiteten auch die anderen Organe noch. Lenas Mutter hatte nie eine gute Beziehung zu Mark gehabt. Sie glaubte, daß ihre Tochter jemand Besseren als einen Lehrer hätte heiraten können. Seit dem Beginn von Lenas Krankheit hatte die Mutter überhaupt nicht mehr mit ihm gesprochen. Sie blickte ihn durchdringend an und ließ ihn spüren, daß er am Tod ihrer Tochter schuld sei. Er hatte nicht einmal genügend Geld, um die Ärzte, die Medikamente und die Schwestern zu bezahlen, und sie mußte all diese Ausgaben übernehmen. Kurz vor den Schlußprüfungen starb Lena. Sie hatte die Schwester gebeten, sie nach der Wand zu dre241
hen. Die Schwester war in die Küche gegangen, um Wasser zu kochen, und als sie zurückkam, war Lena tot. Mark nahm an den Prüfungen in der Schule nicht teil. Nach der Beerdigung berichtete ihm jemand aus dem Gymnasium, daß Bella nicht zu den Prüfungen zugelassen worden war, und von denen, die teilgenommen hatten, waren zwei durchgefallen. Die Schwiegermutter schlug Mark vor, die siebentägige Trauerzeit in ihrem Haus zu verbringen, aber er sagte ihr, daß er von solchen Ritualen nichts halte. Er weigerte sich sogar, an Lenas Grab das Kaddischgebet zu sprechen. Warum sollte er Riten befolgen, an die er nicht glaubte ? Welchen Sinn hatte es, zu einem ewig schweigenden Gott zu beten, dessen Ziele nicht zu erkennen waren, ebensowenig wie seine Existenz ? Selbst wenn Mark je geglaubt hätte, daß der Mensch eine Seele habe, so hatte ihn Lenas Tod davon überzeugt, daß dies absurd war. Lenas Körper zerfiel, zusammen mit ihrer sogenannten Seele. Während ihrer ganzen Krankheit hatte sie nicht ein Wort geäußert, aus dem zu erkennen gewesen wäre, daß sie bald einer anderen Sphäre angehören würde. Also gut, und was würde Lenas Seele tun, selbst wenn sie überlebte ? Wieder Modezeitschriften lesen ? Die Marszalkowska Straße herunterbummeln und Schaufenster anschauen ? Andererseits, würde sich Lenas Seele verändert haben und nicht mehr die sein, die sie auf Erden gewesen war, dann wäre es eben nicht mehr Lenas Seele ! Mark Meitels hatte viel von dem polnischen Medi242
um Kluski gehört, bei dessen spiritistischen Sitzungen die Toten angeblich die Abdrücke ihrer Hände in einer Schüssel mit Paraffin hinterließen. Er hatte die Aufsätze des polnischen Okkultisten Professor Ochorowicz gelesen, wie auch die von Conan Doyle, Barrett, Sir Oliver Lodge und Flammarion. Es hatte Augenblicke gegeben, wo er gedacht hatte : Vielleicht, warum nicht ? Schließlich und endlich, was wissen wir von der Natur und ihren Geheimnissen ? Aber Lenas Krankheit hatte all seine Illusionen fortgewischt. Nach ihrem Tode blieb nichts als eine große Leere und das Gefühl völliger Nichtigkeit. Es gab keinen, noch konnte es einen grundlegenden Unterschied zwischen Lena und den Hühnchen geben, die man für sie zubereitet, und die man am nächsten Tag in den Abfall geworfen hatte. Mark Meitels hatte eine Reihe von Kondolenzbriefen und Telegrammen erhalten und sogar ein paar Blumensträuße, aber es kam fast niemand, einen Kondolenzbesuch zu machen. Die Lehrer waren alle in die Sommerferien gefahren, und Stasia, das Mädchen, war in ihr Dorf zu den Eltern zurückgekehrt. Er hatte keinen nahen Freund in Warschau. Aus schierer Gewohnheit machte er während des Tages lange Spaziergänge und verbrachte die Abende allein zu Hause. Er hatte es nicht eilig, Licht zu machen, und saß im Dunkeln. In seiner Kindheit hatte er sich vor den Toten gefürchtet. Eine Beerdigung hatte ihn in eine düstere Stimmung versetzt. Aber was hatte er jetzt von 243
Lena zu fürchten ? Im Geiste rief er sie : »Lena, wenn es dich gibt, laß mir ein Zeichen zukommen …« Gleichzeitig wußte er, daß ihn kein Zeichen erreichen würde. Es war seltsam, aber trotz all seiner Trauer um Lenas sinnloses Leben und vorzeitigen Tod, kehrten Marks Gedanken immer wieder zu Bella zurück. Das verwirrte ihn. Warum sollte er an ein unansehnliches Mädchen denken, das dazu noch ein Blödian war? Aber sobald er aufhörte, Lena und ihr Schicksal zu beklagen, kehrten seine Gedanken unweigerlich zu Bella zurück. Was mochte sie tun? Wie war sie mit ihrem Versagen fertig geworden? Ob sie wohl wußte, daß er seine Frau verloren hatte? Die anderen Schülerinnen – die hübschen, begabten und beliebten – hatte er fast vergessen, aber Bellas Gesicht schwebte ihm vor Augen. Im Dunkeln sah er sie, als ob sie wirklich da wäre – die niedrige Stirn, die gebogene Nase, die dikken Lippen, die großen vorstehenden Augen. In seiner Phantasie zog er sie nackt aus. Wie abscheulich sie aussehen mußte mit ihren riesigen Brüsten, den ausladenden Hüften und den O-Beinen! Dieses Mädchen hatte einen Anflug von Besessenheit. In diesem Wesen lachten und weinten Generationen von primitiven Frauen, die in Höhlen gelebt und sich gegen wilde Tiere zur Wehr gesetzt hatten, gegen Läuse und Hunger und Männer – Affen ähnlicher denn Menschen. All seinen Sorgen zum Trotz mußte Mark lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er versucht hatte, ihr 244
Mathematik beizubringen. Verstandesmäßig war sie tausende von Jahren hinter Euklid zurück, aber ihre Eltern wollten, daß sie studieren sollte, nichts weniger als das. Wie mochten die Eltern eines solchen Mädchens aussehen ? Sie trug doch irgend jemandes Gene in sich. Mark Meitels befiel der seltsame Impuls, Bella zu suchen. Er kannte ihre Adresse nicht, und so arme Leute hatten sicher kein Telephon. Sicher hatte man ihre Adresse im Gymnasium, aber während der Ferien war es geschlossen. Es war Mark ganz klar, daß all dies sinnlos war. Ein Trauernder ging nicht zu anderen, um sie zu trösten. Und was könnte er ihr schon sagen ? Diese Art Menschen sollte man besser sich selbst überlassen. Die Natur, die sich um alles kümmert, von der Bakterie und der Wanze bis zum Walfisch, würde schon irgendwie für Bella sorgen, oder ihren Untergang herbeiführen, was, von einer höheren Warte aus gesehen, vielleicht auch eine Art Vorsorge war. Mark redete sich selbst zu, solchen unnützen Gedanken nicht nachzuhängen. Gewöhnlich konnte er seinen Verstand im Zaum halten, aber Bellas Bild ließ sich nicht wegschieben. Werde ich verrückt, fragte sich Mark, oder was ist das ? Eines Abends erinnerte er sich plötzlich, daß ihr Vater in einem Öl- und Seifenladen in der Gnojna Straße arbeitete. Die Gnojna war eine kurze Straße. Wie viele solcher Geschäfte konnte es dort geben ? Jetzt war es jedoch zu spät – alle Geschäfte würden geschlossen sein. Morgen … 245
Mark begann in solcher Unruhe durch die dunklen Zimmer auf und abzugehen, daß es ihn verwunderte. Neugier auf dieses abstoßende Mädchen verzehrte ihn, zugleich fühlte er etwas, das der Leidenschaft verwandt war. »Ist das möglich ? Habe ich mich in sie verliebt ? Es muß so sein, ich habe den Verstand verloren …« Mit Erstaunen lauschte er dem Chaos in seinem eigenen Gehirn. Aus Gründen, die jeder Erklärung unzugänglich waren, wurde er mehr und mehr von dieser Bella besessen. Er litt unter dem, was man eine fixe Idee nennen konnte. Zuweilen hatte er das seltsame Gefühl, daß Bella nach ihm rief, seinen Namen laut schrie. Er sah sie mit außerordentlicher Deutlichkeit vor sich, alle Wölbungen ihres Gesichtes, die ganze Unförmigkeit ihres Körpers. Der Drang, sie zu finden und mit ihr zu sprechen, wurde von Minute zu Minute stärker … »Ich werde in die Gnojna Straße hinübergehen«, beschloß er. »Manchmal sind die Läden dort länger offen … Vielleicht kann mir jemand Auskunft geben.« Mark beeilte sich fortzukommen. Er hatte das Gefühl, daß, wenn er schnell ginge, er noch dort sein könnte, ehe es zu spät war. Gleichzeitig fragte sein nüchterner Verstand : »Was ist los mit dir ? Wohin rennst du ? Auf welchen Wahnsinn steuerst du zu ?« Er schlug die Wohnungstür zu, war schon dabei, die Treppen hinunterzuspringen, als er das schrille beharrliche Läuten des Telephons in der Wohnung hör246
te. »Das ist sie ! Ich habe sie mit meinen Gedanken herbeigerufen !« rief er aus. Er griff nach dem Schlüssel, um die Wohnungstür wieder aufzuschließen, und fummelte einen Augenblick an dem Schlüsselloch herum. In der Diele stieß er gegen einen Stuhl und verletzte sein Knie. Während der ganzen Zeit hörte das Telephon nicht auf zu läuten. Als er endlich beim Apparat angelangt war, wurde es still. Mark ergriff den Hörer und rief : »Hallo ? Wer ist da ? Antworten Sie !« Er fühlte eine heiße Welle in sich aufsteigen, und in einem Augenblick war sein Körper schweißbedeckt. Er warf den Hörer mit Wucht auf die Gabel und sagte laut : »Das war sie, das Biest ! …« Wut erfüllte ihn und Scham. Er war nicht mehr Mark Meitels, sondern ein abergläubischer Dummkopf, von einem Zwang getrieben, oder, wie man es im Jiddischen nennen würde, von einem Dibbuk besessen.
5 Mark machte sich wiederum bereit, auszugehen, diesmal aber nicht mehr in der Absicht, nach der Gnojna Straße zu gehen, sondern zum Essen in ein Restaurant. Zwar hatte er keinen Appetit mehr, aber es hatte auch keinen Zweck, sich völlig zu vernachlässigen. »Gleich morgen früh fahre ich irgendwohin«, beschloß er. »Nach Zakopane oder vielleicht an die 247
See …« Er war schon fast an der Tür, als das Telephon wieder läutete. Im Dunkeln lief er an den Apparat und rief mit halberstickter Stimme : »Hallo ?« Am anderen Ende stammelte jemand. Ja, es war Bella. Er vernahm einzelne Worte, die keinen Zusammenhang hatten. Sie versuchte, an ihren Worten nicht zu ersticken. Mark hörte verblüfft zu. Würde irgend jemand dies glauben ?, überlegte er. Es gibt so etwas wie Telepathie. Laut fragte er : »Ist das Bella ?« »Der Herr Lehrer erkennt meine Stimme ?« »Ja, Bella, ich erkenne Ihre Stimme.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich rufe an, weil ich von Ihrer Tragödie gehört habe«, fuhr sie stockend fort. »Es tut mir schrecklich leid … Die ganze Klasse fühlte mit Ihnen … Ich selbst habe ein Mißgeschick erlitten, aber verglichen mit Ihnen …« Sie schwieg. Mark fragte : »Wo sind Sie ?« »Wie ? In der Prosta Straße … wo wir wohnen.« »Haben Sie Telephon zu Hause ?« »Nein, ich spreche von einem Geschäft nebenan.« »Vielleicht möchten Sie zu mir herüberkommen ?« Ein bedrückendes Schweigen folgte ; dann sagte sie mit bebender Stimme : »Wenn der Herr Lehrer es wünscht … Es wäre eine große Ehre für mich … Der Herr Lehrer kann nicht wissen, wie sehr –« Und sie beendete den Satz nicht. »Kommen Sie herüber und nennen Sie mich nicht mehr ›Herr Lehrer‹.« 248
»Wie soll ich Sie denn nennen ?« »Wie immer Sie wollen. Einfach Mark zum Beispiel.« »Oh, der Herr Lehrer scherzt. Es tut mir so leid … Ich habe sehr mit Ihnen gelitten … Die Vorstellung, daß –« Mark gab ihr genaue Anweisung, wie sie zu ihm zu gehen hatte. Sie dankte ihm wieder und wieder. Sie wiederholte immerfort, wie sehr sie seinetwegen gelitten hatte. »Schrecklich, schrecklich. Einfach Tag und Nacht …« Nach einiger Zeit legte Mark den Hörer auf. »Was ist das doch für ein Irrsinn ?« fragte er sich. »Ist es Telepathie, Hypnose ? Bestimmt war das kein Zufall. Ich muß vorsichtig sein bei diesem Mädchen«, warnte er sich. »Diese Sorte verliert sofort den Kopf.« Er schaltete das Licht ein. »Sie wird wahrscheinlich hungrig sein, und ich muß ihr etwas vorsetzen.« Er ging in die Küche und fing an, in der Speisekammer zu suchen. Seit Lenas Tod aß er selten zu Hause, und alles, was er finden konnte, war ein Stück altes Brot und ein paar Büchsen Sardinen. »Ich werde irgendwo mit ihr hingehen«, beschloß er. Aber wohin ? Sicher würde einer seiner Bekannten dort auftauchen und ihn sehen. Er würde sich schämen, so bald nach Lenas Tod mit einem Mädchen gesehen zu werden – noch dazu mit einem so häßlichen. Am Gymnasium war es ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, daß Lehrer sich niemals mit Schülerinnen einlassen durf249
ten. »Ich werde ein paar Brötchen und Wurst holen«, entschied er. Er ging hinunter, kaufte Wurst, Brötchen und Obst. Er beeilte sich, damit Bella, falls sie ein Taxi genommen hatte, nicht vor ihm da sein und ihn nicht antreffen würde. Ihm fiel ein, was wohl Lenas Seele, falls es sie gab, zu seinem Benehmen sagen würde. Wenn es so etwas wie Telepathie gibt, wieso können dann Seelen nach dem Tode nicht vorhanden sein ? … Nein, über all meinen Sorgen habe ich wahrscheinlich den Verstand verloren. Er wartete lange, aber niemand kam. Erst hatte er alle Lampen im Wohnzimmer angemacht, jetzt machte er sie wieder aus, mit Ausnahme einer kleinen. Er setzte sich auf das Sofa und horchte auf irgendein Geräusch an der Tür. Vielleicht hatte sie sich verlaufen. Sie war hoffnungslos untüchtig in jeder Hinsicht … Die Klingel ertönte mit langem, durchdringendem Läuten. Mark lief an die Tür, um zu öffnen, und erblickte Bella in einem schwarzen Kleid und einem Strohhut. Sie trug einen Blumenstrauß in der Hand. Sie erschien ihm älter. Sie schwitzte und war atemlos. Er sagte : »Oh, Blumen ! Für mich ?« »Ja, für Sie … Mögen Euch Kummer und Leid in Zukunft erspart bleiben«, sagte sie, indem sie diesen Ausdruck vom Jiddischen ins Polnische übersetzte. Mark nahm sie beim Handgelenk und führte sie 250
ins Wohnzimmer. Er stellte die Blumen in eine Vase und füllte sie mit Wasser. Woher hatte sie Geld für Blumen ?, überlegte er. Wahrscheinlich hatte sie ihren letzten Groschen ausgegeben … Ich werde nett zu ihr sein, aber ich werde ihr nicht die leiseste Hoffnung machen, ermahnte er sich selbst. Bella nahm ihren Hut ab, und Mark fiel zum erstenmal auf, daß sie schönes Haar hatte. Es war kastanienbraun, voll, und strahlte natürlichen Glanz aus. Sie saß auf einem Stuhl und blickte auf ihre Füße in schwarzen Schuhen und Strümpfen. Sie schien sich ihrer plumpen Erscheinung bewußt zu sein – des zu schweren Busens, der breiten Hüften, der Adlernase und der vorstehenden Augen. Nein, das sind keine Kalbsaugen, entschied Mark. Sie drücken Furcht aus und eine Liebe, die so alt ist wie die weibliche Spezies. Sie hielt beide Hände auf ihrer Tasche, Hände, die für ein Schulmädchen viel zu groß waren. Mark bemerkte, daß sie mit Tintenflecken bedeckt waren, als ob sie gerade aus der Schule gekommen wäre. Sie sagte : »Wir haben gehört, was geschehen war, und die ganze Klasse war außer sich … Die anderen konnten nicht zur Beerdigung gehen, weil es gerade während der Prüfungszeit war, aber ich durfte ja nicht zur Prüfung … Aber sicher hat der Herr Lehrer mich nicht bemerkt.« »Was ? Nein, leider nicht.« »Ja, ich war da.« 251
»Was tun Sie jetzt ?« »Ach, was kann ich denn tun ? Alle zu Hause sind von mir enttäuscht. Bitter enttäuscht. Das ganze Geld umsonst für mich ausgegeben, und was sonst noch alles. Aber schließlich gibt es.doch noch etwas anderes als das Diplom. Ich habe doch etwas gelernt – Literatur, Geschichte, ein wenig Zeichnen. Mathematik werde ich nie verstehen. Das ist ein hoffnungsloser Fall.« »Man kann auch ohne Mathematik ein guter Mensch sein.« »Vielleicht. Ich suche jetzt irgendeine Arbeit, aber zu Hause sagen alle, ohne Diplom bekommt man keine Stellung. Ich habe eine Anzeige gesehen, es wurde ein Mädchen für ein Schokoladengeschäft gesucht. Ich bin hingegangen. Sie sagten, der Posten sei schon besetzt. Nach einem Diplom haben sie nicht gefragt.« »Unsere Großmütter hatten auch keine Diplome, aber sie waren sehr ordentliche Frauen.« »Natürlich. Meine Mutter kann nicht einmal die jiddische Zeitung lesen, und doch wollten sie aus mir eine Ärztin machen. Ich habe einfach nicht das Zeug dazu.« »Was würden Sie denn gern machen – heiraten und Kinder bekommen ?« In Bellas Augen erschien ein flüchtiges Lächeln. »Ja, das würde ich schon gern tun, aber wer wird mich wollen ? Ich liebe Kinder. Ich liebe sie ganz wahn252
sinnig. Es müßten nicht einmal meine eigenen sein. Ich würde einen Witwer mit Kindern nehmen und sie aufziehen wie meine eigenen. Vielleicht noch besser –« »Aber warum wollen Sie keine eigenen Kinder ?« »Ach, das habe ich nur so gesagt. Natürlich wäre es besser, aber –« Es wurde still. Im Nebenzimmer schlug eine Uhr. »Vielleicht könnte ich etwas für den Herrn Lehrer tun ?« fragte Bella. »Ich kann fegen, staubwischen, waschen, – alles. Aber nicht für Geld, Gott behüte !« »Warum sollten Sie für mich ohne Bezahlung arbeiten ?« fragte Mark. Bella dachte einen Augenblick nach, und auf ihren Lippen erschien ein Lächeln. Ihre Augen blickten ihn an – schwarz und brennend. »Ach, ich würde alles für den Herrn Lehrer tun. Wie es im Jiddischen heißt : ›Die Füße waschen und das Wasser trinken‹.«
6 Mark ging zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern. Seine Knie drückten gegen ihre. Er fragte : »Ist das, was Sie eben gesagt haben, wahr ?« »Ja, es ist die Wahrheit.« »Liebst du mich so sehr ?« »Mehr als alles auf der Welt.« »Mehr als die Eltern ?« 253
»Viel mehr.« »Warum ?« »Ach, das weiß ich nicht. Weil der Herr Lehrer klug ist, und ich eine dumme Kuh bin. Wenn der Herr Lehrer lächelt, ist es anziehend, und wenn er streng ist, so zieht er die Brauen hoch, und alles wird so –« Sie beendete den Satz nicht. Hitze strahlte von ihr aus, die Wärme, die man manchmal fühlt, wenn man neben einem Pferd steht. Mark fragte : »Kann ich mit dir machen, was ich will ?« »Alles.« »Dir die Kehle aufschlitzen ?« fragte er, überrascht von seinen eigenen Worten. Bella zitterte. »Ja. Das Blut würde herausschießen, und ich würde die Klinge küssen …« Er wurde von einer Begierde überwältigt, wie er sie seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte, vielleicht noch nie. »Mach keine Dummheiten«, warnte ihn eine innere Stimme. »Schick sie sofort nachhause !« Laut sagte er : »Gut. Ich hole das Messer.« »Ja.« Er ging in die Küche, öffnete im Dunkeln eine Schublade und nahm unter den Küchengeräten ein Messer heraus. Es war ihm ganz klar, daß es sich nur um ein Spiel handelte, trotzdem überkam ihn ein Gefühl großen Ernstes. Er kam mit dem Messer zurück. Bella saß auf dem Stuhl, mit blassem Gesicht, die Augen voller Erwartung. Eine heidnische Ver254
zückung strahlte von ihr aus, eine Begierde, die ihn beängstigte. Er sagte : »Bella, bald wirst du tot sein. Sag, was du zu sagen hast.« »Ich liebe dich.« »Bist du bereit zu sterben ?« »Ja, ich bin bereit.« Er hielt die Klinge an ihren Hals. »Soll ich zustoßen ?« »Ja.« Mark legte das Messer mit Bedacht auf die Anrichte. Ihm fiel die Geschichte aus der Bibel ein, in der Gott Abraham befahl, seinen Sohn Isaak zu schlachten, und der Engel rief: »Lege deine Hand nicht an den Knaben …« Es schien alles eine Wiederholung zu ein von etwas, das sich bereits früher zugetragen hatte. »Seit wann liebst du mich schon ?« fragte er in dem ernsten Ton eines Arztes, der einen gefährlich erkrankten Patienten behandelt. Er hörte das Aufeinanderschlagen seiner Zähne. »Vom Tag an, als ich dich zum erstenmal gesehen habe.« »Die ganze Zeit ?« »Tag und Nacht.« Er stand still und horchte auf seinen eigenen Atem. Er keuchte. Er sagte : »Du wußtest doch, daß ich eine Frau hatte.« Bella antwortete lange nicht. »Ja, ich wußte es, aber ich habe sie verwünscht. Darum ist sie gestorben.« 255
»Was bist du, eine Hexe ?« »Ja, eine Hexe.« In diesem Augenblick fiel es Mark auf, daß Bella genau wie die Bilder und Holzschnitte von Hexen aussah, die man in alten Büchern fand. Alles, was ihr fehlte, waren Weichselzopf und Runzeln. Nun, jene Hexen waren ja auch nicht alt auf die Welt gekommen. Wahrscheinlich hatten sie mit der Zauberei schon in ihrer Jugend angefangen. Mark sagte sich, daß all dies Aberglaube sei, aber Lenas Tod war wirklich ein Rätsel gewesen. Selbst die Ärzte hatten gesagt, daß ihre Krankheit rätselhaft sei, besonders die Schnelligkeit, mit der sie ausbrach. Lena hatte alle Gesundheitsregeln streng eingehalten. Sie hatte keine fetten Speisen gegessen, sie hatte nicht geraucht und keinen Alkohol getrunken. Der Krebs hatte sich unheimlich schnell ausgebreitet. Mark erinnerte sich jetzt daran, daß Lena gesagt hatte : »Jemand hat mich verwünscht. Man hat mich um mein Glück beneidet …« Die Verzückung in Bellas Blick ließ nach, und sie sah ihn ernst an, gedankenversunken und ängstlich. Er sagte : »Ich glaube nicht an solchen Unfug. Das ist alles Unsinn. Aber da du daran glaubst, so hast du von deinem Standpunkt aus einen Menschen umgebracht.« »Das ist richtig. Und Gott wird mich dafür strafen.« »Hast du geglaubt, daß ich dich heiraten würde ?« 256
»Das weiß ich nicht.« »Wie hast du sie denn verhext ?« »Ach, ich habe ihren Tod herbeigewünscht. Mitten in der Nacht wachte ich auf und betete, sie solle sterben.« »Du hast sie doch nicht einmal gekannt.« »Doch. Ich kannte sie. Ich bin schon oft hier gewesen. Nicht im Hause, aber draußen. Ich habe gewartet, bis sie aus dem Fenster sah. Einmal habe ich an der Tür geläutet und sie gefragt, ob sie ein Dienstmädchen brauche. Sie antwortete : ›Ich würde niemanden von der Straße nehmen‹, und schlug mir die Tür vor der Nase zu.« »War das nicht verrückt, was du getan hast ?« »Ja, ganz verrückt.« Mark blickte auf die Anrichte, wo er das Messer hingelegt hatte. »Du verdienst, zu sterben aber ich bin kein Mörder. In dieser Hinsicht bin ich noch immer ein Jude. Aber ich will nichts mit dir zu tun haben. Geh und komm niemals wieder. Du kannst mich ruhig auch verwünschen.« »Nein, dich werde ich bis zu meinem letzten Atemzug segnen.« Bella machte eine Bewegung, als ob sie aufstehen wolle, blieb aber sitzen. Mark sagte : »Das heißt also, daß das, was du da über Mitleid mit mir gesagt hast, nur Lügen waren. Du warst froh, daß sie gestorben ist.« »Nein, ich wußte ja nicht, daß ich solche Kräfte be257
sitze. Als ich die Nachricht hörte, war ich ganz erstarrt und –« »Du bist dumm wie ein Esel, das bist du«, sagte Mark und war nicht sicher, wohin seine Worte ihn führen würden. »Hättest du deinen Verstand für deine Schularbeiten gebraucht, dann hättest du vielleicht dein Examen bestanden. Was soll denn jetzt aus dir werden ? Du siehst mich heute zum letztenmal. Ich habe Lena sehr geliebt und dich werde ich von jetzt an hassen wie eine Spinne.« Aus Bellas Gesicht wich die Farbe. »Und ich werde dich lieben, bis ich in der Erde liege.« »Das ist alles Unsinn, Hysterie.« »Nein.« »Hast du versucht, mich vorhin schon einmal anzurufen ?« fragte Mark. »Ich war gerade weggegangen und hörte das Telephon läuten. Bis ich hinkam, war es zu spät. Warst du das ?« »Ja.« »Und warum gerade heute abend ?« »Ich mußte es einfach tun.« »Das ist alles Einbildung. Du steckst noch irgendwo im Mittelalter. Ich fange an zu begreifen, warum man die Hexen verbrannt hat. Solche wie du verdienen es. Du siehst tatsächlich aus wie eine Hexe«, sagte er und bereute schon seine Worte. »Ja, ich weiß.« »Ach, ich meine das nicht wirklich. Bist du bereit, meine Geliebte zu werden ?« fragte er, überrascht von 258
seinen eigenen Worten. »Meine Geliebte, nicht meine Frau. Ich würde mich schämen, auf der Straße mit dir gesehen zu werden. Ich bin ganz offen mit dir !« Etwas wie Ärger und zugleich Spott zuckte in Bellas Augen auf. »Du kannst mit mir machen, was du willst.« »Wann ?« »Jetzt …«
7 Um drei Uhr morgens begann Bella sich anzukleiden. Ein schwaches rotes Licht schimmerte im Schlafzimmer. Mark war zu müde, ihr zu helfen. Er lag im Bett, ein Auge geschlossen, und beobachtete sie dahei, wie sie ihren Busen in das Kleid zwängte. Im Alter von zwanzig Jahren hatte sie Hängebrüste. Ihr Leib war schwer und aufgebläht. Schwarze Haare wuchsen auf ihrem Bauch. Die Hüften sprangen in weit ausladenden Rundungen vor. Ihr Haar fiel über die niedrige Stirn und die gebogene Nase. Daraus blickten die vorstehenden Augen hervor, ängstlich, wie ein gejagtes Tier aus dem Gebüsch schaut. Eine Hexe, eine Hexe ! dachte Mark. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß dieses junge Mädchen, eine Jungfrau noch dazu, in solche Raserei geraten könne. Sie hatte sich in sein Fleisch gekrallt, seine Schultern zerbissen, seltsame Worte gemurmelt, und mit so wilder Stim259
me geschrien, daß er fürchtete, sie würde die Nachbarn wecken. Er hatte geschworen, sie zu heiraten. »Wie war das möglich ? Habe ich den Verstand verloren ? Gibt es vielleicht wirklich so etwas wie Schwarze Magie ?« Mark hörte Bella sagen : »Mutter wird sich entsetzlich aufregen ! Vielleicht haben sie schon die Polizei benachrichtigt. Ganz bestimmt. Wenn mir nur der Pförtner das Tor aufschließen wird !« »Hast du Kleingeld ?« »Was ? Nein, das habe ich für das Taxi ausgegeben.« »In meiner Hosentasche ist Kleingeld.« »Wo sind deine Hosen ? Hier sind sie, auf dem Boden …« Sie hob seine Hosen auf und fühlte in den Taschen nach. Mark sah staunend zu. Sie benahm sich bereits wie eine Ehefrau. »Ich bin erledigt«, gestand er sich ein. Bella nahm ein paar Münzen heraus und legte die Hosen sorgsam über den Toilettentisch. Sie ging mit ihren behaarten Beinen durch das Zimmer. Wie können so große Füße überhaupt in Damenschuhe hineinpassen ?, staunte er. Er hörte Bella fragen : »Was soll ich meiner Mutter und meinem Vater sagen ? Sie werden einen furchtbaren Krach schlagen !« »Erzähl ihnen, was du willst.« »Wenn du es bereust, kann ich geradewegs an die Weichsel gehen und ein Ende machen«, sagte Bella. »Ich bereue nichts.« 260
»Mir ist das Leben keine zwei Groschen wert. Ich kann dahin gehen, wo deine Frau ist. Sie wird sich sowieso an mir rächen.« »Die Toten können sich nicht rächen«, sagte Mark mit dumpfer Stimme. »Sie können, sie können. Sie ist mir im Traum erschienen. Sie hielt einen Dolch und ein blutiges Taschentuch in der Hand. Sie schrie mich an und spuckte mich an –« Mark antwortete nicht. Er hatte andere Frauen in seinem Leben gekannt, aber keine, die ihn so erschöpft hätte wie dieses Mädchen. Außerdem hatte er sie zweifellos geschwängert. Er hatte vergessen, vorsichtig zu sein. Das ist Selbstmord, dachte er. Er war von einem merkwürdigen Gefühl des Staunens erfüllt. Wie war das nur alles geschehen ? Was war aus seinem Verstand geworden ? Ganz Warschau würde sich über ihn lustigmachen. Er würde nicht am Gymnasium bleiben können. Die Schülerinnen würden ihm ins Gesicht lachen. Bella sagte : »Ja, ich gehe jetzt. Bringe mich wenigstens bis an die Tür.« Er stand auf und schlurfte ihr nach. Wie komisch sie aussah in ihrem schwarzen Kleid und mit dem Strohhut, unter dem das wirre Haar heraushing ! Er nahm ihre Hand, die feucht und heiß war. Sie stand so dicht bei ihm, daß ihre Brust ihn berührte. Sie sagte : »Wenn ich nur nicht nach Hause gehen müßte. Sie werden mich ganz unglücklich machen. Liebst 261
du mich wirklich ? Ich bitte dich, belüge mich nicht. Wenn es für dich nicht mehr als ein Scherz war, dann sage es.« »Wozu ? Damit du in die Weichsel gehen kannst ?« »Das heißt, es war alles nur gelogen ?« »Bella, ich kann dich nicht heiraten.« Es wurde still. Im fahlen Licht des frühen Morgens konnte er nur ihre Augen sehen. Sie spiegelten etwas Irres und Wildes wider. Er hatte Angst, daß sie ihn wie ein Tier anspringen würde, und er war jetzt zu schwach, sich zu verteidigen. Sie sagte : »Gut. Es ist alles vorbei. Gute Nacht.« »Wohin gehst du ?« »Das kann dir doch gleich sein. Aber denke nicht schlecht von mir. Niemand wird dich je wieder so lieben, wie ich dich liebe.« »Bella, ich bitte dich, mach keine Dummheiten.« »Der Tod ist keine Dummheit.« »Bella, bleib hier !« rief er. Das war jetzt nicht mehr er, Mark Meitels, der sprach, sondern irgendeine Macht hatte das letzte Wort. Er fuhr fort : »Wir können nicht hier in Warschau bleiben, aber die Welt außerhalb Warschaus ist groß. Wir können nach Krakau, oder vielleicht sogar ins Ausland. Ich habe gehört, daß man noch ein Visum für Kuba oder Honduras bekommen kann. Wohin ist gleich, so lange wir nur zusammen bleiben.« »Ich bin bereit, dir bis ans Ende der Welt zu folgen.« 262
Sie standen im Dunkeln, zögernd und bedrückt. Bellas Atem ging schwer und heiß. Leidenschaft überwältigte Mark von neuem. »Bleib da !« »Warte. Mama hat ein schwaches Herz. Sie kann sterben vor Kummer.« »Sie wird nicht sterben. Und wenn, so kann ich es auch nicht ändern !« »Du mein geliebter Mörder !« »Du bist wirklich eine Hexe, nicht wahr ?« »Ja, aber erzähl es nicht weiter.« »Wie machst du es nur ?« »Ach, ich bete zu Gott oder vielleicht auch zum Teufel. Ich weiß selbst nicht, zu wem ich bete. Ich liege im Bett und es strömt aus mir heraus. Du kannst dich nicht von mir lösen, und das ist die Wahrheit. Wir sind ineinander verbissen wie zwei Hunde …« »Bleib da !« »Wenn du willst, daß wir aus Warschau fliehen, dann laß es uns sofort tun«, sagte sie. »Jetzt gleich ?« »Heute.« »Ich habe Bücher, Möbel.« »Laß alles zurück. Mein Vater und meine Mutter werden vor Kummer sterben, aber da ich schon einen Menschen umgebracht habe, was kann es da noch ausmachen ?« »Sie werden nicht sterben. Wir werden ihnen von unterwegs telegraphieren.« 263
»Gut dann. Vom ersten Tag an, in der fünften Klasse, als du zum Mathematikunterricht hereingekommen bist, wollte ich dich, und es ist seitdem keine Minute vergangen, in der ich nicht an dich gedacht habe. Wo ist Honduras ? In Afrika ?« »Du hast doch Geographieunterricht gehabt, du solltest das wissen.« »Ich erinnere mich an nichts. Die ganzen vier Jahre habe ich nichts anderes gelernt als dich, nichts anderes.« »Komm !« Er legte den Arm um sie und sie taumelten ins Schlafzimmer zurück, durch das Wohnzimmer. Die Sonne war aufgegangen und warf einen rötlichen Schein durch die Fenster. Bellas Gesicht schien in Blut getaucht. Lichtbündel glühten in ihren Augen auf. Er stand neben ihr, halbnackt, und sie starrten in einen Spiegel. Er sagte : »Wenn es so etwas wie Schwarze Magie gibt, dann gibt es vielleicht auch einen Gott.« Er konnte es nicht mehr erwarten, in das Schlafzimmer zu kommen, und warf sie auf den Teppich nieder – eine Hexe, in Blut und Samen getränkt, ein Scheusal, das die aufgehende Sonne in eine Schönheit verwandelt hatte.
Sam Palka saß auf dem Sam Palka und Sofa – untersetzt, ein David Wischkower Büschel weißer Haare an beiden Seiten seines kahlen Schädels, mit rotem Gesicht, buschigen Augenbrauen und blutunterlaufenen Augen, die von blaßblau zu grün und gelb wechselten. Eine Zigarre steckte zwischen seinen Lippen. Sein Bauch ragte hervor wie der einer Hochschwangeren. Er trug ein marineblaues Jackett, grüne Hosen, braune Schuhe, ein Hemd mit purpurroten Streifen und einen seidenen Schlips, auf den ein Löwenkopf gemalt war. Sam Palka selbst sah für mich wie ein Löwe aus, der sich durch Zauberei in einen reichen Mann in New York verwandelt hatte, einen Mäzen der jiddischen Schriftsteller, eine Stütze des jiddischen Theaters, den Präsidenten eines Altenheimes in der Bronx und den Schatzmeister eines Vereins, der Waisenkinder in Israel unterstützte. Wenn er zu mir sprach, schrie Sam Palka, als ob ich taub wäre. Er nahm ein dickes Manuskript von dem kleinen Tisch und brüllte : »Über tausend Seiten, was ? Und das ist nicht der hundertste Teil von dem, was ich geschrieben haben könnte. Aber bringen Sie es in Ordnung, so wie es ist.« »Ich werde tun, was ich tun kann.« »Geld spielt keine Rolle. Selbst wenn ich tausend Jahre alt werden sollte, ich habe genug. Ich zahle Ihnen dreitausend Dollar dafür, daß Sie es bearbeiten, und wenn das Buch erscheint und in den Zeitungen 265
darüber geschrieben wird, werde ich Ihnen einen – wie nennt man das ? – Bonus bezahlen. Aber machen Sie es schmackhaft. Ich kann die Bücher nicht lesen, die mir die Schriftsteller bringen – drei oder vier Zeilen eines Romans, und schon muß man gegen den Schlaf ankämpfen. Zu meiner Zeit wurde man von einem Buch gepackt. Man fing an, einen Roman zu lesen und konnte ihn nicht aus der Hand legen, weil man wissen wollte, wie es weiterging. Dieneson, Spector, Seifert ! Und bei denen gab es Gedanken, die führten einen wer weiß wohin. Auch Geschichte kam darin vor. Samson und Dalila, Jephtas Tochter, Bar Kochba. Das saß. Heute muß man das halbe Buch lesen und weiß immer noch nicht, worum es geht. Diese Schmieranten schreiben über die Liebe, aber die wissen von der Liebe so viel wie ich von dem, was auf dem Mond vorgeht. Woher sollen sie es auch wissen ? Die sitzen den ganzen Tag und die halbe Nacht im Café Royal und reden darüber, wie bedeutend sie sind. Saure Milch und Tinte haben sie in ihren Adern, kein Blut. Ich habe mein Jiddisch nicht vergessen. Der Mann, dem ich dies Buch diktierte, versuchte die ganze Zeit, mich zu verbessern ; ihm gefiel mein Polnisch-Jiddisch nicht. Aber das hat mich nicht gestört. Ich diktierte ihm eine Episode und er fragte : ›Wie kann das sein ? Das ist nicht realistisch.‹ Er stammte aus Eischischok, einem gottverlassenen Dorf, und was er nicht selbst erlebt hatte, existierte nicht für ihn – ein Bücherwurm, ein Idiot. 266
Also, Sie müssen wissen, daß ich, obwohl ich über tausend Seiten diktiert habe, die Hauptsache weglassen mußte. Ich konnte nicht darüber schreiben, da die Heldin noch lebt und – liest. Es gibt in ihrem Leben nur eine Sache – lesen. Sie kennt alle heutigen Schriftsteller. Wo immer sie ein neues Buch auftreiben kann, verschafft sie es sich und liest es von vorn bis hinten. Mein Leben wäre nicht mehr lebenswert, wenn ich die Wahrheit veröffentlichen würde und sie davon hörte. Was ich Ihnen erzählen werde, kann erst nach meinem Tode geschrieben werden. Aber wer wird es dann tun ? Sie sind noch ein junger Mann, Sie kennen sich aus, und wenn ich ins Gras beiße, möchte ich, daß Sie diese Geschichte dem Buch hinzufügen. Ohne sie, ist das Ganze einen Dreck wert. Ich werde in meinem Testament für Ihre zusätzliche Arbeit etwas aussetzen. Wo soll ich anfangen ? Ich bin in einem frommen Haus geboren. Meine Eltern waren altmodische Juden, aber schon als ich noch in die Vorschule ging, hörte ich über die Liebe reden. Muß man weit danach suchen ? Es steht ja in der Tora. Jakob liebte Rahel, und als Laban, der Betrüger, im Dunkel der Nacht Lea unterschob, arbeitete Jakob weitere sieben Jahre. Nun, und wie steht es um König David und König Salomo mit der Königin von Saba und all dem ? Hausierer kamen mit Büchern in unser Dorf und brachten Bücher mit Geschichten – zwei Pfennig, wenn man kaufte, einen Pfennig, wenn man auslieh. Ich war ein 267
armes Kind, aber wann immer ich ein paar Pfennige ergattern konnte, gab ich sie für Bücher aus. Als ich nach Amerika kam und drei Dollar in der Woche verdiente, gab ich mein letztes Geld für Bücher aus oder für Karten für das jiddische Theater. Damals waren Schauspieler noch Schauspieler und keine Holzklötze. Wenn sie auf die Bühne kamen, fingen die Bretter unter ihren Füßen Feuer. Ich habe sie alle gesehen ! Adler, Mme. Liptzin, Schildkraut, Kessler, Tomaschewsky – jeden von ihnen. Ja, und die Stückeschreiber jener Zeit – Goldfaden, Jakob Gordin, Lateiner ! Jedes Wort drehte sich um Liebe, und man hätte jeden küssen mögen. Wenn Sie mein Buch lesen, werden Sie sehen, daß ich mit meiner Ehe kein Glück hatte. Ich geriet an ein niederträchtiges Weib – ein boshaftes Stück, eine Hexe. Wie sie mir das Leben verdorben hat und wie sie meine Kinder gegen mich aufhetzte, das steht alles drin. Solange ich jung und arm war, arbeitete ich in den ausbeuterischen Betrieben der Konfektion, und dann fing ich an, hausieren zu gehen. Für die Liebe hatte ich keine Zeit. Ich wohnte in einer dunklen Kammer und konnte mir nicht einmal einen Anzug leisten. Wir arbeiteten damals vierzehn Stunden am Tag, wenn das Geschäft gut ging, sogar achtzehn. Wenn es nachließ, hatten wir kaum eine Kruste Brot zu essen. Mit leerem Magen denkt man nicht an die Liebe. Meinen ersten Bungalow konnte ich mir erst viele Jahre nach meiner Heirat bauen, aber bald wurde ich so erfolg268
reich, als ob der Prophet Elia mich gesegnet hätte. An einem Tag besaß ich nichts, und am nächsten strömte das Geld mir von allen Seiten zu. Aber ich arbeitete immer noch schwer, vielleicht sogar schwerer als vorher. Wie erfolgreich ein Mensch auch sein mag, er kann im Nu von ganz oben nach ganz unten rutschen. Man darf keine Minute nachlassen. Solange ich angestellt war oder ein Bündel auf den Schultern trug und hausieren ging, hatte ich wenigstens am Sabbat Ruhe. Mit dem Wohlstand war auch der Sabbat dahin. Meine Frau merkte, daß ich ein paar Dollar hatte, und begann, mich zu rupfen. Wir zogen von der Lower East Side fort und mieteten eine Wohnung in einem besseren Viertel. Die Kinder kamen nach und nach, und Ärzte, Privatschulen, und der Teufel weiß, was noch, waren zu bezahlen. Meine Frau – Bessie hieß sie – behing sich mit so viel Schmuck, daß sie kaum noch zu sehen war. Sie kam aus engen, kleinen Verhältnissen, und wenn diese Leute Geld riechen, verlieren sie den Kopf. Ich war schon Ende dreißig und wußte immer noch nicht, was wirkliche Liebe ist. Wenn ich meine Frau je geliebt habe, dann war es höchstens von Montag bis Dienstag. Wir stritten uns dauernd, und sie drohte mir mit Gericht und Gefängnis. Sie erinnerte mich immer wieder daran, daß in Amerika eine Frau etwas so besonderes ist, daß man sich vor ihr wie vor einem Idol verneigen muß. So trieb sie es, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Wenn ich ihre Stimme hörte, wurde mir speiübel. Sie beschwindelte mich vorn 269
und hinten, aber erwartete immer noch von mir, daß ich als Mann zu ihr käme. Unmöglich ! Wir hatten kein gemeinsames Schlafzimmer mehr. Damals hatte ich bereits ein Büro, und heimlich nahm ich mir eine kleine Wohnung in einem meiner Häuser. Es fällt mir schwer, es einzugestehen, aber wenn man seine Frau haßt, dann liebt man auch die Kinder weniger. Nachdem Bessie, dieses Fischweib, merkte, daß wir nie wieder Zusammensein würden, sah sie sich nach anderen um. Sie machte das so deutlich, daß die Männer Angst bekamen, etwas mit ihr anzufangen. Sie hielt sie an den Ärmeln fest, wie die Frau des Potiphar. Ich weiß, was Sie mich fragen wollen – warum ich mich nicht scheiden ließ. Erstens, um damals eine Scheidung zu bekommen, mußte man wendig sein, beim Gericht an die Türen klopfen und so weiter. Heute fliegt man nach Reno, und in sechs Wochen ist man frei wie ein Vogel. Zweitens, sie hätte mir eine Bande von Winkeladvokaten auf die Fersen gesetzt, und die hätten mich bis zum letzten Pfennig geschröpft. Außerdem läßt man sich scheiden, wenn man in eine andere verliebt ist. Wenn keine auf einen wartet, warum soll man sich noch mehr Ärger auf den Hals laden ? Ich hatte Geschäftspartner, und obwohl die mit braven Frauen verheiratet waren, ließen sie sich mit leichten Weibern ein. Heute nennt man Damen dieser Art call-girls, aber eine Hure bleibt eine Hure. Alle machten sie es so – die Fabrikanten, die Makler, jeder, der zahlen konnte. Für sie war es ein Spiel. Aber 270
wenn diese Nutten alles waren, was einer hatte, erkannte er bald sein Unglück. Mir ist es mehr als einmal passiert, daß ich eine von diesen Schlampen nur ansah, und schon den Appetit verlor. Ich gab ihr ein paar Dollar und lief davon wie ein Jeschiwaschüler. Dann ging ich ins Kino und starrte stundenlang auf die Gangster, die sich gegenseitig erschossen. So vergingen die Jahre, und ich dachte schon, ich würde nie wissen, was Liebe ist. Wollen Sie weiterhören ?« »Ja, gewiß.« »Das allein wäre schon ein Buch. Wenn Sie es schreiben, werden Sie schon wissen, wie man es ausschmückt.« »Warum ausschmücken ? Wie Sie es erzählen, ist es richtig.« »Schriftsteller schmücken aber gerne aus !« »Als ich ungefähr zwei- oder dreiundvierzig Jahre war, war ich wirklich reich. Wenn das Geld mal anfängt zu fließen, kann man es nicht aufhalten. Ich kaufte Häuser und Grundstücke und verdiente groß daran. Ich kaufte Aktien, und sie stiegen über Nacht. Steuern zählten damals kaum. Ich fuhr eine Limousine und schrieb Schecks für alle möglichen Wohltätigkeitsunternehmen aus. Jetzt umschwärmten mich die Frauen wie die Bienen den Honig. In einer Woche wurde ich mit mehr Liebe überschüttet, als ich in einem Jahr gebrauchen konnte. Aber ich bin kein Mensch, der sich etwas vormacht. Ich wußte genau, 271
daß sie mein Geld wollten, nicht mich. Während sie mich küßten und mir einreden wollten, was ich für ein guter Liebhaber sei, dachten sie daran, was für sie dabei herausspringen würde : Reisen nach Florida, nach Europa ; Nerzmäntel ; Diamanten. Es war alles Schwindel. Man liegt im Bett mit ihnen, und sie lassen einen nicht vergessen, was man wirklich für sie ist – der Onkel mit der dicken Brieftasche. Ich hätte damals gern eine Frau kennengelernt, die nichts von meinem Geld wußte, oder eine so reiche Erbin, daß ich im Vergleich mit ihr arm gewesen wäre. Aber wo und wie ? Ich fürchtete schon, daß es für mich wirkliche Liebe nicht geben würde. Wie sagt man in Polen ? Wurst ist nichts für Hunde. Plötzlich geschah ein Wunder. Ich hatte ein altes Haus in der Blake Avenue gekauft, in Brownsville. Heute ist Brownsville voll mit Schwarzen und Puertoricanern ; damals war es das Land Israel. Nicht ums verrecken konnten Sie dort einen Christen finden. Ich wollte ein neues Haus bauen, mußte aber erst die alten Mieter loswerden. Oft ging so etwas ganz einfach, aber diesmal wehrten sich einige. Ich ging nicht gern vor Gericht ; mir war es lieber, mich mit ihnen zu einigen. Ich hatte einen freien Sonntag und beschloß, dorthin zu gehen und zu sehen, was sich machen ließ. Mein Wagen war zufällig in der Werkstatt, so nahm ich die Untergrundbahn. Schließlich war ich ja nicht als Rockefeller auf die Welt gekommen. Ich klopfte an eine Tür in dem Haus, aber in 272
Brownsville weiß man nicht, was das bedeutet. Ich drückte die Klinke nieder, öffnete die Tür, und ich erblickte ein Zimmer, das genauso aussah wie in der alten Heimat. Hätte ich nicht gewußt, daß ich in Brownsville war, ich hätte geglaubt, in Konskawola zu sein : weißgetünchte Wände, ein Bretterboden, ein zusammengebrochenes Sofa, aus dem die Füllung quoll. Selbst die Gerüche waren die von Konskawola : gebratene Zwiebeln, Zichorie und schimmeliges Brot. Auf dem Sofa saß ein Mädchen, schön wie die Königin Esther. Es gab nur einen Unterschied. Esther soll grünlich gewesen sein, und dieses Mädchen war weiß, mit blauen Augen und goldenen Haaren – eine Schönheit. Angezogen war sie wie ein Neuankömmling : langer Rock und Schuhe mit Knöpfen. Und was tat sie ? Sie las eine Geschichte : Scheindele mit den blauen Lippen. Ich hatte sie vor Jahren gelesen, drüben noch. Ich glaubte zu träumen, und ich zwickte mich, aber es war kein Traum. Ich hatte ihr sagen wollen, ich sei der Hausbesitzer und sei gekommen, um sie zu veranlassen auszuziehen. Aber irgendeine Macht hielt mich zurück. Ich fing an, eine Rolle zu spielen, als sei ich ein Schauspieler im Theater. Sie fragte mich, wer ich sei, und ich sagte, ich sei ein Nähmaschinenvertreter. Ich könnte ihr billig eine Nähmaschine verschaffen. Sie sagte : ›Wozu brauche ich eine Nähmaschine ? Wenn ich etwas nähen will, benutze ich meine eigenen zehn Finger.‹ Sie sprach ein mir vertrautes Jiddisch. 273
Ich könnte bis morgen hier mit Ihnen sitzen und hätte Ihnen nicht einmal die Hälfte erzählt, aber ich will es kurz machen. Sie war erst seit zwei Jahren in Amerika. Ihr Vater war in Polen Talmudlehrer gewesen. Ein Onkel hatte ihn in dieses Land des Goldes gebracht. Drei Tage nachdem Vater und Tochter Ellis Island verlassen hatten, starb der Onkel. Ihr Vater wurde Schammes bei einem kleinen Rabbiner. Ich fragte sie, wie alt sie sei und sie antwortete ›sechsundzwanzig‹. ›Wie kommt es‹, fragte ich sie, ›daß ein so schönes Mädchen nicht verheiratet ist ?‹ Sie sagte : ›Man hat mir viele Partien vorgeschlagen, aber ich habe mich geweigert durch einen Heiratsvermittler zu heiraten. Ich will aus Liebe heiraten.‹ Was sie sagte, war nicht dumm ; sie war wie ein Kind und sie redete wie ein kleines Mädchen. Sie war nicht zurückgeblieben – nur naiv. Sie hatte vierundzwanzig Jahre in einem winzigen Dorf am Ende der Welt gelebt – in Wysoka. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch klein war. Jedes ihrer Worte war die reine Wahrheit. Sie konnte ebensowenig lügen, wie ich die Frau eines Rabbiners sein könnte. Ich fragte nach ihrem Namen und sie sagte : ›Hannah Basia.‹ Was soll ich lange drumherumreden ? Ich verliebte mich in sie – Hals über Kopf. Ich konnte mich nicht losreißen von ihr. Ich hatte Angst, daß sie mich fortschicken würde, aber sie fragte : ›Sind Sie nicht hungrig ?‹ ›Ja, ich bin hungrig.‹ sagte ich und dachte : ›Nach dir !‹ Sie sagte : ›Ich habe geröstete Hafergrütze gekocht, einen gan274
zen Topf voll.‹ Ich hatte die Worte ›geröstete Hafergrütze‹ Gott weiß wie lange nicht gehört, und glauben Sie mir, keine Arie einer Opernsängerin hätte süßer klingen können. Bald saßen wir an einem gebrechlichen Tisch und aßen gemeinsam die geröstete Hafergrütze wie ein altes Paar. Ich erzählte ihr, daß ich auch gerne Geschichtenbücher lese. Ich konnte sehen, daß sie einen ganzen Haufen davon besaß, die sie alle von drüben mitgebracht hatte : Die Geschichte von den drei Brüdern, Die Geschichte zweier Metzger, Die Abenteuer des frommen Reb Zadock und der zwölf Räuber. Sie fragte mich : ›Können Sie davon leben, daß Sie Nähmaschinen verkaufen ?‹ Ich sagte : ›Es gelingt mir, ein paar Dollar zusammenzukratzend Sie fragte : ›Haben Sie Frau und Kinder ?‹ Ich erzählte ihr von meiner Frau und schüttete ihr mein schweres Herz aus. Hannah Basia hörte zu und wurde bleich. ›Warum bleiben Sie bei einer so bösen Sieben ?‹ Ich sagte : ›Hier in Amerika muß man einer Frau Unterhalt bezahlen, wenn man sich scheiden läßt. Wenn man nicht zahlt, gehts ins Gefängnis. Die Zahlungen sind höher als das, was ein Mann verdient. So sieht die Gerechtigkeit aus im Lande des Kolumbus.‹ Sie sagte : ›Gott ist langmütig, aber Er straft schwer. Sie wird bald ein böses Ende nehmen.‹ Sie schimpfte auf meine Frau. Sie sagte : ›Wovon leben Sie, wenn sie Ihnen den letzten Bissen fortnimmt ?‹ Ich sagte : ›Ich habe immer noch genug für ein Stück Brot.‹ Sie sagte : »Kommen Sie ruhig zu mir. Ich koche oft mehr, als 275
ich für meinen Vater und mich brauche. Ich bin immer allein, denn mein Vater kommt spät nach Hause, und mit Ihnen wird es gemütlich sein.‹ Zum erstenmal fühlte jemand Mitleid mit mir und wollte geben, nicht nehmen. Wir aßen die Grütze, dazu frisches Brot vom Bäcker, und wir tranken dünnen Tee, während wir uns über die ›Drei Brüder‹ unterhielten, von denen der erste die gute Tat auf sich nahm, unschuldige Gefangene auszulösen, der zweite armen Waisen ermöglichte zu heiraten, und der dritte den Sabbat hielt. Dann erzählte ich ihr die Geschichte von dem jungen Mann, der ein goldenes Haar fand und durch die ganze Welt reiste auf der Suche nach einer Frau, von deren Kopf es gefallen war. Er fand sie auf der Insel Madagaskar, und sie war die Königin dort. Hannah Basia hörte jedem Wort aufmerksam zu. Was soll ich noch viel sagen ? Zwischen uns entstand eine große Liebe. Ich tat alles, damit das Haus erhalten blieb. Ich besuchte sie jede Woche, und in manchen Wochen fuhr ich zwei- oder dreimal auf der Canarsiestrecke nach Brownsville. Immer wenn ich dorthin ging, trug ich einen schäbigen Anzug und einen alten Hut. Ich brachte ihr Geschenke, wie sie ein Nähmaschinenvertreter kaufen würde : ein Pfund Farmerkäse, einen Korb mit Obst, eine Büchse Tee. Die Nachbarn kannten mich bald und wollten von mir Nähmaschinen auf Abzahlung kaufen. Mir wurde klar, wenn ich ihnen solche Gelegenheitskäufe vermitteln würde, dann wäre bald ganz Brownsville 276
hinter mir her, so erzählte ich Hannah Basia, daß ich jetzt Versicherungsagent geworden sei. Die Hauptsache habe ich vergessen : ich nannte mich anders – David Wischkower. Den Namen hatte ich nicht erfunden ; ein Vetter von mir hieß so. Eine Zeitlang gelang es mir, ihrem Vater, dem Schammes, auszuweichen. Was Hannah Basia anging, so verliebte sie sich in mich mit einer Leidenschaft, die nicht zu beschreiben ist. An einem Tag war ich noch ein Fremder, und vier Wochen später hing ihr ganzes Leben an mir. Sie strickte Sweater für mich und kochte alle meine Lieblingsgerichte. Wenn ich versuchte, ihr ein paar Dollar zuzustecken, gab sie mir das Geld zurück, und ich mußte darum betteln, daß sie es annahm. In Wirklichkeit war ich ein Millionär, aber in der Blake Avenue wurde ich ein armer Versicherungsagent, ein verhungerter Schlemihl, dessen Frau den letzten Penny aus ihm herausquetschte. Ich weiß, was Sie fragen wollen ; ja, Hannah Basia und ich lebten wie Mann und Frau. Sie war eine reine Jungfrau gewesen. Wie so ein Mädchen dazu überredet werden konnte, ein Verhältnis zu haben, ist eine Geschichte für sich. Ich weiß ein wenig Bescheid mit den jüdischen Gesetzen, und ich überzeugte sie davon, daß nach der Tora ein Mann zwei Frauen haben darf. Sie beging also keinen Ehebruch, denn sie war nicht verheiratet. Hätte ich ihr gesagt, sie solle auf dem Kopf stehen, sie hätte auch das getan. So lange Hannah Basias Vater nichts von dem 277
wußte, was sich abspielte, ging alles glatt. Wir lebten wie die Turteltauben. Aber wie lange kann so ein Verhältnis geheim bleiben ? Als der Vater herausfand, daß ein verheirateter Mann seine Tochter besuchte, und sie ihn wie einen Bräutigam empfing, war der Teufel los. Ich versicherte ihm, daß, sobald mein böses Weib sich von mir scheiden ließe, ich mit seiner Tochter unter den Hochzeitsbaldachin treten würde. So schön Hannah Basia war, so häßlich war ihr Vater, krank, ein zerbrochener Scherben. Er drohte mir, daß ich exkommuniziert würde. Mit der Zeit wurde er immer heftiger ; er deutete sogar an, daß er mich ins Gefängnis bringen könnte. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Man sollte so etwas nicht sagen, aber das Glück war auf meiner Seite. Er wurde sterbenskrank. Er hatte etwas an den Nieren und weiß Gott was noch. Ich schickte ihn zu Ärzten, brachte ihn ins Hospital, bezahlte die Krankenschwestern, und ich gab vor, daß dies alles nichts kostete. Er siechte noch ein paar Monate dahin, dann starb er. Ich setzte ihm einen Grabstein für fünfzehnhundert Dollar, und seiner Tochter machte ich weis, daß die Landsleit aus Wysoka ihn bezahlt hätten. Eine Lüge führt zur anderen. Wie heißt es im Talmud ?« »Eine Sünde zieht die andere nach sich«, sagte ich. »Richtig.« »Nach dem Tode ihres Vaters wurde Hannah Basia ihm noch ergebener als zuvor. Sie betrauerte ihn, wie 278
ich nie eine Tochter ihren Vater habe betrauern sehen. Sie bezahlte einen Mann, Kaddisch für ihn zu sagen. Sie zündete Kerzen in der Synagoge an. Jede zweite Woche ging sie an sein Grab. Ich erzählte ihr, daß mein Geschäft gut ginge, und ich versuchte, ihr mehr Geld zu geben. Aber wie wenig es auch sein mochte, sie bestand darauf, es sei zuviel. Alles was sie brauche, so sagte sie, sei ein Laib Brot, ein paar Kartoffeln und ab und zu ein Pfund Kutteln. Jahre vergingen, und sie trug immer noch die gleichen schäbigen Kleider aus der alten Heimat. Ich wollte ihr eine Wohnung an der Ocean Avenue kaufen und sie möblieren. Sie weigerte sich, umzuziehen. Sie fuhr fort, ihren Trödel abzustauben und zu polieren. Sie las die jiddischen Zeitungen, und einmal fand sie mein Bild darin. Ich war Vorstand eines Altenheimes geworden, und darüber hatte man berichtet : ›Sieh mal, dieser Sam Palka sieht genau aus wie du. Ist er ein Verwandter ?‹ Ich sagte : ›Ich wünschte, er wäre einer. In meiner Familie sind alle arme Schlucker.‹ Hätte ich ihr gesagt, daß ich Sam Palka war, unsere Liebe wäre zu Ende gewesen. Sie brauchte einen armen Mann, um den sie sich kümmern konnte, nicht einen reichen, der sie verwöhnte. Jedesmal, wenn ich sie verließ, um nach Hause zu gehen, bot sie mir einen Beutel mit Essen an, so daß ich nicht verhungern würde bei den Portionen, die meine Frau mir gab. Komisch, was ? Die Jahre vergingen, und ich wußte kaum, wie. An einem Tag hatte ich noch dunkles Haar, und über 279
Nacht, wie es schien, war ich grau geworden. Hannah Basia war auch kein Küken mehr. Aber ihre Gedanken waren die eines Kindes. Das Haus in der Blake Avenue wurde so baufällig, daß ich Angst bekam, es könnte einstürzen. Ich mußte die Inspektoren bestechen, damit es nicht abgerissen wurde. Die Geschichtenbücher, die Hannah Basia aus Wysoka mitgebracht hatte, waren nun ganz zerfetzt, und sie las jetzt die Bücher der jiddischen Schriftsteller, die in Amerika lebten. Von dieser Ware gab es reichlich in meinem Hause ! Ich brachte ihr einen Haufen, und sie bewunderte alle, egal wie schlecht sie waren. Sie liebte alle Menschen, außer meiner Frau. Auf sie goß sie Feuer und Schwefel. Sie wurde nie müde, von den Schwierigkeiten zu hören, die Bessie mir bereitete, und ich hatte viel zu erzählen. Sie hatte sich einen Gigolo zugelegt und reiste mit ihm durch ganz Europa. Auch meine Kinder machten mir wenig Freude. Mein Sohn bestand nicht einmal sein Schulabschlußexamen. Ich habe drei Töchter, und keine von ihnen führte eine glückliche Ehe. Ihre Mutter säte Haß gegen mich in sie. Ich war nur zu etwas gut – Schecks auszuschreiben. Immerhin hatte ich ein großes Glück : Hannah Basia. Sie blieb sich immer gleich. In all den Jahren lernte sie nur wenige Worte Englisch. Die meisten jüdischen Mieter hatten das Haus verlassen und Puertoricaner waren eingezogen. Nur zwei alte Frauen – Witwen – waren geblieben, und Hannah Basia kümmerte sich um sie. Eine litt am Star und erblindete 280
später. Die andere hatte Wassersucht. Hannah pflegte sie wie eine gelernte Krankenschwester. Würden Sie das für möglich halten, in der ganzen Zeit kam Hannah Basia nie nach Manhattan. Die Untergrundbahn mit all dem Krach und Lärm erschreckte sie. In der Hopkinson Avenue gab es ein jiddisches Theater, und ab und zu ging ich mit ihr dorthin. Manchmal sahen wir auch einen jiddischen Film. Es gab Augenblicke, da dachte ich, ich müsse dieses falsche Spiel beenden. Warum sollte sie nicht meinen Reichtum genießen ? Im Sommer hätte ich gern einen Bungalow in den Catskills für sie gemietet. Ich bot ihr an, mit mir nach Kalifornien zu reisen. Aber sie wollte nichts davon wissen. Damals gab es noch keine Klimaanlagen, und ich wollte ihr einen Ventilator kaufen. Sie schlug es aus. Sie hatte eine Todesangst vor Maschinen. Sie erlaubte mir auch nicht, ihr ein Telephon legen zu lassen. Das einzige, was sie annahm, war ein Radioapparat ; es dauerte lange, bis sie gelernt hatte, wie man die jiddischen Stationen einzustellen hatte. So ist Hannah Basia, und so wird sie bis zum Ende ihrer Tage bleiben. Mein lieber Freund, ich habe versprochen, es kurz zu machen und ich will Wort halten. Bessie starb. Sie hatte sich mit ihrem Gigolo – diesem Strichjungen – verkracht und war allein nach Hongkong gefahren. Was sie dort gewollt hat, werde ich nie erfahren. Eines Tages brach sie in einem Restaurant zusammen und 281
war tot. Das war 1937. In all den langen Jahren, die ich mit Hannah Basia verbracht hatte, hatten wir uns immer wieder versprochen zu heiraten, wenn Bessie etwas zustoßen sollte. Aber irgendwie verschob ich es von Mal zu Mal, ihr davon zu berichten. Es war nicht daran zu denken, daß ich mit Hannah Basia in den Ruinen der Blake Avenue leben konnte. Und genauso unmöglich war es, sie in meine Zehnzimmerwohnung in der Park Avenue zu führen. Meine Nachbarn sind alles hochnäsige Geldsäcke. Ich hatte eine Negerin als Hausmädchen und eine irische Wirtschafterin. Ich ging auf Parties, und ich gab selbst Parties. In meinem Kreis sprach kein Mensch auch nur ein Wort Jiddisch. Wie konnte ich Hannah Basia in diese sich nichtjüdisch-gebende Welt bringen ? Mit wem hätte sie reden können ? Außerdem, wenn sie herausfand, daß ich die ganzen Jahre ihr gegenüber gelogen hatte, so hätte dieser Schock unsere Liebe zerreißen können wie ein Spinnweb. Ich begann mich damit zu beschäftigen, ob ich mit ihr nach Palästina gehen, vielleicht in Jerusalem oder am Grabe Rahels leben sollte, aber damals fing Hitler schon an, seine Zähne zu zeigen. In solchen Zeiten war es besser, in Amerika zu sein, und nicht in fernen Ländern herumzuwandern. Ich schob die Angelegenheit von Tag zu Tag, von Monat zu Monat auf. Ich will es nicht leugnen – ich war ihr nicht immer treu in all diesen Jahren. So lange ich nichts von der wahren Liebe gewußt hatte, pfiff ich auf die frivolen Weiber, aber jetzt, da ich wirk282
lich liebte, paßte es mir in den Kram, mich auch mit anderen Frauen zu vergnügen. Wenn Frauen wissen, daß ein Mann allein lebt, bieten sie sich gleich dutzendweise an. Ich wurde ein richtiger Don Juan. Ich verkehrte in Nachtklubs und Restaurants, wo man die großen Tiere trifft. Mein Name wurde sogar in der Klatschspalte erwähnt. Aber diese falschen Lieben machten nur Spaß, weil in Brownsville, in der Blake Avenue, die wahre Liebe auf mich wartete. Wer hat das gesagt ? Eine Unze Wahrheit wiegt mehr als zehntausend Tonnen Lügen. Ich überlegte hin und her, was tun, und inzwischen brach der Krieg aus. Jetzt gab es kein Land mehr, in das wir fliehen konnten – außer vielleicht nach Mexico oder Südamerika. Aber was sollten wir zwei dort anfangen ? Mein Lieber, bis heute hat sich nichts geändert, außer daß ich ein alter Mann geworden bin, und Hannah Basia in den fünfzigern ist. Aber Sie sollten sie sehen : ihr Haar ist noch immer wie Gold, und ihr Gesicht ist das eines jungen Mädchens. Man sagt, das kommt vom reinen Gewissen. Als Krieg war und sie hörte, wie man die Juden in Europa quälte, begann sie zu weinen ; sie weinte jahrelang. Sie fastete und sprach Gebete, wie es die gottesfürchtigen Frauen in meinem Heimatdorf getan hatten. Irgendeine Organisation machte bekannt, daß sie Pakete nach Rußland schicke, und jeden Cent, den ich ihr gab, schickte Hannah Basia dorthin. Sie war so verstört, daß sie ganz vergaß, daß ich ein armer Versicherungsagent 283
war, und nahm von mir große Beträge an, die ich angeblich für mein Alter zurückgelegt hatte. Wäre sie nicht Hannah Basia gewesen, sie hätte gemerkt, daß da etwas nicht stimmte. Aber Verdacht lag ihr nicht. Sie kannte den Wert des Geldes kaum – besonders wenn es sich um Schecks handelte. Ich wußte, daß die gewitzten Leute, die die Pakete schickten, sie vorn und hinten betrogen, aber ich wußte auch, daß es, wenn nur einer von hundert Dollar seine Bestimmung erreichte, eine gute Tat war. Außerdem, hätte ich Hannah Basia gesagt, daß Leute mit Bärten und Schläfenlocken Flüchtlinge beraubten, sie hätte einen Herzanfall bekommen können. Schließlich gab ich ihr so viel, daß ich ihr erzählen mußte, ich sei mit einer Hilfsorganisation in Verbindung, die mir Zuwendungen mache. Sie bezweifelte nichts. Später, als Palästina ein jüdischer Staat wurde und die Schwierigkeiten mit den Arabern anfingen, versuchte sie wieder zu helfen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich bekomme immer noch Geld von all diesen nicht vorhandenen Komitees.« Sam Palka blinzelte mir zu und lachte. Er zog an seiner ausgegangenen Zigarre und warf sie dann in den Aschbecher. Er zündete eine andere an und sagte : »Sie können mich einen Scharlatan nennen, aber ich war bis heute nicht fähig, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie liebte David Wischkower, den armen Mann, das Opfer einer bösen Frau, nicht Sam Palka, den Hausbesitzer, Millionär, Weiberheld und Spieler. Es 284
mußte alles bleiben wie bisher. Ich gehe immer noch zu ihr in die Blake Avenue. Die Gegend ist jetzt fast ganz schwarz geworden. Hannah Basia macht das nichts. ›Hier habe ich gelebt‹, sagte sie, ›und hier will ich sterben.‹ Ich gehe am Morgen zu ihr, bleibe den Tag über bei ihr – wir gehen etwas spazieren und gleich nach dem Abendessen gehen wir zu Bett. Man kennt mich dort. Die Schwarzen und die Puertoricaner sagen : ›Hi, Mr. Wischkower.‹ Wir essen immer noch geröstete Hafergrütze, Nudeln mit Bohnen und Buchweizengrütze mit Milch, und wir reden von der alten Heimat, als seien wir erst gestern vom Schiff an Land gegangen. Es ist kein Spiel mehr. Für sie ist Bessie immer noch am Leben und macht mir das Dasein schwer. Sie glaubt, daß ich von einer kleinen Pension der Versicherungsgesellschaft und von der Altersrente lebe. Ich verliere immer noch die Knöpfe von meinem Jackett und an der Hose, und Hannah Basia näht sie immer wieder an. Sie bittet mich, ich soll ihr meine Hemden bringen, damit sie sie waschen kann. Sie stopft meine Socken. Ein Pyjama, der zwanzig Jahre alt ist, hängt bei ihr im Badezimmer. Jedesmal, wenn ich komme, muß ich über Bessie berichten. Ist sie immer noch so böse ? Ist sie mit den Jahren nicht weicher geworden ? Ich sage ihr, daß das Alter nicht den Charakter ändert – schlecht bleibt schlecht. Hannah Basia hat mich gebeten, auf dem Friedhof der Landsleit von Wysoka einen Platz zu kaufen, damit wir nach unserem Tode nebeneinander liegen können. Ich 285
habe es getan, obgleich ein anderer Platz schon auf mich wartet, neben Bessies Grab. Ich werde zweimal sterben müssen. Wenn ich sterbe, wird Hannah Basia über mein Legat für sie erstaunt sein. Ich habe für sie eine Lebensversicherung über fünfzigtausend Dollar abgeschlossen. Auch das Haus in der Blake Avenue wird ihr gehören. Aber was wird sie damit anfangen ? Es kommt die Zeit, wenn Geld einem nichts mehr nützt. Wir leben beide streng Diät. Sie kocht jetzt mit Pflanzenöl statt mit Butter. Ich habe Angst, ein Stückchen Babka zu essen. Eines Tages saß ich mit Hannah Basia zusammen und wir sprachen von den alten Zeiten – als noch Mazze gebacken wurde, man sich Purimgeschenke machte, und die Fenster für Schawuot schmückte –, und plötzlich fragte sie : ›Was ist mit deiner Frau ? Wird sie nie sterben ?‹ Ich antwortete : ›Unkraut vergeht nicht.‹ Hannah Basia sagte : ›Ich möchte immer noch vor Gott und den Menschen deine Frau werden, und sei es nur für ein Jahr.‹ Als ich diese Worte hörte, geriet ich außer mir. Am liebsten hätte ich ausgerufen : ›Hannah Basia, mein Liebling, niemand steht uns mehr im Weg. Komm mit mir aufs Rathaus, und wir lassen uns trauen.‹ Aber das hieße David Wischkower umbringen. Lachen Sie nicht – für mich ist er eine wirkliche Person. Ich habe so lange mit ihm gelebt, daß er mir näher steht als Sam Palka. Wer ist Sam Palka ? Ein alter Wüstling, der ein Vermögen gemacht hat und nicht 286
weiß, was er damit anfangen soll. David Wischkower ist ein Mann, wie mein Vater einer war, er möge in Frieden ruhen. Ja, und was würde aus Hannah Basia werden, wenn sie die Wahrheit erfahren sollte ? Anstatt die Frau von Sam Palka zu werden, würde sie die Witwe von David Wischkower sein.«
Leon, oder Chaim Leib, Die Geschichte Bardeles goß Rahm in zweier Schwestern seinen Kaffee. Er tat eine Menge Zucker hinzu, kostete, verzog das Gesicht, goß mehr Rahm hinein und biß ein Stück von der Makrone ab, die der Kellner ihm gebracht hatte. Er sagte : »Ich trinke meinen Kaffee gerne süß, nicht bitter. In Rio de Janeiro trinkt man winzige Tassen Kaffee, der gallebitter ist. Hier kann man ihn auch so bekommen – Espresso –, aber ich bevorzuge Kaffee im Glas, wie wir es in Warschau gewöhnt waren. Wenn ich hier so mit Ihnen sitze, vergesse ich ganz, daß ich in Buenos Aires bin. Es kommt mir vor, als säßen wir im Café Lours in Warschau. Was sagen Sie zu dem Wetter hier ? Ich habe lange gebraucht, bis ich mich daran gewöhnt hatte, daß Sukkot im Frühling und das Passahfest im Herbst gefeiert wird. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Verwirrung dieser auf den Kopf gestellte Kalender bei unseren Leuten hervorruft. Chanukka fällt in die Zeit der Hitzewelle, und man zerschmilzt. Und an Schawuot ist es kalt. Na, immerhin sind die Frühlingsdüfte wenigstens die gleichen – der Flieder duftet ebenso wie der, der von den Praga-Wäldern und dem Sächsischen Garten herüberwehte. Ich erkenne die Gerüche wieder, aber ich kann sie nicht beim Namen nennen. Die nichtjüdischen Schriftsteller zählen alle Blumen und Pflanzen auf, aber wie viele Namen gibt es im Jiddischen 289
für Blumen ? Ich kenne nur zwei Arten von Blumen – Rosen und Lilien. Wenn ich einmal in ein Blumengeschäft gehe, um für jemanden einen Strauß zu kaufen, verlasse ich mich immer auf die Verkäuferin. Trinken Sie Ihren Kaffee !« »Erzählen Sie die Geschichte«, sagte ich. »Ja, kann man die überhaupt erzählen ? Wo soll ich anfangen ? Ich habe Ihnen versprochen, alles zu erzählen, die ganze Wahrheit, aber kann man die Wahrheit wirklich sagen ? Warten Sie, ich muß erst eine Zigarette rauchen. Und zwar eine von Ihren amerikanischen Zigaretten.« Leon Bardeles zog eines der Päckchen heraus, die ich ihm aus New York mitgebracht hatte. Ich kannte ihn schon über dreißig Jahre. Ich hatte sogar einmal eine Einleitung zu einem Band seiner Gedichte geschrieben. Er war dreiundfünfzig oder vierundfünfzig Jahre alt, hatte sowohl die Hitlerhölle wie den Stalinterror überstanden, sah aber für sein Alter recht jung aus. Er hatte einen schwarzen lockigen Schopf, große schwarze Augen, eine volle Unterlippe, und sein Hals und seine Schultern drückten männliche Kraft aus. Er trug noch immer ein Hemd mit einem Kragen à la Slowacki, wie früher in Warschau. Er blies Rauchringe in die Luft und starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an wie ein Maler sein Modell. Er sagte : »Ich werde in der Mitte anfangen. Aber ich bitte Sie, fragen Sie mich nicht nach Daten, denn 290
was das angeht, so bin ich völlig verwirrt. Es muß 1946 gewesen sein, oder vielleicht auch Ende 45. Ich hatte das Rußland Stalins verlassen und war nach Polen zurückgekehrt. In Rußland hätte ich eigentlich der Polnischen Armee beitreten sollen, aber ich habe mich gedrückt. Ich ging durch Warschau, und ich sah die Ruinen des Gettos. Sie werden es kaum für möglich halten, aber ich ging tatsächlich auf die Suche nach dem Haus, in dem ich 1939 gewohnt hatte – vielleicht würde ich zwischen den Backsteinen etwas von meinen Manuskripten wiederfinden. Die Aussicht, das Haus in der Nowolipki Straße zu erkennen und nach all den Bombenangriffen und Bränden ein Manuskript zu finden, war weniger als Null, aber ich erkannte die Hausruine und fand eines meiner Bücher, und zwar gerade das mit Ihrer Einleitung. Nur die letzte Seite fehlte. Ich war überrascht, aber nicht allzusehr. In meinem Leben haben sich so unglaubliche Dinge zugetragen, daß ich vollkommen blasiert geworden bin. Käme ich heute abend nach Hause und fände meine verstorbene Mutter dort, würde ich nicht mit der Wimper zukken. Ich würde sagen : ›Mamma, wie geht’s dir ?‹ Von Warschau aus stolperte ich weiter nach Lublin und von dort nach Stettin. Die meisten Städte waren nur noch Ruinen, und wir schliefen in Ställen, Baracken und auch auf den Straßen. Man schilt mich hier in Buenos Aires, daß ich nicht meine Erinnerungen schreibe. Erstens bin ich kein Prosaschriftsteller, 291
zweitens geht in meinem Kopf alles durcheinander, besonders Daten und Namen von Städten, und ich bin ganz sicher, ich würde so einen Haufen von Irrtümern zusammenbrauen, daß man mich einen Lügner und Fälscher nennen würde. Einige der Flüchtlinge waren halbverrückt. Eine Frau hatte ihr Kind verloren und suchte nach ihm in Gräben, in Heuhaufen und an den unwahrscheinlichsten Orten. Ein Deserteur von der Roten Armee hatte sich in den Kopf gesetzt, daß unter dem Schutt in Warschau Schätze begraben seien. Er stand in der bitteren Kälte und grub mit einem Spaten zwischen den Steinen. Diktaturen, Kriege und Grausamkeiten haben ganze Länder in den Wahnsinn getrieben. Meine Theorie ist die : die menschliche Spezies war von Anfang an verrückt, und Zivilisation und Kultur haben den Wahnsinn noch gesteigert. Nun ja, Sie wollen Tatsachen. Die Tatsachen, um es kurz zu machen, waren folgende : in Stettin hatte ich eine Frau getroffen, die mich buchstäblich auf den ersten Blick verhexte. Sie wissen, es hat viele Frauen in meinem Leben gegeben. In Rußland fehlte es an allem, nur nicht an der sogenannten Liebe. So wie ich gebaut bin, kann mich nichts, weder Gefahr, Krisen, Hunger noch Krankheit von dem abbringen, was man heutzutage Libido nennt, oder was sich die Professoren sonst noch für Namen dafür ausdenken können. Das war von der romantischen Liebesvorstellung unserer Jugend so weit entfernt wie wir vom Jupiter. Und plötzlich 292
stehe ich vor einer Frau und starre sie an, als hätte ich nie zuvor ein weibliches Wesen gesehen. Beschreiben kann ich sie nicht. Dafür habe ich kein Talent. Sie hatte langes schwarzes Haar und eine Haut weiß wie Marmor. Sie müssen mir diese Banalitäten verzeihen. Augen hatte sie, die dunkel waren und seltsam verängstigt. In jenen Tagen war Angst nichts Besonderes. Man riskierte jeden Augenblick sein Leben. Die Russen wollten uns nicht aus dem Land herauslassen und nach Palästina konnten wir nur illegal gelangen, denn die Engländer wollten uns nicht hereinlassen. Man hatte uns falsche Papiere verschafft, aber es war ziemlich deutlich, daß sie nicht in Ordnung waren. Ihre Augen spiegelten jedoch eine andere Art von Furcht wider. Es war, als ob dieses Mädchen von einem anderen Stern auf die Erde gefallen sei und nicht wüßte, wo sie sich befand. Kann sein, daß die gefallenen Engel so ausgesehen haben. Aber sie war ja ein Mensch. Sie trug geplatzte Schuhe und ein prachtvolles Nachthemd, das sie für ein Kleid hielt. Das ›Joint Distribution Committee‹ hatte Unterwäsche und Kleidung nach Europa geschickt, die von reichen Amerikanerinnen gespendet worden waren, und sie hatte das kostbare Nachthemd erhalten. Neben der Furcht sprach aus ihrem Gesicht eine seltene Vornehmheit. All dies paßte nicht recht zu der Wirklichkeit. So zarte Geschöpfe überlebten im allgemeinen den Krieg nicht. Sie starben wie die Fliegen. Die überlebten, waren die Starken, die Entschlos293
senen und oft genug jene, die über Leichen gingen. Trotz all meiner Weibergeschichten bin ich im Grunde schüchtern. Ich bin nie der, der den ersten Schritt tut. Aber ich konnte mich buchstäblich nicht loßreissen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte sie, ob ich ihr helfen könnte. Ich sprach sie auf polnisch an. Erst schwieg sie, und ich vermutete schon, daß sie stumm sei. Sie sah mich mit der Hilflosigkeit eines Kindes an. Dann antwortete sie : ›Danke, Sie können mir nicht helfen.‹ Wenn man mich so zurückstößt, gebe ich es gewöhnlich gleich auf, aber diesmal hielt mich etwas zurück. Es stellte sich heraus, daß sie aus einem chassidischen Haus kam und die Tochter eines Warschauer Hausbesitzers war, einem Anhänger des Alexandrower Rabbi. Debora oder Dora war eines jener chassidischen Mädchen, die in einer fast assimilierten Atmosphäre aufwuchsen. Sie hatte ein privates Mädchengymnasium besucht, hatte Klavierunterricht und Tanzstunden genommen. Gleichzeitig kam die Witwe eines Rabbiners in ihr Elternhaus, um sie in den Gebeten und der jüdischen Lehre zu unterweisen. Vor dem Krieg hatte sie zwei ältere Brüder, von denen der eine bereits in Bedzin verheiratet war, während der jüngere in einer Jeschiwa lernte. Sie hatte auch eine ältere Schwester. Der Krieg machte kurzen Prozeß mit der ganzen Familie. Der Vater wurde von einer deutschen Bombe getötet, der ältere Bruder in Bedzin von den Nazis erschossen, der jünge294
re Bruder wurde zur polnischen Armee eingezogen und fiel irgendwo, die Mutter starb an Unterernährung und einer Nierenkrankheit im Warschauer Getto, die Schwester Itta verschwand, und Dora wußte nicht, wo sie war. Dora hatte eine Französischlehrerin gehabt, eine Christin, die im ›judenreinen‹ Teil der Stadt wohnte, eine alte Jungfer mit Namen Elzbieta Dolanska, und die hat Dora gerettet. Wie sie es machte, würde zu lange dauern zu erzählen. Dora lebte zwei Jahre in einem Keller, und die Lehrerin brachte sie mit ihren letzten Spargroschen durch. Eine Heilige von einer Frau, die während des polnischen Aufstands umkam. So belohnt der Allmächtige die guten Taten der Nichtjuden. Ich habe das nicht etwa alles auf einmal von ihr erfahren, sondern nacheinander, jedes Wort mußte ich aus ihr herausziehen. Ich sagte zu ihr : ›In Palästina wirst du wieder auf die Beine kommen. Dort wirst du unter Freunden sein.‹ ›Ich kann nicht nach Palästina gehen‹, sagte sie. ›Warum nicht ? Wohin denn ?‹ ›Ich muß nach Kuibyschew.‹ Ich traute meinen Ohren nicht. Stellen Sie sich das vor – damals eine Reise von Stettin zurück zu den Bolschewisten – und nach Kuibyschew. Der Weg war voller Gefahren. ›Was hast du in Kuibyschew zu suchen ?‹ fragte ich sie, und sie erzählte mir eine Geschichte, die ich für die Ausgeburt eines kranken Gehirns gehalten hät295
te, wenn ich sie später nicht bestätigt gefunden hätte. Itta war aus dem Zug gesprungen, der sie in das Konzentrationslager bringen sollte, und hatte sich durch Felder und Wälder nach Rußland durchgeschlagen. Dort hatte sie mit einem jüdischen Ingenieur zusammengelebt, der einen hohen Rang in der Roten Armee bekleidete. Dieser Offizier wurde dann im Krieg getötet und Itta wurde darüber wahnsinnig. Sie kam in ein Irrenhaus in jener Gegend. Durch einen reinen Zufall, eigentlich durch ein Wunder, erfuhr Dora, daß ihre Schwester noch am Leben war. Ich fragte sie : ›Wie kannst du deiner Schwester helfen, wenn sie irrsinnig ist ? Dort erhält sie wenigstens ärztliche Pflege. Was kannst du für eine geistesgestörte Frau tun, wenn du selbst weder Geld noch eine Wohnung, noch einen Groschen besitzt ? Ihr werdet beide umkommen.‹ Und sie sagte : ›Du hast vollkommen recht, aber sie ist die einzige Überlebende meiner Familie, und ich kann nicht zulassen, daß sie den Rest ihres Lebens in einer russischen Irrenanstalt verbringt. Vielleicht wird es ihr guttun, wenn sie mich sieht.‹ Es ist an sich nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer Menschen einzumischen. Der Krieg hatte mich gelehrt, daß man niemandem helfen kann. In Wirklichkeit ging man damals über Gräber. Wenn man jahrelang in Lagern und Gefängnissen verbracht und zehnmal am Tage dem Tod ins Gesicht gesehen hat, verliert man jegliches Mitgefühl. Aber als ich hörte, 296
was dieses Mädchen im Sinn hatte, überkam mich ein Gefühl des Mitleids, wie ich es nie zuvor empfunden hatte. Wieder und wieder versuchte ich, ihr das Vorhaben auszureden. Ich kam mit tausend Gründen. Sie sagte : ›Ich weiß, du hast recht. Aber ich muß dorthin zurückkehren.‹ ›Wie willst du hinkommen ?‹ fragte ich sie, und sie antwortete : ›Ich bin bereit, zu Fuß zu gehen.‹ ›Ich fürchte‹, sagte ich, ›du bist genauso verrückt wie deine Schwester.‹ Und sie antwortete : ›Ich glaube, daß du recht hast.‹ Nach alledem, was er bei seinem Umherirren gelitten hatte, gab der Mensch, der hier neben Ihnen sitzt, seine Chance nach Israel zu gehen auf – was damals sein größter Traum gewesen war –, und ich zog mit diesem fremden Mädchen nach Kuibyschew. In Wirklichkeit war das ein Selbstmordversuch. Eines wurde mir damals klar, Mitleid ist eine Form der Liebe und tatsächlich ihr höchster Ausdruck. Ich werde Ihnen die Reise nicht beschreiben – es war keine Reise, sondern eine Odyssee. Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Roten uns zweimal während der Reise verhafteten, und um ein Haar wären wir beide entweder im Gefängnis oder in einem Arbeitslager gelandet. Dora benahm sich auf dieser Fahrt auf seltsam heroische Weise, aber ich hatte das Gefühl, es geschah wohl mehr aus Resignation als aus Heldenmut. Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen – 297
sie war eine Jungfrau und unter ihrer Verzweiflung schlummerte eine leidenschaftliche Natur. Ich war daran gewöhnt, daß Frauen mich liebten, aber dies hier war anders als alles, was ich bisher erfahren hatte. Sie klammerte sich an mich mit einer Mischung aus Verzweiflung und Liebe, die mich erschreckte. Sie war gebildet, und in dem Keller, in dem sie zwei Jahre versteckt gelebt hatte, hatte sie eine ganze Bibliothek polnischer, französischer und deutscher Bücher gelesen, aber es fehlte ihr jegliche Lebenserfahrung. Jede Kleinigkeit jagte ihr Furcht ein. In ihrem Versteck hatte sie sowohl christliche Bücher wie auch die Werke der Mme. Blavatsky gelesen, außerdem okkulte und theosophische Schriften, die Fräulein Dolanska von einer Tante geerbt hatte. Dora sprach dauernd von Jesus und von Geistern, aber ich hatte keine Geduld dafür, obwohl ich selbst während der Massenvernichtung ein Mystiker geworden war, oder zumindest ein Fatalist. Merkwürdigerweise verband sich all dies bei ihr mit ihrem jüdischen Elternhaus. Es war nicht besonders schwierig über die russische Grenze zu gelangen, aber die Züge waren überfüllt. Plötzlich wurde die Lokomotive abgehängt, an andere Wagen angehängt, und wir blieben tagelang irgendwo auf der Strecke liegen. In den Waggons bekriegten sich die Leute unentwegt. Irgendein Zank brach aus, und man schob sich gegenseitig aus dem Waggon. Leichen lagen neben den Geleisen. Innen herrschte eine fürchterliche Kälte. Auf den offe298
nen Güterwagen wurden die Leute eingeschneit. In den geschlossenen Wagen mußte man einen Nachttopf oder eine Flasche bei sich haben, falls man austreten wollte. Auf dem Dach des Waggons hatte ein Bauer gesessen, und als der Zug in einen Tunnel einfuhr, wurde ihm der Kopf abgerissen. Und so gelangten wir nach Kuibyschew. Während der ganzen Fahrt konnte ich nicht aufhören, mich über mich selbst und was ich getan hatte, zu wundern. Diese Sache mit Dora war nicht einfach irgendeine Liebschaft. Ich hatte mich mit ihr auf immer verbunden. Jemanden wie sie zu verlassen, wäre das gleiche, wie ein Kind in einem Wald auszusetzen. Noch ehe wir an unserem Ziel angekommen waren, gerieten wir in allerlei Konflikte, die alle dadurch hervorgerufen wurden, daß Dora mich auch nicht eine Minute allein lassen wollte. Wenn der Zug an einer Station hielt und ich versuchen wollte, irgend etwas zu essen oder heißes Wasser zu holen, ließ sie mich nicht aussteigen. Sie hatte den Verdacht, daß ich versuchen könnte, sie zu verlassen. Sie klammerte sich an meinen Ärmel und zerrte mich zurück. Die Mitreisenden, besonders die Russen, hatten etwas, über das sie sich lustig machen konnten. Ein Anflug von Wahnsinn schien in der ganzen Familie zu liegen ; er drückte sich in Angst aus, in Mißtrauen und einer Art Mystik, die aus den Zeiten stammte, als der Mensch noch in Höhlen lebte. Wie dieses primitive Erbe von dort bis in eine wohlhabende chassidische 299
Familie in Warschau gelangt war, ist ein Geheimnis. Dieses ganze Abenteuer, das ich erlebt habe, ist mir bis zum heutigen Tage ein Rätsel geblieben. Endlich erreichten wir Kuibyschew, und da schien alles umsonst gewesen zu sein. Keine Schwester und auch keine Irrenanstalt. Das heißt, es gab schon eine Irrenanstalt, aber die war nur für Ortsansässige. Die Nazis hatten bei ihrem Rückzug alle Hospitäler, Kliniken und Anstalten zerstört. Die Kranken hatten sie erschossen oder vergiftet. Bis Kuibyschew waren die Nazimörder nicht gekommen, aber das Hospital war überfüllt mit Schwerverwundeten. Wem kam es in jenen Tagen in den Sinn, sich um die Geisteskranken zu kümmern ? Eine Frau hatte Dora alle Einzelheiten berichtet. Der Name des jüdischen Offiziers war Lipman gewesen, die Frau war eine Verwandte von ihm, und sie hatte keinen Grund zu schwindeln. Können Sie sich die Enttäuschung vorstellen ? Wir hatten die ganze Reise mit all ihrem Elend für nichts durchgestanden. Aber warten Sie, wir fanden Itta doch, aber nicht in einer Irrenanstalt, sondern in einem Dorf, wo sie mit einem alten Juden lebte, einem Schuhmacher. Die Frau hatte sich nichts ausgedacht. Itta hatte an einer Depression gelitten, und man hatte sie in irgendeiner Anstalt behandelt und nach einer Weile entlassen. Ich habe nie alle Einzelheiten erfahren, und selbst das, was sie mir erzählte, habe ich später vergessen. Die ganze Massenvernichtung ist eng verknüpft mit Gedächtnisverlust. 300
Der Schuhmacher war ein polnischer Jude, sogar aus einem Ihrer Städtchen, Bilgoraj oder Janów, ein alter Mann von fast achtzig Jahren, aber noch sehr rüstig. Fragen sie mich nicht, wie er nach Kuibyschew geraten ist oder warum Itta zu ihm gezogen ist. Er lebte in einer Bruchbude, aber er konnte Stiefel und Schuhe flicken, und das braucht man überall. Da saß er mit seinem langen weißen Bart, von alten Schuhen umgeben, in einer Hütte, die eher ein Hühnerkäfig war, und wenn er die Nägel hämmerte oder den Faden durchzog, murmelte er einen Psalm vor sich hin. Vor dem Lehmofen stand eine rothaarige Frau –barfuß, zerlumpt, ungekämmt und halbnackt – und kochte Grütze. Dora erkannte ihre Schwester sofort, aber die andere erkannte Dora nicht. Als Itta endlich begriff, daß dies ihre Schwester war, weinte sie nicht, sondern begann wie ein Hund zu bellen. Der Schuhmacher bewegte sich betend auf seinem Schemel vor und zurück. Angeblich sollte in der Nähe eine Kolchose sein, eine Gemeinschaftssiedlung, aber alles, was ich entdecken konnte, war ein herkömmliches russisches Dorf mit Holzhütten, einer kleinen Kirche, hohem Schnee und von Hunden oder elenden Kleppern gezogenen Schlitten, genauso wie ich es oft in russischen Schulbüchern gesehen hatte. Wer weiß, dachte ich, vielleicht ist die ganze Revolution nur ein Traum gewesen. Vielleicht sitzt Nikolaus noch immer auf dem Thron. Während des Krieges und auch später 301
war ich oft Zeuge gewesen, wenn nahe Menschen sich wiederfanden, aber diese beiden führten ein erschütterndes schwesterliches Drama auf. Sie küßten sich, leckten sich, heulten laut. Der alte Man murmelte mit seinem zahnlosen Mund : ›Welch Jammer, welch Jammer …‹ Dann wandte er sich wieder seinen Schuhen zu. Er schien taub zu sein. Zu packen gab es nichts. Alles, was Itta besaß, war ein Paar Schuhe mit dicken Sohlen und Absätzen und ein Lammfellmantel ohne Ärmel. Der alte Mann holte irgendwo einen Laib schwarzen Brotes hervor, und Itta steckte ihn in ihren Sack. Sie küßte die Hände des alten Mannes, seine Stirn und seinen Bart und fing von neuem an zu bellen, als ob sie von dem Geist eines Hundes besessen sei. Diese Itta war größer als Dora. Sie hatte grüne Augen, die furchtsam blickten wie die eines Tieres. Ihr Haar war von einem ungewöhnlichen Rot. Um Ihnen zu erzählen, wie wir von Kuibyschew nach Moskau und von dort zurück nach Polen gelangten, müßte ich bis morgen früh hier mit Ihnen sitzen. Wir schleppten uns vorwärts und schmuggelten uns durch, jeden Moment in Gefahr, festgenommen, getrennt oder umgebracht zu werden. Aber der Sommer war gekommen, und nach vielen Mühen gelangten wir endlich nach Deutschland und von dort nach Paris. Wenn ich es so erzähle, klingt es ganz einfach. In Wirklichkeit war es bereits Ende 1946, als wir in Frankreich ankamen, oder vielleicht war es auch schon 1947. Einer der Sozialarbeiter des ›Joint‹ war 302
ein Freund von mir, ein junger Mann aus Warschau, der 1932 nach Amerika gegangen war. Er konnte Englisch und auch noch andere Sprachen. Sie können sich nicht vorstellen, welche Macht die Amerikaner damals besaßen. Durch ihn hätte ich ganz- leicht ein Visum nach Amerika bekommen können, aber Dora war fest davon überzeugt, daß ich dort eine Freundin hätte. So besorgte uns der ›Joint‹, in Wirklichkeit der gleiche junge Mann, eine kleine Wohnung in Paris, was damals keineswegs leicht war. Von seiner Organisation erhielten wir auch eine monatliche Unterstützung. Ich weiß, was Sie mich jetzt fragen wollen – haben Sie ein wenig Geduld. Ja, ich lebte mit beiden. Dora hatte ich in Deutschland offiziell geheiratet – sie wollte unter dem Hochzeitsbaldachin stehen und so geschah es –, aber in Wirklichkeit hatte ich zwei Frauen, zwei Schwestern, wie der Patriarch Jakob. Mir fehlten nur noch Bilha und Silpa ! Was hätte jemanden wie mich zurückhalten sollen ? Die jüdischen Gesetze nicht und die christlichen schon gar nicht. Im Krieg brach die ganze menschliche Kultur zusammen wie ein morsches Haus. In den Lagern – nicht nur in Deutschland, auch in Rußland und später in den Lagern der Heimatlosen, die Jahre dort verbrachten – kannte man keine Scham mehr. Ich weiß von einem Fall, wo eine Frau auf einer Seite ihren Mann und auf der anderen ihren Liebhaber hatte, und alle drei lebten zusammen. Ich habe so phantasti303
sche Dinge erlebt, daß sie mir ganz normal vorkommen. Da kommt ein Schicklgruber oder ein Dschugaschwili und stellt die Uhr zehntausend Jahre zurück. Nicht ganz und gar, wohlgemerkt. Es gab auch Beispiele seltener Frömmigkeit und Aufopferung eines unwichtigen Gesetzes im Schulchan Aruch wegen, oder selbst für irgendeinen Brauch. Aber auch das hat etwas von Faschismus an sich. Nicht, daß ich das so gewollt hatte. Ein Abenteuer haben, ist eine Sache, aber daraus einen Dauerzustand machen, das ist etwas ganz anderes. Aber ich hatte es nicht mehr in der Hand. Von dem Augenblick an, als die beiden Schwestern sich wiedergetroffen hatten, war ich kein freier Mann mehr. Mit ihrer Liebe zu mir versklavten sie mich, ebenso wie mit ihrer Liebe zueinander und mit ihrer Eifersucht. Eben noch küßten sie sich und weinten hingebungsvoll, und plötzlich droschen sie aufeinander ein, rissen sich die Haare aus und fluchten mit Worten, die Sie nicht einmal in der Unterwelt hören würden. Nie in meinem Leben hatte ich solche Hysterie erlebt und solches Geschrei gehört. Alle paar Tage versuchte eine der Schwestern, oder beide, sich das Leben zu nehmen. Einen Augenblick lang war es ruhig. Da saßen wir zu dritt beim Essen oder sprachen über ein Buch oder ein Bild – ganz plötzlich ertönt ein entsetzlicher Schrei, und beide Schwestern wälzen sich auf dem Boden und reißen sich in Stücke. Ich lief hinzu und versuchte, sie zu trennen, und dann er304
wischte ich einen Schlag ins Gesicht oder einen Biß, und ich begann zu bluten. „Warum sie sich schlugen, habe ich nie erfahren. Glücklicherweise wohnten wir im obersten Stock, in einer Dachwohnung, und auf unserem Flur hatten wir keine Nachbarn. Es kam vor, daß eine der Schwestern ans Fenster lief und versuchte, sich hinunterzustürzen, während die andere ein Messer ergriff, um sich den Hals durchzuschneiden. Eine packte ich am Bein und der anderen nahm ich das Messer fort. Sie brüllten mich und sich gegenseitig an. Ich habe immer wieder versucht, herauszufinden, was diese Ausbrüche verursachte, aber allmählich begriff ich, daß sie es selbst nicht wußten. Sie müssen aber wissen, daß beide auf ihre Art intelligent waren. Dora hatte einen ausgezeichneten literarischen Geschmack. Wenn sie etwas über ein Buch sagte, so stimmte es aufs Haar. Itta hatte musikalische Neigungen. Sie konnte ganze Symphonien singen. Waren sie in Form, so zeigten sie große Fähigkeiten. Irgendwo hatten sie eine Nähmaschine aufgetrieben, und aus Stoffetzen und Resten nähten sie sich Kleider, auf die die eleganteste Dame stolz gewesen wäre. Eine Sache war beiden Schwestern gemeinsam, sie hatten keine Spur von gesundem Menschenverstand. Eigentlich hatten sie viele gemeinsame Züge. Manchmal schien es mir, als wären sie zwei Körper mit einer Seele. Hätte es ein Tonbandgerät gegeben, um das festzuhalten, was sie sagten, besonders in der Nacht, Dostojewski würde daneben ba305
nal erscheinen. Sie stießen Anklagen gegen Gott aus, und gleichzeitig jammerten sie über die Massenvernichtung in Ausdrücken, die niemand wiedergeben könnte. Was ein Mensch wirklich ist, zeigt sich erst in der Nacht, im Dunkeln. Heute weiß ich, daß beide von Geburt an wahnsinnig waren, und nicht Opfer der Umstände. Natürlich machten die Umstände alles noch schlimmer. Im Zusammenleben mit ihnen wurde ich ebenfalls ein Psychopath. Wahnsinn ist nicht weniger ansteckend als Typhus. Außer Streiten, Zanken, endlosem Geschichtenerzählen aus den Lagern und ihrem Warschauer Elternhaus, und den Unterhaltungen über Mode, Kleider und was sonst noch alles, hatten die Schwestern ein Lieblingsthema : meinen Verrat. Sie schmiedeten eine Anklage gegen mich, gegen die die Moskauer Prozesse vergleichsweise reine Logik waren. Selbst wenn sie auf dem Sofa saßen, mich küßten, sich übermütig um mich balgten und sich einem Spiel hingaben, das sowohl kindisch wie animalisch und daher undefinierbar war, beschimpften sie mich. Alles lief darauf hinaus, daß ich nur eine Sache im Sinn habe, sie zu betrügen und mich mit anderen Frauen herumzutreiben. Jedesmal, wenn die Hausmeisterin mich ans Telephon holte, kamen sie angelaufen, um zu horchen. Erhielt ich einen Brief, so öffneten sie ihn sofort. Kein Diktator hätte eine so strenge Zensur ausüben können wie diese beiden Schwestern. Ihnen war es völlig klar, daß der Briefträger, die Hausmeisterin, 306
der ›Joint‹ und ich uns gegen sie verschworen hatten, aber welcher Art diese Verschwörung war und welchem Zweck sie diente, das war selbst ihrem getrübten Geist nicht verständlich. Lombroso hat behauptet, daß Genie Wahnsinn sei. Aber er hat vergessen zu sagen, daß Wahnsinn Genie ist. Ihre Hilflosigkeit war auch genial. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß das schiere Überleben während des Krieges bei ihnen jene spezifische Kraft gänzlich aufgebraucht hatte, die jedes menschliche wie tierische Wesen zum Leben braucht. Die Tatsache, daß Itta unfähig gewesen war, eine andere Beschäftigung in Rußland zu finden außer der, Mädchen und Geliebte des alten Schuhmachers zu sein, betonte noch ihren Mangel an Initiative. Die beiden spielten oft mit der Idee, in Paris in einen Haushalt zu gehen oder als Erzieherin oder etwas ähnliches, aber es war sowohl mir wie ihnen klar, daß sie in keiner Stellung länger als ein paar Stunden bleiben würden. Sie waren die faulsten Geschöpfe, die mir je begegnet sind, obwohl sie von Zeit zu Zeit von einem Anfall von Energie und Tatendrang gepackt wurden, der genauso übertrieben war wie ihre übliche Faulheit. Zwei Frauen hätten imstande sein sollen, die Wohnung in Ordnung zu halten, aber bei uns herrschte immer ein wüstes Durcheinander. Wenn sie eine Mahlzeit gekocht hatten, ging die Streiterei los, wer abwaschen solle, und dann war es Zeit für die nächste Mahlzeit. Tage, manchmal Wochen vergingen, ohne daß wir etwas Gekochtes zu 307
essen bekamen. Die Bettwäsche war oft schmuddelig, und wir hatten Küchenschaben und anderes Ungeziefer. Die Schwestern waren nicht etwa körperlich unsauber. Jeden Abend setzten sie große Töpfe Wasser auf und verwandelten die Wohnung in eine Badeanstalt. Das Wasser lief in die untere Wohnung, und der Mieter, ein alter französischer Adliger, schlug gegen unsere Tür und drohte mit der Polizei. In Paris hungerte man, aber in meinem Haushalt wurden Lebensmittel in den Abfallkübel geworfen. Die Wohnung war mit allerhand Plunder vollgestopft. Die Kleider, die sie sich genäht hatten, oder die das Komitee ihnen gegeben hatte, trugen sie fast nie, sondern liefen halbnackt und barfuß herum. So ähnlich die Schwestern einander waren, so verschieden waren sie auch. Itta war von einer Brutalität, die zu einem Mädchen aus chassidischem Hause überhaupt nicht paßte. Viele ihrer Geschichten drehten sich um Prügel, und ich wußte, daß Blutvergießen und Gewalt jeder Art sie sexuell erregten. Sie hatte mir erzählt, daß sie einmal, als sie noch zu Hause lebte, ein Messer geschärft und drei Enten geschlachtet hatte, die ihre Mutter in einem Verschlag hielt. Ihr Vater hatte sie dafür verdroschen, und Dora warf ihr dies immer wieder vor, wenn sie sich zankten. Itta war ungewöhnlich kräftig, aber wann immer sie versuchte, irgend etwas zu tun, gelang es ihr, sich zu verletzen. Sie war immer von oben bis unten mit Bandagen und Pflastern bedeckt. Sie deutete oftmals 308
an, daß sie sich an mir rächen würde, obwohl ich sie von Sklaverei und Armut befreit hatte. Ich hatte den Verdacht, daß sie eigentlich gerne bei dem alten Schuhmacher geblieben wäre ; vielleicht hätte sie dann ihre Familie und besonders Dora, mit der sie eine Haß-Liebe-Beziehung verband, vergessen können. Diese Feindseligkeit zeigte sich bei jedem Streit. Dora war diejenige, die schrie, weinte und schimpfte, während Itta Schläge austeilte. Ich hatte oft Angst, daß sie Dora in ihrer Wut umbringen könnte. Dora war gebildeter, kultivierter und von krankhafter Phantasie besessen. Sie schlief unruhig und erzählte mir immer ihre Träume, die sexueller Natur, teuflisch und verworren waren. Sie wachte auf und zitierte Bibelverse. Sie versuchte, Gedichte auf Polnisch und Jiddisch zu schreiben. Sie hatte sich eine Art persönlicher Mythologie ausgedacht, Ich sagte ihr oft, daß sie von einem Dibbuk besessen sei, und zwar von einem der Anhänger Sabbatai Zevis oder Jakob Franks. Die Einrichtung der Polygamie hatte mich schon immer mit Neugier erfüllt. Kann man Eifersucht völlig ausrotten ? Kann man jemanden, den man liebt, mit anderen teilen ? In gewissem Sinne nahmen wir an einem Experiment teil, auf dessen Ergebnisse wir alle drei gespannt waren. Je länger die Situation andauerte, desto klarer wurde uns, daß es so nicht weitergehen könne. Irgend etwas mußte geschehen, und wir wußten, es würde etwas Böses sein, eine Kata309
strophe. Jeder Tag brachte neue Krisen, jede Nacht beschwor die Drohung eines Skandals oder der Impotenz herauf. Obwohl unsere Mitbewohner auf der unteren Etage ihre eigenen Sorgen hatten und von der deutschen Besetzung her allerlei gewohnt waren, so fingen sie doch an, uns mißtrauisch zu betrachten, herumzuschnüffeln und mißbilligend die Köpfe zu schütteln. Und obgleich unser Verhalten sündhaft war, wirkte sich dennoch unsere religiöse Erziehung dahin aus, daß sie Forderungen an unsere Jüdischkeit stellte. Dora sprach den Segen über die Sabbatkerzen am Freitagabend und saß dann herum und rauchte Zigaretten. Sie hatte sich ihre eigene Auslegung des Schulchan Aruch zurechtgemacht, nach der Schweinefleisch verboten, aber Pferdefleisch erlaubt war, nach der es zwar keinen Gott gab, aber man Jom Kippur fasten und Pessach Mazze essen mußte. Itta war in Rußland Atheistin geworden, so sagte sie wenigstens, aber jeden Abend vor dem Schlafengehen murmelte sie ein Abendgebet oder irgendeine Beschwörung. Wenn ich ihr eine Münze gab, so spuckte sie darauf, um den bösen Blick abzuwenden. Stand sie morgens auf, so verkündete sie : ›Heute ist ein unglücklicher Tag … irgend etwas Furchtbares wird geschehen …‹ Unweigerlich passierte ihr etwas : sie verletzte sich oder zerbrach einen Teller, oder sie zerriß sich einen Strumpf. Dora verwaltete das Haushaltsgeld. Ich gab ihr immer mehr, als sie brauchte, denn ich erhielt Stipendi310
en von einigen Stiftungen und später auch Geld von meinen Verwandten aus Amerika. Nach einiger Zeit merkte ich, daß sie sich einen kleinen Notgroschen beiseite gebracht hatte. Ihre Schwester wußte offenbar davon und war an der Beute beteiligt. Ich hörte oft, wie sie von Geld flüsterten und darüber stritten. Die Hauptsache habe ich unerwähnt gelassen – Kinder. Beide Schwestern wollten ein Kind von mir, und daraus erwuchsen viele Auseinandersetzungen. Ich war absolut dagegen. Wir lebten von Almosen. Jedesmal, wenn die Unterhaltung sich wieder um Kinder drehte, hatte ich die gleiche Antwort zur Hand : ›Wozu ? Damit der nächste Hitler jemanden zu verbrennen hat ?‹ Bis heute habe ich keine Kinder. Was mich angeht, ich will der menschlichen Tragödie ein Ende bereiten. Ich vermute, daß weder Dora noch Itta imstande gewesen wären, Kinder zu bekommen. Solche Frauen sind wie Maulesel. Ich werde nie begreifen, wie es möglich war, daß ein chassidischer Jude zwei solche Töchter hatte. Wir sind Träger verirrter Gene, die bis auf die Zeit Dschingis-Khans zurückreichen, oder weiß der Teufel, wie weit. Das Unheil, das wir die ganze Zeit gefürchtet hatten, kam auf stille Art. Die Auseinandersetzungen ließen allmählich nach und machten einer Depression Platz, die uns alle drei verzehrte. Es fing damit an, daß Dora krank wurde. Was eigentlich bei ihr nicht stimmte, habe ich nie herausbekommen. Sie verlor an Gewicht und hustete viel. Ich hatte Verdacht auf Schwindsucht 311
und ging mit ihr zum Arzt, aber er fand keine Anhaltspunkte für eine Krankheit. Er verschrieb Vitamine und Eisen, was nichts half. Dora wurde auch frigide. Sie hatte keine Lust mehr zu unseren gemeinsamen nächtlichen Spielen und dem albernen Schmus. Sie verschaffte sich sogar ein Klappbett und stellte es in der Küche auf. Ohne Dora verlor auch Itta das Interesse an unserem Dreieckspiel. Sie war nie diejenige gewesen, die die Initiative ergriffen hatte ; in Wirklichkeit tat sie nur, was Dora ihr zu tun befahl. Itta war eine starke Esserin und eine laute Schläferin. Sie schnarchte und schnaufte im Schlaf. Bald ergab sich eine Situation, in der ich statt zwei Frauen keine Frau hatte. Wir waren, nicht nur in der Nacht schweigsam, sondern auch am Tage ; dumpfe Mürrischkeit erfüllte uns. Früher hatten mich das dauernde Geschwatze, die endlosen Streitereien und das übertriebene Lob, mit dem die Schwestern mich überhäuften, ermüdet, jetzt sehnte ich mich nach jenen Zeiten zurück. Ich besprach die Lage mit den Schwestern, und wir beschlossen, der Entfremdung, die zwischen uns entstanden war, ein Ende zu machen, aber mit Beschlüssen ist solchen Dingen nicht beizukommen. Ich hatte oft das Gefühl, zwischen uns lauere ein unsichtbares Wesen, ein Phantom, das unsere Lippen versiegelte und unsere Gemüter beschwerte. Jedesmal, wenn ich etwas sagen wollte, blieben mir die Worte in der Kehle stecken. Und wenn ich schließlich etwas herausbrachte, so waren es Worte, die keine Antwort 312
verlangten. Voller Staunen wurde ich Zeuge, wie die ewig plappernden Schwestern verschlossen wurden. Sie schienen aller Worte beraubt zu sein. Ich wurde genauso schweigsam wie sie. Früher hatte ich stundenlang darauf losgeredet, ohne nachzudenken oder zu überlegen, aber plötzlich wurde ich diplomatisch und war darauf bedacht, jedes Wort sorgsam abzuwägen, da ich fürchtete, was immer ich sagen würde, könnte einen Aufruhr heraufbeschwören. Früher hatte ich über ihre Geschichten von Dibbuks gelacht, jetzt fühlte ich mich tatsächlich wie von einem Dibbuk besessen. Wollte ich Dora ein Kompliment machen, so kam eine Beleidigung heraus. Merkwürdigerweise konnte keiner von uns dreien aufhören zu gähnen. Wir saßen da, gähnten, sahen einander mit schwimmenden Augen verwundert an, wir waren in eine Tragödie verstrickt, deren Ablauf wir weder verstehen noch beeinflussen konnten. Außerdem wurde ich impotent. Ich hatte kein Verlangen mehr nach den beiden Schwestern. Des Nachts lag ich im Bett und anstatt Lust empfand ich etwas, das man nur als Un-Lust bezeichnen kann. Ich hatte oft das unangenehme Gefühl, meine Haut sei eiskalt und mein Körper schrumpfe. Obwohl die Schwestern meine Impotenz nicht erwähnten, wußte ich doch, daß sie gespannt lauschend im Bett lagen und dem merkwürdigen Vorgang zuhörten, der sich in meinen Organen vollzog – ein Verebben des Blutes und ein sich Verkrampfen und Schrumpfen der Glie313
der, die bis zur völligen Verkümmerung zu degenerieren schienen. Ich bildete mir oft ein, im Dunkeln eine Gestalt zu erblicken, die so fragil und durchsichtig wie ein Spinnweb war – groß, dünn, langhaarig – ein schattenhaftes Skelett mit Löchern anstelle von Augen, ein Ungeheuer, das mit verzerrtem Mund lautlos lachte. Ich beruhigte mich damit, daß es nur meine Nerven seien. Was hätte es sonst sein können ? Ich habe damals nicht an Gespenster geglaubt und tue es auch heute nicht. In einer jener Nächte wurde mir etwas ganz klar – Gedanken und Gefühle können buchstäblich Gestalt annehmen und Wesen von Substanz werden. Selbst jetzt, wenn ich daran denke, verspüre ich ein Ameisenkribbeln auf meinem Rükken. Ich habe niemals zu irgend jemandem darüber gesprochen – Sie sind der erste, und ich versichere Ihnen, auch der letzte Mensch, der dies zu hören bekommt. Es war eine Frühlingsnacht des Jahres 1948. Eine Frühlingsnacht in Paris kann manchmal bitter kalt sein. Wir waren getrennt schlafen gegangen – ich auf dem Klappbett, Dora auf dem Sofa und Itta im Bett. Wir löschten das Licht und legten uns nieder. Ich kann mich an keine so kalte Nacht erinnern, nicht einmal in den Lagern. Wir deckten uns mit allen Dekken und Kleidungsstücken zu, die vorhanden waren, konnten aber nicht warm werden. Ich legte die Ärmel eines Sweaters über meine Füße und warf meinen Wintermantel über die Decke. Itta und Dora kro314
chen unter ihre Zudecken. Wir taten all das, ohne zu sprechen, und dieses Schweigen verlieh unseren verzweifelten Anstrengungen eine schwer lastende Bedrückung, die sich aller Beschreibung entzieht. Ich erinnere mich genau daran, wie ich im Bett lag und dachte, daß in jener Nacht die Bestrafung erfolgen würde. Gleichzeitig betete ich leise zu Gott, daß sie nicht kommen möge. Eine Zeitlang lag ich da, halb erfroren – nicht nur von der Kälte, sondern auch von der Spannung. Ich suchte im Dunkeln nach dem Dämon, wie ich die Kreatur aus Spinnweb und Schatten nannte, aber ich sah nichts. Dabei wußte ich, daß er da war, sich in einer Ecke herumtrieb oder vielleicht sogar hinter dem Kopfteil des Bettes. Ich sagte mir : ›Sei kein Idiot, es gibt keine Geister. Wenn Hitler sechs Millionen Juden abschlachten konnte und Amerika Milliarden von Dollar zum Wiederaufbau Deutschlands dorthin schickte, dann gibt es keine anderen Kräfte als materielle. Geister würden eine solche Ungerechtigkeit nicht zulassen.‹ Ich mußte mal hinaus, und die Toilette war draußen im Korridor. Gewöhnlich gelingt es mir, wenn es sein muß, den Drang zu überwinden, aber diesmal war er zu stark. Ich stand von dem Klappbett auf und schlich langsam zur Küchentür, die nach draußen führte. Ich war erst zwei Schritte gegangen, als mich etwas aufhielt. Lieber Freund, ich kenne alle Antworten darauf und das ganze psychologische Gewäsch dazu, aber das Ding da vor mir war eine Gestalt, und 315
sie verstellte mir den Weg. Ich war zu erschrocken, um zu schreien. Es liegt mir nicht, zu schreien. Selbst in Todesgefahr würde ich nicht schreien. Nun, und wer hätte mir schon geholfen, wenn ich geschrien hätte ? Die beiden halbverrückten Schwestern ? Ich versuchte die Gestalt wegzuschieben und berührte etwas, das Gummi, Teig, oder irgendeine Art von Schaum hätte sein können. Es gibt Ängste, vor denen man nicht davonlaufen kann. Zwischen uns kam es zu einem wilden Kampf. Ich stieß ihn zurück, und er wich etwas aus, leistete aber Widerstand. Ich erinnere mich jetzt, daß ich vor dem bösen Geist weniger Angst hatte als vor dem Geschrei, das die Schwestern ausstoßen könnten. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lang dieser Kampf gedauert hat – eine Minute oder vielleicht auch nur ein paar Sekunden. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, aber ich stand dort und rang schweigend und hartnäckig mit einem Phantom, oder was immer es sein mochte. Statt daß mir kalt war, wurde mir heiß. Innerhalb einer Sekunde war ich so naß, als ob ich unter der Dusche gestanden hätte. Warum die Schwestern nicht zu schreien anfingen, ist etwas, das ich nie begreifen werde. Daß sie wach waren, dessen bin ich ganz sicher. Offenbar waren sie von ihrer eigenen Furcht gelähmt. Plötzlich traf mich ein Schlag. Der Böse verschwand, und ich fühlte, daß auch mein Glied nicht mehr da war. Hatte er mich kastriert ? Die Hose meines Schlafanzuges war zu Boden gefal316
len. Ich fühlte nach meinem Penis. Nein, er hatte ihn nicht herausgerissen, sondern so tief in mich hineingestoßen, daß er nur noch eine Vertiefung statt einer Erhöhung bildete. Sehen Sie mich nicht so an ! Ich bin weder jetzt verrückt, noch war ich es damals. Während dieses ganzen Alpdrucks wußte ich, daß es nur meine Nerven waren – Nervosität, die Gestalt angenommen hatte. Einstein behauptet, Masse sei Energie. Ich sage, Masse ist komprimiertes Gefühl. Neurosen verwirklichen sich und nehmen konkrete Formen an. Gefühle nehmen Gestalt an oder sind selbst schon Körper. Das erklärt Ihre Dibbuks, Kobolde und Gespenster. Mit wackeligen Knien ging ich in den Korridor hinaus und fand die Toilette, aber ich hatte buchstäblich nichts, mit dem ich hätte urinieren können. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß solche Sachen in arabischen Ländern vorkommen, besonders bei Männern, die einen Harem haben. Merkwürdigerweise war ich während der ganzen Aufregung ruhig geblieben. Tragische Ereignisse bringen manchmal eine Art düsterer Resignation mit sich, die von Gott weiß woher kommen mag. Ich ging wieder zurück, aber keine der Schwestern rührte sich. Sie lagen ruhig da, gespannt, kaum atmend. Hatten sie mich verhext ? Waren sie selber verzaubert ? Langsam begann ich, mich anzukleiden. Ich zog meine Unterhosen an, meine Hosen, meinen Rock und meinen Sommermantel. Ich packte ein paar Hemden ein, Socken und Manuskripte, alles 317
im Dunkeln. Ich ließ den beiden Schwestern genügend Zeit, mich zu fragen, was ich da mache und wohin ich gehe, aber sie ließen keinen Pieps hören. Ich nahm meine Tasche und ging mitten in der Nacht auf und davon. Das sind die nackten Tatsachen.« »Wohin sind Sie gegangen ?« »Mir war alles egal. Ich ging in ein billiges Hotel und nahm mir ein Zimmer. Allmählich wurde alles wieder normal und funktionierte wieder. Irgendwie gelang es mir, diese Nacht des Alpdrucks zu überleben und am nächsten Morgen nahm ich ein Flugzeug nach London. Dort hatte ich einen alten Freund, einen Journalisten, der für die jiddische Lokalzeitung arbeitete, und der hatte mich schon mehrmals eingeladen. Die Redaktion bestand aus einem einzigen Raum, und die ganze Zeitung ging bald danach ein, aber in der Zwischenzeit fand ich gelegentlich etwas Arbeit und auch eine Unterkunft. Von dort aus kam ich 1950 nach Buenos Aires. Hier lernte ich Lena kennen, meine jetzige Frau.« »Was ist aus den beiden Schwestern geworden ?« »Wissen Sie es ? Mehr weiß ich auch nicht.« »Haben Sie nie mehr von ihnen gehört ?« »Nie.« »Haben Sie nicht nach ihnen gesucht ?« »So etwas will man vergessen. Ich habe mir selbst suggeriert, daß die ganze Sache nur ein Traum war, aber es ist wirklich passiert. Es war so wirklich wie die Tatsache, daß ich jetzt hier mit Ihnen sitze.« 318
»Wie erklären Sie sich das ?« fragte ich. »Ich habe keine Erklärung dafür.« »Vielleicht waren sie tot, als Sie weggingen ?« »Nein, sie waren wach und lauschten. Man kann zwischen Toten und Lebenden unterscheiden.« »Sind Sie gar nicht neugierig, was aus ihnen geworden ist ?« »Und wenn ich neugierig wäre, was käme dabei heraus ? Wahrscheinlich sind sie am Leben. Die Hexen sind irgendwo – vielleicht haben sie geheiratet. Vor drei Jahren bin ich in Paris gewesen, aber das Haus, in dem wir gewohnt haben, gibt es nicht mehr. Man hat dort eine Garage hingebaut.« Wir saßen lange schweigend da ; dann sagte ich : »Wenn Masse aus Gefühl besteht, dann wäre jeder Stein auf der Straße eine Strähne Elend.« »Vielleicht ist es so. Einer Sache bin ich ganz sicher – alles lebt, alles leidet, kämpft und begehrt. So etwas wie den Tod gibt es nicht.« »Wenn das wahr wäre, dann hätten Stalin und Hitler niemanden umgebracht«, sagte ich. »Sie haben auch nicht das Recht, eine Illusion umzubringen. Trinken Sie Ihren Kaffee.« Lange Zeit sprach keiner von uns ; dann fragte ich halb im Scherz : »Was kann man denn aus dieser Geschichte lernen ?« Chaim Leib lächelte : »Wenn Nietzsches verrückte Theorie von der Erschöpfbarkeit aller atomischen Kombinationsmöglichkeiten und von der ewigen 319
Wiederkehr wahr ist, und wenn es wieder einen Hitler, einen Stalin und noch eine Massenvernichtung geben wird, und wenn Sie in Trillionen von Jahren in Stettin ein weibliches Wesen kennenlernen – gehen Sie nicht mit ihr, ihre Schwester suchen.« »Nach dieser Theorie wird mir nichts anderes übrigbleiben, als all das zu erleben, was Sie erlebt haben«, sagte ich. »Dann werden Sie wissen, wie mir zumute war.«
Ich hatte noch nie etEine Nacht was von dem Mann gein Brasilien hört, aber in einem langen Brief, den er mir aus Rio de Janeiro schrieb, stellte er sich als jiddischen Schriftsteller vor, der »in der heißen Wüste Brasiliens verloren und zermahlen worden sei«. Sein Name war Paltiel Gerstendrescher. Einige Monate nach dem Brief kam eines seiner Bücher an. Es war in einem Verlag erschienen, der sich ›Myself Publications‹ nannte, war auf grauem Papier gedruckt, und die Buchdeckel waren wahrscheinlich auf dem Transport verdrückt worden. Es war eine Mischung von Autobiographie und Essays über Gott, die Welt, den Menschen und die Planlosigkeit der Schöpfung, geschrieben in einem schwülstigen Stil und mit ungewöhnlich langen Sätzen. Das Buch wimmelte nur so von Druckfehlern und einige Seiten waren vertauscht. Der Titel war Bekenntnis eines Ungläubigen‹. Ich blätterte es durch und schrieb dem Verfasser eine kurze Danksagung. Damit begann eine Korrespondenz, die aus drei oder vier unglaublich langen Briefen von ihm und einigen Zeilen von mir bestand, in denen ich mich entschuldigte, nicht früher und ausführlicher geschrieben zu haben. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber Paltiel Gerstendrescher hatte herausgefunden, daß ich im Begriff war, auf eine Vortragsreise nach Argentinien zu gehen, und jetzt fing er an, mir Expreßbriefe und so321
gar Telegramme zu schicken, in denen er mich bat, ein paar Tage in Rio de Janeiro zu verbringen. Damals benutzte ich keine Flugzeuge, und zufällig war vorgesehen, daß das argentinische Schiff, mit dem ich fahren sollte, zwei Tage in Santos liegen würde, zwölf Tage nach der Abfahrt aus New York. Das Schiff war fast leer, und jemand vertraute mir an, daß dies seine letzte Fahrt von New York aus sei. Ich hatte eine Luxuskabine zu ermäßigtem Preis bekommen, und im Speisesaal hatte ich einen Weinkellner für mich allein, wenn ich, nur um ihm irgend etwas zu tun zu geben, einen Schluck Wein trank. In jenem Frühjahr – Frühling in Brasilien und Herbst in New York – wurde der Atlantik von einem Wirbelsturm gepeitscht, mit heftigem Regen und Sturmböen. Das Schiff schlingerte bedenklich. Tag und Nacht ging die Warnsirene. Wellen schlugen gegen den Schiffsrumpf wie ungeheure Schmiedehämmer. In meiner Kabine hatte ich meinen Schlips über den Spiegel gehängt, er vollführte jetzt akrobatische Kunststücke. Die Zahnbürste klirrte ununterbrochen gegen das Glas. Das Schiff konnte den Fahrplan nicht einhalten, und ich telegrafierte an Paltiel die neue Ankunftszeit, die aber auch nicht eingehalten werden konnte. Als wir endlich in Santos anlegten, war niemand da, mich in Empfang zu nehmen. Das Schiff sollte nur vierundzwanzig Stunden im Hafen bleiben. Ich versuchte, vom Hafen aus zu telefonieren, aber ich be322
kam keinen Anschluß. Einmal meldete sich jemand, aber er sprach nur portugiesisch, das ich nicht verstand. Aus irgendeinem Grund brachte ich es nicht über mich, Paltiel Gerstendrescher zu enttäuschen. Der Ton, in dem er über diesen meinen Besuch geschrieben hatte, ließ spüren, daß er all seine Hoffnungen darauf gesetzt hatte. Nach kurzer Überlegung bestieg ich einen Bus nach Rio und nahm dann ein Taxi zu der angegebenen Adresse. Es stellte sich heraus, daß es eine lange Fahrt war, weit vor die Stadt hinaus, und der Fahrer hatte Mühe, den Weg zu finden. Die schmale Straße war voller Löcher und Mulden und teilweise von großen Pfützen überflutet. Ich klopfte an einem Haus, das fast eine Ruine war ; eine Frau öffnete die Tür. Zu meiner Überraschung erinnerte ich mich an sie aus Warschau – Lena Stempler, eine unbekannte Schauspielerin, Sängerin und Rezitatorin. Sie malte auch. Ich war ihr im SchriftstellerKlub begegnet. Damals war sie eine junge brünette Frau und die Geliebte des bekannten Schriftstellers David Hescheles, der später unter den Nazis umkam. Lena war schon lange bevor ich Warschau verlassen hatte aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Im Schriftsteller-Klub verbreitete man allerlei üble Nachrede über sie. Es hieß, sie habe sich von drei Männern scheiden lassen und habe sich einem Theaterkritiker angeboten, wenn er eine gute Kritik über sie schreiben würde. Jemand hatte mir auch gesagt, sie sei syphilitisch. Wie ich sie jetzt vor mir sah, war 323
ich überrascht von ihrer immer noch mädchenhaften Figur. Ihr kurzgeschnittenes Haar war schwarz, aber es zeigte die Glanzlosigkeit des gefärbten Haares. Durch das Make-up hindurch sah man die Fältchen. Lena hatte eine Stupsnase, hellbraune Augen und einen breiten Mund mit weit auseinanderstehenden Zähnen. Zwischen ihren Lippen steckte eine Zigarette. Sie trug einen Kimono aus leichtem Stoff und hochhackige Hausschuhe. Als sie mich sah, spie sie die Zigarette aus, lächelte mit einem Ausdruck, der mir andeutete, sie wisse mehr über mich, als ich ahne, und sagte : »Ich bin Mrs. Gerstendrescher. Das ist unerwartet, was ?« Und sie küßte mich. Ihr Atem roch nach Tabak, Alkohol und irgend etwas Fauligem. Sie nahm mich am Arm und führte mich in einen riesigen Raum, der alles zugleich zu sein schien – Wohnzimmer, Eßzimmer, Schlafzimmer und Atelier. Da war ein Tisch, mit Tellern und Gläsern gedeckt, und eine breite Couch, die bei Tag als Sofa und bei Nacht als Bett diente. An den Wänden hingen ungerahnite Bilder. Auf dem Boden lagen Haufen von Büchern und Stapel des ›Bekenntnis eines Ungläubigen‹. Lena sagte : »Paltiel ist nach Santos gefahren, um Sie dort zu treffen. Sie haben sich verfehlt. Er hat angerufen. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich. Wir haben kaum miteinander gesprochen, aber ich habe Sie jeden Tag im Schriftsteller-Klub gesehen. In Rio habe ich öfters ihre Sketches öffentlich gelesen. 324
Ich habe Paltiel in Brasilien geheiratet. Wir sind jetzt schon acht Jahre zusammen. Ziehen Sie doch Ihre Jacke aus. Hier ist es so heiß wie in der Hölle.« Lena zog an meinem Ärmel und nahm mir die Jakke ab. Danach lockerte sie meinen Schlips. Sie machte viel Wesens mit mir, fast wie eine Verwandte, und war dabei von einer Angriffslust, die mir gar nicht recht war. Sie stellte ein paar Erfrischungen auf einen kleinen Tisch – einen Krug mit Limonade, eine Flasche Likör, einen Teller mit Plätzchen und eine Schale Obst. Wir nahmen in Korbsesseln Platz, aßen und tranken und ab und zu machte Lena einen Zug an ihrer Zigarette. Sie sagte : »Wenn ich Ihnen erzählen würde, daß Paltiel Ihrem Besuch entgegensah wie dem des Messias, so wäre das keine Übertreibung. Er hat seit Jahren ununterbrochen von Ihnen geredet. Wenn ein Brief von Ihnen kommt, wird er wild. Er ist ganz verrückt mit Ihnen, und er hat mich auch ganz verrückt gemacht. Wir sind beide in einer Zwickmühle. Alles ist gegen uns hier – das Klima, die hiesige jüdische Gemeinde und unsere Nerven. Paltiel ist ein Genie, wenn es sich darum handelt, sich Feinde zu machen. Wenn man sich hier nur mit drei oder vier der Gemeindemitglieder verzankt, dann ist man schon so gut wie exkommuniziert. Und ich bin seinetwegen auch geächtet. Wir würden beide verhungern, wenn ich nicht von meinem geschiedenen Mann eine kleine Rente bekäme. Wollten Sie die 325
ganze Geschichte hören, müßten Sie tagelang hier sitzen. Paltiel war ein phantastischer Liebhaber. Ganz plötzlich wurde er impotent. Und ich bin von einem Dibbuk besessen.« »Von einem Dibbuk ?« »Ja, von einem Dibbuk. Warum sehen Sie so verängstigt aus ? Sie schreiben doch dauernd über Dibbuks. Offenbar sind die für Sie nur Erfindungen, aber sie existieren wirklich. Alles, was Sie heraufbeschwören, ist Wahrheit. Auch in Ihnen sitzt ein Dibbuk, aber Sie erkennen ihn nicht. Das ist auch besser. Ihr Dibbuk ist schöpferisch, aber meiner will mich quälen. Wenn er mich am Leben läßt, dann nur, weil man eine Leiche nicht mehr quälen kann. Starren Sie mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt.« »Was macht er denn mit Ihnen ?« »Er tut genau das, was Sie in Ihren Geschichten beschreiben. Ich hatte ein bißchen Geld gespart und habe alles für Psychiater und Psychoanalytiker ausgegeben. In Brasilien sind das rare Vögel – und außerdem sind sie noch dritt- oder zehntklassig. Aber wenn man dabei ist zu ertrinken, dann ergreift man noch eineu zehntklassigen Strohhalm. Hier ist Paltiel.« Die Tür öffnete sich, und ein kleiner Mann kam herein, der einen kurzen Regenmantel und einen mit Plastik bezogenen Hut trug, einen Regenschirm in der einen und eine Mappe in der anderen Hand. Ich hatte ihn mir groß vorgestellt, vielleicht wegen seines langen Namens. 326
Als er mich sah, schien er verblüfft. Damals erschienen Fotos von mir nur selten in Zeitungen und Zeitschriften. Er stand da und maß mich von unten nach oben, sogar von der Seite. Ein ärgerliches Lächeln erschien auf seinem spitzen Gesicht. Er hatte eine hohe Stirn, eingefallene Wangen und ein eckiges Kinn. »Da sind Sie also«, sagte er. Sein Ton ließ spüren, [… Fehlendes in der Druckausgabe auf Seite 268] Sie sind zwar nicht, wie ich Sie gern hätte, aber ich muß die Tatsachen akzeptieren, wie Sie nun einmal sind. Er fügte gleich hinzu : »Lena, heute ist für uns ein Feiertag.« Wir aßen eine vegetarische Mahlzeit, tranken Papayasaft und starken brasilianischen Kaifee, und als Nachtisch servierte Lena einen Kuchen, den sie mir zu Ehren gebacken hatte. Sie öffnete die Tür zu einem großen, überwachsenen Hof hinter dem Haus. Der Regen hatte am Tag vorher aufgehört, und der Abend war erfrischend mit tropischen Düften und einer Brise vom Ozean. Die Sonne wendete sich nach Westen, ein Stück glühender Kohle, und verwandelte die Reste der Sturmwolken in ein feuriges Rot. Lena schaltete das Radio ein und hörte den Nachrichten zu, und ich spitzte die Ohren und lauschte dem Gesang der Vögel, die am Abend hereingeflogen waren, um sich für die Nacht auf den Zweigen der Bäume niederzulassen. Einige blieben, wo sie gelandet waren, andere flogen hin und her, von Baum zu Baum, schlugen mit den Flü327
geln und machten ein rasselndes Geräusch. Ich hatte noch nie Vögel dieser Farben außerhalb der Gefangenschaft gesehen. Die Kraft der Schöpfung war hier noch ungestört am Werk. Paltiel sprach zu mir über Literatur, über seine eigene Arbeit. »Ein Schöpfer sollte auch ein Kritiker sein«, sagte er, »aber die Kritik darf erst später kommen. Meine Schwierigkeit ist, daß mich, noch ehe ich drei Worte geschrieben habe, schon Fragen überfluten über das, was meine Feder ausdrücken will, und schon vor dem Schreiben beginne ich mich zu rechtfertigen und alles zu beschönigen. Sie haben mich in einem Ihrer Briefe gefragt, warum ich so lange Sätze bilde und so viele Kommentare in Klammern setze. Das ist meine kritische Natur. In Wirklichkeit ist die Analyse die Krankheit des Menschen. Adam und Eva aßen vom Baum der Erkenntnis, sie wurden Kritiker und Analytiker und erkannten, daß sie nackt waren. All die heutigen Arbeiten, die über Sex geschrieben wurden, haben nur eine Epidemie von Impotenz erzeugt. Die Volkswirtschaftler haben sich in die Weltwirtschaft eingemischt und haben in jedem Land Inflation hervorgerufen. Und ebenso ist es bei den sogenannten reinen Wissenschaften. Ich glaube nicht an all die Teilchen der Atome, die sie unentwegt entdecken … Das menschliche Gehirn hat der Natur seine eigenen Verrücktheiten aufgedrängt, oder die Natur hat selbst vom Baum der Erkenntnis gegessen und ist verrückt geworden. Wer weiß ? Es kann sein, 328
daß Gott sich mit der Psychoanalyse eingelassen hat und daher …« »Partiel, ich kenne deine Theorien bereits«, unterbrach Lena. »Ich möchte lieber hören, was unser Gast zu sagen hat.« »Nein, fahren Sie nur fort. Es ist interessant«, sagte ich. Ich blickte zu den Fenstern hin. Einen Augenblick zuvor war es noch Tag gewesen ; ganz plötzlich war es Nacht geworden, als ob ein himmlisches Licht erloschen war. Die Luft im Zimmer war von Mücken, Fliegen und Bremsen erfüllt. Aus den Rissen in den Wänden und dem Fußboden krochen große Käfer. Lena sagte : »Das Leben hier ist so üppig, man kann dem nicht mit Netzen beikommen. Ich habe im Gymnasium gelernt, daß Materie nicht durch Materie dringen kann, aber das galt für Polen, nicht für Brasilien.« »Erzählen Sie mir von Ihrem Dibbuk«, sagte ich. Lena warf einen fragenden Blick auf Paltiel. »Wo soll ich anfangen ? Wenn du willst, daß wir ihm gegenüber offen sind, dann müssen wir ihm die Wahrheit sagen.« »Schon gut, erzähle es ihm«, sagte Paltiel. »Die Wahrheit ist, daß wir beide verflucht oder verzaubert sind – nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Lena nach einigem Zögern. »Paltiel kam aus Kanada hierher. Meinetwegen ließ er sich von seiner Frau scheiden und verließ zwei Kinder. Wir begegneten 329
uns in New York. Er wollte schreiben, wollte nicht Anwalt sein. Er kam zu einer jiddischistischen Tagung nach New York. Ich hatte, wie man sagen könnte, das Glück, vor dem Holocaust hierherzukommen, aber ich war in Warschau nicht glücklich und bin es auch hier nicht. Sie erinnern sich an mich aus Warschau. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem Polnisch gesprochen wurde, nicht Jiddisch. Ich ging nach Warschau, um eine polnische Theaterschule zu besuchen, nicht um beim jiddischen Theater herumzuhängen. Ihr Freund David Hescheles machte mich zu einer Jiddischistin. Wahrscheinlich hat man im Schriftsteller-Klub furchtbare Dinge über mich erzählt. Ich war von Anfang an dort ein Fremdkörper, und ich blieb es bis zum letzten Tag. Die Männer waren alle hinter mir her, und ihre Schlampen verachteten mich, wie sie eine Spinne verachten. Was David Hescheles mir angetan hat, wie er mich gequält hat, das werde ich lieber nicht sagen, denn er ist schon in der anderen Welt, ein Opfer menschlicher Grausamkeit. Nur eines – er wollte mein Liebhaber nur sein, wenn ich verheiratet wäre. Verrückt, nicht ? Ihm gefiel vor allem der Gedanke, die Frau eines anderen Mannes zu besitzen. Zweitens hatte er Angst, daß ich, wäre ich allein, mich nach jemand anderem umsehen könnte. Sich selbst gestand er jede Freiheit zu, aber mir gegenüber brannte er vor Eifersucht. Er manipulierte die Dinge so, daß, wenn er merkte, daß ich einen Mann geheiratet hatte, er die Scheidung arran330
gierte und einen anderen Mann für mich fand. Wie und unter welchen Umständen ich nach Südamerika kam ist ein eigenes Kapitel. Ich kam hier als physisches und psychisches Wrack an, und kaum war ich hier, heiratete ich wieder – dieses Mal angeblich aus freien Stücken, in Wirklichkeit aber, um ein Stück Brot und ein Dach über meinem Kopf zu haben. Mein neuer Ehemann war vierzig Jahre älter als ich. Zu der Zeit traf ich Paltiel und machte eine andere Frau unglücklich.« »Lena, du schweifst ab«, sagte Paltiel. »Na und ? Wenn ich abschweife, so schweife ich eben ab. Du fängst an über Jehupetz zu schreiben und endest in Boiberik, aber mir gestattest du nicht, zur Sache zu kommen. Wegen deiner wilden Abschweifungen druckt Parness deine Sachen nicht mehr.« »Lena, dies alles hat nichts mit Parness zu tun.« »Wenn das so ist, dann halte ich meinen Mund und du kannst reden.« »Tatsache ist, daß sie sich in den Wahn gesteigert hat, daß David Hescheles zu ihr kommt, sie kitzelt, zwickt, herumstößt und sie würgt. Er hat sich in ihrem Leib eingenistet. Sie wissen aus meinem Buch, daß ich kein Atheist bin. Ein wirklich Ungläubiger läßt alle Möglichkeiten zu, sogar Ihre Dämonen und Kobolde. Wenn es im zwanzigsten Jahrhundert einen Hitler und einen Stalin geben kann und andere Barbareien, dann ist alles möglich. Aber selbst Sie werden zugeben, daß nicht jeder Fall von Hysterie ei331
nem Dibbuk zuzuschreiben ist. Die Nonnen, die in der Woche des Leidens Christi Stigmata produzierten, waren nicht von einem Dibbuk besessen. Selbst der Papst würde das zugeben …« »Erst gestern hast du gesagt, unser Haus sei ein Spukhaus, und was ich durchmache könne man nicht auf natürliche Weise erklären«, unterbrach ihn Lena. »das waren deine eigenen Worte.« »Es ist unmöglich, alles erklären zu wollen – selbst warum ein Apfel von Baum fällt oder warum ein Magnet Eisen anzieht und nicht Butter.« »Du hast gesagt, nur unser hoher Gast wäre imstande, den Dibbuk auszutreiben.« »Ich habe das gesagt, weil ich weiß, daß du ihn verehrst, liebst und was sonst noch. Ich bewundere ihn auch, und ich wäre im siebten Himmel, wenn er hierbleiben und sich meine Sachen anschauen würde. Aber dein Dibbuk ist nichts anderes als Hysterie.« Lena sprang von ihrem Stuhl auf. Sie stieß ein Weinglas um und fing es im Fallen auf. Sie streckte einen rotlackierten Finger aus und sagte : »Paltiel, kaum warst du eingetreten, habe ich eine Veränderung in dir bemerkt. Was hast du erwartet – daß unser Gast mit einer Krone auf dem Kopf herumläuft ? Gewiß, ich hätte es auch gern, wenn er bei uns bliebe, aber da er das nicht kann, so ist das eben mein Pech. Du kannst ihn ja bitten, dein Manuskript mit aufs Schiff zu nehmen und zu lesen. Er hat noch sechs Reisetage vor sich. Aber mich kann er nicht mitneh332
men. Ich wünschte, er könnte es. Du weißt, daß ich hier ersticke.« »Du bist ein freier Mensch. Das habe ich dir vom ersten Tag an gesagt.« Und dann sprachen sie portugiesisch miteinander. Ich war da an ein Paar geraten, das sich in einem Dauerstreit befand – einem Streit, der sich über Jahre hinzieht und das Paar schamlos macht. Die wenigen Stunden, die ich hier verbracht hatte, ließen mich die Lage erkennen. Paltiel Gerstendrescher war ein Intellektueller, kein Künstler. Er sprach korrektes Jiddisch, sogar idiomatisches, aber ihm fehlte die Mentalität des Jiddischisten. Wahrscheinlich war er als Kind nach Kanada gekommen. Er gehörte zu der Art von Menschen, die sich selbst in eine fremde Umgebung exilieren, sich einen Beruf aussuchen, für den sie ungeeignet sind, und häufig auch noch einen ungeeigneten Partner. Das gleiche galt für Lena. Selbst das Haus, in dem sie lebten – in einer gottverlassenen, nichtjüdischen Nachbarschaft –, war ungeeignet für sie. Sie hatten sich von dem einzigen Kreis, durch den sie ein Auskommen hätten finden können, abgewandt, darüber hinaus hatte sich Paltiel in Versuche eingelassen, mit der Sprache zu experimentieren, sich ausgeklügelte Wortspiele und Manieriertheiten gestattet, von denen er kaum erwarten konnte, daß sie den jiddischen Leser interessieren könnten, und die unübersetzbar waren. Gut und schön, aber warum sollten Mann und Frau 333
ihre eigensten Interessen so gründlich sabotieren ? Und was hatten sie von mir erwartet und von einem Besuch, der höchstens einen Tag dauern würde ? Für einen Augenblick glaubte ich, mit ihnen über ihre Situation sprechen zu müssen, aber ich wußte, daß es schon zu spät war. Lenas Worte über ihren Dibbuk hatten meine Neugier gereizt, aber obwohl Hysterie selbst aus Übertreibung und Lügen besteht, wußte ich, daß ihre Hysterie völlig künstlich war – ein literarischer Dibbuk, den sie vielleicht einer meiner Geschichten entnommen hatte. Das wirkliche Opfer hier war Paltiel, sagte ich mir. Er hielt den Kopf gesenkt und hörte sich Lenas Klagen verlegen an. Von Zeit zu Zeit warf er mir einen mißtrauischen Blick zu. Es war ganz offensichtlich, daß er sich, vom ersten Augenblick unseres Treffens an, in mir getäuscht sah, aber meines Wissens hatte ich kein Wort gesagt, das ihm hätte mißfallen können. Es konnte nur mein Aussehen sein. In meiner Verlegenheit versuchte ich festzustellen, welche Farbe seine Augen hatten. Sie waren nicht blau oder braun oder grau, sondern gelb und standen weit auseinander. Wäre ich in Amerika in eine solche Situation geraten, ich glaube, ich wäre einfach aufgestanden und gegangen. Aber in einem fremden Land, weit weg von einer Stadt, gab es kein Entkommen. Paltiel stand auf. »Gut«, sagte er auf jiddisch, »ich gehe.« Und schon hatte er die Tür hinter sich geschlossen. 334
Ein Weilchen sprach Lena portugiesisch, dann bemerkte sie ihren Fehler und brach in Lachen aus. Sie sagte : »Ich bin so durcheinander, daß ich nicht mehr weiß, was mir geschieht.« »Wohin ist er mitten in der Nacht gegangen ?« »Keine Angst, er geht nicht verloren. Beim Anblick meines vernachlässigten Gartens könnten Sie den Eindruck bekommen, daß wir in einem Dschungel leben. In Wirklichkeit sind wir nur ein paar Schritte von der Straße entfernt und höchstens zwanzig Kilometer von Rio. Er tut das nicht zum erstenmal. Jedesmal wenn ich ihm die Wahrheit sage, läuft er davon. Er hat da eine alte Witwe in Rio, die die Rolle seines Beschützers spielt. Sie ist auch seine einzige Leserin, und er geht zu ihr, sein Schicksal zu beklagen. Er hält einen Wagen an, und man nimmt ihn mit. Hier ist nicht New York. Die Leute hier fürchten sich nicht, jemanden mitzunehmen, besonders so ein Männchen.« »Hat er etwas mit ihr ?« fragte ich. »Ob er mit ihr was hat ? Nein. Vielleicht. Gebe Gott, daß es so wäre, und er mich in Ruhe ließe.« »Wer wird mich nach Santos bringen, falls er nicht zurückkommt ?« »Ich werde Sie hinbringen. Ich habe einen Fahrplan und alles andere. Machen Sie sich keine Sorgen. Das Schiff wird nicht ohne Sie abfahren. Wenn sie sagen, vier Uhr nachmittag, dann fahren sie nicht vor zehn Uhr abends ab. Das ganze Leben in diesen Ländern 335
besteht daraus, daß sie alles auf morgen verschieben, auf den Tag danach, auf das nächste Jahr. Ich sehe Ihnen an, daß Sie mehr über meinen Dibbuk wissen wollen. Ja, mein Dibbuk ist David Hescheles. Er hat mir Qualen verursacht, während er lebte und jetzt, wo er tot ist, will er mich um die Ecke bringen. Nicht etwa plötzlich, wohlgemerkt, sondern langsam. Die einzige Zeit, in der er mich in Ruhe gelassen hat, waren die paar Jahre, die ich mit meinem ehemaligen Mann, dem Alten, verbrachte. Auf den war er offenbar nicht eifersüchtig. Aber seit ich mit Paltiel zusammen bin, läßt er mich nicht in Ruhe. David Hescheles erklärt mir ganz offen, daß er mich in sein Grab zerren werde, obwohl gar kein Grab vorhanden ist. Es gibt nur ein Häufchen Asche.« »Spricht er zu Ihnen mit seiner Stimme ?« »Ja, mit seiner Stimme, aber ich bin die einzige, die ihn hören kann. Manchmal macht er Geräusche, die auch Paltiel hört, aber er würde es nicht zugeben. Er spielt den Rationalisten, fürchtet sich aber vor seinem eigenen Schatten. Er hat Hescheles Erscheinung unsere Kellertreppe hinuntergehen sehen. Er hat ihn Türen zuschlagen und Wasserhähne mitten in der Nacht aufdrehen hören. David Hescheles hat sich in meinem Magen niedergelassen. Ich habe immer Gymnastik gemacht und hatte einen ganz flachen Bauch, fast wie ein Mann. Ganz plötzlich stand ich eines Morgens auf mit einer riesigen Schwellung dort. Es ist sein Kopf, sein Kopf. Schauen Sie mich nicht so 336
an. Paltiel und die hiesigen Ärzte sagen alle das gleiche : eine Neurose oder ein Komplex. Wenn man auf dem Röntgenbild nichts sehen kann, drinn existiert es nicht. Aber ein Kopf hat sich in meinem Magen niedergelassen. Ich kann seine Nase, seine Stirn, seinen Schädel fühlen. Wenn er spricht, bewegt sich sein Mund. Solange er dort unten ist, ist es erträglich, wenn er aber wütend wird, bewegt er sich weiter nach oben, auf den Hals zu. Dann kann ich nicht atmen. Früher, zu Hause, habe ich öfters gehört, wenn man jemandem etwas Böses getan hatte und er starb, dann kehrte seine Leiche zurück, und erdrosselte einen. Aber ich habe ihm nichts Böses getan. Er hat mir Unrecht getan. Zuerst hielt ich das für eine Altweibergeschichte – Volksbrauch. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein : wenn mir jemand erzählen wollte, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, würde ich ihm raten, ins Irrenhaus zu gehen. Wenn Sie wollen, können Sie den Kopf mit Ihren Händen fühlen.« Einen Moment lang kam kindische Angst über mich, zugleich mit dem Widerwillen, ihren Leib zu berühren. Ich hatte nicht das geringste Verlangen nach dieser Frau. Ich erinnerte mich daran, was man mir erzählt hatte – daß sie an einer Geschlechtskrankheit leide. Ich würde sicher impotent bei ihr sein. Ich suchte nach einem Vorwand, aus dieser Intimität herauszukommen, aber ich schämte mich meiner Furcht. Zum erstenmal war mir etwas angeboten worden, das die Forscher auf dem Gebiet der Psy337
chologie physischen Beweis nennen. Ich sagte : »Ihr Mann könnte zurückkommen und …« »Nur keine Angst. Er wird nicht zurückkommen. Er ist zweifellos zu ihr gegangen. Und selbst wenn er käme, würden Sie keine Unannehmlichkeiten bekommen – wir sind beide entschlossen, Ihnen die Wahrheit zu zeigen. Ich habe eine Idee. Draußen haben wir eine Hängematte. Es ist eine dunkle Nacht. Wir haben keine Nachbarn. Die Moskitos werden uns überfallen, aber hier gibt es keine Malaria. Außerdem haben wir ein Netz darüber. Kommen Sie !« Lena nahm mich beim Arm. Sie berührte einen Schalter und alle Lichter gingen aus. Sie öffnete die Tür zum Garten und eine Hitzewelle kam mir entgegen wie aus einem Ofen. Der Himmel schwebte tief über uns, dicht besät mit den südlichen Sternbildern. Die Sterne schienen so groß zu ein wie Trauben in einem kosmischen Weinberg. Grillen sägten unsichtbare Bäume mit unsichtbaren Sägen. Frösche quakten mit menschlichen Stimmen. Aus den Bananenstauden, den wilden Blumen und dem Dickicht von Gras und Blättern stieg eine brennende Hitze auf, die meine Kleidung durchdrang und mein Inneres wie eine heiße Kompresse wärmte. Lena führte mich durch das Dunkel, als sei ich blind. Sie erwähnte die Tatsache, daß Eidechsen und Schlangen hier herumkröchen, aber keine giftigen. Auf dem Schiff hatte mir jemand den Scherz erzählt, daß in der Nacht wieder nachwächst, was die Regie338
rung während des Tages gestohlen hat. Mir kam es jetzt so vor, als hörte ich in die Wurzeln Säfte eindringen, die sich in Mangobäume, Bananenstauden, Papayas und Ananas verwandelten. Lena neigte die Hängematte, so daß ich mich hineinlegen konnte, und gab ihr einen spielerischen Stoß. Dann schlüpfte sie neben mich. Sie öffnete den Kimono, der ihren nackten Körper bedeckte, nahm meine Hand und legte sie auf ihren Leib. Sie machte das alles schnell, mit dem Geschick eines an Séancen gewohnten Mediums. Tatsächlich fühlte ich etwas in ihrem Bauch, das hervorstand und länglich war. Es begann unterhalb der Brüste und dehnte sich bis zu den Schamhaaren aus. Lena führte meine Hand nach oben. Sie lenkte meinen Zeigefinger auf eine kleine Beule und fragte : »Fühlst du die Nase ?« »Die Nase ? Nein. Ja. Kann sein.« »Sei nicht so ängstlich. Ich bin keine Hexe. So wie du über Dibbuks schreibst, muß ich annehmen, daß du an solche Mysterien gewöhnt bist.« »An Mysterien kann man sich nicht gewöhnen.« »Du bist wirklich noch ein Junge. Vielleicht liegt darin deine Stärke. David Hescheles ist wütend auf mich, nicht auf dich. Er mochte dich. Er lobte immer dein Talent. Ich suchte nach Gelegenheiten, dich zu treffen, aber du bist vor den Frauen geflohen wie ein Chassid. Als ich hier in Brasilien anfing, deine Sachen zu lesen, konnte ich nicht glauben, daß du wirklich der Verfasser bist.« 339
»Manchmal glaube ich es selbst nicht.« »Fühl seine Stirn. Du wirst nicht viele solche Gelegenheiten haben.« Lena hob meine Hand, und ich berührte eine spitze Brustwarze. Ich zog meinen Finger zurück, damit sie nicht denken sollte, ich wolle sie erregen. Trotz der seltsamen Umstände sagte ich mir, daß weder David Hescheles – dieser Zyniker, er soll in Frieden ruhen ! – noch seine Seele irgend etwas mit diesem Spiel zu tun hatte. Lena litt an einem Tumor, oder vielleicht war es die Folge lange geübter Selbsttäuschung. Wenn man etwas nur stark genug will, dann kann man die Muskeln trainieren, alle möglichen Kunststücke und Verdrehungen auszuführen. Aber warum sollte sie dies so unbedingt wollen ? »Was sagst du jetzt ?« fragte Lena. »Wirklich, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« »Sei nicht so nervös. Paltiel wird nicht zurückkommen. Ich habe den Verdacht, er hat den Streit mit mir nur angefangen, damit ich mit dir allein sein kann.« »Warum sagst du das ?« »Warum ? Weil er halb verrückt ist, und wir beide in einer dunklen Ecke gefangen sind – physisch, geistig, in jeder Weise. Ich habe Ehemänner gehabt, und ich weiß Bescheid. Wie groß auch immer eine Liebe gewesen sein mag, es kommt eine Krise, die genau so rätselhaft ist wie die Liebe selbst – oder wie der Tod. Man liebt den andern noch, aber man muß sich tren340
nen, oder ein anderer Mensch tritt auf und veranlaßt eine Richtungsänderung. Ich werde dir etwas sagen, aber fasse es nicht falsch auf – in unseren Phantasien warst du dieser Mensch.« »Ach, aber unglücklicherweise muß ich morgen sehr früh fort. Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten. Warum habt ihr euch so weit weg von allem und jedem niedergelassen ?« fragte ich und änderte meinen Ton. »Paltiel ist ein hochintelligenter Mann ; er hat ein großes Wissen. In New York könnte er leicht Professor werden. Eure Aussichten wären dort viel besser.« »Ja, du hast recht. Aber hier habe ich das Haus. Ich bekomme eine Unterstützung von meinem früheren Mann. Dieses Haus wäre schwer zu verkaufen. Außerdem gehört es nicht mir allein. Er würde mir das Geld auch nicht nach New York schicken. Paltiel ist vollkommen apathisch geworden. Er sitzt Tag und Nacht und schreibt diese Romane, in denen es keine einzige interessante Figur gibt. Er versucht ein jiddischer Joyce zu werden, oder etwas Ähnliches. Ich höre, daß das jiddische Theater in New York im Begriff ist unterzugehen.« »Ja, leider.« »Manchmal wünschte ich, der Dibbuk sollte in meinen Hals aufsteigen und mich erledigen. Ich bin zu müde, um noch einmal von vorne zu beginnen – besonders da es nichts zu beginnen gibt. Ich bin reif für den Tod, habe aber nicht den Mut zu handeln. Lach 341
mich nicht aus, aber ich träume immer noch von der Liebe.« »Das tue ich auch. Ich habe das auch von kranken und alten Leuten gehört, buchstäblich einen Tag vor ihrem Tod.« »Was hat das für einen Sinn ? Ich liege im Bett, niedergedrückt von Sorgen, und phantasiere von einer großen Liebe. – etwas Einmaliges, das wahrscheinlich nicht existiert. Ob mich mein Dibbuk erdrosseln wird oder ob ich an einem Herzversagen sterben werde, eines ist sicher : ich werde mit diesem Traum sterben.« »Ja, das ist wahr.« »Wie verstehst du das ?« Ich wollte sagen, daß ich es nicht verstehen könne, statt dessen sagte ich : »Es sieht so aus, als ob Leben und Tod keine gemeinsame Grenze hätten. Leben ist die ganze Wahrheit und Tod ist nichts als Lüge.« »Wie meinst du das – daß wir ewig leben ?« »Das Leben ist der Triumphwagen Gottes und der Tod ist nur der Schatten seiner Peitsche.« »Wer hat das gesagt ?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es von mir. Ich plappere nur so vor mich hin.« »Ich habe es dir gesagt – auch in dir sitzt ein Dibbuk. Sag deinem Dibbuk, er soll mich küssen. Ich bin nicht so häßlich oder so alt.« Ich werde nichts mit ihr anfangen, beschloß ich. Diese Frau ist eine Lügnerin, eine Exhibitionistin 342
und dazu noch verrückt. Ihr Mann zeigte sich mir gegenüber feindselig. Ich habe mit Leuten dieser Art zu tun gehabt. Eben haben sie dich noch vergöttert, und im nächsten Augenblick beschimpfen sie dich. Unweigerlich wollen sie irgendeine Gunstbezeugung, die genau so unmöglich und verrückt ist wie sie selber. Aber noch während ich diesen festen Entschluß faßte, nahm ich Lena in meine Arme. Ich hatte mich immer für Leute interessiert, die das Scheitern gewählt hatten, die in Schwierigkeiten geschwelgt und sich dem Betrug geopfert hatten. Jetzt küßte ich Lena, und sie biß in meine Lippen. Ich hörte, wie ich ihr Kosenamen gab und ihr sagte, daß unsere Begegnung schicksalhaft sei. Wir rollten in der Hängematte und mühten uns ab. Lena versuchte, uns mit dem Moskitonetz zu bedecken und es festzumachen. Plötzlich riß sich die Hängematte von dem Baum los, und wir fielen in einen Morast aus Nesseln, verfaulten Wurzeln und Schlamm. Ich versuchte aufzustehen, aber ich war in dem Netz verfangen. In diesem Augenblick stieß Lena einen furchtbaren Schrei aus. Moskitos hatten sich auf uns gestürzt, so dicht wie ein Schwarm Heuschrecken. Ich war schon oft von Moskitos gestochen worden, aber niemals von so vielen und mit solcher Grausamkeit. Es gelang mir irgendwie, mich zu befreien und Lena zu helfen aufzustehen. Wir versuchten ins Haus zu laufen, wurden aber durch Dornengebüsch, Zweige und stachliges Unkraut aufgehalten. Lena schrie noch immer. Erst jetzt bemerkte ich, daß 343
sie nackt war und einen ihrer Schuhe verloren hatte. Ich versuchte nochmals sie aufzuheben, aber sie leistete Widerstand. Als wir schließlich das Haus erreichten und Licht machten, sah ich, daß wir beide von Stichen und von lebenden Moskitos bedeckt waren. Sie hatten sich wie Blutegel an uns festgesaugt. Wir fingen an, uns gegenseitig zu schlagen, um diese Parasiten zu töten, deren Blut noch vor einem Augenblick das unsere gewesen war. Wir sprangen in einem verrückten Tanz umeinander herum. Mein Hemd war mit Blut getränkt. Lena zog es mir aus und zerrte mich in das Badezimmer, in dem eine lange Badewanne stand, über der ein großer Kupfertank und eine Brause hingen. Sie ließ das Wasser laufen, und wir standen unter der Brause und hielten uns aneinander fest, um das Gleichgewicht zu halten. Lena öffnete ein Medizinschränkchen, nahm eine Flasche heraus und fing an, uns mit der Flüssigkeit einzureiben. In einem Spiegel sah ich, daß meine Gesichtshaut zur Hälfte abgeschält war. Noch immer jammernd führte Lena mich ins Wohnzimmer, wo sie ein Laken aus einer Kommode zog, es über die Couch breitete und mich wie eine Leiche in ein Leichentuch einwickelte. Dann wickelte sie sich selbst in ein Leintuch. Sie beugte sich über mich und rief aus : »Gott liebt uns. Er hat die Strafe vor der Sünde geschickt !« Sie warf sich mit einem Klagelaut über mich und mein Gesicht war augenblicklich naß und salzig. Sie 344
löschte das Licht, aber es ging sofort wieder an – Paltiel war zurückgekehrt. Am nächsten Morgen brachte mich Paltiel mit einem Bus nach Santos. Lena mußte im Bett bleiben. Paltiel und ich sprachen kein Wort miteinander. Wir vermieden es, uns in die Augen zu sehen. Ich war so erschöpft, daß ich die meiste Zeit döste und mir der Kopf wieder und wieder vornüberfiel. Ich war zu benommen, um mich zu schämen. Ehe ich aufs Schiff ging, überreichte mir Paltiel zwei große Umschläge voller Manuskripte und sagte : »Wir haben beide von Ihrem Besuch profitiert : ich habe einen Leser gewonnen und Lena einen richtigen Dibbuk.« Ich hoffte, daß dies das Ende meines grotesken Abenteuers sein würde, aber als ich von meiner südamerikanischen Reise nach New York zurückkam, fand ich drei weitere Manuskripte vor und zwei Briefe von vierzig Seiten von Lena – einen auf jiddisch, den anderen auf polnisch. Lena verriet mir, daß ihre Liebe zu mir schon in Warschau begonnen hätte und daß sie Schwingungen und telepathische Botschaften über mein Kommen erhalten hatte, lange bevor Paltiel etwas von meiner Reise erfahren hatte. Ich versuchte zu lesen, was die beiden geschrieben hatten, aber Manuskripte und Briefe kamen so schnell hintereinander, daß mir klar wurde, ich würde keine Zeit mehr für irgend etwas anderes haben. Ich sah Lenas Briefe hier und da flüchtig an und erfuhr, daß die Witwe, 345
die Gönnerin Paltiels, gestorben war, ihm eine beträchtliche Summe hinterlassen hatte, und daß er sie für die Veröffentlichung seiner Werke in ›Myself Publications‹ verwendete. Bald kamen diese Bücher an, in immer kürzeren Intervallen. Ich konnte die Sendungen einfach nicht mehr öffnen, aber das hielt sie nicht davon ab, mir noch lange Zeit Bücher und Briefe zu schicken. Einige Jahre später hörte ich, Lena sei an Krebs gestorben und Paltiel sei in eine Irrenanstalt gekommen. Ich mußte mich von dieser Menge Bücher und Briefe befreien. Ich behielt nur ein dickes Buch von Paltiel, das in einem abscheulichen Stil geschrieben war, verrückt, unlesbar, und ein paar Briefe von Lena – erschreckende Dokumente dafür, was Einsamkeit solchen Menschen antun kann und was sie sich selbst antun.
Warum ich 1956 gerade diese Tour unternahm, Der Autobus ist etwas, das ich bis zum heutigen Tag nicht erklären kann – in einem Bus zwölf Tage lang mit einer Gruppe von Touristen durch Spanien zu ziehen. Wir fuhren von Genf ab. Ich bestieg den Bus etwa um drei Uhr nachmittags und sah, daß fast alle Plätze schon besetzt waren. Der Fahrer nahm mein Billett und wies auf einen Platz neben einer Frau, die auf der Brust ein auffallendes schwarzes Kreuz trug. Sie hatte rot gefärbte Haare, ihr Gesicht war stark geschminkt, die Lider ihrer braunen Augen waren mit blauem Lidschatten verschmiert, und unter all dieser Farbe und Schminke zeigten sich tiefe Runzeln. Sie hatte eine Adlernase, rotglühende Lippen und gelbliche Zähne. Sie fing an, Französisch mit mir zu sprechen, aber ich sagte ihr, daß ich kein Französisch verstünde, und sie sprach dann Deutsch. Mir fiel auf, daß es nicht das Deutsch eines gebürtigen Deutschen oder eines Schweizers war. Ihr Akzent war dem meinen ähnlich, und sie machte die gleichen Fehler wie ich. Von Zeit zu Zeit warf sie ein Wort ein, das jiddisch klang. Ich fand bald heraus, daß sie ein Flüchtling aus den Konzentrationslagern war. Sie war 1946 in einem Displaced Persons Camp in der Nähe von Landsberg gelandet und durch Zufall freundete sie sich mit einem Schweizer Bankdirektor aus Zürich an. Er ver347
liebte sich in sie und machte ihr einen Heiratsantrag unter der Bedingung, daß sie zum Protestantismus überträte. Früher hatte sie Celina Pultusker geheißen, jetzt war sie Celina Weyerhofer. Plötzlich begann sie Polnisch mit mir zu sprechen, dann wechselte sie über ins Jiddische. Sie sagte : »Da ich sowieso nicht an Gott glaube, so sehe ich keinen Unterschied zwischen Moses und Jesus. Er wollte, daß ich konvertierte, und so konvertierte ich ein wenig.« »Und warum tragen Sie dann ein Kreuz ?« »Nicht, weil es irgend etwas mit Religion zu tun hat. Es ist mir von einem Sterbenden gegeben worden, den ich nie vergessen werde, bis ich meine Augen schließe.« »Wohl von einem Mann, wie ?« »Was sonst – von einer Frau ?« »Ihr Mann hat nichts dagegen ?« »Ich frage ihn nicht. Dort sitzt er.« Frau Weyerhofer zeigte auf einen Mann, der auf der anderen Seite saß. Er sah jünger aus als sie, mit einem hellen, glatten Gesicht, blauen Augen und einer geraden Nase. Mir kam er wie der typische Bankier vor – nüchtern, freundlich, mit gut gebügelten Hosen, die er heraufzog, um die Bügelfalte zu erhalten, und mit frisch geputzten Schuhen. Er trug einen Panamahut. Seine Haltung drückte Ordnung und Disziplin aus. Auf seinen Knien lag die ›Neue Zürcher Zeitung‹, und ich konnte sehen, daß sie auf der Wirt348
schaftsseite aufgeschlagen war. Er nahm ein Stückchen Stoff aus der Brusttasche, um seine Brille damit zu putzen. Als er das getan hatte, sah er auf seine goldene Armbanduhr. Ich fragte Frau Weyerhofer, warum sie nicht zusammensäßen. »Weil er mich haßt«, sagte sie auf polnisch. Ihre Antwort überraschte mich, aber nicht allzusehr. Der Mann sah mich von der Seite her an, dann drehte er sein Gesicht weg. Er fing an, sich mit einer Dame zu unterhalten, die auf dem Fensterplatz neben ihm saß. Er nahm seinen Hut ab, und eine glänzende Glatze mit einem kleinen blonden Haarkranz kam zum Vorschein. »Was kann es nur gewesen sein, was diesem Schweizer an der Frau neben mir gefallen hatte ?« fragte ich mich, aber solche Dinge kann man eigentlich nicht in Frage stellen. Frau Weyerhofer sagte : »Soweit ich das beurteilen kann, sind Sie der einzige Jude in dem Bus. Mein Mann kann Juden nicht leiden. Christen mag er auch nicht. Er hat eine Million Vorurteile. Was immer ich sage, gefällt ihm nicht. Wenn er die Macht dazu hätte, würde er fast die ganze Menschheit umbringen und nur seine Hunde und die paar Bankleute, mit denen er befreundet ist, am Leben lassen. Ich bin bereit, mich scheiden zu lassen, aber er ist zu geizig, um Unterhalt zu zahlen. Schon so gibt er mir kaum genug, um am Leben zu bleiben. Dabei ist er hochintel349
ligent, einer der belesensten Menschen, denen ich je begegnet bin. Er spricht sechs Sprachen perfekt, aber Gott sei Dank ist Polnisch nicht dabei.« Sie wendete sich dem Fenster zu, und ich hatte keinerlei Lust mich weiter mit ihr zu unterhalten. Ich hatte in der vergangenen Nacht wenig geschlafen, und als ich mich zurücklehnte, nickte ich ein, aber mein Verstand dachte wache Gedanken. Ich hatte mich von einer Frau, die ich liebte – oder zumindest begehrte –, getrennt. Ich hatte gerade drei Wochen allein in einem Hotel in Zakopane verbracht. Der Fahrer weckte mich. Wir waren in dem Hotel angekommen, wo wir das Abendessen einnehmen und übernachten sollten. Ich konnte nicht feststellen, ob wir noch in der Schweiz waren oder schon in Frankreich. Ich hatte den Namen der Stadt, den der Fahrer genannt hatte, nicht verstanden. Ich bekam den Schlüssel zu meinem Zimmer. Jemand hatte meinen Koffer schon dort hingestellt. Etwas später ging ich hinunter in den Speisesaal. Alle Tische waren besetzt, und ich wollte nicht mit Fremden zusammensitzen. Wie ich noch so herumstand, kam ein Junge, der mir vierzehn oder fünfzehn Jahre alt zu sein schien, auf mich zu. Er erinnerte mich an Polen vor dem Krieg mit seinen kurzen Hosen und langen Wollstrümpfen und dem Jackett und dem Schillerkragen. Er war ein gutaussehender Bursche – schwarzes Haar im Bürstenschnitt, glänzende dunkle Augen und eine unge350
wöhnlich blasse Haut. Er schlug die Hacken auf militärische Art zusammen und fragte : »Sir, sprechen Sie Englisch ?« »Ja.« »Sind Sie Amerikaner ?« »Ich bin amerikanischer Bürger.« »Vielleicht würden Sie an unserem Tisch Platz nehmen wollen ? Ich spreche Englisch. Meine Mutter auch ein wenig.« »Wird Ihre Mutter damit einverstanden sein ?« »Ja. Wir haben Sie im Bus gesehen. Sie haben eine amerikanische Zeitung gelesen. Wenn ich mit dem fertig sein werde, was bei Ihnen die höhere Schule ist, möchte ich an einer amerikanischen Universität studieren. Sie sind nicht zufällig ein Professor ?« »Nein, aber ich habe ein paarmal an einer Universität Vorträge gehalten.« »Ja, ich habe auf den ersten Blick gewußt, daß Sie so etwas sind. Bitte, hier ist unser Tisch.« Er führte mich zu seiner Mutter. Sie schien Mitte Dreißig zu sein, rundlich, aber mit einem hübschen Gesicht. Ihr schwarzes Haar war in zwei Knoten über den Ohren aufgesteckt. Sie war teuer angezogen und trug eine Menge Schmuck. Ich sagte »Hallo«, und sie lächelte und antwortete auf französisch. Der Sohn sprach sie auf englisch an : »Mutter, dieser Herr ist aus den Vereinigten Staaten. Ein Professor, so wie ich gesagt habe.« »Ich bin kein Professor. Ich war von einem Colle351
ge eingeladen worden, als Gast-Schriftsteller dort zu wohnen.« »Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich erklärte der Dame, daß ich nicht Französisch spreche, und sie begann in einer Mischung von Englisch und Deutsch zu sprechen. Sie stellte sich als Annette Metalon vor. Der Junge hieß Mark. Die Kellner hatten noch nicht alle Tische bedient, und während wir warteten, sagte ich zu Mutter und Sohn, daß ich Jude sei, daß ich auf jiddisch schreibe und aus Polen stamme. Ich tue das immer so bald wie möglich, damit es später keine Mißverständnisse geben kann. Wenn der Betreffende mit dem ich spreche, ein Snob ist, dann weiß er gleich, daß ich mich nicht als etwas vorstelle, das ich nicht bin. »Sir, ich bin auch Jude. Von der Vaterseite her. Meine Mutter ist Christin.« »Ja, mein Mann war ein Sepharde«, sagte Frau Metalon. Ist Jiddisch eine Sprache oder ein Dialekt ? fragte sie mich. Wurde es mit lateinischen Buchstaben geschrieben oder mit hebräischen ? Wer sprach diese Sprache und gab es eine Zukunft für sie ? Ich beantwortete alle Fragen sehr kurz. Nach einigem Zögern erzählte mir Frau Metalon, sie sei Armenierin und lebe in Ankara, aber daß Mark in London zur Schule ginge. Ihr Mann sei aus Saloniki gewesen. Er hatte ein Export- und Importgeschäft für Orientteppiche gehabt und auch noch andere Geschäfte betrieben. Mir fielen ein Ring mit einem sehr großen 352
Diamanten an ihrem Finger und wunderbare Perlen an ihrem Hals auf. Endlich kam der Kellner, und sie bestellte Wein und ein Steak. Als der Kellner hörte, ich sei Vegetarier, machte er ein Gesicht und teilte mir mit, die Küche sei nicht auf vegetarisches Essen eingerichtet. Ich sagte ihm, ich würde alles essen, was ich bekommen könnte – Kartoffeln, Gemüse, Brot, Käse. Alles, was er mir bringen könnte. Kaum war er gegangen, fingen die Fragen nach meinem Vegetarismus an : Tat ich es aus gesundheitlichen Gründen ? Oder aus Prinzip ? Hatte es etwas mit koscherem Essen zu tun ? Ich war daran gewöhnt, mich zu rechtfertigen, nicht nur Fremden gegenüber, sondern auch vor Leuten, die mich seit Jahren kannten. Als ich Frau Metalon sagte, daß ich keiner Synagoge angehörte, stellte sie mir eine Frage, für die ich nie die Antwort finden konnte – worin bestand meine Jüdischkeit ? Nach dem zu urteilen, wie der Kellner reagiert hatte, nahm ich an, daß ich den Tisch hungrig verlassen würde, aber er brachte mir einen Teller mit Gemüsen und ein Pilzomelette, wie auch Obst und Käse. Mutter und Sohn kosteten beide meine Gerichte und Mark sagte : »Mutter, ich möchte Vegetarier werden.« »Nicht solange du bei mir lebst«, antwortete Frau Metalon. »Ich will nicht in England bleiben, und bestimmt nicht in der Türkei. Ich habe beschlossen, Amerikaner zu werden«, sagte Mark. »Ich habe die amerika353
nische Literatur gern, die Aufrichtigkeit, die Demokratie und den amerikanischen Sinn für Geschäfte. In England gibt es keine Möglichkeiten für jemanden, der dort nicht geboren ist. Ich möchte auch ein amerikanisches Mädchen heiraten. Sir, was für Dokumente braucht man, um ein Visum nach den Vereinigten Staaten zu bekommen ? Ich habe einen türkischen Paß, keinen englischen. Würden Sie, Sir, mir ein Affidavit schicken ?« »Ja, mit Vergnügen.« »Mark, was ist mit dir los ? Du triffst einen Herrn zum erstenmal und sofort bittest du ihn um etwas.« »Was verlange ich denn ? Ein Affidavit ist nur ein Stück Papier und eine Unterschrift. Ich möchte in Harvard studieren oder in Princeton. Sir, welche dieser beiden Universitäten hat die bessere Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ?« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.« »Ach, er hat schon alles für sich bestimmt«, sagte Frau Metalon. »Ein vierzehnjähriges Kind, aber mit einem alten Kopf. In dem Sinn ist er seinem Vater nachgeraten. Er plante immer alles bis ins kleinste Detail und auf Jahre hinaus. Mein Mann war vierzig Jahre älter als ich, aber wir haben ein glückliches Leben geführt.« Sie nahm ein spitzenbesetztes Taschentuch heraus und tupfte damit eine unsichtbare Träne ab. Die für den Bus übliche Routine verlangte, daß jeden Tag die Plätze gewechselt wurden. Das gab jedem ein354
mal die Chance, vorne zu sitzen. Die meisten Ehepaare blieben zusammen, aber die Einzelreisenden wechselten ihre Partner. Am dritten Tag setzte mich der Fahrer neben den Bankier aus Zürich, der offenbar entschlossen war, nicht neben seiner Frau zu sitzen. Er stellte sich mir vor : Dr. Rudolf Weyerhofer. Der Bus hatte Bordeaux, wo wir die Nacht verbracht hatten, verlassen, und wir näherten uns der spanischen Grenze. Zuerst sprach keiner von uns beiden ; dann fing Dr. Weyerhofer von Spanien, Frankreich, der europäischen Lage zu sprechen an. Er fragte mich über Amerika aus, und als ich ihm erzählte, daß ich ein Redaktionsmitglied einer jiddischen Zeitung sei, drehte sich die Unterhaltung um Juden und Judentum. War es nicht seltsam, daß ein Volk seine Identität durch zweitausend Jahre der Wanderschaft behalten habe, der Wanderschaft durch die Länder der Welt, und nach all dem in das Land und die Sprache seiner Vorfahren zurückgekehrt sei ? In der Geschichte der Menschheit der einzige Fall. Dr. Weyerhofer erzählte mir, daß er Graetz’ ›Geschichte der Juden‹ und auch etwas von Dubnow gelesen hatte. Er kannte die Arbeiten von Martin Buber und Klausners ›Jesus von Nazareth‹. Trotz alledem war ihm das Wesen des Juden nicht klargeworden. Er fragte nach dem Talmud, dem Sohar, den Chassidim, und ich antwortete, so gut ich konnte. Ich war sicher, daß er bald anfangen würde, über seine Frau zu sprechen. 355
Frau Weyerhofer war es bereits gelungen, die anderen Reisenden zu irritieren. Sowohl in Lyon wie in Bordeaux hatte der Bus auf sie warten müssen – eine halbe Stunde in Lyon und über eine Stunde in Bordeaux. Diese Verzögerungen brachten den ganzen Fahrplan der Reise durcheinander. Sie war zum Einkaufen gegangen und war beladen mit Paketen zurückgekommen. So, wie sie ihren Mann mir gegenüber als Geizhals hingestellt hatte, der ihr keine Brotkruste gönne, konnte ich nicht begreifen, woher sie das Geld hatte, so viele Sachen einzukaufen. Beide Male entschuldigte sie sich und behauptete, ihre Uhr sei stehengeblieben, aber die Schweizerinnen versicherten, sie habe die Zeiger ihrer goldenen Uhr zurückgestellt. Durch ihr Benehmen demütigte Celina Weyerhofer nicht nur ihren Mann, der sie öffentlich der Lüge zieh, sondern auch mich, denn es war allen im Bus klar, daß sie, wie ich, jüdisch und aus Polen war. Ich kann mich nicht erinnern, wie es kam, aber Dr. Weyerhofer fing an, sich mir gegenüber auszusprechen. Er sagte : »Meine Frau beschuldigt mich des Antisemitismus, aber was bin ich für ein Antisemit, wenn ich eine jüdische Frau, die gerade aus dem Konzentrationslager gekommen war, geheiratet habe ? Ich möchte, daß Sie wissen, welche ungeheuren Schwierigkeiten mir diese Heirat bereitet hat. Zu der Zeit waren viele Leute in den Finanzkreisen mit dem Nazigift infiziert, und ich verlor wichtige Verbindungen. 356
Ich habe ernsthaft daran gedacht, nach Amerika auszuwandern oder vielleicht sogar nach Südafrika, da man mich praktisch aus der christlichen Geschäftswelt ausgeschlossen hatte. Wie heißt das bei Ihnen … cherem ? Der Bann. Meine seligen Eltern lebten damals noch, und sie waren beide fromme Christen. Man könnte ein dickes Buch über das schreiben, was ich durchgemacht habe. Obwohl meine Frau zum Christentum übergetreten ist, tat sie es auf eine Art und Weise, daß die ganze Sache zu einer Farce wurde. Diese Frau schafft sich Feinde, wo immer sie hinkommt, aber ihr schlimmster Feind ist ihre eigene Zunge. Sie hat eine Begabung dafür, in jedem Menschen, den sie trifft, Widerstand zu erwecken. Sie versuchte, zu der jüdischen Gemeinde in Zürich eine Beziehung herzustellen, aber sie sagte so haarsträubende Dinge und gab derartig an, daß die Mitglieder nichts mit ihr zu tun haben wollten. Sie ist zu einem Rabbiner gegangen und hat sich als Atheistin vorgestellt ; sie hat mit ihm eine Diskussion über Religion geführt und hat ihn als Heuchler bezeichnet. Während sie jeden des Antisemitismus beschuldigt, sagte sie selbst Dinge über die Juden, wie man sie von Goebbels erwarten würde. Sie spielt die Rolle einer fanatischen Feministin und schließt sich den Protesten gegen die Regierung der Schweiz an, die den Frauen nicht das Stimmrecht geben will, und gleichzeitig macht sie die Frauen in der wüstesten Form herunter. 357
Ich habe beobachtet, wie sie mit Ihnen gesprochen hat, als sie zusammensaßen, und ich weiß, daß sie Ihnen gesagt hat, wie geizig ich mit Geld sei. Aber die Frau hat eine Kaufmanie. Sie kauft Dinge, die nie gebraucht werden. Ich habe eine große Wohnung, die sie mit so viel Möbeln, Nippes und verrückten Bildern vollgestopft hat, daß man sich kaum darin umdrehen kann. Kein Mädchen will für uns arbeiten. Wir essen im Restaurant, obwohl ich es hasse, nicht zu Haus zu essen. Ich muß verrückt gewesen sein, als ich mich bereit erklärte, mit ihr auf diese Reise zu gehen. Aber es sieht so aus, als ob wir nicht die ganzen zwölf Tage durchstehen werden. Während ich hier sitze und mit Ihnen spreche, denke ich daran, das Geld schießenzulassen und den Bus zu verlassen, noch ehe wir Spanien erreichen. Ich weiß, ich sollte meine persönlichen Probleme nicht so vor Ihnen ausbreiten, aber da Sie Schriftsteller sind, können sie vielleicht nützlich für Sie sein. Ich sage mir oft, daß die Lager und das Umherziehen ihre Nerven zerstört haben, aber ich habe andere Frauen getroffen, die die ganze Hitler-Hölle überlebt haben, und die sind ruhige, zivilisierte, angenehme Menschen.« »Wie kommt es, daß Sie das nicht früher bemerkt haben ?« »Das ist eine gute Frage, die ich mir selbst schon gestellt habe. Schon die Tatsache, daß ich Ihnen all dies erzählt habe, ist mir ein Rätsel, denn wir Schweizer 358
sind zurückhaltend. Offenbar haben die zehn Jahre, die ich mit dieser Frau verbracht habe, meinen Charakter verändert. Angeblich ist sie diejenige, die übergetreten ist, aber es sieht so aus, als sei ich fast ein polnischer Jude geworden. Ich lese alles über die Juden, und ganz besonders alles, was den jüdischen Staat angeht. Ich kritisiere die jüdischen Politiker oft, aber nicht als Fremder – eher als ein Dazugehöriger.« Der Bus hielt. Wir waren an der spanischen Grenze angelangt. Der Fahrer ging mit unseren Pässen in das Büro und blieb lange dort. Dr. Weyerhofer sprach leise, er murmelte fast nur : »Ich will ehrlich sein. Sie hatte etwas Besonderes – sie war für Männer sehr attraktiv. Sexuell war sie ungeheuer anziehend. Ich kann es kaum glauben, daß ich von diesen Dingen spreche – in meinen Kreisen spricht man nicht über Sex, das ist tabu. Aber warum ? Die Menschen denken daran von der Wiege bis zum Grabe. Sie hat eine starke Phantasie, eine perverse Phantasie. Ich habe Erfahrung mit Frauen, und ich weiß Bescheid. Sie hat Dinge zu mir gesagt, die mich in Raserei versetzten. Sie hat mehr Geschichten als Scheherazade in sich. Unsere Tage waren verhext, aber die Nächte waren wild. Sie hat mich so erschöpft, daß ich meine Arbeit nicht mehr leisten konnte. Ist das charakteristisch für jüdische Frauen in Osteuropa ? Die Schweizer Jüdinnen sind nicht viel interessanter als die Christinnen.« 359
»Wissen Sie, Herr Doktor, man kann unmöglich alles verallgemeinern.« »Ich habe das Gefühl, daß viele jüdische Frauen in Polen zu diesem Typ gehören. Ich sehe es in ihren Augen. Ich habe eine Geschäftsreise in den jüdischen Staat gemacht und habe sogar Ben Gurion und andere Israeli-Führer kennengelernt. Wir haben mit der Bank Leumi gearbeitet. Ich habe eine Theorie, daß die heutige jüdische Frau alles nachholen will, was in Jahrhunderten des Gettolebens versäumt wurde. Außerdem sind die Juden ein Volk mit Phantasie, wenn sie auch in der modernen Literatur keine großen Werke geschaffen haben. Ich habe Jakob Wassermann, Stefan Zweig, Peter Altenberg und Arthur Schnitzler gelesen, aber sie haben mich enttäuscht. Ich hatte Besseres von den Juden erwartet. Gibt es interessante Schriftsteller in Jiddisch oder Hebräisch ?« »Interessante Schriftsteller sind unter allen Völkern selten.« »Hier kommt unser Fahrer mit den Pässen.« Wir überquerten die Grenze, und eine Stunde später hielt der Bus, und wir stiegen aus, um in einem spanischen Restaurant zu essen. Im Eingang kam Frau Weyerhofer auf mich zu und sagte : »Sie haben heute vormittag mit meinem Mann zusammengesessen, und ich weiß, Sie haben die ganze Zeit über mich geredet. Ich kann von den Lippen ablesen wie ein Taubstummer. Sie müssen wissen, 360
daß er ein pathologischer Lügner ist. Kein einziges seiner Worte ist wahr.« »Zufällig hat er Sie sehr gelobt.« Celina Weyerhofer straffte sich. »Was hat er gesagt ?« »Daß Sie als Frau ungewöhnlich interessant seien.« »Das hat er gesagt ? Das kann nicht sein. Er ist mehrere Jahre lang impotent gewesen, und seine Nähe hat mich frigide gemacht. Physisch und geistig hat er mich krank gemacht.« »Er lobte Ihre Phantasie.« »Außer meiner Phantasie ist mir nicht viel geblieben. Er saugte mir das Blut aus wie ein Vampir. Er ist sexuell nicht normal. Er ist ein latenter Homosexueller – nicht so ganz latent –, aber wenn ich ihm das sage, bestreitet er es heftig. Er will nur mit Männern Zusammensein, und als wir noch ein gemeinsames Schlafzimmer hatten, hat er ganze Nächte damit verbracht, mich über meine Beziehungen zu anderen Männern auszufragen. Ich mußte Liebschaften erfinden, um ihn zu befriedigen. Später hat er mir diese erfundenen Sünden vorgeworfen und mich mit Schimpfnamen belegt. Er hat mich gezwungen, einzugestehen, daß ich mit einem Nazi etwas gehabt hatte, obwohl ich mir lieber das Fell bei lebendigem Leib hätte abziehen lassen. Vielleicht können wir einen Tisch finden ?« »Ich habe versprochen mit einer Dame und ihrem Sohn zu essen.« 361
»Die, mit der ich Sie gestern im Speisesaal gesehen habe ? Ihr Sohn ist eine Schönheit, aber sie ist zu dick, und wenn sie älter wird, wird sie zerfließen. Haben Sie bemerkt, wie viele Diamanten sie auf sich trägt ? Ein Juweliergeschäft – geschmacklos, ekelhaft. In Lyon und Bordeaux hatte keiner von uns ein Badezimmer, aber sie bekam eins. Wenn sie so reich ist, warum reist sie dann mit dem Bus ? Ihr gibt man kein gewöhnliches Zimmer, sondern eine Suite. Ist sie jüdisch ?« »Ihr verstorbener Mann war Jude.« »So, sie ist eine Witwe. Wahrscheinlich ist sie auf der Suche nach einem Mann. Die Diamanten sind höchstwahrscheinlich Nachahmungen. Was ist sie, Französin ?« »Armenierin.« »Die blöden Männer bringen sich um und hinterlassen solchen Nutten ihr ganzes Vermögen. Wo lebt sie denn ?« »In der Türkei.« »Sehen Sie sich vor. Ein Blick hat mir genügt, um zu sehen, daß sie eine Spinne ist. Aber Männer sind blind.« Ich konnte es kaum glauben, aber ich fing an zu begreifen, daß Mark versuchte, zwischen seiner Mutter und mir eine Verbindung herzustellen. Merkwürdigerweise spielte die Mutter eine so passive Rolle als sei sie eine ältliche Jungfer, für die die Eltern versu362
chen, einen Mann zu finden. Ich sagte mir, daß alles Einbildung sei. Was sollte eine reiche Witwe, eine Armenierin, die in der Türkei lebte, mit einem jiddischen Schriftsteller anfangen ? Welche Zukunft konnte sie darin sehen ? Gewiß, ich war amerikanischer Staatsbürger, aber es würde auch nicht schwer sein für Frau Metalon, ohne mich ein Visum zu erhalten. Ich kam zu dem Schluß, daß ihr vierzehnjähriger Sohn sie hypnotisiert habe – daß er sie dominierte, wie sein Vater es aller Wahrscheinlichkeit nach vor ihm getan hatte. Ich spielte auch mit der Vorstellung, daß die Seele ihres Mannes in Mark eingegangen sei und daß er, ein toter Sepharde, den Wunsch habe, daß seine Frau einen Juden heiratet. Ich versuchte, nicht mit diesem Paar essen zu müssen, aber jedesmal fand Mark mich und sagte : »Sir, meine Mutter wartet auf Sie.« Seine Worte klangen wie ein Befehl. Als die Reihe an mir war, meine vegetarischen Speisen zu bestellen, übernahm es Mark, dem Kellner oder der Kellnerin genau zu sagen, was sie mir bringen sollten. Er konnte Spanisch, weil sein Vater einen Partner gehabt hatte, mit dem er Spaniolisch gesprochen hatte. Ich war nicht gewohnt, zum Essen Wein zu trinken, aber Mark bestellte, ohne mich zu fragen. Wenn wir in eine Stadt kamen, so arrangierte Mark es, daß ich mit seiner Mutter allein blieb und mit ihr alles Mögliche und Souvenirs einkaufen ging. Bei diesen Gelegenheiten warnte er mich ausdrücklich davor, Geld 363
für seine Mutter auszugeben, und wenn ich es schon getan hatte, verlangte er zu wissen, wieviel und veranlaßte seine Mutter, es mir zurückzuzahlen. Als ich protestierte, zog er die Brauen hoch. »Sir, wir brauchen keine Geschenke. Ein jiddischer Schriftsteller kann nicht reich sein.« Er öffnete ihre Handtasche und zählte ab, was immer die Summe gewesen war. Frau Metalon lächelte schüchtern dazu und fügte hinzu, Mark behandele sie, als sei sie seine Tochter. Aber offensichtlich hatte sie diese Beziehung akzeptiert. Ist sie so schwach ? fragte ich mich. Oder steckt dahinter ein System ? Die Situation kam mir besonders seltsam vor, da Mutter und Sohn ja nur während der Ferien zusammen waren. Den Rest des Jahres blieb sie in Ankara, während er in London zur Schule ging. Soweit ich das feststellen konnte, war Mark von seiner Mutter abhängig, wenn er etwas brauchte, mußte er sie um Geld bitten. Zuerst saßen die beiden im Bus zusammen, aber eines Tages sagte er nach dem Mittagessen zu mir, daß ich bei seiner Mutter sitzen solle. Er selbst setzte sich neben Celina Weyerhofer. Er hatte all das ohne die Erlaubnis des Fahrers getan, und ich zweifelte daran, daß er seiner Mutter etwas davon gesagt hatte. Ich hatte neben einer Holländerin gesessen, und dieser Platzwechsel rief bei den Reisenden Geflüster hervor. Von diesem Tag an wurde ich Frau Me364
talons Partner nicht nur im Speisesaal, sondern auch im Autobus. Die Leute fingen an sich zuzuzwinkern, machten Bemerkungen und warfen uns scheele Blikke zu. Die meiste Zeit sah ich aus dem Fenster. Wir fuhren durch Gegenden, die mich an die Wüste erinnerten und an das Land Israel. Bauern ritten auf Eseln. Wir fuhren durch ein Gebiet, in dem Zigeuner in Höhlen lebten. Mädchen balancierten Wasserkrüge auf dem Kopf. Großmütter schleppten Holzbündel und in Leinen gewickelte Kräuter auf den Schultern. Wir kamen an alten Ölbäumen vorüber und an Bäumen, die wie Schirme aussahen. Schafe weideten zwischen rissigen Erdklumpen auf der halbverbrannten Ebene. Ein Pferd ging am Göpel um einen Brunnen. Der blaßblaue Himmel strahlte eine feurige Hitze aus. Etwas Biblisches schwebte über der Landschaft. Stellen aus den Fünf Büchern Mose blitzten in meinem Gedächtnis auf. Mir kam es vor, als sei ich irgendwo in der Ebene von Mamre, wo sich gleich das Zelt Abrahams zeigen würde, und der Engel würde Sara die Botschaft bringen, daß sie im Alter von neunzig Jahren mit einem männlichen Kind gesegnet werden würde. Mein Kopf schwirrte von Geschichten aus Sodom, von der Opferung Isaaks, von Ismael und Hagar. Die Getreidehaufen auf den abgeernteten Feldern erinnerten mich an Josefs Traum. An einem Morgen kamen wir an einem Pferdemarkt vorüber. Die Pferde und die Männer standen still, in einem Schweigen erstarrt wie Phantome eines Marktes 365
aus einer untergegangenen Zeit. Es war schwer sich vorzustellen, daß hier in diesem Land vor fünfzehn Jahren ein Bürgerkrieg getobt hatte und Stalinisten Trotzkisten erschossen hatten. Es war kaum eine Woche seit unserer Abfahrt vergangen, aber mir kam es vor, als sei ich monatelang herumgereist. Durch das lange Sitzen in der gleichen Haltung wurde ich von einem Verlangen überwältigt, das nicht Liebe und auch nicht sexuelle Leidenschaft war, sondern rein animalisch. Es schien, daß meine Partnerin die gleichen Gefühle hatte, denn es ging eine außergewöhnliche Wärme von ihr aus. Als sie zufällig meine Hand berührte, brannte es wie Feuer. Wir saßen stundenlang ohne ein einziges Wort, aber dann begannen wir zu schwatzen und sagten, was uns gerade einfiel. Wir vertrauten einander intime Dinge an. Wir gähnten und redeten weiter im Halbschlaf. Ich fragte sie, wie es gekommen sei, daß sie einen vierzig Jahre älteren Mann geheiratet habe. Sie sagte : »Ich war eine Waise. Die Türken ermordeten meinen Vater, und meine Mutter starb wenig später. Wir waren reich gewesen, aber man nahm uns alles fort. Ich lernte ihn kennen, als ich in seinem Büro arbeitete. Er hatte wilde Augen. Er warf einen Blick auf mich, und ich wußte, daß er mich haben wollte und bereit war, mich zu heiraten. Er hatte einen eisernen Willen. Er hatte auch die Kraft eines Riesen. Wenn er nicht vom frühen Morgen an bis spät in die Nacht Zigarren geraucht hätte, wäre er 366
wahrscheinlich hundert Jahre alt geworden. Er konnte fünfzehn Tassen schwarzen Kaffee am Tag trinken. Er hat mich so erschöpft, daß ich eine Abneigung gegen die Liebe entwickelte. Als er starb, hatte ich den Trost, zur Abwechslung einmal in Ruhe gelassen zu werden. Jetzt ist alles in mir wieder erwacht.« »Waren Sie eine Jungfrau, als Sie heirateten ?« fragte ich halb im Traum. »Ja, ich war eine Jungfrau.« »Haben Sie nach seinem Tod Liebhaber gehabt ?« »Viele Männer wollten mich, aber ich war so erzogen worden, daß ich nicht unverheiratet mit einem Mann leben konnte. In meinen Kreisen in der Türkei kann es sich eine Frau nicht leisten, locker zu leben. Dort weiß jeder von jedem, was er tut. Eine Frau muß ihren Ruf erhalten.« »Wozu brauchen Sie die Türkei ?« »Oh, ich habe ein Haus dort, Hausangestellte, ein Geschäft.« »Hier in Spanien können Sie doch tun, was Sie wollen«, sagte ich und bedauerte meine Worte sogleich. »Aber ich habe eine Anstandsdame bei mir«, sagte sie. »Mark paßt auf mich auf. Ich werde Ihnen etwas erzählen, das Ihnen verrückt vorkommen wird. Er wacht auch über mich, wenn er in London ist und ich in Ankara bin. Ich habe oft das Gefühl, er sieht alles, was ich tue. Ich fühle, daß nicht er es ist, sondern sein Vater.« »Glauben Sie das ?« 367
»Es ist eine Tatsache.« Ich blickte hinter mich und sah Mark, der mich scharf beobachtete, als ob er versuchte, mich zu hypnotisieren. Als wir vor einem Hotel für die Übernachtung anhielten, mußten wir uns erst bei den Toiletten anstellen und dann lange auf unser Abendessen warten. In unseren Zimmern waren die Decken hoch, die Wände dick, und es gab altmodische Waschständer mit Schüsseln und Wasserkrügen. Wir waren an diesem Abend spät angekommen, was bedeutete, daß wir erst um zehn Uhr essen konnten. Wieder bestellte Mark Wein. Aus irgendeinem Grund ließ ich mich überreden, mehrere Gläser zu trinken. Mark fragte mich, ob ich während der Reise Gelegenheit gehabt hätte, ein Bad zu nehmen, und ich sagte ihm, daß ich mich jeden Morgen mit kaltem Wasser in der Schüssel gewaschen hatte wie alle anderen Reisenden auch. Er sah seine Mutter halb fragend, halb befehlend an. Nach einigem Zögern sagte Frau Metalon : »Kommen Sie in unser Zimmer, wir haben ein Badezimmer.« »Wann ?« »Heute abend. Wir fahren um fünf Uhr früh ab.« »Sir, tun Sie es. Ein heißes Bad ist gesund. In Amerika hat jeder ein Badezimmer, sei er Dienstmann oder Pförtner. Die Japaner baden in hölzernen Wannen, die ganze Familie zusammen. Kommen Sie eine 368
halbe Stunde nach dem Essen. Es ist nicht gut, direkt nach der Mahlzeit zu baden.« »Ich würde Sie beide stören. Sie sind offensichtlich müde.« »Nein, Sir, ich gehe nie vor eins oder zwei ins Bett. Ich möchte noch ein wenig durch die Stadt spazieren. Ich muß meine Beine etwas strecken. Ich bin von dem Sitzen im Bus den ganzen Tag steif geworden. Meine Mutter geht auch spät zu Bett.« »Haben Sie nicht Angst, allein nachts in einer fremden Stadt herumzugehen ?« fragte ich. »Ich habe vor niemandem Angst … Ich habe einen Kurs im Ringen und in Karate genommen. Ich habe auch Schießunterricht. Es ist für Jungens in meinem Alter nicht erlaubt, aber ich habe einen Privatlehrer.« »Ach, er nimmt mehr Kurse, als ich Haare auf dem Kopf habe«, sagte Frau Metalon. »Er will alles wissen.« »In Amerika werde ich Jiddisch lernen«, verkündete Mark. »Ich habe irgendwo gelesen, daß anderthalb Millionen Menschen in Amerika diese Sprache sprechen. Ich möchte Sie im Original lesen. Es ist auch wichtig für Geschäfte. Amerika ist eine wirkliche Demokratie. Dort muß man mit dem Kunden in seiner Sprache reden. Ich möchte, daß meine Mutter mit mir nach Amerika geht. In der Türkei ist keiner, der aus Armenien stammt, seines Lebens sicher.« »Meine Freunde sind alles Türken«, widersprach Frau Metalon. 369
»Wenn einmal die Pogrome anfangen, dann werden sie nicht mehr deine Freunde sein. Meine Mutter versucht, es vor mir zu verbergen, aber ich weiß genau, was man den Armeniern in der Türkei und den Juden in Rußland angetan hat. Ich möchte Israel besuchen. Dort lassen sich die Juden nicht unterdrücken wie in Rußland und Polen. Sie leisten Widerstand. Ich will Hebräisch lernen und an der Universität in Jerusalem studieren.« Wir verabschiedeten uns voneinander, und Mark schrieb die Nummer ihres Zimmers auf einen kleinen Zettel, den er aus einem Notizbuch riß. Ich ging auf mein Zimmer, um ein wenig zu ruhen. Meine Beine waren wackelig, als ich die Treppe hinaufging. Ich legte mich angezogen auf mein Bett, um eine halbe Stunde zu ruhen. Ich schloß die Augen und sank in tiefen Schlaf. Jemand weckte mich – es war Mark. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wie er in mein Zimmer gelangt war. Vielleicht hatte ich die Tür nicht abgeschlossen, oder er hatte dem Zimmermädchen ein Trinkgeld gegeben, damit sie ihn hereinließ. Er sagte : »Sir, entschuldigen Sie, aber Sie haben eine ganze Stunde geschlafen. Offenbar haben Sie vergessen, daß Sie für ein Bad zu uns kommen wollten.« Ich versicherte Mark, daß ich in zehn Minuten unten sein würde, und nach einigem Zögern ging er. Mich auszuziehen und meinen Bademantel und die Hausschuhe aus dem Koffer zu holen war nicht einfach für 370
mich. Ich verfluchte den Tag, an dem ich mich entschlossen hatte, diese Reise zu unternehmen, aber ich hatte nicht den Mut gehabt, Mark zu sagen, daß ich nicht kommen würde. Bei all seinem Feingefühl und seiner Höflichkeit strahlte Mark eine Art kindlicher Brutalität aus. Ich warf meinen Frühjahrsmantel über meinen Bademantel und ging auf unsicheren Beinen zwei Stockwerke hinunter zu ihrem Zimmer. Ich war noch nicht recht wach, und einen Augenblick lang glaubte ich, daß ich auf einem Schiff sei. Als ich auf der Etage der Metalons angelangt war, suchte ich nach dem Stückchen Papier mit der Zimmernummer und fand es nicht. Ich war sicher, es war Nummer 43, aber die winzige Birne hoch oben an der Decke war von einem Schirm verhüllt und gab kaum Licht. In der Dunkelheit konnte ich die Nummer nicht erkennen. Ich brauchte lange, ehe ich sie fand und an die Tür klopfte. Die Tür öffnete sich, und zu meinem Erstaunen sah ich Celina Weyerhofer im Nachthemd, ihr Gesicht war dick mit Creme eingeschmiert. Ihr Haar sah naß und frisch gefärbt aus. Ich wurde so verwirrt, daß ich nicht sprechen konnte. Schließlich fragte ich : »Ist dies Nummer 43 ?« »Ja, dies ist 43. Wohin wollen Sie denn ? Oh, ich verstehe. Ihre Dame mit den Diamanten ist hier irgendwo auf diesem Flur. Ich habe den Sohn gesehen. Sie haben sich geirrt.« »Gnädige Frau, ich will Sie nicht aufhalten. Aber 371
ich möchte Ihnen doch sagen, daß sie mich eingeladen haben, ein Bad zu nehmen, das ist alles.« »So, ein Bad ? Nennen wir es so. Ich habe seit über einer Woche kein Bad gehabt. Was ist das für eine Reise, auf der einige Teilnehmer Privilegien haben und andere benachteiligt sind ? In dem Inserat war nichts von zwei Klassen von Reisenden zu lesen. Mein lieber Herr – wie war Ihr Name ? –, ich habe Sie gewarnt, daß diese Person Sie einfangen würde, und ich sehe, das ist noch schneller passiert, als ich annehmen konnte. Warten Sie einen Augenblick, Ihr Bad läuft Ihnen nicht davon. Seit wann nennt man das ein Bad ? Wir haben dafür einen anderen Namen. Laufen Sie nicht davon. Da Sie die Nummer vergessen haben, müssen Sie an die Türen von Fremden klopfen und Leute aufwecken. Alle sind todmüde. Auf dieser Tour muß man schon wieder aufstehen, nachdem man sich kaum erst hingelegt hat. Mein Mann ist ein guter Schläfer. Er legt sich hin, schlägt ein Buch auf und zwei Minuten später schnarcht er wie ein Murmeltier. Er trägt immer seinen Wecker mit sich herum. Ich schlafe überhaupt nicht mehr. Buchstäblich. Das ist meine Krankheit. Ich habe seit Jahren schon nicht mehr geschlafen. Ich habe das einem Arzt in Bern gesagt – er ist ein Professor der Medizin – und er hat mich eine Lügnerin genannt. Die Schweizer können sehr grob sein, wenn sie wollen. Er hatte irgend etwas in einem medizinischen Buch gelesen, oder er hatte eine Theorie, und da die Tatsa372
chen nicht mit seiner Theorie übereinstimmten, war ich eine Lügnerin. Ich habe Sie beobachtet, während Sie mit dieser Person zusammensaßen. Es sah so aus, als ob Sie ihr Witze erzählten, nach der Art wie sie lachte. Mein Mann saß einmal neben ihr, bevor sie Sie mit Beschlag belegte, und sie hat ihm Dinge erzählt, die keine anständige Frau einem Fremden erzählen würde. Ich vermute, sie ist in der Türkei eine Bordellmutter. Oder irgend etwas Ähnliches. Keine anständige Frau trägt so viel Schmuck. Ihr Parfüm riecht man schon meilenweit. Ich bin nicht einmal sicher, daß dieser Junge ihr Sohn ist. Da scheint eine unnatürliche Beziehung zwischen den beiden zu bestehen.« »Frau Weyerhofer, was sagen Sie da ?« »Ich greife das nicht so aus der Luft. Gott hat mich mit Augen gestraft, die sehen. Ich sage ›gestraft‹, weil es für mich eher eine Strafe als ein Segen ist. Wenn Sie unbedingt ein Bad nehmen müssen, wie Sie es nennen, tun Sie es und befriedigen Sie sich, aber seien Sie vorsichtig – so eine Person kann Sie leicht mit Gott weiß was infizieren.« Gerade in diesem Augenblick ging die Tür auf der anderen Seite des Korridors auf, und ich erblickte Frau Metalon in einem prachtvollen Nachthemd und goldenen Hausschuhen. Ihr Haar war offen und fiel bis zu den Schultern. Sie war auch geschminkt. Die Frauen sahen einander wütend an, dann sagte Frau Metalon : 373
»Wohin sind Sie denn gegangen ? Ich bin in 48, nicht 43.« »Ach, ich habe mich geirrt. Wirklich, ich bin ganz verwirrt. Es tut mir furchtbar leid –« »Gehen Sie und nehmen Sie Ihr Bad !« sagte Frau Weyerhofer und gab mir einen leichten Stoß. Sie murmelte etwas auf französisch, was ich nicht verstand, von dem ich aber wußte, daß es beleidigend war. Sie warf ihre Tür zu. Ich wandte mich Frau Metalon zu, die fragte : »Warum sind Sie ausgerechnet zu ihr gegangen ? Ich habe auf Sie gewartet und gewartet. Jetzt gibt es kein heißes Wasser mehr. Und wohin ist Mark verschwunden ? Er wollte etwas Spazierengehen und ist noch nicht zurück. Dieser Abend ist ein verlorener für mich. Diese Frau – wie heißt sie ? Weyerhofer – ist eine Unruhestifterin und dazu noch verrückt. Ihr eigener Mann hat zugegeben, daß sie nicht ganz in Ordnung ist.« »Gnädige Frau, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Mark hatte Ihre Zimmernummer für mich aufgeschrieben, aber während ich mich umgekleidet habe, ist mir der Zettel abhanden gekommen. Das kommt daher, daß ich so müde bin.« »Ach, jetzt wird mich diese rothaarige Nutte vor allen Leuten im Bus verleumden ! Sie ist eine Schlange, und jedes Wort von ihr ist Gift.« »Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich entschuldigen soll, aber –« »Schon gut, es ist nicht Ihr Fehler. Mark hat die374
se ganze Geschichte heraufbeschworen. Der Fahrer hat mir gesagt, ich soll es nicht wissen lassen, daß wir ein Badezimmer bekommen haben. Er will nicht, daß unter den Reisenden Eifersucht entsteht. Jetzt wird er wütend auf mich sein, und er hat recht. Ich kann diese Reise nicht länger mitmachen. Ich werde mit Mark in Madrid aussteigen und einen Zug oder ein Flugzeug bis zur Grenze oder vielleicht sogar bis Paris nehmen. Kommen Sie auf einen Augenblick herein. Kompromittiert bin ich bereits.« Ich trat ein, und sie führte mich in das Badezimmer, um mir zu zeigen, daß es kein heißes Wasser mehr gab. Die Wanne war aus Zinn. Sie war ungewöhnlich hoch und lang. An der Außenseite hing eine Art Stange, mit der man das Wasser einlaufen und auslaufen ließ. Die Hähne waren aus Kupfer. Ich entschuldigte mich nochmals, und Frau Metalon sagte : »Sie sind ein unschuldiges Opfer. Mark ist ein Genie, aber wie alle Genies ist er launenhaft. Er war ein Wunderkind. Mit fünf Jahren konnte er mit Logarithmen rechnen. Er las die Bibel auf französisch und erinnerte sich an alle Namen. Er liebt mich und hat entschieden, daß ich jemanden kennenlernen muß. Die Wahrheit ist, daß er einen Vater sucht. Jedesmal, wenn ich mit ihm auf eine Reise gehe, sieht er sich nach einem Mann für mich um. Er verursacht damit peinliche Schwierigkeiten. Ich will bestimmt nicht heiraten – jedenfalls nicht jemanden, den Mark für mich aussucht. Aber er handelt unter einem Zwang. Er wird hysterisch. Ich 375
sollte Ihnen das nicht erzählen, aber ich habe Grund, es doch zu tun. Wenn ich etwas tue, was ihm mißfällt, dann beschimpft er mich. Hinterher bedauert er es und schlägt mit dem Kopf gegen die Wand. Was soll ich tun ? Ich liebe ihn mehr als das Leben. Ich sorge mich um ihn Tag und Nacht. Ich weiß wirklich nicht, warum Sie so einen Eindruck auf ihn gemacht haben. Vielleicht, weil Sie ein Jude sind, ein Schriftsteller und aus Amerika. Aber ich bin in Ankara geboren und dort bin ich zu Haus. Was sollte ich in Amerika tun ? Ich habe einige Artikel über Amerika gelesen, das ist kein Land für mich. Bei uns sind Dienstboten billig, und ich habe Freunde, die mir in finanziellen Dingen Rat erteilen. Wenn ich die Türkei verlassen würde, müßte ich alles für einen Spottpreis verkaufen. Ich sage das nur, damit Sie wissen, daß es zwischen uns nichts geben kann. Sie würden ebenso wenig in der Türkei leben wollen Avie ich in New York. Aber ich will Mark nicht aufregen, und daher hoffe ich, daß Sie für die Dauer der Reise freundlich zu mir sein werden – mit uns essen und alles andere. Wenn die Reise zu Ende sein wird und Sie nach Hause zurückkehren werden, lassen Sie es nichts weiter sein als eine Episode. Er wird bald zurück sein. Sagen Sie ihm, daß Sie ein Bad genommen haben. Sie können eins in Madrid haben. Wir werden dort fast zwei Tage bleiben und man hat mir gesagt, daß das Hotel modern sei. Ich bin sicher, Sie haben jemanden in New York, den Sie lieben. Setzen Sie sich ein Weilchen.« 376
»Ich habe mich gerade von einer Frau getrennt.« »Getrennt ? Warum ? Liebten Sie sie nicht ?« »Wir liebten uns, aber wir konnten nicht zusammenbleiben. Das vergangene Jahr gab es ununterbrochen Streit.« »Warum ? Warum können Menschen nicht im Frieden miteinander leben ? Zwischen meinem Mann und mir bestand eine große Liebe, allerdings muß ich gestehen, daß ich ihm in allem nachgab. Er hat mich so eingeschüchtert, daß ich zu meinem eigenen Kind nicht nein sagen kann. Oh, ich bin in Sorge. Er ist noch nie so lange fortgeblieben. Wahrscheinlich möchte er, daß Sie mir Ihre Liebe gestehen, so daß, wenn er zurückkommt, zwischen uns alles arrangiert ist. Er ist ein Kind, ein wildes Kind. Meine größte Angst ist, daß er sich das Leben nehmen könnte. Er hat damit gedroht.« Sie stieß die letzten Worte in einem Atemzug aus. »Warum ? Warum ?« »Aus gar keinem Grund. Weil ich mit ihm wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten habe. Allmächtiger Gott, warum erzähle ich Ihnen das alles ? Nur weil mir schwer ums Herz ist. Sagen Sie bloß nichts davon, um Gottes willen !« Die Tür ging auf, und Mark kam herein. Als er mich auf dem Sofa sitzen sah, fragte er : »Sir, haben Sie ein Bad genommen ?« »Ja.« »Das war angenehm, nicht wahr ? Sie sehen erfrischt 377
aus. Worüber haben Sie gerade mit meiner Mutter gesprochen ?« »Ach, dies und jenes. Ich habe ihr gesagt, sie sei eine der hübschesten Frauen, der ich je begegnet bin«, sagte ich und war erstaunt über meine Worte. »Ja, sie ist hübsch, aber sie darf nicht in der Türkei bleiben. Im Orient altern die Frauen früh. Ich habe einmal gelesen, daß am Broadway eine sechzigjährige Schauspielerin ein achtzehnjähriges Mädchen gespielt hat. Schicken Sie uns ein Affidavit, und wir werden zu Ihnen kommen.« »Ja, ich werde das tun.« »Sie dürfen meiner Mutter einen Gutenachtkuß geben.« Ich stand auf, und wir küßten uns. Mein Gesicht wurde feucht und heiß. Mark fing auch an, mich zu küssen. Ich sagte gute Nacht und ging die Treppe hinunter. Wieder schien es mir, als sei ich auf einem Schiff. Die Stufen liefen meinen Füßen zuwider. Plötzlich fand ich mich in der Halle. In meiner Verwirrung war ich noch ein Stockwerk tiefer geraten. Es war fast dunkel ; der Nachtportier war hinter seinem Pult eingeschlafen. In einem Ledersessel saß Frau Weyerhofer in einem Morgenrock, mit übergeschlagenen Beinen, in Schatten gehüllt. Sie rauchte eine Zigarette. Als sie mich sah, sagte sie: »Da ich doch nicht schlafen kann, verbringe ich die Nacht lieber hier unten. Ein Bett ist zum Schlafen und für die Liebe da, aber wenn 378
man nicht schlafen kann und niemanden zum Lieben hat, dann wird das Bett zum Gefängnis. Was machen Sie denn hier? Können Sie auch nicht schlafen?« Sie zog den Rauch tief ein, und die glühende Zigarette beleuchtete ihre Augen. Sie spiegelten Neugier wie auch Unbehagen wider. Sie sagte : »Nach dieser Art von Bad sollte ein Mann schlafen können und nicht wie eine verlorene Seele herumirren.« Mark begann jedem im Bus zu erzählen, daß seine Mutter und ich verlobt seien. Er machte Pläne, nach denen ich nach unserer Ankunft in Genf den amerikanischen Konsul um Visen für seine Mutter und ihn zu bitten hatte, damit wir alle drei zusammen nach Amerika fliegen könnten. Frau Metalon sagte ihm mehrere Male, daß dies unmöglich wäre – sie habe einen Geschäftstermin in Ankara. Ich erfand die Lüge, nach Italien fahren zu müssen, in einer literarischen Angelegenheit. Aber Mark behauptete, seine Mutter und ich könnten unsere geschäftlichen Verabredungen vorübergehend vertagen. Er sprach zu mir, als sei ich bereits sein Stiefvater. Er zählte die finanziellen Aktiva seiner Mutter auf. Sein Vater hatte für ihn ein Treuhandvermögen eingerichtet und den Rest seines Vermögens seiner Frau hinterlassen. Nach Marks Berechnungen besaß sie nicht weniger als zwei Millionen Dollar – vielleicht noch mehr. Mark wollte, daß seine Mutter ihren ganzen Besitz in der Türkei ver379
kaufen und das Geld nach Amerika transferieren solle. Er würde zum Studium nach Amerika gehen, noch ehe er die Schule abgeschlossen hätte. Die Zinsen von dem Kapital seiner Mutter würden uns erlauben, im Luxus zu leben. Mark hatte beschlossen, daß wir uns in Washington niederlassen würden. Es war kindisch und dumm, aber dieser Junge machte mir angst. Ich wußte, es würde schwer sein, sich von ihm loszumachen. Seine Mutter hatte angedeutet, daß eine weitere Enttäuschung ihn dazu bringen könnte, einen Selbstmordversuch zu machen. Sie schlug vor : »Vielleicht könnten Sie sich eine Zeitlang bei mir in der Türkei aufhalten ? Die Türkei ist ein interessantes Land. Dann hätten Sie auch gleich Material für Berichte in Ihrer Zeitung. Sie könnten zwei oder drei Wochen dort verbringen und dann nach Amerika zurückkehren. Mark würde nicht mit uns kommen wollen. Er wird allmählich merken, daß wir nicht für einander gemacht sind.« »Was sollte ich denn in der Türkei machen ? Nein, das ist unmöglich.« »Wenn es um Geld geht, ich wäre gern bereit, für Ihre Unkosten aufzukommen. Sie können auch bei mir wohnen.« »Nein, Frau Metalon, es kommt nicht in Frage.« »Nun, es wird irgend etwas passieren. Was soll ich nur mit diesem Jungen anfangen ? Er treibt mich zum Wahnsinn.« 380
Wir verbrachten zwei Tage in Madrid, einen in Cordoba, und wir waren auf dem Weg nach Sevilla, wo wir zwei Tage bleiben sollten. Das Reiseprogramm versprach einen Besuch in dem dortigen Nachtklub. Die Route sollte uns durch Malaga, Granada und Valencia nach Barcelona und von dort nach Avignon, dann zurück nach Genf bringen. In Cordoba ließ Frau Weyerhofer den Bus fast zwei Stunden warten. Sie verschwand vor unserer Abfahrt aus dem Hotel, und alles Suchen blieb vergeblich. Ihretwegen hatten die Reisenden schon einen Stierkampf versäumt. Dr. Weyerhofer drängte den Fahrer loszufahren und seine verrückte Frau allein in Spanien zurückzulassen, wie sie es verdiente, aber der Fahrer brachte es nicht über sich, eine Frau in einem fremden Land sich selbst zu überlassen. Als sie schließlich mit Paketen und Taschen beladen erschien, gab Dr. Weyerhofer ihr zwei Ohrfeigen. Ihre Pakete fielen zu Boden und eine Vase zerbrach. »Nazi«, schrie sie. »Homosexueller ! Sadist !« Dr. Weyerhofer sagte laut, so daß jeder es hören konnte : »Gott sei Dank, das ist das Ende meines Martyriums.« Und er erhob seine Hand zum Himmel wie ein frommer Jude, der einen Schwur ablegt. Der Aufruhr verursachte einen weiteren Aufschub von einer dreiviertel Stunde. Als Frau Weyerhofer endlich den Bus bestieg, wollte niemand neben ihr sitzen, und der Fahrer, der gesehen hatte, daß wir mehrmals miteinander gesprochen hatten, frag381
te mich, ob ich neben ihr sitzen würde, denn es gab keine Einzelplätze. Mark versuchte, mich neben seine Mutter zu setzen und meinen Platz einzunehmen, aber Frau Melaton schrie ihn an, er solle bei ihr sitzen bleiben, und er gab nach. Lange Zeit starrte Frau Weyerhofer aus dem Fenster und ignorierte mich, als wäre ich der für ihre Schande Verantwortliche. Dann wandte sie sich mir zu und sagte : »Geben Sie mir Ihre Adresse. Ich möchte, daß Sie vor Gericht mein Zeuge sind.« »Was für ein Zeuge ? Wenn es dazu kommen sollte, würde das Gericht zu seinen Gunsten entscheiden und – verzeihen Sie – mit Recht.« »Ach, ich verstehe. Jetzt, wo Sie sich vorbereiten, die armenische Erbin zu heiraten, stellen Sie sich bereits auf die Seite der Antisemiten.« »Gnädige Frau, Ihr eigenes Betragen schadet den Juden mehr als alle Antisemiten.« »Sie sind meine Feinde, Todfeinde. Ihre Dame aus Konstantinopel glühte vor Freude, als diese Teufel mich demütigten. Ich bin wieder, wo ich gewesen bin – in einem Konzentrationslager. Sie sind dabei, überzutreten, ich weiß, aber ich werde zu meinem jüdischen Gott zurückkehren. Ich bin nicht mehr seine Frau, und er ist nicht mehr mein Mann. Ich lasse ihm alles und flüchte mit meinem Leben, so wie ich es 1945 getanhabe.« »Warum haben Sie in jeder Stadt den Bus warten lassen ? Das hat doch nichts mit Jüdischkeit zu tun.« 382
»Es ist eine Verschwörung, sage ich Ihnen. Er hat das alles bis zum letzten Detail organisiert. Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, aber gegen Morgen, wenn ich gerade eingeschlafen bin, stellt er die Uhr zurück. Als Sie neulich am Abend an meine Tür klopften – was war das für eine Stadt ? –, als Sie auf dem Wege waren, ein Bad zu nehmen bei dieser türkischen Hure, das war auch einer seiner Tricks. Es war eine Verschwörung, damit er mich mit einem Liebhaber antreffen konnte. Das ist ganz klar. Er will mich ohne ein Hemd auf dem Leibe davonjagen, und er hat sein Ziel erreicht, der schlaue Fuchs. Man wird mich nicht in die Schweiz lassen, aber wer wird mich aufnehmen? Es sei denn, es gelingt mir, nach Israel zu gehen. Jetzt verstehe ich alles, Sie werden sein Zeuge sein, nicht meiner.« »Ich werde für niemanden Zeuge sein. Reden Sie keinen Unsinn.« »Sie glauben offenbar, daß ich verrückt bin. Das ist sein Ziel – mich in eine Anstalt zu bringen. Seit Jahren spricht er davon. Er hat es auch schon versucht. Er schickt mich immer wieder zu Psychiatern. Er wollte mich auch schon vergiften. Dreimal hat er mir Gift ins Essen gemischt und dreimal warnte mich mein Instinkt – oder vielleicht war es Gott. Übrigens, Sie sollen wissen, daß dieser Junge, Mark, der so gern möchte, daß Sie neben dieser türkischen Konkubine sitzen, gar nicht ihr Sohn ist.« »Wer ist er dann ?« 383
»Er ist ihr Liebhaber, nicht ihr Sohn. Sie schläft mit ihm.« »Waren Sie dabei und haben es gesehen ?« »Ein Zimmermädchen in Madrid hat es mir gesagt. Sie irrte sich und öifnete am Morgen die Tür und fand die beiden im Bett zusammen. Es gibt solche kranken Frauen. Eine will einen Schoßhund und eine andere einen jungen Burschen. Wirklich, Sie wälzen sich im Dreck.« »Ich wälze mich nirgends.« »Sie nehmen sie mit nach Amerika ?« »Ich nehme niemanden mit.« »Nun, ich halte lieber meinen Mund.« Frau Weyerhofer kehrte sich von mir ab. Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloß meine Augen. Ich wußte wohl, daß die Frau geistesgestört war ; trotzdem, ihre letzten Worte hatten mir einen Schock gegeben. Wer weiß ? Was sie mir erzählt hatte, konnte die Wahrheit sein. Sexuelle Perversion ist die Antwort auf viele Rätsel. Ich wurde von Übelkeit fast überwältigt. Ja, dachte ich, sie hat recht. Ich wälze mich im Dreck. Ich hatte nur einen Wunsch – aus diesem Bus so schnell wie möglich hinauszukommen. Mir fiel ein, daß ich trotz meiner Intimität mit Frau Metalon und Mark ihnen meine Adresse nicht gegeben hatte. Ich nickte ein, und als ich meine Augen öffnete teilte mir Mark mit, daß wir in Sevilla angekommen waren. Ich hatte über drei Stunden geschlafen. 384
Trotz unserer späten Abfahrt hatten wir noch Zeit für ein eiliges Essen. Wie gewöhnlich saß ich mit Frau Metalon und Mark zusammen. Mark hatte eine Flasche Malaga bestellt, und ich hatte gut die Hälfte davon getrunken. Aus meinem Magen stiegen Dämpfe der Trunkenheit auf in mein Gehirn. Gegenstand der Unterhaltung an den Tischen waren Herr und Frau Weyerhofer. Alle Frauen stimmten darin überein, daß Dr. Weyerhofer ein Heiliger sei, wenn er sich mit so einer furchtbaren Person abgefunden hatte. Frau Metalon sagte : »Ich glaube schon, daß dies ihr Ende sein wird. Selbst die Geduld eines Heiligen muß einmal reißen. Er ist ein Bankier und ein gutaussehender Mann. Er wird nicht lange allein bleiben.« »Ich möchte ihn nicht zum Vater haben«, sagte Mark. Frau Metalon lächelte und zwinkerte mir zu. »Warum nicht, mein Sohn ?« »Weil ich in Amerika leben und studieren möchte, nicht in der Schweiz. Die Schweiz taugt nur zum Bergsteigen und Skilaufen.« »Mach dir keine Sorgen, das kommt nicht in Frage.« Während sie sprach tat Frau Metalon etwas, das sie vorher nie getan hatte – sie drückte ihr Knie gegen mein Knie. 385
Vor dem Hotel warteten Wagen, um uns in ein Kabarett zu bringen. In ihren Laternen flackerten Kerzen und warfen geheimnisvolle Muster von Licht und Schatten. Ich war nie mehr in einem Pferdewagen gefahren, seit ich Warschau verlassen hatte. Der ganze Abend war von einem magischen Zauber erfüllt – die Fahrt vom Hotel zum Kabarett mit Frau Metalon und Mark, und später die Vorführungen. In der Kutsche, während wir durch die schwach erleuchteten Straßen von Sevilla fuhren, hielt Frau Metalon meine Hand. Mark saß uns gegenüber, und seine Augen glänzten wie die eines Nachtvogels. Die Luft war balsamisch, erfüllt von den Düften des Weins, des Ölivenöls und der Gardenien. Frau Metalon rief immer wieder aus : »Was für ein herrlicher Abend ! Sehen Sie den Himmel an, so voller Sterne !« Ich berührte ihre Brust, und sie zitterte und drückte ihr Knie gegen meines. Wir waren beide betrunken, nicht so sehr vom Wein als von Müdigkeit. Wieder fühlte ich die Hitze ihres Körpers. Als wir aus der Kutsche stiegen, ging Mark ein paar Schritte vor uns, und Frau Metalon flüsterte : »Ich möchte gern noch ein Kind haben.« »Von wem ?« fragte ich. »Raten Sie«, sagte sie. Ich weiß nicht, ob die Schauspieler und Schauspielerinnen und die Musik und der Tanz wirklich so meisterhaft waren, wie ich dachte, aber alles, was ich an diesem Abend sah und hörte, entzückte mich 386
– die halb arabische Musik, die fast chassidische Art des stampfenden Tanzes, das bedeutungsvolle Klappern der Kastagnetten und die ungewöhnlichen Kostüme. Melodien, die vermutlich erotisch sein sollten, erinnerten mich an liturgische Gesänge am Abend des Kol Nidre. Mark fand einen freien Platz nahe der Bühne und ließ uns allein. Wir küßten uns mit der Glut lang getrennter Liebender. Zwischen einem Kuß und dem nächsten bestand Frau Metalon (sie hatte mir gesagt, ich sollte sie Annette nennen) darauf, daß ich sie nach Ankara begleite. Sie war auch bereit, Amerika zu besuchen. Ich hatte einen dieser Siege errungen, die ich nie erklären konnte, außer durch die Tatsache, daß in dem Duell der Liebe das Opfer manchmal ebenso ungeduldig ist sich zu ergeben, wie der Angreifer zu siegen. Diese Frau hatte viele Jahre allein gelebt. Sie war an die Umarmungen eines älteren Mannes gewöhnt. Als ich an diese Dinge dachte, warnte ich mich, daß Mark nicht erlauben würde, daß unsere Beziehung nur eine Liebschaft bliebe. Ab und zu sah er sich nach uns um. Ich glaubte Frau Weyerhofers verleumderischer Erzählung von Mutter und Sohn nicht, aber es war offensichtlich, daß Mark imstande war, jemanden umzubringen, der seine Mutter entehrte. Die Worte der Frau, daß sie noch ein Kind haben wolle, zeigten Gefahr an. Wie stark auch immer mein Verlangen nach ihrem Körper war, so wußte ich doch, daß es zwischen uns keine geisti387
ge Verbindung gab und daß nach einiger Zeit Mißverständnisse, Langeweile und Reue auftreten würden. Außerdem hatte ich immer Angst vor Türken gehabt. Als Kind hatte ich Einzelheiten über Abdul-Hamids Grausamkeit gelesen. Später las ich über die Pogrome gegen die Armenier. Dort, in dem fernen Ankara konnten sie ganz leicht irgendwelche Anschuldigungen gegen mich fabrizieren, mir meinen amerikanischen Paß wegnehmen und mich ins Gefängnis werfen, aus dem ich nicht lebend herauskommen würde. Wie merkwürdig, als Schüler im Cheder hatte ich geträumt, daß ich mit dicken Stricken gefesselt in einem türkischen Gefängnis lag, und aus irgendeinem Grund hatte ich diesen Traum nie vergessen. Auf dem Rückweg vom Nachtklub fragten mich sowohl Mutter wie Sohn, ob ich eine Badewanne in meinem Zimmer habe. Ich sagte nein, und sofort boten sie mir an, in ihrer Suite zu baden. Mark fügte hinzu, daß er einen Spaziergang durch die Stadt machen wolle. Da wir auch die folgende Nacht in Sevilla verbringen sollten, mußten wir am nächsten Morgen nicht so früh aufstehen. Frau Metalon und Mark hatten eine Suite von drei Zimmern zugewiesen bekommen. Ich versprach vorbeizukommen und Frau Metalon sagte : »Seien Sie nicht so spät. Das heiße Wasser könnte sich bald abkühlen.« Ihre Worte schienen eine symbolische Bedeutung zu haben, als seien sie aus einer Parabel. Ich ging auf mein Zimmer, das direkt unter dem 388
Dach lag. Es strömte eine sengende Hitze aus. Die Sonne hatte den ganzen Tag hineingeschienen, und ich drehte das Licht an und blieb lange stehen, von der Hitze und den Erfahrungen des Tages betäubt. Ich hatte das Gefühl, daß von allen Seiten plötzlich Flammen züngelten und das Zimmer wie eine Papierlaterne brennen würde. Auf dem Messingbett lag ein riesiges Kissen und eine rote fleckige Decke. Ich hatte das Bedürfnis mich auszustrecken, aber das Leintuch schien mir schmutzig zu sein. Ich bildete mir ein, das Sperma zu riechen, das von wer weiß wie vielen Touristen hier vergossen worden war. Mein Bademantel und mein Pyjama waren im Koffer und ich hatte nicht die Kraft, ihn aufzumachen. Und was hatte es für einen Zweck zu baden, wenn ich mich danach in dieses schmutzige Bett legen mußte ? In der Kutsche und im Kabarett war ich von Leidenschaft erfüllt gewesen. Jetzt, wo ich die Möglichkeit hatte, mit der Frau allein zu sein, war die Leidenschaft verraucht. Statt dessen ärgerte ich mich über diese reiche türkische Witwe und ihren verwöhnten Sohn. Ich sicherte mich dagegen, daß Mark mich aufwecken könnte. Ich verschloß die Tür mit einem schweren Schlüssel und schob auch noch einen Riegel vor. Ich löschte das Licht und legte mich in meinen Sachen auf die Sprungfedermatratze, entschlossen, allen Versuchungen zu widerstehen. Das Hotel lag in einer lauten Gegend. Junge Männer schrien, und Mädchen lachten ausgelassen. Von 389
Zeit zu Zeit hörte ich einen Mann schreien und seufzen. War das draußen ? In einem anderen Zimmer ? War jemand ermordet worden ? Gefoltert ? Wer weiß, konnte es hier nicht noch Überreste der Inquisition geben ? Ich fühlte, daß ich gestochen worden war, und ich kratzte mich. Ich schwitzte, aber ich machte keine Anstalten, den Schweiß abzuwischen. »Die Reise war der reinste Wahnsinn«, sagte ich zu mir. »Die ganze Situation ist von Gefahren erfüllt.« Ich schlief ein und diesmal kam Mark nicht, um mich zu wecken. Gegen Morgen wurde es kalt, und ich deckte mich mit der gleichen Decke zu, die mich vor ein paar Stunden mit solchem Ekel erfüllt hatte. Als ich aufwachte, brannte die Sonne bereits. Ich wusch mich in dem lauwarmen Wasser aus dem Krug und trocknete mich mit dem schäbigen Handtuch ab. Ich schien im Schlaf alle Probleme gelöst zu haben. Bei der Fahrt durch die Stadt hatte ich gestern abend die Büros von Cooks und von American Express bemerkt. Ich hatte ein Rückflugbillett nach Amerika, einen amerikanischen Paß und Reiseschecks. Als ich mit meinem Koffer in die Halle hinunterging, sagte man mir, ich hätte das Frühstück versäumt. Die Reisenden seien alle schon fortgegangen, um Kirchen zu besuchen, einen maurischen Palast, ein Museum. Gott sei Dank, ich hatte es vermieden, in Frau Metalon und ihren Sohn hineinzulaufen und mich entschuldigen zu müssen. Ich hinterließ ein Trinkgeld für den Fahrer beim Hotelportier und ging direkt zu 390
Cooks. Ich hatte Angst, es könnte Komplikationen geben, aber sie lösten meine Schecks ein und verkauften mir ein Bahnbillett nach Genf. Ich würde etwa zweihundert Dollar an die Autobusgesellschaft verlieren, aber das war meine Schuld, nicht ihre. Alles verlief ganz glatt. Ein Zug nach Biarritz fuhr bald ab. Ich hatte einen Schlafwagenplatz im Pullman gebucht. Ich stieg ein und fing an, ein Manuskript zu korrigieren, als sei nichts geschehen. Gegen Abend verspürte ich Hunger, und der Schaffner zeigte mir den Weg zum Speisewagen. Alle Zweiter-Klasse-Wagen waren leer. Ich warf einen Blick in den Speisewagen. Da, nahe bei der Tür, saß Celina Weyerhofer und kämpfte mit einem Hühnchen. Wir sahen uns lange schweigend an ; dann sagte Frau Weyerhofer : »Wenn das möglich ist, dann ist auch das Kommen des Messias möglich. Andererseits, ich wußte, daß wir uns wiedertreffen würden.« , »Was ist geschehen ?« fragte ich. »Mein guter Mann hat mich einfach davongejagt. Gott weiß, ich hatte es bis hierher mit dieser Reise.« Sie deutete auf ihren Hals. Sie schlug vor, ich solle mich zu ihr setzen, und sie machte den Dolmetscher bei der Bestellung meiner vegetarischen Mahlzeit. Sie schien vernünftiger und gelassener, als ich sie je gesehen hatte. Sie sah in ihrem schwarzen Kleid auch jünger aus. Sie sagte : »Sie sind davongelaufen, was ? Sie haben recht. Sie wären in eine Falle gegangen, aus der Sie sich nie mehr hät391
ten befreien können. Sie paßte zu Ihnen genauso wenig wie Dr. Weyerhofer zu mir.« »Warum haben Sie den Bus in jeder Stadt warten lassen ?« fragte ich. Sie überlegte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß es selbst nicht. Dämonen waren hinter mir her. Die haben mich mit ihren Tricks irregeführt.« Der Kellner brachte meine Gemüse. Ich kaute und sah aus dem Fenster, wie sich die Nacht über die geernteten Felder senkte. Die Sonne ging unter, klein und glühend. Sie rollte schnell hinunter, wie ein Stück Kohle aus einer himmlischen Feuersbrunst. Eine nächtliche Schwermut schwebte über der Landschaft, eine Ewigkeit, die es müde war, ewig zu sein. Guter Gott, mein Vater und mein Großvater hatten recht getan, Frauen nicht anzuschauen ! Jede Begegnung zwischen Frau und Mann führte zu Sünde, Enttäuschung und Demütigung. Mich befiel Furcht, daß Mark mich finden und Rache üben könnte. Als hätte Celina meine Gedanken gelesen, sagte sie : »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird sich bald trösten. Was hat Sie veranlaßt, diese Reise zu unternehmen ? Nur um Spanien zu sehen ?« »Ich wollte eine vergessen, die sich nicht vergessen ließ.« »Wo ist sie ? In Europa ?« »In Amerika.« »Man kann nichts vergessen.« 392
Wir saßen bis spät zusammen, und Frau Weyerhofer breitete vor mir ihre fatalistische Theorie aus : alles ist vorherbestimmt oder festgelegt – jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke. Sie selbst werde bald sterben, und kein Arzt und kein Zauberer könne ihr helfen. Sie sagte : »Ehe Sie hier hereinkamen, stellte ich mir vor, daß ich mit jemandem einen Selbstmordpakt abschließen würde. Nach einer Nacht des Genusses würde er mir ein Messer in die Brust stoßen.« »Warum ausgerechnet ein Messer ?« fragte ich. »Das ist keine jüdische Phantasievorstellung. Das könnte ich nicht einmal mit Hitler tun.« »Wenn die Frau es will, so kann es ein Liebesakt sein.« Der Kellner kam zurück und murmelte etwas. Frau Weyerhofer erklärte : »Wir sind die einzigen im Speisewagen. Sie möchten schließen.« »Ich bin fertig«, sagte ich. »Gastronomisch und auch sonst.« »Haben Sie es nicht so eilig«, sagte sie. »Im Gegensatz zu dem Fahrer unseres unseligen Busses haben die Mächte, die uns verrückt machen, unbegrenzt Zeit.«
In der Vergangenheit habe ich oftmals geAllein wünscht, das Unmögliche möge geschehen – und dann geschah es. Aber obwohl mein Wunsch in Erfüllung ging, geschah das in einem so heillosen Durcheinander, daß es den Anschein hatte, die verborgenen Mächte versuchten mir zu zeigen, daß ich meine eigenen Bedürfnisse schlecht kenne. Folgendes trug sich in jenem Sommer in Miami Beach zu. Ich lebte in einem großen Hotel voll von südamerikanischen Touristen, die dort die Kühle genießen wollten, und von Leuten wie ich, die an Heuschnupfen litten. Ich hatte von allem genug – mit diesen lauten Gästen im Meer herumzuplanschen ; den ganzen Tag lang Spanisch zu hören ; zweimal am Tag schwere Mahlzeiten zu mir zu nehmen. Las ich eine jiddische Zeitung oder ein jiddisches Buch, so sahen mich die anderen erstaunt an. So kam es, daß ich eines Tages auf einem Spaziergang laut sagte : »Ich wünschte, ich wäre allein in einem Hotel.« Ein Kobold mußte mich belauscht haben, denn unverzüglich stellte er mir eine Falle. Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, fand ich die Hotelhalle in einem großen Durcheinander. Die Gäste standen in kleinen Gruppen umher, ihre Stimmen waren lauter als gewöhnlich. Überall waren Koffer aufgestapelt. Hotelboys rannten mit Wägelchen, die mit Kleidern vollge395
packt waren, herum. Ich fragte jemanden, was los sei. »Haben Sie denn nicht die Ankündigung über den Lautsprecher gehört ? Das Hotel wird geschlossen.« »Warum ?« fragte ich. »Sie sind pleite.« Der Mann ging weiter, verärgert über meine Ahnungslosigkeit. Das war ein Rätsel : das Hotel wurde geschlossen ! Dabei machten sie gute Geschäfte, soweit mir bekannt war. Und wie konnte man so plötzlich ein Hotel mit hunderten von Gästen schließen ? Aber ich wußte, in Amerika war es besser, nicht zu viele Fragen zu stellen. Die Klimaanlage war schon abgeschaltet worden, und die Luft in der Halle war muffig. Eine lange Schlange von Gästen stand am Empfang, um die Rechnung zu bezahlen. Überall war Unruhe. Leute traten ihre Zigaretten auf dem Marmorfußboden aus. Kinder rissen Blätter und Blüten von den Töpfen mit tropischen Pflanzen. Einige Südamerikaner, die gestern noch vorgaben, reinrassige Lateinamerikaner zu sein, sprachen jetzt laut jiddisch. Ich hatte nur wenig zu packen, nur einen Koffer. Ich nahm ihn und begab mich auf die Suche nach einem anderen Hotel. Draußen erinnerte mich die brennende Sonne an eine Geschichte aus dem Talmud – wie Gott in der Ebene von Mamre die Sonne verdunkelt hatte, damit Abraham nicht von Fremden gestört werde. Ich fühlte mich schwindlig. Ich erinnerte mich meiner Junggesellenzeit, als ich sorglos meinen ganzen 396
Besitz in einem Koffer verstaut hatte, losgegangen war und innerhalb von fünf Minuten ein neues Zimmer gefunden hatte. Als ich an einem kleinen Hotel vorbeikam, das etwas heruntergekommen aussah, las ich ein Schild : »Außerhalb der Saison Preise ab 2 Dollar pro Tag.« Was konnte noch billiger sein ? Ich ging hinein. Es gab keine Klimaanlage. Ein buckliges Mädchen mit schwarzen, durchdringenden Augen stand hinter dem Empfang. Ich fragte sie, ob ich ein Zimmer haben könne. »Das ganze Hotel«, antwortete sie. »Wohnt hier niemand ?« »Niemand.« Das Mädchen lachte und ließ große Zahnlücken sehen. Sie sprach mit spanischem Akzent. Sie sei aus Kuba gekommen, erzählte sie mir. Ich nahm ein Zimmer. Die Bucklige führte mich zu einem kleinen Lift, der uns zum dritten Stock hinauffuhr. Dort gingen wir einen langen, dunklen Korridor entlang, der von einer einzigen Birne schlecht beleuchtet war. Sie öffnete die Tür und ließ mich, wie einen Gefangenen in die Zelle, in mein Zimmer eintreten. Das Fenster, das auf den Atlantischen Ozean hinausging, war mit Moskitonetzen verhängt. Die Farbe blätterte von den Wänden, und der Teppich am Boden war abgetreten und farblos. Das Badezimmer roch schimmlig, der Schrank nach Mottenpulver. Die Bettwäsche war sauber, aber feucht. Ich packte meine Sachen aus und ging hinunter. Alles gehörte mir 397
allein : das Schwimmbassin, der Strand, der Ozean. Im Innenhof standen einige ausgebleichte Liegestühle. Überall brannte die Sonne. Das Meer war gelb, die Wellen flach und faul, fast unbeweglich, als ob auch sie von der Hitze ermüdet seien. Nur ab und zu schleuderten sie aus Pflichtbewußtsein ein wenig Schaum empor. Eine einsame Möve stand am Rand des Wassers, unentschlossen, ob sie einen Fisch fangen solle oder nicht. Hier, vor meinen Augen, in Sonnenlicht getaucht, breitete sich eine Sommermelancholie aus – seltsam, denn Melancholie bedeutet eher Herbst. Die Menschheit, so schien es, war in einer Katastrophe umgekommen, und nur ich war übriggeblieben, wie Noah, aber in einer leeren Arche, ohne Söhne, ohne Frau, ohne irgendwelche Tiere. Ich hätte nackt schwimmen können, aber ich zog doch meine Badehose an. Das Wasser war so warm, daß der Ozean eine Badewanne hätte sein können. Lose Bündel von Tang schwammen herum. In dem ersten Hotel hatte mich Schüchternheit gehemmt, hier war es Einsamkeit. Wer kann in einer leeren Welt Spiele spielen ? Ich konnte ein wenig schwimmen, aber wer würde mich retten, wenn etwas passieren sollte ? Die verborgenen Mächte hatten mir ein leeres Hotel besorgt – aber sie konnten ebensogut einen Sog, ein tiefes Loch, einen Haifisch oder eine Seeschlange für mich bereithalten. Wer mit dem Unbekannten spielt, muß doppelt vorsichtig sein. Nach einiger Zeit ging ich aus dem Wasser und leg398
te mich auf einen der schlaffen Liegestühle. Mein Körper war weiß, mein Kopf unbedeckt, und obwohl meine Augen von dunklen Gläsern geschützt waren, drangen die Sonnenstrahlen hindurch. Der hellblaue Himmel war wolkenlos. Die Luft roch nach Salz, Fisch und Mangos. Ich hatte das Gefühl, zwischen dem Organischen und dem Anorganischen gebe es keine Grenze. Alles um mich herum, jedes Sandkorn, jeder Stein atmete, wuchs und war begehrlich. Durch die himmlischen Kanäle, die, wie die Kabbala sagt, den Fluß der göttlichen Gnade lenken, kamen Wahrheiten, die in nördlichen Bereichen unbegreiflich waren. Ich hatte allen Ehrgeiz verloren ; ich war faul ; meine wenigen Bedürfnisse waren geringfügiger und materieller Art – ein Glas Limonade oder Orangensaft. In meiner Phantasie zog eine glutäugige Frau auf ein paar Nächte in das Hotel. Ich hatte ja nicht gemeint, ich wolle ein Hotel ganz für mich allein. Der Kobold hatte mich entweder mißverstanden oder gab vor, mich mißverstanden zu haben. Wie alle Formen des Lebens, so wollte auch ich fruchtbar sein und mich mehren – oder zumindest das dazu Nötige erfüllen. Ich war bereit, alle moralischen oder ästhetischen Ansprüche zu vergessen. Ich war bereit, meine Schuld mit einem Laken zu bedecken und, wie ein Blinder, mich ganz dem Tastgefühl zu überlassen. Gleichzeitig klopfte in meinem Gehirn die ewige Frage : Wer steht hinter der Welt der Erscheinungen ? Ist es das Wesen mit den unendlichen Attributen ? Ist 399
es die Monade aller Monaden ? Ist es das Absolute ? Der blinde Wille ? Das Unbewußte ? Irgendeine Art höheren Wesens muß sich hinter all diesen Illusionen verstecken. Auf dem Meer, das am Ufer öliggelb, weiter draußen glasgrün war, wanderte ein Segel wie eine verhüllte Leiche über das Wasser. Sie war vorwärts gebeugt, und es sah aus, als versuche sie etwas aus der Tiefe heraufzuholen. Droben flog ein kleines Flugzeug, das eine Reklame hinter sich herzog : Margolies’ Restaurant – Koscher, 7 Gänge, 1 Dollar 75. Die Schöpfung war also noch nicht zum urzeitlichen Chaos zurückgekehrt. In Margolies’ Restaurant servierte man noch immer Suppe mit Kascha und Klößen, Knisches und gefüllten Rindsdarm. Und morgen würde ich vielleicht einen Brief erhalten. Man hatte mir versprochen, die Post nachzuschicken. Das war, hier in Miami, die einzige Verbindung zur Welt. Ich bin immer erstaunt, wenn mir jemand geschrieben hat, sich die Mühe gemacht hat, die Marken aufzukleben und den Umlschag abzuschicken. Ich suche nach geheimnisvollen Bedeutungen, selbst auf der unbeschriebenen Seite des Papiers.
2 Wie lang der Tag sein kann, wenn man allein ist ! Ich las ein Buch und zwei Zeitungen, trank in einer Ca400
feteria eine Tasse Kaffee und löste ein Kreuzworträtsel. Ich ging in ein Geschäft, in dem Perserteppiche versteigert wurden, und in ein anderes, in dem Aktien verkauft wurden. Gewiß, ich war in der Collins Avenue in Miami Beach, aber ich fühlte mich wie ein Geist, von allem abgeschnitten. Ich ging in eine Bibliothek und fragte dort etwas – der Bibliothekar fürchtete sich vor mir. Ich kam mir vor wie ein bereits Verstorbener, dessen Platz schon wieder besetzt war. Ich kam an vielen Hotels vorbei, jedes hatte besondere Dekorationen und Attraktionen. Die Palmen trugen an der Spitze halbverwelkte Fächerwedel, und ihre Kokosnüsse hingen herunter wie schwere Hoden. Alles schien bewegungslos, selbst die glänzenden neuen Autos, die über den Asphalt glitten. Jeder Gegenstand führte sein Dasein mit jener mühelosen Kraft weiter, die vielleicht das Wesen allen Seins ist. Ich kaufte ein Magazin, war aber nach ein paar Zeilen unfähig weiterzulesen. Ich bestieg einen Autobus und fuhr ziellos über Dämme und Inseln mit ihren Teichen und von Villen gesäumten Straßen. Die Bewohner hatten auf Ödland gebaut und es mit Bäumen und blühenden Pflanzen aus der ganzen Welt bepflanzt ; sie hatten die flachen Einbuchtungen des Meeres aufgefüllt ; sie hatten architektonische Wunder vollbracht und sorgfältige Pläne für Vergnügungen durchgeführt. Geplanter Hedonismus. Aber die Langeweile der Wüste war geblieben. Weder laute Musik noch Grellheit konnte sie vertreiben. Wir ka401
men an einem Kaktus vorbei, dessen platte Formen und staubige Nadeln eine rote Blüte hervorgebracht hatten. Wir fuhren dicht an einem See vorüber, der von einer Gruppe von flügelschlagenden Flamingos umgeben war, und das Wasser spiegelte ihre langen Schnäbel und rosa Federn wider. Eine Versammlung von Vögeln. Wilde Enten flogen quakend vorbei – das Sumpfland ließ sich nicht vertreiben. Ich sah aus dem offenen Fenster des Autobus. Alles, was ich sah, war neu, dennoch schien es alt und verbraucht zu sein : Großmütter mit gefärbtem Haar und geschminkten Backen, Mädchen in Bikinis, die kaum das Nötigste bedeckten, gebräunte junge Männer, auf Wasserskis Coca-Cola trinkend. Auf dem Deck einer Jacht lag ein alter Mann, der seine rheumatischen Beine sonnte und seine weißbehaarte Brust der Sonne darbot. Er lächelte müde. Neben ihm stocherte seine Geliebte, der er sein Vermögen vermacht hatte, mit roten Fingernägeln zwischen ihren Zehen, ihres Charmes so sicher wie des morgigen Sonnenaufgangs. Am Heck stand ein Hund, der hochmütig das Kielwasser der Jacht betrachtete und gähnte. Bis zur Endhaltestelle dauerte es sehr lange. Dort angekommen, bestieg ich einen anderen Autobus. Wir fuhren an einem Landesteg vorbei, wo frischgefangene Fische gewogen wurden. Ihre seltsamen Farben, blutigen Hautwunden, glasigen Augen, mit geronnenem Blut gefüllten Mäuler und ihre schar402
fen Zähne – all dies war Beweis einer Verruchtheit, die abgrundtief war. Männer nahmen die Fische mit gräßlichem Vergnügen aus. Der Autobus fuhr an einer Schlangenfarm und einer Affenkolonie vorüber. Ich sah von Termiten zerfressene Häuser und einen Teich mit brackigem Wasser, in dem die Nachkommen der Urschlange herumkrochen und durcheinander glitten. Papageien schrien mit schneidender Stimme. Zuweilen bliesen seltsame Gerüche durch das Autobusfenster, ein so dichter Gestank, daß mein Kopf zu dröhnen begann. Glücklicherweise ist der Tag im Süden kürzer als im Norden. Der Abend bricht plötzlich herein, ohne Dämmerung. Über den Lagunen und den Straßen hing eine Dschungeldunkelheit, die kein Licht durchdringen konnte. Autos glitten vorüber, mit matt leuchtenden Scheinwerfern. Der Mond stieg riesengroß und rot herauf ; er hing am Himmel wie der Globus eines Geographen, aber seine Karte war nicht von dieser Welt. Die Nacht hatte eine Aura des Wunders und des kosmischen Wandels. Eine Hoffnung, die mich nie verlassen hatte, erwachte wieder in mir : War es mir bestimmt, eine Umwälzung des Sonnensystems zu erleben ? Vielleicht würde der Mond herunterstürzen. Vielleicht würde die Erde sich aus ihrer Bahn um die Sonne losreißen und in andere Konstellationen eintreten. Der Autobus schlängelte sich durch unbekannte Gegenden ehe er zur Lincoln Road und den Geschäf403
ten zurückkehrte, die im Sommer halbleer waren, aber noch immer alles bereithielten, was ein reicher Tourist sich nur wünschen konnte – einen Hermelinumhang, eine Chinchillastola, einen zwölfkarätigen Diamanten, eine Originalzeichnung von Picasso. Die geckenhaften Verkäufer, überzeugt von der Gewißheit, daß jenseits des Nirwana das Karma pulsierte, unterhielten sich in den klimatisierten Räumen. Ich hatte keinen Hunger ; trotzdem ging ich in ein Restaurant, in dem eine Kellnerin mit frisch gebleichter Dauerwelle mir ein ganzes Menü servierte, ruhig und ohne Getue. Ich gab ihr einen halben Dollar. Als ich ging schmerzte mein Magen, und mein Kopf war schwer. Die Luft des späten Abends, von der Sonne gedörrt, nahm mir fast den Atem, als ich hinausging. Auf einem nahegelegenen Gebäude blinkte ein Neonzeichen die Temperatur – 36 Grad und entsprechend hohe Luftfeuchtigkeit. Ich brauchte keinen Meteorologen, um das festzustellen. In dem glühenden Himmel zeigten sich bereits Blitze, den Donner hörte ich noch nicht. Eine riesige Wolke senkte sich herab, breit wie ein Berg, gefüllt mit Wasser und Feuer. Einzelne Regentropfen fielen auf meinen kahlen Schädel. Die Palmen sahen versteinert aus, erwarteten den Angriff. Ich eilte zurück zu meinem leeren Hotel, ich wollte vor dem Regen dort sein ; außerdem hoffte ich Post vorzufinden. Aber ich hatte kaum die Hälfte der Strecke zurückgelegt als das Unwetter hereinbrach. Ein Guß, und ich war wie von einer riesigen Wel404
le durchnäßt. Ein feuriger Stab erleuchtete den Himmel und im gleichen Augenblick hörte ich den Donner krachen – ein Zeichen, daß das Gewitter sehr nah war. Ich wollte irgendwo hineinlaufen, aber Stühle, die von nahegelegenen Veranden fortgeblasen wurden, überschlugen sich vor mir und versperrten den Weg. Schilder fielen herunter. Die Spitze einer Palme, vom Wind abgerissen, flog vor meinen Füßen vorbei. Ich sah eine zweite in Sackleinenwand gehüllte Palme sich vor dem Wind beugen, bereit, in die Knie zu gehen. In meiner Verwirrung lief ich weiter, dabei in so tiefe Pfützen geratend, daß ich fast ertrank. Ich rannte mit der Leichtigkeit der Jugend. Die Gefahr hatte mich wagemutig gemacht, und ich schrie und sang in Übereinstimmung mit dem Gewitter. Inzwischen war der Verkehr zum Stillstand gekommen, man hatte sogar die Autos verlassen. Aber ich lief weiter, entschlossen, diesem Irrsinn zu entkommen oder unterzugehen. Ich mußte den Expressbrief haben, den niemand geschrieben hatte und den ich nie erhielt. Ich weiß noch heute nicht, wie ich das Hotel erkannte. Ich betrat die Halle und stand für eine Weile still, während das Wasser von meinen Kleidern auf den Teppich tropfte. In dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand spiegelte sich meine halbaufgelöste Figur wie eine Gestalt in einem kubistischen Bild. Es gelang mir zum Fahrstuhl zu gehen und zum dritten Stock hinaufzufahren. Die Tür meines Zimmers stand offen : drinnen flogen Moskitos, Motten, Glüh405
würmchen und Mücken herum, die sich vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatten. Der Wind hatte das Moskitonetz heruntergerissen und die Papiere, die ich auf dem Tisch gelassen hatte, verstreut. Der Teppich war durchnäßt. Ich trat an das Fenster und blickte auf den Ozean hinaus. Die Wellen stiegen auf wie Berge inmitten des Wassers – ungeheuerliche Wogen, die bereit waren ein für allemal die Ufer zu überschwemmen und das Land hinwegzuspülen. Die Wasser heulten mit Groll und versprühten weißen Schaum in die Dunkelheit der Nacht. Die Wellen bellten den Schöpfer an wie eine Hundemeute. Mit aller Kraft, die ich noch hatte, zog ich das Fenster herunter und auch das Rouleau. Ich hockte mich auf den Boden, um meine nassen Bücher und Manuskripte zusammenzusuchen. Mir war heiß. Schweiß von meinem Körper vermischte sich mit den Regenbächen. Ich zog meine Kleider aus, und sie lagen neben meinen Füssen wie Muscheln. Ich fühlte mich wie ein Geschöpf, das gerade aus seinem Kokon geschlüpft war.
3 Das Gewitter hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Der heulende Wind krachte und knallte wie mit schweren Hämmern. Das Hotel schien ein Schiff auf dem Ozean zu sein. Irgend etwas löste sich und 406
flog herunter – das Dach, ein Balkon, ein Stück Mauer. Eisengitter zerbrachen. Metall ächzte. Fenster lösten sich aus ihren Rahmen. Die Fensterscheiben klirrten. Das schwere Rouleau vor meinem Fenster flatterte so leicht nach oben wie ein Vorhang. Das Zimmer wurde von dem blendenden Licht einer Feuersbrunst erhellt. Dann kam ein so starker Donnerschlag, daß ich vor Angst lachte. Eine weiße Gestalt erschien aus der Dunkelheit. Mein Herz hämmerte, mein Gehirn erzitterte. Ich hatte immer gewußt, daß früher oder später einer aus dieser Sippschaft auftauchen würde, so voll der Schrecken, die nie berichtet worden sind, da niemand, der sie erlebt hatte, am Leben geblieben war und berichten konnte. Ich lag ruhig da, bereit für das Ende. Dann hörte ich eine Stimme : »Bitte entschuldigen, mein Herr, ich große Angst haben. Sie schlafen ?« Es war die kubanische Bucklige. »Nein, kommen Sie herein«, sagte ich. »Ich zittern. Ich denke vor Angst sterben«, sagte die Frau. »Sturm wie dies noch nie gewesen. Sie allein in Hotel. Bitte entschuldigen, wenn störe.« »Sie stören mich nicht. Ich würde Licht machen, aber ich bin nicht angezogen.« »Nein, nein. Nicht nötig … Ich haben Angst allein. Bitte mich lassen bleiben, bis Gewitter vorbei.« »Gewiß. Sie können sich hinlegen, wenn Sie wollen. Ich setze mich auf den Stuhl.« »Nein, ich sitzen auf Stuhl. Wo ist Stuhl, mein Herr ? Ich nicht sehen.« 407
Ich stand auf, fand die Frau in der Dunkelheit und geleitete sie zu dem Lehnstuhl. Zitternd schleppte sie sich hinter mir her. Ich wollte zum Schrank gehen, um etwas anzuziehen, aber ich stolperte über das Bett und fiel hinein. Schnell bedeckte ich mich mit dem Laken, so daß mich die Fremde im Licht der Blitze nicht nackt sehen würde. Bald darauf kam wieder ein Blitzstrahl, und ich sah sie im Stuhl sitzen, ein abstoßendes Geschöpf in einem übergroßen Nachthemd, bucklig, mit wirren Haaren, langen behaarten Armen und krummen Beinen wie ein tuberkulöser Affe. Ihre weit aufgerissenen Augen drückten die Angst eines Tieres aus. »Haben Sie keine Angst«, sagte ich. »Das Gewitter wird bald vorüber sein.« »Ja, ja.« Ich legte meinen Kopf auf das Kissen und lag still in dem unheimlichen Gefühl, der spöttische Kobold wolle meinen letzten Wunsch erfüllen. Ich hatte ein Hotel für mich allein haben wollen – und ich hatte es. Ich hatte von einer Frau geträumt, die wie Ruth zu Boas in mein Zimmer kommen würde – eine Frau war gekommen. Jedesmal wenn ein Blitz aufleuchtete, trafen meine Augen die ihren. Sie sah mich mit gespannter Aufmerksamkeit an, so still wie eine Hexe, die jemanden verzaubert. Ich hatte mehr Angst vor der Frau als vor dem Sturm. Ich war einmal in Havanna gewesen, und dort hatte ich die Mächte der Finsternis noch im Besitz ihrer alten Kräfte gefun408
den. Nicht einmal die Toten wurden in Ruhe gelassen – man grub ihre Knochen aus. In der Nacht hatte ich die Schreie der Kannibalen gehört und das Weinen der Mädchen, deren Blut auf den Altären der Götzenanbeter verspritzt wurde. Sie kam von dorther. Ich wollte eine Beschwörungsformel gegen den bösen Blick sprechen und zu den Geistern beten, die das letzte Wort haben, daß mich diese Hexe nicht überwältige. Schaddaj, Allmächtiger, rief es in mir, zerstöre Satan. Inzwischen krachte der Donner, das Meer tobte, und die Wellen brachen mit wässrigem Gelächter. Die Wände des Zimmers wurden scharlachrot. In dem höllischen Licht kauerte die kubanische Hexe wie ein Raubtier, das dabei ist, die Beute zu packen – der offene Mund ließ die verfaulten Zähne sehen ; das verfilzte Haar und die mit schwarzen Haaren bedeckten Arme und Beine ; die mit Karbunkeln und Knoten bedeckten Füße. Ihr Nachthemd war verrutscht und ließ die runzeligen gewichtlosen Brüste sehen. Es fehlten nur Schnauze und Schwanz. Ich muß eingeschlafen sein. Im Traum betrat ich eine Stadt mit steilen, engen Gassen und heruntergelassenen Rolläden, in tiefster Finsternis und dem Schweigen des Schwarzen Sabbat. Katholische Beerdigungsprozessionen folgten einander endlos, mit Kreuzen und Särgen, Hellebarden und brennenden Fackeln. Nicht eine, sondern viele Leichen wurden zum Friedhof getragen – ein ganzer Stamm war vernichtet worden. Weihrauch schwelte. Klagen409
de Stimmen jammerten ein Lied unsäglichen Kummers. Plötzlich wechselten die Särge ihre Form und wurden zu Gebetriemen, schwarz und glänzend, mit Knoten und Schnüren. Sie teilten sich in viele Abteilungen – Särge für Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, Fünflinge … Ich öffnete die Augen. Jemand saß auf meinem Bett – die kubanische Frau. In ihrem gebrochenen Englisch fing sie heiser an zu reden. »Haben keine Angst. Ich nichts tun. Bin Mensch, nicht Tier. Habe Rücken kaputt. Nicht so geboren. Von Tisch gefallen als Kind. Mutter zu arm für Doktor. Vater nicht gut, immer betrunken. Er mit schlechte Frauen gegangen, Mutter in Tabakfabrik ar- beiten. Kranke Lunge. Warum Sie zittern ? Buckel nicht ansteckend. Sie nicht von mir bekommen. Ich Seele wie andere Menschen – Männer mich wollen. Sogar mein Boss. Er mir vertraut und läßt mich allein in Hotel. Sie Jude ? Er auch Jude … aus Türkei. Spricht – wie heißt das ? – Arabisch. Hat eine deutsche Señora geheiratet, sie Nazi. Ihr erster Mann auch Nazi. Sie verflucht Boss und versucht, zu vergiften. Er sie verklagt, aber Richter gibt ihr recht. Sie ihn bestochen, denke ich – oder ihm was anderes gegeben. Der Boss bezahlt ihr – wie heißt es ? – Unterhalt.« »Warum hat er sie denn geheiratet ?« fragte ich, nur um etwas zu sagen. »Well, er sie liebt. Er sehr viel Mann, rotes Blut, Sie verstehen ? Sie auch verliebt ?« 410
»Ja.« »Wo ist Señora ? Sie verheiratet ?« »Nein. Man hat sie erschossen.« »Wer ?« »Die selben Nazis.« »Oh – und Sie allein ?« »Nein, ich bin verheiratet.« »Wo ist Frau ?« »In New York.« »Und Sie ihr treu ?« »Ja, ich bin ihr treu.« »Immer ?« »Immer.« »Einmal man darf Spaß haben.« »Nein, meine Liebe, ich will mein Leben anständig zu Ende leben.« »Wer kümmert sich ? Niemand sieht.« »Gott sieht.« »Wenn Sie von Gott reden, ich gehe. Aber Sie lügen. Nur sprechen von Gott, weil ich Krüppel. Er bestraft Lügen, Sie Schwein !« Sie spuckte mich an, stand vom Bett auf und schlug die Tür hinter sich zu. Ich wischte mich sofort ab, aber ihr Speichel brannte mich wie Feuer. Ich fühlte, wie meine Stirn in der Dunkelheit anschwoll, und meine Haut juckte mit einem ziehenden Gefühl, als ob Blutegel mein Blut saugten. Ich ging in das Badezimmer, um mich zu waschen. Ich nahm ein, nasses Handtuch als Kompresse und wand es um mei411
nen Kopf. Das Gewitter hatte ich vergessen. Es hatte aufgehört, ohne daß ich es gemerkt hatte. Ich schlief ein, und als ich erwachte, war es fast Mittag. Meine Nase war verstopft, mein Hals geschwollen, meine Knie schmerzten. Die Unterlippe war dick und hatte eine wunde Stelle. Meine Kleider lagen noch immer am Boden in einer Pfütze. Die Insekten, die am Abend vorher Zuflucht gesucht hatten, klebten tot an der Wand. Ich öffnete das Fenster. Die hereinströmende Luft war kühl, aber immer noch feucht. Der Himmel war herbstlich grau, das Meer bleiern und bewegte sich kaum unter seinem eigenen Gewicht. – Es gelang mir, mich anzuziehen und herunterzugehen. Am Empfang stand die Bucklige, bleich, dünn, mit straff zurückgebürstetem Haar und flackernden schwarzen Augen. Sie trug eine altmodische Bluse, die mit gelbgewordener Spitze gesäumt war. Sie sah mich spöttisch an. »Sie ausziehen«, sagte sie. »Boss mir gesagt, Hotel schließen.« »Ist für mich kein Brief gekommen ?« »Kein Brief.« »Bitte meine Rechnung.« »Keine Rechnung.« Die kubanische Frau sah mich schief an – eine Hexe, deren Zauberei versagt hatte, ein schweigender Gehilfe der Dämonen und ihrer schlauen Tricks, die mich umgaben.
Obwohl ich den Punkt erreicht habe, an dem ich Die Cafeteria einen großen Teil meiner Einnahmen als Steuern verschenke, habe ich noch immer die Gewohnheit, wenn ich allein bin, in Cafeterias zu essen. Ich nehme mir gern ein Tablett mit blechernem Messer, Gabel, Löffel und Papierserviette und wähle mir an der Theke aus, was ich essen mag. Außerdem treffe ich dort meine Landsleute aus Polen, sowie alle möglichen literarischen Anfänger und Leser, die Jiddisch können. Kaum setze ich mich hin, so kommen sie schon herüber. »Hallo, Aaron !« begrüßen sie mich, und wir reden über jiddische Literatur, den Holocaust, den Zustand Israels und oft auch über Bekannte, die das letzte Mal, als ich hier war, noch Reispudding oder gedünstete Pflaumen aßen und inzwischen schon in ihren Gräbern ruhen. Da ich selten Zeitung lese, erfahre ich diese Neuigkeiten erst später. Jedes Mal bin ich wieder erschreckt, aber in meinem Alter muß man für solche Nachrichten gewappnet sein. Das Essen bleibt in der Kehle stecken ; wir sehen einander verwirrt an, und unsere Augen fragen schweigend : Wer wird der Nächste sein ? Aber bald beginnen wir wieder zu kauen. Ich erinnere mich oft an eine Szene in einem Film über Afrika. Ein Löwe greift eine Zebraherde an und tötet ein Tier. Die erschrockenen Zebras laufen eine Zeitlang fort, und dann bleiben sie stehen und fangen wieder an zu grasen. Haben sie eine Wahl ? 413
Ich kann nicht allzu lange mit den Jiddischisten zusammen bleiben, ich habe immer viel zu tun. Ich schreibe an einem Roman, einer Geschichte, einem Artikel. Ich muß heute oder morgen einen Vortrag halten ; mein Terminkalender ist auf Wochen und Monate hinaus mit allen möglichen Verabredungen besetzt. Es kommt vor, daß ich eine Stunde nachdem ich die Cafeteria verlassen habe, in einem Zug nach Chicago oder in einem Flugzeug nach Californien sitze. Aber vorerst unterhalten wir uns in unserer Muttersprache, und ich erfahre von Intrigen und Trivialitäten, die man vom moralischen Standpunkt aus lieber nicht wüßte. Alle versuchen auf ihre Art und mit allen Mitteln so viele Ehren und so viel Geld und Ansehen an sich zu reißen, wie nur möglich. Niemand von uns lernt aus all den Todesfällen. Das Alter läutert uns nicht. Am Tor zur Hölle fühlen wir keine Reue. Seit mehr als dreißig Jahren bewege ich mich in dieser Gegend – ebenso lange wie ich in Polen gelebt habe. Ich kenne jeden Straßenblock, jedes Haus. Hier am oberen Broadway ist in den letzten Jahrzehnten wenig gebaut worden, und ich hege die Illusion, hier Wurzeln geschlagen zu haben. Ich habe in den meisten Synagogen Vorträge gehalten. In einigen Läden und in den vegetarischen Restaurants kennt man mich. In den Nebenstraßen leben Frauen, mit denen mich kurze Affären verbunden haben. Selbst die Tauben kennen mich ; sobald ich mit einem Säckchen mit 414
Futter herauskomme, fliegen sie von weither auf mich zu. Diese Gegend reicht von der Ninety-sixth Street zur Seventy-second Street und vom Central Park bis Riverside Drive. Fast jeden Tag, wenn ich nach dem Lunch einen Spaziergang mache, komme ich an dem Beerdigungsinstitut vorbei, das auf uns und all unseren Ehrgeiz und unsere Illusionen wartet. Manchmal denke ich, das Beerdigungsinstitut ist auch eine Art Cafeteria, wo man auf dem Weg in die Ewigkeit eine rasche Lobrede oder das Totengebet mitbekommt. Die meisten Leute, die ich in der Cafeteria treffe, sind Männer : alte Männer wie ich, MöchtegernSchriftsteller, pensionierte Lehrer, einige mit zweifelhaften Doktortiteln, ein Rabbiner ohne Gemeinde, ein Maler jüdischer Themen, ein paar Übersetzer – alles Einwanderer aus Polen oder Rußland. Ihre Namen kenne ich meist nicht. Einer von ihnen verschwindet, und ich denke, er ist schon in der nächsten Welt ; plötzlich erscheint er wieder und erzählt mir, er habe versucht, sich in Tel-Aviv oder Los Angeles niederzulassen. Er ißt wieder seinen Reispudding und süßt seinen Kaffee mit Saccharin. Er hat einige Runzeln mehr, aber er erzählt die gleichen Geschichten und macht die gleichen Gesten. Es kann auch sein, daß er ein Stück Papier aus der Tasche zieht und mir ein Gedicht vorliest, das er geschrieben hat. In den fünfziger Jahren erschien in unserer Gruppe eine Frau, die jünger aussah als wir alle. Sie muß 415
Anfang dreißig gewesen sein ; sie war klein, schlank, hatte ein mädchenhaftes Gesicht, dunkles in einem Knoten aufgestecktes Haar, eine kurze Nase und Wangengrübchen. Ihre Augen waren haselnußfarben – eigentlich von eher unbestimmter Farbe. Sie war auf bescheidene europäische Art gekleidet. Sie sprach Polnisch, Russisch und ein idiomatisches Jiddisch. Sie trug immer jiddische Zeitungen und Zeitschriften mit sich herum. Sie war in einem Gefangenenlager in Rußland gewesen und hatte einige Zeit in Lagern in Deutschland verbracht, ehe sie ein Visum für Amerika erhalten hatte. Die Männer flatterten alle um sie herum. Man ließ sie nicht ihre Rechnung bezahlen. Man brachte ihr ritterlich Kaffee und Käsekuchen. Man hörte ihren Reden und Scherzen zu. Sie war heiter aus der Zerstörung zurückgekehrt. Sie wurde mir vorgestellt. Sie hieß Esther. Ich wußte nicht, ob sie unverheiratet, Witwe oder geschieden war. Sie erzählte mir, sie sei Arbeiterin in einer Fabrik, wo sie Knöpfe sortiere. Diese frische junge Frau paßte nicht in die Gruppe der ältlichen Gewesenen. Es war auch schwer zu verstehen, warum sie nicht eine bessere Arbeit fand, als in New Jersey Knöpfe zu sortieren. Aber ich fragte nicht allzuviel. Sie berichtete, sie habe noch in Polen meine Arbeiten gelesen und später, nach dem Krieg, in deutschen Lagern. Sie sagte zu mir : »Sie sind mein Schriftsteller.« In dem Augenblick, in dem sie diese Worte sprach, bildete ich mir ein, mich in sie verliebt zu haben. Wir 416
saßen allein (der an unserem Tisch sitzende Mann war telephonieren gegangen), und ich sagte : »Für diese Worte muß ich Sie küssen.« »Nun, worauf warten Sie noch ?« Sie küßte und biß mich. Ich sagte : »Sie sind ein Feuerball.« »Ja, Feuer aus der Hölle.« Einige Tage später lud sie mich zu sich ein. Sie wohnte zwischen Broadway und Riverside mit ihrem Vater, der ohne Beine in einem Rollstuhl saß. Seine Beine waren in Sibirien erfroren. Im Winter 1944 hatte er versucht, aus einem der Stalinschen Sklavenlager zu fliehen. Er sah kräftig aus, hatte einen Schopf weißer Haare, ein frisches Gesicht und energisch blickende Augen. Er sprach auf angeberische Weise, mit jungenhaftem Überschwang und fröhlichem Gelächter. Innerhalb einer Stunde hatte er mir seine Geschichte erzählt. Er war in Weißrußland geboren, hatte aber viele Jahre in Warschau, Lodz und Wilna gelebt. Anfang der Dreißiger wurde er Kommunist und bald darauf Parteifunktionär. 1939 flüchtete er mit seiner Tochter nach Rußland. Seine Frau und die anderen Kinder blieben in dem von den Nazis besetzten Warschau. In Rußland denunzierte ihn jemand als Trotzkisten, und er wurde in die Goldbergwerke in den Norden geschickt. Dorthin schickte die G. P. U. Menschen zum Sterben. Selbst die Kräftigsten konnten Hunger und Kälte nicht länger als ein Jahr ertragen. Man hatte sie ohne Urteil verschickt. Sie starben alle zu417
sammen : Zionisten, Bundisten, Mitglieder der Polnischen Sozialistischen Partei, Ukrainische Nationalisten und Flüchtlinge, alle vom Arbeitermangel erfaßt. Sie starben oft an Skorbut oder Beriberi. Boris Merkin, Esthers Vater, sprach über all dies, als sei es ein großer Spaß. Er nannte die Stalinisten Parias, Banditen, Speichellecker. Er versicherte mir, hätten die Vereinigten Staaten nicht eingegriffen, so hätte Hitler ganz Rußland überrannt. Er erzählte mir von den Gefangenen, wie sie die Posten überlisteten, um ein Stückchen Brot mehr zu ergattern oder eine doppelte Ration Suppe, und welche Methoden beim Läusefang angewendet wurden. Esther rief : »Vater, genug !« »Warum ? Lüge ich vielleicht ?« »Auch von Kräppel kann man zu viel bekommen.« »Tochter, du hast es doch selbst so gemacht.« Als Esther in die Küche ging, um Tee zu machen, erfuhr ich von ihrem Vater, daß sie in Rußland einen Mann gehabt hatte – einen polnischen Juden, der als Freiwilliger in die Rote Armee eingetreten und im Krieg umgekommen war. Hier in New York machte ihr ein Emigrant den Hof, ein ehemaliger Schleichhändler aus Deutschland, der eine Buchbinderei aufgemacht hatte und reich geworden war. »Überreden Sie sie, ihn zu heiraten«, sagte Boris Merkin zu mir. »Das wäre auch für mich gut.« »Vielleicht liebt sie ihn nicht.« »So etwas wie Liebe gibt es nicht. Geben Sie mir 418
eine Zigarette. In den Lagern krochen die Leute übereinander wie Würmer.«
2 Ich hatte Esther zum Abendessen eingeladen, aber sie rief an und sagte, sie könne nicht kommen, sie habe die Grippe und müsse im Bett bleiben. Nach ein paar Tagen ergab es sich, daß ich nach Israel reisen mußte. Auf dem Rückweg blieb ich in London und Paris. Ich wollte an Esther schreiben, aber ich hatte ihre Adresse verloren. Nach meiner Rückkehr nach New York versuchte ich sie anzurufen, aber weder sie noch ihr Vater standen im Telephonbuch. Vater und Tochter lebten offenbar in Untermiete. Wochen vergingen, und sie erschien nicht in der Cafeteria. Ich fragte die Gruppe nach ihr – niemand wußte etwas über sie. »Wahrscheinlich hat sie ihren Buchbinder geheiratet«, sagte ich mir. Eines Abends ging ich in die Cafeteria in dem Vorgefühl, sie dort zu treffen. Ich erblickte eine geschwärzte Mauer und zugenagelte Fenster – die Cafeteria war ausgebrannt. Die alten Junggesellen trafen sich wahrscheinlich in einer anderen Cafeteria oder einem Automatenrestaurant. Aber wo ? Lange zu suchen lag mir nicht. Ich hatte genügend Schwierigkeiten auch ohne Esther. Der Sommer verging, es wurde Winter. Eines Abends ging ich an der Cafeteria vorbei und sah 419
Licht, die Theke und Gäste. Die Besitzer hatten die Cafeteria wieder aufgebaut. Ich trat ein, bezahlte und sah Esther allein an einem Tisch sitzen und eine jiddische Zeitung lesen. Sie bemerkte mich nicht, und ich betrachtete sie eine Weile. Sie trug eine Männerpelzmütze und eine mit einem verblichenen Pelzkragen besetzte Jacke. Sie sah blaß aus, wie nach einer Krankheit. War die Grippe der Beginn einer ernsthaften Erkrankung gewesen ? Ich trat an ihren Tisch und fragte : »Was gibts Neues bei den Knöpfen ?« Sie fuhr auf und lächelte. Dann rief sie : »Es gibt doch Wunder !« »Wo sind Sie gewesen ?« »Wohin sind Sie verschwunden ?« fragte sie. »Ich dachte, Sie seien noch außer Landes.« »Wo sind denn unsere Cafeterianer ?« »Sie gehen jetzt in die Cafeteria in der Fifty-seventh Street und Eighth Avenue. Hier wurde erst gestern wieder eröffnet.« »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen ?« »Ich trinke zuviel Kaffee. Aber bitte.« Ich ging eine Tasse Kaffee für sie holen und ein großes Stück Kuchen. Während ich an der Theke stand, drehte ich mich nach ihr um und sah sie an. Esther hatte ihre Männermütze abgenommen und ihr Haar glattgestrichen. Sie faltete die Zeitung zusammen, was bedeutete, sie war bereit zu reden. Sie stand auf und lehnte den anderen Stuhl gegen den Tisch, zum Zeichen, daß er besetzt sei. Als ich mich gesetzt hatte, 420
sagte Esther : »Sie sind fort, ohne sich verabschiedet zu haben, und ich blieb zurück und habe fast an die perlmutternen Tore des Himmels geklopft.« »Was war los ?« »Ach, aus der Grippe wurde eine Lungenentzündung. Man gab mir Penicillin, und ich gehöre zu denen, die das nicht vertragen. Ich bekam einen Ausschlag am ganzen Körper. Meinem Vater geht es auch nicht gut.« »Was ist mit ihm los ?« »Hoher Blutdruck. Er hatte eine Art Schlaganfall, und sein Mund ist ganz schief geworden.« »Ach, das tut mir leid. Arbeiten Sie immer noch bei den Knöpfen ?« »Ja, bei den Knöpfen. Dabei muß ich wenigstens nicht mit dem Kopf arbeiten, nur mit den Händen. Ich kann meinen eigenen Gedanken nachgehen.« »Worüber denken Sie denn nach ?« »Worüber nicht. Die anderen Arbeiter sind alles Puertoricaner. Sie quasseln den ganzen Tag über auf Spanisch, von früh bis spät.« »Wer kümmert sich um Ihren Vater ?« »Wer ? Niemand. Ich komme abends nach Hause und mache das Essen. Er hat nur einen Wunsch – mich zu meinem Besten und vielleicht auch für seine Bequemlichkeit zu verheiraten, aber ich kann keinen Mann heiraten, den ich nicht liebe.« »Was ist Liebe ?« »Sie fragen mich ! Sie schreiben ganze Romane dar421
über. Aber Sie sind ein Mann, und ich nehme an, Sie wissen wirklich nicht, was Liebe ist. Eine Frau ist nur ein Stück Ware für Sie. Für mich ist ein Mann, der Unsinn redet oder wie ein Idiot lacht, widerlich. Ich würde lieber sterben, als mit ihm zu leben. Und ein Mann, der von einer Frau zur anderen geht, ist auch nichts für mich. Ich will mit niemandem teilen.« »Ich fürchte, es wird eine Zeit kommen, wenn alle es tun werden.« »Das ist nichts für mich.« »Was war Ihr Mann für ein Mensch ?« »Woher wissen Sie, daß ich verheiratet war ? Von meinem Vater, nehme ich an. Kaum habe ich das Zimmer verlassen, so fängt er an zu schwatzen. Mein Mann glaubte an etwas und war bereit, dafür zu sterben. Er war nicht gerade mein Typ, aber ich hatte Achtung vor ihm und liebte ihn. Er wollte sterben und er starb wie ein Held. Was kann ich noch sagen ?« »Und die anderen ?« »Es gab keine anderen. Männer waren hinter mir her. So wie sich die Menschen im Krieg verhielten – das werden Sie nie verstehen. Sie verloren jegliche Scham. Einmal lagen neben mir in der Baracke eine Mutter mit einem Mann und ihre Tochter mit einem anderen. Die Menschen waren wie Tiere – schlimmer als Tiere. Und mittendrin träumte ich von der Liebe. Jetzt träume ich nicht einmal mehr davon. Die Männer, die hierherkommen, sind furchtbar langweilig. Die meisten von ihnen sind auch halbverrückt. Einer von ih422
nen hat versucht, mir ein vierzig Seiten langes Gedicht vorzulesen. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen.« »Ich würde Ihnen nichts vorlesen, das ich geschrieben habe.« »Man hat mir erzählt, wie Sie sich benehmen – nein.« »Nein ist nein. Trinken Sie Ihren Kaffee.« »Sie versuchen nicht einmal, mich zu überreden. Die meisten Männer hier belästigen einen, und man kann sie nicht loswerden. In Rußland haben die Menschen gelitten, aber dort habe ich nicht so viele Geisteskranke getroffen wie hier in New York. Das Haus, in dem ich lebe, ist ein Irrenhaus. Meine Nachbarn sind wahnsinnig. Sie beschuldigen einander aller möglichen Dinge. Sie singen, weinen, schlagen Geschirr kaputt. Eine sprang aus dem Fenster und brachte sich um. Sie hatte ein Verhältnis mit einem zwanzig Jahre jüngeren Burschen. In Rußland war das große Problem, den Läusen zu entgehen ; hier ist man vom Wahnsinn umgeben.« Wir tranken Kaffee und teilten das Stück Kuchen. Esther setzte ihre Tasse ab. »Ich kann es nicht glauben, daß ich hier mit Ihnen sitze, an diesem Tisch. Ich habe alle Ihre Artikel unter all Ihren Pseudonymen gelesen. Sie sprechen darin so viel von sich selbst, daß ich glaube, Sie seit Jahren zu kennen. Trotzdem sind Sie mir ein Rätsel.« »Männer und Frauen können einander nie verstehen.« 423
»Nein – ich kann meinen eigenen Vater nicht verstehen. Manchmal ist er mir vollkommen fremd. Er wird nicht mehr lange leben.« »Ist er so krank ?« »Es kommt alles zusammen. Er hat den Willen zum Leben verloren. Wozu soll man ohne Beine leben, ohne Freunde, ohne Familie ? Sie sind alle umgekommen. Er sitzt den ganzen Tag und liest Zeitung. Er tut so, als sei er an dem, was in der Welt vorgeht, interessiert. Seine Ideale gibt es nicht mehr, aber er hofft immer noch auf eine gerechte Revolution. Wie kann ihm eine Revolution helfen ? Ich selbst habe nie meine Hoffnung auf eine Partei oder eine Bewegung gesetzt. Wie kann man hoffen, wenn alles mit dem Tod endet ?« »Die Hoffnung selbst ist der Beweis, daß es keinen Tod gibt.« »Ja, ich weiß, Sie schreiben oft darüber. Für mich ist der Tod der einzige Trost. Was machen die Toten ? Trinken Sie immer weiter Kaffee und essen Kuchen ? Lesen sie noch immer die Zeitungen ? Ein Leben nach dem Tod wäre nur ein Scherz.«
3 Einige der Cafeterianer kehrten in die wiederhergestellte Cafeteria zurück. Neue Leute tauchten auf – alles Europäer. Sie begannen lange Gespräche auf 424
Jiddisch, Polnisch, Russisch, sogar Hebräisch. Einige, die aus Ungarn gekommen waren, vermischten Deutsch, Ungarisch, Jiddisch-Deutsch – auf einmal fingen sie an, galizisches Jiddisch zu sprechen. Sie wollten ihren Kaffee im Glas serviert haben und hielten beim Trinken Zuckerstückchen zwischen den Zähnen. Viele waren Leser von mir. Sie stellten sich vor und warfen mir allerlei literarische Irrtümer vor : ich widerspräche mir selbst, ginge in der Beschreibung von Sex zu weit, beschriebe Juden auf eine Weise, die Antisemiten für ihre Propaganda benutzen könnten. Sie berichteten mir ihre Erfahrungen in den Gettos, in Nazi-Konzentrationslagern, in Rußland. Einer zeigte auf einen andern : »Sehen Sie den dort drüben – der wurde in Rußland sofort Stalinist. Er denunzierte seine eigenen Freunde. Hier in Amerika ist er Anti-Bolschewist geworden.« Der, über den gesprochen wurde, schien zu spüren, daß man schlecht von ihm sprach, denn er kam sofort mit seiner Tasse Kaffee und seinem Reispudding an meinen Tisch, nachdem der andere aufgestanden war. »Glauben Sie kein Wort von dem, was man Ihnen erzählt«, sagte er. »Sie erfinden alle möglichen Lügen. Was konnte man in einem Land, in dem man immer den Strick um den Hals fühlte, tun ? Wenn man leben und nicht irgendwo in Kasakstan sterben wollte, dann mußte man sich anpassen. Um einen Napf Suppe oder einen Schlafplatz zu erhalten, mußte man seine Seele verkaufen.« 425
Es gab einen Tisch mit einer Gruppe von Flüchtlingen, die mich ignorierten. Sie waren an Literatur und Journalismus nicht interessiert, nur an Geschäften. In Deutschland waren sie Schleichhändler gewesen. Es schien, daß sie auch hier zweifelhafte Geschäfte machten ; sie flüsterten miteinander, blinzelten sich zu, zählten Geld und schrieben lange Listen mit Zahlen. Jemand zeigte auf einen von ihnen. »Er hatte in Auschwitz einen Laden.« »Was soll das heißen, einen Laden ?« »Gott steh mir bei. Er hob seine Ware unter seinem Strohsack auf – eine verfaulte Kartoffel, manchmal ein Stück Seife, einen Blechlöffel, ein wenig Fett. Und damit machte er Geschäfte. Später, in Deutschland, wurde er ein so bedeutender Schwarzhändler, daß sie ihm einmal vierzigtausend Dollar abnahmen.« Manchmal vergingen Monate zwischen meinen Besuchen in der Cafeteria. Ein oder zwei Jahre waren vergangen (vielleicht sogar drei oder vier ; ich habe die Übersicht verloren), und Esther tauchte nicht auf. Ich fragte mehrmals nach ihr. Jemand sagte, sie sei in die Cafeteria in der Forty-second Street abgewandert, ein anderer hatte gehört, sie habe geheiratet. Ich erfuhr vom Tod einiger anderer Cafeterianer. Sie hatten sich gerade in den Vereinigten Staaten eingelebt, hatten wieder geheiratet, Geschäfte eröffnet, Werkstätten, hatten sogar wieder Kinder bekommen. Dann bekamen sie Krebs oder einen Herzanfall. Die Folgen der Hitler- und Stalinjahre, sagte man. 426
Eines Tages betrat ich die Cafeteria und erblickte Esther. Sie saß allein an einem Tisch. Es war noch die gleiche Esther. Sie trug sogar die gleiche Pelzmütze, aber eine Strähne grauen Haars hing ihr in die Stirn. Merkwürdig – auch die Pelzmütze kam mir ergraut vor. Die anderen Cafeterianer schienen sich nicht mehr um sie zu kümmern, oder sie kannten, sie nicht. Aus ihrem Gesicht konnte man die vergangene Zeit ablesen. Unter ihren Augen lagen Schatten. Ihr Blick war nicht mehr so klar. Um ihren Mund lag ein Zug von Bitterkeit, von Enttäuschung. Ich begrüßte sie. Sie lächelte, aber das Lächeln verlor sich schnell. Ich fragte : »Wie ist es Ihnen ergangen ?« »Ach, ich lebe noch.« »Darf ich mich setzen ?« »Bitte – natürlich.« »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee holen ?« »Nein. Gut, wenn Sie darauf bestehen.« Ich bemerkte, sie rauchte, und sie las nicht das Blatt, an dem ich Mitarbeiter war, sondern das Konkurrenzblatt. Sie war zum Feind übergegangen. Ich brachte ihr Kaffee und für mich gedünstete Pflaumen – ein Mittel gegen Verstopfung. Ich setzte mich. »Wo haben Sie all die Zeit gesteckt ? Ich habe nach Ihnen gefragt.« »Wirklich ? Vielen Dank.« »Was ist passiert ?« »Nichts Gutes.« Sie sah mich an. Ich wußte, sie sah an mir, was ich an ihr sah : das langsame Welken des 427
Fleisches. Sie sagte : »Sie haben keine Haare, aber Sie sind weiß.« Eine Zeitlang schwiegen wir. Dann sagte ich : »Ihr Vater –«, und als ich es sagte, wußte ich, er war nicht mehr am Leben. »Er ist seit fast einem Jahr tot«, sagte Esther. »Sortieren Sie immer noch Knöpfe ?« »Nein, ich arbeite in einem Kleidergeschäft.« »Was ist Ihnen persönlich geschehen, wenn ich fragen darf.« »Ach nichts – absolut nichts. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe hier gesessen und an Sie gedacht. Ich bin in irgendeine Falle geraten. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir einen Rat geben. Haben Sie immer noch die Geduld, sich die Sorgen von kleinen Leuten wie mir, anzuhören ? Nein, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich zweifelte sogar, ob Sie sich an mich erinnern würden. Um es kurz zu machen. Ich arbeite, aber die Arbeit fällt mir immer schwerer. Ich leide an Arthritis. Ich habe das Gefühl, meine Knochen könnten brechen. Ich wache am Morgen auf und kann nicht aufrecht sitzen. Ein Arzt sagt mir, es ist ein Wirbel im Rücken, andere wollen meine Nerven behandeln. Einer machte Röntgenaufnahmen und sagt, ich hätte einen Tumor. Er wollte mich auf ein paar Wochen ins Krankenhaus stecken, aber ich habe es nicht eilig mit einer Operation. Plötzlich tauchte ein kleiner Rechtsanwalt auf. Er ist selbst ein Flüchtling und hat 428
mit der Deutschen Regierung zu tun. Sie wissen, daß sie jetzt Wiedergutmachung zahlen. Es ist richtig, ich bin nach Rußland geflüchtet, aber deshalb bin ich doch ein Opfer der Nazis. Außerdem kennen Sie meine Lebensgeschichte nicht so genau. Ich könnte eine Rente von ein paar tausend Dollar bekommen, aber mein verschobener Wirbel hat damit nichts zu tun, den bekam ich erst später – nach den Lagern. Dieser Anwalt sagt, meine einzige Chance bestünde darin, daß ich erkläre psychisch ein Wrack zu sein. Das ist die bittere Wahrheit, aber wie kann man es beweisen ? Die deutschen Ärzte, die Neurologen, die Psychiater verlangen Beweise. Alles muß wie im Lehrbuch sein – so und nicht anders. Der Anwalt will von mir, daß ich verrückt spiele. Klar – er bekommt zwanzig Prozent von dem Wiedergutmachungsgeld, vielleicht sogar mehr. Warum er so viel Geld braucht, verstehe ich nicht. Er ist ein Siebziger, ein alter Junggeselle. Er hat mit mir schlafen wollen und was weiß ich noch alles. Er ist selbst halb meschugge. Wie kann ich verrückt spielen, wenn ich wirklich verrückt bin ? Die ganze Geschichte widert mich an, und ich fürchte, sie wird mich noch ganz wahnsinnig machen. Ich hasse es zu schwindeln. Aber dieser Gauner verfolgt mich. Ich kann nicht schlafen. Wenn morgens der Wecker läutet, wache ich ebenso zerschlagen auf wie in Rußland, als ich morgens um vier in den Wald gehen und Holz sägen mußte. Natürlich nehme ich ein Schlafmittel – täte ich es nicht, so würde ich überhaupt nicht schla429
fen. So sieht es bei mir aus.« »Warum heiraten Sie nicht ? Sie sind noch immer eine gutaussehende Frau.« »Ach, das alte Problem – es gibt niemanden. Es ist zu spät. Wenn Sie wüßten, wie ich mich fühle, dann würden Sie eine solche Frage nicht stellen.«
4 Ein paar Wochen vergingen. Es hatte geschneit. Nach dem Schnee kam Regen, dann Frost. Ich stand an meinem Fenster und schaute auf den Broadway hinunter. Die Vorübergehenden gingen halb, halb rutschten sie. Die Wagen fuhren langsam. Der Himmel über den Dächern schien violett, war ohne Sterne, ohne Mond, und obwohl es acht Uhr abends war, erinnerten mich das Licht und die Leere an die Morgendämmerung. Die Geschäfte lagen verlassen. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, in Warschau zu sein. Das Telephon läutete, und ich lief hin, eilig, wie ich es vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren in Warschau getan hatte – noch immer auf die gute Nachricht wartend, die der Anruf mir bringen würde. Ich sagte hallo, aber niemand antwortete, und ich wurde von der Furcht ergriffen, daß irgendeine böse Macht im letzten Augenblick mir die gute Nachricht vorenthielt. Dann hörte ich ein Stammeln. Eine Frauenstimme murmelte meinen Namen. 430
»Ja, ich bin es.« »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Ich heiße Esther. Vor ein paar Wochen haben wir uns in der Cafeteria getroffen.« »Esther !«, rief ich aus. »Ich weiß nicht, wie ich den Mut gefunden habe, Sie anzurufen. Ich muß mit Ihnen über etwas sprechen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben, und bitte verzeihen Sie meine Anmaßung.« »Das ist keine Anmaßung. Wollen Sie in meine Wohnung kommen ?« »Wenn ich Sie nicht störe. In der Cafeteria kann man schlecht reden. Es ist laut und die Leute hören zu. Was ich Ihnen erzählen möchte ist ein Geheimnis, das ich niemand anderem anvertrauen würde.« »Bitte, kommen Sie.« Ich beschrieb Esther den Weg. Dann versuchte ich in der Wohnung Ordnung zu machen, aber ich merkte bald, daß das unmöglich war. Briefe, Manuskripte lagen auf den Tischen und Stühlen. In den Ecken stapelten sich Bücher und Zeitschriften. Ich öffnete die Schränke und warf alles hinein, was mir in die Hände fiel : Jacken, Schuhe, Hosen, Hemden, Hausschuhe. Ich hob einen Umschlag auf und sah zu meinem Erstaunen, daß er nie geöffnet worden war. Ich riß ihn auf und fand einen Scheck. »Was ist los mit mir – habe ich den Verstand verloren ?« sagte ich laut. Ich versuchte den Brief zu lesen, der dem Scheck beilag, aber ich hatte meine Brille verlegt ; auch mein 431
Füllfederhalter war verschwunden. Ja, und wo waren meine Schlüssel ? Ich hörte es läuten und wußte nicht, war es an der Tür, oder das Telephon. Ich öffnete die Tür und erblickte Esther. Es mußte wieder geschneit haben, denn ihre Mütze und die Schultern ihres Mantels waren weiß bestäubt. Ich bat sie herein, und meine Nachbarin, die geschiedene Frau, die mir ganz offen nachspionierte – und weiß Gott ohne jeden Erfolg –, öffnete ihre Türe und starrte meinen Gast an. Esther zog ihre Stiefel aus, und ich nahm ihren Mantel und legte ihn auf das Regal mit der Encyclopaedia Britannica. Ich schob ein paar Manuskripte vom Sofa herunter, so daß sie sich setzen konnte. Ich sagte : »Bei mir herrscht ein entsetzliches Chaos.« »Das macht nichts.« Ich setzte mich in einen Lehnstuhl, auf dem Sokken und Taschentücher lagen. Eine Zeitlang sprachen wir über das Wetter, über die Gefahren im nächtlichen New York – sogar schon am frühen Abend. Dann sagte Esther : »Erinnern Sie sich noch daran, was ich Ihnen von dem Anwalt berichtet habe ? Daß ich zu einem Psychiater gehen mußte wegen der Wiedergutmachung ?« »Ja, ich erinnere mich.« »Ich habe Ihnen nicht alles erzählt. Es war zu wahnsinnig. Es ist noch immer unbegreiflich, selbst für mich. Unterbrechen Sie mich nicht, ich flehe Sie an. Ich bin nicht ganz gesund – ich könnte sogar sa432
gen, daß ich krank bin – aber ich kenne den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahn. Ich habe viele Nächte nicht geschlafen und habe mich gefragt, ob ich Sie anrufen sollte oder nicht. Ich konnte mich nicht dazu entschließen – aber heute abend wurde ich mir klar darüber, wenn ich es Ihnen nicht sagen könnte, wem dann. Ich habe viel von Ihnen gelesen, und ich weiß, Sie haben Verständnis für die großen Mysterien –« Esther sagte all das stotternd und mit großen Pausen. Einen Augenblick lang war ein Lächeln in ihren Augen, dann wurden sie traurig und flackernd. »Sie können mir alles sagen«, sagte ich. »Ich fürchte, Sie werden mich für geisteskrank halten.« »Ich schwöre, ich werde es nicht tun.« Esther biß sich auf die Unterlippe. »Sie sollen wissen, daß ich Hitler gesehen habe«, sagte sie. Obwohl ich auf etwas Ungewöhnliches vorbereitet war, zog sich meine Kehle zusammen. »Wann – wo ?« »Sehen Sie, Sie fürchten sich schon. Es ist drei Jahre her – beinahe vier. Ich habe ihn hier am Broadway gesehen.« »Auf der Straße ?« »In der Cafeteria.« Ich versuchte, den Kloß in meiner Kehle herunterzuschlucken. »Wahrscheinlich jemand, der ihm ähnlich sah«, sagte ich schließlich. 433
»Ich wußte, daß Sie das sagen würden. Aber denken Sie daran, daß Sie mir versprochen haben zuzuhören. Erinnern Sie sich an das Feuer in der Cafeteria ?« »Ja, gewiß.« »Das Feuer hat etwas damit zu tun. Da Sie mir doch nicht glauben, warum soll ich es in die Länge ziehen ? Es geschah folgendermaßen. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Gewöhnlich, wenn ich nicht schlafen kann, stehe ich auf und mache mir Tee, oder ich versuche ein Buch zu lesen, aber diesmal befahl mir irgendeine Macht mich anzuziehen und auszugehen. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie ich es wagte, zu der späten Stunde auf den Broadway zu gehen. Es muß zwei oder drei gewesen sein. Ich kam zu der Cafeteria und dachte vielleicht, sie sei die ganze Nacht offen. Ich versuchte hineinzusehen, aber das große Fenster war von einem Vorhang verdeckt. Innen sah ich ein schwaches Licht. Ich versuchte die Drehtür, und sie drehte sich. Ich ging hinein und sah etwas, das ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Die Tische waren zusammengerückt und drum herum saßen Männer in weißen Kitteln, wie Ärzte oder Pfleger, alle mit Hakenkreuzen an den Ärmeln. Obenan saß Hitler. Bitte hören Sie bis zum Ende – selbst einen Geistesgestörten muß man manchmal anhören. Sie sprachen alle Deutsch. Sie sahen mich nicht. Sie waren mit dem Führer beschäftigt. Es wurde still und er begann zu sprechen. Diese 434
widerwärtige Stimme – ich habe sie oft am Radio gehört. Ich konnte nicht genau verstehen, was er sagte. Ich war zu verstört, um es aufzunehmen. Plötzlich sprang einer seiner Henker vom Stuhl auf und sah mich an. Wie ich lebendig dort herausgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ich rannte mit aller Kraft und zitterte am ganzen Körper. Als ich zu Hause ankam, sagte ich mir ›Esther, du bist nicht mehr klar im Kopf.‹ Ich weiß noch immer nicht, wie ich die Nacht überlebt habe. Am nächsten Morgen ging ich nicht direkt zur Arbeit, sondern ging an der Cafeteria vorbei, um zu sehen, ob sie wirklich da war. So ein Erlebnis läßt einen ja an seinem eigenen Verstand zweifeln. Als ich dort ankam, war sie niedergebrannt. Als ich das sah, wußte ich, es hatte mit dem zu tun, was ich gesehen hatte. Die dort gewesen waren, wollten alle Spuren verwischen. Das sind die nackten Tatsachen. Ich habe keinen Grund, solche wilden Sachen zu erfinden.« Wir schwiegen beide. Dann sagte ich : »Sie hatten eine Erscheinung.« »Was meinen Sie mit einer Erscheinung ?« »Die Vergangenheit ist nicht erloschen. Ein Abbild von vor vielen Jahren ist irgendwo in der vierten Dimension gegenwärtig geblieben und hat Sie gerade in dem Augenblick erreicht.« »Soviel ich weiß, hat Hitler nie ein langes weißes Gewand getragen.« »Vielleicht doch.« 435
»Warum ist die Cafeteria gerade in dieser Nacht abgebrannt ?« fragte Esther. »Es kann sein, daß das Feuer die Erscheinung heraufbeschworen hat.« »Da war noch kein Feuer. Ich wußte, daß Sie mir so eine Art Erklärung geben würden. Wenn das eine Erscheinung war, dann ist auch mein Besuch bei Ihnen eine Erscheinung.« »Es konnte nichts anderes sein. Selbst wenn Hitler am Leben wäre und sich hier in den Vereinigten Staaten irgendwo versteckte, so ist es doch nicht wahrscheinlich, daß er sich mit seinen Kumpanen ausgerechnet in einer Cafeteria am Broadway treifen würde. Außerdem gehört die Cafeteria einem Juden.« »Ich habe ihn gesehen, wie ich Sie jetzt sehe.« »Sie haben einen Blick in die Vergangenheit getan.« »Gut, soll es so sein. Aber seitdem habe ich keine Ruhe gehabt. Ich muß immer daran denken. Wenn es mir bestimmt ist, den Verstand zu verlieren, dann wird mich dies dazu treiben.« Das Telephon läutete, und ich fuhr auf. Es war falsch verbunden. Ich setzte mich wieder. »Was ist mit dem Psychiater, zu dem Sie Ihr Anwalt geschickt hat ? Erzählen Sie es ihm, und Sie werden volle Wiedergutmachung erhalten.« Esther sah mich von der Seite an, unfreundlich. »Ich weiß, was Sie meinen. Aber so tief bin ich noch nicht gesunken.« 436
5 Ich hatte Angst, Esther würde mich auch weiterhin anrufen. Ich dachte sogar daran, meine Telephonnummer zu ändern. Aber es vergingen Wochen und Monate, und ich hörte und sah nichts von ihr. Ich ging nicht in die Cafeteria. Aber ich dachte oft an sie. Wie kann ein Gehirn solche Alpträume produzieren ? Was geht in der grauen Masse unter der Schädeldecke vor ? Und welche Garantie habe ich, daß mir nicht das Gleiche passieren kann ? Und woher wissen wir, daß das menschliche Geschlecht nicht auf diese Weise enden wird ? Ich habe mit der Idee gespielt, daß die ganze Menschheit an Schizophrenie leide. Gleichzeitig mit dem Atom ist auch die Persönlichkeit des Homo sapiens gespalten worden. Das Gehirn funktioniert noch, solange es sich um Technologie handelt, aber auf allen anderen Gebieten hat die Degeneration bereits begonnen. Sie sind alle geisteskrank : Kommunisten, Faschisten, die Prediger der Demokratie, Schriftsteller, Maler, Geistliche, Atheisten. Auch die Technologie wird auseinanderbrechen. Gebäude werden einstürzen, Kraftwerke werden keinen Strom mehr produzieren. Generale werden Atombomben auf ihre eigene Bevölkerung werfen. Verrückte Revolutionäre werden in den Straßen herumlaufen und phantastische Schlagworte rufen. Ich habe oft gedacht, es werde in New York beginnen. Diese Metropole hat alle Anzeichen eines wild gewordenen Gehirns. 437
Aber da der Wahnsinn noch nicht alles erfaßt hat, muß man sich verhalten, als ob noch Ordnung herrschte – nach dem Vaihingerschen Prinzip des ›als ob‹. Ich fuhr mit meiner Schreiberei fort. Ich lieferte dem Verleger Manuskripte ab. Ich hielt Vorträge. Viermal im Jahr schickte ich Schecks an den Bundesstaat. Was nach meinen Ausgaben noch übrig blieb, trug ich zur Sparkasse. Der Kassierer schrieb ein paar Zahlen in mein Sparbuch, und das bedeutete, daß für mich gesorgt war. Ein paar Zeilen von mir wurden in einer Zeitschrift oder Zeitung gedruckt, und das hieß, mein Wert als Schriftsteller war gestiegen. Mit Erstaunen stellte ich fest, daß all meine Bemühungen zu Papier wurden. Meine Wohnung war ein einziger großer Papierkorb. Von Tag zu Tag wurden die Papiere trockener und vergilbter. Ich wachte nachts vor Angst auf, daß sie sich entzünden könnten. Es verging keine Stunde, in der ich nicht die Sirenen der Feuerwehr hörte. Ein Jahr nachdem ich Esther zuletzt gesehen hatte, fuhr ich nach Toronto, um dort eine Vorlesung über die jiddische Sprache in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu halten. Ich legte ein paar Hemden in meinen Koffer und allerlei Papiere, darunter eines, das mich zum Bürger der Vereinigten Staaten gemacht hatte. Ich hatte genügend Papiergeld in der Tasche, um mich in einem Taxi zum Grand Central Bahnhof bringen zu lassen. Aber alle Taxis schienen besetzt zu sein. Und die nicht besetzt wa438
ren, hielten nicht. Sahen mich die Fahrer nicht ? War ich plötzlich zu einem geworden, der sieht, aber nicht gesehen wird ? Ich beschloß, die U-Bahn zu nehmen. Auf dem Weg sah ich Esther. Sie war nicht allein, sondern mit jemandem, den ich vor Jahren gekannt hatte, bald nachdem ich in die Vereinigten Staaten gekommen war. Er war oft in einer Cafeteria am Broadway gewesen. Dort saß er an einem Tisch, tat seine Meinungen kund, kritisierte und nörgelte. Es war ein kleiner Mann, mit eingefallenen, ziegelfarbenen Bakken und vorquellenden Augen. Er ärgerte sich über die jungen Schriftsteller. Er bemängelte die alten. Er drehte seine eigenen Zigaretten und ließ die Asche in die Teller fallen, von denen wir aßen. Es waren vielleicht zwanzig Jahre vergangen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Plötzlich erschien er mit Esther. Er hielt sogar ihren Arm. Ich hatte Esther nie so wohl aussehend gefunden. Sie trug einen neuen Mantel und einen neuen Hut. Sie lächelte mich an und nickte. Ich wollte sie anhalten, aber meine Uhr zeigte mir, daß es spät war. Ich erwischte den Zug gerade noch. In meinem Abteil war das Bett schon gemacht. Ich zog mich aus und schlief ein. Mitten in der Nacht erwachte ich. Mein Waggon wurde umrangiert, ich fiel fast aus dem Bett. Ich konnte nicht mehr einschlafen und versuchte, mich an den Namen des kleinen Mannes zu erinnern, den ich mit Esther gesehen hatte. Aber es gelang mir nicht. Woran ich mich erinnerte war die Tatsache, daß er schon vor dreißig Jahren 439
weit davon entfernt gewesen war, jung zu sein. Er war 1905 nach Amerika gekommen, nach der gescheiterten Russischen Revolution. In Europa hatte er einen guten Ruf als Redner und Persönlichkeit gehabt. Wie alt mochte er jetzt sein ? Nach meiner Rechnung mußte er ein hoher Achtziger sein – vielleicht sogar neunzig. Wäre es möglich, daß Esther mit so einem alten Mann etwas angefangen hatte ? Aber heute abend hatte er nicht alt ausgesehen. Je länger ich in der Dunkelheit darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien mir das Zusammentreffen. Ich dachte sogar, ich hätte in irgendeiner Zeitung gelesen, er sei gestorben. Können Leichen auf dem Broadway herumspazieren ? Das würde ja bedeuten, daß auch Esther nicht mehr am Leben sei. Ich hob den Fenstervorhang hoch, setzte mich auf und blickte hinaus in die Nacht – schwarz, undurchdringlich, ohne Mond. Ein paar Sterne liefen eine Weile neben dem Zug her, dann verschwanden sie. Eine erleuchtete Fabrik wurde sichtbar ; ich sah Maschinen, aber keine Arbeiter. Dann wurde sie von der Dunkelheit verschluckt, und eine andere Sternengruppe folgte dem Zug. Ich drehte mich mit der Erde um ihre Achse. Mit ihr kreiste ich um die Sonne und bewegte mich auf eine Konstellation zu, deren Namen ich vergessen hatte. Gibt es keinen Tod ? Oder gibt es kein Leben ? Ich dachte darüber nach, was Esther mir über Hitler in der Cafeteria erzählt hatte. Es schien völliger Unsinn gewesen zu sein, aber jetzt begann ich es an440
ders zu betrachten. Wenn Zeit und Raum nichts anderes als Erscheinungsformen sind, wie Kant sagt, und Qualität, Quantität und Kausalität nur Kategorien des Denkens, warum sollte dann Hitler nicht mit seinen Nazis in einer Cafeteria am Broadway beraten. Esther klang nicht verrückt. Sie hatte ein Stück Wirklichkeit gesehen, dessen Anblick die himmlische Zensur für gewöhnlich verbietet. Sie hatte einen Blick hinter den Vorhang der Erscheinungen getan. Ich bedauerte, nicht nach mehr Einzelheiten gefragt zu haben. In Toronto hatte ich wenig Zeit, über diese Sachen nachzudenken, aber als ich wieder in New York war, ging ich in die Cafeteria, um einige Nachforschungen anzustellen. Ich traf nur einen Mann, den ich kannte : einen Rabbiner, der ein Ungläubiger geworden war und seinen Beruf aufgegeben hatte. Ich fragte ihn nach Esther. Er sagte : »Die hübsche kleine Frau, die oft hierherkam ?« »Ja.« »Ich habe gehört, daß sie sich das Leben genommen hat.« »Wann ? Wie ?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht reden wir nicht von derselben Person.« Wie viele Fragen ich auch stellte, und wie genau ich auch Esther beschrieb, alles blieb unbestimmt. Irgendeine junge Frau, die hierhergekommen war, hatte den Gashahn aufgedreht und ihr Leben beendet – 441
das war alles, was der ehemalige Rabbiner mir sagen konnte. Ich beschloß nicht zu ruhen, ehe ich nicht mit Sicherheit wußte, was aus Esther geworden war und auch aus dem Halb-Schriftsteller, Halb-Politiker, den ich vom East Broadway gekannt hatte. Aber von Tag zu Tag hatte ich mehr zu tun. Die Cafeteria wurde geschlossen. Die Nachbarschaft wandelte sich. Jahre sind vergangen, und ich habe Esther nie wieder gesehen. Ja, es gibt wirklich Leichen, die auf dem Broadway Spazierengehen. Aber warum hatte sich Esther diesen besonderen Leichnam ausgesucht ? Selbst in dieser Welt hätte sie noch bessere Chancen gehabt.
Warum gab ein polnischer Jude in New York eine Scherz literarische Zeitschrift in deutscher Sprache heraus ? Die Zeitschrift, ›Das Wort‹, sollte eigentlich alle drei Monate erscheinen, aber sie kam kaum dreimal im Jahr heraus, manchmal auch nur zweimal – ein kleiner Band von sechsundneunzig Seiten. Keiner der darin schreibenden deutschen Schriftsteller war mir bekannt. Hitler war schon an der Macht, und alle diese Schriftsteller waren Flüchtlinge. Manuskripte kamen aus Paris, der Schweiz, London und sogar aus Australien. Die Geschichten waren schwerfällig, die Sätze gingen oft über eine ganze Seite. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht eine einzige Geschichte zu Ende lesen. Die Gedichte hatten weder Reime noch Rhythmus, und soweit ich das beurteilen konnte, hatten sie auch keinen Inhalt. Der Verleger, Liebkind Bendel, war aus Galizien, hatte viele Jahre in Wien gelebt und war hier in New York an der Börse und mit Immobilien reich geworden. Etwa sechs Monate vor dem Bankkrach von 1929 hatte er all seine Papiere verkauft, und zu einer Zeit, als Bargeld rar war, verfügte er über große Summen, mit denen er Häuser kaufte. Wir lernten uns kennen, weil Liebkind Bendel daran dachte, eine ähnliche Zeitschrift wie ›Das Wort‹ auf Jiddisch herauszugeben ; er wollte mich als Redakteur. Wir trafen uns oft in Restaurants oder Ca443
fés und auch in Liebkind Bendels Wohnung am Riverside Drive. Er war ein winziger Mann mit einem schmalen Schädel ohne ein einziges Haar, er hatte ein langes Gesicht, eine spitze Nase, ein längliches Kinn und kleine, fast weibliche Hände und Füße. Seine Augen waren gelb, bernsteinfarben. Er kam mir wie ein zehn Jahre alter Junge vor, dem man den Kopf eines Erwachsenen aufgesetzt hatte. Er trug geschmacklose Kleidung – Krawatten aus Goldbrokat. Liebkind Bendel hatte viele Interessen. Er sammelte Autographen und Manuskripte, kaufte Antiquitäten, gehörte zu mehreren Schachklubs und hielt sich selbst für einen Feinschmecker und Don Juan. Er liebte allerlei Krimskrams – Uhren, die gleichzeitig Kalender waren, Füllfederhalter mit Blitzlicht. Er wettete auf Pferde, trank Kognak und besaß eine riesige Sammlung erotischer Literatur. Er arbeitete immer an irgendeinem Plan – die Menschheit zu retten, den Juden Palästina zurückzugeben, das Familienleben zu reformieren und Heiratsvermittlung zu einer Wissenschaft und einer Kunst zu machen. Eine seiner Lieblingsideen war eine Lotterie, deren Hauptgewinn ein schönes Mädchen sein sollte – eine Miss Amerika oder eine Miss Universum. Liebkind Bendel hatte eine deutsche Frau, Friedel, nicht größer als er, aber füllig, mit schwarzem lockigen Haar. Sie war die Tochter einer Wäscherin und eines Eisenbahnarbeiters in Hamburg ; ihre beiden Eltern waren arisch, aber Friedel sah jüdisch aus. Seit 444
Jahren schrieb sie an ihrer Doktorarbeit über Schlegels Shakespeare-Übersetzungen. Sie arbeitete zu Hause und war außerdem noch Bendels Sekretärin. Er hatte auch eine Geliebte, Sarah, eine Witwe mit einer geisteskranken Tochter. Sarah wohnte in Brownsville. Liebkind Bendel stellte mich ihr einmal vor. Liebkind Bendels einzige Sprache war Jiddisch. Mit denen, die kein Jiddisch verstanden, sprach er ein Kauderwelsch aus Jiddisch, Deutsch und Englisch. Er hatte ein Talent, Worte bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, daß er von Literatur nichts verstand. Der wirkliche Herausgeber von ›Das Wort‹ war Friedel. Die jiddische Ausgabe kam nie zustande, aber irgend etwas an diesem zu Scherzen aufgelegten kleinen Mann, zog mich an. Vielleicht weil ich ihn nicht ganz ergründen konnte. Immer wenn ich glaubte, ihn nun wirklich zu kennen, überraschte er mich mit einem neuen Einfall. Liebkind Bendel sprach oft von seiner Korrespondenz mit einem alten und berühmten hebräischen Schriftsteller, Dr. Alexander Walden, einem Philosophen, der viele Jahre in Berlin gelebt hatte. Dort gab er eine hebräische Enzyklopädie heraus, deren erste Bände vor dem Ersten Weltkrieg erschienen waren. Die Herausgabe dieser Enzyklopädie zog sich über so viele Jahre hin, daß es zu einem Scherz wurde. Man sagte, der letzte Band werde nach dem Erscheinen des Messias herauskommen und nach der Aufer445
stehung der Toten, so daß die darin enthaltenen Namen drei Daten aufweisen würden : den Geburtstag, den Todestag und den Tag der Auferstehung. Die Enzyklopädie war von Anfang an von einem Berliner Mäzen unterstützt worden, Dan Kniaster, der jetzt ein alter Mann von einigen Achtzig sein mußte. Obwohl Alexander Waden von Dan Kniaster unterstützt wurde, benahm er sich wie ein wohlhabender Mann. Er hatte eine große Wohnung in der Kurfürstendammgegend, besaß viele Bilder und hielt sich einen Diener. In seiner Jugend war Alexander Walden ein Wunder geschehen : die Tochter eines jüdischen Multimillionärs, eine Verwandte der Tietz und der Warburg, Mathilda Oppenheimer, hatte sich in ihn verliebt. Sie lebte nur ein paar Monate mit ihm und ließ sich dann scheiden. Aber die Tatsache, daß Dr. Alexander Walden eine Zeitlang der Mann einer deutschen Erbin gewesen war und auf Deutsch schrieb, ließ die Hebraisten vor Ehrfurcht erstarren. Da er sie ignorierte, beschuldigten sie ihn, ein Snob zu sein. Er vermied es, Jiddisch zu sprechen, obwohl er der Sohn eines Rabbiners in einem kleinen Dorf in Polen war. Es hieß, er sei auf vertrautem Fuß mit Einstein, Freud und Bergson. Warum Liebkind Bendel daran gelegen war, mit Dr. Alexander Walden Briefe zu wechseln, ist mir bis zum heutigen Tage rätselhaft. Dr. Walden stand in dem Ruf, Briefe nicht zu beantworten, und Liebkind Bendel wollte beweisen, daß niemand ihm widerste446
hen konnte. Er schrieb und fragte Alexander Walden, ob er einen Beitrag für ›Das Wort‹ hätte. Seine Briefe wurden ignoriert. Er schickte lange Telegramme, aber Dr. Walden blieb stumm. Da beschloß Liebkind Bendel, um jeden Preis einen Brief von Dr. Walden zu erhalten. In New York begegnete Liebkind Bendel ein hebräischer Bibliograph, Dow Ben Zew, der vom zu vielem Lesen halbblind geworden war. Dow Ben Zew kannte fast jedes Wort auswendig, das Dr. Walden geschrieben hatte. Liebkind Bendel lud Dow Ben Zew in seine Wohnung ein, ließ Friedel ein Abendessen mit Blintzes und saurer Sahne vorbereiten und arbeitete mit den beiden einen sorgfältigen Plan aus. Man schickte an Dr. Walden einen Brief, der angeblich von einem reichen Mädchen in New York geschrieben war, eine Verwandte der Lehmans und der Schiffs, einer Erbin vieler Millionen – Miss Eleanor Seligman-Braude. Der Brief war voller Liebe und Bewunderung für Dr. Waldens Arbeiten und Persönlichkeit. Die Kenntnis von Dr. Waldens Veröffentlichungen kam von Dow Ben Zew, das klassische Deutsch von Friedel und die Schmeichelei von Liebkind Bendel. Liebkind Bendel hatte vollkommen richtig erfaßt, daß Dr. Walden trotz seines hohen Alters noch immer von einer neuen reichen Heirat träumte. Was für einen besseren Köder konnte es geben als eine amerikanische Millionärin, die unverheiratet und mit sei447
ner Arbeit tief vertraut war ? Fast umgehend kam ein handgeschriebener, achtseitiger Luftpostbrief. Dr. Walden beantwortete Liebe mit Liebe. Er wollte nach New York kommen. Friedel schrieb nur diesen einen Brief ; sie erklärte, das ganze sei ein übler Trick, und wollte nichts mehr damit zu tun haben. Aber Liebkind Bendel gabelte eine alte Frau auf, einen Flüchtling aus Deutschland, Frau Inge Schuldiener, die bereit war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Es entstand ein Briefwechsel, der von 1933 bis 1938 dauerte. Während dieser ganzen Zeit hielt nur eine Tatsache Dr. Walden davon ab, nach New York zu kommen – die Tatsache, daß er heftig an Seekrankheit litt. Dan Kniaster, dessen Besitz in Berlin beschlagnahmt werden sollte, und dessen Geschäft von seinen Söhnen übernommen worden war, war nach London übersiedelt. Er hatte Dr. Walden mitgenommen. Auf der kurzen Überfahrt war Dr. Walden so krank geworden, daß man ihn in Dover auf einer Bahre vom Schiff tragen mußte. Eines Morgens im Sommer 1938 wurde ich um sieben Uhr früh an den Münzfernsprecher unten im Haus gerufen. Ich war spät schlafen gegangen, und ich brauchte eine Weile, ehe ich den Bademantel und die Hausschuhe angezogen hatte und drei Treppen hinuntergegangen war. Der Anrufer war Liebkind Bendel. »Habe ich Sie aufgeweckt ?« brüllte er. »Ich bin in einer Klemme. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wenn Sie mir nicht helfen, bin ich rui448
niert, dann ist Liebkind Bendel gewesen. Sie können Kaddisch für mich sagen.« »Was ist geschehen ?« »Dr. Walden kommt mit dem Flugzeug. Frau Schuldiener hat ein Telegramm für Eleanor aus London bekommen. Er schickte ihr tausend Küsse !« Ich brauchte ein paar Sekunden, ehe mir klarwurde, was geschehen war. »Was soll ich dabei tun ?« fragte ich. »Soll ich mich als Erbin verkleiden ?« »Oi ! Habe ich einen Salat angerichtet ! Hätte ich nicht Angst, daß jeden Augenblick der Krieg ausbrechen könnte, würde ich nach Europa weglaufen. Was soll ich tun ? Ich bin ganz außer mir. Ich gehöre in die Irrenanstalt. Jemand muß ihn abholen.« »Eleanor könnte in Californien sein.« »Aber sie hat ihm gerade versichert, sie werde diesen Sommer in der Stadt bleiben. Außerdem ist ihre Adresse ein möbliertes Zimmer in den West Eighties. Er wird sofort merken, daß das nicht die Wohnung einer Millionärin ist. Er hat ihre Telephonnummer, und Frau Schuldiener wird am Telephon sein, und die Hölle wird los sein. Sie ist eine Deutsche und hat keinen Sinn für Humor.« »Ich glaube, nicht einmal Gott könnte Ihnen helfen.« »Was soll ich nur machen – mich umbringen ? Bisher hatte er Angst vor dem Fliegen. Plötzlich hat der alte Idiot Mut. Ich bin bereit, dem Rabbi Meir, dem Wunderrabbi, eine Million Dollar zu stiften, damit 449
das Flugzeug in den Ozean stürzt. Aber Gott und ich sind keine Kumpel. Wir beide haben bis heute abend um acht Zeit.« »Bitte machen Sie mich nicht zu einem Komplizen in Ihren Abenteuern.« »Sie sind der einzige meiner Freunde, der davon etwas weiß. Gestern abend war Friedel so wütend, daß sie sich von mir scheiden lassen wollte. Der Schlemihl Dow Ben Zew ist im Krankenhaus. Ich habe die Hebraisten angerufen, aber Dr. Walden hat sie so lange schlecht behandelt, daß sie seine blutrünstigsten Feinde geworden sind. Er hat nicht einmal ein Hotel bestellt. Wahrscheinlich erwartet er, daß Eleanor ihn sofort vom Flugplatz unter den Hochzeitsbaldachin führen wird.« »Wirklich, ich kann Ihnen nicht helfen.« »Dann lassen Sie uns wenigstens zusammen frühstücken – wenn ich nicht mit irgend jemandem reden kann, verliere ich den Verstand. Wann wollen Sie essen ?« »Ich will nicht essen, sondern schlafen.« »Ich auch. Ich habe gestern abend drei Tabletten geschluckt. Ich habe gehört, daß Dr. Kniaster Deutschland ohne einen Pfennig verlassen hat. Er ist ein alter Gewesener von fünfundachtzig. Seine Söhne sind richtige Preußen, Assimilanten, halbübergetreten. Wenn Krieg ausbricht, würde ich den Dr. Waiden am Halse haben. Und wie kann ich ihm alles erklären ? Er könnte einen Schlaganfall bekommen.« 450
Wir ließen es dabei, uns um elf Uhr in einem Restaurant am Broadway zu treffen. Ich kehrte ins Bett zurück, aber nicht zum Schlafen. Ich döste halb, halb mußte ich lachen, dachte mir eine Lösung aus – nicht, um Liebkind Bendel zu helfen, sondern so, wie ich manchmal versuchte Rätsel in einer Zeitung zu lösen.
2 Im Restaurant erkannte ich Liebkind Bendel kaum. Obwohl er ein gelbes Jackett, ein rotes Hemd und einen Schlips mit goldenen Punkten trug, sah er so bleich aus wie nach einer Krankheit. Er drehte eine lange Zigarre zwischen den Lippen herum und hatte bereits Kognak bestellt. Er hockte auf der Stuhlkante. Ehe ich mich noch hingesetzt hatte, rief er mir zu : »Ich habe einen Ausweg gefunden, aber Sie müssen mir helfen. Eleanor ist gerade bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich habe mit Frau Schuldiener gesprochen, und sie wird mich unterstützen. Alles was Sie tun müssen, ist, auf den alten Schürzenjäger am Flugplatz warten und ihn in ein Hotel bringen. Sagen Sie ihm, Sie seien Eleanors Freund oder Neffe. Ich werde ein Zimmer für ihn nehmen und die Rechnung für einen Monat im voraus bezahlen. Danach bin ich nicht mehr für ihn verantwortlich. Soll er nach London zurückgehen und sich dort die Tochter eines Lords suchen.« 451
»Sie könnten sich genauso gut als Eleanors Freund ausgeben wie ich.« »Ich kann es nicht. Er würde sich wie ein Blutegel an mich heften. Was kann er von Ihnen bekommen – Ihre Manuskripte ? Sie werden ein paar Stunden mit ihm verbringen und danach wird er Sie nicht mehr beanspruchen. Wenn es zum Schlimmsten kommt, so werde ich seinen Rückflug nach England bezahlen. Sie werden mir das Leben retten, und ich werde es Ihnen nie vergessen. Geben Sie ihm nicht Ihre Adresse. Sagen Sie ihm, Sie leben in Chicago oder Miami. Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich für eine halbe Stunde in seiner Gegenwart ein Vermögen gegeben, aber ich habe den Appetit verloren. Ich habe Angst vor ihm. Ich bin überzeugt, wenn ich ihn sehe und er den Namen Eleanor ausspricht, breche ich sofort in Gelächter aus. Ich habe in der Tat hier gesessen und laut gelacht. Der Kellner dachte, ich hätte den Verstand verloren.« »Bendel, ich kann es nicht tun.« »Ist das Ihr leztes Wort ?« »Ich kann nicht so eine Komödie spielen.« »Nun, nein ist nein. Dann werde ich es tun müssen – ich werde ihm erzählen, ich sei ein entfernter Vetter, ein armer Verwandter. Sie hat mich sogar unterstützt. Wie soll ich mich nennen ? Lipman Geiger. Ich hatte mal einen Teilhaber dieses Namens in Wien. Warten Sie, ich muß jemanden anrufen.« Liebkind Bendel sprang auf und lief zur Telephon452
zelle. Er blieb dort etwa zehn Minuten. Ich konnte ihn durch die Glastür beobachten. Er blätterte in einem Notizbuch. Er schnitt Grimassen. Als er zurückkam, sagte er : »Ich habe ein Hotel gefunden und alles in Ordnung gebracht. Wozu brauchte ich diese ganze Meschuggas ? Ich werde den Betrieb hier schließen. Ich werde nach Palästina gehen und ein Jude werden. All diese Schriftsteller sind Hohlköpfe, sie haben nichts zu sagen. Im Alter von fünfzig Jahren wachte mein Großvater jede Nacht für die Mitternachtsgebete auf ; Dr. Walden will mit fünfundsechzig eine Erbin verführen. Sein letzter Brief war ein Lied – das Hohe Lied. Und wer will seine Enzyklopädie ? Diese Frau Schuldiener ist eine Närrin und dazu spielt sie auch noch eine Närrin.« »Vielleicht würde er Frau Schuldiener heiraten ?« »Sie ist über Siebzig. Bereits Urgroßmutter. Sie war Lehrerin in Frankfurt oder in Hamburg – ich hab vergessen, wo. Sie hat die Sätze aus einem Liebesbriefsteller abgeschrieben. Vielleicht sollte ich mich nach einer Frau umsehen, die die Rolle von Eleanor spielen könnte. Wie steht es mit den jiddischen Schauspielerinnen ?« »Alles was die können ist weinen.« »Irgendwo in New York muß es doch eine geben, die ihn bewundert – eine alte Jungfer, die gerne so eine Partie machen würde. Aber wo soll ich die finden ? Was mich angeht, ich habe alles satt. Friedel ist zwar gebildet, aber ohne jede Phantasie. Sie denkt nur 453
an Schlegel. Sarah ist vollkommen von ihrer verrückten Tochter absorbiert. Man hat jetzt eine neue Therapie – die Patienten werden von den Heimen nach Hause geschickt und dann wieder zurückgeholt. Einen Monat ist sie dort und den anderen bei ihrer Mutter. Ich sitze mit ihnen zusammen und habe das Gefühl, selbst nicht ganz in Ordnung zu sein. Wozu erzähle ich Ihnen all das ? Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie mit mir zum Flugplatz. Ich werde Ihnen das nie vergessen. Stimmen Sie zu ? Schlagen Sie ein. Zusammen werden wir es irgendwie schaffen. Lassen Sie uns darauf einen trinken.«
3 Ich stand hinter der gläsernen Trennwand und beobachtete die ankommenden Reisenden. Liebkind Bendel war nervös, und der Rauch seiner Zigarre erstickte mich fast. Aus irgendeinem Grund war ich überzeugt, daß Dr. Walden groß sei. Aber er war klein, breit, fett, mit einem Riesenbauch und großem Kopf. An diesem heißen Sommertag trug er einen langen Mantel, eine flatternde Krawatte und einen Hut mit breiter Krempe. Er hatte einen dichten grauen Schnurrbart und rauchte Pfeife. Er schleppte zwei lederne Reisetaschen mit altmodischen Schlössern und Seitentaschen. Seine Augen unter schweren Brauen suchten nach jemandem. 454
Liebkind Bendels Nervosität war ansteckend. Er roch nach Alkohol, er schnurrte wie ein Kater. Er winkte und rief : »Das ist er bestimmt. Ich erkenne ihn. Sehen Sie nur, wie fett er geworden ist – mehr breit als lang. Ein alter Bock.« Als Dr. Walden die Rolltreppe heraufkam, schob mich Liebkind Bendel ihm entgegen. Ich wollte davonlaufen, aber ich konnte nicht. Statt dessen trat ich vor. »Dr. Walden ?« Dr. Walden setzte seine Taschen ab, nahm die Pfeife zwischen den schwarzen Zähnen hervor und steckte sie, noch brennend, in die Tasche. »Ja« sagte er auf deutsch. »Dr. Walden«, sagte ich auf Englisch, »Ich bin ein Freund von Miss Eleanor Seligman-Braude. Es ist ein Unglück geschehen. Ihr Flugzeug ist abgestürzt.« Ich sprach schnell. Ich fühlte Trockenheit in Kehle und Gaumen. Ich hatte eine Szene erwartet, aber er sah mich unter seinen buschigen Augenbrauen nur an, hielt die Hand ans Ohr und antwortete mir auf Deutsch. »Würden Sie das noch einmal wiederholen ? Ich kann Ihr amerikanisches Englisch nicht verstehen.« »Es ist ein Unglück geschehen – ein großes Unglück.« Liebkind Bendel fing an Jiddisch zu sprechen. »Ihre Freundin ist von Californien abgeflogen und das Flugzeug ist abgestürzt. Es fiel direkt ins Meer. Alle Passagiere wurden getötet – sechzig Menschen.« »Wann ? Wie ?« 455
»Gestern – siebzig unschuldige Menschen – meist Mütter von Kindern.« Liebkind Bendel sprach mit galizischem Akzent und im Singsang. »Ich war ein naher Freund von ihr, und auch dieser junge Mann stand ihr nahe. Wir hatten erfahren, daß Sie ankommen sollten. Wir versuchten Ihnen ein Telegramm zu schicken, aber es war schon zu spät, deshalb sind wir hergekommen, um Sie zu begrüßen. Es ist eine große Ehre für uns, aber es ist herzzerreißend, eine solche Nachricht überbringen zu müssen.« Liebkind Bendel bewegte die Arme ; er zitterte und schrie Dr. Walden ins Ohr, als sei er taub. Dr. Walden nahm seinen Hut ab und legte ihn auf sein Gepäck. Er hatte eine Stirnglatze, aber am Hinterkopf hatte er einen Schopf angegrauten blonden Haares. Er nahm ein gebrauchtes Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ich hatte das Gefühl, als verstehe er noch immer nichts. Er schien zu überlegen. Sein Gesicht fiel zusammen ; er sah staubig, zerdrückt und unrasiert aus. Aus Ohren und Nase standen Haarbüschel hervor. Er roch nach Medizin. Nach einiger Zeit sagte er auf Deutsch : »Ich habe sie hier in New York erwartet. Warum ist sie nach Californien gegangen ?« »Geschäftlich. Fräulein Seligman-Braude war eine Geschäftsfrau. Es handelte sich am eine große Summe – Millionen –, und hier in Amerika sagt man : ›Erst das Geschäft, dann das Vergnügens Sie beeilte sich zurückzukommen, um Sie zu treffen. Aber 456
es sollte nicht sein.« Liebkind Bendel stieß dies in einem Atemzug hervor, und seine Stimme wurde schrill. »Sie hat mir alles erzählt. Sie verehrte Sie, Dr. Walden, aber der Mensch denkt und Gott lenkt, wie es heißt. Achtzig gesunde Menschen – junge Frauen und Babies – in der Blüte ihrer Jahre –« »Darf ich fragen, wer Sie sind ?« sagte Dr. Walden. »Ein Freund, ein Freund. Dieser junge Mann ist ein jiddischer Schriftsteller.« Liebkind Bendel zeigte auf mich. »Er schreibt für jiddische Zeitungen und sonst noch allerlei – Feuilletons und so was. Alles in der Muttersprache, so daß einfache Leute es verstehen können, Es gibt viele Landsleute hier in New York, und Englisch ist für sie eine tote Sprache. Sie wollen die saftige Sprache des Heimatlandes.« – »Ja.« »Dr. Walden, wir haben ein Hotelzimmer für Sie genommen«, sagte Liebkind Bendel. »Mein herzlichstes Beileid ! Es ist wirklich eine Tragödie. Wie war doch der Name ? – Fräulein Braude-Seligson war eine wunderbare Frau. Gebildet, mit feinen Manieren. Sie konnte Hebräisch und zehn andere Sprachen. Plötzlich geht irgend etwas in einem Motor kaputt, eine Schraube lockert sich, und das ist das Ende all dieser Kultur. Was ist der Mensch – ein Strohhalm, ein Stäubchen, eine Seifenblase.« Ich war Dr. Walden für sein würdiges Benehmen dankbar. Er weinte nicht, er schrie nicht. Er zog die Augenbrauen hoch und sah uns mit seinen wässrigen rotgeäderten Augen an, erstaunt und argwöhnisch. 457
Er fragte : »Wo ist die Herrentoilette ? Die Reise hat mich krank gemacht.« »Hier, gleich hier !« rief Liebkind Bendel. »In Amerika gibt es keinen Mangel an Toiletten. Kommen Sie, Dr. Walden, wir sind gerade an der Toilette vorbeigegangen.« Liebkind Bendel ergriff eine Tasche, ich die andere und wir führten Dr. Walden zur Toilette. Er sah uns fragend an, dann das Gepäck. Dann verschwand er in der Toilette und blieb dort längere Zeit. Ich sagte : »Er hat sich wie ein feiner Mann benommen.« »Das Schlimmste ist vorbei. Ich hatte Angst, er könnte ohnmächtig werden. Ich werde ihn nicht im Stich lassen. Soll er so lange in New York bleiben wie er will. Vielleicht wird er doch für ›Das Wort‹ schreiben. Ich würde ihn zum Chefredakteur und was sonst noch machen. Friedel hat genug davon. Die Schriftsteller verlangen Honorare und schreiben ärgerliche Briefe. Wenn sie nur einen Druckfehler finden oder eine vergessene Zeile, dann ist man schon in Lebensgefahr. Ich werde ihm dreißig Dollar in der Woche bezahlen, und er kann sitzen und kritzeln. Wir könnten die Zeitschrift halb auf Deutsch uad halb auf Jiddisch herausbringen. Sie beide könnten die Herausgeber sein. Friedel wäre zufrieden, die Oberaufsicht zu haben.« »Sie haben doch selbst gesagt, daß Dr. Walden Jiddisch haßt.« 458
»Heute haßt er es, morgen wird er es lieben. Für ein paar Pfennig und ein Kompliment kann man alle diese Intellektuellen kaufen.« »Sie hätten ihm nicht sagen sollen, daß ich ein jiddischer Schriftsteller bin.« »Es gibt eine Menge Sachen, die ich nicht hätte tun sollen. Erstens hätte ich nicht geboren werden sollen, zweitens hätte ich Friedel nicht heiraten sollen, drittens hätte ich diese ganze Komödie nicht anfangen sollen und viertens … Da ich nun mal Ihren Namen nicht genannt habe, wird er Sie nie finden. Das kommt alles von meiner Bewunderung für bedeutende Leute. Ich habe immer Schriftsteller geliebt. Wenn von einem Mann etwas in einer Zeitung oder Zeitschrift gedruckt worden war, war er für mich ein Gott. Ich habe die ›Neue Freie Presse‹ gelesen, als sei sie die Bibel. Jeden Monat bekam ich den ›Haolam‹, und dort hat Dr. Walden seine Artikel veröffentlicht. Ich bin wie ein Verrückter zu Vorträgen gelaufen. So habe ich auch Friedel kennengelernt. Hier kommt unser Dr. Walden.« Dr. Walden sah wacklig aus. Sein Gesicht war gelb. Er hatte vergessen, seinen Hosenschlitz zuzuknöpfen. Er starrte uns an und murmelte etwas. Dann sagte er : »Entschuldigen Sie bitte«, und ging zurück in die Toilette.
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4 Dr. Walden hatte mich um meine Adresse und Telephonnummer gebeten, und ich hatte ihm beide gegeben. Ich konnte diesen gelehrten Mann nicht betrügen. Am Tag nach seiner Ankunft in New York war Liebkind Bendel nach Mexico geflogen. In letzter Zeit war er immerzu nach Mexico geflogen. Ich hatte ihn im Verdacht, dort eine Geliebte zu haben und wahrscheinlich auch Geschäfte. Liebkind Bendel verband auf seltsame Weise die Rollen eines Kaufmanns und eines Kunstkenners. Er war einmal nach Washington gefahren, um ein Visum für einen jüdischen Schriftsteller in Deutschland zu erhalten und wurde dort Teilhaber in einer Fabrik, die Flugzeugteile produzierte. Der Besitzer war ein polnischer Jude, der mit Lederwaren handelte und von der Fliegerei nicht das Geringste verstand. Ich hatte langsam begriffen, daß die Welt der Wirtschaft, der Industrie und der sogenannten praktischen Dinge auch nicht viel solider war als die der Literatur und Philosophie. Eines Tages, als ich nach dem Lunch nach Hause zurückgekommen war, fand ich die Nachricht, Dr. Walden habe angerufen. Ich rief ihn an und hörte ein Stammeln und Keuchen. Er sprach in einem verdeutschten Jiddisch. Er sprach meinen Namen falsch aus. Er sagte: »Bitte kommen Sie herüber. Ich bin kaputt.« Liebkind Bendel hatte Dr. Walden in einem orthodoxen jüdischen Hotel im Süden der Stadt unterge460
bracht, obwohl wir beide im Norden wohnten. Ich vermutete, daß er ihn so weit weg wie möglich wissen wollte. Ich nahm die U-Bahn nach Lafayette und ging zu dem Hotel hinüber. Die Halle war voller Rabbis. Sie schienen eine Konferenz abzuhalten. Sie gingen auf und ab in ihren langen Kaftanen und Samthüten. Sie gestikulierten, griffen an ihre Bärte und sprachen alle gleichzeitig. Der Lift hielt an jedem Stock, und durch die offene Tür erblickte ich eine Braut, die in ihrem Hochzeitskleid photographiert wurde, Jeschiwajungen, die Gebetbücher und Gebetsmäntel einpackten, und Kellner mit Käppchen, die nach einem Bankett aufräumten. Ich klopfte an Dr. Waldens Tür. Er erschien in einem burgunderroten, bis auf die Füße gehenden Bademantel, der von oben bis unten mit Flecken übersät war. Er trug abgenutzte Pantoffeln. Das Zimmer stank nach Tabak, Baldriantropfen und dem ranzigen Geruch von Krankheit. Er sah aufgedunsen, alt und verwirrt aus. Er fragte : »Sind Sie Herr – wie war Ihr Name ? – der Herausgeber der ›Jugend‹ ?« Ich nannte ihm meinen Namen. »Schreiben Sie für das Jargonblatt ›Tageblatt‹ ?« Ich nannte ihm den Titel meiner Zeitung. »Well – ja.« Nachdem Dr. Walden wieder und wieder versucht hatte Deutsch mit mir zu sprechen, wechselte er endlich zu Jiddisch über, mit all den Eigenheiten und Aussprachemerkmalen des Dorfes, aus dem er ge461
kommen war. Er sagte : »Was ist das alles für eine Kalamität ? Warum flog sie plötzlich nach Californien ? Jahrelang konnte ich mich nicht entschließen, ob ich diese Reise machen sollte oder nicht. Wie Kant leide auch ich unter Reiseangst. Ein Freund von mir, Professor Mondek, ein Verwandter des berühmten Mondek, gab mir Tabletten, aber danach konnte ich kein Wasser lassen. Ich war überzeugt, mein Ende sei gekommen. Das wäre eine schöne Sache, dachte ich, wenn das Flugzeug in New York ankommt und ich bin tot. Statt dessen ist sie tot. Ich kann es nicht verstehen. Ich habe jemanden gefragt, und der hatte nichts von diesem Flugzeugabsturz gehört. Ich rief ihre Nummer an, und eine alte Frau meldete sich. Sie muß taub oder senil sein – alles klang völlig unzusammenhängend. Wer war der andere kleine Mann, der mich am Flugplatz begrüßte ?« »Lipman Geiger.« »Geiger – ein Enkel von Abraham Geiger ? Die Geigers sprechen nicht Jiddisch. Die meisten sind übergetreten.« »Dieser Geiger kommt aus Polen.« »Und was ist seine Verbindung zu Miss Eleanor Seligman-Braude ?« »Sie waren Freunde.« »Ich bin völlig verwirrt.« Dr. Walden sprach halb zu mir, halb zu sich selbst. »Ich verstehe Englisch, weil ich Shakespeare gelesen habe. Ich habe den ›Sturm‹ mehrmals im Original gelesen. Das ist Shakespeares 462
größtes Werk. Jede Zeile ist von tiefer Symbolik. Es ist ein Meisterwerk in jedem Sinn. Caliban ist in Wirklichkeit Hitler. Aber hier sprechen sie ein Englisch, das wie Chinesisch klingt. Ich kann kein Wort von dem verstehen, was gesagt wird. Hat Miss Eleanor Seligman-Braude Verwandte ?« »Entfernte Verwandte. Aber soviel ich weiß, hatte sie keinen Kontakt mit ihnen.« »Was wird aus ihrem Vermögen ? Gewöhnlich hinterlassen reiche Leute ein Testament. Nicht daß mich derartiges interessiert – absolut nicht. Aber was wird mit der Leiche ? Wird sie nicht hier in New York beerdigt ?« »Ihre Leiche ist irgendwo im Meer.« »Fliegt man von Californien nach New York übers Meer ?« »Es scheint, daß das Flugzeug statt nach Osten nach Westen geflogen ist.« »Wie ist das möglich ? Wo hat man darüber berichtet ? In welcher Zeitung ? Wann ?« »Ich weiß nur das, was Lipman Geiger mir berichtet hat. Er war ihr Freund, nicht ich.« »Was ? Ein Rätsel, ein Rätsel. Man sollte nie etwas gegen seine eigene Natur tun. Einmal sollte Immanuel Kant von Königsberg nach irgendeiner anderen preußischen Stadt reisen. Er hatte erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als es regnete, blitzte und donnerte. Er gab Befehl, sofort umzukehren. Irgendwie wußte ich die ganze Zeit, daß diese Reise ein Fi463
asko sein würde. Ich habe hier nichts zu tun – absolut nichts. Aber in meinem augenblicklichen Zustand kann ich nicht nach London zurückfliegen. Und ein Schiff zu nehmen wäre noch viel schlimmer. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, ich habe fast kein Geld mitgebracht. Mein großer Freund und Wohltäter, Dan Kniaster, ist jetzt selbst ein Flüchtling. Ich habe an einer Enzyklopädie gearbeitet, aber die Druckplatten sind in Berlin geblieben – sogar die Manuskripte. Die Nazis hatten eine Zeitbombe in unser Büro gelegt, und wir sind nur knapp davongekommen. Weiß irgend jemand, daß ich in New York bin ? Ich bin sozusagen inkognito gereist. Aber wie die Dinge jetzt liegen, wäre es vielleicht nützlich, es die Presse wissen zu lassen. Ich habe viele Feinde hier, aber vielleicht würde sich doch auch ein Freund finden.« »Ich glaube, Lipman Geiger hat die Presse unterrichtet.« »Es steht nirgends etwas über mich. Ich habe mir die Zeitungen kommen lassen.« Dr. Walden zeigte auf einen Haufen jiddischer Zeitungen, die auf einem Stuhl lagen. »Ich werde mein Bestes tun.« »In meinem Alter sollte man keine solchen Abenteuer unternehmen. Wo ist Herr Geiger ?« »Er mußte nach Mexico fliegen. Aber er wird bald zurück sein.« »Nach Mexico ? Was macht er in Mexico ? Dies ist also mein Ende. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, 464
aber in dieser verrückten Stadt möchte ich nicht begraben werden. London ist nicht viel ruhiger, aber dort kenne ich wenigstens ein paar Leute.« »Sie werden weiterleben, Dr. Walden«, sagte ich. »Sie werden noch den Sturz Hitlers erleben.« »Wozu ? Für Hitler gibt es auf dieser Erde noch viel zu zerstören. Aber ich habe all meine Fehler bereits gemacht. Zu viele. Diese unglückliche Reise ist nicht einmal eine Tragödie. Nur ein Scherz – ja – mein ganzes Leben ist ein Scherz, von Anfang bis zu Ende.« »Sie haben der Menschheit viel gegeben und dem jüdischen Leser.« »Lappalien, Blödsinn, Schund. Haben Sie Fräulein Seligman-Braude persönlich gekannt ?« »Ja – nein. Ich habe nur von ihr gehört.« »Dieser Geiger gefiel mir nicht – das ist ein Possenreißer. Was schreiben Sie für die jiddischen Zeitungen ? Worüber kann man denn schreiben ? Wir kehren in den Dschungel zurück. Der Homo sapiens ist bankrott. Alle Werte sind zertrümmert – Literatur, Wissenschaft und Religion. Ich für mein Teil habe aufgegeben.« Dr. Walden zog einen Brief aus der Tasche. Er war mit Kaffee- und Ascheflecken bedeckt. Er betrachtete den Brief, indem er ein Auge schloß, zuckte zusammen und schnaubte : »Ich beginne zu bezweifeln, daß es dieses Fräulein Seligman-Braude je gegeben hat.« 465
5 Eines Abends spät als ich angezogen auf meinem Bett lag und über meine Faulheit, die vernachlässigte Arbeit und den Mangel an Willenskraft nachdachte, hörte ich das Signal, das mich an den Münzfernsprecher unten im Haus rief. Ich rannte die drei Treppen hinunter, nahm den Hörer auf, der an der Schnur baumelte, und hörte eine fremde Stimme meinen Namen nennen. Die Stimme sagte : »Ich bin Dr. Linder. Sie sind ein Freund von Dr. Alexander Walden ?« »Ich bin ihm begegnet.« »Dr. Walden hat einen Herzanfall gehabt und ist im Beth Aaron Hospital. Er hat mir Ihren Namen und Ihre Telephonnummer gegeben. Sind Sie ein Verwandter ?« »Nein, ich bin kein Verwandter.« »Hat er keine Familie hier ?« »Es scheint nicht.« »Er hat mich gebeten, Professor Einstein anzurufen, aber es meldete sich niemand. Ich kann mich nicht mit solchen Aufträgen beschäftigen. Kommen Sie morgen ins Krankenhaus. Er ist in einem Saal. Das ist alles, was wir ihm im Augenblick geben konnten. Es tut mir leid.« »Wie steht es um ihn ?« »Nicht zu gut. Er hat eine ganze Reihe von Komplikationen. Sie können ihn zwischen zwölf und zwei oder von sechs bis acht besuchen. Auf Wiedersehen.« 466
Ich suchte nach einem Fünfcentstück, um Friedel anzurufen, fand aber nur ein Fünfzigcentstück und zwei Dollarnoten. Ich ging zum Broadway, um das Geld zu wechseln. Bis es mir gelungen war und ich einen Drugstore mit einer freien Telephonzelle gefunden hatte, war eine halbe Stunde vergangen. Ich wählte Friedels Nummer, sie war besetzt. Eine Viertelstunde lang versuchte ich immer wieder, aber es blieb besetzt. Eine Frau betrat die Nacbbarzelle und legte ihre Münzen hin. Sie sah mich mit einem selbstzufriedenen Ausdruck an, der zu sagen schien : »Sie warten umsonst.« Während sie sprach, gestikulierte sie mit ihrer Zigarette. Von Zeit zu Zeit drehte sie eine Locke ihres gebleichten Haars. Ihre scharlachroten, spitzen Klauen erweckten die Vorstellung von Habgier, so groß wie die menschliche Tragödie. Ich fand einen Penny und wog mich. Nach dieser Waage hatte ich vier Pfund abgenommen. Ein Pappkartonen fiel heraus. Darauf stand : »Sie sind ein begabter Mensch, aber Sie verschwenden ihre Talente.« Ich werde es noch einmal versuchen, und wenn immer noch besetzt ist, werde ich sofort nach Hause gehen, schwor ich mir. Diese Waage hatte die bittere Wahrheit gesagt. Es war nicht besetzt. Ich hörte Friedels männliche Stimme. In diesem Augenblick verließ die Dame mit dem gebleichten Haar und den scharlachroten Fingernägeln die Zelle. Sie zwinkerte mir mit ihren falschen Wimpern zu. »Mrs. Bendel«, sagte ich, »es tut 467
mir leid, Sie zu stören. Dr. Walden hat einen Herzanfall gehabt. Man hat ihn in das Beth Aaron Hospital gebracht. Er ist in einem Saal.« »Ach, mein Gott ! Ich wußte daß dieser Scherz zu nichts Gutem führen würde. Ich habe Liebkind gewarnt. Es war ein Verbrechen – wirklich ein Verbrechen. So ist Liebkind – ihm fällt so ein Streich ein, und er weiß nicht, wann man damit aufhören muß. Was kann ich tun ? Ich weiß nicht einmal, wo er steckt. Er wollte in Kuba Station machen. Wo sind Sie ?« »In einem Drugstore am Broadway.« »Vielleicht könnten Sie herkommen. Das ist keine unwichtige Sache. Ich fühle mich auch schuldig. Ich hätte mich weigern sollen, den ersten Brief zu schreiben. Kommen Sie, es ist noch früh. Ich gehe nie vor zwei Uhr schlafen.« »Was machen Sie bis zwei ?« »Ach, ich lese, ich denke nach, ich mache mir Sorgen.« »Gut, dieser Abend ist sowieso verloren«, murmelte oder dachte ich. Es waren nur ein paar Blocks bis zu Liebkind Bendels Wohnung am Riverside Drive. Der Portier kannte mich. Ich fuhr zum vierzehnten Stock hinauf und kaum hatte ich die Klingel gedrückt, öffnete Friedel die Tür. Friedel war klein, hatte breite Hüften und schwere Beine. Sie hatte eine schiefe Nase und braune Augen unter männlichen Brauen. Sie trug gewöhnlich dunkle Kleider, und ich hatte nie auch nur eine Spur Kosmetika an ihr wahrgenommen. Meistens, wenn 468
ich Liebkind Bendel besuchte, brachte sie sofort ein halbes Glas Tee, sprach ein paar Worte und kehrte zu ihren Büchern und Manuskripten zurück. Liebkind Bendel pflegte scherzend zu sagen : »Was kann man von einer Frau erwarten, die Herausgeberin ist ? Es ist ein Wunder, daß sie ein Glas Tee machen kann.« Diesmal trug Friedel ein weißes, ärmelloses Kleid und weiße Schuhe. Sie hatte einen Lippenstift benutzt. Sie bat mich in das Wohnzimmer, wo auf dem Kaffeetischchen eine Obstschale, ein Krug mit einem Getränk und ein Teller mit Keksen standen. Friedel sprach Englisch mit starkem deutschen Akzent. Sie deutete auf das Sofa für mich und setzte sich auf einen Stuhl. Sie sagte : »Ich wußte, es würde schlecht enden. Von Anfang an war es ein teuflisches Spiel. Wenn Dr. Walden stirbt, wird Liebkind für seinen Tod verantwortlich sein. Alte Männer sind romantisch. Sie denken nicht an ihre Jahre und Kräfte. Diese stupide Frau Schuldiener hat ihm auf eine solche Weise geschrieben, daß er allen Grund hatte, sich Illusionen zu machen. Man kann jeden Menschen zum Narren halten ; sogar einen Weisen.« (Friedel benutzte das jiddische Wort Chochem.) Man könnte sogar Liebkind Bendel zum Narren halten, flüsterte es in meinem Gehirn – ein Dibbuk oder ein Kobold. Laut sagte ich : »Sie hätten die Sache nicht so weit treiben sollen, Madame Bendel.« Friedel runzelte ihre dicken Brauen. »Liebkind tut was er will. Er fragt mich nicht um Rat. Er geht fort, 469
und ich weiß nicht, wohin oder zu welchem Zweck. Er sollte nach Mexico gehen. Im letzten Augenblick erklärt er, er werde in Havanna haltmachen. Er hat weder in Havanna noch in Mexico Geschäfte. Sie wissen wahrscheinlich mehr über ihn als ich. Ich bin sicher, daß er Ihnen gegenüber mit seinen Eroberungen prahlt.« »Bestimmt nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum er wegfuhr und wen er trifft.« »Ich habe schon eine Ahnung. Aber was soll man darüber reden ? Ich kenne alle seine galizischen Tricks …« Eine Zeitlang schwiegen wir. Friedel hatte noch nie so zu mir gesprochen. Bei den wenigen Unterhaltungen, die wir miteinander geführt hatten, war es immer um die deutsche Literatur gegangen, um Schlegels Shakespeare-Übersetzungen und um gewisse jiddische Ausdrücke, die sich in einigen deutschen Dialekten erhalten hatten, deren Ursprung Friedel im Althochdeutschen entdeckt hatte. Ich wollte gerade sagen, daß es unter den Galiziern sehr anständige Leute gebe, als das Telephon läutete. Der Apparat stand auf einem kleinen Tisch nahe der Tür. Friedel ging langsam hinüber, setzte sich und nahm den Hörer ab. Sie sprach leise, aber ich merkte, daß sie mit Liebkind Bendel sprach. Er rief aus Havanna an. Ich erwartete, Friedel würde ihm sofort sagen, daß Dr. Walden krank sei, und ich zu Besuch bei ihr. Aber sie erwähnte keine der beiden Tatsachen. Sie sprach 470
ironisch mit ihm : Geschäfte ? Sicher. Eine Woche ? Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ein Gelegenheitskauf ? Greif zu, warum nicht ? Ich ? Ich bin bei meiner Arbeit wie immer – was gebe es denn sonst ?« Während sie sprach, blickte sie mich von der Seite an. Sie lächelte ein wissendes Lächeln. Ich bildete mir ein, daß sie mir zublinzelte. Ich stand auf und bewegte mich langsam in die Richtung des Badezimmers. Was ist das für ein verrückter Abend, dachte ich. Plötzlich tat ich etwas, das mich selbst überraschte. Ich bückte mich und küßte Friedels Nacken. Ihre linke Hand griff nach meiner und drückte sie kräftig. Ihr Gesicht wurde plötzlich jugendlich und höhnisch. Gleichzeitig fragte sie : »Liebkind, wie lange wirst du in Havanna bleiben ?« Sie stand auf und hielt den Hörer spöttisch an mein Ohr. Ich hörte Liebkind Bendels näselnde Stimme. Er sprach von den Antiquitäten, die in Havanna zu bekommen waren und erklärte den Unterschied der Wechselkurse. Friedel beugte sich zu mir, so daß unsere Ohren sich berührten. Ihr Haar kitzelte meine Backe. Ihr Ohr brannte an meinem. Ich schämte mich wie ein Knabe. Plötzlich wurde die Notwendigkeit zum Badezimmer zu gehen peinlich dringend. Als Friedel am nächsten Morgen im Krankenhaus anrief, sagte man ihr, Dr. Walden sei gestorben. Mitten in der Nacht. Friedel sagte : »Ist das nicht grausam ? Mein Gewissen wird mich bis zum letzten Augenblick meines Lebens quälen.« 471
Am folgenden Tag brachten die jiddischen Zeitungen die Nachricht. Die gleichen Redakteure, die nach Aussage von Liebkind Bendel sich geweigert hatten, Dr. Waldens Ankunft in New York zu melden, schrieben jetzt ausführlich über seine Leistungen für die hebräische Literatur. Auch in der englischsprachigen Presse erschienen Nachrufe. Die Photographien waren mindestens dreißig Jahre alt ; auf ihnen sah Dr. Walden jung und vergnügt aus, mit dichtem Haarwuchs. In den Zeitungen war zu lesen, daß die Hebraisten, Dr. Waldens Feinde, Vorbereitungen für die Beisetzung trafen. Der jüdische Nachrichtendienst mußte die Nachricht in der ganzen Welt verbreitet haben. Liebkind Bendel rief Friedel aus Havanna an, um ihr zu sagen, daß er zurückfliegen werde. Als er in New York angekommen war, sprach er mit mir am Telephon mindestens eine Stunde lang. Er wiederholte immer wieder, Dr. Waldens Tod sei nicht seine Schuld. In London wäre er auch gestorben. Was liegt daran, wo man stirbt ? Liebkind Bendel wollte vor allem wissen, ob Dr. Walden irgendwelche Manuskripte bei sich gehabt hatte. Er wollte eine ihm gewidmete Sondernummer von ›Das Wort‹ herausbringen. Liebkind Bendel hatte aus Havanna ein Gemälde von Chagall mitgebracht, das er einem Flüchtling abgekauft hatte. Er gab mir gegenüber zu, daß es wohl aus einer Galerie gestohlen worden war. Liebkind Bendel sagte zu mir : »Nun, wenn die Nazis es geschnappt hätten, wäre das besser gewesen ? Die 472
Maginot Linie ist keinen Pfifferling wert. Hitler wird bald in Paris sein. Denken Sie an meine Worte.« Die Halle, in der die Feier stattfinden sollte, war nicht weit von Liebkind Bendels Wohnung entfernt, und er und Friedel sollten mich am Eingang treffen. Sie waren alle gekommen – die Hebraisten, die Jiddischisten, die anglo-jüdischen Schriftsteller. Taxis fuhren vor. Von irgendwo tauchte eine kleine Frau auf, die ein abgemagertes, gestört aussehendes Mädchen führte. Alle paar Sekunden blieb sie stehen und stampfte mit ihrem Fuß auf den Boden ; die Frau drängte sie voran und redete ihr gut zu. Es war Sarah, Liebkind Bendels Geliebte. Mutter und Tochter versuchten, die Halle zu betreten, aber sie war schon überfüllt. Nach einiger Zeit kamen Liebkind Bendel und Friedel in einem roten Wagen an. Er trug einen sandfarbenen Anzug und einen auffallenden Schlips aus Havanna. Er sah frisch und sonnenverbrannt aus. Friedel war schwarz gekleidet und trug einen breitrandigen Hut. Ich sagte zu Liebkind, die Halle sei voll, und er antwortete : »Seien Sie nicht naiv. Sie werden sehen, wie man es in Amerika macht.« Er flüsterte dem Saaldiener etwas ins Ohr, und der Saaldiener führte uns hinein und machte in einer der ersten Reihen Platz für uns. Die elektrischen Kerzen der Menora warfen ein gedämpftes Licht. Der Sarg stand vor dem Podium. Ein junger Rabbiner mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart und einem winzigen Käpp473
chen, das zu seinem glänzenden pomadisierten Haar paßte, hielt eine Gedenkrede auf Englisch. Er schien wenig von Dr. Walden zu wissen. Er verwechselte Tatsachen und Daten. Er machte Fehler in den Titeln von Dr. Waldens Büchern. Dann sprach ein alter Rabbiner mit einem weißen Spitzbart, ein Flüchtling aus Deutschland, der einen schwarzen, wie ein Topf aussehenden Hut trug, auf Deutsch. Er betonte die Umlaute und zitierte lange hebräische Passagen. Er nannte Dr. Walden eine Säule des Judentums. Er behauptete, Dr. Walden sei nach Amerika gekommen, um die Enzyklopädie, der er seine besten Jahre geopfert hatte, weiter veröffentlichen zu können. »Die Nazis behaupten, Kanonen seien wichtiger als Butter«, deklamierte der Rabbiner feierlich, »aber wir Juden, das Volk der Bibel, glauben noch immer an die Macht des Wortes.« Er rief zu Spenden auf, um die letzten Bände des Werkes, dem Dr. Walden sein Leben geopfert hatte, indem er trotz Krankheit nach Amerika gekommen war, herausbringen zu können. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte damit eine einzelne Träne hinter den beschlagenen Brillengläsern fort. Er wies darauf hin, daß unter den Trauernden hier in der Halle der allgemein geliebte Professor Einstein sei, ein naher Freund des Verstorbenen. In der Menge begann man zu flüstern und sich umzusehen. Einige standen sogar auf, um einen Blick auf den weltberühmten Gelehrten zu werfen. Nach der Predigt des deutschen Rabbiners gab es 474
eine weitere Lobeshymne von dem Herausgeber einer hebräischen Zeitschrift in New York. Dann rezitierte ein Kantor mit einem sechseckigen Hut und dem Gesicht einer Bulldogge : »Gnadenreicher Gott.« Er sang mit lauter und schmerzvoller Stimme. Neben mir saß eine schwarzgekleidete Frau. Sie hatte gelbes Haar und rote Backen. Ich bemerkte einen Ring mit einem riesigen Diamanten an ihrem Finger. Als der junge Rabbiner auf Englisch sprach, hob sie ihren Schleier und schneuzte sich in ein Spitzentaschentuch. Als der alte Rabbiner auf Deutsch sprach, faltete sie ihre Hände und weinte. Als der Kantor ausrief : »Er wird im Paradies ruhen !« weinte die Frau so fassungslos wie die Frauen in der alten Heimat. Sie beugte sich vor, als wäre sie am zusammenbrechen, ihr Gesicht war tränenüberströmt. Wer kann sie sein, überlegte ich. Soviel ich weiß, hatte Dr. Walden keine Verwandten hier. Ich mußte an Liebkind Bendels Worte denken, daß sich irgendwo in New York vielleicht eine ehrliche Bewunderin von Dr. Walden finden ließe, die ihn wirklich liebte. Ich hatte schon seit langem begriffen, daß, was immer jemand erfinden könnte, bereits existierte. Nach der Feier erhoben sich alle und defilierten am Sarg vorbei. Vor mir erblickte ich Professor Albert Einstein, der genauso aussah wie auf seinen Bildern – leicht gebeugt und mit langem Haar. Er blieb einen Augenblick stehen und murmelte einen Abschiedsgruß. Dann sah ich beim Vorbeigehen Dr. Walden. Die Leichenbestatter 475
hatten ihn mit Kosmetika behandelt. Sein Kopf ruhte auf einem seidenen Kissen, das Gesicht war steif wie Wachs, scharf rasiert, mit gezwirbeltem Bart, und in den Augenwinkeln war der Anflug eines Lächelns zu sehen, das zu besagen schien : »Nun ja, mein Leben war ein einziger Scherz vom Anfang bis zum Ende.«
Die Leute, die zu der Zeitung, für die ich arGeheime Kräfte beite, um Rat kommen, fragen gewöhnlich nicht nach jemand bestimmtem. Wir haben einen Reporter, der regelmäßig in einer Rubrik Ratsuchende berät, und wer immer vorbeikommt, wird an ihn verwiesen. Aber dieser Mann frug ausdrücklich nach mir. Er wurde in mein Zimmer geführt : er war ein großer Mann – er mußte sich bücken, um durch die Tür zu kommen – ohne Hut, mit einem Schopf schwarzen, graumelierten Haars. Seine schwarzen Augen, unter struppigen Brauen, blickten wild und machten mir Angst. Er trug einen leichten Regenmantel, obwohl es draußen schneite. Sein viereckiges Gesicht war von der Kälte gerötet. Er trug keine Krawatte, und sein Hemd war offen und ließ eine Brust sehen, die mit Haaren, dicht wie ein Pelz, bedeckt war. Er hatte eine breite Nase und dicke Lippen. Beim Sprechen zeigten sich große, weit auseinanderstehende Zähne, die ungewöhnlich kräftig schienen. Er sagte : »Sind Sie der Schriftsteller ?« »Ich bin es.« Er schien überrascht. »Dieser kleine Mann, der an diesem Tisch sitzt ?« sagte er. »Ich hatte Sie mir irgendwie anders vorgestellt. Nun, die Dinge müssen nicht genau so sein, wie wir sie uns vorstellen. Ich lese jedes Wort, das Sie schreiben – sowohl Englisch wie Jiddisch. Wenn ich erfah477
re, daß Sie etwas in einer Zeitschrift veröffentlicht haben, dann laufe ich und besorge sie mir.« »Vielen Dank. Bitte, nehmen Sie Platz.« »Ich möchte lieber stehen – aber – nun gut – ich werde mich setzen. Darf ich rauchen ?« »Gewiß.« »Ich muß Ihnen sagen, daß ich kein Amerikaner bin. Ich kam nach dem Zweiten Weltkrieg hierher. Ich bin durch Hitlers Hölle, durch Stalins Hölle und noch durch ein paar andere Höllen gegangen. Aber deshalb bin ich nicht zu Ihnen gekommen. Haben Sie Zeit, mich anzuhören ?« »Ja, die habe ich.« »Nun, in Amerika sind alle beschäftigt. Wie haben Sie Zeit, all diese Sachen zu schreiben und auch noch Leute zu empfangen ?« »Es gibt für alles Zeit.« »Vielleicht. Hier in Amerika verfliegt die Zeit – eine Woche ist nichts, und ein Monat ist nichts, und zwischen ja und nein ist ein Jahr vergangen. In der Hölle dort auf der anderen Seite schien ein Tag länger als hier ein Jahr. Ich bin seit 1950 in diesem Land, und die Jahre sind vergangen wie ein Traum. Eben ist es Sommer, dann ist es Winter, die Jahre rollen vorbei. Wie alt bin ich, denken Sie ?« »In den Vierzigern – vielleicht fünfzig.« »Rechnen Sie dreizehn Jahre dazu. Im April werde ich dreiundsechzig.« »Sie sehen jung aus – unberufen.« 478
»Das sagen alle. In meiner Familie wird man nicht grau. Mein Großvater starb mit dreiundneunzig, und er hatte kaum ein graues Haar. Er war Schmied. Auf meiner Mutterseite waren alle Gelehrte. Ich habe auch in einer Jeschiwa gelernt – ich war in der Jeschiwa von Gur und eine Zeitlang in Litauen. Nur bis ich siebzehn war allerdings, aber ich habe ein gutes Gedächtnis. Wenn ich etwas lerne, dann bleibt es in meinem Gehirn stecken. Ich vergesse nichts, in gewissem Sinn, und das ist meine Tragödie. Früher war ich überzeugt, daß es keinen Sinn hat, über dem Talmud zu brüten, und ich begann, weltliche Bücher zu lesen. Zu der Zeit waren die Russen fort, und die Deutschen hatten das Land übernommen. Dann wurde Polen unabhängig, und ich wurde zur Armee eingezogen. Ich habe mitgeholfen, die Russen nach Kiew zu jagen. Dann trieben sie uns bis zur Weichsel zurück. Die Polen sind nicht sehr judenfreundlich, aber ich wurde befördert. Sie machten mich zum Hauptfeldwebel, Chorazy, das ist das Höchste, was man ohne Kadettenanstalt erreichen kann, und nach dem Krieg wollten sie mich auf die Militärakademie schicken. Ich hätte Hauptmann oder sonst was werden können, aber die Kaserne war nicht mein Ehrgeiz. Ich las viel, malte und versuchte mich auch im Bildhauern. Ich fing an, Figuren aus Holz zu schnitzen. Ich landete beim Möbelherstellen. Kunsttischlerei – ich spezialisierte mich auf Möbelreparaturen, meistens antike. Sie wissen, worum es sich handelt – 479
Intarsien fallen heraus, kleine Stücke brechen ab. Es braucht Geschick, um das Geflickte unsichtbar zu machen. Ich weiß heute noch nicht, warum ich mich mit solcher Begeisterung da hineinstürzte. Um die richtige Maserung zu finden, die richtige Farbe und so zu arbeiten, daß der Besitzer die Stelle nicht mehr finden konnte – dazu braucht man eiserne Geduld und auch Instinkt. Jetzt werde ich Ihnen sagen, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Weil Sie über die geheimen Kräfte schreiben : Telepathie, Geister, Hypnotismus, Fatalismus und so weiter – ich habe es alles gelesen. Ich habe es gelesen, weil ich die Kräfte besitze, von denen Sie schreiben. Ich bin nicht gekommen, um mich dessen zu rühmen, und glauben Sie nicht, daß ich was mit dem Journalismus zu tun haben will. Ich arbeite hier in Amerika auf meinem Gebiet und verdiene genug damit. Ich bin allein – keine Frau, keine Kinder. Meine Familie haben sie umgebracht. Ich trinke ab und zu einen Schluck Whisky, aber ich bin kein Trinker. Ich habe hier in New York eine Wohnung und in Woodstock ein Sommerhäuschen. Ich brauche von niemandem was. Aber zurück zu den geheimen Kräften. Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß man damit geboren wird. Wir werden mit allem geboren. Ich war ein Kind von sechs Jahren, als ich schon zu schnitzen anfing. Später habe ich dieses Talent vernachlässigt, aber es blieb mir erhalten. Und so ist es auch mit den Kräften. Ich 480
hatte sie schon immer, aber ich wußte nicht, was sie waren. Eines Morgens stand ich auf, und mir kam der Gedanke, daß an diesem Tag jemand aus einem Fenster des Hauses fallen würde. Wir lebten in Warschau in der Twardastraße. Der Gedanke gefiel mir nicht – er erschreckte mich. Ich ging in die Vorschule, und als ich nach Hause kam, war der Hof schwarz vor Menschen. Der Rettungswagen fuhr gerade vor. Ein Glaser hatte eine Scheibe in einem Fenster im zweiten Stock ersetzen wollen und war hinuntergestürzt. Wenn solche Dinge nur einmal, zweimal – vielleicht sogar fünfmal – passiert wären, hätte ich es Zufall nennen können. Aber sie geschahen so häufig, daß es keine Zufälle mehr sein konnten. Merkwürdigerweise begann ich zu verstehen, daß es besser sei, sie zu verheimlichen wie ein häßliches Muttermal. Und ich hatte recht, solche Kräfte sind ein Unglück. Es ist besser, taub oder lahm geboren zu werden, als solche Kräfte zu besitzen. Aber, ganz gleich wie vorsichtig man ist, man kann nicht alles verheimlichen. Einmal saß ich in der Küche. Meine Mutter – sie ruhe in Frieden ! – strickte einen Strumpf. Mein Vater verdiente gut, obwohl er nur Arbeiter war. Unsere Wohnung war behaglich und so sauber wie das Haus eines reichen Mannes. Wir hatten eine Menge Kupfergeschirr, das meine Mutter jede Woche putzte, bis es glänzte. Ich saß auf einer niedrigen Bank. Ich war zu der Zeit nicht älter als sieben Jahre. Plötzlich sagte ich : ›Mama, unter dem Fußboden ist Geld ! Da ist Geld !‹ 481
Meine Mutter hörte auf zu stricken und sah mich erstaunt an. ›Was für Geld ? Was schwatzst du da ?‹ ›Geld‹, sagte ich. ›Goldstücke.‹ Meine Mutter sagte : ›Bist du verrückt ? Woher weißt du, was unter dem Fußboden ist ?‹ ›Ich weiß‹, sagte ich. Mir war bereits klar, daß ich nichts hätte sagen sollen, aber es war zu spät. Als mein Vater zum Abendessen nach Hause kam, erzählte ihm meine Mutter, was ich gesagt hatte. Ich war nicht dabei. Aber mein Vater war so überrascht, daß er gestand, eine Anzahl Goldstücke unter dem Fußboden versteckt zu haben. Ich hatte eine ältere Schwester, und mein Vater sparte für eine Mitgift für sie – Geld auf die Bank zu tun war damals bei einfachen Leuten nicht üblich. Als ich von der Schule zurückkam, begann mein Vater mich auszufragen. ›Spionierst du mir nach ?‹ In Wirklichkeit hatte mein Vater das Geld versteckt, als ich in der Schule war und meine Mutter auf dem Markt einkaufen. Meine Schwester war eine Freundin besuchen gegangen. Er hatte die Tür verschlossen und verriegelt, und wir wohnten im dritten Stock. Er war sogar so vorsichtig gewesen, das Schlüsselloch mit etwas Watte zu verstopfen. Ich bekam Schläge, aber wie ich auch versuchte, ihm zu erklären, woher ich etwas von den Goldstücken wußte, ich konnte es nicht. ›Dieser Junge ist ein Teufel !‹ sagte mein Vater, und gab mir noch eine extra Ohrfeige. Das lehrte mich, den Mund zu halten. 482
Ich könnte Ihnen hundert solche Sachen aus meiner Kindheit erzählen, aber ich will nur noch eine erwähnen. Gegenüber unserer Wohnung war ein Milchladen, Damals ging man dorthin, um gekochte Milch zu kaufen. Sie wurde über einer Gasflamme gekocht. Eines Morgens gab mir meine Mutter einen Topf und sagte zu mir : ›Geh über die Straße zu Zelda und kaufe einen Liter gekochte Milch.‹ Ich ging hinüber in den Laden, wo nur ein Kunde war – ein Mädchen, das etwas Butter kaufte. In Warschau schnitt man damals die Butter von einem großen Stück mit der Sehne eines Bogens, wie ihn die Kinder beim Fest Omer zum Spielen hatten, wenn sie zum Picknick in die Prager Wälder zogen. Ich blickte auf und sah etwas Merkwürdiges : über Zeldas Kopf leuchtete ein Licht, als sei ein Chanukkaleuchter in ihrer Perücke versteckt. Ich stand da und starrte – wie war das möglich ? Am Ladentisch stand das Mädchen und sprach zu Zelda, als ob nichts Ungewöhnliches vor sich ginge. Nachdem Zelda die Butter abgewogen hatte und das Mädchen gegangen war, sagte Zelda ›Komm herein, komm herein. Warum stehst du da auf der Schwelle ?‹ Ich wollte sie fragen : ›Warum brennt ein Licht über Eurem Kopf ?‹ Aber ich hatte schon das Gefühl, daß ich der einzige war, der es sah. Am nächsten Tag als ich aus dem Cheder nach Hause kam, sagte meine Mutter zu mir : ›Hast du gehört, was geschehen ist ? Zelda aus dem Milchladen ist tot umgefallene Sie können sich meinen Schrecken vor483
stellen. Ich war nur etwa acht Jahre alt. Seitdem habe ich die gleiche Art von Licht viele Male über den Köpfen derer brennen sehen, die kurz vor dem Tod standen. Gottseidank, in den letzten zwanzig Jahren habe ich es nie mehr gesehen. In meinem Alter und bei jenen, mit denen ich meine Tage verbringe, könnte ich dieses Licht immerzu sehen.«
2 »Vor einiger Zeit schrieben Sie, daß in jeder großen Liebe ein Element der Telepathie enthalten sei. Ich war davon sehr beeindruckt und beschloß, Sie aufzusuchen. In meinem Leben ist das nicht einmal, nicht zehnmal, sondern immer und immer wieder passiert. In meiner Jugend war ich romantisch. Wenn ich eine Frau sah, verliebte ich mich sofort in sie. Damals konnte man sich nicht einfach einer Frau nähern und sagen, daß man in sie verliebt sei. Mädchen waren zarte Geschöpfe. Schon ein Wort konnte eine Beleidigung sein. Auch war ich auf meine Weise schüchtern. Auch stolz. Es liegt mir nicht, Frauen nachzulaufen. Um es kurz zu machen, statt mit einem Mädchen zu sprechen, dachte ich nur an sie – Tag und Nacht. Ich dachte mir alle möglichen Begegnungen und Abenteuer aus. Dann begann ich zu merken, daß meine Gedanken Erfolg hatten. Das Mädchen, an das ich so stark gedacht hatte, kam wirklich zu mir. Einmal 484
wartete ich auf eine Frau in einer sehr belebten Straße in Warschau, bis sie erschien. Ich bin kein Mathematiker, aber ich weiß, die Wahrscheinlichkeit, daß diese Frau zu dieser Zeit die Straße überqueren würde, war ungefähr eins zu zwanzig Millionen. Aber sie kam, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen. Ich bin nicht sehr leichtgläubig ; noch heute habe ich meine Zweifel. Wir wollen daran glauben, daß alles auf vernünftige Art geschieht und nach einem Plan. Wir haben Angst vor Geheimnissen – wenn es gute Mächte gibt, dann gibt es sicher auch böse, und wer weiß, was sie anrichten können ! Aber mir sind so viele unvernünftige Dinge passiert, daß ich ein Idiot wäre, wenn ich sie nicht zur Kenntnis nehmen würde. Weil ich diese Art Magnetismus habe, habe ich vielleicht auch nie geheiratet. Außerdem bin ich nicht der Mann, der sich mit einer Frau zufrieden gibt. Ich besaß auch noch andere Kräfte, aber damit will ich nicht protzen. Ich lebte sozusagen in einem orientalischen Paradies – manchmal mit fünf oder sechs Geliebten zur gleichen Zeit. In den Salons, in denen ich meine Möbelreparaturen ausführte, traf ich oft schöne Frauen – meist nichtjüdische. Und von denen hörte ich immer das alte Lied. – ich sei anders als die meisten Juden und ähnliches Geschwätz. Ich wohnte in einem Zimmer mit eigenem Eingang, und mehr braucht ein Junggeselle nicht. Im Schrank verwahr485
te ich Brandy und Liköre und sonst noch allerhand Leckereien. Wenn ich Ihnen erzählen wollte, was auf dem Sofa in diesem Zimmer vor sich ging, daraus könnten Sie ein Buch machen – aber wen interessiert das ? Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, daß für den modernen Menschen die Ehe schierer Wahnsinn ist. Ohne Religion ist die ganze Einrichtung absurd. Natürlich waren Ihre und meine Mutter treue Frauen. Für sie gab es nur einen Gott und einen Ehemann. Jetzt komme ich zur Hauptsache. Obgleich ich in diesen Jahren viele Frauen gehabt hatte, blieb ich bei einer fast dreißig Jahre – tatsächlich bis zu dem Tag, an dem die Nazis Warschau bombardierten. An jenem Tag überschritten tausende von Männern die Brücke nach Praga. Ich wollte Mania mitnehmen – sie hieß Mania – aber sie hatte Grippe, und ich konnte nicht auf sie warten. Ich hatte viele Bekannte in Polen, aber bei einer solchen Katastrophe sind sie keinen Pappenstiel wert. Ich erfuhr später, daß das Haus, in dem ich gewohnt hatte, von einer Bombe getroffen und zu einem Haufen Kalk und Ziegel geworden war. Ich habe von Mania nie wieder gehört. Diese Mania konnte man für ein einfaches Mädchen halten. Sie kam aus einem kleinen Dorf in Großpolen. Als wir uns kennenlernten, waren wir beide noch unberührt. Aber weder meine Herrschaft über sie noch mein Verrat konnte unsere Liebe zerstören. Irgendwie wußte sie von meinen Schändlichkeiten, 486
und sie sagte mir auch wiederholt, daß sie mich verlassen, heiraten werde und was sonst noch alles. Aber sie kam jede Woche regelmäßig zu mir – manchmal sogar öfter. Die anderen Frauen blieben nie die Nacht über in meinem Zimmer, aber wenn Mania kam, so blieb sie. Sie war nicht besonders schön – dunkel, nicht groß, mit schwarzen Augen. Sie hatte lockiges Haar. In ihrem Dorf hatte man sie Mania, die Zigeunerin, genannt. Sie trieb all die Possen der Zigeuner. Sie wahrsagte aus den Karten und las aus der Hand. Sie glaubte an allerlei Zauber und war abergläubisch. Sie kleidete sich auch wie eine Zigeunerin in geblümte Röcke und Schals, trug lange Ohrringe und rote Perlen um den Hals. Sie hatte immer eine Zigarette zwischen den Lippen. Sie verdiente ihren Unterhalt als Verkäuferin in einem Wäschegeschäft. Die Besitzer waren ein älteres, kinderloses Ehepaar, und Mania wurde fast wie ihre Tochter behandelt. Sie war eine ausgezeichnete Verkäuferin. Sie konnte nähen, sticken und lernte sogar Korsettmachen. Sie führte das ganze Geschäft. Wenn sie hätte stehlen wollen, so hätte sie ein Vermögen machen können, aber sie war hundertprozentig ehrlich. Die alten Leute wollten ihr das Geschäft testamentarisch vermachen. In späteren Jahren wurde der Mann leberkrank, und sie reisten nach Karlsbad, Marienbad und Pistyan. Und sie überließen Mania alles. Wozu sollte sie sich verheiraten ? Was sie brauchte, war ein Mann, und der Mann war ich. Dieses Mädchen, das kaum lesen und 487
schreiben konnte, war auf seine Art sehr raffiniert – besonders was Sex angeht. Ich hatte in meinem Leben weiß Gott viele Frauen gehabt, aber keine war wie Mania. Sie hatte ihre Launen und Besonderheiten, und wenn ich daran denke, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Sadismus ist Sadismus und Masochismus ist Masochismus – gibt es überhaupt Namen für all diesen Unsinn ? Jedesmal, wenn wir uns stritten, waren wir beide sehr unglücklich, und der Friedensschluß war eine große Zeremonie. Sie konnte kochen wie für einen König. Wenn ihre Arbeitgeber ins Bad gefahren waren, kochte sie für mich in deren Wohnung. Ich pflegte zu sagen, ihre Mahlzeiten hätten Sex-Appeal, und es war etwas Wahres daran. Dies war ihre gute Seite. Die schlechte Seite bestand darin, daß sich Mania nie damit abfinden konnte, daß ich andere Frauen hatte. Sie tat alles, um mir das Vergnügen zu verderben. Von Natur bin ich kein Lügner, aber ihretwegen wurde ich einer. Ganz automatisch. Ich mußte gar keine Lügen erfinden – meine Zunge tat das ganz von allein, und oft war ich erstaunt darüber, wie klug und vorausschauend eine Zunge sein kann. Sie sah Ereignisse und Situationen voraus – was mir erst später bewußt wurde. Wie dem auch sei, man kann niemanden dreißig Jahre lang zum Narren halten. Mania kannte meine Gewohnheiten, und sie hörte nie auf, mir nachzuspionieren ; mitten in der Nacht läutete etwa mein Telephon. Gleichzeitig machten ihr meine Affären mit 488
anderen Frauen ein perverses Vergnügen. Ab und zu beichtete ich ihr, und sie fragte dann nach Einzelheiten, beschimpfte mich, weinte, lachte und wurde wild. Ich kam mir oft wie ein Dompteur vor – wie einer, der den Kopf in den Rachen des Löwen steckt. Es war mir immer bewußt, daß meine Erfolge bei anderen Frauen nur Sinn hatten, so lange Mania im Hintergrund war. Wenn ich Mania hatte, so war die Gräfin Potocka eine Mezie. Ohne Mania war eine Eroberung keinen Groschen wert. Es kam manchmal vor, daß ich von einem meiner Abenteuer zurückkehrte, vielleicht in einem Gasthof oder auf dem Gut eines Gutsbesitzers, und in der gleichen Nacht war ich mit Mania zusammen. Sie machte mich munter, und ich tat, als sei nichts gewesen. Aber als ich älter wurde, machte ich mir Sorgen, ob allzu viel Liebe mir nicht schaden könnte. Ich bin ein wenig hypochondrisch. Ich las medizinische Bücher und Artikel in den Zeitungen. Ich fürchtete, meiner Gesundheit zu schaden. Einmal, als ich vollkommen erschöpft zurückkehrte, um Mania zu treffen, kam mir der Gedanke : wie gut wäre es, wenn Mania ihre Periode hätte und ich nicht die Nacht mit ihr verbringen müßte. Ich rief sie an, und sie sagte : ›Es ist etwas Komisches geschehen, ich habe meine Ferien bekommen‹ – so nannte sie es – ›mitten im Monat.‹ Ich sagte mir : ›Du bist also ein Wundertäter gewordene Aber ich hatte doch Zweifel, ob es wirklich etwas mit meinem Wunsch zu tun gehabt hatte. Erst nach489
dem solche Dinge sich oft wiederholt hatten, wurde mir klar, daß ich die Kraft hatte, Manias Körper Befehle zu erteilen. Jedes Wort, das ich Ihnen erzähle, ist die reine Wahrheit. Einige Male befahl ich ihr krank zu werden – natürlich nur für kurze Zeit, denn ich liebte sie sehr – und sie bekam sofort hohes Fieber. Es war klar, ich beherrschte ihren Körper vollkommen. Hätte ich ihren Tod gewünscht, sie wäre gestorben. Ich hatte Bücher und Broschüren über Mesmerismus, animalischen Magnetismus und ähnliche Themen gelesen, aber es war mir nie eingefallen, daß ich diese Kräfte wirklich besaß und in solchem Ausmaß. Ich konnte nicht nur alles mit ihr tun, was ich wollte, ich konnte auch ihre Gedanken lesen. Einmal verließ Mania, nach einem bösen Streit, das Haus und schlug die Tür so heftig zu, daß die Fensterscheiben klirrten. In dem Augenblick als sie ging, kam mir der Gedanke, sie könnte zur Weichsel gehen und sich ertränken. Ich nahm meinen Mantel und folgte ihr leise. Sie ging von einer Straße in die andere, und ich verfolgte sie wie ein Detektiv. Sie sah sich nie um. Schließlich kam sie an die Weichsel und ging auf das Wasser zu. Ich rannte ihr nach und erwischte sie an der Schulter. Sie schrie und wehrte sich. Ich hatte sie vom Tod errettet. Danach befahl ich ihr in Gedanken, nie wieder an Selbstmord zu denken. Später sagte sie zu mir: ›Wie merkwürdig, früher habe ich oft daran gedacht, mich umzubringen. In der letzten Zeit habe ich keine solchen Gedanken mehr gehabt. Kannst du mir das erklären?‹ 490
Ich hätte alles erklären können. Einmal kam sie zu mir, und ich sagte : ›Du hast heute Geld verlorene Sie wurde blass. Es stimmte. Sie war auf der Sparkasse gewesen und hatte sechshundert Zlotys verloren.«
3 »Ich werde Ihnen noch die Geschichte vom Hund und eine andere erzählen, und damit soll es genug sein. Eines Sommers – es muß 1928 oder 1929 gewesen sein – war ich von einer schrecklichen Müdigkeit befallen. Auch von Hypochondrie. Ich war in so viele Affären und Komplikationen verstrickt, daß ich fast auseinanderbrach. Ununterbrochen läutete mein Telephon. Zwischen Mania und mir gab es heftigen Streit, der bald unheimlichen Charakter annahm. Die Frau des alten Mannes an ihrem Arbeitsplatz war gestorben, und Mania drohte ständig damit, ihn zu heiraten. Sie hatte einen Vetter in Südafrika, der ihr Liebesbriefe schrieb und bereit war, ihr ein Affidavit zu senden. Ihre große Liebe verwandelte sich plötzlich in Haß. Sie sprach davon, sich und mich zu vergiften. Sie schlug einen Doppelselbstmord vor. In ihren schwarzen Augen loderte ein Feuer, das sie wie eine Tatarin aussehen ließ. Wir sind alle Nachkommen von Gott weiß welchen Mördern. Haben nicht Sie oder sonst jemand in Ihrer Zeitung geschrieben, jeder Mensch sei ein potentieller Nazi ? Gewöhnlich 491
schlief ich wie ein Toter, aber jetzt begann ich, unter Schlaflosigkeit zu leiden. Und schlief ich endlich ein, so hatte ich furchtbare Alpträume. Eines Morgens fühlte ich, mein Ende sei gekommen. Meine Beine zitterten, vor meinen Augen drehte sich alles, in meinen Ohren rauschte es. Ich begriff, daß ich etwas ändern mußte, oder alles wäre zu Ende. Ich beschloß, alles stehen und liegen zu lassen und fortzugehen. Ich packte einen Koffer. Während ich packte läutete das Telephon wie verrückt, aber ich meldete mich nicht. Ich ging auf die Straße hinunter und nahm eine Droschke zum Wiener Bahnhof. Ein Zug nach Krakau fuhr bald ab, und ich nahm ein Billett. Ich setzte mich auf eine Bank in der zweiten Klasse und war so müde, daß ich die ganze Fahrt über schlief. In Krakau nahm ich wieder eine Droschke und sagte dem Kutscher, er solle mich in ein Hotel fahren. Kaum hatte ich das Hotelzimmer betreten, da fiel ich in meinen Kleidern auf das Bett und döste bis zum frühen Morgen. Ich sage ›dösen‹, weil ich nur unruhig schlief – ich schlief und ich schlief nicht. Ich ging auf die Toilette und hörte Stimmen, die in meine Ohren schrien, und Glocken. Ich hörte buchstäblich Mania weinen und mich zurückrufen. Ich war einem Zusammenbruch nahe. Aber mit letzter Kraft bändigte ich mich. Ich hatte einen Tag und eine Nacht gefastet, und als ich gegen elf erwachte, war ich mehr tot als lebendig. In den Krakauer Hotels gab es keine Badezimmer, wollte man ein Bad, mußte man es 492
beim Zimmermädchen bestellen. Im Zimmer gab es einen Waschständer und einen Wasserkrug. Irgendwie gelang es mir, mich zu rasieren, zu frühstücken und mich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Ich fuhr ein paar Stationen, dann hörten die Geleise auf. Ich wollte natürlich in die Berge fahren, aber es gab hier keine Verbindung nach Zakopane, sondern nur eine Nebenlinie. Ich kam zu einem Dorf in der Nähe von Babia Gora. Dies ist ein Berg anders als alle anderen Berge – ein Bergindividualist – und dort gehen nur wenige Touristen hin. Es gab kein Hotel und keine möblierten Zimmer, so kam ich bei einem alten Bauernpaar unter. Ich nehme an, daß Sie die Gegend kennen, deshalb muß ich Ihnen nicht erzählen, wie wunderschön sie ist. Aber dieses besondere Dorf war ganz außergewöhnlich schön und wild, vielleicht, weil es so einsam lag. Die alten Leute hatten einen Hund – ein Riesentier – ich weiß nicht, welcher Rasse. Sie hatten mich gewarnt, er werde mich beißen und ich solle vorsichtig sein. Ich tätschelte ihm den Kopf, kraulte seinen Hals, und er wurde sofort mein Freund. Das ist noch eine Untertreibung – der Hund verliebte sich richtig in mich und zwar sofort. Er verließ mich nicht mehr, nicht einmal eine Minute. Das alte Paar hatte das Zimmer im Sommer immer vermietet, aber der Hund hatte sich an keinen der Mieter angeschlossen. Um es kurz zu machen. Ich lief vor der menschlichen Liebe davon und wurde ein Hundeliebhaber. Burek benahm sich genau wie eine Frau, 493
obwohl er ein männlicher Hund war. Er machte mir Eifersuchtsszenen, die schlimmer waren als die von Mania. Ich ging auf lange Spazierwege, und er rannte hinter mir her. Im Dorf gab es ganze Hundemeuten, und wenn ich nur einen der anderen Hunde ansah, wurde Burek wild. Er biß sie und mich auch. Nachts bestand er darauf, auf meinem Bett zu schlafen. In jener Gegend haben die Hunde Flöhe. Ich versuchte, ihn nicht in mein Zimmer zu lassen, aber er jammerte und heulte derartig, daß das halbe Dorf aufwachte. Ich mußte ihn hereinlassen, und er sprang sofort auf mein Bett. Er heulte mit menschlicher Stimme. Im Dorf fingen sie an zu sagen, ich sei ein Zauberer. Ich blieb nicht lange dort, denn man konnte vor Langeweile sterben. Ich hatte ein paar Bücher mitgenommen, sie waren aber schnell gelesen. Ich hatte mich ausgeruht und war bereit für neue Verwicklungen. Aber sich von Burek zu trennen war nicht einfach. Er hatte gespürt – mit weiß Gott welchem Instinkt –, daß ich dabei war, fortzugehen. Ich hatte Mania vom Postamt angerufen und hatte in dem gottverlassenen Dorf lange Telegramme und eingeschriebene Briefe erhalten. Der Hund bellte und heulte ununterbrochen. Am letzten Tag bekam er Krämpfe, Schaum stand vor seiner Schnauze. Die Bauern fürchteten, er sei verrückt. Bis dahin war er nicht einmal angebunden gewesen, aber jetzt besorgte der Besitzer eine Kette und band ihn an einen Pfahl. Sein Lärm und das Reißen an der Kette zerrten an meinen Nerven. 494
Ich kehrte nach Warschau zurück, sonnenverbrannt, aber nicht wirklich ausgeruht. Was der Hund mir im Dorf angetan hatte, taten Mania und ein paar andere Frauen in Warschau. Sie hängten sich alle an mich und bissen mich. Ich hatte Aufträge, Möbelstükke zu reparieren, und die Besitzer riefen mich ständig an. Ein paar Tage vergingen – oder vielleicht ein paar Wochen ; ich kann mich nicht genau erinnern. Nach einem schwierigen Tag war ich früh schlafen gegangen. Ich machte das Licht aus. Ich war so erschöpft, daß ich sofort einschlief. Plötzlich erwachte ich. Mitten in der Nacht aufzuwachen war nicht ungewöhnlich für mich, aber diesmal wachte icn mit dem Gefühl auf, jemand sei in meinem Zimmer. Meistens hatte ich dann ein drückendes Gefühl in der Brust, aber diesmal fühlte ich ein schweres Gewicht auf den Füßen. Ich sah auf, und da lag ein Hund auf meiner Decke. Das Licht war nicht an, aber es war nicht ganz dunkel, da eine Straßenlampe hereinschien. Ich erkannte Burek. Zuerst glaubte ich, der Hund sei hinter dem Zug her nach Warschau gelaufen. Aber das war reiner Unsinn. Erstens war er angebunden gewesen ; und dann, kein Hund konnte so lange hinter einem Schnellzug herlaufen. Selbst wenn der Hund den Weg nach Warschau gefunden hätte – und mein Haus gefunden hätte –, er hätte niemals drei Treppen hinauflaufen können. Außerdem war meine Tür immer verschlossen. Ich begriff, daß dies nicht ein Hund aus Fleisch und 495
Blut war – es war ein Phantom. Ich sah seine Augen, ich fühlte das Gewicht auf meinen Füßen, aber ich wagte nicht, ihn zu berühren. Ich saß versteinert da, und er sah mich mit unendlich traurigem Ausdruck an – und mit noch etwas anderem, für das ich keine Worte habe. Ich wollte ihn von meinen Füssen wegstoßen, aber etwas hielt mich zurück. Dies war kein Hund, sondern ein Geist. Ich legte mich wieder hin und versuchte einzuschlafen. Nach einiger Zeit gelang es mir. Ein Alptraum ? Nennen Sie es einen Alptraum. Aber es war doch Burek. Ich erkannte seine Augen, Ohren, seinen Ausdruck, sein Fell. Am nächsten Tag wollte ich an den Bauern schreiben und nach dem Hund fragen. Aber ich wußte, er konnte nicht lesen, und dann war ich zu beschäftigt, um Briefe zu schreiben. Ich hätte sowieso keine Antwort bekommen. Ich bin fest davon überzeugt, daß der Hund gestorben war – was mich besucht hatte, war nicht von dieser Welt. Das war nicht das einzige Mal, das er mir erschien, so daß ich reichlich Gelegenheit hatte, ihn zu beobachten, obwohl er nie bei Tag kam. Der Hund war schon alt, als ich das Dorf verließ, und so wie er am letzten Tag ausgesehen hatte – ich wußte, er würde nicht mehr lange leben. Astralleib, Geist, Seele – nennen Sie es, wie Sie wollen – was mich angeht, so bin ich fest davon überzeugt, daß der Geist eines Hundes zu mir kam und auf meinen Füßen lag, nicht einmal, sondern Dutzende von Malen. Zuerst fast jede 496
Nacht, dann seltener. Ein Traum ? Nein, ich habe nicht geträumt – es sei denn, das ganze Leben ist ein Traum.«
4 »Ich will Ihnen noch ein letztes Ereignis erzählen. Ich habe Ihnen bereits davon gesprochen, daß ich eine Reihe von Frauen, mit denen ich Affären gehabt habe, in den Salons der Häuser kennenlernte, in denen ich Reparaturen auszuführen hatte. Dieser einfache Mann, der hier vor Ihnen sitzt, hat Liebschaften mit Gräfinnen gehabt. Was ist schon eine Gräfin ? Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht. Aber einmal habe ich eine junge Frau getroffen, die ist mir wirklich unter die Haut gegangen. Ich war in das Haus einer Adligen in Wilanow bestellt worden, um ein altes, mit vergoldeten Guirlanden verziertes Klavier zu reparieren. Während ich an der Arbeit war, schwebte eine junge Frau durch den Raum. Sie blieb nur etwa eine Sekunde stehen, betrachtete, was ich tat, und unsere Augen trafen sich. Wie kann ich ihr Aussehen beschreiben ? Sie war sowohl eine polnische Aristokratin und seltsam jüdisch – als ob durch irgendeinen Zauber ein sanfter Jeschiwaschüler sich in ein polnisches Fräulein verwandelt hätte. Sie hatte ein schmales Gesicht und schwarze Augen, die so tief waren, daß ich ganz verwirrt wurde. Sie verbrannten 497
mich buchstäblich. Alles an dieser Frau war geistiger Natur. Nie zuvor hatte ich solche Schönheit gesehen. Sie war gleich wieder verschwunden, und ich blieb erschüttert zurück. Ich fragte die Besitzerin des Hauses, wer diese Schönheit sei, und sie sagte, es sei eine Nichte auf Besuch in ihrem Haus. Sie erwähnte auch den Namen des Gutes oder der Stadt, woher sie kam. Aber in meiner Verwirrung war ich unaufmerksam. Ich hätte leicht ihren Namen und ihre Adresse erfahren können, wäre ich nicht so benommen gewesen. Ich beendete meine Arbeit ; sie zeigte sich nicht mehr. Aber ihr Bild blieb vor meinen Augen stehen. Ich dachte Tag und Nacht unaufhörlich an sie. Meine Gedanken erschöpften mich, und ich beschloß, dem ein Ende zu machen, um jeden Preis. Mania merkte, daß ich nicht mehr derselbe war, und das war der Anlaß zu neuen Szenen. Ich war so durcheinander, daß ich, obwohl ich Warschau wie die Finger an meiner Hand kannte, mich in den Straßen verlief und dumme Fehler machte. So ging es viele Monate. Langsam ließ meine Besessenheit nach – oder vielleicht sank sie auch nur tiefer in mich ein ; ich konnte an jemand anderen denken und gleichzeitig an sie. So verging der Sommer, und es war Winter, und dann wurde es wieder Frühling. Eines Nachmittags spät – es war fast dämmerig – ich weiß nicht mehr, ob es April oder Mai war – läutete mein Telephon. Ich sagte hallo, niemand antwortete. Ich spürte, am anderen Ende hielt jemand den Hörer. Ich rief wieder : ›Hallo, hallo, 498
hallo !‹ und ich vernahm ein Knistern und eine stammelnde Stimme. Ich sagte : ›Wer immer Sie sind, bitte seien Sie so gut, sich zu melden.‹ Nach einiger Zeit hörte ich eine Frauenstimme, die aber auch die Stimme eines Knaben sein konnte. Sie sagte : ›Sie haben einmal in Wilanow gearbeitet, in dem und dem Haus. Erinnern Sie sich vielleicht, daß jemand durch das Zimmer gegangen ist ?‹ Mein Hals zog sich zusammen, und ich konnte kaum meine Zunge bewegen. ›Ja, ich erinnere mich an Sie‹, sagte ich. ›Könnte jemand Ihr Gesicht vergessen ?‹ Sie war so still, daß ich glaubte, sie habe aufgehängt. Aber sie begann wieder zu sprechen – eigentlich murmelte sie nur. Sie sagte : ›Ich muß Sie sprechen. Wo können wir uns treffen ?‹ ›Wo immer Sie wünschen‹, sagte ich. ›Möchten Sie zu mir kommen ?‹ ›Nein, das ist ausgeschlossen‹, sagte sie. ›Vielleicht in einem Café –‹ ›Nein, nicht in einem Café‹, sagte ich. ›Sagen Sie mir, wo Sie mich treffen können und ich werde dort sein.‹ Sie schwieg ; dann erwähnte sie eine kleine Straße in der Nähe der Stadtbibliothek in Mokotow. ›Wann soll es sein ?‹ fragte ich. Und sie sagte ›So bald wie mögliche ›Vielleicht gleich ?‹ ›Ja, wenn Sie es einrichten können.‹ Ich wußte, daß es in der kleinen Straße kein Café, kein Restaurant, nicht einmal eine Bank, um sich zu setzen, gab, aber ich sagte ihr, ich werde mich sofort auf den Weg machen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich geglaubt, vor Freude in die Luft zu springen, sollte sich das Wunder ereignen. Aber ir499
gendwie war alles ruhig in mir. Ich war weder glücklich noch unglücklich – nur erstaunt. Als ich an unserem Treffpunkt ankam, war es schon dunkel. Auf beiden Seiten der Straße gab es Bäume und ein paar Laternen. Ich konnte sie im Halbdunkel sehen. Sie kam mir magerer vor, und ihr Haar war in einen Knoten geschlungen. Sie stand in der Nähe eines Baumes, eingehüllt in Schatten. Die Straße war, von ihr abgesehen, verlassen. Als ich mich ihr näherte, schreckte sie zurück. Die Bäume waren in Blüte, und der Rinnstein war voller Blüten. Ich sagte zu ihr : ›Hier bin ich. Wo können wir hingehen ?‹ ›Was ich Ihnen zu sagen habe, kann auch hier gesagt werden‹, antwortete sie. ›Was wollen Sie mir sagen ?‹ fragte ich. Sie zögerte. ›Ich wollte Sie bitten, mich in Ruhe zu lassen.‹ Ich war aufs Äußerste überrascht und sagte : ›Ich weiß nicht, was Sie meinen.‹ ›Sie wissen es recht gut‹, sagte sie. ›Sie lassen mir keine Ruhe. Ich bin verheiratet und bin glücklich mit meinem Mann. Ich möchte eine treue Frau sein.‹ Sie sprach nicht, sie stammelte. Sie machte nach jedem Wort eine Pause. Sie sagte : ›Es war nicht einfach zu erfahren, wer Sie sind und Ihre Telephonnummer zu bekommen. Ich mußte eine Geschichte von einer reparaturbedürftigen Kommode erfinden, um von meiner Tante die Auskunft zu bekommen. Ich bin keine Lügnerin ; meine Tante glaubte mir nicht. Aber sie gab mir Ihren Namen und Ihre Adressen Dann schwieg sie. 500
Ich fragte : ›Warum können wir nicht irgendwohin gehen, um darüber zu sprechen ?‹ ›Ich kann nirgends hingehen. Ich hätte Ihnen das auch am Telephon sagen können – es ist alles so seltsam, absolut verrückt – aber jetzt wissen Sie die Wahrheit.‹ ›Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie sich Sorgen machen‹, sagte ich, nur um die Unterhaltung fortzusetzen. Sie sagte : ›Ich flehe Sie an, bei allem was Ihnen heilig ist, hören Sie auf, mich zu quälen. Was Sie wollen, kann ich nicht tun – ich würde eher sterben.‹ Und ihr Gesicht wurde kalkweiß. Ich spielte immer noch den Dummen und sagte : ›Ich will nichts von Ihnen. Es ist wahr, als ich Sie in dem Salon Ihrer Tante sah, machten Sie einen starken Eindruck auf mich – aber ich habe nichts getan, das Sie aus dem Gleichgewicht bringen könnte.‹ ›Doch, Sie haben. Wenn wir nicht im zwanzigsten Jahrhundert lebten, so würde ich Sie für einen Hexenmeister halten. Glauben Sie mir‹, fuhr sie fort, ›ich kam nicht leicht zu dem Entschluß, Sie anzurufen. Ich hatte sogar Angst, Sie könnten nicht wissen, wer ich sei. Aber Sie wußten es sofort.‹ ›Wir können nicht hier auf der Straße stehen und reden‹, sagte ich. ›Wir müssen irgendwohin gehen.‹ ›Wohin ? Wenn mich jemand, der mich kennt, sehen sollte, bin ich verloren.‹ Ich sagte : »Kommen Sie mit mir.‹ Sie zögerte eine Weile, dann folgte sie mir. Sie schien Schwierigkeiten zu haben, auf ihren hohen Absätzen zu gehen, und nahm meinen Arm. Ob501
wohl sie Handschuhe trug, merkte ich, daß sie wunderbare Hände hatte. Ihre Hand auf meinem Arm zitterte, und ein Schauer lief durch meinen Körper. Nach einiger Zeit wurde die junge Frau ruhiger und sagte : ›Was für Kräfte besitzen Sie ? Ich habe mehrfach Ihre Stimme gehört. Ich habe Sie auch gesehen. Ich wachte mitten in der Nacht auf, und Sie standen am Fußende meines Bettes. Statt der Augen schienen aus den Höhlen grüne Strahlen. Ich weckte meinen Mann, aber Sie waren sofort verschwunden‹. ›Das war eine Halluzination‹, sagte ich. ›Nein, Sie wandern in der Nacht.‹ ›Wenn ich es tue, so weiß ich nichts davon.‹ Wir näherten uns dem Ufer der Weichsel und setzten uns auf einen Baumstamm. Dort ist es ruhig. Es ist nicht ganz sicher, denn es treiben sich dort Betrunkene und Landstreicher herum. Aber sie saß dort mit mir. Sie sagte : ›Meine Tante weiß nicht, wo ich bin. Ich habe ihr gesagt, ich ginge spazieren. Sie wollte mich sogar begleiten. Versprechen Sie mir hoch und heilig, daß Sie mich gehen lassen werden. Vielleicht sind Sie verheiratet, und Sie hätten auch nicht gern, wenn jemand ihre Frau belästigen würde.‹ ›Ich habe keine Frau‹, sagte ich, ›aber ich verspreche Ihnen, daß, soweit es an mir liegt, ich Sie nicht belästigen werde. Das ist alles, was ich versprechen kann.‹ ›Ich werde Ihnen bis zu meinem letzten Atemzug dankbar sein.‹ Das ist die Geschichte. Ich habe die Frau nie wie502
dergesehen. Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Ich weiß nicht warum, aber von all den merkwürdigen Dingen, die mir zugestoßen sind, hat dies den stärksten Eindruck auf mich gemacht. Nun, das ist alles. Ich werde Sie nicht weiter stören.« »Sie stören mich nicht«, sagte ich. »Es ist gut, jemanden zu treffen, der solche Kräfte besitzt. Das stärkt meinen eigenen Glauben. Aber wie kam es, daß Mania die Grippe hatte, als Sie Warschau verließen ? Warum haben Sie ihr nicht befohlen, gesund zu werden ?« »Was ? Diese Frage stelle ich mir dauernd. Es scheint, meine Kräfte sind nur negativ. Um die Kranken zu heilen, muß man ein Heiliger sein, und wie Sie sehen, bin ich weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein. Oder vielleicht – wer weiß – war es damals gefährlich, eine Frau bei sich zu haben.« Der Fremde ließ den Kopf hängen. Er hng an, auf den Tisch zu trommeln und vor sich hin zu summen. Dann stand er auf. Mir schien, sein Gesicht habe sich verändert ; es war grau und runzelig geworden. Plötzlich sah man ihm seine Jahre an. Er schien sogar kleiner als vorher. Ich bemerkte, daß sein Regenmantel voller Flecken war. Er reichte mir zum Abschied die Hand, und ich begleitete ihn zum Lift. »Denken Sie immer noch an Frauen ?« fragte ich. Er dachte nach, als habe er meine Worte nicht begriffen. Er sah mich traurig an, argwöhnisch. »Nur an tote Frauen.«
Mit Siebzehn ging ich von zu Hause fort. Ich Drei Begegnungen sagte meinen Eltern die Wahrheit : ich glaubte nicht mehr an die Gemara oder daß jedes Gesetz im Schulchan Aruch Moses auf dem Sinai gegeben worden war ; ich wollte kein Rabbiner werden ; ich wollte keine von einem Heiratsvermittler arrangierte Ehe ; ich wollte weder den langen Kaftan tragen noch mir Schläfenlocken wachsen lassen. Ich ging nach Warschau, wo meine Eltern früher gelebt hatten, um eine Universitätsausbildung und einen Beruf zu suchen. Mein älterer Bruder Josua lebte in Warschau und war Schriftsteller, aber er konnte mir nicht helfen. Mit Zwanzig kehrte ich nach Hause zurück, mit angegriffener Lunge, chronischem Husten, keiner akademischen Ausbildung, keinem Beruf und ohne jede Aussicht, mich in der Stadt durchbringen zu können. Während der Zeit, in der ich fortgewesen war, war mein Vater zum Rabbiner von Alt-Stikow in Ostgalizien ernannt worden – ein Dorf von ein paar Dutzend windschiefer Hütten mit Strohdächern, um einen Sumpf herum gebaut. So erschien mir Alt-Stikow im Herbst 1924. Es hatte den ganzen Oktober über geregnet, und diese Hütten spiegelten sich in dem Sumpf, als sei er ein See. Ruthenische Bauern, gebückte Juden in Kaftans, Frauen und Mädchen mit Kopftüchern und Männerstiefeln wateten durch den Morast. Nebelschwaden wirbelten durch die Luft. 505
Krähen glitten krächzend vorüber. Der Himmel hing tief herunter, bleiern, gewittergeladen. Der Rauch aus den Schornsteinen stieg nicht in die Höhe, sondern wehte auf die durchnäßte Erde herab. Die Gemeinde hatte meinem Vater eine halbe Ruine als Haus zugewiesen. In den drei Jahren meiner Abwesenheit, hatte sein Bart, der rot gewesen war, als ich ging, weiße Strähnen bekommen. Meine Mutter hatte ihre Perücke mit einem Kopftuch vertauscht. Sie hatte ihre Zähne verloren, und die eingefallenen Backen ließen ihre Nase krumm erscheinen und das Kinn fliehend. Nur ihre Augen waren jugendlich und scharf geblieben. Vater warnte mich : »Dies hier ist eine fromme Gemeinde. Wenn du dich nicht so verhältst, wie du solltest, werden sie uns mit Stöcken hier hinaustreiben.« »Vater, ich füge mich. Ich hoffe nur, daß die Armee mich nicht nehmen wird.« »Wann mußt du dich melden ?« »In einem Jahr.« »Wir werden eine Heirat für dich arrangieren. So Gott will, wird dein Schwiegervater dich freikaufen. Laß deine Dummheiten und fang an den Jore dea zu studieren.« Ich ging ins Lehrhaus, aber niemand lehrte dort. Die Gemeinde, meist Handwerker und Milchbauern, kam früh am Morgen zum Gebet und kehrte zum Abendgottesdienst wieder ; in der Zwischenzeit war der Raum verlassen. Ich fand dort einen alten Band 506
der Kabbala. Aus Warschau hatte ich ein Algebrabuch und die polnische Übersetzung der Gedichte Baudelaires mitgebracht. Abraham Getzel, der Heiratsvermittler, kam, um mich in Augenschein zu nehmen. Er war ein kleiner Mann mit einem weißen Bart, der fast bis zu den Lenden reichte. Er war auch der Synagogendiener, der Kantor und der Talmudlehrer des Dorfes. Er maß mich von oben bis unten und seufzte. »Es sind schwierige Zeiten«, klagte er. »Die Mädchen wollen einen Mann, der für sie sorgen kann.« »Das kann ich ihnen nicht übelnehmen.« »Die Tora hat in unserer Generation an Bedeutung verloren. Aber mach dir keine Sorgen, ich finde schon eine Braut für dich.« Er schlug eine Witwe vor, die sechs oder sieben Jahre älter war als ich und zwei Kinder hatte. Ihr Vater, Berisch Beizer, leitete eine Brauerei, deren Besitzer ein österreichischer Baron war. (Vor dem Krieg, stand Galizien unter der Regierung des Kaisers Franz Joseph.) Wenn das Wetter sich während des Tages etwas aufhellte, konnte man den Schornstein der Brauerei sehen. Schwarzer Rauch saß auf ihm wie ein Hut. Berisch Beizer kam zum Lehrhaus, um sich mit mir zu unterhalten. Er hatte einen kurzen, bierfarbenen Bart. Er trug einen Fuchspelzmantel und eine Melone. Von seiner seidenen Weste baumelte eine Uhr an silberner Kette. Nachdem wir ein paar Minuten ge507
redet hatten, sagte er : »Ich kann sehen, daß Sie kein Geschäftsmann sind.« »Ich fürchte, Sie haben recht.« »Was sind Sie denn sonst ?« Und die Heirat war dahin. Plötzlich erhielt ich aus Warschau einen Brief mit Neuigkeiten. Mein Bruder war Mitherausgeber einer literarischen Zeitschrift geworden, und man bot mir den Posten eines Korrektors an. Er schrieb, ich könne dort meine Erzählungen veröffentlichen, wenn sie gut genug wären. Kaum hatte ich den Brief gelesen, als sich meine Gesundheit besserte. Von da an hustete ich nicht einmal in der Nacht. Ich bekam wieder Appetit. Ich aß so viel, daß meine Mutter sich beunruhigte. Mit dem Brief kam die erste Nummer der Zeitschrift. Darin wurde ein neuer Roman von Thomas Mann, ›Der Zauberberg‹, besprochen, sie enthielt Gedichte in freien Rhythmen und war mit kubistischen Zeichnungen illustriert. In den Aufsätzen wurde vom Zusammenbruch der alten Welt und dem Heraufkommen eines neuen Menschen und eines neuen Geistes gesprochen, der alle Werte neu festsetzen würde. Es wurde ein Kapitel von Oswald Spenglers ›Der Untergang des Abendlandes‹ abgedruckt, wie auch Übersetzungen der Gedichte von Alexander Blok, Majakowski und Jessenin. Während des Krieges waren in Amerika neue Schriftsteller hervorgetreten, und man begann, ihre Arbeiten in Polen zu veröffentlichen. Nein, ich konnte meine Tage nicht mehr in Alt-Sti508
kow zubringen ! Ich wartete nur darauf, daß man mir aus Warschau das Fahrgeld schickte. Jetzt, als ich dabei war, in die moderne Kultur zurückzukehren, fing ich an zu beobachten, was in AltStikow geschah. Ich hörte den Frauen zu, die zu meinem Vater kamen, um sich Rat in rituellen Fragen zu holen, und zu meiner Mutter, um mir ihr zu schwatzen. Wir hatten einen Nachbarn, Lazar, den Schuhmacher, und dessen Frau überbrachte die gute Nachricht, daß ihre einzige Tochter Riwke den Lehrling ihres Vaters heiraten werde. Bald darauf kam Riwke selbst, um uns zu der Verlobungsfeier einzuladen. Ich sah sie erstaunt an. Sie erinnerte mich an ein Mädchen aus Warschau. Sie war groß, schlank, mit ungewöhnlich weißer Haut, schwarzem Haar, dunkelblauen Augen und einem langen Hals. Ihre Oberlippe entblößte makellose weiße Zähne. Sie trug eine Armbanduhr und von den zierlichen Ohrläppchen baumelten Ohrringe. Sie trug einen gemusterten Schal mit Fransen und hochhackige Stiefel. Sie sah mich schüchtern an und sagte : »Sie sind eingeladen !« Wir erröteten beide. Am nächsten Tag ging ich mit meinen Eltern zu dem Fest. Lazars, des Schuhmachers, Haus hatte ein Schlafzimmer und einen großen Raum, wo die Familie kochte, aß und arbeitete. Auf dem Boden waren rund um den Arbeitstisch Schuhe, Stiefel und Absätze verstreut. Riwkeles Bräutigam Jantsche war klein, breit und dunkel, er hatte zwei goldene Vorderzäh509
ne. Der Nagel seines rechten Zeigefingers war deformiert. Zu dem Fest hatte er einen Papierkragen und eine Hemdbrust angezogen. Er reichte den männlichen Gästen Zigaretten. Ich hörte ihn sagen : »Heiraten und sterben, diese zwei Dinge muß man tun.« Warschau hatte es nicht eilig, mir das Fahrgeld zu schicken. Schnee war gefallen, und Alt-Stikow war in der Kälte gefangen. Mein Vater war ins Lehrhaus gegangen, um zu lernen und sich am Ofen aufzuwärmen. Meine Mutter war eine Frau besuchen gegangen, die auf dem Eis nahe am Brunnen ausgerutscht war und sich das Bein gebrochen hatte. Ich saß allein zu Hause und beschäftigte mich mit meinen Manuskripten. Obwohl es Tag war, zirpte eine Grille eine uralte Geschichte. Sie hörte auf, hörte ihrem eigenen Schweigen zu und begann von neuem. Die oberen Scheiben des Fensters waren mit Eisblumen bedeckt, aber durch die unteren konnte ich einen Wasserträger sehen, der Eiszapfen an seinem Bart hatte und an einem hölzernen Joch zwei Eimer Wasser trug. Ein Bauer mit einer Schaffellmütze, dessen Füße in Lumpen gehüllt waren, folgte einem mit Holz beladenen Schlitten, der von einem abgezehrten Pferd gezogen wurde. Ich konnte das Glöckchen an seinem Hals läuten hören. Die Tür öffnete sich, und Riwkele kam herein. »Ist deine Mutter nicht da ?« fragte sie mich. »Sie macht irgendwo einen Krankenbesuch.« »Ich habe gestern ein Glas Salz bei ihr geborgt, und 510
ich gebe es zurück.« Sie stellte ein Glas Salz auf den Tisch, dann sah sie mich mit schüchternem Lächeln an. »Ich hatte keine Gelegenheit, dir bei dem Fest Glück zu wünschen, so tue ich es jetzt«, sagte ich. »Ich danke dir. So Gott will, wünsche ich dir das Gleiche.« Nach einer Pause fügte sie hinzu : »Wenn du an der Reihe bist.« Wir sprachen miteinander, und ich erzählte ihr, daß ich nach Warschau zurückgehen werde. Das sollte eigentlich ein Geheimnis bleiben, aber ich prahlte damit, daß ich Schriftsteller sei und gerade bei einer Zeitschrift angestellt worden sei. Ich zeigte ihr die Zeitschrift, und sie starrte mich voll Erstaunen an. »Du mußt aber klug sein !« »Um zu schreiben muß man hauptsächlich sehen.« »Was schreibst du denn – deine Gedanken ?« »Ich erzähle Geschichten. Man nennt das Literatur.« »Ach ja, in den großen Städten geschieht viel«, sagte Riwkele und nickte. »Hier steht die Zeit still. Es gab hier einmal jemanden, der las Romane, aber die Chassidim sind ihm drauf gekommen und haben sie alle zerrissen. Er ist nach Brody davongelaufen,« Sie setzte sich auf den Rand der Bank und schaute auf die Tür, bereit jeden Augenblick aufzuspringen, sollte jemand hereinkommen. Sie sagte : »In anderen Städten werden Theaterstücke gespielt, Versammlungen abgehalten und was noch alles, aber hier sind alle 511
altmodisch. Sie essen und schlafen, und so vergehen die Jahre.« Ich war mir klar darüber, daß es falsch von mir war, das zu sagen, aber ich tat es doch : »Warum hast du dich nicht mit jemandem aus einer Stadt verlobt ?« Riwkele dachte nach. »Kümmert man sich hier darum, was ein Mädchen will ? Sie verheiraten einen, und damit Schluß.« »Es war also keine Liebesheirat ?« »Liebe ? In Alt-Stikow ? Sie kennen nicht einmal die Bedeutung des Wortes.« Ich bin von Natur aus kein Agitator und ich hatte keinen Grund, die Aufklärung, die mich enttäuscht hatte, zu loben, aber irgendwie, ganz gegen meinen Willen, begann ich Riwkele zu erzählen, daß wir im zwanzigsten Jahrhundert lebten, nicht im Mittelalter ; daß die Welt erwacht war und daß Dörfer wie AltStikow nicht nur physische Sümpfe, sondern auch geistige seien. Ich erzählte ihr von Warschau, vom Zionismus, Sozialismus, von jiddischer Literatur und dem Schriftsteller-Klub, wo mein Bruder Mitglied war und für den ich eine Gästekarte besaß. Ich zeigte ihr Bilder von Einstein, Chagall, dem Tänzer Nijinsky und meinem Bruder in der Zeitschrift. Riwkele klatschte in die Hände. »Oi, er sieht dir ähnlich wie ein Tropfen Wasser dem anderen !« Ich sagte Riwkele, sie sei das hübscheste Mädchen, das mir je begegnet sei. Was sollte aus ihr in Alt-Stikow werden ? Bald würde sie Kinder bekommen. Sie 512
würde wie die anderen Frauen in derben Stiefeln und einem schmutzigen Tuch über dem rasierten Kopf herumlaufen und das Alter auf sich nehmen. Die Männer hier waren alle Mitglieder des Hofes des Rabbis von Beiz, und man sagte von ihm, er könne Wunder, wirken, aber ich wußte, daß alle paar Monate Epidemien durch die Stadt fegten. Die Menschen lebten im Schmutz, wußten nichts von Hygiene, Wissenschaft oder Kunst. Das war keine Stadt hier – ich sprach hochdramatisch –, sondern ein Friedhof. Riwkeles blaue Augen mit den langen Wimpern starrten mich mit der Nachsicht einer Verwandten an. »Alles, was du sagst, ist die reine Wahrheit.« »Flieh aus diesem Dreckhaufen !« rief ich wie der Verführer in einem kitschigen Roman. »Du bist jung und eine Schönheit, und ich sehe auch, daß du klug bist. Du mußt nicht dein Leben in so einem gottverlassenen Nest hinbringen. In Warschau könntest du eine Stellung finden. Du könntest ausgehen mit jemandem, der dir gefällt, und am Abend könntest du Jiddisch, Hebräisch oder Polnisch lernen – was immer du willst. Ich werde auch dort sein, und wenn du willst, können wir uns treffen. Ich nehme dich in den Schriftsteller-Klub mit, und wenn die Leute dort dich sehen, werden sie verrückt werden. Du könntest vielleicht sogar Schauspielerin werden. Die Schauspielerinnen, die im jiddischen Theater die romantischen Rollen spielen, sind alt und häßlich. Die Direktionen suchen verzweifelt nach jungen hübschen 513
Mädchen. Ich werde dir ein Zimmer beschaffen, und wir werden gemeinsam Bücher lesen. Wir werden auch ins Kino gehen, in die Oper, in die Bibliothek. Wenn ich berühmt geworden bin, werden wir nach Paris, London, Berlin und New York reisen. Dort bauen sie Häuser, die sechzig Stock hoch sind ; Züge rasen oberhalb der Straßen und unterhalb ; Filmstars verdienen tausend Dollar in der Woche. Wir können nach Californien gehen, wo es immer Sommer ist. Orangen sind dort so billig wie Kartoffeln.« Ich hatte das seltsame Gefühl, daß nicht ich redete, sondern der Dibbuk eines alten aufgeklärten Propagandisten, der durch meinen Mund sprach. Riwkele blickte ängstlich nach der Tür. »Wie du nur redest ! Wenn jemand das hören würde –« »Sollen sie es nur hören. Ich habe vor niemandem Angst.« »Mein Vater –« »Wenn dein Vater dich liebte, dann hätte er dir einen besseren Mann als Jantsche gefunden. Die Väter hier verkaufen ihre Töchter wie die wilden Asiaten. Sie sind alle voller Fanatismus, Aberglauben und Dunkelheit.« Riwkele stand auf. »Wo würde ich die erste Nacht bleiben ? Es würde ein solches Durcheinander geben, daß meine Mutter es nicht aushielte. Der Entsetzensschrei wäre noch größer, als wenn ich konvertieren würde.« Die Worte blieben Riwkele im Hals stecken ; ihre Kehle bewegte sich, als sei sie dabei, an etwas zu 514
ersticken, das sie nicht schlucken konnte. »Für einen Mann ist es leicht so zu reden«, murmelte sie. »Ein Mädchen ist wie ein – das Geringste passiert, und sie ist ruiniert.« »So ist es gewesen, aber die neue Frau ist im Kommen. Selbst hier in Polen haben die Frauen das Wahlrecht. In Warschau studieren die Mädchen Medizin, Sprachen und Philosophie. In den Schriftsteller-Klub kommt eine Anwältin. Sie hat ein Buch geschrieben.« »Ein weiblicher Anwalt – wie ist das möglich ? Es kommt jemand.« Riwkele öffnete die Tür. Meine Mutter stand auf der Schwelle. Es schneite nicht mehr, aber ihr Kopftuch war reifbedeckt. »Rebbezin, ich habe das Glas Salz zurückgebracht.« »Das war nicht so eilig. Danke.« »Wenn man etwas leiht, muß man es zurückgeben.« »Was ist schon ein Glas Salz ?« Riwkele ging. Mutter sah mich mißtrauisch an. »Hast du mit ihr geredet ?« »Geredet ? Nein.« »Solange du hier bist, mußt du dich anständig verhalten.« Zwei Jahre waren vergangen. Die Zeitschrift, die mein Bruder herausgegeben und für die ich als Kor515
rektor gearbeitet hatte, war gescheitert, aber in der Zwischenzeit war es mir gelungen, ein Dutzend Geschichten zu veröffentlichen. Jetzt brauchte ich keine Gästekarte mehr für den Schriftsteller-Klub, ich war Mitglied geworden. Ich brachte mich mit Übersetzungen von deutschen, polnischen und hebräischen Büchern ins Jiddische durch. Ich war vor eine militärische Behörde gerufen worden, die mich auf ein Jahr zurückgestellt hatte, aber jetzt mußte ich mich wieder melden. Obwohl ich oft chassidische Einberufene dafür gescholten hatte, daß sie sich verstümmelt hatten, um nicht eingezogen zu werden, fastete ich, um Gewicht zu verlieren. Ich hatte entsetzliche Geschichten von den Kasernen gehört : junge Soldaten wurden gezwungen, sich in den Schlamm zu werfen, über Gräben zu springen ; man weckte sie mitten in der Nacht und ließ sie kilometerweit laufen ; Korporale und Feldwebel schlugen die Soldaten und spielten ihnen übel mit. Es wäre besser, ins Gefängnis zu gehen, als in die Hände solcher Rohlinge zu fallen. Ich war bereit, mich zu verstecken – selbst mich umzubringen. Pilsudski hatte den Militärärzten empfohlen, nur kräftige junge Männer in die Armee aufzunehmen, und ich tat alles, was ich nur tun konnte, um mich schwach zu machen. Ich fastete nicht nur, ich schlief auch nicht ; ich rauchte viel, zündete eine Zigarette an der anderen an, ich trank Essig und Heringslake. Ein Verleger hatte mich beauftragt, Stefan Zweigs Biographie Romain Rollands zu übersetzen, 516
und ich verbrachte halbe Nächte über der Arbeit. Ich hatte ein Zimmer bei einem alten Arzt gemietet, der einmal der Freund von Dr. Zamenhof, dem Schöpfer des Esperanto, gewesen war. Die Straße war nach ihm benannt. An einem Abend hatte ich bis drei Uhr gearbeitet. Dann legte ich mich in den Kleidern aufs Bett. Jedesmal, wenn ich eingeschlafen war, fuhr ich wieder auf. Meine Träume waren seltsam lebhaft geworden. Ich hörte von allen Seiten Stimmen, Glocken läuteten und Chöre sangen. Als ich die Augen aufschlug, konnte ich noch das Echo hören. Mein Herz jagte, mein Haar stach den Schädel wie Draht. Meine Hypochondrie war zurückgekehrt. Meine Lungen schienen zusammengedrückt zu werden, und ich war am zusammenbrechen. Der Tag war regnerisch. Wann immer ich aus dem Fenster schaute, erblickte ich einen katholischen Beerdigungszug auf dem Weg zum Powazek Friedhof. Als ich mich schließlich an die Übersetzungsarbeit machte, klopfte Jadzia, das Mädchen, an meine Tür und sagte, eine junge Frau wollte mich sprechen. Mein Besuch war Riwkele, wie sich herausstellte. Ich erkannte sie nicht gleich. Sie war elegant gekleidet, in einem Mantel mit Pelzkragen und einem modernen Hut. Sie trug eine Handtasche und einen Schirm. Ihr Haar war kurz geschnitten und ihr Kleid modisch kurz, es bedeckte gerade die Knie. Ich war so verwirrt, daß ich vergaß, überrascht zu sein. Riwkele erzählte mir, wie es ihr ergangen war. Ein Ame517
rikaner war nach Alt-Stikow auf Besuch gekommen. Er war früher Schneider gewesen, und hatte in New York Damenkleider hergestellt. Er war ein entfernter Verwandter ihres Vaters. Er behauptete der Familie gegenüber, daß er sich von seiner Frau habe scheiden lassen, und begann, Riwkele den Hof zu machen. Sie löste ihre Verlobung mit Jantsche. Der Besucher aus Amerika schenkte ihr einen Brillantring, fuhr mit ihr nach Lemberg, ging mit ihr ins Jiddische Theater, ins Polnische Theater, in Restaurants und benahm sich überhaupt wie ein künftiger Bräutigam. Sie fuhren auch gemeinsam nach Krakau und Zakopane. Ihre Eltern verlangten, daß er sie heirate, aber er brachte allerlei Ausflüchte vor. Er habe sich von seiner Frau nach jüdischem Gesetz scheiden lassen, aber er brauche noch die zivile Scheidung. Unterwegs hatte Riwkele mit ihm gelebt. Riwkele erzählte und weinte. Er hatte sie verführt und betrogen. Er besaß keine Fabrik ; er arbeitete für jemand anderen. Er hatte sich von seiner Frau nicht scheiden lassen. Er war der Vater von fünf Kindern. All dies kam heraus, als seine Frau plötzlich in Alt-Stikow auftauchte und einen großen Skandal machte. Sie hatte Verwandte in Jaroslaw und Przemysl – Metzger, Rollkutscher, grobe Burschen. Sie drohten Morris – so hieß er –, daß sie ihm den Hals umdrehen würden. Sie zeigten ihn bei der Polizei an. Sie drohten, die Sache vor den amerikanischen Konsul zu bringen. Es endete damit, daß er zu seiner Frau zurückkehrte und mit ihr nach Amerika fuhr. 518
Riwkeles Gesicht war tränenüberströmt. Sie zitterte und zuckte in schluckaufähnlichem Schluchzen. Bald kam die Wahrheit heraus. Er hatte sie geschwängert ; sie war im fünften Monat. Riwkele stöhnte. »Mir bleibt nichts übrig, als mich aufzuhängen !« «Wissen die Eltern davon ?« »Nein, sie wissen nichts. Sie würden vor Scham sterben.« Es war eine andere Riwkele. Sie beugte sich vor, um einen Zug aus meiner Zigarette zu machen. Sie wollte ins Badezimmer gehen, und ich führte sie durch das Wohnzimmer. Die Frau des Arztes – eine kleine, dünne Frau mit spitzem Gesicht, vielen Warzen und hervorquellenden Augen, die gelb wie bei einer Gelbsucht waren – starrte sie an. Riwkele blieb so lange im Badezimmer, daß ich fürchtete, sie könne sich vergiftet haben. »Wer ist dieses Geschöpf ?« verlangte die Frau des Arztes zu wissen. »Mir gefällt ihr Aussehen nicht. Dies ist ein anständiges Haus.« »Frau Doktor, Sie haben keinerlei Grund, mißtrauisch zu sein.« »Ich bin ja nicht von gestern. Seien Sie so freundlich und suchen Sie sich ein anderes Zimmer.« Nach einiger Zeit kam Riwkele wieder in mein Zimmer. Sie hatte ihr Gesicht gewaschen und gepudert. Sie hatte Lippenstift aufgetragen. »Du bist an meinem Unglück schuld«, sagte sie. »Ich ?« 519
»Ich wäre nie mit ihm gegangen, wenn du nicht so zu mir gesprochen hättest. Deine Worte blieben in meinem Gedächtnis stecken. Du hast damals so gesprochen, daß ich mein Zuhause auf der Stelle verlassen wollte. Als er auftauchte, war ich – wie man so sagt – reif.« Ich wollte sie schelten und sie davonschicken, aber sie begann wieder zu weinen. Und dann kam das alte Lied, so alt wie das weibliche Geschlecht : »Wo soll ich hin und was soll ich tun ? Er hat mich ohne Messer umgebracht …« »Hat er dir wenigstens etwas Geld gegeben ?« fragte ich. »Ich habe noch ein wenig.« »Vielleicht kann man noch etwas tun ?« »Zu spät.« Wir saßen schweigend, und die Lehrsätze der Fibel gingen mir durch den Kopf. Kein Wort geht verloren. Böse Worte führen zu frevelhaften Taten. Äußerungen verleumderischer, höhnischer und gottloser Art verwandeln sich in Dämonen, Kobolde und Teufel. Sie stehen als Ankläger vor Gott, und wenn der Sünder gestorben ist, so laufen sie hinter dem Leichenwagen her und begleiten ihn bis zum Grab. Als hätte Riwkele meine Gedanken gelesen, sagte sie : »Du hast mir Amerika wie ein wunderschönes Bild vorgehalten. Ich habe davon geträumt. Du hast mich mein Zuhause hassen gelehrt – auch Jantsche. Du hast mir versprochen gehabt, zu schreiben, aber 520
ich bekam keinen einzigen Brief von dir. Als Morris aus Amerika kam, klammerte ich mich an ihn, als sei ich am ertrinken.« »Riwkele, ich muß mich beim Militär stellen. Ich kann schon morgen in die Kaserne geschickt werden.« »Laß uns zusammen fortgehen, irgendwohin.« »Wohin ? Amerika hat die Tore geschlossen. Alle Wege sind versperrt.« Neun Jahre waren vergangen. Ich war im dritten Jahr in New York. Ab und zu veröffentlichte eine jiddische Zeitung eine meiner Geschichten. Ich bewohnte ein möbliertes Zimmer nicht weit vom Union Square. Mein Zimmer war dunkel. Ich mußte vier Treppen steigen, um hinzugelangen, und es stank nach Desinfektionsmittel. Das Linoleum des Fußbodens war rissig, und Schaben krochen darunter hervor. Als ich die nackte Glühbirne, die von der Dekke hing, anknipste, erblickte ich einen schiefen Spieltisch, einen Lehnstuhl mit zerrissenem Bezug und ein Waschbecken, aus dessen Hahn rostiges Wasser tropfte. Das Fenster ging auf eine Mauer. Wenn ich Lust zum schreiben hatte – was selten der Fall war –, so ging ich in die Bibliothek an der Fortysecond Street Ecke Fifth Avenue. Hier in meinem Zimmer legte ich mich nur auf die durchhängende Matratze und phantasierte über Ruhm, Reichtum und Frauen, die sich mir an den Hals warfen. Ich hatte 521
eine Liebschaft gehabt, aber sie war zu Ende gegangen, und seit Monaten war ich allein. Ich spitzte die Ohren, falls ich zu dem Telephonapparat unten im Haus gerufen werden sollte. Die Wände des Hauses waren so dünn, daß man das leiseste Rascheln hören konnte – nicht nur auf meinem Stock, sondern auch aus den unteren. Eine Gruppe junger Burschen und Mädchen, die sich ›Stock Company‹ nannte, war eingezogen. Sie bereiteten sich darauf vor, irgendwo ein Stück auf die Bühne zu bringen. In der Zwischenzeit rannten sie die Treppen hinauf und hinunter, schreiend und lachend. Die Frau, die mein Bett bezog, hatte mir erzählt, daß sie die freie Liebe praktizierten und Marihuana rauchten. Mir gegenüber wohnte ein Mädchen, das aus dem Mittelwesten nach New York gekommen war, um Schauspielerin zu werden, und die ganze Tage und halbe Nächte Jammermelodien sang, die, wie mir jemand gesagt hatte, ›Blues‹ hießen. Eines Abends hörte ich sie wieder und wieder ein trauriges Lied singen : Er wird nicht zurückkehren, Wird nicht zurückkehren, Wird nicht zurückkehren, Niemals, niemals, niemals, niemals. Wird nicht zurückkehren ! Ich hörte Schritte und meinen Namen rufen. Ich setzte mich so hastig auf, daß das Bett fast unter mir 522
zusammenbrach. Die Tür ging auf, und in dem halben Licht des Korridors erblickte ich eine Frau. Ich machte kein Licht an, weil ich mich für den Zustand meines Zimmers schämte. Die Farbe an den Wänden blätterte ab. Überall lagen alte Zeitungen und Bücher, die ich auf der Fourth Avenue für ein paar Cent gekauft hatte, und schmutzige Wäsche. »Darf ich fragen, wen Sie suchen ?« fragte ich. »Du bist es. Ich erkenne deine Stimme. Ich bin Riwkele – die Tochter des Schuhmachers Lazar aus AltStikow.« »Riwkele !« »Warum hast du kein Licht gemacht ?« »Es ist kaputt«, sagte ich, erstaunt über meine eigene Lüge. Die Blues-Sängerin gegenüber schwieg. Dies war das erstemal, daß ich je Besuch bekommen hatte. Aus irgendeinem Grunde stand die Tür immer offen, als ob sie in ihrem Inneren noch immer hoffte, daß der, der nicht zurückkommen wollte, eines Tages vielleicht doch zurückkehren würde. Riwkele murmelte : »Hast du wenigstens ein Streichholz ? Ich möchte nicht hinfallen.« Mir fiel auf, daß sie Jiddisch mit einem Akzent sprach, der nicht gerade amerikanisch war, aber nicht mehr so klang, wie man ihn zu Hause gesprochen hatte. Ich stand vorsichtig vom Bett auf, führte sie zum Lehnstuhl und half ihr, sich zu setzen. Gleichzeitig ergriff ich eine Socke, die über der Lehne gehangen hatte, und warf sie beiseite. Sie fiel in das 523
Waschbecken. Ich sagte : »Du bist also in Amerika !« »Wußtest du das nicht ? Hat man dir nicht geschrieben –« »Ich habe immer wieder nach dir gefragt in meinen Briefen nach Hause, aber sie haben nie darauf geantwortet.« Sie schwieg eine Weile. »Ich wußte nicht, daß du hier bist. Ich habe es erst vor einer Woche erfahren. Nein, es ist zwei Wochen her. Was ich für Schwierigkeiten gehabt habe, dich zu finden. Du schreibst unter einem anderen Namen. Warum denn nur ?« »Hat man dir denn von zu Hause nicht geschrieben, daß ich hier bin ?« fragte ich zurück. Riwkele antwortete nicht, als ob sie über die Frage nachdächte. Dann sagte sie : »Ich begreife, daß du nichts weißt. Ich bin nicht mehr jüdisch. Und deshalb haben sich meine Eltern von mir losgesagt. Mein Vater hat Schiwwe gesessen für mich.« »Bist du übergetreten ?« »Ja, ich bin übergetreten.« Riwkele gab einen Laut von sich, der wie Lachen klang. Ich zog an der Schnur, und die Birne, die halb mit Farbe verschmiert war, ging an. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Meine Neugier, Riwkele in ihrer Rolle als Nichtjüdin zu sehen, muß alle Scham, die ich meiner Armut wegen empfand, übertroffen haben. Oder vielleicht hatte ich in diesem Bruchteil einer Sekunde empfunden, daß ihre Schande größer war als meine. Riwkele blinzelte, und ich erblickte ein Ge524
sicht, das nicht das ihre war, und das ich auf der Straße nie erkannt hätte. Es kam mir breit vor, teigig und älter, als ich es in Erinnerung hatte, seit ich sie zuletzt in Warschau gesehen hatte. Warum, dachte ich, ist sie mir zuerst so anders vorgekommen ? Offenbar machte Riwkele die gleichen Empfindungen durch, denn nach einem Weilchen sagte sie : »Ja, du bist es.« Wir saßen da und beobachteten einander. Sie trug einen grünen Mantel und einen dazu passenden Hut. Ihre Augenlider waren blau getönt und ihre Backen stark geschminkt. Sie war fülliger geworden. Sie sagte : »Ich habe eine Nachbarin, die die jiddische Zeitung liest. Ich hatte ihr viel von dir erzählt, aber da du deine Geschichten unter einem anderen Namen veröffentlichst, wie konnte sie da etwas wissen ? Eines Tages kam sie zu mir und zeigte mir einen Artikel über Alt-Stikow. Ich wußte sofort, daß er von dir war. Ich rief die Redaktion an, aber sie hatten keine Adresse von dir. Wie ist das möglich ?« »Ach, ich bin hier mit einem Touristenvisum und das ist schon abgelaufen.« »Darfst du nicht in Amerika bleiben ?« »Ich muß erst nach Kanada oder Kuba reisen. Ein Dauervisum für Amerika kann ich nur von einem amerikanischen Konsul in einem fremden Land bekommen.« »Und warum gehst du dann nicht dorthin ?« »Ich kann mit meinem polnischen Pass nicht reisen. 525
Das ist alles mit Rechtsanwälten und Ausgaben verknüpft.« »Gott im Himmel !« »Wie ist es dir ergangen ?« fragte ich. »Hast du das Kind bekommen ?« Riwkele legte einen rot lackierten spitzen Finger auf die Lippen. »Still ! Ich habe nichts gehabt. Und du weiß nichts !« »Wo ist es ?« »In Warschau. In einem Findelhaus.« »Ist es ein Junge ?« »Ein Mädchen.« »Und wie bist du nach Amerika gekommen ?« »Nicht durch Morris – durch jemand anderen. Es ist nicht gut gegangen. Wir trennten uns, und ich ging nach Chicago und traf dort Mario …« Riwkele sprach in einer Mischung von Jiddisch und Englisch. Sie hatte Mario in Chicago geheiratet und war zum katholischen Glauben übergetreten. Marios Vater war der Besitzer einer Bar, die von der Mafia protegiert wurde. Während eines Streites hatte Mario einem Mann einen Messerstich versetzt und saß jetzt schon das zweite Jahr im Gefängnis. Riwkele – sie nannte sich jetzt Anna Marie – arbeitete als Kellnerin in einem italienischen Restaurant in New York. Mario hatte noch mindestens eineinhalb Jahre zu verbüßen. Sie lebte in einer kleinen Wohnung an der Ninth Avenue. Die Freunde ihres Mannes besuchten sie und wollten mit ihr schlafen. Einer hatte sie mit einer Pistole bedroht. 526
Der Besitzer des Restaurants war ein Mann von über Sechzig. Er war gut zu ihr, nahm sie ins Theater, ins Kino und in Nachtklubs mit, aber er hatte ein böses Weib und drei Töchter, eine immer boshafter als die andere. Sie waren Riwkeles Todfeinde. »Lebst du mit ihm ?« »Er ist wie ein Vater zu mir.« Riwkele änderte ihren Tonfall. »Aber ich habe dich nie vergessen ! Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Warum das so ist, weiß ich nicht. Als ich erfuhr, daß du in Amerika bist, und den Artikel über AltStikow las, war ich sehr aufgeregt. Ich habe vielleicht zwanzigmal bei der Zeitung angerufen. Jemand sagte mir schließlich, daß du bei Nacht in die Druckerei schleichst und deine Artikel dort läßt. So ging ich eines Abends nach der Arbeit dorthin, in der Hoffnung, dich zu finden. Der Fahrstuhlführer sagte mir, daß du im neunten Stock einen Briefkasten hättest, wo ich meinen Brief lassen könnte. Ich fuhr hinauf, alle Lichter brannten, aber es war niemand zu sehen. Nahe an der Mauer stand eine Maschine, die von selbst schrieb. Ich fürchtete mich. Es erinnerte mich an den Spruch zu Rosch haschana –« »Das himmlische Buch, das sich selbst liest, und in das jeder seine eigenen Sünden hineinschreiben muß.« »Ja, ganz richtig. Ich konnte deinen Briefkasten nicht finden. Warum versteckst du dich vor den Zeitungsleuten ? Sie würden dich doch nicht anzeigen.« 527
»Ach, der Redakteur fügt meinen Manuskripten lauter Blödsinn zu. Er verdirbt meinen Stil. Für die paar Dollar, die er mir bezahlt, macht er einen Zeilenschinder aus mir.« »Der Artikel über Alt-Stikow war gut. Ich habe ihn gelesen und die ganze Nacht geweint.« »Hast du Sehnsucht nach Hause ?« »Nach allem habe ich Sehnsucht. Ich bin in eine Falle geraten. Warum lebst du in solch einer Höhle ?« »Ich kann mir nicht einmal die leisten.« »Ich habe etwas Geld. Da Mario im Gefängnis ist, wäre es leicht für mich, die Scheidung zu bekommen. Wir könnten nach Kanada gehen, nach Kuba – wo immer du hinmußt. Ich bin amerikanische Bürgerin. Wir werden heiraten und uns niederlassen. Ich werde meine Tochter herüberholen. Mit ihm wollte ich keine Kinder, aber mit dir …« »Leere Worte.« »Warum sagst du das ? Wir sind beide in Schwierigkeiten. Ich stecke in der Klemme und hatte alle Hoffnung aufgegeben. Aber als ich las, was du geschrieben hast, kam alles wieder zurück. Ich will wieder eine jüdische Tochter sein.« »Nicht durch mich.« »Du bist für das, was mir zugestoßen ist, verantwortlich !« Wir schwiegen, und das Mädchen gegenüber, das aufgehört hatte zu singen und ihrer eigenen Verwir528
rung zu lauschen schien, wie die Grille in Alt-Stikow, stimmte wieder ihr trauriges Lied an : Er wird nicht zurückkehren, Wird nicht zurückkehren, Wird nicht zurückkehren, Niemals, niemals, niemals, niemals. Wird nicht zurückkehren …
Im Taxi vom Kennedy Flughafen döste ich und Verwirrt dachte gleichzeitig nach. Nach einer Reihe von Vorlesungen in Universitäten und Synagogen kehrte ich nach New York zurück. Sogar in einem katholischen Mädchencollege hatte ich gesprochen. Ich war erschöpft von dem ständigen Herumreisen, Vorträge halten, Leuten begegnen, deren Namen und Gesichter ich sofort wieder vergaß, und von vielen schlaflosen Nächten. In meiner Wohnung war alles von einer Staubschicht bedeckt. Ich hatte in der Kleiderkammer das Licht brennen lassen, und es hatte den Motten beim Auffressen meiner Anzüge und Mäntel geleuchtet. Aber haben Motten Augen, mit denen sie das Licht wahrnehmen ? Ich beschloß, dies im Lexikon nachzuschlagen. Inzwischen streckte ich mich, ohne meinen Mantel oder die Überschuhe abzulegen, auf dem Sofa aus und versuchte mich auszuruhen. Ich hatte kein Licht gemacht, aber von einem hohen Gebäude an der West End Avenue fiel Licht in mein Wohnzimmer. Ich nahm aus meinen Brust- und Hosentaschen die halbzerdrückten Schecks, die ich nach jedem Vortrag erhalten hatte. Ich muß sie einzahlen, ehe sie unlesbar werden. Bald würde ich gut die Hälfte der Gesamtsumme als Bundes-, Staats- und Stadtsteuer abliefern müssen. Aber was sollte ich mit dem Rest des Geldes anfangen ? Im Lauf der Jahre brauchte ich we531
niger Geld fürs Essen. Ich brauchte auch keine neuen Anzüge. In Wirklichkeit arbeitete ich nur für die Steuerbehörden. Das Telephon läutete, und obwohl ich geschworen hatte, dieses Jahr keine Vorträge mehr anzunehmen, hörte ich mich zu meinem Agenten ›ja‹ sagen für Vorträge in so weit entfernten Orten wie San Francisco und Winnipeg. Dann rief eine Frau an und sagte zu mir in Jiddisch : »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie von Ihren Büchern und Geschichten. Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, aber da ich Ihre Telephonnummer im Telephonbuch gefunden habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie bewundere, und Sie zu fragen, ob Sie mich vielleicht treffen wollen. Nur für kurze Zeit. Ich bin sicher, daß Sie oft darum gebeten werden, und wenn Sie es mir abschlagen, so werde ich nicht beleidigt sein.« »Ich werde es Ihnen nicht abschlagen.« »Ich wußte, daß Sie ein Mann mit Herz sind. Wann kann ich zu Ihnen kommen ?« Ich schwieg und versuchte ein Datum zu finden, aber ohne meinen Terminkalender (wo war er ?) konnte jedes Datum, das ich ihr gab, ungeeignet sein. Ich fragte sie : »Was sind Sie ? Was tun Sie ?« »Ach, ich war lange Lehrerin in einer jiddischen Schule in Chicago. Ich interessiere mich sehr für Spiritismus. Und das hat mich in Ihren Arbeiten ganz besonders angezogen. Wie Sie, glaube auch ich, daß 532
Telepathie, Hellsehen, Vorahnungen Talente sind, die jeder entwickeln kann …« »Darf ich fragen, wie alt Sie sind ?« »Zweiundvierzig. Ich hatte vorgestern Geburtstag.« »Ich gratuliere. Wo wohnen Sie ?« »Hier, im Westen der Stadt. Ich bin sogar Ihre Nachbarin.« Wieder so eine Verrückte, dachte ich. Ich werde mich nicht um sie kümmern. Statt dessen sagte ich : »Kommen Sie gleich herüber. Aber ich sage schon jetzt, nicht auf lange. Ich bin gerade von einer Vortragsreise zurückgekommen und muß früh schlafen gehen.« »Ich werde in einer Viertelstunde an Ihre Tür klopfen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich verehre Sie nicht umsonst.« Es hatte Zeiten gegeben, da ich in meiner Wohnung etwas Ordnung machte, ehe ein Besuch, besonders eine Frau, kam, aber jetzt hatte ich weder die Kraft noch den Ehrgeiz, es zu tun. Ich zog nur meinen Mantel und die Überschuhe aus, dann legte ich mich wieder auf das Sofa. Ich schloß die Augen und schlief sofort ein. In den letzten paar Jahren waren meine Träume außerordentlich lebendig geworden. Ich träume fast ausschließlich von Verstorbenen. Folgender Traum wiederholte sich mehrfach in vielen Variationen : Ich besuche meine verstorbene Geliebte Ethel in Brooklyn in der Ocean Avenue. Es ist däm533
merig. Sie öffnet mir die Tür, und im Korridor frage ich sie »Ist Leon hier ?« Ethel murmelt »Ja, er erwartet dich.« Wir betreten das Schlafzimmer, und Leon liegt im Bett. Im Traum erinnere ich mich daran, daß sowohl Ethel wie Leon schwerkrank gewesen waren, aber sie waren nicht gestorben. Obwohl es im Schlafzimmer dunkel ist, kann ich Leons Gesicht sehen – es ist mager, bleich, mit weißen Augenbrauen. Er schaut mich in einer Mischung von Dankbarkeit und Vorwurf an. Ich höre Ethel sagen »Freunde, ich gehöre Euch.« Wenn ich erwache habe ich die letzten Teile des Traums stets vergessen. Der Traum endet jeweils als habe der Herr der Träume beschlossen, das Ganze in einen Spaß zu verwandeln. Manchmal singt Leon eine liturgische Melodie, die in einem Mißklang endet. Ethel trägt Verse vor wie ein Hochzeitsspaßmacher, in einer Mischung aus Jiddisch, Hebräisch und Polnisch, und sie lacht ausgelassen. Wie immer, so hing ich auch an diesem Abend den verblassenden Bildern nach, bis nichts als der feierliche Anfang und das verrückte Ende übrigblieben – und der Drang zu urinieren. Die Toilette hat wie alle Einrichtungen in diesem alten Haus ihre Launen. Manchmal ergießt sich das Wasser in einem Strom, den ich nicht abstellen kann, und ich muß den Hausmeister rufen. Und dann wieder kommt überhaupt kein Wasser. Es quietscht, gurgelt und wimmert, als sei eine lebende Kreatur in den Röhren gefangen. Diesmal fing die Dusche an zu flie534
ßen, obwohl ich sie nicht berührt hatte. Während ich auf dem Badewannenrand stand, um die Dusche abzustellen, fiel etwas aus dem Medizinschränkchen – ein Salzfaß, von dem ich mich nicht erinnerte, es dorthin gestellt zu haben (wozu auch ?). Leblose Dinge trieben boshafte Späße mit mir.
2 Es läutete, und ich lief, um die Tür zu öffnen. Draußen stand eine kleine Frau, die jünger aussah als vierzig, in einer schäbigen Pelzjacke, Stiefeln und mit einem Tuch über dem schwarzen Haar. Ihr Gesicht war hell, klein, mädchenhaft, mit hohen Backenknochen. Sie war nicht geschminkt. In ihren dunklen Augen schimmerte eine Mischung aus provinzieller Schüchternheit und Großstadtwissen. Sie hielt einen kleinen Korb unter dem Arm. Ich hatte das Gefühl sie zu kennen, aber woher ? Sie war kaum eingetreten, da erzählte sie mir schon, daß sie alle meine Vorträge in New York gehört habe, und sogar die in der Umgebung. Sie nannte sich selbst meinen weiblichen Chassid. Ich half ihr aus der Jacke. Ihre Figur war mädchenhaft. Sie sei nach Amerika gekommen, sagte sie, 1948, aus einem deutschen DP-Lager. Während des Krieges hatte sie in Rußland gelebt. Als sie das Wohnzimmer betrat öffnete sie den Korb und nahm drei meiner Bücher heraus, zwei auf Englisch und 535
eins auf Jiddisch. Sie sagte : »Sie haben mir Widmungen in diese Bücher geschrieben – natürlich erinnern Sie sich nicht daran. Unberufen, Sie sehen unverändert wohl aus. Hier ist ein Buch. Sehen Sie es sich an.« Sie schlug eines der Bücher auf, und ich las auf dem Innendeckel : »Der lieben Pessl in Freundschaft und mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen.« Sie sagte : »Das war eigentlich eine Einladung, aber ich war damals in Chicago, und in meiner Lage war es nicht so einfach, nach New York zu fahren. Ich heiße Pesche, aber man ruft mich Pessl. Hier in Amerika schämt man sich solcher altmodischer Namen. Sogar in Polen schämte man sich. Aber für mich ist es ein guter jüdischer Name. Meine Urgroßmutter hieß Jente Pesche. Sie war reich, und sie schenkte dem Rabbi von Rizin bei meiner Geburt einen goldenen Kelch.« »Meine Wohnung ist in schrecklicher Unordnung«, sagte ich. »Ich hoffe, daß Sie das nicht stört.« »Mich stört ? Nichts kann mich mehr stören. Nebenbei, wenn Sie jemanden brauchen zum Saubermachen, ich tue es gern.« »Gott behüte !« »Warum Gott behüte ? Hier in New York arbeitete ich als Reinemachefrau und als Babysitter. In Warschau bin ich aufs Gymnasium gegangen und habe sogar angefangen zu studieren, aber dann brach der Krieg aus, und ich wurde ›gleichgeschaltet‹, wie die 536
Deutschen es nannten. Ich kam mit einer kranken Tochter nach Amerika. Es ist eine lange Geschichte.« »Haben Sie einen Mann ?« »Mein Mann kam in dem polnischen Aufstand 1945 um. Seien Sie nicht entsetzt, er war kein Jude.« »Sie stört nichts mehr und mich entsetzt nichts mehr.« »Halina ist fast zwanzig Jahre alt. Sie ist in ihrem Gefühlsleben gestört. Sie muß in einer Klinik leben. All meine Energie und alles, was ich verdiene, geht für diese Tochter drauf. Sie wuchs bei ihrer Tante, einer Schwester meines Mannes, auf, während ich in Rußland dahinvegetierte. Sie wußte nicht, daß sie jüdisch war, bis ich nach Warschau zurückkam. Was ich in Rußland durchmachte, ist eine zu lange Geschichte, um sie jetzt zu erzählen.« »Worin besteht denn ihre Störung ?« »Meine Schwägerin Stasia ist eine Antisemitin, und sie erzog Halina zum Judenhaß. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie traumatisch es für sie war, als sie erfuhr, daß ihre Mutter Jüdin sei. Sie ging mit den Fäusten auf mich los. In den vielen Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sie sich nicht mit ihrem jüdischen Blut abfinden können. Und das ist noch nicht alles. Es vergehen Tage, manchmal Wochen, und sie sagt kein einziges Wort. Sie ist immer depressiv. Außerdem hat sie aufgehört zu wachsen. Als ich sie in Warschau im Hause ihrer Tante fand, war sie ziem537
lich groß für ihr Alter, aber dann geschah irgend etwas, und sie entwickelte sich nicht so, wie ein Kind sich normalerweise entwickelt.« »Vielleicht fehlen ihr Hormone.« »Ach, man hat alles versucht, selbst eine Schockbehandlung. Mit dem, was ich verdiente, konnte ich ihr nicht viel helfen. Aber ich fand einen Anwalt, der auf Wiedergutmachungszahlungen von den Deutschen spezialisiert ist, und er erreichte, daß sie eine Rente bekommt und daß ihre ärztliche Behandlung bezahlt wird. Auch daß ich von Chicago nach New York gekommen bin, hat mit ihr zu tun. Hier habe ich die richtige Klinik für sie gefunden und auch einen wunderbaren Arzt. Ich möchte irgend etwas für Sie tun.« »Was möchten Sie für mich tun ?« »Ach, irgendwas. Ich könnte ein oder zweimal die Woche Ihre Wohnung besorgen. Ich wäre auch bereit Ihre Wäsche zu waschen. Ich möchte Ihnen sagen, daß dieser Arzt erreicht hat, daß meine Tochter mich ab und zu besuchen und ein paar Tage bleiben kann. Deswegen habe ich die Schule aufgegeben, da ich nie weiß, wann sie zu mir kommen wird. Jetzt ist Babysitting meine Beschäftigung. Ich kann meine Tochter dazu mitnehmen. Für sie ist es eine Art Erholung. Sie haßt mich, aber sie liebt Kinder. Sie würde einem Kind nie etwas tun. Ach, mein Leben ist so verrückt, was immer ich Ihnen erzähle, ist nur ein Bruchteil von dem, was ich durchmache. Ich habe als Babysitter einen guten Namen. Junge Paare verlassen sich auf 538
mich, wenn sie verreisen. Ich habe in Warschau in einem Kindergarten unterrichtet, und einige Zeit habe ich in einem Kinderspital in der Slizkastraße gearbeitet. Viele Ehepaare haben Bars in ihrer Wohnung, und sie lassen sie für mich offen. Ich sollte es Ihnen nicht sagen, aber ich bin schon lange ehe ich Rußland verlassen habe, zur Trinkerin geworden. Ohne Alkohol wäre ich während des Holocaust nicht am Leben geblieben. Ich werde nicht betrunken, nur schläfrig, aber wenn ein Baby nur piepst, bin ich in einer Sekunde hellwach. Warum belästige ich Sie mit all diesen Einzelheiten ? Sie sind selbst schuld daran, weil Sie mich fragen. Da ich schon mal hier bin, werde ich ein bißchen Ordnung in der Wohnung machen.« »Auf keinen Fall.« »Auf jeden Fall.«
3 Ich döste auf dem Sofa, und Pessl bereitete das Abendessen für mich. Ich wollte mit ihr in ein Restaurant gehen, aber sie bestand darauf, einzukaufen und zu kochen. Ich mußte ihr Geld aufdrängen. Ich war so müde, daß ich, nachdem sie in den Supermarkt gegangen war, einschlief. Als ich die Augen öffnete erkannte ich die Wohnung nicht wieder. Kein Staub mehr. Sie hatte in dem Haufen von Briefen, Büchern und Tele539
grammen, die sich in meiner Abwesenheit angesammelt hatten, Ordnung gemacht. Wie sie in anderthalb Stunden alles erledigt hatte, war mir unbegreiflich. Wir setzten uns an den Küchentisch und aßen zusammen wie ein altes Paar. Ich stellte Pessl Fragen, und sie erzählte mir, daß sie außer ihrem verstorbenen Mann, Piotr Trapinski, und einem Liebhaber in Rußland keine anderen Männer gehabt habe. Sie hatte zehn Jahre ohne Mann gelebt, nicht aus Sittsamkeit, sondern weil sie all ihre Kraft für die Tochter brauchte. Außerdem hatten die Männer, die sie in Chicago kannte, Jiddischlehrer, kein Verlangen in ihr erweckt. Nach dem Essen wusch Pessl ab. Dann legten wir uns auf das Sofa. Wir küßten uns, und Pessl schwor, daß sie mich, seit sie mich bei einem Vortrag in Chicago zum ersten Mal gesehen hatte, liebte. Sie gelobte feierlich, mich nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen und in all ihren Reinkarnationen zu lieben. Mir erschien solcher Enthusiasmus bei einer über vierzigjährigen Frau, die durch die Hitlerhölle und den Stalinterror gegangen war, etwas seltsam, aber ich hatte in meinem Leben allerhand Erfahrungen gemacht, so daß mich auch das seltsamste menschliche Verhalten nicht erstaunen konnte. Plötzlich rief sie : »Wie spät ist es ? Ich muß gehen !« »Wohin ?« »Komm mit. Es ist zehn Minuten vor zehn.« Pessl erzählte mir in Eile, daß sie an diesem Abend 540
eine Babysitterverabredung hatte, nur ein paar Straßen entfernt von mir. Bei einer Frau, die wegen eines Liebhabers von ihrem Mann getrennt lebte. Der Mann hatte einen Detektiv auf ihre Spur gesetzt, und sie mußte sich, davonstehlen, damit er ihr nicht folgen konnte. Sie ließ ihr zweijähriges Kind immer bei Pessl. »Komm mit«, sagte Pessl, »es wird die erste Nacht unserer Flitterwochen sein.« Ich sagte zu Pessl, ich könne nicht mitkommen und ich sähe mich auch nicht als Babysittergehilfe, aber nach einiger Überredung erklärte ich mich bereit, nachzukommen, wenn die Mutter gegangen war. Ich würde in einem nahegelegenen Restaurant warten und Pessl anrufen, um zu erfahren, ob die Mutter gegangen sei. Während wir eilig zu dem Restaurant liefen, sagte Pessl : »Du kannst mich in zehn Minuten anrufen oder sogar noch eher. Sie wartet schon auf mich. Ich hätte früher dort sein sollen, und sie wird ärgerlich sein. Na, wenn schon.« Sie blieb grade lange genug im Restaurant, um die Telephonnummer und die Wohnungsnummer auf eine Serviette zu schreiben, dann lief sie davon. Ich setzte mich an die Theke, bestellte eine Tasse Kaffee und las die Abendzeitung, die ein Gast liegengelassen hatte. Nach einer Viertelstunde rief ich an, und Pessl rief : »Komm gleich !« Das Haus hatte keinen Portier, und der Fahrstuhl war automatisch. Ich fuhr zum vierzehnten Stock, 541
Pessl erwartete mich in der offenen Tür. Ich betrat die Wohnung, die mit rotem Spannteppich, passenden Tapeten und modernen Möbeln eingerichtet war. Im Wohnzimmer stand der Fernsehapparat und eine als Bücherschrank verkleidete Bar. Am Fenster hing ein Käfig mit einem Wellensittich. Im Badezimmer hing das Bild eines urinierenden Knaben, dem ein kleines Mädchen zuschaute und sich wunderte. Alles war billig und kleinbürgerlich. Pessl öffnete den falschen Bücherschrank, auf dessen Tür die Namen Shakespeare, Milton und Edgar Allan Poe zu sehen waren, und begann zu trinken und zu rauchen. Sie nötigte mich auch, etwas zu trinken. Sie ergriff mein Handgelenk, führte mich ins Schlafzimmer und zeigte mir den schlafenden Jungen, Nicky, seine Spielsachen, darunter einen Teddybären, der fast so groß war wie ein richtiger Bär. Das Kind hatte lockiges blondes Haar und gerötete Backen. Es hatte einen Schnuller im Mund. Im Wohnzimmer legten wir uns auf das Sofa. Es kam mir vor, als kennte ich Pessl schon seit langer Zeit. Der Alkohol hatte sie fröhlich gemacht, und sie versicherte mir, dies sei die glücklichste Nacht ihres Lebens. Sie erzählte mir Geschichten von ihren Wanderungen in Rußland. Sie war an Typhus und Lungenentzündung erkrankt. Sie war in Zügen gereist, die tagelang auf freiem Feld gehalten hatten und die so überfüllt waren, daß die Reisenden ihre Notdurft in einem. Nachttopf verrichten mußten, den sie bei 542
sich trugen. Sie hungerte, lief in zerschlissener Kleidung herum und rauchte Zigaretten aus getrockneten Eichenblättern. Jahrelang lebte sie mit dem Tod. Und jetzt war sie hier, in einer warmen Wohnung, trank Cognac, rauchte amerikanische Zigaretten, und wer war bei ihr ? Ihr geliebter Schriftsteller. Konnte es etwas Schöneres geben ? Während sie dies sagte, küßte sie mein Gesicht, meinen Hals, selbst die Ärmel meiner Jacke. Ich sträubte mich, und sie rief : »Misch dich nicht ein, wenn ich den Mann, den ich liebe, küsse.« Nach einiger Zeit überwältigte mich die Müdigkeit. Auch Pessl fing an zu gähnen. Sie holte eine Decke und breitete sie über uns. Sie umarmte mich und kuschelte sich an mich. Ich lag still und wollte gerade einschlafen, als der Traum von Ethel und Leon zurückkehrte. Ich hörte Ethel sagen : »Freunde, ich gehöre Euch.«
4 Ich hatte lange und tief geschlafen. Ich wurde von lauten Schlägen und Läuten und Männerstimmen geweckt. Pessl setzte sich in Verwirrung auf. »Weh mir. Dem Kind ist etwas zugestoßen !« Sie lief in das Schlafzimmer, wir begriffen aber schnell, daß der Lärm von der Tür herkam. Pessl lief um aufzumachen. Feuerwehrleute sagten ihr, auf un543
serem Flur sei ein Feuer ausgebrochen, und befahlen uns, sofort die Treppe hinunter in die Halle zu gehen. Pessl lief in das Schlafzimmer zurück und nahm den schlafenden Jungen auf, mir rief sie zu, den Wellensittich zu nehmen. Es war ein Wunder, daß wir beide angekleidet waren. Im Korridor stiegen wir über einen riesigen Schlauch. Die Luft war voller Rauch. Das Kind erwachte und weinte. Pessl schrie : »Sie werden alles stehlen ! Beatrice wird mich beschuldigen !« Wir rannten die Treppe hinunter. Der Wellensittich hüpfte in seinem Käfig vor und zurück und versuchte, durch die Stäbe ins Freie zu gelangen. »Wo ist meine Uhr ?« fragte ich. Ich suchte in all meinen Taschen. »Wo ist mein Füllfederhalter ?« Wir stiegen so viele Treppen hinunter, daß ich fürchtete, wir hätten uns in einem unterirdischen Labyrinth verlaufen. Aber endlich erreichten wir die Halle, die von den Hausbewohnern wimmelte. Die Sofas und Stühle waren von Frauen und Kindern mit Beschlag belegt worden. Männer liefen in Pyjamas, Bademänteln oder Morgenröcken herum. Einige hatten es noch geschafft, Hausschuhe anzuziehen, andere waren barfuß. Schläuche ringelten sich über den Boden. Feuerwehrleute mit schwarzen Helmen rannten hin und her, trugen Äxte, Stangen, Gasmasken und Gegenstände, für die ich keinen Namen wußte. Einige der Hausbewohner waren ärgerlich, andere lachten. Ich hatte den Käfig mit dem Wellensittich 544
auf den Boden gestellt und fand noch Platz auf einem Sofa, neben Pessl, die den kleinen Jungen in ihren Armen wiegte und versuchte, ihn zum schlafen zu bringen. Gleichzeitig sprach sie zu mir : »Ich wußte, daß irgendein Unheil geschehen würde. Leuten wie mir ist es nicht erlaubt, auch nur eine glückliche Minute zu erleben. Liebster, warum mußte ich dich in diese Sache verwickeln ? Geh nach Hause. Ich werde schon alles finden, was du verloren hast. Du sollst nicht durch mein Pech leiden müssen.« »Pessl, nimm es doch nicht so tragisch. Sie werden das Feuer bald unter Kontrolle haben.« »Wenn es nicht dieses Feuer ist, so wird es andere Feuer geben. Gerade an dem Abend, als ich aus vollem Herzen sagen konnte, ich bin glücklich, verrückt vor Glück, mußte dies passieren. Nu, es ist ein Witz. Das Schicksal lacht mich und meine Illusionen aus. Wenn Beatrice zurückkommt und dieses Durcheinander sieht, wird sie sich aufhängen. Beatrice, Frau Klapperman, ist die Besitzerin der Wohnung. Sie läßt ein Kind allein und läuft die ganze Nacht mit einem Scharlatan herum. Sie zittert um jedes Stück von ihrem Kram. Schlaf, mein Schatz, schlaf. Mama wird bald da sein. Mach die Äuglein zu !« Plötzlich rief sie : »Meine Handtasche, wo ist meine Handtasche ?« Sie gab mir das Kind und schrie : »Ich muß meinen Geldbeutel finden ; alles was ich besitze ist darin. Mein Gott ! Oh, was für ein Unglück !« Ich saß da und hielt einen schweren kleinen Jun545
gen, in eine Decke gewickelt, im Arm. Ich sah Pessl auf eine Tür zulaufen, die zu den Treppen führte. Sie stolperte und fiel fast über einen der Schläuche. Das Kind blinzelte und fing mit aller Kraft an zu schreien. Frauen versuchten, es zu beruhigen. Sie legten den Jungen auf das Sofa, wiegten ihn, pusteten über ihn, riefen ihn Babylein, Engel, Liebling, aber seine Wut steigerte sich nur. Er bleckte seine Zähne wie ein kleines Tier. Pessl blieb lange fort. Die Frauen begannen mich zu fragen, wer ich sei und in welcher Wohnung ich lebe. Ich mußte gestehen, daß ich eine Babysitterin besucht hatte. Sie fragten mich nach der Nummer der Wohnung, aber ich konnte mich weder an das Stockwerk noch an den Namen der Besitzerin erinnern. Die Frauen sahen sich an, murmelten etwas und blinzelten sich zu. Ich suchte in meinen Taschen. Ich hatte die Nummer der Wohnung aufgeschrieben, aber das Stückchen Papier war verschwunden. Meiu Gott ! Hier saß ich mit einem fremden Kind, das man mir aufgehalst hatte. Man könnte mich beschuldigen, das Kind entführt zu haben. Ich wollte Pessl suchen gehen, aber bei wem konnte ich das Kind lassen, das nicht aufhören wollte zu schreien ? Eine kleine Frau mit einem feuerroten Schopf, die ein grünes Nachthemd und Pantoffeln in der gleichen Farbe trug, kam zu mir herüber und sagte in überraschtem Ton : »Wohnen Sie hier ?« Die Frauen um mich herum wurden still. Das Kind hörte auf zu weinen. 546
Ich sagte : »Ich habe eine Babysitterin besucht, und sie ist ihre Handtasche suchen gegangen.« »Sie erinnern sich nicht an mich, wie ich sehe, aber wir haben einmal zusammen gegessen, als Sie bei unserer Gruppe einen Vortrag hielten. Ich habe Sie eingeführt.« »Ein Redner ?« sagte eine der anderen Frauen. In diesem Augenblick kam Pessl zurück. »Meine Handtasche ist verschwunden ! Hier ist deine Uhr. Ich hatte alles bei mir, mein Geld, meine Lesebrille, mein Bankbuch. Nu, das ist eine Komödie.« »Vielleicht hast du die Handtasche bei mir gelassen«, sagte ich, und war mir sofort bewußt, daß ich das nicht hätte sagen sollen. »Ich gehe nie ohne meine Handtasche weg. Aber heute ist eine dieser Nächte.« »Feuerwehrleute sind keine Diebe«, sagte die kleine rothaarige Frau. »Sie haben Ihre Handtasche wahrscheinlich irgendwo anders gelassen oder –« »Wo steht das geschrieben, daß Feuerwehrleute keine Diebe sind ?« sagte Pessl. »Wenn sie eine Handtasche mit Geld finden, dann nehmen sie sie. Wenn deutsche Offiziere, Männer, die studiert haben und Goethe und Schiller lesen, sich nicht geschämt haben, einem armen Juden das Hemd wegzureißen, einem Kind den letzten Bissen zu nehmen und ihm dann den Kopf abzuschlagen, warum sollten dann einfache Feuerwehrmänner nicht eine Handtasche stehlen ? Jeder grapscht. Sie wollten mich nicht in die 547
Wohnung lassen, angeblich wollten sie mich vor dem Feuer schützen. Aber es brennt nicht in der Wohnung. Sie zerstören einfach –« Pessl konnte den Satz nicht beenden. Eine stattliche Frau kam herüber und hielt zwei Handtaschen in der Hand. »Fräulein, ist das Ihre Handtasche ?« fragte sie. Pessls Augen traten aus den Höhlen. »Wo haben Sie sie gefunden ?« »Er lag gerade dort drüben bei der Wand.« Die Frau deutete auf die Stelle, wo Pessl gesessen hatte. Pessl öffnete die Handtasche, sah hinein und schloß sie sofort wieder. Sie sagte : »Irgendwie bin ich durch all die schlimmen Erfahrungen meines Lebens hindurchgekommen, aber meine Nerven sind zerrüttet.« In dem ganzen Tumult war der Junge wieder eingeschlafen. Ein Feuerwehrmann rief laut : »Meine Damen und Herren, Sie können wieder Schlafengehen. Aber stürmen Sie nicht den Fahrstuhl.« Alles rannte zum Fahrstuhl, man stieß und schubste sich, die kleine rothaarige Frau mitten drin. »Wer ist dieses rothaarige Geschöpf ?« fragte Pessl. »Ich laß dich nur fünf Minuten allein, und schon bist du von diesen Megären umringt. Kennst du sie vielleicht ?« »Sie sagt, ich hätte vor vielen Jahren einmal mit ihr geluncht. Sie gehört irgendeiner Frauengruppe an, wo ich einen Vortrag gehalten habe. Sie behauptet, mich eingeführt zu haben.« 548
»Jaja, ich weiß schon. Sie haben immer irgendeinen Grund, um Bekanntschaften zu machen. Sie hat die Augen eines Falken. Die Männer arbeiten schwer, werden herzkrank, und diese Nutten haben nur eine Beschäftigung – anderen Frauen die Männer wegzunehmen. Von heute an gehörst du mir. Ich wollte sterben, nicht einmal, sondern hundertmal … Aber eine innere Stimme befahl mir ›Pessl, warte !‹ Ich bin sicher, du glaubst nicht an solche Vorahnungen, obwohl du darüber schreibst. Schriftsteller sind gespaltene Seelen. Sie schreiben und schreiben über die Liebe, aber sie glauben nur an Sex. Sie erzählen Geschichten über Geister und sind selbst die schlimmsten Materialisten. Du hast sicher gedacht, daß ich das Kind dir in den Schoß geworfen und mich davongemacht hätte. Stimmts ?« »Ich hatte keine Ahnung, daß ein Kind so einen Lärm machen kann.« »Was ist denn ein Kind ? Es hat alle Eigenschaften eines Erwachsenen. Es hat es eilig, erwachsen zu werden und seinen Teil am Bösen zu tun. Ich bin eine Närrin. Wirklich, das bin ich.« »Warum sagst du das ?« »Wozu brauchte ich die Handtasche, wenn ich dich habe ? Ich würde sechs Handtaschen für deinen kleinsten Nagel geben. Schau mich nicht so an. Das sind nur meine verfluchten Nerven. Die geringste Kleinigkeit wirft mich aus dem Gleichgewicht. Eben bin ich noch der glücklichste Mensch auf dieser Welt, und 549
dann brennt es plötzlich, und für mich ist ein Feuer nicht ein Feuer, sondern ein Verbrennungsofen der Nazis. Ich bin von Natur aus recht mutig – wie hätte ich auch ohne Mut überleben können ? Aber ich bin gleichzeitig von Angst erfüllt. Ich hatte einen Mann, und sie haben ihn umgebracht ; ich habe eine Tochter, und sie sagt zu mir, daß ich nicht ihre Mutter sei ; du begegnest mir, und plötzlich bricht ein Feuer aus. Das ist kein Zufall. Die bösen Mächte arbeiten gegen mich. Schau ! Da steht sie, die rothaarige Nutte. Sie kommt zurück.« Die rothaarige Frau näherte sich uns, Sie sagte : »Ich wohne im obersten Stock, und es war unmöglich, in den Fahrstuhl zu kommen. Man schubst und stößt einander wie verrückt. Ich will Sie nicht stören, aber ich möchte Ihnen sagen, welche Überraschung es war, Sie unter diesen Umständen zu treffen.« »Darf ich bekanntmachen ?« fragte ich. »Dies ist meine Freundin Pessl. Und dies ist –« »Ich bin Terry. Terry Bickman.« Sie machte eine Bewegung, Pessl die Hand zu reichen, aber Pessl trat einen Schritt zurück. »Sie scheinen sich nicht an mich zu erinnern.« Die rothaarige Frau wandte sich an mich. »Sie hielten bei unserer Gruppe einen Vortrag, und nachher gingen Sie mit mir in ein vegetarisches Restaurant. Damals war mein Mann dabei. Wir sind jetzt geschieden.« »Ja, Sie haben mein Gedächtnis aufgefrischt.« »Sie wohnen nicht hier ?« 550
»Nein, ich besuchte diese Dame und blieb länger als ich beabsichtigt hatte.« »Ich verstehe. Unsere Gruppe würde Sie gern wieder einladen. Ich bin jetzt die Präsidentin. Können Sie mir Ihre Adresse und Telephonnummer geben ?« »Ich stehe im Telephonbuch.« »So ? Daran habe ich nie gedacht. Die meisten Schriftsteller haben Geheimnummern.« »Ich verstecke mich nicht vor meinen Lesern.« »Gut. Ich werde Sie anrufen. Gute Nacht.« Terry Bickman nickte Pessl zu. Sie war kaum drei Schritte entfernt, als Pessl laut sagte : »Nu, habe ich recht oder nicht ? Sie lauerte da wie ein Wolf auf sein Opfer. Sie wand sich wie eine Schlange. Du kannst ganz sicher sein, daß sie dich anrufen wird, und du wirst wieder mit ihr lunchen und wer weiß, was noch. Was dich angeht, so habe ich kein Recht auf dich – wir sind uns heute das erstemal begegnet. Du sagtest, ich solle kommen und ich kam. Trotzdem will ich dir sagen, wenn du daran denkst, diese rothaarige Hure zu treffen, so ist zwischen uns alles aus. Ich habe einen Instinkt und ich empfange Schwingungen. Du wirst nie verstehen, wie weit sie reichen.«
5 Nachdem alle Mieter in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren und der Lift leer war, fuhren Pessl und 551
ich mit dem schlafenden Kind und dem Wellensittich hinauf. Sobald der Lift sich in Bewegung setzte schlug sich Pessl mit der Hand, an der ihre Handtasche hing, vor die Stirn. Sie hatte keinen Wohnungsschlüssel. Ihr Gesicht verzerrte sich. Ihre Augen drückten Verzweiflung aus und auch eine Art masochistischen Triumphs : ihre Voraussage unmittelbar bevorstehenden Unglücks war eingetroffen. Sie gab mir das Baby und hämmerte an die Tür, als erwarte sie, daß ein Feuerwehrmann drinnen sei. Sie trat sogar ein paar Schritte zurück, um mit erneuter Kraft gegen die Tür zu stoßen. Ich sagte zu ihr, wir müssen zum Portier gehen und dort um einen Schlüssel bitten, aber sie sagte : »Wo soll ich den finden ? Ich glaube, er wohnt nicht einmal in diesem Haus. Die bösen Mächte sind immer noch hinter mir her. Sie denken sich jeden Augenblick neue Katastrophen aus.« »Warte du hier mit dem Kind, und ich werde den Portier suchen gehen«, schlug ich vor. In diesem Augenblick tauchte aus dem Nichts die rothaarige Frau auf. Sie trug einen anderen Morgenrock und andere Hausschuhe. »Was ist denn hier los ?« »Wohnen Sie auf diesem Stock ?« fragte Pessl in feindseligem Ton. »Nein, ein Stockwerk höher. Aber ich hörte den Lärm und dachte, es sei wieder ein Feuer ausgebrochen.« »Sie haben die Tür verschlossen, diese blöden Feuerwehrleute, und ich habe keinen Schlüssel.« 552
»Sie könnten einen Schlüssel vom Portier bekommen, aber er wohnt im Nebenhaus. Er ist ein Säufer und kommt nie vor dem Morgengrauen nach Hause. Kommen Sie lieber zu mir hinauf. Wenn ich mal wach bin, dann ist die ganze Nacht zum Teufel. Ich habe ein Bett, in dem seit meiner Scheidung niemand schläft. Wir können das Baby dort hinlegen und eine Tasse Kaffee oder Tee trinken. Sie sind auch eingeladen, mein lieber Schriftsteller. Ich hoffe, Ihre Freundin wird nicht eifersüchtig sein. Es scheint, es war vorausbestimmt, daß Sie mir einen Besuch machen. Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Sie bei mir zu sehen.« »Wenn Beatrice Klapperman zurückkommt und uns nicht in der Wohnung findet, wird sie einen hysterischen Anfall bekommen.« »Ach, sie wird schon erfahren, daß es gebrannt hat. Heften Sie einen Zettel an die Tür, daß Sie das Baby zu Mrs. Bickman im obersten Stock gebracht haben. Sie kennt mich, das Flittchen. Kommt sie immer so spät nach Hause ?« »Manchmal kommt sie erst am Morgen.« Pessls Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie schien die Situation zu überdenken. Das Baby begann zu wimmern. Es gab keine Wahl. Wir stiegen ein Stockwerk hinauf. Ich trug den Käfig. Der Wellensittich saß auf seiner Stange, erstarrt in einer Vogelversion des Nirwana. Terry Bickman führte uns in eine Wohnung, die im Schnitt der ähnlich war, in der Pessl das Kind 553
hütete, aber eleganter, mit Perserteppichen, seidenen Wandbespannungen und Ölgemälden. Beide Frauen beschäftigten sich damit, das Kind zu Bett zu bringen. Ich ging zum Fenster hinüber, zog den Vorhang weg und blickte auf die Straße hinaus. Ich konnte den Hudson sehen, der von den Lichtern New Yorks und New Jerseys erleuchtet war. Hinter mir fand eine Diskussion wegen des Zettels statt. Pessl halte Mühe, englisch zu schreiben, und schließlich bat sie Terry Bickman, den Zettel für sie abzufassen. Terry nahm eine goldene Füllfeder aus einer Schublade, ein Blatt rosa Papier und eine mit Straß verzierte Brille. Sie schrieb jedes Wort mit einem Schnörkel am letzten Buchstaben. Sie gab Pessl das Papier und ein Stückchen Tesafilm, um es an die Tür zu kleben. Pessls Augen schienen auszudrücken : ›Ich kenne Ihre schlauen Wege, aber ich habe keine Wahl.‹ Kaum war sie gegangen, sagte Terry Bickman mit einem wissenden Blick. »Sie ist wohl ein Flüchtling ?« »Ja, vom Holocaust.« »Warum ist sie so ängstlich ? Ich werde Sie nicht auffressen. Wie lange kennen Sie sie schon ?« »Noch nicht lange.« »Ich sollte das nicht sagen, aber mir scheint, Sie haben keinen guten Kauf gemacht. Babysitting ist doch kein Beruf. Und warum bringt sie Sie in diese Situation ? Das tut Ihrem Ruf bestimmt nicht gut.« »Ich mache mir nichts aus meinem Ruf.« »Woraus machen Sie sich denn etwas ?« 554
Pessl kam zurück. »Ich habe den Zettel an der Tür befestigt, aber wenn sie anruft und keine Antwort bekommt, wird sie der Schlag rühren.« »Wo treiben die sich die ganze Nacht herum ? Eine Mutter sollte zu Hause sein und nicht mit Gigolos herumstrabanzen. Was möchten Sie trinken ?« fragte sie Pessl. »Ich kann Ihnen alles anbieten – sogar Champagner. Wenn man sich mit ›Lechajim‹, »zum Leben‹, zutrinkt, vergißt man sein Elend.« Sie wandte sich an mich. »Wie steht es mit Ihnen ? Alle amerikanischen Schriftsteller trinken, aber Sie sehen nicht so aus wie einer von ihnen. Möchten sie einen Kirschlikör ? Einen Screwdriver ? Eine Bloody Mary ? Ich habe alle Arten, wie in der Arche Noah. Ich habe das alles für andere, nicht für mich. Wenn mir jämmerlich zumute ist, dann backe ich einen Kuchen. Auch ein gutes Buch ist hilfreich. Aber wo bekommt man gute Bücher ? Ich gehe oft mit Ihnen ins Bett, mit Ihren Büchern meine ich. Für jede Nacht, die ich mit Ihnen im Bett verbracht habe, möchte ich eine Million Dollar steuerfrei haben. Plötzlich erscheinen Sie in Person, und wann ? – mitten in der Nacht, bei einem Brand. Das Schicksal geht sonderbare Wege, um Leute zusammenzubringen. Was sagten Sie, Fräulein, was Sie gerne trinken möchten ?« »Wodka, Whisky, was immer Sie mir anbieten, vielleicht Gift.« »Mit Eis ?« »Kein Eis. Das Eis habe ich im Herzen«, sagte Pessl. 555
»Seien Sie nicht so dramatisch, trinken Sie was, und es wird Ihnen warm werden. Da diese Frau die ganze Nacht herumläuft, hat sie kein Recht, sich zu beklagen. Haben Sie Familie ?« »Eine Tochter.« »Ich habe niemanden. Eine Tochter ist besser als ein Sohn. Wenn ein Sohn erwachsen wird und anfängt sich mit Mädchen einzulassen, dann vergißt er seine Mutter. Eine Tochter bleibt einem nahe. Ich habe noch meine Mutter, sie ist in einem Heim – senil. Ich besuche sie jede Woche. Ich sage zu ihr : ›Ich bin deine Tochter, Tirza, Terry‹, und sie fragt mich ›Sind Sie die Krankenschwester oder die Frau des Doktors ? Man gibt mir nichts zu essen hier. Man stiehlt mir alles.‹ Plötzlich spricht sie Russisch zu mir. Ich sage ›Mutter, ich verstehe dich nicht‹, aber sie spricht weiter Russisch. Sie bekommt reichlich zu essen. Sie hat dort zwanzig Pfund zugenommen. Niemand stiehlt ihre Wäsche oder die paar Kleider. Ich sehe sie an und denke, ist das das Alter, das alle zu erreichen hoffen ? Aber was tue ich in meinem verhältnismäßig jungen Alter ? Ich möchte nichts lieber als einen Mann finden, ich kann nachts nicht schlafen, aber wenn ich einen treffe und sein dummes Gewäsch höre, widert es mich an. Ich kann nicht mit einem Dummkopf ins Bett gehen.« Sie wandte sich an mich. »Was wollten Sie zu trinken haben ?« »Haben Sie eine Coca-Cola ?« »Was Sie wünschen. Irgendwie gehen die Tage vor556
über. Ich gehe hierhin und dorthin. Ich gehe in die Warenhäuser und probiere Kleider und Pelzmäntel an, die ich nie kaufen würde. Ich habe Papiere, und hie und da gehe ich zu meinem Börsenmakler, um zu hören, wie es mit dem Markt steht. Aber die Nächte sind fürchterlich. Ich schlafe zwei Stunden, und dann ist es vorbei. Ich grüble über Dinge, die nur zum Wahnsinn führen können. Als man an meine Tür klopfte, um zu sagen, daß im Haus Feuer ausgebrochen war, war ich glücklich. Ein Brand ist besser als gar nichts.« Terry Bickman ging in die Küche, um mir eine Coca-Cola zu holen. Pessl trank ein halbes Glas Whisky. Sie schnitt eine Grimasse und sagte : »Sie wird dich mir wegnehmen. So ist es mir immer im Leben ergangen. Nu, da muß ich lachen.«
6 Für einen ganzen Monat ging ich wieder auf eine Vortragsreise. Ich reiste in so vielen Flugzeugen, Zügen und Autobussen, daß mir alles verschwamm. Ich gewann Stunden, und ich verlor Stunden. Ich mußte dauernd meine Uhr verstellen. Fast überall schloß sich eine Verehrerin mir an, fuhr mich in ihrem Wagen herum, lud mich am Tag nach der Vorlesung zum Frühstück ein und brachte mich schließlich zum Flughafen oder zum Bahnhof. Aus irgend557
einem Grunde verrieten mir alle ihre Geheimnisse. Sie schrieben meine Adresse und Telephonnummer in ihre Adressbücher und in mein Adressbuch ihre Adressen und Telephonnummern. Oft hatte ich eintägige Liebesaffären mit ihnen. Wir küßten uns zum Abschied, und ich versprach zu schreiben. Aber sobald sich das Flugzeug, der Zug oder der Autobus in Bewegung setzte, konnte ich die eine nicht von den anderen unterscheiden. An einem kühlen Maiabend kehrte ich nach Hause zurück und streckte mich auf dem Sofa aus. Ich schlief ein und wurde vier Stunden später vom Läuten des Telephons geweckt. Auf meiner Armbanduhr war es 12 Uhr 35. Ich zögerte, ob ich abnehmen sollte. Ich erwartete, das Läuten würde aufhören, aber als es nicht enden wollte, nahm ich den Hörer ab. Die Stimme, die ich hörte, war die einer Frau – eine kräftige Stimme. »Hier spricht Frau Bickmann.« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Frau Bickman war. Aber ich ließ nicht merken, daß mir der Name nichts sagte. Statt dessen sagte ich : »Ja, Frau Bickman.« »Ich versuche Sie seit drei Tagen zu erreichen. Heute nacht sagte mir mein Herz, daß Sie zu Hause sein werden. Sie haben mich ohne Absicht in eine Situation gebracht, daß ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll. Sollte ich Sie geweckt haben, so ist meine Entschuldigung, daß ich Ihretwegen drei Nächte nicht habe schlafen können.« 558
»Meinetwegen ? Wie kann das sein ?« »Frau Trapinski hat einen Selbstmordversuch begangen. Sie tat dies unter unglaublichen Umständen. Frau Klapperman war mit ihrem Liebhaber in die Ferien gefahren, oder vielleicht waren es Flitterwochen – Sie können das nennen, wie Sie wollen –, und Frau Trapinski sollte eine Woche lang bei dem kleinen Jungen, bei Nicky bleiben. Sie müssen wissen, daß wir uns vor kurzem ziemlich angefreundet haben, obwohl wir so verschieden sind, wie es zwei Frauen nur sein können. Aber wir haben etwas gemeinsam – wir leiden beide an Schlaflosigkeit. Die Tatsache, daß Sie für so lange Zeit fortgingen und es nicht einmal nötig fanden, ihr eine Karte zu schreiben oder sie anzurufen, hat sie ganz zerschmettert. Ich wollte Frau Klapperman sagen, daß es ein Risiko sei, das Kind so lange alleinzulassen, aber es liegt mir nicht, mich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Zufällig kam am Tag, nachdem Frau Klapperman verreist war, Halina nach Hause. Sie fand die Tür verschlossen und verbrachte die Nacht auf der Treppe. Wie das Mädchen am nächsten Tag ihre Mutter fand, ist eine Geschichte für sich. Ich will es kurz machen. Als sie sie schließlich fand, spuckte sie ihr ins Gesicht und schlug sie. Sie nannte sie eine grindige Jüdin und sagte, Hitler habe recht gehabt. Frau Trapinski bat mich, in Frau Klappermans Wohnung zu kommen, so sah ich, was das Mädchen getan hatte. Bis ich hinkam, war sie verschwunden. Nicky ist ein süßes Kind, ich 559
war ganz verliebt in ihn, aber ich mußte auf eine halbe Stunde weggehen, weil ein Handwerker mit einer Leiter kommen sollte, um im Flur eine Birne auszuwechseln. Als ich in Frau Klappermans Wohnung zurückkehrte, fand ich Frau Trapinski mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. Ich mußte eine Ambulanz rufen, auch die Polizei kam. Frau Trapinski ist im Hospital, und ich mußte den Babysitterjob übernehmen. Halina kam am nächsten Tag wieder, und ob Sie es glauben oder nicht, sie ist nun auch bei mir. Ich hoffte, daß Frau Klapperman anrufen würde, aber sie hat es nicht getan, und ich kann sie nicht erreichen. Diese Halina ist nicht nur verrückt, sie ist auch voller Bosheit. Ich rede zu ihr Englisch, und obwohl sie es ganz gut kann, antwortet sie mir Polnisch. Daß ich noch nicht den Verstand verloren habe, beweist, daß ich stärker als Eisen bin. Aber ich will Ihnen ganz offen sagen, wenn Sie nicht sofort kommen und mich aus diesem Irrenhaus befreien, werde ich mich an den Staatsanwalt wenden. Unter Druck sind Menschen zu allem fähig. Hören Sie mich ?« »Ja, ich höre. Von wo sprechen Sie ?« »Aus meiner Wohnung. Wie ich Ihnen schon sagte sind Halina und das Baby bei mir.« »Meine Liebe. Ich bin in einer solchen Verfassung, daß ich nirgends hingehen kann. Ich bin einen ganzen Monat unterwegs gewesen. Ich habe viele Nächte nicht geschlafen. Rufen Sie mich morgen früh an.« 560
»Woher weiß ich, daß Sie morgen früh nicht wieder verschwunden sein werden ? Ich habe Sie nach Kräften bei Frau Trapinski in Schutz genommen, aber jetzt werde ich Ihnen sagen, was ich von Ihnen halte. Warten Sie einen Augenblick, jemand läutet an der Tür. Legen Sie nicht auf.« Ich stand und hielt den Hörer ans Ohr gepreßt, ich war zu müde, um beleidigt zu sein oder mich schuldig zu fühlen. Ich war immer der Ansicht gewesen, daß Erzählungen über Gedächtnisschwund von Filmdrehbücher schreibenden Menschen erfunden worden seien, aber jetzt erlebte ich selbst diesen Gedächtnisschwund. Keiner dieser – Namen Trapinski, Bickman, Halina, Klapperman – war mir vertraut. Ich tastete mit der Hand in der Brusttasche nach meinem Notizbuch, aber es war nicht da. Ich hatte gehofft, darin einen Hinweis zu finden. Statt dessen fand ich einen Eilbrief, den ich nie geöffnet hatte. Er mußte vor meiner letzten Vortragsreise gekommen sein. Von draußen hörte ich plötzlich das Geräusch der Feuerwehrsirenen. Wie immer, wenn ich diese Sirenen höre, dachte ich an die elende Lage der Opfer. Und augenblicklich erkannte ich alle Namen wieder : Frau Bickman, die kleine rothaarige Frau ; Pessl ; Halina, Pessls psychopathische Tochter ; und Frau Klapperman, die Mutter des Kindes, um das sich Pessl kümmerte. Es verwirrte mich, diese Namen nicht sofort erkannt zu haben. Ich wartete lange, aber anstatt Terry Bickmans Stimme hörte ich nur das Amtszei561
chen. Ich legte den Hörer auf und wartete auf das erneute Läuten des Telephons, aber es blieb still. Ich hatte Terry Bickmans Nummer nicht. Ich mußte sie irgendwo aufgeschrieben haben, aber danach zu suchen war hoffnungslos. Ich kehrte auf mein Sofa zurück und lag dort wie betäubt von Müdigkeit.
7 Ich erwachte als der Morgen graute. Im Eingang wie im Wohnzimmer brannte Licht. Ich erinnerte mich daran, daß jemand angerufen hatte, ehe ich einschlief, und daß die Rede von einem Skandal gewesen war, einer Krise, einem Selbstmord, aber wer mich angerufen und wer Selbstmord begangen hatte, daran konnte ich mich nicht erinnern. Ich steckte meine Hand in die Brusttasche meines Jacketts, nahm den Eilbrief heraus und öffnete ihn. Der Poststempel ließ erkennen, daß der Brief vor fünf Wochen aus Chicago gekommen war. Eine Carol Brill schrieb, daß sie ihren Mann verlasse und nach New York komme, um dort einen Job zu suchen. Der Ton war vertraulich. »Fürchte nicht, mein Lieber, daß ich Dir zur Last fallen werde«, schrieb sie, »aber da Du mich wissen ließest Du brauchtest eine Sekretärin, so möchte ich Dir sagen, obwohl das unbescheiden klingen mag, daß Du keine bessere Sekretärin als mich bekommen könntest. Ich bin bereit, Dich auf deinen Vortragsreisen zu beglei562
ten, mich um Dich und Deine Angelegenheiten zu kümmern, als Freund und mehr als das.« Wer ist diese Carol Brill ? fragte ich mich. Aus dem Brief ging hervor, daß sie mich nach meinem Vortrag zum Flughafen gebracht hatte. Wie alle anderen war sie mir aus dem Gedächtnis entschwunden. Zum Schluß des Briefes bat sie mich um sofortige Antwort. All ihre Pläne hingen von meiner raschen Antwort ab – dreimal unterstrichen. Aber der Brief hatte über fünf Wochen in meiner Tasche gesteckt. Sie hatte keine Adresse angegeben, nur ein Postschließfach in Chicago. Ich hatte einmal irgendwo gelesen, daß all unsere Erlebnisse in dem Archiv unseres Gedächtnisses gespeichert werden. Mit Hilfe von Willensstärke, Konzentration und Entspannung kann man sie ins Bewußtsein zurückholen. Aber wie sehr ich auch mein Gehirn marterte, ich konnte mich an diesen Vortrag in Chicago nicht erinnern. Hätte sie nur soviel Verstand gehabt, mir ihr Foto zu schikken ! Ich hätte mich ausziehen und ins Bett legen sollen, statt hier auf dem Sofa in den Kleidern herumzuliegen, aber jetzt war es zu spät, die Nacht einzuholen. Ich schaute vom Fenster auf den Broadway hinunter. Alle Geschäfte waren geschlossen. Nur in dem ›Chock Full 0’Nuts‹ auf der anderen Seite, wo jemand die Theke für das Frühstück der eiligen Kunden vorbereitete, brannte Licht. An dem Zeitungskiosk bei der Untergrundbahn knotete ein kleiner Mann die 563
Bündel der Morgenzeitungen auf. Ein einziger Fußgänger, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, kam vorbei. Er blieb bei dem ›Chock Full 0’Nuts‹ stehen, und der Mann drinnen machte ihm ein Zeichen, daß noch geschlossen sei. Was würde geschehen, dachte ich, wenn er einen Revolver hervorziehen und durch die Glastür den Mann erschießen würde ? Würde ich mich freiwillig als Zeuge melden ? Amerika ist ein Land, in dem die Mörder mit Kaution freigelassen und die Zeugen ins Gefängnis geworfen werden. Plötzlich erinnerte ich mich daran, daß es einen Himmel gibt, und ich blickte hinauf. Er schwebte dort ohne Mond und ohne Sterne – Teil des Raumes, der nach Newton grenzenlos ist, und selbst nach Einstein nicht weniger als zehn Milliarden Lichtjahre in jeder Richtung beträgt. Das Licht aus dem ›Chock Full 0’Nuts‹ hatte bereits Millionen Meilen zurückgelegt, seit ich an das Fenster getreten war, und würde noch weitere zurücklegen, lange nachdem es keinen Broadway, kein New York mehr geben würde, keine Menschen, keine Erde und vielleicht sogar keine Sonne. Welch Geheimnis ! Ich wandte mich um und warf einen Blick auf meinen Schreibtisch. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß Carol Brill mir noch zwei später geschriebene Briefe gesandt hatte. In einem drückte sie ihr Erstaunen darüber aus, daß ich ihr nicht geantwortet hatte. Sie schrieb, sie habe eine Freundin in New York, eine Frau, mit der sie an der Washington Universität in St. Louis studiert hat564
te. Sie hatte vor, zu ihr in die Bronx zu ziehen. Sie gab mir die Telephonnummer dieser Freundin. Der zweite Umschlag enthielt ein Foto. Sowie ich es gesehen hatte, fiel mir mein Vortrag ein, der Saal, in dem ich gesprochen hatte, sogar die Tatsache, daß ich am nächsten Morgen mit Carol Brill in meinem Hotel gefrühstückt hatte. Sie hatte mir damals erzählt, daß ihr Mann, ein Anwalt, ein grober Patron sei und sie in den neun Jahren ihrer Ehe keinen glücklichen Moment gekannt hatte. Ich entschloß mich, ihr noch diesen Vormittag zu schreiben. Sie war jung und hübsch. Sie sollte ruhig nach New York kommen. Sie sah nicht aus, als ob sie ein Parasit werden würde. Ja, aber wer hatte mich gestern so spät abends angerufen ? Warum hatte dieser Anruf ein so unbehagliches Gefühl in mir hinterlassen ? Ich beschloß, von jetzt an in meinem Notizbuch alles aufzuschreiben, was ich tat, und den Namen jedes Menschen, den ich traf. Ich würde Pura, dem Engel des Vergessens, nicht gestatten, mich zu verschlingen. Ich entschloß mich ins Schlafzimmer zu gehen und mich auszukleiden. Ich hatte ein großes Schlafdefizit. Meine Armbanduhr zeigte fünf Uhr. Wenn mich das Telephon in Ruhe ließe, so konnte ich noch eine halbe Stunde schlafen. Vielleicht sollte ich den Hörer abnehmen. In dieser Sekunde läutete es. Ich war ganz sicher, daß es Carol Brill sein würde. Ich nahm den Hörer ab und sagte Hallo und hörte die Worte »Hier ist Terry, Terry Bickman.« 565
Die Stimme schien mir bekannt, auch der Name. Aber ich wußte nicht, wohin sie gehörte. »Ja, Terry«, sagte ich. Eine Zeitlang schwieg sie. Dann sagte sie : »Ich weiß, es ist nicht richtig, so früh anzurufen. Aber ich habe keine Wahl.« »Ja, ich verstehe.« »Ich habe Sie geweckt, aber ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können – das ist nun schon die vierte Nacht.« »Warum ?« fragte ich. Sie schwieg wieder. »Sie wissen nicht, wer ich bin, stimmts ? Sie klingen so verwirrt.« »Ja«, sagte ich. »Sie sprechen mit der verwirrtesten Kreatur auf dieser Welt.« Ein paar Tage später war ich bei Frau Bickman zu einem vegetarischen Lunch, Spinat mit rohen Pilzen, eingeladen, zusammen mit Pessl Trapinski und Halina, ihrer Tochter. Frau Klapperman war von der Reise mit ihrem Liebhaber zurückgekehrt und hatte ihr Baby wieder übernommen. Pessl war gerade aus dem Hospital gekommen. Sie zeigte mir die Narben ihrer aufgeschnittenen Handgelenke. Soweit ich das beurteilen konnte war Halina nicht im Wachstum zurückgeblieben, wie Pessl behauptet hatte. Sie war nur klein. Ich bemerkte auch keine Anzeichen eines pathologischen Antisemitismus. Ich konnte es kaum glauben, aber sie sagte, sie würde gern Jiddisch lernen, damit sie meine Bücher im Original lesen kön566
ne. Ich hatte Frau Carol Brill in Chicago geschrieben. Ich hatte ihr gesagt, sie solle nach New York kommen und meine Sekretärin werden. Ihre Freundin aus der Bronx rief mich an, um mir zu sagen, Carol habe beschlossen, bei ihrem Mann zu bleiben, da er sich bereit erklärt habe, einen Psychiater zu besuchen. Ich habe selbst einen Psychiater nötig, aber da ich weder an Freud, noch an Adler oder Jung glaube, wer könnte mich dann heilen ? Irgendwie werde ich mich weiter durchwursteln. Ich habe meine eigene Theorie entwickelt : Nicht alle Krankheiten müssen geheilt werden. Oft schmeckt die Krankheit besser als das Heilmittel. Ich bin vierzig Prozent taub, dreißig Prozent blind, sechzig Prozent senil, aber ich kann noch immer meine Vorträge halten, meine alten Witze erzählen, ein schönes Gesicht wahrnehmen und den vielen Geheimnissen zuhören, die mir Frauen am Morgen nach meinem Auftritt erzählen, während wir Kaffee trinken und Toast mit Marmelade essen. Und wenn sie mich küssen, bevor ich den Rückflug antrete oder zu einem anderen Vortrag reise, so küsse ich sie auch und sage allen das Gleiche : »Sollten Sie nach New York kommen, so besuchen Sie mich, falls ich noch am Leben bin.«
Glossar
Asmodi – ein böser Geist, böser Dämon. (Buch Tobias 3,8) Im Talmud als »König der Dämonen« bezeichnet. Baalschem – hebr., Abkürzung von Baal Schem Tow, der »Meister des (göttlichen) Namens« Israel ben Elieser Baalschem (1699–1760) war Begründer des Chassidismus. Beza – hebr., ein nach seinem Anfangswort benannter Traktat aus dem babylonischen Talmud. Er behandelt vorwiegend Probleme der Feiertage. Blintzes – dünne Pfannkuchen mit süßem Quark gefüllt, mit saurer Sahne übergossen. Chanukka – hebr., wörtl. Einweihung. Achttägiges Lichterfest zur Erinnerung an die Wiedereinweihung (165 v. Chr.) des von den Griechen entweihten Tempels, nach deren Vertreibung durch Juda Makkabi. Chassidim – hebr., »Fromme«, die Anhänger einer jüd. religiösen Bewegung, die um 1740 von Israel Baal Schem Tow in der Ukraine und in Polen gegründet wurde und in Osteuropa weite Verbreitung fand. Die Chassidim betonen das Gefühl in der Religion, dem Gesetzesglauben gegenüber die Offenbarung in der Natur. 569
Cheder – hebr., »Stube«. Lehrstube der jüdischen Elementarschule (4.–13. Lebensjahr) für Knaben. Dibbuk – hebr., wörtl. »Anhaftung«. Im jüd. Volksglauben ein Totengeist, der in dem Körper eines Lebenden eintritt und bei dem so Besessenen ein irrationales Verhalten bewirkt. Nur einem Wundertäter kann es gelingen, die »Dämonen« auszutreiben. Etrogbüchse – Behälter zur Aufbewahrung der Paradiesfrucht. Eine Zitrusfrucht und eine der vier Pflanzen, die in den für das Laubhüttenfest vorgeschriebenen Feststrauß gehören. (Lev. 23, 40). Hillel – Rabbi. Gelehrter, der das Haupt eines Lehrhauses um 30 v. Chr. in Jerusalem war. Vertreter einer milderen Gesetzespraxis. Jeschiwa – hebr., höhere Lehranstalt, Hochschule für das Studium des Talmud. Jom Kippur – hebr., Versöhnungstag, der höchste jüd. Feiertag, bildet den Abschluß der mit dem Neujahrsfest beginnenden 10 Bußtage. (Lev. 23, 27 ff). Kabbala – hebr., wörtlich »das Empfangene«, »Überlieferung« ; die Lehre und die Schriften der mittelalterlichen jüd. Mystik ab ca. 1200. Sie beschäftigt sich besonders mit dem geheimen, mystischen Sinn des Alten Testaments und der talmudischen Religionsgesetze, mit Begriffs- und Zahlenkombinatorik, mit der geheimen Bedeutung und mystischen Kraft der verschiedenen Gottesnamen. Hauptwerk : das Buch ›Sohar‹. Kaddisch – aram., wörtlich »heilig« ; Gebet mit Ver570
kündung der Heiligkeit Gottes und der Erlösungshoffnung. Schlußteil des tägl. Gebets und Gebet bei der Bestattung und an Gedenktagen der Verstorbenen. Kaftan – arab., langer geknöpfter Oberrock der orthodoxen Juden. Kischkes – jid., gefüllter Rindsdarm, gekocht oder gebraten. Knisches – jid., gefüllte »Mehlspeise«, salzig oder süß, bei der es sich um Nudel-, Hefe-, Strudel-, Kartoffel- oder Kuchenteig handeln kann. Kol Nidre – hebr., wörtlich »alle Gelübde«, Anfangsworte des jüd. Gebets, das am Vorabend des Versöhnungstages (Jom Kippur) den Gottesdienst in der Synagoge einleitet. koscheres Essen – hebr., den jüdischen Speisegesetzen entsprechend. Kräppelach – jid., Teigtaschen mit Fleisch gefüllt und in Wasser gekocht. An besonderen Feiertagen (Purim) als Suppeneinlage. Masel tow – hebr., wörtl. Masal = Stern, Glück ; tow = gut. Glückwunsch. Mazze (Mazza) hebr., ungesäuertes Brot, für Pessach vorgeschrieben. (Deut. 16, 3). Mizwa – hebr., Gebot Gottes, religiöse Pflicht, gute Tat. Omerzählung – hebr., »Omer« = »Garbe« ; ein Opfer, das vom 16. Tage des Monats Nissan (März-April) im Tempel während 49 Tagen dargebracht wurde. 571
Diese Tage mußten gezählt werden und während dieser Periode durften keine Trauungen vorgenommen werden. Ouija-Brett – herzförmiges Brett, auf dem bei spiritistischen Sitzungen das Medium die Mitteilungen niederschreibt. Pessach – hebr., wörtlich »Vorüberschreiten, Verschonung«. Nationales Fest, wird zu Beginn des Frühjahrs zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten gefeiert. »Fest der ungesäuerten Brote.« »Sechs Tage sollst du Ungesäuertes essen und am siebenten Tag ist Festversammlung dem Ewigen deinem Gotte.« (Deut. 16, 8). Purim – hebr., Freudenfest anläßlich der Errettung der jüdischen Diaspora im Perserreich. (Buch Esther.) Quorum – lat., die Mindestzahl von 10 männlichen Juden, deren Anwesenheit und Beteiligung beim Gottesdienst oder bei Trauungen, Beschneidungen erforderlich ist. »Wenn zehn zusammen beten, so ist Gottes Gegenwart mit ihnen.« (Talmud) Radzyn – Ort in Russisch-Polen, Sitz einer chassidischen »Dynastie«. Rosch haschana – hebr., »Anfang des Jahres«. Neujahrsfest. 1. Tischri, erster der zehn Bußtage. Sabbatai Zevi (Zwi) (1626–1676), jüd. Schwärmer. Gab sich für den auf Grund kabbalistischer Verheißung 1648 erwarteten Messias aus ; trat später unter Zwang zum Islam über. Die von ihm ausgelöste Be572
wegung (Sabbatianismus) war trotzdem erfolgreich, hatte noch im 18. Jh. Anhänger und reichte bis in die Zeit der franz. Revolution. Schammes – hebr., Synagogendiener. Schaufäden – Fäden, die nach alttestamentarischer Vorschrift (Num. 15, 38–39 ; Deut. 22, 12) an den vier Zipfeln des Gewandes in Quastenform angebracht werden sollen ; von orthod. Juden noch heute befolgt. Schawuot – hebr., »Wochenfest«, Ernte- und Wallfahrtsfest, im Christentum als Pfingstfest gefeiert. »Und sollst feiern ein Fest der Woche dem Ewigen deinem Gotte, eine Darbringung deiner freiwilligen Gaben deiner Hand.« (Deut. 16,10). Schiwe (Schiwa) sitzen – hebr., Trauerritus nach Todesfällen. Sieben (hebr. schiw’a) Trauertage nach der Bestattung. Sitzen auf niedrigen Schemeln und unbeschuht. Schläfenlocken – nach biblischer Vorschrift darf das Kopfhaar nicht rundherum abgeschnitten werden. (Lev. 19, 27). Schlemihl – jid., Pechvogel, unbeholfener Mensch. Schulchan Aruch – hebr., »Gedeckter Tisch«. Kompendium des jüd. Religionsgesetzes und Rechts in systematischer Anordnung und knappster Form für den praktischen Gebrauch, verfaßt von Josef Caro (1488–1575) in Safed (Galiläa) ; vom 17. Jh. an für die orthodoxe Judenheit maßgebend. Sukkot – hebr. Sukka (Einzahl), »Hütte«. Laubhüttenfest, in Erinnerung an die Wüstenwanderung 573
der Kinder Israel nach dem Auszug aus Ägypten (5. Mose 23, 41), Herbstfest. Sohar – hebr., wörtlich »Lichtglanz«. Hauptwerk der Kabbala ; entwickelt in der Form einer Erläuterung zum Pentateuch ein System kabbalistischer Gotteserkenntnis. Wurde wahrscheinlich von Moses de Leon (gest. 1305) in Spanien verfaßt, galt zuerst als Werk des Rabbi Simon ben Jochai. Talmud – hebr., wörtlich »Belehrung, Lehre, Studium«. Nächst der Bibel Hauptwerk des Judentums, eine Zusammenfassung der Lehren, Vorschriften und Überlieferungen der nachbiblischen Jahrhunderte (begonnen im 6. Jh. v. Chr., abgeschlossen im 5. Jh. n. Chr.) Tora – hebr., wörtl. »Lehre«, die Fünf Bücher Mose, der Pentateuch. Torazeiger – Zeiger, meist aus Silber, zum Deuten auf die Schrift des Toratextes bei der Toravorlesung, von einem neben dem Vorlesenden stehenden Gemeindemitglied zu dessen Unterstützung geführt.
Drucknachweis
Die Erzählungen »Der Kabbalist vom East Broadway«, »Eigentum«, »Die Aktentasche«, »Der Bischofsmantel«, »Verloren«, »Der Dritte«, »Ihr Sohn« und »Der Bart« sind auf deutsch zuerst in dem Band Der Kabbalist vom East Broadway erschienen ; München, Wien : Carl Hanser Verlag 1976. Titel der amerikanischen Originalausgabe : A Crown of Feathers, New York : Farrar, Straus & Giroux 1973. »Späte Liebe«, »Die Verehrerin«, »Die Hexe«, »Sam Palka und David Wischkower« und »Die Geschichte zweier Schwestern« sind dem Band Leidenschaften. Geschichten aus der neuen und der alten Welt entnommen ; München, Wien : Carl Hanser Verlag 1977. Titel der amerikanischen Originalausgabe : Passions, New York : Farrar, Straus & Giroux 1975. Die Geschichten »Eine Nacht in Brasilien« und »Der Autobus« stammen aus der Sammlung Old Love ; München, Wien : Carl Hanser Verlag 1985. Titel der Originalausgabe : Old Love, New York : Farrar, Straus & Giroux 1979. © 1966, 1975, 1977, 1978, 1979 by Isaac B. Singer. Die Erzählungen »Allein«, »Die Cafeteria«, »Ein Scherz«, »Geheime Kräfte« und »Drei Begegnungen«, hier erstmals in deutscher Sprache vorgelegt, 575
sind dem Band Collected Stories entnommen ; New York : Farrar, Straus & Giroux 1982. © Carl Hanser Verlag, München, Wien. Die Geschichte »Verwirrt«, ebenfalls zum erstenmal in deutscher Übersetzung, findet sich auf englisch in dem Band The Image and other Stories ; New York : Farrar, Straus & Giroux 1985. © 1965, 1969, 1973, 1980, 1981, 1982, 1983, 1984, 1985 by Isaac B. Singer. © Carl Hanser Verlag, München, Wien.
Inhaltsverzeichnis
Der Kabbalist vom East Broadway Eigentum . . . . . . . . . . . . . . Die Aktentasche . . . . . . . . . . Der Bischofsmantel . . . . . . . . . Verloren . . . . . . . . . . . . . . . Der Dritte . . . . . . . . . . . . . . Ihr Sohn . . . . . . . . . . . . . . . Der Bart . . . . . . . . . . . . . . . Späte Liebe . . . . . . . . . . . . . Die Verehrerin . . . . . . . . . . . Die Hexe . . . . . . . . . . . . . . Sam Palka und David Wischkower Die Geschichte zweier Schwestern Eine Nacht in Brasilien. . . . . . . Der Autobus . . . . . . . . . . . . Allein . . . . . . . . . . . . . . . . Die Cafeteria . . . . . . . . . . . . Ein Scherz . . . . . . . . . . . . . . Geheime Kräfte . . . . . . . . . . . Drei Begegnungen . . . . . . . . . Verwirrt . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 5 . 17 . 35 . 73 . 93 113 135 153 167 193 223 265 289 321 347 395 413 443 477 505 531
Wahnsinns Geschichten von Isaac Bashevis Singer sind am 20. September 1986 als einundzwanzigster Band der Anderen Bibliothek bei der Crono Verlagsgesellschaft m.b.H. in Nördlingen erschienen. Dieses Buch wurde in der Werkstatt von Franz Crono in Nördlingen aus der Korpus Bodoni Monotype gesetzt und auf einer Condor-Schnellpresse gedruckt. Das holzfreie mattgeglättete 80g/qm Werkdruckpapier stammt aus der Papierfabrik Niefern. Den Einband besorgte die Buchbinderei G. Lachenmaier in Reutlingen. 13.–18. Tausend, Sept. 1986. ISBN 3891902212. Von jedem Band der Anderen Bibliothek gibt es eine Vorzugsausgabe mit den Nummern 1–999. Informationen bietet das zu jedem Band der Anderen Bibliothek erscheinende Magazin.