Die Welt der Zukunft hat das Problem der Unsterblichkeit gelöst. Aber die Unsterblichkeit wird nicht wahllos allen Mens...
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Die Welt der Zukunft hat das Problem der Unsterblichkeit gelöst. Aber die Unsterblichkeit wird nicht wahllos allen Menschen verliehen – sie muß durch hervorragende Leistungen erworben werden. Der Pfad zur Unsterblichkeit ist steil. Ein falscher Schritt kann dazu führen, daß eine schwarze Limousine vorfährt, und ein Beauftragter vollstreckt das Todesurteil. Grayven Warlock, ein Bürger der Weltmetropole Clarges, hat das schwerste aller Verbrechen begangen – er hat einen Menschen getötet. Warlock weiß, daß er der Bestrafung nur entgehen kann, wenn es ihm gelingt, wieder in die Kaste der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Die Story seiner verzweifelten Flucht führt durch das Labyrinth einer phantastischen Welt, in der die Bewohner nach der Unsterblichkeit streben – und blind für das höchste Ziel der Menschheit sind: die Sterne.
JACK VANCE
START INS UNENDLICHE Utopischer Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3111 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe TO LIVE FOREVER Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1956 by Jack Vance Printed in Germany 1968 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt, Dr. Franz Paul Datterer o.H.G., Freising
1 Clarges, die letzte Metropole der Welt, erstreckte sich fünfzig Kilometer weit am Nordufer des Chant, bevor der Fluß zur Mündung hin breiter wurde. Clarges war eine alte Stadt; zwei oder gar drei Jahrtausende alte Gebäude und Denkmäler waren hier nicht selten. Die Bürger der Stadt schätzten diese Erinnerungen an die Vergangenheit, die ihnen das Gefühl einer beruhigenden Kontinuität gaben. Da sie aber in einem abgewandelten Wettbewerbssystem lebten, fühlten sie sich ständig zu Neuerungen gedrängt; Clarges bestand deshalb aus einer seltsamen Mischung zwischen alt und neu, und seine Bürger litten unter verständlichen Gefühlskonflikten. Die Welt hatte noch nie eine Stadt gesehen, die großartiger oder schöner als Clarges gewesen wäre. In der City erhoben sich Türme wie schlanke Turmalinkristalle, deren Spitzen die Wolken berührten; zu ihren Füßen lagen Kaufhäuser, Theater und Wohnblocks, dann folgten die Vororte und das Industriegebiet, an das sich ein breiter Streifen unbebauten Landes anschloß, der bis zum Horizont reichte. Überall herrschte Bewegung, waren menschliche Anstrengungen zu spüren. Eine Million Fenster blitzte in der Sonne auf, unzählige Fahrzeuge drängten sich auf den breiten Boulevards, das Summen zahlreicher Flugzeuge erfüllte die Luft. Männer und Frauen gingen rasch durch die Straßen, schritten zielbewußt aus und vergeudeten keine Sekunde. Auf dem gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich das Sumpfland, ein unfruchtbarer öder Landstrich,
dessen einzige Daseinsberechtigung darin bestand, daß er die zweihundertfünfzig Hektar von Carnevalle beherbergte. Vor diesem düsteren Hintergrund blühte Carnevalle wie eine Blume auf einer Abraumhalde; seine zweihundertfünfzig Hektar boten Vergnügungen und Abwechslung für jeden Geschmack. In Clarges war das Leben auf die Tätigkeiten der Menschen beschränkt, aber Carnevalle schien selbst zu leben. Morgens herrschte hier noch tiefes Schweigen. Gegen Mittag waren vereinzelte Schritte und der Lärm der Reinigungsmaschinen zu hören. Nachmittags erwachte Carnevalle wie ein frisch ausgeschlüpfter Schmetterling, der zitternd die Flügel bewegt. Bei Sonnenuntergang folgte eine kurze Pause, aber dann begann die lange Nacht der ungezählten Vergnügungen. Pavillons glühten in allen Farben des Regenbogens; Pagoden schienen in flüssiges Feuer gehüllt; aromatische Düfte erfüllten die Nacht, unter deren Sternen sich Hunderttausende durch die Straßen und Gassen von Carnevalle bewegten. Die Geräusche aus den Vergnügungsstätten, die Stimmen der Ausrufer und der Klang unzähliger Musikinstrumente vermengten sich mit erschrockenen, überraschten oder entzückten Schreien der Besucher. Die Feiernden drängten sich durch den Lärm und die Musik; sie atmeten Düfte und Wohlgerüche aller Art; sie trugen Kostüme und Masken; überlieferte Sitten und natürliche Zurückhaltung galten hier nichts und wurden mit Vergnügen ignoriert. Um Mitternacht erreichte der Tumult seinen Höhepunkt. Alle Schranken fielen, und erst gegen Morgen stolperten die letzten Männer und Frauen über-
müdet und erschöpft durch die Zugänge des Röhrensystems, das sie in ihre Villen und Appartements zwischen Balliasse und Brayertown zurückbeförderte. Alle fünf Phylen kamen nach Carnevalle: Brut, Keil, Dritte, Rand und Amaranth – aber auch die Glarks. Dort begegneten sie einander ohne Neid; sie suchten Carnevalle auf, um die Mühen und Anstrengungen ihres täglichen Lebens zu vergessen. Sie kamen, sie gaben hier ihr Geld aus, und sie verbrachten in dieser Atmosphäre einen Teil ihres Lebens.
2 Der Mann mit der Bronzemaske stand auf einem Podium vor dem Haus des Lebens. Über ihm leuchteten Unendlichkeitssymbole auf; hinter ihm hing das vergrößerte Abbild einer idealen Lebenskarte, auf der sich die hellrote Lebenslinie in einer perfekten Halbparabel durch die Grenzen der Phylen zog. Der Mann wandte sich eindringlich an die Vorübergehenden. »Freunde, welche Phyle ihr auch immer erreicht habt, hört mir zu! Ist euch das Leben einen Florin wert? Wollt ihr ewig leben? Kommt ins Haus des Lebens! Ihr werdet Didaktor Moncure und seine bemerkenswerten Methoden segnen!« Er betätigte einen Schalter; aus den Lautsprechern am Rand des Podiums drang ein leises Summen und Pfeifen. »Steigung! Steigung! Kommt ins Haus des Lebens und laßt eure Zukunft von Didaktor Moncure analysieren! Lernt die Methoden und die richtige Technik! Nur einen Florin für das Haus des Lebens!« Das Geräusch aus den Lautsprechern wurde allmählich schriller und unerträglich. Der Mann mit der Bronzemaske hatte eine beruhigend wohlklingende Stimme; wenn das Geräusch die Spannungen des täglichen Lebens imitierte, bedeuteten der Mann und seine Stimme Sicherheit und Selbstbeherrschung. »Jeder besitzt ein Gehirn, das sich kaum von dem seines Nachbarn unterscheidet. Warum sind also einige von uns Brut, andere Keil, wieder andere Dritte, Rand und Amaranth?« Er beugte sich nach vorn, als habe er eine dramatische Enthüllung zu machen. »Das Geheimnis des Le-
bens ist die richtige Technik! Didaktor Moncure lehrt diese Technik! Ist die Unendlichkeit einen Florin wert? Kommt alle ins Haus des Lebens!« Eine Anzahl Vorübergehender bezahlte den Eintritt und drängte sich durch das hohe Portal. Das Haus war endlich voll. Der Mann mit der Bronzemaske stieg vom Podium. Eine Hand berührte seinen Arm; er wandte sich ruckartig um. Der andere wich zurück. »Waylock, du hast mich erschreckt! Ich bin's – Basil.« »Das sehe ich«, antwortete Gavin Waylock kurz. Basil Thinkoup hatte sich als mystischer Vogel verkleidet, was nicht recht zu seiner untersetzten Gestalt paßte. Falls er Waylocks unfreundliche Art bemerkte, übersah er sie geflissentlich. »Ich dachte, du würdest von dir hören lassen«, fuhr Thinkoup fort. »Seit unserem letzten Gespräch über...« Waylock schüttelte den Kopf. »Danke, für diesen Job bin ich nicht geeignet.« »Aber deine Zukunft!« protestierte Basil. »Es ist wirklich paradox, daß du andere Menschen anfeuerst und selbst ein Glark* bleibst.« Waylock zuckte mit den Schultern. »Alles zu seiner Zeit.« »Aber inzwischen verstreichen wertvolle Jahre, und deine Lebenslinie verläuft flach!« »Ich habe meine Pläne; ich bereite mich vor.« * Glark: Menschen, die nicht nach den Regeln des GleicheChancen-für-alle-Systems leben – etwa 20 Prozent der erwachsenen Bürger von Clarges.
»Während andere vorankommen! Du enttäuschst mich, Gavin!« »Wenn du schweigst, verrate ich dir ein Geheimnis«, sagte Waylock. Basil Thinkoup starrte ihn an. »Bin ich nicht vertrauenswürdig? Sieben Jahre lang habe ich...« »Einen Monat weniger als sieben Jahre. Sobald dieser Monat zu Ende ist, lasse ich mich als Brut registrieren.« »Wunderbar! Komm, wir trinken ein Glas Wein auf deinen Erfolg!« »Ich kann jetzt nicht fort.« Basil schüttelte den Kopf und schwankte dabei; er war offensichtlich angeheitert. »Du bist mir ein Rätsel, Gavin. Sieben Jahre lang hast du...« »Fast sieben Jahre.« Thinkoup blinzelte. »Sieben Jahre hin, sieben Jahre her – du bist mir trotzdem ein Rätsel.« »Ich bin durchaus nicht geheimnisvoll«, widersprach Waylock. »Du müßtest mich nur besser kennen.« Basil reagierte nicht darauf. »Du mußt mich demnächst in der Beruhigungsanstalt besuchen«, verlangte er. »Ich wende in letzter Zeit neue Methoden an«, erklärte er dann flüsternd. »Wenn sie Erfolg haben, können sie uns beiden weiterhelfen, und ich hätte endlich eine Möglichkeit, einen Teil meiner Schuld zu begleichen.« Waylock lachte und antwortete: »Die geringste aller Schulden, Basil.« »Keineswegs!« rief Thinkoup aus. »Wo wäre ich, wenn du mir nicht den richtigen Weg gewiesen hättest? Vermutlich noch an Bord der Amprodex.«
Waylock machte eine wegwerfende Handbewegung. Vor sieben Jahren waren er und Basil an Bord des Frachters Amprodex Kameraden gewesen. Hesper Wellsey, der Kapitän des Schiffs, war Keil und hatte trotz größter Anstrengungen nie den Aufstieg in Dritte geschafft. Er war nicht für die zehn Jahre dankbar, die ihm Keil schenkte, sondern steigerte sich immer mehr in seine Verbitterung hinein. Und als der Frachter sich eines Tages wieder Clarges näherte, hatte der Kapitän einen Tobsuchtsanfall bekommen; er hatte nach einer Feueraxt gegriffen, den Schiffsingenieur erschlagen, die Fenster der Messe zertrümmert und war schließlich in den Maschinenraum geklettert, um den Reaktor zu zerstören. Waylock hatte den Kapitän aufhalten wollen, aber beim Anblick der gräßlichen Axt hatte ihn der Mut verlassen. Und dann war Basil Thinkoup vor dem Tobenden aufgetaucht. Wellsey hatte die Axt geschwungen, ohne aber Basil zu treffen, der geschmeidig auswich und dabei ununterbrochen auf den Kapitän einsprach. Dann setzte die natürliche Reaktion ein, und Wellsey brach bewußtlos zusammen. Waylock hatte ihn nachdenklich angestarrt. »Das reinste Wunder, Basil! Du wärest der richtige Mann für eine Beruhigungsanstalt!« Basil hatte die Stirn gerunzelt. »Ist das dein Ernst?« »Selbstverständlich.« Basil hatte seufzend den Kopf geschüttelt. »Ich bin nicht dafür ausgebildet.« »Du brauchst keine Ausbildung, sondern nur Beweglichkeit und gute Lungen«, hatte Waylock ihm erklärt. »Die Verrückten jagen dich herum, bis sie selbst erschöpft sind. Dort kannst du es weit bringen,
Basil Thinkoup!« Basil hatte ihn zweifelnd angestarrt. »Glaubst du wirklich?« »An deiner Stelle würde ich es unbedingt versuchen.« Basil hatte es versucht und war schon nach fünf Jahren in Keil eingebrochen. Seine Dankbarkeit gegenüber Waylock kannte keine Grenzen. Jetzt klopfte er Gavin auf die Schulter. »Du mußt zu mir in die Beruhigungsanstalt kommen! Immerhin bin ich dort Assistent des Direktors – uns fällt schon etwas ein, das dir Steigung sichert. Zunächst nur einfache Aufgaben, aber im Laufe der Zeit bekommst du weitere Entwicklungsmöglichkeiten.« Waylock lachte spöttisch. »Als Sandsack für Verrückte, Basil? Das ist nichts für mich.« Er stieg wieder auf sein Podium und blieb unter den leuchtenden Unendlichkeitssymbolen stehen. Seine Stimme übertönte den Lärm der Menge. »Steigung für jeden! Didaktor Moncure enthüllt das Geheimnis des Lebens! Lest seine Broschüren, nehmt seine Mittel, laßt euch zu Übungsstunden eintragen! Steigung, Steigung, Steigung!«
3 Das Wort ›Steigung‹ hatte damals eine besondere Bedeutung, denn es war der Maßstab für den Aufstieg eines Menschen durch seine Phyle; es enthielt eine Bewertung seiner Vergangenheit und bestimmte den Zeitpunkt seines Hinscheidens. Steigung bezeichnete den Winkel der Lebenslinie eines Menschen – eine Funktion seiner Verdienste in Relation zu seinem Lebensalter. Das System beruhte auf dem vor über dreihundert Jahren verabschiedeten Gleichheitsgesetz, das zur Zeit des Malthusischen Chaos entstanden war, als die Erdbevölkerung sich jeweils innerhalb weniger Jahre verdoppelte. Theoretisch war das dadurch entstandene Problem lösbar: Geburtenkontrolle, Erzeugung synthetischer Nährstoffe, Urbarmachung der Wüsten und Euthanasie für alle, die unter einem bestimmten Standard blieben. Aber diese Theorie ließ sich nicht in die Tat umsetzen, weil sie allzu viele Gegner aus verschiedenen Lagern fand. Während das Grand-UnionInstitut seine Methoden entwickelte, die später das Alter besiegen sollten, brachen die ersten Hungerunruhen aus – das Jahrhundert des Malthusischen Chaos hatte begonnen. Die Welt taumelte in eine unvorstellbare Katastrophe. Städte wurden geplündert und gebrandschatzt; wilde Horden durchstreiften das Land. Nur die Stärksten überlebten; bald gab es mehr Leichen als Lebende. Die Erdbevölkerung wurde auf ein Viertel reduziert; Rassen und Nationalitäten vermischten sich; politische Einheiten wurden bedeutungslos und
machten Wirtschaftsräumen Platz. Eines dieser Gebiete, die Region Clarges, hatte verhältnismäßig wenig gelitten – die Stadt wurde zur Hochburg der Zivilisation. Sie riegelte notwendigerweise ihre Grenzen ab, aber die wilden Horden warfen sich gegen die Elektrobarrieren, als könnten sie das Hindernis durch bloße Willensanstrengung überwinden. Ihre verkohlten Leichen hingen zu Tausenden an den Hochspannungsdrähten, und die Nomaden begannen zu dieser Zeit, Clarges und seine Bürger leidenschaftlich zu hassen. Die Stadt beherbergte das Grand-Union-Institut, dessen Forscher die begonnene Arbeit fortsetzten, bis das Gerücht auftauchte, sie hätten ein Mittel zur Lebensverlängerung gefunden. Dieses Gerücht entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn die Wissenschaftler hatten ein Verfahren entwickelt, das ein ewiges Leben garantierte. Nach Bekanntgabe der Forschungsergebnisse kam es zu Ausschreitungen empörter Massen, bis endlich das Gleichheitsgesetz verabschiedet wurde, das Verdienste um die Öffentlichkeit mit zusätzlichen Lebensjahren belohnte. Fünf Phylen, die Verdienststufen entsprachen, wurden geschaffen: Erste, Zweite, Dritte, Vierte, Fünfte. Erste erhielt im Volksmund die Bezeichnung Brut; Zweite war als Keil bekannt; Dritte hieß gelegentlich auch Arrant; Vierte wurde als Rand umschrieben; und als die Wissenschaftler des Instituts die Amaranth-Gesellschaft ins Leben riefen, bekam Fünfte den Namen Amaranth. Das Gleichheitsgesetz bestimmte die Voraussetzungen für den Aufstieg. Kinder wurden nicht als Angehörige der Phyle ihrer Eltern geboren, sondern
konnten sich mit sechzehn Jahren als Brut registrieren lassen, wodurch sie in Zukunft den Bestimmungen des Gleichheitsgesetzes unterworfen waren. Falls sie es vorzogen, sich nicht registrieren zu lassen, lebten sie durchschnittlich zweiundachtzig Jahre, ohne Aussichten auf Lebensverlängerung zu haben – als ›Glarks‹ ohne besondere gesellschaftliche Stellung. Die Lebenserwartung eines Angehörigen der Brut entsprach laut Gesetz der durchschnittlichen Lebensdauer eines Außenstehenden – etwa zweiundachtzig Jahre. Der Durchbruch zu Keil brachte eine Spezialbehandlung, die den Alterungsprozeß aufhielt und weitere zehn Lebensjahre bedeutete; Dritte verlängerte das Leben wieder um sechzehn Jahre, und Amaranth brachte endlich die größte Belohnung. Damals hatte die Region Clarges bereits zwanzig Millionen Einwohner, während das erstrebenswerte Maximum, das bald erreicht sein würde, bei fünfundzwanzig Millionen lag. Was sollte also mit den Angehörigen einer Phyle geschehen, die das zulässige Höchstalter überschritten? Das Problem ließ sich vermutlich nicht durch Auswanderung lösen, denn Clarges war überall verhaßt, und wer einen Fuß über seine Grenzen setzte, unterschrieb praktisch ein Todesurteil. Trotzdem wurde ein Auswanderungsminister ernannt, der sich mit diesem Problem befassen sollte. Der Auswanderungsminister erschien wenig später vor dem Prytaneon, um seinen Bericht zu erstatten. Außer Clarges gab es auf der Erde nur noch fünf andere Gebiete, in denen eine Art Zivilisation bestand: Kypre, Sous-Ventre, das Imperium Godwan, Singhalien und Nova Roma. Eine Auswanderung
dorthin war nur möglich, wenn das Prinzip der Gegenseitigkeit gewahrt blieb, so daß dieses Verfahren offenbar undurchführbar war. Selbstverständlich konnte Clarges auch seine Grenzen gewaltsam ausweiten, bis die Region eines Tages die ganze Erde umfaßte. Dadurch würde das eigentliche Problem aber nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben. Das Prytaneon beriet lange und änderte schließlich das Gleichheitsgesetz. Der Auswanderungsminister erhielt den Auftrag, die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers zu verwirklichen – er war also dafür verantwortlich, daß jeder Bürger, der das zulässige Höchstalter seiner Phyle erreicht hatte, unauffällig beseitigt wurde. Das Gleichheitsgesetz trat mit dieser Ausführungsbestimmung in Kraft. Das System war von Anfang an erfolgreich und brachte Clarges ein Goldenes Zeitalter, in dem Wissenschaft, Kunst, Handwerk und Technik zu ungeahnter Blüte gelangten. Im Laufe der Jahre wurde das Gleichheitsgesetz mehrmals abgeändert. Das Höchstalter der Angehörigen einer Phyle hing jetzt von verschiedenen Faktoren ab: Produktionsindex, Bevölkerung der jeweiligen Phyle, Anteil der Glarks an der Gesamtbevölkerung und anderen Variablen. Die Auswertung und Berücksichtigung dieser Daten wurde einem riesigen Elektronenrechner übertragen, der die Bezeichnung ›Aktuarius‹ erhielt. Die Maschine gab auf Wunsch auch gedruckte Lebenskarten aus, die dem Antragsteller zeigten, ob seine Lebenslinie sich der Grenze der nächsthöheren Phyle oder dem vertikalen Terminator näherte. Sobald die Lebenslinie den Terminator er-
reichte, erfüllten der Auswanderungsminister und seine Assassinen ihre gesetzliche Pflicht. Dieses Verfahren war brutal, aber unparteiisch – und notwendig. Das System besaß allerdings auch einige Nachteile, denn die besten Köpfe verlegten sich auf bekannte Gebiete, anstatt sich neuen zuzuwenden, auf denen vielleicht keine Karrierepunkte zu sammeln waren. Lebensangst und Enttäuschung waren logische Begleiterscheinungen des Aufstiegs durch die Phylen; die Beruhigungsanstalten füllten sich mit Menschen, die vor der Wirklichkeit in eine Scheinwelt geflüchtet waren. Binnen weniger Generationen war das Bedürfnis nach mehr und mehr Steigung Teil des Gefühlsinhalts der Bürger von Clarges geworden, die ihr Leben nur auf dieses eine Ziel ausrichteten. Freizeitbeschäftigungen verschwanden, gesellschaftliche Veranstaltungen wurden kaum noch besucht, aber Schulen und Fortbildungskurse verzeichneten ungeheuren Andrang. Dieser Lebensstil wäre ohne irgendein Sicherheitsventil unmöglich gewesen, aber zum Glück bot Carnevalle jedem die Möglichkeit, den Ernst des Lebens einige Stunden lang zu vergessen und sich unbeschwert im Kreise Gleichgesinnte zu amüsieren. Selbst die Amaranth kamen gelegentlich hierher, um maskiert und unerkannt an dem fröhlichen Treiben teilzunehmen, bei dem es keine Unterschiede zwischen den Phylen gab. Nach Carnevalle kam auch die Jacynth Martin – seit drei Jahren Amaranth und erst vor zwei Wochen aus der Klausur entlassen.
Die Jacynth Martin hatte von Brut aus drei Versuche unternommen, in eine höhere Phyle aufzusteigen: zuerst als Expertin für mittelalterlichen Chorgesang, dann als Cellistin und schließlich als Kritikerin für zeitgenössische Musik. Ihre Lebenslinie war dreimal steil angestiegen, um dann jeweils wieder flach zu verlaufen. Mit achtundvierzig hatte sie den Entschluß gefaßt, die gesamte Entwicklung der Musik von Anfang an zu ihrem Fachgebiet zu machen. Ihre Lebenslinie stieg unaufhaltsam, und mit vierundfünfzig schaffte sie den Durchbruch zu Keil. (Dies war nun ihr statisches Alter, bis sie entweder die nächsthöhere Phyle erreichte oder bis die schwarze Limousine vor ihrer Tür hielt.) Sie befaßte sich ausschließlich mit zeitgenössischer Musik und entwickelte eine interessante Theorie musikalischer Symbolgehalte. Diese Arbeit brachte ihr im Alter von siebenundsechzig Jahren den Aufstieg in Dritte. Die merkwürdige und in vieler Beziehung außerordentliche Kultur des Inselkönigreichs Singhalien hatte schon früher ihre Neugier geweckt, und sie bemühte sich jetzt, alle Hindernisse zu überwinden, um dort forschen und arbeiten zu können. Sie bereitete sich sorgfältig vor, lernte die Sprache, machte sich mit den Sitten des Landes vertraut, verschaffte sich die entsprechende Kleidung und ließ sich sogar die Haut färben. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihr schließlich auch, einen Aircar mit Eigenantrieb zu erwerben, den sie für ihr Unternehmen benötigte, da die in Clarges üblichen Luftfahrzeuge mit ausgestrahlter Energie arbeiteten, deren Reichweite an den
Grenzen der Region endete. Nachdem sie alle Vorbereitungen abgeschlossen hatte, begann sie ihre Expedition zu den Barbaren, bei denen sie sich ständig in Lebensgefahr befinden würde. In Kandesta trat sie als Zauberin auf und machte sich mit Hilfe einiger wissenschaftlicher Tricks bald einen guten Namen. Sie setzte ihre Studien fort, und als der Grande des Imperiums Godwan ihr anbot, sie dürfe sein Reich, das noch kein Fremder gesehen hatte, unter seinem persönlichen Schutz besuchen, nahm sie begierig an, verschob aber ihren Besuch auf einen späteren Zeitpunkt, um nach Clarges zurückzukehren und dort einige Kompositionen aufführen zu lassen, die das Ergebnis ihrer Forschungen in Singhalien waren. Die öffentliche Aufführung wurde zu einem persönlichen Triumph, der ihr im Alter von zweiundneunzig Jahren den Aufstieg in Rand sicherte. Nun hatte sie etwa dreißig Jahre Zeit, die Grundlagen für die Aufnahme in Amaranth zu legen, aber wo andere in ihrer Lage sorgfältig geplant und gearbeitet hätten, faßte sie den raschen Entschluß, die Einladung des Granden anzunehmen und das Imperium Godwan zu bereisen. Viereinhalb Jahre später war sie einem Nervenzusammenbruch nahe und kehrte mit letzter Kraft nach Clarges zurück. Dort brauchte sie fast zwei Jahre, um sich von dem Schock ihrer Erlebnisse in einem Land zu erholen, in dem Leben und Freiheit des Individuums nichts galten. In den folgenden Jahren schrieb und veröffentlichte sie nacheinander ihre siebenteilige Studie der Kunst des Imperiums Godwan, die mit großem Beifall aufgenommen wurde.
Mit einhundertvier Jahren gelang ihr auf diese Weise der Durchbruch in die höchste Phyle; sie wurde eine Amaranth und hieß jetzt ›die Jacynth Martin‹, nachdem sie die Klausur hinter sich gebracht hatte, aus der sie als neunzehnjähriges Mädchen hervorging. Die neue Jacynth war tatsächlich ein junges Mädchen, nicht nur eine künstlich verjüngte Greisin, besaß aber Persönlichkeit, Charakterzüge und Erinnerungen der alten Jacynth Martin. An diesem Abend trug sie ein Kostüm aus silberglänzenden Schuppen, das ihren schlanken Körper freizügig enthüllte und ihr entfernt das Aussehen eines exotischen Fisches gab. Aschblondes Haar fiel in weichen Wellen auf die bloßen Schultern herab und umrahmte ein zartes Gesicht, dessen ausdrucksvolle Augen verrieten, daß Die Jacynth Martin einem klassischen Ideal entsprach, das einen gesunden Geist in einem gesunden Körper forderte. Sie hatte ihren Aircar in der Garage gelassen und war ohne Begleitung nach Carnevalle gekommen, wo sie jetzt langsam ohne festes Ziel durch die Straßen der gigantischen Amüsierstadt ging. Sie ließ sich mit der Menge treiben und blieb erst vor dem Haus des Lebens stehen, dessen Ausrufer ihre Aufmerksamkeit erregte, weil seine Stimme sie an den Tonfall des Hohenpriesters von Tonpengh erinnerte. »Freunde, was tut ihr für eure Steigung?« rief Waylock. »Kommt ins Haus des Lebens! Didaktor Moncure kann jedem helfen! Warum noch mit Stunden geizen, wenn Didaktor Moncure euch Jahre geben kann? Ein Florin, sage ich, nur ein Florin! Ist das zuviel für die Ewigkeit? Ein lächerlicher Florin für das Geheimnis des Lebens!«
Einige Passanten waren stehengeblieben; Waylock wies auf einen untersetzten Mann »Sie! Wann steigen Sie in Rand auf?« »Wahrscheinlich nie. Ich bin und bleibe Brut – als Rollkutscher.« »Sie sehen aber wie Dritte aus, denn dort gehören Sie hin. Machen Sie den Versuch mit Didaktor Moncures Ausbildung, dann können Sie Ihren Assassinen in zehn Wochen Lebwohl sagen... Sie!« Er wandte sich an eine ältere Frau. »Wie steht es mit Ihren Kindern?« »Die jungen Teufel sind mir schon voraus«, antwortete die Frau lachend. »Hier erfahren Sie, wie Sie ihnen die Absätze zeigen können! Didaktor Moncure hat bereits zweiundvierzig Amaranth unter seinen ehemaligen Schülern.« Sein Blick fiel auf das Mädchen im silberglänzenden Kostüm. »Sie – die schöne junge Dame! Haben Sie keine Lust, Amaranth zu werden?« Die Jacynth lachte. »Danke, das interessiert mich nicht.« Waylock hob verblüfft die Hände. »Nein? Und weshalb nicht?« »Vielleicht will ich lieber als Glark leben.« »Dann könnte Ihr Leben hier eine Wende zum Besseren nehmen. Ist der Versuch nicht einen einzigen Florin wert?« Als Die Jacynth lächelnd mit den Schultern zuckte, wandte er sich wieder an die übrigen Zuhörer. »Treten Sie ein, meine Herrschaften, wenn Sie heute Didaktor Moncure begegnen wollen! Beeilt euch, Freunde – die Vorstellung beginnt in wenigen Sekunden!« Als das Klingelzeichen ertönte, das Didaktor Mon-
cures Auftritt ankündigte, sprang Waylock zu Boden. Für heute war er frei, denn dies war die letzte Vorstellung des Abends, da das Haus des Lebens in den Morgenstunden wegen Besuchermangel schloß. Er drängte sich durch die Menge und suchte nach einem silbernen Kostüm. Da, dort drüben! Gavin ging darauf zu und stellte sich der schönen Unbekannten in den Weg. Sie schien nicht überrascht zu sein, ihn plötzlich vor sich zu sehen. »Gehen die Geschäfte im Haus des Lebens so schlecht, daß Didaktor Moncure seine Schergen auf Kundensuche schicken muß?« fragte sie mit einem Lächeln. Waylock schüttelte den Kopf. »Von jetzt an bis morgen abend bin ich mein eigener Herr«, erklärte er ihr. »Aber du verkehrst doch sonst in höchsten Kreisen – warum also dieses plötzliche Interesse an einem gewöhnlichen Glark-Mädchen?« »Gewöhnlich ist nicht gerade der richtige Ausdruck«, widersprach Gavin. »Du bist wirklich eine Schönheit – ist dir das nicht klar?« »Würde ich sonst ein so auffälliges Kostüm tragen?« lautete ihre Gegenfrage. »Und du bist allein in Carnevalle?« Die Jacynth nickte lächelnd. »Darf ich dir meine Begleitung anbieten?« »Selbstverständlich. Ich fürchte nur, daß du dich in meiner Gesellschaft bald langweilen wirst.« »Dieses Risiko nehme ich gern auf mich«, versicherte Waylock ihr. »In welcher Richtung sollen wir weitergehen?« »Ich habe keine bestimmte Vorstellung. Ich wollte
eigentlich vor allem die Menschen beobachten und die Atmosphäre dieser Stadt auf mich wirken lassen.« »In diesem Fall muß ich also die Wahl treffen. Ich lebe und arbeite hier in Carnevalle, habe aber trotzdem noch längst nicht alles gesehen.« Die Jacynth warf ihm einen überraschten Blick zu. »Du lebst hier – in Carnevalle?« »Ich habe ein Appartement bei den Tausend Dieben; dort wohnen viele, die hier arbeiten.« Sie runzelte die Stirn. »Du bist also ein Berber?« »O nein. Berber stehen außerhalb der Gesetze. Ich bin ein gewöhnlicher Mann, der seine Arbeit tut – ein Glark wie du.« »Und das alles hängt dir nie zum Hals heraus?« Sie wies auf das hektische Treiben unter Tausenden von bunten Lichtern. »Manchmal habe ich es gründlich satt«, gab er zu. »Warum lebst du dann hier? In zwei Minuten kannst du in Clarges sein.« Waylock schüttelte langsam den Kopf. »Ich fahre nur selten nach Clarges«, murmelte er. »Dort komme ich mir immer wie ein Fremder vor...« Er gab sich einen Ruck und deutete auf die glitzernde Fassade des Cafés Pamphylia. »Was hältst du von einer kleinen Erfrischung?« »Mit Vergnügen«, stimmte sie zu. Sie fanden einen Tisch am Rand der Dachterrasse, und Waylock bestellte zweimal Sangre de Dios. Ein Robokellner brachte die Pokale mit der violetten Flüssigkeit und verschwand geräuschlos. »Ein wirklich erfrischender Drink«, stellte Gavin fest. »Er vertreibt jede Müdigkeit.« »Aber ich bin nicht müde.«
Er seufzte. »Ich schon.« Die Jacynth lächelte spöttisch. »Dabei hat die Nacht eigentlich erst begonnen.« »Keine Angst, ich schlafe nicht am Tisch ein.« Er hob seine Maske und leerte den Pokal auf einen Zug. Sie beobachtete ihn nachdenklich. »Du hast mir nicht gesagt, wie du heißt«, sagte sie. »Das ist hier üblich.« »Ich möchte trotzdem deinen Namen wissen.« »Gavin.« »Ich heiße Jacynth.« »Ein hübscher Name.« »Nimm deine Maske ab, Gavin«, verlangte Die Jacynth plötzlich. »Laß mich dein Gesicht sehen.« »Gesichter in Carnevalle bleiben am besten verborgen.« »Das ist unfair, Gavin. Mein Kostüm verbirgt nichts, während du...« »Masken regen die Phantasie an«, stellte Waylock fest. »Solange ich meine trage, könnte ich ein Märchenprinz sein; nehme ich sie aber ab, siehst du nur mein Alltagsgesicht.« »Ich lege keinen Wert auf Märchenprinzen«, versicherte sie ihm. »Komm, nimm die Maske ab!« »Vielleicht später.« »Möchtest du, daß ich dich für häßlich halte?« »Nein, bestimmt nicht.« »Bist du etwa häßlich?« »Hoffentlich nicht.« Die Jacynth lachte. »Du willst mich nur neugierig machen!« »Keineswegs. Ich bin das Opfer eines inneren Zwanges, der mich dazu drängt, meine kleinen Ge-
heimnisse zu bewahren.« »Wie die alten Tuaregs«, murmelte Die Jacynth nachdenklich. Gavin warf ihr einen überraschten Blick zu. »Für ein Glark-Mädchen bist du sehr gebildet«, stellte er fest. »Wir sind überhaupt ein wunderliches Paar«, sagte Die Jacynth. »Zu welcher Phyle gehörst du?« »Glark wie du.« »Aha.« Sie nickte zufrieden. »Mir ist nur etwas an dir aufgefallen.« Waylock starrte sie an. »Was?« »Alles zu seiner Zeit, Gavin.« Sie erhob sich. »Sollen wir jetzt unseren Rundgang machen?« Waylock stand ebenfalls auf. »Wie du willst«, antwortete er. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich wette, daß du mich nicht dorthin begleiten willst, wohin ich gehen möchte.« Waylock lachte. »Ich folge dir überallhin.« »Das sagst du jetzt.« »Du brauchst mich nur auf die Probe zu stellen.« »Gut, komm mit.« Sie ging auf den Boulevard hinaus. Gavin legte einen Arm um ihre Taille und drückte sie an sich. »Du bist ein Wunder«, flüsterte er. »Eine herrliche Blüte, ein zum Leben erweckter Wunschtraum.« »Ah, Gavin«, sagte sie tadelnd, »du bist ein schrecklicher Lügner!« »Ich sage die Wahrheit«, protestierte er. »Wahrheit? Was ist wahr?« »Das weiß niemand.«
Die Jacynth blieb stehen. »Wir werden es bald erfahren – hier steht der Tempel der Wahrheit.« Waylock schüttelte den Kopf. »Auch dort gibt es keine Wahrheit – nur boshafte Narren mit spitzen Zungen.« Sie griff nach seiner Hand. »Komm, Gavin, wir zeigen ihnen, daß wir noch boshafter sein können.« »Warum gehen wir nicht lieber in...« »Gavin! Du hast versprochen, mir überallhin zu folgen.« Waylock nickte zögernd und schritt neben ihr durch das Tempelportal. »Die Nackte Wahrheit oder die Verbrämte Wahrheit?« fragte der Diener am Eingang. »Die Nackte Wahrheit!« sagte Die Jacynth. Waylock wollte protestieren, aber Die Jacynth drohte ihm lächelnd mit dem Zeigefinger. »Denkst du noch an dein Versprechen, Gavin?« »Schön, wenn mir keine andere Wahl bleibt«, murmelte Waylock vor sich hin. »Nach links, bitte«, sagte der Diener. »Komm, Gavin.« Sie ging durch den langen Korridor voraus. »Stell dir vor, jetzt erfährst du endlich genau, was ich von dir halte.« »Du willst nur erreichen, daß ich meine Maske abnehme«, warf Gavin ihr vor. »Selbstverständlich. War das nicht ohnehin deine Absicht? Oder wolltest du mich umarmen, ohne sie zuvor abzulegen?« Ein anderer Diener empfing sie und wies ihnen Umkleidekabinen an. »Sie entkleiden sich hier und hängen sich diese Nummern um den Hals. Das Mikrophon dient dazu, Ihre Kommentare festzuhalten,
die jeweils mit der Nummer des oder der Betreffenden beginnen. Wenn Sie den Tempel verlassen, erhalten Sie eine Aufstellung der Bemerkungen anderer über Ihre Person.« Fünf Minuten später trat Die Jacynth Martin in den großen Saal hinaus. Ihre Bekleidung bestand jetzt nur aus der Nummer 202 an ihrem Hals und einem winzigen Mikrophon in ihrer rechten Hand. Der weitläufige Saal war dick mit Teppichen ausgelegt und angenehm temperiert. Fünfzig oder sechzig nackte Männer und Frauen gingen hier auf und ab oder unterhielten sich miteinander. Gavin Waylock erschien mit der Nummer 98 – ein schlanker, aber trotzdem muskulöser Mann von etwa dreißig Jahren. Sein Haar war dicht und schwarz; die Augen hellgrau und durchdringend; das Gesicht hager, männlich und ausdrucksvoll. Er kam näher und erwiderte ruhig ihren Blick. »Weshalb starrst du mich so an?« fragte er. Die Jacynth wandte sich plötzlich ab. »Wir müssen jetzt unseren Rundgang beginnen, damit die anderen uns beurteilen können.« »Die Kommentare sind oft nicht gerade schmeichelhaft«, stellte Waylock fest und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Du bist allerdings über jede Kritik erhaben.« Er hielt das Mikrophon an den Mund und sprach einige Sätze. »Meine Eindrücke sind jetzt festgehalten.« Sie bewegten sich eine Viertelstunde lang durch den Saal und sprachen mit anderen, die großen Wert darauf zu legen schienen. Dann kehrten sie in die Umkleidekabinen zurück, zogen sich an und nahmen an Ausgang zwei Umschläge in Empfang, auf denen
DIE NACKTE WAHRHEIT stand. Die Umschläge enthielten alle Bemerkungen, die über sie gemacht worden waren – im allgemeinen recht offene und unverschämte Kommentare. Die Jacynth runzelte die Stirn, kicherte, wurde rot und las schließlich amüsiert weiter. Waylock warf einen Blick auf das Papier in seiner Hand und zeigte kaum Interesse daran, bis er plötzlich den Kopf senkte und aufmerksam las: Hier ist ein Gesicht, an das ich mich erinnere, obwohl ich nicht weiß, wann ich es zuletzt gesehen habe. Eine Stimme in meinem Inneren flüstert mir zu: Der Grayven Warlock! Aber dieses Ungeheuer wurde verurteilt und den Assassinen übergeben. Wer ist also dieser Mann? Gavin sah wieder auf. Die Jacynth beobachtete ihn. Er faltete das Papier zusammen und steckte es langsam ein. »Komm, wir gehen«, sagte er nur.
4 Gavin Waylock hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, weil er sich so unglaublich tölpelhaft und leichtsinnig benommen hatte. Es war ihm sieben Jahre lang gelungen, seine Identität geheimzuhalten, aber dann war er dem Zauber eines schönen Gesichts erlegen – und hatte sich in ernste Gefahr gebracht. Die Jacynth konnte nur vermuten, was Waylock in diesem Augenblick empfand. Die Bronzemaske verbarg sein Gesicht, aber seine Finger zitterten, als er das Papier zusammenfaltete und in die Tasche schob. »Fühlst du dich in deiner Eitelkeit getroffen?« wollte sie wissen. Gavin zuckte mit den Schultern. »Ich bin leicht verwundbar«, antwortete er ruhig. »Machen wir eine kleine Pause im Ultra Lazuli?« Sie überquerten die Straße und nahmen zwischen Orchideen auf der Terrasse Platz, wo sie das Treiben der Menge beobachten konnten. Beide schwiegen und waren in Gedanken versunken; der zuvor begonnene Flirt schien plötzlich beendet zu sein. »Hat dir der Tempel der Wahrheit nicht gefallen?« fragte Die Jacynth schließlich. »Er hat mich etwas verblüfft«, antwortete Waylock. »Hör dir das an.« Er las den Absatz vor, der ihn so erschreckt hatte. Sie hörte ohne großes Interesse zu. »Und?« Waylock lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Eigentlich erstaunlich, daß du dich an Ereignisse aus deiner Kindheit erinnerst.« »Ich?« fragte Die Jacynth.
»Nur du hast meine Nummer gekannt. Nachdem wir uns getrennt hatten, habe ich sie umgedreht.« »Ich muß zugeben, daß mir dein Gesicht bekannt vorkam«, erwiderte sie. »Dann hast du mich absichtlich getäuscht«, warf Gavin ihr vor. »Du kannst kein Glark-Mädchen sein, denn vor sieben Jahren hättest du dich noch nicht um Skandale gekümmert. Brut scheidet aus dem gleichen Grund aus. Folglich bist du Keil oder höher – aber in Keil gibt es keine Mädchen mit achtzehn oder neunzehn Jahren.« Die Jacynth zuckte mit den Schultern. »Du besitzt eine blühende Phantasie.« »Wenn du weder Glark noch Brut noch Keil noch Dritte noch Rand bist, mußt du logischerweise Amaranth sein. Deine bemerkenswerte Schönheit ist ein weiterer Beweis für meine Theorie, denn unmodifizierte Gene bringen selten solche Perfektion hervor. Darf ich um deinen Namen bitten?« »Ich bin Die Jacynth Martin.« Waylock nickte. »Meine Schlußfolgerungen waren richtig; deine sind es teilweise. Ich trage in der Tat die Züge des Mannes, der früher Der Grayven Warlock war. Wir sind identisch, denn ich bin sein Relikt.«
5 Sobald ein Amaranth in die höchste Phyle aufgenommen worden war, zog er sich in eine strenge Klausur zurück. Seinem Körper wurden fünf Zellen entnommen, die in Nährlösungen innerhalb weniger Wochen zu perfekten Kopien des Originals herangezüchtet wurden, nachdem sie geringfügig verbessert worden waren. Erhielt eine dieser idealisierten Kopien später das Gedächtnis der ursprünglichen Persönlichkeit, war sie ein vollkommenes Abbild des Betreffenden: ein echtes Surrogat. Während der Entwicklung dieser Surrogate war der Amaranth nie vor Unfällen sicher und lebte deshalb in ständiger Angst. Nach Ende der Klausur hatte er jedoch nichts mehr zu befürchten, denn falls er einen gewaltsamen Tod fand, standen fünf Kopien seiner selbst bereit, die mit gleicher Energie fortsetzten, was er begonnen hatte. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kam es aber vor, daß ein Amaranth während seiner Klausur getötet wurde. Seine unbeseelten Surrogate, die als ›Relikte‹ bezeichnet wurden, entkamen meistens auf eine oder andere Weise und führten in der Außenwelt ein ganz normales Leben, da sie sich nur durch ihre Unsterblichkeit von gewöhnlichen Männern und Frauen unterschieden. Legten sie Wert auf den Aufstieg durch die Phylen, mußten sie sich wie alle anderen registrieren lassen; blieben sie dagegen Glarks, hatten sie den Vorteil ewiger Jugend, mußten aber ständig befürchten, entdeckt und den Vorschriften entsprechend als Brut registriert zu werden.
Gavin Waylock behauptete, er sei ein Relikt. Die Jacynth Martin war andererseits ein Surrogat mit der Persönlichkeit und den Erinnerungen der ursprünglichen Jacynth Martin, deren Leben geendet hatte, sobald die Kopien lebensfähig waren.
6 »Ein Relikt«, wiederholte Die Jacynth nachdenklich. »Der Grayven Warlock... vor sieben Jahren... Für diese kurze Zeitspanne scheinst du bemerkenswert gut entwickelt zu sein.« »Ich bin sehr anpassungsfähig«, erklärte Waylock ihr. »In mancher Beziehung ist das eher hinderlich, denn heutzutage haben nur Spezialisten Erfolg.« Die Jacynth nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Der Grayven Warlock war recht erfolgreich. Übrigens auf welchem Gebiet?« »Journalismus. Er hat den Clarges Direction gegründet.« »Jetzt erinnere ich mich wieder. Der Abel Mandeville vom Clarion war sein Rivale.« »Und sein erbitterter Feind. Eines Abends kam es zu einer Auseinandersetzung, nachdem Der Grayven ihn um seinen Besuch gebeten hatte, durch den ihr Verhältnis geklärt werden sollte. Der Abel wurde tätlich; Der Grayven setzte sich zur Wehr, und Der Abel stürzte dreihundert Meter tief aus einem geöffneten Fenster. Der Grayven wurde als Mörder gebrandmarkt und den Assassinen ausgeliefert, bevor seine Surrogate beseelt waren. An ihm sollte ein Exempel statuiert werden, weil der unglückliche Zwischenfall sich nicht vertuschen ließ. Der Grayven wurde den Assassinen übergeben, obwohl er erst wenige Tage zuvor in die höchste Phyle aufgestiegen war.« »Der Grayven Warlock hätte seine Klausur nicht frühzeitig verlassen dürfen«, stellte Die Jacynth ungerührt fest. »Niemand hat ihn dazu gezwungen, dieses
Risiko einzugehen.« »Der Grayven war impulsiv und ungeduldig; er konnte und wollte sich nicht so lange verborgen halten. Und er hatte nicht mit der Rachgier seiner Feinde gerechnet!« Die Jacynth schüttelte energisch den Kopf. »Wir alle sind Gesetzen unterworfen. Allein die Tatsache, daß sie gelegentlich mißachtet werden, macht sie nicht ungerecht. Wer Gewalt anwendet, muß damit rechnen, gewaltsam beseitigt zu werden.« Waylock starrte sie wortlos an. »Was hast du jetzt vor?« fragte er schließlich. Sie spielte mit ihrem Glas. »Dieses neue Wissen ist mir keineswegs sympathisch. Ich fühle mich natürlich verpflichtet, das Ungeheuer zu entlarven und...« »Es gibt kein Ungeheuer zu entlarven!« unterbrach Waylock sie rasch. »Der Grayven hat seine Strafe vor sieben Jahren erhalten.« Die Jacynth nickte. »Ja, natürlich.« Ein rundliches Gesicht unter schwarzen Federn erschien an der Balustrade. »Das ist doch Gavin – der gute alte Gavin Waylock!« Basil Thinkoup stolperte heran und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Sein Vogelkostüm war zerzaust, und er schien betrunken zu sein. Waylock erhob sich. »Du entschuldigst uns bitte, Basil; wir wollten eben gehen.« »Nicht so rasch! Ich sehe dich sonst immer nur auf deinem Podium!« Er bestellte einen Drink. »Gavin ist mein ältester Freund«, erklärte er mit einem Seitenblick auf Die Jacynth. »Tatsächlich?« fragte sie. »Wie lange kennen Sie ihn schon?«
Waylock setzte sich langsam wieder. »Vor sieben Jahren haben wir Gavin Waylock aus dem Wasser gezogen und an Bord der Amprodex geholt, auf der Kapitän Hesper Wellsey das Kommando führte. Erinnerst du dich noch an seinen Tobsuchtsanfall, Gavin?« »Ja«, antwortete Gavin einsilbig. Er wandte sich an Die Jacynth: »Komm, wir...« Sie schüttelte den Kopf. »Dein Freund Basil interessiert mich... Ihr habt also Gavin Waylock aus dem Wasser gezogen.« »Er ist am Steuer seines Aircars eingeschlafen; die Maschine stürzte ab, sobald sie den Bereich der Energieausstrahlung verlassen hatte.« »Und das geschah vor sieben Jahren?« wollte Die Jacynth wissen. »Richtig, vor ziemlich genau sieben Jahren. Gavin kann Ihnen alles erklären; er hat ein hervorragendes Gedächtnis.« »Gavin erzählt mir sehr wenig von sich.« Basil Thinkoup nickte. »In dieser Beziehung ist er recht zurückhaltend.« Als Gavin nicht darauf antwortete, stand Basil kurze Zeit später auf und entschuldigte sich für einen Augenblick. Er stolperte über die Terrasse davon. Waylock und Die Jacynth starrten einander an. Die Jacynth sagte leise: »Vor sieben Jahren entflieht Der Grayven Warlock den Assassinen. Vor sieben Jahren wird Gavin Waylock aus dem Wasser gezogen. Aber das ist nicht weiter wichtig – das Ungeheuer ist vernichtet worden.« Waylock beobachtete sie schweigend. Als Basil zurückgekehrt war, entschuldigte er sich ebenfalls, bog
aber außer Sichtweite in die nächste Televisorzelle ab und wählte mit zitternden Fingern eine Zahlenkombination. Der Bildschirm leuchtete grünlich auf, zeigte jedoch statt eines Gesichts nur einen schwarzen Kreis. »Wer ruft an?« flüsterte eine heisere Stimme. Waylock nahm die Hände vom Gesicht. »Ah, Gavin Waylock.« »Ich muß mit Carleon sprechen.« »Er hat im Museum zu tun.« »Verbinde mich mit ihm!« Ein rundes weißes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Jettschwarze Augen betrachteten Waylock neugierig. Waylock trug seinen Wunsch vor; Carleon lehnte zunächst ab. »Ich muß meine Besucher führen.« Waylock runzelte die Stirn. »Deine Besucher können warten!« Carleons Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Zweitausend Florins.« »Tausend sind reichlich«, sagte Waylock. »Du bist kein armer Mann, Waylock.« »Gut, einverstanden. Zweitausend. Aber schnell!« »Wird sofort erledigt.« Waylock kam an den Tisch zurück und stellte fest, daß Basil es wieder einmal verstanden hatte, das Gespräch auf sein Lieblingsthema zu bringen – seine Arbeit in der Beruhigungsanstalt. Die Jacynth hörte aufmerksam zu, hob dann den Kopf und betrachtete Waylock lächelnd. »Was nun, Gavin?« fragte sie. »Wollen wir gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe noch etwas
hier, Gavin. Aber du bist bestimmt müde. Geh nach Hause und schlaf dich aus.« Ihr Lächeln wurde fast ein Lachen. »Basil Thinkoup leistet mir noch etwas Gesellschaft. Oder ich...« Sie richtete sich auf. »Albert! Denis!« Zwei Männer in prächtigen Kostümen blieben stehen. »Die Jacynth! Welche angenehme Überraschung!« Sie kamen auf die Terrasse; Waylock runzelte die Stirn und ballte die Fäuste. Die Jacynth übernahm die Vorstellung. »Der Albert Pondiferry, Der Denis Lestrange – Basil Thinkoup und... Gavin Waylock.« Der Denis Lestrange war groß und schlank und trug sein blondes Haar altmodisch kurz; Der Albert Pondiferry war untersetzt und schwarzhaarig, mit glitzernden dunklen Augen und scharfen Gesichtszügen. Beide deuteten eine höfliche Verbeugung an. Die Jacynth warf Gavin einen Blick zu und fuhr fort: »Albert und Denis, wißt ihr eigentlich, daß hier die interessantesten Leute herumlaufen?« »Tatsächlich?« Sie betrachteten Waylock und Basil Thinkoup ohne allzu große Neugier. »Basil Thinkoup strebt als Psychiater in der Beruhigungsanstalt Balliasse.« »Dann haben wir sicher gemeinsame Bekannte«, erklärte Der Denis lächelnd. »Und Gavin Waylock – das erratet ihr nie!« Waylock biß die Zähne zusammen. »Dann versuche ich es gar nicht erst«, meinte Der Albert. »Oh, ein Versuch kann nicht schaden«, sagte Der Denis und sah prüfend zu Waylock hinüber. »Dem
Körperbau nach... Artist oder Akrobat.« »Nein«, antwortete Die Jacynth. »Dreimal darfst du raten.« Waylock holte tief Luft; dieses Frauenzimmer war unerträglich. »Ich bezweifle, daß Waylock dieses Rätselraten gefällt«, warf Der Albert ein. »Es gefällt ihm bestimmt nicht«, versicherte Die Jacynth ihm. »Aber das Spiel erfüllt einen bestimmten Zweck. Wenn ihr jedoch...« In diesem Augenblick pfiff etwas so leise durch die Luft, daß nur Waylock darauf aufmerksam wurde. Die Jacynth zuckte zusammen und griff sich an die Schulter, aber der Pfeil war so winzig und spitz, daß sie jetzt nichts mehr spürte und annehmen mußte, der plötzliche Schmerz sei ein Insektenstich gewesen. Basil Thinkoup legte die Hände flach auf den Tisch und sah von einem zum anderen. »Mir knurrt der Magen«, stellte er fest. »Hat sonst noch jemand Appetit auf frische Krebse?« Da ihn offenbar niemand begleiten wollte, stand er nach einer kurzen Pause auf. »Schön, dann gehe ich eben allein – ich muß ohnehin bald ins Bett. Diese glücklichen Amaranth, die sich keine Sorgen um den nächsten Tag zu machen brauchen!« Der Albert und Der Denis wünschten ihm höflich einen guten Abend; Die Jacynth schwankte leicht auf ihrem Stuhl. Sie atmete stoßweise und schien nach Luft zu ringen. Waylock erhob sich. »Ich begleite dich, Basil. Für mich wird es allmählich Zeit.« Die Jacynth senkte den Kopf und schloß die Augen. Der Albert und Der Denis beobachteten sie überrascht.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Waylock. Die Jacynth antwortete nicht. »Vielleicht ist ihr schlecht«, meinte Der Albert. »Zuviel Aufregung, zu viele Drinks.« »Das gibt sich wieder«, sagte Der Denis unbekümmert. »Laßt sie in Ruhe.« Die Jacynth legte den Kopf auf die Arme; ihr blondes Haar bedeckte die Tischplatte. »Fehlt ihr wirklich nichts?« erkundigte Waylock sich. »Wir kümmern uns um sie«, versprach Der Albert. »Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.« Waylock zuckte mit den Schultern. »Komm, Basil.« Als sie das Café verließen, drehte er sich noch einmal um. Die Jacynth bewegte sich nicht mehr. Der Albert und Der Denis starrten sie an und schienen nicht recht zu wissen, was sie tun sollten. Waylock seufzte. »Komm, Basil, wir gehen.«
7 Waylock fühlte sich müde und erschöpft. Er verabschiedete sich vor einem der Restaurants von Basil Thinkoup. »Ich habe keinen Hunger; ich bin nur müde.« Basil klopfte ihm auf die Schulter. »Hoffentlich denkst du über meinen Vorschlag nach, Gavin. In der Beruhigungsanstalt ist immer ein Posten für dich frei!« Waylock ging langsam die Esplanade entlang. Über dem Fluß lag bereits der erste Schimmer des kommenden Tages, vor dem Carnevalle verblaßte. Die farbigen Lichter strahlten weniger hell, und die wenigen Nachtschwärmer, denen Waylock jetzt noch begegnete, waren grau im Gesicht und hatten Ringe unter den Augen. Er hing seinen Gedanken nach, ohne auf die Vorübergehenden zu achten. Vor sieben Jahren hatte er einen allzu heftigen Schlag geführt; Der Abel Mandeville war dreihundert Meter tief gefallen. Heute hatte er einen zweiten Tod veranlaßt, weil eine Frau es sich in den Kopf gesetzt zu haben schien, ihn zu vernichten. Er war also in zweifacher Beziehung ein Ungeheuer. Ein Ungeheuer. Dieses Wort bezeichnete ein Ausmaß an Verworfenheit und Niedertracht, das menschliche Vorstellungen fast überstieg. Schon das Wort ›Tod‹ war der schrecklichste Fluch, und ein Mensch, der den Tod verursachte, war das gräßlichste Scheusal in Person. Dabei hatte Waylock im Grunde genommen keinen
Mord begangen. Der Abel Mandeville führte sein Leben vor Ablauf einer Woche weiter; eine neue Jacynth Martin würde ebenfalls nach kurzer Zeit erscheinen. Hätten die Assassinen jedoch vor sieben Jahren ihren Auftrag durchführen können, wäre dies einem kaltblütigen Mord gleichgekommen, denn der Grayven Warlock hatte noch keine beseelten Surrogate zur Verfügung. Er hatte die Gelegenheit genützt und war in seinem Aircar über die Grenzen der Region geflohen. Für die Assassinen war sein Fall damit erledigt. Wer die Region verließ, hatte den sicheren Tod vor Augen; die Nomaden veranstalteten ein Fest, wenn ihnen ein Mann aus Clarges in die Hände fiel. Waylock hatte sich jedoch am äußersten Rand des Energiebereichs aufgehalten und hatte Clarges mehrmals in großer Entfernung umkreist. Nachdem er den Frachter Amprodex entdeckt hatte, brauchte er nur noch eine Notlandung zu simulieren und sich an Bord ziehen zu lassen, wo er sofort anheuerte, um sich die Passage zu verdienen. Von diesem Tag an existierte Gavin Waylock. Falls die Assassinen vermuteten, er habe sie getäuscht, würden sie jetzt entschlossen reagieren. Waylock hatte sich jahrelang verborgen gehalten und war nie ohne ein Alter-Ego, das sein wahres Gesicht wie eine zweite Haut bedeckte, nach Clarges gefahren. Er wohnte in einem bescheidenen Appartement bei den Tausend Dieben, aber selbst dort zeigte er sich nie ohne die Bronzemaske oder das Alter-Ego. Jetzt hatte er allen Grund zur Enttäuschung, denn in kaum vier Wochen wäre Der Grayven Warlock laut Gesetz tot gewesen. Waylock erhielt dadurch die Möglich-
keit, unter seinem neuen Namen eine zweite Karriere zu beginnen. Trotzdem war vielleicht noch nicht alles verloren. Er durfte hoffen, die Auswirkungen dieses Zwischenfalls abgeschwächt zu haben. In einer oder zwei Wochen würde die neue Jacynth in der Öffentlichkeit erscheinen, ohne irgendwie unter den Ereignissen dieser Nacht gelitten zu haben, und alles andere würde nach Plan verlaufen. Gavin Waylock schritt rascher aus, überquerte menschenleere Straßen und Plätze, erreichte sein Appartement und versank sofort in bleischweren Schlaf.
8 Der letzte Monat verstrich ohne weitere Zwischenfälle. Waylock arbeitete wie gewohnt im Haus des Lebens und fuhr einmal wöchentlich nach Clarges hinüber, wo er eine nur ihm bekannte Adresse aufsuchte. Der Monat war zu Ende, und nun war es sieben Jahre her, daß Der Grayven Warlock die Region verlassen hatte. Nach Ablauf dieser Frist wurde er automatisch für tot erklärt. Gavin Waylock konnte nun auf die Bronzemaske oder sein Alter-Ego verzichten und unbesorgt durch die Straßen von Clarges gehen. Der Grayven Warlock war tot; Gavin Waylock lebte. Er kündigte seine Stellung im Haus des Lebens, gab das Appartement bei den Tausend Dieben auf und mietete eine kleine Wohnung am Oktagon, wo er möglichst weit vorn Esterhazy-Platz und dem riesigen Gebäude entfernt war, das den Aktuarius beherbergte. Am nächsten Morgen brach er früh auf, fuhr mit dem Förderband durch die Allemand-Avenue, bog an der Oliphant-Straße nach rechts ab und erreichte so den Esterhazy-Platz. Dort ließ er sich im Café Dalmatia nieder, bestellte einen Becher Tee und verfolgte das lebhafte Kommen und Gehen an der Vorderfront des Aktuarius, wo sich Männer und Frauen in kleinen Kabinen nach dem Stand ihrer Karriere erkundigten. Waylock konnte seine begreifliche Nervosität nicht völlig unterdrücken. In den letzten sieben Jahren hatte er verhältnismäßig ruhig und zurückgezogen
gelebt. Ließ er sich aber jetzt in Brut registrieren, wurde plötzlich alles anders – von diesem Zeitpunkt an würde er die Ängste und Sorgen der Bürger von Clarges am eigenen Leib erfahren. Hier in der Morgensonne vor dem Café Dalmatia fand er diesen Gedanken wenig verlockend und ließ sich deshalb viel Zeit, als sei sein Entschluß nicht schon längst gefaßt. Sobald er jedoch den Tee ausgetrunken hatte, stand er ruckartig auf, überquerte den Platz und betrat das weitläufige Gebäude.
9 Waylock fand sich in einer riesigen Halle wieder und entdeckte schließlich den Informationsschalter. Einer der Angestellten, ein blasser junger Mann mit dicken Brillengläsern, hob den Kopf und fragte: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?« »Ich möchte mich in Brut registrieren lassen.« »Aktivieren Sie bitte diesen Fragebogen.« Waylock ging mit dem Bogen an die nächste Kodiermaschine und füllte ihn mit Hilfe der Tastatur aus, die seine Angaben i n Schreibmaschinenschrift und gleichzeitig als magnetische Informationspunkte festhielt. Eine Frau in mittleren Jahren näherte sich dem Schalter. Sie hatte verweinte Augen und hielt ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Madam?« Die Frau stieß hervor: »Es handelt sich um meinen Mann. Er heißt Egan Fortam. Ich bin drei Tage lang zu einem Seminar fortgewesen; als ich heute zurückkam, war er verschwunden.« Sie schluchzte leise. »Ich dachte, hier könnte mir vielleicht jemand helfen.« Der Angestellte nickte mitfühlend und füllte den Fragebogen selbst aus. »Ihr Name, Madam?« »Gold Fortam.« »Ihre Phyle?« »Keil; ich bin Lehrerin.« »Wie war noch der Name Ihres Gatten?« »Egan Fortam.« »Und seine Phyle?« »Brut.«
»Und seine Kennziffer?« »IXD-995-AAC.« »Ihre Adresse?« »Wibleside, Cleobury Court 2241.« »Einen Augenblick bitte, Mrs. Fortam.« Er steckte die Karte in den Schlitz vor sich und beantwortete die Fragen eines jungen Mannes von etwa achtzehn Jahren, der sich wie Waylock in Brut registrieren lassen wollte. Ein Klingelzeichen ertönte, dann wurde die Karte wieder ausgeworfen; der Angestellte warf einen kurzen Blick darauf und wandte sich an die Lehrerin. »Mrs. Fortam, Ihr Gatte ist am vergangenen Montag um acht Uhr neununddreißig von seinem Assassinen besucht worden.« »Vielen Dank«, flüsterte Mrs. Fortam und stolperte davon. Der Angestellte nahm Waylocks Fragebogen auf. »Ausgezeichnet, Sir; drücken Sie bitte Ihren rechten Daumen gegen diese Folie.« Waylock tat wie geheißen, und der Abdruck verschwand in einem anderen Schlitz. »Wir müssen ihn überprüfen«, erklärte ihm der Angestellte, »sonst käme ein Schlaukopf womöglich auf die Idee, sich nochmals registrieren zu lassen, bevor seine Lebenslinie den Terminator erreicht.« Waylock nickte zustimmend. Seine Karte war vermutlich längst aussortiert worden... Er wartete. Der Angestellte betrachtete seine Fingernägel. Diesmal ertönte ein lauteres Klingelzeichen, das den Mann hinter dem Schalter aufschrecken ließ. Er starrte Waylock an. »Duplikation!« Waylock beherrschte sich mühsam. Der Angestellte
nahm die Karte auf und las: »Identisch mit dem Abdruck des Verbrechers Grayven Warlock.« Er starrte Waylock erschrocken an. »Den Assassinen ausgeliefert am... hm... vor sieben Jahren.« »Ich bin sein Relikt«, sagte Waylock heiser. »Ich habe sieben Jahre lang auf diese Gelegenheit gewartet, mich in Brut registrieren zu lassen.« »Oh«, meinte der andere. »Richtig, das hätte ich fast vergessen... Jedenfalls ist alles in Ordnung, weil Ihre Abdrücke nicht denen eines Lebenden gleichen. Wir bekommen hier nicht oft Relikte zu sehen.« »Es gibt auch nicht allzu viele.« »Ganz recht.« Er drückte Waylock eine Metallplakette in die Hand. »Ihre Kennziffer ist KAE-321-JCR. Falls Sie Auskunft über Ihre Lebenslinie wünschen, brauchen Sie die Plakette nur in den Schlitz einer unserer Kabinen zu stecken.« Waylock nickte. »Danke, das habe ich verstanden.« »Gehen Sie jetzt bitte in Raum C hinüber, wo Ihre Gehirnströme für unsere Televektorabteilung aufgezeichnet werden.« In Raum C erhielt Waylock einen Untersuchungsstuhl angewiesen, bekam eine Metallkappe über den Kopf gestülpt und mußte stillsitzen, während eine Krankenschwester den Enzephalographen bediente. Sekunden später nahm ihm die Schwester wieder die Elektroden ab. »Vielen Dank, Sir. Gehen Sie bitte durch die erste Tür rechts hinaus.« »Ist das alles?« »Das war alles. Sie sind jetzt in Brut registriert.« Waylock verließ das Gebäude, überquerte den großen Platz und setzte sich im Café Dalmatia an den gleichen Tisch.
Über dem Haupteingang des Aktuarius hing eine Konstruktion aus Eisenstäben: der Prangerkäfig, auf dessen Boden eine alte Frau hockte, die offenbar während Waylocks Abwesenheit in den Käfig gesteckt worden war. Sie mußte versucht haben, den Aktuarius irgendwie zu betrügen und büßte jetzt auf herkömmliche Weise für ihr Vergehen. Am Nebentisch sprachen zwei Männer – der eine groß und hager, der andere fast in Fett erstickt – über die Alte. »Ein komischer Anblick, was?« sagte der Dicke. »Die alte Schachtel muß versucht haben, den Aktuarius hereinzulegen!« »Das passiert heutzutage öfter als früher«, stellte sein Begleiter fest. »In meiner Jugend war der Käfig oft monatelang leer.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Das kommt davon, daß Zeloten und Zweifler und alle möglichen anderen Sekten die alte Ordnung umstoßen wollen.« Der Dicke rieb sich verstohlen die Hände. »Die Zeloten kommen heute nacht bestimmt hierher.« »Früher hätte es das nicht gegeben«, versicherte ihm der Hagere erregt. »Die Leute wurden um Mitternacht in aller Stille freigelassen... Und jetzt machen die Zeloten ein widerliches Schauspiel daraus. Die reinsten Ungeheuer!« Der Dicke grinste nur und wies auf die Alte. »Gegen die dort drüben ist jeder Zelot harmlos. Wer den Aktuarius betrügt, stiehlt uns das Leben.« Sein Freund wandte sich ab. »Dir kann sie nichts stehlen. Du bist ein Glark und wirst stets einer bleiben.« »Du auch!« Waylock hob in diesem Augenblick zufällig den Kopf und sah eine schlanke Frauengestalt dicht an
sich vorbeigehen – Die Jacynth Martin. Er wollte ihr unwillkürlich zunicken, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. Sie mußte ihn ebenfalls gesehen haben, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, schien jedoch nicht zu wissen, wen sie vor sich hatte, und bog um die nächste Ecke. Gavin lehnte sich in seinen Sessel zurück und holte tief Luft. Zum Glück hatte die neue Jacynth ihn nicht erkannt – das war völlig ausgeschlossen. Sie war für ihn nur eine schöne Unbekannte, und er war für sie eines der vielen Gesichter aus ihrer Vergangenheit. Waylock verdrängte ihr Bild aus seinen Gedanken und befaßte sich wieder mit seiner eigenen Zukunft. Er dachte über Basil Thinkoups Vorschlag nach, bei ihm in der Beruhigungsanstalt zu arbeiten. Eine wenig sympatische Idee, denn dort wäre er verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, die sich schwer kompensieren ließen. Also lieber ein anderes Gebiet, auf dem es nicht allzu viel Konkurrenz gab? Waylock runzelte nachdenklich die Stirn, rief einen Zeitungsverkäufer heran und kaufte den Clarion, in dessen Spalten er Anregungen zu finden hoffte. Er brauchte nicht lange zu suchen. Auffällige Zunahme der Selbsttransition in den unteren Phylen... Soziologen stehen vor einem Rätsel... Abbruch der Slums in Gosport, um Platz für eine Stadtautobahn mit acht Fahrspuren zu schaffen... Einweihung der neuen Trabantenstadt Meynard... Und ein Interview mit Didaktor Talbert Falcone, dem bekannten Psychiater. Didaktor Falcone war ... entsetzt über die ständig wachsende Zahl der Geisteskranken. Zweiundneunzig Prozent aller Krankenbetten
sind heutzutage mit Patienten dieser Art belegt. Über fünfzehn Prozent der Erwachsenen sind zu irgendeinem Zeitpunkt in einer Beruhigungsanstalt gewesen. Das alles beweist, daß unsere Heilverfahren dringend überholungsbedürftig sind. Aber niemand befaßt sich damit, weil auf diesem Gebiet kaum Karrierepunkte zu sammeln sind; der Anreiz für unsere besten Köpfe fehlt völlig. Waylock las den Absatz zweimal durch. Genau seine Meinung! Er las weiter: Der häufigste psychische Defekt ist ohne Zweifel das manisch-katakonische Syndrom, dessen Ursachen und Wirkungen nur allzu gut bekannt sind. Intelligente Männer und Frauen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, müssen plötzlich feststellen, daß ihre Lebenslinie sich trotz aller Anstrengungen dem Terminator nähert. Dem Betroffenen wird schlagartig klar, daß dieses Verhängnis sich durch nichts abwenden läßt. Folglich gibt er auf und verfällt in einen mehr oder weniger tiefen Trancezustand. Von Zeit zu Zeit erwacht er daraus, verwandelt sich in ein tobendes Ungeheuer, das gewaltsam gebändigt werden muß, und versinkt wieder in seinen Dämmerzustand. Dies ist eine charakteristische Krankheit unserer Zeit. Bedauerlicherweise lehrt die Erfahrung, daß die Zahl der Kranken um so rascher zunimmt, je mehr der Aufstieg durch die Phylen erschwert wird. Ist das nicht eine wahre Tragödie? Wir entreißen der Natur ihre letzten Geheimnisse, durchqueren den interstellaren Raum, bauen unsere Türme bis zu den Wolken und haben das Alter besiegt – aber trotzdem stehen wir noch immer hilflos an der Schwelle des menschlichen Geistes!
Waylock faltete die Zeitung nachdenklich zusammen und stand dann entschlossen auf. Eine Minute später befand er sich bereits auf dem Weg zu Basil Thinkoup, der ihm einen Posten in seiner Beruhigungsanstalt versprochen hatte. Das war ein Gebiet, das alle Ansprüche erfüllte! Allerdings mußte er damit rechnen, nur als Krankenpfleger angestellt zu werden. Er hatte keine Erfahrung und würde sich das nötige Wissen selbst aneignen müssen. Aber Basil Thinkoup war den gleichen Weg gegangen – und jetzt bereitete er sich schon auf den Durchbruch in Dritte vor...
10 Am Nachmittag des gleichen Tages betrat Gavin Waylock die Empfangshalle der Beruhigungsanstalt, erkundigte sich nach Basil Thinkoup und wurde in Zimmer 303 im dritten Stock geschickt. Er benützte die Rolltreppe, verirrte sich zunächst und fand dann tatsächlich Zimmer 303. An der Tür stand in großen Buchstaben: BASIL THINKOUP Assistent des Direktors Und darunter in kleinerer Schrift: SETH CADDIGAN Psychotherapeut Waylock schob die Tür auf und trat ein, ohne anzuklopfen. Hinter dem Schreibtisch saß ein jüngerer Mann und zeichnete farbige Kurven auf grünes Millimeterpapier. Das mußte Seth Caddigan sein. Er war groß und muskulös, mit hagerem Gesicht, rötlichem Haar, kurzer Stupsnase und langer Oberlippe. Er sah ungeduldig zu Waylock auf. »Ich möchte mit Mister Thinkoup sprechen«, erklärte Waylock ihm. »Basil hat eine Besprechung.« Caddigan wandte sich seiner Arbeit zu. »Nehmen Sie Platz, er muß gleich kommen.« Waylock ging ans Fenster und starrte auf den ge-
pflegten Park hinaus. Caddigan beobachtete ihn und fragte plötzlich: »Was wollen Sie von Mister Thinkoup? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Kommen Sie als Patient?« Waylock lachte. »Sehe ich verrückt aus?« Caddigan betrachtete ihn abschätzend. »›Verrückt‹ ist ein unwissenschaftlicher Ausdruck, den wir selten gebrauchen.« »Entschuldigung«, sagte Waylock. »Sie sind also Wissenschaftler?« »Ich hoffe es jedenfalls.« Auf seinem Schreibtisch lag ein grauer Zeichenkarton mit roten Strichen. Waylock nahm ihn auf. »Und ein Künstler dazu.« Caddigan schüttelte den Kopf. »Das hat ein Patient gezeichnet – es gehört zur Therapie.« »Hm«, meinte Waylock. »Ich hätte die Zeichnung auch Ihnen zugetraut.« »Warum?« fragte Caddigan. »Oh, sie sieht so wissenschaftlich aus und...« Caddigan runzelte die Stirn. »Dann leiden Sie unter den gleichen Illusionen wie dieser Patient.« Waylock grinste. »Was soll das eigentlich sein?« »Der Patient sollte sein Gehirn zeichnen.« Waylock war erstaunt. »Haben Sie viele Zeichnungen dieser Art?« »Sehr viele.« »Werden sie irgendwie klassifiziert?« Caddigan deutete auf seine Kurven. »Ich bin eben damit beschäftigt.« »Und wenn Sie alle klassifiziert haben – was dann?« Caddigan zögerte unentschlossen und antwortete schließlich: »Vielleicht wissen Sie, daß die Psycholo-
gie weniger Fortschritte als andere wissenschaftliche Bereiche gemacht hat.« »Ich nehme an, daß sie unter einem Mangel an erstklassigen Männern leidet«, sagte Waylock nachdenklich. Caddigan sah zur Tür. »Die größte Schwierigkeit ist die Unzugänglichkeit des menschlichen Nervensystems, das geradezu unglaublich komplex aufgebaut ist. Selbstverständlich gibt es Tausende von Verfahren zur Deutung der wichtigsten Probleme, aber ich glaube, daß meine Arbeit einige neue Wege aufzeigen wird.« »Das Gebiet ist also statisch?« »Im Gegenteil, es befindet sich sogar in ständigem Aufruhr. Aber alle Bemühungen scheitern daran, daß das menschliche Gehirn für uns noch immer eine Terra incognita ist. Unsere Methoden haben sich seit Freud und Jung kaum gewandelt – wir behandeln auf Verdacht.« Er starrte Waylock durchdringend an. »Möchten Sie Amaranth werden?« »Sehr gern.« »Lösen Sie eines der zwanzig Grundprobleme der Psychologie. Dann haben Sie es geschafft.« Er beugte sich über seine Zeichnung und schien das Gespräch für beendet zu halten. Waylock zuckte lächelnd die Schultern und ging wieder ans Fenster. In der Wand neben ihm öffnete sich eine Tür; er sah ein geräumiges Arbeitszimmer, an das sich offenbar der Konferenzraum anschloß. Basil Thinkoup stand auf der Schwelle und begrüßte Waylock mit einem überraschten Lächeln. Er trug eine strenge graue Uniform, die nicht recht zu seinem rundlichen Gesicht paßte.
11 Gavin Waylock verließ die Anstalt erst gegen Abend und bestellte sich ein Lufttaxi, um unterwegs in aller Ruhe nachdenken zu können. Basil war sofort bereit gewesen, ihm auf jede nur mögliche Weise zu helfen, und hatte Waylock mehrmals versichert, er habe die bestmögliche Wahl getroffen. »Hier gibt es Arbeit zu tun, Gavin – Berge von Arbeit! Arbeit und Steigung!« Caddigan hatte seinen Vorgesetzten nur schweigend angestarrt; er litt offenbar unter der Vorstellung, Waylock könnte der erste einer langen Reihe von Dilettanten sein, deren einzige Qualifikation ihre Freundschaft mit Basil Thinkoup war. Waylock überlegte sich, daß es vermutlich angebracht war, sich den fachlichen Wortschatz dieser Leute einigermaßen anzueignen. Aber er durfte seine ursprüngliche Absicht nicht darüber vergessen – er mußte die Sackgassen vermeiden, in die Hunderttausende vor ihm hineingestolpert waren. Trotzdem kam es zunächst darauf an, Vorgesetzte und Ranghöhere günstig zu beeinflussen, indem er mit den Wölfen heulte. Steigung war wichtiger als alles andere! Nachdem ihn das Lufttaxi vor seinem Appartement abgesetzt hatte, ging er zum nächsten Zeitungskiosk, der gleichzeitig eine Filiale der Zentralbibliothek war, und ließ sich den Katalog geben. Er wählte zwei Fachbücher über Psychologie aus, warf einen Florin in den Schlitz und druckte die entsprechenden Tasten. Eine Minute später erhielt er zwei Mikrofilme in Zellophanumschlägen. Er kehrte in sein Appartement zurück, aß eine
Kleinigkeit, wollte anschließend mit dem Studium der Bücher beginnen und schlief darüber ein. Als er aufwachte, hatte er heftige Kopfschmerzen, und seine Armbanduhr zeigte auf halb zwölf. Er entschied sich für einen nächtlichen Spaziergang an der frischen Luft und erreichte zwanzig Minuten später das Café Dalmatia, wo er nur mit Mühe noch einen Platz fand. Auf der breiten Terrasse drängten sich Männer und Frauen, die gespannt das Gebäude des Aktuarius beobachteten. Waylock empfand die erwartungsvolle Atmosphäre instinktiv als bedrohlich. Unter den dunklen Arkaden des Esterhazy-Platzes und in den Nebenstraßen schien etwas zu lauern. Nirgendwo ein Laut oder eine Bewegung. Aber jeder wußte, daß dort die Zeloten warteten. Mitternacht. Im Café herrschte tiefes Schweigen. Der Prangerkäfig wurde langsam herabgelassen, berührte das Pflaster und zerfiel in sechs Teile. Die alte Frau war wieder frei; sie hatte ihre Strafe abgebüßt. Die Menschen im Café Dalmatia beugten sich vor und wagten kaum zu atmen. Die Alte setzte sich langsam in Bewegung und ging auf die Bronzestraße zu. Ein Stein fiel vor ihr zu Boden. Noch einer und noch einer. Der vierte Stein traf sie an der Hüfte. Als sie zu rennen begann, kamen weitere Steine aus der Dunkelheit. Einer traf sie im Nacken. Sie stolperte und fiel. Dutzende von Steinen folgten. Dann kam sie wieder auf die Füße, rettete sich in die Bronzestraße und verschwand.
»Hmmm«, sagte jemand, »sie ist entkommen.« Eine andere Stimme erwiderte vorwurfsvoll: »Wie kannst du das bedauern? Du bist ebenso schlimm wie die Zeloten!« »Habt ihr gesehen, wie dicht die Steine heute geflogen sind?« fragte eine junge Frau ihre Begleiter. »Wirklich ein Steinhagel!« »Die verdammten Zeloten werden immer frecher und unverschämter«, murmelte ein alter Mann neben Waylock. »Nächstens fallen sie noch bei Tageslicht über die armen Leute im Käfig her.« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Zeloten und Zweifler und alle anderen... ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht, was uns eines Tages erwartet.«
12 Waylock erschien am nächsten Morgen pünktlich in der Beruhigungsanstalt. Diese Tatsache fiel ihm selbst auf, und er dachte spöttisch: Du benimmst dich schon wie die übrigen Streber – dir fehlt nur noch ein Magengeschwür. Da Basil Thinkoup an diesem Vormittag anderweitig beschäftigt war, meldete Waylock sich bei Seth Caddigan, der ihm einen Fragebogen zuschob. »Bitte ausfüllen«, sagte er dabei. Als Waylock den Fragebogen mit gerunzelter Stirn durchlas, erklärte Caddigan ihm: »Das ist Ihre Bewerbung als Krankenpfleger.« »Aber ich bin doch bereits als Krankenpfleger angestellt«, protestierte Waylock. »Füllen Sie das Ding trotzdem aus«, empfahl Caddigan ihm. Waylock beantwortete einige Fragen, machte bei den meisten nur einen Strich und legte Caddigan den Fragebogen auf den Schreibtisch. »Da haben Sie meinen Lebenslauf.« Caddigan zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Leben scheint überwiegend aus Schrägstrichen zu bestehen.« »Ist das wirklich so wichtig?« Caddigan zuckte mit den Schultern. »Sie werden noch feststellen, daß unsere Bonzen streng nach Vorschrift arbeiten. Ihr Fragebogen wirkt vermutlich wie ein rotes Tuch auf sie.« »Vielleicht haben die Bonzen eine kleine Anregung nötig.«
Caddigan starrte ihn an. »Krankenpfleger wirken selten anregend, ohne es später zu bedauern.« »Ich hoffe, daß ich nicht allzu lange Krankenpfleger bleibe.« Caddigan grinste plötzlich. »Keine Angst, das ist ziemlich unwahrscheinlich.« Als Waylock nicht darauf reagierte, fragte er: »Sind Sie schon auf Ihre neuen Pflichten gespannt?« »Ich interessiere mich zumindest dafür«, erwiderte Waylock. »Ausgezeichnet. Ich muß Ihnen allerdings ganz ehrlich sagen, daß die Arbeit nicht gerade schön ist. Manchmal ist sie sogar gefährlich. Wer einen Patienten verletzt, büßt wertvolle Karrierepunkte ein. Wir dürfen uns weder Gewalttätigkeiten noch Gefühlsempfindungen leisten – es sei denn, wir würden selbst krank.« Caddigan erhob sich. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich meine...«
13 »Das ist Ihr zukünftiger Wirkungsbereich«, stellte Caddigan ironisch fest. Er zeigte auf den langen Raum, der Waylock irgendwie an ein Museum erinnerte. Zu beiden Seiten des Mittelganges standen Betten – insgesamt sechsunddreißig. Durchsichtige Plastikwände trennten die Betten voneinander, so daß jeder Patient eine Nische für sich allein hatte, die an der Rückseite durch die grüngestrichene Saalwand begrenzt wurde. Die Kranken lagen starr und steif mit ausgestreckten Armen in ihren weißen Betten; einige hatten die Augen geöffnet, andere hielten sie fest geschlossen. In diesem Saal waren nur Männer zwischen Dreißig und Fünfzig untergebracht. Ihre Betten blitzten vor Sauberkeit, die Gesichter waren frisch gewaschen und rasiert. »Sauber und ordentlich und ruhig«, sagte Caddigan. »Das sind alles ernste Fälle; sie machen kaum eine Bewegung. Aber ab und zu bekommen sie einen Rappel – sie verfallen ins manische Stadium ihrer Krankheit, um es etwas wissenschaftlicher auszudrücken.« »Und dann werden sie gewalttätig?« »Das ist individuell verschieden. Manche bleiben selbst dann im Bett und winden sich nur lautlos in Krämpfen. Andere springen auf, schreiten wie Götter durch den Saal und zerstören alles, was ihnen unter die Finger kommt. Das heißt«, fügte er mit einem Grinsen hinzu, »sie würden es tun, wenn sie nur könnten. Sehen Sie diese Löcher im Boden?« Er deutete auf ein halbes Dutzend Vertiefungen am Fußen-
de des ersten Bettes. »Sobald ein Patient sein Bett verläßt, bewirkt die damit verbundene Gewichtsverlagerung, daß hier Stahlstäbe aus dem Boden schnellen. Der Kranke kann also nicht hinaus und hat nur noch eine Möglichkeit, sich auszutoben – er kann die Bettwäsche zerreißen. Wir haben nach langen Versuchen eine Stoffart entwickelt, die schwer zerreißbar ist und gleichzeitig laute Geräusche ergibt. Der Patient tobt sich aus, und wir betreten dann seine Nische und bringen ihn ins Bett zurück.« »Verwenden Sie keine Beruhigungsmittel?« fragte Waylock. Caddigan zuckte mit den Schultern. »Das hängt von der Heftigkeit des Anfalls ab. Ansonsten bestimmen die Theorien – oder die Launen – des verantwortlichen Psychiaters unsere Methoden. Diese Abteilung untersteht offiziell Didaktor Alphonse Clou, aber Didaktor Clou ist so sehr mit einem Forschungsprojekt beschäftigt, daß Basil Thinkoup unbeaufsichtigt tun und lassen kann, was ihm Spaß macht. Basil hält nichts von Drogen und Spritzen. Er hat unkonventionelle Ideen und arbeitet nach dem Prinzip, alle bewährten Methoden seien falsch und müßten durch das genaue Gegenteil ersetzt werden. Wenn lange Versuchsreihen ergeben haben, daß Massage bei bestimmten hysterischen Zuständen krampflösend wirkt, läßt Basil die Patienten entweder in die Zwangsjacke stecken oder verschafft ihnen gewaltsam Bewegung. Basil experimentiert leidenschaftlich gern und scheint dabei nie Gewissensbisse zu haben.« »Hat er schon Erfolge mit seiner Methode erzielt?« wollte Gavin wissen.
Caddigan zuckte mit den Schultern. »Den Patienten geht es deshalb auch nicht schlechter. Einigen scheint es sogar zu helfen... Aber Basil weiß natürlich selbst nicht, was er eigentlich tut.« Sie gingen von einem Bett zum anderen. Überall der gleiche Ausdruck auf den Gesichtern der Kranken: eine erschütternde Melancholie, eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, aus der es kein Entrinnen mehr geben konnte. »Schrecklich«, murmelte Waylock. »Diese Gesichter... Sind sie bei Bewußtsein? Denken sie noch? Empfinden sie wirklich, was ihr Gesicht ausdrückt?« »Sie leben jedenfalls. Und ihr Verstand funktioniert weiterhin auf der untersten Ebene.« Waylock schüttelte den Kopf. »Hüten Sie sich vor dem Fehler, sie als menschliche Lebewesen zu betrachten«, warnte Caddigan ihn. »Sobald Sie damit anfangen, sind Sie verloren. Die Patienten sind für uns nur eine Aufgabe, die wir nach besten Kräften zu lösen versuchen, um dadurch Karrierepunkte zu sammeln... Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt, was Sie hier zu tun haben.«
14 Waylock fand seine Pflichten geradezu abstoßend. Als Krankenpfleger mußte er sich um das leibliche Wohl von sechsunddreißig fast leblosen Patienten kümmern, die jederzeit unglaublich heftige Tobsuchtsanfälle bekommen konnten. Zudem hatte er Eintragungen in die Krankenblätter zu machen und Caddigan oder Basil zu helfen, wenn sie neue Therapieversuche unternahmen. Jetzt stand er im Mittelgang und betrachtete nachdenklich die sechsunddreißig Betten, die seiner Obhut anvertraut waren. Sechsunddreißig Männer zwischen Dreißig und Fünfzig, die alle eine flache Lebenslinie gemeinsam hatten. Ihre Psychose war durchaus nicht geheimnisvoll oder gar unerklärlich. Sie würden hier ihren Lebensabend verbringen, bis eines Tages die schwarze Limousine am Tor der Anstalt vorfuhr, um sie abzuholen. Waylock ging von einem Bett zum anderen und betrachtete die hoffnungslosen Gesichter. Bei jedem Patienten fragte er sich: Welche Therapie würde ich in seinem Fall anwenden? Er blieb vor einem Bett stehen, in dem ein kleiner Mann mit geschlossenen Augen lag. Am Kopfende des Bettes waren Name und Phyle des Patienten angegeben: Olaf Gerempsky, Keil. Darunter stand eine Kombination aus Buchstaben und Ziffern, die Waylock nicht verstand. Waylock berührte die Hand des Kranken. »Olaf«, flüsterte er. »Aufwachen, Olaf. Du bist gesund. Du kannst nach Hause gehen, Olaf. Wach auf, du darfst
nach Hause.« Gerempskys Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im geringsten. Folglich war diese Methode ungeeignet. »Olaf Gerempsky«, sagte Waylock lauter, »Ihre Lebenslinie ist in Dritte durchgebrochen. Meinen Glückwunsch, Olaf Gerempsky! Sie sind jetzt in Dritte!« Das Gesicht blieb unbeweglich, aber Waylock bildete sich ein, trotzdem einen schwachen Hoffnungsfunken hinter geschlossenen Augen beobachtet zu haben. »Olaf Gerempsky, Dritte. Olaf Gerempsky, Dritte«, sagte er mit der Stimme eines Ausrufers vor dem Haus des Lebens. »Olaf Gerempsky, Sie gehören jetzt zu Dritte!« Aber der melancholische Hoffnungsfunken war bereits wieder erloschen. Waylock trat einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. Dann beugte er sich dicht über den Kranken. »Leben«, flüsterte er. »Leben! Leben! Ewiges Leben!« Das starre Gesicht veränderte sich nicht. »Tod«, sagte Waylock heiser. »Tod! Tod! Tod! Ewiger Tod!« Er beobachtete das Gesicht. Es blieb unbeweglich, aber unter dieser Maske flammte etwas auf. Waylock beobachtete die Veränderung aufmerksam. Gerempsky öffnete plötzlich die Augen, starrte nach links und rechts und fixierte dann Waylock. Seine Augen schienen zu glühen; er zog die Lippen zurück, fletschte die Zähne wie ein Hund und stieß einen lauten Schrei aus. Dann sprang er plötzlich auf und griff nach Waylocks Kehle, aber Waylock war rechtzeitig zurückgetreten. Er spürte einen Wider-
stand hinter sich – die Stahlstäbe waren automatisch aus dem Fußboden geschossen und schnitten ihm jetzt den Fluchtweg ab. Gerempsky stürzte sich auf Waylock; seine Hände waren wie stählerne Klammern. Gavin setzte sich zur Wehr und wollte seine Arme nach oben schlagen, aber Gerempskys Muskeln schienen aus Eisen zu bestehen. Waylock versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, und der Kranke taumelte rückwärts. Waylock rüttelte an den Stäben. »Hilfe!« brüllte er. »Hilfe!« Gerempsky fiel wieder über ihn her. Waylock ging zu Boden und wollte ihn abschütteln, aber der Patient klammerte sich an seinem Rücken fest. Waylock riß sich endlich von ihm los, mußte aber seine neue Jacke in Gerempskys Händen zurücklassen. Er flüchtete hinter das Bett und rief weiter um Hilfe. Gerempsky lachte heiser und schlich auf ihn zu. Waylock kroch unters Bett. Gerempsky zerfetzte seine Jacke und bückte sich dann, aber Waylock befand sich außer Reichweite. Der Kranke setzte mit einem Sprung über das Bett, um ihn von der anderen Seite aus zu erreichen, aber Waylock rollte sich nach links. Dieses Spiel wurde einige Minuten lang fortgesetzt: Gerempsky sprang über das Bett, und Waylock wälzte sich jeweils auf die andere Seite. Dann blieb der Kranke ruhig am Fußende des Bettes stehen und schien darauf zu warten, daß Waylock endlich wieder zum Vorschein kam. Endlich näherten sich Schritte. »Hilfe!« rief Waylock nochmals. »Ich liege hier unter dem Bett!« Vor den Gitterstäben erschienen Schuhe: Seth Caddigans Schuhe.
»Dieser Verrückte will mich erwürgen!« rief Waylock verzweifelt. »Ich bin hier unten gefangen!« »Immer mit der Ruhe«, antwortete Caddigan gelassen. Hinter ihm ertönten weitere Schritte. Die Gitterstäbe versanken plötzlich. Gerempsky stieß einen Schrei aus und setzte sich in Bewegung. Er wurde aufgehalten, eingehüllt und ins Bett zurückgebracht. Waylock kroch darunter hervor und richtete sich auf. Seine Knie zitterten noch immer, während er beobachtete, daß Caddigan dem Kranken eine Sprühdose an den Mund hielt und auf den Knopf drückte. Gerempsky schloß die Augen und blieb wie leblos liegen. Caddigan wandte sich ab, nickte Waylock höflich zu und verschwand in Begleitung der beiden anderen Krankenpfleger. Waylock starrte ihm nach, ging einige Schritte hinter ihm her und lehnte sich dann an die Wand, bis das Zittern in seinen Knien aufgehört hatte. Als er sich wieder besser fühlte, folgte er Caddigan in Basils Vorzimmer, das der Psychotherapeut als Büro benützte. Caddigan saß wieder an seinem Schreibtisch und wertete Krankenblätter aus. Waylock ließ sich in einen Sessel fallen und holte tief Luft. »Puh, das war scheußlich!« Caddigan zuckte mit den Schultern. »Sie können sich noch glücklich schätzen, daß Gerempsky ein Schwächling ist.« »Schwächling! Seine Hände waren wie Eisen! Er muß unheimlich stark sein!« Caddigan nickte ironisch lächelnd. »Denken Sie in Zukunft immer daran, daß unsere Patienten in dieser Verfassung geradezu übermenschliche Kräfte entwickeln, die in keinem Verhältnis zur normalen Lei-
stungsfähigkeit ihrer Muskulatur stehen. Olaf Gerempsky war in diesem Zustand stärker als Sie, aber Olaf ist im Grunde genommen ein Schwächling. Nehmen Sie sich vor unseren Athleten in acht: Maximilian Hertzog oder Fido Vedelius. Beide hätten mit der Faust durch die Matratze gestoßen und Ihren Kopf durch das Loch zu sich heraufgezogen. Deshalb möchte ich Ihnen dringend empfehlen, keine weiteren Experimente mit unseren Kranken zu machen, selbst wenn sie noch so friedlich wirken sollten.« Waylock schwieg vernünftigerweise. Der Psychotherapeut lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die Finger aneinander. »Ich habe die Aufgabe, Ihre Fortschritte zu bewerten. Dabei versteht sich eigentlich von selbst, daß ich mich bemühe, absolut fair zu sein. Aber angesichts dieses Vorfalls werden Sie es mir nicht verübeln, daß ich Ihre heutigen Leistungen keineswegs hoch bewerte. Ich weiß nicht, was Sie vorgehabt haben. Ich will es auch gar nicht wissen.« Waylock wollte etwas sagen, aber Caddigan hob abwehrend die Hand. »Vielleicht wollen Sie Basil Thinkoup nacheifern, um seine Erfolge zu imitieren. Sollte das der Fall sein, schlage ich vor, daß Sie sorgfältiger planen oder ansonsten herausbekommen, worauf sein unwahrscheinliches Glück beruht.« Waylock beherrschte sich. »Sie haben die Situation falsch verstanden«, wandte er ein. »Das hoffe ich allerdings«, antwortete Caddigan mit gespielter Herzlichkeit. »Ich dachte schon, Sie und Basil Thinkoup wollten gemeinsam eine Hammer-und-Zangen-Therapie verwirklichen.« »Ich finde Ihre witzig gemeinten Bemerkungen
ziemlich überflüssig«, stellte Waylock fest. Basil Thinkoup war leise hereingekommen und sah jetzt von einem zum anderen. »Ist Caddigan schon hinter dir her?« fragte er Waylock. »Als ich hier anfing, mußte ich ihn Tag für Tag aushalten. Wahrscheinlich bin ich nur deshalb so rasch in Keil aufgestiegen, weil ich dort vor ihm sicher war.« Caddigan äußerte sich nicht dazu. Basil grinste und nickte Waylock zu: »Du hast ein kleines Abenteuer bestanden, höre ich eben.« »Nur eine Bagatelle«, versicherte Waylock ihm. »Beim nächstenmal passe ich besser auf.« »Richtig«, stimmte Basil zu. »So kannst du es noch weit bringen.« Seth Caddigan erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, Basil aber ich muß jetzt gehen. Ich habe heute abend noch zwei Vorlesungen.« Er nickte den beiden zu und verließ den Raum. Basil schüttelte mitleidig den Kopf. »Der arme Kerl bildet sich wirklich ein, er könne den Aufstieg schaffen, indem er sich mit nutzlosem Ballast vollstopft.« »Was kümmert dich das?« fragte Waylock. »Jeder kann schließlich nach seiner eigenen Fasson selig werden.« Basil antwortete nicht gleich. »Hmm, eigentlich hast du recht, Gavin«, gab er dann zu. »Wir sind eben nicht alle gleich.« Er lächelte wieder. »Dein Dienst ist für heute fast zu Ende; am besten gehst du gleich nach Hause. Wir haben morgen einen großen Tag vor uns.« »Mit Vergnügen«, antwortete Waylock. »Ich muß selbst noch einiges lernen.« »Du gibst dir ernsthaft Mühe, was?«
»Ich erreiche die Spitze«, sagte Waylock. »Irgendwie muß ich es schaffen.« Basil runzelte die Stirn. »Nimm dich in acht, sonst endest du wie...« Er zeigte in die Richtung des großen Krankensaals. »Danke, das habe ich nicht vor.«
15 Waylock betrat sein kleines Appartement, blieb in der Diele stehen und betrachtete mißmutig die geschmacklosen Möbel in den drei winzigen Räumen. Er dachte an die prächtige Villa, die Der Grayven Warlock besessen hatte. Im Grunde genommen war sie noch immer sein rechtmäßiges Eigentum – aber wie sollte er sie wieder in Besitz nehmen, ohne sich zu verraten? Nach dem Abendessen blieb er am Tisch sitzen und überlegte, wie oder wo er die nächsten Stunden verbringen sollte. Öffentliche Vergnügungsstätten und Carnevalle schieden von Anfang an aus. Er wollte sich nicht amüsieren, sondern ein vernünftiges Gespräch mit anderen Menschen führen. Das Café Dalmatia? Nein. Basil Thinkoup? Nein. Seth Caddigan? Kein ausgesprochen geselliger Mensch, der zudem nicht allzu viel von Waylock zu halten schien – aber warum eigentlich nicht? Waylock gab dem Impuls nach, ging an seinen Televisor und ließ das Teilnehmerverzeichnis vor sich ablaufen. A... B... C... Ca... Caddigan... Seth Caddigan. Er löschte die übrigen Namen und drückte auf den Rufknopf. Seth Caddigans Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Oh... Waylock.« »Hallo, Caddigan. Wie waren die Vorlesungen?« »Wie üblich.« Caddigan betrachtete ihn mißtrauisch. Waylock improvisierte einen Vorwand für seinen Anruf. »Sind Sie noch sehr beschäftigt? Ich dachte, Sie
könnten mir vielleicht einen guten Rat geben.« Caddigan lud ihn mürrisch ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen, und Waylock brach sofort auf. Der Psychotherapeut lebte in Vauconford, einem der östlichen Vororte, die eher zu den zweitklassigen Wohnvierteln gehörten. Sein Appartement war durchgehend mit antiken Möbeln ausgestattet, und Waylock fand den Gesamteindruck reichlich exzentrisch. Zu seiner großen Überraschung hatte Caddigan zudem eine ausgesprochen hübsche Frau, die Waylock diesem unfreundlichen Zeitgenossen nie zugetraut hätte. Caddigan stellte sie als Pladge vor und fügte hinzu: »Pladge ist bereits Keil, während ich noch in Brut stecke. Sie arbeitet als Bühnenbildnerin und scheint recht erfolgreich zu sein.« »Ah, Sie sind beim Theater«, murmelte Waylock. »Das erklärt die... die...« Pladge Caddigan lachte. »Die verrückte Einrichtung? Sagen Sie ruhig, was Sie davon halten. Unsere Freunde glauben ohnehin, wir seien übergeschnappt. Aber wir wohnen lieber mit diesen alten Möbeln, die wesentlich besser konstruiert sind als das ganze neumodische Zeug.« »Der Raum hat eine durchaus persönliche Note«, stimmte Waylock zu. »Richtig, das finde ich auch. Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen, Mister Waylock, ich habe noch zu arbeiten.« Pladge verschwand im Nebenzimmer, und Caddigan sah ihr stolz nach. Dann wandte er sich wieder an Gavin, der die seltsame Tapete an der gegenüberlie-
genden Wand studierte. Sie bestand aus Lebenskarten, wie sie der Aktuarius ausgab; die verschiedenfarbigen Linien bildeten ein faszinierendes Muster. »Hier sehen Sie unsere Triumphe und Niederlagen«, erklärte Caddigan ihm. »Unsere Biographie, ein Abbild unseres Lebens. Manchmal wünsche ich mir fast, ich wäre ein Glark geblieben. Ein kurzes, aber unbeschwertes und fröhliches Leben.« Seine Stimme veränderte sich. »Schön, Sie sind also hier. Was wollten Sie mich fragen?« »Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?« erkundigte Waylock sich. Caddigan schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verschwiegen, obwohl ich in meinem Beruf bessere Aussichten hätte, wenn ich es wäre.« »Behandeln Sie mein Problem wenigstens vertraulich?« »Offen gesagt«, antwortete Caddigan, »kann ich für gar nichts garantieren. Tut mir leid, wenn Ihnen das unfreundlich erscheint, aber ich möchte verhindern, daß Sie sich Illusionen machen.« Waylock nickte. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, da er nie die Absicht gehabt hatte, Caddigan um seinen Rat zu bitten. »In diesem Fall verlasse ich mich lieber auf meine eigenen Fähigkeiten.« »Das ist immer empfehlenswert«, stimmte Caddigan zu. »Ich kann mir allerdings gut vorstellen, mit welchem Problem Sie zu kämpfen haben.« »Offenbar sind Sie mir einige Schritte voraus, Caddigan«, sagte Waylock gelassen. »Und so bleibt es auch in Zukunft. Wollen Sie hören, wie ich Ihr ›Problem‹ analysiert habe?« »Bitte.«
»Es betrifft selbstverständlich Basil Thinkoup, sonst hätten Sie nicht nach meiner Verschwiegenheit gefragt. Welches Problem hängt mit Basil zusammen, ist aber nicht von ihm, sondern nur von einem Mann in seiner Umgebung zu lösen? Sie sind ein ehrgeiziger Mann und vermutlich ziemlich rücksichtslos.« »Heutzutage ist jeder rücksichtslos«, warf Waylock ein, aber Caddigan reagierte nicht darauf. »Sie müssen sich also die Frage stellen: Wie eng soll ich mich an Basil binden? Wird er aufsteigen oder fallen? Sie möchten mit ihm aufsteigen, haben aber keine Lust, gemeinsam mit ihm zu fallen. Deshalb wollen Sie hören, wie ich Basils Zukunft beurteile. Sobald Sie wissen, was ich davon halte, machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken darüber, weil Ihnen klar ist, daß ich nicht mit Basils pragmatischen Methoden einverstanden bin. Trotzdem bin ich Ihrer Meinung nach intelligent und ehrlich genug, um seine Lage ausreichend beurteilen zu können. Habe ich recht?« Waylock schüttelte lächelnd den Kopf. Caddigan grinste ironisch. »Darf ich Ihnen wenigstens einen Becher Tee anbieten?« »Ja, vielen Dank.« Waylock lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Caddigan, Sie scheinen eine Abneigung oder ein Vorurteil gegen mich gefaßt zu haben. Darf ich mich nach dem Grund dafür erkundigen?« »›Abneigung‹ ist nicht der richtige Ausdruck«, korrigierte Caddigan ihn. »›Vorurteil‹ ist besser, aber trotzdem ungenau. Ich habe das Gefühl, daß Sie Ihre Arbeit nicht ernst nehmen, daß Sie nur deshalb zu uns gestoßen sind, weil Sie glauben, auf diesem Gebiet rasch Punkte sammeln zu können. Ich möchte Ihnen jedoch aus eigener Erfahrung versichern, daß
Sie sich in dieser Beziehung gewaltig irren.« »Wieso ist Basil dann so rasch aufgestiegen?« »Glück gehabt.« Waylock schien darüber nachzudenken. »Hüten Sie sich davor, Basil falsch einzuschätzen«, riet Caddigan ihm. »Jetzt ist er fröhlich und optimistisch. Aber Sie hätten ihn vor einigen Monaten sehen sollen – er war fast reif für den Krankensaal.« »Das ist mir neu.« »Immerhin muß man ihm zugute halten, daß er wirklich die Welt verbessern will«, fuhr Caddigan fort und warf seinem Besucher einen bedeutungsvollen Blick zu. »Er hat neun Patienten als geheilt entlassen – keine schlechte Leistung. Aber er klammert sich an die verrückte Idee, daß viel Therapie neunhundert Kranke heilen müßte, wenn wenig Therapie neun geholfen hat. Er gleicht einem Idioten, der einen Pfefferstreuer erwischt hat – wenig Pfeffer verbessert den Geschmack, deshalb muß viel Pfeffer ihn noch besser machen.« »Sie bezweifeln also, daß Basil seinen Aufstieg fortsetzt?« »Nichts ist unmöglich.« »Und wie steht es mit der neuen Therapie, von der er gesprochen hat?« Caddigan zuckte mit den Schultern. »Wieder das System Pfefferstreuer«, antwortete er. Pladge Caddigan kam herein. Sie trug jetzt einen bunten Sari, hatte ein Dutzend klirrende Bronzeringe an Handgelenken und Knöcheln und hielt einen Fächer aus Pfauenfedern in der Hand. »Ich dachte, du wolltest noch etwas arbeiten«, sagte Caddigan.
Pladge nickte. »Aber dann ist mir dieses Kostüm eingefallen, und ich wollte es euch gleich zeigen.« »Wer ständig von Idee zu Idee springt, sammelt nirgends Karrierepunkte«, stellte Caddigan fest. »Pah! Du und deine komischen Punkte!« »Warte nur, bis ich zu Keil und Dritte aufgestiegen bin – dann lachst du nicht mehr!« Pladge schlug in gespielter Verzweiflung die Hände zusammen. »Manchmal tut es mir fast leid, daß ich Keil bin. Wer will schon Amaranth werden?« »Ich«, sagte Waylock grinsend. Pladge gefiel ihm, und er stellte amüsiert fest, daß Seth darüber wütend war. »Ich auch«, stellte Caddigan fest. »Du ebenfalls, Pladge, wenn du gerade keinen Unsinn redest.« »Ich rede keinen Unsinn. In der guten alten Zeit fürchteten die Menschen ihr Lebensende...« »Pladge«, mahnte Seth. Sie schüttelte den Kopf. »Benimm dich nicht kindisch, mein Lieber. Alle müssen sterben – nur die Amaranth nicht.« »Trotzdem ist das kein Gesprächsthema.« »Warum nicht?« fragte Pladge und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich habe eine Theorie. Wollt ihr sie hören?« »Selbstverständlich«, sagte Waylock. »Pladge«, warf Caddigan vorwurfsvoll ein, aber sie ignorierte ihn. »Meiner Auffassung nach steckt in jedem Menschen ein Auflösungstrieb. Die Beruhigungsanstalten hätten vielleicht weniger Patienten, wenn wir ihn nicht unterdrücken würden.« »Unsinn«, wandte Seth ein. »Ich bin schließlich
Psychiater. Dieser angebliche Drang hat nichts mit den Erkrankungen zu tun. Unsere Patienten leiden an übersteigerter Lebensangst und schwerer Melancholie.« »Vielleicht, aber sieh dir doch an, wie die Menschen sich in Carnevalle benehmen!« Seth nickte Waylock zu. »Er ist Experte für Carnevalle, er hat sieben Jahre lang dort gearbeitet.« Pladge lächelte begeistert. »Das muß herrlich gewesen sein!« »Es war ganz interessant«, sagte Waylock. »Ich habe ein Gerücht gehört, das Carnevalle betrifft«, fuhr Pladge atemlos fort. »Vielleicht können Sie es bestätigen, Mister Waylock.« »Was haben Sie gehört?« »Nun, die Menschen in Carnevalle stehen doch mehr oder weniger außerhalb der Gesetze, nicht wahr?« Waylock zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls geschehen dort Dinge, für die man in Clarges verhaftet würde.« »Oder über die man sich in Clarges schämen müßte«, murmelte Seth. Pladge achtete nicht auf ihn. »Aber wie tief geht diese Gesetzlosigkeit wirklich? Ich meine... nun, ich habe gehört, daß es dort ein sehr exklusives Haus geben soll, in dem reiche Besucher für viel Geld zusehen können, wie junge Männer und Frauen ermordet werden!« »Pladge«, krächzte Seth, »was sagst du da? Bist du völlig übergeschnappt?« »Ich habe sogar gehört«, flüsterte Pladge heiser, »daß man mit viel Geld einen Menschen kaufen und
selbst auf beliebige Weise töten kann...« »Pladge!« brüllte Seth. »Kein Wort mehr davon!« »Seth, ich habe dieses Gerücht gehört und möchte Mister Waylock fragen, ob er etwas davon weiß«, erwiderte Pladge erregt. »Falls er es bestätigen kann, müssen wir etwas dagegen unternehmen!« »Das Gerücht existiert natürlich«, stimmte Waylock zu und dachte an Carleon, Loriot und die übrigen Berber. »Aber ich kann es nicht aus eigener Erfahrung bestätigen und habe noch nie einen getroffen, der etwas Ähnliches erlebt hätte.« »Alles nur Unsinn«, stellte Caddigan fest. »Du redest Unsinn, Seth«, warf Pladge ihm vor. »Was deinen sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht, existiert für dich einfach nicht. Du schiebst alle Zweifel mit einer großartigen Handbewegung beiseite, ohne zu erkennen, daß Zweifel das Salz des Lebens sind.« Caddigan zuckte mit den Schultern und sah zu Waylock hinüber. »Pladge hat sich den Zweiflern angeschlossen, und ich bekomme seitdem nichts anderes mehr zu hören.« »Zweifler?« »Alles Menschen, die an irgendwelchen Aspekten unserer gegenwärtigen Ordnung und ihren Zukunftsaussichten zweifeln«, erklärte Pladge ihm eifrig. »Wir treffen uns regelmäßig und diskutieren gemeinsam über unsere Zweifel. Sie müssen gelegentlich eine unserer Versammlungen besuchen, Mister Waylock.« »Gern. Wo finden sie denn statt?« »Oh, hier und dort und überall. Manchmal in Carnevalle im Haus der Erleuchtung.«
»Dort sind eigentlich schon genügend andere Verrückte«, murmelte Seth. Pladge ließ sich nicht beirren. »Dort haben wir Platz und werden nicht gestört. Hoffentlich kommen Sie bald einmal, Mister Waylock.« Nach einer kurzen Pause erhob Waylock sich. »Ich muß leider wieder nach Hause.« »Sie haben aber Ihr Problem noch gar nicht erwähnt«, stellte Caddigan fest. »Danke, es hat sich weitgehend von selbst erledigt«, sagte Waylock. Er wandte sich an Pladge. »Auf Wiedersehen und gute Nacht.« »Gute Nacht, Mister Waylock. Kommen Sie bald wieder!« Waylock sah zu Seth hinüber. »Mit Vergnügen, Mrs. Caddigan.«
16 Als Waylock am nächsten Morgen in die Anstalt kam, saß Caddigan bereits hinter seinem Schreibtisch. Der Psychotherapeut nahm Waylocks Anwesenheit mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, und Waylock begann seinen Dienst. Im Laufe des Vormittags ging Caddigan mehrmals durch den großen Saal, aber Waylock hatte sorgfältig gearbeitet, und Caddigan entdeckte keine Mängel. Gegen Mittag eilte Basil Thinkoup wie gehetzt durch die Abteilung, sah Waylock und blieb stehen. »Immer fleißig, was?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Komm, Gavin, wir gehen zum Essen. Ich sage Caddigan, daß er sich inzwischen um den Saal kümmern soll.« Sie aßen schweigend, aber bei Kaffee und Zigaretten beugte Thinkoup sich plötzlich nach vorn und sagte eindringlich: »Gavin, es fällt mir nicht leicht, das zuzugeben – aber du bist der einzige Mensch in der ganzen Anstalt, zu dem ich Vertrauen habe. Alle anderen halten mich für übergeschnappt.« Er lächelte verzerrt. »Kurz gesagt, ich brauche deine Hilfe.« »Das ehrt mich«, antwortete Waylock. »Aber es verblüfft mich auch. Du brauchst meine Hilfe?« »Mir bleibt keine andere Wahl. Du weißt, daß ich dich bewundere, aber ich würde mir trotzdem lieber von einem Fachmann helfen lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Leider ist das ausgeschlossen. Meine Vorgesetzten bezeichnen mich herablassend als ›Empiriker‹, und Untergebene wie Seth, die mir Respekt schulden, lassen sich davon anstecken – folglich bin
ich auf mich selbst angewiesen.« »Heutzutage ist jeder auf sich selbst angewiesen.« »Richtig«, stimmte Basil zu. »Aber was hältst du von meiner Bitte?« »Ich bin dir jederzeit gern behilflich.« »Ausgezeichnet!« sagte Basil erleichtert. »Es handelt sich übrigens um eine neue Therapie, die ich an Maximilian Hertzog ausprobieren will.« Waylock erinnerte sich daran, daß Caddigan diesen Namen erwähnt hatte. »Einer unserer schwersten Fälle«, fuhr Basil fort. »Normalerweise liegt er wie eine Marmorstatue im Bett, aber wenn er seine Zustände bekommt, ist er einfach schrecklich!« »In welcher Beziehung soll ich dir helfen?« erkundigte Waylock sich vorsichtig. Basil sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um, bevor er antwortete. »Gavin«, flüsterte er heiser, »ich habe die Lösung des Problems gefunden – eine wirksame Therapie, die achtzig Prozent unserer Kranken heilen müßte.« »Hmm.« Waylock runzelte die Stirn. »Ist das überhaupt wünschenswert?« »Wie meinst du das?« »Sobald wir Kranke als geheilt entlassen, verschärft sich draußen der allgemeine Konkurrenzkampf.« Basil starrte ihn an. »Du bist also der Meinung, wir sollten keine Anstrengungen machen, die Patienten zu heilen?« »Nicht unbedingt«, antwortete Waylock. »Aber ich vermute, daß die verstärkte Konkurrenz dazu führt, daß die Psychose weiter um sich greift.« »Vielleicht«, murmelte Basil ohne große Begeiste-
rung. »Meiner Auffassung nach sorgt jeder Entlassene dafür, daß zwei neue Kranke in Beruhigungsanstalten eingeliefert werden müssen.« Basil runzelte die Stirn und sagte dann energisch. »Na, das ist jedenfalls nicht unsere Sorge. Uns steht es nicht zu, über das Schicksal unserer Mitmenschen zu urteilen; diese Funktion erfüllt der Aktuarius. Wir können nur tun, was in unseren Kräften steht.« Waylock zuckte mit den Schultern. »Du hast eigentlich recht, das Problem betrifft uns gar nicht. Unsere Aufgabe ist es nur, Kranke zu heilen. Das Prytaneon bestimmt die Richtlinien unseres Daseins; der Aktuarius beurteilt unsere Leistungen; die Assassinen sorgen für das rechtzeitige Ende – das sind ihre Funktionen.« »Ganz recht«, stimmte Basil zu. »Sprechen wir also wieder von meiner neuen Therapie. Ich habe bereits einige Versuche angestellt und gewisse Erfolge erzielt. Aber Maximilian Hertzog ist ein geradezu extremer Fall. Wenn ich ihn heilen oder seinen Zustand nur deutlich bessern kann, ist meine Methode glänzend gerechtfertigt.« Basil lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Falls alles wie geplant klappt, müßtest du sofort in Dritte aufsteigen«, stellte Waylock fest. »Dritte, vielleicht sogar Rand. Meine Therapie ist wirklich umwälzend!« »Wenn sie wirkt.« »Das will ich eben beweisen«, sagte Basil. »Darf ich mich nach Einzelheiten dieser Methode erkundigen?« Basil machte eine abwehrende Handbewegung.
»Darüber möchte ich jetzt noch nicht sprechen. Sie ist im Gegensatz zu den bisher angewandten Therapien eine Art Schockbehandlung. Natürlich besteht dabei die Gefahr, daß Hertzogs Zustand sich weiter verschlechtert.« Er runzelte die Stirn. »Sollte dieser Fall eintreten, bekomme ich natürlich ernste Schwierigkeiten; meine Vorgesetzten würden behaupten, ich hätte Menschen als Versuchskaninchen mißbraucht. Und dieser Vorwurf wäre sogar gerechtfertigt.« Basil legte die Hände auf den Tisch und beugte sich nach vorn. »Gavin, ich brauche deine Hilfe. Sollte ich Erfolg haben, bringt dir die Verbindung mit mir weitere Vorteile. Aber aus dem gleichen Grund nimmst du auch ein gewisses Risiko auf dich, wenn du mir hilfst.« »Warum?« Basil zuckte mit den Schultern. »Außer mir ist niemand von meiner Therapie begeistert.« »Ich helfe dir«, sagte Waylock.
17 Maximilian Hertzog lag bewegungslos auf dem großen Operationstisch in Basil Thinkoups Laboratorium; vor seinem Transport hierher war er mit Meioral betäubt worden, aber dieser Zustand würde nicht mehr allzulange anhalten. Waylock betrachtete seinen athletischen Körper mißtrauisch, aber Basil rieb sich zufrieden die Hände. »Ein prächtiges Versuchsobjekt, das uns den Aufstieg sichern wird«, meinte er. »Und vielleicht wird der arme Kerl dabei sogar geheilt.« Er schnallte Hertzogs Arme und Beine los, setzte ihm einen Metallzylinder auf den muskulösen Oberkörper und betätigte einen Schalter am Kopfende des Operationstisches. Über den Bildschirm neben dem Schaltpult huschten Lichtpunkte; am unteren Rand erschien die Zahl 38. »Der Puls ist noch ziemlich langsam«, stellte Basil fest. »Aber wir brauchen nicht lange zu warten. Meioral verflüchtigt sich rasch.« »Was dann?« fragte Waylock. »Ist er bewegungslos oder gewalttätig, wenn er aufwacht?« »Vermutlich bewegungslos. Setz dich, Gavin, ich muß dir das Verfahren erklären.« Waylock nahm auf einem Hocker Platz; Basil lehnte sich an das Schaltpult. Der Pulszähler auf Hertzogs Brust zeigte inzwischen 41 an. »Das wichtigste Symptom der Schizophrenie«, begann Thinkoup, »sind Störungen oder Fehlleitungen der Gehirnströme. Unsere Patienten leiden an einer gänzlich verschiedenen Krankheit – ihr Verstand hat Ähnlichkeit mit einem ›abgewürgten‹ Motor, der
nicht imstande ist, ein offenbar unüberwindliches Hindernis zu bewältigen.« Waylock nickte verständnisvoll. Er warf einen Blick auf den Pulszähler, der jetzt 46 anzeigte. »Ich habe die anerkannten Heilverfahren kritisch analysiert und bin zu dem Schluß gekommen, daß sie ohne Ausnahme mehr oder weniger ungeeignet sind, weil sie am Kern des Problems vorbeizielen. Keine der bisher angewendeten Therapien beseitigt die wahre Ursache der Erkrankung – Lebensangst, Enttäuschung und Melancholie. Wer unsere Patienten kurieren will, muß entweder das Hindernis entfernen – das heißt, er müßte unsere gesamte Zivilisation von Grund auf ändern, was offensichtlich undurchführbar wäre – oder er muß den Verstand der Kranken so beeinflussen, daß dieses Hindernis nicht mehr unüberwindbar erscheint.« »Richtig, das verstehe ich«, stimmte Waylock zu. Basil lächelte ironisch. »Alles ganz einfach, nicht wahr? Aber es ist trotzdem erstaunlich, daß kaum eine der bekannten Behandlungsmethoden dieses Prinzip berücksichtigt. Wodurch sollen die Kranken von ihrer Lebensangst und Melancholie geheilt werden? Suggestion oder Hypnose sind nicht wirkungsvoll genug; Operationen sind zu radikal, da der Patient organisch völlig gesund ist. Elektroschockbehandlungen müssen wirkungslos bleiben, denn die Krankheit beruht nicht auf ungenügend funktionierenden Stromkreisen. Drogen sind vielleicht eher angebracht, da sie Nervenzentren lähmen oder ganz ausschalten können; das Problem besteht darin, sie selektiv zu machen.« Waylock beobachtete den Pulszähler, der jetzt 54 anzeigte.
»Ich habe den ersten Hinweis in einer Arbeit gefunden, die Helmut und Gerard vom Neurochemischen Institut veröffentlicht haben«, fuhr Basil fort. »Damit meine ich natürlich ihre Forschungen auf dem Gebiet der synaptischen Chemie, die sich mit den Vorgängen beschäftigt, die jeweils dann auftreten, wenn ein Impuls von Nerv zu Nerv weitergeleitet wird – der grundlegende Vorgang des Denkprozesses. In diesem kurzen Zeitraum ereignen sich nacheinander einundzwanzig verschiedene chemische Reaktionen; sobald eine dieser Reaktionen nicht stattfindet, wird der Impuls ebenfalls nicht weitergeleitet.« »Ich kann mir vorstellen, worauf du hinauswillst«, sagte Waylock. »Diese Erkenntnis legt den Schluß nahe, daß wir mit Hilfe dieser Methode den Denkvorgang unserer Patienten unterbrechen könnten. Wir suchen nach einem Mittel, das die Erinnerung an ein Hindernis oder Problem auslöscht. Aber wie soll man dabei eine bestimmte Wahl treffen? Logischerweise am besten dadurch, daß man eine der Verbindungen oder ihren Katalysator angreift, während der jeweilige Denkvorgang abläuft. Ich habe mich für die Substanz entschieden, die Helmut und Gerard als Heptant bezeichnen, weil dieser Stoff im Verlauf des Denkprozesses nur kurzzeitig entsteht. Das eigentliche Problem ist gelöst, sobald man ein Mittel zur Verfügung hat, das Heptant bindet und so den ganzen Vorgang unterbricht. Didaktor Vauxine Tuderstell von der Biochemischen Klinik hat sich in meinem Auftrag mit diesem Problem befaßt und es auch gelöst.« Basil öffnete den Medizinschrank und holte eine orangerote Flasche daraus hervor. »Das ist die Lösung – Anti-
heptant. Wasserlöslich, ungiftig, in kleinsten Dosen wirksam. Sobald es mit dem Blutstrom ins Gehirn gelangt, hat es die gleiche Wirkung wie die Löschtaste eines Tonbandgeräts – es löscht den Bewußtseinsinhalt aktiver Stromkreise, ohne dabei die passiven zu beeinflussen.« »Basil«, sagte Waylock ehrlich überzeugt, »das klingt wirklich genial!« »Ein schwieriges Problem blieb allerdings noch zu lösen«, fuhr Basil lächelnd fort. »Wir wollten vermeiden, daß auch der Wortschatz des Patienten gelöscht wird, was eine unausbleibliche Nebenwirkung dieser Behandlung zu sein schien. Glücklicherweise beeinflußt Antiheptant den Wortschatz des Kranken nicht im geringsten. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, weshalb das so ist, bin aber verständlicherweise sehr zufrieden damit.« »Hast du das Mittel bereits ausprobiert?« fragte Waylock. »Bisher nur an einem Patienten, dessen Erkrankung kaum der Rede wert war. Maximilian Hertzog soll die Probe aufs Exempel sein.« »Sein Puls wird allmählich normal«, sagte Waylock. »Wenn wir uns nicht vorsehen, kann er...« Basil machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Grund zur Sorge; wir können jederzeit das Netz fallen lassen.« Er wies auf das engmaschige Netz, das ausgebreitet über dem Operationstisch hing. »Wir müssen sogar erreichen, daß er einen seiner Anfälle bekommt.« Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, wir würden uns alle Mühe geben, diesen Zustand zu verhindern.«
Basil schüttelte den Kopf. »Seine Gedanken sollen sich ausschließlich mit dem unüberwindbaren Hindernis befassen, das sein größtes Problem ist. Dann geben wir ihm Antiheptant! Das Heptant seines Gedankenvorgangs wird sofort gebunden und unschädlich gemacht; der Stromfluß endet – und damit verschwindet auch das eingebildete Hindernis. Der Patient ist wieder gesund.« »So einfach ist das!« »Einfach und elegant.« Basil warf einen Blick auf Hertzogs Gesicht. »Er wacht bald auf. Gavin, du behältst der. Schalter in der Hand, mit dem das Netz ausgelöst wird, und regelst die Antiheptantzufuhr.« »Was habe ich genau zu tun?« »Zuerst schließen wir ein Meßgerät an, das uns zeigt, wie hoch die Antiheptantkonzentration in Hertzogs Gehirn ist. Wir dürfen nicht übertreiben, sonst werden auch andere Gedankenprozesse unterbrochen, die intakt bleiben sollen.« Basil legte zwei Elektroden an den Kopf des Patienten an. »Das Antiheptant ist schwach radioaktiv, was die Mengenbestimmung sehr erleichtert.« Er verband die Drähte mit dem Schaltpult, auf dem mehrere bunte Signallampen in einer Reihe angebracht waren. Jetzt leuchtete ein rotes Lämpchen auf. »Das ist unser Anzeigegerät. Du mußt dafür sorgen, daß die gelbe Lampe in der Mitte aufleuchtet, denn das ist der Idealzustand. Sobald sich die Färbung zu grün verändert, ist die zulässige Dosierung überschritten; wird sie jedoch rötlich, muß mehr Antiheptant zugeführt werden. Verstanden?« »Natürlich.« Basil schob Hertzog eine Nadel in die Vene und
verband den dünnen Schlauch mit einem Tropfbehälter. »Siehst du diesen Knopf, Gavin? Sobald du ihn drückst, wird ein Milligramm Antiheptant in Hertzogs Blut freigesetzt. Der Hebel hier löst notfalls das Netz aus; du betätigst ihn, wenn ich es sage. Sei aber vorsichtig, damit du mich nicht darunter einsperrst. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, drückst du kurz auf den Knopf. Verstanden?« Waylock nickte wortlos. Basil warf einen Blick auf den Bildschirm des Pulszählers. »Jetzt braucht er noch eine Spritze, dann ist sein ›Normalzustand‹ wieder erreicht.« Er gab Hertzog eine Injektion. Der Kranke holte langsam tief Luft; sein Gesichtsausdruck, der eben noch fast entspannt gewesen war, veränderte sich wieder zu einer starren Maske. Waylock sah, daß Hertzog die Fäuste ballte. »Vorsichtig, Basil, er wird gleich gewalttätig.« »Ausgezeichnet«, antwortete Basil, »mehr wollen wir gar nicht.« Er sah sich um. »Du mußt ihn ständig im Auge behalten, damit du das Netz rechtzeitig auslösen kannst.« »Wird gemacht«, versicherte Waylock ihm. »Gut.« Basil beugte sich über den Patienten. »Hertzog. Maximilian Hertzog!« Hertzog schien rascher zu atmen. »Hertzog!« rief Basil laut. »Maximilian Hertzog! Wach auf!« Hertzog bewegte sich. »Hertzog. Du mußt aufwachen. Ich habe gute Nachrichten für dich. Maximilian Hertzog!« Hertzogs Lider zitterten. »Antiheptant«, wies Basil Waylock an. Waylock drückte auf den Knopf und schickte ein
Milligramm Antiheptant in Hertzogs Adern. Das rote Licht wurde orange und schließlich orangegelb. Basil nickte zufrieden. »Hertzog! Aufwachen! Gute Nachrichten!« Die Augen des Patienten öffneten sich einen Spalt breit. Aus gelb wurde wieder rot. »Antiheptant«, sagte Basil. Waylock drückte auf den Knopf; die Lampe leuchtete gelb auf. »Hertzog«, flüsterte Basil drängend, »du bist ein Versager. Du kannst nie in Dritte aufsteigen – Antiheptant, Gavin –, Hertzog, du hast dir alle Mühe gegeben, aber zu viele Fehler gemacht. Daran bist nur du allein schuld. Du hast dein Leben vergeudet, Hertzog.« Der Kranke atmete schwer. Basil gab Waylock ein Zeichen, ihm noch mehr Antiheptant einzuflößen. »Maximilian Hertzog«, fuhr er rasch fort, »du bist ein jämmerlicher Versager. Andere Männer erreichen Dritte, aber du schaffst es nie. Du hast versagt. Du hast deine Zeit vergeudet. Du hast ein Ziel vor Augen, das du nie erreichen wirst.« Auf Hertzogs Stirn traten die Adern hervor. Sein Atem kam stoßweise. »Antiheptant, Gavin, Antiheptant.« Waylock drückte auf den Knopf, und die Lampe leuchtete wieder gelb. Basil wandte sich nochmals an den Patienten. »Hertzog – erinnerst du dich an die vielen verpaßten Gelegenheiten? An die Männer, die keineswegs intelligenter als du waren, obwohl sie jetzt in Dritte oder Rand sind? Und du hast nur eine letzte Fahrt in der schwarzen Limousine zu erwarten!« Maximilian Hertzog setzte sich langsam auf. Er
starrte Basil an, bewegte dann den Kopf und sah zu Waylock hinüber. Keiner der drei Männer sprach. Basil war sprungbereit, Waylock stand wie erstarrt. Das rote Licht leuchtete wieder. »Mehr Antiheptant?« fragte Waylock leise. »Nein«, antwortete Basil nervös, »vorläufig noch nicht... Wir dürfen nicht allzuviel auslöschen.« »Was wollen Sie auslöschen?« erkundigte Hertzog sich. Er betastete seinen Kopf, spürte die Elektroden und betrachtete verblüfft seinen Arm. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Bitte«, sagte Basil rasch und machte eine abwehrende Handbewegung. »Lassen Sie bitte alles, wie es jetzt ist, sonst können wir die Behandlung nicht fortsetzen.« »Behandlung?« Hertzog schüttelte verblüfft den Kopf. »Bin ich denn krank? Ich fühle mich eigentlich ganz wohl.« Er rieb sich die Stirn. »Mir ist es nie besser gegangen. Wissen Sie bestimmt, daß Sie den richtigen Mann behandeln? Ich bin...« Er runzelte die Stirn. »Mein Name ist...« Basil warf Waylock einen bedeutungsvollen Blick zu. Das Mittel hatte Hertzogs Erinnerungsvermögen so stark beeinflußt, daß er selbst seinen Namen vergessen hatte. »Sie heißen Maximilian Hertzog«, erklärte Basil ihm. »Ah. Ja – richtig.« Hertzog sah sich um. »Wo bin ich?« »Sie sind im Krankenhaus«, sagte Basil beruhigend. »Wir sorgen für Sie.« Maximilian Hertzog starrte ihn forschend an, und
Basil fuhr rasch fort: »Am besten legen Sie sich wieder zurück und entspannen sich. In drei oder vier Tagen können wir Sie wieder entlassen.« Hertzog sank zurück und sah mißtrauisch von Basil zu Waylock. »Wo bin ich eigentlich? Was fehlt mir? Ich habe keine Ahnung.« Er starrte das Netz über sich an. »Was...?« Dann las er die gestickten Silberbuchstaben auf Waylocks linker Brusttasche: Palliatorium Balliasse. »Beruhigungsanstalt Balliasse«, krächzte Hertzog. »Bin ich als Verrückter eingeliefert worden?« Seine Stimme wurde heiser. »Lassen Sie mich hinaus, mir fehlt nichts; ich bin so normal wie jeder andere!« Er riß sich die Elektroden vom Kopf und die Nadel aus dem Arm. »Nein, nein«, rief Basil beschwörend. »Sie müssen ganz ruhig bleiben, Sie dürfen sich nicht aufregen!« Hertzog schob ihn von sich fort und wollte vom Operationstisch springen. Waylock löste das Netz aus; es fiel schwer nach unten und hielt Hertzog auf dem Tisch fest. Er begann zu kreischen und hatte schließlich sogar Schaum vor dem Mund, während er die unnachgiebigen Maschen zu zerreißen versuchte. Basil näherte sich ihm mit einer Impfpistole in der Hand. Sekunden später lag Hertzog bewußtlos auf dem Tisch. Waylock holte tief Luft. »Puh!« Basil ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Nun, was hältst du davon, Gavin?« »Er scheint für kurze Zeit vernünftig und ansprechbar gewesen zu sein«, antwortete Waylock vorsichtig. »Die Methode ist offenbar aussichtsreich.«
»Aussichtsreich«, rief Basil. »Gavin, sie ist unvergleichlich! Keines der anderen Verfahren hätte ein ähnlich gutes Resultat erzielt!« Sie nahmen Hertzog das Netz ab, legten ihn auf eine Tragbahre und ließen ihn von zwei Krankenpflegern in den Saal für Schwerkranke zurückbringen. »Morgen müssen wir bis zu den Querverbindungen vordringen«, stellte Basil fest. »Wir dürfen uns nicht auf die eigentliche Ursache seiner Erkrankung beschränken, sondern auch die Nebenwirkungen berücksichtigen.« Als sie durch Basils Arbeitszimmer hinausgingen, räumte Seth Caddigan eben seinen Schreibtisch auf. »Nun, meine Herren«, fragte er neugierig, »wie geht die Sache voran?« Basil zuckte mit den Schultern. »Oh, ich bin recht zufrieden.« Caddigan warf ihm einen skeptischen Blick zu, schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber doch und wandte sich ab. Basil und Gavin fuhren in die Stadt zurück und suchten eine der alten Tavernen auf, wo sie eine holzgetäfelte Nische für sich allein hatten. Sie tranken Bier aus großen Steinkrügen. Waylock brachte einen Toast auf Basils neue Heilmethode aus, und Basil antwortete mit einem auf Gavins erfolgreiche Zukunft. »Ich freue mich, daß du nichts mehr mit Carnevalle zu tun hast«, stellte Basil fest. »Dabei fällt mir übrigens ein – Die Jacynth Martin hat mich neulich angerufen. Erst gestern abend, um es genau zu sagen.« Waylock starrte ihn an. »Ich kann mir nicht vorstellen, was sie von mir
wollte«, fuhr Basil fort und griff nach seinem Bierkrug. »Wir haben drei oder vier Minuten lang über unbedeutende Kleinigkeiten gesprochen, dann hat sie sich bedankt und aufgelegt. Ein faszinierendes Wesen.« Basil trank seinen Krug leer und setzte ihn geräuschvoll auf den Tisch. »So, jetzt muß ich nach Hause, Gavin.« Die beiden Männer verabschiedeten sich vor der Taverne. Basil fuhr in sein bescheidenes Appartement am Semaphore Hill; Waylock ging nachdenklich die Riverside Road entlang. Die Jacynth Martin hatte also begonnen, nach der Ursache ihres plötzlichen Hinscheidens zu forschen. Nun, von Basil würde sie nicht viel erfahren, und er selbst würde sich hüten, ihr etwa zu erklären, wie es dazu gekommen war. Ein Ungeheuer. Waylock lachte grimmig in sich hinein. Diesen Namen würden ihm die Bürger von Clarges geben. Der heimtückische Mord, dem Die Jacynth Martin zum Opfer gefallen war, sollte offenbar nicht bekannt werden – das war die übliche Methode, wenn Amaranth in die Affäre verwickelt waren. Waylock erinnerte sich verbittert daran, daß ein anderer Todesfall vor sieben Jahren keineswegs vertuscht, sondern im Gegenteil unmäßig aufgebauscht worden war. Wenige Minuten später erreichte er sein Appartement. Er öffnete die Tür. Die Jacynth Martin saß ruhig auf seiner Couch.
18 Die Jacynth erhob sich. »Sie entschuldigen hoffentlich mein Eindringen. Die Tür war unverschlossen, deshalb bin ich gleich hereingekommen.« Waylock wußte bestimmt, daß er die Tür abgeschlossen hatte. »Ich freue mich, daß Sie gleich hiergeblieben sind.« Er trat rasch auf sie zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuß. »Ich habe Sie schon sehnsüchtig erwartet.« Die Jacynth löste sich aus seiner Umarmung und starrte Waylock unsicher an. Sie trug heute ein weites weißes Kleid, das gut zu dem blonden Haar und den dunkelblauen Augen paßte. »Wirklich ein außergewöhnlicher Anblick«, murmelte Waylock. »Allein wegen Ihrer Schönheit müßten Sie eine Amaranth sein.« Er streckte nochmals die Arme nach ihr aus, aber Die Jacynth trat zurück. »Ich muß Sie leider enttäuschen«, sagte sie mit einer abwehrenden Bewegung. »Ihr Verhältnis zu der früheren Jacynth betrifft mich nicht im geringsten. Ich bin die neue Jacynth!« »Die neue Jacynth? Weshalb?« »Das muß sich noch herausstellen.« Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Sie sind... Gavin Waylock?« »Selbstverständlich.« »Sie haben große Ähnlichkeit mit einem anderen – mit einem Mann namens Grayven Warlock.« »Der Grayven Warlock lebt nicht mehr. Ich bin sein Relikt.« Die Jacynth zog die Augenbrauen hoch. »Tatsäch-
lich?« »Tatsächlich. Aber ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen.« »Schön, dann erkläre ich es Ihnen«, antwortete sie rasch. »Ich bin Die Jacynth Martin. Vor etwa einem Monat wurde meine frühere Version in Carnevalle entleibt. Anscheinend haben wir einen Teil des Abends gemeinsam verbracht. Wir saßen im Café Pamphylia und trafen dort Basil Thinkoup; wenig später kamen auch Der Albert Pondiferry und Der Denis Lestrange an unseren Tisch. Unmittelbar vor meinem Hinscheiden entfernten Sie sich mit Basil Thinkoup. Stimmt das alles?« »Lassen Sie mich überlegen«, bat Waylock. »Sie heißen also nicht Mira Martin und sind kein GlarkMädchen?« »Ich bin Die Jacynth Martin.« »Und Sie wurden entleibt?« »War Ihnen das nicht klar?« Waylock zuckte mit den Schultern. »Wir sahen, daß Sie auf dem Tisch zusammengesunken waren. Offenbar war Ihnen irgend etwas nicht bekommen – Ihnen war vermutlich schlecht geworden. Der Albert und Der Denis wollten sich um Sie kümmern. Wir konnten also unbesorgt gehen.« Er deutete auf die Couch. »Nehmen Sie doch wieder Platz; ich möchte Ihnen ein Glas Wein anbieten.« »Nein. Ich bin nur gekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen.« »Gut, wenn es sein muß. Was wollen Sie von mir wissen?« Ihre Augen funkelten. »Die näheren Umstände meines Hinscheidens! Ein Bösewicht hat mir mein
Leben geraubt. Ich muß seinen Namen erfahren und an ihm Rache nehmen. Dieses Verbrechen schreit nach Rache!« »Verbrechen ist kaum der richtige Ausdruck«, erwiderte Waylock gelassen. »Sie leben weiterhin. Sie stehen vor mir und sind so schön und jugendlich wie damals in Carnevalle.« »Mit dem gleichen Argument würde auch ein Ungeheuer sein Verbrechen entschuldigen wollen.« »Sie werfen mir vor, ich sei ein Ungeheuer, ich sei an Ihrem Hinscheiden schuld?« »Ich habe Ihnen nichts dergleichen vorgeworfen; ich habe nur Ihre Denkungsart kritisiert.« »Dann denke ich in Zukunft nie wieder«, versprach Waylock lächelnd. »Außerdem fällt mir eben ein netterer Zeitvertreib ein.« Er streckte wieder die Arme nach ihr aus. Die Jacynth trat rasch zurück und wurde vor Wut und Verlegenheit blutrot. »Ich habe nichts mit Ihrem Verhältnis zu meiner Vorgängerin zu schaffen; Sie sind mir völlig fremd!« »Ich mache gern einen neuen Anfang«, sagte Waylock. »Kommen Sie, darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?« »Ich will keinen Wein, sondern nur Informationen! Ich muß wissen, wie ich entleibt worden bin.« Sie ballte die Fäuste. »Ich muß es wissen und werde es erfahren! Erzählen Sie mir davon!« Waylock zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.« »Wir sind uns irgendwo begegnet... wo haben wir uns getroffen? Wann? Haben Sie nicht in Carnevalle vor dem Haus des Lebens gearbeitet?«
»Ah, ich sehe, daß Sie sich gut mit Basil Thinkoup unterhalten haben.« »Ja. Vor einem Monat waren Sie noch in Carnevalle beschäftigt. Dann haben Sie plötzlich diesen Beruf, den Sie sieben Jahre lang ausgeübt hatten, von einem Tag zum anderen aufgegeben. Sie haben sich in Brut registrieren lassen und Ihre ganze Lebensweise geändert. Warum?« Waylock kam langsam auf sie zu. Die Jacynth wich Schritt für Schritt vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ihre Fragen sind reichlich impertinent.« »So«, flüsterte sie. »Wie leicht Sie zu finden waren, wie deutlich Ihnen das Schuldbewußtsein im Gesicht geschrieben steht!« »Sie beurteilen mich falsch«, protestierte Waylock. »Sie sind von Anfang an der Überzeugung gewesen, ich sei an Ihrem Ende schuld.« Die Jacynth machte sich mit einem Ruck frei. »Ich kann die Berührung Ihrer Hände nicht ertragen.« »Dann ist nicht einzusehen, weshalb Sie noch länger bleiben sollen.« »Sie haben also nicht die Absicht, meine Fragen offen und ehrlich zu beantworten?« »Nein. Solange Ihr Verdacht gegen mich besteht, würden Sie mir ohnehin nicht glauben.« »Dann müssen Sie eben unter Zwang antworten, dafür kann ich sorgen!« Sie drängte sich an ihm vorbei und erreichte die Tür; dort blieb sie kurz stehen, warf ihm noch einen wütenden Blick zu und ging dann. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.
19 Waylock hörte ihre Schritte im Flur verhallen. Er blieb einige Minuten lang bewegungslos stehen und hing seinen Gedanken nach. Weshalb hatte Die Jacynth es gewagt, ihn um diese Zeit ohne Begleitung in seinem Appartement aufzusuchen obwohl sie ihn bereits in Verdacht hatte, an ihrem Hinscheiden mitschuldig zu sein? Plötzlich fiel ihm etwas ein; er sah sich suchend um und ließ sich auf die Knie nieder. Unter der Couch lag tatsächlich ein Sender – ein winziges Gerät, das nicht größer als eine Streichholzschachtel war. Irgend jemand mußte das Gespräch mitgehört haben und wäre vermutlich sofort gekommen, wenn Tätlichkeiten zu befürchten waren. Das erklärte ihre unbegreifliche Kühnheit. Waylock zermalmte den Sender mit dem Absatz und warf die Trümmer in den Müllschlucker. Dann nahm er eine Weintraube aus der Obstschale, ließ sich auf die Couch fallen und dachte angestrengt nach. Die Jacynth Martin brauchte nur eine Beschwerdeanzeige einzureichen. Die Assassinen würden ihn in eine Verhörzelle einliefern. Drei Tribunen würden beim Verhör anwesend sein, um darüber zu wachen, daß alles mit rechten Dingen zuging – aber er konnte nicht verhindern, daß er unter Einfluß der Wahrheitsdroge alles aussagte, was er im Zusammenhang mit diesem Fall wußte. Sollte er sich als unschuldig erweisen, würde Die Jacynth Schadenersatz leisten müssen. War er jedoch
schuldig, konnte er nicht auf Gnade oder Mitleid hoffen; in diesem Fall würde es bald keinen Gavin Waylock mehr geben. Waylock starrte mißmutig aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Seine eigenen Gedanken würden ihn verraten; ein Verhör dieser Art brachte unweigerlich die Wahrheit an den Tag... Er sprang plötzlich auf. Gedankenerforschung! Sie sollten ruhig versuchen, seine Gedanken zu erforschen! Sie würden trotzdem keinen Hinweis finden! Ihm war eben eingefallen, wie er sich davor schützen konnte. Er ging erregt auf und ab. Eine halbe Stunde verstrich, fünfundvierzig Minuten, eine Stunde. Dann setzte er sich an sein Tonbandgerät und diktierte zwei längere Passagen. Er verpackte das erste Band in einem Karton; das zweite blieb auf dem Gerät und wurde durch eine kurze schriftliche Erklärung ergänzt, die an ihn selbst gerichtet war. Dann stellte er seinen Wecker auf sechs Uhr und ging zu Bett.
20 Waylock traf ungewöhnlich früh in der Anstalt ein und begegnete am Tor den Schwestern und Pflegern, die Nachtdienst gehabt hatten. Der Pförtner verlangte seinen Ausweis. Waylock zeigte ihn vor und fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf. Auf Basils Schreibtisch leuchtete ein rotes Blinklicht auf, das anzeigen sollte, daß eine Nachricht für ihn vorlag. Waylock drückte auf den Lautsprecherknopf und hörte sich die Aufzeichnung an. »Aus dem Büro des Verwaltungsdirektors Benberry«, sagte eine weibliche Stimme. »Für Basil Thinkoup persönlich.« Dann kam Benberrys heisere Stimme. »Basil, kommen Sie bitte sofort zu einer Besprechung zu mir. Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir Ihre Arbeit dem Aufsichtsrat gegenüber rechtfertigen können. Diese planlosen und undisziplinierten Versuche müssen endlich aufhören. Arbeiten Sie auf keinen Fall weiter, bevor Sie mit mir gesprochen haben.« Waylock verließ das Büro und ging ins Laboratorium hinüber. Dort füllte er eine Injektionsspritze mit Antiheptant. Der orangerote Plastikbehälter war fast leer. Aber Basil würde kein Antiheptant mehr brauchen, während Waylock dieses Mittel vielleicht auch in Zukunft nutzbringend verwerten konnte... Er füllte den Rest in eine Flasche ab und goß den Plastikbehälter voll destilliertes Wasser. Dann ging er in Basils Arbeitszimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch und legte die erste Tonbandspule ein.
Dann hob er die Injektionsspritze und wollte sich das Mittel einspritzen, zögerte aber noch und schrieb zuerst eine Notiz, die er auf den Schreibtisch vor sich legte. Jetzt nahm er die Spritze ein zweitesmal zur Hand und injizierte sich das Antiheptant. Er wartete und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. An nichts denken. Jeder Gedanke, jede Idee mußte gelöscht werden. Nichts denken. Gar nichts denken. Sein Kopf schmerzte, als müsse er im nächsten Augenblick zerspringen. Ich heiße Gavin Waylock... Daran dachte er nur einmal; später wußte er nicht mehr, wie er hieß. Auf seiner Stirn erschienen große Schweißperlen. Nichts, nichts, nichts. Die Tonbandstimme begann zu sprechen. Sie beschrieb den Abend in Carnevalle, an dem ihm Die Jacynth Martin begegnet war. Das Tonbandgerät verstummte. Waylock schloß die Augen, lehnte sich in den Sessel zurück und entspannte sich völlig. Das Antiheptant verbreitete sich durch seinen Körper. Waylock wußte nicht mehr, wo er war und was er tat... Er setzte sich wieder auf. Der engbeschriebene Zettel erregte seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich nach vorn und las: Ich habe eben die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis aus meinem Gedächtnis gelöscht. Vielleicht habe ich auch andere Tatsachen vergessen. Ich heiße Gavin Waylock. Falls mich jemand danach fragen sollte, bin ich das Relikt des verstorbenen Grayven Warlock. Meine Adresse lautet Phariot Way 414, Appartement 820. Dann folgten andere Informationen ähnlicher Art, die mit der Warnung schlossen: ... Weitere Gedächtnislücken sind zu erwarten. Versuche nicht zu erraten, welche Erinnerungen gelöscht wurden.
Es ist möglich, daß die Assassinen dir einen Besuch abstatten; vielleicht kommt es auch zu einem Verhör, in dem du nach dem Hinscheiden der Jacynth Martin gefragt wirst, von dem du nichts weißt. ACHTUNG: Du mußt die Aufzeichnungen der letzten Viertelstunde löschen. Du darfst sie dir unter keinen Umständen anhören, weil dadurch der Versuchserfolg zunichte gemacht würde. Waylock las die Nachricht zweimal durch und löschte dann die Aufzeichnung. Er hieß also Gavin Waylock; der Name kam ihm irgendwie bekannt vor... Er legte die Injektionsspritze an ihren Platz zurück und entfernte dann sorgfältig alle Spuren seines Versuchs. Seth Caddigan kam wenige Minuten später herein; er warf Waylock einen überraschten Blick zu. »Weshalb sind Sie schon so früh hier?« »Arbeitseifer«, erklärte Waylock ihm. »Gewissenhaftigkeit.« »Erstaunlich.« Caddigan ging an seinen Schreibtisch und runzelte die Stirn. »Anscheinend fehlt wirklich nichts.« Waylock ignorierte ihn. »Haben Sie das letzte Gerücht schon gehört?« fragte Caddigan wenig später. »Basils Stunden sind offenbar gezählt. Er soll wegen erwiesener Unfähigkeit entlassen werden. Vermutlich wird es Ihnen nicht viel besser gehen. An Ihrer Stelle würde ich mich nach einem anderen Tätigkeitsbereich umsehen.« »Vielen Dank für den guten Rat«, sagte Waylock. »Ihre ehrliche Abneigung ist wirklich erfrischend, Caddigan. Sie ist mir jedenfalls viel lieber als eine
synthetische Freundschaft.« Caddigan lächelte grimmig und vertiefte sich in seine Papiere. Dann erklangen draußen Basils Schritte. Er kam fröhlich lächelnd herein. »Guten Morgen, Seth; guten Morgen, Gavin! Wieder ein arbeitsreicher Tag vor uns! Verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst besorgen. Die Uhr steht nicht still; verschwendete Zeit ist vergeudetes Leben!« »Meine Güte, wie fröhlich!« murmelte Caddigan spöttisch. Basil drohte ihm unbekümmert mit dem Zeigefinger. »Sie werden sich noch an meinen guten Rat erinnern, wenn der Assassine an Ihrer Tür klopft. Komm, Gavin, wir machen uns gleich an die Arbeit.« Waylock folgte ihm zögernd in sein Arbeitszimmer und starrte verlegen aus dem Fenster, während Basil sich die Aufzeichnung anhörte. Basil stand einen Augenblick wie erstarrt, dann holte er tief Luft. »Pah!« Er schaltete das Gerät aus, kam ans Fenster und sah zu Waylock auf. »Das habe ich einfach nicht gehört. Hast du Benberrys Anweisung gehört, Gavin?« Waylock zögerte. Der orangerote Behälter war jetzt nur mit destilliertem Wasser gefüllt. »Wir können jetzt nicht einfach aufhören«, fuhr Basil fort. »Wir stehen dicht vor einer großen Entdeckung! Wenn wir uns von Kleinigkeiten beeinflussen lassen, sind wir verloren.« »Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir...«, begann Waylock, aber Basil unterbrach ihn sofort. »Du mußt tun, was du für richtig hältst, Gavin. Ich habe jedenfalls die Absicht, das Experiment zu Ende zu führen. Wenn du mir dabei nicht helfen willst, kom-
me ich auch allein zurecht.« Waylock schluckte trocken. Benberrys Anweisung kümmerte ihn herzlich wenig; aber er konnte Basil nicht erklären, wozu er das Antiheptant benützt hatte. Basil stand bereits an der Gegensprechanlage und gab Anweisung, Maximilian Hertzog in sein Laboratorium zu bringen. Waylock folgte ihm zögernd in den Nebenraum. Eine Wasserinfektion konnte Hertzog nicht schaden; vielleicht wachte er nicht einmal aus seinem Dämmerzustand auf. Bekam er jedoch einen Anfall – nun, dann war schließlich noch das Netz da. Er machte einen letzten Versuch, das Experiment aufzuhalten; aber Basil ließ sich nicht umstimmen. »Ich habe Verständnis für deine Bedenken, Gavin; meinetwegen kannst du mich mit ihm allein lassen und inzwischen etwas anderes tun, ohne daß ich dir deswegen böse wäre. Aber ich muß diesen Versuch zu Ende führen. Er ist wichtiger als alles andere, denn wenn er glückt, ist endlich bewiesen, daß meine werten Kollegen mich bisher unterschätzt haben. Ich werde sie öffentlich bloßstellen! Und Benberry – dieser lächerliche Affe!« Ein Glockenton erklang, dann öffnete sich die Tür. Zwei Krankenwärter brachten Maximilian Hertzog auf einer Tragbahre herein, legten den Bewußtlosen auf den Operationstisch und verließen das Laboratorium. Basil traf seine Vorbereitungen. Waylock beobachtete ihn schweigend. Wenn er zugab, daß er das Antiheptant für seine Zwecke verwendet hatte, mußte er einen Grund dafür angeben. Er konnte sich nicht
mehr genau daran erinnern, aber die Nachricht, die er für sich selbst niedergeschrieben hatte, enthielt einen Hinweis darauf. Basil betrachtete sein Schweigen als Zustimmung. »Erinnerst du dich noch an deine Aufgaben?« »Natürlich«, murmelte Waylock. Das Netz erschien ihm plötzlich viel zu schwach und keineswegs unzerreißbar. Er öffnete die Tür des Lagerraums, der sich an das Laboratorium anschloß. »Was soll das?« wollte Basil wissen. »Das ist unser Notausgang, falls das Netz reißt«, erklärte Waylock ihm. »Hmmm«, meinte Basil. »Heute brauchen wir das Netz bestimmt nicht. Fertig? Antiheptant!« Waylock drückte auf den Knopf; einige Milligramm Wasser flossen in Hertzogs Adern. Basil beobachtete den Strahlungsmesser. »Mehr, mehr!« Er runzelte die Stirn. »Was ist mit der verdammten Apparatur los?« »Vielleicht ist es das falsche Mittel«, wandte Waylock ein. »Oder es ist schon zu alt.« »Das verstehe ich einfach nicht. Gestern hat alles wunderbar geklappt.« Basil warf einen kritischen Blick auf den orangeroten Behälter. »Die gleiche Lösung... Na, vielleicht kommen wir auch so zurecht.« Er beugte sich über die bewegungslose Gestalt. »Maximilian Hertzog! Wach auf! Maximilian Hertzog! Wach auf! Maximilian Hertzog – heute wirst du aus der Anstalt entlassen. Wach auf!« Hertzog richtete sich so plötzlich auf, daß Basil rückwärts taumelte und gegen Waylock prallte. Hertzog riß sich die Elektroden vom Kopf und die Infusionsnadel aus dem Arm. Er stieß ein heiseres Knurren
aus, sprang vom Tisch und starrte die beiden Männer mit blutunterlaufenen Augen an. »Das Netz!« rief Basil. Hertzog streckte den Arm nach ihm aus; Basil wich blitzschnell zurück. Waylock warf Hertzog einen Hocker vor die Beine, hielt Basils Arm fest und zerrte ihn hinter sich her in den Lagerraum. Hertzog stieß den Hocker beiseite und rannte hinter ihnen her. Die Tür fiel vor seiner Nase ins Schloß. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen; Basil und Waylock spürten, daß die ganze Wand nachzugeben drohte. »Wir können nicht einfach hierbleiben«, stellte Basil fest. »Wir müssen ihn überwältigen.« »Wie?« »Das weiß ich selbst nicht – aber wir müssen es schaffen! Sonst bin ich ruiniert!« Draußen ertönten leise Schritte, die allmählich schwächer wurden, als schleiche jemand durch das Laboratorium. Schließlich verstummten sie völlig. Dann folgten fast gleichzeitig ein dumpfes Knurren und ein Schreckensschrei: Seth Caddigans entsetzte Stimme. Waylock schloß die Augen. Der Schrei wurde ein schwaches Wimmern, das plötzlich aufhörte. Dann hörten sie ein triumphierendes Brüllen: »Ich bin Hertzog! Der Killer Hertzog! Maximilian Hertzog!« Basil war in die Knie gesunken. Waylock beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus und war sich darüber im klaren, daß er die Schuld an Caddigans Tod trug. Er öffnete die Tür, schlich durch das Laboratorium und blieb auf der Schwelle zu Basils Arbeitszimmer stehen.
Seth Caddigans Leiche lag am Fenster. Waylock starrte den zerschmetterten Körper erschüttert an. In diesem Augenblick fühlte er sich wirklich wie ein Ungeheuer. Er hatte Tränen in den Augen. Basil Thinkoup war leise hereingekommen. Er sah Caddigan und schlug die Hände vors Gesicht. Vom Korridor her erklang ein schriller Schrei, ein heiseres Gebrüll, eine entsetzte weibliche Stimme. Waylock rannte ins Laboratorium zurück und füllte eine Impfpistole mit dem stärksten Betäubungsmittel in Basils Vorräten, das augenblicklich wirken mußte. Aber die Pistole allein war nicht wirksamer als ein Schneebesen. Waylock griff nach einem fast zwei Meter langen Plastikrohr, befestigte die Impfpistole mit Klebstreifen am vorderen Ende und band eine Schnur um den Abzug. Jetzt war er ausreichend bewaffnet. Er rannte durch das Büro, wich Basil aus und blieb an der Tür stehen, um vorsichtig in den Flur hinauszusehen. Der Angstschrei einer Frau verriet ihm, wo Hertzog stecken mußte. Waylock lief den Korridor entlang und blieb vor einer zertrümmerten Tür stehen. Hertzog beugte sich über die Leiche eines Mannes. An der Wand stand eine Krankenschwester mit vor Schreck glasigen Augen. Sie schrie nochmals entsetzt auf, als Hertzog sich ihr langsam näherte. Der Kranke griff nach ihren Haaren, vergrub die Finger darin und schüttelte ihren Kopf verspielt hin und her, als wolle er ihn im nächsten Moment mit einem einzigen Ruck abreißen. Hinter der gläsernen Trennungswand drängten sich schreckensbleiche Gesichter mit offenen Mündern.
Waylock blieb auf der Schwelle stehen und starrte den Toten an. Vor ihm lag Didaktor Benberry. Er holte tief Luft, trat vor, hielt die Impfpistole dicht an Hertzogs Nacken und betätigte den Abzug mit Hilfe der Schnur; die Ladung drang durch die Haut in die Nervenzentren des Amokläufers. Hertzog ließ sein Opfer los und warf sich herum. Er griff nach seinem Nacken, starrte Waylock ausdruckslos an und stürzte sich auf ihn. Gavin wich zurück, wehrte den Angriff mit dem Plastikrohr ab und wäre fast über Didaktor Benberrys Leiche gestolpert. Zum Glück sackte Hertzog im gleichen Augenblick bewußtlos zusammen, als das Betäubungsmittel endlich zu wirken begann. Waylock ließ das Rohr fallen, lehnte sich an den Türrahmen und wartete, bis die Krankenpfleger kamen. In ihrer Begleitung erschien der stellvertretende Didaktor Sam Yudill; er blieb in der Tür stehen und starrte die Leiche seines Vorgesetzten an. Waylock hatte das Gefühl, der Raum drehe sich vor seinen Augen. Die Stimmen wurden leiser, bis er nur noch sein Herz dröhnend laut schlagen hörte.
21 Caddigans Leiche war entfernt worden. Basil stand am Fenster und rang die Hände. »Armer Kerl...« Er drehte sich nach Waylock um. »Was kann passiert sein? Gavin, was kann eigentlich schiefgegangen sein?« »Wir müssen irgend etwas übersehen haben«, murmelte Waylock. Basil starrte ihn forschend an, als sei plötzlich ein bestimmter Verdacht in ihm aufgestiegen. Aber dann zuckte er nur hoffnungslos und verbittert mit den Schultern, ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und schloß müde die Augen. Waylock fiel etwas ein. »Ist Caddigans Frau benachrichtigt worden?« »Was?« Basil schrak auf. »Yudill hat vorhin bei ihr angerufen und ihr unser Beileid ausgesprochen.« Sie saßen einige Minuten lang schweigend nebeneinander. Dann wurde Basil am Visorphon verlangt; der Anrufer war Didaktor Sam Yudill, der vorläufig die Leitung der Anstalt übernommen hatte. »Thinkoup, die Untersuchungskommission ist hier; wir wollen uns gleich an die Arbeit machen. Kommen Sie sofort in mein Büro.« »Selbstverständlich«, antwortete Basil. »Ich bin gleich da.« Der Bildschirm wurde dunkel; Basil erhob sich schwerfällig. »Die letzte Runde«, murmelte er und fügte dann mit gespielter Heiterkeit hinzu: »Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen, Gavin; ich schaffe es schon irgendwie.« Er klopfte
Waylock auf die Schulter und ging hinaus. Waylock kehrte ins Laboratorium zurück, räumte die zertrümmerten Einrichtungsgegenstände zur Seite und suchte nach dem orangeroten Behälter. Er goß das destillierte Wasser aus und warf den Behälter in den Müllschlucker. Dann nahm er im Vorzimmer an Caddigans Schreibtisch Platz. Kurze Zeit später hielt er es nicht mehr auf Caddigans Stuhl aus und ging unruhig auf und ab, als könne er dadurch seine Verzweiflung mildern. Weshalb empfand er eigentlich dieses Schuldbewußtsein? Das Leben in Clarges glich einem fortgesetzten harten Existenzkampf – wer in eine höhere Phyle aufstieg, bewirkte damit nur, daß sich das Leben sämtlicher Angehöriger der untersten Phyle um einige Sekunden verkürzte. Gavin Waylock hatte die Absicht, in diesem Kampf siegreich zu bleiben; er hielt sich im Grunde genommen streng an die Wettbewerbsregeln. Der Grayven Warlock hatte bereits die höchste Phyle erreicht, und Gavin Waylock befand sich deshalb im Recht, wenn er alle Möglichkeiten ausschöpfte, um diese Stufe wieder zu erklimmen. Draußen ertönten Schritte. Basil Thinkoup betrat mit hängenden Schultern den Raum. »Ich bin entlassen«, sagte er. »Meine Arbeit im Palliatorium Balliasse ist beendet. Dabei habe ich noch Glück gehabt, denn ich wäre fast den Assassinen übergeben worden.«
22 Der bedauerliche Unglücksfall, dem Didaktor Rufus Benberry und Seth Caddigan zum Opfer gefallen waren, wurde überall in Clarges ausführlich diskutiert. Gavin Waylock wurde wegen seines Einfallsreichtums und seiner ›vorbildlichen Tapferkeit‹ allgemein gelobt; Basil Thinkoup wurde als ›sturer Mechanist‹ bezeichnet, der ›die seiner Obhut anvertrauten hilflosen Patienten als Versuchsobjekte mißbrauchte, um dadurch in eine höhere Phyle zu gelangen‹. Als Basil sich endlich von Gavin Waylock verabschiedete, war er ein gebrochener Mann. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, in den Augen standen Tränen, die er nicht unterdrücken konnte; er war völlig verwirrt. »Woran kann es nur gelegen haben?« fragte er immer wieder. »Vielleicht hat es nicht sein sollen, Gavin. Vielleicht wollte das Große Gute Prinzip, daß wir an dieser Krankheit leiden, damit unser Stolz nicht überhandnimmt.« Er lächelte schwach. »Was hast du jetzt vor?« fragte Waylock. »Ich muß mir einen anderen Beruf suchen; Psychotherapie ist anscheinend doch nicht meine Stärke. Ich habe mich schon auf einem anderen Gebiet umgesehen; wenn ich dort Erfolg habe, kann ich vermutlich...« Er schüttelte den Kopf. »Aber das muß sich erst herausstellen.« »Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute«, sagte Waylock. »Und ich dir, Gavin.«
23 Der neue Anstaltsleiter war Didaktor Leon Gradella, ein Fremder in Balliasse, der aus einer anderen Anstalt hierher versetzt worden war. Gradella hatte einen schlecht proportionierten Körper – an einem massiven Rumpf saßen spindeldürre Arme und Beine. Sein Haupt mit der silbergrauen Löwenmähne war eindrucksvoll; die dunklen Augen schienen jede Kleinigkeit wahrzunehmen. Gradella gab bekannt, er habe die Absicht, das Personal umgehend auf seine Eignung zu prüfen, um in Zukunft Fehlbesetzungen zu vermeiden. Keiner der Betroffenen verließ lächelnd sein Arbeitszimmer, und niemand wollte über den Verlauf seines Interviews sprechen. Am zweiten Tag wurde Gavin Waylock nachmittags zu Gradella gerufen, der ihm wortlos einen Stuhl anwies und seinen Personalakt in den Projektor legte. »Gavin Waylock, Brut.« Gradella las weiter und sah dann auf. »Sie sind noch nicht lange hier, Waylock.« »Richtig.« »Sie sind als Krankenpfleger angestellt.« »Ja.« »Weshalb haben Sie Ihre Bewerbung nicht vollständig ausgefüllt?« »Ich dachte, meine Arbeit würde für sich selbst sprechen.« Gradella ließ sich nicht beeindrucken. »Von Zeit zu Zeit gelingt es Männern, den Aufstieg durch einen frechen Bluff zu schaffen. Das kommt hier bei uns nicht in Frage. Ihre Qualifikationen sind völlig unzureichend.«
»Ich bin anderer Meinung.« Gradella lehnte sich in seinen Sessel zurück. »So – aber können Sie mich überzeugen?« »Was ist Psychiatrie?« fragte Waylock ihn. »Die Lehre von den Gemütskranken und ihrer Heilung. Der Ausdruck ›Qualifikation‹ bezieht sich offenbar auf ein längeres Studium auf diesem Gebiet. Die ›qualifizierten Kräfte‹ haben jedoch meistens keinen Erfolg, wenn es um die Heilung unserer Kranken geht. Deshalb sind Ihre ›Qualifikationen‹ illusorisch. Es dürfte nur einen Bewertungsmaßstab geben – die nachgewiesene Fähigkeit, Psychosen zu heilen. Besitzen Sie selbst diese Qualifikation?« Gradella lächelte fast jovial. »Nein, nicht nach Ihrer Definition. Haben Sie etwa das Gefühl, wir sollten die Rollen tauschen?« »Warum nicht? Ich bin einverstanden.« »Nein, Sie behalten Ihren bisherigen Posten. Aber Sie werden aufmerksam beobachtet und beurteilt.« Waylock verbeugte sich und ging.
24 Am Abend des gleichen Tages wurde Waylock durch den Summer an der Tür bei seinen Studien unterbrochen. Ein hagerer Mann in Schwarz stand im Flur. »Sie sind Gavin Waylock, Brut?« Waylock betrachtete den formlosen schwarzen Umhang des anderen und erkannte die winzigen goldenen Kragenspiegel, die zwei gekreuzte Dolche zeigten. »Ich bin Waylock. Sie wünschen?« »Ich bin ein Assassine. Auf Wunsch zeige ich Ihnen gern meinen Ausweis. Ich möchte Sie bitten, mich zu einem kurzen Verhör in die nächste Bezirksstelle zu begleiten. Sollte der gegenwärtige Zeitpunkt ungelegen sein, können wir gemeinsam einen anderen bestimmen.« »Weshalb soll ich verhört werden?« »Wir untersuchen ein Verbrechen, dem Die Jacynth Martin zum Opfer gefallen ist, und müssen einer Anzeige gegen Sie nachgehen.« »Darf ich fragen, wer die Anzeige erstattet hat?« »Alle Namen werden vertraulich behandelt. Ich empfehle Ihnen, mich gleich jetzt zu begleiten. Sie können jedoch auch eine andere Zeit bestimmen.« Waylock erhob sich. »Ich habe nichts zu verbergen.« »Ausgezeichnet. Mein Dienstwagen steht unten.« Sie fuhren schweigend zur Bezirksstelle, die in einem alten Gebäude am Parmenter-Platz untergebracht war. Der Assassine ließ Waylock dort in einer kleinen Zelle zurück, wo sich eine Krankenschwester
oder Assistentin seiner annahm. Waylock erhielt einen Sessel mit hoher Rückenlehne zugewiesen und durfte zwischen Likör und Mineralwasser wählen. Er lehnte beides ab. »Wo sind die Tribunen?« wollte er wissen. »Sie müssen anwesend sein, wenn meine Gedanken erforscht werden.« »Drei Tribunen stehen zu Ihrer Verfügung, Sir. Sie können weitere anfordern, wenn Sie es für notwendig halten.« »Wer sind die Tribunen?« fragte Waylock. Sie nannte drei Namen. Waylock nickte zufrieden; alle drei waren als aufrechte Männer bekannt. »Bitte gedulden Sie sich noch etwas, Sir. Das letzte Verhör ist noch nicht zu Ende.« Fünf Minuten später öffnete sich die Tür; drei Tribunen betraten die Zelle, dann folgte der Inquisitor, ein rundlicher Mann, der Waylock fröhlich lächelnd begrüßte. Der Inquisitor begann das Verhör mit der Feststellung: »Gavin Waylock, wir sind mit der Untersuchung der Umstände beschäftigt, die dazu geführt haben, daß Die Jacynth Martin ein gewaltsames Ende gefunden hat. Deshalb sollen Sie heute nach Ihrer Tätigkeit zur Zeit ihres Hinscheidens gefragt werden. Haben Sie dagegen Einwände zu erheben?« Waylock überlegte. »Sie haben ›zur Zeit ihres Hinscheidens‹ gesagt. Das ist mir zu vage. Dieser Ausdruck könnte eine Sekunde, eine Stunde oder einen ganzen Tag bedeuten. Fragen Sie mich also, was ich vom Zeitpunkt ihres Hinscheidens weiß; das muß für Ihre Zwecke genügen.« »Der Zeitpunkt steht nicht genau fest, Sir. Wir können uns nicht festlegen.«
»Wäre ich schuldig, wüßte ich den genauen Zeitpunkt«, erklärte Waylock ihm. »Da ich aber unschuldig bin, braucht Sie mein Privatleben nicht zu kümmern.« »Sie können sich auf unsere Verschwiegenheit verlassen, Sir«, wandte der Inquisitor lächelnd ein. »Wir haben einen Eid darauf geleistet. In Ihrem Privatleben gibt es doch hoffentlich nichts zu verbergen?« Waylock sah zu den Tribunen hinüber. »Sie haben meine Bedingung gehört. Wollen Sie mich entsprechend schützen?« Die Tribunen nickten. »Wir lassen nur Fragen zu, die den unmittelbaren Zeitpunkt des Hinscheidens betreffen«, versicherte ihm einer der Männer. »Ausgezeichnet«, sagte Waylock. »Dann können wir anfangen.« Er setzte sich im Sessel zurecht, bekam eine Art Helm aufgesetzt, von dem zahlreiche Drahte zu einem Schaltpult führten, und erhielt eine Injektion, die sein Erinnerungsvermögen stärken sollte. Die anderen schwiegen. Der Inquisitor ging unruhig auf und ab; die Tribunen beobachteten die Szene aufmerksam. Zwei Minuten später drückte der Inquisitor einen Knopf. Waylock sah Sterne und verschiedenfarbige Feuerspiralen, die alle auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zusteuerten. »Beobachten Sie die Lichter«, sagte der Inquisitor. »Entspannen Sie sich... mehr brauchen Sie nicht zu tun. Entspannen Sie sich... es ist bald vorbei.« Waylock schien eben erst das Bewußtsein verloren zu haben, als er bereits wieder aufwachte. Der Inquisitor stand vor ihm und betrachtete ihn mit gerun-
zelter Stirn. Die Gedankenerforschung hatte offenbar nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Die Tribunen lächelten zufrieden, als rechneten sie damit, heute durch unbeugsame Gerechtigkeit wertvolle Karrierepunkte gesammelt zu haben. Hinter den Tribunen stand Die Jacynth Martin. Waylock wies anklagend auf sie. »Wer hat diese Frau hereingelassen? Ich werde mich über diese Ungerechtigkeit beschweren! Sie alle müssen dafür bestraft werden!« John Foster, der Obertribun, hob abwehrend die Hand. »Die Anwesenheit dieser Frau mag geschmacklos sein, ist jedoch nicht durch Gesetz verboten.« »Weshalb haben Sie mich nicht gleich auf offener Straße verhört?« fragte Waylock aufgebracht. »Sie verstehen mich falsch. Die Jacynth ist anwesend, weil sie selbst zu den Assassinen gehört. Allerdings erst seit heute, möchte ich hinzufügen.« Waylock starrte sie verblüfft an. Die Jacynth nickte langsam. »Ja, ich untersuche mein eigenes Hinscheiden«, sagte sie. »Ein Ungeheuer ist daran schuld; ich möchte wissen, wer es war.« Waylock zuckte mit den Schultern. »Haben Sie schon Fortschritte gemacht?« fragte er dann. »Einige – bis wir es mit Ihrem seltsam lückenhaften Gedächtnis zu tun hatten.« Der Inquisitor räusperte sich. »Sie haben keine bewußten Wahrnehmungen zu erläutern?« »Wie könnte ich?« fragte Waylock. »Ich weiß nichts von diesem Verbrechen.« Der Inquisitor nickte. »Das haben wir festgestellt. Ihr Gedächtnis enthält keine Hinweise auf den kriti-
schen Zeitpunkt.« »Weshalb fragen Sie dann?« »Einige Andeutungen lassen den Schluß zu, daß Ihr Unterbewußtsein verschiedene Informationen unterdrückt.« Der Inquisitor zuckte mit den Schultern und wandte sich ab; die Tribunen standen auf. »Vielen Dank, Mister Waylock. Sie haben sich in anerkennenswerter Weise bemüht.« Waylock verbeugte sich. »Ich habe Ihnen für Ihre Hilfe zu danken.« »Wir haben nur unsere Pflicht getan, Mister Waylock.« Waylock warf seiner Verfolgerin noch einen wütenden Blick zu, verließ wortlos den Raum und ging durch den langen Korridor. Er hörte rasche Schritte hinter sich; Die Jacynth schien ihn einholen zu wollen. Er blieb stehen. Sie lächelte wenig überzeugend. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Gavin Waylock.« »Worüber?« »Das wissen Sie selbst.« »Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mehr erzählen.« Die Jacynth biß sich auf die Unterlippe. »Aber Sie haben mich damals begleitet! Dieser Teil des Abends ist rätselhaft. Aber er muß einen Hinweis enthalten!« Waylock zuckte mit den Schultern. Sie trat dicht an ihn heran und sah ihm ernst in die Augen. »Gavin Waylock, wollen Sie sich irgendwo in Ruhe mit mir unterhalten?« »Wie Sie wünschen.«
25 Sie fanden einen ruhigen Tisch in einem der alten Kellerlokale der Stadt, dessen Wände mit dunklem Holz getäfelt waren. Überall hingen Fotografien, die Sportler im früher üblichen Dreß zeigten. Ein Ober brachte schweigend die bestellten Getränke und verschwand wortlos. »Gavin Waylock«, begann Die Jacynth, »schildern Sie mir die Ereignisse jenes Abends.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe Sie angesprochen; wir schienen aneinander Gefallen zu finden. Wir besuchten verschiedene Häuser und Vergnügungsstätten und saßen zuletzt im Café Pamphylia. Alles weitere müssen Sie von Ihren Freunden erfahren haben.« »Wo waren wir vor unserem Besuch im Pamphylia?« Waylock schilderte die Ereignisse, soweit er sich noch an sie erinnerte. Als er den Teil erreichte der aus seinem Gedächtnis gelöscht war, zögerte er fast unmerklich und beschrieb dann die Minuten vor dem Augenblick, in dem er sich gemeinsam mit Basil Thinkoup verabschiedet hatte. Die Jacynth protestierte. »Hier haben Sie vieles ausgelassen – das ist ganz offensichtlich!« Waylock runzelte die Stirn. »Ich weiß nichts davon. Vielleicht war ich betrunken.« »Nein«, stellte Die Jacynth fest. »Der Albert und Der Denis sind sich darüber einig, daß Sie völlig nüchtern waren.« Waylock zuckte mit den Schultern. »Offenbar ist
nichts geschehen, was mich beeindruckt hätte.« »Noch etwas«, fuhr Die Jacynth fort. »Sie haben nicht er wähnt, daß wir im Tempel der Wahrheit gewesen sind.« »Wirklich nicht? Es muß mir ebenfalls entfallen sein.« »Seltsam. Der Diener erinnert sich noch deutlich an uns.« »Wirklich seltsam«, stimmte Waylock zu. »Interessiert Sie meine Theorie?« fragte Die Jacynth leise. »Selbstverständlich, wenn Sie mir davon erzählen wollen.« »Ich bin der Überzeugung, daß ich irgendwann im Verlauf des Abends – vielleicht im Tempel der Wahrheit – zu Informationen gelangt bin, die Ihnen gefährlich erschienen. Deshalb mußte ich beseitigt werden, bevor ich mein Wissen weitergeben konnte. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Nichts.« »Sie hatten auch während des Verhörs nichts zu sagen«, warf sie ihm vor. »Eigenartigerweise ist Ihr Gedächtnis nur in dieser Beziehung schlecht. Ich weiß nicht, mit welchem Trick Sie das erreicht haben, aber ich bin fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen. Und in der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, daß Sie keine Vorteile aus Ihrem Verbrechen ziehen können.« »Was soll das heißen?« »Das merken Sie früh genug.« »Sie sind ein merkwürdiges Wesen«, meinte Waylock nachdenklich. »Ich bin ein normaler Mensch mit starken Empfindungen.«
»Ich habe ebenfalls starke Empfindungen«, sagte Waylock. Die Jacynth starrte ihn an. »Wie ist das zu verstehen?« »Ich wollte nur andeuten, daß eine Auseinandersetzung zwischen uns beiden schlimme Folgen haben könnte.« Die Jacynth lachte. »Sie sind verwundbarer als ich.« »Und deshalb rücksichtsloser.« Die Jacynth erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. Aber ich bezweifle, daß Sie mich vergessen werden.« Sie ging rasch die Treppe hinauf und verschwand. Am nächsten Morgen trat Waylock zur gewohnten Zeit seinen Dienst in der Beruhigungsanstalt an. Eine Stunde später wurde er bereits in Didaktor Gradellas Büro gerufen. Gradella kam sofort zur Sache. »Ich habe mir Ihren Fall nochmals durch den Kopf gehen lassen. Sie sind für Ihren Posten ungeeignet und deshalb fristlos entlassen.«
26 Basil Thinkoup rief Waylock am folgenden Tag in seinem Appartement an. »Ah, Gavin! Ich fürchtete schon, du seist vielleicht nicht zu Hause.« »Kein Grund zur Sorge, Basil. Ich arbeite nicht mehr in der Anstalt. Ich bin fristlos entlassen worden!« Basil verzog das Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse. »Das tut mir aber leid, Gavin! So ein Pech!« Waylock zuckte mit den Schultern. »Die Arbeit hat mir nie sonderlich gut gefallen. Vielleicht bin ich auf anderen Gebieten mehr begabt.« Basil seufzte. »Ich wollte, ich könnte ebenso optimistisch sein.« »Hast du noch keine Pläne gemacht?« »In meiner Jugend war ich ein ziemlich guter Glasbläser«, antwortete Basil. »Vielleicht fange ich wieder damit an. Ich bin noch unentschlossen.« »Sieh dich vorher gründlich um«, empfahl Waylock ihm. »Selbstverständlich. Aber ich muß an meine Steigung denken, und ich bin noch weit unter Dritte.« »Vielleicht fällt uns gemeinsam etwas ein«, schlug Waylock vor. Basil machte eine abwehrende Handbewegung. »Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen; ich finde schon etwas... Aber im Augenblick bin ich wirklich ratlos.« »Schön, überlegen wir also... Du hast bewiesen, daß die Psychiatrie neue Impulse braucht.« Basil schüttelte müde den Kopf. »Aber was habe
ich davon gehabt?« »Ich denke eben an den Aktuarius«, fuhr Waylock fort. »Ist es nicht möglich, daß wir seine Funktion zu kritiklos betrachten?« Basil hob abwehrend die Hände. »Gavin, du rüttelst an den Grundlagen unseres Lebens!« »Keineswegs, ich denke nur unvoreingenommen darüber nach. Der Aktuarius spielt seit dreihundert Jahren die gleiche Rolle. Seitdem hat sich viel verändert – aber der Aktuarius rechnet noch immer mit denselben Gleichungen, mit der gleichen Verteilung innerhalb der Phylen, mit derselben Geburtenziffer.« Basil runzelte die Stirn. »Welchen Wert sollte eine Veränderung haben?« »Du brauchst nur an unsere Gesamtbevölkerung zu denken«, antwortete Waylock. »Sie ist auf fünfundzwanzig Millionen beschränkt, obwohl angesichts der höheren Produktivität mehr Menschen in Rand oder sogar Amaranth aufgenommen werden könnten. Wer diesen Nachweis erbrächte, könnte mit etlichen Karrierepunkten rechnen.« Basil schien nicht überzeugt zu sein. »Noch etwas«, fuhr Waylock fort. »Der Prangerkäfig.« »Abstoßend«, murmelte Basil. »Eine grausame Strafe, selbst bevor die Zeloten auf der Bildfläche erschienen.« Basil lächelte. »Wer Clarges von den Zeloten befreit, könnte mit allgemeiner Anerkennung rechnen.« Waylock nickte. »Ohne Zweifel. Aber der Mann, der den Prangerkäfig abschafft, würde sich größere Verdienste erwerben.« Basil schüttelte den Kopf. »Davon bin ich nicht
überzeugt. Wer protestiert, wenn der Prangerkäfig aufgehängt wird? Niemand. Und wenn der Bestrafte freigelassen wird, versammeln sich ehrbare Leute, um seine Flucht zu erleben.« »Oder um sich unter die Zeloten zu mischen.« Basil holte tief Luft. »Vielleicht fällt mir doch noch etwas ein. Wirklich nett von dir, daß du dir solche Mühe mit mir gibst.« »Die Diskussion hilft uns beiden.« »Was hast du vor?« fragte Basil interessiert. »Ich will eine Arbeit über die Zeloten schreiben: ihre Motive, Psychologie und Gewohnheiten: ihre Verteilung auf die einzelnen Phylen und ihre Gesamtzahl.« »Eine schwierige Aufgabe...«, murmelte Basil. »Aber eine Studie dieser Art würde beträchtliches Aufsehen erregen«, antwortete Waylock lächelnd. »Wo willst du das Material sammeln? Niemand gibt freiwillig zu, daß er Zelot ist. Du müßtest unendlich viel Geduld, List, Mut und Tapferkeit aufwenden, um...« »Vergiß nicht, daß ich sieben Jahre lang bei den Tausend Dieben gelebt habe. Solange ich gut bezahle, kann ich über hundert Berber verfügen.« »Aber das Geld! Das Projekt erfordert Unsummen!« »Das ist meine geringste Sorge.« Basil war beeindruckt, aber keineswegs überzeugt. »Nun, jeder muß selbst wissen, was er in Zukunft für seine Karriere tun will. Ich rufe dich gelegentlich wieder an und erkundige mich nach deinen Fortschritten.« Der Bildschirm wurde dunkel. Waylock setzte sich
an seinen Schreibtisch und verfaßte einen Entwurf der geplanten Untersuchung. Die vorbereitenden Arbeiten würden etwa ein halbes Jahr dauern, für die Niederschrift mußte er weitere drei Monate rechnen. Diese Arbeit mußte ihm den Aufstieg in Keil sichern. Er vereinbarte einen Termin mit dem größten Verlag von Clarges und erschien dort am gleichen Nachmittag mit seinem Entwurf. Das Interview verlief, wie er gehofft hatte. Verret Hoskins, der verantwortliche Mann, mit dem er sprach, brachte die gleichen Einwände wie Basil vor, und Waylock antwortete mit den gleichen Argumenten. Hoskins ließ sich überzeugen und war schließlich sogar von der Idee begeistert. Der Vertrag sollte am nächsten Morgen zur Unterschrift bereitliegen. Waylock kehrte in bester Stimmung nach Hause zurück, aber die Ernüchterung folgte schon eine halbe Stunde später: Hoskins rief ihn an. Er wirkte bedrückt und konnte Waylock nicht in die Augen sehen. »Offenbar bin ich etwas zu voreilig gewesen, Mister Waylock«, sagte er verlegen. »Wir können Ihre Arbeit leider doch nicht übernehmen.« »Was!« rief Waylock entgeistert aus. »Sie haben mir doch versprochen, morgen...« »Die Sache sieht jetzt anders aus, und meine Vorgesetzten sind gegen dieses Projekt.« Waylock schaltete das Visorphon wütend ab. Am nächsten Tag versuchte er es bei einigen anderen Verlagen und wurde überall mit durchsichtigen Ausflüchten abgewiesen. Nach der Rückkehr in sein Appartement ging er lange unruhig auf und ab. Schließlich ließ er sich vor
dem Visorphon nieder, suchte im Teilnehmerverzeichnis nach einer bestimmten Rufnummer und wählte sie. Auf dem Bildschirm erschien Die Jacynth; sie zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie den Anrufer erkannte. Waylock kam sofort zur Sache. »Sie mischen sich in meine Angelegenheiten ein«, warf er ihr vor. Die Jacynth betrachtete ihn lächelnd. »Ich habe im Augenblick keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, Gavin Waylock.« »Hören Sie sich lieber an, was ich zu sagen habe.« »Vielleicht später einmal.« »Auch gut. Wann?« Sie überlegte und lächelte dann amüsiert. »Heute abend bin ich im Künstlerklub. Dort können Sie mir erzählen, was Sie zu sagen haben.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Vielleicht habe ich Ihnen ebenfalls etwas zu sagen«, fügte sie dann hinzu.
27 Das Lufttaxi setzte Waylock auf dem Landeplatz vor dem Künstlerklub ab, auf dem bereits zwei Dutzend Privatmaschinen standen – glitzernde Spielzeuge, an denen nur Glarks und Angehörige der höchsten Phyle Vergnügen haben konnten. Waylock folgte dem beleuchteten Pfad durch die weitläufigen Gartenanlagen und erreichte schließlich ein Marmorportal. In der Eingangshalle hing ein Plakat; Waylock blieb davor stehen und las: HEUTE AQUEFAKTE von REINHOLD BIERBURSSON Unter dem Plakat saß eine ältere Dame an einem Tischchen; vor ihr stand ein Schild mit der Aufschrift: Spenden werden dankbar angenommen. Die Dame schien sich zu langweilen und häkelte irgend etwas aus Metallfäden. Als Waylock einen Florin auf den Tisch legte, dankte sie ihm mit einem Kopfnicken, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Waylock öffnete die Samtportieren und betrat den Großen Saal. Die Aquefakte des ihm unbekannten Reinhold Bierbursson, verschlungene Konstruktionen aus erstarrtem Wasser, waren an den Wänden aufgebaut. Waylock betrachtete sie flüchtig, fand sie wenig interessant und befaßte sich lieber mit den übrigen Gästen. Etwa zweihundert geladene Gäste standen in klei-
neren Gruppen beieinander oder gingen langsam an den ausgestellten Kunstwerken vorüber. Reinhold Bierbursson stand am Eingang – ein großer stattlicher Mann, der sich nicht als Ehrengast, sondern als bemitleidenswerter Märtyrer zu fühlen schien. Diese Ausstellung mußte viel für ihn bedeuten – Triumph, Rechtfertigung oder vielleicht nur finanziellen Erfolg –, aber Bierbursson benahm sich, als sei er gegen seinen Willen zu dieser Veranstaltung geschleppt worden. Er sprach nur, wenn er selbst angesprochen wurde; aber Waylock fiel auf, daß er trotzdem höflich und freundlich alle Fragen beantwortete. Die Jacynth hielt sich ebenfalls in der Nähe des Eingangs auf und sprach dort mit einer jungen Frau, die ein atemberaubendes grünes Kleid trug. Sie selbst hatte heute eine lose dunkelblaue Robe gewählt, deren raffinierter Schnitt ihren schlanken Körper wirkungsvoll zur Geltung brachte. Als Waylock den Saal betrat, hatte sie kurz aufgesehen, ihn jedoch offenbar nicht erkannt oder ihn nicht erkennen wollen. Waylock durchquerte langsam den Saal. Die Jacynth beobachtete weiterhin den Eingang. Ihre Begleiterin, ein schwarzhaariges zierliches Wesen, sah in die gleiche Richtung. Waylock kam das hübsche Gesicht mit den dunklen Augen bekannt vor; er hatte es irgendwo schon einmal gesehen. Er blieb dicht hinter den beiden stehen und hörte so einen Teil ihres Gesprächs mit, ohne von ihnen beiden bemerkt zu werden. »Glaubst du, daß er wirklich kommt?« fragte Die Jacynth nervös. »Natürlich«, antwortete die andere beruhigend. »Der lächerliche Kerl liegt mir zu Füßen.«
Waylock zog die Augenbrauen hoch. Die beiden warteten also auf einen andern. Er war enttäuscht. Die Jacynth runzelte die Stirn. »Ob seine Anhänglichkeit so weit geht, daß er es wirklich tut?« »Vincent würde bei den Nomaden Erbauungsschriften verteilen, wenn ich ihn darum gebeten hätte... Da kommt er schon.« Waylock folgte ihrem Blick und studierte den jungen Mann, der eben den Saal betreten hatte: etwa dreißig, gut angezogen, vermutlich Dritte, selbstbewußtes Auftreten, schmales Gesicht, sandfarbenes Haar, graue Augen, lange Nase und gespaltenes Kinn. Die Jacynth wandte sich ab. »Vielleicht ist es besser, wenn er uns nicht nebeneinander sieht.« Ihre Begleiterin zuckte mit den Schultern. »Wie du willst...« Waylock zog sich unauffällig zurück, als Die Jacynth in seine Nähe kam. Die dunkelhaarige junge Frau blieb an ihrem Platz, wurde aber sofort von einem anderen jungen Mann in ein Gespräch verwikkelt. Zwei ältere Herren unterhielten sich über eines der Kunstwerke, erkannten Die Jacynth neben sich und wollten ihre Meinung dazu hören. Waylock ging weiter durch den Saal. Der Mann namens Vincent schien eine Rolle in dem Feldzug zu spielen, den Die Jacynth gegen ihn begonnen hatte. Vielleicht war es angebracht, seine Bekanntschaft zu machen. Vincent war auf die schwarzhaarige junge Frau zugegangen und hatte sich enttäuscht abgewandt, als er sah, daß sie sich bereits mit einem anderen unterhielt. Jetzt hatte er Reinhold Bierbursson in ein Gespräch verwickelt.
Waylock näherte sich den beiden. »Ich muß leider zugeben«, sagte der junge Mann eben, »daß mir Ihr Werk nicht allzu vertraut ist.« »Nur wenige kennen es wirklich«, antwortete Bierbursson. »Mich interessiert vor allem ein technisches Problem, Mister Bierbursson – ich bin selbst Techniker. Wie erzeugen Sie diesen verblüffenden Formenreichtum, bevor das Wasser erstarrt?« Bierbursson lächelte. »Für mich ist das kein Problem, denn ich habe alle Vorteile auf meiner Seite. Ich bin Raumfahrer und arbeite in einer Umgebung, in der es keine Schwerkraft gibt.« »Wohin hat Sie Ihr letzter Flug geführt, Mister Bierbursson?« fragte Waylock. »Unsere Ziele waren Sirius und die zehn Hundeplaneten.« »Ah«, sagte Vincent. »Dann waren Sie also an Bord der Star Endeavor!« »Ich bin Meisternavigator«, antwortete Bierbursson. Ein untersetzter Mann in mittleren Jahren hatte sich ihnen angeschlossen. »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle«, sagte er. »Ich heiße Jacob Nile.« Vincent schien förmlich zu erstarren. »Ich bin Vincent Rodenave«, murmelte er. Waylock schwieg; Bierbursson betrachtete die drei ohne großes Interesse. »Ich habe noch nie mit einem Raumfahrer gesprochen«, fuhr Nile fort und wandte sich dabei an Bierbursson. »Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?« »Selbstverständlich.« »Angeblich gibt es innerhalb unserer Galaxis un-
endlich viele Planeten.« Bierbursson nickte. »Auch solche, die für Menschen bewohnbar sind?« »Ja.« »Erforschen Sie diese Planeten, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet?« Bierbursson lächelte. »Nicht allzuoft. Ich bin nicht mehr als der Pilot eines Lufttaxis, der sich nach den Wünschen der Fahrgäste zu richten hat.« »Aber Sie können uns doch bestimmt mehr darüber erzählen!« widersprach Nile. Bierbursson nickte. »Es gibt einen Planeten, von dem ich nicht oft spreche. Er gleicht einem fruchtbaren Paradies – und er gehört mir, denn ich habe ihn zuerst betreten. Niemand kann ihn mir streitig machen.« »Dann sind Sie reich«, stellte Nile fest. »Ein beneidenswerter Mann.« Bierbursson schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen Planeten nur einmal gesehen, wie man aus Zufall ein Gesicht in der Menge entdeckt. Ich habe ihn wieder verloren und suche ihn seitdem vergeblich.« »Es gibt noch andere Welten«, sagte Nile. »Vielleicht für jeden von uns, wenn wir uns nur die Mühe machen würden, nach ihnen zu suchen.« »Manchmal bilde ich mir ein, ich wäre als Raumfahrer glücklicher geworden«, sagte Waylock. Jacob Nile lachte. »Wir Bürger von Clarges sind für dieses Geschäft wenig geeignet. Bierbursson ist völlig aus der Art geschlagen. Er ist ein Mann der Vergangenheit – oder der Zukunft.« Bierbursson runzelte die Stirn, äußerte sich jedoch nicht dazu.
»Wir leben in einer Festung«, fuhr Nile fort. »Wir errichten Barrieren gegen die Nomaden; wir bewohnen eine Insel inmitten der stürmischen Meere und fühlen uns recht wohl dabei. Steigung! Steigung! Steigung! – das ist der ganze Lebensinhalt unserer Mitbürger.« Nile machte eine verächtliche Handbewegung und tauchte in der Menge unter. Rodenave entfernte sich ebenfalls; Waylock zögerte noch und folgte ihm dann. Sie unterhielten sich angeregt über die ausgestellten Kunstwerke, und Waylock beobachtete, daß Die Jacynth noch immer mit den beiden älteren Herren sprach. »Dort drüben steht Die Jacynth Martin«, warf er wie beiläufig ein. »Haben Sie schon ihre Bekanntschaft gemacht?« Rodenave starrte ihn forschend an. »Nein, leider nicht. Gehören Sie zu ihren Freunden?« »Oh, ich kenne sie nur entfernt«, antwortete Waylock rasch. »Ich bin auf Einladung hier«, sagte Rodenave selbstbewußt. »Die Anastasia de Fancourt hat mich um mein Erscheinen gebeten.« »Wie schön«, murmelte Waylock. Jetzt wußte er, weshalb ihm das Gesicht der schwarzhaarigen jungen Frau so bekannt vorkam. Die Anastasia de Fancourt, die berühmte Schauspielerin. Rodenave runzelte die Stirn. »Die Jacynth ist gut mit ihr befreundet.« Waylock lachte. »Es gibt keine Freundschaften unter den Amaranth; sie sind nicht auf Freunde angewiesen.« »Sie scheinen ihre Psychologie genau studiert zu haben«, stellte Rodenave fest.
Waylock zuckte mit den Schultern und zeigte auf Reinhold Bierbursson. »Zu welcher Phyle gehört er?« »Rand. Die Raumfahrt ist immer zuverlässig. Kein langes Studium, keine Anstrengungen...« »Nur sehr geringe Überlebenschancen.« Rodenave sprach von seiner eigenen Phyle – Dritte – und berichtete von seiner Arbeit; er war in der Instandhaltungsabteilung des Aktuarius beschäftigt. Waylock erkundigte sich nach seinem Aufgabenbereich. »Allgemeine Forschung und Aufspüren von Fehlermöglichkeiten. Letztes Jahr habe ich an einer Vereinfachung des Televektor-Systems gearbeitet. Bisher mußte ein Kodezeichen entschlüsselt und als Koordinate auf die große Karte übertragen werden. Jetzt wird die Information direkt auf einen Filmstreifen gedruckt, der selbst Teil der Karte ist. Dieser Verbesserung verdanke ich übrigens meinen Aufstieg in Dritte.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Waylock. »Einer meiner Freunde will zukünftig beim Aktuarius arbeiten; er wird sich freuen, wenn ich ihm erzähle, daß es dort noch Aufstiegsmöglichkeiten gibt.« Rodenave schien nicht damit einverstanden zu sein. »In welcher Funktion?« »Wahrscheinlich auf dem Sachgebiet Öffentlichkeitsarbeit.« »Dort kann er keine Punkte sammeln«, versicherte Rodenave ihm. »Sind denn nicht überall Verbesserungen möglich?« fragte Waylock. »Ich habe selbst schon mit dem Gedanken gespielt, dort zu arbeiten.« Rodenave starrte ihn verwirrt an. »Was soll diese
Völkerwanderung zum Aktuarius? Unsere Arbeit ist nicht weiter aufregend; wir kennen weder Personalprobleme noch Umsatzsteigerungen noch Flauten – folglich sind auch die Aufstiegschancen sehr gering.« »Sie haben es aber trotzdem geschafft«, stellte Waylock fest. Rodenave schnaubte verächtlich. »Geschafft?« wiederholte er. »Was hilft mir das, wenn die Zeit so kurz ist? Ich müßte eigentlich zu Hause sitzen und Logarithmen lernen.« »Logarithmen lernen?« fragte Waylock verblüfft. »Auswendiglernen trifft eher zu. Ich will die Logarithmen aller Zahlen bis hundert und die aller natürlichen Konstanten im Gedächtnis haben.« Waylock lächelte ungläubig. »Was ist der Logarithmus von 42?« »Der natürliche oder der Zehner-Logarithmus? Ich weiß beide.« »Der Zehner-Logarithmus.« »1,62325.« »85?« Rodenave schüttelte den Kopf. »Ich bin erst bei 71 angelangt.« »Dann bitte 71.« »1,85126.« »Wie können Sie das behalten?« erkundigte Waylock sich. Rodenave machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich benütze natürlich ein mnemotechnisches System und verwandle jede Ziffer in einen Satzteil. 1 ist ein Eigenschaftswort; 2 ein Hauptwort, tierisch; 3 ein Hauptwort, pflanzlich; 4 ein Hauptwort, minera-
lisch; 5 ein Zeitwort; 6 ein Umstandswort oder Eigenschaftswort, das Gefühle oder Gedanken bezeichnet; 7 eine Farbe; 8 eine Richtung; 9 eine Größe; 0 eine Verneinung. Nach diesem Kode merke ich mir einen Satz für jede Zahl. Das Verfahren ist ganz einfach. ›Vorsichtiger Bär Gras und Fisch frißt.‹ Das bedeutet 1,62325, der Zehner-Logarithmus von 42, denn die Kennziffer ergibt sich von selbst.« »Erstaunlich.« Rodenave seufzte. »Heute abend wäre ich bis 74 oder gar 75 gekommen. Hätte Die Anastasia mich nicht ausdrücklich gebeten, ihr...« Er machte eine Pause. »Da kommt sie ja!« Die Anastasia kam lächelnd näher. »Guten Abend, Vincent«, sagte sie mit klarer Stimme. Sie warf Waylock einen kurzen Blick zu; Rodenave hatte ihn bereits vergessen. »Ich habe alles wie gewünscht besorgt, obwohl das sehr riskant war.« »Ausgezeichnet, Vincent!« Die Anastasia legte Rodenave eine Hand auf den Arm. »Besuchen Sie mich nach der Vorstellung in meiner Garderobe.« Rodenave erklärte sich stotternd dazu bereit. Die Anastasia lächelte nochmals und verschwand wieder in der Menge. Die beiden Männer sahen ihr bewundernd nach. »Unvergleichlich«, murmelte Rodenave. Die Anastasia erreichte Die Jacynth und flüsterte ihr etwas zu, wobei sie auf Vincent Rodenave deutete. Die Jacynth drehte sich nach den beiden Männern um, aber Waylock wandte sich rasch ab und zeigte ihr nur seinen Rücken. Vincent Rodenave war diese Bewegung aufgefal-
len. Er starrte Waylock neugierig an. »Sie haben mir Ihren Namen bisher verschwiegen«, sagte er. »Ich bin Gavin Waylock.« Rodenaves Unterkiefer sackte herab. »Gavin... Waylock...?« flüsterte er. »Ja.« Rodenave sah sich verzweifelt um. »Dort drüben kommt Jacob Nile. Ich entferne mich lieber.« »Was gefällt Ihnen an Nile nicht?« fragte Waylock. Rodenave zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie noch nie von den Zweiflern gehört?« »Ich habe gehört, daß sie im Haus der Erleuchtung Versammlungen abhalten.« Rodenave nickte. »Niles Unsinn interessiert mich nicht. Der Kerl ist noch dazu ein Glark!« Rodenave entfernte sich eilig. Waylock beobachtete Die Jacynth, stellte fest, daß sie wie zuvor in eine Unterhaltung vertieft war, und folgte Rodenave, der vor einem Aquefakt stand. Rodenave sah ihn kommen und wandte sich rasch ab. Waylock berührte seine Schulter; der andere drehte sich langsam nach ihm um. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Rodenave.« »Tut mir leid«, stotterte Rodenave. »Aber im Augenblick...« »Vielleicht begleiten Sie mich nach draußen.« »Ich habe kein Bedürfnis nach frischer Luft.« »Dann gehen wir in einen Nebenraum; vielleicht können wir die Sache dort in Ordnung bringen.« Waylock nahm Rodenaves Arm und führte ihn hinaus. »Los, her mit dem Zeug«, forderte er dann mit ausgestreckter Hand.
»Was?« »Sie tragen etwas bei sich, das Die Anastasia bekommen soll. Da es mich betrifft, möchte ich es sehen.« »Sie irren sich.« Rodenave wollte gehen, aber Waylock hielt ihn zurück, ohne sich um den Protest des anderen zu kümmern. Er griff in Rodenaves Jacke und holte einen Umschlag aus der Innentasche; Rodenave machte eine abwehrende Handbewegung, leistete jedoch keinen ernsthaften Widerstand. Waylock riß den Umschlag auf, der drei Mikrofilme enthielt. Er nahm einen heraus und hielt ihn ans Licht. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber die Beschriftung war deutlich genug: DER GRAYVEN WARLOCK. »Aha«, murmelte Waylock. »Allmählich verstehe ich.« Rodenave stand wie ein ertappter Sünder vor ihm. Der zweite Filmstreifen trug die Aufschrift GAVIN WAYLOCK, der dritte war mit DIE ANASTASIA DE FANCOURT bezeichnet. »Offenbar handelt es sich dabei um Televektorfilme«, sagte Waylock. »Vielleicht erzählen Sie mir freundlicherweise, was...« »Ich erzähle Ihnen gar nichts«, unterbrach Rodenave ihn wütend. Waylock betrachtete ihn nachdenklich. »Können Sie sich die Konsequenzen einer Anzeige vorstellen?« »Die Sache ist völlig harmlos! Ein Scherz, eine belanglose Gefälligkeit!« »Harmlos? Ein Scherz? Wenn Sie mit meinem Leben spielen? Obwohl selbst die Assassinen keine Televektoren benützen dürfen?«
»Sie überschätzen die Bedeutung der ganzen Angelegenheit«, murmelte Rodenave betreten. »Sie überschätzen Ihre Entfernung vom Prangerkäfig.« Rodenave streckte die Hand aus. »Geben Sie mir jetzt die Filme zurück«, verlangte er. »Sind Sie übergeschnappt?« fragte Waylock erstaunt. Rodenave suchte nach einer Ausrede. »Ich habe sie schließlich für Die Anastasia beschafft.« »Was wollte sie damit?« »Keine Ahnung«, murmelte Rodenave. »Sie wollte die Filme an Die Jacynth weitergeben, glaube ich.« Rodenave zuckte mit den Schultern. »Das kann mir egal sein.« »Haben Sie die Absicht, ihr noch weitere Filme zu besorgen?« fragte Waylock leise. Rodenave starrte ihn an und ließ dann den Kopf sinken. »Nein.« »Werden Sie bitte diesem Vorsatz nicht untreu.« Rodenave warf einen Blick auf den Umschlag in Waylocks Hand. »Was haben Sie damit vor?« »Keine Angst, es betrifft Sie nicht im geringsten. Seien Sie froh, daß Ihre traurige Rolle damit zu Ende ist.« Rodenave machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Waylock sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, wartete noch einige Minuten und trat dann in den Saal hinaus. Die Jacynth schien ihn bereits erwartet zu haben, denn sie beobachtete ihn mit einem leichten Lächeln, als er den Saal durchquerte, um zu ihr zu gelangen.
28 »Haldeman hat die Ruinen in der Biskaya mit eigenen Augen gesehen«, sagte der jüngere der beiden Männer, neben denen Die Jacynth stand. »Ein Mauerrest, eine Bronzestelle, ein zerstörtes Mosaik und sogar eine unbeschädigte blaue Glasscheibe!« Der andere klatschte begeistert in die Hände. »Das muß wirklich aufregend gewesen sein! Wäre ich nicht durch mein Amt an Clarges gefesselt, würde ich mich Ihrer Expedition anschließen!« Die Jacynth legte eine Hand auf Waylocks Arm. »Hier ist ein Mann, der Abenteuer liebt! Ein Ritter ohne Furcht und Tadel!« Sie stellte ihn ihren Freunden vor. »Mister Sisdon Cam...« – ein kräftig gebauter Mann mit sonnengebräuntem Gesicht – »... und Seine Ehren, der Kanzler des Prytaneons, Claude Imish« – ein weißhaariger älterer Mann, der Waylock mit einem freundlichen Nicken begrüßte. Waylock murmelte einige Höflichkeitsfloskeln; Die Jacynth, die zu spüren schien, daß er innerlich kochte, schwatzte munter weiter. »Wir haben eben von Mister Cams letzter Expedition gesprochen. Er ist Unterwasserarchäologe.« Kanzler Imish deutete lächelnd auf die Aquefakte an den Wänden. »Dann ist er hier gerade richtig, finde ich!« »Ist das nicht erstaunlich, Gavin Waylock?« fuhr Die Jacynth fort. »Zerstörte Städte im Meer!« »Schrecklich aufregend«, warf Kanzler Imish ein. »Wie könnte die Stadt früher geheißen haben?« erkundigte Die Jacynth sich.
Cam schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Vielleicht bringen die nächsten Tauchversuche einen brauchbaren Hinweis.« »Werden Sie nicht von nomadischen Piraten belästigt?« fragte Imish. »Bis zu einem gewissen Grad. Aber sie sind schon vorsichtiger geworden.« Waylock konnte seine Ungeduld nicht länger beherrschen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« fragte er Die Jacynth. »Selbstverständlich.« Sie entschuldigte sich bei Cam und Imish und entfernte sich einige Schritte von ihnen. »Nun, Gavin Waylock, wie geht es?« »Warum haben Sie mich heute abend hierher gelotst?« wollte Waylock wissen. Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wollten Sie denn nicht mit mir sprechen?« »Ich möchte Sie nur warnen. Wenn Sie sich in meine Angelegenheiten einmischen, bin ich gezwungen, mich auch in Ihre zu mischen.« »Das klingt fast wie eine Drohung, Gavin.« »Nein«, sagte Waylock, »es ist nur eine letzte Warnung, die ich an Ihrer Stelle beherzigen würde.« Die Jacynth sah an ihm vorbei und schien kaum auf seine Worte zu achten; er stellte fest, daß ihre Pupillen vor Aufregung geweitet waren. »Hier kommt ein Mann, den Sie unbedingt begrüßen müssen«, flüsterte sie ihm zu. »Die Anastasia bezeichnet ihn als ihren gegenwärtigen Liebhaber, aber jeder weiß, daß sie noch ein halbes Dutzend andere hat.« Waylock drehte sich um; hinter ihm stand Der Abel Mandeville. Die beiden Männer starrten sich an. »Der Grayven Warlock!« rief Der Abel aus.
»Ich heiße Gavin Waylock«, erklärte Waylock ihm eisig höflich. »Gavin ist angeblich nur sein Relikt«, fügte Die Jacynth hinzu. »Nun, es tut mir leid, wenn...« Der Abel kniff die Augen zusammen. »Relikt? Nicht Surrogat?« »Relikt«, sagte Waylock. Der Abel betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Möglich. Unter Umständen möglich. Aber Sie sind kein Relikt. Sie sind Der Grayven, und die Tatsache, daß Sie Ihrer verdienten Strafe entgangen sind, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.« Er wandte sich an Die Jacynth. »Ist dieses Ungeheuer wirklich unbesiegbar?« »Vielleicht«, antwortete Die Jacynth nachdenklich. »Weshalb geben Sie sich überhaupt mit ihm ab?« wollte Der Abel wissen. »Ich muß zugeben, daß er mich... interessiert.« Der Abel machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unser System hat einen entscheidenden Fehler, das habe ich schon immer behauptet. Wenn die Assassinen ihren Auftrag erfüllen, sollten sie ganze Arbeit leisten, damit keine Spur des Verurteilten in Clarges zurückbleibt!« »Abel«, warf Die Jacynth ein, »warum halten wir uns mit vergangenen Untaten auf? Gibt es nicht auch gegenwärtig Ungerechtigkeiten, wohin man blickt?« Der Abel schüttelte wütend den Kopf. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb Sie sich mit diesem minderwertigen Subjekt abgeben!« Er wandte sich brüsk ab und verschwand in der Menge. Die Jacynth und Waylock sahen ihm nach. »Er ist heute reizbarer als gewöhnlich«, erklärte Die Jacynth
ihm. »Die Anastasia flirtet mit anderen, und seine Eifersucht plagt ihn wie ein Magengeschwür.« »Haben Sie mich für heute abend eingeladen, damit Der Abel mich besichtigen kann?« fragte Waylock. »Erraten«, antwortete Die Jacynth lächelnd. »Ja, ich wollte diese Begegnung miterleben. Bisher war mir nicht klar, weshalb Sie damals mein Hinscheiden veranlaßt haben könnten. Aber ich glaubte, endlich eine brauchbare Spur gefunden zu haben, als mir auffiel, daß Sie wie Der Grayven aussehen.« »Ich heiße Gavin Waylock.« Sie reagierte nicht darauf. »Ich mußte mir Gewißheit verschaffen. Die ursprüngliche Jacynth hatte kein großes Interesse an Ihnen; sie kannte kaum Einzelheiten der Warlock-Mandeville-Affäre.« »Selbst wenn Sie recht hätten – weshalb sollte ich Ihnen schaden wollen?« »Sieben Jahre sind vergangen; Der Grayven Warlock ist nach den Bestimmungen des Gesetzes tot. Wer nun behauptet, sein Relikt zu sein, kann sich ungefährdet in Clarges bewegen. Ich habe Sie in Carnevalle wiedererkannt; Sie mußten fürchten, ich würde Sie den Assassinen ausliefern.« »Und – nehmen wir einmal an, Ihre phantastischen Behauptungen träfen wirklich zu – hätten Sie es getan?« »Selbstverständlich! Sie haben ein Verbrechen begangen, und in Carnevalle haben Sie es wiederholt.« »Sie sind von einer fixen Idee besessen«, murmelte Waylock. »Halten Sie mich etwa für dumm, Gavin Waylock?« fragte Die Jacynth.
»Selbst wenn ich schuldig wäre – was ich nie zugeben würde –, woraus konstruieren Sie dann ein Verbrechen? Weder Sie noch Der Abel hatten mehr als eine kleine Unannehmlichkeit zu erdulden.« »Ihr Verbrechen ist abstrakt und fundamental«, erklärte Die Jacynth leise. »Sie haben das Leben zweier Menschen beendet.« Waylock warf einen Blick auf den Saal und die übrigen Gäste. »Hier ist kaum der richtige Ort, an dem sich dieses Problem in Ruhe diskutieren ließe«, sagte er langsam. »Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß jeder von uns – die Glarks ausgenommen – dieses ›Verbrechen‹ begeht, ohne sich um die Folgen zu kümmern.« »Sie erschrecken mich!« flüsterte Die Jacynth mit gespielter Angst. »Beschreiben Sie mein Verbrechen – schildern Sie mir die grausigen Details!« Waylock nickte. »Auf zweitausend normale Bürger der vier unteren Phylen kommt ein Amaranth. Als Sie in die Amaranth-Gesellschaft aufgenommen wurden, erhielt der Aktuarius neue Informationen, die entsprechend ausgewertet wurden. Zweitausend schwarze Limousinen setzten sich in Bewegung; zweitausend Verzweifelte nahmen Abschied von ihren Lieben, verließen ihr Haus und bestiegen eine Limousine; zweitausend...« Die Jacynth machte eine abwehrende Handbewegung. »Das ist nicht meine Schuld; jeder strebt unter den gleichen Voraussetzungen.« »Und jeder frißt jeden«, fügte Waylock hinzu. »Der Existenzkampf ist härter als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Sie haben sich blenden lassen; Sie vertrauen auf falsche Theorien; Sie sind gera-
dezu davon besessen – nicht nur Sie, sondern wir alle. Hätten wir endlich den Mut, den Tatsachen ins Auge zu sehen, wären die Beruhigungsanstalten weniger überfüllt.« »Bravo«, rief Kanzler Imish aus, der sich ihnen leise genähert hatte. »Eine unorthodoxe Ansicht, die zwar auf falschen Voraussetzungen beruht, aber mit Beredsamkeit und Überzeugung vorgetragen wurde!« Waylock verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen.« Er nickte den beiden kurz zu und verschwand in einem der Nebenräume. Dort konnte er in aller Ruhe nachdenken und planen, während Die Anastasia im Großen Saal ihre Solovorstellung gab.
29 Waylock lehnte sich in einen Sessel zurück. Die Jacynth hatte ihn hierher gelockt, um sich seine Identität bestätigen zu lassen – wenn nicht durch die Tatsache, daß Der Abel Mandeville ihn wiedererkannt hatte, dann durch einen Vergleich der Televektorfilme, die ihr Die Anastasia von ihrem Verehrer Vincent Rodenave hatte verschaffen lassen. Waylock nahm die Filme aus dem Umschlag und untersuchte sie so gut wie möglich ohne Projektor. Alle Details der Darstellungen waren verwischt, als seien verschiedene Felder der ursprünglichen Karte übereinandergelegt worden. Auf jedem Film waren zwei rote Kreuze zu sehen – das eine klar und deutlich, das andere etwas verschwommen. Die beiden Filme, die Waylock betrafen, schienen völlig übereinzustimmen. Waylock zerriß sie lächelnd. Er betrachtete den dritten Film nochmals eingehend und stellte fest, daß auch hier eine Überlagerung vorgenommen worden war. Weshalb? Ein technischer Fehler schied aus. Waylock hatte eher den Eindruck, die Karten zweier Menschen seien absichtlich auf einem Filmstreifen dargestellt worden. Aber das war eigentlich unmöglich; die AlphaWellen jedes Gehirns waren unverwechselbar und einzigartig. Plötzlich fiel ihm eine mögliche Lösung ein, und er hatte fast gleichzeitig eine großartige Idee, die ihm zunächst so phantastisch erschien, daß er selbst nicht recht daran glauben konnte... Aber wo steckt der Fehler, wenn ich diese Filmstreifen
richtig gedeutet habe? Waylock ging erregt auf und ab. Aus der bloßen Idee wurde innerhalb weniger Minuten ein bestimmter Plan, mit dessen Ausführung er demnächst beginnen mußte. Begeisterter Applaus rauschte auf; Stimmengewirr wurde laut. Die Vorstellung im Großen Saal war zu Ende.
30 Die Anastasia de Fancourt kehrte in ihre Garderobe zurück und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Sie war erschöpft, aber trotzdem mit sich zufrieden, denn die Vorstellung war ein voller Erfolg gewesen. Die Beifallsrufe und der Applaus der Zuschauer klangen weiter in ihren Ohren nach... Sie richtete sich auf. Irgend jemand befand sich in ihrer Nähe; irgend jemand, den sie nicht kannte. Sie warf einen Blick in den kleinen Salon, der sich an die Garderobe anschloß. Dort saß ein Mann in einem der Sessel und stützte den Kopf in die Hände. Die Anastasia näherte sich ihm überrascht. »Mister Bierbursson, ich freue mich, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, mich hier aufzusuchen.« Bierbursson schüttelte den Kopf. »Nein, die Freude liegt ganz auf meiner Seite. Eigentlich müßte ich mich für mein Eindringen entschuldigen, aber als Raumfahrer bildet man sich gelegentlich ein, über den Konventionen zu stehen.« Die Anastasia lachte. »Ich würde vielleicht zustimmen, wenn ich wüßte, welche Konvention Sie meinen.« Bierbursson sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich bin kein Mann großer Worte«, begann er. »Meine Gedanken sind Bilder, die ich nicht recht beschreiben kann. Ich halte Tage, Wochen und Monate Wache und bin für das Schiff verantwortlich, während die Wissenschaftler und Forscher in ihren Zellen schlafen. Das ist meine Aufgabe.« Die Anastasia nahm in dem Sessel neben ihm Platz.
»Ihr Leben muß sehr einsam sein«, stellte sie fest. »Ich habe meine Arbeit. Ich habe meine Bildhauerkunst. Und ich habe Musik. Heute abend haben Sie eine Vorstellung gegeben. Ich war überrascht. Bisher habe ich immer geglaubt, nur Musik könne so beredt und empfindsam ausdrücken, was ich...« »Das ist ganz natürlich. Schauspieler und Musiker stehen einander geistig sehr nahe. Beide gebrauchen Symbole, die abstrakte Formen der Wirklichkeit sind.« Bierbursson nickte langsam. »Ja, das verstehe ich.« Die Anastasia erhob sich, blieb dicht vor ihm stehen und betrachtete sein Gesicht. »Sie sind ein seltsamer Mann, ein wundervoller Mann. Warum sind Sie zu mir gekommen?« »Ich wollte Sie bitten, mit mir zu kommen«, erwiderte Bierbursson. »Die Star Enterprise, das neue Raumschiff, ist in wenigen Wochen startbereit und soll uns nach Acharnar bringen. Ich möchte, daß Sie mit mir kommen und mein Leben teilen.« Die Anastasia lächelte bedauernd. »Ich bin so zaghaft und furchtsam wie alle anderen.« »Das kann ich nicht glauben.« »Es ist leider wahr.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Ich darf meine Surrogate nicht verlassen; unsere Empathie wäre gefährdet, und ich könnte ihre weitere Entwicklung nicht mehr beeinflussen. Ich dürfte sie aber auch nicht mitnehmen und sie der Gefahr völliger Vernichtung aussetzen. Deshalb...« Sie machte eine bedauernde Geste. »Ich bin Gefangene meiner eigenen Freiheit.« Hinter ihnen flog die Tür auf, dann kamen laute Schritte näher.
»Eine hübsche Szene«, sagte eine spöttische Stimme. Der Abel Mandeville stand in der Nähe der Tür und starrte Die Anastasia wütend an. Er trat einen Schritt auf sie zu. »Du gibst dich also mit dieser Vogelscheuche ab – du umarmst ihn sogar!« Die Anastasia stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Abel, das geht wirklich zu weit«, zischte sie. »Pah! Meine Grobheit ist weniger abstoßend als deine Nymphomanie, das kannst du mir glauben!« Bierbursson erhob sich langsam. »Tut mir leid, daß ich Ihnen offenbar den Abend verdorben habe«, sagte er traurig. Mandeville lachte böse. »Sie überschätzen sich, guter Mann. Von Ihnen und Ihresgleichen lasse ich mir keinen Abend verderben!« Eine dritte Männerstimme kam von der Tür her. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich, Anastasia?« fragte Vincent Rodenave. »Noch einer?« wollte Der Abel wissen. Vincent Rodenave trat auf ihn zu. »Sie sind beleidigend, Sir.« »Das kümmert mich wenig. Was haben Sie hier zu suchen?« »Sie haben kein Recht, mich danach zu fragen.« Der Abel kam drohend näher; Vincent Rodenave blieb tapfer stehen, obwohl er körperlich deutlich unterlegen war. Die Anastasia trat zwischen sie. »Hört auf, ihr Kampfhähne! Sofort aufhören, habe ich gesagt! Bitte geh jetzt, Abel!« Der Abel starrte sie wütend an. »Ich soll gehen?« »Ja.« »Ich gehe erst, wenn die beiden gegangen sind.« Er
deutete auf die Tür. »Dort hinaus, meine Herren, aber schnell!« »Geht alle«, rief Die Anastasia. »Ich will keinen mehr sehen!« Reinhold Bierbursson verbeugte sich leicht und ging hinaus. Vincent Rodenave blieb stehen. »Haben Sie später einen Augenblick Zeit für mich? Ich muß Ihnen...« Die Anastasia machte eine abwehrende Handbewegung. »Nicht heute abend, Vincent. Ich brauche nach dieser Aufregung etwas Ruhe.« Rodenave zögerte unentschlossen, verließ dann aber doch den Raum. Die Anastasia drehte sich nach Mandeville um. »Bitte, Abel. Ich muß mich umziehen.« Der Abel blieb unbeweglich stehen. »Ich will mit dir sprechen.« »Aber ich nicht mit dir!« Die Anastasia lachte verächtlich. »Verstehst du wirklich nicht, Abel? Ich bin mit dir fertig – endgültig, völlig, unwiderruflich. Verschwinde jetzt!« Die Anastasia wandte sich brüsk ab, nahm vor dem Garderobenspiegel Platz, griff nach einem Wattebausch und begann sich abzuschminken. Hinter ihr näherten sich schwere Schritte; dann folgten ein unterdrückter Aufschrei, ein Keuchen und ein stetes Tropfen, das wenig später aufhörte.
31 Am Morgen nach der Ausstellung war Waylock schon beim Aufstehen in gedrückter und pessimistischer Stimmung. Er zog sich langsam an, verließ das Haus und ging in Richtung Süden davon. Eine Viertelstunde später erreichte er den Perlenpavillon, der inmitten eines weitläufigen Parks an einem künstlichen See lag. Dort nahm er auf der sonnenüberfluteten Terrasse Platz und bestellte ein leichtes Frühstück. Die Sonne wärmte ihn und vertrieb seine trübselige Laune. Die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Abends dienten schließlich zu seiner Rechtfertigung – das mußte selbst Die Jacynth zugeben. Sollte sie bereit sein, ihn nicht länger zu verfolgen, würde er seinerseits den Plan aufgeben, der am vergangenen Abend in ihm gereift war. Und trotzdem – die Idee war eigentlich um ihrer selbst willen reizvoll. Er griff in die Tasche und nahm Rodenaves Umschlag heraus, der den Filmstreifen mit der Aufschrift DIE ANASTASIA DE FANCOURT enthielt. Vermutlich war es nicht allzu schwierig, die überlagerten Darstellungen voneinander zu trennen. Das war ein rein technisches Problem, das mit technischen Mitteln zu lösen sein mußte... Er wog den Umschlag nachdenklich in der Hand. Rodenave hatte viel für Die Anastasia gewagt und eine schwere Bestrafung riskiert – jedenfalls die fristlose Entlassung, wahrscheinlich aber auch den Prangerkäfig. Er war dazu bereit gewesen, ohne auf eine Belohnung hoffen zu können. Waylock fragte sich, was er ein zweitesmal riskieren würde, wenn er eine
Belohnung vor Augen hatte. Waylock beendete sein Frühstück, bestellte einen zweiten Becher Tee und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Dann richtete er sich plötzlich auf und kniff die Augen zusammen, als er das seltsame Paar am Seeufer stehen sah: ein ernster junger Mann in Schwarz und eine hübsche rothaarige Frau in grünem Rock und schwefelgelber Bluse, zu der sie ein Dutzend klirrender Armreifen trug. Waylock erkannte die junge Frau: Pladge Caddigan. Sie sah im gleichen Augenblick zu ihm herüber. »Gavin Waylock!« rief sie und winkte ihm zu. Dann nahm sie den Arm ihres Begleiters, betrat die Terrasse und blieb vor Waylocks Tisch stehen. »Roger Buisly, Gavin Waylock«, sagte sie einfach. »Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten?« »Selbstverständlich«, antwortete Waylock, Pladge schien sich verblüffend rasch von ihrem Schock über Caddigans Tod erholt zu haben. Pladge setzte sich, und der junge Mann folgte ihrem Beispiel. »Ich habe große Hoffnungen, Roger«, sagte Pladge, »daß Gavin Waylock sich uns anschließt.« »Wobei?« fragte Waylock. »Ich erwarte, daß Sie ebenfalls ein Zweifler werden«, antwortete Pladge zuversichtlich. »Alle bedeutenden Leute sind heutzutage Zweifler.« »Das freut mich«, erwiderte Waylock sarkastisch. »Vielleicht erklären Sie mir endlich genau, was unter einem Zweifler zu verstehen ist.« Pladge schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist leider unmöglich, denn jeder von uns würde Ihnen eine andere Definition geben. Wir sind uns nur im
Prinzip darüber einig, daß die gegenwärtigen Zustände unerträglich sind. Deshalb schließen wir uns zusammen, um eine Ratsversammlung ins Leben zu rufen.« »Wozu?« Pladge starrte ihn überrascht an. »Damit wir endlich die dringend notwendigen Veränderungen unseres Systems durchsetzen können!« »Welche?« Pladge seufzte leise. »Wären wir uns darüber einig, wäre alles andere ein Kinderspiel. Der augenblickliche Zustand ist unerträglich; wir wollen ihn ändern – nur Roger Buisly nicht.« Buisly lächelte ironisch. »Wir leben in einer unvollkommenen Welt. Meiner Überzeugung nach ist das gegenwärtige System die beste Lösung. Es setzt bestimmte Normen fest, steckt erreichbare Ziele ab und erfüllt die Hoffnungen der Menschheit. Zudem wäre jede Änderung mit großen Nachteilen für uns alle verbunden.« Pladge schnitt eine Grimasse. »Roger ist heute wieder unerträglich konservativ.« Waylock sah zu dem jungen Mann hinüber. »Weshalb ist er dann Zweifler geworden?« »Warum nicht?« fragte Buisly. »Ich bin ein größerer Zweifler als die anderen. Pladges Freunde befassen sich mit dem Problem: ›Wie soll unsere Zukunft aussehen?‹ Ich ergänze diese Fragestellung und überlege: ›Wie soll unsere Zukunft aussehen, wenn diese Verrückten ans Ruder kommen?‹« »Er hat nie konstruktive Ideen«, klagte Pladge. »Statt dessen gibt er sich alle Mühe, uns lächerlich zu machen.«
»Keineswegs«, widersprach Buisly. »Ich gehe nur von einfachen Voraussetzungen aus, die deine komischen Freunde nicht akzeptieren wollen. Meine Erkenntnis beruht auf drei Tatsachen. Erstens: Jeder möchte unsterblich sein. Zweitens: Wir können nicht jedem diesen Wunsch erfüllen, weil sonst unsere Zivilisation gefährdet wäre. Drittens: Da nicht alle ewig leben können, müssen wir eine Auswahl nach bestimmten Gesichtspunkten treffen. Und genau das tut unser gegenwärtiges System.« »Aber wie steht es mit dem Leid, das diese Auswahl über die Menschen bringt?« warf Pladge ein. »Wie steht es mit Kummer und Sorgen und Wirren und Aufregungen und Schrecken? Wie steht es mit den armen Kerlen in Beruhigungsanstalten? Fünfundzwanzig Prozent aller Teilnehmer!« Buisly zuckte mit den Schultern. »Unsere Welt ist eben unvollkommen. Es hat schon immer Kummer und Sorgen gegeben. Wir geben uns Mühe, diesen Zustand zu verbessern. Ich bin der Meinung, daß eine weitere Verbesserung nicht möglich ist.« »Roger! Ist das wirklich deine Überzeugung?« »Ja, solange keiner kommt und mir das Gegenteil beweist.« Er wandte sich an Waylock. »Das ist wirklich meine Meinung. Selbstverständlich verabscheuen sie mich deswegen, aber ich wirke immerhin wie ein Blitzableiter auf diese Leute.« »Vermutlich eine notwendige Funktion«, stellte Waylock fest. »Gestern abend habe ich einen Zweifler getroffen. Er hieß Jacob Nile und war...« »Jacob Nile!« Pladge legte Buisly eine Hand auf den Arm. »Roger, du mußt ihn gleich anrufen; er wohnt hier in der Nähe und kommt vielleicht einen
Augenblick vorbei.« Roger Buisly war nicht dazu bereit, obwohl Pladge sich große Mühe gab, ihn umzustimmen. »Gut«, sagte sie schließlich, »dann rufe ich ihn eben selbst an.« Sie erhob sich und verschwand. »Eine energische Person«, stellte Buisly fest. »Offensichtlich.« Pladge kam triumphierend zurück. »Er wollte eben einer. Spaziergang machen und kommt gleich vorbei.« Jacob Nile erschien wenige Minuten später. Er betrachtete Waylock mit gerunzelter Stirn. »Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Sind wir uns schon früher begegnet?« »Ja«, antwortete Waylock, »gestern abend im Künstlerklub.« »Oh?« Nile runzelte die Stirn. »Vielleicht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern... Eine schreckliche Sache.« »Wirklich schrecklich.« »Was war schrecklich?« fragte Pladge neugierig und ließ sich alles ausführlich erzählen. Dann sprachen sie wieder von den Zweiflern, und Nile schilderte eindringlich, welche Gefahren einer zur Bewegungslosigkeit erstarrten Gesellschaft drohten. »Jacob, Sie haben den Blick für die Wirklichkeit verloren«, protestierte Roger Buisly. »Wohin sollen wir uns bewegen, wenn wir kein Ziel haben?« »Wir müßten uns nur auf unsere eigentliche Aufgabe besinnen«, antwortete Nile. Er zuckte mit den Schultern. »Aufgabe?«
»Die Menschheit hat ihren größten Feind besiegt; wir kennen das Geheimnis der Unsterblichkeit – und müßten es allen zugänglich machen!« Buisly lächelte spöttisch. »Das wäre geradezu unmenschlich, Jacob. Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn die Menschen plötzlich alle unsterblich wären!« Waylock nickte zustimmend. »Clarges müßte sich in alle Richtungen ausbreiten und würde schon nach wenigen Jahrzehnten die gesamte Welt umfassen. Die Unsterblichen würden hundert Jahre später Schulter an Schulter stehen, so weit das feste Land reicht!« Jacob Nile seufzte. »Ich wüßte eine andere Lösung, wage aber nicht zu hoffen, daß andere mir auf diesem Weg folgen würden.« »Wollen Sie nicht wenigstens andeuten, woraus diese Lösung besteht?« fragte Roger Buisly. Nile deutete lächelnd zum Himmel hinauf. »Dort zwischen den Sternen liegt unsere eigentliche Aufgabe. Das Universum erwartet uns.« Die anderen schwiegen fast verlegen. Jacob Nile beobachtete sie lächelnd. »Sie halten mich für einen Phantasten? Vielleicht haben Sie recht. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie mit meinen Wunschträumen belästigt habe.« »Nein, nein«, widersprach Pladge. »Ihr Vorschlag könnte tatsächlich eine Lösung des Problems sein«, stimmte Buisly ernsthaft zu. »Aber nicht für uns, die wir in Clarges aufgewachsen sind. Wir haben unsere Karrieren, unsere überlieferten Gebräuche; wir fühlen uns nur innerhalb der Grenzen dieser Region sicher und...« »Der Festungskomplex«, stellte Nile enttäuscht fest.
Er wies auf das riesige Gebäude des Aktuarius, das jenseits des Parks sichtbar war. »Dort drüben erhebt sich der Festungskern – das Herz der Stadt.« Pladge seufzte. »Das erinnert mich daran, daß ich meine Lebenslinie überprüfen lassen wollte. Ich weiß seit zwei Wochen nicht mehr, wo ich stehe. Begleitet mich jemand?« Buisly erklärte sich dazu bereit; Waylock und Nile erhoben sich ebenfalls, verließen den Pavillon und gingen ihrer Wege. Waylock kaufte eine Zeitung, überflog die erste Seite und blieb überrascht stehen. Der Abel Mandeville hatte ein zweites Verbrechen begangen – Selbstentleibung. Der Artikel berichtete, daß ihn die Verzweiflung über das Hinscheiden einer ›bekannten Schauspielerin‹ zu diesem Schritt getrieben haben mußte. Aubrey Hervat, der Oberste Assassine, hatte ihn zu einem kurzen Verhör aufgesucht, war Zeuge der Selbstentleibung geworden und hatte sie vergeblich zu verhindern versucht. Waylock zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg nach Hause.
32 Am nächsten Morgen fand Waylock sich frühzeitig im Personalbüro des Aktuarius ein und bewarb sich dort um Anstellung. Die junge Frau, die neue Bewerber interviewte, machte ihm allerdings wenig Hoffnung. »Selbstverständlich ist es Ihr gutes Recht, hier eine Karriere anzustreben, aber ich möchte vorschlagen, daß Sie nochmals darüber nachdenken. Auf jede Position, die aussichtsreich erscheint, warten bereits zehn oder fünfzehn hervorragende Männer. Ein ehrgeiziger Mann kann anderswo erfolgreicher sein.« Waylock ließ sich nicht entmutigen. Seine Bewerbung wurde daraufhin bearbeitet, und er mußte verschiedene Eignungsprüfungen ablegen. Als er wieder in das Büro zurückkam, war die junge Frau bereits mit der Auswertung seiner Tests beschäftigt. Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ihr Gesamtergebnis liegt in Klasse A, Abschnitt D – ausgezeichnet. Aber ich kann Ihnen trotzdem nicht allzu viel bieten. Sie sind nicht als Techniker ausgebildet und kommen deshalb weder für Konstruktion noch Entwicklung in Frage... Vielleicht kann ich Sie in der Öffentlichkeitsarbeit unterbringen – einer der Reiseinspektoren steht kurz vor seinem... Ausscheiden. Ich erkundige mich gleich.« Waylock setzte sich auf eine Bank; die junge Frau verließ den Raum. Minuten verstrichen – zehn, zwanzig, eine halbe Stunde. Waylock wartete ungeduldig. Nach weiteren zehn Minuten kam die junge Frau zurück und nahm
schweigend an ihrem Schreibtisch Platz. Er stand auf und ging zu ihr hinüber. »Nun?« »Tut mir leid, Mister Waylock, aber ich habe mich offenbar geirrt«, sagte sie, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. »Die Position, von der ich vorhin gesprochen habe, ist leider schon besetzt. Ich kann Ihnen nur eine Lehrstelle als Wartungstechniker anbieten.« Als Waylock verblüfft die Stirn runzelte, fügte sie rasch hinzu: »Selbstverständlich haben Sie auch dort die Möglichkeit, sich für andere Positionen zu qualifizieren, die Ihnen erfolgversprechender erscheinen.« Waylock starrte sie an. »Eine seltsame Entwicklung«, sagte er schließlich. »Mit wem haben Sie gesprochen?« »Die Entscheidung hängt nicht von mir ab, Sir«, versicherte sie ihm. »Wer hat Sie angewiesen, mir diese Auskunft zu geben?« Sie wandte sich ab. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen; ich habe noch zu arbeiten.« Waylock schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Antworten Sie! Bei wem sind Sie vorhin gewesen?« »Ich wollte Ihre Bewerbung wie üblich von meinem Dienststellenleiter abzeichnen lassen.« »Und dann?« »Er war der Meinung, Sie seien für den anderen Posten nicht geeignet.« »Bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten.« »Wie Sie wünschen, Sir«, sagte die junge Frau sichtbar erleichtert. Ihr Vorgesetzter war Cleran Tiswold, Keil, ein vierschrötiger Mann mit rotem Gesicht und spärlichem Haarwuchs. Er kniff die Augen zusammen, als Way-
lock sein Büro betrat. Die Diskussion dauerte eine Viertelstunde. Tiswold bestritt energisch, daß seine Entscheidung von außerhalb beeinflußt worden war, aber seine Stimme klang wenig überzeugend, und er weigerte sich, einer Gedankenerforschung zuzustimmen, die Waylock vorschlug. Er mußte zugeben, daß Waylock bei den Eignungsprüfungen hervorragend abgeschnitten hatte – und daß Bewerber mit diesen Resultaten normalerweise für gehobene Posten in Frage kamen. »Ich beurteile die Ergebnisse jedoch selbst«, fügte Tiswold hinzu, »und lasse mich dabei von den Eindrücken leiten, die ich von dem Bewerber gewonnen habe.« »Wie können Sie Eindrücke von mir gewinnen, wenn Sie mich nie zuvor gesehen haben?« fragte Waylock. »Ich habe wirklich keine Zeit mehr«, antwortete Tiswold unwillig. »Nehmen Sie die Stelle an oder nicht?« »Ja«, sagte Waylock. »Ich nehme sie an.« Er stand auf. »Morgen früh melde ich mich zum Dienstantritt. Ich gehe jetzt zu den Tribunen und erstatte Anzeige gegen Sie. Genießen Sie den Nachmittag – vielleicht ist es Ihr letzter.« Er kehrte nach Hause zurück, ließ sich auf die Couch fallen und starrte lange die Decke an. Wenn Die Jacynth und andere Mitglieder der AmaranthGesellschaft nicht aufhörten, ihn ständig und überall zu verfolgen, würde er geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Aber vor allem mußte er seiner unversöhnlichen Feindin klarmachen, welche Folgen ihre Hartnäckigkeit haben konnte.
Waylock setzte sich an sein Visorphon, um Die Jacynth anzurufen. Auf dem Bildschirm erschien nur ihr Wappen; sie meldete sich, ließ aber die Aufnahmekamera ausgeschaltet. »Gavin Waylock! Sie sehen so wütend aus!« Ihre Stimme klang spöttisch. »Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Danke, ich habe kein Bedürfnis danach. Wenn Sie sich aussprechen wollen, brauchen Sie nur zu Caspar Jarvis zu gehen und Ihre Verbrechen zu bekennen.« »Hören Sie, ich...« Er sprach nicht weiter, denn der Bildschirm wurde plötzlich dunkel. Die Jacynth hatte ihr Gerät ausgeschaltet. Waylock zuckte mit den Schultern und überlegte angestrengt. Wer würde sich für ihn einsetzen? Wer hatte Einfluß auf Die Jacynth? Doch sicher Der Roland Zygmont, der Präsident der AmaranthGesellschaft. Er suchte Zygmonts Rufnummer aus dem Teilnehmerverzeichnis heraus und wählte sie. Auf dem Bildschirm erschien wieder ein Wappen, dann fragte eine Stimme: »Wer sind Sie? Was wünschen Sie?« »Hier spricht Gavin Waylock; ich rufe wegen eines Problems an, das Die Jacynth Martin betrifft, und hoffe, daß Der Roland Zygmont eine Minute für mich erübrigen kann.« »Augenblick, bitte.« Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein Mann; Der Roland betrachtete Waylock forschend. »Ich sehe ein Gesicht aus der Vergangenheit«, sagte er langsam. »Der Grayven Warlock!« »Das hat nichts mit der Angelegenheit zu tun, die
ich Ihnen vortragen muß«, wandte Waylock ungeduldig ein. Der Roland lächelte. »Ich weiß bereits, was Sie sagen wollen.« »Dann ist es Ihre Pflicht, auf Die Jacynth einzuwirken!« Der Roland schüttelte überraschend den Kopf. »Ein Ungeheuer hat Die Jacynth entleibt. Wir können nicht zulassen, daß Mitglieder unserer Gesellschaft bedroht werden; darüber müssen Sie sich im klaren sein.« »Hat die Amaranth-Gesellschaft also offiziell beschlossen, mich zu verfolgen?« »Keineswegs. Wir streben nur nach Gerechtigkeit. Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich an die Gesetze zu halten. Alles andere schadet nur Ihrer Karriere.« »Bestreiten Sie etwa, daß das Verhör meine Unschuld erwiesen hat?« »Das Verhör war eine Farce; ich habe das Protokoll gelesen. Sie haben offenbar eine Methode gefunden, mit deren Hilfe Sie Erinnerungen löschen können. Dieses Wissen gefährdet unsere Gesellschaft, und Sie müssen schon aus diesem Grund abgeurteilt werden.« Waylock brach die Verbindung ab, ließ sich wieder auf die Couch fallen und schlief augenblicklich ein, während draußen ein schweres Gewitter niederging. Als er aufwachte, wurde es bereits dunkel; er machte sich eine Tasse Kaffee und trank sie nachdenklich aus. Er mußte Die Jacynth unter vier Augen sprechen und ihr seine schwierige Lage erläutern; vielleicht war trotz aller Widerstände doch eine friedliche Übereinkunft möglich. Er zog sich um, legte einen dunkelblauen Abendanzug an und ging in die Nacht hinaus.
33 Waylock drückte auf den Klingelknopf; Die Jacynth kam selbst an die Tür ihrer Villa. Als sie den Besucher erkannte, runzelte sie die Stirn – offenbar hatte sie andere Gäste erwartet. »Was wollen Sie hier?« Waylock trat einen Schritt näher. »Darf ich hereinkommen?« Sie zögerte eine Sekunde lang. »Gut, treten Sie ein«, sagte sie dann und ging durch die Diele in den großen Wohnraum voraus. Dort blieb sie an der Terrassentür stehen, starrte nach draußen und drehte sich plötzlich nach Waylock um. »Also – was wollen Sie hier?« Waylock sah sie bewundernd an, aber sie lächelte nur eisig. »Meine Gäste müssen bald eintreffen. Sollten Sie ein weiteres Verbrechen planen, dürfen Sie nicht hoffen, unentdeckt fliehen zu können; andererseits ist jetzt kaum der richtige Zeitpunkt für den Flirt, den Sie Ihrem Gesichtsausdruck nach beginnen möchten.« »Ich hatte weder das eine noch das andere vor«, antwortete Waylock gelassen. »Ihr Benehmen fordert allerdings das eine ebenso heraus wie Ihr Aussehen das andere.« Die Jacynth lachte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen, da Sie anscheinend fest entschlossen sind, heute abend amüsant zu sein?« Waylock ließ sich auf der niedrigen Couch am Fenster nieder. »Ich wollte mit Ihnen reden... Sie ermahnen... Sie anflehen, wenn alle anderen Mittel versagen.« Er machte eine Pause, aber Die Jacynth beob-
achtete ihn nur schweigend. »In den vergangenen Wochen haben Sie mich zumindest dreimal ernstlich in meiner Karriere behindert«, fuhr Waylock fort. Die Jacynth schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber doch. Waylock sprach eindringlich weiter. »Sie haben mich im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben. Sollten Sie sich irren, tun Sie mir sehr unrecht. Haben Sie jedoch recht, bin ich ein verzweifelter Mann, der Ihre Einmischung nicht ohne weiteres hinnehmen wird.« »Ah«, flüsterte Die Jacynth. »Sie drohen mir?« »Keineswegs. Ich möchte Ihnen nur begreiflich machen, welche Folgen Ihre Hartnäckigkeit haben kann.« Die Jacynth sah nach draußen, wo eben ein Lufttaxi auf dem Landeplatz im Garten aufsetzte. »Da kommen meine Freunde.« Zwei Männer und eine Frau näherten sich dem Haus. Waylock stand auf, aber Die Jacynth hielt ihn zurück. »Bleiben Sie doch hier – wir schließen einen zweistündigen Waffenstillstand.« »Ich würde ihn gern auf unbegrenzte Dauer abschließen; vielleicht ließen sich unsere Beziehungen noch weiter verbessern.« »Halt!« rief Die Jacynth lachend. »Ungeheuer und Schürzenjäger zugleich! Die Opfer müssen sich wirklich in jeder Beziehung vorsehen!« Bevor Waylock antworten konnte, schlug die Glokke nochmals an, und Die Jacynth ging hinaus, um ihre Gäste zu begrüßen. Es handelte sich um den Komponisten Rory
McClachern, Mahlon Kermanetz, der antike Musikinstrumente reparierte und nachbaute, und ein apartes rothaariges Glark-Mädchen namens Fimfinella. Wenig später trafen weitere Gäste ein, zu denen auch Kanzler Claude Imish gehörte, der seinen Sekretär Rolf Aversham mitbrachte. Nach dem Essen hatte Waylock Gelegenheit, sich mit Kanzler Imish in einer Ecke des Salons zu unterhalten, während McClachern seine letzte Komposition auf dem Klavier vortrug. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, begann der Kanzler, »aber mir ist entfallen, bei welcher Gelegenheit das war.« Waylock erinnerte ihn an die Ausstellung im Künstlerklub. »Ja, natürlich«, sagte Imish. »Wissen Sie, ich sehe jeden Tag so viele Leute, daß ich die Gesichter nicht auseinanderhalten kann.« »Das ist durchaus verständlich«, antwortete Waylock. »In Ihrem Amt und Ihrer Stellung haben Sie ständig mit anderen Leuten zu tun.« Der Kanzler lachte. »Ich lege Grundsteine, gratuliere neuen Amaranth und verlese Ansprachen im Prytaneon.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alles nur lächerliche Nebenbeschäftigungen. Im Grunde genommen habe ich weitreichende Befugnisse, die ich allerdings nicht ausnütze.« Waylock stimmte höflich lächelnd zu, obwohl er wie jeder andere genau wußte, daß der Kanzler innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch Beschluß des Prytaneons seinen Posten verlieren würde, sobald er den Versuch machte, diese Befugnisse praktisch auszunützen. Seine Position war ein Ana-
chronismus, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, in denen gelegentlich rasche Entscheidungen erforderlich gewesen waren. »Sie brauchen nur in der Verfassung nachzulesen. Der Kanzler sollte eine Art öffentliches Gewissen darstellen. Es ist mein Recht – sogar meine Pflicht –, öffentliche Einrichtungen zu inspizieren. Ich berufe Versammlungen des Prytaneons ein und vertage sie; ich bin Oberaufseher der Assassinen.« Imish lachte in sich hinein. »Mein Posten hat nur einen Nachteil – er bringt keine Karrierepunkte.« Sein Blick fiel auf den schwarzhaarigen jungen Mann, der ihn begleitete. »Das ist der zweite Nachteil. Ein Dorn in meinem Fleisch.« »Wer ist das?« »Mein Sekretär, Untergebener, Mädchen für alles und Prügelknabe. Er trägt den Titel ›Vizekanzler‹, und sein Job ist eine noch größere Sinekure als meiner. Rolf bildet sich jedoch ein, er sei geradezu unersetzlich.« Imish zuckte mit den Schultern. »Was tun Sie für Ihre Karriere, Waylock?« »Ich arbeite beim Aktuarius.« »Ah, wirklich?« Imish schien diese Auskunft interessant zu finden. »Eine faszinierende Einrichtung. Ich muß sie gelegentlich wieder einmal besuchen.« Das Musikstück war zu Ende; die Gäste applaudierten und umringten den Komponisten. McClachern wehrte ihre Glückwünsche bescheiden lächelnd ab. Dann wurden Drinks serviert. Um Mitternacht verließen die ersten Gäste das Haus. Waylock blieb auf der Couch am Fenster sitzen, bis er schließlich mit der Gastgeberin allein war.
34 Die Jacynth nahm neben ihm Platz und betrachtete ihn fragend. »Nun? Sie wollten doch mahnen oder flehen – haben Sie das ganz vergessen?« »Ich frage mich nur, ob das sinnvoll wäre.« »Das bezweifle ich.« »Warum sind Sie so unnachgiebig?« Die Jacynth antwortete nicht. »Wie steht es mit den Zeloten?« fragte Waylock nach einer kurzen Pause. »Weshalb ist der Abel Mandeville vor Ihrem Zorn sicher? Schließlich hat er nicht nur sich, sondern auch Die Anastasia entleibt.« »Wenn es nach mir ginge«, erwiderte Die Jacynth, »würde jedes Ungeheuer in jeder Phyle ausgerottet!« »Aber Sie wissen selbst, daß dieses Ideal unerreichbar ist. Warum verfolgen Sie also nur mich?« Die Jacynth sah ihm in die Augen. »Gavin Waylock«, flüsterte sie dann, »hätten Sie mir nur in Carnevalle vertraut! Jetzt sind Sie mein persönliches Ungeheuer, das ich nicht ignorieren kann.« Waylock nahm ihre Hand. »Liebe ist besser als Haß«, sagte er leise. »Und Leben ist besser als Nicht-Leben«, antwortete sie trocken. »Ich lege Wert darauf, daß Sie meine Position richtig verstehen«, fuhr Waylock fort. »Ich kämpfe um mein Leben, und wenn es um diesen Einsatz geht, kann ich keine Rücksicht mehr nehmen.« Sie zog ruckartig ihre Hand zurück. »Sie wollen sich also nicht einem gerechten Urteil unterwerfen? Sie sind ein Ungeheuer, das getötet werden muß, be-
vor es andere infiziert!« »Ich führe diesen Kampf nicht freiwillig«, gab Waylock zu bedenken. Die Jacynth schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts zu entscheiden, denn ich bin nicht Ihr Richter; ich habe Ihren Fall der Amaranth-Gesellschaft vorgetragen und halte mich an ihre Beschlüsse.« Waylock erhob sich. »Sie wollen sich nicht umstimmen lassen?« Die Jacynth stand ebenfalls auf. »Selbstverständlich nicht!« Waylock wandte sich ab. »Der Ausgang des Kampfes entscheidet vielleicht nicht nur über mein Schicksal, sondern auch über Ihres«, sagte er noch. Die Jacynth zögerte unentschlossen. »Gavin Waylock, verlassen Sie mein Haus«, forderte sie ihn dann auf. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«
35 Am nächsten Morgen trat Waylock seinen Dienst im Gebäude des Aktuarius an. Er erhielt eine Ausweisplakette und wurde zu seinem Vorgesetzten geführt. Techniker Ben Reeve war ein untersetzter dunkelhaariger Mann mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck eines Wiederkäuers. Er begrüßte Waylock freundlich und sagte dann: »Sie müssen ziemlich weit unten anfangen. Aber Sie haben natürlich nichts anderes erwartet, nicht wahr?« »Nein«, antwortete Waylock. »Ich möchte nur eine Chance, mein Bestes zu tun.« »Das hört man gern«, meinte Reeve zufrieden. »Sie bekommen Ihre Chance, darauf können Sie sich verlassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihren zukünftigen Arbeitsplatz.« Er führte Waylock durch lange Korridore, große Säle voll summender Maschinen, über Treppen und Rampen in einen abgelegenen Teil des riesigen Gebäudes. Unterwegs wurden sie dreimal von uniformierten Posten angehalten, die ihre Ausweise kontrollierten und Reeve nach seinem Ziel fragten. Diese Vorsichtsmaßnahmen beeindruckten Waylock, der weniger wirksame Sicherheitsvorkehrungen erwartet hatte. »Unser Sicherheitsdienst schläft nicht, wie Sie selbst sehen«, erläuterte Reeve. »Bleiben Sie innerhalb Ihrer Zone, sonst bekommen Sie Schwierigkeiten.« Waylocks Arbeitsplatz befand sich an der Ausgabeseite eines großen Computers. Reeve blieb stehen und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Er mußte
zwanzig Schnelldrucker überwachen, jeweils rechtzeitig neue Papierrollen einlegen und bei Störungen den Wartungsdienst verständigen. Zu Beginn der Schicht mußte er verschiedene Instrumente ablesen, die Werte in eine Kladde eintragen und ein halbes Dutzend Lager schmieren, die nicht an die Zentralschmierung angeschlossen waren. Das Ganze war eine Arbeit, die jeder Hilfsschüler tun konnte. Waylock ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und machte sich an die Arbeit. Reeve beobachtete ihn dabei, und Waylock glaubte ein Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen. »Ich weiß, daß ich noch viel lernen muß«, sagte er, »aber mit einiger Übung bin ich der Sache bestimmt gewachsen.« Reeve lachte schallend. »Jeder muß einmal anfangen«, stellte er fest, »und Sie fangen eben hier an. Wenn Sie vorankommen wollen, empfehle ich Ihnen unsere Fortbildungskurse.« Er beobachtete Waylock noch einige Zeit, bevor er zufrieden nickte und in sein Büro zurückging. Waylock arbeitete ohne große Begeisterung bis zum späten Nachmittag und rief dann Vincent Rodenave an, der irgendwo im gleichen Gebäude sein Arbeitszimmer hatte. Rodenave lehnte zunächst ab, als Waylock ihn bat, er möge ihm Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch geben. »Tut mir leid, aber das ist heute wirklich unmöglich.« »Die Sache ist aber dringend«, versicherte Waylock ihm. »Ich habe keine...« »Lassen Sie mich zu einem Interview holen.« »Nein, das ist ausgeschlossen.« »Erinnern Sie sich noch an etwas, das Sie für Die
Anastasia beschafft haben?« fragte Waylock. Rodenave wurde blaß. »Gut«, sagte er, »ich lasse Sie holen.« Wenige Minuten später kam einer der Posten an Waylocks Arbeitsplatz. »Gavin Waylock, Technikerlehrling?« »Richtig.« »Kommen Sie bitte mit.« Der Uniformierte führte Waylock in Rodenaves Büro und ließ sich dort bestätigen, daß Rodenave die Verantwortung für Waylocks Anwesenheit in der inneren Sicherheitszone übernahm. Waylock setzte sich. »Können wir hier ungestört miteinander sprechen?« »Ja.« Rodenave nickte widerwillig. »Ich habe den Raum selbst überprüft; er ist abhörsicher.« »Und Sie nehmen unser Gespräch nicht auf?« »Nein.« »Ich habe nämlich die Absicht, die Wahrheit zu sagen«, erklärte Waylock ihm. »Dabei handelt es sich nicht nur um die bereits erwähnten Gegenstände, die Sie für Die Anastasia beschafft haben, sondern auch um die geplante Verwendung der...« »Das genügt«, zischte Rodenave. Er drückte auf einen Knopf. »Unser Gespräch wird nicht aufgezeichnet.« Waylock grinste zufrieden. »Vermute ich richtig, daß Sie Die Anastasia weiterhin verehren?« »Ich bin kein leichtsinniger Narr mehr, wenn Sie das meinen«, antwortete Rodenave. »Und ich habe keine Lust, mich von den Zeloten steinigen zu lassen.« Er betrachtete Waylock nachdenklich. »Mein Privatleben braucht Sie nicht zu interessieren. Weshalb sind Sie also hier?«
»Ich will etwas. Sie können es mir verschaffen, wenn ich Ihnen gebe, was Sie wollen.« Rodenave runzelte die Stirn. »Was könnten Sie mir schon geben?« »Die Anastasia de Fancourt.« »Unsinn!« »Schön, sagen wir lieber nicht Die Anastasia, sondern eine Anastasia – ein Surrogat ihrer selbst.« Rodenave schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, wo sich die Zelle befindet, in der ihre Surrogate aufbewahrt werden.« »Doch, ich weiß es«, stellte Waylock fest. »Aber Ihr Angebot ist wertlos. Die Surrogate reagieren wie das Original. Wenn eine mich nicht ausstehen kann, wirke ich auf die anderen ebenfalls abstoßend.« »Auch dagegen gibt es ein Mittel.« Rodenave starrte ihn an. »Unmöglich!« »Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich von Ihnen will.« »Was denn?« »Sie haben einen Televektorfilm herausgeschmuggelt. Ich will andere.« Rodenave lachte verächtlich. »Jetzt weiß ich, daß Sie übergeschnappt sind. Ist Ihnen klar, was Sie da verlangen? Soll ich Ihretwegen meine Karriere aufs Spiel setzen?« »Sie legen also keinen Wert auf Die Anastasia?« »Ihr Vorschlag ist unannehmbar!« »Vergangene Woche haben Sie einen ähnlichen angenommen.« Rodenave schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Nein, das ist ausgeschlossen!«
»Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie nicht einen, sondern drei Filme für Die Anastasia beschafft haben«, sagte Waylock gelassen. »Bisher habe ich noch keine Anzeige erstattet, aber das läßt sich nachholen...« Rodenave machte eine resignierte Handbewegung. In der folgenden halben Stunde versuchte er alle möglichen Ausflüchte, aber Waylock blieb ungerührt und ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Ich verlange nichts von Ihnen, was Sie nicht bereits getan haben. Erfüllen Sie meinen Wunsch, dann erhalten Sie, was Sie letzte Woche verloren haben; weigern Sie sich jedoch, müssen Sie die Konsequenzen Ihres Diebstahls tragen.« Rodenave lehnte sich erschöpft in seinen Sessel zurück. »Das muß ich mir noch überlegen«, murmelte er. »Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich warte solange.« Rodenave schien angestrengt nachzudenken und sagte schließlich: »Mir bleibt keine andere Wahl.« »Bis wann kann ich die Filme haben?« »Sie wollen nur Filme von Mitgliedern der Amaranth-Gesellschaft?« »Richtig.« »Ich muß sie zunächst aussortieren und wiegen. Dazu brauche ich eine Schicht. Am nächsten Tag bringe ich eine Packung Filme mit, die in Größe, Dichte und Gewicht mit den Originalen übereinstimmen. Dann kann ich die Filmstreifen durch die Ausgangskontrolle schmuggeln.« »Heute ist Dienstag. Also Donnerstag abend?« »Vielleicht nicht Donnerstag. Ich muß eine Füh-
rung mitmachen – Kanzler Imish kommt zur Besichtigung.« »Tatsächlich?« Waylock erinnerte sich an sein Gespräch mit Imish; der Kanzler hatte anscheinend Feuer gefangen. »Gut, Donnerstag. Ich hole die Filme in Ihrem Appartement ab.« Rodenave machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, ich bringe sie Ihnen ins Café Dalmatia. Und dann sehe ich Sie hoffentlich nie wieder!« Waylock erhob sich lächelnd. »Sie brauchen mich noch, wenn es darum geht, die Belohnung für Ihre Mühen in Empfang zu nehmen.« Er verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken, verließ Rodenaves Büro und wurde an seinen Arbeitsplatz zurückgeführt.
36 Kanzler Imish stand auf einer Galerie über dem Archivraum des Aktuarius und betrachtete erstaunt die riesigen Maschinen unter sich. Zu seiner Begleitung gehörten Hemet Gaffens, der etwas dickliche stellvertretende Direktor, dessen Assistent, drei weitere höhere Beamte und Rolf Aversham, Imishs Sekretär. Ein schrilles Summen erfüllte den weiten Raum, wurde leiser, schwoll wieder an und überschritt fast die Hörschwelle, während der Mechanismus unaufhörlich weitere Informationen verarbeitete, die das Leben der Bürger von Clarges betrafen. Der Kanzler schüttelte verwundert den Kopf. »Ich habe mir das alles weniger kompliziert vorgestellt«, gab er zu. »Hier sehen Sie ein verkleinertes Abbild unserer Zivilisation vor sich«, bemerkte einer der Beamten. »Ja, Sie haben wirklich recht«, sagte Imish. Hemet Gaffens wandte sich an den Kanzler. »Sollen wir weitergehen, Sir?« Er blieb am Ausgang stehen, weil sich dort die Grenze zwischen zwei Sicherheitszonen befand; die Hausassassinen ließen sich ihre Ausweise zeigen und kontrollierten sie. »Sie sind hier wirklich vorsichtig«, stellte Imish bewundernd fest. »Eine notwendige Maßnahme«, antwortete Gaffens kurz. Sie überquerten den breiten Korridor und erreichten die Televektor-Abteilung. Gaffens rief Normand Neff, den Abteilungsleiter, und Vincent Rodenave, dessen Assistenten, zu sich und stellte sie dem hohen
Besuch vor. »Ihr Gesicht ist mir irgendwie bekannt«, sagte Imish zu Rodenave. »Aber ich weiß nicht mehr, wo ich es gesehen habe.« »Wir sind uns neulich im Künstlerklub begegnet«, erwiderte Rodenave. »Ah, natürlich. Sie sind mit der lieben Anastasia befreundet.« »Ganz recht, Sir«, antwortete Rodenave steif. Normand Neff hatte es eilig, an seinen Schreibtisch zurückzukommen und sagte deshalb zu Rodenave: »Vielleicht zeigen Sie dem Kanzler, wie wir hier arbeiten.« »Mit Vergnügen.« Rodenave runzelte nachdenklich die Stirn. »Hmmm – am besten führe ich Ihnen unser Televektorsystem in Betrieb vor.« Er führte die Besucher durch den Saal voller Maschinen auf den kleinen Raum zu, in dem die Auswertung erfolgte. An der Tür wurden sie nochmals kontrolliert und mußten nacheinander eine Schleuse betreten, in der automatisch registriert wurde, was sie in sämtlichen Taschen bei sich trugen. »Wozu diese strengen Sicherheitsvorkehrungen?« fragte Imish erstaunt. »Hier will doch niemand einbrechen, was?« Gaffens lächelte. »In diesem Fall bewachen wir das Privatleben unserer Bürger, Sir. Selbst Generaldirektor Jarvis von den Assassinen erhält nur dann Informationen aus diesem Raum, wenn der Betreffende seine Lebensdauer bereits überschritten hat.« Kanzler Imish nickte. »Äußerst lobenswert! Und wie funktioniert das alles?« »Rodenave kann Ihnen die Arbeitsweise an einem
Beispiel vorführen.« Rodenave nickte und ging neben dem Kanzler her auf die Maschine zu. »Die Gehirnwellen jedes Menschen sind so unverwechselbar wie seine Fingerabdrücke«, erklärte er ihm dabei. »Bei der Aufnahme in Brut werden sie registriert und hier gespeichert.« Imish nickte. »Weiter, bitte.« »Sobald die Maschine den Auftrag erhält, eine bestimmte Person zu lokalisieren, sendet sie von drei verschiedenen Punkten aus einen Dauerton auf seiner speziellen Frequenz. Dieses Zusammentreffen mit den Wellen des Betreffenden wird als momentane Störung registriert und erscheint als Punkt auf unseren Karten innerhalb eines Koordinatensystems, das aus den Richtfunkstrahlen zweier Sender besteht. Sehen Sie...« Er drückte einige Knöpfe und betätigte einen Schalter. »Das ist Ihr persönlicher Index, Sir. Der Kreuzungspunkt dieser beiden roten Linien bezeichnet den Aktuarius; der schwarze Punkt sind Sie selbst.« »Verblüffend!« Rodenave sprach weiter und beobachtete dabei Gaffens, der sich mit dem Chef vom Dienst unterhielt. Die Anastasia wurde nochmals erwähnt; Rodenave ließ wie beiläufig ihren Streifen auswerfen und betätigte dann den Schalter, der den Sortiermechanismus in Betrieb setzte, so daß alle AmaranthStreifen erschienen. Die hauchdünnen Filmstreifen ergaben einen kaum Zentimeter hohen Stapel. Rodenaves Hände zitterten heftig, als er den Stapel aus der Halterung nahm. »Diese Streifen sind natürlich verschwommen, weil sie...« Das kleine Paket fiel ihm aus der Hand.
»Rodenave, wie können Sie so ungeschickt sein!« rief Gaffens wütend. »Kommen Sie, wir heben das Zeug gleich auf«, schlug Imish gutmütig vor. Er bückte sich und griff nach den Streifen. »Das ist nicht nötig, Sir«, wehrte Rodenave verlegen ab. »Wir kehren sie einfach zusammen und werfen sie in den Müllschlucker.« »Oh...« Imish richtete sich wieder auf. »Wenn Sie genügend gesehen haben, Sir, können wir weitergehen«, schlug Gaffens vor. Die Besucher verschwanden nacheinander in der Schleuse. Nur Rolf Aversham blieb noch einen Augenblick lang zurück. Er hob neugierig einen Filmstreifen auf, hielt ihn ans Licht, kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich an Gaffens, der eben die Schleuse betreten wollte. »Hallo, Mister Gaffens!« rief Aversham hinter ihm her.
37 Waylock saß im Café Dalmatia und langweilte sich. Er hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, wußte aber nicht, was im Augenblick zu erledigen war. Er konnte nur geduldig warten, bis Rodenave endlich auftauchte. Vom Aktuarius her ertönte plötzlich ein gedämpftes Alarmsignal, das kurze Zeit später ebenso jäh abbrach. Waylock hob den Kopf und sah zu dem riesigen Gebäude hinüber, dessen monumentale Fassade nicht verriet, was hinter ihr vorging. Die Passanten blieben stehen, starrten das Gebäude neugierig an und gingen dann weiter; einige kamen jedoch ins Café, um von dort aus den Prangerkäfig zu beobachten. Eine halbe Stunde war verstrichen. Dann klirrten schwere Ketten – der Käfig erschien über dem Haupteingang des Aktuarius. Waylock wollte seinen Augen zunächst nicht recht trauen. Hinter den Gitterstäben hockte Vincent Rodenave und sah wütend zum Café Dalmatia hinüber, wo er Waylock in einer halben Stunde hätte treffen sollen.
38 Mitternacht auf dem Esterhazy-Platz. Ein leichter Nebel zog vom Fluß herauf und verhüllte die Gestalt des Mannes, der bewegungslos im Prangerkäfig saß. Auf der Terrasse des Cafés Dalmatia hatten sich Hunderte von Neugierigen versammelt, um die Freilassung des Gefangenen zu sehen. Und irgendwo im Schatten der Nebenstraßen und Gassen lauerten die Zeloten auf den gleichen Augenblick... Als der letzte Glockenschlag verhallt war, wurde der Käfig langsam zu Boden gelassen; er zerfiel in sechs Teile, und Vincent Rodenave war wieder frei. Er blieb lauschend stehen. In den Nebelschwaden schien etwas zu rascheln. Er machte einen Schritt vorwärts. Ein Stein kam aus der Dunkelheit geflogen und traf ihn an der Schulter. Gleichzeitig ertönte ein lauter Schrei – das war ungewöhnlich, denn die Zeloten hatten bisher stets geschwiegen. Rodenave schlug einen Haken und rannte auf das Café zu. Ein wahrer Steinhagel überschüttete ihn. Er stolperte, schien zu fallen, raffte sich wieder auf und taumelte weiter. Dann senkte sich ein dunkler Schatten vor ihm herab – ein unbeleuchteter Aircar. Die Tür flog auf, Rodenave wurde hineingezerrt und sah Waylock vor sich, der sofort wieder startete, bevor die Zeloten sich von ihrer Überraschung erholt hatten. Rodenave hockte zusammengesunken auf seinem Sitz, starrte mit blicklosen Augen vor sich hin und schien vor Erschütterung nicht sprechen zu können. Waylock parkte den Aircar und führte Rodenave in
sein Appartement. Rodenave zögerte an der Tür, sah sich um, zuckte mit den Schultern und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich bin fertig«, krächzte er. »Entehrt. Verstoßen. Entlassen. Verfemt.« Er sah zu Waylock auf. »Sie äußern sich gar nicht dazu. Haben Sie die Sprache verloren?« Waylock antwortete nicht. »Sie haben mir das Leben gerettet«, fuhr Rodenave fort, »aber Sie haben mir damit keinen Gefallen erwiesen. Wo soll ich in Zukunft Karriere machen? Ich bleibe ewig in Dritte hängen. Das ist eine Katastrophe!« »Für mich ebenfalls«, stellte Waylock fest. »Was haben Sie darunter zu leiden?« krächzte Rodenave. »Ihre verdammten Filmstreifen sind in Sicherheit.« »Was!« »Zumindest vorläufig.« »Warum? Was ist passiert? Wo sind die Filme?« Rodenave grinste plötzlich. »Aha, jetzt sitze ich am längeren Hebel.« Waylock nickte langsam. »Aber wenn Sie Ihre Zusage erfüllen und mir die Streifen verschaffen, halte ich auch mein Versprechen.« »Ich bin fertig! Was nützen mir jetzt schöne Frauen?« »Die Anastasia könnte Ihren Schmerz vermutlich etwas lindern«, sagte Waylock lächelnd. »Schließlich ist noch nicht alles verloren. Sie sind begabt und intelligent; die ganze Welt liegt offen vor Ihnen. Es gibt andere Gebiete, auf denen man schneller vorankommt.« Rodenave schnaubte verächtlich.
»Wo sind die Filmstreifen?« fragte Waylock. Die beiden Männer starrten sich an, dann senkte Rodenave den Kopf. »Unter dem Aufschlag an Kanzler Imishs rechtem Jackenärmel.« »Was!« »Sein Sekretär hat den Alarm ausgelöst. Er ist mit einem unbelichteten Filmstreifen durch die Schleuse gerannt. Als das Alarmsignal ertönte, mußte ich die Filme loswerden; ich habe Imish am Ärmel zurückgehalten und die Streifen unter den Aufschlag gesteckt.« »Und dann?« »Gaffens brauchte nur einen Blick auf den leeren Filmstreifen zu werfen, um zu erkennen, was gespielt wurde. Er hatte mich sofort in Verdacht, ließ sich die anderen Streifen zeigen und stellte fest, daß einige meine Fingerabdrücke trugen. Damit war alles klar – die Assassinen verhafteten mich und steckten mich nach einem kurzen Verhör in den Käfig.« »Und Imish?« »Ging mit den Filmstreifen seiner Wege.« Waylock sprang auf. Es war bereits ein Uhr. Er stellte die Verbindung zur Residenz des Kanzlers in Trianwood her. Nach einer längeren Pause erschien Rolf Avershams Gesicht auf dem Bildschirm. »Ja?« »Ich muß den Kanzler sprechen.« »Der Kanzler hat sich bereits zurückgezogen; er ist nicht mehr zu sprechen.« »Nur einen Augenblick!« »Tut mir leid, Mister Waylock. Soll ich Sie für einen Termin vormerken?« »Gut, morgen früh um zehn.«
Aversham sah auf seinen Terminkalender. »Der Kanzler ist um diese Zeit beschäftigt.« »Dann eben früher oder später.« Aversham runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er um zehn Uhr vierzig einen Augenblick für Sie Zeit.« »Einverstanden«, sagte Waylock. »Wollen Sie mir den Zweck Ihres Besuchs mitteilen?« »Nein.« »Wie Sie wünschen«, sagte Aversham. Der Bildschirm wurde dunkel. Als Waylock sich nach Rodenave umdrehte, sah er, daß der andere ihn neugierig anstarrte. »Sie haben mir nie gesagt, wofür Sie die Filme brauchen«, stellte Rodenave fest. »Was haben Sie damit vor?« Waylock lächelte spöttisch. »Das kann ich Ihnen leider nicht verraten«, antwortete er, »aber Sie erfahren es noch früh genug.«
39 Kanzler Imish residierte in einer alten Villa, die inmitten eines gepflegten Parks auf einem Höhenzug über Clarges lag. Waylock stieg um zehn Uhr dreißig aus seinem Lufttaxi, blieb einen Augenblick am Landeplatz stehen, um die herrliche Aussicht zu genießen, und ging dann langsam durch den Park auf das Hauptgebäude zu. Etwa hundert Meter vom Eingang entfernt stieß er auf eine Schranke, die den Weg absperrte; daneben stand ein Posten, der Waylock mißtrauisch entgegensah. »Ja, Sir?« Waylock gab seinen Namen an; der Posten hakte eine Liste ab und ließ ihn passieren. Waylock erreichte das Portal und stieg die Marmorstufen hinauf. Er brauchte nicht zu klingeln, denn ein livrierter Diener öffnete die schwere Tür von innen, und Waylock betrat die große Halle. Unter dem großen Kronleuchter stand Rolf Aversham. »Guten Morgen, Mister Waylock.« Waylock murmelte irgend etwas, und Aversham neigte leicht den Kopf. »Ich muß Ihnen leider mitteilen«, sagte er dann, »daß der Kanzler indisponiert ist.« »Wie bedauerlich.« »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Vizekanzler bin. Können Sie Ihre Wünsche nicht auch mir vortragen?« »Ich weiß, daß Sie mir gern behilflich wären. Aber ich möchte meinen Freund Imish auf jeden Fall besuchen.« Aversham zuckte mit den Schultern. »Folgen Sie mir bitte.«
Er führte Waylock an die Rückwand der Halle zum Fahrstuhl. Im ersten Stock gingen sie den Flur entlang und erreichten einen kleinen Salon. Aversham warf einen Blick auf seine Uhr, wartete genau dreißig Sekunden, als wolle er Waylock damit beeindrucken, und klopfte dann an eine Tür. »Herein«, sagte Imish laut. Aversham schob die Tür auf und blieb draußen stehen. Waylock betrat das Arbeitszimmer des Kanzlers. Imish saß an seinem Schreibtisch und blätterte mißmutig in einem alten Buch. »Ah«, sagte Waylock, »wie geht es Ihnen?« »Danke, nicht besonders«, antwortete Imish. Aversham kam ebenfalls herein und nahm am Fenster Platz. Waylock ignorierte ihn. Der Kanzler klappte sein Buch zu, lehnte sich in den Sessel zurück und wartete darauf, daß Waylock die Ursache seines Kommens erwähnen würde. Er trug eine bequeme Leinenjacke – ganz entschieden nicht die Jacke, in der die Filmstreifen steckten. Waylock räusperte sich. »Sir, ich komme nicht als Bekannter zu Ihnen, sondern vielmehr als Bürger – als gewöhnlicher Mann, dessen Sorgen so gewichtig sind, daß er sich die Zeit zu diesem Besuch genommen hat, ohne zu berücksichtigen, daß seine Karriere darunter leiden könnte.« Imish richtete sich auf und runzelte unbehaglich die Stirn. »Worum handelt es sich?« »Um eine Angelegenheit, deren Hintergründe mir nur teilweise bekannt sind. Trotzdem weiß ich, daß sie eine gewisse Bedrohung darstellt.« »Was soll das heißen?« Waylock zögerte. »Sind Ihre Untergebenen absolut
vertrauenswürdig?« Er sah absichtlich nicht zu Aversham hinüber. »Ich muß mich darauf verlassen können, daß dieses Gespräch unter uns bleibt.« »Das klingt recht melodramatisch«, stellte der Kanzler fest. Waylock zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben Sie recht. Ich...« Er lachte verlegen. »Am besten sage ich nichts mehr davon – bis ich meinen Verdacht beweisen kann.« »Tun Sie das«, stimmte Imish erleichtert zu. Waylock lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich bedaure aufrichtig, daß Ihr Besuch beim Aktuarius ein so schlimmes Ende genommen hat. In gewisser Beziehung fühle ich mich sogar verantwortlich.« »Weshalb?« Waylock beobachtete aus dem Augenwinkel heraus, daß Aversham sich gespannt vorbeugte. »Nun, schließlich habe ich Ihnen diesen Besuch suggeriert.« Imish machte eine wegwerfende Handbewegung. »Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Waylock. Sprechen wir nicht mehr darüber – die Angelegenheit war schon peinlich genug.« Waylock lächelte zustimmend. »Ihre Residenz ist wirklich ein prachtvoller alter Bau. Aber finden Sie ihn nicht gelegentlich etwas... nun, deprimierend?« »Sogar sehr. Die Villa ist mein Amtssitz, aber ich wohne nur höchst ungern hier.« »Wie alt ist sie eigentlich?« »Sie muß zwei oder drei Jahrhunderte vor dem Chaos errichtet worden sein.« »Ein prächtiges Monument.« »Ja, das kann man wohl sagen.« Der Kanzler sah zu
Aversham hinüber. »Rolf, wollten Sie nicht die Einladungen für das nächste Bankett versenden?« Aversham erhob sich widerwillig und verließ zögernd den Raum. »Heraus mit der Sprache, Waylock«, forderte Imish ihn auf. »Was soll der ganze Unsinn?« Waylock sah sich um. »Ist hier alles gegen Abhöranlagen gesichert?« Auf Imishs Gesicht mischten sich Zweifel und Entrüstung. »Warum sollte sich jemand für meine Gespräche interessieren?« Er lächelte sarkastisch. »Schließlich bin ich nur der Kanzler – eine Null mit hochtrabenden Titeln.« »Sie sind Vorsitzender des Prytaneons.« »Pah! Ich darf nicht einmal mit den anderen abstimmen. Würde ich den Versuch machen, meine sogenannten Befugnisse auszunützen, wäre ich den letzten Tag im Amt.« »Vermutlich. Aber...« »Aber was?« »Nun, das Volk scheint in letzter Zeit immer unzufriedener zu werden.« »Das gibt sich wieder.« »Haben Sie sich schon mit der Möglichkeit befaßt, daß diese Unruhe organisiert sein könnte?« Imish starrte ihn an. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Sind Ihnen die Zweifler ein Begriff?« »Natürlich. Eine Ansammlung von Spinnern und Verrückten.« »Jedenfalls an der Oberfläche. Aber darunter verbirgt sich eine bestimmte Absicht, die mit gerissenen Methoden verfolgt wird.« »Welche Absicht?«
»Wer weiß? Ich habe gehört, daß der Kanzlerposten ihr unmittelbares Ziel ist.« »Lächerlich«, wehrte Imish ab. »Ich sitze fest im Sattel. Meine Amtszeit läuft erst in sechs Jahren ab.« »Auch wenn es... äh... zu Ihrem Hinscheiden käme?« »Waylock!« Der Kanzler runzelte unwillig die Stirn. »Ich wollte nur eine hypothetische Frage stellen: Was würde in diesem Fall geschehen?« »Aversham ist Vizekanzler. Er...« »Eben«, sagte Waylock. Der Kanzler warf ihm einen überraschten Blick zu. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Rolf daran Interesse hat, mich...« »Ich habe nichts behauptet. Ich habe nur Tatsachen erwähnt, aus denen Sie Ihre Schlüsse gezogen haben.« »Wie kommen Sie überhaupt darauf?« wollte Imish wissen. Waylock lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich habe eine Karriere vor mir und weiß, daß ich sie nur in gesicherten Verhältnissen machen kann. Deshalb bemühe ich mich, zu ihrer Sicherung beizutragen. Selbstverständlich wäre ich nicht unglücklich, wenn sich dabei ein paar Karrierepunkte ergäben.« »Aha!« Der Kanzler lächelte ironisch. »Das ist also des Pudels Kern!« »Die Propaganda der Zweifler stellt Sie als Symbol luxuriösen Lebens und automatischer Karriere dar.« »Automatische Karriere!« Imish lachte ungläubig. »Wenn sie nur wüßten!« »Es wäre vielleicht eine gute Idee, ihnen die Wirk-
lichkeit vor Augen zu führen; damit wäre das Symbol zerstört.« »Wie ließe sich das anfangen?« fragte Imish neugierig. »Die wirksamste Gegenpropaganda wäre meiner Auffassung nach ein Visiofilm in mehreren Folgen – eine historische Übersicht in Verbindung mit einer Darstellung Ihres persönlichen Werdegangs. Das müßte alle Zweifel ausräumen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich jemand dafür interessieren würde. Der Kanzler ist schließlich nur ein unbedeutender Funktionär.« »Außer in Krisensituationen – dann muß er helfend eingreifen.« Imish lächelte. »In Clarges gibt es keine Krisen mehr. Wir sind bereits zu zivilisiert.« »Die Zeiten ändern sich, und die allgemeine Unruhe ist nicht zu verkennen. Der enorme Zulauf, den die Zweifler zu verzeichnen haben, ist ein weiterer Beweis dafür. In dieser Atmosphäre könnte der vorhin erwähnte Visiofilm beruhigend und aufklärend wirken. Gelingt es uns, Ihr Prestige auf diese Weise zu heben, ist uns beiden geholfen.« Imish runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe nichts gegen einen Visiofilm einzuwenden, aber Sie müßten...« »Ich würde selbstverständlich darauf bestehen, daß Sie das Drehbuch nach eigenen Vorstellungen redigieren«, warf Waylock ein. »Hmm, das könnte jedenfalls nicht schaden«, murmelte Imish vor sich hin. »Dann mache ich mich also gleich heute an die Arbeit und beginne mit Notizen.«
»Ich möchte mir die Sache nochmals überlegen, bevor ich eine Entscheidung treffe«, wandte Imish ein. »Das ist Ihr gutes Recht.« »Ich habe den Verdacht, daß Sie ziemlich übertrieben haben, Waylock. Besonders der Gedanke, daß Rolf... Das kann ich einfach nicht glauben.« »Vertagen wir also die Entscheidung, bis wir mehr darüber wissen«, schlug Waylock vor. »Aber inzwischen braucht er nichts von unserem Plan zu erfahren, nicht wahr?« »Einverstanden.« Imish warf Waylock einen fragenden Blick zu. »Was wollen Sie eigentlich in diesem Film darstellen?« »Sie werden darin als aufrechter, traditionsbewußter Mann geschildert, der seine Pflicht in diesem hohen Amt erfüllt und trotzdem einfach und bescheiden lebt.« Imish lachte in sich hinein. »Da haben Sie sich viel vorgenommen... Mein Lebensstil ist schließlich allgemein bekannt.« »Interessant wäre vor allem Ihre Garderobe«, fuhr Waylock nachdenklich fort. »Die zeremoniellen Kostüme, Ihre Amtstracht, die Roben für verschiedene Anlässe.« Imish runzelte verwundert die Stirn. »Ich könnte mir eher vorstellen, daß...« »Das wäre eine gute Einführung«, versicherte Waylock ihm. »Denken Sie daran, daß die Tradition im Vordergrund stehen soll.« Imish zuckte mit den Schultern. »Schön, vielleicht haben Sie recht.« Waylock stand auf. »Ich würde jetzt gern Ihre Garderobe besichtigen und einige Notizen für die erste
Folge machen.« »Wie Sie wünschen.« Imish streckte die Hand nach dem Klingelknopf auf seinem Schreibtisch aus. »Ich lasse Sie von Rolf führen.« Waylock machte eine abwehrende Bewegung. »Mir wäre es lieber, wenn ich ohne Mister Aversham arbeiten könnte. Sagen Sie mir nur, wo die Garderobe liegt; ich finde mich schon zurecht.« Imish lächelte. »Wirklich eine verrückte Idee, meine Garderobe zu Propagandazwecken auszunützen! Na, wenn Sie meinen...« Er wollte ebenfalls aufstehen. »Nein, nein«, wehrte Waylock ab. »Ich möchte Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Außerdem kommen mir die besten Ideen, wenn ich allein bin.« Imish setzte sich wieder. »Gut, dann will ich Sie nicht stören.« Er beschrieb Waylock den Weg zur Garderobe.
40 Waylock ging den Korridor entlang und blieb vor der Tür stehen, die Imish ihm bezeichnet hatte. Hinter ihm war niemand zu sehen. Er schob die Tür auf und betrat das Ankleidezimmer. Imishs Lebensstil war kaum bescheiden zu nennen, wie dieser Raum nachdrücklich bestätigte. Schwarzer Marmor an den Wänden, ein weißer Schaumteppich auf dem Boden, seidene Vorhänge an den offenen Fenstern und Möbel aus Edelhölzern zeigten, daß der Kanzler zu leben verstand. Waylock bewunderte diese Pracht einen Augenblick lang und ging dann durch die nächste Tür in die eigentliche Garderobe. Hier hingen Hunderte von Anzügen, Kostümen, Umhängen, Mänteln und Roben auf langen Gestellen; die Wandregale enthielten ein reichhaltiges Sortiment Schuhe, Stiefel und Sandalen in allen nur vorstellbaren Farben und Formen. Waylock blieb auf der Schwelle stehen und suchte die Reihen nach einem purpurroten Farbfleck ab, der die bestickte Jacke bezeichnete, die der Kanzler gestern getragen hatte. Er ging langsam durch die Reihen, bis er die gesuchte Jacke endlich im zweiten Gestell entdeckt hatte. Er griff danach... und blieb wie erstarrt stehen. Rolf Aversham war hinter ihm aufgetaucht und kam jetzt langsam näher. »Mir war Ihr reges Interesse für die Garderobe des Kanzlers zunächst unerklärlich«, sagte er mit einem spöttischen Lächeln auf den schmalen Lippen. »Aber seitdem ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben, ist mir einiges klar geworden.«
»Offenbar haben Sie meine Absicht erkannt«, sagte Waylock. »Ich erkenne nur, daß Sie vor der Jacke stehen, die Kanzler Imish bei seiner Besichtigung des Aktuarius getragen hat. Darf ich sie haben?« »Wozu?« »Ich bin nur neugierig.« Waylock griff nach dem Jackenärmel und wollte die Filmstreifen herausziehen; er spürte sie mit den Fingerspitzen, erreichte sie aber nicht ganz. Aversham trat rasch näher, streckte die Hand aus und packte den Jackenärmel. Waylock riß daran, aber Aversham hielt eisern fest. Waylock schlug ihm ins Gesicht; Aversham trat nach seinem Schienbein. Waylock hielt den Fuß fest und zog ihn hoch; Aversham verlor das Gleichgewicht und stolperte rückwärts auf die offenen Fenster zu. Er klammerte sich an den Vorhängen fest, deren dünne Seide unter seinen Fingern nachgab, stieß einen entsetzten Schrei aus und stürzte aus dem Fenster im dritten Stock. Waylock rannte ans Fenster und beugte sich hinaus. Rolf Aversham lag bewegungslos neben einer großen steinernen Blumenschale, an der er sich den Schädel eingeschlagen hatte. Waylock wandte sich ab, griff mit zitternden Händen nach der purpurroten Jacke, holte die Filmstreifen unter dem Aufschlag hervor und steckte sie ein. Minuten später stürzte er ins Imishs Arbeitszimmer. Der Kanzler hob erstaunt den Kopf. »Was ist denn plötzlich in Sie gefahren?« »Ich habe doch recht gehabt«, keuchte Waylock. »Aversham hat mich in der Garderobe überfallen! Er muß unser Gespräch belauscht haben!«
»Aber... aber...« Imish schob seinen Sessel zurück. »Wo steckt er jetzt?« Waylock berichtete, was sich ereignet hatte.
41 Kanzler Imish saß leichenblaß und zitternd an seinem Schreibtisch und diktierte einen Bericht für die Außenstelle der Assassinen in Trianwood. »Seine Arbeitsweise war in letzter Zeit immer nachlässiger geworden. Dann entdeckte ich, daß er mir systematisch nachspionierte. Ich entließ ihn und stellte meinen Freund Gavin Waylock als Sekretär an. Er überfiel mich heute vormittag in meiner Garderobe. Zum Glück befand sich Gavin Waylock im gleichen Raum. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem Aversham aus dem Fenster stürzte. Alles war nur ein Unfall – ein bedauerliches Unglück.« Der Assassine verbeugte sich und ging. Imish kam in den Nebenraum, wo Waylock auf ihn wartete. »Alles erledigt«, sagte der Kanzler. Er starrte Waylock an. »Hoffentlich war das richtig.« »Es war die einzige Erklärung«, versicherte Waylock ihm. »Jede andere Erklärung hätte einen Skandal heraufbeschworen.« Imish schüttelte den Kopf; er schien noch immer nicht fassen zu können, was geschehen war. »Übrigens«, sagte Waylock, »wann soll ich meinen Dienst antreten?« Imish hob verblüfft den Kopf. »Wollen Sie wirklich Rolfs Platz einnehmen?« »Nun, meine bisherige Tätigkeit füllt mich nicht aus, und ich wäre Ihnen gern nach besten Kräften behilflich.« »So machen Sie nie Karriere – wenn Sie ständig den Beruf wechseln.«
»Ich bin ganz zufrieden dabei«, antwortete Waylock lächelnd. Imish schüttelte den Kopf. »Der Sekretär des Kanzlers ist Sekretär einer Null – und das ist schlimmer als die Null selbst.« »Ich habe mir schon lange einen Titel gewünscht. Als Ihr Sekretär werde ich automatisch Vizekanzler. Außerdem haben Sie den Assassinen mitgeteilt, Sie hätten mich als Ersatz für Aversham angestellt.« Imish machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist kein Problem. Sie brauchen den Job nur abzulehnen.« »Ich fürchte aber, daß das einen schlechten Eindruck machen würde. Wir müssen die Reaktion der Zweifler berücksichtigen...« Imish ließ sich in einen Sessel fallen und warf Waylock einen anklagenden Blick zu. »Jetzt stecke ich wirklich in der Klemme!« »Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tue, um Sie daraus zu befreien.« Waylock erwiderte gelassen seinen Blick. »Gut, wenn Sie unbedingt wollen«, seufzte der Kanzler schließlich.
42 Ein Monat war vergangen. Der Herbst zog in Clarges ein. Die Bäume färbten sich gelb und rot, morgens lag dichter Nebel über der Stadt, und der kalte Wind brachte den ersten Eishauch des kommenden Winters mit sich. Waylock verbrachte den Tag des großen Herbstfestes in seinem ehemaligen Appartement am Phariot Way, in dem jetzt Vincent Rodenave untergebracht war, Rodenave war abgemagert; unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, denn er arbeitete buchstäblich Tag und Nacht wie ein Besessener, ohne sich mehr als drei oder vier Stunden Schlaf zu gönnen. Als Waylock ihn aufsuchte, hatte Rodenave etwa die Hälfte der Televektorfilme ausgewertet. Hinter seinem Arbeitsplatz hing eine große Karte der Region, auf der rote Stecknadeln die Zellen bezeichneten, in denen Amaranth-Surrogate im Tiefschlaf auf den Tag warteten, an dem sie benötigt wurden. Waylock lächelte zufrieden, während er die Karte aufmerksam studierte. »Dieses Stück Papier ist gefährlicher als jede Bombe«, sagte er zu Rodenave. »Das ist mir durchaus klar«, antwortete Rodenave. Er zeigte auf das Fenster. »Dort unten auf der Straße hält ständig ein Assassine Wache. Ich kann keinen Schritt außer Haus tun, ohne beschattet zu werden. Was wird aus uns, wenn sie auf die Idee kommen, das Appartement zu durchsuchen?« Waylock runzelte die Stirn, zog die Stecknadeln aus der Karte und faltete das Papier zusammen, um
es in die Tasche zu stecken. »Machen Sie wie bisher weiter«, wies er Rodenave an. »Wenn ich mich diese Woche frei machen kann...« »Wenn Sie sich frei machen können? Arbeiten Sie denn überhaupt?« Waylock grinste. »Ich arbeite für drei. Aversham hat sich die Arbeit leicht gemacht. Ich mache mich unersetzlich.« »Wie?« »Ich werte vor allem Imishs Position auf. Er war schon mit seinem Los zufrieden und erwartete seinen Assassinen in Dritte. Jetzt hofft er, bald in Rand aufzusteigen. Wir lassen uns überall sehen, und er nützt seine Stellung nach Möglichkeit publikumswirksam aus. In letzter Zeit wirkt er tatsächlich wie eine bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.« Waylock schwieg nachdenklich. »Vielleicht setzt er eines Tages alle in Erstaunen – er hat jedenfalls das Zeug dazu.«
43 Waylock kehrte nach Trianwood zurück und suchte sofort den Kanzler in dessen Arbeitszimmer auf. Imish lag schlafend auf seiner Couch. Waylock ließ sich geräuschvoll in einen Sessel fallen. Imish erwachte und richtete sich blinzelnd auf. »Ah, Gavin. Wie läßt sich der Festtag in Clarges an?« Waylock überlegte. »Nicht allzu gut, wenn ich ehrlich sein soll.« »Warum nicht?« »Die Atmosphäre scheint förmlich geladen zu sein. Fließendes Wasser verliert seine Energie, aber wenn sein Fluß gehemmt wird, staut sich der Druck und wird bedrohlich.« Imish gähnte ungeniert. »Die Straßen sind überfüllt«, fuhr Waylock fort. »Mister Jedermann ist unterwegs und streift unruhig umher. Niemand weiß, weshalb er das tut, aber er tut es jedenfalls.« »Vielleicht will er sich nur Bewegung verschaffen«, meinte Imish gähnend. »Er genießt die frische Luft und sieht sich die Stadt an.« »Nein«, widersprach Waylock. »Er wirkt übernächtigt und innerlich erregt. Er interessiert sich nicht für die Stadt, sondern starrt seine Mitbürger an. Und er ist enttäuscht, weil sie seinen Blick mit dem gleichen fragenden Ausdruck erwidern.« Imish runzelte die Stirn. »Sie zeichnen ein trostloses Bild von ihm.« »Das war auch meine Absicht.« »Unsinn!« sagte Imish kurz. »Clarges ist nicht
durch solche Männer groß geworden.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Unsere große Zeit liegt Jahrhunderte zurück.« »Wie können Sie das angesichts unserer vielen Fortschritte auf allen Gebieten behaupten?« fragte Imish entrüstet. »Die Verwaltung funktioniert reibungslos, die Produktion hat neue Höhepunkte erreicht, jeder Bürger kann...« »Und die Beruhigungsanstalten sind voller als je zuvor«, warf Waylock ein. »Sie sind heute in ausgesprochen trüber Stimmung«, stellte Imish fest. »Manchmal frage ich mich, weshalb ich eigentlich Karriere zu machen versuche«, sagte Waylock. »Was nützt mir die Unsterblichkeit, wenn um mich herum alles aus den Fugen geht?« Imish schien halb belustigt und halb besorgt zu sein. »Leiden Sie öfters unter sollen pessimistischen Anwandlungen?« erkundigte er sich. »Ein großer Mann, ein großer Kanzler könnte die zukünftige Entwicklung bestimmen. Er könnte Clarges retten.« Imish stand auf und nahm an seinem Schreibtisch Platz. »Ein interessanter Gedanke.« Er lächelte. »Jetzt verstehe ich auch, worauf die Gerüchte beruhen, die ich über Sie gehört habe.« Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Gerüchte über mich?« »Richtig.« Imish machte eine vielsagende Geste. »Die Gerüchte sind in der Tat bemerkenswert.« »Was soll das heißen?« »Angeblich folgt Ihnen ein schwarzer Schatten; wo Sie Ihren Fuß hinsetzen, breiten sich Unheil und Ver-
derben aus.« Waylock schnaubte. »Und wer bringt diesen Unsinn unter die Leute?« »Caspar Jarvis, der Generaldirektor der Assassinen.« »Der Generaldirektor verbringt seine Zeit damit, Unschuldige zu verleumden, während Zeloten und Zweifler wie ein Richtschwert über unserer Zivilisation hängen.« Imish lächelte. »Halten Sie die Lage wirklich für so gefährlich?« Waylock hatte die Zweifler nur als gefährlich bezeichnet, um einen Vorwand für seinen Besuch in Imishs Garderobe zu haben, aber nun konnte er nicht plötzlich von seinen früheren Behauptungen abrükken und die Zweifler als harmlos darstellen. »Die Zeloten sind Psychopathen ohne feste Organisation; die Zweifler sind schwärmerische Phantasten«, fuhr Imish überzeugt fort. »Die wirklich gefährlichen Verbrecher sind längst nach Carnevalle geflohen und haben dort bei den Tausend Dieben Zuflucht gefunden.« Waylock schüttelte den Kopf. »Wir kennen sie; sie sind dort vollkommen isoliert und deshalb unschädlich. Aber die anderen halten sich überall in der Stadt auf, arbeiten unermüdlich und sind praktisch nicht zu fassen. Die Zweifler haben sich zum Beispiel eine besonders wirksame Methode ausgedacht. Sie sind schon zufrieden, wenn sie jemand davon überzeugen können, daß Clarges krank ist und unbedingt geheilt werden muß – denn dann haben sie einen neuen Zweifler gewonnen.« Imish starrte ihn verblüfft an. »Aber genau das haben Sie mir doch vor fünf Minuten erzählt! Dann sind
Sie also ein Erzzweifler!« »Vielleicht haben Sie sogar recht«, antwortete Waylock lächelnd, »aber ich würde das Problem auf weniger revolutionäre Weise zu lösen versuchen.« Der Kanzler war noch nicht überzeugt. »Jeder weiß, daß wir in einem Goldenen Zeitalter leben. Generaldirektor Jarvis hat mir erst neulich versichert, unsere...« »Jarvis müßte es eigentlich besser wissen«, unterbrach Waylock ihn. »Aber auch er ist nicht unfehlbar, deshalb wäre eine kleine Erinnerung von Ihrer Seite vielleicht durchaus angebracht. Vergessen Sie nicht, daß es nicht nur Ihre vornehmste Aufgabe, sondern sogar Ihre Pflicht ist, für das Wohlergehen der Bürger von Clarges zu sorgen.« Imish senkte den Kopf und schloß nachdenklich die Augen. Waylock hörte aufmerksam zu, als der Kanzler endlich wieder aufsah und zu sprechen begann. »Gavin, Sie wissen selbst, daß ich eine Art lebender Anachronismus bin. Das Goldene Zeitalter benötigt keinen starken Führer. Aber trotzdem...« Er machte eine Pause und starrte nachdenklich aus dem Fenster. »Wir haben ein starkes Sicherheitsbedürfnis und brauchen einen Halt in Zeiten der Gefahr. Nur deshalb hat das Amt des Kanzlers Jahrhunderte überdauert.« Er runzelte die Stirn. »In Clarges geschehen seltsame Dinge – aber niemand scheint sich darum zu kümmern. Ich habe die Absicht, etwas dagegen zu unternehmen... Rufen Sie den Generaldirektor der Assassinen an und bitten Sie ihn, mich um elf Uhr abends aufzusuchen.« Waylock nickte. »Wie Sie wünschen, Sir.«
44 Caspar Jarvis erschien um zehn Minuten vor elf in Begleitung seiner beiden Leibwächter. Er durchquerte die große Eingangshalle, blieb dicht vor Waylock stehen und betrachtete ihn lächelnd. »Wie schön, daß wir uns endlich einmal von Angesicht zu Angesicht sehen.« Waylock nickte wortlos. »Hoffentlich begegnen wir uns noch recht oft«, fuhr Jarvis fort. »Wo ist der Kanzler?« »Ich führe Sie gleich zu ihm.« Waylock ging in Imishs Arbeitszimmer voraus; Jarvis folgte ihm und ließ seine Leibwächter an der Tür Posten beziehen. Imish begrüßte den Generaldirektor und nickte dann Waylock zu. »Ich brauche Sie nicht mehr, Gavin. Sie können gehen.« Nachdem Waylock sich zurückgezogen hatte, kam Jarvis sofort zur Sache. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Sir. Ich nehme an, daß Sie etwas Wichtiges zu besprechen haben.« Der Kanzler nickte. »Ganz recht. Mir ist zu Ohren gekommen, daß...« Jarvis hob eine Hand. »Einen Augenblick, Sir. Falls Waylock etwas damit zu tun hat, rufen Sie ihn lieber gleich wieder herein, denn der Kerl hat bestimmt ein Abhörgerät versteckt und hört ohnehin jedes Wort.« Imish lächelte. »Ich kann Ihnen versichern, daß dieser Raum kein Abhörgerät enthält.« Jarvis sah sich skeptisch um. »Darf ich das kurz überprüfen?«
»Selbstverständlich.« Jarvis holte eine Suchröhre aus der Tasche, ging langsam durch den Raum und beobachtete den Zeiger des Meßinstruments. Dann runzelte er die Stirn und wiederholte die Überprüfung. »Tatsächlich nicht«, murmelte er verblüfft. Er öffnete die Tür, sah seine Leibwächter auf ihrem Posten stehen und kam an den Schreibtisch zurück. »Jetzt können wir unbesorgt sprechen.« Waylock, der im Nebenraum stand und ein Ohr gegen das winzige Loch in der schalldichten Wandverkleidung preßte, grinste vor sich hin. »In gewisser Beziehung hat Waylock doch etwas mit dem Fall zu tun«, begann Imish. »Er hat mich auf eine Gefahr aufmerksam gemacht, die Ihnen vielleicht entgangen ist.« »Ich befasse mich nur mit realen Gefahren und habe keine Zeit, mich mit Dingen zu befassen, die sich noch im Entwicklungsstadium befinden.« Imish nickte. »Aber vielleicht ist das meine Pflicht. Ich spreche von den Zweiflern, die...« Jarvis machte eine ungeduldige Handbewegung. »Die Zweifler interessieren uns nicht.« »Sie werden also nicht überwacht?« »Nein. Unsere Leute können nicht jeden Verrücktenklub unter die Lupe nehmen, der...« »Ich wünsche, daß Sie die Umtriebe der Zweifler sofort untersuchen lassen«, sagte Imish. In der folgenden Diskussion ließ Imish sich nicht von dieser Forderung abbringen, bis Jarvis endlich zustimmte. »Gut, Sie sollen Ihren Willen haben. Heutzutage ist alles möglich; vielleicht haben wir die Gefahr tatsächlich unterschätzt.«
Imish nickte zufrieden, und Jarvis fuhr fort: »Ich möchte Ihnen noch einen guten Rat geben, Sir. Trennen Sie sich von Waylock. Entlassen Sie ihn sofort. Der Mann ist ein Ungeheuer. Vermeiden Sie einen Skandal, indem Sie ihn aus Ihrer Umgebung entfernen, bevor wir ihn abholen.« Der Kanzler starrte ihn verwirrt an. »Meinen Sie das... äh... Hinscheiden meines vorherigen Sekretärs Rolf Aversham?« »Nein.« Jarvis beobachtete sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. Imish senkte den Kopf. »Sie haben doch selbst ausgesagt, Waylock sei völlig unschuldig.« »Ja«, sagte Imish laut. »Natürlich.« »Ich spreche von einem anderen Verbrechen: Waylock hat vor einigen Monaten die Jacynth Martin in Carnevalle entleiben lassen.« »Was!« »Wir haben Verbindung zu seinem Helfershelfer aufgenommen, einen Berber namens Carleon. Dieser Mann ist bereit, ausreichende Beweise gegen Waylock zu liefern, verlangt aber eine Gegenleistung dafür.« »Weshalb erzählen Sie mir das alles?« fragte Imish erstaunt. »Weil Sie uns helfen können.« »Wodurch?« »Carleon verlangt eine Amnestie. Er will nach Clarges zurückkehren. Sie haben das Recht, diese Amnestie zu erlassen.« Imish schüttelte den Kopf. »Meine Rechte stehen nur auf dem Papier; das wissen Sie selbst.« »Trotzdem sind sie vorhanden. Ich könnte den Fall
auch vor das Prytaneon bringen, aber dann würde er in der Öffentlichkeit breitgetreten.« »Aber dieser Carleon – ist er nicht auch ein Verbrecher? Warum sollen wir einen Halunken begnadigen, um einen anderen bestrafen zu können?« Jarvis schien zu überlegen. »Waylock ist ein spezieller Fall«, sagte er dann. »Ich habe den Befehl, ihn unter allen Umständen einer gerechten Bestrafung zuzuführen.« »Legt die Amaranth-Gesellschaft so großen Wert darauf?« Jarvis nickte. »Überlegen Sie selbst: Carleon und Waylock befinden sich beide in Freiheit, aber sobald wir Carleon begnadigen, liefert er uns Waylock aus. Das ist ein klarer Gewinn.« »Ja, das sehe ich ein... Haben Sie die Papiere mitgebracht?« Jarvis legte eine Urkunde auf den Schreibtisch. »Sie brauchen nur hier zu unterzeichnen, Sir.« Imish las den Text langsam durch und stellte fest, welche Untaten Carleon auf dem Gewissen hatte. »Das ist unmöglich«, rief er entrüstet aus. »Im Vergleich zu diesem Halunken ist Waylock das reinste Unschuldslamm!« Jarvis nickte ungerührt. »Denken Sie aber bitte daran, Sir, daß wir die Wünsche hochgestellter Persönlichkeiten zu berücksichtigen haben.« Imish setzte seine Unterschrift unter das Dokument. »So, da haben Sie Ihre Begnadigung.« Jarvis nahm die Urkunde an sich und stand auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir.« »Hoffentlich macht mir das Prytaneon keine Schwierigkeiten«, murmelte der Kanzler.
»Das ist nicht zu befürchten«, versicherte Jarvis ihm. »Die Sache gelangt nie an die Öffentlichkeit.« Jarvis war eben erst in sein Büro zurückgekehrt, als das Visorphon auf seinem Schreibtisch summte. Der Bildschirm zeigte Imishs Gesicht. »Direktor, ich muß Ihnen mitteilen, daß Waylock verschwunden ist.« »Verschwunden? Was soll das heißen?« »Ich kann es mir selbst nicht erklären. Er ist fortgegangen, ohne mir ein Wort zu sagen.« Imish runzelte die Stirn. »Glauben Sie, daß er trotz unserer Sicherheitsvorkehrungen gelauscht...« »Ich kümmere mich gleich darum«, unterbrach Jarvis ihn. »Vielen Dank für Ihren Anruf, Sir.« Der Bildschirm wurde dunkel. Jarvis überlegte kurz, drückte dann auf den Knopf der Gegensprechanlage und sagte: »Carleons Begnadigung ist fertig, Butler. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung und vereinbaren Sie eine Besprechung – je früher desto besser.«
45 Der Mann in der Bronzemaske schlich lautlos die Rückwand des niedrigen Gebäudes entlang, blieb vor einer Stahltür stehen, sah sich vorsichtig um und trat rasch über die Schwelle. Er bewegte sich drei Schritte weiter und blieb zwei Sekunden lang ruhig stehen, bis die Feuerstrahlen erloschen waren. Dann verließ er die Falle und stieg eine enge Treppe in den Keller hinab. In dem spärlich möblierten Vorraum saß ein kleiner Mann mit runzligem Gesicht der Treppe gegenüber an einem Tisch. »Wo ist Carleon?« fragte der Mann mit der Maske. Der kleine Mann wies auf die Tür hinter sich. »In seinem Museum.« Der Maskierte öffnete die Tür, ging durch einen langen Korridor weiter und stieß eine zweite Tür auf. Dahinter lag ein prächtig ausgestatteter Raum mit geisterhaft grüner Beleuchtung. Ein dicklicher Mann, dessen Gesicht leichenhaft blaß wirkte, sah ihm fragend entgegen. Er hielt einen Arm hinter dem Rücken verborgen. Seine Augen glitzerten, als er die Bronzemaske erkannte. »Ja?« Der Besucher nahm die Maske ab. »Waylock!« Carleon streckte den Arm aus; er hielt eine Pistole in der Hand. Aber Waylock kam ihm zuvor. Carleon sackte lautlos in sich zusammen. Waylock lächelte verächtlich. Er kehrte in den Vorraum zurück. Der kleine Mann saß wie zuvor an seinem Tisch. »Ich habe Carleon erschossen«, sagte Waylock. Der andere zuckte mit den Schultern.
»Carleon wollte über den Fluß in die Stadt zurück«, erklärte Waylock ihm. »Er war sich bereits mit den Assassinen einig.« Der kleine Mann zeigte keine Überraschung. »Ich brauche hundert Männer, Rubel«, fuhr Waylock fort. »Ich zahle fünfhundert Florins für eine Nacht.« Rubel nickte langsam. »Gefährlich?« »Nicht übermäßig.« »Bezahlung im voraus?« »Die Hälfte voraus.« »Hast du das Geld?« »Ja, Rubel.« Der Grayven Warlock, Herausgeber des Clarges Direction, war reich gewesen. »Du übernimmst die Auszahlung.« »Wann brauchst du die Männer?« »Ich gebe dir vier Stunden vorher Nachricht. Die Leute müssen kräftig und intelligent sein; sie dürfen nicht vor Hindernissen zurückschrecken. Und sie müssen meine Befehle genau ausführen.« »Ich bezweifle, daß es in Carnevalle hundert Männer dieser Art gibt«, sagte Rubel. »Dann nimmst du eben Frauen. In einigen Fällen sind sie sogar besser geeignet.« Rubel nickte zustimmend. »Noch etwas, Rubel. Die Assassinen arbeiten meist mit dir zusammen. Du bist ihr Agent in Carnevalle.« Rubel schüttelte lächelnd den Kopf, aber Waylock sah darüber hinweg. »Deshalb kennst du die kleineren Spitzel. Die Assassinen dürfen nichts davon erfahren. Du bist dafür verantwortlich. Ist das klar?« »Völlig«, antwortete Rubel.
»Gut. Ich komme später zurück und bringe dir das Geld.« Das Visorphon neben Rubel summte; der kleine Mann beugte sich über das Gerät und hörte aufmerksam zu. Dann wandte er sich an Waylock. »Die Assassinen wollen mit Carleon sprechen. Was soll ich ihnen sagen, Gavin?« Waylock lächelte grimmig. »Sag ihnen, daß Carleon tot ist.«
46 Diese Nachricht wurde Jarvis übermittelt, der mit gewohnter Entschlossenheit reagierte. »Das Sonderkommando rückt sofort nach Carnevalle aus und bringt diesen Gavin Waylock hierher – lebendig oder tot!« Zwei Stunden später liefen die ersten Berichte ein. »Er ist wieder durch die Maschen geschlüpft.« Jarvis ballte wütend die Fäuste. »Aber wir finden ihn noch! Nur schade, daß wir ohne Televektion auskommen müssen... Diese idiotischen Bestimmungen binden uns die Hände!« Er schüttelte enttäuscht den Kopf, überlegte kurz und erteilte dann in rascher Folge ein halbes Dutzend Befehle.
47 Die Amaranth-Gesellschaft hatte sich zu ihrem zweihundertneunundsiebzigsten Konklave versammelt. Jedes Mitglied saß zu Hause vor einem riesigen Bildschirm, der in zehntausend kleine Felder unterteilt war. In jedem Feld erschien das Gesicht eines Amaranth und sein Stimmanzeiger – eine winzige Leuchte, die in verschiedenen Farbtönen aufblitzen konnte: rot für heftige Ablehnung, orange für Ablehnung, gelb für Neutralität, grün für Zustimmung oder blau für begeisterte Zustimmung. Im Zentrum des Mosaiks befand sich ein großer Bildschirm für den jeweiligen Sprecher und ein Tabulator, der das Ergebnis jeder Abstimmung durch ein Farbsignal anzeigte. Als die traditionelle Eröffnungszeremonie begann, nahmen zweiundneunzig Prozent aller Mitglieder der Gesellschaft daran teil. Dann ergriff Der Roland Zygmont das Wort und sagte: »Ich will keine Zeit mit Begrüßungsworten vergeuden, denn wir haben uns heute versammelt, um ein Problem zu diskutieren, dessen Existenz wir alle bisher geflissentlich übersehen haben: die gewaltsame Entleibung von Mitgliedern unserer Gesellschaft. Fälle dieser Art hat es schon immer gegeben – ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Tragödie, der Die Anastasia de Fancourt und Der Abel Mandeville zum Opfer gefallen sind. Aber heute geht es nicht um dieses Drama, sondern um Gavin Waylock, der Ihnen vielleicht besser als Der Grayven Warlock bekannt ist. Das Wort hat jetzt Die Jacynth Martin, die mit den näheren Um-
ständen des Falles am besten vertraut ist.« Die Jacynth erschien auf dem großen Bildschirm. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet; sie schien vor innerlicher Erregung zu zittern. »Lassen Sie mich zunächst aufzählen, für welche Entleibungen Gavin Waylock unmittelbar verantwortlich ist: Der Abel Mandeville, Die Jacynth Martin, Seth Caddigan, Rolf Aversham und erst gestern der Berber Carleon. Ich habe Gavin studiert. Er hat diese Verbrechen mit Vorbedacht begangen; er ist ein Ungeheuer ohne Moralbegriffe, das vernichtet werden muß. Er bedroht alle und jeden von uns!« Die Gesichter des Mosaiks gerieten in Bewegung. »Wieso?« rief eine Stimme, dann nahmen andere den Ruf auf. »Gavin Waylock mißachtet unsere Gesetze«, erwiderte Die Jacynth. »Er bricht sie nach Belieben. Dieser Erfolg kann ansteckend wirken. Andere werden seinem Beispiel folgen, bis er ganz Clarges infiziert hat.« Hunderte von Stimmen wurden gleichzeitig laut, bis Die Jacynth abwehrend die Hand hob. »Gavin Waylock will in unsere Gesellschaft aufgenommen werden, das hat er selbst oft genug verkündet.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Es steht in unserer Macht, ihm diesen Wunsch zu erfüllen und die Gesetze von Clarges zu ignorieren. Ich bitte um Abstimmung.« Das Stimmengewirr im Lautsprecher klang wie das Rauschen einer weit entfernten Brandung. Die Felder des Mosaiks leuchteten auf: hier und dort blau, etwas häufiger grün, verschiedentlich gelb, überwiegend orange und rot. Der Tabulator zählte die Stimmen, dann leuchtete sein Feld hellrot auf.
Die Jacynth hob die Hand. »Aber ich warne Sie – wenn wir uns nicht ergeben, müssen wir kämpfen. Er läßt sich nicht entmutigen oder einschüchtern, deshalb muß er... vernichtet werden! Dieses Raubtier in Menschengestalt bedroht uns alle, darum müssen wir ihm zuvorkommen und ihn daran hindern, seine Pläne zu verwirklichen. Rücksichtnahme und Mitleid sind hier fehl am Platze; unser Feind schreckt vor nichts zurück, deshalb müssen wir mit gleichen Waffen kämpfen!« Sie nickte kurz, und Der Roland Zygmont erschien wieder auf dem zentralen Bildschirm. »Die Jacynth hat einen spezifischen Aspekt unseres Problems erläutert«, begann er langsam. »Dieser Grayven Warlock ist ohne Zweifel ein gerissener Bursche; er ist den Assassinen entkommen, hat sich sieben Jahre lang verborgen gehalten und hat sich als Relikt in Brut registrieren lassen, um auf diese Weise eine neue Aufstiegsmöglichkeit zu haben.« »Und was ist daran auszusetzen?« wandte eine leise Stimme ein. Der Roland ignorierte die Frage, aber Die Jacynth erschien sofort wieder auf dem Bildschirm und suchte die Gesichter auf den zehntausend Feldern ab. »Wer hat eben gesprochen?« »Ich.« »Wer sind Sie?« »Ich bin Gavin Waylock – oder Der Grayven Warlock, wenn Ihnen das lieber ist. Als Vizekanzler des Prytaneons habe ich das Recht, hier zu sprechen.« »Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte Die Jacynth. Waylocks Gesicht erschien auf dem zentralen Bild-
schirm. Zehntausend Augenpaare studierten das ernste Gesicht. »Vor sieben Jahren«, fuhr Waylock fort, »wurde ich wegen eines Verbrechens, das ich nicht vorsätzlich begangen hatte, den Assassinen übergeben. Durch einen glücklichen Zufall bin ich heute in der Lage, dagegen zu protestieren. Ich bitte das Konklave, das damals ergangene Urteil aufzuheben und meine Mitgliedschaft zu bestätigen.« Der Roland Zygmont runzelte besorgt die Stirn. »Es steht der Versammlung frei, über diesen Antrag abzustimmen.« Das Leuchtfeld des Tabulators glühte dunkelrot. »Sie haben abgelehnt«, stellte Waylock fest. »Darf ich fragen – ich wende mich dabei an den Vorsitzenden –, weshalb man mir mein gutes Recht verweigert?« »Ich kann nur Vermutungen über die Gründe anstellen«, murmelte Der Roland. »Ihre Methoden sind abstoßend und aggressiv; Sie haben Unregelmäßigkeiten, wenn nicht sogar Verbrechen begangen. Die dabei gezeigten Charaktereigenschaften sind Ihrem Aufnahmegesuch nicht eben förderlich gewesen.« »Aber mein Charakter spielt doch in meinem Fall ebensowenig eine Rolle wie bei anderen Amaranth«, erwiderte Waylock gelassen. »Ich bin Der Grayven Warlock, und ich verlange Anerkennung.« Die Jacynth erhielt das Wort. »Sie haben sich als Gavin Waylock registrieren lassen, nicht wahr?« »Richtig, aber ich...« »Damit ist bereits alles gesagt. Der Grayven Warlock ist nicht mehr unter uns, und Sie sind Gavin Waylock, Brut.«
»Ich habe mich als Relikt ausgegeben, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Trotzdem bin ich mit dem ursprünglichen Amaranth identisch und habe deshalb ein Anrecht auf alle seine Privilegien. Der Grayven Warlock und Gavin Waylock sind nur verschiedene Namen für die gleiche Person.« Die Jacynth lachte. »Der Roland ist für derartige Probleme eher zuständig; ich muß Sie deshalb an ihn verweisen.« »Mister Waylocks Behauptung entbehrt jeder realen Grundlage«, stellte Der Roland fest. »Der Grayven war nur kurze Zeit Mitglied unserer Gesellschaft und konnte unmöglich über lebensfähige Surrogate verfügen.« »Das ist jedoch der Fall«, wandte Waylock ein. »Sie haben mich selbst als Warlocks Surrogat anerkannt; ich stelle hiermit einen Aufnahmeantrag als der neue Grayven Warlock.« »Ich darf den Antrag nicht entgegennehmen«, erwiderte Der Roland zögernd. »Sie sind vielleicht sein Relikt, aber Der Grayven hat keine Surrogate besessen.« »Widerspricht das nicht Ihrer Theorie über die Bedeutung der Surrogate?« fragte Waylock. »Ist nicht jedes Surrogat eine Identität Ihrer selbst?« Die beiden Männer erschienen jetzt gleichzeitig auf dem zentralen Bildschirm. »Jedes Surrogat ist ein selbständiges Lebewesen, bis es die legale Identität des ursprünglichen Amaranth erhält und als diese Persönlichkeit in unsere Gesellschaft aufgenommen wird.« Waylock runzelte die Stirn. »Die Surrogate sind also selbständige Lebewesen?«
»Ja«, antwortete Der Roland. »Sind Sie alle der gleichen Meinung?« fragte Waylock die Versammlung. Der Tabulator leuchtete blau. »Dann begehen Sie im Grunde genommen ständig ein schweres Verbrechen«, fuhr Waylock nachdenklich fort. Betroffenes Schweigen folgte. »Wie Sie wissen, habe ich bestimmte Pflichten zu erfüllen«, sagte Waylock. »In Abwesenheit des Kanzlers vertrete ich seine Stelle und fühle mich deshalb berechtigt, die Amaranth-Gesellschaft eindringlich zu ermahnen.« »Was soll der Unsinn?« fragte Der Roland. »Sie halten Erwachsene gefangen, nicht wahr? Ich ordne deshalb kraft meines Amtes ihre sofortige Freilassung an. Weigern Sie sich, diesen Befehl auszuführen, müssen Sie die Konsequenzen tragen.« Zehntausend Stimmen gaben ihrer Empörung gleichzeitig Ausdruck. »Sie sind verrückt, Waylock«, rief der Vorsitzende entrüstet. Waylock lächelte gelassen. »Sie haben selbst zugegeben, was ich Ihnen jetzt vorwerfe. Treffen Sie also Ihre Wahl. Die Surrogate sind entweder selbständige Lebewesen oder Identitäten des ursprünglichen Amaranth.« Der Roland schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, was Sie damit bezwecken, Waylock.« »Das müßte Ihnen allmählich klar sein«, antwortete Waylock. »Nehmen Sie mich in die Gesellschaft auf – oder lassen Sie Ihre Surrogate frei.« Zunächst herrschte Schweigen, dann ertönte leises Gelächter.
»Sie wissen genau, daß wir unsere Surrogate nie freilassen würden«, sagte Der Roland. »Ihr Vorschlag ist einfach phantastisch!« »Dann geben Sie also zu, daß ich ein Recht auf Mitgliedschaft besitze?« Der Tabulator leuchtete orange, dann rot. »Nein«, riefen Hunderte von Stimmen. »Wir lassen uns nicht erpressen!« »Überlegen Sie gut«, mahnte Waylock. »Ich bin nicht hilflos, und ich habe nicht die Absicht, mich ein zweitesmal von Ihnen opfern zu lassen.« »Wie können Sie das behaupten?« fragte Der Roland. »Der Grayven Warlock hatte ein Verbrechen begangen und ist dafür bestraft worden.« »Aber Sie haben die Höchststrafe ausgesprochen, obwohl andere in gleicher Lage völlig straffrei ausgingen. Der Abel Mandeville hat zwei Seelen ausgelöscht – aber seine Surrogate leben ungestraft weiter.« »Der Grayven hätte sich in acht nehmen sollen, bis seine Surrogate lebensfähig waren«, stellte Der Roland fest. »Ich lasse mich nicht abweisen!« rief Waylock leidenschaftlich. »Ich verlange mein Recht! Wenn ich es nicht erhalte, bin ich gezwungen, es mir zu erkämpfen!« »Vielleicht ist die Gesellschaft bereit, Ihren Fall nochmals zu diskutieren«, sagte Der Roland beruhigend. »Ich bezweifle allerdings, daß...« »Nein! Ich lasse mich nicht länger hinhalten, sondern ergreife jetzt die Initiative – als Vorbeugungsmaßnahme oder als Gegenschlag. Sie haben die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten.« »Was haben Sie vor? Was wollen Sie tun? Was
können Sie unternehmen?« »Ich kann Ihre Surrogate befreien.« Waylock lächelte grimmig. »Sie werden bereits in diesem Augenblick befreit, denn ich habe Ihre Reaktion vorausgesehen. Die Aktion geht weiter, bis meine Forderungen erfüllt – oder bis alle Surrogate befreit sind.« Die Amaranth schwiegen betroffen. Der Roland lächelte erschrocken. »Dieser Mann – Gavin Waylock oder Der Grayven – kann seine Drohung nicht verwirklichen, denn er weiß nicht, wo unsere Zellen liegen.« Waylock hielt einen Zettel hoch. »Folgende Zellen sind bereits leer...« Er las ein Dutzend Namen und Adressen vor. Entsetzte Aufschreie von allen Seiten. Zehntausend Gesichter gerieten in Bewegung, als die Amaranth diskutierten, ob sie bleiben oder zu ihren Zellen eilen sollten. »Es ist zwecklos, das Konklave jetzt zu verlassen«, sagte Waylock. »Heute nacht werden nur vierhundert Zellen geöffnet. Die Arbeit ist fast beendet und wird abgeschlossen, bevor jemand eingreifen könnte. Morgen werden wieder vierhundert Zellen geöffnet, übermorgen ebenfalls, bis keine mehr übrig sind. Wollen Sie nun meine Forderungen erfüllen – oder muß ich Sie alle unglücklich machen?« Der Roland schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht zu Gesetzesbrechern werden.« »Das habe ich nie verlangt. Ich bestehe nur auf meinem Recht.« »Wir brauchen Zeit.« »Sie müssen sich sofort entscheiden.« »Ich kann nicht für alle Mitglieder sprechen.«
»Dann sollen sie abstimmen.« Der Roland hob den Kopf, als das Visorphon auf seinem Schreibtisch summte. Er hörte kurz zu und rief entsetzt: »Es ist wahr! Sie brechen die Zellen auf und schicken die Surrogate hilflos in die Nacht hinaus!« »Lassen Sie abstimmen«, forderte Waylock. Der Roland nickte wortlos. Der Tabulator leuchtete nacheinander grün, gelb, orange, wieder grün und schließlich blau-grün. »Sie haben gesiegt«, flüsterte Der Roland. »Tun Sie Ihre Pflicht!« »Ich nehme Sie hiermit in die AmaranthGesellschaft auf«, sagte Der Roland heiser. »Ab sofort besitzen Sie sämtliche Rechte und Pflichten.« Waylock nickte zufrieden und hob ein Mikrophon an die Lippen. »Operation einstellen!« Er wandte sich an die zehntausend Gesichter. »Tut mir leid, daß einige von Ihnen persönlich betroffen sind, aber ich kann nur sagen, daß Sie selbst...« Ein lautes Rattern unterbrach ihn. Vor zehntausend entsetzten Zuschauern, die vor Schreck und Abscheu wie gelähmt waren, sackte Gavin Waylock leblos in seinem Sessel zusammen. Hinter ihm erschien Die Jacynth Martin. Sie lächelte verzerrt; ihre Augen waren unnatürlich geweitet. »Wir haben von Gerechtigkeit gesprochen; sie ist ihm zuteil geworden. Ich habe das Ungeheuer vernichtet. Und jetzt sind meine Hände mit seinem Blut befleckt. Aber ihr werdet mich nie wieder in eurer Mitte sehen!« »Warten Sie!« rief Der Roland. »Wo sind Sie jetzt?« »In Anastasias Haus«, erwiderte Die Jacynth.
»Bleiben Sie dort – ich komme gleich zu Ihnen.« »Sparen Sie sich lieber die Mühe. Dort finden Sie nur die Leiche des Ungeheuers!« Die Jacynth Martin rannte zum Landeplatz hinaus, bestieg ihren Aircar und startete mit höchster Beschleunigung. Wenige Minuten später schwebte sie hoch über dem Fluß und warf einen letzten Blick auf ihr geliebtes Clarges, bevor sie den Steuerknüppel ruckartig nach vorn drückte. Der Aircar tauchte spritzend ein und warf hohe Wellen auf; dann schloß sich das ölige Wasser über der Maschine, und der Chant floß wieder so ruhig wie zuvor.
48 Die Stadt befand sich in einem Zustand unterdrückter Erregung. Die Morgenzeitungen berichteten nur am Rande von den Ereignissen der vergangenen Nacht, deren Konsequenzen noch nicht überschaubar waren; das Volk ging seiner gewohnten Arbeit nach, ohne erfahren zu haben, was Gavin Waylock getan hatte. Für die Mitglieder der Amaranth-Gesellschaft bedeutete der Name Gavin Waylock erheblich mehr, denn zum Zeitpunkt seines Hinscheidens war das grausige Werk bereits vollendet. Vierhundert Zellen waren aufgebrochen worden; die Surrogate wurden geweckt, in die Nacht hinausgeführt und dort ihrem Schicksal überlassen – insgesamt eintausendsiebenhundertzweiunddreißig. Vierhundert Amaranth hatten entsetzlich darunter zu leiden, denn sie wußten nur allzu gut, daß ihre Unsterblichkeit in höchster Gefahr war. Sie reagierten mit geradezu psychotischer Übertreibung, schlossen sich in ihren Häusern ein und wagten sich nicht mehr ins Freie, weil sie um ihr Leben fürchteten. Wie leicht konnte es passieren, daß ein Aircar abstürzte! Gab es nicht täglich Hunderte von Unfällen, bei denen Menschen zu Schaden kamen? Las man nicht oft von Amokläufern, die über andere Menschen herfielen? Wohin man blickte, drohten Gefahren, denen man jetzt schutzlos ausgeliefert war! Weitere Einzelheiten des Zwischenfalls drangen an die Öffentlichkeit, die breite Masse assimilierte die Nachrichten und begann zu reagieren. Einige waren über diesen Bruch der Tradition besorgt, andere
freuten sich im stillen darüber. Waylock wurde abwechselnd als Märtyrer oder Verbrecher bezeichnet. Nur wenige konnten sich noch auf ihre Arbeit konzentrieren. Tausende vergeudeten wertvolle Zeit, um die seltsame Affäre zu diskutieren. Wohin sollte das alles führen? Tage verstrichen, und Clarges wartete noch immer.
49 Vincent Rodenave war aktiv an den Ereignissen dieser denkwürdigen Nacht beteiligt gewesen. Er flog in einem gemieteten Aircar nach Skyhaven, fünfundvierzig Kilometer außerhalb von Clarges, und landete neben einer kleinen Villa inmitten eines riesigen Parks. Die Tür war fest verschlossen, aber er brach sie auf und durchsuchte das Haus, bis er die Zelle gefunden hatte. Dort lagen drei Surrogate in hypnotisch erzeugtem Tiefschlaf und warteten auf den Tag, an dem Die Anastasia de Fancourt zu neuem Leben erwachen sollte. Rodenave konnte seine Ungeduld nicht länger beherrschen, beugte sich über die erste Gestalt und berührte mit zitternden Fingern ihren bloßen Arm. Die Anastasia vor ihm erwachte. Gleichzeitig richteten sich auch die beiden anderen auf und starrten den Eindringling erschrocken an. »Die Anastasia ist nicht mehr«, sagte Rodenave. »Wer tritt nun an ihre Stelle?« »Ich«, sagte eine. Die drei Surrogate verwandelten sich plötzlich in eine Person und zwei Surrogate. »Ich bin Die Anastasia.« Sie wandte sich an die anderen. »Ihr bleibt hier zurück, und ich gehe in die Welt hinaus.« »Ihr kommt alle mit«, stellte Rodenave fest. Die Anastasia warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Aber das ist nicht richtig!« »Darüber bestimme ich«, antwortete Rodenave und fügte rasch hinzu: »Die Anastasia hat mich seit ihrem letzten Besuch bei euch geheiratet. Du bist jetzt meine Frau.«
Die neue Anastasia und ihre beiden Surrogate betrachteten ihn interessiert. »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte die neue Anastasia. »Du kommst mir allerdings bekannt vor. Wie heißt du?« »Vincent Rodenave.« »Ah – jetzt erkenne ich dich wieder. Wir haben von dir gehört.« Sie zuckte lachend mit den Schultern. »Ich habe in meinem Leben schon viele Torheiten begangen. Vielleicht habe ich dich wirklich geheiratet. Aber ich kann es nicht recht glauben.« »Los, kommt mit«, forderte Rodenave sie auf. »Aber die beiden anderen müssen hierbleiben«, protestierte Die Anastasia. »Was wird sonst aus unserer Empathie?« »Ihr müßt alle mitkommen«, sagte Rodenave laut, »sonst zwinge ich euch mit Gewalt dazu.« Sie wichen vor ihm zurück. »Das ist unerhört«, flüsterte die neue Anastasia. »Was ist aus meiner Vorgängerin geworden?« »Ein eifersüchtiger Liebhaber hat ihr Hinscheiden verursacht.« »Das muß Der Abel gewesen sein.« Rodenave machte eine ungeduldige Handbewegung. »Kommt endlich, wir müssen gehen.« »Aber dann gibt es drei Anastasias«, wandte sie ein. »Die anderen sind mit mir identisch!« »Eine von euch ist in Zukunft Die Anastasia. Die zweite wird meine Frau, und die dritte kann tun, was ihr beliebt.« Die drei Anastasias betrachteten ihn nachdenklich, dann sagte die erste: »Wir haben nicht den Wunsch, mit dir verheiratet zu sein. Sollte tatsächlich eine Ehe
bestehen, wird sie wieder gelöst. Wenn es sein muß, verlassen wir unsere Zelle – mehr kannst du nicht von uns erwarten.« Rodenave wurde blaß. »Eine von euch begleitet mich! Entscheidet euch – welche kommt mit mir?« »Nicht ich.« »Nicht ich.« »Nicht ich.« Dreimal der gleiche verächtliche Tonfall. »Aber ihr könnt doch nicht einfach die bestehende Ehe ignorieren!« »Selbstverständlich können wir das. Und wir haben auch die Absicht, es zu tun. Du bist kein Mann, mit dem wir verheiratet sein möchten.« Rodenave trat einen Schritt vor und holte mit der rechten Hand aus; Die Anastasia zuckte zusammen, als der Schlag ihre Wange traf. Dann wandte er sich ab, rannte zu seinem Aircar und flog allein nach Clarges zurück.
50 Die nächste Versammlung der Amaranth-Gesellschaft hatte sich mit dem schwierigen Problem der befreiten Surrogate zu befassen – wie sollten diese neuen Bürger in Zukunft klassifiziert werden? Jeder der vierhundert Amaranth, deren Zellen aufgebrochen worden waren, existierte jetzt in vier oder fünf Versionen, die alle die gleiche Ausbildung, die gleiche Vergangenheit und die gleichen Zukunftserwartungen hatten. Alle waren mit Recht der Auffassung, vollwertige Amaranth zu sein, und beanspruchten die entsprechenden Privilegien; die Situation war völlig ungeklärt und mußte schnellstens bereinigt werden. Der Roland leitete die erregteste Sitzung seit Bestehen der Gesellschaft, in der die einzig mögliche Lösung beschlossen wurde: die eintausendsiebenhundertzweiunddreißig Surrogate wurden als Mitglieder mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen. Damit schien das Problem zunächst gelöst zu sein, obwohl einige Unzufriedene darüber klagten, daß diese Vermehrung der Mitgliederzahl keinesfalls im Interesse der Gesellschaft liege. Allerdings konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen, wie nachteilig sie sich später tatsächlich auswirken würde... Nach dieser stürmischen Sitzung kehrte Der Roland Zygmont spät abends müde und erschöpft nach Hause zurück. Er freute sich bereits auf ein heißes Bad und zehn Stunden ungestörten Schlaf, die einen neuen Menschen aus ihm machen würden. Aber die größte Überraschung des Abends stand ihm noch bevor. In der Diele seines Hauses wartete ein Mann auf ihn.
Der Roland blieb wie erstarrt stehen. »Gavin Waylock«, flüsterte er. Waylock nickte lächelnd. »Der Gavin Waylock, wenn ich bitten darf.« »Aber... aber... Sie leben doch nicht mehr!« Waylock zuckte mit den Schultern. »Ich weiß kaum, was sich in letzter Zeit ereignet hat. Meine einzige Informationsquelle waren Zeitungen.« »Aber...« »Weshalb sind Sie so verblüfft?« fragte Waylock ungehalten. »Haben Sie vergessen, daß ich Der Grayven Warlock bin?« Der Roland begann zu verstehen. »Sie sind eines seiner Surrogate!« »Selbstverständlich. Gavin Waylock hat sieben Jahre lang Zeit gehabt, völlige Empathie mit den Surrogaten zu erreichen.« Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Warum habe ich das nicht vorausgesehen?« Er schlug sich an die Stirn. »Schrecklich! Was soll ich nur tun?« Waylock zog die Augenbrauen hoch. »Gibt es da noch eine Frage?« Der Roland seufzte. »Nein. Wir wollen nicht wieder damit anfangen. Sie haben gesiegt, und ich kann Ihnen die Früchte Ihres Sieges nicht vorenthalten. Kommen Sie.« Er ging in sein Arbeitszimmer voraus, schlug das Mitgliederverzeichnis der AmaranthGesellschaft auf und trug den Namen GAVIN WAYLOCK ein. Er klappte das schwere Buch wieder zu. »Das war alles. Sie gehören zu uns. Da Sie die Behandlung schon hinter sich haben, sind keine weiteren Formalitäten erforderlich.« Er betrachtete Waylock von
Kopf bis Fuß. »Ich bringe es nicht über mich, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen, aber ich möchte Ihnen ein Glas Cognac anbieten.« »Ich nehme mit Vergnügen an.« Die beiden Männer tranken schweigend. Der Roland lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, stellte er fest, »aber mit welchen Methoden...!« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Vierhundert Amaranth sind nun in ihren eigenen Häusern Gefangene, bis die neuen Surrogate lebensfähig sind; einige haben vielleicht Unfälle, denen sie erliegen – und unter diesen Umständen gibt es keine Rettung für sie. Alles das haben Sie auf dem Gewissen, Waylock!« Waylock zuckte ungerührt mit den Schultern. »Daran hätten Sie vor sieben Jahren denken müssen.« »Das steht hier nicht zur Debatte.« »Vielleicht. Jedenfalls schmälert jeder Aufstieg die Lebenserwartung anderer Menschen in den unteren Phylen. In dieser Beziehung habe ich mir wenig vorzuwerfen. Meine zwei oder drei Opfer sind völlig unbedeutend, wenn man berücksichtigt, daß jedes andere Mitglied der Gesellschaft indirekt zweitausend Menschenleben auf dem Gewissen hat.« Der Roland starrte ihn an. »Bilden Sie sich etwa ein, Ihr Fall sei eine Ausnahme? Der Aktuarius hat Ihren Aufstieg bereits registriert und die Konsequenzen daraus gezogen. Auch Sie sind schuld daran, daß zweitausend Menschen früher von den Assassinen aufgesucht werden!« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Streiten wir uns nicht länger darüber; Sie sind Mitglied unserer Gesellschaft, aber ich muß Ihnen schon jetzt mitteilen, daß die Verhältnisse sich erheb-
lich geändert haben.« »Weshalb?« »Die siebzehnhundertzweiunddreißig Surrogate hatten ein Anrecht auf Mitgliedschaft und sind deshalb heute in die Amaranth-Gesellschaft aufgenommen worden.« Waylock hob verblüfft den Kopf. »Sie sorgen wirklich für Ihre Leute! Und wie beeinflußt das die Lebenserwartung der unteren Phylen?« Der Roland schien antworten zu wollen, runzelte dann die Stirn und zögerte. »Wir können nur tun, was wir für richtig halten«, sagte er langsam. Waylock stand auf. »Ich will nicht länger stören und wünsche Ihnen eine gute Nacht.« »Gute Nacht«, sagte Der Roland. Er begleitete seinen Besucher an die Haustür.
51 Der Roland schlief unruhig, wurde von schrecklichen Alpträumen geplagt und wachte bei Tagesanbruch in kaltem Schweiß gebadet auf. Von der Straße her drang ein seltsames Geräusch durch die geschlossenen Jalousien, das er nicht gleich identifizieren konnte. Es erinnerte ihn an das Rauschen eines großen Flusses... Er stand auf und ging ans Fenster. Auf der Straße drängten sich Tausende von Menschen, so weit das Auge reichte. Sie bewegten sich alle in Richtung Esterhazy-Platz. Das Visorphon hinter ihm summte; Der Roland ging wie ein Schlafwandler darauf zu und tastete unsicher nach dem Sprechknopf. Auf dem Bildschirm erschien Der Olaf Maybow, der stellvertretende Vorsitzende der Amaranth-Gesellschaft. »Roland«, rief er erregt aus. »Hast du sie gesehen? Was sollen wir tun?« Der Roland rieb sich nachdenklich das Kinn. »Auf der Straße hat sich eine große Menge angesammelt. Meinst du das?« »Menge«, rief Der Olaf heiser. »Wilde Horden! Ein Volksaufstand!« »Aber warum nur? Was hat das alles zu bedeuten?« »Hast du die Morgennachrichten noch nicht gesehen?« »Ich bin eben erst aufgewacht.« »Sieh dir die Schlagzeilen an.« Der Roland schaltete den Projektor ein, der eine
Zusammenfassung der letzten Meldungen an die Wand warf. »Du lieber Himmel«, murmelte er. »Genau!« Der Roland schwieg betroffen. »Was sollen wir tun?« fragte Der Olaf. Der Roland überlegte. »Hmm, irgend etwas muß wohl getan werden.« »Den Eindruck habe ich auch.« »Obwohl wir eigentlich nicht dafür zuständig sind.« »Wir müssen trotzdem etwas unternehmen – wir sind schließlich dafür verantwortlich!« »Unsere Zivilisation hat irgendwie versagt«, flüsterte Der Roland. Der Olaf schüttelte unwillig den Kopf. »Wir haben jetzt keine Zeit für philosophische Überlegungen! Irgend jemand muß die Initiative ergreifen, irgend jemand muß entschlossen handeln!« »Ganz recht«, stimmte Der Roland zu. »Ein guter Kanzler könnte jetzt beweisen, was in ihm steckt.« Der Olaf schnaubte verächtlich. »Claude Imish? Lächerlich! Wir müssen selbst etwas dagegen unternehmen.« »Aber ich kann die Berechnungen des Aktuarius doch nicht umstoßen! Oder soll ich etwa die Anweisung geben, siebzehnhundertzweiunddreißig Amaranth in Brut zu registrieren?« Der Olaf achtete nicht auf diese rethorische Frage. »Hörst du sie brüllen? Hör dir das an, Roland!« Draußen ertönten plötzlich laute Schreie, in denen sich die Erregung der Menge entlud. »Du mußt etwas unternehmen«, drängte Der Olaf.
Der Roland gab sich einen Ruck. »Gut, ich trete vor sie hin. Vielleicht kann ich sie dazu bewegen, Ruhe und Ordnung...« »Sie reißen dich in Stücke!« »Dann bleibe ich lieber zu Hause. Wahrscheinlich legt sich die ganze Aufregung ohnehin von selbst, und die Leute kehren an ihre Arbeitsplätze zurück, um Karrierepunkte zu sammeln.« »Auch wenn ihre Karriere inzwischen bedeutungslos geworden ist?« Der Roland ließ sich in einen Sessel fallen. »Weder du noch ich noch irgendein anderer kann etwas an dieser Situation ändern. Ich spüre es; ich kann mir vorstellen, was sich dort draußen ereignet. Die Menschen sind wie aufgestautes Wasser – der Damm ist gebrochen, und das Wasser strömt aus, bis der natürliche Stand erreicht ist.« »Aber was haben sie vor?« »Wer weiß? Vielleicht wäre es angebracht, in Zukunft nur noch bewaffnet außer Haus zu gehen.« »Wer dir zuhört, muß den Eindruck haben, die Bürger von Clarges seien Barbaren!« »Wir sind mit den Barbaren verwandt. Ihre und unsere Vorfahren haben jahrhundertelang gemeinsam als Wilde gelebt, während die getrennte Entwicklung erst seit Jahrhunderten stattfindet.« Die beiden Männer starrten einander erschrocken an, als der Lärm der Massen wieder lauter wurde.
52 Die Ursachen des Aufruhrs, der jetzt in den Straßen von Clarges herrschte, waren nur aus der geschichtlichen Entwicklung dieser Regionen zu erklären; aber der unmittelbare Anlaß war allgemein bekannt: die Erweiterung der Amaranth-Gesellschaft um siebzehnhundertzweiunddreißig neue Mitglieder. Der Aktuarius hatte diese Informationen ausgewertet und in nüchterne Zahlen umgesetzt, von denen die Lebenserwartung jedes einzelnen Angehörigen der vier unteren Phylen entscheidend beeinflußt wurde. Durch die Aufnahme neuer Mitglieder verringerte sich die Lebensdauer der Menschen in Brut um etwas über fünf Monate, die der Angehörigen höherer Phylen entsprechend weniger. Das Volk reagierte augenblicklich und strömte in Massen auf die Straßen. Die Arbeitsplätze standen leer – wer wollte noch arbeiten, wenn seine Mühen mit dem Abzug von fünf kostbaren Monaten seines Lebens belohnt wurden? Warum nicht einfach aufgeben? Hunderte konnten sich nicht den Demonstrationen anschließen, weil sie wie erstarrt in ihren Appartements lagen. Aber Tausende gingen auf die Straßen, tauchten im Gedränge unter, wurden formloser Bestandteil der Masse und bewegten sich schreiend und lärmend in Richtung Esterhazy-Platz. Auf dem weiten Platz hatte sich eine unruhige Menge versammelt, als der Aircar auf dem Dach des Aktuariusgebäudes landete. Ein Mann stieg aus und näherte sich vorsichtig der Dachkante. Es war Der
Roland Zygmont, Vorsitzender der AmaranthGesellschaft. Er hob einen tragbaren Lautsprecher an den Mund, aus dem seine Stimme über den Platz hallte. Die Masse achtete kaum auf seine Worte; sie reagierte nur auf den Tonfall und wurde noch erregter. Ein Ruf pflanzte sich durch die dichtgedrängten Reihen fort: »Der Roland Zygmont! Der Vorsitzende der Amaranth-Gesellschaft! Der Roland Zygmont!« Der Ruf wurde lauter, verwandelte sich in einen wütenden Aufschrei. Der Roland hatte sein Podest etwas unglücklich gewählt – die Menge fühlte sich verhöhnt, als sie den Vorsitzenden der AmaranthGesellschaft auf dem Gebäude des Aktuarius stehen sah. Tausende von Kehlen schrien sich gleichzeitig heiser, während Tausende von ausgestreckten Händen nach dem Mann auf dem Dach zu greifen versuchten; dann setzte sich die Menge wie auf einen Befehl hin plötzlich in Bewegung. Unter diesem Ansturm gaben die Eingangstüren des Gebäudes nach. Fünf oder sechs Assassinen, die sich der Masse in den Weg stellen wollten, wurden überrannt und niedergetrampelt. Die Menschen strömten weiter ins Innere des Gebäudes, überwanden alle Absperrungen, zertrümmerten Instrumente, rissen mit bloßen Händen Leitungen ab und zerstörten hochempfindliche Maschinen mit Stöcken und Steinen. Funken knisterten, Rauch wallte auf, Detonationen erschütterten die Wände. Der großartige Mechanismus starb wie ein Mensch, dessen Gehirn zerstört wird. Dieser leidenschaftliche Ausbruch des Volkszorns schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Roland
Zygmont beobachtete die brodelnde Masse vom Dach des Gebäudes aus und überlegte sich dabei, daß dieser leidenschaftliche Ausbruch in der gesamten Geschichte der Menschheit einmalig war. Der Olaf kam heran und griff nach seinem Arm. »Schnell, wir müssen fliehen! Sie sind schon bis hierher vorgedrungen!« Die beiden Männer liefen auf den startbereiten Aircar zu; aber sie waren zu langsam und wurden eingeholt. Johlende Horden schleppten sie trotz heftigster Gegenwehr an den Dachrand zurück, faßten sie dort an Armen und Beinen, holten kräftig Schwung und schleuderten sie ins Leere hinaus. Im Innern des Gebäudes ereignete sich eine gewaltige Detonation; eine Flammensäule stieg hundert Meter hoch zum Himmel auf. Die Männer auf dem Dach waren von den Treppen abgeschnitten und kamen in Rauch und Flammen um; unter ihnen fanden Tausende den Tod, als das riesige Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Menge achtete nicht mehr darauf, sondern hörte gespannt einem Mann zu, der am Rand des Platzes ein improvisiertes Podium bestiegen hatte. Es war Vincent Rodenave, der vor Erregung außer sich zu sein schien. Sein Gesicht war hektisch gerötet, und seine Stimme überschlug sich fast. »Gavin Waylock!« brüllte er heiser. »Das ist der Mann, der an diesem Unrecht schuld ist! Gavin Waylock!« Die Massen nahmen seinen Schrei auf, ohne sich dessen bewußt zu werden. »Gavin Waylock! Tötet ihn! Bringt ihn um! Nehmt Rache an Gavin Waylock!«
53 Gavin Waylock wurde überall in Clarges gesucht. Sein Appartement lag in Trümmern, nachdem die empörte Menge dort eingedrungen war, und einige Männer, die ihm entfernt ähnlich sahen, wurden mißhandelt und fast gelyncht, bis sie ihre Identität beweisen konnten. Von irgendwoher tauchte ein Gerücht auf: Waylock war angeblich in Elgenburg gesehen worden. Wenig später waren die nach Süden führenden Straßen von wütenden Horden verstopft. Elgenburg wurde Haus für Haus durchsucht, aber Waylock war seinen Verfolgern offenbar wieder einmal entkommen. In der Nähe lag der Raumhafen, wo die Star Enterprise sich startbereit erhob. Der schlanke Metallpfeil ragte hoch über den menschlichen Ameisen auf, die sich am Rand des eingezäunten Geländes versammelten. Aus allen Himmelsrichtungen strömten immer neue Massen heran. Diesmal schienen sie weniger erregt als damals vor dem Aktuarius; aber diese Ruhe war trügerisch, denn als sie Hindernisse und Absperrungen vor sich sahen, erwachte ihr Zorn wieder. Die Menge klatschte begeistert und drängte näher heran, als fünfzehn oder zwanzig Männer ein langes Eisenrohr als Rammbock gegen das verschlossene Tor des Raumhafens einsetzten. Dann schwebte ein großer Aircar aus Richtung Clarges heran und landete innerhalb der Umzäunung. Sechs Männer stiegen aus: der Großrat der Tri-
bunen. An ihrer Spitze ging Guy Carskadden, der Obertribun. Die Menge zögerte unentschlossen, und der Rammbock wurde niedergelegt. »Dieser Wahnsinn muß ein Ende haben«, rief der Obertribun gebieterisch. »Was wollt ihr hier?« »Waylock«, antworteten hundert Stimmen gleichzeitig. »Wir wollen den Verbrecher, das Ungeheuer!« »Seid ihr Barbaren, die alles zerstören und die Gesetze der Region mißachten?« wollte Carskadden wissen. Die Antwort wurde lauter und trotziger gegeben: »Es gibt keine Region Clarges mehr!« Carskadden machte eine resignierte Handbewegung. Die Massen setzten sich in Bewegung; das Tor gab nach, schwankte unter diesem Ansturm und wurde schließlich aus den Angeln gerissen. Die Tribunen wichen langsam zurück, hoben die Hände und riefen immer wieder: »Kehrt um, kehrt um!« Der Vormarsch der Menge kam erst unter der Star Enterprise zum Stehen, die im Licht der Nachmittagssonne wie ein silberner Pfeil glänzte. Die Tribunen hatten hier eine Linie gebildet, und Carskadden unternahm einen letzten Versuch, weitere Ausschreitungen zu verhindern. »Halt!« brüllte er. »Kehrt nach Hause zurück und nehmt eure Arbeit wieder auf!« Ein dumpfes Murmeln antwortete ihm. »Waylock! Das Ungeheuer Waylock! Er hat uns Leben geraubt!« Die Masse setzte sich wieder in Bewegung und überrannte die Tribunen. Sechs ängstliche Männer hasteten die Gangway hinauf und hatten nur ein Ziel vor Augen: die offene Luftschleuse in fünfzehn Meter Höhe über dem Boden.
Dann erschien Reinhold Bierbursson auf der Plattform vor der Schleuse. Er beobachtete die Menge mit zusammengekniffenen Augen und schüttelte mitleidig den Kopf. Als die ersten Männer den Fuß auf die Gangway setzten, hob er den Eimer in seiner Rechten und leerte ihn mit einem Ruck aus. Grünes Gas wallte in dichten Schwaden auf; die Menschen husteten, keuchten, schrien heiser auf und wichen entsetzt zurück. Bierbursson sah zum Himmel auf, wo sich eben ein Aircar näherte, warf noch einen Blick auf die Menge und verschwand im Innern des Schiffs. Der Aircar schwebte an die Plattform heran, setzte einen Mann ab und startete wieder, der Mann hielt einen Lautsprecher an der Hand, und seine Stimme übertönte das Geschrei der Massen, die das weite Vorfeld füllten. »Freunde – einige von euch kennen mich bereits. Ich bin Jacob Nile. Darf ich zu euch sprechen? Was ich zu sagen habe, betrifft die Zukunft von Clarges.« Das Geschrei verstummte; die Menge hörte aufmerksam zu. »Freunde, ihr seid mit Recht erregt und aufgebracht, denn ihr habt heute mit der Vergangenheit gebrochen, und die Zukunft liegt klar und offen vor euch. Ihr seid hierher gekommen, um Gavin Waylock zu suchen, aber das ist eine Torheit.« Wütendes Gemurmel aus der Menge, dann eine laute Stimme: »Er hält sich im Raumschiff verborgen!« Jacob Nile sprach ungerührt weiter. »Wer ist Gavin Waylock? Wie können wir ihn hassen, wie können
wir uns selbst hassen? Gavin Waylock ist ein Abbild unserer selbst! Er hat getan, was wir alle gern getan hätten. Er hat ohne Hemmungen, ohne Rücksicht und ohne Furcht gehandelt. Gavin Waylock ist erfolgreich gewesen, und wir sind deshalb wütend, wir beneiden ihn um diesen Erfolg! Waylock ist weniger schuldig als alle anderen – als die gesamte Region Clarges mit allen ihren Bürgern. Wir haben diesen Schandfleck auf dem Antlitz der Erde geduldet, wir haben ein Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Wie? Warum? Wodurch? Wir haben uns selbst starre Grenzen gesetzt; wir haben uns mit der glorreichen Vorstellung ewigen Lebens gequält, haben diese herrliche Frucht vor Augen gehabt und schließlich doch nur Asche gegessen. Die Spannung war auf die Dauer unerträglich; heute ist es zur Explosion gekommen. Sie war unvermeidbar; Waylock war nur der Katalysator. Er hat den Lauf der Geschichte beschleunigt, und wir müssen ihm dafür sogar dankbar sein.« Jacob Nile machte eine kurze Pause und sprach dann weiter, ohne sich um die Unmutsäußerungen aus der Menge zu kümmern. »Mehr ist über Waylock nicht zu sagen: er selbst ist unbedeutend. Aber er hat viel für uns getan. Er hat das System zerstört. Wir sind frei! Welchen Gebrauch wollen wir von unserer Freiheit machen? Wir können den Aktuarius instand setzen und die frühere Einteilung der Phylen beibehalten; wir können uns freiwillig wieder in die Gefangenschaft begeben, unter der wir bisher geschmachtet haben. Oder wir können eine neue Seite im Buch der Geschichte aufschlagen – wo das Leben allen Men-
schen gehört, nicht nur einem Glücklichen von zweitausend! Wie sollen wir das verwirklichen? Wir haben immer gehört, die Welt sei für Unsterbliche zu klein. Das ist richtig. Wir müssen wieder Pioniere werden, müssen neue Gebiete erschließen! In früheren Zeiten zogen Menschen in die Wildnis, um sich dort Lebensraum zu schaffen; wir müssen ihrem Beispiel folgen und können dies zur Voraussetzung ewigen Lebens machen. Ist das nicht gerecht? Hat nicht jeder Anspruch auf Leben, der selbst für Lebensraum und Lebensunterhalt sorgen kann?« »Leben«, murmelten Tausende von Stimmen, »Leben! Leben!« »Wo gibt es diesen Lebensraum, wohin sollen wir uns wenden, um ihn zu suchen? Zunächst hier auf der Erde – in der Wildnis und bei den Nomaden. Wir müssen uns ausbreiten, müssen zu den Barbaren vordringen; aber wir dürfen nicht als Eroberer kommen, sondern müssen als Missionare zu ihnen gehen. Wir müssen sie als unsere Brüder und Schwestern akzeptieren. Und dann – wenn die Erde besiedelt ist –, wo finden wir dann Lebensraum? Wohin sollen wir uns wenden, wenn hier alle Möglichkeiten erschöpft sind?« Jacob Nile drehte sich nach der Star Enterprise um und sah zum Himmel auf. »Seitdem der Aktuarius zertrümmert ist, liegt der Weg zu den Sternen offen vor uns. Nun kann endlich jeder unsterblich sein, wenn er den Wunsch danach hat. Der Mensch kann nicht ohne Fortschritt leben; jeder Stillstand bedeutet einen Rückschlag für ihn. Heute hat er die Erde in Besitz genommen; seine Zukunft liegt in den Sternen. Das gesamte Universum erwartet uns! Warum zögern
wir also noch, das Geschenk ewigen Lebens anzunehmen?« Die Menge seufzte tief auf, als sei diese Zukunftsvision zu überwältigend schön, um wahr zu sein. »Ihr seid das Volk von Clarges«, fuhr Nile fort, »ihr habt zu bestimmen, welche Veränderungen eintreten sollen. Was bestimmt ihr also?« In diesem Augenblick rief eine einzelne Stimme – war es Vincent Rodenave? – aus der ersten Reihe: »Aber Gavin Waylock! Was wird aus Gavin Waylock?« »Ah, Waylock«, sagte Nile nachdenklich. »Er ist gleichzeitig ein großer Verbrecher und ein großer Held. Wäre es deshalb nicht angebracht, ihn gleichzeitig zu bestrafen und zu belohnen?« Er wies auf die Star Enterprise, die hinter ihm aufragte. »Hier steht ein großes Raumschiff startbereit. Könnte es einen besseren Auftrag erhalten, als neue Welten für die Menschheit zu erschließen? Könnte Gavin Waylock seine Schuld besser sühnen als durch Erkundungsreisen an Bord der Star Enterprise? Sie wären Strafe und Belohnung zugleich.« Ein Mann trat aus der Luftschleuse und blieb neben Jacob Nile auf der Plattform stehen. Die Menge brüllte wütend auf und drängte nach vorn. Gavin Waylock hob eine Hand, und die Massen schwiegen atemlos. »Ich habe gehört, welches Urteil ihr über mich gefällt habt«, sagte Waylock. Er richtete sich auf. »Ich begrüße eure Entscheidung und nehme den Auftrag an. Ich werde den Raum erforschen und neue Welten für die Menschheit suchen.« Er hob grüßend die Hand, wandte sich ab und ver-
schwand im Innern des Raumschiffs. Ein Warnsignal ertönte; aus dem Heck der Star Enterprise brach bläuliches Feuer hervor. Das Raumschiff hob langsam ab. Es stieg schneller und immer schneller durch die Abenddämmerung auf. Das blaue Feuer wurde ein heller Stern, leuchtete schwächer und erlosch.