Sterben in Rom � von Timothy Stahl
Als das unheimliche Anhalterpaar endlich aus seinem alten Transporter stieg, fühlte Umberto Zanardi sich in einem Maße erleichtert, als wäre ihm eine wirkliche körperliche Last abgenommen worden. Augenblicklich aber trat etwas anderes an deren Stelle – ein seltsam irreales Gefühl von … Schuld. Als hätte er gerade eine hochgiftige Fracht an den Gestaden Roms abgeladen … Der absurde Gedanke plagte ihn nur für eine Sekunde, aber so heftig, als würde ihm eine glühende Nadel ins Gehirn gestoßen! Wie im Reflex dieses Schmerzes senkte Umberto Zanardi den Fuß aufs Gaspedal.
Glossar � Lilith Edens Bestimmung Lilith, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wurde von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Als sie ihre Aufgabe erfüllt hatte und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sandte Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infizierte. Von dort sprang sie auf die Vampire und Dienerkreaturen über, die starben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen konnten. Lilith erhielt den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten. Das Kind Gabriel, eine Inkarnation Satans, wurde geboren, als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschob. Erst war sich der Knabe, der rasch heranwuchs, seiner Identität nicht bewußt, doch schließlich erkannte er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wurde. Letztlich scheiterte das Vorhaben. Die Natur der Hölle Die Dimension, die wir Menschen »Hölle« nennen, entstand durch den Fall des Engels Luzifer. Die Engel wurden von Gott in einer Sphäre neben der Erde zurückgelassen. Sie sollten über die Menschen wachen, doch Luzifer sah sich wegen der menschlichen Grausamkeit dazu nicht imstande und reagierte mit Zorn und Herrschsucht. Als er von den anderen Engeln in eine weitere, »abgeschlossene« Dimension (die Hölle) verbannt werden sollte, gelang es ihm, auch deren Sphäre zu versiegeln. Allein an der Stelle des Übergangs in die Verbannung blieb ein Riß zurück, der von beiden Sphären in die Menschenwelt führte: das Tor! Der Erzengel Michael (Salvat) übernahm es, das Tor zu sichern, damit Luzifer nicht zu den Menschen gelangen konnte. Trotzdem gelang dies dem gefallenen Engel,
indem er als Inkarnationen auf der Erde wiedergeboren wurde. Diese Inkarnationen (Gabriel ist eine davon) haben jedoch nur wenig Macht und dienten dazu, das Böse auf der Welt zu schüren, mit dem Endziel, das Tor wieder aufzustoßen. Lilith und Landru Während der Vorgänge im Monte Cargano gerieten Lilith und ihr Erzfeind Landru kurzzeitig in die Hölle. Dabei wurde ihrer beider Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat in einer verzweifelten Aktion durch die Entfesselung magischer Energien den Klosterberg sprengte und das Tor somit versiegelte, konnten Lilith und Landru in ein nahes Dorf entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Weitere Personen · Hidden Moon: Der indianische Vampir war einige Zeit Liliths Begleiter. Er konnte durch den Kontakt mit seinem Totemtier – einem Adler – das Gute in sich bewahren. Als Lilith den Adler tötete, ging diese Fähigkeit auf sie über. Ohne Lilith verfiel Hidden Moon dem Bösen und verbündete sich mit Gabriel, als dessen Vorhaben, das Tor zu öffnen, scheiterte. · Beth McKinsey: Lilith tötete ihre frühere Gefährtin unter dem Einfluß des Lililenkelchs, des Unheiligtums der Vampire. Als Gott der Ur-Lilith vergab, wurde Beth’ Seele in die Vergangenheit geschleudert, wo sie sich ohne jede Erinnerung als »Zeitvampir« manifestierte. Beth kann die Lebenskraft der Menschen »stehlen« und ist dadurch praktisch unsterblich. · Nona: Landrus einstige Geliebte, eine Werwölfin, sucht ihn seit dem Ausbruch der Seuche. Dabei hilft ihr Chiyoda, ihr Mentor.
Überhastet ließ er die Kupplung kommen. In einem regelrechten Bocksprung löste sich das klapprige Gefährt vom Straßenrand und schlingerte halbwegs in die Fahrspur. Zwei, drei andere Verkehrsteilnehmer quittierten wütend Zanardis wildes Manöver. Irgendwie brachten sie das typisch italienische Kunststück fertig, ihm fluchend und mit beiden Händen gestenreich zu drohen und gleichzeitig ihre Fahrzeuge auf Kurs zu halten sowie zu hupen und die Scheinwerfer aufzublenden. Umberto Zanardi registrierte es kaum. Der Fahrtwind kühlte ihm den Schweiß auf der Stirn; mit dem Unterarm wischte er ihn schließlich fort, als er es endlich wagte, die zitternde Linke vom Lenkrad zu lösen. Er hatte schon oft Anhalter mitgenommen, im Grunde fast jedes Mal, wenn er mit seinem Transporter die Dörfer im Umkreis von Rom abklapperte, um Obst und Gemüse von den dortigen Gehöften abzuholen, das er dann an Geschäfte in der Stadt lieferte. Aber nie zuvor war ihm ein solch eigenartiges Paar untergekommen. Dabei hatten die beiden eigentlich überhaupt nichts getan; jedenfalls nichts, was sein Mißtrauen oder gar seinen Argwohn hätte begründen können, geschweige denn diese unterschwellige Furcht, die wie etwas Kaltes und Zähflüssiges dicht unterhalb seiner Haut dahinkroch. Sowohl der Mann als auch die Frau hatten nur starr auf der Beifahrerbank gesessen und – geschwiegen. Aber es war ein besonderes Schweigen gewesen! entsann sich Zanardi, und die Stimme seiner Gedanken war so heftig, als müßte er sich verteidigen gegen Vorwürfe, die ihm der rationale Teil seines Denkens machte. Die Besonderheit dieses Schweigens konkret in Worte zu kleiden fiel ihm allerdings schwer ob seines seit jeher eher schlichten Wesens. Dieses Schweigen, überlegte er fast krampfhaft, und wieder trat kalter Schweiß auf sein Gesicht, war ihm wie etwas Greifbares vor-
gekommen. Es hatte die Fahrerkabine seines Wagens ausgefüllt wie eine Wolke, spürbar kalt, und es hatte die Luft verändert, so daß es ihm schwergefallen war, sie zu atmen. Fast war es, dachte Umberto Zanardi, als wäre dieses Schweigen ein weiterer Fahrgast gewesen – unsichtbar, aber nicht zu leugnen, spürbar gegenwärtig … Er schüttelte energisch den Kopf, als könnte er so die seltsamen Gedanken daraus vertreiben. Aber er beschwor damit nur neue herauf. Zanardi mußte daran denken, wie er die Frau (eher ein Mädchen noch und von geradezu sündhafter Schönheit) und den Mann (dessen Alter nicht zu schätzen war und den er seiner düsteren Erscheinung wegen allein nie mitgenommen hätte!) am Abend in dem Örtchen Froscane nördlich von Rom in seinen Wagen hatte steigen lassen, nachdem er seine dortigen Kundenbesuche erledigt gehabt hatte. Seltsamerweise vermochte er sich nicht daran zu erinnern, daß einer von beiden ihn darum gebeten hätte. Zumindest fielen ihm die Worte nicht mehr ein, mit denen sie es getan hatten – wenn sie es denn getan hatten … Dafür entsann Umberto Zanardi sich aber noch sehr gut der Blicke, die ihm die Dörfler nachgesandt hatten. Kaum ein Fenster, hinter dem sich die Vorhänge nicht bewegt hätten, als sein Transporter das Hauptsträßchen entlanggerumpelt war. Und etliche Männer waren ganz offen aus den Häusern getreten und hatten Zanardis Wagen hinterhergeschaut, ganz so, als wollten sie sichergehen, daß er das Dorf auch wirklich verließ – und das eigenartige Paar mitnahm …? Die Erleichterung, die in vielen dieser Blicke gelegen hatte, wurde Zanardi erst jetzt, im nachhinein, bewußt. Und erst jetzt verstand er sie auch – weil er sie plötzlich teilte. Er schluckte hart, und es schmerzte, als säße ihm etwas Rauhes im Hals, das sich nicht recht lösen wollte. Zanardi räusperte sich und holte tief Luft, zweimal, dreimal, dann begann er sich allmählich besser zu fühlen. Die Beklemmung wich von ihm wie ein überlanger
Mantel, dessen Saum sich dort verfangen hatte, wo er das Paar hatte aussteigen lassen, und nun wurde ihm dieser Mantel Stück um Stück von den Schultern gezogen. Bis Zanardi ihn schließlich gar nicht mehr spürte. Ein seltsamer Ton drängte über seine Lippen, seufzend, glucksend und ächzend in einem. Leichthin wollte Zanardi die Schultern zucken, aber dann wurde eine Bewegung daraus, die aussah, als würde er einen allerletzten Rest von Unbehagen abschütteln. Was immer es mit seinen beiden merkwürdigen Begleitern auf sich haben mochte – sie waren fort und brauchten ihn nicht länger zu kümmern. Und es lohnte die Mühe nicht mehr, noch weiter darüber nachzusinnen. Dabei ahnte Umberto Zanardi nicht im entferntesten, wie nahe er dem Tod in dieser Nacht gewesen war. Und daß er ihm nur aus einem Grund entkommen war: Weil der Mann und die Frau ohne Erinnerung nicht wußten, womit ihr so abgründiger wie unbändiger Durst zu stillen war …
* Überraschung und Erschrecken entrissen der jungen Frau, die meinte, Lilith Eden zu heißen, einen leisen, kurzen Schrei! Das blonde Mädchen war so unvermittelt aus der Nacht aufgetaucht, als hätte die Dunkelheit es irgendwo aufgenommen und just an dieser Stelle wieder freigegeben, wo Lilith eben ihren Fuß hingesetzt hatte, so daß sie unweigerlich gegeneinander gestoßen waren. Tatsächlich jedoch mußte das Mädchen (kaum älter als zwanzig, schätzte Lilith) aus einer der Gassen gekommen sein, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem schier unüberschaubaren Labyrinth verwoben. Viele dieser Gassen waren gerade schulterbreit, und ihr Boden bestand aus festgetretener Erde. Einige wenige waren gepflastert und mochten gerade genug Platz für ein Fahrzeug bieten – voraus-
gesetzt, der Fahrer legte keinen Wert auf eine unversehrte Lackierung und war willens, die Außenspiegel zu opfern … Die drangvolle Enge zwischen den Häusern, deren obere Stockwerke sich altersschwach einander zuneigten, schien gleichsam die Nacht zu komprimieren und die Finsternis zu verdichten, so daß der Blick kaum weiter reichte als zwei, allenfalls drei Schritte. Ruß und der Schmutz von Jahrzehnten, die wie Verputz an den Fassaden klebten, taten ein übriges dazu, die Nacht hier dunkler erscheinen zu lassen, als sie es anderswo sein mochte. Liliths Aufschrei mußte das blonde Mädchen erschreckt haben, denn es sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, und ihr Blick flackerte, als würde sich das Licht einer Kerze darin widerspiegeln. Lilith rettete sich in ein vages Lächeln, mit dem sie dem Mädchen zu signalisieren hoffte, daß kein Grund zur Furcht bestand. Aber aus irgendeinem Grund erreichte sie damit das genaue Gegenteil – das angstvolle Zittern des Mädchens nahm noch zu, und die feinen Linien ihres Gesichtes, das – sah man von den Spuren der Müdigkeit darin ab – von fast noch kindlicher Schönheit war, bewegten sich wie in plötzlich erwachtem Eigenleben. Doch dieses geheimnisvolle Eigenleben erstarb so rasch, wie es entstanden war – als brächte etwas in Liliths Blick es zum Ersterben. Die Bewegung in den Zügen des Mädchens verlangsamte sich und schlief schließlich ein, und auch das Flimmern in seinen Augen verebbte. Zugleich konnte Lilith richtiggehend spüren, wie ihr Lächeln sich veränderte; gleich, welchen Eindruck es vorher auch erweckt hatte, jetzt verhieß es endlich etwas Beruhigendes. Obgleich sie selbst sich keineswegs ruhig fühlte. Sie fühlte sich – sie wußte es nicht … Nicht einmal das weiß ich, seufzte sie in Gedanken. »Entschuldigen Sie …«, begann das Mädchen in eindeutig gebrochenem Italienisch. Woher weiß ich das? fragte sich Lilith im stillen, mit aufkeimender
Verzweiflung. Warum weiß ich Dinge, die nicht wichtig sind, und warum kann ich mich an andere nicht erinnern? An doch so einfache Dinge wie beispielsweise … WER ICH BIN? »… können Sie mir sagen, wo ich hier bin?« fuhr das Mädchen leise, flehend fort. »Ich … habe mich verlaufen. Ich suche …« Das Mädchen nannte einen Straßennamen, von dem Lilith wußte, daß es ihn falsch aussprach. Aber sie kannte ihn ohnehin nicht. Konnte das etwas zu bedeuten haben? fragte sie sich, beinahe alarmiert. Konnte diese Unkenntnis ein Anzeichen dafür sein, daß sie in dieser Stadt vor ihrem »Erwachen« nie gewesen war – zumindest nicht zu Hause gewesen war? Wieder seufzte Lilith, laut diesmal, als sie den Gedanken als das entlarvte, was er war – nicht mehr als ein verzweifelter Versuch, dort Antworten finden zu wollen, wo es nichts gab außer Fragen. Und Leere … Bedauernd hob sie die Schultern, und sie war nicht sicher, wem diese Geste eher galt – dem Mädchen oder sich selbst. »Scusi«, sagte Lilith schließlich, wie selbstverständlich in der hiesigen Landessprache, »ich bin selbst fremd – hier.« Ihr kurzes Zögern mochte dem Mädchen kaum aufgefallen sein. Einen winzigen Moment lang war Lilith versucht gewesen zu sagen »Ich bin selbst fremd – auf dieser Welt«. Noch passender wäre ihre ganz eigene Tragik beschrieben gewesen mit: » … fremd in diesem Leben«. »Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, setzte sie noch hinzu, vage mit den Schultern zuckend. Das blonde Mädchen lächelte verunglückt. Das kaum vorhandene Licht machte sein Gesicht zu einer Maske aus Schatten, als es einen Schritt zurücktrat. »Ja, dann …«, begann es, zögernd, als wüßte es nicht, was es sagen sollte, »… entschuldigen Sie bitte, daß ich …« »Keine Ursache«, erwiderte Lilith, ebenso nichtssagend. Das Mädchen wandte sich ab und ging davon. Nach kaum zwei
Schritten schien es Lilith, als würde sich die Dunkelheit einem Mantel gleich teilen und das Mädchen umfangen und ihrem Blick entziehen. Nur das Geräusch seiner unsicheren Schritte vernahm sie noch sekundenlang, ehe die wattige Finsternis auch diese Laute dämpfte und schließlich erstickte. Aber auch dann ging Lilith Eden noch nicht weiter. Sie wartete – – und weder erschrak sie, noch drehte sie sich um, als hinter ihr leise Schritte aufklangen und eine Stimme sie ansprach. »Vielleicht hätten wir uns dem Mädchen anschließen sollen.« Jetzt erst wandte Lilith kurz den Blick. Der Mann trat aus den Schatten wie ein stofflich gewordenes Stück der Nacht selbst. »Wozu?« fragte sie. »Das arme Ding weiß weder, wo es ist, noch wo es hinwill. Wie sollte uns das weiterhelfen?« Der Mann hielt den Blick starr in die Richtung, in die das Mädchen entschwunden war, als könnte er es der Dunkelheit zum Trotz noch sehen. »Dürfen wir es uns denn erlauben, wählerisch zu sein, was mögliche Hilfe angeht?« fragte er fast tonlos. »Oder sollten wir nicht vielmehr jede noch so geringe Möglichkeit ergreifen – in Anbetracht unserer Lage?« Bei den letzten Worten hatte er seinen Blick Lilith zugewandt, und etwas darin zwang sie beinahe, den eigenen wie betreten zu senken. Er hatte nicht ganz unrecht. Ihrer beider Situation war tatsächlich so, als daß sie selbst eine noch so geringe Chance, die einen Ausweg versprechen konnte, nicht ungenutzt verstreichen lassen durften. Dabei war seine Lage noch um eine Spur übler als Liliths – denn sie wußte zumindest, wie ihr Name lautete (obgleich sie dessen keineswegs ganz sicher sein konnte. Ein Mönch namens Salvat hatte ihr diesen Namen als den ihren genannt, und so hatte sie ihn – in Ermangelung einer Alternative – akzeptiert). Der Mann an ihrer Seite jedoch wußte nicht einmal, wie er geheißen haben mochte – bevor irgend etwas ihrer beider Erinnerungen, ja mehr noch: ihr ganzes We-
sen ausgelöscht hatte. Beide waren sie vor kurzem erwacht – und sie wußten nicht einmal, ob sie nur geschlafen hatten, oder ob sie sich in einem gänzlich anderen, womöglich unbeschreiblichen Zustand befunden hatten. Was vor diesem Zeitpunkt lag, existierte für sie nicht mehr. Als hätte es ein Leben davor nie gegeben. Und doch – irgend etwas ließ sie ahnen, ohne in irgendeiner Weise konkret zu werden, daß es ein Vorher gegeben haben mußte. Vielleicht hätten sie es erfahren, wäre der Ort ihres Erwachens, jenes mysteriöse Kloster auf einem Berggipfel nördlich von Rom, nicht vernichtet worden, kaum daß sie dort zu sich gekommen waren. Schließlich mußten sie auf irgendeinem Wege dort hingelangt oder -gebracht worden sein. Den Untergang jenes Ortes hatte jedoch nichts überdauert, was ihnen eine Spur in ihre Vergangenheit hätte liefern können; und niemand hatte überlebt, der ihnen Antworten hätte geben können.* Nur sie beide waren davongekommen. Am Fuß des Klosterberges waren sie einander schließlich begegnet und hatten sich zusammengetan und auf den Weg in ein nahes Dorf gemacht; wie selbstverständlich, weil sie etwas gemeinsam hatten: keine Erinnerung. Die Ereignisse in jenem Dorf waren nicht dazu angetan gewesen, ihnen den Aufenthalt dort länger ratsam erscheinen zu lassen. Ein Wesen hatte dem Mann ohne Identität aufgelauert, erst als verführerische Frau, dann als amorphes, tentakelbewehrtes Ungeheuer. Zu dem Schock, die Existenz eines solchen Wesens zu erfahren – denn gehörten Monster, Dämonen und Drachen nicht ins Reich der Legenden? – gesellte sich die schreckliche Erkenntnis, daß jemand ihnen beiden (oder zumindest dem Mann) nachjagte. Das amorphe Wesen war vergangen, zu Staub zerfallen, noch bevor es einem von ihnen wirklich gefährlich werden konnte. ** Was *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen« � **siehe VAMPIRA T26: »Die Rückkehr des Nexius« �
aber, wenn es nicht der einzige Verfolger gewesen war? Wenn noch mehr oder andere Kreaturen ihnen folgten? So waren sie also weitergezogen. Rom hatten sie sich eigentlich nur seiner Nähe wegen zum Ziel erkoren. Außerdem suggerierte ihnen allein die Größe der Stadt die Möglichkeit, daß sich hier etwas finden ließe – irgend etwas, das wenigstens eine von unendlich vielen Antworten sein konnte, nach denen sie suchten. Und schließlich mußten sie irgendwo mit dieser Suche beginnen – weshalb also nicht am nächstbesten Ort? Lilith für ihren Teil allerdings war durchaus versucht, Rom auf schnellstem Wege wieder zu verlassen. Sie konnte nicht recht glauben, daß sie hier in irgendeiner Weise fündig würden. Nichts an der Stadt schien ihr auch nur im mindesten vertraut. Im Gegenteil, fast ängstigte sie die Größe Roms, und es kam ihr vor, als ginge sie mit jedem Schritt, den sie tat, tiefer hinein in den gewaltigen Schlund eines finsteren Molochs, der sich schlafend stellte und nur darauf wartete, daß sie sich weit genug in seinen Rachen hineinwagte, damit er unvermittelt zuschnappen konnte. Nur – konnte sie denn sicher sein, daß nicht jede andere Stadt genau dieselbe Wirkung auf sie zeitigen würde? Auf der rein rationalen Ebene ihres Denkens wußte Lilith freilich, daß solche Befürchtungen nur barer Unsinn sein konnten. Andererseits jedoch – wäre es in ihrer Situation, da sie alles Wissen um die eigene Person verloren hatte, nicht ratsam, auf solche Warnungen des Unterbewußtseins zu hören? Denn schließlich besaß sie nichts sonst, wovon sie sich in ihrem Tun leiten lassen konnte … Gerade wollte sie ihre Bedenken laut äußern, als der Mann ohne Namen schattenhaft an ihre Seite glitt. Seine stets kalte Hand berührte ihre Schulter. Lilith schauderte, und das Frösteln schien nicht allein über ihre Haut zu rieseln, sondern überzuspringen auf – ihre Kleidung. Auf jenes im höchsten Maße seltsame schwarze Etwas, das man ihr im
Kloster gegeben hatte – zurückgegeben hatte. Denn man hatte ihr gesagt, es habe ihr seit jeher gehört. Insofern besaß sie ihrem Gefährten gegenüber einen weiteren Vorteil: Das nachtschwarze Kleidungsstück, das auf bizarre Weise zu leben schien, mochte sich irgendwann als eine Spur in ihre eigene Vergangenheit erweisen – wenn sie es denn tatsächlich schon »vorher« besessen hatte. Im Augenblick bildete das schwarze Etwas eine Art löchrige zweite Haut, die Liliths Körper umschloß und vom Hals bis zu den Füßen hin nachzeichnete, so eng anliegend, als würde es auf ihrem Leib kleben. Die Hand des Mannes hatte jedoch ihre nackte Schulter berührt, und nun kam von neuem Bewegung in den schwarzen Stoff (der alles andere denn bloßer Stoff sein mußte!) – er floß und drängte unter die Finger des Mannes und schloß diese Öffnung an Liliths Schulter. Irritiert nahm der Mann es zur Kenntnis und ließ die Hand sinken. Als müßte sie sich für das Gebaren ihrer Kleidung entschuldigen, sah Lilith still lächelnd zu ihm auf. Sein Gesicht erschien ihr, obschon ihr die rechten Vergleichsmöglichkeiten fehlten, ausgesprochen männlich, in gewisser Weise sogar – und auch hierfür mochte der fehlende Vergleich der Grund sein – anziehend. Daran konnte auch die kreuzförmige Narbe auf seiner linken Wange nichts ändern; im Gegenteil unterstrich sie das Markante seiner Züge noch. Und darüber hinaus sah Lilith in der wohl schon sehr alten Wunde auf eigenartige Weise ein Zeichen dafür, daß sie sich an der Seite dieses Mannes geborgen fühlen durfte. Weil er willens und fähig zu sein schien, Schmerzen zu ertragen. Liliths Lächeln veränderte sich um eine Nuance, und sie fühlte momentelang eine Wärme in sich, die ihr angesichts ihrer doch mißlichen Lage einerseits irreal erschien, andererseits aber auch höchst willkommen war. Denn gerade jetzt konnte sie dieses Gefühl vielleicht dringender brauchen als sonst eines – das Gefühl, nicht allein zu sein; jemanden zu haben, zu dem sie gehören durfte – einen An-
ker in einer Welt, in der es für sie sonst keinen Halt mehr gab. Lilith war sich fast sicher, daß ihr Zusammentreffen nicht vom Zufall bestimmt gewesen war. Als würden sie, auf welche Weise auch immer, zusammengehören – einst und jetzt wieder. Ihre Finger suchten seine Hand, berührten sie erst nur und griffen dann fester danach. Er erwiderte den Druck wie auch ihr Lächeln, und die Art, in der er es tat, schürte die Wärme in Lilith zu einem Feuer, das sie neuerlich schaudern ließ – auf ganz andere Art als noch zuvor. Der Mann ohne Namen und Erinnerung wies die Gasse hinab, dorthin, wo sich auch das Mädchen hingewandt hatte. »Laß uns weitergehen«, sagte er. »Ins Herz dieser Stadt hinein.« Der seltsame Zauber des Moments verging, als Liliths Blick der Richtung seines Deutens folgte. Ihre für den Augenblick vergessenen Zweifel brachen wieder hervor. »Ich bin nicht sicher, ob wir hier am richtigen Ort sind«, wandte sie ein, bemüht, ihre unbenennbaren Befürchtungen nicht allzu sehr durchklingen zu lassen. Ihr Gefährte tat einen entschlossenen Schritt nach vorne, ohne ihre Hand loszulassen. »Ich spüre, daß wir in dieser Stadt nicht völlig fehl am Platze sind«, behauptete er, hörbar keinen Widerspruch duldend. Dennoch fügte Lilith sich nicht unweigerlich. »Du meinst, du wärst schon einmal hier gewesen?« »Möglicherweise.« »Wie willst du es herausfinden?« Das Lächeln kehrte in seine Züge zurück, doch war es ein anderes als vorhin. Es legte sich einem dunklen Schatten gleich um seine Lippen, und zugleich schien es etwas in seinen Augen zu berühren, als würde etwas Finsteres in seinen Pupillen aufsteigen, um die ohnedies schon dunkle Iris vollends zu schwärzen. »Es ist beinahe so«, sagte er bestimmt und in fast fanatischem Ton-
fall, »als könnte ich spüren, daß ich einst ein Leben geführt habe, das Spuren hinterlassen hat. So tief, daß keine Zeit der Welt sie auslöschen könnte. Und diese Spuren werde ich finden – um wieder in ihnen zu wandeln.« Lilith wollte seine Zuversicht teilen und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Allein, es blieb beim Versuch. Ihre Zweifel an der Richtigkeit ihres – ihres ganz eigenen – Tuns schwanden nicht im geringsten, als sie dem Mann ohne Namen folgte, weiter in die Nacht, tiefer in die Stadt. Im Gegenteil, die bislang fast stummen Warnungen tief aus ihrem Innersten begannen, ganz allmählich nur, lauter zu werden. Und in genau dem gleichen Maße wuchs auch ihr eigentümlicher Durst, den bislang kein Wasser zu stillen vermocht hatte. Vielleicht, sann sie wie auf einem Nebengleis ihres Denkens, ist es ja gerade dieser Durst, der mich diesem Mann folgen läßt …
* Die schwarzhaarige Frau in dem seltsamen Catsuit war längst hinter Tanja Grabenstett zurückgeblieben. Gesehen hatte das blonde Mädchen die schöne Fremde bereits nach vier oder fünf Schritten nicht mehr. Inzwischen jedoch mußte Tanja sich hundert oder mehr Meter von ihr entfernt haben, zudem noch getrennt durch ein Dutzend Winkel und Ecken. Woher sie den Mut genommen hatte, die Fremde anzusprechen, war ihr selbst im nachhinein nicht klar. Vielleicht, weil die Schwarzhaarige trotz ihres recht merkwürdigen Aufzugs vertrauenerweckender gewirkt hatte als all jene Gestalten, denen das Mädchen aus Deutschland zuvor begegnet war – und deren Aussehen sie nur zu einem bewogen hatte: weiterzurennen, so rasch ihre Füße sie nur trugen! Tanja wußte nicht, wohin sie lief, und selbst wenn sie gewußt hät-
te, wo ihr Ziel lag – das kleine Hotel, in dem sie zusammen mit ihrem Freund Sebastian ein Zimmer gebucht hatte –, hätte sie die Richtung nicht gefunden. Nicht jetzt, da die Nacht fortwährend neue Mauern aus Finsternis um sie her errichtete, und nicht in ihrem Zustand, der längst jenseits des Grades lag, der Verzweiflung von Panik trennte. »Sebastian …«, wimmerte sie. Einen Augenblick lang blieb sie stehen, nur um gleich wieder loszulaufen, kaum daß das Geräusch ihrer eigenen Schritte zwischen den Wänden der Gasse verklungen war – und andere Geräusche an dessen Stelle traten. Ein Rascheln und Schleifen wie von kleinen, bekrallten Füßen. Ein knisterndes Schaben, mit dem pelzige Leiber durch Unrat und an Stein entlang strichen. Drei- oder viermal war Tanja schon von einer Ratte berührt worden. Und sie war sicher, daß, wenn sie nur länger als zwei oder drei Sekunden stehenblieb, sich eine ganze Horde der widerlichen Biester um sie scharen würde, um – Sie ließ die Vorstellung nicht bis ins letzte Detail entstehen, rannte weiter, immer weiter – oder glaubte wenigstens zu rennen. Tatsächlich war es nur noch ein erschöpftes Taumeln, das sie voranbrachte. Aber es ließ sie ihre eigenen Schritte hören, ihre schweren Atemzüge, und diese Laute überlagerten das Trippeln der Ratten – und auch das heisere Flüstern, das ihr aus manchen besonders dunklen Ecken entgegenschlug. Sebastian … Nichts hätte sie lieber getan, als sich in seine Arme zu werfen. Obgleich sie ihn längst verfluchte und ihn mit jeder Minute, die sie weiter durch dieses scheinbar ausweglose Labyrinth aus Gassen und Hinterhöfen stürzte, ein kleines bißchen mehr haßte. Denn er war schuld daran, daß sie sich verlaufen hatte! Hätte er sich nicht benommen wie ein Idiot, wäre sie nie in diese Gegend geraten, die in den meisten Reiseführern über Rom aus gutem Grund
unerwähnt blieb. Tanja schluchzte trocken – ihre Tränen waren längst versiegt – und strich sich schweißfeuchte Strähnen ihres blonden Haares aus der Stirn. Verdammt, es war doch nichts dabei gewesen! Der junge Kellner in der kleinen Trattoria, in der sie mit Sebastian zu Abend hatte essen wollen, hatte sie doch nur angesehen und ihr ein paar Komplimente gemacht, die sie nicht einmal richtig verstanden hatte! Und sie hatte doch nur spaßeshalber zurückgeflirtet … Sebastians mißmutige Blicke hatten sie dann provoziert, den Flirt noch ein Weilchen fortzusetzen, aber keine Sekunde lang war es ihr ernst damit gewesen! Aber Sebastian (dieser elende Idiot!) war aufgestanden und gegangen! »Verdammtverdammtverdammt!« stieß Tanja hervor, aber längst war aller Zorn aus ihrer Stimme gewichen. Eher schon klangen ihre Worte flehend, fast wie das Gebet eines kleinen Kindes. So hatte sie sich den ersten Urlaub ohne ihre Eltern nicht vorgestellt, weiß Gott nicht! Tanja war ihrem Freund nicht gleich gefolgt, als er die Trattoria verlassen hatte. Zum einen ließ das schon ihr Stolz nicht zu, zum anderen hatte sie dem Kellner klarmachen müssen, daß ihre Bestellung storniert sei. Sebastian in den Strömen aus Touristen und Einheimischen finden zu wollen, hatte sich von Anfang an als ein fast aussichtsloses Unterfangen erwiesen. Trotzdem hatte Tanja ihn schließlich entdeckt – zu weit entfernt allerdings, als daß er ihre Rufe hätte hören können, und als sie die Stelle dann erreicht hatte, war er natürlich schon wieder verschwunden gewesen. Etwas später hatte sie ihn noch einmal gesehen – oder zumindest geglaubt, daß er es wäre – und war wieder losgerannt. Auf diese Weise hatte sie sich letztlich immer weiter vom Zentrum entfernt, und am Ende war sie in diesen Irrgarten aus uralten und
mitunter baufälligen Häusern geraten, in denen niemand mehr zu wohnen schien – nun, wenigstens niemand, auf dessen Bekanntschaft Tanja Wert gelegt hätte. Und sie hatte, während die Nacht nicht einfach nur anbrach, sondern regelrecht in das Gassengewirr einzudringen schien, keinen Weg mehr gefunden, der sie hinaus und zurück zum Hotel oder auch nur in eine halbwegs belebte Gegend geführt hätte. Seit Stunden irrte sie nun also schon umher, und sie hatte fast alle Hoffnung aufgegeben. Nur eine hegte sie noch – daß sie die Nacht irgendwie überstand und bei Tageslicht alles ein wenig besser aussehen würde. Doch selbst dieses winzige bißchen Hoffnung schien Tanja Grabenstett mittlerweile trügerisch, fast unerfüllbar. Weil in dieser Nacht, in dieser Gegend jede Minute eine Stunde zu dauern schien, und jede einzelne Minute bedeutete für Tanja etwas, das unablässig an ihrer ohnedies schon erschöpften Kraft zehrte und ihre Gedanken mit Angst und immer schlimmeren Visionen vergiftete. Ihre Versuche, die Bewegungen in den Schatten ringsum und die körperlosen Geräusche zu ignorieren, wurden immer kläglicher und halbherziger. Ihr Dahintaumeln war längst nicht mehr willentlich gesteuert, sondern geschah wie von selbst, als wollten ihre Füße nie mehr zur Ruhe kommen und sich so lange bewegen, wie sie noch ein Quentchen Kraft in diesem Körper fanden. Wieder schluchzte Tanja den Namen ihres Freundes, und es glich mehr denn zuvor einem Heulen. »Sebastian …!« Wie aus dem Nichts tauchte der Mauervorsprung vor dem Mädchen auf. Hart prallte Tanja im Laufen dagegen, stürzte, schlug auf das Gassenpflaster. »Tanja …?« Die Stimme wehte aus dem Nichts heran, leise und unsicher – eine Täuschung? Tanja schluckte hastig, wollte rufen, keuchte aber nur: »Sebastian?«
»Tanja!« Ein Traum! durchfuhr es das Mädchen. Ich bin gestürzt und ohnmächtig geworden, und jetzt halluziniere ich! »Sebastian …«, murmelte sie. Hörte sie tatsächlich Schritte? Jemand kam, und er kam näher! »Tan-« Die Stimme brach ab, so abrupt, als hätte jemand sie erstickt. Dazu paßte auch das merkwürdige Stöhnen, das Tanja hörte, und dann – ein dumpfer Laut, ein Ächzen, als wäre jemand geschlagen worden und hingefallen. Sie wunderte sich, wie nüchtern sie all diese Eindrücke aufzunehmen imstande war. Angst empfand Tanja erst, als der Schatten, dunkler noch als die Nacht, über sie fiel. Trotzdem es doch stockdunkel war, nahmen sich die Konturen der Gestalt aus wie ein Scherenschnitt. Die Umrisse einer großen, kräftigen Gestalt. Sebastian war eher schmal. Dennoch flüsterte Tanja fragend seinen Namen. Und er antwortete ihr – von weit entfernt und brüllend. »Tanja! Nein …!« Der Schatten über ihr gewann an Substanz, legte sich zentnerschwer auf sie. Kalte, totenkalte Hände berührten sie scheinbar überall zugleich, wollten eine Gegenwehr verhindern, zu der sie kaum noch die Kraft aufbrachte. Dann geschahen mehrere Dinge zugleich. Schritte näherten sich, jedoch nicht aus der Richtung, aus der sie Sebastian gehört zu haben glaubte. Dann – beißender Schmerz! Tanjas Schrei erstickte in warmer Nässe. Sie roch und schmeckte … ihr eigenes Blut. Daß das fremde, tödliche Gewicht von ihr wich, so überraschend,
als wäre es fortgerissen worden, bekam sie kaum noch mit. Der schwarze, rotschlierige Nebel, der ihre Gedanken ersticken wollte, lichtete sich noch einmal, als sich wieder Schritte näherten, nicht schleichend diesmal, sondern hastig, und schließlich fiel etwas schwer neben ihr nieder. Tanjas Blick klärte sich, und für einen endlosen Augenblick sah sie in dieser finsteren Nacht so klar und deutlich wie am hellsten Tage. Sebastians jungenhaftes Gesicht war über dem ihren, blutend und zerschunden wie von einem Schlag oder Sturz. »Sebastian«, flüsterte sie und lächelte, »endlich …« Er sah auf sie hinab, und seine Zügen verzerrten sich, als sähe er etwas Grauenhaftes, das Schlimmste überhaupt. Sein Mund bewegte sich tonlos, und Tanja glaubte, daß er etwas sagte. Aber sie hörte ihn nicht. Nicht mehr. Nie mehr.
* »Hier bist du ja! Ich …« Was Lilith noch hatte sagen wollen, erstickte die Hand ihres Gefährten, mit der er ihr blitzschnell die Lippen verschloß. Mit der anderen packte er sie am Arm und zog sie in den lichtlosen Spalt zwischen zwei Häusern. In der tiefen Dunkelheit hinter ihnen raschelte etwas, und es roch nach Dingen, die nie mehr rascheln oder sonst irgend etwas tun würden … »Ein lauschiges Plätzchen hast du da gefunden«, murmelte Lilith zwischen seinen Fingern hindurch, die noch immer auf ihrem Mund lagen. »Sei still«, zischte er. Dabei wies er mit dem Kinn hinaus auf die Gasse. Lilith folgte der angedeuteten Richtung mit ihrem Blick – und hätte aufgeschrien, würde ihr Gefährte nicht wohlweislich seine
Hand auf ihrem Mund gelassen haben! Ein Stück entfernt entdeckte sie zwei Gestalten, eine leblos am Boden liegend, die andere wimmernd daneben kauernd. Das blonde Haar des daliegenden Mädchens war Lilith noch in frischer Erinnerung … »Wie ist das geschehen?« fragte sie leise, nachdem sie sich endlich von der Hand des Mannes befreit hatte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. Lilith sah ihn an, scharf und fragend in einem. Log er? Sie waren nicht lange voneinander getrennt gewesen. Als hätte er etwas gehört, das ihr entgangen sein mußte, war ihr Gefährte vorhin losgestürmt. Überrascht von der Plötzlichkeit hatte sie ihm nicht sofort folgen können, und schließlich hatte sie ihn in den winkligen Gassen aus den Augen verloren. Einige Minuten lang hatte sie nach ihrem Gefährten gesucht, der wie von einem animalischen Instinkt getrieben fortgerannt war. Hier, in diesem stinkenden Winkel, hatte sie ihn schließlich wiedergefunden – kaum fünf Meter von einer Stelle entfernt, an der kurz zuvor ein Mensch gestorben war. »Was hat der Junge damit zu schaffen?« fragte Lilith weiter. »Hat er das Mädchen –?« Sie ließ das letzte Wort unausgesprochen, als wollte es ihr nicht über die Lippen. Zudem war die Vorstellung, daß der junge Mann solch eine Tat begangen haben konnte, zu schrecklich. »Ich weiß es nicht«, antwortete ihr Gefährte auch diesmal. »Ich bin zu spät gekommen.« Dabei ließ er das Pärchen dort drüben an der Gassenmauer keine Sekunde lang aus den Augen. Als Lilith aus den Augenwinkeln zu ihm hinsah, glaubte sie einen ganz eigenartigen Ausdruck in seinem Blick zu entdecken – eine unerklärliche Faszination …
»Wir müssen etwas tun«, sagte Lilith nach einer kleinen Weile. Der Mann ohne Namen schien ihre Worte nicht gehört zu haben. Lilith wiederholte sie, eindringlicher diesmal, und faßte den anderen fest am Arm. Wie aus Tiefschlaf gerissen wandte er sich ihr blinzelnd zu. »Was …?« »Wir müssen Hilfe holen«, sagte Lilith. »Hilfe?« echote er. »Weshalb?« Er wies vage zu dem Pärchen hinüber. Das leise Wimmern des jungen Mannes wehte wie das Echo fernen Wolfsgeheuls durch die Gasse. »Welche Art von Hilfe könnte hier noch nützen?« Er lächelte hart. Lilith schnaubte empört. »Rührt dich das alles denn gar nicht?« zischte sie mit leiser Wut. »Doch«, erwiderte er und sah wieder zu der Toten hin, ehe er fast andächtig ergänzte: »Sehr sogar.« Seine Nasenflügel schienen sacht zu beben, als söge er einen kaum wahrnehmbaren Geruch ein. »Der Junge braucht Hilfe«, sagte Lilith entschlossen. »Und jemand muß sich um die Tote kümmern!« »Was hast du vor?« fragte ihr Gefährte lauernd. »Ich werde versuchen, Hilfe zu finden.« »Nein!« Schwarzes Feuer schien für eine Sekunde in seinem Blick zu lodern. Lilith wich ihm nicht aus, und schließlich erwies sich das eisige Funkeln in ihren grünen Augen als standhafter. »Nun gut«, lenkte der Mann ohne Namen ein, »tu, was du nicht lassen kannst.« »Kommst du mit?« fragte sie ihn im Aufstehen. Er schüttelte den Kopf. »Ich warte hier.« »Ich komme wieder.« Lilith tauchte in die Schatten der Gasse. Einen Moment lang war sie versucht, den Jungen anzusprechen, aber dann tat sie es doch nicht. Zum einen, weil sie nicht wußte, was sie hätte sagen sollen; zum anderen verspürte sie eine seltsame Scheu vor der Toten. Fast
so, als wäre der Tod etwas, dem sie nicht zu nahe kommen wollte. Daß der Mann ohne Namen sich hinter ihr aus dem verborgenen Winkel schob, sah Lilith nicht mehr. Und natürlich auch nicht, wie er sich dem Pärchen lautlos näherte. Der Geist des Jungen schien von den Ereignissen und dem daraus geborenen Schmerz wie in ein Netz eingesponnen zu sein, das ihn blind und taub für alles um ihn her machte. Er sah nicht einmal auf, regte sich nicht, wimmerte und stammelte nur weiter sinnlose Worte, als der Mann neben ihn trat und sich zu der Toten hinabbeugte. Ein kaltes Funkeln trat in den Blick des Mannes, als er die Tote betrachtete. Die Wunde ihrer Kehle klaffte wie die schreckliche Karikatur eines verzerrten Mundes, der zu tief angesetzt war. Ganz behutsam, fast ehrfürchtig streckte der Mann einen Finger danach aus und zuckte zurück, kaum daß er die dunkle Wärme berührt hatte. Dann hob er den benetzten Finger. Einer Perle gleich saß der Tropfen auf der Fingerkuppe, glitzerte dunkel und rot, und der Mann bestaunte sie, als wäre sie von unschätzbarem Wert. Dann glitt ein düsteres Lächeln über seine Züge. »Eine Spur …?« Er führte den Finger näher an sein Gesicht. Atmete tief ein. Lächelte wieder. »Vielleicht …«
* Als Commissario Nero Twistelli von der Policia Criminale den Ort des grausigen Geschehens erreichte, schien über diesem winzigen Teil Roms die Nacht bereits zu Ende zu sein. Alles war in gleißendes Licht getaucht. Scheinwerferbatterien gossen weißglühende Helligkeit in die Gassen und vertrieben die Schatten aus allen Winkeln und Ecken. Jenseits des beleuchteten Bereichs jedoch schienen sich
die Schatten zu einer regelrechten Mauer zu verdichten, die alles verbarg, was dahinter lag. Twistelli beobachtete das geschäftige Treiben der uniformierten Carabinieri und der Kollegen in Zivil für eine Weile; nicht interessiert, sondern so, als zögere er, den Tatort zu betreten. Als er es endlich doch tat und in den hellerleuchteten Bereich des Gassenlabyrinths im Norden seiner Stadt trat, kam er sich vor, als würde er eine Bühne betreten, auf der das Stück schon begonnen hatte. Nur gefiel ihm dieses Stück nicht, und noch weniger gefiel er sich in der Hauptrolle dieses Stückes. Denn wie auf ein geheimes Stichwort hin gefror das Szenario für eine Sekunde, und ruckartig wandten sich ihm aller Blicke zu. In ein paar der Gesichter las er eine Ahnung stummer Verzweiflung. Offenbar hatten diese Männer gehofft, daß nicht ausgerechnet er die Ermittlungen in diesem Mordfall führen würde. Sein Ruf im Kollegenkreis war nicht der beste. Er galt als schwierig – was den Umgang mit ihm anbelangte. Seine Fähigkeiten als Polizist wagte indes niemand in Abrede zu stellen. Im Gegenteil, man nannte ihn den »Bluthund« – ehrfurchtsvoll. Weil er von einer Spur nicht abließ, hatte er sie erst einmal aufgenommen. Unter mehreren Fährten witterte er mit einem Instinkt, um den ihn viele beneideten, in über 90 Prozent aller Fälle die richtige, und er folgte ihr stets bis zum Ende. Natürlich gab es ein paar, meist übermütige Neulinge, die meinten, Nero Twistelli hätte den Beinamen »Bluthund« seinem bulligen Äußeren und seinem bärbeißigen Typus zu verdanken. Diese Jungspunde nahm der »Bluthund« eine Weile unter seine Fittiche und mit auf seine Jagden – und die meisten von ihnen entließ er als das aus seiner Obhut, was er persönlich unter guten Nachwuchspolizisten verstand: als junge »Bluthunde« … Fast schlagartig kam wieder Bewegung in die Szenerie, als Nero Twistelli die Lippen zum Sprechen öffnete. Jeder war urplötzlich sehr beschäftigt und konzentrierte alle Aufmerksamkeit auf sein
Tun. Twistelli grinste kurz – jenes verwegene Lächeln, das die Frauen außerhalb des Polizeidienstes so an ihm liebten – und brüllte dann doch. »Cesare!« Selbst seine Stimme hatte Ähnlichkeit mit dem dunklen, drohenden Bellen eines Bluthundes … Inspettore Cesare Rosati fiel in der Menge seiner Kollegen, die storchengleich umherstaksten, um keine etwaigen Spuren zu verwischen, auf wie der berühmte bunte Hund. Obwohl er waschechter Römer mit ellenlanger Ahnenliste war, hatte ihn eine übellaunige Natur mit fast kalkigem Teint und rostrotem Haar gestraft. Als wolle er seiner Andersartigkeit noch selbst die Krone aufsetzen, trug Cesare Rosati das Haar in der Art eines Clowns so toupiert, daß es wie eine halbrunde Welle von seinem Kopf abstand. Seine knöcherne Statur, die neben dem kräftigen Twistelli noch schlaksiger wirkte, als sie es ohnehin schon war, komplettierte den Eindruck eines Sonderlings. Daß Äußerlichkeiten zumindest in seinem Fall täuschten und er zu den fähigsten Mitarbeitern der Policia Criminale di Roma zählte, bewies vor allem die Tatsache, daß er seit Jahren als ständiger Assistent an Nero Twistellis Seite stand. Und dort hielten sich nun einmal nur die Besten … »Bericht!« verlangte der Commissario, nachdem Rosati sich durch das Gedränge der Gasse – die Zahl der mit der Spurensicherung befaßten Polizisten wirkte in der drangvollen Enge hier größer, als sie es tatsächlich war – zu ihm durchgeschoben hatte. Über den Rand seiner rundglasigen Brille hinweg las der Inspettore die hingekritzelten Notizen von seinem kleinen Block. »Der Name der Ermordeten ist Tanja Grabenstett; laut Ausweis neunzehn Jahre; Deutsche, aus München. Todesursache –«, Cesare Rosati stockte kurz, und sein Gesicht verzog sich wie nach einem Biß in eine Zitrone, »– das sehen Sie sich besser selbst an.« »Zeugen?« wollte Twistelli wissen.
»Wir haben einen jungen Mann neben der Toten gefunden, Sebastian von Soettingen, ebenfalls aus München stammend. Vermutlich der Freund oder Verlobte des Mädchens. Steht unter Schock. Er konnte uns nicht einmal seinen Namen nennen.« »Vielleicht wollte er nur nicht«, knurrte der »Bluthund«. »Er war es nicht«, sagte Rosati überzeugt, und Twistelli nickte. Wenn Cesare das sagte, konnte er etwas darauf geben. Er war ein guter Polizist. War durch eine gute Schule gegangen. Hatte von einem guten Lehrer gelernt. »Wer hat die Sache gemeldet?« fragte er. »Anonym.« »Cazzo!« Drei, vier in der Nähe beschäftigte Carabinieri sahen erschrocken auf, als der »Bluthund« fluchte. Ein schlechtes Zeichen … »Haben Sie Leute losgeschickt, die die Gegend absuchen?« Twistelli wies mißmutig in die Bereiche jenseits der Insel aus Scheinwerferlicht. Eine Suche dort war kaum mehr als eine Formsache. Ergebnisse würde sie nicht bringen. Twistelli kannte die Gegend. Verdammte Rattenlöcher, stockdunkel bei Nacht, und nur wenig heller bei Tag. Und wer darin hauste, ließ sich zu keiner Zeit offen blicken. »Si.« Rosati nickte beiläufig. »Wo ist das Mädchen?« grunzte der Commissario. Die unangenehmste aller Pflichten ließ sich nicht länger aufschieben. Cesare winkte ihn hinter sich her und drängte sich an den Kollegen vorbei, die jedes noch so kleine Detail der Umgebung fotografierten, Steine und alle möglichen Dinge und allen unmöglichen Unrat auflasen und in kleine Tüten steckten. Vor Twistelli wichen sie zurück wie einst die Wasser des Roten Meeres vor Moses, und um den eigentlichen Tatort bildeten sie schließlich einen Halbkreis. Nero Twistelli stöhnte auf. Gut, er hatte schon üblere Dinge gesehen. Wenn sie beispielsweise eine Leiche aus dem Tiber fischten, war das in aller Regel ein Anblick, der ihm jedes Mal aufs neue den
Magen umzudrehen drohte – vor allem, wenn die Fische im Fluß genug Zeit gehabt hatten, sich mit dem toten Körper zu befassen. Trotzdem traf ihn dieser Anblick hier beinahe noch härter. Er wußte nicht, warum – nicht richtig zumindest; da war nur etwas wie der Beginn einer Ahnung in ihm, die sich nicht fassen ließ … Der Kopf Tanja Grabenstetts, die verkrümmt in einer weißen Kreidekontur lag, schien nicht mehr zum Rest ihres Körpers zu gehören. Denn ihr Hals bestand nur noch aus rohem, zerrissenen Gewebe; ein dunkelrotes Etwas, das Kinn und Schultern wie eine Kluft voneinander trennte, anstatt sie zu verbinden. Einen Schritt daneben kauerte ein junger blonder Mann. Sein Gesicht mochte recht apart gewesen sein, bevor Schmerz und Entsetzen sich tief hineingegraben und es zu einer gräßlichen Maske entstellt hatten. Ein Kollege in Zivil hockte bei ihm und redete leise und beruhigend auf ihn ein. Offenbar war man nicht dazu imstande gewesen, den Jungen von der Stelle oder auch nur zum Aufstehen zu bewegen. »Wer tut so was, Cesare?« fragte Twistelli. Er erwartete keine Antwort. Der Inspettore tat es trotzdem: »Die Frage könnte auch heißen: Womit tut wer so was?« »Keine Tatwaffe?« fragte Twistelli, seltsam abwesend. »No.« Cesare Rosati kniete neben der Leiche nieder und deutete auf die schreckliche Wunde. »Aber vielleicht gibt es gar keine Tatwaffe.« »Was soll das heißen?« »Das Ganze sieht für mich eher nach einer –«, Rosati hielt kurz inne, eindeutig aus Gründen der Dramaturgie, weil er seiner Vermutung die angemessene Bedeutung zukommen lassen wollte, »– Bißwunde aus.« »Sie glauben, ein Tier hätte das getan?« fragte Twistelli zweifelnd. Der Inspettore hob die Schultern. »Es könnte sein.«
Twistelli nickte langsam. Sein Blick ruhte unverwandt auf der Toten. Aber er erweckte den Eindruck, als würde er etwas ganz anderes sehen. Etwas, das sich nur ihm erschloß – oder vielmehr erschließen würde, wenn er nur lange genug hinsah. »Eine Bißwunde …«, murmelte er gedankenversunken, »… ja, vielleicht …« Motorengeräusche klangen auf, näherten sich. In der engen Gasse hörte es sich an wie Donnergrummeln. Twistelli schrak auf, blinzelte verwirrt, und allein damit lenkte er die Aufmerksamkeit einiger seiner Leute zumindest für einen Moment auf sich, weil sie solcherlei Unkonzentriertheit von ihm nicht kannten. Dann wichen sie zurück, als zwei Ambulanzwagen, Heck an Stoßstange, im Schrittempo herankamen. Die wuchtigen Fahrzeuge hatten allerlei Umwege fahren müssen, um überhaupt irgendwie durch das Gassengewirr zum Tatort zu gelangen. Deshalb trafen sie mit solcher Verspätung ein. »Weisen Sie die Leute ein, Cesare«, sagte Twistelli lahm und wies zu den Ambulanzen hin. »Notieren Sie alles und verständigen Sie den Gerichtsmediziner.« Die polizeieigene Pathologie wurde zur Zeit umgebaut und renoviert, und so wurden Mordopfer in die umliegenden Krankenhäuser geschafft und dort untersucht. Daran würde sich wohl noch eine ganze Weile nichts ändern. Twistelli hatte ein paarmal einen Blick auf die Baufortschritte geworfen – und feststellen müssen, daß der Begriff »Fortschritt« die Sache nicht traf. Nun, er kannte das Arbeitstempo seiner Landsleute … »Commissario?« Cesare Rosatis Tonfall klang besorgt. »Hm?« »Ist … irgend etwas nicht in Ordnung mit Ihnen?« fragte der Inspettore. »Nein, schon gut«, brummte Twistelli unwillig und wandte sich ab. »Kümmern Sie sich um alles, ja? Wir versuchen dann später, diesen … wie hieß er noch?«
»Von Soettingen. Sebastian von Soettingen.« Twistelli nickte. »Ja, wir befragen ihn später. Vielleicht können sie ihn im Krankenhaus soweit bringen, daß er zumindest reden kann.« Er ging ein Stück zur Seite, blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Zum Sterben gibt es wohl kaum den richtigen Ort. Aber dieser hier war der erbärmlichste, den er sich nur vorstellen konnte. Nur Ratten lebten hier, vier- wie auch zweibeinige. Und genauso stank es auch zwischen all den dreckigen Buden, die vor langer Zeit die Berechtigung verloren hatten, Häuser genannt zu werden. Obwohl ihn ihr Anblick anwiderte, starrte Nero Twistelli sie an, ließ seinen Blick unendlich langsam an den rissigen, schmutzigen Wänden entlangwandern. Als wäre ihm dieser Anblick immer noch willkommener als der des toten Mädchens. Erst als er aus den Augenwinkeln gewahrte, daß die Sanitäter den Leichnam in eine Zinkwanne hievten, sah er noch einmal hin. Und sein Blick wurde von der klaffenden Halswunde wie magisch angezogen. Hastig wandte er sich wieder ab, sah von neuem zu den leeren Fensteröffnungen hinauf. Jener Teil der Dunkelheit, den die Scheinwerfer verbannt hatten, schien sich in die Häuser ringsum zurückgezogen zu haben – und mit ihm alles, was unter den dunklen Fittichen der Nacht gedieh. Ein Laut wie ein dumpfer Gong rollte durch die Gasse, als der Deckel des Metallsargs geschlossen wurde. Twistelli schaute hin und glaubte, die fürchterliche Wunde noch immer sehen zu können, durch den Deckel hindurch. Eine Bißwunde, hatte Cesare Rosati vermutet. Vielleicht, dachte Twistelli, hat er recht … Der Gedanke bewirkte etwas in ihm, einer geheimnisvollen Kraft gleich, die nicht seinem Willen unterlag. Etwas, das ihm vorkam wie fremde Finger, begann in ihm zu wühlen, zaghaft noch, aber doch
auch tiefer und tiefer. »Wie damals …«, murmelte Nero Twistelli unvermittelt. Er wußte nicht, weshalb er es sagte, und er wußte nicht, was es bedeuten konnte. Jene Finger gruben sich weiter in sein Innerstes, und schließlich rührten sie an etwas Eisigem. Und Nero Twistelli tat etwas, das er lange nicht getan hatte. Er fröstelte. Wie in ärgster Kälte. Aber die Nacht über Rom war mild.
* Jemanden zu finden, der den Mord den Behörden melden konnte, war für Lilith Eden in dieser öden Gegend ein Problem gewesen. Diesen Jemand dann davon zu überzeugen, es zu tun, indes nicht. Der finster dreinblickende Geselle hatte im Grunde genommen eher Lilith gefunden als umgekehrt. Und er hatte sich, seinem Gebaren zufolge, gewiß nicht mit ihr unterhalten wollen … Dann hatte es aber nicht mehr als eines scharfen Blickes bedurft, um ihn sozusagen auf andere Gedanken zu bringen. Danach schien ihm nichts wichtiger gewesen zu sein, als Liliths Bitte zu erfüllen. Obgleich sie überzeugt war, daß der Kerl nichts mehr zu fürchten hatte als die Polizei. Seltsam … Es war nicht daß erste Mal, daß sie feststellte, andere Menschen allein durch ihren Blick »überzeugen« zu können. Den Weg zurück durch das Gassengewirr zu ihrem Gefährten zu finden, hatte Lilith erheblich mehr Mühe bereitet. Hier ähnelte eine Ecke der anderen, und die miserablen Sichtverhältnisse taten ein übriges dazu, um die Orientierung zu erschweren. Flügel müßte man haben, dachte Lilith, fast schon verzweifelt … Schließlich fand sie den Ort der Bluttat doch wieder – gerade als von weitem nervtötendes Sirenengeheul näherkam und zuckende Rot- und Blaulichter fahlen Widerschein über die Dachfirste rings-
um streuten. An der Lage der Toten hatte sich – natürlich – nichts verändert, und der junge Bursche kauerte nach wie vor neben ihr. Nur ihren eigenen Gefährten sah Lilith nicht mehr! Als sie sich schon mit dem Gedanken abfinden wollte, daß er sich abgesetzt hatte, hörte sie ein kurzes Zischen. Sie sah auf und bemerkte hinter einer dunklen Fensterhöhlung in der Nähe eine schattenhafte Bewegung, kaum mehr als ein kurzes Wogen der dort nistenden Schwärze. Der kurze Weg durch die Tür des betreffenden Hauses und die angrenzenden Räume bis hin zu jenem Fenster war ein Abenteuer für sich. Überall häuften sich Geröll und Schutt, und stellenweise brach der morsche Boden unter ihren Schritten weg. An anderen Stellen wiederum bewegte er sich auf ganz andere Weise – huschend und angriffslustig fiepend … Plötzlich griff etwas aus dem Dunkeln nach Lilith! Sie schrie auf, obwohl sie fast sicher wußte, daß es keinen Grund dazu gab. Wieder verschloß eine kalte Hand ihre Lippen, während jenseits des Fensters Lärm laut wurde und erste Lichter die Schwärze Stück um Stück aus der Gasse trieben. »Sei still«, zischte der Mann ohne Namen. Lilith nickte, und als er seine Hand fortnahm, drängte sie: »Laß uns verschwinden.« »Noch nicht«, wehrte er ab. »Worauf willst du noch warten?« Er blieb ihr eine Antwort schuldig, stellte sich statt dessen so an das Fenster, daß ihn die Ausläufer der Lichter draußen nicht berührten, und beobachtete das immer geschäftiger werdende Treiben dort. Lilith tat es ihm nach. Die Zahl der Polizisten in der Gasse wuchs, und Lilith wunderte sich im Stillen darüber, daß ihr kaum etwas von dem, was die Männer dort taten, wirklich fremd vorkam. Als wäre sie nicht zum ersten
Mal Zeugin einer solchen Aktion. Nach einer Weile betrat ein Mann die Szenerie da draußen, dem eine besondere Rolle zukommen mußte. Alle anderen sahen zu ihm hin, und die unterschwellige Furcht, die er in ihnen weckte, war fast zu spüren, einem eisigen Hauch gleich, der durch die Gasse wehte. Die stattliche Erscheinung in den Mittfünfzigern unterhielt sich ein paar Minuten lang mit einem auf andere Weise kaum weniger auffälligen Mann, dann verließ sie den Pulk der Ermittler – und kam in ihre Richtung! Obgleich Lilith sicher war, daß sie von draußen nicht gesehen werden konnten, hatte sie doch das Gefühl, der Mann würde ihnen sekundenlang direkt ins Gesicht sehen. Aber er gab mit keiner Regung zu erkennen, daß er sie bemerkt hätte, und Lilith atmete auf, spürte Erleichterung. Nur – weshalb? Fürchtete sie, man würde sie des Mordes verdächtigen, wenn man sie hier vorfand? Ja, befand sie, genau diese Befürchtung hegte sie. Ein neuerliches Zeichen dafür, daß sie um die Gedankengänge und Verhaltensweise anderer wußte. Wenn es doch nur mit ihren eigenen genauso gewesen wäre … Fast unwillentlich trat sie vorsichtig, lautlos einen Schritt zurück. Draußen hatten sich inzwischen weitere Fahrzeuge genähert. Ambulanzwagen. In einen davon brachte man den jungen Kerl, der neben der Leiche gesessen hatte. In den anderen, der von etwas anderer Bauart war, lud man einen Zinksarg, in den man zuvor die Tote gelegt hatte. Als sie eine vage Berührung an der Schulter spürte, zuckte Lilith erschrocken zusammen, so tief war sie in ihre eigenen Gedanken und Beobachtungen versunken gewesen. Jetzt wandte sie den Kopf und sah zu ihrem Gefährten hin. Der wiederum hielt den Blick seltsam stier auf den Wagen gerichtet, in den das tote Mädchen verfrachtet worden war; fast schien er wie fasziniert davon … »Jetzt«, sagte er knapp.
»Was?« »Wir gehen.« »Jetzt?« flüsterte Lilith verwundert. »Da draußen wimmelt es von Leuten. Wie willst du da unbemerkt verschwinden?« Der Mann ohne Namen wies in die Dunkelheit des Raumes, in dem sie sich verbargen. »Es gibt Durchgänge von Haus zu Haus«, erklärte er. Offenbar hatte er sich in Liliths Abwesenheit ein wenig ortskundig gemacht. »Wenn wir uns in ihrem Schutz bewegen, werden wir niemandem auffallen.« »Wir sollten abwarten, bis die Meute abgezogen ist«, meinte Lilith. Er grinste ihr zu. »Dann verpassen wir unsere Mitfahrgelegenheit.« Dabei sah er wieder zum Fenster hinaus und hin zu den Ambulanzwagen, die gerade anfuhren. »O nein«, stöhnte Lilith. »Du willst doch nicht etwa –?« Er nickte. »Doch.« »Ohne mich!« stieß Lilith hervor. Ihre Züge verzerrten sich angewidert. »Ich fahre nicht mit in einem – Leichenwagen.« Ihr Gefährte zuckte die Schultern. »Gut«, sagte er. »Dann ohne dich.« Sprach’s und tauchte ein in die Schwärze des Zimmers. Seine Schritte entfernten sich. »Hey …!« rief Lilith halbherzig, biß sich aber gleich erschrocken auf die Zunge, um sich selbst zum Stillsein zu zwingen. Verdammt, was sollte sie bloß tun? Sie hatte nur zwei Alternativen. Entweder sie überwand ihre gefühlsmäßigen Vorbehalte und folgte ihrem Begleiter – oder sie hatte die längste Zeit einen solchen Gefährten gehabt! Denn hier zurückzubleiben hieß, daß sie fortan allein sein würde – allein und einsam in einer Welt, für die sie eine Fremde war … Aus dieser Sicht fiel Lilith die Entscheidung fast leicht.
»Warte auf mich!« �
* � Es gab weitere heimliche Zeugen des Treibens in der namenlosen Gasse. Aus sicherer Entfernung, von einem der flacheren Dächer aus beobachteten drei Augenpaare das Geschehen dort drunten. Eines dieser Augenpaare sprühte schier vor kaum bezähmbaren Zorn. Ein anderes schwamm in eigentümlicher Melancholie und Trauer. Das dritte schließlich war von stumpfem Glanz und glotzte teilnahmslos bald hierhin, bald dorthin … »Du bist ein Idiot, Tacitus«, zischte Titiana zum wiederholten Male in der seit der Bluttat verstrichenen Zeit. Die Funken, die in ihrem Blick tanzten, schienen auf den Angesprochenen überzuspringen, denn unwillkürlich wich er ein klein wenig zurück, als sie ihn anstierte. Trotzdem streckte er die Hand aus, um ihr dunkles Haar aus dem Gesicht zu streichen. Als hätte er sich nach all den endlos langen Jahren noch immer nicht sattgesehen daran, und als könnte es für ihn nie etwas von seiner faszinierenden Anmut verlieren, ganz gleich, ob Haß oder Wut es entstellten. »Im Grunde genommen bist du ein größerer Risikofaktor als er«, fuhr die Schöne fort. Dabei wies sie mit einer raschen Geste hin zum Dritten im Bunde, der etwas abseits hockte und sinnlose Laute in die Nacht murmelte. »Es tut mir leid«, sagte Tacitus. Er lächelte schmerzlich und zugleich doch auf jene Weise, mit der er schon so viele über sein wahres Wesen hinweggetäuscht hatte. Bei Titiana indes verfing sein uralter jungenhafter Charme längst nicht mehr. Sein stets sanfter Blick richtete sich auf Tremor, und fast spürbare Wärme strahlte davon aus. »Es tut dir leid, es tut dir leid!« äffte Titiana ihn nach. »Damit ist uns nicht geholfen! Du wirst noch alles verderben, wenn du ihn –«,
sie zeigte auf Tremor, ein dunkler Klotz in finsterster Nacht, »– nicht endlich im Zaume hältst!« »Es wird nicht wieder vorkommen«, versicherte Tacitus. Er fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar, als müßte er seine Hände irgendwie beschäftigen. »Aber ich kann ihn schließlich nicht in Ketten legen«, setzte er dann noch hinzu, ungewohnt energisch. »Vielleicht wäre das die rechte Lösung«, meinte Titiana hart. »Damit würden wir alles nur schlimmer machen!« begehrte Tacitus auf. »Wenn wir ihn behandeln wie einen Gefangenen, dann wecken wir nur seine Erinnerungen an alles, was damals geschehen ist –«, er warf Tremor einen weiteren Blick zu, vage argwöhnisch diesmal und doch auch voll von Mitleid und Bedauern, »– und an jene, die ihn zu dem gemacht haben, was er jetzt ist.« Seine letzten Worte erstickten beinahe in ohnmächtigem Zorn und bitterer Trauer. »Es war ein Fehler, ihn zu retten«, meinte Titiana nach einer Weile. »Vielleicht war alles, was wir damals getan haben, falsch.« »Das war es nicht!« Wieder sprach Tacitus mit selten gezeigter Härte, und sekundenlang verdrängte dunkle Glut den gewohnten weichen Ausdruck aus seinen Augen. »Sind wir nicht fast am Ziel?« fragte er dann, wieder sanfter und mit dem Arm in die Runde weisend. Seine Geste schloß die ganze Stadt ein. »Es ist alles gekommen, wie wir es uns erträumt haben. Tinto, der verhaßte Bastard, ist tot, und wie wir es überall in der Welt beobachten konnten, so ist auch die hiesige Sippe nicht mehr. Rom kann endlich wieder unsere Heimat werden. Und uns allein ist es bestimmt, sich zu ihren Herrschern aufschwingen.« Titiana lächelte verzerrt. Ein verirrter Lichtstrahl aus dem Nichts ließ dieses Lächeln in ihrem bleichen Antlitz blitzen und machte es zu etwas, das selbst Tacitus einen winzigen Moment lang erschreckte. »Unsere Herrschaft könnte enden, noch ehe sie recht begonnen hat«, entgegnete sie, und wieder deutete sie zu Tremor hinüber.
»Wenn er durch sein unkontrolliertes Tun die Aufmerksamkeit auf uns lenkt, bevor wir im Hintergrund die entsprechenden Arrangements getroffen haben, könnte es uns nur allzu leicht an den Kragen gehen.« »Aber –« Titiana schnitt ihm das Wort ab. »Sieh dir Tremor an. Er ist der Beweis dafür, daß die Menschen uns gefährlich werden können, wenn sie es richtig anstellen. Und gerade Rom ist in dieser Hinsicht ein elend gefährliches Pflaster.« Ihr Blick ging nur scheinbar ins Leere. Tacitus wußte, was in der Richtung lag, in die sie starrte, obgleich er die Kuppeln des Petersdoms nicht sehen konnte … Tacitus senkte den Blick. Sie hatte ja recht. Er wußte es; vielleicht besser als jeder andere ihres Volkes – weil er es schon mit eigenen Augen hatte mitansehen müssen. Verstohlen lugte er zu Tremor hin, und beißender Schmerz fraß sich in seine Brust … Titiana sah wieder hinab in die Gasse. »Und nun begehst du die gleichen Fehler wie damals; jene Fehler, die uns letztlich die Heimat gekostet haben«, sagte sie. »Sie werden unsere Spur nicht finden«, versicherte Tacitus eilfertig. »Es gibt einen Zeugen«, erinnerte er sie ihn. »Er könnte reden, und wenn seine Aussage die falschen Ohren erreicht …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. »Niemand wird ihm glauben«, meinte er wenig überzeugt. »Warum hast du ihn nicht getötet?« fuhr Titiana ihn an. »Ich …«, begann Tacitus, nach Worten ringend, »… ich wollte nur Tremor fortbringen. Ich dachte, ich könnte ihn noch rechtzeitig zurückhalten, aber es war schon zu spät. Er hatte das Mädchen bereits getötet.« »Narr«, zischte Titiana, so abfällig, daß es Tacitus wehtat. »Wir müssen diesen Burschen zum Schweigen bringen, bevor er reden
kann.« Tacitus erhob sich rasch. »Ich werde –« »Nichts wirst du!« fuhr Titiana ihn an. »Ich übernehme das. Kümmere du dich nur um Tremor und sorge dafür, daß er unseren Plänen nicht ein weiteres Mal zuwiderhandelt.« Noch einmal ließ Titiana den Blick in die Tiefe wandern. Dort entfernten sich gerade die beiden Ambulanzfahrzeuge. Im Schrittempo krochen sie durch das enge Gassenlabyrinth. Was nun geschah, hatte Tacitus tausendmal und öfter gesehen. Und doch faszinierte es ihn jedes Mal aufs neue. So wie Titiana eben nichts von ihrer Faszination einbüßte – ganz gleich, was sie tat oder ihm antat. Sie war für ihn sehr viel mehr als nur eine Artgenossin und Gefährtin – sie schien eine Hexe zu sein, deren Zauber er irgendwann rettungslos erlegen war und von deren Bann er sich nie mehr hatte befreien können. Und, wenn er es recht bedachte, hatte er es auch nie wirklich gewollt. Aber vielleicht war auch das nur Teil des Fluches … Titiana verwandelte sich. Dutzende von Dingen geschahen zugleich. Ihre Arme veränderten in einer fließenden Bewegung ihre Form, Flughäute wuchsen knirschend daraus, gewaltig erst, dann rasch kleiner werdend. Ihre Kleidung verschwand, und dies war der Moment, den Tacitus stets am meisten genoß – wenn er ihren herrlich Leib vollkommen nackt betrachten durfte. Denn obwohl er ihr unzählige Male hatte zu Willen sein dürfen, so hielt sie ihn in sexuellen Dingen doch eher kurz und holte sich anderswo Befriedigung, wenn ihr danach war. Das tat natürlich auch Tacitus, aber mit keiner Frau der Welt war der Akt je so gewesen wie mit Titiana – jedes Mal kam es ihm vor, als würde die Welt vergehen und neu entstehen, wenn sie es taten. Entsprechend verlangte ihm danach, doch Titiana ließ es nur selten
zu. Denn auch dies war eine Art, in der sie ihn lenken und fest im Griff halten konnte … Ihre Haut war von milchiger Blässe, und Tacitus konnte die samtene und kühle Weichheit fast spüren. Eine Tätowierung ersetzte Titianas Schambehaarung, und auch ihre Brüste waren solcherart verziert. Tacitus stöhnte auf, als das Pochen in seinen Lenden schmerzhaft wurde. Und es wurde noch schlimmer, als Titiana verschwand, als flatternder Schatten mit der Nacht verschmolz. Einen Moment lang war Tacitus versucht, die Stadt heimzusuchen, nur um das Feuer seiner Lust zu löschen. Ein dumpfer Laut hinter ihm ließ ihn den Gedanken jedoch vergessen, und augenblicklich war auch seine Begierde dahin. Sanftmut und Milde kehrten in seine Züge und seinen Blick zurück, als er sich zu Tremor umwandte. Der hockte da wie ein viel zu groß geratenes Kind, das von seinen Eltern verlassen worden war – vielleicht seiner abstoßenden Häßlichkeit wegen … Tacitus berührte ihn an der Schulter. »Komm mit, wir gehen – nach Hause.« Er lächelte schwach bei dem Gedanken daran, daß sie wieder ein Zuhause haben könnten – ihre alte Heimat. »Nach Hause«, echote Tremor dumpf. Tremor erhob sich. Jede noch so geringe Bewegung kündete von der Kraft, die seinem verheerten Körper innewohnte. Dem Schatten eines monströsen Dämons gleich stand er schließlich da, Tacitus fast um Haupteslänge überragend. Durch eine Öffnung im Dach stiegen sie in das Haus hinab; über Treppen ging es dann weiter hinunter. Die Stufen knirschten und ächzten unter ihrem Gewicht. Als eine brach und Tremor zu stürzen drohte, war Tacitus sogleich zur Stelle, um ihm zu helfen. Wie immer in all der langen Zeit. Stets war Tacitus dagewesen, um
Tremor beizustehen. Und er sah mehr darin als eine Pflicht, die ihm ihrer beider Blut auferlegte. Tacitus schuldete ihm diese Fürsorge. Weil letztlich er die Schuld am Schicksal seines Bruders trug.
* Tacitus’ Erinnerung Die Schwärzung unseres Blutes hatte das besondere Band zwischen uns nicht aufzulösen vermocht. Wir waren Brüder gewesen im Leben, und wir blieben es auch nach dem Tode, den wir überwanden, kaum daß ihn uns der Hüter des Lilienkelches eingeflößt hatte. Unsere Namen indes hatten sich geändert. Zwar konnten wir uns an unsere vorherigen nicht mehr erinnern, nur wußten wir, wie all die anderen Kinder, die mit uns den dunklen Trunk genommen hatten, daß wir nicht Tacitus und Tremor geheißen hatten. Auf diese Namen hatte der Hüter uns im Auftrag unseres neuen Vaters, Tinto ließ er sich nennen, mit dem Kelch getauft. Unsere Entwicklung vom Kinde hin zum Erwachsenen vollzog sich rasch; Jahre des Wachstums überwanden wir im Nu. Die Unterschiede jedoch, die sich schon im zarten Alter zwischen Tremor und mir gezeigt hatten, waren von Bestand. Tremor blieb der Größere und Kräftigere von uns beiden. Es war nicht etwa so, daß ich von unscheinbarer Statur gewesen wäre. Nein, ganz und gar nicht. Nur zeigte Tremors Stärke sich allein schon in seiner Gestalt, und er wirkte – nun, ein wenig grobschlächtig eben, während mir Eleganz und Geschmeidigkeit anzusehen waren. Daß es trotzdem Tremor erwischte, daß die Menschen es schafften, ihn zu überwältigen, blieb mir in all den Jahren ein verdammtes Rätsel … Und Tremor hatte danach nie mehr Gelegenheit gehabt, mir im Detail darüber zu berichten. Weil er kaum noch Herr seiner Zun-
ge, geschweige denn seines geschundenen Geistes war … Seine Schreie von damals dröhnen mir noch heute in den Ohren, obschon seither etliche Jahre vergangen sind, und noch heute teile ich den Schmerz, den sie ihm zufügten – und den ich ihnen zurückzahlte, wenn auch nicht in der tausendfachen Art, in der ich es von dunklem Herzen gern getan hätte! Wie es dazu also hatte kommen können, vermochte ich mir nur zusammenzureimen, das Wenige hinzunehmend, was ich von anderer Seite erfahren hatte. Tremor waren seit jeher eine gewisse Unbedarftheit und Abenteuerlust zueigen gewesen. Diese Neigungen vor allem mochten ihm zum Verhängnis geworden sein. Er hatte es oft darauf angelegt, sich den Grenzen des Risikos bis zum Äußersten zu nähern, und nicht immer hatte ich ihn bremsen können. So war Tremor recht häufig von Tinto, dem Führer unserer Sippe, gemaßregelt worden, und manches Mal, da war ich sicher, hatte nur der Kodex der Alten Rasse, der da heißt, daß kein Vampir den anderen töten dürfe, Tremor vor ärgster Strafe bewahrt. Ein Sprichwort der Menschen besagt, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. In dieser Hinsicht schien mein Bruder seinem schwarzen Blute zum Trotz allzu menschlich geblieben zu sein … Die Kunde, daß die verhaßten Häscher Tremor gefangengenommen hätten, verbreitete sich einem Lauffeuer gleich in unserer Sippe. Doch fand niemand sich bereit, etwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Und Tinto selbst, den ich um Hilfe ersuchte, kaum daß die Sache mir zu Ohren gekommen war, schien ganz und gar nicht unglücklich über den Lauf der Dinge und legte tatenlos die Hände in den Schoß. Heute bin ich fast sicher, daß mein damaliger Verdacht der Wahrheit nahekommt: Tinto selbst mochte die Jäger, die unter dem Banner des Verhaßten wirken, selbst auf Tremor angesetzt haben, um
sich des ungeliebten, weil allzu eigenmächtigen Sohnes auf diese Weise zu entledigen. Tintos Kontakte in die Bastion des Feindes waren ein offenes Geheimnis gewesen, und es schien eine Art Stillhalteabkommen gegeben zu haben. Anders wäre es auch kaum zu erklären gewesen, daß die Alte Rasse sich unbehelligt auf römischem Boden hatte entfalten können in all den Jahrhunderten. Meine persönliche Mutmaßung ging sogar noch weiter: Ich war und bin fast sicher, daß Tinto wahre Gefolgsleute innerhalb des Vatikans besessen hatte. Wie weit sein Einfluß indes in der dortigen Hierarchie hinaufreichte, darüber mochte nicht einmal ich Vermutungen anstellen … Nun, es war auch nicht von wirklichem Belang in jener Nacht. Fakt war einzig, daß niemand sich mir anschließen wollte, als ich aufbrach, um meinem Bruder beizustehen. Und so trat ich den Weg in die Via Alessandro Severo allein an. Mut, Zorn und Sorge von einer Art, wie sie den anderen fremd waren, trieben mich in die Höhle jenes Löwen, dessen wahrer Name Don Gabriele Amorth war – den man in Rom jedoch vor allem als den Exorzisten des Vatikans kannte!
* Der Wohn- und Wirkungssitz des Padre Amorth an der Via Alessandro Severo glich eher einer Festung denn einem Haus, in dem ein Mensch sich wohlfühlen konnte. Nun, ein Mensch, der daran vorbeiging, mochte die üble Ausdünstung des Gebäudes vielleicht nicht einmal wahrnehmen. Für mich jedoch war es, als näherte ich mich einer stinkenden Kloake, und jeder einzelne Schritt kostete mich Überwindung. Grundlos hätte ich keinen Fuß auch nur in diese Gegend gesetzt. Der bloße Gedanke an meines Bruders Schicksal jedoch setzte Kräfte in mir frei, von denen ich zuvor nicht einmal geahnt hatte.
So gelang es mir – trotzdem freilich unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, derer ich fähig war – die trutzige Mauer um das Grundstück zu erklimmen und mich in den Anlagen des parkähnlichen Gartens zu verbergen, um das Haus selbst zunächst zu beobachten. Einen Plan zur Rettung meines Bruders hatte ich nämlich noch nicht ersonnen. Wie auch? Ich kannte weder den Ort, an dem er gefangengehalten wurde, noch die weiteren Gegebenheiten … … aber ich kam auch nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen! Denn mit einemmal war mir, als könnte ich die Schreie Tremors hören – und seinen Schmerz spüren! Vielleicht war eine Art Vorbote des Todesimpulses, der die Angehörigen einer Sippe alarmierte, wenn einer der ihren starb, dafür verantwortlich; möglicherweise aber empfing ich die Signale auch über jenes besondere Band, das zwischen uns Brüdern bestand. In jedem Fall wußte ich, daß ich keine Sekunde mit theoretischen Überlegungen vergeuden durfte. Ich mußte handeln, wenn ich Tremor noch helfen wollte – und es mußte schnell geschehen! Ich zweifelte nicht mehr daran, daß mein Bruder in genau diesem Haus festgehalten wurde – und offenbar schrecklichster Folter ausgesetzt war. Sicher gab es in den Kellern entsprechende Räumlichkeiten, wo der Exorzist und seine Getreuen ihrem abartigen Werk nachgingen. Also mußte ich in das gewaltige Haus, das fast schon einem Palazzo ähnelte, hinein. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit schmiedeeisernen Gittern gesichert, aber sie waren meiner ohnehin schon nichtmenschlichen und nun noch wutgenährten Kraft nicht gewachsen. Ich riß eines aus dem Mauerwerk, setzte dann zurück und verwandelte mich. Ich wählte die Gestalt eines Wolfes, und als solcher raste ich einem gewaltigen Geschoß gleich auf das Fenster zu. Ein Splitterregen trug mich in den Raum dahinter. Scherben glitzerten in meinem Fell, und wäre jemand meiner ansichtig geworden
in diesem Moment, er hätte sich wohl einer überirdischen Erscheinung gegenüber geglaubt. Aber es war niemand da, der Zeuge meines Eindringens geworden wäre, und ehe jemand, durch den Lärm alarmiert, herbeieilen konnte, hetzte ich los. Ich nutzte die wölfischen Fähigkeiten, eine Spur aufzunehmen, und folgte ihr. Was um mich herum war, ließ ich nicht allein deshalb außer acht, weil ich mich einzig auf die Fährte Tremors konzentrieren wollte. Ich spürte die schmerzhafte Ausstrahlung der Räumlichkeiten und war sicher, daß sie mit allerlei christlichem Zierat ausstaffiert waren. Selbst der Boden unter meinen Pfoten schien mir ja beinahe glühend heiß. Weiter, befahl ich mir, schnell, ehe irgend etwas von dem verfluchten Zeug um mich her seine Wirkung auf mich vollends entfalten und mich wirklich aufhalten konnte! Als ich an einer abwärts führenden Treppe aus blankem Stein anlangte, vernahm ich Tremors Schreie nicht mehr nur imaginär. Sie stiegen von dort unten zu mir herauf und drangen auf mich ein, als wären sie gestaltgewordene Dinge, die nun mich selbst malträtierten. Ich flog die Stufen schier hinab und fand mich in einem Gewirr von Gewölben wieder. Eine Unzahl von Gängen verband Räume unterschiedlichster Größe miteinander, manche von den Ausmaßen kleiner Säle, andere wieder nur Verschläge. Die Witterung des Wolfes führte mich sicher hindurch, zudem leitete mich noch die Lautstärke der Schreie, die meinem Bruder von ärgster Pein abgerungen wurden. Schließlich erreichte ich das Ziel. Oder fand mich vielmehr darüber. Denn das eigentliche Geschehen spielte sich jenseits und unterhalb der Galerie ab, auf der ich nun stand und über deren steinerne Brüstung ich hinwegsah – auf ein Szenario, das ich mein Lebtag nie vergessen werde. Altlateinische Worte, die ich wie viele Sprachen der Menschen in
den Jahrhunderten gelernt hatte, woben etwas wie ein unsichtbares Netz über den großen Raum dort unten. Eine Reihe von dunkelgekleideten Männern sprachen sie aus, knüpften eigene Sprüche an jene, die der Nebenmann gerade aufgesagt hatte. Im Kreis umstanden sie eine Art Tisch aus starken Bohlen, der doch nichts anderes war als eine Folterbank. Denn darauf lag Tremor, Arme und Beine mit silbernen Spangen und Ketten gebunden, die sein Fleisch verbrannten und sich hineinsengten. Der Gestank wogte bis zu mir herauf. Zugleich peinigten ihn die elenden Kerle mit allerlei Dingen, von denen Kruzifixe noch die harmlosesten waren und deren Anblick mir wehtat, als würden sie mich schon berühren. Auf einen tatsächlichen Kontakt würde ich es ankommen lassen müssen. Denn wenn ich für Tremor noch irgend etwas tun wollte, dann mußte ich dort hinab und mich den Folterknechten des Padre Amorth stellen. Ich setzte mit einem Sprung auf die Brüstung, hielt für eine halbe Sekunde das Gleichgewicht, dann stieß ich mich ab – – und kam einem Unwetter gleich über die Männer, die sich anmaßten, Greueltaten im Namen eines höheren Zieles zu begehen! Zwei von ihnen starben, bevor noch der erste von allen den Mund zum Schrei öffnen konnte. Einen dritten richtete ich während meiner Verwandlung in menschliche Gestalt. Die anderen ließ ich schauen, wie mein rauschhafter Wille zum Töten und vampirische Kraft meinen Leib von neuem verformten, zu etwas, das in ihren Augen ein Monstrum sein mußte. Mein Gesicht wurde zu dem einer Bestie, meine Fingernägel zu mörderischen Krallen, und die Haut meiner Glieder schien reißen zu wollen unter dem pochenden Schwellen meiner Muskeln. Während mein Wüten den Männern Schreie entriß, die das Gewölbe wie etwas Greifbares anfüllten, hörte auch Tremor nicht auf zu brüllen. Zwar malträtierten sie ihn nicht länger mit ihren verfluch-
ten Waffen und Instrumenten, weil alle Aufmerksamkeit nun mir galt, aber die silbernen Schnallen und Ketten fügten ihm noch genug Schmerz zu, den sein geschwächter Körper kaum mehr zu verkraften schien. Ich mußte ihn befreien, doch fehlte mir die Chance dazu. Denn das Moment der Überraschung war vergangen, und nun stellten sich die Knechte des Padres mir zum Kampfe, den sie freilich nicht gewinnen konnten … … dieser Meinung war ich zumindest so lange, bis das erste Kruzifix meine Haut streifte und mir der Gestank meines eigenen verbrannten Fleisches in die Nase stieg, fast schneller noch, als ich den sengenden Schmerz verspürte! Aber sie geboten meinem Zorn damit keinen Einhalt. Im Gegenteil, ihre Gegenwehr schürte noch meinen Haß auf sie, und ich schlug um so unbarmherziger und kraftvoller zu. Ihr Blut dampfte und floß über meine Arme, wenn ich ihre Leiber auf meine Krallen spießte und ihre Eingeweide zerfetzte. Andere wieder fegte ich so hart zur Seite, daß ihnen die Hälse brachen, wenn sie gegen Wand oder Boden schlugen. Dennoch kam ich nicht ohne weitere Wunden davon, und manche würden mir ewige Erinnerungen an diese furchtbare Nacht bleiben. Schließlich jedoch hatte ich sie alle niedergemacht – alle, bis auf einen. Don Gabriele Amorth höchstselbst stand, wenn auch wankend, noch auf den Beinen und reckte mir ein fast armlanges Kreuz entgegen, solchermaßen trotzig und mutig in einem, daß es mir beinahe schon Bewunderung abnötigte. Aber eben nur beinahe … Für Padre Amorth begann in dieser Nacht ein neues Leben, und er lebt noch heute. Jedoch ward dafür Sorge getragen – ich selbst habe es ihm mit Nachdruck befohlen –, daß er die Alte Rasse künftig ignorierte und sein Wirken einzig darauf beschränkte, Besessenen den Teufel und Dämonen auszutreiben. Was durchaus im Sinne un-
seres Volkes ist … Auf mein Geheiß hin befreite Padre Amorth endlich Tremor von seinen Fesseln. Längst zu spät jedoch. Sein besonderes Leben war ihm zwar geblieben, die vampirische Heilkraft indes mußte versagen ob der verheerenden Wunden, die ihm die »Teufelsaustreiber« zugefügt hatten. Und selbst mich entsetzte ihr grausamer Einfallsreichtum. Obwohl ich versuchte, die schlimmsten Verletzungen zu behandeln, indem ich etwa die geweihten Eichenspäne entfernte, die sie unter Tremors Haut geschoben hatten, konnte ich letztlich doch nichts für meinen Bruder tun. Die Männer Gottes hatten Tremor zum Monstrum gemacht. Mit Leib und Seele. Und unser beider Verhängnis nahm seinen Lauf …
* Gegenwart Lilith Eden wußte, daß es keinen rationalen Grund dafür gab, trotzdem fühlte sie sich im höchsten Maße unwohl – in der Gesellschaft einer Toten. Sie versuchte die Zinkwandung des Sarges tunlichst nicht zu berühren. Manchmal jedoch schaukelte der Transporter so heftig um Kurven, daß sie keinen Halt mehr fand und sich nur noch an dem Sarg abstützen konnte. Er schien ihr kühler, als er es hätte sein dürfen, und jedesmal fröstelte sie wie im tiefsten Winter. Ihren Gefährte indes schienen solche Empfindungen nicht im mindesten zu plagen. Im Gegenteil, er wirkte fast zufrieden, wie er da auf der anderen Seite zwischen Wagenwand und Sarg hockte, schweigend und lächelnd, wie Lilith im trüben Schein einer kleinen Leuchte unter der Decke erkennen konnte.
Aber es war nicht nur die Tatsache, daß sie in einem zum Leichenwagen umfunktionierten Ambulanzfahrzeug unterwegs waren, die Lilith zu schaffen machte. Viel mehr sogar beschäftigte sie der Grund, aus dem sie diese Fahrt mitmachten – weil sie eben diesen Grund nicht kannte! Auf entsprechende Fragen hatte der Mann ohne Namen nicht oder nur ausweichend geantwortet. Von einer »Spur« hatte er gesprochen, und von einer »Ahnung«. Mehr war ihm nicht zu entlocken gewesen, und mit seinen vagen Andeutungen konnte Lilith nichts anfangen. Kurz bevor sie sich in den Wagen gestohlen hatten, hatte Lilith noch einmal mit dem Gedanken gespielt, es nicht zu tun, den Namenlosen allein davonziehen zu lassen. Dann jedoch wäre ihr ohnehin ungewisses Leben noch einsamer geworden, für niemanden von Bedeutung, vielleicht nicht einmal für sie selbst. Nein, da schien es ihr doch das kleinere Übel, diese Einsamkeit wenigstens mit einem anderen teilen zu können – auch wenn sie sich dafür seiner Führung anvertrauen und seinen merkwürdigen Ideen ergeben mußte. So war sie also nach ihm in den Kastenaufbau des Fahrzeugs gestiegen, nachdem sie den Schutz der größtenteils abbruchreifen Häuser verlassen hatten und der Wagen an einer besonders engen Stelle der Gasse nicht einmal mehr im Schrittempo vorangekommen war. Daß die beiden Männer vorne nicht auf ihre »Gäste« aufmerksam geworden waren, lag an der dünnen Blechwand, die Transportbereich und Fahrerkabine voneinander trennte. Eine Verbindung konnte über eine Gegensprechanlage hergestellt werden, wie Lilith inzwischen festgestellt hatte. Ansonsten hielt sich die technische Ausstaffierung des Wagens in Grenzen. Sie vermutete daher, daß der Wagen wohl in erster Linie zum Leichentransport benutzt wurde, denn eine medizinische Versorgung von Verletzten war mit der vorhandenen Ausrüstung wohl kaum zu bewerkstelligen. »Was hast du vor, wenn wir am Ziel sind – ganz gleich, wo dieses Ziel auch liegen mag?« probierte Lilith ein weiteres Mal, ihrem Ge-
fährten irgendwelche Informationen zu entlocken. »Wart’s ab«, erwiderte er nur. »Verdammt«, zischte sie, »ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache!« »Darf ich dich daran erinnern, daß ich dich nicht gezwungen habe, mir zu folgen?« gab er zurück. Sie konnte sein eigentümliches Lächeln spüren, noch ehe sie es sah. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie leise. »Vertrau mir.« Seine Hand kroch über den Deckel des Zinksarges wie eine fünfbeinige Spinne aus totenbleichem Fleisch. Eisig war ihre Berührung, trotzdem ließ Lilith es zu, daß seine Finger sich um die ihren schlossen. Leidlich tröstende Zuversicht keimte in ihr, drohte aber fast umgehend in eigenen Zweifeln zu ersticken. Lilith versuchte sich abzulenken und nicht daran zu denken, wo sie sich befand – und dabei verfiel sie auf einen Gedanken, den sie zuvor schon zu verdrängen versucht hatte. Das Gefühl jenes besonderen, seltsamen Durstes, den offenbar nichts zu stillen vermochte … Wenn sie nicht daran dachte, dann war es, als gäbe es ihn nicht – oder wenigstens nicht in dem Maße, daß sie ihn als quälend empfunden hätte. Nun jedoch, da sie sich seiner wieder erinnert hatte, verspürte sie diesen Durst, und er schien ihr mit noch mehr Macht zurückgekehrt. Er äußerte sich nicht in trockener Kehle oder sandigem Gaumen, sondern als kaltes Brennen, das tief in ihr saß und fraß, vielleicht in ihren Eingeweiden selbst. So jedenfalls fühlte es sich an. Unwillkürlich beugte sie sich ein wenig vor, als würden Bauchkrämpfe sie plagen. Lilith wußte, daß ihr Gefährte diese Art von Durst ebenfalls kannte, und auch die Symptome waren bei ihm die gleichen. Nur hatten sie es in den vergangenen Stunden vermieden, darüber zu sprechen.
Weil auch er diesen Brand nur verdrängen konnte, wenn er nicht daran dachte. Trotzdem – über kurz oder lang würde ein Problem daraus werden. Denn nichts, was sie bislang versucht und zu sich genommen hatten – von Wasser bis hin zu Wein –, hatte diesen Durst gestillt … Denk an etwas anderes! hämmerte Lilith sich ein, denn je länger sie darüber nachsann, desto ärger wurde dieses peinigende Gefühl. Der Gedanke verging, von einem Moment zum nächsten. Weil etwas ganz und gar anderes Liliths Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Etwas jedoch, das ihr fast noch schlimmer schien als ihr Durst. Ein Klopfen, dumpf und dröhnend. Etwas schlug gegen Metall. Jemand schlug gegen – – den Deckel des Sarges! � Von innen! � Lilith spürte den Schrei in ihrer Kehle aufsteigen, wollte ihn zurückhalten, doch sie fühlte sich wie gelähmt, zu keiner willentlichen Reaktion fähig. Ein Laut, der ihr lächerlich und entsetzlich in einem vorkam, drängte über ihre Lippen, während sie mit aufgerissenen Augen die Zinkwanne anstarrte, aus der nach wie vor schaurige, unmögliche Geräusche drangen! Ihr Gefährte schien kaum weniger überrascht. Doch überwand er den Schrecken ungleich schneller. Die Faszination in dem Blick, mit dem er den Sarg maß, schien Lilith fast schon abartig. Und dann tastete er nach den Verschlüssen zu beiden Seiten des Deckels! »Was tust du da?« stieß Lilith entsetzt hervor. »Na, was wohl?« Mit klickenden Geräuschen schnappten die Verschlüsse auf. »War sie denn …«, stammelte Lilith, »… ich meine … ist sie denn nicht …?« »Tot?« fragte er über den Sarg hinweg.
Sie nickte. »Wer weiß? Wir werden es gleich erfahren.« Wieder wurde von unten gegen den Deckel geschlagen, nach dem der Mann ohne Namen gerade gegriffen hatte, um ihn abzuheben. Das erübrigte sich – – denn der Sarg öffnete sich, als wäre darin etwas explodiert! Der Deckel flog zur Seite weg. Hart prallte das Teil gegen Lilith. Mit einem Aufschrei stürzte sie erst gegen die Fahrzeugwandung, dann rutschte sie, den Deckel wie haltsuchend umklammernd, zu Boden. Während das Mädchen, das unmöglich leben konnte, sich aus seinem Sarg erhob. Ein einziger Blick genügte Lilith, um zu wissen, daß, was immer dieses Mädchen auf die Beine zwang, kein Leben sein konnte, wie sie es kannte. Ein, zwei Sekunden stand das Mädchen mit der zerrissenen Kehle wie unschlüssig da, als wüßte es weder, wo es war, noch, was es tun sollte. Einen Augenblick lang starrte es den Namenlosen an. Taxierte ihn. Wandte sich ab. Lilith zu! Der stechende Blick des Mädchens erschien Lilith allein schon wie ein Angriff. Der wahre erfolgte noch in derselben Sekunde! Das Mädchen stürzte sich aus dem Stand auf Lilith, die Finger zu Klauen gekrümmt, mit denen sie nach Liliths Gesicht stieß. Fletschte Zähne, die es zuvor nicht besessen haben konnte. Lilith schrie. Heiseres Fauchen schlug ihr entgegen, getragen von einem Gestank nach altem Blut und Grab. Die Ereignisse überschlugen sich.
*
»Was war das?« Giovanni Fini wandte sich ruckartig dem Fahrer des Wagens zu. Sie befanden sich fast schon am Fuße des Aventin, des grünen Hügels der Klöster und Kirchen, auf dem auch »ihr« Krankenhaus lag, als das Geräusch ihn aufschreckte. »Was?« machte Silvio verwirrt. Er schien in Gedanken weit weg gewesen zu sein und nur widerwillig in die Gegenwart zurückzukehren, in der ihm die unerfreuliche Aufgabe zukam, eine Leiche durch Rom zu chauffieren. »Ein Geräusch«, sagte Giovanni knapp. »Ich habe nichts gehört.« »Natürlich nicht, du Penner.« »Fragt sich, wer angenehmer träumt – du oder ich«, gab Silvio zurück. »Während du Geräusche hörst, träume ich von Schwester Lucia, diesem kleinen Luder. Davon, wie ich sie in der Wäschekammer …« »Da!« Giovannis scharfer Ruf ließ ihn innehalten. Außerdem hatte er es jetzt auch gehört. »Das …«, begann er erschrocken, »… das kam von … da hinten!« Silvio wies mit dem Daumen über die Schulter; dorthin, wo doch Totenstille im wahrsten Sinne des Wortes hätte herrschen müssen. Die Geräusche wiederholten sich, wurden lauter, und schließlich hörten die beiden jungen Sanitäter sogar – Schreie? Giovanni hieb regelrecht auf die Taste, mit der die Gegensprechanlage aktiviert wurde. »Hey!« rief er ins Mikrofon, das auf einem flexiblen Gestänge aus dem Armaturenbrett ragte. Zitternd fragte er: »W-wer ist da?« »Wer soll da sein?« flüsterte Silvio. »Da kann doch niemand sein. Jedenfalls niemand, der dir antworten könnte.« Aber der Lärm aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs war nicht zu
leugnen. Silvio trat auf die Bremse. Sehr viel heftiger, als es ratsam gewesen wäre – und inmitten einer Kreuzung, auf der auch zu dieser nachtschlafenen Zeit noch Betrieb herrschte. Nicht sehr viel, aber genug, um – »Verdammt!« In einer völlig absurden Reaktion schlang Silvio die Arme um den Kopf, als könnte er damit noch etwas verhindern. Giovannis Kopf ruckte herum. Etwas verdunkelte das Seitenfenster der Fahrerkabine. Dann ein dröhnendes Krachen, das er bis in die Haarwurzeln spürte. Metall kreischte. Glas splitterte. Der Lastwagen stieß das Ambulanzfahrzeug förmlich davon, holte es noch einmal ein, rammte es von neuem. Der Transporter kippte. Haltlos stürzten Silvio und Giovanni durcheinander. Blut floß. Und Giovanni konnte das Knacken hören, mit dem sein Arm brach.
* Kurz zuvor … … hatte Lilith Glück im Unglück. Noch immer hielt sie den Zinkdeckel des Sarges fast krampfhaft umklammert. Als sich das untote Mädchen nun auf sie stürzte, schaffte sie es – eher im Reflex denn beabsichtigt – ihn zwischen sich und die Angreiferin zu bringen. Mit einem dumpfen Laut prallte das Mädchen dagegen. Die Gewalt und das Gewicht von Deckel und Mädchen trieben Lilith die Luft aus den Lungen. Keuchend zog sie die Knie an, stemmte die Füße von unten gegen den Deckel und legte dann ihre ganze Kraft in den Stoß! Wie vom Katapult geschleudert flogen Sargdeckel und Mädchen nach hinten weg. Die Trennwand zur Fahrerkabine stoppte das halt-
lose Taumeln der Untoten. Kaum hatte es sich aufgerichtet, wollte sich das Mädchen von neuem auf ihr Opfer stürzen. Doch der Mann ohne Erinnerung war schneller. Mochte er auch seinen Namen nicht kennen und nicht wissen, wer er war, so hatte er eines doch weder vergessen noch verlernt: zu kämpfen, hart und kompromißlos! Ein rascher Schritt brachte ihn neben das Mädchen. Dann holte er auch schon mit der Faust aus und schlug zu. Der Hieb war von solcher Gewalt, daß es schien, als würde der Kopf der Kreatur vom Hals gerissen. Haut platzte auf; vom Kinn bis in die Wange zog sich die Wunde. Zähes Blut quoll hervor, benetzte auch die Finger des Namenlosen. Für einen endlosen Moment schien er zu vergessen, was er eben zu tun im Sinn gehabt hatte. Als wäre alles andere mit einemmal ohne jede Bedeutung, starrte er wie gebannt auf seine blutbesudelte Hand, und dann – Lilith würgte. Als sich die Zunge ihres Gefährten über dessen Lippen schob, er die verschmierte Hand hob – und darüber leckte! Doch kaum hatte er das Blut der untoten Kreatur geschmeckt, spie er es auch schon aus! Enttäuschung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, eine halbe Sekunde lang; dann steigerte sich der Ausdruck darin zu blanker Wut. Und die wiederum entlud sich in einem weiteren, diesmal wirklich mörderischem Hieb. Weit wurde der Kopf des Mädchens mit einem Ruck in den Nacken getrieben. Weiter, als Nackenmuskulatur und Rückgrat es erlaubten. Lilith glaubte etwas wie ein feuchtes Reißen zu hören, und ein dumpfes Knacken … Wie eine Marionette, deren Fäden allesamt auf einmal gekappt worden waren, sank das Mädchen an der Kabinenwand entlang zu Boden. Tot. Diesmal wirklich tot.
Erst jetzt vernahmen Lilith und ihr namenloser Begleiter die Stimme. Krächzend kam sie aus einem kleinen Lautsprecher in der Kabinenecke. »… ist da?« Und eine andere: »Wer soll da sein? Da kann doch niemand sein. Jedenfalls niemand, der dir antworten könnte …« Noch immer wütend, langte der Mann ohne Identität nach dem Lautsprecher und riß ihn aus der Halterung, um ihn schnaubend gegen die Wand zu dreschen. Knirschend zersplitterte das Plastikgehäuse. Splitter zerschnitten ihm das Fleisch seiner Finger. Rasch trat er auf Lilith zu. »Alles in Ordnung?« fragte er so fürsorglich, wie sie es von ihm nie erwartet hätte. Sie nickte hastig. »Wirklich?« hakte er nach. »Ja, es geht schon. Mir ist nichts passiert.« Seine Finger strichen sanft über ihre verletzte Wange, verwischten das Blut, das aus den Kratzern getreten war, und hinterließen Spuren seines eigenen darauf. Im diffusen Licht der Deckenleuchte schien ihrer beider Blut vom selben Ton – dunkelstes Rot … Und wieder konnte Lilith beobachten, wie ihr Gefährte sich veränderte. Als würde er übergangslos in Bann geschlagen. Wovon? Wieder hob er die Hand zu seinem Gesicht. Dann roch er an den Fingern, an denen ihr Blut klebte, und wieder leckte er daran. Diesmal spuckte er nicht aus. Statt dessen hielt er ihr seine verletzte Hand hin. Seine verletzte Hand? Lilith stutzte. Die Schnitte bluteten kaum noch, waren fast nicht mehr zu sehen … »Was …?« fragte sie zweifelnd. »Koste«, forderte er sie auf.
Und sie tat es. Wie von selbst. Gegen ihren eigentlichen Willen. Allen Ekel überwindend. Liliths Lippen berührten seine schwach blutenden Finger wie zum Kuß. Dunkle Feuchte netzte sie, Tropfen rannen auf ihre Zunge, kühl und zäh – und köstlich. Ganz anders, als sie geglaubt hatte, daß Blut schmecken müßte – nicht metallisch und warm, sondern auf eine Art würzig, wie Lilith es nie zuvor empfunden hatte. Diese Würze, dieser Geschmack wollte ein wildes Feuer in ihr wecken, das – Doch dazu kam es nicht. Die Welt um sie her verging in Splittern und Kreischen. Und sie versank in Finsternis. Schwarz wie – Blut …? Diesen Gedanken begriff Lilith schon nicht mehr.
* »Bei der Heiligen Mutter Gottes! Schau sich das einer an!« Silvio taumelte umher, in einer Tour entweder fluchend oder jammernd, während Giovanni sich auf letzteres beschränkte. Er kauerte an den umgestürzten Ambulanzwagen gelehnt da, hielt sich den gebrochenen Arm und versuchte tunlichst nicht auf seine Verletzung hinabzusehen. Zwar wurde er fast täglich mit schlimmeren Anblicken konfrontiert, aber da blieben ihm wenigstens die Schmerzen erspart. Nun aber, da Teile des zersplitterten Knochens dornengleich aus seinem Fleisch ragten … Das Treiben um ihn herum lenkte ihn zumindest ein kleines bißchen von seinem eigenen Dilemma ab. Inzwischen war ein Notarzt mit entsprechendem Team eingetroffen, von Zeugen alarmiert. Der Fahrer des Lastwagens, der ihren Transporter gerammt hatte, war nur leicht verletzt, und auch Silvio schien mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Untersuchen
würde man sie freilich trotzdem. Was im Transportraum ihres Wagens geschehen war, darauf konnte Giovanni sich keinen Reim machen. Tatsache war wohl, daß sich zwei blinde Passagiere eingeschlichen hatten. Eine geradezu betörend schöne junge Frau und ein Mann, der selbst jetzt, da er reglos kaum vier Schritte von Giovanni entfernt auf dem Asphalt lag, auf geradezu unheimliche Weise unnahbar und furchteinflößend wirkte. Im Scheinwerferlicht der Fahrzeuge, die sich rings um die Kreuzung stauten, konnte Giovanni den seltsamen Mann gut sehen. Eine Antwort auf die Frage, was er und seine Begleiterin bewogen hatte, in den Leichentransporter zu steigen, brachte ihm das natürlich nicht. Vielleicht zwei Freaks, überlegte er, die es mal an einem ungewöhnlichen Ort hatten treiben wollen … Die junge Frau wurde gerade auf eine Trage gebettet, die Sekunden später in ein bereitstehendes Fahrzeug geschoben wurde. Mit dem Fremden befaßte sich der Notarzt, den der junge Sanitäter von gemeinsamen Einsätzen her kannte. »Was ist mit ihm?« rief er dem Mediziner zu. Der zuckte die Schultern. »Keine Lebenszeichen«, erwiderte er. »Ich kann zwar keine Verletzungen feststellen, zumindest keine, die tödlich wären, aber –« Er sprach nicht weiter und warf Giovanni nur einen bezeichnenden Blick zu. »Jag ihm ein paar Volt in die Brust«, schlug der junge Mann vor. »Vielleicht steht er ja auch darauf.« Sein Grinsen konnte nur der als nicht fehl am Platze empfinden, der wie Giovanni fast täglich mit dem Tod konfrontiert wurde und gewisse Schutzmechanismen entwickelte – absonderlichen Humor etwa. »Was?« fragte der Notarzt verwundert. »Schon gut«, sagte Giovanni. Seine Vermutungen über die Beweg-
gründe des Fremden behielt er für sich. Der Notarzt ließ sich das Reanimationsgerät bringen. Eilends machte er den Apparat bereit, während ein Assistent die Brust des Toten freilegte. Der Mediziner setzte die beiden Kontakte an und nickte einem Dritten zu. Der drückte eine Taste des Geräts – – und der Tote bäumte sich auf. Sackte zurück. Blieb liegen. � »Noch einmal«, rief der Notarzt. � Wieder ließen hohe Voltzahlen den leblosen Leib tanzen. � Der Notarzt überprüfte Puls, Herzschlag und Atem des namenlosen Mannes. »Nichts zu machen«, murmelte er. »Verdammt …« Er neigte dazu, jeden Patienten, den er an den Sensenmann verloren geben mußte, als persönliche Niederlage anzusehen. Auf Dauer eine zermürbende Sicht der Dinge, aber er kam einfach nicht dagegen an. Diesmal jedoch – Dem jungen Mediziner versetzte es einen Schlag, als jagten plötzlich Stromstöße durch seinen Körper. Seinen beiden Assistenten wie auch Giovanni erging es nicht anders. Sie zuckten zusammen und verharrten dann stocksteif, wie in der Bewegung eingefroren. Was sie hörten und sahen, war den Worten des Notarztes zufolge unmöglich. Und doch gab es keinen Zweifel, nicht den geringsten. Der Mann, dessen Tod der Mediziner vor kaum einer halben Minute festgestellt und niedergeschlagen akzeptiert hatte, richtete sich auf. Und er sprach! Aufgebracht und erbost, fast schon wütend! � »Idioten! Wollt ihr mich umbringen?« �
* Zu dieser später – oder eher schon wieder frühen – Stunde, da die Touristengruppen fehlten und der Verkehrsfluß kaum nennenswert war, erinnerte die Via Appia Antica noch am ehesten an jene Zeit,
als sie angelegt worden war. Im Jahre 312 war mit dem Bau der fast 200 Kilometer langen Verbindung zwischen Rom und Capua begonnen worden. Der laue Wind sang in den Pinien und Zypressen ringsum, und phantasiegesegnete Naturen mochten darin Lieder erkennen, die von der Glanzzeit der Regina viarum, der Königin der Straßen, erzählten. Tacitus kannte diese Zeiten nicht aus eigener Anschauung. Sein zweites Leben und das seines Bruders, das ihnen aus dem Lilienkelch geschenkt worden war, hatte erst Jahrhunderte später begonnen. Zu einer Zeit, da selbst die Katakomben entlang der Via Appia nur noch Relikte der Vergangenheit gewesen waren und nicht mehr für Begräbnisse genutzt wurden. Dennoch wußte er natürlich um ihre Geschichte. Historische Studien hatten seit jeher zu seinen favorisierten Beschäftigungen gezählt. Die römische Campagna war hervorragend geeignet gewesen, um unterirdische Gänge und Gewölbe anzulegen: Ihr weicher Tuffstein ließ sich mühelos aushöhlen, im Kontakt mit der Luft wurde er dann steinhart. Seit dem 2. Jahrhundert hatten die Christen, weil ihnen die Feuerbestattung verboten gewesen war, ihre Toten in unterirdischen Gemeinschaftsgräbern hier draußen, vor den Mauern Roms beigesetzt, denn Grundstücke waren zu jener Zeit ebenso teuer wie knapp gewesen. Außerdem verbot das römische Gesetz Bestattungen innerhalb der Stadt. Gelegentlich hatte man sich in den Katakomben auch zum Gottesdienst versammelt. Eine Vorstellung, die Tacitus schaudern ließ … Mit der Zeit verloren die Katakomben ihre Bedeutung als Begräbnisstätten. Die meisten Toten gerieten in Vergessenheit, die Gräber der Märtyrer wurden in Kirchen umgebettet. Bald schon erinnerten die Menschen sich nicht einmal mehr daran, wo sich die Zugänge zu den Katakomben befanden. Ein Umstand, der die geheimen Herrscher Roms auf den Plan gerufen hatte. Schließlich hatte ihnen mit den Katakomben ein Versammlungsort zur Verfügung gestanden, der wie geschaffen für
Vampire schien: abgelegen und vergessen, kühl und dunkel. Und so war die Sippe für lange Zeit in den Tiefen der einstigen Grabstätten ansässig geworden. Bis … Tacitus seufzte schwer. Bis vor einigen Jahren waren die Kallistus-Katakomben, die sich auf vier unterirdischen Ebenen über eine Grundfläche von 12.000 Quadratmetern erstrecken, die Heimstatt der hiesigen Vampire gewesen. Dann war etwas geschehen, das sie zu einem Ortswechsel gezwungen hatte. Tacitus entsann sich nur allzu gut an dieses Etwas. Während er, Tremor wie ein Kleinkind mit sich führend, in die Katakomben eindrang, durch düstere, nur von Öllampen erhellte Gänge und an Grabnischen vorüberging, bis in Bereiche hinein, die kein Tourist je zu Gesicht bekommen würde, eilten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit dieses Ortes.
* Tacitus’ Erinnerung Meinen schwerverletzten Bruder unbemerkt vom verfluchten Hause des Padre Amorth in die Katakomben des San Callisto zu bringen, hatte sich als das härteste Stück Arbeit erwiesen, das ich je zu verrichten hatte. Tremor war kaum in der Lage, aus eigener Kraft mehr als einen Schritt zu tun, und so mußte ich ihn schleifen und schleppen. Nun ist die Kondition eines Vampirs der eines Menschen zwar haushoch überlegen, unerschöpflich indes ist sie nicht. Immer wieder mußten wir rasten und uns verbergen, denn obwohl wir die Aufmerksamkeit eines Menschen im allgemeinen nicht zu fürchten brauchten, wäre sie mir in dieser Nacht doch höchst ungelegen gekommen. Als der Morgen graute und wir kaum die Hälfte des Weges zum
Versammlungsort unserer Sippe zurückgelegt hatten, entschied ich mich dazu, ein Taxi anzuhalten. Der Fahrer war entsetzt ob des Anblicks, den Tremor bot. Aber sein Grausen währte nicht lange. Ich nahm dem Mann die Erinnerung an unser Auftauchen, die Fahrt und das Ziel. Zunächst. Später dann noch sein Leben. Weil Tremor über fürchterlichen Durst zu klagen begann. Ihm dabei zuzusehen, wie er den Mann schier leersoff, war selbst für mich unangenehm. Es hatte nichts mehr mit Genuß gemein; vielmehr gebärdete Tremor sich einem Tier gleich. Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, an dem ich den Lauf der Dinge noch zu ändern vermocht hätte. Aber ich tat es nicht. Aus Leichtsinn vielleicht, womöglich trübte aber auch Erschöpfung meine Aufmerksamkeit. In aller Eile arrangierte ich einen Unfall, der den Anschein erweckte, der Taxifahrer könnte sich dabei den Hals gebrochen haben. Die fürchterliche Wunde an seinem Hals indes erklärte sich dadurch nicht. Es war mir gleich in dieser Stunde. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als meinen Bruder in die Sicherheit der Katakomben zu schaffen. Und endlich langten wir dort an. Warum ich Tremor vor der Sippe verbarg, vermag ich heute nicht mehr recht zu sagen. Ich handelte wohl schlicht aus dem Gefühl heraus, daß es besser wäre, sie bekämen ihn einstweilen nicht zu Gesicht; zumindest solange nicht, bis er sich halbwegs erholt hatte. Vielleicht ahnte ich aber auch an diesem Morgen schon, was es für Folgen haben könnte, wenn die unseren um Tremors Schicksal wüßten. So brachte ich meinen Bruder in eine Crypte, die weitab jener Bereiche lag, durch die man die Touristen aus aller Welt führte, und nicht minder weit entfernt von jenem verborgenen Teil der Kata-
komben, in dem unsere Sippe sich eingerichtet hatte. Dann machte ich mich auf, um Tinto und die unseren mit einer erfundenen Geschichte über die Ereignisse dieser Nacht abzuspeisen. Tremor ließ ich allein zurück. Ein Fehler … Mein Fehler!
* Ob mir die anderen je wirklich abgenommen hatten, was ich an jenem Morgen über Tremors Verbleib und meine Bemühungen, ihm zu helfen, berichtet hatte, wußte ich nicht. Meine eigenen Verletzungen, schon jetzt zum Teil vernarbt, machten jedenfalls glaubhaft, daß ich wie ein Berserker gekämpft hatte. Ob sie mir jedoch auch glaubten, daß ich letztlich unverrichteter Dinge hatte abziehen und Tremor in den Fängen des Exorzisten hatte zurücklassen müssen? Ich wußte es damals nicht, tendiere heute jedoch dazu, daß mir nur die Wenigsten Glauben schenkten. Tinto indes, unser Sippenoberhaupt, mochte zu ihnen gehört haben. Wie schon erwähnt, schien es ihm nur recht zu sein, daß ihm die Probleme mit Tremor auf diese Weise abgenommen worden waren, und überhaupt interessierte Tinto sich in erster Linie vor allem für eines: sich selbst. Er frönte in vielerlei Hinsicht den dunklen Freuden unseres Daseins und kümmerte sich wenig um die Belange der Sippe, so sie ihn nicht unmittelbar angingen. Freiheraus gesagt: Ich hielt Tinto für einen Narren, ein Trottel sogar. Ein weiterer Fehler meinerseits … Es war für mich kein Leichtes, soviel Zeit wie nur irgend möglich bei Tremor in dessen Versteck zu verbringen. Oft genug fühlte ich mich von anderen Sippenangehörigen beobachtet, als ahnten sie etwas und würden nur darauf warten, daß ich mich selbst als Lügner entlarvte. So manchen Vorwand mußte ich ersinnen, um mich aus
ihren Reihen stehlen zu können. Tremor bereitete mir mehr und mehr Sorge. Sein körperlicher Zustand besserte sich nur allmählich, aber es war abzusehen, daß er nie mehr vollends genesen würde. Er war dazu verdammt, sein Dasein fortan als Monstrum zu fristen. Sein Dasein … Was war das für ein Dasein? fragte ich mich oft. War es noch lebenswert? Eilends verbat ich mir solcherlei Gedanken. Er war und blieb mein Bruder, und ich hatte allein dafür Sorge zu tragen, daß es ihm so gut ging wie nur irgend möglich. So ließ ich ihm manchen Bluttrunk zukommen, gelegentlich schleifte ich auch ein Opfer in seine kühle Kammer, das ich, wenn er sich daran gelabt hatte, in einer der zahllosen Grabnischen verschwinden ließ. Dennoch fiel mir auf, daß mein Bruder nicht in dem Maße durstig schien, wie ich es erwartet hätte. Es kam sogar vor, daß er ablehnte, wenn ich Nachschub brachte. Allen Ernstes dachte ich damals, daß Tremor sich womöglich an Ratten gütlich tat, die er aus der Dunkelheit seiner Kammer fing, vielleicht nur, um der Langeweile Herr zu werden. Mich schauderte bei der bloßen Vorstellung, und so fragte ich nicht danach. Zumal ich wohl ohnehin keine Antwort bekommen hätte. Denn Tremors Verstand hatte in vielleicht noch schlimmerer Weise unter der Folter gelitten als sein Leib … In dieser Art vergingen drei, vielleicht auch vier Wochen. Dann geschah etwas, das mich in sehr viel stärkerem Maße erschreckte, als es nötig gewesen wäre – hätte ich nur zur rechten Zeit und gründlicher über alles nachgedacht. Tinto berief eine Versammlung ein. Die Sippe scharte sich in einer weitläufigen Kammer um ihn, die er sich nach Art der altrömischen Herrscher eingerichtet hatte, von denen er dem Vernehmen nach viele persönlich gekannt hatte. So gab es in unseren Reihen eine Le-
gende, die sich um Kaiser Neros angeblichen Wahnsinn rankte und ganz anders klang als das, was in den Geschichtsbüchern der Menschheit darüber zu lesen stand … Entgegen der Gepflogenheiten bei sonstigen Treffen dieser Art lag Tinto heute nicht auf seinem weichen Kissenlager, und auch keinem der unseren wurde ein bequemer Platz angeboten. Einem bis aufs Blut gereizten Raubtier gleich lief Tinto in der Mitte unserer Runde auf und ab, die Züge verkniffen, die Augen flackernd vor mühsam bezähmter Wut und Unruhe. Eine Ahnung beschlich mich, nicht konkret genug jedoch, als daß sie mir etwas verraten hätte. So beunruhigte sie mich nur, was fast noch schlimmer war. Ich hatte alle Mühe, mir meine plötzliche Nervosität nicht anmerken zu lassen. Lange Zeit machte Tinto keinerlei Anstalten, uns zu verraten, weshalb er die Versammlung anberaumt hatte. Irgend jemand, Tajan, wenn ich mich recht entsinne, brach das Schweigen endlich und fragte nach dem Grund. Tinto antwortete nicht, sondern griff stumm nach etwas, das er Tajan reichte. Eine Tageszeitung. Die Lettern der Schlagzeile waren groß genug, daß ich sie von meinem Platz aus entziffern konnte. VAMPIR HAT WIEDER ZUGEBISSEN Ich schloß die Augen. Mit Mühe hielt ich ein Stöhnen zurück. Meine vage Ahnung verdichtete sich. Tajan reichte die Zeitung weiter, und auch ich kam schließlich an die Reihe, den Artikel zu lesen. Darin ging es um den mittlerweile fünften Mord, der auf geradezu bestialische Weise begangen worden war. Der Täter hatte seinen Opfern die Kehle regelrecht zerfleischt, und die Leichen waren fast blutleer aufgefunden worden. Freilich ging man seitens der Polizei und Presse von einem Perversen aus, und seiner Vorgehensweise wegen hatte man ihm den Namen »Vampir« gegeben. Wie richtig
man damit lag, wußte zu dieser Stunde wohl niemand außer mir. Glaubte ich … Denn schon in der nächsten Minute machte Tinto selbst meine Annahme zunichte. »Wie ich aus sicherer Quelle weiß«, begann er, nachdem der letzte von uns die Meldung gelesen hatte, »sind Ermittlungen im Gange, die –«, er setzte eine wohlbemessene Pause, vielleicht fiel es ihm aber auch nur schwer, die folgenden Worte auszusprechen, »– auf unsere Spur führen. Hierher!« Erschrockenes Raunen geisterte durch den düsteren Raum. »Wie ist das möglich?« fragte jemand. »Haben wir die Polizei denn nicht –?« setzte ein anderer an. Tinto unterbrach ihn. »Natürlich ist die hiesige Polizei mit Dienerkreaturen infiltriert«, sagte er. »Aber wir können nicht jeden einzelnen Polizisten kontrollieren.« Wir hätten es gekonnt. Hätte Tinto in dieser Hinsicht nicht so nachlässig gehandelt. Ebenso hätten wir die italienische Regierung besser zu kontrollieren vermocht, wäre er konsequenter vorgegangen, was die gezielte Besetzung verschiedener Ämter anging. So aber war die politische Führung ein wüstes Durcheinander aus Korruption und Vetternwirtschaft, die nur persönliche Ziele verfolgte und ihre eigentliche Aufgabe nur noch von alibihaften Rundschreiben und Presseerklärungen her kannte … »Wo liegt das Problem?« fragte Tajan, ein Blutbruder von schmächtigen Wuchs und mit dem Gesicht einer Ratte. »Das Problem liegt bei einem Mann, den sie den ›Bluthund‹ nennen«, erklärte Tinto zähneknirschend. »Er scheint mittlerweile der Ansicht zu sein, daß es Vampire tatsächlich geben könnte.« »Unsere Kreaturen sollen ihn zurückpfeifen«, meinte Tajan lapidar.
»Dieser Mann gehorcht nicht auf Pfiff, mußte ich mir sagen lassen«, sagte Tinto. »Dann nehmen wir uns seiner persönlich an.« Tinto schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Die Öffentlichkeit verfolgt die Angelegenheit zu genau. Wenn diesem ›Bluthund‹ etwas zustoßen würde, wäre die Aufmerksamkeit zu groß. Man würde seine Spuren weiterverfolgen, und wir hätten letztlich nichts gewonnen.« »Was schlägst du dann vor?« fragte Tajan. Tintos Grinsen kehrte zurück, doch diesmal wirkte es verschlagen und beunruhigend triumphierend. Nun, vermutlich empfand nur ich diese Beunruhigung, zumal Tintos Blick wie zufällig auf mir ruhte. »Wir werden der Öffentlichkeit einen Täter präsentieren.« »Du meinst –?« fragte Tajan lauernd. Tinto nickte. »Ja. Einen von uns. Sie wollen einen Vampir haben, sie sollen einen bekommen.« »Aber – wen denn?« »Tremor!« »Nein!« Der Ruf war mir entfleucht, ohne daß ich etwas dagegen hätte unternehmen können. Als sich aller Blicke auf mich richteten, kam ich mir vor, als hätten sie mich selbst zum Opfer auserkoren.
* Meine Befürchtungen des ersten Momentes erwiesen sich als unbegründet – einigermaßen unbegründet zumindest. Niemand wußte, daß ich Tremor in den Katakomben versteckt hielt. Man vermutete lediglich, daß es meinem Bruder gelungen sein mochte, sich aus der Gefangenschaft des Padre Amorth zu befreien, und daß er nun gewissermaßen Amok lief.
Nun, letztere Annahme mußte ich wohl teilen. Es schien ganz so, als nutzte Tremor die Zeit meiner Abwesenheit, um auf eigene Faust seiner Blutlust zu frönen. Wenigstens ein paar der unseren jedoch gingen auch davon aus, daß ich Bescheid wüßte über Tremor. Sie abzuschütteln, wenn ich meinen Bruder aufsuchte, verlangte mir in den nächsten Tagen und Nächten immer neue Kniffe und Täuschungsmanöver ab. Wenn ich dann bei ihm war, versuchte ich ihm Informationen zu entlocken über das, was er getan hatte. Aber es war ebenso mühevoll wie sinnlos. Aus Tremor war kaum ein Wort herauszubekommen, und schon gar keines, das mir irgendwelchen Aufschluß gegeben hätte. Eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, ihn einzusperren. Das scheiterte zum einen jedoch daran, daß ich keine Möglichkeit dazu sah, zum anderen widerstrebte es mir schlicht, meinen leiblichen Bruder wie ein Tier hinter Gitter zu setzen. So blieb mir nur eines zu tun: Ich mußte ihm folgen, wenn er zum Alleingang aufbrach. Und verhindern, daß er weiteres Aufsehen erregte … Ich staunte nicht übel über die Vorsicht und das Geschick, mit der Tremor sich nächtens aus den Katakomben stahl. Jeden, der auf ihn hätte aufmerksam werden können, schien er zu wittern, noch lange bevor er Gefahr lief, ihm zu begegnen. So verbarg er sich stets rechtzeitig und schlich erst weiter, wenn der andere sich entfernt hatte. Dennoch hatte ich keine Sekunde lang Zweifel daran, daß mein Bruder letztlich nichts anderes war als ein Tier. Er handelte nicht nur wie ein solches, sondern schien auch über geradezu animalische Instinkte zu verfügen. Auf dem Weg in die dunklen Ecken Roms verhielt Tremor sich nicht minder vorsichtig. Niemand sah ihn, wenn er es nicht wollte. Und hatte er sich erst einmal ein Opfer ausgesucht, dann schlug er so rasch und zielgenau zu, daß es nicht einmal mehr Zeit für einen
Schrei fand. Zweimal war ich zu langsam, um Tremor stoppen zu können. So blieb mir nur, die Leichen auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Der Tiber erwies sich in diesen Fällen einmal mehr als hilfreich und schluckte willig die Toten, die ich, mit Steinen beschwert, in seine dunklen Fluten warf. Dann begann ich mich auf Tremors Vorgehensweise einzustellen und konnte ihn zurückhalten, ehe er seine Opfer schlug. Womit ich jedoch nichts gewann. Denn gegen seinen unbändigen Durst und seinen puren Willen zum Töten kam ich weder mit Worten noch mit Taten an. So verlegte ich mich wieder darauf, lediglich die Spuren meines Bruders zu tilgen und ihm ansonsten weitgehend freien Lauf zu lassen. Einem Menschen würde es gewiß eigenartig anmuten – aber es dauerte mich, mitanzusehen, was aus meinem Bruder geworden war; wie er sich einem Tier gleich seine Beute suchen mußte, weil ihm alle Kunst und Eleganz, mit der ein Vampir für gewöhnlich ans Werk zu gehen pflegt, abhanden gekommen waren. Ja, mehr noch – ich trauerte um meinen Bruder, obwohl er doch noch am Leben war … Von Anfang an ahnte ich, daß ich dieses »Spiel« nicht endlos würde fortsetzen können. Irgendwann würde ans Licht kommen, daß ich meinen Bruder vor den anderen verbarg und sein Treiben schützte. Zumal die Sippe ihn suchte und nach ihm fahnden ließ. Letztlich mußte ihre Jagd von Erfolg gekrönt sein. Doch ich hätte nicht geglaubt, daß man mir so auf die Schliche kommen würde, wie es schließlich geschah; und nie hätte ich daran gedacht, daß ausgerechnet sie es wäre, die mich entlarven würde … Die Nacht verhüllte den Unrat an den Ufern des Dio Tevere und verwandelte seine trüben Wasser in einen schwarzen Spiegel, auf dem die Silhouetten der mächtigen Engelsburg und die Engel und Apostel des Ponte Sant’ Angelo tanzten. Im Schatten der hohen
Ufermauern zerrte ich den leblosen Körper eines Mädchens mit mir, während Tremor ein Stück abseits wartete, daß ich seine Hinterlassenschaft beseitigte. Tatsächlich klang es wie das Schlucken eines monströsen Molochs, als die Leiche im Tiber versank. Wie viele Tote mochten an seinem schlammigen Grund wohl ruhen? Und wie viele würde ich ihrer Zahl noch hinzufügen? Ich hatte meinen Gedanken nicht laut ausgesprochen, trotzdem war es, als hätte jemand sie gehört. Denn aus dem Dunkeln erhielt ich Antwort auf meine stummen Fragen. »Wenn du so weitermachst, werden die Wasser des Flusses nicht mehr genügen, um all die Toten aufzunehmen.« Erschrocken wirbelte ich herum und erstarrte. »Du …?« entfuhr es mir dann, als sie sich aus den Schatten löste. »Mir scheint, wir teilen ein Geheimnis«, sagte Titiana lächelnd. Und es waren weniger ihre Worte als vielmehr ihr Lächeln, was mich beunruhigte.
* Titiana verriet unser Geheimnis nicht weiter. Aber natürlich schwieg sie weder aus gutem Willen noch ohne Preis. Bei meinem Blute mußte ich schwören, ihr meine Hilfe anzudienen, wann immer und wofür immer Titiana sie verlangte. Und einen solchen Blutschwur würde nur mein Tod lösen können. Ich tat es also, versprach bindend alles, was sie verlangte, und im Gegenzug half sie mir, Tremor vor den Nachstellungen unserer Sippe zu schützen. In seiner Betreuung und Begleitung lösten wir einander ab, und gemeinsam legten wir Tremors Häschern falsche Fährten aus. Während dieser Zeit lernte ich Titiana besser kennen. Zuvor hatte
mich mit ihr, obwohl wir vom gleichen Blute waren, nicht sehr viel verbunden. Wir verfolgten weder gemeinsame Interessen, noch waren wir zusammengekommen, wenn es um Belange der Sippe gegangen war. Jetzt aber erfuhr ich vieles über die schöne Vampirin – und das wenigste davon wollte mir gefallen. Schon bald stand für mich außer Zweifel, was Titianas Ziel war: Sie wollte einen Machtwechsel. Zumindest aber schien sie nicht länger willens, eine von vielen zu sein – sie wollte die eine sein. Und das hieß, daß sie an Tintos Thron sägte, heimlich freilich, und sie ließ sich Zeit. Aber irgendwann würde sie ihn so ins Wanken gebracht haben, daß er fallen würde. Und dann wollte sie bereitstehen, um an Tintos Platz zu treten. Zu diesem Zwecke also hatte sie sich meiner Hilfe versichert, und womöglich waren ihr auch andere Sippenangehörige verpflichtet, ich wußte es nicht. Sicher war ich mir jedoch, weshalb ihre Wahl auch auf mich gefallen war: Tremors wegen. Sie schien ihn als eine Art Geheimwaffe zu betrachten, die sie im Kampf gegen Tinto zum Einsatz bringen konnte. Daß es sich tatsächlich so verhielt, verriet sie mir selbst in einer Nacht, nicht lange nach jener, da ich den Bluteid geleistet hatte. Wir befanden uns auf dem Weg zu Tremors Versteck, das wir im übrigen fast nächtlich wechselten, und Titiana sagte mir ganz offen, daß der Zeitpunkt, da sie Tinto stürzen wolle, schon nahe wäre. Ich versuchte sie von ihrem Plan abzubringen, indem ich sie daran erinnerte, daß der Fortbestand unserer Rasse durch den lange zurückliegenden Verlust des Lilienkelches gefährdet sei. »Wir sollten vielmehr den Stand unseres Volkes als ganzen festigen, anstatt die Macht von innen heraus zu untergraben«, meinte ich. »Unsinn!« erwiderte sie schnippisch. »Gerade weil wir uns mit diesen Bedingungen arrangieren müssen, ist es notwendig, die alten Führungspositionen neu zu besetzen. Neue Ideen aus neuen Köp-
fen, verstehst du?« Ich schüttelte den Kopf und nickte dann doch. »Ich verstehe wohl, was du meinst«, sagte ich. »Aber bedenke, daß du mit deiner Eigenmacht die gesamte Alte Rasse gegen dich aufbringen könntest. Du wärest deinem Ziel, neue Wege zu beschreiten, nicht nähergekommen. Statt dessen hättest du dich und jene, die dir vielleicht folgen würden, in eine Sackgasse manövriert. Eine Veränderung, wie sie dir vorschwebt, müßte aus einer kollektiven Bewegung heraus entstehen. Ein Umdenken wäre erforderlich …« »Es muß ein Zeichen gesetzt werden!« beharrte Titiana. »Nur dann wird sich etwas bewegen.« Die Stimme drang aus dem Dunkel der Katakomben zu uns heran, und sie stoppte uns beide zugleich, als bauten sich ihre Worte vor uns zu einer Mauer auf: »Höre auf deinen Freund. Er scheint mir eine Spur klüger als du.« Zehn oder zwölf Schritte entfernt, gerade in einer Entfernung, die der nachtsichtige Blick unserer Rasse nicht mehr erhellte, schien die Dunkelheit zum Leben zu erwachen. Es sah aus, als würde sich die Finsternis dort bewegen und schließlich ballen, dann nahm sie Kontur an. Die Kontur eines Mannes – – einer Legende! � Titiana und ich hauchten den Namen wie aus einem Munde. � »Landru …?« �
* Jeder unseres Volkes kannte ihn. Aber kaum jemand wußte etwas über ihn. Landru gehörte keiner Sippe an, noch schien er es je getan zu haben. Seine Abstammung lag ebenso im dunkeln wie seine Vergangenheit.
Nur seine Macht war dem Vernehmen nach größer als die eines jeden anderen Vampirs. Da es dafür jedoch weder Zeugen noch sonst einen Beleg gab, mußte man wohl auch diesen Punkt den Geheimnissen zurechnen, die Landru umwoben. Als sicher galt nur eines: Er hatte sich der Suche und Jagd nach dem Lilienkelch verschrieben. Jenem Unheiligtum der Alten Rasse, das einst der Hüter von Sippe zu Sippe getragen hatte, um damit vampirischen Nachwuchs zu taufen, und das vor über 250 Jahren – mitsamt seines Verwalters – plötzlich verschwunden war. Niemand wußte, wohin und weshalb, ob der Kelch gestohlen oder zerstört worden war. Seither blieben den Sippen die Nachkommen verwehrt, die allein Hüter und Kelch hatten erschaffen können. Landru folgte seit jener Zeit jedem Hinweis und jeder Spur, die auf den Verbleib des Lilienkelches hindeuten konnten. Bislang jedoch ohne Erfolg – zumindest hatte man nichts dergleichen erfahren. Neben der Jagd nach dem Artefakt unserer Rasse hatte Landru sich aber noch einer anderen Aufgabe angenommen; ob sie ihm irgendwann übertragen worden war, oder ob er sie aus eigenem Antrieb erfüllte, wußte wohl niemand zu sagen. Ich für meinen Teil glaube letzteres und denke, daß Landru diese Rolle spielte, weil niemand sie ihm streitig zu machen wagte. Wie auch immer – er erfüllte eine Art Wächterfunktion. Auf seinen Wegen, die ihn in alle Welt führten, achtete er darauf, daß die ehernen Gesetze der Alten Rasse – wie etwa der Kodex – nirgends gebrochen wurden. Übertrug man es auf die Denkweise der Menschen, so war Landru etwas wie Polizei und Richter in Personalunion. Als Richter stand er nun auch uns gegenüber. Und vielleicht auch als Henker … Wir waren Narren gewesen, Titiana ebenso wie ich. Hatte ich geglaubt, ich könnte den Nachstellungen der Sippe entgehen, so hatte Titiana gemeint, niemand würde ihrer Machtgelüste gewahr werden
oder ihnen zumindest nicht entgegenwirken. Wir hatten uns beide geirrt. Die Sippe wußte Bescheid, allen voran Tinto. In all den Jahrhunderten waren sein Desinteresse an den Belangen der Sippe und seine Selbstverliebtheit vielleicht nur Maskerade gewesen. Darunter beobachtete er scheint’s sehr wohl jede Entwicklung und das Verhalten eines jeden einzelnen seiner Blutkinder. Nur mochte sein Einschreiten bislang wohl noch nicht vonnöten gewesen sein, oder er hatte es aus dem Geheimen heraus getan, ohne daß es die Aufmerksamkeit der gesamten Sippe erregt hätte. In dieser Nacht jedoch stellte er seine Einflußnahme, die Macht seiner Position offen zur Schau. Er hielt Gericht über uns – über Tremor und mich wie auch über Titiana. In den Tiefen der Kallistus-Katakomben standen wir einem Tribunal gegenüber, dem neben Tinto und Landru auch Tajan angehörte, der sich mithin als besonderer Vertrauter unseres Führers zu erkennen gab. Hinter uns hatte sich in der Weite des Gewölbes die Sippe versammelt. Tinto hatte darauf gepocht, daß alle zugegen waren. Kein Zweifel, es sollte ein Exempel statuiert werden an uns. In der Urteilsfindung ging es letztlich um nichts anderes als um die Frage, ob der Kodex gebrochen werden dürfe – ob man uns also zum Tode verurteilen konnte! Im Grunde war die Verhandlung eine Farce; eine Verballhornung dessen, was an den Gerichtshöfen der Menschen praktiziert wurde. Dennoch konnte ich nichts albern daran finden. Vielleicht hätte ich es gekonnt, wäre es nicht um mein Leben gegangen, an dem ich womöglich mehr, in jedem Fall aber in gleichem Maße hing wie ein Mensch. Und ebensolche Sorge bereitete mir, daß Tremors Schicksal zur Entscheidung anstand. Tinto trat mit Nachdruck dafür ein, den Kodex dieses eine Mal außer acht zu lassen und uns hinzurichten. Tajan, dieser elende Speichellecker, schloß sich dieser Meinung wortreich an.
Ganz gleich, wie Landru sich nun dazu äußern würde, im günstigsten Falle stand uns nun schon die Verbannung bevor. Und das bedeutete: Ausschluß aus der Sippe und Vertreibung aus der Stadt. Die Kunde darüber würde sich in unserem Volk verbreiten, und nirgends würden wir Aufnahme, geschweige denn eine Heimstatt finden. Aller Augen hingen nun gebannt an Landru, der bislang wie teilnahmslos, fast gelangweilt hinter dem eilends errichteten Richtertisch gesessen hatte. Trotzdem hatte er keine Sekunde lang unauffällig gewirkt. Etwas an ihm, einer dunklen Aura gleich, ließ ihn zu jeder Zeit wie eine gestalthafte Bedrohung aussehen, selbst wenn er nichts tat oder sagte. Wie gedankenverloren zeichnete sein Finger die Narbe auf seiner Wange nach, und Sekunden verstrichen in eisigem Schweigen, ehe er die Stille endlich brach. »Wir werden sie nicht mit dem Tod bestrafen, denn der Kodex gewährt keine Ausnahmen.« Ein Stein fiel mir vom Herzen. Fast hätte ich sogar gelächelt. Doch es gefror mir schon im Ansatz, denn Landru sprach weiter: »Diese beiden sollen geächtet und verbannt werden.« Er wies auf Titiana und mich. »Er aber –«, sein Blick heftete sich auf Tremor, der kaum zu begreifen schien, wie ihm geschah, »– soll den Menschen ausgeliefert und von ihnen gerichtet werden. Weil zum einen sein Leben nicht mehr lebenswert ist und zum anderen seine Entartung eine Gefährdung dieser ganzen Sippe darstellt.« Mit einemmal war mir völlig gleich, was weiter mit mir geschehen würde. Sollten sie versuchen, mich zu töten – ich würde mein Leben teuer verkaufen! Aber nie, niemals und unter gar keinen Umständen würde ich tatenlos zusehen und zulassen, daß meinem Bruder ein Leid geschah – daß sie ihn ermordeten, nur weil er anders war! »Nein!« brüllte ich, und schon warf ich mich herum, packte Tremors narbigen Arm und zerrte daran.
Dieses eine Mal schien mein Bruder den Ernst der Situation zu verstehen. Er folgte mir sofort, und aus den Augenwinkeln erkannte ich, daß auch Titiana sich uns anschloß. »Haltet sie auf!« schrie Tinto hinter uns. Es hätte seiner Worte nicht bedurft. Die Sippe machte Front gegen uns. Ohne zu zögern warfen wir uns den Gegnern, die eben noch unsere Brüder und Schwestern gewesen waren, entgegen. Tremor kannte am wenigsten Skrupel. Und damit überraschte er die anderen. Den ersten, der sich ihm in den Weg stellte, zerriß er buchstäblich in der Luft. Damit war selbst die allergeringste Chance auf eine anderweitige Lösung der Auseinandersetzung dahin. Es kümmerte mich nicht. Ich folgte dem Beispiel meines Bruders, wenn auch freilich weniger rigoros, weil es mir allein schon an seiner völlig ungezügelten Kraft mangelte. Titiana schlug sich nicht minder wacker. Trotzdem senkte sich die Waage des Kampfes immer mehr zu unseren Ungunsten. Schließlich standen wir vollends auf verlorenem Posten und hätten ebenso gut aufgeben können … … wäre uns nicht Hilfe zuteil geworden, die wir weder hatten erwarten können, noch war sie zu unserer Unterstützung gedacht gewesen. Aber das Timing des Zufalls war unsere Rettung. Die Katakomben wurden gestürmt! Uniformierte stürzten in den Raum, mit gezogenen Waffen, und schon krachten die ersten Schüsse. Freilich ohne Schaden unter den unseren (in Gedanken nannte ich sie noch immer so, obgleich uns schon Welten trennten) anrichten zu können. Doch es entstand Tumult, und dieses Durcheinander konnten wir – Tremor, Titiana und ich – nutzen, um zu fliehen. Einer der Männer schoß noch auf mich. Ich lachte ihm ins Gesicht, und die Dankbarkeit, die in dem meinen Augen zu lesen war, mußte ihn schier verstört haben. Ebenso wie die Tatsache, daß ich seinen
Namen kannte. Tinto hatte ihn uns genannt und ein Foto gezeigt, auf daß wir uns vor diesem Mann in acht nahmen. »Ich danke Ihnen!« rief ich ihm zu, als die Schußwunde in meiner Brust sich bereits wieder schloß. »Vielen herzlichen Dank – Inspettore Nero Twistelli!« Dann folgte ich Tremor und Titiana, albern das Bellen eines Bluthundes nachahmend, und rannte hinaus. Einem neuen Leben entgegen.
* Gegenwart Sebastian von Soettingen hätte nichts lieber getan, als zu schreien. Seine Angst und seinen Schmerz hinauszubrüllen, hinauf zur Decke des schlichten Zimmers, in das ihn die Männer in Weiß gebracht hatten. Aber sie hatten auch noch etwas anderes mit ihm getan, ihm irgend etwas ins Blut gepumpt, das seine Kräfte lähmte. Und so konnte er nichts tun, weder sich regen noch auch nur den geringsten Laut ausstoßen. Er wünschte sich, sie hätten seine Gedanken auf gleiche Weise lahmgelegt. Vielleicht hatten sie es sogar versucht, aber die Injektion mochte gegen die Macht des Wirbels, der sie in steter Bewegung hielt, nicht angekommen sein. Sebastian von Soettingen war dazu verdammt, nur dazuliegen, stumm und starr – in der Qual seiner tosenden Gedanken. Seiner Erinnerung. An Tanja. Er war schuld an ihrem Tod! Vom Gegenteil konnte ihn auch die leise Stimme der Vernunft, die im Chaos seiner Gedanken noch nicht vollends untergegangen war, nicht überzeugen. Sebastian ließ es nicht zu. Hätte er es getan, wür-
de er aufhören müssen, sich gedanklich mit Selbstvorwürfen zu geißeln. Dann würde sein Denken sich einzig auf Tanjas wahren Mörder konzentrieren. Und das durfte er nicht zulassen! Denn es wären Gedanken, die ihn über die Grenze zum Wahnsinn gepeitscht hätten! Und eine Rückkehr von dort schien ihm ausgeschlossen. Er wußte ja nicht einmal, ob er den Balanceakt, den sein Geist auf jenem schmalen Grat zwischen Normalität und Irrsinn gerade vollführte, unbeschadet überstehen würde. Fast wünschte der junge Mann, er würde es nicht. Die Versuchung, sich in den grinsenden Rachen des Wahns fallen zu lassen, wurde sekundenlang beinahe übermächtig. Nicht zum ersten Mal seit Tanjas Tod … … an dem er die Schuld trug! Seine Gedanken drehten sich im Kreis, mal in größeren, mal in engeren, aber immer wieder gab es eine Art Kurzschluß, und alles begann von vorne, der ganze mörderische Wahnsinn, dessen Zeuge er geworden war! Vielleicht war dieses Mitansehenmüssen seine Strafe dafür, daß er Tanja in die Fänge des Mörders getrieben hatte … Sebastian dachte völligen Nonsens. Er wußte es. Konnte nichts dagegen tun. Und das Karussell des Irrsinns drehte sich weiter. Hätte ich mich in der Trattoria nicht aufgeführt wie ein Idiot, wie ein cretino – sie würde noch leben! Sebastian schluchzte und erschrak ob seines eigenen Lauts. Ließ die Wirkung des Medikaments nach? Er versuchte die Finger zu bewegen. Es gelang ihm mit sehr viel Verzögerung. Als ginge der entsprechende Befehl seines Gehirns nicht direkt über die Nervenbahnen, sondern machte Umwege durch das ganze Zimmer – durch die Schatten, die wie dunkle Gestalten in den Ecken lauerten, um sich auf ihn zu stürzen. So wie der Mörder sich auf Tanja gestürzt hatte …
Ihre Eltern hatten recht gehabt, dachte Sebastian. Er hatte nicht auf ihre Tochter achtgeben können. Sie wollten sie nicht mit ihm nach Italien fahren lassen. Er hatte ihnen versprochen, auf Tanja aufzupassen wie auf seinen Augapfel. Seine rührenden Beteuerungen hatten die Grabenstetts – im Grunde ihres Herzens rührende, schon ältere Leute mit etwas veralteten Anschauungen – schließlich erweicht. Ob sie schon wußten, daß ihre Tochter ermordet worden war? Weil er, Sebastian, sein Wort nicht gehalten hatte? Er wollte ihnen nie mehr gegenübertreten müssen. Sie würden ihn hassen, verachten. Vielleicht noch mehr als Tanjas eigentlichen Mörder. Aber er würde es tun müssen. Nicht, weil ihn etwas oder jemand dazu zwingen würde, sondern nur, weil er es mußte. Weil er sonst nie mehr in den Spiegel würde sehen können. Das würde er ohnehin nie mehr tun können, davon war er überzeugt. Er würde nicht mehr in das Gesicht eines Mannes sehen wollen, der schuld war am Tod eines Mädchens, das sein Leben noch vor sich gehabt hatte. Ein Leben, das es vielleicht mit ihm hatte verbringen wollen. Und wie hatte er ihr diesen Wunsch gedankt …? Er wünschte, der Mörder – dieses unmögliche Monster! – hätte ihn nicht verschont. Wer immer der Mann gewesen war, der die Bestie fortgeschleift hatte, Sebastian hätte gewollt, er Mann wäre erst später gekommen. Vielleicht hätte eine Minute genügt – »Sterben …«, flüsterte Sebastian. »Wenn ich … nur tot … wäre …« Verwirrt öffnete er die Augen etwas weiter, als er merkte, daß er nicht mehr allein war. Seine Sicht wurde damit jedoch nicht besser. Nebel aus dem Nichts schienen den Raum zu füllen. Sie hüllten die Gestalt neben seinem Bett ein, ließen ihre Konturen verschwimmen und formten sie ständig neu, nur um sie gleich wieder aufzulösen. »Schwester …?« röchelte Sebastian. Er glaubte langes Haar zu er-
kennen. Sein Mund war trocken, und er mußte dreimal ansetzen, ehe er um ein stärkeres Beruhigungsmittel bitten konnte. »Ich habe etwas Besseres«, entgegnete die Frau. Ihre Hände berührten Sebastians Gesicht, erst sanft, dann fest. Reißender Schmerz. Ganz kurz nur, aber lange genug, damit er noch realisieren konnte, daß sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging. Nur schlug dieser Wunsch in dem Moment, da er sich erfüllte, ins Gegenteil um! In diesem Bruchteil einer Sekunde wollte Sebastian von Soettingen leben – – und starb.
* Der Verlockung zu widerstehen, die Zähne in die Halsschlagader des jungen Burschen zu stoßen, hatte Titiana einiges abverlangt. Aber sie hätte damit aller Vorsicht zuwider gehandelt, die sie sich auferlegt hatten. Zudem wäre ihre Aktion damit hinfällig geworden – denn was hätte es genutzt, den Zeugen auf ewig zum Schweigen zu bringen, wenn sie mit seinem Tod doch nur eine neue Spur hinterließ, die auf das Wirken von Vampiren hindeutete? Sie durften nicht auffallen, heute ebensowenig wie in all den Jahren, die sie durch die Welt gezogen waren. Solange jedenfalls nicht, bis ihre Macht endlich auf ein sicheres Fundament gestellt war. Der erste Schritt in diese Richtung war mit ihrer Rückkehr nach Rom immerhin schon getan. So unbemerkt, wie sie in das Krankenzimmer eingedrungen war, verließ Titiana es auch wieder. Natürlich begegnete ihr auf den Gängen Pflegepersonal. Aber sie sorgte dafür, daß niemand sich an sie erinnern würde. Ein fester Blick in die Augen des Betreffenden, ein
paar ruhige Worte genügten. Trotzdem verzichtete die Vampirin darauf, den kürzesten Weg über die Hauptflure zu gehen. Über die Notfalltreppen schlich sie hinab, nur einmal suchte sie noch Kontakt zu einem Angehörigen des Personals, um eine Auskunft einzuholen. »Danke schön«, flötete sie dem jungen Mann zu, und als er sich wortlos abwandte, versetzte sie ihm noch übermütig einen Klaps auf die knackige Kehrseite. Titiana war bester Laune, Tremors neuerlichem Ausbruch zum Trotz und obwohl sie Tacitus für dessen Unachtsamkeit vorhin noch am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Nun aber war der Zwischenfall vergessen, mögliche Folgen abgewendet – – und sie war wieder zu Hause! � Nach zehn Jahren des Vagabundierens. � Nach zehn Jahren steter Vorsicht. � Sie hatte diese Zeit, dieses Leben gehaßt. Obschon sie hätte froh � sein müssen, daß sie es hatten führen dürfen. Denn es hatte seinerzeit nicht viel gefehlt und sie hätten ihr Leben im Kampf gegen die Sippe ausgehaucht. Wenn nicht im letzten Moment die Polizei überraschend den Versammlungsort gestürmt und ihnen – freilich unbeabsichtigt – die Flucht ermöglicht hätte. Titiana hatte sich manches Mal in den Jahren danach gefragt, ob es so etwas wie einen »Gott der Alten Rasse« geben mochte, der schützend die Hand über sie gehalten hatte … Trotzdem waren die Jahre danach die Hölle gewesen. Kreuz und quer waren sie erst durch Europa, später dann um die ganze Welt geflohen. Tremors Begleitung hatte ihnen vieles erschwert, doch sich seiner zu entledigen, das hatte Tacitus nie zugelassen. Mochte er ihr in jeder anderen Hinsicht nicht zuletzt des Blutschwurs wegen fast hündisch ergeben sein, diesen Wunsch hatte er Titiana nie erfüllt. Und schließlich hatte sie es aufgegeben. Zumal sich Tremor vielleicht ja doch irgendwann für ihre Zwecke wür-
de einspannen lassen … Monate waren vergangen, ehe sie damals in Bruchstücken erfahren hatten, wie die Angelegenheit in Rom nach ihrer Flucht weitergegangen war. Ganz hatte ihnen die Geschichte niemand erzählen können, zumal sie den Kontakt zu anderen Vampiren mieden, soweit es möglich war. Schließlich waren sie Geächtete, vogelfrei gewissermaßen, und sie mußten damit rechnen, daß Tinto oder Landru ihnen nachstellen ließen. Was die Sache in Rom anbetraf: Fakt war, daß dieser Nero Twistelli, der »Bluthund« also, die Vampirsippe doch noch aufgestöbert hatte, deren Ablenkungsmanöver zum Trotz. In der Nacht, da er die Katakomben stürmen ließ, starben viele seiner Männer unter einer Gegenwehr, für die sie nicht gerüstet sein konnten. Ihn selbst ließ man am Leben, nicht zuletzt auf Wunsch des Polizeipräsidenten, dessen Amt Tinto stets mit Kandidaten seiner Wahl besetzte – die er natürlich entsprechend »impfte«. Trotzdem verfolgte Nero Twistelli den Fall nicht weiter. Weil es einen solchen Fall für ihn nicht mehr gab. Was er darüber wußte, war binnen eines Augenblicks aus seiner Erinnerung verschwunden … Inzwischen hatte Titiana das Treppenhaus wieder verlassen. Über den Hauptkorridor des Erdgeschosses strebte sie nun ihrem Ziel zu – und ums Haar hätte sie aufgeschrien, als sie um die letzte Ecke bog! »Scusi«, murmelte Nero Twistelli wie geistesabwesend und wollte ihr schon den Weg freimachen, als er sie doch noch einen Augenblick länger ansah. »Nichts passiert«, erwiderte Titiana mit verkrampften Lächeln und schob sich an ihm und seinem Begleiter vorbei. Seinen Blick jedoch spürte sie noch in ihrem Rücken wie eine eisige Berührung, bis sie sich ihm endlich durch die nächste Gangbiegung entziehen konnte, wo sie sich gegen die Mauer preßte. Jedoch
nicht vor Erleichterung, weil Twistelli sie nicht wiedererkannt hatte. Wie hätte er auch? Nein, Titiana fühlte etwas wie einen Schlag; oder eine Woge, die auf sie zurollte und der sie sich reflexhaft entziehen wollte. Trotzdem fühlte sie sich davon berührt – und fröstelte unwillkürlich. Nicht weil ihr kalt gewesen wäre, das war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, sondern weil sie jene Woge als das erkannt hatte, was sie tatsächlich war. Eine … Aura. Mächtiger als die eines jeden anderen Vampirs. »Landru …?« stöhnte Titiana verwirrt. Sie hatte die Präsenz Landrus in den vergangenen Jahren oft genug gespürt, um sie jederzeit und überall zu identifizieren. Stets hatte sie es geschafft, einer Begegnung mit ihm zu entgehen. Und nun, ausgerechnet hier und jetzt – »Na prima! Es scheint, als wäre ich nie fort gewesen …!« zischte die Vampirin wütend und enttäuscht in einem. Ruckartig stieß sie sich von der Wand ab und eilte zu ihrem Ziel. In die »Vorratskammer« …
* Hätten sie die Wahl gehabt, die Pfleger und Ärzte hätten ihren merkwürdigen Patienten nur zu gern von dannen ziehen lassen. So aber waren sie einerseits verpflichtet, ihn als Unfallopfer zu untersuchen – und zum anderen schien er ein solches medizinisches Wunder zu sein, daß sie ihn unmöglich gehen lassen durften! Es wäre einem Verrat an der Wissenschaft gleichgekommen, diesen Mann verschwinden zu lassen, ohne ihn quasi bei lebendigem Leibe zu sezieren. Wenn er denn wirklich einen lebendigen Leib besaß … Auch diese Frage gehörte zu denen, die unbedingt einer Antwort bedurften.
Von seiner wundersamen Wiederauferstehung von den Toten abgesehen stellte jedes einzelne Ergebnis ihrer vorläufigen Untersuchungen, die sie gegen seinen Willen hatten vornehmen können, ein unlösbares Rätsel dar. So schlug zwar ein Herz in seiner Brust, aber die Frequenz war so langsam, daß sie nicht genügen konnte, seinen Körper mit Blut zu versorgen. Wobei sein Blut schon das nächste Mysterium war – – denn es war schwarz! Und kalt. Und zähflüssig wie dicker Sirup. Sein Atem – eine weitere Unmöglichkeit. Er schien sich nie zu beschleunigen, ganz gleich, wie sehr der Mann sich auch anstrengte. Und das tat er! Gerade hatte er zum zweiten Mal die ledernen Riemen zerrissen, mit dem sie ihn auf der Liege angeschnallt hatten! Ohne groß mit der Wimper zu zucken, nur mit dem Ausdruck eines Mannes, der es langsam leid war, nach lästigen Fliegen zu schlagen. »Meine Herren«, knurrte er unwillig, »ich hab’s satt!« »Aber verstehen Sie doch, Signore …«, begann einer der beiden anwesenden Ärzte, verzweifelt mit den Händen gestikulierend, »… äh, wir wissen ja noch nicht einmal Ihren Namen …« Der Patient grinste ihn an. »Und ausgerechnet das wäre eine Frage, auf die ich gern eine Antwort hätte.« »Ich verstehe nicht …?« erwiderte der Mediziner. »Nun legen Sie sich doch hin, per favore«, mischte sich der zweite Arzt ein, jünger als sein Kollege, doch nicht minder ratlos. Sein dunkles Haar klebte schon vor Schweiß. »Ich denke nicht daran!« versetzte der Mann, merklich wütender werdend. Einen nach dem anderen nahm er fest in den Blick, ganz so, als wollte er sie aufspießen. Dann knurrte er, wölfisch fast, dunkel und jedes Wort mit Nachdruck versehend: »Lassen – Sie – mich – endlich – gehen!« Und sie ließen ihn gehen. So überraschend, daß der Mann es im ersten Moment kaum regis-
trierte und keine Anstalten machte, sich zu erheben und den Untersuchungsraum zu verlassen. Die beiden Ärzte und die zwei Pfleger verloren von einer Sekunde zur nächsten das Interesse an ihm, wie Kinder, die keine Lust mehr hatten, sich mit ihren Spielsachen zu beschäftigen. Die Züge der Männer erschlafften kaum merklich, dann wandten sie sich ab, befaßten sich mit irgendwelchen Dingen, die ihnen plötzlich ungeheuer wichtig zu sein schienen. »Na also«, brummte der Mann, eher überrascht denn zufrieden. Er ordnete seine Kleidung, so gut es eben ging, denn der Unfall hatte sie arg in Mitleidenschaft gezogen. Erst als er den Raum verlassen hatte, überlegte der Mann, wo er sich nun sinnvollerweise hinwenden sollte. Er dachte an Lilith Eden, die seinen Weg seit ihrer beider Erwachen geteilt hatte, und die Art, wie er sich ihrer erinnerte, verriet ihm allein schon, daß er sie nicht missen wollte. Also würde er sie suchen müssen – später … Denn zunächst interessierte ihn etwas anderes. Nicht von ungefähr hatte der Mann ohne Namen sich von Anfang an diese Klinik zum Ziel erkoren. Den Grund dafür kannte er selbst nicht recht. Sein Wunsch war einer Art Gefühl entsprungen, und er hatte sich ihm ergeben, wollte sich davon leiten lassen, weil es ohnehin keine andere Spur gab, der er hätte folgen können. Irgend etwas an dem toten Mädchen war dafür verantwortlich gewesen. Hatte etwas in ihm geweckt. Keine Erinnerung, o nein, nicht einmal etwas ähnliches. Ihm schien, als fehlten ihm schlicht die Worte, um es zu benennen. Nun war er also ans Ziel gelangt, wenn auch auf etwas anderem Wege, als er es geplant hatte. Und jetzt konnte er vielleicht die Antwort finden auf eine Frage, die ihn seit der Entdeckung des Mordes beschäftigte: nach der Identität des Mörders! Am Tatort war der junge Bursche nicht ansprechbar gewesen, aber der Mann ohne Erinnerung hatte seinen Namen aufgeschnappt.
Nun ging er zum Empfang am Klinikeingang und fragte nach einem Patienten namens Sebastian von Soettingen. Man erteilte ihm die Auskunft ohne Rückfrage. Dann machte er sich auf die Suche nach der genannten Zimmernummer. Er fand sie im dritten Stock des altertümlichen Gebäudes. Die Tür war offen. Er trat ein. Sebastian von Soettingen schien zu schlafen. Das Gesicht hatte er tief ins Kissen vergraben. Der Mann ohne Namen zögerte nicht, ihn zu wecken. Grob packte er den Jungen an der Schulter, um ihn zu sich herzudrehen. Aber noch in derselben Sekunde ließ er ihn so schnell wieder los, als hätte er sich die Finger verbrannt! Der Kopf des jungen Mannes machte die Bewegung des Rumpfes kaum mit. Haltlos, als wäre er kaum mehr mit dem Hals verbunden, ruckte er schließlich nach. Die Augen in dem verzerrten Gesicht standen weit offen. »Verdammt«, knirschte der Mann ohne Erinnerung. Weder Bedauern noch etwas Ähnliches schwangen in seinem Tonfall mit; nur Enttäuschung lag darin. »Was haben Sie hier zu suchen?« Die Frage ging mit dem Geräusch der sich öffnenden Zimmertür einher. Die Schritte zweier Männer wurden laut und stoppten direkt hinter dem Namenlosen. »Nur ein Besuch«, erklärte der Mann mit schiefem Lächeln. »Aber sehen Sie sich diese Bescherung an …« Die beiden anderen – er hatte sie am Tatort gesehen und wußte, daß er es mit Vertretern der Policia Criminale zu tun hatte – starrten links und rechts an ihm vorbei auf den Toten hinab. Ihre Augen weiteten sich erst, verengten sich dann fast synchron. Ohne Vorwarnung stieß der schmächtigere von beiden den Mann ohne Namen schließlich zurück! Mit einer Kraft, die man in seiner Statur nicht vermutet hätte, drängte er ihn bis zur Wand, und schon
hielt er ihm die Mündung seiner Dienstwaffe vors Gesicht. »Was soll das?« begehrte der Mann auf. Dann lächelte er. »Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte …« »Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Cesare Rosati. »Na, sehen Sie …« »Ich bin davon überzeugt!« Unterstützung erhielt der Mann ohne Identität von unerwarteter Seite – scheinbare Unterstützung zumindest. Nero Twistelli trat zu ihnen. Stumm nahm er seinen Assistenten an der Schulter beiseite und dann dessen Platz dem Namenlosen gegenüber ein. Weiterhin schweigend musterte er dessen markantes Gesicht. »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?« fragte er dann endlich, nach einer langen Weile. Es klang nicht so, als wäre Twistelli davon überzeugt. Seine Zweifel und Unsicherheit waren nicht zu überhören. Und seine Züge zeigten eine Verkniffenheit, als dächte er sehr angestrengt über etwas nach. Der Mann ohne Namen lächelte bitter. »Tut mir leid, ich erinnere mich nicht.« Der Commissario nickte, schürzte die Lippen. »Sehen Sie, ich eben auch nicht. Wie heißen Sie?« Der Mann zuckte die Schultern. »Ich leide unter … Amnesie«, entgegnete er. »Ich hatte schon gehofft, Sie könnten mir meinen Namen verraten.« »Nein, leider nicht«, erwiderte Twistelli bedauernd. »Ich kann Ihnen nur eines verraten …« »Und das wä- uuhhmpff!« Der Mann ohne Erinnerung hatten den Hieb nicht kommen sehen. Mit keiner Regung hatte Twistelli ihn angekündigt. Seine Faust bohrte sich in die Magengrube des anderen und nagelte ihn regelrecht gegen die Wand. »… ich hasse Rate-Shows, im Fernsehen und im Leben«, vollende-
te Twistelli seinen Satz, als wäre nichts geschehen. Als er sich abwandte, schien er tief in Gedanken versunken und so abwesend, daß Inspettore Rosati ihn erst mit krauser Stirn musterte und schließlich fragte: »Twistelli?« »Hm?« »Alles in Ordnung?« »Ja, ja«, erwiderte der Commissario. Beiläufig wies er auf den Tatverdächtigen. »Verhaften. Abführen.« »Äh …«, machte Cesare Rosati und deutete mit dem Finger auf den Toten. Twistelli winkte ab, als wollte er nicht mehr gestört werden. »Verständigen Sie unsere Leute, und dann bringen Sie diesen Kerl ins Präsidium.« »Und Sie?« fragte Rosati konsterniert. »Ich?« Twistelli trat an das Bett des Toten. »Ich habe noch etwas zu erledigen – vielleicht …« Sichtlich unsicher, ob er seinen Vorgesetzten in diesem merkwürdigen Zustand allein lassen konnte, tat Rosati, wie Twistelli es ihm aufgetragen hatte. Er legte dem mutmaßlichen Mörder Handschellen an und schob ihn zur Tür. »Ich gehe jetzt«, sagte er dort. Twistelli nickte nur und wartete, bis die Tür hinter den beiden zufiel. Dann sah er wieder auf den Leichnam des jungen Mannes hinunter. Lange und nachdenklich. Ohne jedoch zu irgendeinem Ergebnis zu gelangen. Er wußte nicht, was seit kurzem mit ihm los war – seit er die Tote draußen in der Gasse gesehen hatte. Irgend etwas rumorte und arbeitete in ihm, doch Twistelli bekam es nicht zu packen. Es blieb ihm fremd, als handelte es sich um etwas, das nicht wirklich zu ihm gehörte und mit ihm geschah. Eher schien es Teil – eines anderen Nero Twistellis zu sein … Unsinn … »Sie sind wieder da …«, murmelte er dann. Und hatte nicht mehr
als eine ganz vage Ahnung, wovon er da sprach. Aber mit einemmal hatte er – ein Ziel vor Augen.
* »Ich bitte Sie, lassen Sie mich. Mir geht es gut, okay?« Lilith lächelte verkrampft, aber die schwergewichtige Krankenschwester, für deren Tracht vermutlich ein Sanitätszelt draufgegangen war, ließ sich nicht beeindrucken. »Ich sage Ihnen, wenn’s Ihnen gut geht, verstanden?« entgegnete sie mit der natürlichen Freundlichkeit eines Fleischerhundes. »So, und jetzt ziehen Sie das aus!« Sie wies auf Liliths Kleidung, die nicht erst seit Unfall lädiert aussah. »Ich möchte nicht …«, begann Lilith. »Kindchen, wir sind hier mutterseelenalleine, nun genieren Sie sich nicht«, übte die Schwester sich in Milde und wies in die Runde. Der kleine Raum war leer bis auf eine Liege und eine kleine Anzahl medizinischer Gerätschaften. »Sehen Sie, ich bin nicht scharf drauf, Sie zu pieksen und all das. Aber nach einem Unfall sind verschiedene Untersuchungen nun mal Vorschrift«, erklärte die Schwester. »Außerdem habe ich gehört, daß man noch ein paar Fragen an Sie hat. An Ihren Freund übrigens auch …« »Wo ist er?« fragte Lilith rasch. Sie sehnte sich nach der Nähe ihres Gefährten. Schon jetzt, da sie kaum eine Stunde von ihm getrennt war, fühlte sie sich allein. Und hilflos. Die Schwester wies mit dem Daumen, der annähernd die Stärke eines Babyarmes hatte, über die Schultern. »Ein paar Ecken weiter. Wette, er stellt sich nicht so an wie Sie. Ausziehen!« »Nein!« »Bitte«, schnaufte die Schwester. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte
Sie nicht höflich gebeten, ja?« Damit stampfte sie auf Lilith zu und wollte ihre Pranken in den schwarzen Stoff ihres Catsuits krallen. Lilith wich zurück. Doch das wäre nicht nötig gewesen. Denn ihre Kleidung ergriff eigenständig Maßnahmen zur Gegenwehr! Lilith wurde davon selbst derart überrascht, daß sie nur starr beobachten konnte, was da geschah, ohne irgendwie reagieren oder etwas verhindern zu können. Der schwarze Stoff, der einer zweiten Haut gleich auf der ihren lag, bewegte sich, schloß blitzschnell die Lücken, die darin klafften und hüllte Lilith binnen einer Sekunde bis zum Hals in nahtlose Schwärze. Dann erst passierte das eigentlich Furchterregende. Die Hülle bildete – Auswüchse! Haarfeine, aber Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Tentakeln wuchsen aus dem Stoff, führten einen Tanz auf wie Schlangen, die sich zu unhörbarem Flötenspiel wiegten. Sie verflochten sich zu einem undurchdringlichen Gespinst, das Lilith von der Schwester abschottete. Die wiederum hielt mit einem dumpfen Laut inne und wollte zurückweichen. Aber es blieb beim Wollen. Die Tentakel ließen es nicht zu. Etliche von ihnen wanden sich zu starken Strängen ineinander, die sich schließlich bewegten wie gelenklose Monsterarme und die Schwester packten. Einzelne Fäden berührten die teigige Haut der Frau – und bohrten sich hinein, zapften ihre Adern an. Und saugten! Sekunden vergingen in der Stille puren Entsetzens. Dann schlug die Schwester schwer hin. Die Tentakelstränge hatten ihr Gewicht nicht mehr halten können, als sie kurzerhand das Bewußtsein verlor. Nicht wegen des geringen Blutverlustes, sondern infolge des unerklärlichen Geschehens. Augenblicklich zogen sich die haarfeinen Fäden zurück und vereinigten sich wieder mit dem schwarzen Etwas, das Lilith kleidete. Atemlos starrte sie auf die reglos daliegende Frau hinab. Zögernd
beugte sie sich zu ihr nieder, fühlte nach ihrem Puls – und fühlte sich erleichtert. Wenn auch nur für eine Sekunde. In der nächsten schon keimte wieder Angst in ihr. Als sie ihre seltsame Kleidung musterte, mit unsicherem Blick. Dann aber verdrängte sie alle Fragen und Furcht. Die Gelegenheit, aus diesem Raum und vor dieser Krankenschwester zu fliehen, würde nie günstiger sein. Durch den Türspalt lugte sie vorsichtig hinaus auf den Flur. Niemand zu sehen. Rasch schlüpfte Lilith hinaus. Sie hatte die nächste Gangbiegung noch nicht erreicht, als sie aus dem Untersuchungszimmer hinter sich Geräusche hörte, die an ein von den Toten auferstehendes Walroß erinnerten. Lilith beschleunigte ihre Schritte, verhielt an der nächsten Tür. Ganz kurz überlegte sie, ob sie sich verstecken oder weiterlaufen sollte. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sie schweres Stampfen vernahm, das lauter wurde. Hastig öffnete sie die Tür und schlüpfte in den dahinter liegenden Raum, um die Tür sofort wieder zu schließen. Ohne sich lange umzusehen, trat Lilith weiter in das Zimmer hinein. Es war wesentlich größer als jenes, aus dem sie geflohen war. Lange Regalreihen teilten den Raum in eine Anzahl von Gängen. Draußen donnerte etwas wie ein D-Zug vorbei. Lilith atmete auf. Und hielt mitten im Atemzug inne, um zu lauschen! Ein ganz eigenartiges Geräusch drang zu ihr, und es riß nicht ab – dieses Schmatzen und Schlürfen … Erst jetzt kam Lilith dazu, sich ein wenig gründlicher umzutun. Die Regale waren gefüllt mit kleinen Behältern aus durchscheinendem Kunststoff. Ihr Inhalt war von ein und derselben Grundfarbe. In manchen der Behältnisse schimmerte es etwas heller, in anderen wieder dunkler – aber immer rot … Blutkonserven!
Lilith erschauerte. Weil die Geräusche, die sie nach wie vor vernahm, nun plötzlich einen Sinn ergaben – einen schaurigen, makaberen, widerlichen Sinn. Und doch auch einen, der etwas in Lilith weckte. Diesen elenden Durst … Hinter dem nächsten Regal fand sie die Quelle der Laute. Und ihre Befürchtung bestätigte sich. Jemand stand dort, in den Regalen links und rechts von ihm leere Behälter. Einen weiteren hielt die Person sich gerade an die Lippen, um ihn leerzusaufen! Dann warf sie ihn achtlos weg und griff nach dem nächsten. »Was … machen Sie …?« stieß Lilith hervor, angeekelt und fasziniert in einem. Die Frau wandte sich ihr so hastig zu, daß ihr dunkles Haar, nur wenig heller als Liliths, wie ein Schleier um ihr Gesicht wehte. Einzelne Strähnen blieben in dem Blut kleben, das ihre Lippen wie ungeschickt aufgetragenes Make-up verschmierte. Dennoch konnte Lilith die Zähne der anderen sehen. Weil sie nicht zu übersehen waren! »Grundgütiger!« entfuhr es ihr. »Es gibt sie also wirklich …!« »Natürlich«, lächelte Titiana.
* Achtlos ließ die Vampirin die Blutkonserve, nach der sie gerade gegriffen hatte, fallen. Mit katzenhaften Schritten näherte sie sich der Fremden. Obgleich die junge Frau Titianas Wesen offenbar erkannt hatte, machte sie keinerlei Anstalten, zu fliehen oder auch nur zu schreien. Gut … »Na, mein schönes Kind?« gurrte die Vampirin. Genießerisch fuhr sie sich mit den Fingern über die Blutreste an ihren Lippen und leck-
te sie dann ab. »Was … was haben Sie vor?« fragte Lilith, halbherzig einen Schritt zurückweichend. Irgend etwas schien sie hier halten zu wollen. Ein winziger Teil ihres Willens verweigerte ihr die Flucht. »Dreimal darfst du raten«, erwiderte Titiana böse grinsend. »Tun Sie das nicht«, bat Lilith. »Weshalb sollte ich nicht?« Sie lächelte fast freundlich. »Verrate mir deinen Namen, hm?« Lilith schluckte. »Lilith«, sagte sie dann. »Lilith Eden.« Titiana blieb stehen wie vom Donner gerührt. »Nein!« entfuhr es ihr. »Unmöglich!« »Sie kennen mich?« Hoffnung erwachte in Lilith, flammte förmlich auf. »Deinen Namen«, antwortete Titiana. »Wer kennt ihn nicht, deinen … verfluchten Namen!« »Verflucht? Wovon reden Sie?« »Spiel nicht die Ahnungslose!« geiferte Titiana. Einen endlosen Augenblick lang schien es, als wollte sie Lilith anspringen, um ihr buchstäblich an die Kehle zu gehen. Dann war es vorbei. So übergangslos, daß Lilith fast mehr erschrak, als wenn die Vampirin tatsächlich angegriffen hätte. Näher kam sie aber trotzdem. Schlendernd, wie zufällig … »Lilith Eden«, wiederholte Titiana den Namen und tat, als lauschte sie dem Klang nach. »Woher kennen Sie ihn?« verlangte Lilith zu wissen. »Sind wir uns schon einmal begegnet?« »Du redest, als wüßtest du tatsächlich nicht, wer oder was du bist«, sinnierte die Vampirin. »So ist es«, erwiderte Lilith mit leiser Verzweiflung. »Ich habe mein Gedächtnis verloren. Wenn Sie irgend etwas über mich wissen, sagen Sie es mir bitte.« »Nun«, dehnte Titiana, als sie bis auf Armeslänge an Lilith heran-
gekommen war, »ich weiß vor allem eines: Es gibt jemanden, der mir alles verzeihen wird, wenn ich ihm dich zum Geschenk mache!« »Was …? Wer sollte …?« »Landru!« Ein weiterer Name, mit dem Lilith nichts anzufangen wußte. Aber sie kam ohnehin nicht dazu, darüber nachzusinnen. Titianas ansatzloser Hieb löschte ihr Bewußtsein aus, als hätte die Vampirin auf einen entsprechenden Schalter geschlagen!
* »Zu Hause …« Die Echos von Tacitus’ Worten geisterten durch die Kallistus-Katakomben wie die ruhelosen Seelen derer, die von der Sippe im Laufe langer Jahre hierher entführt worden waren. Eine Zeitlang hatten diese bedauernswerten Geschöpfe der Unterhaltung der Vampire gedient – Tinto hatte eine Vorliebe für Musiker gehabt –, bevor im Rahmen eines Festmahls ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Ihre Gebeine mochten durchaus noch in irgendwelchen verborgenen Winkeln verrotten. Ansonsten jedoch hatte Tacitus auf dem Weg durch die Gänge und Kavernen keinerlei Spuren ihres einstigen Wirkens hier entdecken können. Die Sippe hatte diesen Ort verlassen, kurz nachdem Tacitus, Titiana und Tremor aus Rom geflohen waren. Wo sie danach untergeschlüpft waren, wußte der Heimgekehrte nicht. Nur daß Tinto zum Schluß in einer Villa auf dem Gianicolo, Roms schönstem Hügel, residiert hatte, war ihm zu Ohren gekommen. Dort hatte schließlich auch das Oberhaupt sein nach Jahrtausenden zählendes Leben ausgehaucht. Unter welchen Umständen, das wußte niemand zu sagen.* *durch Gabriel; siehe VAMPIRA T13: »Der Hüter und das Kind«
Das verbannte Trio – sie waren gerade in der Gegend um Zagreb gewesen – hatte nur erfahren, daß es Tinto erwischt hatte. Und damit stand ihrer Heimkehr nichts mehr im Wege. Denn die römische Sippe selbst war schon zuvor zugrunde gegangen. Wie so viele in aller Welt … Weder Tacitus noch Titiana hatten in Erfahrung bringen können, was das weltweite Vampirsterben vor gut einem Jahr ausgelöst hatte. Wie eine Seuche hatte der Tod sich unter der Alten Rasse verbreitet, und nur wenige hatte er verschont. Warum nicht auch sie und Tremor von dieser tödlichen Krankheit befallen worden waren, wußten sie nicht. Ihren Beobachtungen zufolge waren jedoch auch die Sippenoberhäupter nicht gestorben. Des weiteren waren auch viele Einzelgänger davongekommen, wie sie festgestellt hatten. Denn sie waren beileibe nicht die einzigen Vampire, die sippenlos um die Welt zogen. Nicht alle waren von den ihren in die Verbannung geschickt worden; einige waren der schwarzblütigen Gesellschaft schlicht überdrüssig geworden, und andere manche ein Geheimnis aus ihren Beweggründen, derentwegen sie ihre Sippen verlassen hatten. Von solcherart umherziehenden Vampiren hatten Tacitus und Titiana auf ihren Reisen vieles erfahren, was in den Reihen der Alten Rasse vorging, denn sie selbst hatten den Kontakt zu den Sippen weitgehend gemieden. Die Gefahr wäre zu groß, daß man sie verraten hätte – sei es nun an Tinto oder an Landru. Die Nachricht von Tintos Tod war die erfreulichste in all den Jahren gewesen, und zugleich jene, die sie am meisten herbeigesehnt hatten. Die Meldung war zum rechten Zeitpunkt gekommen, denn Titiana hatte nach dem Sterben der Sippe schon mit der Idee gespielt, zurückzukehren, um Tinto eigenhändig den Garaus zu machen. Tacitus war davon wenig angetan gewesen, und nun schien es, als sei sein stummes Flehen, das Problem möge sich von selbst lösen, er-
hört worden – von wem auch immer … Tremor folgte seinem Bruder, als wolle er ihm den Schatten ersetzen, den sie in diesem Leben nie besessen hatten. Obwohl er ihm seit Jahren jede Antwort schuldig geblieben war, hatte Tacitus doch nie aufgehört, mit ihm zu sprechen. Und so redete er auch jetzt mit ihm, wollte er ihm wenigstens das Gefühl vermitteln, daß etwas Großes geschehen war. Etwas, von der er im Stillen manches Mal geglaubt hatte, es würde nie mehr eintreten. »Wir sind wieder zu Hause, mein Bruder«, sagte er fast ehrfürchtig, während er den Blick schweifen ließ. Er hatte einige Fackeln entzündet, die noch in Wandhalterungen gesteckt hatten. Seinen nachtsichtigen Augen genügte ihr Schein, um alles wie in hellem, wenn auch rotstichigem Licht zu sehen. Im Grunde war der Anblick trostlos ob der Ödnis und Leere. Trotzdem hätte selbst ein prunkvoller Palast Tacitus nicht mehr erfreuen können. »Ein gutes Gefühl, Tremor, ein verdammt gutes Gefühl …« »Ja.« Tacitus wirbelte herum. Einen Moment lang hatte er tatsächlich geglaubt, sein Bruder hätte nach all der Zeit endlich die Sprache wiedergefunden. Doch er hatte die Bewegung kaum zu Ende geführt, als er seinen Irrtum einsehen mußte. Enttäuschung fuhr ihm wie eine Nadel ins schwarze Herz. Die Akustik der Katakomben hatte Titianas Stimme dumpf verzerrt, so daß sie wie die eines Mannes geklungen hatte. Ihr Anblick alarmierte Tacitus aber gleich von neuem! Denn sie war nicht allein gekommen! »Wer ist das?« fragte er und wies auf die Gestalt, die schlaff und reglos im Griff der Vampirin hing. Selbst über die Distanz und trotz der Tatsache, daß das Haar dem Mädchen wirr ins Gesicht hing, konnte er erkennen, daß es hübsch war – ausnehmend hübsch sogar. Sündhaft schön.
»Du kommst nie darauf«, lächelte Titiana mit unverhohlenem Triumph, während sie ein kleines Paket abstellte, das sie außer der Fremden mitgebracht hatte. »Ich habe auch keine Lust, es zu erraten«, erklärte Tacitus. »Sprich endlich!« »Es ist Lilith Eden!« Titianas Lachen füllte die Gänge und Kammern ringsum wie etwas von wirklicher Substanz. Tacitus’ Gesichtsausdruck verschaffte ihr kaum enden wollendes Vergnügen. »Lilith … Eden?« stieß er dann endlich hervor. »Lilith Eden«, bestätigte Titiana. »Das Kind der Hure.« Ein gespenstisches Stöhnen wehte durch die Kaverne, wurde von den Wänden gebrochen und schien von überallher zu kommen. So dauerte es ein, zwei Sekunden, ehe zumindest Tacitus merkte, daß Lilith Eden es ausstieß. Und sie sprach, noch benommen von dem Hieb, aber doch zornig und energisch. »Ich mag zwar keine Ahnung haben, wer ich bin, aber ich weiß eines ganz sicher –« Mit einer raschen Bewegung befreite sie sich aus Titianas Griff, wich drei Schritte zurück, so daß sie sich zwischen den beiden Vampiren befand, außerhalb deren Reichweite. »– niemand beleidigt meine Mutter«, fuhr sie dann entschieden fort. »So?« machte Titiana nur, lächelte und schnippte mit den Fingern. Lilith konnte regelrecht spüren, wie etwas hinter ihr aufwuchs. Etwas wie ein Berg aus dunklem Eis, dessen frostige Aura sie erschaudern ließ. Zögernd wandte sie den Blick, sah auf vernarbtes und wundes Fleisch. Noch langsamer hob sie den Blick – – und schrie unwillkürlich auf, als sie in die Fratze eines Monstrums starrte!
*
Der Mann ohne Identität hockte auf der Pritsche und sah hinab auf seine geschwärzten Fingerkuppen. Irgendwie vermittelte ihm der Anblick ein angenehmes Gefühl – vielleicht war es Hoffnung. Er lächelte, als er an Cesare Rosati dachte. Ein harter Hund. Tausendmal härter als seine skurrile Erscheinung es vermuten ließ. Er hatte seinen Gefangenen regelrecht durch die Verhörmühle gedreht und war nicht müde geworden, immer wieder von vorne anzufangen, wenn er am Ende seiner Fragen angekommen war. Antworten hatte er trotzdem nicht bekommen. Einfach deshalb, weil der Mann ohne Erinnerung keine Antworten hatte. Schließlich hatte Rosati ihn aus dem fensterlosen Raum mit den zwei Stühlen und dem winzigen Tisch mit der Lampe darauf fortbringen lassen, hierher, in diese Zelle. Zuvor aber hatten die Beamten ihm noch die Fingerabdrücke abgenommen; zum einen, um sie mit den Spuren aus dem Krankenzimmer zu vergleichen, und zum anderen, weil sie ihnen vielleicht endlich Aufschluß über den Tatverdächtigen geben konnte. Denn er hatte ihnen noch nicht einmal seinen Namen genannt. Die Computerauswertung lief, während jenseits des kaum kopfgroßen Fensters der Zelle ein neuer Tag begann. Vielleicht der Tag, wünschte sich der Mann ohne Namen, der ihm Antworten bescheren würde, und wenn es nur ein paar waren, vielleicht nur eine … Er sah auf, als er Schritte hörte. Ein Schlüsselbund klirrte, dann schwang die Tür zu der handtuchkleinen Zelle auf. Cesare Rosatis Schattenriß zeichnete sich im Gegenlicht ab. Eine Hand hielt er in die Höhe, und er wedelte mit einem Papierabriß, als würde er ein Fähnchen anläßlich irgendeines Festtages schwenken. »Bingo!« »Bingo?« echote der Namenlose verwirrt. Rosati grinste fast freundlich.
»Auf zur zweiten Runde«, sagte er mit einladender Geste. »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen, Signore –«, wieder wedelte er mit dem Papier, einem Computerausdruck. »– Hector Landers.«
* »Verdammt, was sollen wir mit ihr?« Tacitus wies in die Ecke, in der Lilith hockte. Tremor hatte sich vor ihr aufgebaut und ließ sie nicht aus den Augen. Natürlich wußte Tacitus, wer Lilith Eden war. Was sie war. Seit langem schon kannte man ihren Namen, noch bevor sie selbst in Erscheinung getreten war. Sie war das Kind der Vampirin Creanna, die sich mit einem Menschen verbunden und ihm ein Kind geboren hatte. Dafür hatte Creanna ihr eigenes Leben geben müssen und war mithin der Strafe entgangen, die ihr den Gesetzen der Alten Rasse nach zuteil geworden wäre. Der Tod auf dem Kindbett mochte qualvoll gewesen sein; aber sicher war er nichts im Vergleich zu dem, was etwa Landru mit ihr getan hätte, würde er sie vor der Geburt ihrer Tochter erwischt haben … Diese Geburt hatte vor über 100 Jahren stattgefunden, wie Tacitus wußte. Das Hurenbalg war danach verborgen gehalten worden von seinem menschlichen Vater, zu welchem Zwecke indes, das wußte niemand genau. Auf jeden Fall aber schien von dem Kind eine Gefahr auszugehen, die vor allem Landru ausschalten wollte, noch bevor sie akut werden konnte. Es war ihm nicht gelungen. Vor drei Jahren etwa, auch das hatte man ihnen zugetragen auf ihren Reisen, war das Kind, das Lilith Eden genannt wurde, schließlich persönlich aufgetreten, inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen. Was ihre eigentliche Aufgabe war, darüber kursierten viele Gerüchte, eines wüster als das andere. Die Wahrheit jedoch schien niemand zu kennen. Tatsache jedoch war, daß diese Lilith Eden vielen Vampiren den Tod gebracht hatte.
Erst als das erschreckende Vampirsterben begonnen hatte vor einem Jahr, waren die Geschichten um Lilith Eden weniger geworden. Allein deshalb schon, weil es nur noch wenige gab, die sie erzählen konnten. Tacitus hatte für sich den vagen Schluß gezogen, daß Lilith Eden etwas mit dieser seltsamen Seuche zu schaffen haben könnte. Weil es paßte, wie die Dinge zeitlich zusammenfielen. Wie nahe er der Wahrheit mit seiner Vermutung kam, ahnte er freilich nicht … »Sie wird unser Geschenk an Landru«, antwortete Titiana auf seine Frage. »Landru?« Titiana nickte. »Er ist hier. Glaube ich.« »Du glaubst es? Was heißt das?« Titiana schilderte ihm, was ihr im Krankenhaus widerfahren war. Daß sie Landrus Aura zu spüren gemeint hatte. »Großartig«, seufzte Tacitus. »Wird unser Fluch denn nie enden?« Titiana winkte ab. Sie deutete zu Lilith hin. »Er haßt sie wie kein anderes Wesen«, sagte sie. »Wenn wir ihm das Hurenbalg überlassen, wird er den Bann von uns nehmen.« »Dein Wort in wessen Ohr auch immer«, brummte Tacitus. Titiana wartete kurz, dann sprach sie weiter: »Da ist noch etwas, das du wissen solltest.« »Was denn noch?« fuhr Tacitus auf. »Du verstehst es wahrlich, einem die Freude über die Heimkehr zu verderben …« Titiana grinste müde. »Ich habe noch einen alten Bekannten getroffen. Nero Twistelli.« »Sag bloß, er hat dich wiedererkannt?« fragte Tacitus alarmiert. »Nein, ich glaube nicht«, meinte die Vampirin. »Aber er hat mich sehr merkwürdig angesehen …« »Du meinst, er könnte sich wieder daran erinnern, was damals geschehen ist?« »Möglicherweise.«
»Möglicherweise …« Erst hielten sie es für ein Echo von Titianas Stimme. Solange, bis sie Schritte hörten. Und sein Schatten im Fackellicht über die Boden und Wände auf sie zukroch. »Inspettore Twistelli!« rief Tacitus, erstaunt, zornig und erschrocken in einem. »Commissario!« verbesserte ihn der »Bluthund«. Mit einem Lächeln, das seinem Beinamen zur Ehre gereichte.
* Die Via Appia Antica … Wie lange bin ich hier schon nicht mehr gewesen? überlegte Nero Twistelli. Zehn Jahre. Er wußte es ganz sicher. Wie er so vieles plötzlich wußte. Wieder wußte. Ohne es jedoch wirklich zu verstehen. Es war, als hielte er viele kleine Teile eines großen Bildes in Händen; dieses Bild allerdings vermochte er nicht zu erkennen. Trotzdem genügte ihm, was er wußte. Es reichte, um zu handeln. Um das Richtige zu tun. Nero Twistelli war vorbereitet auf das, was er womöglich finden würde. Er hatte Glück. Mittwochs waren die Kallistus-Katakomben für die Touristen geschlossen. Unbehelligt und unbeobachtet konnte Twistelli die einstige Grabstätte mit seiner Ausrüstung betreten. Ein wenig seltsam schienen ihm die Sachen noch immer, die er da bei sich trug. Aber er spürte einfach, daß er sie brauchen würde. Wären sie damals so ausstaffiert gewesen, alles wäre anders gekommen. Damals. Vor zehn Jahren. In jener Nacht, die aus seiner Erinne-
rung verschwunden gewesen war, wie so vieles, was damit in Zusammenhang stand. Indes nur verschwunden – nicht verloren. Denn jetzt war es wieder zurückgekehrt, als hätte es nur – im übertragenen Sinne – eines Knopfdrucks bedurft. Eines schrecklichen Anblicks, der die Blockade um diesen Teil seiner Gedanken aufgeweicht, nicht aber niedergerissen hatte. Vielleicht, dachte Twistelli, ist es gut, daß ich nicht alles begreife. Zu verstehen könnte in diesem Fall bedeuten, Hemmungen zu haben … Den richtigen Weg durch das Labyrinth aus Gängen und Kammern zu finden, kostete Zeit. Aber man nannte Nero Twistelli nicht allein deshalb den »Bluthund«, weil er sich in seine Fälle verbiß, sondern auch seiner Instinkte wegen. Er fand, wonach er suchte, konnte seine Taschenlampe ausschalten, als Fackelschein ihm den Rest des Weges wies. Er hörte Stimmen. Und schließlich sein Stichwort. Lächelnd trat er den Vampiren entgegen.
* »Es hat lange gedauert«, sagte Twistelli, »aber heute werde ich beenden, was ich vor zehn Jahren begonnen habe.« Er fühlte sich nicht bedroht, weil er mehr der verdammten Blutsauger erwartet hatte. So zählte er nur drei. Damit konnte und würde er fertigwerden. Daß sie eine Gefangene hatten, lief seinem Plan, rigoros vorzugehen, zwar zuwider, aber er würde eben schnell sein müssen … »Twistelli!« Tacitus begrüßte den Commissario wie einen alten Freund. Mit ausgebreiteten Augen trat er ihm entgegen. Twistelli wich um keinen Zoll. »Wenn Sie nicht gewesen wären, Verehrtester«, sagte der Vampir
und wies in die Runde, »wir würden die Nacht damals nicht überlebt haben.« »Ein Fehler meinerseits«, knurrte der »Bluthund«. »Ganz und gar nicht!« meinte Tacitus. »Und Sie sollen dafür belohnt werden, Inspett… – ah, scusi, Commisario.« Er wandte sich an seine Gefährtin. »Meinst du nicht, meine Liebe?« »Natürlich«, erwiderte Titiana. Sie ließ Twistelli nicht aus den Augen. Irgend etwas irritierte sie. An der Art seines Auftretens, wie er nun dastand – selbstsicher, unerschütterlich. Obwohl er doch zu wissen schien, mit wem er es zu tun hatte – »Sei vorsichtig«, warnte sie Tacitus. Zu spät … »Zu spät!« Twistellis Bewegung erfolgte so rasch, daß sie kaum zu verfolgen, geschweige denn zu verhindern war! Seine Hand tauchte unter seinen Jackenschoß und zerrte etwas hervor. In der anderen hielt er, wie hingezaubert, ein Feuerzeug, das er anschnippte. Die Flamme fraß sich in den Stoff, mit dem die Flasche verschlossen war, die er unter der Jacke hervorgezogen hatte – und die er Tacitus jetzt mit aller Gewalt gegen die Brust schmetterte! Flammender Regen spritzte nach allen Seiten. Das brennende Benzin tränkte den Vampir vom Hals bis zu den Knien, und in der nächsten Sekunde hüllten ihn Flammen wie in einen Kokon, aus dem seine Schreie gellten. »Elender …!« schrie Titiana auf, und im Hintergrund des Gewölbes wurde Heulen wie von einem monströsen Tier laut. Twistelli verlor keine Sekunde. Er zog weitere Flaschen aus seinem selbstgebastelten Hüftgurt und schleuderte sie zielsicher in Richtung der Fackeln, die ringsum an den Wänden blakten. Glas splitterte, entflammtes Benzin spritzte umher, bedeckte Boden und Wände mit Feuer. Die Hölle selbst schien sich aufgetan zu haben, und ihr Fegefeuer
loderte in den Kallistus-Katakomben. Alles war in flackernde, blendende Helligkeit getaucht. Twistelli konnte kaum noch sehen. Der Gluthauch des Flammenpfuhls raubte ihm fast den Atem. Trotzdem durfte er noch nicht verschwinden. Das Mädchen … Twistelli rief nach ihm. Keine Antwort. Nur die Schmerzensschreie der Vampire. Der beiden männlichen … Wo war das blutgeile Weib? War sie seiner Attacke entkommen? Ja! Denn plötzlich tauchte sie zwischen den Feuern auf, warf sich ihm entgegen, und schon hing sie an seiner Kehle! Er spürte die kalte Berührung spitzer Zähne und – – ein Schrei, ein dumpfes Klatschen. Unwillkürlich hatte der Commissario die Augen geschlossen. Als er sie jetzt wieder aufriß, sah er die Vampirin gerade noch in die Flammen stürzen und dahinter verschwinden. Und er sah das Mädchen, das ihm das Leben gerettet – und vor einem anderen bewahrt hatte. Lilith Eden rieb sich die Faust, als täte sie noch weh von dem Schlag, den sie Titiana verpaßt hatte. Sie lächelte verwegen. »Ich sagte doch – niemand beleidigt meine Mutter.« Twistelli zog verwirrt eine Braue in die Höhe. Dann griff er nach der Hand der jungen Frau. »Kommen Sie!« »Ich hoffe, Sie kennen den Weg?« fragte Lilith, als sie losliefen und die Flammenhölle hinter sich ließen. »Nein.« »Ein toller Retter …«, unkte Lilith. Twistelli schenkte ihr ein knappes Grinsen. »Keine Sorge –«, er tippte gegen seine Nase, »– die hier ist Legende.«
* � Der Mann ohne Erinnerung erwartete sie im Polizeipräsidium. Weder als Gefangener, noch schien man ihn sonst irgendwie besonders im Auge zu behalten. Er saß auf einem Besucherstuhl, als wäre er nur zufällig hier. Mehr noch – für die anwesenden Beamten schien er Luft zu sein! »Was soll das?« bellte Nero Twistelli, als er die Situation erfaßte. »Was soll was?« Cesare Rosati war wie ein dienstbarer Geist zur Stelle, als Twistelli zum zweiten Rundruf Atem holte, während sich die anderen Kollegen ritualgemäß in irgendwelche Aktenstudien verstiegen. »Was soll was?« äffte der Commissario seinen Assistenten nach. »Dieser Mann?« Er zeigte auf den nicht mehr Namenlosen, als wollte er ihn mit dem Finger aufspießen. »Warum sitzt er nicht hinter Schloß und Riegel?« »Aber … warum sollte er?« fragte Rosati verwundert. »Signore Landers hat nichts verbrochen …« »Signore Landers?« mischte sich nun Lilith in die Diskussion ein. Ihr Tonfall kündete von Verwirrung. Ihr Gefährte deutete eine Verbeugung an. »Hector Landers, Signorina.« »Natürlich hat er!« fuhr Twistelli polternd fort. »Nein, habe ich nicht«, sagte Hector Landers dem Commissario ins Gesicht. Eine Sekunde lang erwiderte Twistelli den Blick, dann sah er weg, als wäre etwas anderes plötzlich sehr viel wichtiger. »Nein, natürlich nicht. Verzeihen Sie …«, murmelte er abwesend, dann wandte er sich ab und ging. »Was ist denn das für eine Nummer?« wunderte sich Lilith. Der Mann namens Hector Landers blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Paß auf, es kommt noch besser«, sagte er, ging Twistelli nach und
hielt ihn an der Schulter zurück. »Commissario, wären Sie wohl so freundlich, uns zu dieser Adresse zu chauffieren?« Er zeigte ihm einen computerbedruckten Zettel. »Natürlich«, sagte Twistelli. »Kommen Sie, bitte.« Er ging hinaus, Hector Landers folgte ihm. Und nach einer Weile auch Lilith Eden. Kopfschüttelnd. Und keineswegs beruhigt.
* Das Haus fiel schon von weitem auf. Seine schmutziggraue Fassade war ein Schandfleck inmitten der anderen, die ordentlich hergerichtet waren und in hellen Farben strahlten. »Das ist es?« fragte Hector Landers verunsichert, als Twistelli den Dienstwagen vor dem offenbar unbewohnten Haus stoppte. Hinter keinem der Fenster sah man Gardinen; sie waren kaum mehr als dunkle Löcher. Auf den Stufen der Eingangstreppe häufte sich Unrat. Der Commissario nickte. »Landers Im- und Export Inc. Das hier ist die Adresse, die auf Ihrem Zettel steht.« »Meine Adresse«, murmelte der Mann, den seine Fingerabdrücke als Hector Landers auswiesen. Auf seine Bitte hin hatte Cesare Rosati ihm die weiteren verfügbaren Daten ausgedruckt. Eine spärliche Ausbeute. Mehr als diese Adresse im Centro storico Roms hatte sie nicht umfaßt. »Laß uns hineingehen«, meinte Lilith, mittlerweile von Landers darüber informiert, was während ihrer Trennung geschehen war. »Ja, natürlich.« Sie stiegen aus dem Wagen. Twistelli fuhr los. Nach Hause. Die Nacht war verdammt lang gewesen. Und er fragte sich, warum er diesen Umweg durch das Centro gemacht hatte. Er wohnte doch ganz woanders. Wo er im übrigen bereits erwartet wurde …
* � Das Innere des dreistöckigen Hauses hielt, was sein Äußeres versprochen hatte. Alles starrte vor Dreck, der Geruch von uraltem Allerlei hing wie ein unsichtbares Gespinst über allem, und nirgends wies etwas darauf hin, daß jemand hier lebte. »Hier soll ich zu Hause sein? Unmöglich«, meinte Landers, als er nach einer Ratte von der Größe eines jungen Terriers trat, die auf einer Treppenstufe hockte, ihnen feindselig entgegenstarrte und partout den Weg nicht freigeben wollte. Landers Tritt ging fehl, doch im nächsten Moment verschwand die Ratte ohnedies – als hätte Landers nur nahe genug kommen müssen, daß sie ihn erkennen konnte … In der zweiten Etage fanden sie schließlich eine der Wohnungstüren offen. Zögernd traten sie ein. Und wurden überrascht. Angenehm zur Abwechslung. Die Wohnung – große Räume, hohe Stuckdecken – war möbliert, nicht verschwenderisch zwar, sondern nur mit dem Notwendigsten, und machte den Eindruck, als würde jemand hier leben. Jemand allerdings, der lange nicht daheim gewesen zu sein schien. Denn über allem lag eine fast fingerdicke Staubschicht. Dann jedoch – »Meine Güte, was ist das?« Lilith sah sich erschrocken um. Es war, als wäre ein unsichtbares Gebläse eingeschaltet worden, kaum daß sie ein paar Schritte ins erste Zimmer hineingegangen war. Der Staub wirbelte auf – und verschwand. Im Nichts! »Ein weiteres Rätsel«, grinste Hector Landers nervös. »Wie meine Fähigkeit, andere hypnotisch zu beeinflussen …« Der Merkwürdigkeiten war damit jedoch noch kein Ende gesetzt. Als Landers suchend durch das nächste Zimmer ging – der Einrichtung zufolge mußte es sich um eine Art Büro handeln –, hob ein leises Summen an. Ein nicht sonderlich geschmackvolles Bild glitt
auf kaum zu sehenden Schienen zur Seite, und dahinter wurde ein in die Wand eingelassener kleiner Safe sichtbar. Hector Landers trat davor und berührte die Stahltür. Als hätte er damit eine Automatik ausgelöst, begannen sich die Zahlenräder zu drehen, schließlich rasteten sie klickend ein, und die Tür schwang auf. Das Innere das Safes war in zwei Fächer unterteilt. Im einen lagen Kreditkarten, Ausweise … alle ausgestellt auf den Namen Hector Landers. Im anderen Fach – Minutenlang studierten Lilith und Hector, was sie dort gefunden hatten. Es war nicht viel, und es war das, wonach sie gesucht hatten oder was sie wenigstens zu finden gehofft hatten: Spuren, Hinweise auf Vergangenes, Vergessenes … Doch nun, da sie es in Händen hielten, fühlten sie sich keineswegs so zufrieden, geschweige denn glücklich, wie sie es erwartet hätten. »Es scheint, als würden unsere Wege sich trennen«, sagte Hector Landers leise. Lilith nickte nur. Schweigend. Bedauernd. Traurig. »Für immer?« fragte sie nach einer Weile. »Nein, wir werden uns wiedersehen. Ich bin ganz sicher.« Lilith wandte sich ab. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, daß er sah, wie sie krampfhaft schluckte und mühsam ihre Tränen bezwang. Ihr verschleierter Blick fiel in den nächsten Raum. Das geradezu riesige Bett darin schien ihr wie eine Einladung, mehr noch eine Verlockung. Vielleicht gab es etwas, das sie tun konnten, um einander nie zu vergessen … Wortlos nahm sie Hectors Hand und führte ihn nach nebenan. Sie liebten sich. So wild und leidenschaftlich, daß es nicht das erste Mal sein konnte. Aber ganz so, als wäre es das letzte Mal …
Epilog � Seine Brotzeit wollte ihm nicht mehr recht schmecken, kaum daß Umberto Zanardi die Zeitung aufgeschlagen und die ersten Zeilen der Titelgeschichte gelesen hatte. Obwohl es doch – so traurig es war – fast täglich schlimmere Sachen gab, die für Schlagzeilen sorgten. Von einem grausamen Mord an einer deutschen Touristin stand da zu lesen, und auch ihr Verlobter, den zumindest der Reporter der Tat verdächtigt hatte, war wenig später zu Tode gekommen. Eines der Fotos zeigte ein Krankenhauszimmer mit einem zerwühlten, aber leeren Bett, ein anderes den Tatort des anderen Mordes; dunkle Flecken zeichneten sich undeutlich auf dem Pflaster Gasse ab. Der Schreiber des Artikels zog Parallelen zu vergleichbaren Fällen, die zehn Jahre zurücklagen und nie zufriedenstellend geklärt worden seien. Und selbst das schien sich nun zu wiederholen, denn die Policia Criminale widmete den Morden nicht die nötige Aufmerksamkeit, meinte der Reporter. Er zitierte Commissario Nero Twistelli (das Bild zeigte einen krankhaft bleichen Mann Mitte Fünfzig), der behauptete, es gäbe keine Hinweise auf den Täter und die Ermittlungen würden wohl erfolglos eingestellt werden müssen. Verbindungen zu den Fällen vor zehn Jahren stritt Twistelli ab, ja er wollte sich nicht einmal daran erinnern können. Der Artikel gipfelte in der Behauptung, der »Bluthund« hätte seien Biß verloren … Umberto Zanardi legte die Zeitung mit einem flauen Gefühl im auch zur Seite, ohne daß er zu sagen vermocht hätte, was ihn an er Geschichte so tief berührt hatte. Aber als er seinen Lastwagen vom Rastplatz auf die Straße hinauslenkte, faßte er spontan einen Entschluß. Nie mehr, im ganzen Leben nicht, würde er Anhalter mitnehmen …
ENDE �
Die Besucherin Leserstory � von Andrea Schäfer � Mit letzter Kraft waren wir dem Sturm entkommen. Das Meer hatte derart gewütet, daß nicht nur die Segel in Fetzen hingen. Auch jeder von uns fühlte sich, als ob das oberste zuunterst gekehrt worden war … Wir hatten in einer winzigen Bucht auf den Bahamas geankert, um am nächsten Tag die Schäden feststellen und mit den Reparaturen beginnen zu können. Doch heute war niemand mehr imstande, irgend etwas zu beginnen. Auch ich fühlte mich wie gerädert, zumal mir durch das krängende Schiff auch noch die Seekrankheit zugesetzt hatte. Ich hatte mich zur Nachtwache einteilen lassen. Gerade weil ich die Seefahrt noch nicht lange kannte, konnte ich mich wenigstens auf diese Weise nützlich machen. Der Koch hatte mir aus den verbliebenen Vorräten Trockenfleisch und Obst gegeben. Damit und mit einer Bordlaterne setzte ich mich auf ein Stück Reling des Oberdecks. Die »Reeper«, unser vordem prächtiges Schiff, sah furchtbar aus. Ein Mast war geknickt, die Schaluppe und ein Anker waren verloren, von der Verschanzung waren nur noch Teile übrig, und durch undichte Planken drang Wasser ins Unterdeck. Das würde eine Menge Arbeit werden … Die Nacht brach schnell herein, und nach und nach riß die Wolkendecke, Nachgeburten des Unwetters, endgültig auf. Ein fast unwirklich riesiger Vollmond beleuchtete die Szene, so daß ich mein Licht erst gar nicht entzündete. Einen sich nähernden Feind hätte man auf Meilen sehen können – wenn nicht schon knapp jenseits des Ufers der Urwald schier undurchdringlich geworden wäre. Es war sehr still. Als ob sich selbst zwischen den Bäumen alles Le-
ben zur Ruhe begeben hätte … Oder doch nicht? Mit einemmal hörte ich ein sirrendes Pfeifen, und als ich mich alarmiert umblickte, konnte ich auch bald die Flughunde erkennen, die es verursachten. Die nächtlichen Jäger waren unterwegs! Aber nicht nur sie … Plötzlich sträubten sich mir sämtliche Nackenhaare. Gefahr ahnend fuhr ich auf dem Fuße herum und zog gleichzeitig mein Rapier. Vor mir stand … … eine wunderschöne Frau. Sie hatte dunkles welliges Haar, trug ein Gewand, wie ich es bislang nur an Damen der Oberschicht gesehen hatte, und viel Schmuck. Ich schlug nicht Alarm. Denn diese Frau sah nicht aus, als ob sie mir irgend etwas antun könnte oder wollte. »Wer seid Ihr?« fragte ich sie. »Ich bin Mary«, sagte sie mit einer wunderbaren, fast singenden Stimme und lächelte mich an. »Und was wollt Ihr hier?«, flüsterte ich, ganz verzaubert von diesem Wesen. »Nur ein wenig … naschen«, sagte sie geheimnisvoll und lächelte mich an. Nun war ich doch etwas verwirrt. Wegen Naschwerk hatte sie sich an Bord geschlichen? Dabei gab es hier nur ein bißchen Trockenfleisch und halb verfaultes Obst zu holen. Obgleich ich wußte, daß ihr der Sinn gewiß nicht danach stand, machte ich einige Schritte zu meinem alten Platz und wollte das zähe Fleisch aufheben, das ich neben die Laterne gelegt hatte. »Aber nein, doch nicht deine Speise!« lachte sie nun. »Dein süßes Blut möchte ich kosten!« Mein … Blut? Innerlich erschrak ich zutiefst, und doch wußte ich ihrem Anblick und ihrer Stimme nicht zu entkommen. Ohne daß ich mich dagegen wehren konnte, ging ich auf sie zu, während ich das Blut regelrecht durch meinen Körper strömen fühlte. Die Hand mit
dem Rapier baumelte irgendwie nutzlos an meiner Seite. Mary kam mir entgegen, nahm meinen Kopf in ihre Hände – und schließlich spürte ich einen Schmerz an meinem Hals. Dann … nichts mehr. Jemand rüttelte an mir. Ächzend rollte ich mich auf den Rücken. »Eine schöne Nachtwache hältst du hier, Faulpelz!« brummte der Maat, der die nächste Schicht übernehmen sollte. Oh, waren das Kopfschmerzen – und mein Hals war ganz steif. »Ich habe nicht geschlafen«, meinte ich träge und rappelte mich endgültig auf. »So, so«, grinste der bärtige Seemann, »und warum kullerst du dann an Deck umher wie ein ungezurrtes Faß?« Ich forderte ihn auf, sich zu setzen. Vielleicht war es ein Fehler, aber ich mußte mit jemandem sprechen über das, was mir widerfahren war – oder war es nur ein Traum gewesen? »Sag, glaubst du an Untote oder Dämonen?« fragte ich den Maat nach kurzem Zögern. »Nun ja, es mag vieles geben, was wir uns nicht erklären können«, meinte er und wiegte den Kopf. »Und ja, ich glaube daran.« »Und wenn ich dir jetzt erzähle, daß mich ein solches Wesen während meiner Wache überfallen hat?« »Ein Dämon – dich?« Nun brach er doch in Lachen aus. »Der Sturm hat dir ganz schön zugesetzt, was? Da sieht man so manches. Vor drei oder vier Jahren zum Beispiel glaubte ich bei Kap Horn eine leibhaftige Seeschlange zu sehen …« Er begann zu erzählen. Erst wollte ich ihn unterbrechen, um auf mein Erlebnis zurückzukommen, doch dann hörte ich ihm doch gebannt zu, und ob seiner haarsträubenden Geschichten glaubte ich bald selbst nicht mehr an einen Überfall. Wahrscheinlich hatte ich tatsächlich nur geträumt. Mehr als nur müde trollte ich mich bei Beginn der Dämmerung zu meiner Hängematte.
* � Wegen des Hämmerns, Klopfens und Sägens war an Schlaf jedoch nicht lange zu denken. Nur eine Stunde, nachdem ich mich niedergelegt hatte, torkelte ich schon wieder an Deck, wo ich unserem Schiffsarzt Doktor Brooks unter die Augen kam. »Meine Güte, Pat, du bist ja blaß!« begrüßte er mich. »War wohl doch ein bißchen viel, der Sturm und dann auch noch die Nachtwache …« Ich winkte nur ab und wollte zu dem Faß mit dem nicht mehr frischen Wasser. Die Sonne funkelte darin, und ich erkannte am Hals meines Spiegelbilds zwei kleine Male, wie Stiche. Sie schmerzten ein wenig, als ich sie berührte. Brooks war neben mich getreten und meinte nur: »Na, bei den vermaledeiten Insekten hier auf den Bahamas kannst froh sein, daß sie dir nicht noch mehr zugesetzt haben.« Ich sah ihn an und grinste etwas gequält. »Insekten …« Ich wußte nun, daß ich keinem Alp erlegen war. Es war wirklich geschehen! Doch ich hütete mich davor, Doktor Brooks davon zu erzählen. Zum Gespött würde ich mich nicht noch einmal machen! Doch als ich später mit klammen Fingern Segel nähte, schweiften meine Gedanken oft ab – zu Mary. Ob es ihr wohl »geschmeckt« hatte? Und – ob sie wiederkommen würde, in der nächsten Nacht …? ©Andrea Schäfer (
[email protected]), Erlangen
Das verlorene Ich � von Timothy Stahl Zwar konnten Lilith und Landru in Rom erste Hinweise auf ihr früheres Leben finden, doch immer noch fehlt ihnen jegliche Erinnerung an die Vergangenheit. So weiß Landru nicht, daß er nur auf seine Tarnidentität gestoßen ist, als er sich als »Hector Landers« nach Paris begibt – in eine Stadt, wo vergessene Feinde nur auf den vermeintlichen Geschäftsmann warten, um mit ihm abzurechnen. Auch Lilith Eden folgt den Spuren einer falschen Vergangenheit. Ihr Weg führt sie nach Sydney, zu ihrem Geburtshaus. Sie ahnt nicht, daß das Grundstück längst von Vampiren besetzt ist. Und ihre Feinde sind noch um einiges tödlicher als die von Hector Landers …