Band 5
Strafkolonie Erde Hanns Kneifel
Vorwort Der gewissenhafte Chronist der ersten zehn Jahrtausende von Atlans Le...
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Band 5
Strafkolonie Erde Hanns Kneifel
Vorwort Der gewissenhafte Chronist der ersten zehn Jahrtausende von Atlans Leben sieht sich verwirrt angesichts der vielen Verbindungen von Atlans Zeitabenteuern mit dem Perry-RhodanKosmos und der 850bändigen Atlan-Heftserie, er findet Widersprüche, noch mehr Beweise von Atlans Wirken, mehr Informationen und auch Hinweise darauf, daß nicht nur ES und Atlan das Schicksal der jungen Menschheit beeinflußten. Im fünften Band der Atlan-Zeitabenteuer-Erzählungen beginnt sich in der Überzeugung und im Verhalten des »Gefangenen der Zeit« eine Veränderung abzuzeichnen – immer weniger denkt er daran, daß ihn doch noch Schiffe von Arkon finden und zurückbringen würden in seine Heimat. Seine Gedanken beschäftigen sich nunmehr damit, daß er die Barbaren von Larsaf III in qualvoller Langsamkeit dazu bringen muß, am Ende eines langen Entwicklungsprozesses ein Raumschiff bauen zu können: ein Schiff, das er nach Arkon steuert. Noch immer schwebt der Arkonide, einst Paladin der Menschheit, auf Antigravgittern in der Nähr- und Heilflüssigkeit des Überlebenstanks. Im Planetaren Hospital von Sol City auf Gäa scharen sich die besten Mediziner um den bewußtlosen Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums. Noch immer sind alle, die von seinem Zustand wissen, mehr als besorgt. Die Laren beherrschen das Solsystem, Terra ist verschwunden, und vor den Invasoren hat Atlan aus 5814 terranischen Planetensystemen rund acht Milliarden Individuen vor dem Hetos der Sieben gerettet. Als tödlich Verletzter der Karthago-II-Katastrophe berichtet er während seines Kampfes ums Weiterleben über die Hintergründe dreier wichtiger Episoden der irdischen Geschichte: als
Die Parasiten (Taschenbuch 199, von 1979) im klassischen Ägypten einfielen, von der ES-Welt Wanderer entkommen, als im frühen Griechenland Das Mittelmeer-Inferno (Taschenbuch 217, 1981 veröffentlicht) stattfand und die Griechen Ilion (oder Troja) belagerten, als der dritte Planet von Larsafs Sonne zur Strafkolonie Erde (Taschenbuch 74, von 1970) wurde. Noch immer verbirgt sich zwischen den Jahren 1696 und 1589 vor der Zeitwende der arkonidische Thronfolger und Kristallprinz im Tiefschlaf in der Überlebensstation nahe Sao Miguel, 2852 Meter tief, und noch immer kreist der Planet Wanderer nahe dem Endpunkt seiner kosmischen Bahnellipse in der Nachbarschaft des Sonnensystems; angeblich zum Wohl der Barbaren auf dem dritten Planeten von Larsafs Stern. Mit dem Höchstleistungsroboter Rico und seinen wenigen Freunden, von ES manipuliert, versucht der Einsame der Zeit beharrlich, den Weg der Menschheit zur Zivilisation und Kultur zu erleichtern. Die Welt des frühen Griechenlands, das uns später als das klassische Land der Aufklärung und der Demokratie erscheinen wird, ist im fünften Band der gesammelten Abenteuer Atlans der Hauptschauplatz. Nicht alles, was in Sagen und Legenden der Menschen einen festen Platz fand, ist naturwissenschaftlich überzeugend zu erklären; vieles bleibt unaufgeklärt und geheimnisvoll, auch etliche Geschehnisse aus Atlans Jugend. W. Winkler und R. Castor halfen dankenswerterweise, Dutzende solcher Hinweise aufzuspüren und in »geschichtlich« klaren Zusammenhang zu bringen, und die Karten sollen die Kenntnis der Schauplätze erleichtern. München, Frühsommer 1994 Hanns Kneifel
Prolog Atlans Sterben war völlig unbemerkt geblieben. Das Entsetzen, das Cyr Aescunnar gepackt hatte, wirbelte ihn durch eine lange Reihe schrecklicher Szenen, Erlebnisse und Geräusche und schockte ihn mit der kalten Lähmung und einem Kreischen, das den Alptraum beendete und Cyr weckte. Schweißgebadet stemmte er sich in die Höhe, blinzelte, sah sich um und tastete nach dem Kontakt der Raumbeleuchtung. Lautlos und langsam verwandelte sich das Schreckensgemälde, in dessen Mittelpunkt er sich hineingeträumt hatte, in die vertraute Umgebung seines Apartments zurück. Sein eigener Schrei hatte ihn geweckt. Er taumelte ins Bad, riß sich den schweißfeuchten Schlafanzug vom Körper und stellte sich unter die eisige Dusche. Noch immer stand er im Bann des Horrortraums. Es würde schwer sein, die atemlose Kälte der letzten Bilder zu vergessen. Seine Augen schmerzten, er blinzelte, und die winzige Automatik aus dem Stirnpflaster blies einen kühlenden Nebel in die Augäpfel. Die Wirklichkeit verschwamm in schlierenartigen Formen und Farben. Aescunnar drehte die Tube mit der Bartentfernungscreme halb ratlos in den Fingern und brummte: »Die Rasur ist das Abzeichen der Zivilisation, wie einst Schopenhauer schrieb. Es ist ein sehr ungutes Aufwachen heute, Cyr.« Aescunnar blinzelte einige Sekunden lang, bis die Dinge wieder die vertrauten Formen angenommen hatten. Er schaltete den Mokkahalbautomaten ein und zog das Klebepflaster von der Stirn. Nach der Augenoperation sprühten winzige Dosiergeräte eine kühlende, nährende und keimtötende Flüssigkeit; sie schien ähnlich zusammengesetzt zu sein wie das Heil-Liquid in Atlans Überlebenstank. Aescunnar rasierte sich, trank kalten Fruchtsaft, knotete den Gürtel des Bademantels
enger und tappte in das dunkle Büro hinüber, zur externen Forschungsstelle der Chmorl-Universität des Planeten Gäa. Ein einziger Blick genügte, ihn zu überzeugen: Atlan lag im Tiefschlaf, am anderen Ende der Übertragungsstrecke, in der Nährlösung des durchsichtigen Überlebenstanks der Intensivstation. Die goldfarbene SERT-Haube hatte sich von Atlans Kopf und Brust gehoben und schwebte zwischen Sonden und Schläuchen. Es war kurz vor Mitternacht; nur zwei Holoprojektionen arbeiteten und zeigten, daß Atlan lebte. »Irgendeine Bedeutung hat dieser Traum gehabt«, murmelte der Historiker. »Ausdruck meiner Furcht. Aber… wovor fürchte ich mich?« Er hob die Schultern und stützte sich mit den Ellbogen auf die Arbeitsplatte. Sämtliche Notizen, die auf dem ungewöhnlich großen Schreibtisch lagen, beschäftigten sich mit der Vergangenheit; mit Terras Mesopotamien, dem Land zwischen Buranun-Euphrat und Idiglat-Tigris, mit Babylon und dessen Herrscher Hammurabi. Aescunnar öffnete eine Schublade, wählte eine Brille mit getönten Gläsern und fühlte, wie er die feuerroten Schrecken des Traums zu vergessen begann. Seit der Landung der KHAMSIN, die vor rund zwei Monaten den schwerstverletzten Arkoniden aus dem vernichtenden Chaos des Planeten Karthago II gerettet hatte, berichtete Atlan aus der irdischen Vergangenheit. Cyr Aescunnar und sein wissenschaftliches Team, unterstützt durch Studenten der Geschichte und Mitarbeiter aller offiziellen Stellen, dokumentierten in den ANNALEN Atlans einzigartige Erlebnisse, zuletzt aus den Jahren um 1698 vor der Zeitwende. »Atlan lebt!« sagte Aescunnar und gähnte. »Und schläft. Im Gegensatz zu mir. Keine Panik! Nichts deutet darauf hin, daß er bald aufwacht und das nächste Abenteuer schildert. Welches Jahr, welcher Ort, welche Kultur?« Im buchstäblich letzten Augenblick war der halbtote Arko-
nide von Bord der KHAMSIN ins Planetare Krankenhaus eingeliefert und mit beispiellosem Aufwand behandelt worden. Die postoperativen Schocks schienen vorbei zu sein; der verantwortliche Ara-Arzt Ghoum-Ardebil, Atlans Freund, zeigte vorsichtigen Optimismus. Aber noch immer stand Atlans Leben auf des Messers Schneide. Aescunnar lehnte sich im schweren Drehsessel zurück, ließ seinen Blick über das Halbrund aus Bildschirmen, Monitoren und Holoprojektionen gleiten und sagte sich, daß an weiteren Schlaf nicht mehr zu denken war; er schaltete Lampen ein, aktivierte Computer, schwenkte Tastaturen und Terminals in Griffweite und rief die letzten Texte Atlans auf die leuchtendweiße Fläche der Printplatte. Ein weiteres Kapitel der ANNALEN DER MENSCHHEIT war von Atlan beendet worden und wurde von Cyr sowie der Historischen Fakultät mühevoll und sorgfältig bearbeitet und verifiziert. Aescunnar bereitete in der Pantry des Apartments einen großen Becher Mokka, zählte pedantisch sechsunddreißig Tropfen starken Alkohol in das rußschwarze Gebräu und stellte das Tablett zwischen Notizen und vielfarbige Folien, die auf Lesechips klebten. In den Regalen der zwölfeinhalb Meter langen Büro-Längswand, in der sich Bücher, Lesespulen, Buchchips und Bildkassetten reihten, stapelten sich im indirekten Licht Artefakte, Kopien uralter Karten, vergilbte Fotos und kleine Hologramme neben tausend anderen Zeichen aus der Vergangenheit des Heimatplaneten. Das Jahr 3561 auf Gäa, dem Fluchtplaneten in der Dunkelwolke Provcon-Faust, endete in zwei Monaten, und Cyr bezweifelte, daß innerhalb dieser Zeit die letzten Kapitel von Atlans Geschichte der Menschheit fertiggestellt werden konnten, schon gar nicht sein ehrgeiziger Versuch, die ANNALEN neu zu schreiben oder zum letzten Mal zu überarbeiten. Langsam aktivierte er seine Geräte, ließ Textfragmente auf
die Monitore schreiben, blickte immer wieder auf die großen Hologramme, die Atlans reglosen Körper im transparenten Überlebenssarg zeigten; ein Verdacht, eine Überlegung, die seinen Verstand in atemloser Kälte erstarren ließ, suchte ihn heim: War es denkbar, daß der Arkonide Atlan – ohne bewußten Wunsch – gar nicht geheilt werden wollte? Daß er sich in diesem Schwebezustand zwischen Tod und Leben, Bewußtsein und Ausgeliefertsein an seine Erinnerungen gänzlich unbewußt wohl fühlte und diesen Zustand so lange wie möglich aufrechterhalten wollte? Cyr glaubte sich abermals mitten in Bildern von Hieronymus Bosch, Gustave Moreau oder Breughels visionären Untergangsschilderungen gefangen, in einer entrückten Kunstwelt, die ihre Wurzeln in Terras langer Geschichte der Mythen, Legenden und Wahrheiten hatte. Aescunnar blies auf die Oberfläche des Mokkas und schüttelte langsam den Kopf, die Brille beschlug, und die Umgebung veränderte sich abermals zu phantastischen Formen. »Undenkbar.« Aescunnar nahm einen Schluck und dachte an Atlans Freunde: Julian Tifflor, Ronald Tekener, den Robotkaiser Anson Argyris alias Vario-500 oder den Provcon-Laren Roctin Par, an Roger Chavasse oder den abwesenden Perry Rhodan. »Sein Überlebenspotential ist mindestens so groß wie sein Überlebenswille. Er hat beides in rund elf Jahrtausenden immer wieder, zahllose Male, bewiesen.« Der Historiker nahm die dunkle Brille ab, rieb die Augen und hörte abrupt auf, als ihm die Operation einfiel. Atlan war es zu verdanken, daß aus 5814 terranischen Sonnensystemen acht Milliarden Menschen unter ständiger Todesgefahr gerettet und nach Gäa gebracht worden waren, trotz der Verfolgung durch Hotrenor-Taak, das Hetos der Sieben und die Überschweren unter Leticron; eine einzigartige, nicht wiederholbare Leistung des Arkoniden. Diese Menschen waren zuvor auf Mars, Venus, Titan und Mimas und anderen bewohn-
baren Welten des Solsystems zurückgeblieben. Der Statthalter von Gäa, Provcon III, dem Neuen Einsteinschen Imperium, gab sich nicht selbst auf. Nicht einmal in diesem Zustand. Die verwunderliche Impression verging. Plötzlich sah der Historiker, daß Atlans Finger zu zittern schienen. Ein Muskel im Oberarm zuckte. Der Zellschwingungsaktivator bewegte sich auf der bleichen, von Biomolpflastern bedeckten Brust und reflektierte das Licht der Lampen und der farbigen Anzeigen der Überwachungsmonitore. Atlan schien zusammenzuzucken; langsam kippte die SERT-Haube im komplizierten Hydraulikgestänge nach vorn, senkte sich ebenso langsam und stülpte sich über Atlans Kopf, der von einem Netz unsichtbarer Antigravstrahlen oberhalb der Nährflüssigkeit gehalten wurde. Aescunnar war allein; er aktivierte die Lautsprecher und wartete. Er hörte Atlans tiefe, regelmäßige Atemzüge, schaltete mit einem einzigen Druck sämtliche Aufzeichnungsgeräte und die Umsetzer ein und warf einen raschen Blick auf das Chronometer: 22. Oktober 3561, 4.17 Uhr. Atlan begann zögernd zu sprechen. Die Erinnerung an Hammurabi und die mächtige Stadt Babyla am Buranun, die zuletzt preisgegebene – endgültige? – Staffel seiner Erinnerungen, schien noch an seinen Gedanken zu haften wie warmer Leim. Mehr oder weniger genau sechs Jahrtausende nach dem Untergang von Atlantis, mehr als eineinhalb Jahrtausende vor der Zeitwende, nach wie vielen Jahren Tiefstschlaf? Atlan flüsterte, murmelte, schwieg einige Sekunden lang, und als er wieder sprach, war seine Stimme klar, deutlich und kräftig geworden: Professor Cyr Aescunnar hörte zu und war ebenso gebannt wie seit mehr als sechzig Tagen.
1.
Noch war ich nicht in der Lage, zu sprechen oder meine Blicke auf einen bestimmten Punkt zu heften und genau zu erkennen, was ich sah. Über einem schier endlosen Ozean, zwischen weißen Wolken, trieb in einem spiraligen Wirbel eine rötlichgelbe Struktur zwischen der Westküste des riesigen Wüstenkontinents nach Nordwest und senkte sich über die Kronen des Regenwaldes, der die Strommündungen an der Ostküste des Doppelkontinents bedeckte. Zäh wanderten meine Gedanken; es schien, als hafteten sie in klebrigem Öl, und ich ahnte mehr, als ich wußte, daß ein Staubsturm Wüstensand aufgewirbelt und in einer Höhenströmung transportiert hatte. Der Sand aus der Wüste düngte die Regenwälder eines der längsten Ströme dieses Barbarenplaneten. Mein Körper fühlte Vibrationen und Wärme, mein Magen verarbeitete halbflüssige Nahrung, und eine schlanke, braune Gestalt mit schulterlangem schwarzem Haar näherte sich mir und sonderte halb verständliche Worte ab. »Du mußt ruhen und schlafen, Gebieter Atlan. Vieles, was du noch nicht begreifen kannst, ist in den hundertsieben Jahren geschehen, in denen du und deine Freunde wieder in meiner Obhut wart. In einigen Tagen wirst du mehr verstehen.« Ich war sicher, daß Rico zu mir sprach, schloß die Augen und fühlte, wie ich aus dem Bereich farbiger Bilder hinausschwebte in eine lange Phase tiefen, gesunden Schlafes. Unbestimmte Zeit später – Geräte und Maschinen manipulierten an meinem schwachen Körper, ich empfand Hunger und Durst, Kälte und Wärme, Wasser und Schwingungen und konnte zusammenhängend denken – saß ich halb aufgerichtet in einem Schwebesessel vor einer riesigen Wand voller Bildzeichen. Ich brauchte viel zu lange, um sie erkennen zu können: Götterworte, wie die Rômet, die Bewohner des Hapilandes, ihre schöne Schrift nannten. Nach langem Starren und Nachdenken stellten sich Begriffe
ein. Schreibrollen, Shafadu genannt, aus dem Mark der BitjBinse gefertigt, das Schriftmaterial aus dem Land am Hapistrom, sorgsam in Schwarz und Rot von rechts nach links beschrieben. Ricos Stimme erklärte: »Eine Botschaft, Atlan-Anhetes oder Atlan-Horus, ohne die du viele wichtige Ereignisse nicht verstehen kannst. Vermagst du sie schon zu lesen?« Ich wollte antworten, aber Kehlkopf und Lippen gehorchten mir nicht. Ich nickte mühsam. Mittlerweile vermochte ich zu begreifen, daß meine vagen Erinnerungen an Hammurabis Stadt Babyla mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun hatten, aber noch immer befand ich mich im Stadium eines hilflosen Kindes mit geringer Erkenntnisfähigkeit. Immerhin konnte ich die Schriftzeichen lesen, wenn auch in quälender Langsamkeit. Ein Unbekannter, der überaus sorgfältig zeichnete, hatte geschrieben: VON PEREMWAH, DEM TATJI DER GRENZTRUPPEN DES OSTENS, DESSEN SOLDATEN DIE TÜRME UND MAUERN DES KÖNIGSWALLS SCHÜTZEN, NAHE DJANET AM ÖSTLICHEN MÜNDUNGSARM. AN UNSERE HERRIN IM PER-AO, SIE LEBE EWIG UND EWIGLICH, AN SEBEKNEFERU, AM 15. TAG DES MONDES MECHIR IN DER JAHRESZEIT PERET: Siehe, göttliche Herrin, wir kämpfen an der Grenze gen Sonnenaufgang. Fremde mit Wagen, die gezogen werden von den schnellen »Eseln der Berge«, bedrängen wütend die Grenze und den Wall der Fürsten. Stets haben wir viele von ihnen mit blutigen Waffen zurückgewiesen, und wir waren ohne Gnade, wie du es befohlen hast. Wir nahmen den Besitz und das Leben der Männer; die Mädchen und Frauen führten wir als Sklavinnen in unsere Lehmhütten und sandten die schönsten in Booten nach Itch-Taui zu dir. Aber die Fremden sind zahl-
reich wie Sandkörner im Frühabendwind. Sie werden das Rômet-Land verwüsten wie Heuschrecken. Auch andere Grenzwächter schreien nach Hilfe und Waffen. Sie sagen, daß die Fremden Handel treiben, das Land bestellen und dem Kampf ausweichen. Sie kommen aus der östlichen Wüste und aus dem Land der Sumerer, aus den Stämmen der Amu, Setetiu und Retenu. Wir verbrennen ihre Leinenhütten und nehmen ihnen alles, was sie haben, aber sie bleiben, werden kühner, und ständig kommen mehr, Chaosu-Nomaden aus der Wüste des Asmach, des Ostens. Wir kämpfen nachts wie die Schakale, weil ihre Kampfwagen zu schnell sind. Herrin! Es steht schlimm um unsere Grenzfesten. Schicke uns ausgeruhte, gut bewaffnete Männer, Ersatz für unsere zerbrochenen Waffen. Sonst können wir uns jener, die man »Heka Chasut« nennt, nicht länger erwehren! GESCHRIEBEN IM DRITTEN JAHR DER REGIERUNG UNSERER GROSSEN HERRIN, DER GOTTKÖNIGIN SEBEKNEFERU. DREI ABSCHRIFTEN, DURCH LAUFENDE BOTEN UND SOLCHE IN BINSENBOOTEN. Meine Ohren identifizierten die zögerlichen Laute als meine Worte. Ich versuchte zu verstehen, was ich gelesen hatte. Wieder überfiel mich eine geradezu krankhafte Sucht nach Kühle, Ruhe und Schlaf, und als ich nach vielen Stunden wieder im Zentrum riesiger holographischer Projektionen schwebte, während meine ölglänzende Haut vom Licht der Solarlampen juckte und Rico, der schönste künstliche Rômet – »Menschen«, so nannten sich die fernen Nachfahren meines Freundes MeniNarmer und der unvergeßlichen Nefermeryt –, sich wie eine besorgte Amme um mich kümmerte, erkannte ich eine seiner zahlreichen Einspielungen. Ich stöhnte innerlich. Was hatte er in den zurückliegenden mehr als hundert Jahren gesehen, aufgezeichnet und berechnet, und wo hatte er eingegriffen und
selbständig zwischen den Barbaren von Larsaf III gehandelt? Ich erkannte eine Art Karawane von Fremden, die sich augenscheinlich den sorgsam gehüteten Grenzen des Landes näherten, jenes Landes am Strom, das sich aus Kême, dem Schwarzen Land, und Deshret, dem Roten Land, zusammensetzte. Als sie das erste Grün jenseits der endlosen Weite des Sandes sahen, erhob sich in ihrem Rücken die Sonne über die Dünenkämme und die Spuren der Räder. Die Pferde witterten Wasser, Schatten und saftige Weiden. »Dort hört die Wüste auf, Temosaran!« rief die junge Frau. Temosaran stellte sich auf die Zehenspitzen, schwang die lange Rute und drehte sich auf dem Sitzbrett des Gefährts um. Durch das malmende Knirschen, das die Kupferfelgen der Räder im Sand erzeugten, gab er über die Schulter zurück: »Bei den Bäumen beginnt unser neues Land, Amtara.« Temosaran war der vierte Sohn eines Nomadenhäuptlings; ihm waren weder Vieh noch Land, noch eine andere Aufgabe geblieben. Er hatte lange gebraucht, um begreifen zu können, daß es überall bessere Lebensbedingungen gab – überall, nur nicht in den kargen Tälern und Hängen des Asmach. Er fing sechs Pferde ein, hämmerte und schnitzte lange an einem Wagen und nahm die junge Frau mit, die seine Söhne gebären sollte. Heute schienen sie endlich am Ende einer langen Fahrt durch glühende Hitze, Durst und weißgelben Sand zu sein. Amtara hob langsam den Arm und winkte; sie war hungrig, schmutzig und müde, voller Schürfwunden und blutunterlaufener Stellen vom stoßenden und schwankenden Wagen. Aber als sie antwortete, lachte sie. »Auch wenn wir nur das Land durchziehen« – ihre helle Stimme schallte in der Ruhe des kühlen Morgens weit über den Sand – »dort ist Wasser. Wir stinken wie die Ziegenbö-
cke.« »Nicht mehr lange. Ich werde deine Haut mit Zedernöl glänzen lassen.« Er ruckte mit den Zügeln. Die Tiere gehorchten willig und griffen kräftiger aus; er selbst hatte sie ans Geschirr und die Zügel gewöhnt. Der Stamm besaß viel Erfahrung in der Aufzucht dieser schnellen, starken Tiere. Amtara war eine erfahrene Hirtin – sie waren ein Paar, das in der Fremde überleben konnte. Hinter dem fast weißen, vom Wind geriffelten Sand tauchten die sattgrünen Wedel großer Palmen auf, zwischen Tamarisken und Schilf; Temosaran glaubte, das Plätschern von Wasser zu hören. Der Sand gab die nächtliche Kälte an die Umgebung ab, die Sonne überschüttete mit heißen Strahlen das Land. Die endlos langen Schatten der Wagen berührten die Gräser und Baumwurzeln des grünen Streifens. Als die Pferde das Gefährt über die Kuppe der niedrigen Düne gezogen hatten, erkannte der schwarzhaarige Fremde, daß sie das Gebiet des fruchtbaren Mündungsdreiecks erreicht hatten. Das Land vor ihnen war keine Oase, sondern erstreckte sich vom linken zum rechten Rand des Horizonts und verschmolz mit der Meeresküste, die zur rechten Hand zu ahnen war. Bald würden sie auf einen träge fließenden Mündungsarm stoßen. Temosaran hob den Arm und rief: »Das ist das Land, von dem die Händler berichten? Dort, rechts im Dunst, liegt das Meer, das sie das ›Große Grüne‹ nennen. Vor uns ist das Fruchtland.« Die Pferde stemmten sich ins Joch, ihre Hufe wühlten durch den Sand, dann rannten die Tiere den langen Hang hinunter. Das Wasser zog sie an. Hinter dem braunhäutigen Mann, dessen schulterlanges Haar im Wind flatterte, knirschten und rumpelten die Scheibenräder des zweiten Wagens; er trug, hoch beladen, die gesamte Habe. Erst als die Pferdehufe das Gras berührten, zog der Häuptlingssohn an den Zügeln. Er
wandte den Kopf, blickte um sich und glaubte, den Rauch erloschener Feuer zu riechen. Es war viel zu still. Links am Horizont, mit der Farbe der Dünen verschmelzend, erhob sich ein kantiges Bauwerk. Temosaran sagte leise: »Vielleicht sind wir auf die Reste der Königsmauer gestoßen? Die Rômet haben mit diesen Stützpunkten und Türmen einst ihre Grenze geschützt – sagen die Händler.« Er hob die Schultern. Nichts deutete darauf hin. Die Bronzelager ächzten, als Amtaras Wagen neben ihm hielt. Die Pferde senkten die Köpfe und zupften gierig an den fetten Halmen. Die junge Frau strich das Haar aus der Stirn. »Du wirkst unruhig. Witterst du Gefahren?« »Wir haben schon zu lange Zeit niemanden gesehen.« Seine Stimme wurde rauh, auf den Unterarmen richteten sich die Härchen auf. »Wir sind in einem fremden Land. Ich denke, wir sind nicht allein hier.« Er riß an den Zügeln und schlug mit der pfeifenden Rute zu. Die beiden Pferde wieherten grell, rissen die Köpfe in die Höhe und zogen den Wagen nach links. Als sie wild stolpernd galoppierten, rollte die linke Felge über einen Stein, der Wagen sprang hoch und fiel schwer zurück auf die krachende Achse. Vor beiden Gespannen tauchten zwischen Stämmen und Büschen viele Männer auf und starrten die Fremden schweigend an, aus großen, dunklen Augen. Wie eine bronzene Faust packte die Vorahnung von Gefahr und Tod den jungen Mann; vor ihm standen Schwerbewaffnete. »Nein! Nicht das«, murmelte Temosaran. Er dachte daran, daß er weder ein Krieger war noch Waffen besaß. Die Gesichter der Männer trugen einen harten, hungrigen Ausdruck. Ihre Blicke, die sich auf Amtara richteten, waren ohne jedes Mitleid. Temosaran sah das Blitzen der Sonnenstrahlen auf den Blättern der Wurfspeere. Der Stich eisiger Furcht hielt seinen Herzschlag an. Die Krieger trugen Bronzebeile und große, fell-
bezogene Schilde, auf denen Tautropfen wie wertvolle Steine funkelten und glitzerten; es waren Soldaten des Rômetlandes. Temosaran hob die rechte Hand und lächelte unsicher, die leere Handfläche den Soldaten zugekehrt. Er rief mit unsicherer, dünner Stimme: »Wir sind aus dem Osten, Herr!« Er hielt den Wagen an, wickelte die Zügel ums Sitzbrett und blickte nach hinten. Amtara sprang ins Gras und kam auf ihn zu, ihr herzförmiges Gesicht trug den Ausdruck nackter Furcht. Temosaran sagte: »Wir suchen Land, das wir bebauen dürfen. Wir haben uns offen und in Frieden genähert.« Einer der Soldaten, der an den Oberarmen breite, golden blitzende Reifen trug, sagte mit halblauter Stimme einige kurze Sätze, die wie Befehle klangen. Temosaran verstand nicht ein Wort, aber der Sinn entging ihm nicht; der Tonfall sagte ihm alles. Er lehnte sich an den Wagenkorb und griff hinter sich, packte den Griff der kleinen Wurfaxt. Amtaras ängstliche Blicke gingen zwischen Temosaran und den Soldaten hin und her. Plötzlich schrie sie auf. »Bitte! Nicht…« Temosaran zog sie zu sich hinauf aufs Sitzbrett. Die Soldaten, ungefähr vierzig Männer mit sonnengegerbten Gesichtern, schlossen schnell einen Kreis um die Gespanne. Der Anführer deutete auf die Pferde, dann auf Amtara und zuletzt auf den Fremden. Durch die Stille des kühlen Morgens hallten einige Sätze der unverständlichen Sprache. Temosaran und Amtara sprangen vom Wagen. Der Häuptlingssohn legte den Arm um die Schultern der Frau und hob die Axt. Er hatte begriffen: Sie waren unerwünschte Fremde, die Grenze blieb undurchdringlich, und die Soldaten zwischen dem Mündungsdreieck und der Wüste handelten, wie es ihnen gefiel, wie sie es gewohnt waren. Fremde waren Feinde, Feinde wurden ohne Erbarmen
getötet – es war hoffnungslos, Gnade erwarten zu wollen. Temosaran zwang sich dazu, trotz seiner Furcht langsam zu sprechen. Vielleicht verstand jemand ein paar seiner Worte. »Keinen Kampf. Wir sind arm. Wir sind keine Feinde. Wir fahren zurück, wir…« Hinter ihm glitt ein hochgewachsener Mann zwischen den Stämmen der bienenumsummten Dattelpalmen hervor, suchte mit seinen Augen den Blick des Anführers, und als der Mann mit den goldenen Oberarmreifen den Blick senkte, zog der Bogenschütze die Sehne bis zum Ohr aus. Temosaran hörte ein gellendes Sausen und spürte einen harten Schlag zwischen den Schulterblättern, einen glühenden Schmerz, der alle Gedanken auslöschte. Er sah, wie sich die blutige Pfeilspitze über seinem Herzen wieder aus der Brust bohrte, und brach mit ausgebreiteten Armen auf dem Gras zusammen. Seine Gedanken verwirrten sich, seine Beine zuckten, die Axt rutschte aus den kraftlosen Fingern, schlitterte über das taufeuchte Gras und bohrte sich in den Knöchel eines Soldaten. Temosaran drehte wimmernd den Kopf und hörte Amtaras ersten Schrei. Die Soldaten griffen in die Zügel der Pferde und führten sie zur Seite. Die Rädernaben knarzten. Zwei Soldaten packten Amtara an den Armen, ein dritter riß das Kleid von ihren Schultern und preßte die Hand auf ihren Mund. Man warf sie ins Gras. In den langen Augenblicken, in denen das Leben seinen Körper verließ, erfaßte der Häuptlingssohn das Geschehen um sich herum in schmerzhafter Klarheit; alle Einsichten erhielten eine kalte Bedeutung, die sich auf die Frau richtete, der die Soldaten Gewalt antaten, und auf den Luftzug des Bronzebeils, das seinen Schädel bis zum Schulterknochen spaltete. Wirbelnde Gedanken, Trauer und Wut, lautlose Schreie und Schmerzen, die den Körper in ein glühendes, zuckendes Bündel verwandelt hatten – die Sonne wurde ausgelöscht. Temosaran starb, und der letzte bewußte Gedanke war wie
grenzenlose Erleichterung. Neun Schritte neben ihm, auf einigen fettigen Decken und muffigen Mänteln, lag Amtara auf dem Rücken, richtete die Augen in den wolkenlosen Himmel und wimmerte; Schmerz, Ekel und Scham überwältigten sie. Schmerzen pochten unter meiner Schädeldecke, und die wenigen Bewegungen ließen die Muskeln zittern. Mein Verstand arbeitete schon ein wenig schneller, und ich begriff immerhin, daß sämtliche Einspielungen, Geräusche ebenso wie Bilder und Sprache, mein auftauendes Denkvermögen vor dem Wahnsinnigwerden bewahrten, vor dem Schock, nach langem Schlaf an der Wirklichkeit zu zerbrechen. Aber über meinem Erinnerungsvermögen schien eine dunkle Wolke zu liegen. Die lange Prozedur zwischen Aufgewecktwerden und voller Leistungsfähigkeit war jedesmal die gleiche Qual. Rico sprach langsam und gebrauchte eine Sprache, die ich verstand, aber erst nach langem Nachdenken als Sumerisch erkannte; es lag nahe, daß ich sie zuletzt gesprochen hatte. Zuletzt? Wann? Ich verstand mühsam: »ES scheint dich geweckt zu haben, Atlan. Nach hundertsieben Jahren Schlaf. 6411 Larsafjahre nach Untergang von Atlantis. Du siehst Ereignisse, die sich seither östlich der Stadt Djanet ereigneten. In der ›Ostmark‹, im Hinteren Königsknabengau und im Östlichen Harpunengau.« Ich brummte und murmelte etwas und zwinkerte. Rico verstand augenblicklich, hob die Hand und schaltete lautlos und unsichtbar. Auf den riesigen Monitoren erschien eine weitere Shafadu-Botschaft. AN PEREMWAH, DEN TATJI DER GRENZTRUPPEN IM ASMACH, AN DER FÜRSTENMAUER, AUS DEM PALAST IN MENNEFER:
Seit fünfzehn Jahren, mein Freund, ist die Herrschaft unserer Gottkönigin Sebekneferu in andere Hände gelegt worden. Hunderte und Tausende der Eindringlinge aus dem Osten, die wir Heka Chasut, Herren der Fremdländer, nennen, wohnen nun in Amenti, unserem Land, in den Weiten des fruchtbaren Dreiecks, in Djanet regieren die Fürsten der Fremden. Lasse ab, gegen sie zu kämpfen, denn nunmehr sind sie unsere Herren im Mündungsdreieck. Zieh dich mit deinen Männern zurück von der Grenze, von den zerfallenen Türmen des Fürstenwalls. Und wenn du Befehle entgegennehmen mußt von den Nomadenfürsten, so gehorche ihnen. Ein kleiner Teil des Reiches ist in ihren Händen; unsere Götter werden uns das Jahr und den Tag schenken, an dem wir sie machtvoll vertreiben. Dies schreibt dein Freund Aakenen. Verbrenne die Shafadurolle und versuche zu überleben, so, wie wir es tun. VON AAKENEN-RE, DEINEM BEFEHLSHABER UND FREUND, AM 8. TAG DES MONDES THOT DER JAHRESZEIT ACHET, VOR DER HAPIÜBERSCHWEMMUNG. Der alte Peremwah bewegte in einer herrischen Geste die Hand. Die Binsenmarkrolle fiel ins Feuer und verbrannte augenblicklich. Ein trockenes Lachen schüttelte den Körper des Mannes, der sehnig und mager wie sechzig Jahre aussah, aber nur vierzigmal die Überschwemmung erlebt hatte. Er lehnte sich auf dem Hocker aus Riedgeflecht zurück und blickte unter dem schmutzigen Leinenvordach der Laubhütte in die Wüste hinaus. Seine Stimme klang trocken wie Sand. »Zu spät, Freund Aakenen, zu spät. Wärst du hier, dann würdest du sehen, daß wir den letzten Kampf vor uns haben.« Die alte, heilige Ordnung des Hapireiches zerbröselte ebenso wie die Mauern und Türme der Befestigungen. Überall waren sie hereingesickert wie Sandflöhe, jene Fremden. Wenn diese Stelle des Fürstenwalls, bisher ein zuverlässiger Wall nahe
Djanet, aufgegeben werden würde – er selbst würde es nicht mehr erleben, da er ins Heck der Sonnenbarke getragen wurde –, nähmen die Hirten der Fremdländer die Stadt und ihr fruchtbares Umland endgültig in Besitz. Peremwah befehligte knapp drei Hundertschaften Soldaten, alte, kampferfahrene Wüstensoldaten, zäh, von vielen Narben gezeichnet, nicht besonders gut bewaffnet und sorgenvoll, was den bevorstehenden Kampf betraf. Das Knirschen von Räderfelgen ertönte durch den löchrigen Stoff der Seitenwand. Peremwah stand ächzend auf und ging hinaus. Der Späher lenkte die Tiere, Beute der vorletzten Kämpfe, auf ihn zu. Sie waren satt, gestriegelt und ausgeruht; man schonte sie bis zum Ende des Kampfes. Mit rauher Stimme sagte der Späher: »Herr Peremwah. Sie sind da. Sie haben sich in Reihe hinter dem Hügel aufgestellt; ich habe zehn mal sieben Kampfwagen gesehen und das Blitzen vieler Waffen.« »Wann werden sie angreifen, Metchetchi? Was denkst du?« Seit Tagen herrschte in den Türmen und in deren Schatten die fast unerträgliche Spannung der Vorbereitungen. Pfeilspitzen, Speerblätter und die Klingen der Kampfbeile wurden geschliffen, bis sie wie Gold glänzten. Die Waffen glichen den Männern, die sie handhabten: seit Jahrzehnten benutzt, immer wieder ausgebessert, tödliche Werkzeuge, die auf ihre Träger abgestimmt waren. Vielleicht überlebten morgen einige Männer, die geschärften Waffen aber würden zerbrochen sein. »Am Vormittag, Herr. Hast du besondere Befehle?« »Nein. Sag’s auch Meresankh.« Peremwah schüttelte den kahlen Schädel. Alles war längst besprochen und gesagt. »Keine Befehle. Nur, zum letztenmal, meine Frage: Wollt ihr kämpfen und sterben? Oder sollen wir uns, wie Aakenen riet, zurückziehen? Wenn die Kampfwagen der Heka Chasut auftauchen, ist es zu spät.«
»Ich habe alle Soldaten gefragt«, antwortete der Späher, der sich seit zwei mal zehn Jahren am Fürstenwall befand. »Sie werden kämpfen wie die Rasenden.« »Nun, bei Sachmets Zorn. Dann werden wir alle sterben.« Peremwah legte die Hand auf den Brustgurt. »Es ist beschlossen. Mit uns stirbt der letzte Widerstand. Es dauert nicht mehr lange, dann werden sie über das ganze Hapiland herrschen, bis hinauf zur ersten Stromschnelle.« Der Anführer und der Späher blickten sich schweigend an; mit Blicken, schwerer als die Äxte in ihren Händen. Sie hatten sich entschlossen, es gab kein Zurück, und sie waren die letzten Verteidiger, die mit Pferden und Wagen aus der Beute einiger Jahre kämpften. Peremwah hob den Arm. Der Unterarm war von einer Ledermanschette geschützt, die mit Bronzeschnallen und Kupfernieten verstärkt war. Metall und Leder zeigten lange Kratzer und tiefe Narben. »Sag meinen Männern, daß wir den Angriff erwarten. Wir nehmen die Fremden mit ins Totenreich.« Der Späher schlug die flache Hand gegen die lederne Brustplatte. Er lachte kurz. »Beim großen Ptah! Einige der unzähligen Heka Chasut werden wohl überleben, denke ich.« Die düstere Stimmung schien auch die Tiere ergriffen zu haben; mit hängenden Köpfen zogen sie den Wagen langsam an Peremwah vorbei in den Schatten eines Überdaches aus zerbröckelnden Lehmziegeln, mürbem Palmholz und splitterndem Binsengeflecht. Der Wachturm zwischen Fruchtland und Wüste war halb zerfallen, und die ersten Risse und Spalten waren seit fünfzig Jahren nicht ausgebessert worden. Nur Mut und Kampfgeist der Soldaten verfielen nicht. Peremwah hatte alles vorbereitet, was ihm den Weg ins Totenreich sicherte und eine Wiedergeburt im Glanz von Rê-Harachte: alle Gebete und ein Grab, in dem engbeschriebene Rollen voller Beschwörun-
gen lagen. Er wußte, daß sein Tod unentrinnbar war, und überprüfte mit langsamen, bewußten Bewegungen seine Ausrüstung. Er knotete sorgfältig die Riemen der Sandalen, schnallte den Gürtel enger und prüfte die Pfeile im Köcher. Aus den Lederscheiden zog er nadelfein zugeschliffene Dolche und schob sie zurück, befestigte am linken Unterarm einen ledernen, mit Bronze beschlagenen Armschutz und spannte den abgegriffenen Bogen. Zwei Ersatzsehnen wickelte er ums obere Ende und legte die lange Kampfaxt mit dem halbkreisförmigen Blatt und dem langen Dorn vor sich auf das Tischchen. Schweigend starrte Peremwah in die Wüste, über deren Sand die Hitze flirrende Scheinbilder erzeugte. Von seinen Männern kamen halblaute, knappe Rufe und Kommandos. Auf einem dreihundert Schritt langen Mauerstück standen Säulen aus Lehmziegeln; die meisten Querbalken waren heruntergebrochen. Aus den Bruchstücken hatten die Soldaten eine Art Brustwehr aufgeschichtet, am Ende der Mauer war vom Wind Sand bis zur Kante angehäuft worden. In Fugen und Rissen der Mauer steckten die alten, sorgfältig polierten Feldzeichen der drei Hundertschaften und funkelten hinüber zu den Angreifern. Aus einem Krug, der von Wasserperlen beschlagen war, trank Peremwah einen langen Schluck kaltes Bier. Das letzte Henket. Der alte Soldat nahm seine Waffen auf, sah sich noch einmal um und ging zu seinen Männern. Sie waren bereit; der Kampf konnte beginnen. Die Wagen waren handwerkliche Meisterwerke. Jede Handbreit war immer wieder geprüft und nachgesehen worden. Für Fahrten über den Sand hatten die Handwerker breitere Felgen gehämmert. Holz, Flechtwerk und die Lederverbindungen der Wagenkörbe waren vor einer halben Stunde mit Wasser übergossen worden und federten jetzt wie neues Material. Die
Pferde waren auf Kämpfe abgerichtet; mit Befehlen, die man seit langer Zeit kannte. Mit Schreien und Flammen, stinkendem Rauch und einem listigen Vielerlei aus Belohnung, Schmerz, Strafe und guter Behandlung hatte man sie abgehärtet. Selbst wenn sie verwundet waren, würden sie jedem Befehl des Wagenlenkers gehorchen. Sie standen ruhig da, nur ab und zu zuckten Muskeln und ließen erkennen, daß auch die Zugtiere wie Bogensaiten gespannt waren. Hundertfünfzig Tiere vor fünfundsiebzig Wagen und zwei Mann in jedem Wagenkorb warteten auf das Signal. Männer und Tiere waren ebenso schnell und tödlich wie die Raubfalken der Berge in Retenu, woher sie gekommen waren. Am Ende einer langen Reise, die in vielen kleinen Abschnitten verlaufen war und nun endete, stand der entscheidende Kampf. Für diesen Teil des Landes war es der letzte Todesstoß; die Heka Chasut aus den Fremdländern wußten es ebensogut wie ihre Gegner. In den Wagenkörben standen mittelgroße, braunhäutige und sehnige Männer mit dichtem, gekräuseltem Haar und dunkelbraunen Augen. Einige trugen kurze Barte. In jedem Gesicht hatten sich die Falten der Anspannung eingegraben: die Münder zitterten, und Schweiß sickerte unter den ledernen Stirnbändern in die schwarzen Brauen. Die Heka Chasut wirkten, obwohl sie zumeist jüngere Männer waren, viel älter und erfahrener; sie trugen meist die gleiche Art der Bewaffnung wie die Soldaten des Hapilandes. Die Fremden wußten: Sie waren jung und hungrig, voller Eroberungsdrang, und die Verteidiger waren alt und wußten, daß sie verlieren würden. Einige Anführer zitterten vor Ungeduld. Innere Dämonen schienen sie vorwärts zu treiben. Scharek, der die Truppe ausgebildet hatte und befehligte, war sicher, daß er der nächste Herrscher der Stadt Djanet sein würde; er oder Apophis, sein wildester Krieger, der Meister der Wurfaxt. Hinter der Reihe der Gespanne warteten noch mehr ausgeruhte Krieger mit
neuen Waffen, frischen Pferden und Binden für die Wunden. In der Mitte der weit auseinandergezogenen Wagenreihe hoben einige Männer geschwungene Hörner an die Lippen. Scharek senkte das Kampfbeil. Ein schauerlicher Laut, der aufund abschwoll, fuhr über die Reihe dahin. Die Pferde zuckten mit den Ohren, rissen die Köpfe in die Höhe und keilten aus, mühsam von den Zügeln gehalten, die an die Haltegriffe geknotet waren. Die Krieger banden ihre Gürtel an die Schlaufen in den Wagenkörben, bronzene Waffen blitzten, der letzte Ton verhallte gleichzeitig mit dem grellen Wiehern. Nach einigen Atemzügen dröhnten die Hörner ein zweites Mal auf. Die Wagenlenker stießen gellende Schreie aus und gaben die Zügel frei. Die erste Gruppe, ungefähr vierzig Gespanne, löste sich aus der Reihe. Unter wirbelnden Pferdehufen staubten Sandwolken hoch. Die Männer bogen ihre Körper nach hinten, Peitschen knallten und streiften Kruppen und Hälse der Tiere. Felgen schnitten parallele Linien in den Sand. Zuerst bildeten die Hufschläge ein leise donnerndes Geräusch, dann, als sie schneller wurden, schien der Boden zu zittern. Das dumpfe Trommeln war der Laut, der die Angriffslust aufs äußerste anstachelte. Als die Kanten des Turms und die bröckelnden Säulen hinter den Dünen auftauchten, vollführten die Wagen hinter Scharek eine halbe Wendung und zogen sich zu einer langen Reihe auseinander. Die Bogenschützen, links von den Wagenlenkern angeschnallt, griffen über die Ränder der Wagenkörbe, zogen Pfeile aus den Köchern und legten sie auf die Sehnen. Ihre Bewegungen erfolgten fast gleichzeitig. Die Lenker hoben die Schilde und schirmten die Oberkörper ab. Wieder änderten die Wagen die Angriffsrichtung: Sie fuhren schräg aus der Reihe heraus und auf die Rômetsoldaten zu, die Pferde gingen im schärfsten Galopp, und der Trommelwirbel der Hufe ließ Sand
und verdorrte Pflanzen aus den Quaderfugen rutschen. Hinter den Steinen standen Rômetsoldaten auf, spannten ihre großen Bögen und drehten sich halb, um die Ziele zu verfolgen. Hundert Heka Chasut schossen fast gleichzeitig; es war eine fast rituelle Eröffnung des Kampfes. Die Sehnen hämmerten gegen bronzene und lederne Armschütze, die Pfeile heulten durch die Luft, und fast jeder zweite Pfeil traf. Wenige Atemzüge lang verwandelte sich der Raum hinter der Mauer in ein wildes Durcheinander. Pferde, in deren Haut, in Hälsen oder Augen Pfeile zitterten, kreischten auf, keilten nach allen Seiten und zerschlugen Deichseln oder zerrissen das Zuggeschirr. Pfeile steckten in Schilden und Wagenkörben: einige Heka Chasut waren von Geschossen ans Flechtwerk genagelt worden. Pfeile steckten in Mauerfugen, in den Schultern der Rômet-Bogenschützen und in Schilden. Einige Soldaten waren verwundet, andere starben im Sand und auf Ziegelquadern, andere hingen vornüber auf der Brustwehr. Am rechten Ende der Rampe hatten Soldaten die Vorderfüße zweier Pferde zertrümmert und die Lenker angegriffen, gerade in der Zeitspanne, als diese nach dem nächsten Pfeil gegriffen hatten. Die erschlagenen Fremden lagen neben den röchelnd wiehernden Pferden im Sand. Wieder erkannten die Rômetsoldaten, daß die Waffen der Heka Chasut aus besserer oder besser bearbeiteter Bronze bestanden als ihre eigenen Waffen. Die Streitwagen bogen ab, tote Pferde wurden aus dem Geschirr geschnitten. Die Fremden, die sich an den Wagen zu schaffen machten, wurden von Peremwahs besten Bogenschützen aus hundertzehn Schritt Entfernung in den Hals getroffen und getötet. Von vierzig Gespannen kamen vierunddreißig zurück zur Angriffslinie hinter dem Hügel. In den Wagenkörben standen –, von Gurten gehalten und vom zweiten Mann gestützt, zehn tote Angreifer; jeder von einem meisterlichen Pfeilschuß getroffen. Wieder heulten und dröhnten
die Hörner. Einige Schützen der Rômet tauchten die Pfeilspitzen, um die Lumpen gewickelt waren, in Ölkrüge und hielten sie an Glutkörbe. Mit wenigen Schüssen wurden die liegengebliebenen Wagen in Brand gesetzt. Fünfzehn Gespanne ratterten auf den Turm zu. Peremwah wußte, daß dieser Teil des Kampfes nicht mehr als ein unbedeutendes Geplänkel darstellte. Jene Männer, die ein schneller Pfeil getötet hatte, zählten auf beiden Seiten zu den Glücklichen dieses Tages. Peremwah winkte seinen Späher Meresankh heran. »Es sind zu viele für uns.« Meresankh schüttelte seinen Köcher. »Wir können sie aufhalten, aber nicht besiegen.« »Also ein langer Kampf.« Peremwah legte ruhig neun Pfeile vor sich auf die Barriere. Jenseits der Rauchsäulen aus den brennenden Gespannen erhob sich, wie der Vorbote eines Sandsturms, eine Wolke aus feinem Staub, aus der blitzender Widerschein von Waffen schoß, von wirbelnden Läufen galoppierender Pferde und metallbeschlagenen Rundschilden. Peremwah machte seine Soldaten mit knappen Armbewegungen auf die Angreifer und die Verteidigung an beiden Seiten der Anlage aufmerksam. »Wenn die Nacht beginnt, werden es weniger von ihnen sein.« »Aber dann ist von uns keiner mehr übrig.« Meresankh sprang hinter eine Säule und schoß schweigend und mit kaltem, verschlossenem Gesicht einen Pfeil nach dem anderen ab. Mit jedem Pfeil traf und tötete er einen Fremden. Neben ihm jagte Peremwah seine Geschosse über die Brustwehr. Er versuchte, Männer zu treffen, nicht die Tiere. Ein Pfeilhagel prasselte rings um ihn in die bröckelnden Mauerteile. Eine Pfeilspitze schnitt eine blutende Spur in seinen Schultermuskel, eine andere prallte vom Armschutz ab, der Pfeil heulte davon. Als die letzten Wagen heranknirschten und unterhalb der
Mauer entlangrasten, riß Peremwah einen Wurfspeer aus dem Binsenkorb, schwang ihn und schleuderte ihn schräg abwärts. Ein Gespannlenker fuhr in das Geschoß hinein, das lange Blatt bohrte sich in den Magen des Fremden. Ein grauenhafter Schrei war zu hören, als der Wagen vorbeifuhr. Brandpfeile schlugen ins Geflecht des Wagenkorbes und setzten es in Flammen. Pferde, deren Mähnen und Schweife brannten, zerrten Wagen richtungslos in die Wüste. Gespanne kippten in Sandwolken um, Räder wirbelten durch die Luft wie Schleudersteine; eines sprang bis zur Mauerkrone und köpfte einen Bogenschützen. Die Fremden, von den eigenen Zugtieren zu Tode geschleift, brüllten, bis sie das Bewußtsein verloren. Der zweite Angriff war vorbei, die dritte Welle flutete heran wie die Brandung am Strand. Der Kampf wurde erbitterter. Es gab kaum noch Pausen. Peremwah rannte umher, schrie anfeuernde Befehle, schleuderte Speere und wirbelte herum, als er sah, daß zwei fremde Streitwagen den Turm halb umfahren hatten und von hinten anzugreifen versuchten. Er schrie: »Meresankh! Hinter dem Wall!« Der hagere Soldat mit der Narbe auf der Wange begriff. Sie liefen zum eigenen Gespann, schwangen sich in die Körbe und knoteten die Zügel los. Schläge mit den Lanzenschäften und Stiche mit Bronzeblättern ließen die Tiere erschreckt aufwiehern und fast aus dem Stand in Galopp fallen. Rad an Rad schleuderten die Wagen über die halb versunkene Straße am Fuß des Turms auf die Eindringlinge zu und wurden schneller. Meresankh und Peremwah hoben Wurflanzen und holten mit dem rechten Arm weit aus. Die Linke hielt die Zügel. Mit gellenden Kriegsschreien feuerten sie sich gegenseitig an und machten die Pferde halb rasend. Die Fremden blickten überrascht um sich, fingen sich schnell und hoben die Bögen. Die ersten Pfeile summten über die Köpfe der Soldaten, die beiden
nächsten bohrten sich in die Wagenkörbe, dann war die Entfernung für einen Lanzenwurf erreicht. Die Lanzen warfen die Bogenschützen rückwärts aus dem Wagen. Sie überschlugen sich im Sand; als die Körper liegenblieben, hatte sie das Leben schon verlassen. Mit einem harten Ruck warfen Peremwah und Meresankh die Gespanne herum, aus der Geraden in voller Geschwindigkeit auf die feindlichen Wagen zu. Peremwahs Stimme schwoll an. »Jetzt, Meresankh!« Beide Männer schnellten sich rückwärts aus den Wagenkörben, umklammerten die Knie und zogen die Köpfe ein. Sie rollten im aufstäubenden Sand ab, richteten sich auf und faßten die Griffe der Kampfäxte. Die Schneiden blitzten, als sie Halbkreise über den Köpfen der Rômet beschrieben und die Schädel der Wagenlenker trafen, die in einem unentwirrbaren Knäuel schreiender, um sich schlagender Tiere sowie den Trümmern der vier Wagen verkeilt waren. Meresankh und der Anführer rissen Waffen und gefüllte Köcher der Fremden aus dem Geflecht und rannten zurück an ihre Plätze am Turmstumpf. Als sie die Deckung erreichten, ratterten und polterten die Wagen des vierten oder fünften Angriffs in einer Sandwolke heran. Ich wußte es, sagte sich Peremwah, während er versuchte, gleichzeitig zu erkennen, was an verschiedenen Stellen vor sich ging. Die Fremden sind genauso mutig wie wir, ebenso gute Krieger, und sie gehorchen ihrem Anführer. Das ist es, was sie zu Siegern macht. Das und ihr Machthunger. Er rammte einem Angreifer, der am Griff eines Wurfankers hing und sich über die bröckelige Mauerkante schwingen wollte, den Stachel der Axt zwischen die Augen. Der Schrei des Fremden riß ab, als er im Sand aufschlug und von einem Gespann zertrampelt wurde. Neben der Gürtelschnalle häm-
merte ein Pfeil in Peremwahs Gürtel und riß eine dreieckige Wunde über der Leber. Eine breite Bahn Blut sickerte durch den Schutz über den Schenkel. Peremwah brach den Pfeil ab und kämpfte weiter. Neben ihm kippte ein Soldat einen Glutkorb in ein Gespann, das hart unter der Mauer wendete. Aufgewirbelter Sand biß in den Augen, in den Nüstern und zwischen den Zähnen. Die ebenen Flächen vor den Dünen hatten sich in einem weiten Halbkreis um den Turm in eine Zone des Todes verwandelt. Reste von Wagen schwelten und rauchten. Sterbende Männer und tote Pferde lagen im Sand oder versuchten sich wegzuschleppen. Überall lagen und steckten zerbrochene Waffen. Die Brustwehr starrte von Pfeilen. Über ihren lockeren Blöcken lagen etwa hundert tote Rômet. Schon näherten sich neue Krieger mit ausgeruhten Pferden und unversehrten Wagen. Die Zeit verging in trostloser Langsamkeit; der Kampf ging weiter, und auf beiden Seiten starben mehr Männer. Die Gruppe der Rômet war zusammengeschmolzen und hatte sich um den inneren Bezirk rund um den Turmstumpf versammelt. Auf dem Dach des Tempelchens knieten Bogenschützen und schossen, scheinbar ungerührt vom Geschrei der Verwundeten und den Rauchwolken, auf die Angreifer. Die meisten Pfeile trafen. Über der Kampfstätte lag eine Wolke aus Rauch, Staub, Sand und Gestank, aus der süßlicher Blutgeruch und Schweiß der Männer wehten. Es roch nach Erbrochenem und dem Inhalt der Pferdedärme, die sich in Radspeichen verfangen hatten. Blut trocknete im Sand. Herrenlose Pferde rannten mit nachschleifenden Zügeln zwischen den Kämpfenden hin und her und schrien; ihre Hufe klapperten gegen Schilde und Köpfe von Sterbenden und Toten. Kurz nach Mittag: Die Sonne stach fast senkrecht herunter und spießte die Männer auf dem Boden und den glühendheißen Steinen fest. Schweiß floß in Strömen. Ab und zu rettete
sich ein Soldat ins dunkle Innere des Tempelchens. Dort standen im Schutz wuchtiger Lehmziegelmauern große Krüge voll Brunnenwasser. Halbwegs erfrischt stürmten die Männer wieder in die Grelle, um sich in den Kampf zu stürzen. Noch kämpften vielleicht zehn Dutzend der Rômet. Die Heka Chasut hatten mit all ihren Gespannen und den wenigen Fußkämpfern einen Kreis um die Reste der Festung geschlossen. Die verletzten Tiere wurden fortgeschafft, die verwundeten Männer trugen die fremden Krieger in den Schatten. Zwischen zu Asche verschwelenden Wagen und toten Pferden humpelten alte Männer mit Keulen und erschlugen die Sterbenden mit Steinkeulen – ohne Unterschiede zwischen eigenen Männern und denen des Gegners zu machen. Hoch über dem Rand der Fruchtzone schwebten die ersten Geier. Rabenvögel, die das Fleisch der Leichen witterten, kreisten am Rand der Dünen und krächzten schauerlich. Ihre Schwärme wurden größer und dichter, aber noch wagte sich kein Vogel zur Stätte des Todes hinunter. Einige Frauen liefen zwischen den Gespannen umher und reichten den Männern Krüge und tropfende Tücher. Ein Schrei; eine dichte Wolke von mehr als hundert Pfeilen fegte die letzten Bogenschützen vom Tempeldach. Peremwah schloß betäubt die Augen; kaltes Grauen packte manche Soldaten, als ihnen die zuckenden Körper der Freunde vor die Füße fielen. Die Männer sahen aus wie die pfeilgespickten Zielscheiben, an denen sie einst lange geübt hatten. Ein doppeltes Kreischen ertönte. Zwei Soldaten, deren Beherrschung sich auflöste wie ein Trugbild, sprangen mit Schaum auf den Lippen aus der Deckung zwischen den Säulenstümpfen und rannten auf die Fremden zu. Sie waren mit Schilden, Dolchen und Kampfäxten bewaffnet. Tief aus ihren Kehlen kamen seltsame Schreie, als sie zuschlugen. Sie bewegten sich so schnell, daß Peremwah Mühe hatte, zu erkennen,
was sie anrichteten. Die Schneiden der Kampfbeile spiegelten Sonnenstrahlen in alle Richtungen, als sie herunterfuhren, schnitten, Wunden rissen und Knochen spalteten. Dumpf dröhnten die Schläge auf den Schilden. Als die Klingen brachen, warfen die Soldaten, noch immer kreischend und heulend wie Tiere, die zerbrochenen Waffen und die Schilde auf die Gegner, die vor Schrecken starr standen. Die Rômet packten mit beiden Händen die Dolchgriffe und sprangen die Gespanne an – nun töteten sie in kalter, stummer Raserei. Einige Atemzüge lang herrschte die Stille des Entsetzens. Mit seltsamen Klatschen schlugen Pfeile in die Körper der Rasenden. Die Verwundungen hielten sie nicht einen Herzschlag lang auf. Sie bluteten aus Dutzenden Wunden, sprangen aber noch immer hin und her und stachen zu. Ein Mann sprang in einen Wagenkorb, erdolchte von hinten den Lenker, wurde von einem Speer gegen den Korb gepreßt und biß sich im Hals des Bogenschützen fest, dessen Dolch – während das durchgehende Gespann die Rampe hochfegte, halb auf der Krone der Mauer entlangratterte und geradeaus über die künstliche Schanze flog – sich immer wieder in den zusammensackenden Körper des Soldaten bohrte. Mit unbeschreiblichem Krachen überschlugen sich die Tiere mitsamt dem Wagen und den blutigen Körpern in dessen Korb. Peremwah erkannte, daß der Wahnsinn nach seinen Kameraden gegriffen hatte. Er starrte in Meresankhs Augen und deutete auf das blutgetränkte, rauchende Trümmerfeld. »Der Kampf ist es nicht, den ich hasse«, sagte er tonlos. »Ich habe schon immer das Aufräumen danach verflucht.« Der Freund starrte ihn fassungslos an, versuchte ein Lächeln und schüttelte stumm den Kopf. Zur linken Hand trieb ein Kämpfer eine Lanze zwischen die Schulterblätter eines Fremden, und der Sterbende schleuderte in einer letzten Anstrengung den Dolch in die Kehle eines Mannes, der auf ihn zu-
rannte, das Beil in Schlaghaltung. Peremwah schloß die Augen; kaltes Entsetzen schüttelte ihn trotz des Bewußtseins, ein Todgeweihter zu sein. Als eine Handbreit neben seinem Gesicht eine Speerspitze kreischend am Stein entlangratschte, griff er nach dem Bogen und suchte den nächsten Gegner. Der Kreis der Angreifer schloß sich enger und undurchdringlicher. Wieder starben Fremde und Soldaten; die Rômet nahmen mehr Fremde ins Schattenreich mit, als sie es sich hatten vorstellen können. Langsam beschrieb die Sonne, Rê-Harachtes sengendes Gestirn, ihren Weg über den durchdringend blauen, wolkenlosen Himmel. Neben Peremwah starb Meresankh, den gleichzeitig zwei Pfeile durch den Hals trafen. Irgendwann, nach einer schauerlichen kleinen Ewigkeit, unter den Strahlen der Frühabendsonne, wurde es so still, daß jedes Keuchen auffiel. Peremwah blickte um sich und trank einen Rest Bier, wischte Blut und salzigen Schweiß aus den Augen. »Beim Horus des letzten Horizonts.« Er krächzte; seine Stimme begann zu versagen. »Mir ist, als sei ich allein.« Er sah sich um. Zwischen den Säulenresten und Wänden des Inneren Turms gab es nur noch tote und schwerverletzte Soldaten. Peremwah dachte an das schöne Leben, das er nach der Fahrt mit der Sonnenbarke führen würde. Er zog den Dolch und murmelte: »Das furchtbare Dunkel der Fremdherrschaft senkt sich jetzt über unser Land. O ihr Götter! Keiner kämpfte tapferer als ich und meine Soldaten. Was ist es, das die Fremden so antreibt?« Als die Heka Chasut mit blakenden Fackeln über die Trümmer eindrangen, sahen sie, wie der Anführer – den sie an den breiten Oberarmreifen erkannten – die nadelfeine Dolchspitze auf der linken Brust ansetzte, den rechten Arm hob und anwinkelte und die Waffe in sein Herz trieb. Einige Lidschläge lang stand er aufrecht, dann knickten seine Knie ein, und er brach zusammen. Der Fürstenwall war nun ohne Verteidiger;
Djanet lag frei vor den Heka Chasut. Der Anführer schien jenseits der Gesetzmäßigkeiten erkannt zu haben, daß die Fremden von etwas weitaus Fremderem angetrieben wurden, seit Jahren, seit sie ihr Land verlassen hatten; einem Etwas, das nicht in diese Welt paßte, aus einem Bereich jenseits des Meeres oder aus unergründlichen Weiten zwischen den Sternen kam.
2. Ich hatte begriffen, was ich gesehen hatte, aber ich erkannte die Bedeutung hinter diesem erbittert rasenden Kampf nicht, der nur Teil einer gewaltigen Auseinandersetzung sein konnte. Wieder senkte sich Mattigkeit über meinen Körper, und mein Verstand weigerte sich, tiefer ins Geschehen einzudringen und eine Analyse zu versuchen. Ich merkte, daß andere Maschinen und Geräte sich um mich kümmerten, ehe ich einschlief: Das Gefühl, neu geboren worden zu sein, hatte ich nach so vielen Weck- und Reanimationsphasen nicht mehr. Bevor sich meine Gedanken verloren, blitzten zwei Begriffe oder Namen durch den dunkelgrauen Nebel: Zakanza-Upuaut und Ptah-Sokar. Projektionen der Planetenoberfläche, Ziffern und Zahlen, ein halbes Hundert kurzer und langer Berichte über Naturkatastrophen, Inseln und kleine Reiche, die aufblühten oder verschwanden, eine Dokumentation Ricos über das letzte Jahrhundert des Hapireiches und die Folge seiner göttlichen Herrscher, über Kupfer und Bronze, Gubla und die Insel Kefti, über das Schicksal meiner früheren Gefährtinnen, die längst zu Asche zerfallen waren, über Ricos erfolgreiche Versuche, seinen Robotkörper und seinen positronischen Verstand nicht nur menschenähnlicher, sondern auch leistungsfähiger, »klüger«
und autarker zu gestalten, einige Erklärungen über mein Erwachen aus dem langen, totenähnlichen Schlaf; ich fühlte mich von Tag zu Tag stärker, vermochte Fragen zu stellen und die Antworten zu verstehen, erkannte klar, daß mit einiger Verzögerung meine zwei menschlichen Freunde der gleichen Wiederbelebungsprozedur unterworfen wurden und im stählernen Gefängnis am Meeresgrund von mir und Rico erfahren wollten, was die Vergangenheit verbarg und die nahe Zukunft für uns bereithielt. Und… warum wir geweckt worden waren. Zum erstenmal meldete sich ruhig, fast beschwichtigend mein Extrahirn: Die Versuche, den achten Mond zu vernichten, hast du bewußt erlebt. Ebenso die Kämpfe um die Große Stadt Babyla. Auch in der folgenden Zeit wird euch ES als willfährige, gut funktionierende Werkzeuge behandeln. Gib acht, Arkonide! Ich entsann mit, daß ES meine Erinnerungen ausradierte, wie es ihm gefiel. Irgend etwas fing wieder von vorn an. Die Namen meiner Freunde hatte ES nicht gelöscht; durchs Halbdunkel der Monitorenebene erkannte ich drei Puppen, an denen Kleidung und Ausrüstung hingen. Auf den ersten Blick sahen sie aus, als würden wir uns im Hapiland bewegen müssen. Totale Desorientierung! Tausend Fragen! Keine Antwort. Ich zwang mich zum Warten, Schlafen, an Kraftmaschinen unter Solarlampen zu arbeiten und zu versuchen, die Gegenwart, wie immer, schrittweise zu begreifen. Ich bedeutete Rico, mich wieder unter den Einfluß der Reanimationsbatterien zurückzubringen. Sieben Tage und Nächte später, als ich mich richtig bewegen und überlegt handeln konnte, überfiel mich, mitten in den Versuchen, die Veränderungen an der Oberfläche von Larsaf Drei in ein gedankliches System zu zwängen, das Gelächter von ES, das meinen Schädel zu sprengen schien. Ich kannte jene dröhnenden Laute meines makabren Befehlsgebers, mei-
nes schrecklichen Herrschers. Daß ES uns geweckt hatte, wußte ich vom treuen Rico, und jetzt sprach, lautlos und mit seltsamem Nachhall, ES zu mir – auch zu Zakanza-Upuaut und Ptah-Sokar? Ich wußte es nicht. Ich habe euch lange schlafen lassen. Deine Barbarenwelt, Arkonide, war nach meiner Meinung ruhig und ohne aufregende Zwischenfälle. Die üblichen Kleinkriege, die üblichen Machtkämpfe kleiner Fürsten, die meist vergeblichen Versuche der Barbaren, die, ohne wirklich zu wissen, was sie tun, sich zu einer besseren Zukunft entwickeln. Und ihre zahllosen bluttriefenden Irrtümer auf diesem überaus langen Weg zu diesem kaum erreichbaren Ziel. Mein Kehlkopf, der Gaumen und die Lippen waren inzwischen fähig, klare Worte zu formulieren. Ich stellte die erste Frage. »Und warum sind wir geweckt worden?« Ich leckte über meine Lippen. Sie fühlten sich nicht mehr trocken und spröde an. Die Antwort ertönte in meinem Verstand augenblicklich. Weil mir auf Wanderer, dem Kunstplaneten, derzeit nicht unweit einer herrlichen Barbarenwelt, ein bedauerliches Mißgeschick unterlaufen ist. Ich weiß, daß du nicht nur in der Lage bist, diese Fehlentwicklung zu beseitigen, sondern dies auch, weil du auf dem Planeten umherreisen kannst, gern und mit persönlichem Einsatz betreibst. Daß dir deine Freunde helfen, ist ein vorteilhafter Nebennutzen. Ich lehnte mich zurück und umspannte die Knie mit meinen Händen. Ich sagte laut, fast protestierend: »Wenn du von bedauerlichem Mißgeschick sprichst, bedeutet es für deine halb willenlosen Geschöpfe eine mittlere, existenzbedrohende Katastrophe!« Das ist zutreffend, Wächter des Planeten! Vor etwa zwei Jahrhunderten in der Berechnung der Barbarenwelt verselbständigte sich ein Spiel, das sich zwei meiner Androiden ausgedacht hatten. Es war, um deinen Zeitbegriff zu präzisieren, gegen Ende der Herrschaft
einer weiblichen Gottkönigin aus der Sippe Amenemhets und Senwosrets. Sie hieß Sebekneferu. Du weißt, daß das Land am Hapistrom schon immer das Ziel einzelner Menschen, von Familien, Horden, Gruppen und Stämmen war. Vielen wurde die Erlaubnis erteilt, zu bleiben; sie wurden als Bauern, Handwerker oder Sklaven gebraucht und erreichten ein Leben in bescheidenem Glück niedriger Stände. Das änderte sich, als die Barbaren aus Osten eindrangen, mit Pferden und leichten Kampfwagen. Hast du begriffen, was ich berichtete? Ich nickte und versuchte mich erfolgreich an meine eigenen Erfahrungen und an Ricos Berichte über das Land der Rômet zu erinnern. Die Stimme, die in meinem Schädel zu hallen schien wie in einer riesigen Höhle, sprach weiter: Seit etwa dieser Zeit verstärkt sich der Druck fremder Einwanderer auf das Land. Sie kommen ebenfalls aus dem Osten, aus dem Asmach. Das Gebiet südlich der Lagunen und das fruchtbare Mündungsdreieck sind die letzte Station einer langen Wanderung. Nur nahe der Stadt Djanet können die Einwanderer vordringen, denn weiter südlich versperren die Gebirgsausläufer den Wagen jeden Weg. Die Rômet nennen die Fremden »Heka Chasut«; du übersetzt es zutreffend mit »Fürsten der Fremdländer«. Sie verachten Ackerbestellung und Viehzucht und haben schnell viele, aber nicht alle wichtigen Stellen im Unteren Hapiland besetzt. Sie haben das Pferd und den leichten Wagen endgültig ins Land gebracht. Die Zivilisation, die Bräuche und die hohe Kultur des Landes haben sie korrumpiert; einige Kampfwagenfürsten wurden zu Herrschern. Rico kennt ihre Namen: Scharek, Sekenen-Rê, Apophis, Seworen-Rê-Chian oder Nebshepesh-Rê-Apophis. Diese Umstände waren aber nicht der Grund, euch aufzuwecken. »Sondern?« Ich gähnte wieder. Ich verarbeitete die Information, von der die Bedeutung von Ricos Einspielung klarer wurde. Der Schock würde für Ptah und Zakanza größer sein als für mich. ES schien zu zögern. Das Spiel, von dem ich sprach, machte sich selbständig. Auf Wan-
derer wurden einzellige Molekülverbände entwickelt, mit der Wirkung programmierbarer Parasiten. Zunächst dienten sie zur Ermittlung statistischer Daten; auf Wanderer laufen bevölkerungspolitische Untersuchungen. Es wurden zwei Gruppen getestet; mit sämtlichen Fähigkeiten für die Sicherung eines interessanten Versuchs. Die Zielsetzung war: Wie kann in kürzester Zeit und mit geringstem Aufwand ein Weltreich gegründet werden? Zwei Spieler dirigierten je bis zu zwölf Figuren. »Der Versuch hat Ähnlichkeiten mit der Beziehung zwischen dir und mir«, sagte ich nicht ohne Bitterkeit. Du hast recht. Unterschiedliche Probleme erfordern oft identische Lösungen. Das Spiel lief. Vierundzwanzig Parasiten sammelten bei ihren Wirten eine gewaltige Datenmenge und lernten deren Verhaltensweisen. Sie nahmen Anweisungen für Spielzüge an. Während des langen Spiels entwickelten sie Eigenleben und Selbstinitiative, blieben aber steuerbar. Zum erstenmal meldete sich in meinen Überlegungen der Logiksektor: Du ahnst, was folgt? Was ES dir befehlen wird? Beide Spieler flüchteten in einem unkontrollierten Augenblick von Wanderer, und ich bin sicher, daß der dritte Planet von Larsafs Stern ihr Ziel war. Ich weiß nicht, ob sie noch leben und wo sie sich befinden. Aber ich muß als sicher annehmen, daß sich Vierundzwanzig Parasiten auf deiner Welt befinden. Ebenso sicher scheint mir zu sein, daß sich eine große Zahl auf Angehörigen der Heka Chasut niedergelassen hat. Sie überleben ohne Wirt nur kurze Zeit. Der Logiksektor hatte recht behalten. Ich erkannte das Problem, das ES hatte – bald war es auch mein Problem. Ich fragte laut: »Was bewirkt ein Wanderer-Parasit bei seinem Träger? Wie erkennen wir, ob ein Mensch von einem deiner SpielSukkuben besessen ist? Wie erkenne ich einen Parasiten? Denn dein Befehl wird sicher lauten: Suche und zerstöre die Parasiten!«
Rico drehte sich halb zu mir herum; ich wußte nicht, ob er die ES-Stimme ebenfalls hörte. Wieder ist deine Annahme richtig. Wenn die Spieler tot sein sollten, bekommen die Parasiten keine Befehle mehr. Leben die Spieler noch, erhalten die Geschehnisse eine ganz andere Bedeutung. Aus einem unwichtigen lokalen Prozeß wird eine geplante Einmischung, in der sich Spiel in bitteren Ernst verwandelt. Ihr kennt das Land am Hapi, du und deine Freunde. Ich versprach dir zuverlässige, langlebige Helfer. Nun hast du sie. Sie sind einige Tage nach dir voll einsatzfähig. Die Aufgabe erschien mir schwer zu lösen. Ich hatte Hunderte von Fragen. Einige würden sich an der Planetenoberfläche klären, andere erforderten jetzt und hier klare Antworten. »Das Spiel probte und lehrte, wie ein Weltreich zu errichten sei. Wie übermitteln die Spieler die Befehle an die Parasiten?« Durch eine Kombination von Funk und speziellem Bildfunk mit gedanklichen Symbolen und Primärempfindungen. »Wozu sind Befallene in der Lage? Haben sie besondere Fähigkeiten?« Intelligenz, Einfallsreichtum, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen sind drastisch heraufgesetzt. »Fähigkeiten, die aus großer Entfernung leicht festzustellen sind.« Ich lachte sarkastisch. »Wir werden es wohl höllisch schwer haben, Spieler und Parasiten zu finden. Wenn der Wirt stirbt oder zu alt wird, wechselt der Parasit den Wirt, nicht wahr?« Die Körperkräfte des Wirts wachsen nicht notwendigerweise. Parasiten liegen flach an der Haut an und sind nur zu erkennen, wenn sie sich in höchster Erregung färben, wenn sie sich ablösen oder sterben. Sie verwandeln sich dann in handflächengroße Flecken, kleben über dem Herzen, unter den Achseln, über dem Magen oder zwischen den Schulterblättern oder Schenkeln. Innerhalb von etwa fünfzig Stunden müssen sie den Wirt gewechselt haben, wenn sie überle-
ben wollen. »Ich glaube nicht, daß wir die Parasiten finden.« Ich hob die Hand und winkte Zakanza zu, der sich auf seinem Lager aufrichtete; ich sah ihn auf dem Monitor. Ihr werdet von mir mit gesteigerter Aufmerksamkeit, entsprechenden Geräten und gehorsamen Mitarbeitern ausgestattet. »Wenigstens ein Lichtblick! Was tun wir, wenn wir Spieler oder Parasiten finden?« Sie sind augenblicklich zu vernichten. Ihr Wirken kann die Geschichte des Planeten, auf dem du lebst, in einem Maß beeinflussen, das unkorrigierbar ist. »Töten also. Wir sind wieder einmal deine Henker?« Wie ich bist du ein Hüter des Planeten. Erinnere dich, daß du einen feierlichen Schwur abgelegt hast. Diese deine Erinnerung habe ich nie angetastet. »Ich entsinne mich genau.« Der zweite Monitor zeigte mir Ptah auf seiner Liege, umgeben von der Batterie der Wiederbelebungsgeräte. ES sprach weiter: Du entsinnst dich also. Gut. Ich helfe euch, wie ich es stets getan habe: Informationen, Ausrüstung sind von Rico gewohnt perfekt vorbereitet. Deine und eure Masken werden nicht mehr als eine veränderte Identität sein. Vielleicht wird eure schwierige Mission länger dauern, als ich es jetzt überschauen kann, vielleicht dauert sie eine Generation lang. Ich werde euch beobachten und wieder mit euch sprechen, wenn ihr euren Einsatzort erreicht habt. Nehmt es nicht allzu schwer, Arkonide; ihr werdet es überleben, wie so vieles. Für gewisse zusätzliche Reize, Belohnungen und Überraschungen trage ich Sorge. ES verabschiedete sich mit seinem furchtbaren Gelächter. Rico kam auf ledernen Sandalen quer durch den Raum und legte seine braune Hand auf meine Schulter. »Es wird eine Mission, bei der du all deinen Einfallsreichtum und viel Kraft brauchen wirst, Atlan.«
»Mehr als das.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ehe wir uns an die Oberfläche wagen, müssen wir uns informieren und erholen. Hol alle deine Spionsonden-Aufnahmen aus den Speichern und zeig uns die jüngste Vergangenheit des Hapilandes.« »Du wirst auch Aufnahmen von Städten und Gebäuden sehen, die nach deinen Vorstellungen aufgebaut worden sind.« »Das höre ich gern, Rico«, sagte ich und krempelte die weiten Ärmel hoch. »Bring Zakanza und Ptah ihre Bademäntel. Ich muß in Ruhe nachdenken. Ich kann die wahren Schwierigkeiten unserer Aufgabe noch nicht übersehen.« Vor den Monitoren, Oberflächenausschnitten und Hologrammen setzte ich mich in den riesigen Sessel und versuchte mich selbst vom möglichen Gelingen des Vorhabens zu überzeugen. Meine Blicke verloren sich in sonnenüberfluteten Bilderfolgen: Städte, Wüsten, Barken, überschwemmte Äcker und auf schmalen Sandstraßen die schnellen Wagen der Heka Chasut, deren Pferde entlang des Stroms galoppierten.
3. Ghoum-Ardebil hob den Kopf und warf der Spiegelung seiner hageren Gestalt in der raumhohen Sicherheitsglassitscheibe einen kurzen Blick zu. Dahinter im gläsernen Sarg und unter der modifizierten SERT-Haube lag reglos der Arkonide. Der Ara beendete die Kontrolle der Überwachungsgeräte; alle Monitoren, deren Werte er mit pedantischer Genauigkeit abgelesen und verglichen hatte, zeigten den erwarteten, erhofften positiven Zustand des Statthalters an. Ghoum hob die Hand und blickte in die Objektivgruppen. Cyr Aescunnar saß am anderen Ende der Informationskanäle, hob den Kopf und nahm sekundenlang die Brille ab.
»Ich versteh’ noch nicht ganz, wovon Atlan spricht«, sagte der Ara. »Über welche historische Epoche Ihres barbarischen Planeten berichtet er?« Trotz des Umstandes, daß sämtliche Körperfunktionen des Arkoniden vom Zentralcomputer der Administration Gäas zusätzlich überwacht wurden, spürte Ghoum-Ardebil die Verantwortung auf seinen knochigen Schultern; im Gegensatz zu allen Maschinen und Geräten war und blieb er der bessere Mediziner. Das Gesicht des Historikers ließ Müdigkeit und die Strapazen der Operation erkennen. »Es ist die sogenannte Hyksoszeit im klassischen Ägypten vor der Zeitwende. Ich bin inzwischen einigermaßen sicher, daß wir uns im Jahr minus 1589 befinden. Offensichtlich in den ersten Regierungsjahren eines Heka-Chasut-Herrschers namens Apophis, der vom Nildelta aus große Teile des Landes regierte. Jedenfalls ist dies die geschichtlich relevante Zeit, über die es auch relativ stimmige Aufzeichnungen gibt. Es steht fest, daß die letzte Herrscherin der zwölften Dynastie, Sebekneferu, die Herrschaft über die Stadt Djanet – das spätere Auaris – im östlichen Delta abgeben mußte. Die Lage war verworren: Jeder Gau scheint einen eigenen kleinen Herrscher gehabt zu haben.« »Hyksos? Heka Chasut? Warum verschiedene Begriffe?« »Die Griechen, genauer die ptolemäischen Herrscher, die nach dem letzten offiziell anerkanntem Pharao Alexander dem Großen von Makedonien, über das Nilland herrschten, veränderten nahezu alle Namen. Schon zuvor, um das Jahr 600 vor der Zeitwende, siedelten griechische Weltreisende und Geschichtsschreiber die Lokalitäten ihrer Mythen und Legenden am Hapiland an: No-Amûn, Waset oder Wêse, zum Beispiel, wurde zum ›tausendtorigen Theben‹, aus Jeb oder Ta-Seti machten sie Elephantine. Und aus dem Strom Hapi wurde der Neilos, den wir heute Nil nennen. Und so fort.«
»Ich verstehe.« Ghoum-Ardebil nickte. »Und das ägyptische Reich hat die Hyksos überlebt?« »Bis zu ihrer Vertreibung, rund zweieinhalb Jahrhunderte danach, bildete die alte, gewohnte Verwaltung das schwer erschütterbare Rückgrat des Staates. Herrscher kamen und gingen; der Apparat blieb. Jahrhunderte der Verwalter, Händler und Priester. Die Hyksos tasteten auch den alten Götterglauben nicht an. Das Reich überlebte die Teil-Fremdherrschaft bis zu den Herrschern Kamose und Ahmose, den Vorläufern der 18. Dynastie. Es steht fest, daß etwa im Jahr 1550, zu Beginn des Neuen Reiches, der organisierte Kampf gegen die Hyksos begann. Zeitliche Differenzen von Jahrzehnten spielen bei unseren ungesicherten Daten keine wichtige Rolle.« »Das wissen Sie alles, ohne nachschlagen zu müssen?« sagte der Ara und lächelte anerkennend. »Alle Achtung.« »Das sollte ein einigermaßen qualifizierter terranischer Historiker wissen. Von Ereignissen wie der Zerstörung und Vertreibung der Monde oder Atlans Anwesenheit in Babyla kann natürlich niemand etwas wissen, bevor er es uns erzählt.« »Begreiflich. Was hat er bisher berichtet, nach der Pause, in der wir ihn außerhalb des Tanks untersucht und tomografiert haben?« »Die letzten Abenteuer erlebte er im Hapiland und im Zweistromland. Nur an diesen Stellen konnten sich Hochkulturen bilden, die weit ins Umland ausstrahlten – wenn wir von China absehen. Daß Atlan das Land am Hapi mehr liebte als jedes andere Stück der Planetenoberfläche, hat er oft genug beteuert; er hatte seine guten Gründe. Ich weiß nur, daß es seine Aufgabe sein wird oder genauer: gewesen ist, Parasiten zu suchen und zu vernichten. Daß er dies im Hapiland und im Umkreis Babylas tat, steht für mich fest.« Aescunnar und Ghoum-Ardebil starrten schweigend Atlans bleichen Körper an und lauschten seinen Worten. Der
Zellschwingungsaktivator glänzte, als arbeite er auf höchstem Niveau. Nach Ardebils Meinung war Atlans Zustand stabil und nicht mehr kritisch. Er schien überleben zu können; die kleinen Verletzungen waren bereits spurenlos abgeheilt. Größere Wunden sowie die Verbrennungen dritten Grades begannen zu heilen, und die inneren Organe zeigten den Medizinern Werte, die ihnen nicht mehr den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Die geringste Störung in Atlans Befinden konnte einen tödlichen Rückschlag provozieren; die Sorge aller, die von seinem Unfall auf Karthago II wußten, galt seinem einzigartigen Verstand. ES sprach häufig – wenigstens zu Atlan – davon, die Erinnerungen aller Beteiligten und Mitwisser zu löschen, schien aber dieses Versprechen vergessen zu haben. Atlan half unbewußt seiner eigenen Heilung. Er befreite in einer von vielen qualvollen Stockungen unterbrochenen Karthasis sein Unbewußtes oder seinen Extrasinn von der Last vergrabener Erinnerungen. Aufzeichnungsgeräte übertrugen jeden Impuls seiner Erzählungen auf Bänder, in Mikrochips und Computerspeicher, auf Printplatten und auf eine Serie von Kopien; man hoffte nicht nur, ES überlisten zu können, sondern auch der Geschichtswissenschaft zu helfen, die den mühseligen, langen Werdegang der Menschheit aus dem Barbarentum bis zum ersten Schritt zu den Sternen und zum Flug zu fernen Galaxien nachvollziehen wollte. Cyr Aescunnar nickte dem Ara zu, der den abgeschlossenen Teil der Intensivstation verließ. Nach einigen Sekunden fiel dem Historiker eine Bemerkung Scarron Eymundsons ein. Er wiederholte sie flüsternd: »Sprich! Erzähle es uns. Es gibt keinen besseren Weg, dich kennenzulernen und zu erfahren, warum du so bist, wie wir alle dich kennen.« Er fügte hinzu: »Und, wenigstens in Ausschnitten, Teile unserer Geschichte ehrlich und wirklich nachzuerleben – erzählt von einem, der dabeigewesen ist, in vor-
derster Linie.« Aus Aescunnars Lautsprechern kam die ruhige Stimme des Arkoniden. Er schilderte mit überwältigender Intensität die Vorbereitungen auf den seltsamen Einsatz im Land der Rômet, zwischen Mittelmeer und dem zweiten Katarakt bei Iken. Cyr sah jedes Bild vor sich, als sei es wirklich; er glaubte zu riechen, zu fühlen und alle Geräusche richtig deuten zu können. Auf einem Farbmonitor schlich die Landschaft vor uns zum unteren Rand; die Sonde flog nach Süden und folgte dem Hapi, jenseits der dritten Stromschnelle. Rico stand rechts von uns, fast ebenso angezogen und ausgestattet wie Ptah, Zakanza und ich; unsere Haut war von Solarlampen gebräunt, seine lebensechte Hautfolie war durchgefärbt. Rico wies mit drei Fingern, an denen Ringe funkelten, auf eine holographische Riesenprojektion. »Schau dir dieses herrliche Land an, Neb Atlan-Aakener!« Wir kannten das Land, das die Sonde verließ; ich kannte es seit Meni-Narmer. Zunächst folgte die Sonde weiterhin dem Hapi, dann einem seiner linken Nebenflüsse, schließlich schwebte sie durch riesige Sümpfe zu einem See, der in einem idyllischen Tal lag. Die Spionsonde beendete die vierte Umkreisung. Eines der größeren Häuser schien bewohnt zu sein. Ich sah eine junge, hochgewachsene Dunkelhäutige, die mit Männern sprach, die wie Rômet aussahen. Ich hatte genug gesehen und sagte: »Hier entsteht wohl bald eine Stadt. Aber nun: zurück ins Hapiland, Freunde. Was haben wir in den letzten zehn Tagen erfahren? Das Land steht unter der Herrschaft schwarzhaariger, nomadischer Fremder, die mitsamt ihren Herden aus dem Osten gekommen sind. Aus Ländern, in denen man Pferde züchtet.« »Sonnenverbrannte Männer, mein Freund.« Ptah legte seine
Hand fest auf meine Schulter. »Mit schwarzen Bärten, wild und blitzschnell, aber ebenso von der Bedeutung ihres Tuns durchdrungen wie die Soldaten der Rômet. Als sie die Schwäche unseres Landes erkannten, legten sie die Hand darauf. Amenti war schwach und stolperte; sie versetzten ihm scheinbar den letzten Stoß, aber sie verfielen dem Glanz und der Schönheit und dem Reichtum des Landes.« »So ist es, Ptah«, murmelte ich. Zakanzas dunkles Gesicht war ernst geblieben. »Ich denke, daß wir aus einem ganz bestimmten Grund keine Schwierigkeiten haben werden, die unser Können übersteigen.« »Während das Land im Chaos liegt, wissen wir genau, was wir wollen?« sagte Ptah. Auch die Betonung mancher Worte schien sich, wenigstens im Unteren Land, ein wenig geändert zu haben: Rômet statt Romê oder Romêt. Ich nickte und deutete auf die breiten Goldreifen an seinen und Zakanzas Oberarmen. »ES hielt seine Versprechen. Wir sind hervorragend ausgerüstet. Und wir wissen genau, was wir tun.« Die drei Wagen sahen wie handgearbeitet aus. Die wichtigsten Teile bestanden aus Arkonstahl. Die Pferde, die im Stall des verlassenen Gutshofes warteten, schienen stark, kräftig und schnell zu sein. Das Versteck war ausgezeichnet: Land, Strand, Brandung und die Ausläufer der Weiden und Äcker des Mündungsdreiecks waren die Schnittpunkte. Zwischen zerfallenden Mauern stand der Transmitter. Wir wuchteten kostbar aussehende Kopien schwerer Truhen durch den Transmitter, Ledersäcke, Schatullen und Flechtkörbe voller Vorräte. Nach nächtelangen Gesprächen über Sinn und Aufgabe verließen wir schließlich am späten, wolkenlosen Morgen den Transmitter und sogen die frische Luft tief in unsere Lungen. Wir schwammen, lagen in der Sonne, tranken verdünnten Wein und unterhielten uns, über Karten voller Gitternetze und
Bemerkungen gebeugt, frischten unsere Sprach- und Schriftkenntnisse auf und lernten, jenseits der maschinenhaften Reanimationsreflexe unsere Körper zu erfahren. Wir lernten das perfekte Handhaben der Kampfwagen auf dem flachen, feuchten Strand, pflegten die Pferde und gewöhnten sie an uns, testeten die Ausrüstung und suchten den Weg zur Stadt PaBeseth, einst die Stadt des Heiligtums der Katzengöttin Bastet. Wir freuten uns auf jeden Tag. Rundherum blieb das Land menschenleer und einsam wie die Rückseite des Mondes. Wir rannten um die Wette und übten Bogenschießen. Wo die Wüste ins Delta überging, hatten sich lange Sandzungen und Brackwasserlagunen gebildet, die im Lauf der Zeit verschwanden und sich neu bildeten. Ein Gublasegler, im Sturm gestrandet und umgeworfen, halb versunken, war in heißen Mittagsstunden unser Unterschlupf. Die Pferde fanden Gras und Süßwasser. Mit Dolchspitzen spießten wir die Karten in die salzverkrusteten Planken. Jeder Gegenstand unserer Ausrüstung war bemerkenswert; er sah wertvoll aus, bestand aus Material der Kuppelvorräte und der arkonidischen Notsilos, eine Kopie eines alltäglichen Gegenstandes und meist mit mehreren Funktionen ausgestattet. Die scheinbar kostbaren Dolche waren Strahl- und Lähmwaffen. Ich zeigte mit der Fingerspitze auf die Karte. »Wir sind hier und bleiben noch drei Tage.« Zakanza verrieb Nußöl auf seinen muskelstarrenden Oberschenkeln. Mit einem Schilfhalm deutete der »Öffner der Wege« auf einen Punkt des Mündungsdreiecks. Jede Hütte von Djanet und Pa-Beseth war gestochen klar zu erkennen. Ich sagte: »Dorthin führt unser Weg. Wir tun, als kämen wir von PaBeseth und durch die Wüste. Wir müssen uns ungehindert innerhalb des gesamten Reiches bewegen können. Dazu brauchen wir Begleitschreiben und alles andere vom obersten Dja-
net-Herrscher, wer immer es sein mag.« »Die Voraussetzungen sind gut. Atlan-Aakener, der weise Arzt aus dem fernen Süden.« Ptah zupfte am Hüftschurz und grinste. »Wir müssen unsere Dienste, auch wenn’s schwierig wird, so gut und teuer wie möglich verkaufen.« Unsere Kenntnis der Rômetsprache war perfekt, und das Idiom der Heka Chasut war im Mündungsdreieck immer seltener zu hören; auch darin hatten sich die Fremden der Hapiland-Kultur angeglichen. Sie verwendeten sogar die gleichen »Götterworte«, jene figurinenhafte Schrift; Rico hatte berichtet, sie seien »schriftlos« gewesen, als sie ins Land eindrangen. ES hatte vorgeschlagen, daß ich Gelehrter und Arzt, Ptah ein abenteuerlustiger Fürstensohn und Heeresführer sei. Zakanzas Maske war die eines Kaufmannes und Sklavenhändlers aus dem fernen Land der Hapiquellen; die Ausrüstung war auf diese Maskerade abgestimmt. Ptah kürzte mit der Dolchschneide einen Zehennagel und brummte: »Wir werden überzeugend auftreten. Wissen bedeutet Mächtigkeit. Und wir wissen mehr als jeder andere.« Er trank aus dem nachgeahmten Ziegenbalg einen Schluck roten Wein. »Überdies haben wir undurchdringliche Schutzvorrichtungen.« Zakanza schielte, die Hand über den Augen, nach dem Sonnenstand. Man schrieb den Anfang des Mesore, etwa einen Mondwechsel vor dem Beginn der Hapiüberschwemmung in Ta-Seti, unter der ersten Stromschnelle. Er sagte, während die letzten Tropfen in seinen Becher fielen: »Woher ich eine Gruppe starker Sklaven und schöner Sklavinnen bekomme, weiß ich noch nicht. Hol das Bier aus dem kühlen Wasser, Ptah. Wenn ich euch anpreisen könnte…« »Denk an ES«, sagte ich. »Er verziert seine schroffen Befehle oft mit liebreizenden Frauen und so fort. Nötigenfalls kannst du mich anpreisen und verkaufen.« »An anderer Stelle scheinst du wichtiger zu sein.« Zakanza
blickte Ptah hinterher, der ins Wasser watete und den Krabben auswich. »Es gäbe prunkvollere Namen für dich!« »Allzusehr will ich nicht auffallen«, sagte ich. Der Logiksektor sagte träge, als ob er unter der Hitze litte: Einen Zug arbeitswilliger, überaus gehorsamer Androiden hier abzusetzen ist für ES eine Kleinigkeit. Der Planet Wanderer scheint eine Welt bemerkenswerter Vorgänge und phantastischer Möglichkeiten zu sein. Alles ist denkbar, nur an kluger Präsenz von ES scheint’s zu hapern. »Ihr werdet meinen Namen bald zu schätzen wissen«, sagte ich. Meine Erinnerungen reichten zwar bis in die Zeit der unvergeßlichen Schwester des Meni-Narmer, aber über die Erinnerungen an meine Freundschaft zu Zakanza und Ptah schien sich ein Nebel zu breiten; wahrscheinlich manipulierte ES wieder mein sonst unbestechliches Gedächtnis. Ich dachte zwangsläufig an geologische Schichtungen, die einst übereinander lagen, durch Zeit und den Atem der Weltenkruste ineinander verschoben wurden und bizarre Muster bildeten. Ptah kam, den Krug auf der Schulter, in den geborstenen und gesplitterten Schatten der Planken. Ich nahm einen Schluck, streckte mich im Sand aus und sagte leise: »In meinen Jugendjahren, die ich andernorts verbrachte, wo ich es auch nicht leicht hatte, als mich Fartuloon ausbildete, den sie ›Bauchaufschneider‹ nannten, sprach Axiym, ein zwergenhaftes junges Wesen mit seltsamen Verstandesgaben, zu mir. ›Reden wir von der fernen Zukunft‹, sagte er, damals! – ›Du wirst älter werden als alle deiner Art.‹ – ›Mag sein.‹ Ich wich aus. ›Das Gespräch langweilt mich. Können wir nicht über wichtige Dinge sprechen?‹ ›Willst du nicht wissen, daß du einst Jahrtausende lang schlafen wirst?‹ ›Ich kenne kein Verfahren, mit dessen Hilfe man tausend Jahre und mehr überleben könnte.‹
›Noch in zehntausend Jahren – im Zeitmaß normaler Planetenumkreisungen – wirst du leben. Du wirst eine der berühmtesten Persönlichkeiten der Galaxis werden…‹ Ich kenne die Zukunft nicht, meine Freunde – aber der Zwerg scheint nicht gelogen zu haben. Woher er es wußte… eines der Geheimnisse zwischen den ewigen Sternen.« »Abgesehen vom Henket – was willst du uns damit sagen?« Ich zog einen Pfeil aus dem Riedgeflecht-Köcher und zuckte mit den Schultern. »Letzten Endes wohl nur, daß wir die Aufgabe zu Ende bringen müssen, ohne daß sie uns tötet.« Die verbleibende Zeit schossen wir mit den starken Bögen, machten lange Läufe entlang des Strandes, schwammen und schliefen viel; unsere Körper verloren den letzten Rest Starre und Müdigkeit. Nach drei Tagen voller Sonne, Salzwasser und Sorglosigkeit ertappten wir uns bei der Überzeugung, wir hätten ein Jahrhundert lang täglich miteinander ein abenteuerliches Leben geführt, aber nicht nur wir drei, sondern andere Menschen an unserer Seite; dies war ein Zeichen. Wir sprachen unser Vorhaben durch, beluden die Wagen mit der Ausrüstung, schirrten die Pferde ein und knoteten die Zügel der Ersatztiere an den Handlauf der Wagen. Wir tilgten unsere Spuren und fuhren auf den Pfad hinaus, der uns, an den fast unkenntlichen Ruinen eines Turms vorbei, zur Stadt führte. Nur zwei Geier, die in gewaltiger Höhe kreisten, sahen uns dabei zu. Weit vor Djanet rasteten wir in einer struppigen Oase. Es schien kein Zufall, daß Palmengruppen, Tamarisken, Mauerreste und der winzige Brunnen um die Mittagszeit nicht ganz verlassen waren. Unsere Gespanne hielten im schütteren Schatten gilbender Palmwedel. Der Logiksektor sagte, als ich die vier Pferde an den Deichseln zweier heruntergekommener
Karren voller Menschen sah: ES ist mitunter ein brutaler Pragmatiker. Er sichert seine Ziele selbst durch nichtswürdige Mittel. Herkunft und Leiden der Wesen und Gegenstände belasten sein Gewissen nicht – falls ES über so etwas verfügt. Die beiden muskulösen jungen Männer mit hellbrauner Haut und breiten Brustkörben kamen mit leeren Ledereimern auf uns zu. Derjenige mit dem bartlosen, schön geschnittenen Gesicht und den mandelförmigen dunklen Augen deutete auf den Mann aus Kush. »Wir warten hier auf einen Nehesi namens Zakanza.« »Zakanza-Upuaut«, verbesserte der andere. Er sah gepflegt aus und wohlgenährt, keineswegs sklavenhaft eingeschüchtert; eher wie der Sohn eines Fürsten, voller Selbstbewußtsein. »Den Sklavenhändler. Wir warten auf ihn, weil wir in Djanet verkauft werden sollen.« Zakanza sprang ebenso verblüfft aus dem Wagenkorb wie ich. Ptah packte den Schaft eines Wurfspeers. Wir gingen durch warmen Sand auf die Karren zu. Der Kushit sagte: »Ich bin Zakanza-Upuaut.« Als er gestikulierte, warfen seine Ringe vielfarbige Lichtblitze in alle Richtungen. »Ihr seid… Sklaven?« »Ja, Herr. Wir danken für die Verkaufsabsicht. Wir bitten, uns an gute Herren von angemessener Großmütigkeit zu vermitteln.« »Bei allen Stromschnellen!« Zakanza und ich wechselten einen langen, keineswegs sonderlich geistreichen Blick. Ptah lachte schallend; vielleicht begriff er schneller den makabren Widersinn der Situation. Der Logiksektor sagte schroff: Eure ersten Sklaven. Gute Ware, Arkonide! Jemand lachte; die Stimme, süß wie Honig, kam von einer jungen Frau, die im Wagenkorb aufstand und uns anstrahlte. Ich zählte, hinter den Palmenstämmen und einem Schattenschutz aus Riedflechtwerk, sechs junge Frauen, eine schöner als die andere. Die Gesichter waren
zu vollkommen und ebenmäßig für Menschen, also zählten sie zu Geschöpfen von ES und Wanderer. Ich deutete in großartiger Gebärde auf unsere Wagen. »Hier, Herr des willigen Fleisches und der milden Fesseln, ist deine erlesene Ware. Sie kommt von weit her.« Ich rief laut mit der tremolierenden Stimme eines Marktschreiers: »Sieh, deine Fracht ist wohlgeraten. Zwölf Kostbarkeiten, stark, schön, klug und gehorsam. Die Haut riecht nach Myrrhe und Spezereien. Sind zehn Deben Silber geboten? Ich lache: der Preis für eine zahnlose Greisin. Höre ich zwanzig, dreißig, vierzig aus der lustvoll aufstöhnenden Menge der Käufer, die sich bald um die Prächtigkeit des jungen Fleisches zu prügeln beginnen werden? Höre ich fünfzig Deben schieres Ched-Silber?« »Es braucht Nachsicht, mit dir zu reisen, Mann bitterer Medizinen«, sagte Zakanza. Er umrundete dreimal die Wagen und das winzige Lager. Die Männer und Frauen trugen Kleidung und Schmuck des Hapilandes; sie sahen keineswegs ärmlich aus. Ich versuchte, den Schmuck an Handgelenken, Oberarmen und Hälsen mit der Fesselung von Sklaven zu vergleichen: Meine Überlegungen verloren sich in Nichtigkeiten. Der Extrasinn zischte: Du solltest darüber lachen können, denn dein Sinn für waghalsige Scherze ist mehr als gut entwickelt. Ich hob, halbwegs ratlos, die Schultern. Die Sklaven, die ES auf uns hatte warten lassen, schienen mir die fröhlichsten Geschöpfe, die je verkauft werden würden. Ich dachte darüber nach, was ES wirklich mit ihnen vorhatte. Selbstverständlich waren es keine Planetengeborenen, sondern Wanderer-Androiden; der Erfolg des Handels war vorbestimmt. Jeder, der einen jungen, gescheiten Arbeitssklaven oder die Insassin des Frauenhauses suchte, würde sich förmlich um diese »Ware« schlagen und fast jeden Preis bezahlen. Eine ungewöhnliche Variante kam mir in den Sinn; ich rief: »Auf nach Djanet, Freunde! Wir verkaufen nicht einfach
Sklaven und Sklavinnen, sondern wir bieten Fürstensöhne und in allen Künsten der Liebe erfahrene Prinzessinnen an! Nehmt die Zügel, Männer, und bis zur Stadtgrenze haben wir für jeden eine überzeugende Lebensgeschichte ausgedacht.« »Atlan-Aakener!« Ptah rieb mit zwei Fingern seine Falkennase. »Ein Vorschlag praktizierbarer Vorzüglichkeit.« »Danke. Noch andere Dinge sind mir eingefallen«, sagte ich und schwang mich in den Wagenkorb, löste die Knoten der dünnen Zügel. »Ihr wißt – in Wirklichkeit –, wer und was ihr seid, welchen Zweck ihr habt?« Ich hatte mich an die Androiden gewandt. Der junge Mann hängte den Ledereimer an den Wagenkorb und stieg hinter den halbrunden Bug aus Riedgeflecht. »Wir sind hier, um von euch verkauft zu werden.« Er senkte den Kopf. »Wir wissen, daß unsere Existenz eine bestimmte Zeit gesichert ist, eine längere Zeit als der Menschen hier, die mit fünfunddreißig Jahren zahnlose, kranke Greisinnen und Greise sind. Wir haben bisher hundert Stunden, ausgerüstet mit viel Wissen, bewußt in diesem Land erlebt. Wir sind angewiesen, wir können nicht anders – wir gehorchen jedem eurer Befehle. Wir wissen, wonach ihr sucht, und wir sind angewiesen, euch dabei zu helfen.« Zakanza. biß auf seine Unterlippe und nickte langsam. »Nun denn. Alles scheint feinstens errechnet und gefügt zu sein.« Er wendete sein Gespann. »Die Parasiten haben sich an wichtige Personen geheftet. Zumeist wohl an Männer. Anders ausgedrückt: Jene Heka Chasut, die zu Kleinherrschern wurden, schafften dies nur durch den Einfluß von Parasiten. Jene Befallenen repräsentieren Einfluß und Macht. Sie haben das Gold, um teure Sklaven kaufen zu können. Sie können auch einen Heerführer wie Ptah oder einen Arzt wie Atlan mit gutem Gold entlohnen. Ihr, die Sklaven, und wir sind in der Lage, Parasiten aufzuspüren und – vielleicht – sie auch zu ver-
nichten. Unser lautlos planender Herrscher hat offensichtlich gründlich nachgedacht. Ab jetzt, außerhalb der Schatten dieser Oase, haben wir es nicht mehr so schwer.« Ich stieg in meinen Wagen und hängte den breiten Ledergurt ein, ehe ich mich darauf halb setzte, halb lehnte. Zu Zakanza sagte ich: »Es wird vielleicht nicht so einfach sein, wie du meinst. Aber deine Überlegungen sind richtig. Ich denke nicht anders.« Die kleine Karawane verließ die Oase. Wir waren durch die Sklaven schlagartig glaubwürdig und überzeugend geworden und würden von den Fremden schwerlich als Bedrohung betrachtet werden. Unsere unmittelbare Zukunft schien auf sicheren Füßen zu stehen; noch bewegten wir uns auf einem schmalen Pfad durch leeres Land. Der Pfad, fast eine Straße, war seit dem Anfang seiner Benutzung durch Gespanne und Felgen gekennzeichnet; verdichteter, von der Sonne zusammengebackener Boden, von Brunnen in weiten Abständen, durch kleine Pfeiler und Lehmziegelblöcke gesäumt, in die Bilder, Zahlen und Schriftzeichen eingefügt worden waren. Assyrische Keilschrift, churritische Zeichen… die Heka Chasut schienen diese Schriften vergessen und nur rômetische Zeichen verwendet zu haben. Drei unterschiedlich große Handelskarawanen kamen uns entgegen. Soldaten und Kaufleute starrten uns an, als kämen wir aus einem Wunderland; wir grüßten freundlich und wechselten Scherzworte. Zakanza sagte zu mir: »Wir waren nicht sicher, Atlan-Aakener. Aber die fremden Herrscher sichern die Straßen, fördern den Handel und sorgen für Frieden.« »Richtig!« Ich hob den rechten Arm. »Sie beten zu Seth, der ihren alten Göttern Reshep und Baal von Jahr zu Jahr ähnlicher wird. Die alten Götter wurden von ihnen nicht gestürzt. Aber der eine oder andere mag eine andere Bedeutung erlangt
haben, mittlerweile.« Ptah-Sokar schlug auf seine Brust und ergänzte: »Es sind ihrer zu wenige. Wie Öl auf den Wellen – sie bewegen sich an der Oberfläche und verstehen nicht, tief einzudringen. Im Land hat sich, sage ich, kaum etwas verändert.« Wir näherten uns der Stadt Djanet. Was sollte sich wirklich verändert haben? Korn, Fisch und Fleisch – alle mußten essen, und auch die Felder, deren Ränder wir erreichten, wurden nur von der jährlichen Hapiüberschwemmung gedüngt, wie seit altersher; bewässert über endlos lange, verzweigte Kanäle und Teiche, die das Wasser hielten. Felder, Palmenhaine und die Arbeit der Bauern waren die Grundlage des Staates, an der niemand rühren durfte, ohne das Risiko einzugehen, verhungern zu müssen. Ich sah hier die Menschheitsgeschichte von der untersten Basis her. Noch in tausend Jahren würde sich hier kaum etwas Entscheidendes geändert haben. Die Säulen am Straßenrand wurden häufiger und farbiger. Der erste Gutshof im Rechteck der Flutmauern schob sich hinter den Binsenstengeln hervor. Frauen und Männer arbeiteten in Gärten, an Käfigen, in Geflügelgehegen und, ohne daß wir genau sahen, was sie taten, im Schatten großer Palmen. Andere Farben verdrängten zusehends das grelle Weißgelb der Wüste. Schließlich fuhren wir durch eine Zone unterschiedlicher Grün-Abstufungen. Friedliche Ruhe umgab uns, sog uns in sich auf. Es wurde Abend. Einen Pfeilschuß abseits der Straße fanden wir einen großen Gutshof, dessen Verwalter uns entgegenkam und mit sichtlichem Wohlwollen begrüßte. Ich sprang aus dem Wagen, faßte die Pferde am kurzen Zügel, ging langsam auf ihn zu und konnte in seinem Gesicht keinerlei Mißtrauen entdecken. Ich verneigte mich und sagte: »Ein Mediziner, ein Fürstensohn und ein Begleiter junger Leute, die Abenteuer in fremden Diensten suchen, bitten um Ruhe und sorgloses Nachtlager.«
»Ich bin Senhebtisi, Herr«, sagte er. »Vertrauter des Herrschers von Djanet. Nur für diese Nacht?« »Ja. Morgen wollen wir die Stadt betreten. Unsere Ansprüche sind bescheiden: frisches Wasser, Fressen für die Tiere, Brot und Getränke für uns. Nicht mehr. Doch: Gespräche und Unterhaltungen mit Klugen, Wissenden.« »Bleibt hier.« Senhebtisi wies hinter sich. Wir sahen saubere Scheunen, ein gelbgekalktes Haus und den Sand eines viereckigen Hofes. »Ladet ab. Woher kommt ihr?« »Aus dem Süden, hapiabwärts sind wir gereist; aus einer Stadt, die du vielleicht nicht kennst. Suênet, an der Stromschnelle. Aber jetzt brachte uns ein Schiff aus Gubla.« Die Gespanne fuhren langsam in den geräumigen Hof. Arbeiter sahen ohne große Neugierde herüber. Offensichtlich passierten viele Karawanen diesen Hof. Ab jetzt mußten wir stets dieselbe Geschichte unserer Herkunft erzählen, denn auch hier verbreiteten sich Gerüchte schneller als Sonnenstrahlen. Ich sprach weiter: »Vor einiger Zeit trafen wir uns in Gubla. Zakanza-Upuaut wurde in Kush geboren, also jenseits der ersten Stromschnelle; er lebte nur wenige Jahre dort und zog umher, um zu lernen. Ich komme aus einem Land nordöstlich von Gubla; ich bin Arzt. Ptah ist ein Rômet aus Nechen. Die Jungen haben sich uns in Gubla angeschlossen. Wir haben sie hierhergeführt, sie wollen sich in Djanet verdingen.« Die Stunde des Sonnenunterganges kam. Die Wüste färbte sich rot, die Dünen und Hausmauern schienen in allen Schattierungen von Rot zu glühen; bis hin zu schrillem Gelb und Dunkelrot. Alle Farben änderten sich, wurden kühler, härter und verschwammen in dunklem Grau. Der Logiksektor flüsterte: Man glaubt euch. Deine Geschichte klingt überzeugend. Die Androiden halfen uns, als hätten sie nie etwas anderes getan. Wir schlugen unser Lager unter dem Dach der nach drei Sei-
ten offenen Scheune auf und breiteten unsere Decken über dickes Stroh. Die Pferde wurden ausgeschirrt und versorgt; schließlich setzten wir uns in einer kleinen Halle zwischen wuchtige Pfeiler. In Mauernischen brannten Öllämpchen; Mägde trugen das Essen auf. Der Herbergspächter setzte sich zu uns, und das Gespräch, das erst um Mitternacht endete, zählte zu jenen langen, guten Unterhaltungen, die uns tiefere Erkenntnisse brachten als jede andere Informationsmethode. Wir erfuhren viel über die Verhältnisse im Land und in der Stadt. Senhebtisi kannte unzählbare Kleinigkeiten und Vorfälle aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts und versicherte uns, daß die Heka Chasut nur in den ersten Jahren ihrer Einsickerung ins Hapiland militärische Gewalt angewendet hatten. Statt großer Schlachten – die Rico wahrscheinlich beobachtet hätte – waren viele kleine Scharmützel geschlagen worden. In der Gegenwart bestanden die Einflüsse durch Kauf, energisches Überreden, durch Heirat und Vermischung von Menschen und Viehherden. Im Mündungsdreieck bestand die gesamte Oberschicht aus Nachfahren der einstigen Nomaden; sie waren kaum noch von den echten Rômet zu unterscheiden. Unterhalb dieser Decke, die wie eine dünne Farbschicht über Amenti lag, hatte sich wenig geändert. Ich lehnte mich gegen die kühle Wand. Unsere Aufgabe blieb unverändert. Wir mußten beide Spieler finden und die Parasiten vernichten. Wo? Wie? Nach welchen Merkmalen suchten wir? Viel später gingen wir unter dem mächtigen klaren Sternenhimmel zurück in die Scheune und schliefen, in unsere großen Mäntel gewickelt, ruhig und traumlos.
4.
An der oberen linken Ecke eines Monitors klebte ein Zettel. Oemchen Orb, Aescunnars Freundin, hatte ihm eine handschriftliche Notiz hinterlassen: Du wirst es nicht schaffen, Liebling, Deine ANNALEN DER MENSCHHEIT nach den Maximen Deines großen Vorbildes abzufassen. Theodor Mommsen (Terra, 1817 bis 1903) hat formuliert: »Von Historikern ist zu verlangen, daß sie rücksichtslos ehrlich sind, keinem Zweifel ausbiegen und keine Lücke der Überlieferung oder des eigenen Wissens übertünchen.« Aescunnar hob die Schultern und brummte: »Eigentlich hätte ich es vorgehabt. Aber bei Atlans Art der Schilderung habe ich meine Schwierigkeiten. Nicht nur ich.« Es gab eine Liste von Unstimmigkeiten, die, im einzelnen unwichtig oder marginal, dazu geeignet waren, die völlige Klarheit eines Geschichtswerkes wie der ANNALEN zu trüben. Wie wurde das altägyptische Wort für »Mensch« richtig betont? Rômet oder Romet? Warum benutzte Atlan mitunter, wenn er von Amenti, dem Hapiland, berichtete, die »modernen«, also griechischen oder arabischen Begriffe und Bezeichnungen? Auch die Nomenklatur der Gottesherrscher entsprach manchmal nicht der geschichtlichen Wahrheit; das störte Cyr besonders, denn Atlan sprach und schrieb perfekt die Sprache des Hapilandes. Der Historiker glaubte festgestellt zu haben, daß, je mehr und länger Atlan berichtete, die Fehlermenge abnahm. Selbst Ricos Berechnungen wiesen verblüffende Unschärfe auf. Cyr hatte lange nachgedacht und noch länger gerechnet. Die Fehler, sagte er sich, entstanden dadurch, daß Atlan von Ricos Berechnungen berichtete: In einer Zeitspanne von mehreren Jahrtausenden schien auch Atlans exzellentes Gedächtnis winzige, für die Gesamtheit unbedeutende Fehler oder Versprecher zu produzieren. Ein Problem der Mißinterpretation.
»Atlans Berichte und seine Erkenntnisse, die Erzählung und seine Deutung der Ereignisse sind untrennbar miteinander verbunden.« Cyr seufzte und lauschte; in Atlans Schilderung war eine Pause eingetreten. »Aber mit solchen Texten muß die Geschichtswissenschaft umgehen können. Das gibt noch viel Arbeit für die Historische Fakultät.« Cyr Aescunnar nutzte die Unterbrechung, um die wichtigsten Dokumentationen der Exponate irdischer Museen aus den Speichern abzurufen und in langen Hologrammschleifen ablaufen zu lassen: die Vatikanischen Museen, den Grand Louvre, das British Museum, München, Hildesheim und andere. Die letzte Schöpfung seiner Fakultät, anläßlich Atlans Bericht über die »Säulen der Ewigkeit« vervollständigt, war eine Karte des Hapilandes, auf der jeder noch so kleine Ort mit dem altägyptischen und allen neueren Namen verzeichnet war. Diese Darstellung, ein Dreieck, an das sich ein langes Band anschloß, lief langsam auf einem Monitor von Nord nach Süd ab und zeigte zufällig die Landschaft um Djanet, das später Tanis und Auaris genannt wurde. In der Pantry programmierte Cyr das Frühstück, duschte sich und zog eine weiche Kombi an. Als die ersten Buchstaben auf der Stimmprintplatte erschienen und nach einigen tiefen Atemzügen Atlans Stimme den Arbeitsraum erfüllte, hastete Cyr zum Arbeitstisch und stellte das Frühstückstablett klirrend mitten auf seinen Arbeitsplatz. Djanet in Kerne, dem Schwarzen Land, einige Tagesmärsche vom Südrand des Großen Grünen – sie nannten das Meer Wadj-Wer – entfernt, lag an einer Stelle, an der sich ein von Westen nach Osten laufender Mündungsarm mit einem Wasserlauf kreuzte, der nach Nordost ablief. Eine etwa rechteckig angelegte Stadt mit einigen Mauern aus Lehmziegeln; eine Brücke, auf wenigen Quadern und Aufschüttungen aus Sand und Bruchstein gegründet, führte zu Befestigungen vor dem
Stadttor. Unter der Nachmittagssonne wuchsen uns die Farbgegensätze plastisch entgegen: weiße, rote und gelbbemalte Mauern, das Graubraun des Wassers und das Grün von Palmwedeln, Weiden und Feldern. Einige Dinge paßten nicht in das strahlende, vom Ausdruck der Macht erfüllte Bild. Ptah holte auf, die Pferdehufe schlugen einen dumpfen Wirbel, als wir über die sandbedeckten Akazienholzbretter fuhren. »Überall Sonnensegel«, sagte Ptah. »Bauern und Fischer, die ihre Waren verkaufen. Wächter und Soldaten – mir ist zuviel Frieden und Heiterkeit in dem, was wir sehen.« »Dir wären mehr Soldaten lieber?« Ich hob die Brauen. Vor drei Stunden hatte ich mich dabei ertappt, wie ich jedes Stück Haut musterte; die nackten Oberkörper der Kinder und Männer, die Rücken der Frauen oder die Brüste unter den bestickten, gesäumten Leinenstreifen. Bilderschriften auf Wänden, deren Konturen mit reinen und ungebrochenen Farben ausgefüllt waren, zeigten fremde Einflüsse; Gottkönige, geschmückt mit Löwenfellen, auf Kampfwagen, waren die ersten Eindrücke. Ptah nickte heftig. »Dann wüßte ich eher, was uns erwartet.« Seine schnellen, dunklen Augen musterten jede Handbreit der Szenerie. Man schenkte uns gebührende, aber keineswegs übertriebene Aufmerksamkeit. »Ich weiß, was du meinst, aber wenn wir vor dem schwerbewachten Herrscher stehen, wirst du sicherer sein.« Djanet war auch eine saubere Stadt. Überall sahen wir fleißige Handwerker, die fröhlich arbeiteten. Die lastende Luft war heiß und feucht, aus den breiten Säumen der Binsendickichte entlang der Kanäle kam ein Geruch nach brackigem Wasser und faulenden Pflanzen. Wir fragten Torwächter, die uns den Weg zum Palast wiesen: Der Herrscher hieß Haakenen RêApophis, ein strenger, aber gerechter Mann auf dem Thron, den er erst seit kurzer Zeit innehatte. Wir hielten im Tamaris-
kenschatten, reichten die Zügel einem Halbwüchsigen und erfragten unseren Weg durch den steinernen Irrgarten des weitläufigen Bauwerks. Schreiber, Vorsteher, Höflinge und Vertraute; einer brachte uns zum anderen, es wurde viel auf Shafadurollen geschrieben, und wir erhielten die Erlaubnis, ein leeres Haus zu finden und zu mieten, und in drei Tagen wollte uns der Herrscher sehen. Ich bedankte mich mit höflichen Worten und zwei Finger breiten Silberplättchen. Zakanza mietete ein Haus hinter der Südmauer. Es war groß genug für ihn und seine zwölf Sklaven. Ich fand nach längerer Suche außerhalb des Torbauwerks ein einfaches Haus in einem verwilderten Garten, das zu meiner Maske zu passen schien. Ptah zog zu mir. In einer Kammer stellten wir den Transmitter auf; Rico schickte Material und kleine Roboter, die innerhalb zweier Nächte das Haus so weit vorbereiteten, daß eine Schar Handwerker und Zakanzas Sklaven binnen kurzer Zeit sämtliche Räume, die Stallung und den Garten stilsicher bearbeiten konnten. In der Stadt handelte ich einige Einrichtungsgegenstände für uns ein, und zwei Gruppen Künstler erneuerten die Malereien an den weißen Innenmauern. Kurz bevor wir aufbrachen, um uns vor dem Herrscher zu Boden zu werfen, wußte die ganze Stadt, daß hier ein Arzt wohnte. Ich versprach, Wunden zu heilen und bei Krankheiten zu helfen. Ptah, ein Heerführer und ein Mann der Wissenschaft, bot seine Dienste an, und ein Sklavenhändler, munkelte man, würde bald ein halbes Dutzend wunderschöne junge Frauen und ebenso viele Handwerkssklaven mit eigenem Werkzeug anbieten. Wir schienen innerhalb von zweiundsiebzig Stunden mehr erreicht zu haben, als wir uns vorgenommen hatten. Wie ein seltsamer Wasserläufer mit dreißig Insektenbeinen glitt ein Schiff durch den stillen Kanal. Die Enden der langen Riemen, die gleichzeitig eintauchten und sich hoben, hinterlie-
ßen Reihen ineinandergleitender mehrfacher Ringe, hinter dem Heck breiteten sich drei spitze Dreiecke aus. Früher Morgen; über dem Wasser lag dünner Nebel. Ptah schwang sich in den Wagenkorb, wir holten Zakanza ab und fuhren langsam zum Palast. Wir schwiegen. Die Palastanlage unterschied sich kaum von jenen, deren Bilder ich in meinen Erinnerungen fand: Palmen spiegelten sich in viereckigen Teichen, die in Stein gefaßt waren, zwischen Reihen von Götterbildnissen und Sphingen erstreckten sich Treppen und Rampen. Manche steinernen Phantasiegestalten trugen fremdartige Züge. An den nackten Brustkörben einiger Priester erkannte ich die Amulette des Seth-Ba’al. Der Extrasinn wisperte: Die verfeinerte, erstarrte und kanonisierte Kunstform ist stellenweise einer ursprünglicheren und lebendiger wirkenden Form gewichen! Die HekaChasut-Einflüsse sind kaum übersehbar. Man führte uns und wenige andere Besucher in den Säulensaal, der sein Licht durch waagrecht einfallende Sonnenstrahlen erhielt. An der Kopfwand, zwischen goldverzierten Säulen, auf einem großen Podest, saß der Herrscher auf einem Thron, dessen Seitenteile prächtigen Wagenrädern nachgebildet waren. Es dauerte lange, bis wir vor der untersten Stufe standen. Wir trugen unsere feinsten Schurze und den wertvollsten Schmuck, aber keine Perücken. Ich musterte ruhig den Herrscher; er gab meine Blicke selbstbewußt zurück, während er leise mit einem Tatji oder Djadjad sprach, einem seiner Hohen Verwalter. Apophis, ein mittelgroßer, braunhäutiger Mann mit schwarzem Kinn- und Oberlippenbart, saß fast reglos auf dem goldbeschlagenen Sessel und hob die Hand. »Ich begrüße euch in meiner Stadt.« Der Tonfall seiner Worte sagte uns, daß er nicht gewillt schien, uns alles vorbehaltlos zu glauben. An seinem linken Fuß saß ein halbnackter Schreiber, pinselte mit dem Binsengriffel auf Binsenmarkblättern und flüsterte von Zeit zu Zeit. »Und ich frage mich, wie es geht,
daß ihr so schnell, so zielstrebig und mit solch fein abgewogenem Silber so viel von dem erreicht habt, was ihr wolltet.« Seinen Kopf bedeckte ein Teil einer zeremoniell verarbeiteten Löwenmähne voller Goldgeflecht. Der halbmondförmige Brustschmuck hing bis unter die Rippen. Er sprach weiter, mit heiserer, machtgewohnter Stimme. Auf seinen Wink standen wir wieder auf und hoben die Köpfe. »Bei Seth, Gottesherrscher. Jedes Ding hat seinen Preis.« Ich unterdrückte ein anerkennendes Lächeln. Entlang der Wände standen etwa fünfzig bewaffnete Palastwachen. »Die Bedürfnisse aller Menschen ähneln einander. Wenn wir in Gubla ein Haus von dieser oder jener Größe haben wollen, zahlen wir soundsoviel Silber oder Gold – ein Deben oder Chat hin oder her; das Haus ist es uns wert. Was Gerüchte, Botschaften oder die Frage nach einem lohnenden Geschäft angeht, so handeln Marktweiber, Fürsten, Boten, Ärzte, Handwerker oder Hausbesitzer gleich. Gold erzeugt Gerüchte, schneller als Gedanken. In deinem Land, Herr, glänzt Wohlstand, es herrscht Friede. Ich habe unzählbare Siedlungen gesehen auf meinen Reisen, auf denen ich auch zahlreiche Kranke heilen konnte. Und daher wissen wir, wie es hier und andernorts zugeht. Überall sind die Menschen gleich.« »Manche indessen sind ein wenig gleicher.« Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, was er von meinem Vortrag hielt. »Wer Geld für sich sprechen läßt, ist Herr eines Redekünstlers.« »Manches gilt nicht für Götter und Halbgötter.« Ptah neigte den Kopf. »Götter sind großzügiger. Auch darin, daß sie drei vertrauenswürdigen Fremden das Gastrecht in der Stadt erteilen.« Apophis und der Schreiber warfen Ptah, dann mir und Zakanza überraschte und fragende Blicke zu, der Schreiber wisperte, und der Herrscher sagte:
»Gastrecht. Ich verstehe. Wer braucht nicht kundige Heiler? Für Bauern, Sklaven und Handwerker gibt’s genug Ärzte. Die wichtigen Männer und Frauen im Palast – mag sein, daß ich nach dir schicken lasse. Deine Kleidung und der Goldschmuck sagen mir, daß du deine Kunst schwerlich billig verkaufst.« »Die Almosen, die ich für vollbrachte Heilung erhalte«, antwortete ich ruhig, »richten sich nach der Schwere des Leidens und dem Maß des Erfolgs. Überdies achte ich die Gesetze.« »Was für Kranke und Arzt gleichermaßen wichtig ist.« Seine Stimme klang trocken, selbstüberzeugt. »Zu dir, schwarzhäutiger Sklavenhändler. Mir wurde berichtet, daß deine Ware Aufsehen erregte.« »Das trifft zu, Herrscherkönig.« Zakanza breitete bescheiden die Arme aus. »Teure Ware muß gut sein, sonst wird das Murren des Käufers unüberhörbar laut.« Haakenen Rê-Apophis wedelte mit der ringstarrenden Hand. »Gelegentlich lasse ich die neuen Bürger der Stadt genau überprüfen, ebenso die Fähigkeiten des scharfäugigen, hakennasigen Rômet, der sich als Heerführer und kunstvoller Erfinder von Dingen bezeichnet. Vielleicht brauche ich dich. Weniger als Mann der Streitaxt; es sind viele unerledigte Arbeiten in meinem Reich. Ich biete das Übliche – jeder in meinem Dienst wohnt und lebt wie ein Gaufürst. Ich bin kein einfacher Herr. Drei Monde lang zur Probe!« »Es wird eine köstliche Zeit sein.« Ich lächelte selbstbewußt. »Wir kamen von Gubla hierher, Herrscher, weil uns die Handelskapitäne genau dies berichteten. Der Sonnenstrahl deiner Großzügigkeit reicht bis zum Zederngebirge jenseits Gublas. Wir wollen niemanden täuschen oder enttäuschen; unser Leben in Djanet soll ruhig und friedvoll bleiben.« Der Herrscher zog seinen Arm zurück und kreuzte, nachdem er Stab und Geißel ergriffen hatte, die Unterarme vor der Brust: das Zeichen, daß er das Gespräch beenden wollte.
»Ihr seid an einem Tag gekommen, an dem ich merkte, daß mir Männer wie ihr fehlen. Glück, richtiger Zeitpunkt, Notwendigkeit und meine Langmut fielen zusammen. Seltsame Krankheit plagt meinen Heerführer. Ich hoffe, daß meine und eure Wünsche einander ähnlich sind wie Geschwister, wie Shen und Shenet.« Wenn er deine Pläne kennen würde, murmelte der Logiksektor. Wir verbeugten uns tief und zogen uns rückwärts gehend zurück. Hatte ES dem Zufall nachgeholfen? Oder sprach Apophis die Wahrheit? Es ließ sich nachprüfen. In einem unerträglich hellen Innenhof blieben wir stehen. Unsere Körper warfen lange Schatten, unsere Oberkörper zitterten als Spiegelbilder im Wasser eines Teiches. Im Schatten der Ostmauer saßen einige junge Frauen aus Wawat und sahen uns nach. Wir verließen den Palast, nahmen ein langes Frühstück in Zakanzas Haus und ahnten, daß sich in einiger Zeit unsere Wege trennen würden. Durch die mittägliche Stille summten Bienen und goldschillernde Fliegen. Das dicke Leinensegel filterte die unerträglich grellen Sonnenstrahlen. Das Land wartete auf die jährliche Überschwemmung. Mein Haus war fertig eingerichtet, Garten und Wasserteich in vorbildlicher Ordnung; eine versteckte Pumpe blies einen Strahl gereinigtes Wasser sieben Ellen hoch in die Luft. Satmeret lag nackt auf der steinernen Umfassung und sonnte sich; ihre Glieder glänzten vom Zedernöl. Das Extrahirn sagte seltsam betont: Ein feiner Meilenstein auf deinem Weg durch das Land am Barbarenstrom, Arkonide! Langsam ging ich die gemauerte Treppe an der Außenwand des Haupthauses hinunter und war für die Ruhe dankbar; niemand wartete auf mich. Träge wandte Satmeret den Kopf und blinzelte. »Unruhig? Du solltest im kühlen Halbdunkel ruhen, wie je-
der im Land.« Ich streichelte ihre Schulter und verrieb das Öl auf meinen Handgelenken. »Ich blicke mich um«, sagte ich. »Meine Augen sehen nur Schönes; dich zuerst. Jede Spur der Verwahrlosung ist beseitigt, die drei Diener scheinen tüchtig zu sein. Jene, die ich geheilt habe, hinken fröhlich heim. Dafür lohnt es sich zu schwitzen, Schönste.« Satmeret, eine kushitische Tänzerin, hatte sich bei Zakanza um Arbeit beworben. Er schickte sie zu mir. Ihre Haut war dunkler als die der Rômet, aber nicht schwarz wie die der Nomaden von Wawat. Meine geringen medizinischen Kenntnisse in Verbindung mit Salben und sauberen Binden genügten, um neun von zehn Kranken zu helfen: Geschwüre, Geschwülste, Schürfwunden und Verbrennungen, einfache Brüche, Folgen von Insektenstichen und Tierbisse und deren richtige Behandlung hatten mir den Beinamen »Heiler von Haut und Knochen« eingetragen; mir war es recht so. Bisher waren nur die einfachen Menschen der näheren Umgebung meine Opfer gewesen. Ich untersuchte jeden, aber keiner trug einen Parasiten. Aber sie erzählten von meinen Wohltaten, und der Zustrom riß nicht ab. Ich setzte mich neben Satmeret und sah ihre hellroten Handflächen an. »Bald wird Ptah-Sokar, der mit dem Falkenblick, vom Herrscher in den Palast gerufen werden«, sagte ich leise und blickte zwischen Palmstämmen und Weinreben zum geschlossenen Tor in der Mauer. »Und ich werde, trotz vieler Bitten, keine Schädel und Körper öffnen. Mir ist, als wären meine Gedanken noch nicht ganz hier, als würden sie anderswo umherkriechen.« Sie richtete sich auf, glitt ins Wasser und lehnte sich triefend an meine Schulter. Ihre Finger spielten mit dem goldenen Göttinnengesicht, das in den Brustschmuck eingearbeitet war; der getarnte Zellaktivator.
»Heute nacht werden deine Gedanken nur bei mir sein«, flüsterte sie. Ich nickte matt und dachte plötzlich an Krüge voll Wein, mit dem ich mich würde betäuben können. Ein Schwarm schwarzer Ibisse flog über den Kanal. Ich sah ihnen nach. Nach langem Nachdenken in einsamen Nächten hatte ich einsehen müssen, daß ich, einst der zweite Mann im Staatsgefüge Arkons, keinen Gedanken an meine Rettung mehr zu verschwenden brauchte. Die Arkon-Flotte suchte längst nicht mehr nach mir. Man mußte überzeugt sein, daß ich tot war; die Lebenserwartung eines Arkoniden lag bei allerhöchstens 245 Arkon-Jahren. Methankrieg? Druuf-Krieg? Die Festung auf Larsaf II? Hatte ES dafür gesorgt, daß ich im Überlebensversteck einer ungewissen, weit entfernten Zukunft entgegenschlafen mußte? Dachte ich an die innenpolitischen Verwirrungen im Umkreis meines Heimatplaneten, packte mich völlige Unsicherheit. Aber wer war die Dunkelhäutige auf der Terrasse des Sternenvögel-Hauses? Die Mittagssonne brannte glühend: an meinen Schläfen rannen Schweißtropfen herunter, ich strich das Haar in den Nacken und streifte die Sandalen ab. Dann sprang ich ins Wasser. Ich tauchte unter, erfrischte mich und hob den schlanken, dunklen Körper auf meine Arme. Auf dem Weg aus Sand und gestampftem Lehm hinterließen wir eine breite, nasse Spur. Zwei Zehntage lang verbrauchte ich Salben, Tinkturen, die getarnte Hochdruckspritze oder, bei besonders schmerzhaften Eingriffen, den Lähmstrahler-Dolch. Mir schien nach dieser Zeit, als ob ich alle erwachsenen Einwohner der Stadt kannte – aber keiner trug einen Parasiten. Beruhigende Nachrichten kamen von Ptah: Mit Wagen und Pferden, seiner Ausrüstung und einigen Karten beaufsichtigte er den Bau eines Dammes,
eines Kanals, einiger Gutshof-Gebäude und einer Straße, half den Baumeistern und überprüfte mit zwei Schreibern die Abrechnung. Auch er hatte keinen Parasiten gesehen. Ungefähr eineinhalb Stunden vor Mitternacht erwachte ich; von außerhalb der Mauern hörte ich Pferde wiehern, Hufschlag und das Knirschen von Felgen auf grobem Sand. Ich wickelte den Schurz um meine Hüften, schloß den Gürtel und steckte die Dolche in die Stiefelschäfte. Satmeret richtete sich auf und legte die Hand auf mein Knie. »Hab’ ich dich geweckt?« Sie hob den Kopf, als sie Ptahs Stimme erkannte. Er rief: »Atlan!« »Ich komme!« Ich hielt zwei Fackeln in die Flamme des einzigen Öllämpchens, das unter dem Sonnensegel brannte, und sagte leise: »Du brauchst die Diener nicht zu wecken, Satmeret. Bring uns kühles Bier in mein Arbeitszimmer.« Ich sprang die Treppe hinunter, rannte durch den Garten und öffnete das Tor aus Akazienholz und Flechtwerk, packte die Pferde am Halfter und führte sie über den Sandweg. Ptah sprang aus dem Wagen, umarmte mich kurz und stieß hervor: »Ich hab’ ihn gesehen!« »Langsam«, sagte ich. »Nachts sehen nur Eulen und Katzen. Satmeret bringt Henket, und du erzählst mir, was du gesehen hast.« Er streckte sich im Sessel aus, strich über sein kurzes Haar und lächelte Satmeret an, die Bier in große Tonschalen goß. Ptah nahm einen gewaltigen Schluck. »Wen hast du gesehen?« »Den ersten Parasiten, Atlan.« Er wartete, bis Satmeret einige Lampen angezündet hatte. »Mein Vorgänger, der Vertraute des Herrschers und Meister des Heeres, leidet auf den Tod. Ich besuchte ihn; er zeigte mir seinen Rücken.« Ptah-Sokar schüttelte sich, als müsse er schreckliche Bilder loswerden. Er zeigte seinen Handteller und fuhr den Umriß mit dem Finger nach.
Ich hob den Kopf und wartete, bis die junge Kushitin die brennenden Lampen in die Nischen stellte. »So groß, Atlan! Halb fingerdick. Das… Ding pulsierte, war gelb-rot mit unregelmäßigen schwarzen Punkten. An zwei Stellen hat es sich von der Haut gelöst, so wie eines deiner alten Pflaster. Chayan-Râ sieht aus wie eine lebende Leiche. Morgen bringen sie ihn hierher, auf der Trage, versteht sich.« »Danke, Ptah«, sagte ich leise. Satmeret stand neben mir. »Seit mehr als einem Mond sind wir hier, und das wird unser erster Erfolg. Sorge dafür, daß jeder – Heerführer, Verwalter, Ratgeber des Herrschers, du weißt schon – davon erfährt, was wir tun.« Er nickte und hielt Satmeret die Schale hin. Sie hob den Krug mit beiden Händen; ich brummte: »Es sind fünf Hundertstel unseres Vorhabens, Ptah.« »Sorg dich nicht. Ich kümmere mich um alles. Wenn ich erst unterwegs bin, treffe ich viele Männer dieser Klasse.« »Es gibt mehr als zwei Dutzend Städte zwischen den Hapischnellen und den Mündungen. Ich sehe indes keine Möglichkeit, dem Herrscher das Gewand herunterzureißen und zwischen seinen Schulterblättern nachzusehen. Auch seine Statthalter würden sich dagegen sträuben.« »Brust und Schultern, Achseln und Kniekehlen«, sagte Ptah leise. »Bei den meisten Frauen und fast allen Männern könnten sich solche Parasiten nicht verbergen. Aber ich bin sicher, Atlan-Aakener, daß wir alle finden und vernichten. Es dauert seine Zeit, mein Freund.« »Deine Zuversicht ist ansteckend wie Sumpffieber. Ich kann sie nicht teilen.« Diesmal füllte die Frau meine Trinkschale. »Der Anfang scheint gemacht zu sein; du fährst zum Palast zurück? Fahr zuvor zu Zakanza und bitte ihn, bei Sonnenaufgang zu kommen und die geschickteste Sklavin mitzubringen.«
»Selbstverständlich. Ich schlafe bei Zakanza.« Er nickte und hob den linken Arm. Das Armband, halb wie der Schutz gegen die Bogensaite geformt, schimmerte schwach. »Und auch vom anderen Ende des Landes werde ich dich erreichen, wenn ich stromaufwärts fahre und einen anderen Parasiten entdecke. Oder gar den Spieler.« »Daran zweifle ich nicht. Und Zakanza soll den Topf mit der Schwarzen Salbe mitbringen; meiner ist fast leer.« »Sag’ ich ihm.« Ptah, mit sonnenverbranntem, ölglänzendem Gesicht, beugte sich vor und schob die Unterarme auf die große Platte des Arbeitstisches. Im flackernden Licht wirkte sein Gesicht plötzlich hart, wie geschnitzt, und uralt. Er drehte die Tonschale langsam zwischen den Händen und sagte, jedes Wort scharf betont: »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, Arzt. Wir sollen zwei Spieler und zwei Dutzend Parasiten finden. Dafür wurden wir ausgeschickt und ausgerüstet, und ES schützt uns. Wenn eines fernen Tages unsere Aufgabe erledigt sein wird – wird dann die Zeit der Heka Chasut wieder vorbeigehen?« »Vielleicht erhebt sich aus der Klasse der treuen Verwalter und Schreiber wieder ein starker Herrscher, wer weiß? Vielleicht ein neues Geschlecht, so wie nach dem ersten Senwosret.« Er wandte sich um und grinste listig. »Meinst du nicht, daß ein Parasit auf der Haut des richtigen Mannes – aus diesem starken Geschlecht oder einem anderen – dem Land helfen würde? Viele Heka Chasut gegen einen Gottesherrscher voller Einfallsreichtum, der die Fremden vertreibt und die Ma’at, die alte Ordnung, wiederherstellt? Nötigenfalls mit Kampf und Krieg? Und… bleiben dann auch alle neuen Kenntnisse und all das Wissen, das Männer wie wir ins Land gebracht haben?«
Ich hatte nachdenklich schweigend zugehört. Sein Einfall war kühn, aber keineswegs unvernünftig. Ich erwiderte leise: »Wenn’s soweit ist, unterhalten wir uns lange darüber. Es bleibt abzuwarten, was unser unsichtbarer Fürst darüber denkt. Er wird sich dazu äußern, stimmgewaltig wie stets. Wie auch immer: Es ist eine Sache der Zukunft.« Er stand auf und grinste. »Du hast gehört, was ich gesagt habe. Ich fahr’ zum alten schwarzen Zakanza. Morgen fahre ich nach Nai-Ta-Hut, stromauf. Der Überschwemmung entgegen.« Ich brachte ihn zum Wagen, gab ihm eine Fackel und schüttelte seine Hand. »Ich wünsche uns Glück. Wir brauchen’s. Komm zurück mit so vielen Parasiten wie möglich.« Er wendete den Wagen und schwenkte die Fackel über dem Kopf, ehe er in schnellem Galopp durch die Vollmondnacht davonpreschte. Wir löschten die Lämpchen, nahmen Bierkrug und Schalen mit aufs Dach und streckten uns auf dem Lager aus. Dicht über den Dünen, an der Stelle des Sonnenaufganges, schwebte zitternd ein einzelner Stern: Sepedet, der die Hapiüberschwemmung ankündigte. Ich lehnte mich zurück und sah Ta-Bnona an. Sie war eine Handbreit kleiner als ich und hatte ihr hüftlanges schwarzes Haar zu einer Hochfrisur aus mehreren Knoten und Wendeln aufgesteckt, mit Elfenbeinkämmen darin. Sie trug einen knapp knielangen weißen Schurz, Sandalen und gekreuzte, bestickte Bänder über Brüsten und Schultern, unter dem sichelförmigen Wesech-Halsschmuck. Ihre langen Beine waren wohlgeformt und braun, am rechten Knöchel ringelte sich sechsfach Zakanzas bronzene Sklavenkette mit einem Cheperkäfer als Schließe. Samtene Mandelaugen schienen aufzuleuchten, als Zakanza sie zum Arbeitstisch schob und sagte:
»Sie wird uns helfen, sie kann es. Wir wissen, worum es geht, Fürst eitriger Beulen.« Auch ich und er hatten allen Schmuck abgelegt. Wir trugen über frischen Schurzen weiße Hemden. Mein Arbeitszimmer war als medizinische Werkstatt eingerichtet; auf einem Tisch, mit weißem Leinen belegt, lag meine Ausrüstung. In Wandnischen und Aussparungen des mittleren Pfeilers standen Krüge, Dosen und Büchsen voller Salben, Tinkturen und Lösungen. Einige hatten Rico und ich mit den Maschinen der Station hergestellt, andere stammten aus dem gewaltigen Vorrat der arkonidischen Silos. Auch über den Sessel und den gemauerten Untersuchungstisch hatten wir Leintücher gebreitet. Der Raum roch nach Myrrhe und anderen bakterientötenden Mitteln, die Fenster waren durch Rahmen verschlossen, über die sich dünner weißer Stoff spannte, und wir drei wirkten zuverlässig und tüchtig. Nicht eine Mücke schwirrte durch den hellen Raum. »Ptah-Sokar hat euch schon vorbereitet.« Ich nahm den Becher voll heißem, honiggesüßtem Kräutersud aus Satmerets Hand. »Wir wissen nicht genau, wie wir vorgehen müssen. Aber der Heerführer wird für jede Linderung unendlich dankbar sein.« »Und der Parasit?« sagte Ta-Bnona, der weibliche Androide. »Hoffentlich stirbt Chayan-Râ nicht unter unseren Fingern.« Ich hob den Dolch auf, in dessen Schneide sich der Thermostrahler befand. Zakanza nickte und brummte: »Sie sollten den Alten bald bringen. Übrigens habe ich den Steinmetz und den Bronzegießer nach Neshet-Taui verkaufen können.« »Trefflich!« Ich war in Gedanken schon bei unserem fragwürdigen Vorhaben. »Zwei Beobachter in der Mitte des Reiches!« Wir hörten Stimmen und Schritte. Unsere Diener und die des
Chayan-Râ trugen den alten Mann auf einer einfachen Liege ins Haus. Ich deutete auf den Vorhang. Bnona glitt zur Tür, schob den gebleichten Wollstoff zur Seite und zog die Binsenrolle in die Höhe. Wir sahen unter einer dünnen, kostbar bestickten Decke ein bleiches, ausgemergeltes Gesicht, in dem Nase und Knochen spitz hervortraten, unter einem silbrigen Viertagebart. Meine Unruhe nahm zu; ich zeigte auf den Tisch. »Legt ihn vorsichtig darauf. Unter dem Laken ist ein Lederpolster.« »Ja, Neb Aakener.« Obwohl der Greis dem Tod näher war als dem Überleben, blieb seine Eitelkeit bemerkenswert. Oder war es die Absicht, sich gegen das Sterben zu stemmen? Er trug allen Schmuck und Auszeichnungen seiner Wichtigkeit; bald würde ihn Ptah ablösen. Ich knotete den Lederriemen in seinem knochigen Nacken auf und entfernte den schweren, prunkvollen Brustschmuck, der bis über die Schultern reichte, aus einigen hundert kleinen Teilen gefertigt: Gold, Glasfluß und Email, Edelsteinen und Silberdraht in Form eines von reicher Ornamentik umgebenen Geiers mit ausgebreiteten Schwingen. Die dünnen Ärmchen trugen Goldreife, die Finger waren voller Ringe. Ich sagte leise: »Sammelt das Geschmeide ein und gebt es den Dienern. Wir sind beim Arzt, nicht vor dem Thron des Herrschers.« Ich zog die Decke vom Körper, schickte die Diener hinaus und ließ den Vorhang schließen. Ich löste den Gürtel, wickelte den Schurz ab und starrte das erbarmungswürdige Wrack des Körpers an. Im gleichen Augenblick verdrehte Chayan-Râ die Augen und verlor das Bewußtsein. Zwischen Knien und Hals auf der aschgraubraunen Haut sah ich nichts, was einem Parasiten ähnelte. Ich rief zum Eingang: »Wie viele Sommer zählt Herr Chayan?« »Vierundvierzig Sommer, Herr.« Ein Diener antwortete au-
genblicklich. »Das sagt sein Schreiber, Heiler der Haut.« »Er sieht aus wie siebzig«, murmelte ich. Wir drehten ihn vorsichtig auf den Bauch. Zakanzas langer Finger deutete auf eine Stelle unterhalb der Schulterblätter; der Kushite sagte rauh, vor Erregung stockend: »Da ist seine Krankheit, die Wurzel allen Übels.« »Der erste Parasit.« Ich sah zum erstenmal, wonach wir suchten. Mit Ta-Bnona und Zakanza wechselte ich lange Blicke. Satmeret wischte schweigend Schweiß von meiner Stirn. In der Mitte des Rückens, unterhalb der vorspringenden Wirbelknochen, klebte der Parasit und pulsierte schwach, wie ein Blutegel oder eine flachgetretene Qualle. Hatte die Krankheit des Mannes den Parasiten verändert, oder verhielt es sich umgekehrt? Das Ding war rötlichgelb wie ein Feuermal, die schwarzen Punkte dehnten und zogen sich etwa halb so oft zusammen wie der Takt des Pulsschlags. Ich nickte Zakanza zu. »Die Betäubungsspritze!« Ich packte den kleinsten Energiestrahler-Dolch. An den Seiten hatte sich der Parasit von der Haut gelöst, darunter war eine offene Wunde. Ich bündelte den Strahl nadelfein, zielte flach über die Oberfläche des Parasiten und feuerte einen kurzen Schuß ab. Ein scharfes Sirren ertönte, blasen werfend und rauchend erschien eine schmale Furche in der Mitte des runden Flecks. Gleichzeitig wölbten sich die abgelösten Stellen aufwärts; Chayan-Râ bäumte sich auf, schrie gellend und hustete. Ich setzte die Spritze im Nacken an und betäubte den Greis, überflutete gleichzeitig seinen Kreislauf mit einem aufbauenden, konzentrierten Präparat. Chayan entspannte sich und schlief ein. »Bedeckt den Rücken mit nassen Tüchern. Salböl und Wasser. Nimm die Bronzezange, Bnona!« Der verbrannte Teil des Parasiten stank nach Horn und Haar, ich setzte die Spritze an den wichtigsten Nervensträngen an
und träufelte Öl, das Myrrhen- und Zedernauszüge enthielt, rund um die Hautstelle. Die hochgewölbten Ränder sagten mir, daß sich der Parasit in einem Schmerzreflex selbst ablösen konnte. Ich wartete, bis Bnona den Rand gepackt hatte und ihn vorsichtig hochzog, dann betätigte ich wieder den Auslöser der winzigen Waffe. Diesmal bohrte sich der Thermonadelstrahl mehrmals durch die Dicke des Parasiten, der sich zu krümmen begann und von der Haut losriß. Dünnes Blut lief aus schmalen Schnitten, wie von einer Skalpellspitze. Bnona riß mit der Zange, blattförmige und dreieckige Teile lösten sich aus dem Gewebe des Fremdkörpers. Ich zeigte wortlos auf eine hochwandige Schale. »Ein zähes Hautleiden«, sagte Zakanza und grinste. »Widerstrebend, mit Zähnen und Klingen.« »Nicht mehr lange.« Ich nahm meinen Brustschmuck ab und legte den Zellaktivator unter das Tuch in Chayans Nacken. Dann schob ich einen Bronzespatel zwischen Haut und Parasit. Wir hantierten schweigend, verhielten uns still; wir hörten ein feines, schabendes Geräusch. Wieder packte die Hautzange zu, ich sah auf dem Spatel ein halbes Dutzend feiner Kratzer. Ich sagte verblüfft und erschrocken: »Das ›Hautleiden‹ wehrt sich mit Material, das härter ist als Bronze. Trotzdem – wir sind stärker.« Ich drückte den Auslöser einige Atemzüge lang hinein. Der feine Energiestrahl brannte sirrend und fauchend, glitt hin und her und Zerschnitt die Mitte des Parasiten. Bnona schien im Zug der Zange weniger Widerstand zu spüren und hob, von den Spatelbewegungen unterstützt, den stinkenden Fleck hoch. Zakanza achtete darauf, nicht in die Schußbahn des Strahlers zu kommen, als die Waffe das letztemal sirrte. Bnona hielt den zuckenden Parasiten hoch, ich befahl kurz: »In die große Tonschale!« Dann rief ich zum Eingang: »Senai! Verwalter meines Hauses! Mache in der Küche aus
der Glut ein kräftiges Feuer. Ich brauch’ viel Hitze.« »Jetzt, Herr? In den ersten Stunden des Tages?« »Genau jetzt«, antwortete ich durch den dicken Vorhang. »Denn mich fröstelt beim Gedanken an deine Strafe, wenn ich nicht genug weiße Glut finde. Eile ist nötig.« Das leuchtende Element, die reinste Form des Lebens, die Welt und Sterne erhielt, würde den Rest besorgen. Ta-Bnona ließ den Parasiten in die Tonschale fallen und warf die Zange ins heiße Wasser. Wir bemühten uns mit leichten Fingern um die Wunde, stillten das Blut, trugen weiße Salbe auf, und ich sprühte eine Schicht Biomolplast darüber. Wir deckten die rohe Haut zusätzlich mit ölgetränktem Leinen ab und wickelten breite, weiße Binden um Rücken und Oberkörper. Immer wieder wischte Satmeret den Schweiß von unseren Gesichtern. Wir wuschen unsere Hände, traten vom Tisch zurück und beobachteten den Parasiten. Zakanza-Upuaut fragte leise: »Der erste? Wird Chayan überleben?« »Möglich. Fraglich. Einige Stunden wird er hier liegen müssen.« Das Wesen in der Tonschale lebte immer noch. Ab und zu kratzte es über den glasierten Ton. Bnona flüsterte: »Warum haben sich der alte Mann und der Parasit nicht vertragen?« Ich hob die Schultern. ES hatte uns wohlausgebildete Helfer geschickt. »Vielleicht hat eine Krankheit, die Chayan-Râ befiel, ihn und den Körper des Parasiten beeinflußt. Dann haben sich beide Krankheiten gegenseitig gesteigert.« Wir trugen die Schale in die Küche und kippten den Parasiten in die Glut. Die Diener umstanden uns und sahen zu, wie die weiße Glut die Zellmasse, die wie lebendes Fleisch aussah, berührte, schrumpfen und dampfen ließ. Sie löste sich auf und schmolz wie faseriges Wachs, gab dünne, fiepende Laute von sich. Sie klangen wie eine sterbende Hornisse oder eine neu-
geborene Ratte. Wir brachten den bewußtlosen Mann in ein angrenzendes Zimmer, schoben in seinen Nacken eine hölzerne Kopfstütze und betteten ihn behutsam auf Lederkissen. Bis zum Abend schlief Chayan mit dem Zellaktivator auf der Brust, während ich zwei Dutzend Menschen mit weniger wichtigen Leiden versorgte und mir von Satmeret, Zakanza und Bnona helfen ließ. Abends, als Chayan-Râ die Augen öffnete, stellte ich die Schale mit dem vorbereiteten Inhalt neben seine Liege. Er lag halb gekrümmt unter dem Laken. Ich knotete den Zellaktivator-Brustschmuck um meinen Hals und fragte mich, ob es über die Funktion dieses einzigartigen Gerätes eine Sicherheit gab: Half es, wenn ich wollte, anderen Menschen? Ich sagte: »Deine Krankheit ist geheilt. Wir haben den Fleischlappen über deinem Gesäß weggenommen und verbrannt. Hier, trink!« Bnona hob die Schale an seine Lippen. Er nahm einen langen Schluck der lauwarmen Mischung aus Fleischbrühe, Eiern, einem meiner Aufbaumittel und anderen Zutaten, die ihn kräftigten. »Kannst du mir sagen, wann dich dieser unbekannte Gast besucht und danach nicht wieder verlassen hat?« Er schüttelte den Kopf. »Werde ich sterben, Arzt?« »Nur dann, wenn du nicht mehr leben willst.« Ich legte die Hand auf seine Stirn. Er war ohne Fieber. »Jetzt bist du schwach wie ein Säugling. Viel schlafen! Leg deinen Körper, aber nicht den Kopf in die Sonne. Nicht die Wunde anrühren, sondern mich rufen lassen. Lebst du am Ende des Mondes Athyr noch, komme ich und fordere meinen Lohn ein, der nicht gering sein wird.« Chayan gähnte, seine Lider sanken schwer herunter. Er flüsterte: »Wenn ich überlebe, erfüllen der Herrscher und ich dir jeden Wunsch, Atlan-Aakener. Dürfen sie mich in mein Haus tragen?«
»Ja. Nicht, solange du noch einen Rest in der Schale gelassen hast.« Er gehorchte; er schlief fast schlagartig ein. Die Diener häuften Kissen, Decken und Mäntel auf die Liege und trugen den Heerführer zum wartenden Wagen. Wir trafen uns auf der Terrasse unter dem Sonnensegel. Ich ließ Essen und Wein bringen und sagte: »Ich nehme an, daß es weniger als dreiundzwanzig Parasiten gibt. Es ist wahrscheinlich, daß einige mit ihren Wirten gestorben sind oder mit ihnen getötet wurden. Vielleicht erfahre ich von Chayan-Râ, welche Verbindung zwischen ihm und dem Symbionten herrschte.« »Symbiont?« fragte Satmeret. Ich erklärte in einfachen Worten das Wesen einer Symbiose. Zakanza leerte die Weinschale, unterdrückte ein Rülpsen und sagte angeekelt: »Mit Nadeln oder Klingen bohrt er sich in die Haut der Opfer. Er schrie, als er verbrannte. Gräßlich! Wie haben diese Wesen ihre Opfer gefunden?« »Die Spieler haben sie verteilt, denke ich.« Auch mir schmeckte das Essen nicht sonderlich. Ich dachte an die Aufgabe, die Parasiten und Spieler zu finden; hier hatte der Zufall geholfen. Ta-Bnona hakte sich bei Satmeret ein und sagte: »Gerüchte sind, wie du sagst, Herr, schneller als die Strahlen der Morgensonne. Wenn Chayan überlebt, weiß es in kurzer Zeit jeder, der einen Parasiten trägt. Sie werden um einen Platz in deiner kleinen weißen Heilungshalle kämpfen, Aakener.« »Ich liebe deine unbeschwerte Zuversicht«, sagte ich. »Es ist etwas an deinen Gedanken, denn Erfolg zieht Erfolg nach sich.« »Oder den Zusammenbruch. Vielleicht fehlen in deinem Haus noch Diener, Harfenistinnen und Frauen?« »Mir fehlen Parasiten und zwei Spieler.« Zakanza-Upuaut wollte nur, daß ich ein Fest gab und unsere Suche erleichterte.
Ich zog Satmeret an mich. »Ich vermisse keine Frauen. Ich bin nicht in Laune für Feste. Noch nicht.« »War nur ein Vorschlag«, sagte Zakanza und zog Ta-Bnona in die Höhe. »Ich oder ein anderer Händler, wir haben immer gute Ware in der Scheuer.« Ich tat, als wolle ich den Becher nach ihm schleudern. Er sagte schmeichelnd: »Komm, meine Lotosblüte. Wir haben morgen einen Besuch im Palast vor uns. Vielleicht gelingt’s dir, unter dem prunkvollen Gefolge des Herrschers den einen oder anderen Parasitenträger zu finden? Ich habe auf dem langen Weg für dich und deine strahlenden Schwestern viele Deben Silber ausgegeben. Die Kosten müssen mit Gewinn wieder hereinkommen.« Sie verließen uns und stiegen im roten Licht des Sonnenuntergangs in den Wagen. Ich war nicht in der Laune, ihnen zu folgen und an einem Fest in Djanet teilzunehmen. Mürrisch nahm ich ein langes Bad im Teich, säuberte mich gelangweilt und legte mich auf dem Dach aufs Lager.
5. AN ATLAN-AAKENER, DEN HEILER DER WUNDEN, VON CHAYAN-RÂ, HEERFÜHRER IM DIENSTE DES MÄCHTIGEN HAAKENEN RÊ-APOPHIS. NUN LIEGE ICH SCHON SIEBEN TAGE OHNE DEINEN BESUCH, UND VON TAG ZU TAG WERDE ICH KRÄFTIGER UND JÜNGER. DIE RUNDE NARBE MEINES RÜCKENS JUCKT. BITTE KOMM IN MEIN HAUS UND BRINGE DIE WEISSE SALBE MIT; SIE HEILT UND KÜHLT. AUCH WILL ICH DIR REICHEN LOHN GEBEN UND DICH LOBEN. AUCH DER HERRSCHER, DER AN MEINEM KRANKENLAGER WAR, IST VOLL STAUNENS. LASSE MICH NICHT LANGE
WARTEN, ARZT ATLAN, DENN ICH WILL UMHERGEHEN UND IM SCHILF JAGEN. »Erstens sind es nur sechs Tage«, sagte ich und gab dem Boten ein Näpfchen voll Salbe. »Zweitens soll er nicht herumrennen. Trink dein Henket aus und sag ihm, daß ich morgen mit mehr Salbe komme.« Der Bote verbeugte sich und grinste mit wenigen Zähnen. Im Verschwörerton sagte er: »Er will nicht nur herumgehen. Schon verfolgt er seine Sklavinnen mit lüsternen Blicken und Griffen.« »Also ist er wahrhaftig aus dem Heck der Totenbarke an Land gesprungen. Seid vorsichtig. Nehmt nur ausgekochtes Leinen für die Binden.« »Wir werden es ebenso machen wie du.« Der Bote lief davon. Ich war unzufrieden und ungeduldig; wir kamen nicht weiter. Der erste Parasit war zufällig entdeckt worden. Zakanza-Upuaut feierte morgen ein Fest, um seine übriggebliebenen Sklaven zu zeigen und zu verkaufen. Ich stieg aufs schattige Dach und sah mich um. Seit zwölf Tagen lag das Mündungsdreieck unter einer sieben oder acht Ellen hohen braungrauen Flut begraben. Nur Bäume, Dämme, wenige Straßen und die niedrigen Hügel, auf denen Gebäude standen, sahen daraus hervor. Die Welt schien geteilt in einen aufrechtstehenden und einen spiegelverkehrten Teil. Hatte der sterbende Parasit den Spieler warnen können? fragte ich mich. Selbst wenn es sich so verhielt, konnte der Spieler nicht vermuten, daß Abgesandte von ES ihn suchten. In den letzten Tagen kamen einige reiche Handwerker, in Sänften getragen, Priester ließen sich zu meinem Gutshof rudern, die sich an Opferfeuern Verbrennungen zugezogen hatten, und immer wieder sah ich das breite Armband an, das ein Funkgerät enthielt – wir wollten es so selten wie möglich benutzen. Nichts rührte sich. Die Stunden schlichen in Langeweile hintereinander her.
Am nächsten Nachmittag fuhr ich auf dem Flutdamm neben dem Kanal auf den Palast zu, bog vor dem Garten ab und hielt im Palmenschatten jenseits der Handwerkerhäuser. ChayanRâ saß auf der Terrasse seines Hauses, er wirkte erholt; seine Hautfarbe hatte das kränkliche Grau verloren. Er deutete über die Schulter. »Atlan-Aakener! Bester Arzt! Nun entsinne ich mich – es geschah Merkwürdiges mit mir! Vor sechzehn Jahren hat meine Truppe einige grenzverletzende Verbrecher verfolgt. Wir lagerten im Sand. Als ich erwachte, spürte ich Kälte auf dem Rücken. Tage danach merkte ich, daß ich schärfer sah und klügere Gedanken hatte. In den Jahren bis jetzt stieg ich Jahr um Jahr die beschwerlichen Stufen des Erfolgs hinauf.« Er drehte sich zur Seite; ich warf die triefenden Binden in einen Korb und deutete auf den Wasserkessel. Er sprach weiter, mit klarer, kräftiger Stimme. »Ich wurde zum Vertrauten des Herrschers, ich brachte das Land unter die Ordnung seiner Ma’at. Das kannst du allerorten auf Säulen und Tafeln lesen.« »Dein Körper erholt sich gut«, sagte ich und nickte; was er berichtete, hatte ich mir denken können. Der Parasit steigerte die geistige Leistungsfähigkeit des Wirts. Der Schreiber kam und gab mir einen Lederbeutel, in dem Goldkörner knirschten. Ich knüpfte ihn an meinen Gürtel. »Und was denkst du nun über dein Leben?« »Mein Verstand ist klar geblieben wie Brunnenwasser. Du hast diese Wucherung entfernt, ohne daß ich Schmerzen gefühlt habe. Du bist ein guter Heiler, Atlan.« »Bald wird man’s allerorten auf Tafeln und Säulen lesen können«, sagte ich trocken. »Wenn du nicht lange bleibst, dich nicht betrinkst und wenn du dich kräftig genug fühlst – willst du heute das Fest Zakanzas besuchen?« »Wenn meine Schwäche nicht groß ist, lasse ich mich viel-
leicht zu ihm tragen«, sagte Chayan. »Erlaubst du mir umherzugehen?« »Wenn du weiterhin nur das ißt und trinkst, was ich dir erlaubt habe, darfst du dich bewegen. Geh herum. Keine großen Anstrengungen, alter Mann!« »Ich folge deinem Rat, Atlan.« Er kreuzte die Unterarme auf dem funkelnden Brustschmuck. Ich sah hinüber zum Mittelpunkt des Palastes. Die Stadt war von feuchter Hitze und von den Lebensgeräuschen der Bewohner erfüllt. Ich verabschiedete mich von Chayan-Râ und fuhr langsam zurück, wartete, bis Satmeret fertig geschmückt war, und lenkte das Gespann zu Zakanzas Haus. Ich schwieg; ich war in unguter Stimmung. Ich war sicher gewesen, daß wir schneller und mehr Erfolg haben würden. »Sucht dich schlechte Laune heim, Aakener?« Auf Satmerets dünner Perücke begann der Salbkegel zu schmelzen. »Da! Selbst die Priester und Würdenträger grüßen uns.« »Ich denke über die nächsten Monde nach«, sagte ich. »Wie könnte meine Laune an deiner Seite und kurz vor dem Fest schlecht sein?« Die riesige rote Abendsonne begann sich zu verformen und wurde von schwarzen Wolkenstreifen quer geteilt. Kein Impuls kam vom Funkgerät im Armband. Am Eingang zu Zakanzas Grundstück, zwischen blakenden Fackeln, übergab ich einem Diener die Zügel, hob Satmeret aus dem Wagen und nahm meinen Ledersack hoch. Zakanza-Upuaut, prächtig gekleidet und geschmückt, eilte uns entgegen; ich packte ihn an den Schultern und sagte verblüfft: »Es ist fast widerlich, wie schön du dich gemacht hast; wie deine schönste Sklavin.« »Ich will unter den Mächtigen auffallen«, sagte er und nahm Satmerets Hand. Er zeigte auf sein Armband. »Nur die Großen tragen, denke ich, Parasiten. Es ist nur für heut’ nacht, Pracht
für die Gäste. Leider konnte Ptah nicht kommen – die Überschwemmung, Atlan.« Diener reichten uns Lotosblüten und Becher voll kühlem Bier. Ta-Bnona zündete Öllämpchen in Nischen und entlang der Wände an. Zakanza trug Stiefel aus gekalktem Gazellenleder mit goldenen Schnallen, breite Reife um die Oberarme und Handgelenke, einen schneeweißen gefältelten Schurz und den Brustschmuck aus Ricos Werkstätten: unvorstellbar prunkvoll und, bis aufs Gold, perfekt nachgeahmt. Ich lächelte, als ich Rohrflöten, kleine Trommeln und Harfenklänge hörte. Satmeret schwenkte ihre Hüften. »Vielleicht finden wir heute den zweiten Parasiten«, hoffte ich. Tische waren aufgestellt worden, in Flechtwerkgestellen staken Krüge, aus langen Reihen Schalen und Körben dufteten gekochter, ölgebratener und geräucherter Fisch, Fleisch, mit Lauch, Melonen- und Kürbiswürfeln verziert, auf Rosten brieten Teile von Lämmern, Enten, Gänsen und Gazellen. Sieben Musikantinnen saßen in halb durchsichtigen Kleidern auf einem Podium zwischen den Stützsäulen. Zakanza benahm sich wie ein Mann, der zu plötzlichem Reichtum und zu Macht gekommen war, aber sein Gesicht blieb wachsam. »Zufrieden? Es wird ein schönes, langes Fest!« »Wenn die anderen Gäste so prächtig sind wie du und wenn wir Erfolg haben, bin ich zufrieden.« Ich spießte ein Kiebitzei auf einen Holzspan und hob ein Stück gebratenen Gänseschenkel auf, dessen honigglänzende Kruste mit zerstoßenen Kräutern bedeckt war. »Brauchst du Gold? Ich habe genug verdient.« »Danke. Bis auf zwei hab’ ich alle Sklaven verkauft, in alle Teile des Mündungsgebietes.« Den Erlös des Kaufpreises teilten sich Zakanza und die Sklaven, die versucht hatten, ihre neuen Herren selbst auszusuchen. Nur Ta-Bnona und Nakhti lächelten uns an; ebenso
prächtig geschmückt und mit schmelzenden Duftkegeln in ihrem langen Haar, das in Art der Rômetfrisuren geflochten war. Ich aß Datteln mit keftischen Nüssen und brummte: »Ich hab’ nachgedacht, Zakanza. Die Spieler könnten die Herrscher des Oberen und Unteren Landes sein. Oder andere Mächtige. Wenn die Spieler noch leben, stehen sie an der Spitze der Staaten.« Wir sahen einem heiligen weißen Ibis zu, der im letzten Tageslicht auf der Mauerkrone entlangstakte. »Ich frage mich, was wir fördern oder verhindern – in der Zukunft der Welt.« »Eine Erinnerung, die aus Träumen und erlebtem Wachen besteht, sagt mir, daß wir gemeinsam etliche großartige Abenteuer bestanden haben.« Seine Blicke irrten ab und hefteten sich auf die Gestalten eintretender Gäste. »Es mag nach Mißerfolg aussehen, aber wir schaffen es! Mit Ricos Hilfe, mit der pfiffigen Ausrüstung und unserem Können. Eigentlich sind wir unverwundbar. Ich bin sicher, bald ändert sich vieles.« »Bei Bastet«, sagte ich und nahm von Bnona eine Schale Wein. »Ich bin ungeduldig. Wahrscheinlich hast du recht.« Mit dem Duft von Bier und Braten, frischem Brot und Weinbeerenkuchen zogen die Klänge der Musik durchs Haus und durch den Garten. Öllampen beleuchteten den Raum unter den knarrenden Palmen. Zakanza begrüßte seine Nachbarn, ich lehnte mich neben Satmeret an die kühle Wand und tupfte Duftöl und Schweiß von ihrer Stirn. »Trink mit den Männern, Geliebter«, flüsterte sie. »Laß deine Blicke umhergehen unter den Schönen des Abends, und noch vor Mitternacht wird dein Mißmut zerstoben sein wie dünner Nebel. Soll ich dir Köstlichkeiten aus den Schalen und Körben holen?« »Nein, danke. Du sollst, ohne aufdringlich zu sein, jeden Gast genau mustern. Du weißt, worum es geht.« Satmeret nickte und befand sich einige Atemzüge später in
einem fröhlichen Wirbel von Menschen. Unterschiedliche Düfte aus den Salbkegeln kämpften gegeneinander und gegen den Geruch von Lotos- und Schilfblüten, Licht schimmerte auf Gold und glänzender Haut, Scherze flogen hin und her. Die Oberkörper der meisten Männer waren ebenso bloß wie ihre Rücken; es genügten Blicke, um festzustellen, daß sich unter dem Schmuck und den breiten Zierbändern kein Parasit verbarg. Zakanzas Sklavinnen versuchten die Frauen auszuhorchen und tasteten sie mit Blicken ab. Ich ließ mich nur langsam von der ausgelassenen Stimmung anstecken; die Heiterkeit der vielen gutgekleideten, geschmückten Menschen erinnerte mich an bestimmte Aspekte des Lebens auf Arkon, an Arkons Größe und Pracht. Satmeret stand bei den Musikerinnen und bewegte im Takt ihren Körper. Noch mehr Gäste drängten herein; Schreiber aus dem PerAnkh, dem »Lebenshaus«, mit einem Gefolge Töchter erschien der Per-Mu, der »Wasserverwalter«. Plötzlich bekam ich Hunger: Ich schöpfte einen Salat aus Lauch, mit Melonen, Weinessig, Öl und Zwiebeln gemischt, häufte Scheiben knuspriger Entenbrust darauf und dünnes Brot, in gesalztem Öl erhitzt. Ich trank schweren Wein und begann zu spüren, daß er mir zu Kopfe stieg. Gespräche, Gelächter und Musik verschmolzen zu einem Geräuschbrei. Ich setzte mich auf die Stufen der Treppe zum Dach und schaute mich ruhig um. Zakanza, die Androidenmädchen und die Dienerschaft hatten jede Einzelheit des Festes perfekt vorbereitet. Kahedjet, der Herrscher über Kanäle, Teiche und Brunnen, winkte mir leutselig zu. Ta-Bnona setzte sich neben mich und lehnte sich an meine Schulter. »Du solltest unter die Gäste gehen«, sagte sie. Sie sah hinreißend aus; ich vergaß ein paar Atemzüge lang, daß sie ein Androidengeschöpf war. »Unter jene, bei denen sich kein Parasit versteckt.«
»Noch ziehe ich es vor, mit meinen Gedanken hier zu sitzen und mir einzubilden, ich könne alles überblicken, meine Lotosblüte.« Sie nickte lächelnd, und abermals wurde mir das Einmalige unseres Versuchs bewußt. Eine Handvoll Fremder, ausnahmsweise in einer Umgebung von Kultur, feiner Lebensart und weitab der Barbarei, führte mit Hilfe von Androiden eine subtile Jagd nach jenen Spielern, von denen Teile der Weltgeschichte beeinflußt werden konnten. Der Versuch, hier mit der Jagd auf Parasiten anzufangen, schien mir ungenügend, von Hilflosigkeit geprägt, und der Umstand, daß ich zuviel Wein trank, verbesserte weder meine Laune noch die Schlagkraft meiner kleinen Gruppe. Ich erwiderte Zakanza-Upuauts prüfenden Blick mit einem kalten Grinsen und leerte den Weinbecher. Auch ohne den Einwurf des Logiksektors wußte ich, daß sich eine Krise anbahnte. Sie lauerte im Hintergrund. Noch war ich nicht betrunken, erwiderte die Grüße und beantwortete die Fragen der Gäste. Satmeret tanzte vor dem Podium, und ich ging langsam zur Terrasse. Das Gras raschelte unter meinen Stiefelsohlen. Ich setzte mich auf einen Sockel und lehnte mich an die Platte voller eingemeißelter Schriftzeichen. Meine Trunkenheit und ein vorübergehender Anfall von Müdigkeit glitten in einen merkwürdigen Zustand über, ein Schweben zwischen Hellsichtigkeit und einer bleiernen Schwere der Glieder und halber Lähmung der Muskeln. Ich drehte den Kopf: Aussehen und Bedeutung der Menschen jenseits der Dunkelheit, zwischen den zahllosen Lämpchenflammen, änderten sich – ich glaubte, andere Menschen zu sehen, solche, die ich kannte, die längst gestorben und zu Asche zerfallen waren. Ich atmete tief ein und aus, aber der Nebel um meinen Verstand klärte sich nicht. Die Vision wurde eindringlicher und schärfer. Musik und Gesprächslärm wurden zur Kulisse, zu einer mächtigen Welle fremder Eindrücke,
die über mich hinwegrollte. Ich erlebte Szenen, von denen ich nicht wußte, ob sie Vergangenheit, Traum oder Zukunft waren. Eindringlich flüsterte der Logiksektor: Laß dich nicht beirren. Du bist in der Krise. Der Grund dafür ist, daß du nicht zielvoll handeln kannst, sondern warten mußt. Dein Wachtraum ist fast wie Prophetie, die Vision ist halb wirklich, halb in Erinnerungen versteckt, anderes ist nur Hirngespinst. Du bist in Gefahr, den Verstand zu verlieren! Mit dröhnendem Gelächter bewies ES seine Gegenwart. Dein Extrasinn durchschaut das Problem, Arkonide! Ihr seid jetzt noch zur Untätigkeit verurteilt, aber dies kann sich sehr schnell ändern. Du hast einen Parasiten vernichtet, und ihr werdet auch die anderen finden. Schon die Herabsetzung ihrer Kapazität ist wichtig. Ich kann dir jetzt nicht helfen, denn ich weiß nicht, wo sich Parasiten und Spieler befinden. Ihr seid auf dem richtigen Weg, und ihr habt es richtig angefangen. Weiter so! Ich helfe, wo ich kann; auch ich will den Barbarenplaneten schützen und dessen Zivilisation fördern. Dazu habt ihr reichlich Gelegenheit. Dein Denkansatz, die Gedanken zu fördern, ist richtig und zeugt von Weitsicht. Findet die Parasiten und die Spieler! Wieder hörte ich das hallende Gelächter, das meinen schmerzenden Schädel zu sprengen schien. Erinnerungsfetzen wurden hochgespült. Ich erlebte Teile meines Lebens auf Larsaf Drei zwischen den Barbaren, seit dem Tag, an dem der kleine Kontinent, nach mir benannt, versunken war; in endloser Kette zogen Männer und Frauen, Geschehnisse und Kämpfe, Verrat und Niedertracht, Hochstimmung und tiefste Niedergeschlagenheit ungezählter Tage an mir vorbei. Immer wieder der suchende Blick von Rico: Landete ein Schiff, das mich nach Arkon zurückbrachte? Abermals verdrängten neue Erinnerungen die alten Bilder, und meinem Extrasinn gelang es, an mein Bewußtsein vorzudringen.
Wach aus der gefährlichen Stimmung auf, Atlan, aus dem Rückzug in dich selbst! Deine Vision macht dich mutlos und vermindert dein hohes Überlebenspotential. Hör sofort zu trinken auf! Die Aufgaben warten auf dich und deine Freunde, und selbst in Volltrunkenheit kannst du kein Problem schneller oder leichter lösen. Geh zurück zu Satmeret, Atlan. Ich stand auf, warf den leeren Becher ins Gras und atmete tief ein und aus. Ich definierte meinen Zustand als eine Art Prüfungsangst, ich erwartete etwas Dramatisches, und ich wußte weder, was es sein würde, noch ob es eintrat oder nicht. Auch das Wissen, daß ich bisher jedes Abenteuer und jede Anfechtung überlebt hatte, half mir jetzt nicht weiter. Ich legte die Hand auf den Zellaktivator und sagte mir verzweifelt, daß ich auch diese Krise überstehen würde. Ich würde weiterleben. Ich war auf schnellen, gründlichen Erfolg eingeschworen, und der Umstand, daß sich der Erfolg nicht zeigte, erschütterte mich bis in die Tiefen meiner Gedanken und Überlegungen und machte mich zu einem hilflosen Bündel von Emotionen. Ich ging unsicher am Teich entlang zur Terrasse – es war nicht der Wein, der mir die Überzeugung aufdrängte, in einer ausweglosen Lage festzusitzen. Ich ging hinein ins Helle und spürte Satmerets Arm um meine Schultern. »Atlan!« Sie erschrak, als sie mein Gesicht sah. »Komm mit mir. Ruh dich auf dem Dach aus.« Ta-Bnona glitt heran. Beide Frauen halfen mir die Stufen hinauf. Ich starrte hinauf in die kalte Pracht der Sterne. Die Gegensätze zwischen der Helligkeit und den diamantenen Punkten, die in aufsteigender Luft zu zittern schienen, schienen mich fast augenblicklich zu ernüchtern; ich versuchte eine Konstellation zu erkennen, hinter der ich Arkons Sonne vermuten konnte. Ich merkte, wie sich meine Spannungen zu lösen begannen. Satmeret hielt eine Schale kalten, sauren Kräutersud an meine Lippen. Ich spürte Vibrationen am Handge-
lenk und hörte ein Summen. Der Logiksektor sagte drängend: Atlan! Das Funkarmband! Ich winkelte den Arm an, drückte einen Kontakt und murmelte: »Atlan-Aakener spricht. Ich höre, Ptah?« Ptahs Stimme war gedämpft, aber klar. Er sagte drängend: »Hör, mein Freund: Ich habe drei Menschen mit Parasiten gefunden. Sie scheinen kerngesund. Einen konnte ich überreden, dich rufen zu lassen – warte auf den Boten. Ein Parasitenträger ist eine schöne, aufregende Frau, die alles über dich wissen will. Sei bereit, der Bote ist schon im Binsenboot stromab unterwegs.« Ich lächelte in Satmerets dunkle Augen. Schlagartig wich der Druck von mir. Ich sagte: »Danke für deinen Ruf, Ptah. Jetzt fühl’ ich mich viel besser. Wir sprechen morgen um dieselbe Zeit wieder?« »Einverstanden. Eine Menge Neuigkeiten. Ich bin der ›Freund, Helfer und Verantwortliche des Großen Hauses‹ von Nai-Ta-Hut. Wenn die Straßen frei sind – schirr deine Hengste ein. Bis morgen.« »Bis morgen, Ptah!« Ich zog Satmeret an mich, als der Lautsprecher leise knackte. Dann stand ich auf und sagte inbrünstig: »Es ist also doch noch eine gute Nacht geworden, Satmeret. Gehen wir zu Zakanza, der sich über meine gute Laune wundern wird.« »Seltsam«, sagte sie und nahm meine Hand. »Du bist ein Mann voller Rätsel. Noch vor einer halben Stunde war ich besorgt.« »Du kennst den Grund, Schönste«, sagte ich und packte Zakanza an den Schultern. Ich flüsterte: »Ptah rief mich. Er fand drei Parasiten.« Er schenkte mir ein selbstbewußtes Grinsen und erwiderte voll Schadenfreude: »Und auf meinem Fest sind zwei Parasi-
tenträger. Ich weiß fast alles über sie.« Ich starrte ihn betroffen an, dann lachte ich. »Das kann nicht wahr sein. Du machst Scherze, Kanza!« »Beide sind hier. Bist du nüchtern?« »Fast. Du hast nicht zufällig den Marionettenspieler eingeladen?« »Bei den weißen Fingern des Windes – nein. Wenn wir die Parasiten vernichten, locken wir ihn vielleicht aus dem Versteck. Drei Parasiten bei Ptah, zwei bei mir, ein vernichteter. Sechs. In solch kurzer Zeit. Mann, das wiegt jeden Ärger auf!« Er schlug mir seine Pranke klatschend zwischen die Schulterblätter, rammte den Ellbogen in meine Rippen und brummte: »Naamer-Ta, Anführer der Streitwagenkrieger von PerBanebjedet. Sein Rücken.« Er zog mich zum Podium und stellte mich vor. Als ich das Handgelenk des untersetzten jungen Mannes ergriff, durchzuckte es mich wie ein Schlag. Die Augen eines entschlußfreudigen Mannes voll kühner Gedanken und weitreichender Intelligenz funkelten mich an, als er sagte: »Atlan, Heiler der Haut und Näher von Wunden, der die Krankheiten verspottet. Zum Glück bin ich gesund.« »Jeder hat mindestens ein Leiden.« Ich sprach mit dem Ausdruck dessen, der es besser wußte. »Er ahnt nichts davon und erkennt es erst, wenn er geheilt ist. Auch bei dir, Naamer-Ta, wird’s nicht anders sein.« Er schüttelte den Kopf und zog seine Begleiterin an sich, ehe er sich abwandte und halb über die Schulter sagte: »Ich fühle mich zehn Jahre jünger, fünfzig Jahre klüger und stärker als viele andere Männer.« »Das kann sich, bei Sachmet, bald ändern.« Er lachte; Zakanza zog einen anderen Gast näher und sagte in mein Ohr:
»Und dies, Vernichter böser Pilzflechten, ist Towe-SepaSatni, Oberster Schreiber und Geheimer Ratgeber des Herrschers. Willst du eine Prinzessin aus fernen Landen zur Frau, wende dich an ihn. Für etliche Deben Gold lehrt er auch ihr Gefolge das Singen.« Der Schreiber und ich lachten gleichzeitig. Wir verstanden einander schlagartig, auch ohne Worte; ein schmaler Mann mit glattem Kinn und einer kunstvollen Perücke. Ich sah den Parasiten unter dem reichen Brustschmuck unter seinem Kehlkopf, knapp handflächengroß und kaum einen Finger dick. Er schien weder Towe-Sepa-Satnis Wohlbefinden noch seinen Schönheitssinn zu stören. Vielleicht traf dies für andere Parasitenträger ebenso zu. Ich sagte: »Als umherschweifend wandernder Heiler brauche ich keine Prinzessin.« Ich legte den Arm um Satmeret. »Ich kaufe keinen Fisch im Schlammversteck.« Das laute Gelächter der Umstehenden übertönte die Musik. Ich glaubte, beim Obersten Schreiber deutliche Überlegenheit und größere Zurückhaltung zu erkennen; bald würden beide Männer von ihren Symbionten befreit sein und unsere bittere Medizin schlucken. Der Schreiber verbeugte sich. »Komm trotzdem zu mir, wenn du einen Wunsch hast, Arzt.« »Vielleicht sehen wir uns früher, als wir jetzt meinen«, sagte ich. Er wartete, bis eine Dienerin ihm eine Trinkschale reichte, und begann auf sie einzureden. Sie setzte ein Gesicht auf, das Zakanza und mich ernsthaft am Erfolg seiner Mühen zweifeln ließ. Andere Gäste zogen ihn mit sich, er verlor sich im Gewimmel, das inzwischen auch die Terrassen ausfüllte. Ich sagte zu Zakanza: »Wer bringt den Streitwagenführer und den Schreiber in mein Haus?« »Es werden die Frauen sein, Atlan. Ich habe lange mit ihnen
gesprochen. Sie ekeln sich vor den Verdickungen der Haut.« Seine Stimme sank zu einem Murmeln herunter. »Sie glauben, ihre Männer sind krank. Der Symbiont beeinflußt die Befallenen, und sie fühlen sich nicht gestört. Ich sprach den Wagenführer wegen der Hautverdickung an: So ist es.« »Wir lernen dazu«, sagte ich. »Wenn sie nicht auf den Rat der Freundinnen hören, haben wir noch immer unsere Ausrüstung.« »So ist es.« Zakanza breitete die Arme aus und traf den Krug, den Ta-Bnona in den Händen hielt. »Und jetzt vergiß die Parasiten. Genießt das Fest, solange es noch dauert.« Wir folgten seinem Rat und fuhren, als die Sterne verblaßten und sich der Himmel im Osten grau färbte, zu meinem Haus. Satmeret schlief fast im Stehen. Ich hob sie aus dem Wagen und trug sie in den Schlafraum, streckte mich neben ihr aus, verschränkte die Arme im Nacken und war selbst erstaunt über meine Gedanken vor dem Einschlafen. Die nahe Zukunft schien, ebenso wie die Städte am Hapi, plötzlich im weißgoldenen Licht des Sonnenaufganges zu liegen. Fünf Tage nach Zakanza-Upuauts Fest, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, spannte sich ein wundervoller, pastellblauer Himmel über dem Mündungsland. Satmeret und ich schwammen träge zwischen kleinen Seerosen und Lotosblütenblättern im Teich, genossen die Stille, die nur durch Insektengesumm und die Laute von Sperlingen und Tauben sowie fernes Kranichtrompeten unterbrochen wurde. Ich setzte mich auf die Tücher, die auf der Steineinfassung lagen, wischte Wasser aus meinem Haar und zuckte zusammen, als das Funkgerät summte. Ich griff gähnend nach dem Band und sagte: »Ich höre. Wer ruft mich?« Zakanzas dunkle Stimme ertönte in selbstbewußter Ruhe: »Ich bin mit dem Obersten Schreiber zu dir unterwegs. Er
glaubt, sterben zu müssen. Ich hab’ ihn mit dem Lähmstrahler betäubt; seine Gefährtin ist bei uns. Sie suchen Heilung aller Leiden bei dir, Atlan!« »Wo bist du gerade?« Ich hängte ein Tuch über meine Schultern und nickte Satmeret zu. »Am Anfang des Kanals, bei den Steinfiguren und den vier Palmen.« »Wir sind bereit, wenn ihr hier eintrefft.« Ich sprang auf die Füße und wickelte das Tuch um die Hüften. »Wenn du mir hilfst, brauchen wir keine Diener.« »Bnona kommt mit dem anderen Gespann.« »Recht so.« Ich streckte den Arm aus und half Satmeret aus dem Wasser. »Du erzählst mir alles später, Fuchs der Dünen.« Wir trockneten uns gegenseitig ab und liefen ins Haus. Ich bereitete den Behandlungsraum vor, als käme ein Sterbender. Ich ahnte, daß einiges anders verlaufen würde als bei der Vernichtung des ersten Parasiten. Meine Diener und Dienerinnen arbeiteten im Garten. Ich sortierte meine Instrumente und wartete auf Satmeret, die trockenes Schilf und dürres Akazienholz in die Glut schob. Selbst meine getarnten Waffen waren entsichert. Schreiber Towe-Sepa-Satni würde, in Todesangst, jedem Rettungsversprechen glauben. Mein Extrasinn sagte: Du darfst dir keinen Fehler erlauben. Die nächsten Versuche entscheiden über Erfolg oder Mißerfolg eures Unterfangens! Als Satmeret den kupfernen Kessel voll kochendem Wasser hereinbrachte, hörten wir das Trommeln der Pferdehufe. Zakanza hielt sein Gespann vor dem Eingang an, Ta-Bnona folgte und lenkte die Tiere in den Schatten des Binsendaches. Zakanza und die junge Frau, deren Namen ich noch nicht kannte, führten den totenbleichen, stark schwankenden Schreiber zum Eingang; ich half ihnen und erkannte, daß er von der kalten Furcht vor dem Tode gezeichnet war. Ich fragte leise, scheinbar ahnungslos:
»Es ist noch früh. Ich denke, du brauchst meine Hilfe – sonst wärst du nicht mit deinen Freunden gekommen.« »Ich sterbe.« Der Schreiber lallte mit halbgelähmter Zunge. »Hilf mir, Arzt Aakener. Der Herrscher braucht mich… du mußt mir helfen.« Er war fast aus dem Wagenkorb gefallen. Wir schleppten ihn in das kühle Zimmer, durch dessen weiße Vorhänge Sonnenlicht fiel und gedämpfte, aber ausreichende Beleuchtung schuf. Der Schreiber sackte schwer auf den gemauerten Tisch und schaute mich an. Ich deutete auf seinen Brustkorb und sagte in beschwörendem Tonfall: »Dein Herz schlägt zu schnell, auf deiner Brust scheint ein Sehedhu-Totenmal zu liegen, du röchelst wie ein Blasebalg. Das Gewächs auf deiner Haut schnürt deinen Atem ab, erdrosselt dich.« »Du siehst alles, Herr!« Er winselte und stockte. »So ist es. Ich sterbe. Diese Lähmung… kannst du etwas tun?« Ich nahm einen kleinen Krug aus dem Wandfach, goß etwas in eine Trinkschale und wartete, bis Ta-Bnona ihm die Schale an die Lippen setzte. Ich lud die Preßluftspritze, die einem Ankhzeichen glich. »Du trinkst diesen einschläfernden Trank, Sepa-Satni. Dann berühre ich deinen Körper an verschiedenen Stellen, auch im Nacken. Vielleicht hörst du, wie im Traum, ein Summen; wenn du aufwachst, haben deine Schmerzen ein Ende. Einverstanden?« Er schluckte die Flüssigkeit, nickte und preßte beide Hände gegen die Brust, vermied aber, den Parasiten zu berühren. »Alles, was hilft, ist gut, bei den Göttern. Fang endlich an, Atlan-Aakener.« Die junge Frau starrte mich vertrauensvoll mit großen, fast schwarzen Augen an. Zakanza drückte den Schreiber auf das Laken zurück und schob ein kleines Kissen unter seinen Na-
cken. Wir drehten den Körper herum, ich lähmte ihn mit einem Schuß aus dem Lähmstrahler auf der Wirbelsäule und setzte die Spritze an. Die Frau knüpfte den Brustschmuck auf, bevor wir Sepa-Satni auf den Rücken legten. Der zweite Parasit. Ich zeigte auf Zakanza: »Er ist ein zuverlässiger Helfer, wir müssen diesen Hautlappen wegbrennen. Bleib ruhig. Wie ist dein Name?« »Tjentmuten, Neb Aakener.« »Deinem Geliebten geschieht nichts; er wird bluten. Du reichst mir Gegenstände, wenn ich dich bitte.« »Ich gehorche aufs Wort, Aakener.« Sie hauchte die Worte nur. Jeder unserer Griffe, jeder Schnitt und jede Zangenbewegung gingen sicher und schnell ineinander über. Dieser Parasit war nicht fleckig und krank, sondern hautfarben, bräunlich. Er wehrte sich, bohrte Stacheln und blattförmige Fortsätze tief in die Haut; es floß helles Blut, als ich mit dem Energiestrahler sengte, schnitt und trennte. Eine graue Wolke, die abscheulich stank, brodelte zur Decke. Ich hatte die Gefahr schon erkannt: Unter dem Parasiten lagen Luftröhre, Kehlkopf und Speiseröhre, große Blutgefäße und verschiedene Drüsen. Ich schnitt, unruhiger geworden, mit einer arkonidischen Schere fingerbreite Streifen des Parasiten ab und warf die zuckenden Reste in einen Krug, der halb voll starker Säure war. Die junge Frau wandte sich ab, wurde leichenfahl und rannte hinaus; im Garten übergab sie sich. Ta-Bnona half sicher und völlig ungerührt. Wieder bohrte sich der Strahl in den Symbionten, der sich zuckend hochbog und wieder an die zerrissene, blutende Haut heftete. Zwischen mir und dem gespenstischen Ding aus Zellgewebe spielte sich ein lautloser Kampf ab. Obwohl ich den Parasiten ständig verkleinerte, handelte er wie ein lebender Organismus, der sich wehrte. Er zog sich zusammen, verdickte sich, bog sich hoch und klappte zurück. Der Hals des Mannes war von Einstichen und kleinen Schnitten übersät;
wäre er wach gewesen, hätte er gebrüllt und geheult. Ich hatte eine breite Fläche des Parasiten gepackt. Ta-Bnona hielt die andere Hälfte fest, zerrte daran, ich brannte weiter mit vernichtenden Strahlen, zog Dornen aus dem Fleisch, verbrannte hornartige Schneiden im ätzenden Rauch; schließlich hoben wir gemeinsam den kleinen Rest hoch, ich warf ihn in die blasenwerfende Säure. Der Rest war nicht schwierig. Als wir Leinen über Salben und Biomolplast legten und die Binden wickelten, half uns die junge Frau wieder. »Dein Freund muß lange und tief schlafen. Sorge dafür!« TaBnona wechselte mit Satmeret einen langen Blick; Satmeret ging hinaus und rief die Diener. »Er muß viele dünne, gehaltvolle Suppen und süßen Brei essen. Entsagt einen Zehntag der Liebe, pflege ihn. Ich komme, wenn er gesund ist, und hole meinen Lohn. Er wird fast einen Tag lang schlafen. Zakanza wird euch nach Hause bringen.« Ihre Blicke gingen von Towe-Sepa-Satni zu Zakanza, zu mir und zu Ta-Bnona. Zakanza knurrte: »Mit seinem zerschundenen Hals wird er Schwierigkeiten haben, feine Rede zu führen. Natürlich bringe ich euch zurück.« Die Diener trugen den Schreiber hinaus in den Nebenraum. Wir wuschen uns und setzten uns zum Essen. Ich sagte leise zu Zakanza: »Wie hast du ihn betäubt? Doch nicht etwa vor den Augen aller Bewohner?« »Wir haben bei ihm Bier getrunken. Ta-Bnona hat die Schale fallen gelassen, und als er sich bückte, hab’ ich ihn mit einer schwachen Entladung gelähmt.« »Niemand hat zugesehen. Zufall und Glück. Kanza hat den Lähmdolch gut versteckt.« »Wir müssen warten, bis die Nachricht Naamer-Ta erreicht.
Wenn er von der Gefährlichkeit der Hautverdickung erfährt, kriegt er Todesangst.« Ich sprach schneller, ehe Tjentmuten zurückkam. »Auch er wird hierherkommen, nötigenfalls gelähmt. Ich warte auf einen Boten, der von Ptah kommt und mich hapiaufwärts holt. Wir haben Erfolg! Das Leben ist wieder aufregend!« Ich würde Djanet erst verlassen, wenn der dritte Parasit vernichtet war. Wir begleiteten die Gespanne zum Tor: am späten Nachmittag, als ich ungefähr zwei Dutzend Frauen und Männer mit einfachen Wunden und Brüchen versorgt hatte, holten Diener den Schreiber mit einer gepolsterten Liege ab. Ich redete auf sie ein und beschwor sie, von der Rettung des Schreibers überall zu erzählen. Der Extrasinn wisperte: Denk an die Ausgangsposition: Wer gründet schneller zuerst ein Weltreich? Ich nahm Satmerets Hand und zog sie in den Schatten, der über dem halben Teich lag. Ich setzte mich, die Beine im Wasser, und versuchte ihr zu erklären, worum es ging; mit einer stark vereinfachten Erzählung. Ein Spieler schien die Parasiten im Reich der Heka Chasut zu lenken, der andere herrschte über das Land der Biene, stromauf. Beide Arten Parasiten waren, wenn überhaupt, nur durch die Heimat ihres Wirts zu unterscheiden. Noch zweiundzwanzig Parasiten! Lärm schreckte uns auf. Ich rannte die Treppe hinauf und sah vom Dach aus, daß auf der Dammstraße, zwischen Palmenschäften und Uferschilf, Waffen blitzten und Gespanne heranrasselten. Wenig später hörte ich durch den Hufschlag das Keuchen der Pferde. Vor dem Hoftor beschrieb ein Wagen, an dessen Korb eine funkelnde Standarte steckte, schleudernd einen Viertelkreis. Ein Diener rannte hinaus, der Krieger neben dem Pferdelenker sah mich, grüßte und rief: »Arzt Atlan-Aakener! Du bist die einzige Hilfe für NaamerTa. Er ist schwer verwundet. Sie bringen ihn. Wir haben auch den Boten von Ptah-Sokar am Ufer getroffen. Er kommt in ei-
nem anderen Wagen. Schnell! Naamer hat viel Blut verloren!« »Habt ihr zu Zakanza und seiner Sklavin geschickt?« »Nein. Was sollen sie?« »Holt sie. Sie müssen mir helfen! Bringt ihn herein.« Mir wurde bewußt, daß mir eine ernsthafte Bewährungsprobe bevorstand. Im Lauf langer Jahre waren meine medizinischen Kenntnisse gewachsen, waren auch besser als die derjenigen, die sich hier als Heiler bezeichneten, aber das Entfernen eines Parasiten oder das Aufschneiden einer Geschwulst waren einfach gegenüber dem Versorgen eines Schwerverletzten. Ich rannte in den Behandlungsraum und bereitete unruhig Mittel und Instrumente vor. Sechs schweißübergossene Soldaten schleppten eine blutüberströmte, sandverkrustete Gestalt auf einer Liege zum Tisch. Eine Blutspur kennzeichnete ihren Weg. Draußen ertönten Kommandos, Pferde wieherten grell; ich musterte die ratlosen Soldaten und ordnete an: »Ich brauche jemanden, der hilft, ohne daß ihm schlecht wird. Ptahs Bote soll sich im Haus ausruhen. Satmeret – viel heißes Wasser! Zwei Wagen können warten, die anderen sollen zurück nach Djanet.« Vorsichtig hoben die Männer den breitschultrigen, gedrungenen Körper auf den Tisch. Das Leinen war sofort blutgetränkt. Ich sah gräßliche Wunden, abgebrochene Pfeile und Naamers zugeschwollene Augen. Ein Krieger kam näher. »Ich versteh’ etwas von Wunden, Herr.« »Geh und reinige dich.« Ich deutete über die Schulter. »Zieh einen neuen Schurz an, dann komm zu mir und deinem Herrn.« Ein Unterführer gab Befehle, Gespanne rollten aus dem Hof, die Soldaten zogen sich von den Eingängen und Terrassen zurück. Ich legte zuerst den Brustschmuck mit dem Zellaktivator auf Naamer-Tas Magen; der Verwundete atmete tief und gleichmäßig, und das war ein gutes Zeichen. Der Soldat und
Satmeret wuschen vorsichtig die Wunden aus, während ich die zerfetzte Kleidung wegschnitt und in einen Korb warf. Der Alptraum einer langen Reihe kleinerer Operationen fing an. Raherka hatte sichere Finger; ihm graute vor nichts. Zwischen unseren Versuchen, Wunden zu säubern und zu vernähen, Pfeilspitzen herauszuschneiden, berichtete er, was vorgefallen war. Die kleine Gruppe war südlich der überfluteten Weiden von fremden Gespannkriegern überfallen worden. Wir reinigten die Haut und spülten Sand und Steinsplitter aus den Wunden. Ich pinselte und sprühte bakterientötende Lösungen, zog Nähte, wischte Blut weg und strich dicke Salbe auf Abschürfungen und kleine Schnitte. Wir arbeiteten schweißgebadet, bis Zakanza und Ta-Bnona kamen; ich sah fasziniert, wie sich der Symbiont von der Herzgegend löste. Der Parasit versucht, einen Sterbenden zu verlassen, flüsterte der Logiksektor. Eine Dienerin stellte Öllampen auf und entzündete eine nach der anderen. »Ich muß ihn wieder lähmen«, kündigte Zakanza leise an. An zahlreichen Stellen war der Körper mit weißen Binden umwickelt. Der Schmerz hatte ihn zweimal aus der Besinnungslosigkeit gerissen. Schweigend arbeiteten wir weiter. Schließlich begann der Parasit zu kriechen. Raherkas Gesicht zeigte atemloses, kaltes Entsetzen… von der Brust, über die Schulter und den Oberarm und auf meinen Handrücken zu. Bnona packte den Parasiten mit der Zange, riß ihn hoch und trug ihn in die Küche. Ich lief hinterher und sah zu, wie ihn die weiße Glut verzehrte; er summte und versuchte, sich krümmend, wie besessen zu entkommen. Es stank mörderisch, ich wandte mich schaudernd ab: Der dritte Symbiont war vernichtet. Wir gingen in den Garten und zu den Soldaten der wartenden Kampfwagen. Meine Diener hatten ihnen Getränke, Brot und Braten gebracht. Ich sagte:
»In einem Zehntag könnt ihr den Anführer abholen. Er muß in meiner Nähe bleiben.« »Dann können wir zurückfahren, Herr?« »Ja. Zakanza folgt später.« Der Bote trug eine Shafadurolle, die um einen Stab gewickelt und gesiegelt war. Ich deutete auf einen Sessel, der im Lichtschein stand, der auf die Terrasse fiel. »Berichte! Ich will jetzt nichts lesen. Wie geht es meinem Freund Ptah-Sokar, dem Liebling einiger Götter?« Seine Botschaft war knapp, aber inhaltsreich: Ptah kannte jeden, war mit jedem gut Freund, ein strenger, aber gerechter Prüfer der herrscherlichen Anordnungen. Der Bote schilderte die Lebensumstände in Nai-Ta-Hut, ich hörte mit halbem Ohr zu; mein perfektes Gedächtnis würde nichts vergessen. Als ich genug wußte und nicht unvorbereitet reisen würde, schickte ich ihn schlafen, holte den Zellaktivator und reinigte mich ausgiebig im Teich. Im Licht eines Dutzends Öllampen – da sie von Ricos Maschinen hergestellt und mit mehrfach gefiltertem Öl gefüllt waren, brannten sie heller und rußten kaum – las ich Ptahs Botschaft. AN ATLAN-AAKENER, FREUND UND HEILER: Ich befinde mich wohl; wenn du kommst, wird man dich mit Musik und Tänzerinnen empfangen. Dhana-Apophl, Panphyl-Sa’akor und die Herrin Nefret-Iunit sind Parasitenträger. Ich habe veranlaßt, daß sie den Einfluß der Parasiten mißdeuten und Verwirrung ihres Verstandes fürchten. Komm bald! Die ganze Stadt wartet auf euch. Mit meinem Siegel am Shafadublatt wirst du Wichtigkeit erlangen. Ich rufe dich bald und habe dies mit zwei Fingern selbst geschrieben. PTAHSOKAR. Satmeret glitt herein. Ihr Schmuck klirrte, als sie ihn ablegte. Sie roch nach Zedernöl, setzte sich neben mich und schmiegte sich in meinen Arm. Ihr nackenlanges Haar war feucht und weich. Ich hob den Kopf und streckte die Hand aus, streichelte ihre Wange und flüsterte:
»Du mußt noch ein wenig warten, meine Schönste.« »Ich bin ungeduldig, du spürst es. Worauf?« »Daß ich elf Lampen ausblase von diesem Dutzend.« Im Halbdunkel ging ich zum Bett zurück, nahm sie in die Arme und küßte sie. Diese Nacht gehörte unserer Zärtlichkeit und Leidenschaft; wir schliefen danach tief und ungestört bis nach Sonnenaufgang. Wieder weckte mich der Summton des Funkgerätes. »Atlan. Du klingst wie ein Halbtoter.« »So fühl’ ich mich auch. Dein Bote ist hier. Sprich kurz und deutlich. Ich reise, wenn die Flut vorbei ist.« »Du bist willkommen.« Er lachte kehlig. »Nefret-Iunit birst vor Ungeduld. Nimm alles mit, was du hast. Du wohnst in meinem überaus weitläufigen Haus. Fast ein Palast.« »Ich habe Naamer-Tas Parasiten vernichtet. Der Anführer wurde schwer verwundet, im Kampf, zu mir gebracht.« Ich gähnte und merkte, daß Satmeret zuhörte. Ptah war unangenehm ausgeschlafen. »Sprich mit dem Boten. Er hat die Reise halbwegs vorbereitet. Schlaft weiter, ihr beiden.« Ich legte das Armband auf den niedrigen Tisch aus Flechtwerk und Sandstein zurück, atmete tief ein und aus, und als ich Satmerets Kopf auf meiner Schulter spürte, versank ich in einen Traum von abgrundtiefer Bedeutsamkeit, an die ich mich gegen Mittag nicht mehr erinnerte. Ich löste die Dienerin ab, die am Lager des Kranken gewacht hatte, und ich glaubte zu erkennen, daß der Herr der Kampfwagen im Genesungsschlaf lag. Ich trank heißen Kräutersud und schrieb eine Liste für jene Ausrüstung, die Rico mit einem schwebenden Container in irgendeiner mondlosen Nacht des Mondes Tybi hier oder nahe einer anderen Stadt absetzen würde. Die Jagd nach den Parasiten war wichtig, aber einige Tage spielten dabei keine Rolle.
6. Oemchen Orbs tiefschwarzes Haar ringelte sich im Nacken und um die Ohren; sie ließ es seit Wochen wieder wachsen. Im Dämmerlicht des Schlafraums, ohne Brille, sah Cyr Aescunnar dieses Wachstum mit schweigender Begeisterung. Er schlüpfte in den weißen Bademantel, sprühte im Bad die Spezialflüssigkeit in die Augen und wischte die Tropfen aus den Augenwinkeln und von den Wangen, ehe er in den Arbeitsraum hinüberging und vor der Kopie der Sicherheitskopie eines uralten Buches zur arkonidischen Geschichte stehenblieb. Er wuchtete das Folienbündel zum Schreibtisch, sah das leere Stimmprinterfeld an, dann den reglos schlafenden Atlan, und in seinen Gedanken – nur ein unkontrolliertes Gefühl, keine meßbare Tatsache – fand er einen rätselhaften Umstand: Atlan schien schneller gesprochen, mehr Worte in kürzerer Zeit aneinandergereiht zu haben als vorher, wie im Fieber. Er machte eine Notiz und schlug den Folianten auf. »Bestimmte Passagen sind vielleicht nicht für Atlans gegenwärtigen Bericht wichtig. Aber sie sagen mir etwas über seinen Seelenzustand während der Wachphasen…« Er hatte vor, so lange zu lesen, bis er sich müde genug fühlte, weiterzuschlafen. Einige Tage lang hatten Atlans Freunde sich nicht gemeldet; wahrscheinlich kam morgen die eine Hälfte hierher, und die andere rief ununterbrochen per Visiphon an und unterbrach Atlan und ihn mitten in den wichtigsten Sätzen. Aescunnar hatte von den zuverlässigsten Studenten seiner Fakultät den kommentierten Text des Buches scannen und in die Speicher einlesen lassen; er rief anhand der Marginalien einen bestimmten Text ab und ließ ihn über einen Monitor in Lesegeschwindigkeit ablaufen.
Wof Mari Starco und Riarne Riv-Lenk AUFSTIEG UND NIEDERGANG DES ARKONIDISCHEN IMPERIUMS … neben Atlans Sehnsucht nach Arkon beherrschte, wenigstens bisweilen in den traumlosen Phasen, seine Sorge um das Imperium seine Gedanken und Empfindungen. Jahrzehnte vor seiner irdischen Verbannung fing der Methankrieg an (letzte Rückzugsgefechte verstreuter Maahkgruppen nach 412.516 Jahren arkonidischer Rechnung um 3917 v.d.Z. also nach der Berechnung Larsafs III der Länge des siderischen Jahres von 365,2564 Tagen). Bekanntlich bestand die arkonidische Regierung in jenen Jahren aus dem Hohen Rat (einer Art Volksparlament) und dem Großen Rat (der sämtliche Fürstengeschlechter, hohe Familien wie Gonozal etc. also den Adel repräsentierte). Der demokratische Aufbau einer Parlamentarischen Monarchie wurde sichergestellt und kontrolliert; jeder Imperator benötigte für Entschlüsse zu Richtlinien seiner Politik qualifiziert-absolute Mehrheiten von 51 Prozent. Ausnahmen dieser Regel gab es immer wieder unter Tyrannen wie etwa Orbanaschol III. Nur der Thronfolger durfte sich »Kristallprinz« nennen. Atlan, selbstverständlich, als A. Gonozal von Arkon, stand dieser Titel mit vollem und bestem Recht zu. Noch vor dem Zarlt von Zalit, dem Vize-Imperator, war er der zweite Mann im Staat Arkon, ferner als Admiral des Großen Imperiums auch MdP, Mitglied des Parlaments der Zweiten Kammer. (Der Hinweis, daß er beim robotischen Kommandanten der Larsaf-Festung – 2. Planet von Larsafs Stern – registriert und daher befehlsbefugt war, wird im weiteren Verlauf der Historie wichtig werden!) Bemerkenswert scheint, daß der zweite und dritte Planet von Larsafs Stern sich zu diesem Zeitpunkt in Minimalabstand einander genähert hatten, also in »Unterer Konjunktion« zueinander standen. Ein Grundsatzbefehl des arkonidischen Imperators verhinderte jedoch jede Hyperfunkverbindung nach Arkon, wenn durch diese Aktivitäten Feinde des Imperiums auf den Stütz-
punkt Larsaf III aufmerksam gemacht werden könnten. Dieser Befehl ist, soweit wir wissen, nie aufgehoben worden und galt auch für jeden Angehörigen des Regierenden Kaiserhauses, der auf Larsaf III, zusammen mit genetisch verwandten Autochthonen, in einer der beiden zu schützenden Einrichtungen lebte. Der Methankrieg gegen die Maahks ist nie für beendet erklärt worden, also bestand noch immer Ortungsgefahr. Und die Gefahr an der »Zweiten Zeitebene« der Druuf, derentwegen Atlan ins Larsaf-System geschickt wurde, konnte jederzeit wieder akut werden. Atlan konnte zwar jede Hilfe des sog. Venusgehirns erhalten, aber den Prioritäts- (Verbots-)Befehl nicht aufheben. Warum wurde er also niemals weder gesucht noch gefunden, obwohl er und seine Kolonie als »verschollen« registriert worden waren? Wurde die Suche sabotiert, und wenn ja, warum? Es handelt sich hier um das einzig wirkliche existentielle Problem des Arkoniden auf der Barbarenwelt. Ein Suchgeschwader hätte ihn rasch gefunden. Atlans Berichte lagen dem Oberkommando vor. Das sattsam oft zitierte KurierRaumschiff mit den Bauplänen und Konstruktionsdaten der Konverterkanonen hat sicher einen Flottenbericht abgegeben, der im Archiv zu finden wäre. Wir wissen es nicht. In unseren Überlegungen kommt nur ES dafür in Frage. Oder Günstlinge des Imperators Orbanaschol III. weil sie bei Atlans Amtsantritt seine Rache fürchteten? Schwer denkbar. Fürsten, die um den Verlust ihrer Würden bangten, weil sie von O. III. geadelt worden waren, und hätte Atlan diese Beförderung widerrufen können? Wenn nicht Begriffe der »Staatsräson« und ein gerüttelt Maß an Intrigen dafür verantwortlich gemacht werden können, daß nie auch nur der Ansatz einer organisierten Suche zu erkennen ist (und wir hatten Einblick in nahezu jedes relevante Archiv!), kehren unsere Überlegungen wieder an einen Punkt zurück: Atlan blieb gestrandet, weil ES irgendeinen Sinn darin sah, Larsaf Drei – Terra - die Erde NICHT durch die Arkon-Flotte ein zweites Mal kolonisieren zu lassen. Eine Nebenbemerkung sei gestattet: Wie auf unzähligen Welten
der Galaxis waren auch die arkonidischen Sagen & Legenden voll von Würdenträgern und Briganten, die dem großen Wunsch nachträumten und sich aufmachten, ihn irgendwo in der Galaxis zur Wirklichkeit werden zu lassen: die Längstlebigkeit oder die Unsterblichkeit! Zauberwort für alle intelligenten Galaktiker! Der Beauftragte des Großen Imperiums, der Arkonide Jalanock, führte ausgedehnte wissenschaftliche Expeditionen in den (später so genannten) OrionArm und suchte nach Welten der legendenhaften Lemurer. Jeder wußte, daß er sterben mußte, niemand wollte sich damit abfinden. Gerüchte, daß Geräte existierten, die potentielle Unsterblichkeit garantierten, gab es in jeder Zivilisationsstufe vieler Planeten und selbstverständlich auch auf Arkon. (Wir erinnern ans KerlonGeschwader, das zunächst das Wega-System erreichte, ehe es der Spur des »Galaktischen Rätsels« folgte: zum Larsaf-System). Welche Wendung hätte die von uns redlich dokumentierte Geschichte genommen, wenn jemand von Atlans Zellschwingungsaktivator auf Larsaf III gewußt hätte? Cyr hatte sich Notizen mit farbigen Linien und schraffierten Kästchen gemacht, um dem scheinbar unlogischen Aufbau eines Textes folgen zu können, dessen Aussage ihn eigentlich überzeugte. Das Buch war ein träge schüttender Quell und eine mühsam freizuschaufelnde Fundgrube für Erinnerungen, die Atlans Vergangenheit betrafen und – deswegen las er oft darin – über seine Stimmungen, Handlungen und Planungen Aufschluß gaben. Cyr wußte natürlich, daß Atlan erst zu Rhodans Zeiten mit einem Raumschiff den Planeten hatte verlassen können; Hoffnungen und Enttäuschungen, wenn ein fremdes Schiff gelandet und Atlan nicht mitgeflogen war, fanden auf dem Weg über den Arkoniden Eingang in die terranische Geschichte und somit in die ANNALEN DER MENSCHHEIT. Längst waren Bauten und Böschungen, Pflanzen und Äcker
aus der schlammigen Hapiüberschwemmung aufgetaucht; Tausende und aber Tausende arbeiteten auf den Feldern und an den Kanälen. Noch war es in den Nächten empfindlich kühl. Der Windmond Tybi hatte begonnen. Ich war allein in meinem kleinen Arbeitszimmer, die Diener halfen dem Nachbarn, und Satmeret hielt sich bei Zakanza auf, der nur noch Ta-Bnona als Helferin behalten hatte. Zakanza hatte Gerüchte von Bauwerken in der östlichen Wüste, »im Asmach«, aufgefangen; angeblich hatten Gazellenjäger bemerkt, daß der Wind Säulen und Mauern freigelegt hatte. Undurchsichtige Energieschirme versperrten jeden Einblick in den Raum. Vier Truhen waren aufgeklappt; die Innenseiten der Deckel, hochempfindliche Bildschirme, zeigten Ausschnitte der Bildsequenzen der Spionsonden. »… nicht schwer sein, Atlan«, sagte Rico. »Der Neffe Imperator Gonozals VII. und Chef des 18. Einsatzgeschwaders, der zudem noch wichtige Informationen von mir sammelt, muß mittlerweile ein klares Bild der Zustände haben. Für den Rest des Planeten, soweit ich weiß, existiert ein summarischer Informationsblock. Seit vier Monden und dreizehn Tagen untersuche ich die Verhältnisse zwischen den südlichen Festungen und dem Mittelmeer.« »Du denkst, daß ich auch noch die übrigen Parasiten vernichten werde?« »Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist ungewöhnlich hoch.« Alle Beobachtungen – meine eigenen und Ricos, auch in der Zeit, die wir geschlafen hatten – bestätigten mir, daß das Reich in zwei Länder geteilt worden war. Sie entsprachen den »beiden Landen«, die schon Narmer-Meni vereinigt hatte, dem Land der Binse und dem der Biene. Die Verwaltung, in der Tradition der gottköniglichen Höfe ausgebildet, arbeitete in beiden Ländern gleich gut und gewissenhaft. Im Mündungsdelta, in dem die Fremden und deren Nachkommen zahlrei-
cher waren, wurden wenige Tempel und Götterstatuen neu errichtet; die untersetzten, schwarzbärtigen Heka Chasut hatten die Pferde und die Kampfwagen eingeführt und bauten daher mehr Dammstraßen und viele andere breite Pfade. Zwischen Kanälen, Mündungsarmen und Palmenwäldchen weideten kleine Pferdeherden. Schweigend betrachtete ich die Bilder und hörte Ricos Kommentare. Im Herrschaftsbereich von Haakenen RêApophis bewegte ich mich, als sei ich seit drei Jahrzehnten hier. Was würde ich erleben, wenn ich über Mennefer, die »Waage beider Lande«, nach Süden fuhr? Ins Herrschaftsgebiet von No-Amûn oder Wêse am Oberlauf? Ich gab Rico die lange Liste seiner nächsten Lieferung durch und meinte: »Ich bin nicht sicher, ob ich weit in den Süden fahre.« »Das Land der Biene wird von No-Amûn aus regiert, mehr schlecht als recht«, sagte Rico. »Wenn ich deine Absichten kennen würde, könnte ich dich unterstützen.« »Ich werde dort sein müssen, wo es von Parasiten wimmelt.« Ich schaltete einen Monitor ab, zog die Schutzfolie darüber und klappte die Truhe zu. »Es kann sein, daß ich von Tag zu Tag entscheiden muß. Im Tybi und Mechir, vielleicht auch im Phamenat, wohne ich bei Ptah-Sokar.« »Sein Haus wird heute nacht von einem Versorgungscontainer angesteuert, Atlan.« »Recht so. Dorthin ist es näher als bis nach Arkon.« »Nicht viel mehr als 34.000 Chen-Nub, keine 34.000 Lichtjahre«, bestätigte der Roboter. Ein Chen-Nub waren etwa fünfhundert Schritt. »Hast du noch weitere Anordnungen?« »Setz je eine Sonde auf mich und Zakanza an. Er fährt durch die Wüste und sucht Spuren der Vergangenheit. Ich muß ihm helfen können, wenn er mich braucht.« »Ich überwache dich und Ptah und einige andere Gebiete.« Rico beendete eine weitere Überspielung. »Die Sonde ist be-
reits zu Zakanza unterwegs.« Ich nickte, überlegte kurz und brummte: »Ich habe nichts vergessen. Ruf mich, bevor du den Container startest.« Ich räumte verräterische Geräte weg, schloß die Truhen und schaltete die Sperrschirme aus. Die aufgestaute Hitze der Öllampen entwich ins Freie und blähte die Vorhänge. Schakale heulten in der Wüste; hinter den Dünen antworteten keckernd die Wüstenfüchse. Der riesige Vollmond schob sich zwischen den Schattenrissen der Palmwedel hervor, spiegelte sich im Wasser des Teiches und goß milchigen Glanz über den Garten. Ich wusch mich und schlief ungestört. Erst kurz vor Sonnenaufgang weckten mich Rufe und das Knirschen von Felgen auf Sand. Ich lief hinaus. Im weißen, zuckenden Licht einer Energiefackel erkannte ich Ta-Bnona, die den Wagen bis zur Terrasse lenkte. Zakanza stieg schwerfällig aus dem Wagenkorb, drehte sich um und stapfte auf mich zu. Er trug einen leblosen Körper in den Armen, kam aus dem Schatten heraus, und ich sah in die weit offenen Augen und das starre Gesicht Satmerets. Zakanza suchte meinen Blick und trug die bewegungslose Frau ins Arbeitszimmer, bettete sie behutsam auf die Liege. »Wir sind gleich hierhergefahren, mein Freund.« Er richtete sich auf und zog mich an den Schultern von Satmeret hoch. »Sie ist tot. Auch deine Kunst hilft ihr nicht mehr. Ich weiß nicht, wer sie getötet hat – vielleicht wollte er mich treffen.« Ich starrte ihn an und verstand meine heisere Stimme selbst nicht. »Wie ist das geschehen, Kanza?« Ta-Bnona kam herein und drosselte die Leuchtkraft der Fackel. Ich blieb starr stehen und blickte von der Androidin zu Zakanza und zurück zu Satmeret. »Am frühen Abend, an den ersten Hängen der Berge. Wir suchten die freigewehten Ruinen. Ein Blitz aus Süden hat uns
geblendet, die Pferde haben gescheut und sind durchgegangen, und das hat uns beide gerettet.« Zakanza deutete auf Bnona. »Als ich die Pferde wieder beruhigt hatte, sahen wir, daß Satmeret tot war.« Zwischen den Brüsten, unter dem Brustschmuck, der am Rand der Wunde geschmolzen und zwischen Brandblasen und verkrustetem Blut verschwunden war, klaffte ein rundes Loch, durch das geschwärzte Rippen zu sehen waren. Die Haut war verbrannt, verkohlt, zu Asche geworden. Der Extrasinn formulierte langsam: Unverkennbar eine Energiewaffe, Atlan; und du weißt, was das bedeutet. »Der Spieler«, sagte ich. Meine Augen brannten, eine unsichtbare Hand würgte mich. »Ich… Habt ihr gesehen, wer geschossen hat? Gab es Spuren?« Ta-Bnona hatte Lämpchen angezündet und die Fackel gelöscht. Sie begann, den Leichnam in weiße Tücher einzuwickeln. Zakanza schüttelte den Kopf und sagte dumpf: »Es wurde dunkel, Freund. Wir sind so schnell zu dir gefahren, wie es die Tiere schafften. Morgen sehe ich nach den Spuren. Es war nur ein Blitz, der irgendwoher kam, vielleicht aus den Felsen.« Er machte eine Pause, sein Blick irrte ab. »Soll ich sie zu den Priestern bringen, für eine Feier?« »Nein. Wir begraben sie an ihrem Lieblingsplatz. Die Priester sollen ihren Körper nicht aufschneiden.« »Ich lasse Bnona bei dir. Brauchst du mehr Arbeiter?« »Ich hole meine Diener vom Nachbarhof«, sagte ich leise. »Laßt mich eine Stunde allein.« Ta-Bnona nahm Zakanzas Hand und zog ihn in den Korridor zur Küche. Ich wickelte das Tuch von Satmerets Gesicht, wischte Sandkörner von ihrer Stirn und den Wangen und drückte die Lider herunter. Trauer, Resignation und Wut mischten sich; wieder ein liebenswerter Mensch mehr im Ozean meiner Erinnerungen, der sinnlos gestorben war, falls es
überhaupt so etwas wie einen Tod gab, der sinnvoll war. Die anmutige, dunkelhäutige Tänzerin, die jede Stunde bereichert hatte, allein dadurch, daß sie stets lächelnd, leise und zutraulich wie eine junge Gazelle meine Einsamkeit geteilt hatte. Ich erforschte ihr Gesicht, das im zögernd aufbrechenden Lächeln erstarrt war, und hoffte, daß sie ohne Schmerzen die endgültige Schwelle überschritten hatte. Wir trugen sie zur Westseite der Mauer, zu der weißen Statue zwischen den jungen Palmen am Kanalrand, schaufelten ein tiefes Grab und bedeckten sie mit Lotosblüten und drei Palmwedeln. Ich goß Öl und Wein auf die dünne Sandschicht, sprach einige Zeilen aus dem alten Rômet-Totenbuch; dann glätteten wir den Sand und gingen schweigend zum Haus. Sieben Tage später fuhr ich zu Ptah-Sokar. Die Schatten der Mauern, Palmen und hochgebundenen Weinreben lagen quer über dem sandigen Weg auf der Dammkrone. Von links trafen mich flirrende Sonnenstrahlen; die Luft war feucht, aber noch kühl. Im langsamen Trab zogen die Tiere den vollgepackten Wagen nach Süden, am östlichsten Mündungsarm entlang, am langen Zügel folgte das zweite, unbemannte Gespann. Ich saß auf dem breiten Ledergurt, der quer durch den Wagenkorb gespannt war, sah mich um, winkte den Lotsen vorbeigleitender Schiffe, versuchte die Tiere auf den Weiden und die Arbeiter zu zählen, sah Entenschwärme, Gänseküken und Binsenschneider, hörte das Trompeten von Kranichen und das unaufhörliche Surren und Summen von Myriaden Insekten. Junge Männer, die später wohl an Sumpfblindheit erkranken würden, säuberten die kleinen Stichkanäle und kippten Schlamm auf die Felder. Eine Kampfwagenpatrouille zwang mich zum Ausweichen. Ich liebte dieses Land, die Menschen und die Kultur, aber den Süden zog ich dem fruchtbaren Dreieck vor; und wie der absterbende Keim eines
Fiebers waren Trauer und Haß in mir, über Satmeret und ihren Mörder. Ohne Eile fuhr ich von einer Karawanserei zur nächsten, sprach mit vielen und schrieb für Unkundige kurze Briefe, trank neben den Pferden an kühlen Brunnen, kostete Bier und Wein aus großen Krügen, sprach mit Ptah und Zakanza, wenn ich unbeobachtet war, und näherte mich dem Städtchen NaiTa-Hut, einer nicht ummauerten Menge farbiger Häuser. Nur die Pferde, Wagen und Krieger waren hinter massiven Lehmziegelmauern untergebracht. Ich fragte mich zum Haus des »Verantwortlichen« durch und fand es ohne Schwierigkeiten. Der »Leihpalast« aus zwei Dutzend kleiner Bauten, wie Ptah sarkastisch sagte, war niedrig und ausgedehnt; aus unzähligen Winkeln und Ecken aus Lehmziegeln, Holz und Stein, strahlend weiß, inmitten eines ausgedehnten Gartens. Ich lenkte die Pferde durch eine lange Doppelreihe alter Dattelpalmen, Sphingen und kauernder Steinlöwen auf den Eingang zu. Ptah hatte übertrieben: Es gab keine jubelnden, blütenwerfenden Tanzmädchen. Ich wurde erwartet, die Pferde wurden ausgeschirrt, meine Ausrüstung schleppten Diener in einen Seitenflügel. Eine breithüftige Kushitin führte mich in ein Haus mit sieben Zimmern. »Herr Ptah-Sokar ist an den Schleusen und Kanälen, Herr Arzt. Er weiß, daß du kommst. Heute abend hat er ein kleines Fest bestellt.« »Ich werde warten und mich einrichten«, sagte ich leise. »Wer ist Herrin Nefret-Iunit? Wo finde ich sie?« »Die Vorsteherin der Webereien des Großen Hauses.« Ein Schatten von Neid und Sehnsucht flog über das gutmütige Gesicht. »Dort, am Rand der Wüste, im gelben Haus hinter dem Dattelpalmenwald. Eine schöne Frau, Neb Aakener. Der Weg ist nicht weit.« Ich dankte, erfrischte mich mit einem Bad, räumte den größ-
ten Teil meines Gepäcks in Nischen und Truhen, leerte einen kleinen Krug Minzeabsud und steckte die Dolche in die Scheiden. Ein Rundgang durch Ptahs einfachen Palast zeigte mir eine Menge Schreiber, Männer, die Modelle erstellten und mit einer teigigen Masse aus Lehm, Hapischlamm und Sand verwirrend komplizierte Muster von Kanälen und Schleusen bauten. Alle arbeiteten in stiller Heiterkeit, friedlich und ohne Hast. Ich versuchte mir einen ersten Überblick meiner neuen Umgebung zu verschaffen, aus einer anderen Perspektive als von Ricos Sonden, und ging zum Wüstenrand. Das fruchtbare Land zwischen Ufer und den ersten Dünenhängen war nicht breiter als neun Chen-Nub. Neben dem Stichkanal mit kleinen Abtrennungen und sauberem Wasser blieb ich im Tamariskenschatten und kam zur Treppe, die zum Überflutungshügel hinaufführte. Eine Terrasse erstreckte sich zwischen den schroffen Gegensätzen von Weide und Sand, Garten, Grelle und Schatten. Ein Ausdruck des Wesens der Bewohnerin? Ich hob die Schultern und winkte einer jungen Frau, die Blüten von Wasserpflanzen schnitt. »Ich möchte mit der Herrin Nefret-Iunit-Tar sprechen. Sagst du ihr, daß ich warte?« »Wenn ich deinen Namen weiß, Neb?« »Ich bin Ptah-Sokars bester Freund.« Ich lächelte; die Frau musterte mich herausfordernd, mit direkten, raschen Blicken. »Atlan-Aakener, der berühmte Arzt aus Djanet?« »Wenig berühmt. Der Mann, der die Haut der Menschen wieder glatt macht. Ist deine Herrin im Haus?« »Sie wird dich empfangen, wenn du ihr Zeit läßt, sich vorzubereiten.« Sie wies auf eine Bank zwischen zwei Widderstatuen. »Willst du im Schatten warten?« Ich setzte mich, sie huschte ins Halbdunkel des Hauses. Eine junge Sklavin verbeugte sich, kniete vor mir und fing an, meine Beine mit duftendem Öl einzureiben, das die Haut kühlte,
schnell verdunstete und atemberaubenden Geruch verbreitete. Ich wartete, einigermaßen verwirrt. Um mich herum gab es nur Laute und Geräusche des Arbeitstages und das Rauschen des Windes auf dem Sand und in den saftiggrünen Gewächsen. Eine Eidechse zuckelte über die Pranke des Fabelwesens, am Fuß der Bank rollten Cheperkäfer einen großen Kotballen. Ich genoß die Ruhe und den Frieden dieses Anwesens am Rand der Stadt. Die Sklavin trippelte ins Haus zurück, und nach einer Weile, die mir zu kurz vorkam, glitt unter der Binsenrolle des Portals ein anderes Mädchen heraus und lispelte: »Meine Herrin erwartet dich, großer Arzt.« Sie nahm scheu meine Hand und schloß die Augen, als sie der Glanz meines Brustschmucks traf, des Wesech-Kragens mit den geschliffenen Imitaten. »Ich führe dich zu ihr.« Ich folgte ihr auf dem schmalen Sandweg durch den kunstvoll angelegten Garten, in dem alle Pflanzen gleichzeitig in Blüte zu stehen schienen. Je mehr ich von der Umgebung sah, desto stärker wurden Neugierde und leichte Verzauberung. Von einem sumpfigen Tümpel flogen Enten auf, ein Storch stakte durchs wuchernde Schilf. Das kühle Hausinnere roch nach Myrrhe, Zeder und anderen Wohlgerüchen. Hinter Flechtwerktüren und Vorhängen drangen Kichern und Gelächter hervor; schmale Treppen führten zu Aussparungen im Dach. Das Sklavenmädchen führte mich auf eine Terrasse, über die sich ein dunkles Schattensegel spannte. Auf steinernen Böcken lagen ungewöhnlich große Tischplatten, davor standen Sessel aus Holz und Riedgeflecht, mit den Fellen schwarzer Lämmer gepolstert. Auf den Platten raschelten Schreibleder voller Zeichnungen zwischen breiten Säumen und Stoffballen. Ich blieb vor dem Tisch stehen. »In Windeseile wird aus der Lotosblütenmagd die schöne Herrin des Hauses«, schmeichelte ich. Die junge Frau, die ich zuerst angesprochen hatte, saß vor mir; Ptah hatte nicht über-
trieben. Sie war von ungewöhnlicher Schönheit und Anziehungskraft. Sie trug keine Perücke, ihr seidig schwarzes Haar fiel auf die Schultern. Ihre Gestalt und die Hautfarbe deuteten darauf hin, daß ihre Großeltern und Eltern Rômet, Heka Chasut und dunkelhäutige Kushiten gewesen waren. Mit langen Fingern deutete sie auf meinen Wesech. Ihre gesamte Erscheinung, die Art ihrer Bewegungen und die eigentümliche Atmosphäre dieses Ortes waren deckungsgleich mit einer meiner starken, verschütteten Erinnerungen; es war müßig, ihnen jetzt nachzuspüren. »Nur wenige Männer dürfen so viel Gold tragen, Arzt. Du gehörst zweifellos zu den Mächtigen.« »Du hast recht. Aber obwohl ich zu diesen Männern gehöre, kam ich schon mit viel Gold und Kenntnis vieler Dinge ins Hapiland. Du bist die Herrin Nefret-Iunit.« »Mitunter spielen wir Frauen viele Rollen gleichermaßen gut.« Ihre Stimme war ungewöhnlich tief und, wie eine Traube mit Mehltau, ein wenig rauh. »Es gibt auch Rollen, die wir nicht zu spielen brauchen.« »Jeder Mann ist stets davon überrascht.« Ich stützte mich auf den Tisch. »Und nun frage ich mich, warum eine schöne Frau wie du so dringend mit mir zu reden wünscht.« Nefret-Iunits Schönheit entsprach der Grenze zwischen einem voll erblühten Mädchen und einer reifen Frau, die in fünf Jahren oder nach drei Kindern zu welken begann. Schlank, verführerisch, voll anmutiger Wölbungen, mit makelloser Haut und einer Tätowierung am linken Handgelenk; golden glänzende Mäander, Blüten und verschlungene geometrische Figuren bildeten ein fünf Finger breites Band, das in einen skurrilen Schnörkel auslief. Ich riß meine Blicke los und sah in ihr Gesicht. Unter ihrem linken Auge zuckte ein winziger Muskel. Der Extrasinn schickte mir eine wortlose Warnung. »Ich kenne nur wenige Männer, die wie Ptah sind.« Nefret-
Iunit zeigte auf den zweiten Sessel. Die Sklavenmädchen brachten kaltes Bier und gemischten Wein. »Ptah, ein Mann von großer Stärke und geistiger Beweglichkeit, der zu mir ist wie ein Bruder, erzählt nur von wenigen Männern: Von dir berichtete er viel. Du seist besser als er, sagte er, und daß du vielleicht in der Lage bist, mein Hautleiden und meine Verwirrtheit zu kurieren.« »Du, Nefret-Iunit, verwirrt…?« Die Frau begann mich zu faszinieren; seit langer Zeit hatte niemand so mit mir gesprochen. »Ich bin solche Gespräche nicht gewohnt, das macht mich unsicher.« »Seine Erzählungen machten mich neugierig.« Sie lachte kehlig. »Ich hab’ ein schwaches Bild von dir gehabt. In Wirklichkeit bist du stattlicher, ausdrucksvoller und eine Herausforderung an jede Frau.« »Ich mag besser sein als manche Männer«, sagte ich und trank langsam drei tiefe Schlucke. »Aber zu solch begeisterten Lobpreisungen besteht kein Grund.« »Keine Frau bemüht sich um einen Mann, solange sie ihn leicht haben kann, Arzt Aakener.« War sie nur eine Parasitenträgerin oder eine mehr oder weniger selbständige Handpuppe, von den Spielern zum Aufbau eines Großreiches gebraucht? Ich brummte: »Oft hält man den Fremden für den Künstler in Liebesdingen, und der eigene Mann ist nur der Handwerker.« »Ich lebe zwischen Farben und Formen.« Sie strahlte mich an und strich über die Muster und bunten Zeichnungen. »Es gibt keinen Handwerker. Ich erkenne Schönheit, wo ich sie sehe. Ich weiß, wie gute Ware aussehen muß – du bist beste Ware, Neb Atlan.« »Nebet Nefret-Iunit, schönste Herrin«, sagte ich. »Ptahs Bote sagte, ich soll die Wucherung deiner schönen Haut entfernen.« »Nachdem du Sakor-Nesu und Dhana-Ipet geheilt hast. Ich
muß gesund werden. Tücher, Teppiche, Webereien und Säume von Nai-Ta-Hut gehen in alle Welt und mehren den Reichtum des Landes. Nur wenn ich schöne Muster schaffe, lebt die Hälfte der Menschen hier gut.« »Kein kluger Mann widerspricht einer Frau, die ausgeruht oder krank ist.« »Aber spricht der Körper einer Frau, haben Männer nicht genug Augen, um richtig zuzuhören. Im Ernst: Ptah schilderte die Geschicklichkeit deiner Finger und Zangen.« »Ich habe ein unsichtbares drittes Auge.« Ich grinste. »Denke ja nicht, daß der Versuch des Entfernens ohne Gefahr ist.« »Du wirst dennoch versuchen, mich zu heilen?« »So war es mit Ptah-Sokar ausgemacht, in dessen Haus ich auch wohne; dorthin wirst du kommen müssen.« »Schon heute abend, denn Ptah hat mich eingeladen. Ein Fest, mit dem er seinen besten Freund bewillkommnet. Danach werden wir auf dem Dach die Mondsichel bewundern, Wein trinken und reden; über dies und das.« »Und jenes. Es gibt indes vieles, worüber man auch trefflich schweigen muß.« »Über vieles werden wir schweigen, über anderes reden, Atlan-Aakener. Auch du trägst keine Perücke?« »Ich verachte viele Männer, die ihre edlen Kahlschädel unter Perücken verstecken; es ist, als hülle man die Großen Grabmäler in Binsengeflecht ein.« Ihre Zeichnungen verrieten eigene Kunstfertigkeit und fremdartige Einflüsse; ich konnte sie weder als reine Muster der Hapi-Tradition noch als exotisch bezeichnen. Sie entsprachen zwar in Farben und Formen der jahrhundertealten Tradition, aber die schöpferischen Ideen schienen von Wanderer zu stammen, vom ES-Kunstplaneten, aus der Phantasie eines der Spieler. Wirtschaftlicher Erfolg half beim Aufbau eines Reiches. Abermals schien ich richtig nachgedacht zu haben. Das
Spiel wurde seit langem gespielt, war subtil geführt worden, und die Symbiontenträger wurden selbständig. Ich stand auf und blickte in die großen Augen zwischen den Schminklinien. Die Iris war hellbraun, goldfarben. Mir schien, daß wir in diesem Augenblick sicher waren, uns leidenschaftlich ineinander zu verlieben. Ich nickte in die Richtung auf Ptahs kleinen Palast. »Die Reise war mühsam. Mit meinem Freund hab’ ich noch nicht ein Wort gewechselt. Wir sehen uns auf dem Fest, schönste Herrin.« Sie entließ mich mit schmelzendem Lächeln und Blicken voll kühner Selbstverständlichkeit. Zu welcher Partei, welchem Spieler zählte Iunit? In Ptah-Sokars Haus, jenseits des Korridors zu seinem Wohnbereich, wartete eine Dienerin und führte mich in eine kühle Laube unter Weinranken, Palmwedelgeflecht und Säulen aus geflochtenen Binsen. Fünf Atemzüge später stürzte Ptah auf mich zu, umarmte mich und schlug mir auf die Schultern. »Gut, daß du hier bist! Wann kommt Kanza mit der Kleinen? Mir geht’s besser als gut – und ich habe erstaunliche Zusammenhänge erfahren, Atlan.« »Ich freue mich«, sagte ich und ließ mich mitziehen. »Du weißt: Satmeret ist tot; später erzähle ich alles ganz genau. Und du baust Kanäle und Dämme?« »Eine Arbeit, mit der sie hier in hundert Jahren nicht fertig werden können. Ich halte mich an die Tradition, versuche, niemanden übermäßig zu verwirren, und jede Neuerung braucht unendlich viel Zeit. Wenn sie’s begriffen haben, gibt es für alle mehr Wasser, mehr Essen, leichteres Leben und weniger Schlammblinde.« »Auch die Parasitenträger sind klüger als das Volk«, sagte ich leise. »Was würde geschehen, wenn es hunderttausend Parasiten gäbe? Und zwanzig Ptahs, Zakanzas und Atlans?«
Ptah hob die Hände. »Nicht auszudenken!« Wir stiegen auf das Dach eines kleinen Hauses. Hier hatte sich Ptah einen Platz eingerichtet, halb Schlafstelle, halb Arbeitsbereich, unter einem großen Sonnensegel, hoch über dem Kanal und ohne daß ihn jemand beobachten konnte. Als wir saßen und kalten Kräutersud tranken, begann ich aufzuzählen: »Wären dreieinhalb Millionen Bauern und Hirten, Handwerker und Ruderer gebildeter, würde keiner mehr die knochenbrechende Arbeit auf sich nehmen. Nicht nur wir bringen Kultur und Wissen, sondern auch die Symbionten der Spieler. Chayan eroberte das Land, Towe-Satni sicherte es, Naamer-Ta treibt so etwas wie Außenpolitik, du baust, und ich heile auf nie gekannte Art, Nefret-Iunit sorgt dafür, daß kostbare Stoffe mit herrlichen Mustern in den Handel gehen und gegen Bronze und, vielleicht, Eisen eingetauscht werden. Harte Metalle ergeben gute Waffen, mit deren Hilfe man ein Großreich gründen kann. Das subtile Spiel ist in vollem Gang, Freund Ptah.« »Dies denke ich auch. In Kush und Wawat, jenseits der ersten Stromschnelle, herrscht ständig Unruhe – es ist denkbar, daß dort der zweite Spieler hockt.« »Noch nicht unsere Sache. Zuerst die drei Parasiten in NaiTa-Hut.« »Zuvor ein kleines Fest im Leihpalast!« »Ich kann meine Wundenwerkstatt im geliehenen Palast eröffnen? Die Hinkenden und Eitergebeulten stören deine Schreiber nicht?« »Es war von Anfang so gedacht. Das Geheimnis der Ruhe ist ein anderer Eingang. Und jahrelang bleiben wir nicht hier. Hast du etwas von den elf weitverstreuten falschen Sklaven gehört?« Ich schüttelte den Kopf. Die gute Zeit hatte Ptah-Sokar nicht einmal sichtlich gestreift. Er war schlank, dunkelbraun ge-
brannt, aus jeder Bewegung sprachen Kraft und Schnelligkeit. Durch den schmalen Treppenschacht kamen die Geräusche, die uns sagten, daß Sklaven und Diener das Fest vorbereiteten. Ptah erwartete nicht mehr als zwei Dutzend Gäste. Ich ließ meine Blicke über die vertraute Landschaft nahe dem Zusammenfluß aller sieben Mündungsarme gleiten und sagte leise: »Früher oder später werden wir von ihnen etwas erfahren. Wir sind noch nicht einmal fünf Monde hier. Wie du weißt, kann sich vieles schnell ändern.« »Wir haben erst dann gesiegt, wenn wir die Herren des Spieles vernichtet haben. Dann erst entläßt uns ES aus der Pflicht. Ob wir es schaffen?« Sein Blick richtete sich kühn über den breiten Mündungsarm, dann strich er mit dem Zeigefinger über den scharfen Nasenrücken und grinste mich an, als wolle er mich verführen. »Doch. Wir schaffen es, wir drei. Und jetzt: ein Bad, feine Salben, neuer Schurz und gute Laune, Atlan.« »Ich gehorche, Neb Ptah, Herr verschlammter Schleusen!« Meine Räume waren vorbereitet, als hätte Ricos Logistik gewaltet. Zwei Räucherbecken wurden aufgestellt, um die wenigen Stechmücken zu vertreiben, und man rollte drei große Teppiche aus. Die ersten Gäste kamen, in großen Binsenbooten gestakt und gerudert oder in zweirädrigen Wagen. Die Stunden bis Mitternacht veränderten meine Sicht der Dinge nur um ein weniges: Es war die Zusammenkunft von knapp zwanzig Menschen, denen das Wohl der Stadt und des Landes ebenso wichtig war wie ihr eigenes. Wir aßen, tranken, fragten, antworteten; ich berichtete Neuigkeiten aus Djanet und erfuhr, was sich in Nai-Ta-Hut tat, Wichtiges und Lächerliches. Ich lernte Dhana-Apophi-Ipet und Panfil-Sakor-Nesu kennen, schilderte meine Operationen und die Heilungserfolge, und auf seltsame Weise gerieten ganz unzweifelhaft Nefret-Iunit und ich in den Mittelpunkt. Im Garten spielten drei Musiker; Laute, Harfe und Rohrflöte. Ich entdeckte
schließlich die Parasiten am Hals des Mannes und an der Wirbelsäule der Frau, nicht aber den Fremdkörper am Körper Iunits, obwohl ich jeden Fingerbreit der Haut genau musterte. Iunit war die Schönste der Nacht, sparsam, aber wirkungsvoll geschmückt, mit einem halbdurchsichtigen Nichts als Kleid, mit Gold, kleinen Muscheln und winzigen Lotosblüten im Haar, in dessen Glanz sich die Sterne zu spiegeln schienen. Ich verabredete mich mit Panfil-Sakor-Nesu. Später fragte mich Ptah flüsternd: »Wer wird dir helfen?« »Eine deiner alten Dienerinnen. Sie half vor Jahren einem Priesterarzt. Es wird nicht zu schwer für sie – ich brauche, wie üblich, Feuer, Glut und viel heißes Wasser.« »Alle werden rennen, um deine Wünsche von den Augen abzulesen.« Ptah nickte mir zu und ging zur Tür, um eine Gruppe Gäste zum Boot zu begleiten. Fackeln knisterten flackernd durch die Nacht. In Nefret-Iunits Garten erzählte mir Iunit, eine unbedeutende Tochter einer wenig bedeutenden Nebenfrau eines Nomadenfürsten aus dem Osten, wie sie als Geschenk an den Herrscher vor sieben Sommern plötzlich erfahren hatte, daß ihre Fähigkeiten wuchsen, ihr Verstand sich schärfte wie eine Beilklinge, wie sie schneller und leichter lernte, aber eines Morgens erschrocken die Verdickung ihrer Haut ertastet hatte. Seit dieser Zeit gelang ihr, was sie sich vornahm, aber sie spürte den fremden Gast in ihrem Verstand und fürchtete ihn. Vor diesem Erlebnis, sagte sie, habe sie auch einen anderen Namen gehabt. Der Logiksektor flüsterte: Offensichtlich rufen Parasiten bei verschiedenen Barbaren unterschiedliche Wirkungen hervor, abgestimmt auf die Fähigkeiten des Wirtes. Ich hob die Hände und spreizte die Finger. »Wo ist die Verdickung, Iunit?«
Sie griff in den schmalen Nacken, beugte sich vor und ließ die Haarflut über Gesicht und Brüste fallen. Meine Fingerkuppen glitten über ihren Rücken. Sie summte und beugte sich vor, ich tastete über den Hals und spürte an der Stelle, an der die Wirbelsäule in die Schale des Hinterkopfes überging, nur durch Haut, Muskeln und zwei Sehnen geschützt, leichter verletzbar als fast jede andere Körperstelle, den Parasiten. Er reichte bis zum Haaransatz. An dieser Stelle war der Versuch des Entfernens für einen Quacksalber wie mich – und für Iunit! – ein todbringendes Risiko. Ich nahm ihre Hände, sie beugte sich zurück, das Haar fiel wieder über die Schultern, und als sie den Kopf halb drehte und aufschaute, küßte ich sie. Sie ließ sich gegen mich fallen, legte die Hände auf meine Schenkel und erwiderte schweigend den Kuß. Fünf, sieben oder neun Nächte später lag das Mondlicht voll auf der riesigen Granitstatue des Gottes Seth, dessen Tempel am Rand des Fruchtlandes aufragte und auf das Städtchen herunterblickte. Aus den Unterkünften der Handwerker und Kanalbauer drangen vereinzelte Lichter und leiser Lärm. Mitternacht. Die Hapiwellen plätscherten, Wasservögel, Fische und Krokodile raschelten in den Schilfufern. Dhana-ApophiIpet und Panfil-Sakor-Nesu, die vertrauten Schreiber des Herrschers, schliefen ihrer vollen Genesung entgegen. Die Operationen waren weniger schwierig als erschöpfend gewesen. Neben mir richtete sich Nefret-Iunit auf, schlug nach einer Mücke und flüsterte: »Du sollst schlafen, Geliebter. Du hast unruhige Träume?« Ihr Körper war wunderbar kühl, das Haar fiel über die Schultern, und ihre Hand legte sich auf meine Stirn. »Ich denke an dich und träume von morgen«, sagte ich und gähnte. Aus meinen Augenwinkeln lief salziges Sekret. »Deshalb bin ich ohne Ruhe. Das Mondlicht macht mich rasend.« Hinter den hauchdünnen Mückengespinsten, die sich um
unsere Liege bauschten und die Eingänge rahmten, hing das narbenverwüstete Gesicht des Mondes wie eine unverhohlene Drohung über dem Land. Rico hatte durchschnittlich in jedem Jahr acht Riesenmeteoriten in der Lufthülle dieser Welt angemessen: Warum traf einer dieser Giganten nicht den unerreichbaren Mond? Weiden, Äcker, Palmen und alles andere veränderten in diesem molkigen Licht Aussehen und Bedeutung. Eine gespenstische Welt breitete sich außerhalb des Hauses aus. Ich fröstelte und zog Iunit an mich. Sie wisperte: »Ich hab’ zweimal zugesehen, wie du die Ausbeulung der Haut besiegt hast. Ich vertraue dir, Atlan.« Ihr Vertrauen beruhigte mich kaum. Mir wäre wohler gewesen, wenn mir Zakanza und Ta-Bnona hätten helfen können. Sie suchten, von Ricos ferngesteuerten Sonden unterstützt, nach dem unsichtbaren Mörder Satmerets; eigentlich wartete ich auf Zakanzas Funkanruf. Im Mondlicht schienen sich die Schnörkel der armbandartigen Tätowierung an Iunits Handgelenk zu regen. Ich setzte mich auf, wickelte das feuchtkalte Tuch vom Tonkrug und füllte die Schalen. Hörte der Parasit mit? Erkannte er mich als seinen Todfeind? Ich schüttelte mich; Nefret-Iunit-Tar hielt sich an meiner Schulter fest und sagte: »Morgen abend ist’s vorbei. Ich habe mehr Angst als du.« »Ich glaub’s dir. Es ist nicht nur die Operation, die mich unruhig macht. Da gibt es auch anderes…« Wir benutzten die Funkgeräte nur ungern und kurz, um die Spieler nicht auf unsere Spur zu bringen. Noch immer hatte sich Zakanza nicht gemeldet. Ricos Sonde hatte ebenso erfolglos gesucht. Die verbliebenen Symbionten waren von unseren Androiden nicht entdeckt worden, und da ich über sie mehr wußte, stieg meine Unruhe. Ich versuchte die düsteren Gedanken abzuschütteln und küßte Nefret. Sie drängte sich an mich, ihre kühlen Finger glitten über meine Haut; wir umarm-
ten uns und sanken auf das Lager. Spät in der zweiten Nachthälfte schliefen wir erschöpft ein; es war nicht der Sonnenaufgang, der mich weckte. Ein gellender Schrei, unhörbar wie das Gelächter von ES, riß mich hoch. Das Extrahirn brüllte in meinem Schädel: Todesgefahr! Wenn du nicht sofort handelst, bist du verloren, Atlan! Die warnende Stimme schwieg. Ich sprang auf, taumelte, versuchte zu begreifen. Nefret-Iunit lag schlafend auf der Seite, ihr Haar breitete sich sternförmig über das Laken, die Kopfstütze war, in zwei Teile zerbrochen, heruntergefallen. Iunits Gesicht, völlig entspannt, zeigte ein glückliches Lächeln, die vollen Lippen waren halb geöffnet. Ich holte Luft und sah mich um. Nichts regte sich auf der Terrasse und im Garten. Plötzlich begann ich zu zittern und begriff, noch ehe mich erste fadendünne Impulse berührten: Etwas Fremdes war in mir und versuchte, gegen das Extrahirn und meinen freien Willen von mir Besitz zu ergreifen. DER PARASIT! Ich stöhnte gequält auf. Mit einem Satz war ich am Kopfende des Lagers und streifte mit beiden Händen Nefret-Iunits Haar aus ihrem Nacken. Als ich unterhalb des Haaransatzes den Fleck roter Haut sah, taumelte ich, sah genauer hin und entdeckte nichts als hellere Haut und winzige Wunden, die sich geschlossen hatten. Eine dünne Schweißschicht lag auf der Haut. Der Parasit war in den letzten Nachtstunden, während wir erschöpft schliefen, von Iunit auf mich übergewechselt. Der Logiksektor schwieg, als habe ihn ein mächtiger Gegner besiegt. Ich horchte in mich hinein, aber ich fand keine Gedankenbefehle, die mich zum willenlosen Sklaven zu machen versuchten. Grauenvolle Furcht, meinen Willen, mein Selbst zu verlieren, packte mich. Ich wickelte den Schurz um die Hüften, schloß die Gurtschnalle, schlüpfte in die Sandalen und griff nach den Oberarmreifen. Meine Finger glitten dreimal ab, ehe ich die Goldbänder übergestreift hatte.
Ich starrte durch den Mückenvorhang auf leuchtende Dünen und Gras; der Mond war hinter dem Horizont. Ich flüsterte: »Schnell handeln! Noch ist Ptah in seinem Haus.« Ich befestigte das Funkarmband und sprang über eine Mauerbrüstung, rannte durch den Garten und im Zickzack durch das Palmenwäldchen. Den Weg zu meinem Häuschen kannte ich im Schlaf. Ich riß eine Binsenrolle hoch, durchquerte meine Räume und rannte über Lehmboden und Riesen durch den Korridor, die Stufen hinauf und aufs Dach. Hinter mir schrie jemand, ein anderer fluchte. Ich schwang mich um den Stützpfahl des Sonnensegels herum und prallte gegen Ptah-Sokar. Er stand vor mir, nackt, eine Kampfaxt in beiden Händen. Über seine Schulter hinweg sah ich, wie eine junge Rômet aufwachte, sich aufrichtete und uns verständnislos angaffte. »Atlan! Ich dachte an einen Überfall!« »Ein Überfall besonderer Art.« Ich drehte mich um und deutete auf meinen Nacken. »Nefret-Iunits Parasit kroch heute nacht zu mir. Ihr müßt ihn wegmachen, ehe er Macht über mich gewinnt.« »Ich sehe ihn.« Er ließ meine Schultern los, drehte mich herum und preßte die Lippen aufeinander. Leise sagte er: »Bist du von Sinnen? Ich? Du bist der Arzt, Atlan! Aber… wer, bei Sachmets Haß, sollte es sonst tun?« »Brenn ihn weg, wirf ihn ins Feuer!« Ich stöhnte. »Du bist der einzige Freund, der helfen kann. Hol Iunit und deine kundige Dienerin. Wenn du den Lähmstrahler nimmst, spür’ ich nichts, und ihr könnt meinen Rücken zerschneiden.« Der Zellaktivator schien den Fremdling zu spüren. Ich fühlte Hitze auf der Brust, und als ich die Hand auf den Brustschmuck legte, wurde mein Eindruck bestätigt. Teile des Wesech waren übermäßig warm geworden. »Spürst du schon jetzt den Parasiten?« »Nein«, sagte ich. »Schnell, Ptah! Du bist die einzige Sicher-
heit dafür, daß ich davonkomme. Hinunter, in meinen Behandlungsraum.« Die junge Frau begriff erst, als Ptah laut, aber ruhig seine Befehle gab. Er schickte die Diener und Wachen, die sich heraufdrängten, wieder zurück und traf seine Anordnungen. Sofort ein Gespann zu Nefret-Iunit, heißes Wasser, Ruhe, die Kranken und Verletzten drei Tage lang zu anderen Ärzten schicken, niemanden in meinen Teil des Hauses hineinlassen, die kushitische Magd wecken. Ruhe und Besonnenheit! Schutz der mächtigen Götter! Der Arzt war krank! Schließlich winkte er die junge Frau heran; sie sollte für Essen und starkes, schwarzes Henket sorgen. Er legte den Arm um meine Schultern und begleitete mich in den Behandlungsraum. Diener schwirrten durchs Haus, überall klirrte und klapperte es. »Wie das geschehen konnte, Freund, brauch’ ich wohl nicht zu fragen. Liebesnacht, tiefer Schlaf, Unachtsamkeit?« »Genau so. Ich wachte auf und merkte, daß etwas unvorstellbar Grauenhaftes über mich kommt.« »Ich tu’, was ich kann.« Er zwang sich zur Entschlossenheit. »Wenn ich dich zurichte wie das Fleisch eines Opferstieres, wirst du mir wohl verzeihen müssen.« »Ist mir gleichgültig.« Wir stolperten halb nackt in den halbdunklen Raum. Diener zogen die Binsenrollen in die Höhe, Morgenlicht flutete herein. Aus der Küche hörte ich das Prasseln trockenen Holzes. Den kommenden Schmerz fürchtete ich nicht; ich würde besinnungslos sein. Ein Bote rannte entlang der weißen Gartenmauer und warf groteske Schatten. Ich streifte Sandalen und Schurz ab und knotete ein frisches Schamtuch fest. »Aber vernichte diesen verfluchten Parasiten.« »Verlaß dich auf mich. Irgendwie werden wir das gemeinsam durchstehen. Hilf mir mit den Instrumenten!« Der Zellaktivator würde das Übelste zu verhindern helfen. Ptah-Sokars kühle Entschlossenheit gab mir neue Hoffnung.
Ich sortierte Skalpelle, Messer, Zangen und Dolche, während die kaum gefilterte Lichtflut selbst die Winkel des Raumes in Helligkeit badete. Ich setzte mich auf den Behandlungstisch und versuchte, meine Überlegungen zu sammeln. »Ich hab’ von der Übernahme nichts gemerkt, ich spüre auch jetzt noch nichts, Ptah. Über kurz oder lang bin ich aber die Figur eines unbekannten Puppenspielers. Eigentlich sollte in ein paar Stunden Iunit hier liegen. Noch hat das Fremde keine Macht über mich.« »Entspanne dich, Freund.« Er deutete auf das weiße Laken über den Lederpolstern des Tisches. »Ich habe gut aufgepaßt. Ich tue, was ich kann.« Ich streckte mich aus, drehte mich auf der harten Unterlage auf den Bauch und vergrub den Kopf zwischen den Unterarmen. Ich konnte mir vorstellen, wie Ptah mit dem Strahler auf meinen Nacken zielte und abdrückte; ich hörte das Entladungsgeräusch, und dann schwemmte schlagartig tiefe Besinnungslosigkeit alle Empfindungen, Gefühle und Gedanken weg. Alle? Keineswegs alle! Ein Rest blieb, wie eine mikroskopische Insel im lautlos tobenden Chaos. Ich war nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden: Erlebte ich diese Mischung aus Träumen, Schmerzen, Wirklichkeit und Phantasie während der quälend langen Operation, im Schlaf danach oder kurz vor dem endgültigen Erwachen? Aber dieser Halbtraum brannte sich in meine Erinnerungen ein, so wie andere, tiefgehende Erlebnisse; ich mußte mit der Flut der Eindrücke fertig werden, wenn ich ohne kranken Verstand weiterhin überleben wollte. Und – ich mußte überleben! In der Mitte des wirbelnden, schwarzen Chaos sah ich so etwas wie eine winzige Bühne, auf der, in seltsamem Geschehen, noch winzigere Darsteller auftraten, ihren Text sprachen
und eigene Gedanken laut äußerten. Ich blieb Zuschauer und, was die Empfindungen anging, Teilnehmer eines makabren Spiels. Ein Fremder hatte die Figuren fest in der Hand und war unsichtbarer Spielleiter. In meiner Vorstellungswelt – einer leeren, licht- und geräuscharmen Sphäre – tauchten ferne Sonnen auf, dann ein Körper, der wie eine halbierte Kugel aussah und auf seltsamen Schlingerkurs durch das Gewimmel einer flammenden Galaxis aus Myriaden farbiger Sterne flog. Empfindungen überlagerten das grandios-verschwimmende Bild: Untätigkeit, Langeweile, stärkste Frustration und der drängender werdende Wunsch, sinnvoll zu handeln. Dann: Ideen wie lautlos zuckende Blitze, Experimente, Planung eines Spiels und Flucht. Unbestimmte Zeit verging. Persönliche Eindrücke schoben sich ins Bild, und die Darsteller auf der Bühne beschäftigten sich mit Sehnsuchten, die so alt waren wie der Kosmos: Sexualität, Paarung, Macht, spielerischer Umgang mit Versklavten; hinter tastenden Versuchen lauerte massives Machtstreben. Ich schien einen anderen Zweig der Vergangenheit mitzuerleben und blieb fremdartigen Eindrücken ausgeliefert. Ich spürte weder Verwunderung noch Schmerzen oder eigene Widerstände. Ich blieb passiv. Aus dem wirbelnden Durcheinander der Bühne, die sich vergrößerte und verkleinerte, vor der Krümmung fremder Stellarhorizonte, schraubten sich klare Vorstellungen zu meinem Logenplatz hinauf. Exotische Musik flutete durch meinen Verstand und erschütterte mit Ultrabässen die winzigsten Zellen. Lichtpünktchen schwebten auf mich zu. Ich versuchte sie zu zählen. Zwölf und noch mal zwölf. Licht verzweigte zu einem farbigen Bündelwerk wirrer Impulse, sie glitten zur Bühne und entpuppten sich als Wesen voller erstaunlicher Fähigkeiten, teilten sich, verschmolzen wieder, schwirrten davon, gerieten außer Sicht. Unterschiedliche Ge-
danken fuhren durch die Leere meines Verstandes und hinterließen Spuren wie Kondensationspunkte in der Nebelkammer, wie Gerüche im Sturm. Massig, klobig und geistig beweglich. Schmal, agil, flink, voller ungewöhnlicher Tricks. Beide Manifestationen verschwanden von meiner Bewußtseinsebene. Die Bühne schrumpfte. Ich sah ein kosmisches Ballett: Zwei Doppelreihen exotischer Spielfiguren auf einem Feld aus hellen und dunklen Bezirken verschoben sich im stillen Tanz, bis ich eine mehrdimensionale Landkarte erkannte. Ein SPIEL begann. Das Aussehen der Protagonisten wechselte unaufhörlich, ausgeliefert den beiden starken Willen, die Figuren starben und wurden ersetzt – das Spiel näherte sich der Wirklichkeit an –, verschwanden, die Karte veränderte sich, Gestalten tauchten an anderen Rändern wieder auf, viel Zeit verging, und ich begriff keinen einzigen Zug auf diesem langsam flatternden Spielfeld. Unentwegt lösten gewaltige geschichtliche Umbrüche einander ab. Auf unbegreifliche Weise war ich Zeuge dieser Vorgänge, und langsam, als schwämmen meine Gedanken durch erstarrendes Baumharz, neben Rieseninsekten, Kleinsauriern und hungrigen Blattenden, erkannte ich, worum es sich handelte. Von allen Seiten sickerten Langsamkeit, Stille und Finsternis über das Spielfeld. Das SPIEL schien unterbrochen. Aus der Dunkelheit schob sich ein Begriff aus Angst und dem Willen, weiterzuleben. Furcht schoß wie ein regenbogenfarbiger Blitz heran, der Donnerschlag zusammenbrechender, bedeutungslos gewordener Gefühle erschütterte mich. Ich wußte: Es geschah Entscheidendes. Ich erkannte wenig Bedeutungen; ich vermochte nicht alles zu verstehen und wenig davon zu deuten. Nur eines: Die Bedeutung des nächsten Impulses war TOD. Ahnte ich wirklich, daß es das sterbende Ich-Bewußtsein des Parasiten war, der diesen Impuls im letzten Gedankenbruch-
teil durch mein Ich jagte wie eine riesige, weißglühende Nadel? Ta-Bnona stand neben Zakanza im Wagenkorb und hob den Arm. Zwischen zwei Dünen, am Rand eines flachen Wüstenstücks, hoben sich Ecken, Kanten und Säulenenden aus dem Sand. Im letzten Abendlicht waren sie nur durch ihre Schatten zu erkennen. Die Pferde bissen auf die Trensen und streckten die Hälse. Zakanza zeigte auf die mannshohen Reste und fragte: »Bist du sicher, daß es dort vorn ist?« »Die Jägerin hat mir den Weg genau beschrieben. Hier hören die Gazellenspuren auf. Die Frau war halb krank vor Furcht.« »Fahren wir näher heran«, sagte Zakanza. Der Vollmond kletterte über dem unsichtbaren Meer in den noch sternenlosen Himmel. Seit der Mittagsrast waren Zakanza und die Androidin den Spuren der Jäger und des Gazellenrudels gefolgt. Langsam näherte sich das Gespann dem Rand einer Landschaft aus Sand und steinernen Hinterlassenschaften. Zwischen zusammengebrochenen und halb aufgelösten Lehmziegelmauern standen und lagen Säulenteile und Quader. Auf einigen Platten waren Reste von Inschriften zu erkennen, ebenso Kartuschen, aus denen man die Bildzeichen, Namen früherer Herrscher, herausgemeißelt hatte. Zakanza sprang aus dem Wagen und knotete die Zügel um eine schlanke Sandsteinsäule, die schräg aus dem Boden ragte. »Ich rufe Atlan erst, wenn ich sicher bin«, brummte er. TaBnona schüttete Wasser in Ledersäcke und hängte sie über die Köpfe der Pferde. »Sehen wir nach, warum sogar die Gazellen diesen Ort meiden.« Sie befanden sich zwei Tagesreisen südöstlich von Djanet, zwischen Sand und den Vorbergen. In der letzten Nacht hatten sie am trockenen Rand einer dürren Weide gelagert. Za-
kanza holte die Axt aus dem Wagen und nahm Bnonas Hand. Ihre tastenden Schritte knirschten auf gegeneinander verkanteten Steinplatten. Die Jägerin hatte erschöpft von wirren und unglaubwürdigen Dingen erzählt: von einer Höhle, einem Koloß-, der sie vergewaltigt hatte, von rätselhaften Lichtern, die durch staubige Finsternis geisterten. »Ich glaube nicht recht an diese Erzählungen«, sagte TaBnona und schaltete den Scheinwerfer an. Das Gerät war als Lederbeutel mit hartem Boden getarnt; ein großer Lichtkreis traf auf die sandverwehten Trümmer. »Hierher verirren sich nicht einmal Grabräuber.« Sie umgingen einen Haufen Steintrümmer. Mondlicht und Schatten ließen verwischte Fußabdrücke erkennen, die auf Zakanza und Bnona zuliefen. Wenn selbst die Sonde, deren Linsen mehr sahen als jeder Mensch, nichts entdeckt hatte, konnte es sich kaum um eines der gesuchten Verstecke handeln. Wahrscheinlich, sagte sich Bnona, hatte der Vorfall eine natürliche Erklärung. Ihre Schritte blieben das einzige Geräusch, als sie zwischen den Resten eines Tempels, der vielleicht einmal in einer blühenden Oase gestanden hatte, eine ebene Fläche betraten. Zakanza flüsterte: »Es ist weit weg von jedem Wasser und mehr als einsam.« »Und ich frage mich, wie die Gazellen hier ohne Wasser überleben können.« »Leichter als wir, Bnona.« Die Spuren verloren sich auf glatten Steinflächen. Zakanza entsicherte die schwere Waffe, das Klicken hallte von der Ruine wider. »Wir suchen hier weder Rômet noch Heka Chasut.« »Wenn wir den Fremden finden, werden wir wahrscheinlich über seine Fremdartigkeit erschrecken.« Zakanza und Ta-Bnona wichen vor einer gekippten Säule aus und schlugen einen Bogen durch Flugsand. In der Ferne lachte eine Hyäne. Der Lichtkegel fiel auf eine Vertiefung im
Boden; als Zakanza näher ging, sah er den Anfang einer halb verschütteten Rampe, die in leichter Schräge abwärts ins Dunkel führte. Er bedeutete Bnona, den Scheinwerfer auszuschalten und stehenzubleiben. Einige Schritte weiter wirkte der Eingang wie der Rachen eines Ungeheuers, voller abgebrochener und zersplitterter Zähne. Schatten zeichneten Muster auf Sand und Steine: wie Schwellen auf dem Weg in die Unterwelt. Bnona zog den Strahlerdolch und schob die Sicherung zurück, Zakanza stapfte langsam weiter. Das Gespann stand im bleichen Mondlicht, vierhundert Schritte oder mehr entfernt. Zakanzas Sohlen knirschten auf den Platten eines versunkenen Prozessionswegs, aber auf den geborstenen Sockeln kauerten keine Sphingen. Fünfzig Schritte weiter, schon unter der Oberfläche der Düne, erkannte Zakanza zwei halb verwüstete Kolossalfiguren, doppelt so groß wie er, die einen waagrechten Sandsteinblock von unschätzbarem Gewicht trugen. Jenseits der Pforte eines halbwegs erhaltenen Bauwerks sah er einen flüchtigen bernsteinfarbenen Lichtschimmer. Er drehte sich um, winkte und wartete. Fast lautlos näherte sich Bnona. »Sieh dorthin!« Es war, als bückten sie durch einen langen Schacht, an dessen Ende das Licht flimmerte. Zakanza fühlte seinen harten, schnellen Herzschlag. Er sah Bnona an. Ihre Gesichter glänzten schweißnaß. »Die junge Frau scheint nicht verrückt zu sein«, sagte Zakanza. Bnona hob die Schultern und machte einige Schritte vorwärts. »Sie war verwundet, halb verdurstet, zitterte und stotterte. Ich fand sie nur, weil die Hirten ihr nicht helfen wollten.« Der Kushite hob den Arm, berührte einige Felder aus Glasfluß und flüsterte heiser: »Zakanza ruft Atlan oder Ptah. Antwortet! Schnell!« Weit entfernt brüllte ein Löwe. Die Hyänen schwiegen er-
schreckt. Nach einigen Atemzügen sagte Ptah-Sokar mit flacher Stimme, aus der Erschöpfung und Verzweiflung klangen: »Atlan liegt bewußtlos vor mir. Ich versuche gerade, die letzten Reste seines Parasiten wegzubrennen. Wichtig, Kanza? Tut mir leid – du störst mich.« »Wir haben etwas gefunden, das Atlan sehen sollte.« Zakanza war, als träfe ihn ein Hammer zwischen die Schulterblätter. Er holte keuchend Luft und versuchte zu begreifen. »Wir dringen in einen unterirdischen Tempel oder ein ähnliches Bauwerk ein. Ich lass’ das Gerät eingeschaltet, melde mich später.« »Gut. Ich brauche noch eine Stunde. Wie es passieren konnte – alles später. Ich höre mit, was ihr dort tut.« »Zwei Tagesfahrten von Djanet, südöstlich, vor den…« »Sprich weiter, ich brauch’ die Ohren am wenigsten. Vor morgen nacht ist unser Freund zu nichts zu gebrauchen. Viel Glück, Kanza!« Während sie weitergingen, nahm Zakanza Bnonas Hand und hob das Beil. Die Spitze zielte geradeaus. Ab und zu sagte der hünenhafte Kushite flüsternd einen Satz und schilderte, was sie sahen. Sie drangen leise ins Innere des Bauwerks ein; das Licht wurde stärker und beleuchtete die steinerne Decke des Ganges. Von Schritt zu Schritt verstärkte sich ein pestilenzartiger Gestank aus der Höhle. Sie kamen in einen würfelförmigen Raum, aus dem Felsen gehauen wie eine Grabkammer, mit heller Decke und langen Reihen von Figuren und Zeichen der Götterworte an den Wänden. Der Stil war unverkennbar: von Rômetbildhauern geschaffen, aber Szenen fremder, kalter Schrecklichkeiten traten in langen Reihen plastisch aus dem Stein hervor, mit Resten von Bemalung in kräftigen Farben. Bnona wagte nicht, den Scheinwerfer einzuschalten. Bösartige, subtil oder roh geschilderte Grausamkeiten wechselten sich ab: Menschen schändeten und zerfleischten Menschen. Unge-
heuer und Fabelwesen bekämpften und zerstückelten sich gegenseitig; atemlos und starr betrachteten Zakanza und Bnona die dahingeschlachteten Menschen, die Vergewaltigten und Geschundenen; niedergemetzelte Krieger und offene Körper, brennende Münder und verwüstete Leiber. Sie wandten sich schaudernd ab, aus den Wänden schien ihnen eisige Kälte entgegenzuschlagen. Sie passierten einen schmalen Eingang aus Stein, der in Schulterhöhe poliert war und sahen sich einer kantigen Höhle gegenüber, so hoch und groß wie ein kleinerer Osiristempel. Entlang der Wände reckten sich je zehn oder zwölf dicke Rundsäulen, zweieinhalbmal mannshoch. Der ätzende Gestank legte sich auf die Schleimhäute wie schweflig-kotiger Dampf aus einem Erdspalt. Zwischen den rundum verzierten Säulen, voller unlesbarer Zeichen und seltsamer Figurinen, drang indirektes Licht hervor und beleuchtete eine Szene, so aberwitzig und jenseits aller Vorstellungen, daß weder Zakanza noch Bnona ein Ruf des Schreckens oder Staunens entfuhr. Die kleine Grabkammer ging auf eine Art Kanzel hinaus, hinter deren hüfthohe Brüstung sich Zakanza duckte. Er zog Bnona mit sich. Eine Rampe führte zur Mitte des großen Raumes und wieder hinauf zu einem Podium quer vor der Stirnwand. Zakanzas Stimme versagte; sein Flüstern wurde zum Krächzen, das Ptah kaum würde verstehen können. »Halbwegs verstanden«, kam es aus dem Lautsprecher, den Zakanza ans Ohr preßte. »Ist es der Spieler? Oder sind’s die Spieler?« »Wir sehen noch niemanden. Aber da bewegt sich etwas…« Unrat, Gerippe, verdorbenes Essen, Kothaufen, heruntergebrochene Steine und der Schmutz einer kleinen Ewigkeit, zwischen dem Mäuse umherhuschten, bedeckten den Boden. Zwischen aufgebrochenen Truhen und jeder Art Abfall gab es schmale Pfade. Hier stand ein gewaltiges, schmutzstarrendes
Ruhelager, dort war inselartig eine Herdstelle aufgebaut, deren Rauch Säulen und Decke geschwärzt hatte. Staub, der sich auf großen Spinnennetzen abgelagert hatte, zeichnete gespenstische Muster. Aus einem Kessel stieg grauer Dampf. Auf steinernen Hockern, wie die Umrisse kauernder Menschen geformt, aus der Rômetkultur stammend, lagen durchgewetzte Kissen. Geräte und dreifach truhengroße Apparate, deren Sinn Zakanza nicht verstand, standen an den Biegungen der Trampelpfade. Steinerne Ewigkeitssärge waren geöffnet worden, schmutziggefiederte Falken mit gestutzten Schwingen hackten lustlos an heraushängenden Binden und hüpften, dünne Knochen in den Hakenschnäbeln, durch den Dreck. Atemlos vor Schrecken, suchten Zakanza und Bnona mit Blicken die Umgebung ab, und nun entdeckten sie auch den Bewohner des vergessenen Felsentempels. Ein fetter Koloß, nackt, mit fahlweißer, fast phosphoreszierender Haut eines Bewohners der Dunkelheit. Er hockte in einem thronartigen Sessel, über den Teppiche, Felle, Bänder und allerlei wallende, fetttriefende Stoffe geworfen waren, die seine Form fast unkenntlich machten. Auf einer monströsen Platte vor ihm, die auf zwei geschlossenen Granitsärgen lagerte, viermal so lang und zweimal so breit wie Zakanza, standen Krüge und Geschirr. Mit den Fingern des rechten Arms berührte der Koloß eine fette Kushitin mit tiefschwarzer, schweißglänzender Haut und einem leeren Gesicht. In der Luft über der Platte, auf der zahlreiche Öllampen brannten, hing etwas, das aussah, als spiegele sich im stinkenden Dampf das Bild einer Spielzeuglandschaft mit Fluß, Häusern, Tempeln und Palmen. Ein Modell des Hapilandes? dachte Zakanza. Über diesem Bild und durch dessen Einzelteile hindurch schwebten kleine Lichter. Zwischen ihnen zuckten knisternd fahle Blitze. Sie vollführten einen ungeordneten dreidimensionalen Reigen. Mitunter entstanden zwischen einzelnen Lich-
tern, dem Schädel des Fremden, der wie ein monströs aufgedunsener Beschnittener aussah, und der Spiegelung dünne Fäden. Zakanza-Upuaut hielt sich die Nase zu, holte tief Luft und legte seine Pranke auf Ta-Bnonas Schulter. Er wisperte: »Ich bitte dich, nein, ich muß dir befehlen: Gehorche ohne Fragen.« Sie hob die schweißtriefenden Schultern und blickte ihm verständnislos in die Augen. »Was habe ich zu tun?« »Geh zum Gespann. Du wirst berichten müssen, was hier geschieht. Ich glaube, der Kampf wird nicht einfach.« »Ich bleibe bei dir, Kanza.« Sie hatte zwei Atemzüge lang überlegt. »Wir, zwei gegen einen, gewinnen den Kampf.« Sie schienen beide, ohne darüber gesprochen zu haben, sicher zu sein, daß dieses Wesen ein »Spieler« war, der sich, wie der Zustand der Behausung zeigte, seit langer Zeit hier versteckte. »Tu, was dir Zakanza sagt!« Das Kampfbeil scharrte über den Stein. »Du bist keine ausgebildete Kämpferin. Der alte Kushit weiß, was er tut. Atlan braucht keine tote Bnona, sondern einen klaren Bericht. Geh!« »Ich hab’ verstanden.« »Wenn du merkst, daß es ernst wird, rennst du so weit weg wie möglich. Zu den Pferden. Komme ich nicht mehr zurück, fahr zu Ptah und Atlan. Ricos Kugel wird dich finden; pack den Container, sprich mit Rico und fahr los!« Sie nickte, er fuhr fort: »Überlebe ich den Kampf, fahren wir beide zurück nach Djanet.« Er grinste und rollte die Augen. »Ich will nicht stromauf nach Nai-Ta-Hut schwimmen.« Sie hob die Augen über die Brüstung und spähte nach vom. Nichts hatte sich verändert. Zakanza deutete auf den langen Dolch in ihrer Hand und blickte zum Ausgang. Er hob die Axt;
Ta-Bnona küßte ihn auf die Stirn und fragte: »Du willst ihn töten?« »So lautet unser Auftrag. Allein deswegen, was er der Jägerin angetan hat. Er ist ein Spieler.« »Du hast recht. Beim sinnlosen Tod Satmerets und der Wut der Sachmet! Ich warte nachher bei den Pferden.« Er zog sie an sich und küßte sie. Bnona huschte lautlos davon. Zakanza richtete sich auf und beobachtete den fischbäuchigen Fremden, der, während er mit den blitzenden Lichtern offensichtlich unhörbar sprach, am Körper der Schwarzhäutigen herumfingerte. Zakanza ging die schräge Fläche hinunter und duckte sich hinter einen Steinsarg. Zwei Falken flatterten krächzend und ungeschickt zu Boden, lange Binden hinter sich herzerrend. Ein rotäugiger Wüstenfuchs mit räudigem Fell sprang, eine Urne umwerfend, zur Seite. Aus dem weißen Krug ringelten sich raschelnd lange Därme eines vor Jahrhunderten hier bestatteten Würdenträgers. Die Gestalt hinter dem Tisch hob den runden Kopf; Zakanza-Upuaut, der »Öffner der Wege«, sah das Ungeheuer zum erstenmal genau. Ihn füllte kalte Entschlossenheit aus, mit einer großen Prise Todesfurcht. Er zielte mit dem Dorn der Waffe zwischen die Augen des Fremden; noch stand er sicher im Halbdunkel, dreißig Schritt entfernt. Die Haut des Spielers war von Warzen oder spitzen Geschwüren bedeckt; er war unsinnig fett, völlig nackt, glänzte von öligem Schweiß. Seine Finger erforschten den Körper der statuenhaften Frau, die auf seinem rechten Knie saß und die Augen geschlossen hielt. Aus ihrem Mundwinkel lief ein Speichelfaden. Zakanza schüttelte sich vor Ekel und dachte an die Parasiten, an Atlan, ging langsam weiter und sah, ohne viel nachzudenken, weitere Einzelheiten. Das Monstrum hockte wie eine Qualle oder ein gefüllter Blasensack in dem Gemenge aus Fellen und Stoffen, floß förmlich über die Ecken des
Thronsessels, an dem der Kushit noch Reste der Vergoldung sah. Vage Fäden aus den Lichtkügelchen endeten in einem… Ding in der wulstigen Stirn. Eine Lichtkugel hing bewegungslos pulsierend in der Luft, während ihr Leuchten schwächer wurde. Ein drittes Auge? Der Fremde wandte den Kopf. In halber Höhe zwischen den Säulen erschien ein großer, halbdurchsichtiger Spiegel. Er schwebte ohne sichtbare Befestigung in der raucherfüllten Luft, und langsam verwandelte sich die graue Fläche in ein Bild: Über den Hang einer Düne schlich eine junge Löwin. Mondlicht und eine geheimnisvolle Kraft, die selbst in der Nacht stumpfe Farben schuf, modellierten den muskelstarrenden Körper heraus. Die Löwin beschlich das Gazellenrudel. Langsam streckte sich die Hand des Kolosses nach dem halbkugeligen Apparat auf dem Tisch aus, ein Finger berührte einen Knopf; von einem Punkt außerhalb des Bildes zuckte ein gleißender Blitzstrahl, schlug in den Vorderkörper des Tieres ein und warf die Löwin halb in die Höhe. Sie starb lautlos und rutschte an der Düne herunter. Die leuchtende Wunde sah aus wie das verbrannte, verkrustete Loch in Satmerets Brust. Ein keuchendes Gelächter des Kolosses schlug in Husten um. Zakanza wußte jetzt, wie Satmeret getötet worden war, nicht aber, aus welchem Grund. Das Licht, dachte er in lautlosem Triumph, versinnbildlichte Atlans Parasiten. Er starb oder wurde gerade vernichtet. Ein nutzloser Gedanke huschte durch seinen Kopf; er überlegte, was er von Atlan gelernt hatte, und wischte den Daumen am Schurz ab, ehe er dessen Kuppe wieder auf den Auslöser legte. Er watete ein Dutzend Schritte weit durch den heißen, stinkenden Unrat, der hier lag, seit diese fleischgewordene Ungeheuerlichkeit diese Welt betreten hatte; er schien dieses Loch vielleicht nur in der ersten Zeit jemals verlassen zu haben. Genau in dem Augenblick, als die schwach pulsierende Kugel
erlosch, sagte Zakanza halblaut: »Es muß ein Ende haben.« Er sprang ins Licht. Fast gleichzeitig ließ der Fremde die Frau los, stieß ein hohles, tierisches Wimmern aus und stemmte sich aus dem Sessel. Zakanza sprang über ein Säulenfragment, stand vor dem Tisch und drückte den Auslöser. Röhrend brach der schmerzend grelle Glutstrahl aus der Projektormündung. Eine Kugel über dem Kopf des Spielers geriet in die Energiebahn und zerplatzte in einer dröhnenden Explosion. Die Helligkeit des Kampfstrahls blendete Ta-Bnona am anderen Ende der Sphingenallee und überschüttete das Innere der Wohnstätte mit erbarmungsloser Grelle, die selbst den hintersten Winkel ausleuchtete und alle Abscheulichkeiten gnadenlos zeigte. Der Fremde riß die Hände in die Höhe, seine Rechte zuckte auf ein halbkugeliges Gerät vor ihm herunter. Zakanzas Kampfbeil schwang herum, schnitt eine funkensprühende und rauchende Furche in die Platte, setzte Gegenstände in Flammen und fegte das detonierende Gerät aus der Reichweite des Kolosses. Wo der Spurstrahl auftraf, brannten augenblicklich ausgedörrte Abfälle hell und knisternd wie Zunder. Zakanza zwang sich mühsam zur Ruhe und rief: »Ich bin geschickt worden, dich zu töten! Du und deine Kreaturen, ihr lebt und schadet schon viel zu lange.« Die gequälte Schwarze hob beide Arme, drehte sich herum und sank wimmernd zu Boden, hinter den Tisch. Der bleiche Gigant zog sich hinter der Steinplatte hoch; nur im Sitzen hatte er so riesig gewirkt. Er überragte Zakanza um nicht mehr als zwei Fingerbreit. Er stieß einen unverständlichen Laut aus und fragte in rollender, rauher Hapi-Sprache: »Wer bist du?« Seine Stimme erstickte im Fett. »Du Laus eines räudigen Schakals?« »Ich bin Zakanza-Upuaut, ausgesandt, um zwei Dutzend Parasiten und zwei Spieler zu vernichten. Du bist am Ende,
Fremder.« Während der Dorn unverändert auf sein Gesicht zielte, stieß der Fette ein keuchendes Gelächter aus und sprach stoßweise. »Tarn Gholere ist längst tot. Ich kontrolliere seine Symbionten. Ich gewinne das Spiel.« Zakanza glaubte, Stimmen aus Alpträumen zu hören. Er feuerte, senkte die Waffe, schnitt dem Koloß den rechten Arm ab, zerstrahlte die Hälfte aller fremd aussehenden Dinge auf dem Tisch und dahinter und schrie: »Deine verfluchten Parasiten haben meinen Freund überfallen! Ihr mischt euch in das Geschick dieser Welt! Ihr meint es nicht einmal ernst! Ihr spielt mit Leben und Tod von wirklichen, lebenden Menschen.« Er schnitt dem heulenden und kreischenden Spieler den anderen Arm dicht unter dem Schultergelenk ab. Der Riese taumelte. Die Blutströme aus den versengten Armstümpfen wurden im brodelnden Rauch unsichtbar. Der Spieler schwankte wie eine berstende Säule und wimmerte. Zakanza hob die Waffe; der nächste Schuß zersprengte den Schädel. Der Körper kippte langsam nach vorn, schlug auf die Platte, wankte zur Seite und fiel schwer auf ein schräges Brett voller Knöpfe und Lichter. Sämtliche Maschinen und Geräte, Speicher und Energievorräte der Gruft explodierten innerhalb eines Herzschlags. Zakanza und die Schwarze starben nur einen kaum meßbaren Zeitbruchteil später als der Spieler. Eine gewaltige Erschütterung ging durch den Boden. TaBnona hatte das Ende der Prozessionsstraße erreicht und lief auf dem Sand des Dünenhanges. Im Mondlicht, nach vielen Schritten erreichbar, glänzten die Augen der Pferde und Teile der Beschläge. Eine unsichtbare Kraft packte Bnona, riß sie von den Beinen und wirbelte sie wie eine Puppe über den Sand. Sie krümmte sich zusammen, packte die Knie und überschlug sich
mehrmals. Hustend und keuchend, mit brennenden Augen, drehte sie sich auf den Rücken und sah die lange, waagerechte Stichflamme, farbig wie ein Regenbogen, aus dem Schlund des Steinkorridors herausschießen, wie ein Chen-Nub weiter ein Säulenstumpf in einem Hagel aus Sandsteinsplittern zerstäubte, sah die Zunge eines gelbroten Blitzes, die zu den Sternen und zum prallen Mond emporleckte und für zwei Dutzend Herzschläge die Nacht zum Tag machte. Sand, Trümmer, Säulenreste, Teile kaum erkennbarer Körper, Staub und Rauch bildeten zusammen mit einer gigantischen Säule aus Sand ein schauriges Bild, das alles Licht und jeden Donner auslöschte. Ta-Bnona sicherte den Dolch, schob, ihn in die Scheide und hinkte zu den scheuenden, ausschlagenden Pferden zurück. Sie fütterte die Tiere mit Korn, tränkte sie und fuhr zurück ins Städtchen. Zakanza und alles in seiner Umgebung waren tot, vernichtet, zerfetzt und zerstreut. Sie wußte, daß Atlan und Ptah-Sokar ebenso um ihn trauern würden wie sie selbst; der Kushite war von der Oberfläche der Welt weggewischt worden. Sie schaltete den breiten Ring ein, berichtete Ptah mit viel Mühe, was geschehen war, und erreichte nach zwei Tagen das Haus. Sie wartete, packte den Container voll, hängte ihre eigenen Habseligkeiten in den Wagen, und nachdem nachts der Container verschwunden war, lenkte sie die Pferde nach Süden, nach Nai-Ta-Hut, zu Ptah und Atlan. 7. Tageslicht erhellte den Raum. Schwach rochen die kohlenden Dochte der Lämpchen. Ich versuchte zu zählen; vier Menschen waren zwischen den kühlen Mauern; Ptah, die nubische Sklavin und, abgesehen von mir, zu meiner Freude Nefret-Iunit. Aus der Besinnungslosigkeit, vermischt mit gesundem Schlaf, hatte mich etwas geweckt: Es mußte laut, bedeutend oder ü-
beraus lächerlich gewesen sein. Ich richtete mich auf, tastete meinen Rücken ab und sah mit zögerlichem Lächeln in drei erwartungsvolle Gesichter. Meine Finger spürten ein salbengetränktes Pflaster auf meinem Rücken. Heilende Wärmequellen strömten vom Zellaktivator durch meinen Körper; der Logiksektor sagte entschieden: Du bist geheilt und frei. Der Parasit ist entfernt worden. Ich grinste Ptah-Sokar an und murmelte: »Habt ihr Lärm gemacht? Was war das?« »Der Donner einer Explosion, Atlan«, sagte er. »Er hat dich geweckt, obwohl du ihn nur in Gedanken hast hören können. Zakanza-Upuaut, der Öffner der Wege, unser Freund, hat den Spieler getötet, ist aber tot. Ta-Bnona hat alles berichtet und ist auf dem Weg hierher.« »Tot. Er und Satmeret.« Ich schluckte und wandte mein Gesicht zur Mauer. »Wer noch? Ist’s nicht zu Ende?« Iunit kniete vor dem Lager und legte meine Finger um einen großen Becher. Ich trank kalten Kräutersud, vermischt mit Wein und Honig und irgendwelchen Gewürzen. Meine Gedanken wirbelten. Auf Larsaf Drei waren Krankheiten, Sterben und Tod allgegenwärtig. Zakanza, unser Freund! Selbst in den vernebelten Erinnerungen, die ES gestattete, erkannte ich, daß wir Seite an Seite unzählige Abenteuer erlebt und überlebt hatten. Jeder von uns hatte sich stets auf den anderen verlassen können: Ich vermochte nicht weiterzusprechen und starrte meine Zehen an. Niemals wieder würde neben uns seine riesige dunkle Gestalt stehen, würde er seine weißen Augen rollen und mit schneeweißen Zähnen grinsen, niemals mehr dröhnend lachen. »Erzähl, was vorgefallen ist.« Ich richtete mich auf, die Dienerin und Nefret-Iunit, die bisher, in sich gekehrt, geschwiegen hatte, halfen mir. »Mein Parasit? Vernichtet?« »Ja. Es hat lange gedauert, sie haben geholfen. Ta-Bnona hat alles gesehen und ist auf dem Weg hierher. Zakanzas Besitz
kam vor fünf Stunden im Container an.« »Wie lange habe ich geschlafen?« »Drei Tage, Atlan.« Ich schwankte in meinen Arbeitsraum, trank heiße Brühe mit verquirlten Eiern, setzte mich vor die Tischplatte und faßte meine Gedanken zusammen. »Mein Symbiont ist vernichtet. Weder du, liebste Iunit, noch ich müssen fürchten, daß unser Selbst von einem Fremden beherrscht wird. Ich habe, während ich schlief, viel erfahren; später. Wie erging es dir, Arzt Ptah-Sokar?« »Wir haben uns Zeit gelassen und dich viermal betäubt. Wir schnitten den Parasiten, sozusagen, in schmale Scheiben. Verbrannt! Er war noch nicht tief in deinen Körper eingedrungen.« »Aber er hat einen Teil seiner Erinnerungen oder seines Wissens an mich abgegeben.« Auch ich versuchte, mich durch Fragen und Erklärungen vom Schmerz über den Verlust unseres Freundes abzulenken. »Als ich bewußtlos war, träumte ich. Der Fremde sah sein Ende kommen, wollte sich wehren; ich spürte, wie er starb. Oder war es nur der Parasit? Es wird wohl gleichzeitig gewesen sein…« Ich sammelte, was ich in meinem Verstand fand, versuchte es zu sortieren und entschied, auf Bnona zu warten, ehe ich über die nahe Zukunft sprach. Ich murmelte: »Wenn es an der Zeit ist, werde ich euch viel erklären können. Über unseren Auftrag spreche ich – wir waren erfolgreich.« Ich lächelte Nefret-Iunit an. »Nun will ich mit dir zu deinem stillen Haus gehen«, sagte ich leise. »Dort will ich mich erholen, und du wirst mich, wenn es deine Zeit erlaubt, ein wenig pflegen. Und in ein paar Tagen sitzen wir wieder zusammen und beraten, was geschehen soll. Vielleicht müssen wir nur noch fünfzehn oder siebzehn Parasiten finden.« »Unsere geringste Sorge. Seit ich Ptah half, weiß ich, wovor
du mich bewahrt hast. Was ich davon halte, flüstere ich in lauen Nächten in dein Ohr. Ptah! Laß ihn zu mir tragen. Ich sorge für ihn, besser als für mich selbst.« »Das ist ein Wort.« Ich führte ihre Fingerspitzen an meine trockenen Lippen. »Danke. Auch dir, Ptah, der meinen Verstand und mein Leben gerettet hat. Später werde ich Gelegenheit genug haben, dich unter einer Wanderdüne von Geschenken und Wohltaten zu begraben.« Er hob den Mittelfinger zur Zimmerdecke und stöhnte. »Bringt ihn weg. Irgendwann muß sogar ich ausruhen.« Er zeigte auf Nefret-Iunit. »Wenn er friert, schwitzt oder sich unwohl fühlt – ich räche mich an dir, Schwester.« »Sei unbesorgt, Shen Ptah«, sagte sie und hielt während des langen Weges zu ihrem Haus meine Hand. Ich gähnte, aber meine Schritte wurden kräftiger. Ich brauchte keine Träger. Ich streckte mich auf Fellen und Decken aus und schlief wieder lange, ohne Alpträume. Der unwesentliche Wundschmerz, die Erschütterung über Zakanzas gewaltsamen Tod, die Nachwirkungen der langen Bewußtlosigkeit und die unklare Zukunft besserten meine Stimmung nicht. Ta-Bnona kam zu Ptah und berichtete, wie sich das Geschehen in der Felswüste zugetragen hatte; Ricos Sonde zeigte nur einen großen Trichter, den der Wind mit Sand zuwehte. Ich sagte zu Bnona und Ptah: »Die Spieler haben sich nicht mit einfachen Regeln zufriedengegeben. Selbst wenn wir alle Symbionten vernichten, bleibt etwas von ihnen übrig.« »Was bleibt, wenn sie verbrennen oder sich in Säure auflösen?« fragte Ptah verblüfft. Ich schloß die Augen und vergegenwärtigte mir meine Empfindungen und Erinnerungen im Reich zwischen Bewußtlosigkeit und dem Traum vom Leben des Parasiten.
»Mich hat der Parasit, während Ptah ihn vermindert hat, davon überzeugt, daß es für uns nicht damit getan ist, einfach nur den Befehl zu befolgen. Was bleibt, Ptah? Frag NefretIunit! Nicht nur die Steigerung des Könnens und des Wissens, die der Parasit übertragen hat. Es bleibt auch etwas Fremdes, das ich nicht erklären kann.« »Wir kennen also die Parasiten noch nicht wirklich?« PtahSokar ging unruhig auf und ab. Ich nickte und sagte: »Wir wissen zu wenig von ihnen. Ich bin sicher, daß wir, wenn wir alles wüßten, furchtbar erschrecken würden.« Ich hob den Arm und deutete nach Süden. »Wir kennen das Land nicht genügend gut.« Die Heka Chasut hatten ihren Gott mitgebracht und ihn mit Seth verschmolzen, einem alten Gott der Rômet. Seth, bedeutungsähnlich dem Baal der braunhäutigen und hakennasigen Einwanderer, der feindliche Götterbruder des Osiris, war der Gott mit den größten Tempeln des besetzten Staatsgebietes. In Per-Hathor, südlich No-Amûns, stand der große Seth-Tempel mit der einflußreichsten Priesterschaft; eine Enklave der Heka Chasut, tausend Chen-Nub von Nai-Ta-Hut entfernt. Seit Tagen schwebte im Schutz eines winzigen Deflektorschirms eine Sonde zwischen den Standbildern der fremden Herrscher, die prachtvolle Löwenmähnen trugen; es schien, als ob die Bildnisse des Osiris-Bruders den größten Teil des Hapilandes regierten, von der Stromschnelle bis zur Hapimündung. Iken-Sheshu, der Oberste Opferpriester, ein kahlgeschorener, von Macht erfüllter Pragmatiker – das war unsere Meinung über ihn –, schien eine Maske großer Vollkommenheit zu tragen. Nur Ptah und ich waren überzeugender. Er täuschte jeden und alle und bis zu einem bestimmten Punkt sicher auch sich selbst. Das Orakel des Seth sollte die Macht der Priester und des Staates mehren und festigen; als Mann, mit dem der
Gott sprach, verbog er die Wahrheit, formte sie und wendete sie nach seinen Überlegungen an. Iken-Sheshu, am Tag der Askese unterworfen, nachts weder den Freuden des Fleisches noch des Weines oder gut vergorenen Bieres abhold, trug das handgroße Zeichen seines Gottes eine Handbreit über dem Nabel. Es verdeckte die dicke Schicht des sandfarbenen Hautleidens vollkommen. In jener Nacht, als an anderen Orten des Landes seltsame Ereignisse stattfanden, lagerte Iken-Sheshu in seinem Sessel, den vier Lagen Schaffelle weicher machten. Vor seinen Knien kauerte eine hellhäutige Sklavin, die ein Handelskapitän auf Keftiu, der nördlichen Insel im Großen Grünen, gekauft hatte; die anderen Priester wußten, daß sie in sieben Nächten jeden Mondes die Nachtstunden des Obersten Opferpriesters verschönte. Drei Männer, darunter ein Priester aus Djanet, saßen vor Iken und tranken kaltes, stark gesüßtes Henket. Iken hob die linke Hand. Mit der Rechten streichelte er den Nacken der Frau. Die Priester blickten seinen hohen, haarlosen Schädel und die weißen Brauen an; wenn Iken sprach, duldete er keinen Widerspruch. »Der Mann, der auf Sekenen-Rê folgen soll, wird ebenso scheitern wie viele vor ihm.« »Seth hat es nicht geschafft, die vielen kleinen Kriegszüge zu verhindern.« Die Priester verstanden, daß Iken auf die Versuche der Rômet anspielte, aus einzelnen Gauen die Heka Chasut zu vertreiben. Der Priester aus Djanet sprach weiter. »Wir sind deswegen in großer Sorge.« »Erst Sorgen machen das Leben lebenswert.« Ikens Finger glitten über die Knöchelchen des Rückgrats seiner Sklavin. »Daß einzelne unbedeutende Schlachten verloren werden, dabei sieht Seth ruhig zu. In unergründlich tiefer Weisheit sagt er, daß verlorene Scharmützel kein verlorener Krieg sind.« Ikens Unruhe wuchs; das Jucken und Stechen der Hautver-
dickung unter dem Seth-Zeichen wurde stärker und begann zu schmerzen. Der Mond taumelte zwischen den Säulen zu den Sternen hinauf. Einer der jungen Priester sagte: »Die Heka Chasut haben gute, neue Waffen und benutzen sie.« »Du meinst Bronzewaffen, zusammengesetzte Bogen und längere Pfeile. Mit größerer Wucht angreifen und treffen. Schneller töten. Ich weiß. Die Kraft eines Bogens ist aber unbedeutend gegen wahre Festigkeit im Glauben.« »Von ihnen haben wir die Pferdezucht gelernt, obwohl hier im Süden die Tiere nicht gut gedeihen. Und wir lernten das Kämpfen mit den leichten Wagen. Der Gott, sagst du, kennt weder Rômet noch Heka Chasut, sondern nur Gläubige, die es entlang des Hapi in reicher Zahl gibt. Ich weiß es.« Iken-Sheshu trank einen tiefen Schluck. Das starke Bier half nicht gegen die Schmerzen. Er wußte, daß seine Antworten wichtig waren für den Glauben der anderen; aber er hatte von dem fremden Arzt, dem Heiler der Haut, und dessen erstaunlichen Erfolgen gehört und einen Boten zu ihm geschickt. »Die Fremden, zu denen gewissermaßen auch ich zähle, haben dieses herrliche Land in mancherlei Hinsicht weitergebracht. Kühnes Denken kam hierher, aber die Meinung, sie seien allen anderen Völkern überlegen, änderten die Rômet rasch. Die Heka Chasut machten aus dem Verlust einen Gewinn und leben daher in Frieden mit den östlichen Nachbarn, im Asmach.« »Das ist die Wahrheit.« Die Priester nickten heftig. Obwohl Ikens Finger die Brust der Frau umklammerten, war die Geste völlig unbedeutend. Von seiner Brust strahlte stechender Schmerz aus und verkrampfte die Muskeln. Er holte tief Luft und zwang sich, langsam zu sprechen. »Geht in eure Zimmer! Bei Sonnenaufgang wird Seth wieder sprechen. Ich werde euch sagen, welcher Sinn über den nächs-
ten Jahren liegt, nach dem Willen unseres Herrschers.« Die Priester leerten die Schalen und standen auf. Iken hoffte, daß der Schmerz bald aufhören würde. Er ließ die Sklavin los; sie taumelte und kippte gegen den Tisch. Iken kam schwankend auf die Füße und stöhnte. Gräßlicher Schmerz zuckte wie Dolchschneiden durch seine Brust. Er rang nach Atem, seine Arme fuhren ziellos durch die Luft; er stieß einen würgenden Schrei aus und brach auf die Knie. Die Kraft verließ ihn, ein Krampf krümmte seinen Körper und schlug den Kopf gegen den Steinboden. Die namenlose Sklavin wimmerte. »Herr! Was ist mit dir…?« Iken-Sheshu spürte, wie sich von seiner Hautverdickung aus weißglühende Schmerzstrahlen durch seinen Körper bohrten. Seine Gedanken verwirrten sich; er versuchte, mit den Fingern den Hautlappen loszureißen. Er brachte es fertig, wegzukriechen, die Schmerzen ließen ihn halb besinnungslos handeln, er spürte, wie Wahnsinn in sein Hirn sickerte und alle seine Sinne mehr und mehr verwirrte. Er kroch wie eine Natter über den Boden, ächzte und stöhnte: Er erkannte, daß er heute für lange Jahre der Macht und Hellsichtigkeit, der Intelligenz und Rücksichtslosigkeit zahlte – aber WARUM? Er schrie wie ein Sterbendes Tier. »Nein! Noch nicht! Nicht heute nacht!« Seinen Schrei hörten alle Menschen zwischen den Mauern des Tempels und in den Handwerkerhäusern jenseits der Gärten. Niemand außer der Sklavin wußte, wer schrie. Der Körper des Obersten Priesters krümmte sich, rollte über die Bodenplatten, und das Schmuckstück gab bei jeder Drehung ein lautes Klirren von sich. Mit würgendem Gurgeln starb Iken. Eine unsichtbare Faust hielt den Schlag seines Herzens auf. Der Fleck auf seiner Brust verfärbte sich, wurde hellbraun, gelb und aschfarben, löste sich an den Rändern von der schweißnassen Haut und zitterte. Ikens Körper streckte sich und blieb
regungslos ausgestreckt auf der mondhellen Terrasse liegen. Der Logiksektor sagte: Sterbend nahm der Parasit seinen Träger mit sich in den Tod. Seths Großer Tempel verlor seinen Höchsten Priester. Ein Spielzug war ohne den Spieler durchgeführt worden. Um eine Winzigkeit verschoben sich an unbedeutender Stelle die Machtverhältnisse, aber Iken-Sheshus Nachfolger würde nicht die Hilfe des Parasiten haben. Ptah-Sokar zügelte das Gespann, beugte sich zu einem Diener hinunter und winkte uns. Langsam fuhren Ta-Bnona und ich näher an den Kraterrand heran. Die weit verstreuten Trümmer, halbgeschmolzener Sand und ein Trichter, etwa ein halbes Chen-Nub im Durchmesser, schienen unter der Mittagssonne zu schmelzen. »Auch ich erkenn’s in kleinen Schritten!« rief er uns zu. »Einst waren die Heka Chasut wilde, entschlossene Nomaden, die in dieses Land eindrangen und das Leben im Reichtum und, bei Hofe, im goldenen Überfluß kennenlernten. Nach zweihundert Sommern gab es sie nicht mehr; sie vermischten sich mit den Rômet, übernahmen Sitten und Gebräuche und erlagen dem Einfluß der uralten Kultur.« Langsam umrundeten wir auf der Fläche des hartgeriffelten Sandes, aus dem wenige kümmerliche Grashalme hervorsahen, den Trichter. Unter den Felgen aus Arkonstahl knirschten Steinsplitter, die von der Detonation weit verstreut worden waren. Ich antwortete: »Das siehst du richtig, Ptah. Aber die Fremden sitzen, sich ihrer Herkunft wohl bewußt, auf den Thronen der Gottkönige.« »Auf Thronen, von kunstvollen Rômet im ewigen Stil des Großen Hauses geschnitzt.« »Ich glaube, daß die Heka Chasut nur ein Kapitel einer lan-
gen Geschichte bleiben werden.« Ta-Bnona deutete auf Mauerreste. »Hier hab’ ich die Pferde angebunden.« Wir sahen die Spuren in greller Deutlichkeit. Die Detonation hatte die ober- und unterirdische Anlage so stark zerstört, daß ich, um die Reste zu finden, jahrelang würde graben müssen. Wir verließen die Wagen und versanken bis zu den Knöcheln im weichen Sand. Nur noch die Prozessionsstraße war in ihrer Länge zu erkennen. Am Boden des Kraters sahen wir die Reste dicker runder Säulen aus geschwärztem, halb verglastem Sandstein. Vor meiner Sandale steckte eine Feder im Sand; vielleicht aus der gekappten Schwinge des Falken, von dem Zakanza und Bnona berichtet hatten. Ptah sagte mit rauher Stimme: »Zakanza starb schnell wie im Blitz. Ein Tod, um den ich ihn beneide.« »Nicht nur du. Wir werden oft wünschen, ihn bei uns zu haben.« »Hätte er nur auf uns gewartet.« Ptah wandte sich ab. »Der Spieler starb. Wenn ich richtig gezählt habe: noch achtzehn Parasiten.« Wir knoteten die Zügel auf und fuhren in drei Etappen zurück zu Ptahs kleinem Palast. Bevor ich zu Nefret-Iunit ging, führte ein Diener einen Boten heran, der mich verschwörerisch anstarrte und flüsterte: »Herr! Bist du Atlan-Aakener, der Heiler der Haut?« Ptah und Ta-Bnona entfernten sich. Die Botschaft schien nur für mich bestimmt zu sein. Der Logiksektor sagte: Sieh genau hin, Atlan, antworte nichts Falsches. Der Bote ist hoher Würdenträger. »Du hast mich erkannt.« Ich nickte. »Ich heile die Haut von Rômet und auch von Heka Chasut.« Fingernägel und Hände des Boten zeugten nicht von harter Arbeit, seine Haut war ohne Narben; für einen Boten war er zu wohlgenährt. Als ich den Golddraht seiner zerrissenen Sanda-
len bemerkte, blickte er verlegen zur Seite und murmelte: »Du weißt, daß Iken-Sheshu, der Hohe Opferpriester, nach dir schickte, ehe er schreiend starb?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihn sterben gesehen, aber mehr wußte ich nicht. »Ich weiß es nicht. Wann starb er?« »Am vierzehnten Phamenat, in der Nacht. Der Priester schickte den Boten zu dir nach Djanet; denn, wie es die Priester halten seit Ewigkeiten, wissen sie mehr als wir gewöhnlichen Menschen.« Iken-Sheshu war in derselben Nacht gestorben, in der Ptah und Iunit meinen Parasiten entfernt und vernichtet hatten. Leise sprach der Bote weiter. »Vielleicht ist es bis an deine Ohren gedrungen, AtlanAakener, daß in Nechen der Rômet-Gottkönig Sekenen-Rê herrscht, er lebe ewig und ewiglich, obwohl das Mündungsgebiet und der Süden noch Gegenherrschern gehorchen?« »Das weiß ich, aber es bedeutet wenig für meine Kunst. Tiefer Schmerz und elendes Leiden sind in allen Windrichtungen gleich groß.« »Kluge, klangvolle Worte.« Er lächelte gequält. »Der Gottherrscher wünscht dich zu sehen. Aja-Nefer, die Herrin seines Herzens, ist krank und spricht verwirrte Dinge.« »Man nennt mich zu Recht den Heiler der Haut, nicht des Herzens oder des Kopfes.« »Aus diesem Grund will er dich vor seinem göttlichen Angesicht sehen.« Offensichtlich hatte ich einen neuen Parasiten gefunden. Ich legte dem Boten die Hand auf die Schulter und merkte, wie er schlagartig an Selbstbewußtsein gewann. »Ich komme nach Nechen, so rasch ich kann. Die Krankheit verläuft unendlich langsam; übertriebene Eile schadet nur – wenn es sich um jene Krankheit handelt, die wir meinen. Sag
deinem Herrscher, ich fühle mich durch seine Bitte geehrt und werde, wenn ich es vermag, Aja-Nefer heilen.« »Wie lange wirst du ihn warten lassen?« »In Nai-Ta-Hut warten viele Kranke auf Heilung. Bis ich daran denken kann, mit all meinen Salbentöpfen südwärts zu fahren, vergeht noch einige Zeit. Heile ich die Würdenträger hierorts nicht, werden sie mich hassen, verfolgen und strafen; wer mag das schon? Noch zollen Nechen und das Land um No-Amûn dem Mündungsland Tribut, Bote mit den goldenen Sandalen. Sag dies deinem Herrscher, aber sag ihm auch, daß ich eilends komme, sobald ich jeden geheilt habe. Ich schwöre, bei Osiris, Seth und Re-Harachte. Zufrieden?« »Die Zufriedenheit meines Herrn, nicht meine, ist wichtig.« Er machte eine geringschätzige Handbewegung und murmelte, auf Vornehmheit bedacht: »Widerstrebend gebe ich zu, daß deine Sorgen nicht unberechtigt scheinen. Danke, daß du zugehört, entschieden und versprochen hast.« »Ich höre jedem zu, dessen Rede von Wichtigkeit strotzt«, sagte ich und verbeugte mich. Der Bote trottete davon. Wenig später sah ich ihn in einem Wagen nach Süden fahren, dessen goldene Verzierungen rußgeschwärzt waren; ein Gespann ohne Wimpel, aber mit kostbarem Leder der Zügel und Riemen. Ich blickte ihm lange nach; immerhin hatte er sich über die schwer zu kennzeichnende Linie gewagt, die das Machtgebiet des Mündungsdreiecks nach Süden abgrenzte. Gärte es etwa im Land? Wenn es so war, wurde es sorgfältig verborgen und war nur den Mächtigen bekannt. Jemand berührte meinen Arm. Ich drehte mich um und blickte in Ta-Bnonas Gesicht. »Was sagt der Bote?« »Nichts anderes, als daß sich mein Ruf bis nach No-Amûn und Nechen verbreitet hat. Uns sichert dieser Befehl Freizügigkeit entlang des ganzen Stromes zu.« »Jeder in der Stadt und weit hinaus ins Land«, sagte sie leise,
»hat von dir gehört, von deinen Heilungen, und jeder spricht vom Vater der Salben und dem Heiler der Haut, überall.« »Wie schön.« Ich zuckte mit den Achseln. »Es ändert nichts daran, daß ich eben den Boten des Gottherrschers aus dem Süden belogen habe.« Wir gingen durch den kühlen Garten zurück zum Seitenflügel des bescheidenen Palastes. Ta-Bnona verschwand in einem dämmerigen Korridor. Ptah lehnte an einer Säule und säuberte mit der Dolchspitze seine Fingernägel. Er deutete mit der Waffe auf meine Brust. »Du bist zu einer wichtigen Person im Hapiland geworden, Atlan?« Ich berichtete, was der Bote erzählt hatte. Er grinste verzweifelt, als er erkannte, was den Priester umgebracht hatte und welche Folgerungen wir daraus zu ziehen hatten. Plötzlich hob er den Kopf und schnippte mit den Fingern. »Zakanza hat die Steuerung vieler, wenn nicht aller Parasiten in der Höhle vernichtet. Den Steuermann, den Spieler.« »Es werden immer weniger. Vielleicht ist unsere Aufgabe schon in einem Mond beendet, und wir müssen wieder zurück ins Schlafgefängnis und zu unseren Träumen. Und unsere Erinnerungen werden gelöscht.« »Auch die Erinnerung an Zakanza«, sagte er. »Ein Bote aus dem Süden. Jetzt fehlt nur noch ein Bote aus dem Herrscherhaus von Djanet.« »An diesen Zufall vermag ich nicht zu glauben«, widersprach ich. »Alle Kranken sind versorgt, der Tag neigt sich; ich bin, wie jede Nacht, bei Nefret-Iunit zu finden, mein Freund.« »Ich weiß. Ich wünsche Stunden, die dir nicht zu lang werden.« Ich faßte ihn an den Schultern und sagte eindringlich: »Manchmal grabe ich, ohne rechten Erfolg, in meinen Erinnerungen. Vielleicht hilft mir das eine oder andere kluge Wort
von dir, Ptah; wir sind nicht mehr drei, nur zwei Fremde im Hapiland: wem, welcher Frau deiner Erinnerungen aus ferner Vergangenheit, ähnelt Nefret-Iunit? Manchmal glaube ich fest, ich würde Iunit so lange und gut kennen wie dich. Weißt du’s?« Er blickte einer trippelnden Wachtel mit ihren sieben Küken nach, die zum Kanalrand eilten, dann brummte er: »Drei Namen merke ich mir, wenn ich von meinen Träumen träume. Merire-Chemsit, Tatimar, Ne-Tefnacht. Aber die Bilder zerfließen wie im wirren Spiegel fließenden Wassers. Ich weiß es nicht. Grabe selbst, Atlan, und vielleicht findest du heraus, an wen sie dich erinnert.« Er schlug mir kräftig auf die Schulter und schob mich in die Richtung des Gartenweges, der hinaufführte zu Nefret-Iunits Haus. Der Nachtwind war nur ein Hauch; dennoch hörten wir die Bewegung Hunderttausender Sandkörner, die über den flachen Hang der Düne raschelten. In kleinen Gruben brannten, fast reglos, drei Öllämpchen. Weinschalen, Krüge, Tücher und unsere Kleidung lagen neben dem gestickten Saum meines weißen Mantels, und unsere Körper hatten rundliche Vertiefungen in den Sand gedrückt. Der Mond zwischen strahlenden Sternen war eine fadendünne Sichel und glich nicht mehr der Nachtbarke des Chons. Nefret-Iunit hob den Arm und deutete auf winzige Lichter jenseits von Ptahs Behausung, zwischen den Handwerkerhäusern und dem Schilf der Kanalböschung. »Nicht jeder schläft, Atlan«, flüsterte sie. »In zwei Stunden ist der Dünensand kalt, und die Nachttiere kriechen und rennen umher.« Ich lag auf dem Rücken, ihren Kopf an meiner rechten Schulter, und starrte in die Sterne. Ein Meteorit zog seine Spur lautlos über fast zwei Drittel des Firmaments. Seit ein paar Jahr-
tausenden starrte ich in dieselben Sterne, und nur der Zirkumpolarstern schien sich bewegt zu haben. Land am Hapi. Meni-Narmer. Seine Schwester Nefermeryt, die Einzigartige, Unvergeßliche. Und nach einer Ewigkeit eine Frau, die ihre Zwillingsschwester hätte sein können: Ne-Tefnacht, die mein Herz und meine tiefe Liebe in kleinen Schritten erobert und diese Festung bis heute gehalten hatte, die Gefährtin vieler Abenteuer und der langen, durstigen Fahrt nach Punt. Ich drehte träge den Kopf und sah in Nefret-Iunits Augen – und der Schock der Erkenntnis, wie ein Blitzeinschlag neben meiner Schulter, ließ mich erschrecken, zusammenzucken; meine Zähne schlugen aufeinander, der Extrasinn brüllte etwas, das ich nicht verstand – mir war, als könne ich durch ihre Augen, über einen Abgrund von Zeit und Entfernung, angefüllt mit Tausenden quirlender Bilder, weit in die Erinnerung schauen. Und dort sah ich Ne-Tefnacht. Ne-Tefnacht! Traum im Wachen, Traum innerhalb von Träumen; ich stützte mich auf den Ellbogen hoch und flüsterte: »Du bist nicht Nefret-Iunit.« Sie schwieg lange, dann murmelte sie: »Die wahre Wirklichkeit hier und heute ist, daß ich NefretIunit bin, die Frau mit dem Parasiten. Im Halbschlaf, im Halbtraum, sah ich mich, bevor du kamst, an deiner Seite. Als ich Ptah traf, war mir, als würde ich ihn seit langen Jahren kennen. Ich träume von Höhlen voller Gelächter, hellrotem Wein, Schwimmen im Meer, von Zakanza, Ptah und natürlich von dir, von deinem Freund, der alles weiß und kann und aussieht wie ein Rômet, der er nicht sein kann – aber hier und jetzt bin ich Nefret-Iunit, Liebster.« »Du bist Ne-Tefnacht«, widersprach ich. Der Logiksektor meinte in verständlicher Lautstärke: Wie ein Bohrer, der sich durch planetare Schichtungen wühlt, hast du einen festen Punkt der
Erinnerungen erreicht. Tatimar? Merire-Chemsit? Ne-Tefnacht. Erschrecke sie nicht, Arkonide! Ich blieb starr liegen, meine Finger glitten über ihre Haut, die rauh geworden war, aber nicht wegen der nächtlichen Kühle, die vom Hapi heraufkroch. Dann sagte ich: »Heute bist du Nefret-Iunit. Damals warst du Ne-Tefnacht. Du hast eineinhalb Jahrhunderte in meinem kalten Palast der Erinnerungen geschlafen. Und heute bist du hier, und ich werde dich nicht mehr mit meinen Reden verwirren, die allesamt aus meiner Verwirrnis stammen.« ES, dachte ich; ES, der dämonisch die Erinnerungen manipuliert; ich vermochte nicht einzusehen. zu welchem Zweck. Daß ich Ne-Tefnacht hier traf, blieb unwichtig, aber warum war sie Trägerin eines Parasiten geworden? Zufällig oder geplant? Ich zwang mich, sie in die Arme zu nehmen, zu küssen und die hundert Fragen erst später zu stellen. Weit nach Mitternacht, in die weiten Mäntel gehüllt, gingen wir barfuß durch kalten Sand zum Haus, wuschen uns im Teich und wurden von einer Sklavin geweckt, die einen Boten anmeldete. Haakenen RêApophis war krank und brauchte meine Hilfe. Ganz unvermittelt, während der Fahrt zurück nach Djanet, gewann die Umgebung für mich eine andere Bedeutung. Viele Erinnerungen ans Land Amenti waren unüberdeckbar und unauslöschlich in meinem Gedächtnis verankert, ganz besonders die einzigartige Zeit mit Meni-Narmer und seiner Schwester Nefermeryt. Je mehr Palmen, Tamarisken, Rizinusund Binsenwälder, Tempel, Dünen und Gutshöfe ich sah, desto nichtssagender wurden die altvertrauten Formen und Farben. Auf allem lag kein verklärender Schimmer mehr; ich kannte die Stimmung, die mich zu befallen drohte. Die Pferde beider Gespanne gingen im leichten Trab. Ich begann mich vor einer unbekannten Gefahr zu fürchten, es war, als schöben
sich Filter vor die Bilder und die Geräusche. Furcht gehörte zu meinem hohen Überlebenspotential: In dieser Gemütsempfindung lag, unerkannt, ein tiefer Sinn. Der Logiksektor sagte unaufdringlich: Nichts bedroht dein Leben, Atlan! Die Bedeutung ist höherwertig. Welche Bedeutung? Die schwerbepackten Wagen rasselten nordwärts, fast immer entlang des Hapiufers. Die schmale Straße war frei. Scheinbar tiefe Ruhe, die in Wirklichkeit harte Arbeit von Bauern und Hirten war, breitete sich aus. Ich zog am Zügel, hob den Arm und drehte mich zu Ptah um. »Ich hab’ lange nachgedacht. In den nächsten Jahren wird sich vieles ändern im Hapiland. Jemand wird aufstehen im Reich und wieder einmal Kush und Wawat bekriegen, und dann wird er gegen die Heka Chasut ziehen.« »Sicherlich nicht bald und schon gar nicht gleichzeitig«, entgegnete Ptah. Sein braunes Gesicht glänzte schweißübergossen in der Sonne des späten Morgens. »Ein Menschenalter oder zwei wird es dauern. Wir erleben es nicht mehr mit, behaupte ich.« »Zum Glück.« Ich hatte lange mit Rico gesprochen, hauptsächlich wegen meines wahrgewordenen Traums: NeTefnacht. Uns war eingefallen, wie wir etwas gegen die Willkür von ES unternehmen konnten; ob er unser Tun durchschaute, blieb abzuwarten. »Mich befällt ein Gefühl großen Überdrusses. Amenti ist jetzt, obwohl es nicht ärmer geworden ist, kein gutes Land.« »Obwohl es uns gut ergeht.« Wir wichen einer Gruppe Fischer aus, die ihren Fang in großen Körben wegtrugen. »Aber noch wartet viel Arbeit auf uns.« Die ausgeruhten Pferde zogen die Wagen ohne Mühe weiter. Die Hufe klapperten, die Felgen knirschten, und aus den Achslagern tropfte Hundefett. Bauern, Schlamm und schier endlose Kornfelder und Viehweiden, dahinter unermeßliche
Massen Sand waren die einzigen Dinge im Land, die jedes Leben diktierten. Kurz vor der Abzweigung nach Pa-Beseth stießen wir auf eine wartende Gruppe Wagenkämpfer der Heka Chasut. Der Anführer, dessen Haupthaar einer schwarzen Löwenmähne ähnelte, hob den Speer und rief: »Bleibt stehen! Oder kehrt um. Der Herrscher eilt euch in einem Schiff entgegen – er liegt auf den Tod darnieder!« Ich fuhr heran und hielt das Gespann an. »Mann der Waffen«, sagte ich. »Ich bin nicht Seths Bruder. Meine Sache sind gewisse Verdickungen auf der Haut von Menschen.« »Das Leben des Herrschers ist nun auch deine Sache, Herr.« Der Anführer im ledernen Panzer strich Sand aus seinem gekräuselten Haarschopf. »Auch er leidet unter der Verdickung seiner Haut, so wurde mir gesagt.« Ich sah mich um. Zehn Chen-Nub entfernt lag ein geräumiger Gutshof im Geviert der Flutmauern. »Es muß wohl schnell gehandelt werden.« Ein Parasit auf der Haut von Haakenen Rê-Apophis! Der Mann, der auf dem Thron von Djanet saß, litt unter einem Parasiten, der das Ende des Spielers nicht überstanden hatte! Ich deutete auf PtahSokar. »Wenn das Boot groß genug ist, kann ich den Herrscher dort behandeln. Aber der meiste Teil der Ausrüstung ist in Nai-Ta-Hut, im Haus meines Freundes.« »Wir holen sie, wenn es sein muß.« »Das Schiff ist schon auf dem Weg hierher?« fragte ich. Langsam wendete Ptah seinen Wagen; ich rechnete kurz nach. Wenn die Gespannführer die Pferde wechselten, konnten sie in der frühen Nacht hiersein. »Herr«, sagte der Anführer, »der Schnellruderer ist längst an Nai-Ta-Hut vorbei. Sie rudern gegen die Strömung.« »Ich fahre mit euch«, sagte Ptah. »Ihr sorgt für frische Pferde.
Los! Ich weiß, was Atlan-Aakener braucht.« Fünf Gespanne fuhren an mir vorbei. Die Lenker und Bogenschützen grüßten. Ich rief Ptah hinterher: »Du weißt, was ich brauche! Wahrscheinlich bin ich in einem Gutshof in der Nähe des Flusses. Ich versuche, den Herrscher zu retten.« Aus jedem Wagen stieg ein Mann aus. Der Anführer rief eine Reihe lauter Befehle. Ich konnte mich auf Ptah verlassen, der mit dem Löwenmähnigen sprach und dann die Zügel auf die Rücken der Pferde klatschte. Die Gespanne rasten hinter Ptah her nach Nordost. Die übriggebliebenen Krieger kletterten in die anderen Wagen und fuhren vor mir her. Wir hatten zwischen der Oberfläche des Kanals oder des östlichen Mündungsarms nur die Barrieren der Schilfbereiche. Schon immer war das Netz rennender und paddelnder Boten im Rômetreich hervorragend und schnell gewesen; die Soldaten hätten uns sonst erst in Ptahs Palast gefunden. Eine Stunde später fragte ich: »Weißt du, wann wir das Schiff treffen werden?« »Nördlich von Iunu, Neb!« Schon jetzt zeichneten breite Schweißstreifen das staubige Fell der Tiere. Knapp eine Stunde lang galoppierten wir weiter, bis das erste Gespann scharf nach rechts abbog und über einen staubigen Feldweg auf einen Bauernhof zurasselte. Während wir uns flüchtig wuschen, kalten Kräutersud hinunterschütteten und die Pferde gegen frische Tiere ausgetauscht wurden, sprach ich mit Senusret, dem Anführer. »Weißt du, wie krank Haakenen Rê-Apophis ist?« »Nicht genau. Die Ärzte sagen: Das Stück Haut, das er liebte, ist alt und schrumplig geworden und vergiftet seinen königlichen Leib. Auch er ist nicht mehr der Jüngste.« Bisher hatten die Befallenen ihre »Hautkrankheit« keineswegs geliebt, weil sie diesen Umstand nicht mit der Mehrung
ihres Wissens und Könnens gleichgesetzt hatten. War es denkbar, daß der fremde Herrscher wußte, was dieses kleine Übel wirklich bedeutete? Was immer er dachte: Ich würde ihn operieren müssen. Als die frischen Pferde eingeschirrt waren, galoppierten wir weiter und hielten Ausschau nach dem Schnellruderer. Wir fuhren den ganzen Tag, durch den Abend und in die Nacht hinein. Nur einige Lagerfeuer sowie die Lichter von Tempelanlagen, Fackeln und Mondlicht zeigten uns den Weg. Ein Pferd strauchelte und brach sich die Fessel; es wurde ausgeschirrt, getötet, ein anderes eingeschirrt. Noch immer sahen wir nur Schilf und aufflatternde Wasservögel, aber nicht das Schiff. Beim nächsten Pferdewechsel schliefen wir zwei Stunden, taumelten zu den Wagen und galoppierten weiter. Vier Stunden nach Mitternacht erkannten wir in der Biegung des Mündungsarms, weit südlich von Nai-Ta-Hut, das Schiff und dessen Spiegelung im schwarzen Wasser. Es gab keinen Wind, die Ruderer arbeiteten wie die Besessenen; lodernde Fackeln an Bug und Heck schleppten brodelnde Rauchfahnen hinter sich her. In schnellem Gleichmaß hoben und senkten sich die langen Riemen und rissen die schmale Barke vorwärts. Der Lotse im Bug rief die Tiefe aus. Die Gespanne fuhren schwankend bis zur Kante des lehmigen Ufers, das wir zwischen dem Schilf erkannten. Senusret, graugesichtig und mit blutunterlaufenen Augen wie wir alle, brüllte zu den Steuermännern des Schnellruderers hinüber. Ich stieg mit weichen Knien aus dem Wagenkorb. Die Barke änderte die Richtung und glitt bis zum sumpfigen Stück des Ufers. Taue wurden an Land geschleudert, eine Planke klatschte in den Morast. Ich ging an Bord. Der Gestank schwitzender Rudersoldaten empfing mich – und als ich die Zeltwände des geschlossenen Deckshauses sah, kam der Eindruck von Verzweiflung und nahem Tod hinzu. Langsam
wurden die Seitenwände hochgezogen und zusammengerollt. Haakenen Rê-Apophis lag auf einem schmalen Prunkbett im Licht vieler Öllämpchen. Er war nur noch ein Schatten jenes Mannes, der uns in Djanet empfangen hatte, ausgezehrter als der alte Heerführer. Der muffige Dunst aus den Decken und Tüchern mischte sich mit dem Schweißgestank der Ruderer, mit Knoblauch und sauer gewordenem Bier. Der Herrscher starrte mich aus übergroß wirkenden Augen an. Ich blieb, staubbedeckt und müde, mit schmerzenden Muskeln am Fußende des Lagers stehen. »Du siehst wenig gesund aus, Herrscher«, sagte ich leise. »Wo klebt die Haut, die du so geliebt hast?« Bösartig summende Fliegen und Mücken umschwirrten ihn. Zwei Sklaven wedelten mit Palmblättern durch die Luft über seinem Kopf. Ich knotete meinen Brustschmuck los; die Greisenstimme krächzte: »Unter der Schulter, über dem Gürtel, an der Knochensäule.« »Das Amulett wird dir helfen.« Ich winkte den Kriegern, die mich begleitet hatten. »Drei, vier Chen-Nub entfernt, Herrscher, sah ich ein Bauernhaus. Dorthin lasse ich dich tragen. Hier ist wenig Platz, das Schiff schwankt, und deine Ruderer stinken ärger als der Sud im Kielraum.« »Muß ich sterben? Wartet die Totenbarke?« Er flüsterte. »Deine Krieger holen Salben, Binden und magische Instrumente.« Nach und nach kamen die Männer, die sich im Fluß abgekühlt und gewaschen hatten, an Deck und versammelten sich schweigend um das Lager des Herrschers. »Die Verformung der Haut wird dich nicht töten. Du stirbst, wenn du nicht mehr länger leben willst. Obwohl du mich hättest früher rufen sollen – ich werde versuchen, dich zu retten.« Auch die Pferde soffen gierig. Wir fuhren mit knisternden Fackeln auf einem gewundenen Weg zum Bauernhof. Behutsam wurde der Herrscher mitsamt seinem Lager hinter uns
hergeschleppt. Ein Bogenschütze kannte den Bewohner des Hauses; es war ein Wasserverwalter, der sofort seine aufgeregten Diener weckte und Feuer machen ließ. Eine Stunde lang herrschte unbeschreibliches Durcheinander, in dem ich versuchte, im größten Raum meine Ausrüstung auszubreiten und einen Platz für den Kranken zu finden. Der Verwalter ließ alle Öllampen anzünden, vom Schiff brachte man mehr Lampen und Öl. Ich gähnte und fühlte meine Müdigkeit, aber die Operation würde nicht schwieriger sein als jede andere. Ich lud die Hochdruckspritze mit einem mittelstarken Betäubungsmittel, fügte ein Breitband-Aufbaupräparat hinzu und aß, während ich wartete. Sie brachten Haakenen-Rê. Der Körper wog nicht viel, und auf dem letzten Stück des Weges hatten die Soldaten Tücher und Gurte zwischen die Speere geknotet und ihn wie in einer Hängematte geschleppt. Die Operation war offensichtlich geheimgehalten worden, denn kein Mitglied des Hofstaats begleitete den Herrscher. Wir betteten den Körper auf das weiße Leinen. Als ich das dünne Kleidungsstück vom Rücken schnitt, sah ich sofort den kranken Symbionten. Er sah aus wie jener Zellverband, der beinahe den Tod des Chayan verschuldet hatte. Ich drängte alle Diener, Soldaten und Träger hinaus und packte Senusret am Arm. »Du wirst mir helfen.« »Ich tu’, was ich kann, Arzt.« Er zögerte und bewegte hilflos die Finger. »Aber ich weiß wirklich nicht, wie…« »Du sollst nur Binden halten, mir gehorchen und den Schweiß abwischen«, sagte ich und setzte die Spritze am Gesäß des Herrschers an. »In zwei Stunden ist alles vorbei. Er wird dich mit Ehrungen überhäufen.« Als Haakenen sich entspannt hatte und ruhig atmete, begann ich mit der Operation. Wir brauchten drei Stunden, bis zum Morgengrauen, bis wir den Parasiten vom Rücken des Herrschers heruntergebrannt und weggerissen hatten. Schließlich
kippte ich die zuckenden, summenden Reste der Riesenzelle in die rote Glut. Wir strichen Salbe auf, legten reinen Stoff darüber, umwickelten den Körper mit breiten Binden und trugen ihn in den Schlafraum. Ich knotete meinen Zellaktivator um und wankte hinaus in den Hof; dort wickelte ich mich in den Mantel und schlief, bis Ptah-Sokar in den Hof einfuhr. Einige Tage lang fütterten wir Haakenen-Rê mit ausgesucht nahrhaftem Brei und Suppen, ließen ihn im Schatten schlafen und erholten uns selbst. Häufig legte ich den Zellaktivator auf Haakenens eingefallene Brust; schließlich hatte er sich genügend erholt. Ich setzte mich zu ihm und sagte: »Du hast angeblich gesagt, daß es eine Zeit gab, in der du diesen Hautlappen liebgewonnen hattest? Trifft das zu?« »Du hast recht, Arzt.« Er nickte zögernd. Seine Augen waren wieder klar, die Verfärbung der Lider und Tränensäcke verschwunden, die Haut straffte sich und glühte nur manchmal im leichten Fieber. »Nunmehr weiß ich, daß diese Haut mein Leben verändert hat. Als ich eines Morgens wach wurde, ich hatte bei einer Frau gelegen, besaß ich diese Haut und wurde klüger und mächtiger von Tag zu Tag. Nicht stärker. Ich blieb stets ein mittelmäßiger Gespannführer, Bogenschütze oder Läufer.« Sein Blick glitt an einer Dattelpalme hinauf und kehrte zu meinem Gesicht zurück. »Meine Klugheit wuchs – und siehe, eines Tages saß ich auf dem Thron.« »Beinahe wärst du auf dem Prunkbett gestorben. Diese Haut kann von Mensch zu Mensch wandern. Der Weg deines Schützlings endete im Feuer.« »Er wurde böse!« »Du wirst deine Gesundheit und deine Klugheit behalten«, sagte ich. »Auch deine Gegner haben nun nicht mehr den Vorteil, klüger zu sein.« Er begriff schnell und richtete sich auf. »Redest du dich um deinen Kopf, Neb Arzt? Willst du sagen,
daß die Herrscher im Süden auch solche Helfer haben?« »Ja. Ich habe viele Angehörige der Rômet unter dem Messer gehabt. Keiner hat klar erkannt, daß seine Klugheit etwas mit dem Hautlappen zu tun hatte.« »Also nicht nur die Heka Chasut!« Er ächzte. »Wer hat die Pest dieser Klugheit über die Menschen gebracht?« »Ich weiß es nicht.« »Weißt du, wie viele Menschen befallen sind?« Er war stark beunruhigt; er wußte, daß die Angehörigen der Großen Alten Geschlechter die Heka Chasut vertreiben wollten. Sie waren stark, saßen fest auf den Thronen der Städte und erwarteten Angriffe aus dem Süden. Vielleicht nur Nadelstiche, die prüfen sollten, wie stark der Gegner an anderen Ufern des Stroms war, dem man Tribut ablieferte. Ich hob die Schultern. »Es sind sicher nicht mehr als ein paar Dutzend zwischen Kush und dem Wadj-Wer.« »Wie kommst du auf diese Anzahl?« »Wenn es einen Befallenen in jeder zweiten Stadt gibt, dann sind es fünfundzwanzig bei fünfzig Städten. Ich zählte nicht mehr als fünfzig große Siedlungen.« »Was wirst du tun, Arzt Aakener?« Ich dachte an den Boten eines seiner Widersacher und sagte: »Ich reise durch das ganze Land, Herrscher. Wer meine Hilfe sucht, bekommt sie und bezahlt; jeder, soviel er vermag. Ich bin Helfer und Heiler. Bei dir ist es geglückt; ich sehe die Farbe des Lebens wieder auf deinen Wangen.« Ein tiefes, langes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Wir hörten die Schritte der Soldaten, das Plätschern der Wellen und ein vorbeirasselndes Gespann. Haakenen hob die Hand und sagte: »Mein Schreiber. Schnell!« Der Schreiber kauerte sich zu Füßen Haakenen-Rês nieder
und schrieb, daß ich, käme ich nach Djanet und allen anderen Städten des Mündungsgebietes, alle Gunst der Herrscher genießen sollte: reiches Essen, viel Bier und Brot, alles, was ich zum Leben brauchte, ein Haus, Diener, Musikanten und Tanzmädchen. Dazu eine beträchtliche Menge Gold. Ich bedankte mich und nahm den Zellaktivator-Brustschmuck vom faltigen Hals Haakenens. »Du kannst in deinem schönen Schnellruderer nach Djanet zurückfahren«, sagte ich leise. »Nimmst du einen Rat von mir an?« »Ich höre.« »Greif nicht die Heere und Herrscher jenseits von MenefruMirê an. Ich war viel unterwegs und sah viel. Noch sind sie nicht stark, aber es würde den Heka Chasut nie gelingen, den Süden zu besiegen. Auch wenn du ganz gesund bist – vermeide jeden Kampf.« »Sicherlich fällt mir etwas ein, um Sekenen-Rê zu reizen, ihn zu einem unbedachten Schritt zu zwingen. Warte nur.« Er machte, was ihn auszeichnete, nicht einmal den Versuch, mich als Spion anzuwerben. Ich zeigte ihm beide Handflächen und sagte grinsend: »Nicht mein Kampf, Herrscher! Ich fahre zu meiner schönen Geliebten, zu meinem Freund Ptah-Sokar, heile mit Binden und Salben, und ich will nichts wissen vom Krieg zwischen Rômet und Heka Chasut.« »Du gehst im Schutz meines Wohlwollens. Ich werde nicht müde werden, deine Kunst zu preisen. Ich denke, du findest viele andere Menschen, denen du hilfst, wenn sie unter kranker Haut leiden. Verminderst du die Klugheit der Gegner, so soll es mir recht sein.« »Ich will deine Vorausschau ein wenig verdüstern, Herrscher.« Ich stand auf und lehnte mich an den Palmenstamm. »Wenn das fremde Leiden der Haut verbrannt wurde, bleibt
den Trägern die Klugheit. Aber – sie stirbt mit jenen Trägern.« »Seth sei mit dir«, erwiderte er mürrisch. Die Soldaten trugen ihn zur Barke, die mühsam wendete, in die Strömung glitt und hapiabwärts davongerudert wurde. Die Wagentruppen sammelten sich und folgten. Die kleinere Abteilung begleitete mich zu Ptahs Leihpalast, schleppte meine Ausrüstung ins Haus und fuhr davon. Ptah-Sokars Erleichterung, mich gesund wiederzusehen, war nicht gespielt, obwohl wir miteinander mehrmals über Funk gesprochen hatten. Ich wechselte die Kleidung und ging zu Nefret-Iunit. »Ich weiß nicht, Liebster, ob es ein Traum war oder wie es wirklich geschah: In einer Oase, auf dem Weg hierher, saß ich auf dem Boden eines Wagens. Niemand war hinter mir, ich sah und hörte nichts und niemanden. Es war wie ein Streicheln, Atlan, als plötzlich der Parasit an meinem Rücken aufwärts glitt. Ich verlor das Bewußtsein, oder ich stürzte in einen tiefen, langen Traum. Und… so fing es an.« »Ich werde es mir merken, aber es bedeutet jetzt nichts mehr«, sagte ich. Wir saßen nebeneinander auf der kissenbedeckten gemauerten Bank auf dem Dach ihres Hauses. »Hast du je in deinen Erinnerungen der letzten Monde MerireChemsit oder Tatimar gefunden? Sie schliefen neben dir in unserem Zeitversteck.« Sie schüttelte den Kopf. Ptah packte den Bierkrug und füllte seine Schale. Er beugte sich vor und sagte: »Zakanza braucht Tatimar nicht mehr zu treffen. Du hast NeTefnacht wiedergefunden. Und wenn ich ES richtig verstehe, was verzweifelt schwer ist, werde ich auch Chemsit finden.« Er deutete zum Strom. »Was wir befürchtet haben, nach deinen Erzählungen, ist eingetreten. Zuverlässige Gerüchte sprechen von einem Briefwechsel zwischen Haakenen Rê-Apophis und Sekenen-Rê. Du würdest sagen: eine offene Herausforde-
rung; ich sage, ein grausiger Scherz, beeinflußt von Haakenens Ratgebern. Ein Gardist, der mich schätzt, erfuhr es von einem Palastschreiber.« »Du kennst die Worte?« fragte Ne-Tefnacht. »Ja. Hört! Von Haakenen Rê-Apophis aus dem Großen Haus zu Djanet, an den tributpflichtigen Gaufürsten Sekenen-Rê. Der Herrscher fordert dich auf, als Herrscher des Landes und mit großer Schärfe, die Flußpferde in den Seen, Wasserläufen und den Schilfdickichten meines Landes nicht zu jagen. Ich will in Frieden und Ruhe schlafen, denn ich genese von schwerer Krankheit. Tag und Nacht höre ich das jämmerliche Wehgeschrei der sterbenden Flußpferde. Laß ab, die heiligen Tiere zu hetzen und zu töten, denn ich befehle es dir. Ich, der Herrscher des Hapilandes.« »Erstaunlich!« Ich schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich versteh’ den Sinn dieser Botschaft nicht ganz. Ich weiß, daß Flußpferde die Opfer ritueller Jagden sind.« »Darum geht es. Zwischen Djanet und No-Amûn ist die Entfernung so groß, daß nicht einmal Rico die Todesschreie der Rußpferde hören könnte!« »Will Apophis etwa die Flußpferde schützen?« fragte NeTefnacht. Ptah sagte: »Im Gegenteil. Er will Sekenen-Rê beleidigen, so daß er zurückschlägt.« Das Extrahirn sagte: Du selbst hast indirekt Haakenen diesen Rat gegeben. Raffiniert! Natürlich wird der andere ablehnen müssen, und daraufhin werden die Feindseligkeiten eröffnet. Das ist die Absicht der Heka Chasut. Offensichtlich! »Offensichtlich muß ich zu Sekenen-Rê. Ich versprach, seine Kleine Königin zu heilen«, sagte ich bedächtig. »Das bringt mich zum Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Dort vernichte ich wieder mindestens einen Parasiten. Ihr bleibt hier?« »Ich bin kein Soldat«, sagte Ptah. »Ich bleibe hier. Für mich
ist hier tiefster Friede.« »Hier habe ich meine Arbeit.« Ne-Tefnacht hob die Schultern. »Meine Weberinnen und Färberinnen. Ich bin derselben Meinung wie Ptah. Überdies wüßtest du sonst nicht, wohin du, müde und abgerissen, ohne Salben und Binden, kommen solltest.« »Ihr habt recht. Meine Reise nach Nechen und Necheb dauert nicht lange. Ich mache mich bald auf den Weg; wer früh reist, ist abends zurück. Ich bleibe noch ein paar Tage bei dir, Tefnacht.« Wir waren sicher, daß die Zeit der Befreiungsversuche der Rômet von den Heka Chasut nicht reif war. Noch waren die Rômet zu schwach und nicht gut genug organisiert. Vielleicht tasteten sie ihre gegenseitigen Kräfte ab und leiteten Kämpfe ein, die ein halbes Jahrhundert oder länger dauern würden. Unsere friedliche Stimmung litt nicht darunter. Ich griff nach Ne-Tefnachts Hand und streichelte die armbandähnliche Tätowierung. »Ich bin sicher, daß du nicht in Sekenen-Rês Palast bleiben wirst«, sagte sie leichthin. Etliche Tage später packte ich meine Ausrüstung zusammen, testete einige Teile, belud den Wagen und die beiden zusätzlichen Pferde und verabschiedete mich von meinen Freunden. Langsam fuhr ich nach Nechen, von Gutshof zu Gutshof; entlang der letzten Wegstrecke begleiteten mich die funkelnden Gespanne der Palastgarde. Wir kamen in bequemem Trab durch die Ausläufer der Stadt, überquerten durch niedrige Furten und über winzige Brücken Kanäle und Altwasser, hielten vor dem Säulentor des Palasts. Der Bote, der mich damals besucht hatte, schritt würdevoll auf mich zu. Er strahlte selbstbewußt, nicht weniger als sein goldener Schmuck und der lange Stabich verbeugte mich tief und
sagte: »Alles verändert sich auf wunderbare Weise. Aus schwitzenden Boten werden herrscherliche Tatji. Ich grüße dich, Vertrauter des Herrschers.« Er lächelte schmallippig und sagte: »Der Palast ist voller Ärzte, die sich grämen, daß ein fremder Arzt besser heilen kann als sie selbst.« »Ich drehe gern mein Gespann und fahre dorthin, woher ich gekommen bin.« Ich lachte laut und sprach so laut, daß es alle Umstehenden hören konnten. »Will ich mich mit der Weisheit anderer Ärzte messen? Bitte, sag dies dem Gottherrscher.« »Du bist willkommen!« Der Oberste Aufseher der Schreiber verneigte sich tief. »Der Herr ist in tiefer Sorge um Aja-Nefer. Diener bringen das Gepäck in deine Räume; bei Sonnenuntergang sollst du vor dem Angesicht des Herrschers stehen.« Ich ließ mich in einen Flügel des Palasts bringen. Die Räume aus Quadern, Säulen und schweren Binsenrollen über spiegelnden Böden waren kühl und still. Lautlos bewegten sich Diener und Sklaven, leichter Wind von den Palmen der ummauerten Teiche blähte helle Stoffbahnen. Der Schreiber hielt vor einer Tür aus geschnitztem Holz, deren Figuren aus goldenen Einlegearbeiten bestanden. »Hier darfst du wohnen, bis Aja-Nefer geheilt ist. Du wirst viel Glück brauchen – was ich dir wünsche.« »Willst du Ärger, Schreiber?« Ich stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte den um einen Kopf kleineren Mann. »Ich vermag deine Frage nicht zu verstehen, Arzt.« »Hör zu!« Ich sprach voller Schärfe. »Der Herrscher, dein Herr, rief mich. Bist du mit seinen Befehlen nicht einverstanden, sag’s ihm. Ich heile die Haut seiner Geliebten, dann gehe ich. Mich giert nicht nach deiner schlechten Laune, solange ich hier bin. Wo sehe ich Aja-Nefer?« Er schwieg eine Weile, seine Blicke irrten umher, hefteten
sich auf meine Ledersäcke und den Boden. Er deutete auf die Tür. Die Diener brachten die Ausrüstung in einen Raum, so groß und düster wie ein Tempel. Zwei Seiten gingen in den Palastgarten hinaus. Wir wurden durch einen langen Korridor geführt. Endlich sprach der Schreiber. »Ich versuche, Aja-Nefer zu dir zu bringen.« Er hüstelte. »Ich richte nicht meine Wut auf dich, Atlan-Aakener. Aber ich kann kaum glauben, daß ein Mann, der bei Rômet und Heka Chasut gleichermaßen angesehen ist und hapiauf, hapiab reist, der richtige Arzt für die Frau ist, die jedermann im Per-Aô liebt. Ich und alle anderen, wir fürchten um ihr Leben.« Vom Schreiber gefolgt, ging ich lächelnd in die Halle. »Ihr könnt beruhigt sein und meinem Heilen zusehen. Warum diese Angst?« »Weil jedermann um ihre Schönheit fürchtet.« »Ich taste ihre Schönheit nicht an. An welcher Stelle ihres Körpers ist die Verdickung?« »Am unteren Teil des Nackens. Versuche, dich hier einzugewöhnen. Ich bringe sie hierher.« Im gleichen Augenblick gab es Lärm. Ein Junge, vielleicht ein Dutzend Jahre alt, rannte, von Dienerinnen verfolgt, durch den Korridor. Für sein Alter war er ungewöhnlich groß und erwachsen; sein Gesicht strahlte wache Klugheit aus. Ein Einfalt, den ich lange mit mir trug, nahm Gestalt an. Ich fragte: »Ein Sohn Sekenen-Rês?« »Ja. Khamose. Ein bemerkenswertes Kind, elf Sommer jung. Stark, klug und schnell; ein Herrscher. Nachfahre jener Gottkönige, die Amenti stark und unabhängig gemacht haben. Wenn er älter ist, treibt er die Heka Chasut mit blutigen Köpfen aus dem Land.« Der Junge rannte und sprang zwischen den Säulen entlang, entkam mühelos seinen Verfolgerinnen und sprang in den Garten hinaus. Mein Plan nahm festere Gestalt an.
»Danke, Schreiber. Du wirst sehen, daß in wenigen Tagen alle Fragen beantwortet sein werden. Ich muß so schnell wie möglich mit dem Herrscher sprechen. Was ich ihm sage, kann über die Herrschaft der Heka Chasut entscheiden!« »Komm mit mir, Arzt.« Er entschied sich schnell. Er zog mich am Oberarm mit sich, durch den halben Palast, bis zu den Räumen, die der Herrscher bewohnte. Auch hier umgab uns Halbdunkel, es roch nach Weihrauch und ausdünstenden Mauern. Der Schreiber bat zu warten, verschwand hinter einem Vorhang, kam wieder hervor und winkte. Der Herrscher saß im Schein von Öllämpchen vor der Terrasse und las in Shafadurollen. Er hob den Kopf; mich trafen die Blicke eines sorgenvollen, unausgeschlafenen Mannes von fünfunddreißig Sommern. Mit dem Zeigefinger, der einen vergoldeten Nagel trug, deutete er auf einen Sessel. »Nimm Platz! Sag schnell, was du zu sagen hast. Ist es wichtig?« Ich setzte mich, der Schreiber blieb neben dem Tisch stehen; ich entwickelte meinen Plan, leise und, wie ich hoffte, überzeugend. Mein Plan war gefährlich, fast unheimlich. SekenenRê hörte ruhig zu und ließ nicht erkennen, ob er Gefallen an meinem Plan fand. Er dachte lange nach und fragte: »Willst du dieses Wagnis, das keines ist, eingehen?« Ich nickte ernst. »Ginge es nicht um mein Land, würde ich es nicht tun. Du hast meine Erlaubnis und meine Unterstützung, Heiler der Haut.« »Amentiland wird es dir danken. Vorausgesetzt, man geht mit diesem Vorteil richtig um.« »Jeder echte Rômet nutzt den Vorteil für das Wohl des Reiches. Die Herrschaft der Fremdvölker soll nicht mehr lange dauern.« »Ich helfe dem Heiler«, sagte der Schreiber. »Alles geschieht
so, wie er es sagte. Dürfen wir aus deinem Schatten treten, Herrscher?« »Ja. Ich werde auch zusehen.« Als wir zu meinen Räumen zurückgingen, blickte mich der Schreiber von der Seite an; er schien mich zu bewundern oder als Rätselwesen zu betrachten. Wie bereiteten in einer Stimmung zunehmender Freundlichkeit den Raum vor, ordneten an, was die Diener zu tun hatten, sprachen über die Operation. Mit einigen Dienerinnen kam die junge Frau. Ich klärte sie darüber auf, was ich unternehmen wollte; sie schien keine Angst zu haben. Wir warteten das starke Morgenlicht ab; ich betäubte AjaNefer und Khamose und ließ sie nebeneinander auf die leinenbedeckten Tische legen. Der Schreiber befahl allen Dienern und Sklaven, den Raum zu verlassen. Nur er, eine ältere Sklavin und der Herrscher blieben. Sekenen-Rê flüsterte: »Ich kann noch immer nicht glauben, daß dir gelingt, was wir besprochen haben. Beim Segen der Götter!« Der Herrscher und sein Oberster Ratgeber starrten den nackten Rücken Aja-Nefers an. Ich winkelte den Arm des jungen Khamose – sein Thronname würde Wad-Cheper-Rê sein – ab und legte ihn neben Aja-Nefers Schulter, zog den kleinen Dolch und drückte den Auslöser. Im grellen Licht war der Energiestrahl unsichtbar. Glühendheiße Strahlen strichen über den Parasiten; er schien überaus lebendig und gesund, als er sich an einer Stelle von Aja-Nefers glänzender Haut löste. Ein schmaler Spalt entstand. »Die Götter sind mit uns«, sagte ich leise. Der Zellverband wölbte sich wie eine kriechende Raupe. Ich zielte genauer, bedrängte den Parasiten mit weißglühenden Hitzestrahlen und tupfte Öl auf kleine Brandblasen rund um den Fleck. Der Parasit zog Stacheln und Dornen aus der Haut und kroch vor der
Hitze davon, schien den Rücken des Jungen förmlich zu wittern. Die Sklavin tupfte Blut und wässeriges Plasma ab. Langsam, sich auffaltend und glättend, bewegte sich der Symbiont von der Wirbelsäule weg, aufs Schulterblatt zu und über den Oberarm. »Ich kann’s nicht glauben«, stöhnte der Tatji, »aber ich sehe es! Wehe dir, wenn dem Knaben etwas geschieht.« »Er spürt nichts, und er wird nicht leiden«, sagte ich unterdrückt. Der Herrscher, schweißüberströmt, atmete schwer und versteckte die zitternden Finger auf dem Rücken. »Der Junge wird bald klüger und kühner als sein Vater sein.« Der Symbiont flüchtete vor der Hitze auf den Ellbogen AjaNefers zu, hielt an und kroch weiter, über den Ellbogen des Jungen und dessen Arm hinauf. Ich unterbrach das Hantieren mit dem Dolch, versorgte zusammen mit der Sklavin die Wunde der jungen Frau und trug den Rest meiner »Wundersalbe« auf, sprühte Biomolplast, und während wir den Körper anhoben, um die Binden festzuziehen, sahen wir, daß der Parasit von der Schulter des Jungen herunterkroch und zwischen den Schulterblättern oberhalb des Rückgrats sitzen blieb. Ich hob die Hand und sagte leise: »Wir haben unseren Plan verwirklicht, Herrscher SekenenRê. Deine Kleine Königin ist geheilt und behält ihre Klugheit, dein Sohn wird das Geheimnis der Weisheit bald über sich spüren. Wenn diese zusätzliche Haut krank werden sollte, so bin ich da und vernichte sie.« »Er soll den Kampf gegen die Heka Chasut beginnen.« Der Herrscher war sichtlich bewegt. »Zusammen mit mir.« »Vielleicht vertreibt erst sein Sohn die Fremden aus dem Mündungsdreieck!« »Auch das werden die Götter entscheiden. Das Land ist ewig. Was sind da ein paar Jahre?« »Meni-Narmer machte den Anfang. Selbst wenn deine
Träume wahr werden sollten – dein Sohn ist nicht unsterblich. Ein Pfeil oder eine Seuche tötet auch ihn.« Ich begann, meine Ausrüstung zusammenzupacken. Die Szene enthielt unwirkliche Bedeutung: der hohe, lichterfüllte Raum, der Schmuck an Pfeilern und Wänden, die wenigen Personen, die sich in der Weite verloren, die nackten Körper und der pulsierende Parasit – wenn ES zusah, würde sein makabrer Sinn für Humor befriedigt werden. Der Herrscher kam um die beiden Lager herum und sah zu mir auf. »Welchen Lohn verlangst du, Aakener? Sprich!« »Kein Gold. Ich möchte nur im Land der Biene umherreisen und Menschen helfen. Ich fahre zu meinen Freunden und will nicht in eure Kriege verwickelt werden. Das ist der höchste Lohn, den ich wünsche.« »Ich werde dich dennoch mit Gold beschenken.« Das Gesicht des Herrschers gewann den beherrschten Ausdruck zurück. »Mit Gold bekommt man entlang des Hapis viel, wenn nicht alles.« »Ich danke dir.« Diener trugen den Jungen, der in tiefen Schlaf gefallen war, aus dem Raum. Sekenen-Rê legte die Hand auf die reglose Schulter Aja-Nefers und blickte schweigend auf die Frau hinunter. Der Tatji schien zu überlegen, welche Änderungen und Vorteile die Verpflanzung des Parasiten ihm und dem halben Reich bescheren könne; vielleicht gab ihm die Zukunft recht. Die Gründung eines Weltreiches, von Nechen oder No-Amûn aus, war nicht zu befürchten. Langsam, in tiefes Nachdenken versunken, folgte der Herrscher den Dienern, die Aja-Nefer hinaustrugen. Der Tatji und ich waren allein. »Ich sehe, du bist wirklich so, wie das Volk dich schildert.« Plötzlich lächelte er herzlich. »Mein Mißtrauen schmolz wie Wachs am Mittag. Gibt es etwas, das ich für dich tun könnte?« »Du kannst mich bis zur nächsten Stadt begleiten lassen.« Ich
legte die Hand auf seine Schulter. »Ich ruhe in Nai-Ta-Hut aus, im Haus meines Freundes. Dort höre ich eines Tages wohl auch, daß das ganze Hapiland wieder einem Herrscher gehorcht.« »Mögen die ewigen Götter uns dabei helfen.« Er verbeugte sich tief. Zwei Tage später kam Aja-Nefer mit einem Teil des Hofstaates und dankte mir. Nur noch das große runde Pflaster auf ihrem Rücken zeigte, daß mein Versuch, dem Befehl von ES nicht zu gehorchen, vorerst geglückt war. Beide Spieler waren tot, also konnte ich wenigstens einen Symbionten für sinnvolle Zwecke benutzen. Ein Dutzend Gespanne fuhren mit mir bis nach Nubt und kehrten um. Ich fuhr in eine abgelegene Gegend, schirrte die Pferde aus und ließ sie frei, nahm den Wagen auseinander und ließ mich nachts von Ricos Gleiter hinter der Düne von Ne-Tefnachts Haus absetzen.
8. Im Erntemond Epiphi, nach vielen Fahrten durch verschiedene Siedlungen im Mündungsgebiet, schien sich der Kreis des Erlebbaren zu schließen. Wirklichkeit und Träume, Beobachtungen und Flüge im Schutz der Unsichtbarkeit hatten PtahSokar, Ne-Tefnacht und mir den Zustand unserer weiteren Umgebung deutlich gezeigt: Rund um das Binnenmeer und auf hundert Inseln breiteten sich Kleinkulturen aus. Auf fellüberzogenen Sesseln saßen wir auf dem Dach des Palastes, fühlten uns wohl und tranken dünnen Wein. Der Vollmond kletterte hinter den Mauern in den Nachthimmel, seine Scheibe schien beschattet von reglosen Palmwedeln. Ptah stellte die Schale ab und murmelte: »Zakanza fehlt in unserer Runde. Der Öffner der Wege liebte
laute Fröhlichkeit, aber er liebte auch solch stille Abende.« »Und er liebte Tatimar, die nun an einer Quelle des Hapi lebt. Ob sie ihre Erinnerungen verloren hat?« sagte NeTefnacht. »Er wird nie wieder mit uns sitzen und trinken.« »Sag mir, Atlan; ist unsere Aufgabe beendet?« »So scheint es zu sein, Ptah.« Ich legte den Arm um Tefnachts Schultern. »Ich fand noch vier Parasiten, und ES sprach seit Monden nicht mehr mit uns.« »Wollen wir bleiben? Oder an einen anderen schönen Ort fliegen? Oder schafft uns ES zurück in den langen Schlaf?« »Wir sind geweckt worden, um die Parasiten und die Spieler zu vernichten. Die wenigen Symbionten ändern nichts an der freiwilligen Abgeschlossenheit des Hapilandes. Da beide Spieler tot sind, laut Aussage dessen, den Zakanza tötete, ist unsere Aufgabe beendet.« »Was würdest du tun, Liebster, wenn wir die Wahl hätten?« »Eine leichte Antwort«, sagte ich. »Zurückkehren zu Rico.« »Und schlafen?« »Ich weiß nicht. Vielleicht sehe ich andere Aufgaben…« Als ich versuchte, weitere Erklärungen zu finden, ertönte in meinem Kopf wieder schauerliches Gelächter. Ne-Tefnacht zuckte zusammen. Ptah hob den Kopf: ES sprach mit jedem von uns. Ihr Hüter barbarischer Kultur und Zivilisation auf dem dritten Larsaf-Planeten! Ihr habt überlebt und euch gefunden! Ich weiß, daß die schwierige Aufgabe gut gelöst ist. Die Spieler sind tot, das Spiel ist zerfallen, die Verstecke zerstört, und die meisten Symbionten hast du vernichtet, Arkonide! Ich lehnte mich zurück und holte tief Luft. Ich wartete darauf, daß ES mit den nächsten Bemerkungen unsere Vorhaben zunichte machen würde. Die Barbaren des Hapilandes sind wieder unter sich. Irgendwann wird auch die halbe Herrschaft der Heka Chasut zu Ende gehen.
Dein Spielzug, Atlan, mit Aja-Nefers Parasiten war kühn und vorausschauend, aber bei der geringen Lebenserwartung der Rômet wird er nicht viel Nutzen bringen. Dennoch begrüße ich deinen Einfall. Seit einigen Monden ist eure Anwesenheit hier nicht mehr nötig. Ich sehe, daß die Farbe aus deinem Haar bleicht, und ehe ihr satt und faul werdet, sollt ihr Besseres und Sinnvolleres tun können. Dehnt die bewußte Zeit auf der Planetenoberfläche nicht zu sehr aus, denn sicher brauchen euch die Barbaren bald wieder. Ihr seid eine treffliche Gruppe; ich bin zufrieden mit euch. Leb wohl, Arkonide! Wieder erschütterte uns sein sarkastisches Gelächter. Unsere Gedanken klärten sich; wir fanden wieder in die Gegenwart zurück. Ptah-Sokar starrte mich herausfordernd an. »Immerhin«, sagte er. »Wir sind frei. Fangen wir an, Atlan. Unnötige Hast verbietet sich, und Rico schafft uns und alles, was wir brauchen, zu den Quellen des Stroms.« Schrittweise verringerten wir die Menge der Ausrüstung, die wir benutzten. Fast jede Nacht verließ ein ferngesteuerter Container Ne-Tefnachts oder Plans Haus und schwirrte davon. Zwei Zehntage später fuhren wir kurz nach Mittag mit Ptahs Gespann auf der neuen Dammkronenstraße zu seinen Schleusen und Kanalböschungen. Ptah führte die Zügel, Tefnacht saß auf meinen Knien, die Pferde gingen im Schritt. Zwischen den Gruppen schlafender Arbeiter und den Materialstapeln, über dem träge fließenden Wasser, bildete sich fahler Dunst. Ptah wendete das Gespann auf dem runden Ende des Damms und fragte beunruhigt: »Nebel um diese Zeit? Schon nachts und im Herbst ist er selten! Das gilt uns, Atlan…« Tefnacht umklammerte meine Handgelenke. Ich lächelte und bereitete mich auf die nächsten Augenblicke vor. »Das letzte Zeichen unseres unsichtbaren Herrschers! Kein Nebel. Wir verlassen jetzt das Hapiland.«
Der Nebel verdichtete sich. Drei oder vier Atemzüge später waren wir völlig eingehüllt. Die Pferde rissen aufgeregt an den Zügeln. Die Umgebung verschwand, uns berührte ein kalter Hauch, und es schien, als hätten wir für längere Zeit das Bewußtsein verloren. Unsere wenigen Hinterlassenschaften würden Wind und Sand verwehen. Die letzten Buchstaben liefen über den weißen Schirm des Stimmprinters. Atlans Stimme wurde leiser, er holte tief Luft und schwieg. Scarron Eymundson hob den Kopf, blickte auf die Holoprojektion und sah, daß sich die SERT-Haube etwa fünfzehn Sekunden nach dem letzten Wort Atlans langsam hob. Auch die vielen Überwachungsinstrumente in der Intensivstation registrierten die Unterbrechung in der Schilderung und lösten die Automatik aus. Ne-Tefnacht, dachte Scarron, die länger als ein Vierteljahrhundert zugleich mit Atlan im Tiefschlaf gelegen hatte und die er trotzdem erst dann wiedererkannte, als ES es ihm erlaubte… warum? Welchen Sinn sollte es haben, wenn ein schier omnipotentes Wesen wie ES mit den Schicksalen kurzlebiger, unbedeutender Erdbewohner spielte wie mit Ameisen? Scarron überdachte schweigend, was sie gehört und verstanden hatte, seit Professor Aescunnar von ihr abgelöst worden war. Während sie in Gedanken Atlan nachspürte, zählte ein Computer Atlans Worte und teilte sie durch die reine Sprechzeit. Verglichen mit den Berichten aus den zurückliegenden Monaten hatte sich der Wert geändert: Die gleiche Anzahl Wörter sprach Atlan seit vier Tagen in kürzerer Zeit aus. Obwohl die Sprechgeschwindigkeit gestiegen war, verhaspelte sich der Arkonide nicht. Dennoch schien er, völlig unbewußt, einen Grund zu haben. Ein alarmierendes Zeichen, das auf Probleme der Genesung hindeutete? Scarron schrieb eine Notiz, betrachtete die Bildberichte von
Ausgrabungen im Nildelta und rekonstruierte Karten und Ansichten der Landschaft, in der Atlan und seine Freunde fast genau ein irdisches Jahr verbracht hatten. Das Visiphon summte, Scarron meldete sich. Gianni Rajgur Krishnaman, Spezialist für Zellregenerierung, grüßte lächelnd, als er sie erkannte. »Eigentlich wollte ich mit Cyr sprechen«, sagte er. »Sie vertreten ihn, Scarron?« »Er ist in der Augenklinik. Zweite Nachuntersuchung. In drei oder vier Stunden erreichen Sie ihn wieder hier«, antwortete sie und stand auf. »Wenn es wichtig sein sollte…« Sie dehnte und reckte die Schultern und spürte schmerzende Nackenmuskeln. Krishnaman schüttelte den Kopf. Seine weiße Mähne geriet in Unordnung. »Nichts Wichtiges. Er hat mich etwas fragen wollen, ohne Ghoum-Ardebil und dessen Team unruhig machen zu wollen. Ich melde mich später noch einmal.« »Ich glaube, ich weiß, was er Sie fragen wollte.« Scarron hob die Hand und deutete auf die Batterie der Aufzeichnungsgeräte. »Seit Beginn der letzten Abenteuer, das hat auch Cyr festgestellt, spricht Atlan schneller. Zuerst war es nur ein vager Eindruck, aber inzwischen haben wir es exakt gemessen. Glauben Sie, daß es etwas bedeutet? Etwas Ernstes? Ein Zeichen, daß mit Atlans Wiederherstellung etwas nicht stimmt?« Krishnaman hob die buschigen Brauen und zupfte am Oberlippenbart. Er nickte und sagte leise: »Ich hab’s notiert. Es kann bedeutungsvoll sein, aber auch nichts zu sagen haben. Ich werde ein paar Xenobiologen fragen. Ich melde mich wieder, Scarron.« »Danke. Übrigens – im Augenblick erholt sich Atlan. Er schläft. Es hörte sich so an, als ob er von einem Jahr im Ägypten der Hyksoszeit berichtet hätte und das Abenteuer zu Ende wäre.« Scarron winkte zu den Objektiven der Visiphonanlage und legte den Finger auf das Tastfeld. »Sprechen Sie mit Cyr.
Wir alle, bis hinauf zur Administration, stehen miteinander in ständiger Verbindung.« Der Biologe schenkte ihr ein zerstreutes Lächeln; sie trennte die Verbindung. Cyr Aescunnars Arbeitsplatz wirkte nur auf den ersten und zweiten Blick chaotisch. Je näher Scarron die Bildfolgen auf den Monitoren, die computergestützten Hologramme und die Unterlagen ansah, Hologramme wichtiger Fundstücke zwischen zahllosen Notizen auf verschiedenfarbiger Folie, Mikrolibris, Lesegeräte, aufgeschlagene Bücher und die Karteien in bunten Kästen, von Geschichtsstudenten geordnet, desto mehr wuchs die Hochachtung vor dem Historiker und seiner Absicht, die Bearbeitung seiner ANNALEN DER MENSCHHEIT so vollständig wie möglich zu schaffen. Die Jahre 1589/88 v.d.Z. 6411 und 6412 nach Untergang von Atlantis, schienen auch für Atlan eine deutliche Wende bedeutet zu haben: Statt in stiller Trauer sein Heimweh nach Arkon zu kultivieren, erinnerte er sich seines Schwures und begann zu handeln. »Und wenn Atlan handelt«, sagte Scarron leise und blickte die reglose Gestalt hinter den Schlieren der Nährflüssigkeit im Überlebenstank an, »dann mit seiner Kompetenz als Kosmostratege, Infrastrukturplaner, Kolonisator und Expansionsplaner. Aber… auf der bronzezeitlichen Barbarenwelt?« Sie lächelte; Rico und Atlan wußten genau, was die Barbaren lernen konnten und lernen mußten. Atlans Parasitenerzählung schien überdies noch nicht völlig beendet zu sein. Im Gegensatz zu früheren, auszugsweisen Erzählungen handelten er und seine Freunde selbständig und vermittelten Barbaren weitgehende Kenntnisse. Scarron ging in die Küche, programmierte ein Abendessen und schaltete einige Arbeitslampen ein. Sie bugsierte Cyrs schweren Sessel in die richtige Position, testete die Geräte durch und kippte die Lehne in die bequemste Position. Sie
wartete; auf den Historiker oder Oemchen Orb oder darauf, daß Atlan weiterspräche. Eine halbe Stunde später schlief sie ein. Auch Atlans Worte weckten sie nicht – er sprach nicht laut, als er wieder berichtete. Wie ich es erlebte, so erzähle ich’s: licht sickerte durch die lider der geschlossenen augen, die luft, die ich qualvoll röchelnd in die lungen saugte, war feucht; ihr geruch rief viele erinnerungen hervor, mein körper bewegte sich. nein, er wurde bewegt, ich lag auf etwas, das sich hob und senkte und harte stöße einsteckte, geräusche schlugen an meine ohren. mein verstand versuchte sie einzuordnen und zu verarbeiten, unregelmäßiges knarren, gleichmäßiges plätschern, klatschen und dumpfe schläge gegen einen nachhallenden körper, knattern und hohles, fauchendes sausen, sturm? wasser? seewasser – ich war auf einem boot, öffnete die augen und erkannte jenseits eines noch unscharfen rundes aus holz und tauwerk das verwirrende schauspiel eines sonnenaufganges, oder war es der sonnenuntergang? mein verstand schrie unter der flut der eindrücke, rufe oder kommandos weckten mich völlig, jedes laute geräusch traf meine nerven wie eine weißglühende dolchspitze, im fahlblauen himmel flog der schwarze falke. ich war aufgewacht oder aufgeweckt worden, wo war ich? wieder auf der oberfläche von larsaf drei, dem barbarenplaneten. ich ahnte dumpf in einem aufgeregten, panisch reagierenden winkel des verstandes und meiner erinnerungen, daß ich mich im mittelpunkt des chaos befand. 9. Der erste, fast bewußte Blick zeigte mir in erschreckender Deutlichkeit alle Einzelheiten der Umgebung. Langsam eroberte ich die Fähigkeit, zu begreifen, zurück: Neben mir auf feuchten, salzverkrusteten Planken eines Rahseglers in voller Fahrt durch halbhohe See lag schlafend eine zusammenge-
krümmte Gestalt, in einen weißen Mantel gewickelt, der einige frische Schmutzflecken hatte. Der Mann bewegte sich, zeigte sein Gesicht, und ich erkannte sehnige Gesichtszüge, bräunliche Haut und hörte die Stimme des Extrasinns: Dein Freund Ptah-Sokar, genannt der Aigyptios oder Rômet. Mit trockenem Krachen bohrte sich zwei Handbreit neben meinem Kopf ein Pfeil drei Fingerbreit tief ins Holz. Ich duckte mich; andere Teile des chaotischen Mosaiks zeigten mir, daß sich Ptah und ich sowie die Schiffsmannschaft in Gefahr befanden: Wild gesprenkelt von Morgenlicht und pechschwarzen Schatten, ragten neben und vor dem Schiff die Felsen einer Küste auf, wild zerrissen, schrundig, voller Klüfte. Wellenkämme schlugen gegen ausgewaschene Steine, zerstäubten grell zischend und hämmerten die Algen der Flutlinien weg. Zwischen seltsam ausgehöhlten Steinbrocken hatte sich ein anderes Schiff genähert. Das grauweiße Segel klatschte gegen den Mast. Dreißig Riemen hoben und senkten sich und wuchteten das schlanke Schiff auf uns zu. Im Bug standen hinter einem grinsenden Pferdeschädel mit grünspanigen Metallbeschlägen Männer in ledernen Rüstungen, lange geschweifte Bogen in den Händen. Wieder heulten drei Pfeile herüber und krachten hart ins Holz der REA, die weit nach Steuerbord überlegte; das Ende der langen Rah zog eine Gischtspur. Kapitän Zerres brüllte wie ein Stier: »Zeigt ihnen, was wir können! Zahlt ihnen die Heimtücke zurück! Schickt sie zu Poseidon, diese Eselschänder! Kurz vor der Landung…« Der Rest ging im wilden Geschrei unter. Männer, die ich nur schemenhaft wahrnahm, schrien zustimmend und zugleich furchtsam, legten lange Pfeile auf geschwungene Bögen und schossen zum anderen Schiff hinüber. Es kam auf uns zu, auf Kollisionskurs, schien uns rammen zu wollen. Die REA glitt in
gefährlicher Schräglage zwischen gischtumschäumten Felsen vom Steilufer weg, auf die offene See zu, scheinbar hinein in den rosafarbenen Sonnenball. Ich krallte mich an einem Tau fest, schwankte und versuchte, klare Gedanken zu finden. Neben mir krächzte jemand: »Atlan! Nimm deinen Bogen!« Ptah machte den gleichen Terror des Erwachens durch wie ich. Der nächste Blick zeigte mir, daß unsere Bogenschützen mit der Geschicklichkeit langer Übung von schwankenden Planken ihre Geschosse zum anderen Schiff hinüberschickten; ein weiterer Blick zeigte mir unsere Waffen, die an der Bordwand hingen. Ich packte den Bogen, legte in traumwandlerischer Sicherheit Pfeile auf und fegte zwei Männer vom Deck. Ein Pfeil mit dicker Spitze schlug in den Mast und explodierte mit einem ungeheuerlichen Krach. Warum waren Ptah und ich auf der REA? Wer griff an? Warum? Welcher Ozean des Barbarenplaneten war Schauplatz des Kampfes? Mit sachlicher Ruhe, vom Selbsterhaltungstrieb bestimmt, beschossen unsere Männer das Schiff mit dem Pferdeschädel. Ein Ruderer wurde an den Schaft seines Riemens genagelt. Ablandiger Wind stürzte heulend über die Felsen herab, füllte unser knallendes Segel und riß die REA von der Küste weg. Ein anderer Ruderer griff mit beiden Händen in den Nacken, sprang kreischend auf und wurde vom bockenden Schiff halb ins Wasser, halb gegen den Felsen geschleudert. Die Männer im Bug lagen tot oder sterbend auf den Planken. Der Gegner konnte uns nicht mehr rammen, steuerte hinter unserem Heck vorbei. Ein Mann ließ eine Schleuder über seinem schwarzen Eisenhelm kreisen, in der ein kleiner Ballen glühte und brannte. Ich zielte, federte die Stöße des Schiffes ab, löste die Sehne und traf den Krieger in die Kehle. Er kippte nach hinten, der flammensprühende Glutball rollte hüpfend über das eigene Deck und verschwand im Kielraum. Männer schrien, das
Schiff lief aus dem Kurs, hölzerne Riemen, von Metallbändern zusammengehalten, klapperten gegeneinander. Wieder legte die REA schwer über, fing den Wind, eine Welle rauschte von achtern heran und hob das Heck. Das Schiff glitt aus dem gefährlichen Küstenbereich. Zerres sprang vom Ruder auf mich zu, grinste begeistert und schrie: »Wir sind entkommen! Piraten! Wegelagerer! Die Schande des Poseidon!« »Nur dein entschlossenes Handeln bewahrte uns vor Unheil und Untergang«, lobte ich, legte den Bogen weg und setzte mich neben Ptah auf die schmierigen Planken. »Man hat dich sicher vor der Falle gewarnt.« Ein Schiff, allem Anschein nach ein Phoiniker, brachte uns zu einem noch unbekannten Ziel; undeutlich entsann ich mich, mit Kapitän Zerres einen Vertrag abgeschlossen und mit Goldplättchen besiegelt zu haben. Während die Brandung den Gegner hob, hin und her warf und auf die Felsen schob, stellten sich weitere Erinnerungen ein. Ptah und ich, unsere Ausrüstung, das Ziel… Mein Extrahirn rief in schroffem Tonfall: Erinnere dich an ES und die Aufgabe. Ihr seid die wichtigsten Männer an diesen Küsten. In meinem Kopf überschlugen sich Bilder ungeordneter, farbiger Impressionen. Ich wartete, bis sich Ptah aufgerichtet hatte und mich mit klaren Augen ansah. Ich erklärte ihm, was eben geschehen war. Ptah hörte schweigend zu, trank aus dem Ziegenschlauch, den ihm Zerres gab, und sagte nachdenklich: »Du weißt also, warum wir hier unterwegs sind.« »Wieder einmal: ES hat uns eine Aufgabe gestellt.« Je länger ich wach war, desto klarer wurden meine Gedanken. Aus der Tiefe der Erinnerungen kam ein Gebräu aus halben Träumen und halben Wahrheiten. Ich wählte meine Worte mit Vorsicht. »Wir sollen möglichst viele Menschen entlang dieser Küsten,
auf vielen Inseln, vor einer tödlichen Gefahr warnen. Vor welcher Gefahr – ich weiß es noch nicht.« Ptah beugte sich über die Bordwand und atmete die kühle Seeluft tief ein. Hinter dem Heck der REA wurde die Insel kleiner; wir blinzelten im Licht des gewaltigen Sonnenaufganges und sahen weit voraus, hinter einer Kette bewaldeter Inseln, den dunklen Streifen des Festlandes. Streifen aus Dampf bildete sich über den Wellen, rosenfarbige Wolken zogen über den Himmel und vergingen langsam; gläsern und farbentrunken, beleuchtet vom rot aufsteigenden Gestirn. Die Vögel hoch über uns waren wie schwarze Doppelsicheln. Der Bug der REA hob sich und setzte gischtend in die Wellen ein. Die Seefahrer um Zerres beobachteten uns mit schweigender Ehrfurcht. Was hatten sie über uns erfahren? Welche Rolle spielten wir in ihrem winzigen Kosmos? Der Älteste, Zerres, mit blauen Augen und struppigem braunem Bart, nickte und deutete auf Ptah. Als er zum Sprechen ansetzte, beobachtete er unausgesetzt das Meer und das Tauwerk zwischen uns und der Bordwand. »Ihr seid verwirrt und unausgeschlafen. Trotzdem fanden deine Pfeile ihr Ziel, Weißhaariger. Wir waren zu nahe an der Insel, der Piratenbucht. Noch eine Nacht, ein paar Stunden mehr, und wir sind im Hafen von Knossos.« »Unsere Reise ist wichtig«, sagte Ptah. »Du kennst alle Häfen in der Aigais?« »Fast jeden. Die REA und andere Schiffe sind zwischen dem Hapiland, den Säulen des Herakles und Ilion gesegelt. In allen Häfen tranken wir guten Wein. Warum müßt ihr nach Amnis?« Ich versuchte, mit geschlossenen Augen Erinnerungen herbeizubeschwören. Was mir einfiel, genügte nicht einmal, mich selbst zu überzeugen. Ich sagte wahrheitsgemäß: »Ein schauriges Orakel treibt uns. Wir sollen jeden warnen,
der auf Inseln und an den Küsten lebt. Es wird ein Umbruch sein; Zerstörung wird über uns zusammenschlagen, die Welt gänzlich verändert werden. Das Orakel sagt, daß sich die Sonne tagelang verdunkeln wird. Mehr weiß ich nicht. Wie ich es weiß, so erzähle ich es.« Ein Dutzend Männer, die an Bord arbeiteten, warfen uns halb mißtrauische, halb abschätzende Blicke zu. Zerres sagte mürrisch: »Du sprichst in Rätseln, seit du an Bord der REA bist.« »Das Orakel sprach in ebensolchen Rätseln – was Orakel stets so zu tun pflegen.« »Wir wissen, daß viele Schiffe davonkommen, wenn der Boden zittert.« Zerres sprach mit unbewegtem Gesicht. »Diejenigen, die auf See sind.« Ich starrte Zerres verlegen an. Gnos oder Kunusa auf Keftiu – ich kannte den Palast und den Hafen aus düsteren Abgründen meiner Erinnerung – hatte die meisten Schiffe und wurde als Talassokrat bezeichnet, als Meerbeherrschende. Die REA gehörte einem unabhängigen Kapitän, der freien Handel trieb und nur Piraten fürchtete; das Schiff, rund neun Mannslängen vom Vordersteven bis zum Doppelruder, lag gut vor achterlichem Wind und steuerte die Ostküste Keftius an. Ptah löste den Seemannsknoten, mit dem der pralle Weinschlauch an der Bordwand befestigt war; jeder nahm einen tiefen Schluck des schweren Rotweins, mit Quellwasser verdünnt. Der Logiksektor sagte beschwichtigend: Du mußt warten, bis sich dein Verstand geklärt und mehr Erinnerungen freigegeben hat. Zerres’ Finger durchfurchten seinen schwarzen Bart. Der Kapitän rief seinen Männern einige halblaute Befehle zu. Ich hob, ratlos und sprachlos, die Schultern, setzte mich zu Ptah auf den zusammengefalteten Mantel ins windgeschützte Heck. »Es ist abermals sonderbar und schwer zu verstehen. Wir schliefen lange unter dem Meer. Wir wurden geweckt und
sind abermals ohne unsere Frauen an einem wenig gemütlichen Platz, mitten im Großen Grünen.« »Was sollen wir auf der REA? Wo sind wir wirklich an Bord gegangen. In Igarat? Oder doch in Gubla?« »Zerres behauptet es, bei den Blitzen der Götter.« Ptahs Blicke glitten bedächtig über jede Einzelheit des schweren Seglers. »Wir haben in unseren Köpfen unvollständiges Wissen über ein Orakel. In unserem Gepäck haben wir noch nicht nachgesehen. Welches Orakel? Welche Gefahr? Nur Schiffe auf hoher See können ihr entkommen; wüßte ich’s, könnte ich alle Fragen beantworten.« Zwischen den Bordwänden spannten sich Ruderbänke. Im Kielraum waren Packen, Ballen, Säcke und Tierhäute gestapelt, dazwischen schlanke Tonkrüge, mit mehrfachen Lagen Tauwerk an den Spanten festgebunden und in Flechtwerk aus Weiden oder Rohr gesichert. Heck und Bug, ebenso das Deck um den Mast, trugen Decksplanken. Dort lagen festgezurrt unsere Gepäckstücke. Wir waren angemessen gekleidet, ähnlich, aber erkennbar teurer als die kriegerische Besatzung. »Wo sind wir?« sagte Ptah. »Zwischen welchen der zweitausend Inseln? Wirklich vor Keftiu?« »Eigentlich sollten wir beide diesen Teil des Binnenmeeres besser als Zerres kennen, so gut wie unsere Handflächen.« Ich mußte lachen. Wir lebten, schienen ausgeruht und keineswegs in tödlicher Gefahr zu sein. Die Verwirrung war von ES gewollt, das wußte ich auch ohne die Einwände des Extrasinns. An Rico und die langen Tage der Wiederbelebung im Tiefseeversteck erinnerte ich mich nicht. Die nächste Frage hieß also: Wann waren wir? Ich zog mich in die Höhe und schlug dem Steuermann auf die Schulter. »Wann sehen wir Keftiu voraus, Kyares?« Er hob die Schultern, bewegte die Pinne und rief gegen das Rauschen und Klatschen der Heckwelle:
»Übernächste Nacht, wenn der Wind bleibt.« Die Sonne war, zwei Stunden nach Aufgang, kräftig genug, um uns schwitzen zu lassen. Ich rief mir die Farbe der Pflanzen im Bereich der letzten Insel in die Erinnerung zurück; es schien später Frühling zu sein. Als ich lange genug das Meer beobachtet hatte und wußte, daß in den nächsten Stunden Wind und Wellen erträglich bleiben würden, wollte ich unsere Ausrüstung näher untersuchen. Das Gelächter, das in meinem Schädel dröhnte, war weniger laut, weniger herausfordernd als beim letzten Ruf des Rätselwesens. Ich habe euch beide geweckt und an Bord dieses Schiffes bringen lassen, weil allen Stränden, Ufern und Inseln in diesem Teil des Meeres furchtbare Zerstörung droht. Nicht nur den Hafenstädten, sondern auch den hochgelegenen Teilen des festen Landes. Wieder einmal ES! Mein Freund, mein Tyrann, dem ich die Unsterblichkeit verdankte, den Zellschwingungsaktivator; jenes unbegreifliche, scheinbar allmächtige Wesen, das mit mir und allen Möglichkeiten des Universums spielte und mich zum Paladin der Barbaren gemacht hatte. Ein Seitenblick überzeugte mich, daß auch Ptah die Befehlsstimme hörte. Du hast recht, Arkonide, und auch du, Rômet. Es gibt in der Galaxis eine Art von Leben, dessen Zweck die Vernichtung zu sein scheint. Es sind unterschiedlich geformte Brocken planetarer Materie, halbierte Planetoiden. Nicht einmal ich weiß, wann und wo sie entstanden sind. Die Weltenfragmente tragen unter einem Energieschutzschirm Leben aller Art, voll der phantastischen Gestalten unserer Horrorträume. Scharen dieser Scheusale streifen umher; ihre metabolisch-genetische Bandbreite ist groß. »Heißt das«, fragte ich, nur Ptah verstand, was ich sagte, und ich bedeutete ihm, zuzuhören, »daß sie sich in einigermaßen kurzer Zeit erbbiologisch auf unsere Welt, also auf ihre Bewohner oder Tiere, einstellen können?« So ist es, Arkonide. Du wirst für das Verhalten vieler Monstrositä-
ten einen Teil der Verantwortung tragen müssen. Es ist vorstellbar – aber es entzieht sich meiner Kenntnis –, daß dieses Weltenfragment vor fünf oder sechs Jahrzehntausenden den Planeten gestreift hat. Vielleicht nahm er Wesen von Larsaf Drei mit, unterzog sie seiner Einwirkung und setzt sie heute wieder ab; es ist vorstellbar. Auch auf anderen Planeten kann dies geschehen sein! Sie nennen sich »Horden der Vernichtung« oder »Dämonen des Mordens« oder »Giganten der Zerstörung«. In der Welt deiner Schiffer und Handelskapitäne wurden sie Götter, Halbgötter, Titanen oder Dämonenwesen heißen. Ptah-Sokars Finger bohrten sich in meinen Arm. Seine dunklen Augen zogen sich unter dem Eindruck der furchtbaren Wahrheit zusammen; er atmete schwer. Mich befiel eine gedankliche Starre, aber unbarmherzig dröhnte ES weiter: Ich habe versucht, ein gräßliches Schicksal von deiner Welt abzuwenden. Das Weltenfragment, ein kosmischer Vagabund, entzieht sich meinem Zugriff. Ich bin nicht allmächtig. Es wird an einer Stelle der Welt landen, die in fragwürdigem Gleichgewicht ist, mitten in einem Gebiet, das als Wiege der Kultur bezeichnet wird. Es ist reich an Menschen; Hunderttausende sollen in die Sklaverei geführt werden. Das Problem begann Konturen und Bedeutung zu gewinnen. »Wir sollen die Macht des Fragments brechen? Soll ich etwa die Horden der Nacht aufhalten?« Nein. Ein inselgroßer Koloß wird sich irgendwo niedersenken und eine Flutwelle oder ein furchtbares Beben zur Folge haben – oder beides. Beide werden Meer und Land in weitem Umkreis verwüsten. Überlebende werden verschleppt. Noch kann ich Kurs und Zeitpunkt der Landung nicht annähernd genau bestimmen, aber rechnet mit einem Zeitmaß von hundertfünfzig Tagen. Fünf Barbaren-Monde! In Gnos warten Überraschungen auf euch, nutzt eure Ausrüstung, arbeitet mit Rico zusammen. Es ist ein Auftrag für überlebenserfahrene Kämpfer. Sprecht weiterhin von Orakelsprüchen; die Barbaren glauben daran, an Vorbestimmung und an das hohe Wissen anderer.
Bereist alle Küsten und warnt die Bewohner. »Das alles in fünf Monden? Zweitausend Inseln und fast endlos lange Küsten?« Mir blieb nicht viel Zeit, euch und die Welt zu warnen. Ihr habt in schwierigen Abenteuern bewiesen, daß ihr fähige Hüter des Planeten seid. ES machte eine Pause. Ptah und ich starrten uns schweigend an. Ptah seufzte laut. Admiral und Kosmopsychologe Atlan Gonozal von Arkon! Auch dieses Mal wirst du die Aufgabe lösen können. Eure Überlebenspotentiale sind hoch: Nutzt sie aus. Die Horden, die über den Rand des Dimensionsfragments fliegen, klettern und springen werden, kehren um, wenn sie keine Opfer finden. Ich weiß, daß ich nichts weniger verlange als kleine Völkerwanderungen. Beschwört das Orakel aller vorstellbaren Schrecken der Natur und der Götterwelt herauf! Ihr könnt verhindern, daß einige kleine Kulturen ausgelöscht werden, solche, aus denen Ptah stammt, wichtig für kommende Geschlechter. All das und vieles mehr werden ausgelöscht, wenn die Horden den Dimensionsfahrstuhl verlassen und ihre Opfer fangen. Ich sehe zu und helfe euch. Warnt den Stadtkönig von Gnos! Dein Name, Atlan, und die Frau mit den exotischen Linien in ihrer Haut, Charis, eure Namen manifestieren sich in denkwürdigem Zusammenhang. Das Lachen erzeugte ein flaues Gefühl im Magen. Mit weichen Knien ging ich zur Bordwand und holte den Weinschlauch. Ich tastete nach dem Zellaktivator. »Beim Wassergott«, brummte ich. »Die Aufgabe überfordert uns!« »Warten wir, bis wir in Amnis sind«, sagte Ptah. Es würde länger dauern, bis wir völlige Klarheit hatten. Ich fröstelte; die Größe des Vorhabens überstieg meine Vorstellungskraft. Ich trank einen Schluck gemischten Wein und spürte nicht einmal den Geschmack auf der Zunge. Ich wünschte, nichts von alledem zu wissen. Ptah-Sokars Empfindungen waren ähnlich.
Sein Gesicht sah grau und eingefallen aus. Er sagte: »Bevor wir zu handeln anfangen, brauchen wir größtmögliche Klarheit. Hast du je etwas von Charis gehört? Erinnerst du dich an ihren Namen oder an sie selbst?« »Nein. Zusätzliche Erinnerungen werden uns helfen.« »ES war schon immer für Überraschungen gut!« Auf dem schwankenden Schiff, fernab aller klaren Informationen, waren wir nicht in der Lage, uns die Fragen, Probleme und Eigentümlichkeiten vorstellen zu können. Von Zerres und seinen Männern erfuhren wir zuverlässig, wie die Welt um uns aussah. Eine Verbindung mit Rico schien im Augenblick noch nicht möglich zu sein. Was wußten wir? Nach vielen Abenteuern in Amenti, dem Land Ptah-Sokars, das die Bewohner der Inseln »Khem« nannten, bereiteten wir neue Aktivitäten vor. Obwohl unsere Erinnerungen stets irgendwie manipuliert wurden, blieb ein unveränderbarer Rest von Wahrheit und Wirklichkeit, selbst im wirren Geflecht der wirklichen und geträumten Träume. Vielleicht erfuhren wir mehr in den folgenden sechsunddreißig Stunden auf See, vor dem Ostkap Keftius. Ich begann, die Ledersäcke meines Gepäcks zu öffnen und ihren Inhalt zu prüfen. Wir segelten im Binnenmeer, dem Wadj-Wer, das von vielen unsichtbaren Handelsstraßen gefurcht war. Die meisten Schiffe fuhren in Landsicht und konnten bei mißlichen Winden auf den Strand gezogen werden. Keftius Schiffe beherrschten das Große Grüne, aber die Erfinder der Purpurfarbe von Gublas Küste handelten nicht weniger erfolgreich. Zerres erzählte hinter vorgehaltener Hand, daß sie sogar den Weg nach Tarses wußten, der Zinn- und Silberstadt jenseits der Meerenge, im Zweiten Ozean. Der tätige Vulkan auf einer der unzähligen Inseln in unserem Rücken, auf Stronghyle, war in den letzten Jahrzehnten zweimal ausgebrochen und hatte das Meer mit
schwimmendem Stein bedeckt. Noch immer tanzten die nackten Jungfrauen auf den Rücken keftischer Stiere; von Charis und ihrem weißen Schiff hatte Zerres in einer Hafenschenke gehört. Ptah und ich kannten unzählige Mosaiksteinchen, aber vermochten das Bild noch nicht richtig zusammenzusetzen: Pferde, Kampfwagen, Stadtkönige, Leibeigene, unzählbar viele kleine Häfen und Siedlungen an Küsten, die wir kannten – wir sprachen wie Zerres und seine Leute, mit derselben Rauheit vieler Vokale. Ptah zog eine Lederrolle aus dem Gepäck und entnahm ihr ein aufrollbares Blatt, das wie glänzendes Schreibleder aussah. »Es schmerzt, nicht immer über alle Erinnerungen verfügen zu können«, sagte er und drehte die Karte zu mir herum. Er betrachtete sie und strich über seinen schmalen Nasenrücken. »Eine von Ricos Karten. Wir können uns immerhin aus dem Sumpf der Unwissenheit herausziehen.« »Vielleicht ist es besser, wenn einige unserer gemeinsamen Erinnerungen vergessen bleiben.« Die dreidimensionale Karte voller schriftlicher Informationen im Blau des Meeres zeigte den nordöstlichen Teil des Großen Grünen, aber nur die größeren der 2000 Inseln. Kap Pleikast am Ostrand Keftius war am linken unteren Rand zu erkennen, auch die dünne, lange Rauchfahne aus dem Zentrum Stronghyles. Ich öffnete einen anderen Beutel und sagte leise: »Bis wir unsere Stellung inmitten der Barbaren genau kennen, vergeht noch etliche Zeit, Ptah. Laß mich erst einmal mit Rico sprechen.« Der Wind aus Nordost wehte stetig; in sinkender Dämmerung knirschte der Kiel der REA auf einen winzigen Sandstrand bei Kap Pleikast. Der Ankerstein fiel, wir zogen das Heck zwei Schritte auf den Strand. Weder am Schiff noch in der Bewaffnung der Männer entdeckten wir Eisen oder Stahl. Noch immer waren gutgearbeitete Bronzewaffen in Gebrauch. Zerres
sprang vom Heck und rief: »Macht Feuer, Männer! Atlan und Ptah haben zuviel kalten Braten mitgebracht.« »Ein paar heiße Bissen und ein guter Schluck würden keinem schaden«, sagte ich und warf dem Koch das schwere Paket zu. »Schlaft ihr alle im Schiff?« »Jeder, wie er will«, antwortete Zerres. Unter unseren nackten Sohlen schien der Boden zu schwanken. Wir sammelten Treibholz, das ich unbeobachtet mit dem Strahlerdolch zerschnitt. Schließlich saßen elf Männer in weitem Kreis ums Feuer, tranken heißen Kräutersud; auf einem flachen Stein buk der Koch Fladenbrote. Wir aßen zum heißgemachten Würzbraten geräuchertes Fleisch von wilden Schweinen, Nüsse, Datteln und getrocknete Feigen. Ich breitete eine Decke auf dem gereinigten, geglätteten Strand zwischen Felsbrocken aus und legte die Teile meiner Ausrüstung nebeneinander; jedes Stück weckte eine neue Erinnerung. Schließlich vertauschte ich den ledernen Sehnenschutz gegen ein Funkarmband aus Metall, Leder und Ziersteinen. Die Seeleute sprachen über die Dirnen im Hafen von Gnos, über ihre Gewinnbeteiligung an der Handelsware, über Meer, Strömungen und Sturm; als die Flammen zu roter Glut heruntergebrannt waren, fragte Zerres: »Wohin wird euch der Schwur führen, den ihr beim Orakel getan habt?« Seine Männer respektierten ihn. Seine Stimme, ein hallender Baß, strahlte Können, Klugheit und Selbstbewußtsein aus. »Und wann soll sich das Orakel erfüllen?« »Wir werden in vielen Häfen sprechen. Nicht in jedem; niemand kennt sie alle. Uns wurde gesagt, das Orakel erfüllt sich in fünf Monden.« Das Meer, bevölkert von Inseln und seltsamen Fischen, von Wetterleuchten und Windhosen, war ebenso wie das gesamte Leben der Menschen beherrscht vom Glauben an Vorbestimmung, an Götter, Dämonen und Wahrsagungen, an die Macht
einzelner und von seltsamen Jenseitsvorstellungen. Die Götter waren ebenso streitsüchtig wie die Menschen; diese aber waren unglaublich gastfreundlich und unwissend. »Das ist gewiß?« fragte der Steuermann. Ptah nickte. »So gewiß wie die Augen am Bug der REA. Verderben wird vom Himmel kommen.« »Die Götter donnern nicht nur.« Zerres machte beschwörende Gesten mit den Fingern. »Sie senden auch die Blitze der Vernichtung auf uns herab.« »Das Verderben scheint nicht von den Göttern zu kommen.« Ich entzündete eine meiner Fackeln an der Glut und rammte sie in den Sand. Auch Ptah untersuchte sein Gepäck. »Es kommt von den ewigen Sternen; es wird das Meer aufwühlen und die feste Erde erschüttern.« »Keine Götter? Wer sollte mächtiger sein als die Geschöpfe des Kronos?« »Darauf antwortete das Orakel nicht«, sagte ich und lehnte mich an den Fels, über dem mein Mantel hing. Die kühle Nachtluft wurde von Gerüchen und Geräuschen beherrscht: knackendes Holz des Schiffes, Rauch, Düfte unbekannter Blüten, harzige Pinien, Schweißgeruch, Murmeln und Gelächter und das Zischen der Wellen im Sand. Der Extrasinn sagte: Ob ES diesen makabren Gegensatz zwischen Idyll und der Drohung beabsichtigt hat? Beschwöre Zerres, in fünf Monden nicht zwischen den Inseln zu segeln! »Verstehe ich euch recht?« Kyares, der zweitwichtigste Mann an Bord, wickelte einen Brotfladen über den Rest des Bratens und blies auf seine Fingerspitzen. »Ihr fahrt und wandert von Hafen zu Hafen, von Ort zu Ort, Insel zu Insel und verkündet den Orakelspruch? Ihr seid entweder vom Dämon des Hochmuts geschlagen worden oder seid Halbgötter – alle Häfen in hundertfünfzig Tagen?« »Du hast ihre Waffen gesehen.« Zerres schien mehr von uns
zu halten als sein Rudergänger. »Es sind die Waffen großer Krieger!« Wellen gluckerten gegen den Schiffsrumpf. Reiher flogen, mißtönend schreiend, über die Bucht. Ich hob die Schultern. »Unsere Waffen sind gut, aber auch wir sind zu töten. Und unsere Hände, ob sie Waffen halten oder Becher, können schwach werden.« Wir brauchten uns nicht zu verstellen: Für die Seeleute standen wir im Bann des Orakels. Wenn wir in Gedanken oder im Gespräch auf die fünf Monde Zeit bis zum Inferno kamen, legten sich Beklemmung und Angst auf uns. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, wie wir unsere Aufgabe erfüllen konnten. Ptah rollte zwei Decken auseinander und antwortete: »Bedenkt, was uns das Orakel auferlegt hat. Wir haben keine Wahl; wenn uns der Fluch nicht treffen soll, müssen wir reisen.« »Schmählich ist’s und feige, dem Willen der Götter nicht zu gehorchen!« stieß Zerres hervor. »Weder Atlan noch ich haben dies vor.« »Bei deinem Namen, Atlan, frage ich mich jedesmal, was du mit der Insel des Schmiedegottes zu tun hast. Der Runden, Stronghyle, die auch Atlantis genannt wird.« Meine tiefe Verwirrung blieb. Atlantis? Der Kleinkontinent, der mit dem stählernen Riesenturm der Überlebensstation im Meer versunken war, hatte denselben Namen getragen. Beschwichtigend wisperte der Extrasinn: Eine zufällige Übereinstimmung! Wenn nicht, so haben Überlebende den Begriff über unzählige Generationen hinweg weitergeflüstert! Bedenke die Entfernung zwischen beiden Atlantis! »Beide Namen, Kapitän Zerres, haben nichts miteinander zu tun. Ich weiß nur ungefähr, wo Stronghyle liegt. Was zeichnet sie aus?« »Eine schöne, reiche Insel, ein friedlicher Hafen, eine Herr-
scherin, die ihre Söhne und Töchter auch als Geiseln nach Gnos schickt.« »Geiseln?« sagte Ptah überrascht. »Herrscht Keftiu durch Geiseln über Meer, Häfen und Inseln?« »Geiseln helfen dem Herrscher, gerecht zu herrschen.« Der Steuermann schüttete Quellwasser in seinen Wein. »Sie sichern, daß sich kleine Fürsten nicht gegen Keftiu verbünden.« »Keftische Zöllner treiben von allen Schiffen Tribut ein«, sagte Zerres grollend. »Auch von den eigenen.« »Ich verstehe.« Ich blickte in die Sterne. »Mehr und deutlicher erkenne ich, durch welche Welt wir mit der REA segeln.« »Aus welchem Teil der Welt kommt ihr?« »Jenseits der Meerenge – Zerres nennt sie ›Säulen des Molq‹ – nahe Tarses, von dort nach Süd in weitem Bogen, dorther kommen wir. Wir segelten, ritten und wanderten entlang vieler Küsten, bis wir an Bord der REA kamen. Lange und viel könnte ich von meiner Heimat erzählen oder vom Land Khem, aus dem Ptah kommt, von tausend Abenteuern und hundert Kämpfen.« »Warum erzählst du nichts, Atlan?« Kyares schlenkerte einen Weinschlauch in der rechten Hand und schob mit einem Fußtritt einen Kloben in die Glut. »Ein Schluck Wein wird deine Zunge und unsere Ohren schärfen.« Ich gähnte, und Ptah brummte: »Mein Freund ist müde. Ich bin’s auch. In der Schenke von Amnis wird er euch mit stundenlangen Märchen beglücken.« »Wir sind alle müde«, sagte Zerres. »Wickelt euch in die Decken. Bei Sonnenaufgang geht’s weiter.« »Ist wohl das beste«, brummte Sida, der Koch. Die Fackel begann zu flackern. Einige Männer suchten sich Mulden im Sand, der wenig von der Wärme des späten Frühlingstages ausstrahlte. Ptah und ich wickelten uns in die Mäntel; es war, als habe uns alle gleichzeitig die Müdigkeit übermannt. Ich
starrte in die Sterne, und in meiner Vorstellung löste sich ein Lichtpünktchen aus der Schwärze, kam näher, wurde größer, entpuppte sich im Licht eines gräßlich weißen Mondes als gigantischer Felssplitter. Im ersten Anflug des Traumes sah ich die Horden der Ungeheuer an den Klippen der Ränder kauern. Das Weltenfragment stürzte durch die Lufthülle, tauchte ins Meer und erzeugte eine kreisförmige Riesenwelle, die sich gischtend ausbreitete, Schiffe durch die Luft wirbelte, Siedlungen vernichtete, Orkane, Gewitter, Überschwemmungen und Zerstörungen auslöste, Menschen und Tiere auslöschte und, als sich die Welt vom ersten Schrecken erholt hatte, Tausende von unbekannten Ungeheuern entließ. Warum abermals eine Prüfung dieser Welt? dachte ich schläfrig. Aber nicht einmal der Logiksektor antwortete. Drei Stunden vor dem ersten Licht des Morgens warf ich meinen Schild auf den Rücken, ging zum Ende des Strandes und setzte mich so, daß ich Schiff und Mannschaft im Auge hatte. Ich schaltete das Funkarmband und den Bildschirm ein und rief Rico; er meldete sich aus der Halle der Monitoren. Ich sah über seiner Schulter einen ins Riesenhafte vergrößerten Ausschnitt der Planetenoberfläche: Keftiu, Stronghyle und andere Inseln, deren Namen ich nicht kannte. »Wie du sehen kannst«, murmelte ich, »haben wir den Strand Keftius erreicht. Wir brauchen tausend Informationen.« »Zuerst sollst du wissen, daß ES nicht nur euch eingesetzt hat. Nach meinen Bauplänen ist ein Schiff gebaut und in eine Bucht westlich des Hapi-Mündungsdeltas gebracht worden. Dort wurde es ausgerüstet und bemannt. Gleiter, Nachrichtenverbindungen und alles andere stehen bereit; ich kenne auch den Wortlaut der Warnung von ES.« »Ich bin ausgesprochen erleichtert, dich zu sehen«, sagte ich und hielt den Schild mit beiden Händen am Rand. Das runde
Bild war nur zweidimensional, aber gestochen scharf. »Und was du sagst, beruhigt meine zitternden Nerven. Du kontrollierst also unseren Standort.« »Nicht nur das. Jener Vulkan, dessen Gasspur auf vielen Karten zu sehen ist, brach im Jahr 6662 nach Untergang von Atlantis aus, 250 Jahre nachdem ihr die Parasiten besiegt habt. Ein schweres Beben erschütterte die 2000 Inseln, und gewaltige Mengen Schaumstein wurden von Sturmwellen und Orkanen weithin verfrachtet. Seither habe ich keinen Ausbruch mehr angemessen; die Gefahr, daß der Druck in der Magmakammer unterhalb des Vulkans wächst, ist als höchstwahrscheinlich von mir errechnet worden. Wenn ich und die Großrechner die Entwicklung der nächsten Tage zutreffend errechnet haben, werdet ihr etwa einen Siebentag lang noch als reisende Orakelkrieger maskiert bleiben.« »Zumindest bis zum Besuch des kleinen Königs Mins oder Minos mit seinen fürstlichen Geiseln. Wir legen bei Sonnenaufgang ab. Kurs Amnis.« »Die Speicher sind unangetastet, Gebie… Atlan.« Daß Ricos unsichtbare Sonden in unserer Nähe schwebten, beruhigte mich zusätzlich. »Bestimmte Erinnerungen dieser Speicher schildern, daß die Fundamente des Gnos-Palastes unter der Mitwirkung von Ranthys und dir entstanden sind, ebenso Teile des Hafens. Vielleicht löst ihr Anblick einen Erinnerungsschub aus.« »Vielleicht«, sagte ich. »Obwohl es jetzt nicht wichtig ist. Ich habe das Funkarmband aktiviert, also erreicht mich jede neue Information. Ich trenne jetzt die Verbindung. Grüße NeTefnacht und überspiele ihr diese Sequenz. Ende.« Das Bild erlosch, die Lautsprecher knackten leise. Ich schlich zurück zu meinen Decken und hängte den Rundschild an einen winzigen Felsvorsprung.
10. Gegen Mittag erstarb binnen weniger Atemzüge der Wind. Die Bucht, durch deren fast unbewegtes Wasser wir ruderten, führte zum Rundturm des Hafens der Nordküste, etwa in der Mitte der langgestreckten Insel. Boote, kleine und große Schiffe, mit schlaffen Segeln oder gerudert, kamen uns entgegen. Aus ihrer Mitte heraus, zwischen dem Turm und den Säulen, von denen das Ende des Wellenbrechers gekennzeichnet wurde, rauschte ein großes, schlankes Schiff auf unseren Bug zu. Zerres stand neben mir; alle anderen arbeiteten an den Riemen, ohne sich zu überanstrengen. Er brummte voller Neid: »Noch nie hab’ ich einen solchen Doppelruderer gesehen! Ein herrliches Schiff. Ganz neu. Will Minos uns rammen?« Er hob den Arm, gab dem Steuermann ein Zeichen, und die REA änderte den Kurs. Deutlich zeichneten sich die Kielspuren der Schiffe ab; in der Mittagshitze erzeugten bisweilen ablandige Winde bizarre Kräuselmuster auf der Wasserfläche. Auch der Zweiruderer änderte seine Richtung, aber der Rammsporn, mit Bronze beschlagen, zeigte unverändert auf uns. Wahrscheinlich, dachte ich, war es bronzierter Arkonstahl. Durch die stille Bucht erscholl dröhnend eine Stimme: »Seid ihr das Schiff, das einen Weißhaarigen und seinen Freund, einen Khem, an Bord hat?« Zerres und ich wechselten einen verblüfften Blick. Zerres holte tief Luft, hob die schwieligen Hände an den Mund und brüllte: »Die REA hat diese Gäste! Was wollt ihr?« Ich stutzte: Die Bewegungen von rund fünfzig Riemenenden und Schäften waren absolut synchron und kraftvoll. Dann dachte ich kurz an Ricos Baupläne und grinste in mich hinein. Die Enden hinterließen zweifache Doppelspuren, die sich in
unzähligen auseinanderlaufenden Ringen verliefen; wieder einmal dachte ich an die reiche Schönheit von Larsaf Drei, verdrängte die Überlegungen und sah zu, wie ungewöhnlich kräftige Ruderer das Schiff in einen Kreis zwangen, der es an Backbord längsseits bringen würde. »Wir begleiten euch zum Ankerplatz. Wir helfen Atlan und Ptah bei der Erfüllung ihres Gelübdes. Mit dir, Kapitän, spricht Nestor, Kapitän der CHARIS.« Gib keine unbedachte Antwort! riet der Extrasinn. Ich drehte mich um und grinste Ptah an, der unter dem Vorwand, seine Muskeln geschmeidig machen zu wollen, auf der Ruderbank saß. Er hob Schweißüberströmt den Kopf. Ich sagte zu Zerres: »Eigentlich habe ich die CHARIS später und in einem anderen Hafen erwartet. Du siehst – man hilft uns bei der Erfüllung des Schwures.« »Ich wünschte, das wäre mein Schiff!« Er schickte einen ausdrucksvollen obszönen Fluch hinterher. Ich lachte und versuchte einen halbherzigen Trost. »Vielleicht brauche ich dich eines Tages als kundigen Kapitän.« Schlank, seegängig und mit den besten Merkmalen großer Handwerkskunst gezimmert, mit hoch aufragendem Bug, glatten Außenplanken, winzigen Löchern für die Riemenschäfte und riesigem, eingerolltem Rahsegel glitt die CHARIS heran. Das Galion war ein Held in achaischem Kampfhelm, der den Kopf eines schlangenhaarigen weiblichen Monstrums an seine Brust preßte. Matt bewegte sich der goldgelbe Helmbusch, die Schlangen schienen sich zu winden, und das grausige Gesicht starrte uns mit achatenen Augen an. Wir ruderten nebeneinander auf die Hafeneinfahrt zu. Jeweils elf und, darüber, neun Riemen bewegten sich an Backbord und Steuerbord der CHARIS in maschinenhaftem Takt. Mit offenen Mündern starrten alle das Schiff an. Ich rief zum weißbärtigen Kapitän
im Heck hinüber: »Hier sind wir, Nestor! Atlan und Ptah-Sokar!« »Euer Haus ist bereit. Ihr und das Gepäck werden auf Wagen nach Kunusa oder Gnos gebracht. König Mynos erwartet euch. Folgt uns.« Jeder sprach den Namen anders aus. Ptah rief von der Ruderbank: »Habt ihr Wein für uns?« »Auch für eure unwürdigen Lüste ist gesorgt.« Nestor lachte und hob eine blitzende Bronzedoppelaxt. Er war groß, in eine glänzende Bronzerüstung gehüllt, hakennasig und weißhaarig. Der schwarze Pferdeschweif auf seinem Helm peitschte hin und her. »Rudert schneller; um so früher seht ihr die Schönheiten des Hafens.« Ich hatte noch lange nicht genug gesehen. Das Schiff und wahrscheinlich Teile seiner Einrichtung konnte ich als Meisterwerk bezeichnen. Das Ruder war hinter dem Kiel angebracht, nicht seitlich, mit waagrechter Pinne wie bei allen anderen Schiffen. Wahrscheinlich war die Hälfte der CHARIS, so wie unsere Ausrüstung, täuschend nachgeahmt, aus arkonidischem Material, besser, leichter und widerstandsfähiger. Einige geheimnisvolle Einrichtungen waren wohl nur Eingeweihten zugänglich und verständlich. Nebeneinander legten wir am Steuerbordkai an. Als Ptah aus dem Bauch der REA heraufkletterte, wandte ich mich an Zerres. »Unsere Fahrt, denke ich, ist hier zu Ende.« »Bei Minos wirst du die Geiseln sehen und die Stiertänzerinnen. Alle neun Jahre kommen sieben schöne Mädchen und Knaben hierher.« Er schnalzte anerkennend mit der Zunge und blickte auf die vielen würfelförmigen Häuser mit flachen Dächern und gekalkten Mauern, die sich vom Hafen aufwärts über die Hänge erstreckten, von kleinen Plätzen, schmalen Straßen und schattenwerfenden Bäumen unterbrochen. Ptah wuchtete unser
Gepäck an Deck. Ich meinte es ehrlich, als ich sagte: »Ich bin sicher, daß sich unsere Wege wieder kreuzen werden. Das Meer ist nicht der Weltenfluß Okeanos. In jedem Hafen werden Ptah und ich nach Kapitän Zerres und der REA ausschauen.« Der Kapitän nickte, während seine Mannschaft schnell und mit der Erfahrung unzähliger Monde das Schiff belegte. Er richtete den Blick in den strahlenden Himmel und sagte leise: »Ich hab’ über eure langen Erzählungen nachgedacht. Und über das Orakel. Ich hoffe, daß die REA, wenn sich an jenem Tag die Vorbestimmung erfüllt, weit weg von der Wut des Sternen- und des Meeresgottes ist.« »Das ist, bei der Allmutter, auch unser Wunsch.« Ich schlug ihm auf die Schulter. »Mit ein wenig Glück überleben wir alle.« In seinem Blick lag eigentümliche Bewunderung, gepaart mit Unsicherheit. Wir waren tagelang an Bord des kleinen Schiffes aufeinander angewiesen gewesen und schieden dennoch halbwegs als Freunde; dieses Problem stellte sich auf jedem Schiff, auch bei Nestor auf der CHARIS. Als wir, schwer beladen mit der Ausrüstung, über die Planke balancierten, rief Zerres: »Eure Tage seien gesegnet!« »Wie deine Nächte. Bring den Göttern Opfer«, sagte ich gallig. »Daß wir unsere Aufgabe lösen können.« »Ich tu’s, Weißhaariger.« In den nächsten Stunden sahen und erkannten wir, daß noch immer die Bronze die Inseln und weithin die Küsten beherrschte. Die Eindrücke summierten sich. Sieben Wagen mit Scheibenrädern rasselten über das Steinpflaster heran, von wild aussehenden, ungepflegten Pferden in atemabschnürendem Brustgeschirr gezogen. Bronzefelgen klirrten, dampfend quoll Fett aus den Naben ungefederter Achsen. Die Wagen-
lenker hielten Zügel aus Seilen und Leder in den Fäusten. Nestor ergriff unsere Handgelenke, schüttelte unsere Unterarme, nahm den Helm ab und hielt ihn in der Achsel. Seine Männer verluden das Gepäck und einige Lasten aus der REA in die Wagenkörbe aus Flechtwerk. Dutzende Müßiggänger sahen zu, die Pferde rissen wiehernd an den bronzenen Trensen. Hitze schlug wie mit Hämmern auf uns nieder. Männer mit verschlagenen Blicken versuchten den Wert unserer Habe zu schätzen. Eine barbarische Welt, vom erhellenden Strahl aufblühender Kultur getroffen. Ich musterte Nestor und seine Männer und fragte mich, ob sie Menschen oder Androiden waren. Rauhe Scherze flogen zwischen ihnen hin und her, die Bäume verströmten den Geruch heißen Harzes. Hinter den Häusern erschollen Schreie; ich war sicher, Peitschenhiebe zu hören. Der Extrasinn sagte: Bei einem Auftrag von ES ist alles möglich. Unterdrücke deine kühnen Gedanken nicht! Das nackenlange Haar von Nestors jungen Männern, die einen entschlossenen Gesichtsausdruck trugen, war gepflegt. Wo die Haut von Zerres und seinen Männern voller Schnitte und Narben war – sie entfernten den Bart mit Seewasser, Öl und Bronzeklingen –, sah ich saubere, gebräunte Haut. Die Augen blitzten unternehmungslustig, Leder, Stoff, bronzene Gürtelschnallen und Waffen glänzten. Jeder bewegte sich, als wisse er genau, was zu tun sei, als handelten sie unter dem Einfluß unhörbarer Befehle. Sie unterschieden sich deutlich von den Männern aus Keftiu und den Seeleuten, die gafften und miteinander murmelten. Nestor zog uns zum ersten Wagen. Ein Junge stemmte sich gegen die Zügel. »Wir sind wohlgelitten beim König. Er weiß, daß ihr die Worte des Orakels bringt: ihr dürft bei den Stiertänzern zusehen.« Die Pferde ruckten an, Menschen sprangen zur Seite, hinter uns stapelten sich Säcke, Ballen und Truhen. Ich fragte: »Wel-
che Tänze?« »Die begabtesten Mädchen von den Inseln werden am Königshof ausgebildet, um Schein-Tanzkämpfe mit Stieren zu führen.« Durch Geiseln sicherte sich Minos Einfluß auf seine Tributpflichtigen und vermied Kriege; Sprache und Kultur wurden dadurch weitergegeben, wenn die Geiseln zurückkehrten; die jungen Menschen sahen alles mit den Augen derer, die auf der sorgenfreien Insel gelebt hatten. Ich fragte durch den Lärm rasselnder Bronzefelgen: »Von wem habt ihr den Befehl, uns abzuholen und zum Palast zu bringen?« »Von Charis. Sie kümmerte sich um jede Kleinigkeit, aber sie ist schon fortgesegelt.« »Woher kennst du sie, Nestor?« »Das Orakel brachte mich zu ihr, als sie auf Atlantis tanzte.« Ich nickte und machte mir schweigend verschiedene Gedanken. Wir hielten uns fest, als die Fahrt über ungepflasterte Straßen und Wege führte, schräg die Hügel hinauf. Es blieb heiß, ohne jeden erfrischenden Wind. Die Zugtiere dampften und keuchten. Ich warf einen Blick in den Hafen hinunter. Die CHARIS war das schönste und größte Schiff. Nestor, Charis und das Schiff – neue Rätsel und unbeantwortete Fragen warteten. Felder und Weinberge säumten die Straße, riesige Bäume und lange Mauern aus Bruchstein, unter deren oberster Steinreihe waagrecht gelegte Bündel dorniger Äste und Gestrüpp das Überklettern von Tieren verhindern sollten. Dahinter sah ich Scheunen und kleine Häuser. Auf einem geraden Stück Sandstraße waren wir, in ausgefahrenen Spuren schlingernd, in Staubwolken gehüllt. Am Ende weiterer Biegungen, von großen Bäumen überschattet, lag das große, palastähnliche Haus. Sorgfältig geschnittenes Gras umgab wuchtige Mauern und reichte bis zu den knotigen Wurzeln der Ölbäu-
me; Lehmziegel, Quader, Kamine, Balken und doppelaxtähnliche Dachverzierungen bildeten wuchtige Muster. Ich erinnerte mich an die Lage des Bauwerks zum Hafen, nicht aber an Einzelheiten. Unsere Wagen hielten vor einem Nebengebäude. Unter schweren, altersgebeizten, vom Regen ausgewaschenen Bohlen trat eine junge Frau hervor. Nestor nahm den Helm ab, hielt ihn unter der Achsel und deutete auf PtahSokar und mich. Plötzlich, im Schatten des Vordachs, wirkte Nestor älter und erfahrener, fast weise. »Hilaeira, die Vertraute von Charis, begrüßt euch. Sie sorgt für euch, solange ihr in Kunusa seid.« Die schlanke Frau trug ihr Haar straff um den Kopf gewunden. Ein weißes Kleid, durch vergoldeten Bronzeschmuck gehalten, reichte bis zu den Füßen, die in Sandalen mit geflochtenen Riemen steckten. Sie breitete die Arme aus; ihre Stimme war hell und fest. Ptah strahlte sie hingerissen an. »Willkommen, Atlan und Ptah! Charis hat euch richtig geschildert. Ihr werdet alles finden, was keftische Gastfreundschaft bieten kann.« »Wenn sie der Schönheit der redegewandten Hausherrin entspricht.« Ich versuchte eine ehrliche Erwiderung. »Dann wird sie uns für alle zukünftigen Entbehrungen und die rauhe Seefahrt entschädigen.« Hilaeira deutete ins Hausinnere. Einige Schritte weiter umgab uns barbarische Pracht aus geschnitzten Balken, dicken Wollteppichen, Leder und Fellen, aus Schilden, die im Halbdunkel glänzten. Blakende Öllampen kämpften gegen Lichtbalken, die durch Rauchabzugsöffnungen und die Risse schwerer Holzläden einfielen. Auch dieser Teil des Hauses konnte einer Belagerung widerstehen; es roch nach kaltem Rauch, und das Haus verströmte seine vielfältigen Gerüche wie ein großes, träges Tier. Hilaeira führte uns durch einen breiten Korridor, schob einen schweren Ledervorhang zur Sei-
te und sagte: »Die schönsten Räume des Hauses. Fühlt euch wohl; gleich werden euch Mägde und Diener helfen.« Dieser Teil der Palastanlage war für das Leben am Abend und in der Nacht gedacht, als Schutz vor Regen, Sturm und Kälte. Die lichtdurchflirrte Kühle der Lehmziegelbauten am Hapi fehlte ihnen. Ich stieß den Laden auf, der an ledernen Scharnieren hing; Sonnenlicht zeichnete ein verzerrtes Viereck auf den Boden aus winzigen Kieseln. Ich drehte mich um, musterte die Frau und sagte: »Noch fehlen mir die richtigen Worte, Herrin. Verzeih, wenn ich aus Unwissenheit Fehler mache. Was sagte Charis über uns?« »Ihr seid, sagte sie, wichtige, kluge Männer, große und wissende Krieger.« Die dunkelblonde Frau berührte das Amulett auf ihrer Brust. »Sie ist ebenso Teil des Orakels wie ihr. Sie wird euren Weg vorbereiten und euch helfen.« »Wo und wann treffen wir sie?« Ptah kam herein und sah sich um. Hilaeira hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Darüber sprach sie nicht mit mir. Sie ist auf dem Weg nach Sparta.« »Du kennst die Bedeutung des Orakelspruchs?« »Wir sprechen über alles: abends, bei einem guten Mahl, in der Halle. Ruft nach mir, wenn ihr etwas braucht.« Sie verbeugte sich und ging hinaus. »Befehlt den Dienerinnen.« Dienerinnen, Sklavinnen, Leibeigene, Nestors Männer, Kinder und Grauhaarige, deren Rücken gekrümmt waren, brachten unser Gepäck und die Ausrüstung. Ptah hatte den Raum neben mir; ein einfacher Abtritt und die Badebecken waren nur wenige Schritte entfernt im Hof, zwischen Bruchsteinmauern. Der Geruch brennenden Holzes und lautes Plätschern bewiesen, daß man das Bad für uns vorbereitete. Ich versuchte im Durcheinander der Gepäckstücke und der Helfer den Ü-
berblick nicht zu verlieren, packte, als sich der Raum geleert hatte, eine flache Truhe aus Holz und Leder aus und fand, was ich erwartet hatte: zwei Dutzend Karten aus einem Material, das dem gebräuchlichen Schreibleder ähnelte. Die Teile meiner Rüstung hingen auf Holzknäufen an der gekalkten Wand. Der Rundschild trug auf der Außenseite, leuchtend farbig in Arkonstahl eingeätzt, einen Wolfsschädel mit aufgerissenem Rachen, darum ein Rundfries voller Schiffe, kämpfender Krieger, Göttinnen und Götter. Der dunkelbraun eingefärbte Helm trug außer der schwarzen Pferdeschweifzier einige Einbauten, die ich später durchtesten wollte. Köcher, Bogen, Schwert, Doppelaxt, Stiefel mit Beinschienen und ein lederner Waffenrock hatten die Seefahrt ohne Flecken überstanden. Ich sortierte die Arzttasche, einen Sack verschiedener Kleidung, Lederarmbänder mit eingearbeiteten Deflektoren und Abwehrfeldprojektoren, Dolche, scheinbar kostbare Ringe – sie waren Tieren und Göttergesichtern nachgebildet – und einige Beutel mit kupfernen, bronzenen, silbernen und goldenen Scheiben auseinander. Als ich mich in einem großen Rômetspiegel betrachtete und fand, daß es höchste Zeit für aufwendige Körperpflege sei, sah ich Ptah am Türsturz lehnen. Er grinste breit und fragte: »Zufrieden? Nichts verloren?« Ich setzte probeweise den Helm auf, der sich wie ein Tuch an meinen Kopf schmiegte. Bisher kannte ich weitestgehend den Wert der Ausrüstung; sie diente der eigenen Sicherheit, aber noch war nichts über den Umfang der Orakelmission erklärt worden. Ich stülpte den Helm über ein geschnitztes Astende und zuckte mit den Schultern. »Es scheint alles, was auf der Liste Ricos aufgeführt sein sollte, eingepackt und halbwegs ausgepackt zu sein.« Ich grinste und setzte mich in einen wuchtigen, mit Fell ausgelegten Sessel. »Noch ist Zeit zum Denken und Planen. Sinnlos, mit ir-
gend etwas anzufangen, ohne zu wissen, womit.« »Wahr gesprochen! Wir finden alles heraus, was mit dem fliegenden Land und seinen Bestienheeren zu tun hat. Hat dir die bezaubernde Herrin des erdig riechenden Palasts, in dem wir zu hausen die Ehre haben, etwas über die Gäste aus dem Palast gesagt? Heute abend?« »Nein. Du hast mehr als ein Auge auf sie geworfen, Ptah; ist es der Schwanenhals, oder sind’s die Hüften?« »Die Summe vieler schöner Einzelheiten«, sagte er. »Der Weg zu Charis führt über Hilaeiras Wohlwollen. Nicht nur deswegen gefällt sie mir. Nach langem Schlaf, solltest du wissen, ist jedes Wesen mit den Umrissen einer Frau schön genug.« »Ich hingegen«, ich lachte leise, »denke an Ne-Tefnacht und Merire-Chemsit. Deine Ausrüstung ist vollständig?« »Hoffentlich vollständig genug, um Hunderttausende von Menschen zu retten.« Er nickte. Ich legte eine Karte neben die andere und sah, daß Rico-Rê-wer-auch-immer uns hervorragend ausgestattet hatte. »Das wahre Abenteuer und sämtliche Gefahren finden vorläufig nur in unseren Köpfen statt, Freund Atlan.« »Heute abend erleben wir, ob unsere Überredungskunst und die Bedeutung des Orakels ausreichen, um Furcht in die Herzen einzupflanzen.« Wir nahmen ein Bad, wuschen das Haar, rasierten uns, trockneten uns mit Wolltüchern ab und legten frische Kleidung an; dünne Lederstiefel, in deren Schäften Lähmstrahlerdolche steckten. Kurze Lederröcke, Gürtel, mit Bronzeplatten beschlagen, Schaffellwams, ein hemdartiges Kleid aus feinem Leinen, und unsere Vielzweckarmbänder. Unsere Haut roch nach Zedern-Myrrheöl, als wir zur Halle gingen. Das Haus, von kaum weniger als zwölf Dutzend Fackeln und Öllampen beleuchtet, verschluckte die Geräusche unserer Schritte und
gab uns am Eingang zur Halle wieder frei. Ein mächtiges Feuer loderte in einem Glutkreis, vier Ellen im Durchmesser. An bronzenen Spießen drehten sich große Fleischstücke; Speck, Lauch, halbe Hühner, Innereien und fette Würste lagen auf Rosten und dampften. Es roch nach schwerem Wein. Etwa fünfzig Menschen saßen in mehreren Kreisen um die Feuerstelle, heiseres Gelächter mischte sich mit dem Klirren metallener Becher, die junge Frau bewegte sich zwischen den Gestalten wie ein Schatten. Als wir eintraten, erstarb das Lärmen. Ich hob den Arm, legte die Hand auf die Brust und sagte: »Eure Fröhlichkeit wollen wir nicht unterbrechen. Atlan von Arkon und mein Gefährte Ptah-Sokar, der Kluge aus Khem, begrüßen euch. Später werden wir über das Orakel reden.« »Trotzdem darf man uns volle Becher reichen«, sagte Ptah. Wir traten wie ungleiche Zwillinge in den Kreis der Gäste. Alle Gesichter waren uns zugewandt. Hilaeira nahm von einer Dienerin zwei silberne Pokale und reichte sie uns. »Seid abermals willkommen«, sagte sie. »Der Ratgeber des Königs, Mades, ist ebenso hier wie seine Sklavinnen.« Wir setzten uns auf Holzschemel, tranken, aßen und beantworteten Fragen der Nachbarn. Ein Mann in mittleren Jahren mit schmalem Gesicht, bartlos, dessen silbriger Haarkranz von den Schläfen zum Nacken lief, richtete mit lauter Stimme eine Frage an uns, als wir satt zu sein schienen. »Das Orakel, sagt man, trieb euch nach Kunusa. Das Orakel spricht von Zerstörung, Vernichtung, Tod. Was sollen wir davon halten? Verkündet ihr das Orakel?« Der Wein war mit kühlem Wasser gemischt. Ich trank und hörte Ptah antworten: »Ein Gott sprach über das Orakel. Unser Wissen ist nicht groß: Wer zählen kann, soll nachzählen. In fünf mal neunundzwanzig Tagen…« Er schilderte, was wir zu sagen hatten. Ich hörte schweigend
zu; die grausigen Vergleiche, die er gebrauchte, waren drastisch genug, jedem, der verstand, das Ausmaß der Schrecklichkeiten deutlich zu zeigen. Selbst die Sklaven vergaßen, die Spieße zu drehen. Ein scharfer Ruf der Hausherrin schreckte sie aus der Lähmung hoch. Als Ptah geendet hatte, fügte ich hinzu: »Wenn dann die Flut ausbricht wie ein Kessel aufflammendem Feuer, braust bald mit Ungestüm der siedende Strudel, und hochaufspritzet der Schaum und bedeckt alle Gipfel der Felsen. Wenn uns die salzige Flut des Meeres wieder hineinschlingt, senkt dort sich mitten der Schlund des reißenden Strudels, und ringsum donnert furchtbar der Fels, und unten blicken des Grundes schwarze Kiesel: Und bleiches Entsetzen ergreift uns.« Ich hob den Pokal und starrte in die Gesichter der Zuhörenden. »Wir beide, nur Werkzeuge des Orakels, sind sicher, daß es die Wahrheit sagt, darüber, was in fünf Monden geschehen wird. Fragt uns nicht über das Orakel aus – wir wissen nichts. Aber alle, deren Heimat von der Brandung des Meeres benetzt wird, haben fünf Monde Zeit, sich zu retten.« Ptah und Hilaeira, die atemlos den Reimen gelauscht hatten, sahen einander schweigend an. Aus einer Ecke krächzte eine ältere Frau: »Wer sagt uns, wie wir uns retten können?« Innerhalb des Hauses waren die Frauen augenscheinlich die Herrscherinnen; eine frühe Form nachdenkenswerter Gleichberechtigung. Ich entgegnete: »Wie rettet sich ein Schiff vor dem wütenden Sturm? Wie rettet man sich an Land vor Regenfluten, Beben und Wasserfluten? Die Große Allmutter macht es uns nicht leicht. Jeder soll nachsinnen und sich vorbereiten. Das sagte das Orakel – mehr sagte es nicht.« Sklavinnen trugen Körbe voller süßem Gebäck, mit Nüssen und getrockneten Weinbeeren von Gast zu Gast. Auch ich griff
zu. Die Bratenreste von den Spießen wurden auf weiße Holzbretter abgestreift und von jungen Sklavinnen mit grobkörnigem Meersalz überstreut. Wir hatten mit Fingern und Messern gegessen: jetzt aßen wir dunkles, warmes Brot und wuschen die Finger in großen Bronzeschalen. Ich lehnte mich gegen den Stützbalken hinter dem Schemel und sah zu, wie Ptah mit Hilaeira sprach und wie die meisten Gäste über unsere Worte redeten. Ich schloß die Augen und war sicher, daß trotz aller barbarischen Fröhlichkeit unsere Worte tiefen Eindruck hinterlassen hatten. Vielleicht, hoffentlich, möglicherweise… hatten alle die Botschaft verstanden und richteten sich danach. Ich bezweifelte es, von Ausnahmen abgesehen. Unsere unmißverständliche Warnung verhieß Verwüstung und Tod. Mir schien, daß niemand an der Aussage der Warnung zweifelte. Der königliche Ratgeber lud uns auf den Tag nach morgen in den Palast zu den Stiertänzerinnen ein. Meine Blicke zeigten mir mehrerlei: Die Gesichter mancher Barbaren schienen zu denkenden, nachdenklichen Individuen zu gehören, die gelernt hatten, daß sie Teil eines schwer begreiflichen Kosmos waren, der von höheren und kaum verständlichen Prinzipien gesteuert wurde; eine klarere Sicht des Lebens als beispielsweise im Hapiland. Eine der meistgestellten Fragen war: »Wie lange bleibt ihr in Gnos?« Die Antwort war schwer. Ich sah zu, wie Nestor mit undurchdringlicher Miene Ptah und Hilaeira zusah; sie befahl mit Winken und leisen Worten den Dienerinnen, und ihre Blicke waren schneller als die Ptahs. Ihre Finger lagen auf seinem Schenkel, ihre Schultern berührten sich. Ab und zu wechselten sie einige für mich unverständliche Worte und sahen einander länger in die Augen als notwendig. Als sich ihre Finger verschränkten, antwortete ich vage: »In wenigen Tagen verlassen wir Keftiu. Wir haben keine
Wahl, trotz der Frühsommerstürme.« »Wir haben keine andere Wahl«, sagte Ptah rauh. »Das Orakel treibt uns umher.« Die ersten Gäste gingen, von Hilaeira bis zum Eingang geleitet. Als ich ins Freie trat, hing über meinem Kopf die silberne Mondsichel zwischen den Sternen. Als die letzten Geladenen, von fackeltragenden Sklaven begleitet, sich in der Nacht verstreuten, blieb ich im Eingang stehen. Hilaeira sah mich an und zuckte mit den Achseln. »Bei den ewigen Sternen und den seltsamen Launen aller unserer namenlosen Götter«, sagte sie und nahm Ptahs Hand. »Solche Gäste wie euch hat das Haus noch nie gesehen.« »Als Gäste sind wir, besonders Ptah-Sokar, schwerlich zu übertreffen.« Eine Sklavin füllte meinen Pokal. »Es hätte niemandem geschadet, wenn die unvergleichliche, weiterhin aber unbekannte Charis unter uns geweilt hätte.« »Wenn’s das Orakel will, trefft ihr sie bald. Müde, weißhaariger Held der Wahrsagungen?« »Mehr als das«, sagte ich, verneigte mich und ging in mein Zimmer. Bei weit geöffnetem Fenster und eingeschaltetem Hochfrequenzgerät gegen nächtliche Quälgeister schlief ich ein; war es Traum oder Wirklichkeit, daß ich Ptahs und Hilaeiras Stimmen und ihr leidenschaftliches Stöhnen hörte, weiterschlief und gegen Morgen auf dem Bildschirm sah, was Ricos Spionsonden übermittelten? Ich hielt es für wirkliches Geschehen. In einem riesigen Raum ohne optisch erkennbare Grenzen, von schütterem Sternenlicht erfüllt, bewegten sich einige Dutzend Menschen voller Unruhe. Dumpfes Murmeln hallte von Höhlenwänden wider. Die Menschen, in die Kleidung verschiedener Kulturepochen gehüllt, schienen ungeduldig, als warteten sie auf eine überraschende Eröffnung. Irgendwo im
Hintergrund brannten helle Fackeln oder ein frisches Feuer: An einer mauerartigen Fläche zeichneten sich nur ihre Schatten ab, die, einmal scharf, dann verschwimmend, sich durchund übereinanderschoben. Wuchtige, verzerrt geformte Felsen stachen zwischen den Wartenden aus dem sandigen Boden. Ich hörte unaufdringliche Geräusche: leise Fragen und Antworten, eine Quelle plätscherte, Tropfen fielen klatschend von der Höhlendecke. Wind fuhr summend durch Öffnungen der Felsen, die wie Totenschädel wirkten. Im Wachtraum flüsterte das Extrahirn: Sie alle, auch du, warten auf den Spruch des Orakels! Ich drehte mich um und versuchte zu erkennen, wer die ruhelosen Geistergestalten waren. Dicht über dem Boden brandete lautlos dicker Nebel in die Orakelstätte hinein. Eine Stimme begann zu sprechen; sie kam von allen Seiten, aus dem Boden, aus den hohlen Deckenöffnungen, und sie riß mich in ihren zwingenden Bann. »Ihr alle werdet den Wortlaut des Orakels in alle Städte und Häfen tragen! Ihr seid die Boten des Orakels. HÖRT!« Die Stimme, der Nachhall und der Nebel zwangen uns in ihren Bann. Der Dunst veränderte seine Farbe, wurde dunkelrot, kroch umher wie dampfendes Stierblut. Über meinen Rücken fuhr ein Schauder. Die folgenden Worte schienen zu beweisen, daß die Gruppe nicht zufällig versammelt worden war. Jedes Wort der körperlosen Stimme brannte sich in meine Erinnerung ein. Wir hörten: »Ihr seid die Orakelboten. Ihr dürft euch nicht einmischen in die vielfältigen Beziehungen der Menschen entlang der Ufer und auf den Inseln. Ihr seid stark und klug. Jeder achte die Regeln der Gastfreundschaft, aber laßt euch nicht zu Werkzeugen der Herrscher machen! Geht zu den Menschen, setzt eure Beredsamkeit ein und überzeugt sie, daß die Weltkatastrophe hereinbricht, daß Flut, mannigfacher Tod und räuberi-
sche Bestien euer Leben bedrohen und das Leben derer, die nach euch sind. Ich helfe euch! Tausend mal tausend Menschen werden sterben, wenn ihr nicht handelt.« Die Macht der Stimme wuchs und vermittelte uns, den Menschen in der Grotte, und mir, dem Zuschauer, Selbstbewußtsein und Stärke. Der höherkletternde Nebel begann phosphoreszierend zu leuchten, wurde gelblich, verhüllte Teile der Gestalten, und trotzdem sah ich Helme und Rüstungen, bärtige Gesichter, die Körper der Frauen: In der Mitte der Grotte fiel das Licht auf eine Frau mit hellbrauner Haut, einem schmalen Rômetkopf, fast so groß wie ich, mit kurzem Wams, kniehohen Stiefeln und einer Unzahl winziger Punkte auf ihrer Haut, die wie Ornamente aus Perlenschnüren aussahen. Charis? Nebelschwaden verschluckten das Bild. Charis – die »Anmut«, namensgleich mit der Gattin des Vulkangottes? Wieder dröhnte die Orakelstimme: »Ihr seid meine Boten und Werkzeuge! Ihr sollt das Orakel in allen Siedlungen verkünden!« Die Macht der Stimme erschütterte alle Menschen in der Höhle. Der Nebel kletterte höher. Undeutlich sah ich Helme, Rüstungen, bärtige Gesichter und, wieder in der Mitte der Grotte, die Frau. Die Stimme fuhr fort: »Zwingt die Menschen mit dunklen Worten, Wundern, Drohungen und Beschwörungen! Ihr habt die Wahl: Eure Welt wird gerettet, mit wenigen Opfern, oder sie wird in den Abgrund des Todes gestürzt. Handelt so, als wärt ihr ebenso gefährdet wie alle anderen Menschen! Die Flutwogen töten ohne Unterschied. Die Bestien der Sterneninsel zerfleischen euch ebenso wie jeden anderen, wo immer er sich verbirgt.« Ein Windstoß fauchte durch die Höhle. Der Nebel wurde durcheinandergewirbelt und zur Seite getrieben, begann giftgrün zu schillern und narkotisch zu riechen. Ich starrte Charis an, das Profil ihres Gesichts, die Verzierungen ihrer Haut; die
Perlenlinien ihres Körpers glimmten aufregend. Ein Wirbel des grünen Rauches verwischte das Bild. Die Stimme dröhnte: »Noch heute sollt ihr mit eurer Aufgabe beginnen! Jeder weiß jetzt, was er zu tun hat. Der Auftrag des Orakels zerstreut euch in alle Richtungen, schwemmt euch an viele Küsten und fremde Häfen und verwickelt euch in viele Abenteuer. Einige werden sterben, wenn sie versuchen, andere Menschen zu retten. Meine Gedanken sind bei euch, aber ich kann nicht meine Hand über jeden halten. Wo ich helfen kann, helfe ich schnell und gründlich. Euch werden bisweilen kühne Gedanken, funkelnde Einfälle und Blitze des Verstandes heimsuchen. Gebt ihnen nach! Nichts kann überzeugend genug sein, Tausende und aber Tausende Menschen dahin zu bringen, die meernahen Behausungen aufzugeben! Nichts ist wichtiger als das Orakel und dessen Forderung. Ihr werdet diese Höhlennacht vergessen, nicht aber den Sinn dessen, was verkündet wurde.« Ich drehte den Kopf, mein Blick suchte Charis. Sie war verschwunden. Von links strahlte grelle Lichtflut in die Grotte; alle Schatten wurden an die gegenüberliegende Wand geworfen und zeichneten sich in der Mitte in stechender Schärfe ab, wichen, konturloser werdend, nach den Seiten und zur Decke aus. Die Meeresgrotte füllte sich mit eiskaltem blauleuchtendem Nebel. Die Versammelten stolperten hinaus und eilten zu Booten und Schiffen. Die Eindrücke blieben zäh in meinem Verstand haften; es war also wahrscheinlich keine Vision gewesen, sondern eine Beobachtung der Wirklichkeit. Wir hatten Verbündete; etwa zweieinhalb Dutzend, meist Männer, hatten sich in der Grotte aufgehalten. ES hatte also auch diese Zusammenkunft herbeigeführt. Ich dachte über die Bedeutung nach, aber ich schlief, die Hand auf dem Zellaktivator, wieder ein und erinnerte mich nicht, geträumt zu haben.
Langsam glitten die Objektive der Sonde über Häuser, Obstbaumhaine, Felder und Weiden. Eine Schafherde wanderte über ein Stück trockengelegten Sumpf. Die Bildfolge endete mit Fischern, die vom See zum Landesteg aus Stein und Holz zurückkamen. »Ich habe deine Karte, auf der du die gefährdeten Inseln und Meeresufer errechnet hast, genau angesehen. Ich brauche darüber hinaus grundsätzliche Informationen über das Festland und die Inseln des nordöstlichen Quadranten. Einfach einspielen, Rico: Ich merke sie mir.« »Sofort, Orakelheld Atlan.« Ich las: mehr als 2000 Inseln, davon 150 bewohnt oder bewohnbar, 11.000 mal tausend Schritt Gesamtküstenlänge, also mehr als 22.000 rômetische Chen-Nub (die Entfernungen zeigte eine andere Karte); es folgten einige wandernde Pfeile, die Besiedlungswege vom zerklüfteten Festland schilderten, und plötzlich sagte der Roboter: »Die Samier, besonders Eupalinos von Samos, auch sie sind aufgesogen worden von den Völkern der vielen Wanderungen.« »Was hast du mit Eupalinos zu tun gehabt? Ich habe den Namen nie gehört.« »Etwa dreieinhalb Jahrtausende nach Beginn deines Schlafes, um 4263 NUvA, fand eine Sonde jene Insel. Die frühen Samier haben angefangen, einen Tunnel zu graben, unter unvorstellbar primitiven Voraussetzungen. Ich half ihnen mit Hämmern und Meißeln und ein paar Hinweisen darauf, wie sie mit pfiffigen Messungen eine annähernd gerade Röhre zustande bringen können.« »Warst du etwa außerhalb der Schutzanlage?« »Nein, Gebieter. In fernsteuerbaren Truhen fand Eupalinos einen Götterkopf, der zu ihm sprach. Nachts. Wie dein Orakel.
Also begannen sie, durch einen 150 Klafter großen Berg einen Tunnel zu hämmern, zwei Chen-Nub lang, und wie errechnet haben sich die Arbeiter nach acht Jahren genau in der Mitte getroffen. Das Doppelloch verläuft am Fuß des Berges, ist acht Fuß hoch und breit, leitet in einem zweiten Graben, drei Fuß breit, Quellwasser in die Stadt. Der Baumeister Eupalinos lernte viel von mir; ein talentierter Mann aus Megara, der Sohn eines gewissen Naustrophos. Die Meißel nutzten sich ab, der Götterkopf verlor seine Sprechfähigkeit, und noch immer strömt das Quellwasser.« »In einer ruhigen Stunde werden wir uns über dein selbständiges Herumpfuschen in der Larsaf-Zivilisation unterhalten.« Ich starrte ihn kopfschüttelnd an. »Ich habe alle Feststellungen über Strömungen und Winde zusammengestellt. Karte Sieben.« Rico wich geschickt aus. Er hatte also etwas zu verbergen, was mich jetzt nicht neugierig machte. »Wissenswerte Kleinigkeiten: Die weiteste Entfernung zwischen den Inseln beträgt 85 Chen-Nub, der höchste Berg ist Ors auf Keftiu, 4634 Rômet-Ellen, die größte Meerestiefe zwischen Keftius Westkap und dem fingerartigen Landfortsatz südlich Spartas beträgt 9150 Ellen.« »Danke. Ich habe nicht vor, die Tiefe nachzuprüfen. Hast du Charis schon gefunden?« »Sieben Sonden sind auf Suchkurs, Atlan. Ich weiß noch nicht, wie das Suchgebiet einzuschränken ist.« »Melde dich, wenn du sie hast.« »Selbstverständlich. Ende?« Ich nickte; wir trennten die Verbindung. Ich knöpfte den dicken Lederschutz über den Monitor und verließ den Schatten der alten Eiche am Quellheiligtum. König Minos hatte einen Boten geschickt: Morgen fand ein Stiertanzfest statt, und wir waren als Ehrengäste geladen.
11. Wieder einmal mußte ich glauben, Teil einer visionären Szene oder eines Alptraumbeginns zu sein. Ptah erging es nicht anders. Alle Bestandteile der Szene wirkten, als wären sie nicht wirklich. Aus Bohlen, Querbalken und Steinquadern war nahe dem Palast eine kreisrunde Fläche umrahmt worden. Auf grasbewachsenen Erdwällen, Lehmziegelstufen und Brettergestellen saßen und standen rund vierhundert Menschen um den Tanzplatz. Fünfzehn junge Mädchen mit glatten, muskulösen Schenkeln und Armen, das Haar straff an den Kopf gebunden, befanden sich in der zerwühlten Sandfläche, saßen auf der Mauer und baumelten mit den Beinen. Im Mittelpunkt stand ein muskelstarrender Stier mit ausladendem Gehörn, sein Atem schien zu dampfen, der Schweif wirbelte und peitschte die Lenden des Tieres. Er drehte den Kopf hin und her und starrte die Mädchen an. Die Tänzerinnen trugen an den eingeölten Körpern nur Lendenschurze aus Leinen oder weißem Leder. Für Ptahs und mein Empfinden war die Szenerie mit Gefahr geladen; nicht so für die Mädchen. Keine war älter als zwölf, dreizehn Jahre. Es waren junge Schönheiten mit anmutigen Bewegungen, aufmerksamen Gesichtern und hellen Augen. Der Schweif des Stiers reckte sich steil in die Höhe, das Tier riß brüllend mit den Vorderfüßen tiefe Rillen in den Boden. Er stürmte unvermittelt los, mit gesenktem Kopf, genau in meine Richtung. Wir standen auf dem Hügel außerhalb des Geheges, hinter einer massiven Mauer. Auch Hilaeira, Nestor und Steuermann Telamon ließen sich von der verhaltenen Aufregung anstecken. Andere Zuschauer mochten rasende Spannung empfinden oder kalte Erwartung. Der Tanz war mehr als ein Spektakel; viele Gäste waren in göttergläubiges Schweigen versunken oder erwarteten Blut und Tod oder die Antworten auf unausgesprochene Fragen. Für
viele war das Schauspiel eine heilige Handlung. Alle Gäste erstarrten, schlagartig hörte das Murmeln auf, als hinter den Hufen des Stieres Staubfahnen aufwirbelten. Ein Mädchen sprang von der Mauer, tänzelte mit schnellen Schritten auf den Stier zu und breitete die Arme aus. In meiner Vorstellung entstanden Schnitte, Wunden und Ströme von Blut. Das Mädchen packte die Enden des Gehörns und bog seinen Körper nach hinten; zusammen mit dem Schwung des Tieres schleuderte sich die Tänzerin in die Höhe. Der Stier riß den Kopf hoch, der Körper überschlug sich halb, landete mit beiden Händen auf dem schweißnassen Stierrücken. Mit einem weiteren Überschlag prallte die Tänzerin mit den Fußsohlen auf die Kruppe des Tieres, drehte sich noch einmal in der Luft und landete im Sand. Die Zuschauer schrien. Aus ihrer Begeisterung waren gleichermaßen Enttäuschung und Erleichterung zu hören. Ich zuckte zusammen. Aus dem Maul des schnellen, kräftigen Stieres hingen lange Speichelfäden. Die Enden des Gehörns blitzten drohend, als sich der Körper der zweiten Tänzerin zur Seite bog und den Schwung des Tieres ausnutzte, um sich über seinem Nacken zu überschlagen. Die Tänzerin balancierte kurz auf dem Stierrücken, glich ihre Bewegungen an, sprang wirbelnd ins zertrampelte Gras. Der Stier galoppierte auf eine dritte Tänzerin zu, bog scharf vor dem Thron des Minos nach rechts und blieb mit bebenden Flanken stehen. Auf Trommeln und hölzernem Schlagwerk, mit Syringen und Saiteninstrumenten vollführten die Musiker wilden Lärm. Nestor flüsterte mir zu: »Minos sitzt auf dem Thron. Seine Gattin und die Lustsklavinnen kennst du vom Willkommensfest. Die Gattin ist die mit den dicken Beinen. Eine Tänzerin ist von Taros. Der Fürst dort stellt sich gegen die Anordnungen des Minos. Sieh zu, was geschehen wird, Atlan.«
Ich spürte den kalten Hauch des Schicksals; was hier geschah, würde arkonidischer Mentalität fremd bleiben. Wir aber, die mit dem Orakel zu tun hatten, waren unantastbar. Die Mädchen wechselten sich zum dumpfen Klang der Musik und der Laute der Hufe ab. Es sah gefährlicher aus, als es zu sein schien, aber jeden Augenblick konnte sich das Horn des Stieres in junges Fleisch bohren, Muskeln, Adern und Gelenke zerfetzen und die Tänzerin töten. Begeisterte Schreie und ehrfürchtiges Stöhnen ertönten, bis der erschöpfte Stier keuchend und schweißdampfend stehenblieb und sich willig hinausführen ließ. Ein zweiter Stier polterte schnaubend herein. Obwohl ich keines der Mädchen kannte, stieß mich das Ritual ab. Die Tänzerinnen waren hervorragend ausgebildet; in einer Zeit, in der Frauen legitime Beute der Sieger waren, in der es Sklaven und Leibeigene gab und Verurteilte, deren Leben schlimmer als das geschundener Tiere war, boten die Mädchen, die ihre Körper in unschuldiger Nacktheit zeigten, geradezu erfrischende Anblicke. Der Stier stand mit hochgerecktem Kopf und peitschendem Schwanz am gegenüberliegenden Rand des Tanzkreises. Bis hierher hörte man das stoßweise Pumpen der Lungen. Ptah und Hilaeiras Ellbogen berührten sich, als sie, auf die Mauer gestützt, der letzten Tänzerin entgegensahen. Der Stier spannte die Muskeln und warf sich vorwärts. Mit jedem Sprung wurde er schneller, die Spitzen der Hörner schürften durch das staubige Gras. Das Mädchen lief auf ihn zu, riß die Arme auseinander und streckte sie nach vorn. Der Stier brüllte kurz, hob den Schädel und griff an. Die Tänzerin machte kurz vor dem Zusammenprall einige schnelle Schritte rückwärts und schnellte sich im selben Augenblick hoch, als der Stier die Nackenmuskeln anspannte und den Kopf hochriß. Das Mädchen rollte sich in der Luft zusammen, streckte sich und kam schräg auf dem nassen Rücken auf, rutschte und
versuchte sich festzuhalten. Der Stier galoppierte entlang der Mauern, brüllte und raste auf den Thron zu. Das Mädchen versuchte sich am Gehörn festzuklammern. Minos hatte sich vorgebeugt und spielte mit den Fingerspitzen, als das Tier dicht vor den wuchtigen Felsen nach rechts schwenkte und die Tänzerin abwarf. Mit einem schrecklichen leisen Krachen prallte der Körper gegen die kantigen Felsen, deren Ecken sich ins Fleisch bohrten. Der Kopf wurde mit großer Gewalt gegen eine Bruchkante geschmettert. Die Finger der Tänzerin krallten sich um den Stein, dann rutschte sie quälend langsam zu Boden; jeder Knochen schien zerbrochen zu sein. Das Mädchen, dessen Blut und Hirn aus dem gespaltenen Schädel an den Steinen klebten, hatte nicht einmal einen Schrei ausgestoßen. Der Stier rannte weiter, warf sich herum und schien den Körper angreifen zu wollen. Ich löste den Mantel von den Schultern, nahm Anlauf und sprang auf die Mauer, rannte ein paar Schritte weit auf der Kante, stieß Zuschauer zur Seite und sprang in den Sand. Ich packte das Armband, drückte auf einige Ziernägel und reckte das linke Handgelenk dem Stier entgegen. Die Tänzerinnen rannten auf ihre tote Freundin zu; der Stier suchte ein neues Ziel, sah mich und griff an. Ich erwartete ihn und blieb, den Dolch in der Hand, ruhig stehen. Ich brüllte in die Richtung des Königs: »Das Orakel befiehlt, daß ich so handle! Für solche Spiele, König, wird in fünf Monden keine Zeit mehr sein. Es wird auch keinen Grund mehr geben und keine Stiere. Und keinen Thron, keine Tänzerinnen und keinen Minos.« Die Gäste hatten jedes Wort verstanden und murmelten durcheinander. Das Dröhnen der Hufe wurde lauter, ich drehte mich um und richtete die Dolchspitze auf den dampfenden Stierschädel. Der Lähmstrahl zuckte unsichtbar auf das Tier zu; ich stand mit gespreizten Beinen, den linken Arm hoch erhoben, mit dem Rücken zu Minos: wahrscheinlich dachte
jeder, ich wolle mit bloßen Händen das Tier aufhalten. Der Lähmstrahl traf, der Koloß schüttelte den Schädel, brüllte und knickte in den Vorderbeinen ein. Die Hinterläufe vollführten kraftvolle, sinnlose Bewegungen, als sich der Körper überschlug und in einer Staubwolke vor mir liegenblieb. Ich schaltete den Projektor ab, steckte den Dolch in die Scheide und sagte laut zu Minos: »Du weißt, daß wir den Orakelspruch zu den Inseln und in alle Häfen tragen. Selbst wilde Tiere wagen nicht, die Boten zu töten. Wisse also, König Minos von Keftiu, daß deine Welt in fünf Monden untergehen wird. Der prächtige Palast bricht zusammen, Sturmwellen ertränken deine Schiffer und meucheln die schönen Frauen. Rette dich und dein Volk vor dem Tag des Chaos.« Er starrte mich ungläubig und herausfordernd an. Ich lächelte kühl, als habe ich mit ihm und seiner Herrschaft nichts zu schaffen. Aus dem Armband schoß ich eine schwach paralysierende Ladung auf seine Knie ab. Er ächzte und begann zu reden. »Seit ich mit Charis sprach, sind mir die Orakelboten heilig. Über deine Worte werde ich gebührend nachdenken. Hat das Orakel gesagt, an welchem Tag sich die Katastrophe ereignet?« Er glaubte mir nicht, wußte aber, daß sein Volk ans Orakel glaubte. Die Tatsache, daß der Orakelbote einen Stier gefällt hatte, ohne ihn zu berühren, würde schnell wie ein Gerücht auch in den entferntesten Hafenschenken erzählt werden. Ptah und ich hatten lange gerechnet und Rico gefragt, nur deshalb konnte ich antworten: »Von heute an gerechnet die Nacht des fünften Vollmondes. Nicht früher, vielleicht einen halben Tag später. Denk an diese Zahl und vergiß sie nicht, König Minos.« Ich wandte mich ab, schwang mich auf die Mauer und ging
schweigend zu meinen Freunden. Die Versammlung zerstreute sich schnell; Minos ließ sich nach dem dritten Versuch, aufzustehen, von seinen Sklaven wegtragen. Die Freundinnen schleppten das tote Mädchen in den Palast. Die Königin folgte Minos, allein hinter einer Menschengruppe, in tiefem Nachdenken. Ich sah, daß Ptah sein Grinsen unterdrückte, als mich Nestor am Arm packte und sagte: »Ich kenne alle Geheimnisse des Meeres. Aber daß ein Mann einen heiligen Stier mitten im Angriff zu Boden schmettert wie der Allgott mit einem Blitz – das hat noch niemand erlebt.« »Denk daran, was das Orakel gesagt hat«, sagte ich voll Ernst. »Erinnere dich an jedes Wort.« Mit Genugtuung erkannte ich, daß er unter der Sonnenbräune erbleichte. Wir gingen langsam zu Hilaeiras Haus; ich war sicher, daß ich die Orakelbotschaft wenigstens in Gnos auf bestmögliche Weise weitergegeben hatte. Meine Warnung würde beachtet werden; nichts wanderte schneller als ein solches Gerücht. Ob sich König Minos an sein halbherziges Versprechen hielt, konnte ich nicht wissen. Vielleicht gab es heute beim Mahl am Herdfeuer neue Einsichten. Noch zerrann mir die Zeit nicht unter den Fingern. Ich wandte mich an Ptah. »Wie sieht unser weiterer Weg aus, mein Freund? Verlassen wir die Insel?« »Dies hätte ich dir heute abend vorgeschlagen, Atlan. Wir bitten Nestor, uns mit der CHARIS nach Stronghyle zu bringen. Alle sagen, daß die ›Runde‹ der geistige Mittelpunkt all der Inseln sei.« »Du glaubst, daß sich von dort unsere Botschaft am schnellsten verbreitet?« »Und am sichersten«, sagte Nestor. »Ihr werdet erkennen, daß wir in einer Zeit des Umbruchs leben. Wenn die Katastrophe nicht viele Siedlungen vernichtet und nur wenige Menschen tötet, wird vom Festland und von mehr als hundert In-
seln eine starke, junge Kultur ausgehen, von vielen Auswanderern getragen.« »Auf nach Stronghyle«, sagte Ptah, »obwohl es mir leid tut, Hilaeira und ihr gastliches Haus zu verlassen.« Ich schaute über die hügelige, bewaldete Landschaft hin und versuchte, meine Phantasie zu dämpfen. Es stand eine große Familie unterschiedlicher Götter bereit, um das unergründliche Schicksal der Menschen erklären zu können, und es dauerte wohl noch viele Generationen, bis sich die Menschen aus dem Sumpf dumpfen Aberglaubens befreien konnten. Viel später würde man versuchen – ich versuchte es sicher –, ein Muster in das Durcheinander zu weben und es »Geschichte« nennen; zusammengesetzt aus vielen kleinen historisch wichtigen Vorfällen. »Sind wir auf dem richtigen Weg?« murmelte ich. Ptah antwortete ruhig: »Wir sind auf dem besten Weg. Nur ist er, kurze Zeit nach unserem ersten… Besuch, sehr undeutlich zu sehen.« Wir flüchteten aus der Mittagshitze in das kühle, nach Rauch und feuchten Mauern riechende Haus und besprachen mit Nestor Tag und Kurs unserer Seefahrt nach Stronghyle. Hilaeira schilderte uns, daß der willkürlich herbeigeführte Tod der Tänzerin ein Mittel des Minos war, sich des Gehorsams tributpflichtiger Inselfürsten zu versichern. Eine schweigende Verbindung aus Dienern, Befehlsempfängern und klug herbeigeführten Zufällen sorgte im Inselbereich des Minos für die Durchführung seiner Befehle. Mir wäre lieber gewesen, wenn wir gigantische Zeichen setzen könnten: Flammenschrift am Himmel, spiralenfliegende Sterne oder sprechende Seeungeheuer, die über Land flogen. Der Logiksektor sagte: Verwende jene Mittel, über die du verfügst. Deine Flammenschrift könnte kaum jemand lesen. Hilaeira setzte sich zu uns an den Tisch und füllte die Weinbecher.
»Wird die Katastrophe wirklich eintreten? Und wird es so sein, wie wir es zu wissen glauben?« »Ich versichere dir: So wird es sein. Vielleicht noch schrecklicher.« Ptah schob den Becher auf dem weißgescheuerten Holz hin und her. »Die steinerne Insel von den Sternen wird sich ins Wasser stürzen oder das Land unter sich zermalmen.« »Der Pfeil des Himmelsjägers Orion«, murmelte Nestor. »Wo werden wir wohl sein, wenn er trifft?« »Das weiß nicht einmal der Gott der Inseln und des Meeres«, sagte ich und goß einen dünnen Strahl Quellwasser in den Wein. »Wenn wir unseren Kurs so ausrechnen, daß alle Inseln und Häfen gewarnt sind, können wir bestimmen, wohin wir uns retten.« Unser Vorhaben war gewaltig und schwer zu verwirklichen, das wußten wir. Um so mehr genossen wir die kurze Zeit der Ruhe. Wir berieten zwei Tage lang und rüsteten die CHARIS aus. Auf einen Boten des Minos warteten wir vergeblich. Unter Deck des Schiffes, hinter dünnen Verkleidungen, bewunderte ich die Arbeit der Schutzkuppelmaschinen und Ricos Zusammenarbeit mit der Werft. Sämtliche Riemengriffe waren in einer Balkenkonstruktion gelagert, die Bronzegelenke bestanden aus Stahl und Plastan, und ein unsichtbarer Motor im Heck bewegte die Exzenter. Trotzdem befanden sich Ruderbänke seitlich des breiten Laufganges. Ich fand fremdartige Ausrüstung ebenso wie genügend Vorräte und Waffen, mit denen wir uns nicht nur Piraten vom Rumpf halten konnten. Grinsend stieg ich ins Heck und setzte mich neben Nestor, der ebenso würdelos grinste. »Ein göttliches Schiff«, sagte ich. »Würdig unserer Aufgabe. Morgen, vor Sonnenaufgang, Nestor?« »Das schnellste Schiff auf dem ganzen großen Meer.« Er klappte zwischen uns einen Deckel auf und zeigte mir die einfache Schaltung. »Vielleicht werden wir, um zu überzeugen,
das eine oder andere Geheimnis lüften müssen. Nach Stronghyle, Kapitän der Zeit?« »Bei Sonnenaufgang oder früher.« Ich nickte. »Genau dorthin, Steuermann des Chaos.« Als ich neben dem hochragenden Schnabel des Schiffes stand, die Tauschlinge in der Hand, und in die blinden Augen des Halbgöttin-Galions starrte, galoppierte rasselnd ein Gespann heran. Neben dem Wagenkorb stak eine Lanze, an deren funkelnder Spitze ein Wimpel knatterte. Aus dem Heck rief Nestor: »Ein Bote aus dem Palast!« Ich legte das Tau wieder über den Poller und wandte mich dem Boten zu. Von den Mäulern der Pferde tropfte blutiger Schaum. Ptah rollte eine Karte zusammen und sagte leise: »Sprich du mit ihm, Atlan.« Ein junger Mann mit einem eisernen Reif um die Stirn sprang aus dem Wagen und rannte auf mich zu. »Ist es wahr, daß ihr nach Atlantis segelt, nach Stronghyle?« »Wenn uns kein Sturm vom Kurs wegtreibt.« Ich lehnte mich gegen die taufeuchten Planken. Über die großen Augen liefen dicke Tropfen. »Du kommst vom König?« »Er wünscht, daß ihr in Frieden von Amnis fortsegelt.« Er nickte. »Grüßt die Herrscherin von ihm, sagt, sie soll euch Gastfreundschaft gewähren, solange ihr wollt. Dies hat er Charis versprochen. Eure Warnungen wird er beherzigen.« Er machte eine Pause und holte tief Atem. »Er wird Boten überallhin senden. Zieht weiter, redet und warnt – hier, nimm den Ring, Atlan.« Er gab mir einen klobigen Ring, der das Zeichen der Doppelaxt und das Abbild einer barbrüstigen Göttin neben einigen Schriftzeichen trug. Ich streifte ihn über den Mittelfinger. »Jeder kleine Fürst, der an Minos Tribut zahlt, anerkennt den
Ring. Es liegt Minos viel daran, seine Herrschaft zu erhalten. Er hilft euch, weil ihr ihm helft.« »Eine Hand wäscht die andere«, sagte ich. »Fahr zu ihm und sage: Die Umhergetriebenen des Orakels danken. Wir werden tun, was wir geschworen haben.« Wir wechselten einen harten Griff um die Handgelenke. Das Gespann wendete mit klappernden Hufen und kreischenden Felgen und raste im Galopp davon. Ich löste die Schlinge, sprang an Bord und rief: »Ihr habt verstanden. Wir segeln mit Minos’ Segen.« Wir stießen die CHARIS vom Kai ab, noch bevor sich der Himmel grau färbte. Ablandiger Wind half uns, das Schiff zu drehen, dann bewegten sich die Riemen fast lautlos und hinterließen flüchtige Wirbel und kurzlebige Ringe. Die Besatzung bestand außer uns aus zweieinhalb Dutzend junger Männer, so daß sich niemand wunderte, wer denn auf den Bänken säße. Als der Wind auffrischte, zogen wir das dunkelrote Segel auf, und Nestor erhöhte die Schlagzahl der Riemen. Voraus, hinter dem Horizont, tauchte im ersten Licht die pilzförmige Wolke eines kleinen Vulkans auf; später beleuchtete die Sonne scharf eine Hälfte der Thrombe, und lange Dunstwolken zerschnitten die rosafarbene Kugel. Die ersten harten Wellenberge erschienen. Nestor nahm den Helm ab, zog den Mantel hoch, bis er um den Hals einen Wulst bildete, und sagte: »Die Götter mögen gnädig auf uns herabsehen. Eine lange Fahrt beginnt. Vielleicht treffen wir den weißen Zweiruderer.« »Was hat es mit diesem Schiff auf sich?« Telamon, der Steuermann, hielt die lange Pinne ohne große Kraftanstrengung. Das Schiff schien sich aus dem Wasser zu heben, und die Bewegungen der Riemen waren fast nicht mehr zu unterscheiden. Ich starrte nachdenklich in die Heckwelle, die sich schäumend verlief, und strich zwei Inseln von
meiner imaginären Liste. »Nur wenige haben das Schiff gesehen. Ein seltsamer Pirat. Dennoch sprechen alle von den schauerlichen Überfällen. Es heißt, die Herrscherin von Stronghyle schickt den Zweiruderer aus, um Keftius Einfluß zu stärken. Dies verstehe, wer’s vermag.« Einige der dreißig jungen Männer, die sich in der kurzen Zeit als wenig abergläubisch und geschickt erwiesen hatten, bereiteten ein Frühstück. Ich ging in den Bug, blickte durch das Glas, das wie zwei winzige Säulen getarnt war, und sah die Insel näher kommen. Eine Schule spielender Schweinsfische lenkte meine Blicke ab; es waren nicht weniger als hundertfünfzig Tiere, die uns eine halbe Stunde lang begleiteten. Ptah blieb neben mir stehen und sagte: »Ich hab’ mit Nestor alle Karten genau durchgesehen. Wohin geht es nach Stronghyle?« »Nach Mello und Kyos«, sagte ich. »Das Herrschaftsgebiet des Minos. Wenn sich das Weltenfragment zwischen den Inseln ins Meer senkt – hast du daran gedacht, wie sich ein Vulkan verhalten mag?« Er starrte die Dampfsäule an und zog, als fröstelte er, die Schultern hoch. Ich schwieg und dachte an Minos. Der legendenhafte erste Fürst auf Keftiu hatte Minos, Mynoos oder ähnlich geheißen. Alle seine Nachfolger nannten sich hinfort ebenso; abermals ein Vorgang, der in die Vorstellungswelt der göttergläubigen Barbaren paßte. Die CHARIS befand sich nach gut zwei Stunden Fahrt näher an Stronghyle als an Keftiu. »Ich hab’ nicht daran gedacht«, sagte Ptah. Sein Gesicht war sorgenvoll. »Zwei Katastrophen zugleich oder nacheinander! Bei Chronos, dem Gott des Urchaos! Ich werde erst zweimal schlecht träumen, bevor ich dir sage, was ich davon denke. Niemand hört zu: Nestor, Telamon und die jungen Männer, die aussehen, als habe ein einziger Vater sie in Hochstimmung
gezeugt… Androiden wie Ta-Bnona und ihre hilfreichen Gefährtinnen?« »Eher ja als nein.« Das Segel stand prall wie Riedgeflecht im Wind. Die obere Reihe Riemen war senkrecht aufgestellt worden. Die beiden unteren Reihen bewegten sich in einem vergleichsweise rasenden Takt und hinterließen zwei zusätzliche Bahnen schneeweißen Schaums. Ein Schwarm fliegender Fische prasselte gegen die Bordwand und fiel betäubt zurück. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne brannte, und nur die Gischtspritzer kühlten unsere Gesichter. Die Vulkaninsel voraus hatte sich längst aus dem Dunst herausgeschält; Atlantis wurde deutlicher, und ein grell weißes Segel zeichnete sich vor einem Stück Felsküste ab. Atlantis: Der Name hatte mythologische oder mythische Bedeutung und mit mir nichts zu tun. Es sollte, sagten die Legenden, weit im Osten, an der Meerenge, einen zweiten Ort dieses Namens geben. Stronghyle war in dunkelgrauer Urzeit durch die Wut des Vulkangottes – also durch Zusammenwirken von Ausbrüchen und Hebungen des Meeresbodens – entstanden, war fast kreisrund und dank des verwitterten, überaus fruchtbaren Magmaauswurfs, kalter und mineralischer Quellen und ausgedehnter Wälder ein Wunder an Fruchtbarkeit. Der helle Vulkankegel im Zentrum wirkte wie ein Spielzeug, ebenso wie die Wolke, die nur selten solche Größe erreichte wie heute. Buchten, tief wie Schluchten, stießen in die Ebene vor und waren zu rechteckigen Becken und halbrunden Kanalteilen ausgebaut worden. Inzwischen erkannten wir helle Gebäude inmitten sattgrüner Weiden und einzelne, riesenhafte Bäume. Das Dreieckssegel wurde größer. Ptah kippte die Hälfte aus seinem Weinbecher in meinen und deutete über die Schulter. »Gehen wir zu Nestor ins Heck. Dort ist der Platz der Helden!«
Nestor mäßigte die Geschwindigkeit der Riemen, als die Menschen auf dem anderen Schiff uns mit bloßem Auge genauer sehen konnten. Vor der Insel kreuzten einige Schiffe schwerfällig gegen den Wind. Ein Frachtschiff stampfte aus dem Hafen, die Vulkanwolke wurde nach Nordwest zerfasert. Perses, einer der Köche, zeigte auf das Segel und sagte: »Vielleicht irre ich mich. Aber das kann der weiße Zweiruderer sein. Nimm dich in acht, Kapitän Nestor.« »Ich und die beiden Helden werden Schaden von der CHARIS abwenden, Söhnchen!« Wenn alle hundertfünfzig Inseln so dicht wie Stronghyle besiedelt waren, würde der kosmische Fremdling einen Massenmord verursachen. Nestor bewegte sich unruhig und winkte Perses, dem zweiten Steuermann. »Alle erzählen von einem dreieckigen Segel. Das, o Kapitän, ist ein solches.« Ich nickte Nestor zu und brummte: »Zu den Waffen. Zwar sind wir viermal so schnell wie der Segler, aber wir wollen uns nicht überraschen lassen.« Nur deshalb, weil ich inzwischen über die Bedeutung von Prunkwaffen und -rüstungen unterrichtet worden war, legten wir die Rüstungen an. Auch die jungen Männer rüsteten sich. Die Schiffsbesatzung verwandelte sich in eine erz- und bronzestarrende Gruppe, auf deren Helmen die farbigen Roßschweife schaukelten. Schilde, geformt wie zwei ineinandergleitende Kreise, wurden über Zapfen der Bordwand gehängt. Lanzenspitzen funkelten. Ich hob das schwere, einschneidige Kampfbeil und prüfte die Ladekontrolle. Einige Männer liefen zum Bug, Ptah, ich, Nestor, beide Steuermänner und Merops, der Segelmeister, blieben im Heck. Ein bronzener Weinpokal machte die Runde. Nestor spuckte über die Bordwand. »Ein Pirat, der uns dicht vor der Hafeneinfahrt überfallen
will? Das gibt keinen Sinn, Atlan.« »O Meister der Gischtung«, sagte ich, hob meinen Helm, grinste und ließ ihn wieder herunterrutschen. »Würdest du die Welt so kennen wie ich, wüßtest du, bei allen Schaumgeborenen, daß Unvernunft, falscher Wagemut, pralle Dummheit und grenzenlose Sucht, bewundert zu sterben, die Welt – und nicht nur die des Wassers – beherrschen. Unter dieser Einsicht sollte auch unsere weitere Reise stehen. Und unter dem Wohlwollen grinsender Götter.« »Ein Mann nach meinem Geschmack«, brummte Perses. »Sehen wir zu, was der weiße Segler treibt.« Er trieb auf einem Kurs, der im spitzen Winkel zu unserer Fahrtlinie verlief, rasch näher heran. Die Spitze des Segels ragte fast senkrecht in die Höhe; die Rah war an Backbord mit Tauwerk gehalten, und ihre größte Länge trug oberhalb des Masttopps die Leinwand. Etwa vierzig Riemen wurden aus den Flanken geschoben, blieben aber außerhalb des Wassers. Hin und wieder tauchte aus den Wellen die aufwärts gekrümmte Bronzeklinge des Rammsporns auf. Ich suchte Ptahs Blick unter den breiten Nasenstegen der Helme. »Er scheint einen Angriff zu versuchen«, sagte der Rômet. »Ein geschickter Arzt der Parasiten sollte den Angreifer in einen Orakelboten verwandeln können.« »Schlechtere Freunde haben mir schon bessere Ratschläge gegeben.« Ich lachte. »Vielleicht kann ich ihn überzeugen.« Ich hängte den Schild an einen Zapfen, stützte mich auf die Bordwand und bückte hinüber zum segelnden Doppelruderer. Ein seltsames Schiff! Die Ruderbänke befanden sich an beiden Seiten in einer Art halboffenen Nebenrumpfes. Der Rumpf war vom Bug zum Heck geformt wie eine dünne Doppelmauer mit Kanzeln an jedem Ende. Der kurze Mast trug die aus vier Stücken zusammengesetzte, federnde Rah. Männer in weißen Rüstungen mit weißen Helmen und ebensolchen
Roßschweifen daran, in helles Leder gekleidet, mit silbernen Gürteln und silbernen Beinschienen saßen an den Riemen und standen auf dem schmalen Deck aus auffallend hellem Holz. Der Rammsporn hob sich aus dem Wasser und deutete auf uns. Der Laufgang über den schuftenden Ruderern füllte sich mit Kriegern. Sie strahlten grimmige Entschlossenheit aus. Als wir uns bis auf Rufentfernung genähert hatten, hob Nestor die Hände an den Mund. »Was wollt ihr von uns, weißer Segler?« Ich deutete mit dem Dorn der Waffe auf das Wasser und merkte, daß Kapitän und Steuermann des anderen Schiffes hervorragend manövrierten. Sie benutzten den ablandigen Wind zur Fahrt und würden zum Rammen die Kraft der Riemen anwenden. Ein Mann im Heck brüllte zurück: »Nichts anderes als das, was wir von allen Schiffen wollen: alles!« »Das ist entschieden zuviel.« Nestors Stimme klang wie naher Donner. »Wir bringen den Spruch des Orakels. Leg dein Ruder hart Steuerbord, sonst ist dein weißes Schiff bald rußgeschwärzt und sinkt.« »Geschwätz! Was schert uns ein Orakel?« Die Ruderer stellten die Riemen senkrecht und warteten auf den Befehl. Ich berührte den Auslöser und schwenkte das Kampfbeil langsam hin und her. Eine heulende Feuersäule berührte das Wasser und verwandelte es augenblicklich in dichten weißen Dampf, der eine brodelnde Wand zwischen den Schiffen bildete. Bis er das Bild verwischte, starrte ich in das Gesicht des gegnerischen Kommandanten. Der Ausdruck entschlossener Angriffswut verwandelte sich in Verwunderung und Ungläubigkeit, zuletzt in Erschrecken. Nestor, der sich angesichts der Waffe beherrschte, schrie: »Wenden! Das nächste ist euer Segel!« Ich kippte die Waffe nach oben, stellte einen nadelfeinen
Strahl ein und zerschnitt mit vier Feuerstößen die Tauwirbel, die den Ruderschaft hielten. Knirschend und rauchend löste sich das Ruder vom Heck. Der Kapitän schrie, fluchte und tobte, aber der Segler lief schlängelnd aus dem Kurs. Jetzt schrie Ptah: »Aus uns spricht das Orakel! Rührt uns nicht an. Wir sind Gift und Verderben für jeden, der nicht den Ring des Minos trägt.« Der fremde Steuermann schrie: »Welches verdammte Orakel?« »Das Orakel, das dich und deine Kinder tötet«, brüllte Ptah. »In weniger als fünf Monden wird eine Flutwelle dein halbes Wrack zerfetzen und euch alle umbringen. Glaub’s oder glaub’s nicht. Frag in allen Häfen nach der Botschaft, die von den Männern der CHARIS verkündet wird.« Einige Ruderer des fremden Schiffs versuchten den Kurs zu halten und stabilisierten die Bewegungen des Doppelruderers, der nicht viel näher gekommen war. Wir bewegten uns beide langsam auf die Hafeneinfahrt zu, in halber Bogenschußweite. »Wer seid ihr, daß ihr Wasser in Nebel verwandelt?« »Die Männer und das Schiff des Orakels.« »Wir fragen euch, wenn wir euch wieder treffen!« schrie der Kapitän. Mit drei Schüssen zerfetzte ich das Tauwerk, das Rah und Segel hielt. Die Seile liefen rauschend durch die wimmernden Blöcke; dumpf krachend schlugen Holz und feuchte Leinwand aufs Deck und bedeckten die Krieger mit einer feuchten Masse Leinen. Ich brüllte: »Vielleicht kreuzen sich unsere Wege noch einmal, Kapitän ohne Namen. Entweder werden wir Freunde, oder ich zerstöre dein Schiff. In Stronghyle berichtet man bald vom schmählichen Ende des weißen Doppelruderers.« Nestor sagte kopfschüttelnd dem Steuermann die Kursänderung an und wie er die Durchfahrt zwischen zwei Säulen zu nehmen habe, von deren schalenförmigen Enden dünne
Rauchfahnen erlöschender Nachtfeuer wehten. Ptah schlug Nestor auf die Schulter, machte eine obszöne Geste zum anderen Schiff und sagte: »Nunmehr sprechen auch die Ruderer dort drüben vom Orakel. Atlan hat so erreicht, daß abergläubische Seeleute in Hafenschenken und untereinander über das Orakel reden werden.« »O Mann«, sagte Nestor. »Deine Weisheit erschreckt mich. Ich staune über Atlans Wunder. Aber nun tritt zur Seite, damit ich mit dem letzten Hauch von Keftius Bergen das Schiff sicher in den Hafen bringe.« »Alltägliche Dinge in einer Welt, die so weit entfernt ist, daß nicht einmal Nestor, der Ausbund der Erfahrung, sie kennt.« Ich nahm den Helm ab. »Gib uns die richtigen Befehle, Nestor, wenn wir im Hafen anlegen.« »Helft, das Segel zu reffen, und dann sehen wir, wie es um die Gastfreundschaft dieser Insel bestellt ist.« Wir ruderten hinter dem Wellenbrecher durch einen breiten Kanal ins Hafenbecken der Insel hinein. An den Kais aus wuchtigen Quadern lagen ungefähr drei Dutzend Handelsschiffe, rechts und links, und wir fuhren zwischen ihnen vorbei und sahen uns um. Über der Wasserlinie umlief, aus Kalkstein gemeißelt, ein Fries aus kunstvoll gestalteten Doppeläxten, Spiralen und Mäandern, Stierhornsymbolen und Weinlaubranken, in denen sich seltsames Meeresgetier tummelte, das halbe Becken. Wir riefen eine kleine Menschenmenge zusammen, die uns schweigend zusah, als wir zwischen wuchtigen Bauwerken und Kornfeldern ruderten, vorbei an wuchtigen Quadersockeln, Tempeln und vielfältigen Zeichen geschäftigen Lebens. Meißel klirrten, Blasebälge ächzten, Herdfeuer rochen qualmend, und über allem hing ein starker Geruch nach faulendem Fisch. Wie eine Wolke kreiste über dem Hafenbecken und den ers-
ten Gebäuden der Stadt ein Taubenschwarm. Die Vögel änderten häufig, wie in telepathisch bestimmter Massenbewegung, ihren Kurs, und als wir anlegten, leuchtete Sonnenlicht pastellen auf den Vogelschwingen.
12. Nach siebzehn Stunden Schlaf, einem langen und reichhaltigen Frühstück, etlichen Duschen und Massagen und einer Augenspülung genoß Professor Cyr Aescunnar die Ruhe in seinem Arbeitsraum. 28. Oktober 3561, 14.55 Uhr. Atlan schlief auf einem Untersuchungstisch, während die Nährflüssigkeit des Überlebenstanks abgepumpt, gereinigt, sterilisiert und teilweise ersetzt wurde. In der Intensivstation herrschte unter dem Personal eine gewisse Betriebsamkeit; bis der Statthalter des NEI wieder zu sprechen anfangen würde, vergingen höchstwahrscheinlich einige Stunden. 6677 Jahre nach dem Untergang der arkonidischen Kolonie, so die Berechnung des Roboters, ruderte und segelte Atlan mit seinem Freund und Mitkämpfer durch die frühgriechische Ägäis. Cyr setzte die dunkle Brille auf und sortierte unschlüssig seine Unterlagen. Drei Datenleitungen verbanden seinen Arbeitsplatz mit verschiedenen Abteilungen der Universitätsbibliothek; obwohl die frühgriechische Zeit in sämtlichen geschichtlichen Werken der Erde gut – und wohl auch in weniger geschichtsrelevanten Einzelheiten – dokumentiert war, gab es Leerstellen: Das wirkliche Datum, an dem vorgeblich die Auslöschung der kretischen Thalassokratie festzumachen war, stand ebensowenig fest wie die Fundamentdicke des Kolosses von Rhodos. »Die letzten Generationen der späthelladischen oder spätmykenischen Zeit. Ein halbes Jahrtausend nach der Einwande-
rungswelle der indogermanischen Joner und Aioler, die im fünfzehnten Jahrhundert, längst mit der Urbevölkerung verschmolzen, Kreta, Zypern und Rhodos besiedelten.« Das Interkomsignal blinkte und summte. Cyr warf einen Blick auf den Frühstückstisch, zuckte mit den Achseln und erwiderte den Anruf. Der Oberkörper von Anson Argyris baute sich auf; er grüßte und sagte: »Wahrscheinlich ist Ihre Zeit unendlich kostbar, Professor, aber ich riskier’s, Sie kurz zu stören. Vor einer halben Stunde rief ich im Planetaren Krankenhaus an, aber dort sind sie sehr zurückhaltend mit Auskünften. Sie wissen mehr. Wie steht es um unseren Arkoniden?« Die Pseudo-Variable-Kokonmaske des Vario-500-Roboters erinnerte Cyr an Rico, den die Menschen auch für ihresgleichen gehalten hatten. Die rasierte Kopfhaut zwischen den beiden pechschwarzen Haarhälften spiegelte das Licht eines Tiefstrahlers wider. Anson Argyris richtete seinen Blick auf den Tisch und schien die Eierschalen zu zählen. Cyr seufzte und hob die Schultern. »Fragen Sie nicht mich, warum Ghoum-Ardebil und sein Team so ungern antworten. Seit Ende August, fast zwei Monate lang, erholt sich Atlan. Er redet fast ununterbrochen. Mein Eindruck ist, daß er sich gut erholt. Nahezu alle Brüche sind verheilt, die Haut wächst so gut wie narbenfrei, die Verbrennungen sind kaum mehr zu sehen. Auf den Monitoren sehe ich zufriedenstellende Werte. Aber er war bisher noch nicht bei klarem Bewußtsein. Wenn er Kontakt zur Außenwelt gehabt haben sollte, dann habe ich es nicht gemerkt.« »Danke, Prof. Sie haben ausgiebig gefrühstückt?« »Ausnahmsweise gab’s in den letzten zwanzig Stunden keine Hektik. Sie betten Atlan gerade um und versorgen die Muskulatur. Er hat über das frühe Griechenland berichtet. Das einzige, was mir Sorgen macht, ist die gestiegene Sprechge-
schwindigkeit.« »Sie reichern Ihr Frühstück mit dem Protein frischer Eier an, Prof?« »Drei Stück, hart gekocht, Leckerbissen mit frischer Butter.« Anson Argyris, in der gewohnten Gestalt eines Freihändlers, zupfte an seinem geteilten Bart und bemerkte säuerlich: »Ich mag Eier nicht. Weder zum Frühstück noch zu Ostern; besonders, wenn sie dekoriert sind, ist’s ein Greuel.« Cyr stutzte, überlegte, dann lachte er. Der fühlende Teil der Biopositronik schien ihn aufheitern zu wollen: Der Grundkörper von Vario-500 war eine eiförmige Konstruktion mit elliptischem Querschnitt. Cyr hob den Kopf und grinste zu Anson hinauf. »Jetzt verstehe ich, was Sie meinen, Anson. Des einen Ei ist des anderen Frust. Habe ich Ihren egobioplasmatischen Sektor der Anteilnahme beruhigen können? Es gibt im Augenblick wenig Grund zu echter Fröhlichkeit.« Anson Argyris nickte langsam. Der geflochtene Doppelbart, an den Enden unter den Epauletten befestigt, schaukelte über der Stickerei des Hemdes. »Ich war gestern mit Tifflor, Tekener und Roctin-Par zusammen. Sie sind ebenso besorgt. Ich rufe sie an und teile ihnen Cyr Aescunnars gemäßigten Optimismus mit.« »Treffender Begriff«, sagte Cyr. »Grüßen Sie die betreffenden Herren; Tekener hat mir ein zerfleddertes Exemplar eines Atlan-Berichts versprochen, das vom Historischen Korps publiziert wurde, in grauer Papier-Vorzeit.« »Ich erinnere ihn daran. Bis bald, Professor.« Das Bild löste sich flirrend auf. Aescunnar blinzelte, setzte die Brille wieder auf und räumte das Geschirr in die Küche. Als die Eierschalen im Abfallvernichter knisterten, kicherte er und schloß die Tür. An seinem Arbeitsplatz zurück, beugte er sich weit vor und veränderte die Kartendarstellungen auf den Monitoren: die Darstellung des westlichen Mittelmeeres, die
unzähligen Inseln der Ägäis, das griechische und türkische Festland. Er wählte einen Ausschnitt und hatte schließlich die zerklüfteten, halbmondförmigen Reste der Insel Santorin in der holographischen Projektion, eine der Kykladeninseln, die im Altertum Stronghyle geheißen hatte. Auch diese Insel, wie Homers Stadt Troja/Ilion, wurde (legendenhaft) mit Platos Atlantis gleichgesetzt. Er rief weitere Informationen ab: 73 km2 groß, 0 bis 584 ü.d.Meer, Santorin bzw. Thira (Thera = die Wilde), Santorini nach Schutzheiliger Santa Irene; in der Antike: »Kalli-ste« = die Schönste od. Stronghyle (Stonghyle) = die Runde, mit Nebeninseln Thirasia (9 km2) und Aspronisi (2 km2), südlichste der Kykladen. Heiße Quellen und Gasausströmungen bezeugen weiterhin vulkanische Tätigkeit. Letzter größerer Ausbruch: 1956. Cyr schwenkte ein Pult über die Flut der Notizen und tippte langsam, sehr konzentriert, die Formeln verschiedener CADSequenzen ein. Das Bild der Insel begann sich zu verändern. Minuten später hatte Aescunnar alles verarbeitet, was er aus Atlans Bericht und aus Dutzenden alter, unsicherer Quellen wußte. Küsten, Strände, Hänge, Wälder, Kanäle, Hafenbecken mit einfachen Schiffssymbolen. Häuser und Tempel, etwas Gischt und Lichteinfall von 10 Uhr morgens. Cyr verstärkte die Farben, lehnte sich zurück und ließ die Darstellung im Hologramm rotieren; die imaginäre Kamera stieg bis zur Höhe des kleinen Kraters und der dünnen Dampfwolke. Cyr brummte: »Mehr weiß ich nicht. Aber so ähnlich wird Stronghyle ausgesehen haben, als Atlan und Ptah sich mit der CHARIS näherten.« Er warf einen Blick auf das reparierte Chronometer, das tagelang dasselbe Datum angezeigt hatte, blätterte in seinen Notizen; sie waren weniger zahlreich als bisher: Elle = 55 cm; 1 Chen-Nub 445 m, 2 E. mithin etwa 1 km? Weltenfragment Plhor erschien vor 913 Jahren, also 2648 auf Terra (etwa derselbe Dimensi-
onstaucher wie in A.s Erzählung?). Der langlebige Razamon, bisher nicht wieder von Rico/Atlan entdeckt? Wann wäre eigentlich, umgerechnet, Atlans Geburtstag? (Unwesentlich!) Vom Hafen aus war der Vulkan nicht zu sehen. Tiefe Schluchten durchfurchten die Berghänge, längst von Erosionsschutt aufgefüllt und fast bis zur Unkenntlichkeit bewachsen. Samen und Schößlinge der Pflanzen schienen aus allen Teilen des Binnenmeeres zu kommen. Wir legten längsseits des Kais an, und Nestor ließ zwanzig Männer zur Bewachung der CHARIS zurück. Wind von den Hängen wehte leichten Schwefelgeruch herab. Ich stützte mich auf die Bordwand des Hecks und sah zu, wie Schiffe beladen und entladen wurden, Fischer ihre Netze flickten und Boote ausbesserten, wie sich Menschen von den Häusern am Hafenrand näherten. Zwei prächtig gekleidete junge Männer blieben neben der Planke stehen und musterten uns. »Ich bin Nestor, Kapitän der CHARIS.« Nestor hob mein Handgelenk hoch. Jeder konnte den großen Ring des Minos sehen. »Seht ihr diesen Ring?« »Der Ring des Minos!« Einer der jungen Aristoi verbeugte sich. »Ihr wollt zur Ariadne? Was verlangt Minos von unserer Herrin?« »Nur Gastfreundschaft für ein paar Tage. Uns schickt das Orakel; für euch haben wir Botschaften, die über das Leben von Zehntausenden entscheiden.« »Wenn euch die Ariadne einlädt, daran besteht kaum Zweifel, müßt ihr die Waffen im Schiff lassen. Niemand darf bewaffnet den Palast betreten.« Er zeigte auf das langgestreckte Gebäude auf halber Höhe über Hafen und Feldern. »Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme.« Zwei schlanke Kriegsschiffe mit den Zeichen des Minos hatten festgemacht. Entlang der breiten Wege, im Schatten alter
Bäume, herrschten Sauberkeit und Ordnung. Die Häuser waren mit größerer Geschicklichkeit aus Balkenvierecken errichtet; es schien, als wären sie in Maßen bebenfest. Die Menschen waren wohlgenährt, ich sah keine halbverhungerten Sklaven, obwohl die wuchtigen Mauern unterhalb des Palasts sicherlich, wie Minos’ Palast, von Sklaven errichtet worden waren. Felder wechselten mit Eichenhainen, Zypressen mit Palmen ab, ich sah Ziegen- und Schafherden, fleckfarbene Rinder, schwerbeladene Esel und Ölbäume mit silberfarbenen Blättern. Vor Töpfereien standen dünne Gefäße, die auf schnellen Töpferscheiben hergestellt worden waren. Wir ließen unsere Waffen zurück und gingen von Bord. »Gußformen für Lanzen- und Speerspitzen.« Ptah deutete auf die Tonteile. »Und für Schwerter. Auch für Haushaltsgeräte.« Beide Männer, die uns am Kai begrüßt hatten, führten uns zum Palast. Viele Werkzeuge, die wir entlang des Weges sahen, waren aus geschliffenem Vulkangestein. Schon unterhalb der Mauern bot sich uns ein gewaltiger Ausblick auf fast ein Drittel der Insel. Wir schritten durch das Tor und gingen zum Palast, einem wenig prächtigen, aber großen Gebäude aus Quaderfundamenten und Lehmziegelvierecken zwischen Balken. Dutzende Diener oder Sklaven arbeiteten an Brunnen, in Gärten oder an frischen Mauern. Der Schatten der Olivenbäume atmete Ruhe und Frieden, aus kantigen Kaminen kräuselte sich dünner Rauch. Entlang vieler Mauern, die zwischen den Stämmen fruchttragender Dattelpalmen entlangführten, sahen wir die mannshohen Vorratskrüge, die wir schon von Keftiu kannten. Unsere Führer blieben vor dem Haupteingang stehen und warteten. »Nach allem, was wir gesehen haben«, sagte Ptah leise, »starren Insel und Palast nicht von bärtigen Kriegern.« »Aber Insel und Palast zittern ebenso wie der Boden unter
unseren Füßen.« Mehrmals waren wir auf dem Weg erschrocken stehengeblieben, weil spürbare Erschütterungen die Erde durchliefen. Es war nicht der Vulkanausbruch, sondern ein Zeichen seiner göttlichen Anwesenheit, an das sich die Bewohner gewöhnt hatten. Junge Sklavinnen zogen Vorhänge aus Wolle, mit Lederschnüren verwebt, auseinander. Stierkopfzeichen und Doppeläxte waren eingewebt und aufgestickt. Eine Frau, kaum jünger als vierzig Jahre, kam blinzelnd ins Freie. Mit überraschend wohlklingender Stimme sagte sie zu mir: »Charis, die Orakelbotin, hat euch angekündigt, weißhaariger Atlan. Seid willkommen. Ihr müßt alles erzählen; vom Orakel, euren Reisen und vom Tag des Unheils.« »Deswegen sind wir gekommen, Herrin«, sagte ich. »Aber soll ich nicht besser die Hälfte unserer Männer zurückschicken?« »Es stehen genügend Betten bereit: für alle. An Essen und Dienerinnen mangelt es nicht. Wir werden Zeit für lange Gespräche finden.« »Die Orakelboten danken«, sagte Nestor und verbeugte sich. Eine seltsam dunkle Welt nahm uns auf. Die Räume, von wenigen Öllampen mühsam erhellt, bewahrten den Geruch von Generationen Bewohnern. Auf Sockeln und in Nischen standen Göttinnenstatuen; eine der Dargestellten schien die Natur zu versinnbildlichen; gebärfreudige Hüften, unförmige Brüste, mit Symbolen von Eiern, Weinlaub, Schlangen und Fischen geschmückt, aus Holz geschnitzt, aus Bronze gegossen, in allen Größen, aus Ton geformt, goldverziert… es waren Hunderte. Man führte uns in einen Seitenflügel, der höher lag als das Hauptgebäude. Der Mittelteil war zugleich Versammlungssaal und Tempel. Als es dunkelte und die Umrisse des Bauwerks im Inneren und außen im Flackerlicht von Fackeln und Lämpchen er-
schienen, bat man uns, ins Heiligtum zu kommen. Die Ariadne saß auf einem steinernen Thron. Die Armlehnen ähnelten Rômetischen Sphingen, die Rückenlehne glich einem stilisierten Stierschädel mit übertrieben langem Gehörn. Ungefähr hundert Menschen, meist Männer, standen in Gruppen auf dem Boden aus gestampftem, gekalktem Lehm, der den Geruch des Weines ausdünstete. Tiefrot strahlte die Glut der Feuerstellen. Feierliche Stille senkte sich auf alle Anwesenden; lautlos huschten Sklavinnen umher und füllten die Trinkschalen und Rhytons. Die Ariadne stand auf, kam langsam die Stufen des Thrones herunter und hielt in unserer Mitte an. Sie goß Wein als Trankopfer auf den Boden, murmelte Anrufungen und beschwörende Formeln; tief in sich gekehrt. Sie trug einen Rock bis zu den Fesseln, der, wie Schuppen, ein dutzendmal abgestuft war. Über ein kurzärmeliges Wams fiel ein Wolltuch, von Bronzenadeln zusammengehalten, über Schultern und Brüste. An den Fingern steckten schwere Ringe, die Handgelenke trugen Bronzebänder mit Gold und großen Edelsteinen. Um den rechten Oberarm ringelte sich die Heilige Schlange aus Gold und Bronze. Während die Ariadne opferte, bewunderte ich die farbenfrohen Wandgemälde: Menschen mit Stierköpfen, Tiere mit Menschenköpfen, Ranken und Gottheiten. Alles schien in unerklärlichen Tätigkeiten miteinander verwoben. Auch die Bilder waren altersgedunkelt und von zahllosen Berührungen poliert. Die Ariadne blieb auf der dritten Stufe zum Thron stehen, deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich und sagte: »Du also, Atlan, sollst nach dem Willen des Orakels die Menschen warnen und sie vor Schrecken und Tod retten? Sprich.« »Wenn die Flut deine Insel erreicht, Herrin Ariadne, wird sie auch in die Höhle des Meeresgottes eindringen. Feuer und Wasser werden sich zu Dampf mischen, Schluchten brechen
auf, und niemand vermag sich den Schrecken vorzustellen.« Meine Stimme hallte von den Quaderwänden wider. »Dies sagt das Orakel. Du weißt, Ariadne, daß ein Orakel niemals lügt.« Sie nickte schweigend. Ariadne war ein Titel, nicht ihr Name. In diesem Saal wurden göttliche Gesetze verkündet, mit deren Hilfe Minos regierte. Rauch wallte auf und zog durch Deckenöffnungen ab. Ptah, Nestor und ich beantworteten die Fragen, die von Männern aus allen Teilen der Insel gestellt wurden. Obwohl ihnen Inselbeben, glühende Asche, giftige Gase und herausgeschleuderte Felsbrocken bekannt waren, ebensogut wie sinkende Schiffe, brennende Ufer und sterbendes Vieh im Regen der weißen Schaumsteine, lauschten sie jedem unserer Worte. Nestor wischte Schweiß von der Stirn und schloß: »Dies wird geschehen. In vier Monden und siebenundzwanzig Tagen.« Diener baten uns an die Tische. Ich lehnte mich gegen eine Säule und heftete meinen Blick auf das schmale, von Einsamkeit und Alter gezeichnete Gesicht der Ariadne; mit hohen Backenknochen und schmalem Mund, dessen Winkel sich nach unten zogen, grauen Strähnen im vollen dunkelbraunen Haar und graugrünen Augen, die schnell umherhuschten und alles zu durchdringen schienen. Die Ariadne mußte vor zwei Jahrzehnten eine auffallend schöne Frau gewesen sein; es war schwer, ihre Rolle im Netzwerk der Inselkulturen zu bestimmen. Zwischen uns, der Ariadne und etwa einem Dutzend Männer begann ein schwieriges Gespräch. Nestor und ich versuchten zu erklären, wie wenig Spielraum für Auslegung das Orakel ließ. Tausend Einzelheiten wurden abgefragt und erklärt; schließlich trat ich mit vollem Weinbecher vor die Herrin und zeigte auf die Götteridole. »Die Göttin, Ariadne, ist deine Herrin. Tod und Geburt, Werden und Vergehen, Fruchtbarkeit und Verwelken, alles
liegt im Korb, den sie über uns ausschüttet. Du mußt tun, was sie befiehlt. Sie wird befehlen, die Menschen zu retten – denn was wären die Götter ohne uns Menschen? Sowenig wie Minos ohne Krieger und Sklaven, noch weniger als ein Schiff ohne Wasser.« Sie funkelte mich an: Die Bedeutung der Worte war ihr nicht entgangen. Das Orakel verlangte nicht weniger, als daß alle Bewohner die Insel verlassen, sich zu den Hängen anderer Küsten zurückziehen sollten, mit den Herden und all ihrer Habe. Die Ariadne antwortete, ohne zu zögern: »Die Worte des Orakels haben mich getroffen wie ein Pfeilschuß. Wenig ersprießlich ist es für die Göttin und mich, ihre Sprecherin, daß Fremde auf prächtigem Schiff kommen und mir jene Wahrheit sagen, die ich selbst hätte erkennen müssen.« »Ich schoß weder mit Pfeilen noch mit Worten, deren schärferen Vettern«, sagte ich. »Möge die Göttin – mögen alle deine Götter – deine Einsicht weiterhin mehren.« Ich verbeugte mich ehrerbietig und ging zurück ins Halbdunkel zu meinen Freunden. Am Mittag des nächsten Tages, nachdem ich nachts mit dem Antigravsitz, unsichtbar hinter dem Deflektorschirm, mehrmals die Küste der Insel und den Vulkan überflogen hatte, ging die CHARIS wieder in See. Ein neuer Kurs lag an: Melos. Gewaltige Wolkengebirge, hinter denen sich die Sonne versteckte, türmten sich über dem Meer und den Inseln. Schweinsfische begleiteten das Schiff und trieben übermütige Spiele. Wir sahen Kormorane und Möwen, Fischadler, einmal zwei Wale, die ruhig unseren Kurs kreuzten und weiße Fontänen in die Luft bliesen. Ptah träufelte Öl in die linke Handfläche und verrieb es sorgfältig in seinem Gesicht. »Es scheint, als sei die Ariadne mitsamt ihren Häuptlingen
halbwegs überzeugt«, sagte er. »So ähnlich wird’s überall sein. Um wirklich glauben zu können, brauchen sie gewaltige Zeichen.« Ich hob die Schultern. Weit und breit zeigte sich kein Segel. Über Melos und Keos wollten wir nach At’hen; die CHARIS raste unter prallem Segel und mit rasenden Riemen dahin. Ferne Inseln schoben sich in unser Blickfeld und fielen wieder in den dünnen Dunst zurück. Nestor navigierte nach unbekannten Merkmalen; ab und zu kontrollierte ich den Kurs im Anzeigefeld des Armbands. Nestor schlug mir auf die Schulter. »Gefällte Stiere, Dampfwolken aus dem Meer, überlegenes Wissen, Orakel! Was können wir noch mehr tun, um sie zu überzeugen?« sagte ich. Nestor wiegte seinen löwenmähnigen Schädel und brummte: »Ich glaube, daß die alte Frau auf dem Stierthron das Orakel unterstützt. Sie sprach ein wenig rätselhaft mit mir, aber sie schien entschlossen.« »Ich hoffe, du hast recht.« Jede Stunde auf See bewies uns, daß die Konstrukteure und Handwerker, von denen die CHARIS geschaffen worden war, ein überaus schönes und seetüchtiges Schiff geliefert hatten. Wir hatten mit wenig Schwierigkeiten zwei wütende Sommergewitter abgesegelt; die Entfernung zwischen den Inseln war für uns fast bedeutungslos. Am Abend erreichten wir den kleinen Hafen von Melos, der voller Handelsschiffe war. Sie hatten vulkanisches Splittergestein geladen, große Mengen davon. Zusammen mit einigen alten Priestern opferten wir Wein und einen Widder. Mit dem Thermostrahler verdampfte ich das Opfertier und den Wein; vielfarbiger Rauch folgte einer Feuerkugel in die Höhe. Die Menge schrie begeistert. Die Priester erkannten das Zeichen der Götter und versprachen, jeden, der den Tempel besuchte, mit dem Orakelspruch be-
kannt zu machen. Wir beschworen sie, die Inselbevölkerung zum Festland zu bringen; sie versprachen es. Am nächsten Morgen ruderten wir mit festgezurrtem Segel gegen Westwind, wendeten die CHARIS und gingen auf Ostkurs. Wenig später nur erreichten wir, zur rechten Hand drei große Inseln zurücklassend, Irin auf Keos. Auf einem Dutzend Inseln in siebzehn Tagen und Nächten wiederholte sich, nur wenig abgewandelt, was wir in Kunusa, auf Stronghyle und Melos erlebt hatten: ehrliche Gastfreundschaft dank des Ringes, den mir Minos gegeben hatte, gespannte Aufmerksamkeit aller Menschen, zögernde Versprechen und mitunter jene Ungläubigkeit, die ein Inselvolk dahersegelnden Fremden entgegenbrachte. Ich begann mürrisch zu werden und am Erfolg unserer Aufgabe zu zweifeln; jeder Tag brachte uns der Katastrophe näher. Als wir in At’hens Hafen einruderten, empfingen uns Schweigen, Reglosigkeit und Trauer, und spitze Stimmen kreischten: »Der König ist tot!« Thronos, der Hafenmeister, Ptah, Nestor und ich standen unter dem Vordach einer Hafenschenke. Das Gewitter zog grollend nach Osten, und der Regen fiel senkrecht. Thronos ließ sich gemischten Wein geben und sagte ohne viel innere Regung: »Nach vielen Tagen zwischen den Inseln konntet ihr nicht wissen, daß der Fürst in Charons Boot kauert. Seinen Körper wird man begraben, im Tholos, den er längst hat bauen lassen. Es ist eine schlechte Zeit, Orakelbotschaften zu verkünden.« »Zum Kuppelgrab kommen viele Trauernde?« fragte Ptah. »Tausende. Aus allen Dörfern ringsum.« Thronos griff sich wimmernd an die Wange und drückte, nachdem er den sauren Wein hinuntergeschluckt hatte, den Finger auf einen Backenzahn. Ptah-Sokar murmelte in mein Ohr:
»Wir sollten uns etwas Überzeugendes ausdenken. Übertreib ruhig; erschrecke sie alle!« Ich nickte; mit welchen Mitteln unserer Ausrüstung konnte ich die Bewohner am Rand des Festlandes so beeindrucken, daß sie vor dem ungleich größeren Schrecken flüchteten, ehe es zu spät war? Nestor starrte den Hafenmeister an und grollte: »Was nun? Einige von uns brauchen ein Quartier, das uns vor Gewittern und Regen schützt. Meine jungen Ruderer schlafen im Schiff. Wann ist die Totenfeier? Gibt es trotz des toten Königs richtige Gastfreundschaft?« Thornos zählte die Riemen einer Schiffsflanke, rechnete nach, preßte die Lippen aufeinander und nahm mit schiefgelegtem Kopf einen Schluck, ehe er antwortete: »Neun Schlafplätze kann ich euch bieten. Für alle habe ich keinen Platz. Die Schenken und Gasthäuser sind voll. Es wird eng. Seid ihr dabei, wenn der König begraben wird?« »Darauf können sich ganz At’hen und du auch verlassen«, sagte ich. »Wie lange brauchen wir zur Grabstelle?« »Vier Stunden zu Fuß.« Nestor knurrte: »Zeig uns das Quartier. Wir sind geschickt darin, uns einzurichten. Daß unser Dank dich bereichern wird, ist wahrscheinlich.« Thronos senkte den Kopf und murmelte: »Ich wußte es, als ich euer Schiff sah.« Wir machten es uns so gemütlich wie möglich. Die Einrichtungen des Hafens waren dem Ansturm gewachsen, selbst die jungen Dirnen in den Weinhäusern. Vom Hafen zur Stadt führte eine Straße, die ihren Namen nicht verdiente. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns umzusehen, Fragen zu stellen und das grauenvolle Verhängnis zu schildern, das jeden Menschen erwartete, der weniger als fünfhundert Schritte vom Wasser entfernt wohnte oder arbeitete. Wir sprachen vom
Orakel, der tödlichen Flutwelle, den Ungeheuern und der fliegenden Insel aus der Ungeheuerlichkeit der starren, göttlichen Sterne. Am nächsten Tag folgten wir der Menschenmenge zur Stadt. Am Nachmittag begannen sich die Menschen zu sammeln; ich schätzte die Anzahl auf viertausend, die zwischen der mächtigen Stadtmauer und einem Hügel zwischen Feldern reifenden Korns zusammenströmten – langsam, ohne Lärm, zu Fuß, auf Pferden oder auf schweren Wagen. Als ich den Ring des Minos zeigte, schlug mir Mißtrauen entgegen. Merops sagte schließlich: »Niemand hat uns gesagt, daß wir uns außerhalb des Herrschaftsgebietes des Minos befinden. Steck den Ring in deine Gürteltasche, Atlan; denk daran, die einen gegen den anderen auszuspielen.« »Eines der wenigen Dinge, die ich nicht tief genug bedacht habe«, sagte ich. »Aber die Dunkelheit wird übervoll von Ptahs und meinen Einfällen sein.« Ein schier endlos langer Zug Menschen kroch vom befestigten Stadttor auf den Tholos zu. Über einem langen, aus Quadern gemauerten Gang und einer Kuppel war ein Hügel aus losem Erdreich aufgehäuft worden. Der kantige Kragstein ruhte in einem Gestell roh behauener Balken, die mit Seilen aneinander befestigt waren. Die Kuppel war nicht niedriger als neun Mannslängen, der Durchmesser mochte elf Mannslängen betragen. Um den Grabhügel ragten Zypressen und Kastanien auf, drohend in der beginnenden Finsternis. Obwohl die letzten Sonnenstrahlen über die Felder glänzten, hielten viele Männer brennende Fackeln hoch. Wuchtige Felsblöcke, waagrecht übereinandergetürmt, flankierten den Eingang zum Tholos: einem gigantisch barbarischen Grab, das nicht zum erstenmal benutzt wurde. Ein Bewaffneter hielt uns auf.
»Ihr da. Gehört ihr dazu, oder seid ihr nur neugierig?« »Nächst dem ehrwürdigen Toten sind wir die wichtigsten Männer zwischen Land und Inseln«, sagte ich. »Die Orakelboten, von denen schon jeder gehört hat.« Ptah und Nestor redeten auf die Wachen ein; es war wieder das gleiche wie andernorts. Uns wurde die Teilnahme nahe dem Scheiterhaufen erlaubt, wenn wir alle brennende Fackeln trügen. Ich setzte mich unter einem Ölbaum auf einen Quader und wünschte mir wieder einmal, daß plötzlich ein Dutzend Schiffe der Arkonflotte in unmittelbarer Nähe landen und die Besatzungen meine Kommandos erwarten würden. Nicht einmal welkende Blätter fielen zu Boden; nur das Extrahirn sagte: Du hast getan, was du konntest; warte den Erfolg der Planung ab! Meine Männer versammelten sich um mich. Wir aßen und tranken etwas, sahen den Krähenschwärmen über den Zypressen zu und hoben erstaunt die Köpfe, als sie davonflogen, weil ein weißhaariger Mann ihnen mit beiden Fäusten drohte. Wir verständigten uns und mischten uns unter die Wachen, deren Kette die Straße säumte. Der Lärm einer großen Menschenmasse mit dröhnenden Trommeln, deren Schläge jeden zweiten Schritt markierten, schauerlichem Horngeblase, das Wachteln und Grashüpfer aufscheuchte, und grellen Schreien begleitete den feierlich langsamen Zug zur Grabhöhle. Fackelflammen und rußiger Rauch, der in die sternklare Nacht aufstieg, summierten sich aus Punkten zu langen Linien und auseinanderbrechenden Kreisen. Die Grabkuppel bestand aus roh gemeißelten, aber geschickt ineinandergeschichteten Blöcken. In der Mitte war ein rechteckiges Grab ausgehoben, zwei Mannslängen tief und im Geviert, darüber lagen Balken, von Mänteln, golddurchwirkten Teppichen und Fellen bedeckt. Zwischen dem Ende des langen Dromos voller Bronzetafeln an den Wänden und dem
Grab hatte man einen mächtigen Scheiterhaufen aufgetürmt. Telamon näherte sich uns; er flüsterte Ptah und mir zu: »Nestor sagt: Wir werden kaum jemals einen At’hener Wiedersehen. Laßt euch von Trauer oder Mitleid nicht zu sehr beeindrucken.« »Die Warnung ist berechtigt«, sagte ich. »Die Stimmung von ein paar tausend Menschen läßt uns nicht kalt.« Wir kannten den Toten nicht, keiner hatte je mit ihm gesprochen, als er noch auf dem Thron saß; dennoch war die Trauer der Massen begreifbar. Die Spitze des Zuges kam näher. Weißgekleidete Sklaven trugen große Trommeln, auf die Priester und Novizen mit weißen Stier- oder Pferdeknochen einschlugen. Dahinter schlurften zwei Dutzend Frauen, die schrilles Wehgeschrei ausstießen, ihr Haar rauften und sich die Gesichter mit den Fingernägeln zerfleischten. Hinter ihnen bliesen Hirten auf Syringen und verschieden langen Holzröhren wimmernde Pfeiftöne. Schweiß rann von den erhitzten Gesichtern, die Klänge kleiner Harfen, von schweigenden und weinenden Männern gezupft, gingen im grellen Lärm fast unter. Kläffende und heulende Hunde begleiteten den Zug, Funken wirbelten von den Fackeln. Der Leichnam wurde von dreißig Männern auf einem Stangengestell voller prächtiger Schilde getragen. Der Körper in goldener Prunkrüstung war von Mänteln und Decken überhäuft, über dem Gesicht lag eine goldene Maske, die das harte Gesicht des Toten zeigte; jede Locke und jeder Bartkringel waren modelliert. Im Flackerlicht schien sich das goldene Gesicht zu bewegen, schienen die Lippen Flüche oder Gebete zu murmeln. Nestor sagte voller Ergriffenheit: »Es dauert lange, bis das Grab verschlossen und der Hügel zugewachsen ist.« »Das Feuer ist für uns wichtiger«, sagte der Steuermann. »Es brennt bis zum Morgen.« Ptah drehte sich um und sah der Spitze des Zuges entgegen. »Eine gewaltige Menge Holz
ist hier aufgeschichtet.« Der gewaltige Lärm riß nicht ab, als der Zug den Eingang erreichte; Ausdruck gemeinsamer Trauer, keineswegs hysterisch, sondern Beweis eines Schmerzes, der alle Menschen zumindest für die Dauer der Zeremonie umfaßte und ihr Verhalten bestimmte. Die Trauernden verteilten sich in einem Halbkreis um den Hügel, kletterten auf die Grasböschung und setzten sich auf die Äste der Eichen. Hinter der Bahre sah ich Frauen und Männer, die Ölkrüge, Ringe, Waffen, Armreife, Becher, königliche Siegel und Schnitzwerk trugen, auch solche aus dem Rômetland. Wir von der CHARIS verteilten uns so unauffällig wie möglich. Die Bahre verschwand im Eingang; die Kostbarkeiten, wahrscheinlich der Besitz des Toten, wurden ihr nachgetragen; man stellte kostbar aussehende Truhen rund ums Grab. Unter Geschrei und Trommelschlägen senkte man Bahre und Leichnam ins Grab, warf sämtlichen Besitz schweigend hinterher, türmte Schilde und Waffen darauf und brachte Trankopfer aus großen Krügen dar, die mit geheimnisvollem, hohlem Krachen barsten. Gewaschene und kostbar geschmückte Opfertiere wurden von den Dromos getrieben; mit zeremoniellen, vergoldeten Beilen erschlug man sie oder schnitt ihnen mit ebensolchen Messern die Kehlen durch. Das Blut sprudelte dampfend aus den geöffneten Adern, roch widerlich süß und mischte sich mit dem Wein. Die Priester kamen blutbesudelt aus dem Eingang und warfen sich zu Boden. Man weidete die Opfertiere aus und legte Fettstreifen auf das harzige Holz des Scheiterhaufens, dessen Holz über das Grab gehäuft wurde. Mit Trippelschritten näherte sich ein Mädchen, nur mit Schamtuch, breiten Schmuckbändern und Sandalen bekleidet. Schweiß und Salböl zeichneten verwaschene Muster auf die Haut. Das Mädchen trug einen prachtvoll verzierten Krug, aus dem Wein spritzte. Vor dem Scheiterhaufen blieb das Mäd-
chen stehen, hob den Krug über seinen Kopf und zerschmetterte ihn auf Bohlen und Schilden. Ein Dutzend bewaffnete Krieger umringten die junge Frau und senkten lodernde Fackeln in den Holzstoß. Trockene Späne, vom Öl getränkt, ließen augenblicklich die Flammen auflodern. Die junge Frau und die Krieger zogen sich Schritt um Schritt zurück. Nestor umklammerte meinen Arm; ich blieb kühl – solche Begräbnisriten kannte ich. Aber wenige Atemzüge danach brannte eine Ladung ab, die Ptah versteckt hatte: Sie entzündete augenblicklich den Holzstoß, verdampfte Wein und Öl und entflammte die Dämpfe. Eine zehn Mannsgrößen lange Flamme orgelte aus der Öffnung der Kuppel und erhellte die Umgebung. Vor Schreck hörten die Trommelschläger mit ihrem rhythmischen Lärm auf. Entsetzensschreie gingen durch die Menge. Der Sog wirbelte einen Windstoß auf, der trockene Blätter, Tücher, Flammen und Rauch, Staub und Sand heulend durch den Eingang riß und in die Flammen des Scheiterhaufens mischte. Eine dumpfe Explosion erscholl, als das Fauchen und Heulen der Rammen leiser wurde. Der grelle Glanz erlosch, aus der Öffnung des Grabes, die wie ein Kamin wirkte, drang eine schneeweiße Wolke hervor, von blutroten Blitzen durchzuckt. Sie brodelte in die Höhe, hüllte die Baumwipfel ein und löste sich auf; wieder schlugen die Flammen des Scheiterhaufens aus der Öffnung. Nach dem Schrecken sammelten sich die Musiker wieder. Ununterbrochen dröhnten die Trommeln, pfiffen die Syringen. Aus der Rauchwolke, die aus dem Grab quoll, stach ein Lichtpfeil durch das Kuppelloch senkrecht in die Höhe, bis weit über At’hen hinaus sichtbar. Eine hallende Stimme mit mehrfachem Echo, aus Lautsprechern rund um den Hügel, schrie unüberhörbar laut in der rauhen Sprache der Eingeborenen: »Fremde kamen vom Meer! Fremde, die das Orakel für jeden
verkünden! Hört, hört!« Die Menge erstarrte und murmelte überrascht. In der Pause hörten wir das Knacken des lodernden Scheiterhaufens. Abstoßender Geruch breitete sich mit schwelenden Gasen aus; es stank unbeschreiblich nach Horn, verbrennenden Tieren, schmorenden Knochen und siedendem Blut, nach Wein und einem Dutzend anderer Dinge, die blubbernd brannten und sich auflösten. Gold schmolz, und bronzene Dinge begannen sich zu verformen. Tausende Menschen verharrten regungslos in schweigendem Entsetzen. Eine Wolke, pulsierend und in allen Farben schillernd, drehte sich auf der Kuppelöffnung. In der Höhe der Baumwipfel kondensierte sie zum Gesicht des Toten. Seine Lippen bewegten sich, seine Augen leuchteten; es war nicht einfach gewesen, diese Projektion stabil zu halten. Der Geist des Königs verkündete: »Hört, was die Fremden berichten! Glaubt ihnen! Das Orakel lügt nicht! Sie sprechen von tödlicher Gefahr! Glaubt ihnen jedes Wort, denn sie sind Sprecher der ewigen Götter!« Das Gesicht verschwand, zugleich verwehten die Fetzen der irisierenden Wolke. Ich zog, im Dunkel zwischen borkigen Baumstämmen verborgen, meinen Dolch, zielte auf die Knie der jungen Frau und löste den Schuß. Neben sie war ein junger Mann mit auffallend breiten Schultern getreten; der zweite Lähmschuß traf auch seine Knie, als er das fallende Mädchen in seinen Armen aufgefangen hatte. Beide waren, wie ich gehört hatte, Verwandte des Toten. Der junge Mann zuckte zusammen, sein Griff löste sich; Krieger sprangen hinzu und halfen. Aus dem Dromos loderten Flammen, loderndes Öl lief auseinander. Rauch und Hitze drangen durch Mauerfugen; die Menschen, die sich eben unter dem Ansturm des Schalls geduckt hatten, schwankten zwischen Entsetzen und Neugierde, zwischen Trauer um ihren König und dem Versuch,
diese rätselhafte, göttliche Botschaft zu hören. Man schleppte die beiden Gelähmten weg; die Trommeln hämmerten weniger laut, während das Feuer im Inneren des Hügelgrabes herunterbrannte und nur helle Glut zurückblieb. Nachtwind schleppte die riesigen fetten Wolken aus Gestank und Rauch nach Norden. Über uns erschienen die Sterne und die scharfe Sichel des zunehmenden Mondes. Das Wimmern der Klageweiber und die heruntergebrannten Fackeln machten schweigender Erschöpfung und Erwartung Platz. Ptah-Sokar setzte seinen Funkspruch ab; und Hylas, Proviantmeister der CHARIS, schoß mit dem riesigen Bogen zwölf Pfeile senkrecht in die Nacht über dem Hafen. Die Geschosse, unsichtbar, wurden von winzigen Antigraveinheiten in die Höhe gerissen und flammten am Scheitelpunkt auf. Die Ladungen bildeten vor dem Mond, der Götterbarke, neue Sterne und Schriftzeichen; die winzigen Sonnen überstrahlten das Leuchten der wirklichen Sterne. Weiß, Rot und Gelb, Purpur und Eisblau bildeten für lange Augenblicke ein neues Gestirn im Zenit. Die At’hener hoben die Köpfe, murmelten und schrien, sprachen von neuen Zeichen; panische Aufregung bemächtigte sich der Tausende. Ich schob den Dolch in die Scheide, nahm den Helm ab und ging auf die Gruppe zu, die sich um Sohn und Tochter des Toten geschart hatte. Ich schob zwei Krieger an den Schultern zur Seite und sagte: »Ich bin Atlan, der Anführer der Orakelverkünder. Uns trifft man im Hafen. Das Volk wartet auf die Auslegung der Orakelsprüche. Die Zeit eilt; wann also soll das Volk erfahren, wie es sich vor elendem Sterben retten kann?« Theseus, der Sohn des Toten, starrte mich verwirrt an und antwortete schließlich stockend, mit flacher Stimme: »Kommt morgen in den Palast. Plötzliche Schwäche lähmte mich; nie geschah es vorher. Noch müssen wir heute nacht das Grab schließen. Ich schicke einen Boten, Fremder.«
»Die Zeit jagt dahin«, sagte ich, »und das Verderben ist nahe. Die küstenverwüstende Flut kann niemand aufhalten. Laß uns nicht warten; jeder Tag der Säumnis kostet unzählbare Menschenleben.« »Ich habe dich verstanden.« Theseus wirkte schon jetzt überfordert. »Laß uns einmal schlafen, denn im Licht des Tages sind manche Wunder alltäglich.« »Das Orakel spricht von Verwüstungen am hellen Tag.« Ich deutete auf die langsam sinkenden neuen Sterne. »Wir trauern mit dir um den König, deinen Vater. Morgen reden wir? Wir sind in Eile, weil wir hundert Inseln warnen müssen.« »Ich danke euch, Fremder.« Er war noch immer verwirrt. »Selbst die Sterne deuten auf euch und die Wichtigkeit des Orakels.« Er senkte den Kopf; die Dinge waren zu unübersichtlich, zu groß für ihn. Ich ließ ihn in seiner Erschöpfung zurück, winkte den Freunden, und wir kämpften uns durch die aufgeregte Menge zur Straße durch. Wir trafen mit einigen Männern der Schiffsmannschaft in einer fast leeren Schenke zusammen und bestellten Wein, Braten und gekochten Fisch. Brotscheiben, in Öl gebraten, und stechend riechendes Gemüse wurden uns gebracht. Ich wechselte mit Ptah und Nestor lange Blicke; wir konnten zufrieden sein. Selbst der Wirt sprach uns an. Nestor sagte übergangslos: »Die At’hener haben keine andere Wahl. Sie müssen uns glauben.« »Ein schauerliches Spektakel.« Telamon schüttelte sich. »Begraben sie jeden König mit solchem Aufwand?« »Ja«, sagte Nestor. »Meine größte Frage, Atlan: Wo wird eigentlich die steinerne Sterneninsel ins Meer stürzen?« »Ich weiß es nicht.« Ich trank einen Schluck Wein und sagte mir, daß unvermischter Wein dieses Landes das beste Mittel war, um schnell, nach wenigen Bechern, halb besinnungslos
zu werden. Einige der Mannschaft mischten den Wein mit Meerwasser; ich goß Quellwasser in meinen Krug. »Aber immer und überall gesellt sich Unheil zu Unheil. Es wird eine Stelle sein, an der größtmögliche Zerstörungen stattfinden.« »Wie viele Tage bleiben uns noch?« »Hundertachtzehn«, sagte Nestor schroff. »Ich rechne genau.« »Niemand bezweifelt die Zahl. Wollen wir die nächste Fahrt mit dem Schiff machen? Oder reiten wir auf schlechten Straßen nach Mykenai?« »Gegen den Wind«, sagte Telamon. »Wir springen von Bucht zu Bucht, ohne Segel, nur mit den Riemen. Wenn das Wetter anhält, werden auch die Straßen schlecht.« Ptah-Sokar zog ein bekümmertes Gesicht. Der Wirt und zwei müde Mägde brachten volle Brotkörbe und Holzteller und mit Honig knusprig gebratene Stücke vom Wildschwein. Die Würze roch nach Rosmarin, Kümmel, Lauch, Zwiebeln und Wacholder. Ptah zog den Dolch und zerteilte das dampfende Fleisch. »Warten wir, bis der junge König sein bemerkenswertes Wort an uns gerichtet hat. Ich hab’ mich längst umgehört, Seeleute. Mykenai ist kein Freund des Minos, und die Ariadne hat dort auch nichts zu sagen. Wir kommen weder mit deinem Ring, Atlan, noch mit Ariadnes Segen weiter. Wir brauchen eine andere Art der Berufung, einen neuen Gönner. Denke darüber nach, wenn wir dem jungen König Theseus die kommenden Furchtbarkeiten erklärt haben.« Leise sagte er: »Mit Hilaeira hatte ich ständig gute Einfälle.« Ebenso leise sagte ich in sein Ohr: »Verschaff mir lieber ein Treffen mit der unvergleichlichen Charis, o Bruder gräßlicher Späße.« Wir grinsten einander wie Verschwörer an, zur Verwunderung Nestors und der Steuermänner. Müde und satt, mit
weinschweren Köpfen, verließen wir die Schenke und schliefen, wenig bequem, ein paar Stunden. Wir ahnten, daß wir hier nicht lange bleiben würden; wie ein Schwert schwebte die Zahl 118 über unseren Köpfen und in unseren Träumen. Wetterleuchten über dem Meer, schwarze Wolken, schneidender Wind, der Regenschauer fast waagrecht über das aufgewühlte Hafenwasser jagte, begleitete die vier Gespanne auf die Straße zur Hauptstadt. Die Gespannlenker wollten uns zeigen, wie gut sie die Tiere beherrschten: Mit mahlenden Felgen schleuderten wir über nassen Sand und Steine, entlang an Reihen moosbedeckter Bäume, verlassener Tempelchen und geduckter Häuser. Mit schneidenden Peitschenhieben und den Stacheln der Lenkstöcke wurden die triefnassen, schwitzenden Tiere angetrieben. Sie galoppierten, als gälte es unser Leben. Schaumflocken wehten von ihren Mäulern bis hinauf zu unseren Sitzen. Ptah-Sokar rief vom dritten Gespann her: »Denk an die Kampfwagen in Nai-Ta-Hut, Atlan!« Längst dachte ich an den krassen Gegensatz zwischen den leichten Wagen mit Speichenrädern und federnden Achsen unter geflochtenen Körben, leicht geschirrt, mit wehenden Mähnen und Schweifen und dieser barbarischen Fortbewegungsart. Die Zugtiere gingen in Halsgeschirren, die ihnen die Luft abschnürte. Wir kamen an ein zyklopisches Stadttor in der Mauer hinter dem Palisadenwall. Triefende Bäume ließen die schweren Äste hängen, durch Gassen voller tief ausgefahrener Spuren, teilweise mit Rundkiesel gepflastert, kamen wir durch einen ärmlichen Stadtteil zum Palast, der sich auf einer Anhöhe ausbreitete. Prinz Theseus erwartete uns unter dem Balkendach; als wir mit nassen Mänteln näher kamen, fragte er aufgeregt: »Ihr kommt von Kunusa und Stronghyle, der Runden?« »Wir wissen, daß die At’hener weder Keftiu noch die See-
herrschaft des Minos schätzen.« Nestor hob abwehrend die Hand. »Das ist für uns unwichtig – wir sind Orakelboten.« »Kommt herein, ans Feuer; erzählt mir alles.« Theseus klatschte in die Hände. Sklaven nahmen unsere Mäntel ab. In der riesigen düsteren Halle setzten wir uns um ein dunkel glimmendes Feuer, in dessen Glut Tropfen zischten. Wir trugen die gleichen Sätze mit der gleichen Bedeutung vor wie in jedem anderen Hafen; wir würden an vielen anderen Stellen den Wein trinken und die Menschen warnen. Theseus hörte nachdenklich und unsicher zu. Als wir ihm sagten, daß die Flutwelle unzählige Schiffe stranden lassen und zerstören würde, murmelte er: »Vielleicht gibt es nach der Flutwelle keinen Thalasso-Krator mehr. Vielleicht bricht es die Macht von Kunusa.« »Vielleicht, Prinz Theseus«, sagte ich. »Schiffe und Männer, Frauen und Herden aller Fürsten, aller Inseln und an vielen Küsten wird man nach dem Tag des Orakels nicht mehr finden.« »Das Volk, das die Zeichen in der Nacht gesehen hat, wird dich fragen und Rechenschaft verlangen.« Nestor hob die Schwurhand. »Sag allen die Wahrheit, Prinz Theseus.« »Nur die Wahrheit sichert dir nach dem Tag des Chaos die Macht«, sagte ich hart. »Du bist nichts ohne dein Volk; was wäre At’hen ohne dich?« Er war beeindruckt und versprach, nachdem wir mit ihm, seiner Schwester und den Beratern des toten Königs gegessen hatten, alles Notwendige zu tun und die Küsten räumen zu lassen. Noch einmal nannten wir den Tag der Zerstörung, dann brachten uns die rasenden Gespanne zum Hafen zurück. Der Regen hatte nachgelassen. »Zu lange Küsten«, orakelte Nestor. »Zu viele Inseln. Tausende, die uns nicht glauben. Zehntausende, die unsere Botschaft nicht erreicht.«
»Und unsere Zeit jagt dahin«, schloß Ptah-Sokar. Wir brauchten nicht lange, um die CHARIS klarzumachen: frisches Wasser, Mehl, Früchte und verschiedenes Fleisch, gesalzen und im eigenen Fett. Es mochten dreihundert Menschen sein, die unsere Abfahrt mit ansahen. Sie winkten, zögerlich; kaum jemand rief Scherzworte. Der Logiksektor sagte: Sie wissen, daß ihr Hafen von Wassermassen, größer als Berge und ebenso hart, in Stücke geschlagen werden wird. »Atlan, der Raumschiffskommandant«, sagte Oemchen Orb leise, »im Heck dieses seltsamen Schiffes. Mit all seinen technischen Mitteln hätte er es leichter haben können, nicht wahr?« »Nein«, antwortete Cyr Aescunnar. Das Studio lag im Halbdunkel. Nur von der langen Wand voller Regale und Bücher, Kassetten und jeder anderen Form von Informationsträgern und von Cyrs Arbeitsplatz kam vielfarbiges Licht. Atlan schwieg und schien zu schlafen. »Es hätte nicht gewirkt. So, wie nach dem Fall Trojas das Dunkle Zeitalter anbrach, bewegten sich Ptah, Nestor, Atlan und die anderen durch eine andere Art Dunkelheit. Es war, um 1323 vor der Zeitwende, noch nichts zu sehen von der Schönheit, vom Mut und den ehernen Rüstungen der homerischen Helden. Kanusa und wenige andere Stellen waren Inseln der Schönheit und der Kultur. Achaia und die griechischen Inseln waren rohe Bronzezeitsiedlungen hinter zyklopischen Mauern. Nur die Auftritte der Orakelboten versprachen bei den abergläubischen Menschen Erfolg.« Der Anthropologe Djosan Ahar und Drigene, eine der wenigen überlebenden Multicyborgs, saßen nebeneinander. Djosan hielt ihre Hand und meinte: »Wenn große Dinge geschehen, hat ein viel Größerer geschrieben, die man nicht verhindern kann, sollte man sie wenigstens aus der Nähe betrachten, um aus ihnen zu lernen.
Stronghyle ist nicht nur einmal ausgebrochen, Cyr?« »Man meint sicher zu sein, daß 1338 der Vulkan auf Stronghyle-Thera-Kalliste-Santorin die Mittelmeerwelt durch einen kleineren Ausbruch mit starken Beben erschreckt hat. Etwa zur Zeit von Echnaton und Nofretete.« »Ich hab’s drüben gesehen«, sagte Oemchen und füllte die Gläser. »Zwei Fragen, Professor. Eigentlich soll der große Ausbruch von Stronghyle im Jahr 1628 erfolgt sein; nicht damals, 1323, als Atlan vor dem Weltenfragment warnte. Und – hast du Ghoum-Ardebil von der höheren Sprechgeschwindigkeit Atlans verständigt?« »Er weiß Bescheid, weiß aber keinen Rat«, sagte Cyr. »Atlans Körpertemperatur schwankt in langen, ruhigen Wellen zwischen 36 und 37 Grad. Unter 36 Grad beginnt die Kollapstemperatur, bei 40,5 Grad hätte er Fieber. Die Nährflüssigkeit wird ständig auf 36,5 Grad Celsius gehalten. Von 1628 weiß offensichtlich Atlan nichts; er kannte die Insel als ›Runde‹, also so gut wie unversehrt. Ich weiß es nicht besser. Die Informationen widersprechen einander.« Fraglich war auch bis zum heutigen Tag, ob Kreta-Keftiu langsam starb oder ob die minoische Kultur – ebenso wie das legendenhafte zweite Atlantis – durch verschiedene, gleichzeitig auf getretene Katastrophen ausgelöscht, die Paläste von Kanusa und Phaistos am selben Tag eingestürzt worden waren. Drigene flüsterte: »Atlans narrative Zeitmaschine. Was erzählt er, was geschieht mit den Androiden, die ES ihm schickt? Ta-Bnona zum Beispiel?« »Sie leben lange, bleiben unverändert und gesund, sind nützliche Helfer der menschlichen Gesellschaft, und überdies sind sie stark, schön und klug.« Der fünfundvierzigjährige Anthropologe zog die Überlebende von Karthago II an sich. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Wie kann ich dich beruhigen?
Warum glaubst du nicht Ardebil und seinem Team? Sie haben dir eine geradezu unverschämte geistige und körperliche Gesundheit bescheinigt. Und – du bist eine Mucy, keine Androidin.« Es schien, als wolle sie fragen, wo der Unterschied läge, aber sie zog nur den Kopf zwischen die Schultern und sah zu, wie die pneumatischen Maschinchen einen feinen Doppelnebel in Cyrs Augen hinter den getönten Brillengläsern bliesen. Djosan Ahar beugte sich vor und hob einen Kartenausdruck der griechischen Archipele hoch. »Als wir kamen, hast du aufgeregt gesagt, du würdest um Atlans Verstand zu fürchten beginnen. Was war los?« »Ihr habt es nicht gehört. Aber am Anfang der Seereise – er hat es nicht besonders betont – zitierte er, nicht völlig korrekt, aus der Odyssee. Logischerweise kann er, da er weder den geschichtlich fragwürdigen Kampf um Troja noch dessen angeblich blinden Sänger kennt, weder die Ilias noch die andere Dichtung gehört haben. Beide sind erst nach Troja entstanden. Was soll ich davon halten?« »Weiß man davon in Sol City? Julian Tifflor, Roger Chavasse und die anderen?« Oemchen sah sich um, als ob sie die Erklärung im Halbdunkel des Studios finden könne. »Zwischen den verschiedenen Daten liegt so viel Zeit, Cyr.« »Wieviel Zeit, also die genauen Daten, das alles erwarte ich zu wissen, wenn Atlan dieses Abenteuer zu Ende erzählt haben wird.« Cyr hatte lange über dieses Paradoxon nachgedacht. Atlan war sozusagen aus seiner Geschichte herausgesprungen. Es war, als sei der Abtaster eines Tonbandes oder eines Buchchips für einen kurzen Augenblick auf eine völlig andere Spur übergesprungen. Er hatte wohl Odysseus selbst getroffen, irgendwann, viel später. Daß er darüber sprach, war zu erwarten; daß er darüber zu einem Beteiligten eines früheren Ge-
schehens sprach, rechtfertigte den Ausdruck »narrative Zeitmaschine«. »Bisher ist ein solcher Sprung nicht aufgetreten«, sagte Cyr. »Ich bin in Sorge. Ghoum-Ardebil hat gesagt, daß er diesen Versprecher nicht übermäßig ernst nehmen will, aber zusammen mit Atlans schnellerem Sprechen kann ein kritischer Zustand erreicht werden. Was soll Ghoum dann tun? Atlan ist sozusagen schon bewußtlos, betäubt, in einem Zwischenbezirk des Überlebens.« Cyr zuckte mit den Achseln, leerte das Glas und schüttelte lächelnd den Kopf. »Ein weniger gefährliches Kapitel ist der Roboter Rico. Selbst bei einer einfachen biopositronisch konstruierten Maschine – und zu jener Zeit hatte sich Rico noch nicht aufgerüstet – scheint es Langeweile zu geben. In den Historien des Herodotos von Halikarnassos, im dritten Buch, Kapitel sechzig, schreibt Herodot von diesem Weltwunder-Kanal. Ich glaube, wir werden nach dem Bau der Pyramide und diesem Tunnel noch von ein paar anderen Höchstleistungen der Antike hören.« Oemchen holte eine neue Flasche Wein und wählte eine heiterere Hintergrundmusik. Seitdem störungssichere Leitungen zwischen dem Planetaren Krankenhaus und Cyrs Arbeitsplatz geschaltet und Atlans Worte aufgezeichnet wurden, trafen sich nicht nur die Angehörigen des KHAMSIN-Teams in unterschiedlicher Zusammensetzung hier, sondern auch Julian Tifflor, der den Statthalter vertrat, und viele, die von Atlans Zustand wußten. Mitunter störten sie Cyr in seiner Arbeit; heute genossen Oemchen und er die Gesellschaft. Über die Bedeutung von Cyrs ANNALEN DER MENSCHHEIT hinaus verband sie eine Befürchtung: ES hatte versichert (nicht nur dadurch, daß die von ES erheblich manipulierten Erinnerungen Atlans in dessen Katharsis nun freigelegt wurden), viele Erinnerungen zu unterdrücken – Cyr und die Freunde be-
fürchteten, daß ES dieses makabre Versprechen wahr machen und die Texte löschen würde. Nicht nur aus diesem Datensicherungsgrund wurden die Texte ausgedruckt, die Folien, Dateien, Librochips und Buchspulen versteckt; jeder Beteiligte, der die Geständnisse von Atlans geschundenem Verstand kannte, half bei dieser Aktion mit. Über diesem Versteckspiel thronte Professor Cyr Aescunnar mit allen historischen Fakultäten der Chmorl-Universität; sie bauten aus Millionen Bruchstücken jenes Riesenwerk, eben die ANNALEN. »Natürlich kann der Philosoph Platon, 427 bis 347 vor der Zeitwende, nicht ernsthaft den Kleinkontinent der arkonidischen Kolonie gemeint haben, als er in seinen Dialogen Timaios und Kritias über den Untergang von Atlantis sprach. Es könnten ebenso Stronghyle wie Troja gewesen sein; bisher reine Hypothesen. Seine Zitate führten zu Legenden, und später ist das untergegangene Atlantis nahezu an jedem Fleck des Planeten Terra gesucht worden.« Cyr machte eine fahrige Geste. »Es gibt in der Uni-Bibliothek tausend Bücher darüber. Bis mich Atlan widerlegt, halte ich die Stronghyle-Katastrophe für den geschichtlich korrekten Hintergrund der Atlantis-Saga.« In Aescunnars Überlegungen hockte hartnäckig eine Art Virus: Nicht die Erwähnung gewisser geflohener Androiden von der ES-Welt Wanderer störte dieses unbegreifliche Wesen, sondern die Aufdeckung des Umstandes, daß die Superintelligenz häufig und intensiv in die Entwicklung der LarsafMenschheit eingegriffen hatte. Gelangten die galaxisbeherrschenden Laren in den Besitz dieses Wissens, liefe es auf eine Konfrontation zwischen ES und dem »Hetos der Sieben« hinaus. Ergo: ES zog es vor, in diesem Punkt unerwähnt zu bleiben. »Kannst du uns ein wenig über die Zeit vor Trojas Untergang erzählen, Cyr?« bat Drigene. »Weißt du, für mich ist alles neu, seit ich auf Karthago seine Buchspulen entdeckt habe.«
Sie lehnte sich an Djosans Schulter; die schwarzhaarige Mucy mit den ungewöhnlich großen Augen wirkte schutzbedürftig. Cyr verdrängte die Erinnerung an die ausgelöschten Siedlungen auf Karthago Zwo, lehnte sich zurück, schloß die Augen und formulierte sorgfältig, Jahrhunderte der Geschichte in wenigen Sätzen zusammenfassend: »Viele Begriffe und Namen, die heute gebräuchlich sind, gab es damals schon. Ebenso viele oder noch mehr kennen wir nicht, werden sie auch kaum je kennenlernen. Zu viele. Der Kosmos der zahlreichen Götter, von Chronos und Zeus bis zu Halbgöttern wie Herakles, dürfte damals ebenso langsam entstanden sein wie Schrift, Sprache und Zivilisation: Die Bronzezeit glitt in die Eisenzeit über. Unzählige Stadtfürsten, auf Inseln und am Festland, schlossen zahlreiche Bündnisse, lösten sie wieder, kämpften gegeneinander und gegen Kretas Schiffe: ebenso wie in klassischer Zeit, ehe Philipp von Makedonien und Alexander kamen. Kuppelgräber, Zyklopenmauern, Kanäle und Hafenanlagen, sogar Flußumleitungen waren das Werk zahlloser Sklaven. Die Welt, durch die Atlan und Ptah mit der CHARIS ruderten, war im gröbsten Sinn unseres heutigen Geschichtsverständnisses barbarisch.« Cyr hob das Glas gegen eine Lichtquelle. Der Wein glühte rot; leise schloß der Historiker: »Oder wie soll man eine Zeit anders nennen, in der der Wein so stark war, daß er, selbst mit Meerwasser gemischt, noch trinkbar war und grausige Räusche hinterließ?« Die CHARIS ruderte gegen die steifen, kalten Fallwinde aus Nord. Alle Mann an Deck waren in Mäntel oder Felljacken gehüllt. Die Riemen rissen das Schiff vorwärts, durch krachende Brecher hindurch. Gischtflocken flogen bis zum Heck, in dem wir uns gegen die Ruderpinne stemmten. Das Segel war fest an die Rahen geschnürt, die Rah lag längs zwischen
Bug und Deck. Ich packte ein Spanntau, klappte ein weiteres Fach der Hecktruhe auf und rief meinen Freunden zu: »Keine Furcht! Gleich ist die Fahrt durch die Wellenriesen vorbei! Wenn niemand zusieht, fliegen wir wie die Wildgänse.« Hinter den Brechern verschwanden die Inseln. Ich schaltete zuerst den Deflektorschild ein, fuhr die Leistung ebenso langsam hoch wie die der Antigraveinheiten, wartete, bis die Riemen fast senkrecht nach oben klappten, und schob den Geschwindigkeitsregler vor. Die Männer der CHARIS blickten fassungslos über die Bordwand, zurück in die Richtung des Hafens, aufs kochende Meer hinaus; Ptah wieherte vor Lachen, als das Schiff nicht mehr krachend und klatschend einsetzte. Er schrie: »Und so fliegen wir bis nach Mykenai, Freunde.« Nestor und Telamon trugen das Zeichen fremder Götterbaumeister mit Fassung und würdevoller Gemessenheit. Einige Seeleute klammerten sich schweigend an die Bordwand. An Steuerbord verschwand ein Kap in der Gischt, an Backbord huschte ein Inselchen vorbei. Ptah löste Telamon am Ruder ab und schlug den Kurs ein, den ich ihm angab. Dicht über den Wellen jagte die CHARIS geradeaus, rammte nur ab und zu den bronzenen Dorn in weiße Wellenkämme. Eine Stunde verging. Der Wind heulte und jaulte am leeren Mast und in der Takelage. Als sich zwischen östlichen Küstenabfall und unseren Kurs eine kleine, längliche Insel schob, sah ich auf der Karte, daß wir mehr als die Hälfte des Weges hinter uns hatten. Auf Mykenai und Tyrins standen Heiligtümer des Minos, aber der Stadtkönig Mykenais legte keinen Wert auf Minos’ Freundschaft. Nebel kam auf, als wir aufs nächste Kap zusteuerten, und nun schwebten wir nach Nordost. Land und Wasser schienen Dunst und Nebel auszuspeien, die sich über die Wellen lagerten, verschmolzen und dichter wurden. In diese
Nebelfront flog das Schiff hinein, und das gelegentliche Krachen von Wellenkämmen gegen den Kiel dröhnte dumpfer. Längst war die Sonne hinter der grauen Barriere verschwunden. Nestor rief: »Eine Klippe, ein anderes Schiff, eine Felswand – die CHARIS birst in tausend Trümmer!« »Bevor das geschieht, legen wir weit über und weichen aus«, sagte ich. »Ich weiß dies alles von den Handwerkern, die das Schiff gebaut haben.« »Es waren zweifellos Zimmerleute und Schmiede, die Wunder hobelten und sägten und Legenden auf dem Amboß hatten.« »Zweifellos.« Ich grinste; es hätte Rico gefallen. Merops spuckte in den Nebel. Hohles Fauchen und Sausen begleitete unseren Flug. Im Nebel verloren wir das Zeitgefühl, und Ptah meinte: »Das Volk von Mykenai wird uns wie einen Speer aus dem Nebel hervorschießen sehen. Um so mehr glauben sie ans Orakel, aus dem die Götter sprechen.« Wenn wir weiterhin auf diese Weise »segelten«, würden wir wohl jeden wichtigen Hafen anlaufen können. Erst gestern nacht, als ES einen Datenspeicher freigab, hatte Rico mir von diesen zusätzlichen Einbauten berichtet. Durch den undurchdringlichen Nebel hörten wir, als wir auf den Planken saßen und kalten Braten aßen, undeutliches Grollen und Krachen. Ich verringerte nach einem verständnisvollen Blick Ptahs die Geschwindigkeit. Vom Bug her klang es, als schlüge schwere Brandung gegen Felsen. Nestor und Telamon hoben die Köpfe. »Brandung? Riffe? Wieder ein Unwetter?« Plätschern, Rauschen und die Echos der dumpfen Geräusche vermengten sich zu einer Kulisse der Gefahr. Binnen weniger Atemzüge verwandelte sich der Nebel in dunkles Grau,
Schwärze kroch von allen Seiten heran. Wie ein langsames Geschoß bohrte sich die CHARIS durch die Finsternis. Der Logiksektor sagte: Ein schweres Seegewitter! Unmittelbar auf das grelle Knistern eines Blitzes, der den Nebel zum Glühen brachte, folgte ein erbarmungslos krachender Donner. Wir rochen die säuerliche Luft nach der Blitzentladung. Wieder blitzte und krachte es, wieder schlugen Echos über uns zusammen und machten uns halb taub, und wieder rauschte um uns herum heftiger Regen. Eine halbe Stunde verging, in der die CHARIS unsichtbare Hindernisse umfuhr, sich nach Steuerbord und Backbord legte, kurze Zonen kreidiger Helligkeit und rotgefärbter Nebellöcher durchquerte und schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, mitten in die Scheibe der Abendsonne hineinfuhr. Das Meer war glatt; ich verminderte die Leistung der Antigravprojektoren und richtete mich blinzelnd auf. Unseren Augen bot sich ein monströses Bild; Vorgeschmack auf die eigentliche Katastrophe. Vor schrundigen Felsküsten hingen pechschwarze Wolken bis zum Wasser, schräg prasselten Regengüsse ins Meer, darüber wetterleuchtete es, und die schwarzen Finger der Wolken tasteten in die Sonne hinein. Ein Hang, an dem ich wenige Häuser erkennen konnte, einige Fallböen, die das Wasser kräuselten und das samtige Dunkelblau in weißgraues Gesprengsel verwandelten. Westwind schüttelte das unsichtbar gebliebene Schiff. Nestor wirbelte zu mir herum. »Wir sind in der Bucht von Tyrins!« Er nahm das Fernglas aus meiner Hand und nickte. »Kein Zweifel. Ich erkenne das Heiligtum.« Überaus langsam verringerte ich, während sich die CHARIS durchs Wasser schob, die Wirkung des Deflektorschirms. Im Schutz des nächsten kurzen Regenschauers schaltete ich das Feld ab. Das Schiff schwang herum, und die Riemen senkten sich wie lange Flügel lautlos herab. Das Schiff verließ die riesi-
ge Bucht, deren Grenzen wir nicht mehr sehen konnten, verließ den Zickzackkurs zwischen Inselchen und Untiefen, und während die Sonnenscheibe vor uns nach Backbord wanderte, erkannte auch ich unter regennassen Bäumen die Umrisse des Tempels. Schließlich, nach etlichen kalten Windstößen, spannten sich, fast im Heck, zwei prächtige Regenbogen. Perses und Merops sprangen ans Ruder. Nestor prüfte den Wind und rief einige Befehle; die Rah wurde herumgeschwenkt und aufgezogen. Wir segelten auf das ruhige Wasser vor dem Wellenbrecher zu. Gehöfte, Häuser, Mauern, zusammengedrängte Herden und felsige Klippen, über die Wasser stürzte, wurden deutlicher sichtbar. Zwei Molen aus Gesteinsbrocken und Quadertürme über gewachsenen Felsblöcken leuchteten im roten Licht auf, ein halbes Dutzend kleiner Schiffe lag am Kai, und wir fuhren ein Anlegemanöver, das unser Heck auf den Sandstrand und den Bug zum Kai brachte. Wir belegten die CHARIS mit fünf dicken Tauen, standen dann durchnäßt und schwitzend im Hafen und warteten. Ich ließ mir von Iaso einen kleinen Krug Bier bringen, brach das Siegel und wartete, bis der weiße Schaum vor meinen Stiefelsohlen die pickenden Sperlinge vertrieb. Charis, die Frau mit der tätowierten Haut, möglicherweise ein Geschöpf von ES, hatte es fertiggebracht, uns den Weg zu bereiten und die Orakelaufgabe zu erleichtern – wie schaffte sie dies? Die Schiffsbesatzung war ausgeschwärmt und hämmerte an verschlossene Türen. Die Menschen schienen sich vor dem Sturm verkrochen zu haben. Halbkreisförmig lagen umgekippte Fischerboote am Strand, im Sand glänzten Fischschuppen, und über der weiten Ebene rechts kreisten zwei Taubenschwärme. Die Burg von Tyrins, etwa eine Stunde Fußmarsch entfernt, lag auf einem Hügel der Schwemmlandebene. Südlich der Burg erkannten wir einen Fluß mit baumbestandenen Ufern, der rechts vom Hafen mündete.
»Tyrins in der Argolis, dem Golf von Argos«, sagte Nestor. »Mykenai brauchen wir wohl nicht zu besuchen, denn die Leute von Tyrins werden die Orakelsprüche dort berichten.« »Und daß selbst eine hohe Flutwelle bis nach Mykenai reicht, zwanzig mal tausend Schritte landeinwärts«, sagte Ptah, »glaube selbst ich dummer Rômet nicht.« »Wir werden mit aller Herzlichkeit empfangen«, knurrte Nestor. Wir gingen durch den ausgestorben scheinenden Hafen auf die Schenke zu. Als wir unter dem triefenden Dach standen und ich die nasse Tür aus rissigem Holz aufstieß, hörten wir die Geräusche keuchender Pferde und klirrender Felgen. Drei Gespanne, dem Augenschein nach mit den Standarten Mykenais oder Tyrins, rasselten auf den kleinen Platz. Ein Mann in nasser Bronzerüstung, das Haar klebte am Kopf und am Hals, rannte auf uns zu und rief: »Willkommen! Wir haben euch gesehen! Eure Ankunft wurde erwartet.« »War die Orakelbotin Charis bei euch?« Ptah, Nestor und ich blickten uns an. »Kommst du aus Tyrins oder von Mykenai?« »Ich bin der Bote Mykenais. Die Gespanne und der andere Bote kommen von Tyrins. Fürst Mideos hat ein Gastmahl richten lassen; unsere Fackeln sind noch trocken.« Ich zeigte zum Schiff und deutete auf meine fünf Begleiter. »Wartet auf uns. In ein paar Atemzügen ist es Nacht; der Weg ist länger als unsere Botschaft.« Wir legten die nassen Mäntel ab, halfen uns gegenseitig in die Rüstungen, schnallten die Waffengehänge um und entzündeten unsere armlangen Fackeln. Obwohl in deren grellem Flackerlicht der Weg gut zu erkennen war, glich die Fahrt auf den rumpelnden und springenden Wagen einem Alptraum. Wir fuhren mit funkensprühenden Felgen durch ein Tor mit gewaltiger Querplatte, über der uns zwei Kalksteinlöwen mit vergoldeten Alabasterköpfen aus stechenden Augen anstarr-
ten. Was im Megaron, der Burghalle von Mykenai, und am nächsten Tag in Tyrins folgte, kannten wir auswendig; es schien, als würden gerade jene Fürsten, die angeblich sicher hoch und trocken auf dem festen Land saßen, sich am meisten vor der Katastrophe fürchten und jedem Wort der Orakelboten glauben. Spätnachts, auf dem Weg nach Lesbo, beugten Ptah, Nestor und ich im Licht der Hecklaterne unsere Köpfe über die Karte mit der schärfsten Vergrößerung. Ich deutete mit der Dolchspitze auf das Land, das hinter dem Heck mit der Nacht verschmolzen war. Ich faßte zusammen, was wir von den Fürsten erfahren und was Ricos Dauerbeobachtungen ergeben hatten: »Von Norden wandern Fremde ein, bringen neues Wissen und Namen neuer Götter mit, vermischen sich mit den Eingesessenen, bauen gewaltigen Burgen, vermehren sich und bringen ihre Kinder dazu, nach Süden und Südosten auszuwandern. Ob es jemals hier ein einiges Reich geben kann so wie das Land am Hapi, ist fraglich. Ich kann’s nicht glauben.« »Das Große Unglück wird verhindern, daß sich ein Reich bildet«, sagte Ptah ernst und markierte mit seinem Griffel einige Inseln und Teile von Küsten, neben denen, die bereits von mir schraffiert worden waren: Keftiu, Stronghyle, Melos, Keos, At’hen und das Umland, Mykenai und Tyrins. Wenn wir voraussetzten, daß sich der Dimensionsreiter in der Nähe Keftius ins Meer senkte, verwüstete die Flutwelle nicht nur die Inseln mitsamt Alashia und dem nördlichen Festland, sondern auch die Küste Gublas und Ushu-Djarhs und das Mündungsdreieck des Hapilandes. Lesbos und Ilion – oder, wie manche sagten, Troia – waren ebenso gefährdet wie das Land Acchijawa jenseits von Rhodos. Auch weiter westlich liegende Küsten konnten verheert werden. »Und wenn diese Welt zittert und bebt, weiß auch der Klügste nicht, wer lebend davonkommt.«
»Je mehr Menschen wir warnen können – ich wiederhole, was wir schon lange wissen –, desto mehr Menschen überleben. Dennoch werden Tausende und aber Tausende sterben.« Ich stieß den Dolch in eine Plankenfuge. »Selbst wenn Charis vor uns dort war und uns die Mannschaft des weißen Zweiruderers hilft.« »Du bist ratlos, Atlan!« Ptah kannte mich gut genug und traf eine Feststellung. »Es ist unvorstellbar, mein Freund, daß wir den Auftrag bis in den letzten, spinnwebverkrusteten Winkel der Vollkommenheit erfüllen können. Bescheide dich mit dieser Einsicht.« Ich lehnte mich gegen die zitternden Planken der Bordwand. Die CHARIS schwebte auf die Insel zu; über uns umgaben starr leuchtende Sterne den sattgelben Vollmond. Die Hälfte der Mannschaft schlief, die andere Hälfte hatte sich mit Hängematten und auf Decken irgendwie eingerichtet. Weit vor dem Morgen hüllte uns Nebel ein, und etwa bei Sonnenaufgang lag der Hafen von Lesbo vor uns. Ich wärmte meine Fingerkuppen am warmen Ton eines großen Bechers voll Kräutersud und hörte Nestor zu. »Als die obersten der unsterblichen Götter sich die Welt teilten, sah niemand die Insel, die sich in der Brandung verbarg. Mit Rhode der Scheuen, einer Wasserfrau, verbrachte der Götterfürst viele Tage nahe den murmelnden Quellen. Die Dryaden, Göttinnen der Bäume, ließen dazu süße Lieder ertönen. Rhode brachte drei Söhne zur Welt, die sich die Herrschaft über die Insel teilten; nach ihnen sind die Siedlungen benannt. Die Wirklichkeit, Freunde, die vor uns liegt, ist weniger göttlich.« Wir schienen sämtliche vorausgegangenen Schwierigkeiten und Schrecken vergessen zu haben, als die gleichmäßig arbeitenden Riemen uns in den Hafen schoben. Die Sonne des spä-
ten Morgens strahlte wohltuend wärmend auf die Planken. Eine große Menschenmenge erwartete uns und säumte Wellenbrecher, Strand und Hafenstraße. Ruhig gingen wir über die federnde Planke an Land und wurden von Priestern und reichen Kaufleuten zur Krone der wuchtigen Mauern geführt, wo wir stundenlang spazierten und ihnen berichteten, daß in etwa vier Monden auch diese Wälle und Mauern von der Flut weggerissen werden würden. Wohin sie sich retten sollten, fragten sie. Ich ertappte mich dabei, daß mich ein erster Anflug von Überdruß und Langeweile heimsuchte. Ich war nicht gewohnt, die Hände in meinen Schoß zu legen, und war mir bewußt, daß es buchstäblich gar nichts gab, was mich zum sinnvollen Handeln bringen konnte. Zwei Tage lang erfreuten wir uns ihrer Gastfreundschaft. Das Schiff wurde gesäubert, wir badeten und rasierten uns, putzten Leder, Planken, Schilde und Waffen, ließen die Mäntel waschen und aßen viel Fisch, tranken viel Wein, sahen zu, wie unsere jungen Seefahrer mit den Mägden und Sklavinnen schäkerten, und waren, als wir mit ablandigem Wind drei Stunden nach Mitternacht ablegten, sicher: Die Bewohner von Rhodos wußten, was sie tun konnten, um sich zu retten. Ich lag unter Deck in der schaukelnden Hängematte, und der Extrasinn fragte: Werden sie sich an eure Warnungen auch noch in hundertzehn Tagen erinnern? Was wußten wir von der Stadt, die den Namen des Herrschers Hon trug? Was zeigten die Karten? Die Stadt lag in einer leicht hügeligen, teilweise von Bergen gesäumten Ebene an einer langgezogenen Meerenge, in der wilde Strömungen sich unter der trügerischen Oberfläche des blauen Wassers austobten. Ilion oder Troia war, mitsamt dem Umland, eine überaus reiche Stadt. Alle Schiffe in den Häfen, die Nahrungsmittel und Wasser brauchten, mußten zahlen. Ohne Lotsen wagte sich kein Schiff nach Westen oder Osten – für die Lotsen muß-
ten die Kapitäne natürlich auch zahlen. Der Boden der Ebene, über die sich die Stadt erhob, als läge ein gebuckelter Schild auf den Platten einer Agora, war unerhört fruchtbar: der Fleiß der Fürstensöhne, ihrer Diener und vieler Sklaven hatte Flüsse – große Bäche meist – umgeleitet, einige Hafenbecken und Brunnen geschaffen, einen Kanal durch Felsen getrieben und die Ufer dergestalt verändert, daß auf der südlichen Seite der Meerenge kein Schiff anlegen konnte; Feuerzeichen, die schnell gelöscht werden konnten, kennzeichneten die tödlichen Schrunde. Der Extrasinn bemerkte voller Häme: Nicht nur auf Arkon würde man das Verfahren als schamlose Ausbeutung eines Monopols bezeichnen. Mich erstaunte nur kurz, daß Nestor das Land, die Meerenge und die Stadt kannte; eines nicht zu fernen Tages würde ich auch darüber Bescheid wissen. Wir ließen im ersten Hafenbecken eine Wache an Bord, mieteten ein paar Wagen und fuhren durch goldene Weizenfelder, vorbei an Weiden voller Ziegen, Schafe und Rinder, auf die Mauern einer großen Hügelstadt zu. Wir kamen in eine Stadt fleißiger Menschen, in der ich viele Krieger in bronzenen Rüstungen sowie mit eisernen Schwertern und Lanzenspitzen sah, in der die Bewohner wußten, daß ihr Reichtum ihnen überall geneidet wurde. Unseren Worten glaubten alle, die mit Schiffen zu tun hatten. Landbewohner konnten sich die Schrecken riesiger Wogen, die über flaches Land dahintobten, hingegen nicht vorstellen. Aber alle kannten die vernichtenden Wirkungen von Erdbeben. Ich fragte: »Kennt ihr Charis? War sie bei euch?« »Wer ist Charis?« »Hat der weiße Zweiruderer nicht bei euch angelegt?« »Wir kennen nur Märchen und Lügen über ein Schiff, das es nicht geben kann.« »Sonst wißt ihr nichts?«
»Wir hörten von Handelsschiffen, daß das weiße Schiff bei Jalisos Zuflucht gesucht hat, auf der Insel Karpato.« »Karpato ist unser nächstes Ziel.« »Braucht ihr Lotsen und Ruderer?« »Nein.« Karpathos war hundert Chen-Nub lang und von Nord nach Süd gestreckt. Zusammen mit Ksos bildete sie eine Art Übergang zwischen Rhodos und Keftiu-Kunusa. Wir fuhren an dem mächtigen weißen Bergzug im Inselinneren und an hundert höhlenreichen Sandbuchten vorbei nach Süden: die Insel gehörte halbwegs zum Machtgefüge des Minos. Während man auf Rhodos mit glasartigem Vulkangestein, Schmirgel zum Schleifen und Bearbeiten der Halbzeuge, Silber und Elfenbein aus Hapiland handelte, mit Kupferbarren aus Alashia, Zinn aus unergründlichen Quellen, mit Straußenfedern, Gold, Siegeln und Schmuck, sogar mit Holz aus Keftiu und Gubla, galt diese Insel nicht als wichtiger Handelspunkt. Mit sanften Rucken, gedämpft durch Ledersäcke voller Gras, Gestrüpp und alte Tauenden, stieß der gewölbte Schnabel der CHARIS unterhalb des schaurigen Galions an Balken, an denen Muscheln und Schwämme wucherten. Als wir festmachten, glaubten wir, in ein lautes, buntes Fest geraten zu sein. »Noch hundertundein Tage«, sagte Nestor und legte die Hand um meinen Unterarm. »Und jetzt dieser Aufruhr. Fünfzig Häuser und ein halbes Tausend Menschen. Wie geht das zusammen, Kapitän der Geheimnisse?« Ich hob die Schultern. »Feiern sie unsere Ankunft?« Langsam gingen wir von Bord und warfen lange Blicke auf unser Schiff. Die funkelnde Bronze war grünlichstumpf, auch die Helme sahen aus, als wären sie uralt. Telamon knurrte: »Schwerlich, Herr wechselnder Winde. Es sind nicht nur Achaier; sieh genau hin.« Ich sah kleine, sehnige Männer mit scharfrückigen Nasen, in
weiches Leder gekleidet, mit allen Zeichen von Reichtum und Besitzerstolz. Sie bewegten sich, als wären sie keine Fremdkörper zwischen der Bevölkerung; als gehörten ihnen Häuser und Strände. Überall waren Stände voller Handelswaren aufgeschlagen. Ich betrachtete ruhig die ausgelegten Waren und hörte Hylas, den Ältesten der Ruderer, sagen: »Händler von Gubal und Uschu. Wir sind eine Handelsstation der braunhäutigen Hakennasigen angelaufen. Beim Webstuhl der Hera!« »Hier kann Atlan seinen Bogen gegen breite Purpursäume tauschen«, meinte Dendro. Tauwerk flog zum Kai, Halbwüchsige belegten das Schiff. Das Hafenwasser war so glatt wie ein Bronzespiegel. Allerlei scherzhafte Rufe gingen zwischen der CHARIS und dem Hafen hin und her. Ich griff nach dem Helm. »Woher kommt ihr?« »Ein großes Schiff; niemand kennt es.« »Keine Gubla-Leute. Und nicht aus einem nördlichen Hafen.« »Sieht aus, als käme es aus einem anderen Ozean.« »Händler? Versuchen wir’s.« Zwischen Häusern, deren Bauart wir kannten, standen Gebäude, die viel heller und weniger schwergewichtig aussahen. Vor ihren Türen standen grimmig aussehende Wächter in Waffen. Ihre Köcher waren prall gefüllt. Nebeneinander, durch Ankersteine und Tauschlingen gesichert, dümpelten phoinikische Schiffe neben unserem Anlegeplatz; Hebebäume reckten sich in den pastellenen Himmel. Geruch nach Dörrfisch und Herdfeuer hing in der Luft, und drei Boten, die wie Drillinge aussahen, kamen auf die CHARIS zu. Der mittlere rief: »Seid ihr das Schiff, das der schönen Charis folgt? Kommt zu uns; wir sagen euch, wo sie auf euch wartet.«
»Unser Schiff trägt ihren Namen.« Ich sah, wie sich die Männer im lautlosen Gelächter krümmten. »Sie ist nicht hier?« »Kommt, trinkt mit uns. Sie wartet auf einen Mann, der sich Atlan schimpft, aus Kunusa.« Nestor stieß mir den Ellbogen in die Rippen und sagte in aufkeimender Wut: »Was weißt du, Trunkener?« »Charis hat uns gesagt, daß ihr, Menschen des Schweißes, versuchen werdet, sie einzuholen, sie aber niemals einholen könnt. Sie fuhr auf unseren Schiffen. Stimmt’s? Ihr seid die Boten des Unheils?« Zahlt es ihnen heim, sagte der Extrasinn. Ich lehnte mich an unser grausiges Galion, verdrehte die Augen und stieß einen heiseren Schrei aus. Ich wimmerte, riß die Augen auf, schloß sie wieder und deutete auf einige Männer, die uns im Halbkreis umstanden. Mit überkippender Stimme schrie ich: »Du, du und auch du, deine Kinder, die Frau, die du begehrst, ihr alle werdet die Flut nicht überleben. Sie wird euch und eure Herden, Kinder und Besitztümer ersäufen. Brandung reißt euren Besitz samt der Ackerkrume hinweg! Das Dach fällt ins Herdfeuer, und alles verbrennt.« Ich ließ mich auf eine Taurolle fallen und hob zuckend beide Arme. »Flucht wird nichts nützen! Tag wird zur Nacht! Die Nacht ist voller Flammen, Rauch, Tod und kreischender Dämonen! Sie kommen von den ewigen Göttersternen! Ihr alle – ihr werdet verlieren: Eure Häuser werden zerschmettert, Sklaven verlieren den Herrn, Herren verlieren Diener und Sklaven, und die listigen Gubla-Leute verlieren ihre Schiffe in einer Welle, die fünfzigmal höher ist als die Schiffsmasten.« Ich zitterte, zuckte und ächzte. »Feuer und Wasser, brennende Luft, eine Kraft, die das Unterste zuoberst kehrt – das verkünden wir euch, die Orakelboten.« Ich sprang auf die Füße, stieß einen gellenden Schrei aus und
stand starr da. Nestor und meine Freunde sprangen auf mich zu, stützten mich, hielten mit Weinbecher an die Lippen und wandten sich an die Umstehenden. Sie sprachen mit dumpfen Stimmen: »Wenn unser Anführer die Orakelworte verkündet, befallen ihn herbe Schwäche und Verwirrung des Verstandes. Sonst ist er kühn wie die Adler auf dem Berg Ida, schneller als die Stiere des Minos, hurtiger als die Schweinsfische des Meeres. Gerade eben kam der Gott des Orakels über ihn.« Ich bemühte mich, verwirrt auszusehen. Nestors Worte zeigten augenblicklich Wirkung. Die Menschen preßten erschrocken die Fingerknöchel gegen ihre Zähne. Mich trafen Blicke voll Neugierde, Ehrfurcht und Angst. Ich tat, als erwache ich aus dem Abgrund eines furchtbaren Traumes und wandte mich mit gurgelnder Stimme an meine Freunde. »Ich weiß nicht, was ich sprach. Hab’ ich wieder die Orakelworte so laut hinausgeschrien, daß meine Kehle schmerzt?« »Ja. Keine Sorge. Wir sind unter Freunden, die uns glauben.« Ptah zog mich in die Höhe und unterdrückte sein Grinsen. Wir standen, voll gerüstet und bewaffnet, entlang des Schiffes auf dem Kai. Ich erholte mich schnell; der Vorsteher der Händlersiedlung und der Inselfürst hatten sich eingefunden. Ptah flüsterte mir zu, daß Menschen, besonders Orakelboten, mit derlei Anfällen als unantastbar, fast heilig und absolut glaubwürdig angesehen wurden, weil die Götter aus ihren schaumbedeckten Lippen sprachen; jedes meiner Worte raste als Teil eines Gerüchtes um die Insel. Man lud uns ein, und wir verbrachten zwei Tage auf der Insel. Zwei Dutzend Kapitäne schwer beladener Handelsschiffe von der Gublaküste lauschten unseren klaren Schilderungen dessen, was uns das Orakel zu schildern befahl; je länger wir sprachen, desto tiefer grub sich Nachdenklichkeit in die Gesichter der Kapitäne. Nestor sprach, als sei er Bote der Götter:
»Jeder Kapitän wird überall, in jedem Hafen, diese Wahrheit verkünden. Denkt daran, daß eine Flutwelle, verbunden mit Bersten, Zittern und Schwanken der scheinbar festen Erde das Leben auslöscht, als schlügen Blitze ein. Und was wißt ihr über Charis und den weißen Zweiruderer?« Der Fürst versicherte uns, die Ratschläge zu beherzigen: Menschen, teure Habseligkeiten, Werkzeug und Vieh würden zum höchsten Punkt der Insel gebracht werden. Dort sollten Vorräte an Wasser und allem Eßbaren angelegt werden, mit Saatgut, Samen und Früchten. In den Häusern sollte kein Feuer brennen, um zu verhindern, daß die Anwesen abbrannten, wenn sich die Erde schüttelte. Schiffe, Boote, Fischernetze… so hoch wie möglich sollten sie über die Hänge aufwärts geschleppt werden. Höhlen sollten als Speicher dienen und wasserfest verschlossen werden; Öl Vorräte für Lampen und Fackeln waren so wichtig wie trockene Tücher und junge Tiere. Schon morgen sollten sie damit beginnen, alles, was wichtig war, möglichst weit von der Hochflutmarke wegzuschleppen: Stück für Stück. Auch Rico bestätigte die Angaben von ES: Noch achtundneunzig Tage. Ich stand im Bug und deklamierte, was mir einfiel: »Unter sich türmten der Ostwind, der Süd und der sausende Westwind.« Nestor sah mich an, als erschräke er. »Auch der weißzüngige Nordwind, und wälzten gewaltige Wogen. Und unsren edlen Schiffern erzitterten Knie und Herz.« »Niemand zittert, du zaghafter Zitierer zahmvoller Zweifel!« Nestor goß aus dem schlanken Krug grünlichen Kräutersud in meinen Becher. Die CHARIS glitt im schnellen Flug zwischen der Insel und dem Festland durch die Nacht. Vage Strudel schäumten hinter dem Heck, und, während das Schiff leicht nach Backbord überlegte, lösten sich Gischtspritzer von den Wellen und näßten unsere Gesichter. Die Backbordküste mit
felsigen Abstürzen, wenigen Wachtürmen und geisterhaft phosphoreszierenden Brandungslinien glitt lautlos vorbei. An diesem Morgen schien es, als zögere die Sonne lange, sich grämlich ächzend aus dem Meereshorizont hochzustemmen. Wir änderten, nachdem wir an Inseln mit düsteren, hafenlosen Stränden vorbeigekommen waren, unseren Kurs; nur einzelne Häuser duckten sich, hoch wie Schwalbennester, unter windzerzausten Bäumen weit über der Wasserlinie. Wir hielten uns fern von Klippen, Untiefen und Riffen; es war, als führen wir über Teile des Meeres, dessen Wellen noch nie der Kiel eines Schiffes gefurcht hatte. Kurz vor Sonnenuntergang sahen wir weit voraus einige winzige Lichter und steuerten eine Schlucht an, die sich wie ein gekrümmter Finger ins Land hinein erstreckte. Ein herrlicher Naturhafen, ein Versteck, in das wir mit dem letzten Windhauch einfuhren und im ruhigen schwarzen Wasser mit den Riemen an Land ruderten. Stämmige, blauschwarzhaarige Männer, kleiner als die Achaier, empfingen uns; weder in Kleidung noch in der Bewaffnung konnten wir Unterschiede feststellen. Wir blieben zwei Tage und Nächte, erlebten mit, wie Boten mit Gespannen davonjagten, versehen mit gebrannten Tontäfelchen, auf denen Tag und Stunde des Unheils – dargestellt durch Mond-Abbildungen und Striche verzeichnet waren. Unsere nächsten Ziele waren die Häfen Alashias; auch hier fanden wir weder den weißen Zweiruderer noch Charis. Ptah-Sokar legte seine Hand auf meine Schulter, lehnte sich über die Bugbordwand und fragte mit rauher Stimme: »Dich suchen wieder düstere Ahnungen heim, Freund Atlan?« »Es ist diesmal nicht die Katastrophe, die meine Gedanken fesselt«, sagte ich. »Ich denke an Charis und an den nächsten Hafen auf Keftiu.«
Das Schiff, die Vorräte und wir selbst waren mittlerweile alles andere als frisch oder glänzend. Die CHARIS, ein Schiff das mehr aushielt als die Mannschaft, hatte ihre Tüchtigkeit hundertmal unter Beweis gestellt. Die Mannschaft war durch mehr als hundert kleine Abenteuer und das tägliche Einerlei an Bord miteinander zu einem wortlos funktionierenden Organismus verschmolzen; Furcht vor dem scheinbar Unerklärlichen beeindruckte niemanden mehr. Wir tranken Sud mit Wein vermischt, und blickten nach vorn; eine Bucht breitete sich aus. Wir sahen winzige, wandernde Lichtpunkte, also Fackeln, und wenige Feuer, die Konturen der Küste zeigten und sich im stillen Wasser spiegelten. Wir bargen das Segel, die Riemen begannen zu arbeiten und schoben das Schiff auf den Mittelpunkt der Lichter zu. Leise Geräusche schlugen an unsere Ohren: Von den Hängen kamen Gongschläge oder das Dröhnen großer Baumtrommeln. Wir fuhren durch den freien, schwarzen Raum zwischen zwei Leuchttürmen aus Balken, an deren Spitzen Feuer loderten; es war unheimlich still. Unsere Männer kamen, zum Teil in Waffen, an Deck und starrten geradeaus. »Erwarten sie uns? Mitten im Sommer? Mit Feuern am Hafen?« Nestor blickte mich fragend an. Ich zuckte mit den Achseln. Mit jedem Riemenschlag wuchs unsere Verwunderung. An den Mauern der ersten Häuser nächst dem Hafen, rechts und links an den Hängen, steckten Fackeln. Wir sprachen leise miteinander, blickten durch meinen Feldstecher und glaubten, Menschen und deren Schatten zu sehen; feierten sie, bisher ohne Lärmen, ein Fest? Als wir in den Hafen ruderten, unterschieden wir mehr Einzelheiten. Die Menschen schienen fröhlich zu feiern, hielten Schalen und Becher in den Händen und bewegten sich vor Feuern hin und her, über denen sich Bratspieße drehten. Eine lange Doppelreihe Lichter führte zu ei-
nem Haus mit auffallend weißen Wänden hinauf. Perses stieß mich an und deutete nach Steuerbord im Hafen. »Meine Augen mögen trügen – aber dort hat der weiße Zweiruderer festgemacht!« »Dein triefendes Auge trügt nicht«, sagte ich und schlug ihm zwischen die Schulterblätter. »Mir dünkt, beim grämlichen Grinsen gütiger Götter, daß der Empfang uns und niemand anderem gilt!« Auf den algenbedeckten Strand hinaufgezogen, halb gekippt, lag ein Schiff vom Aussehen des schlanken Zweiruderers. Die Menschen liefen hin und her, winkten uns und schwenkten Becher und Krüge. Ptah-Sokar spuckte nach Backbord, rempelte mich an und sagte: »Oder warten sie auf andere Kapitäne und Seefahrer?« »Man wird es sehen«, murrte ich. Das Schiff drehte im ruhigen Hafenwasser und entfesselte unzählige Spiegelungen, Blitze und bizarren Widerschein: Licht flirrte von Helmen und Schilden, von nassen Planken und feuchtem Tauwerk, von unseren Waffen und den langen Schäften und Blättern der Riemen. Mehr und mehr Menschen bildeten einen Halbkreis und winkten. Das Heck knirschte auf den Sand, wir stemmten uns gegen die Planken. Trockenes Tauwerk flog auf die Bohlen des Wellenbrechers, und schließlich standen wir, die Bögen in den Händen und die gefüllten Köcher auf dem Rücken, abwartend neben dem Kai. Der Logiksektor wisperte: Niemand wird euch angreifen! Ich sprang an Land. Einige ältere Männer kamen herbei. Ihre Gesichter waren von den Flammen und vom Wein gerötet. Ich rief: »Wir sind die Seefahrer der CHARIS, die Verkünder des schrecklichen Orakels, und wir danken für den trunkenen Willkomm, den uns Kition erweist.« Jemand brüllte vom Kai: »Ihr seid erwartet worden.« Wir sahen einen Mann mit auf-
fallend breiten Goldbändern an den Oberarmen. »Seht dorthin!« Die Menge teilte sich zögernd. Männer stolperten grölend übereinander; offensichtlich waren sie trunken. Ein jäher Windstoß wehte einen Wirbel Bratengeruch von den Rosten herüber. Langsam, vorsichtig, abwartend gingen wir über die Planke an Land, die Hände an den Waffen. Rauch verdunkelte wehend die Sterne. Zwischen lodernden Fackeln, zitternden Flammen der Lämpchen, dem Zwitterlicht von Glutrosten und Spiegelungen in Augen, Gesichtern, Rüstungen und Schilden kam eine Frau auf uns zu, von einigen Fackelträgern begleitet. Ptah-Sokar und ich sagten leise und gleichzeitig: »Das kann nur Charis sein!« Schweigend und lächelnd blieb sie vor uns stehen. Sie war nur ein paar Fingerbreit kleiner als ich, eine junge Frau mit hellbrauner Haut, wie eine große Rômet aus dem nördlichen Teil des Landes, Erbin aus einem Heka-ChasutFürstengeschlecht. Sie ging gerade wie eine Lanze, trug helle Kleidung und verzierte, kniehohe Stiefel; ungewöhnlich für diesen Ort und diese Zeit, ebenso exotisch wie Teile von Ptahs und meiner Ausstattung. Ich wartete in steigender Unruhe. Hinter mir sicherten die Seefahrer nach allen Seiten, hinter Charis bildete sich ein Halbkreis abwartend schweigender Männer. Es war, als ob einander feindliche Gruppen belauerten. Als die Frau fünf Schritte vor mir stand, sprach sie mit klarer Stimme: »Ich bin Charis.« Sie war eine ungewöhnliche Erscheinung zwischen den weitaus kleineren Männern von Alashia. Große, dunkelbraune Augen beherrschten ein schmales Gesicht. Sie trug ein Gewand aus hellem, dickem Leinen mit großen Ärmeln, ihre Haut war hellbraun, dunkler als die Sonnenbräune der Frauen und Männer ihrer Umgebung. Hinter uns stellte sich unsere Mannschaft im Halbkreis auf und legte die Hände an die Waf-
fen. Wir dachten an den Schwur, den der Kapitän des Zweiruderers uns hinterhergebrüllt hatte. Männer hoben ihre Fackeln. »Ich bin Atlan, der Orakelbote.« Ich hob die rechte Hand. »Das ist Kapitän Nestor, dies Ptah-Sokar aus Khem.« »Seit vielen Tagen erwarten wir euch«, sagte sie. »Wir haben eine weite Fahrt hinter uns.« Ich sah auf ihrem Hals und auf den Unterarmen feine Linien von Tätowierungen. »Alles ist voller Rätsel, und du, Charis, bist das größte Rätsel.« »Vielleicht nur für dich, Atlan.« »Erwarten uns auch die Männer des weißen Schiffes?« Nestor verbeugte sich vor Charis. »In den Hütten versteckt, bewaffnet?« »Sie sind hier, aber sie werden nicht kämpfen. Ich habe es ihnen verboten.« Ptah machte eine halbkreisförmige Armbewegung und sagte: »Wir sind nicht hier, um zu feiern, obwohl ich nichts lieber mache; wir sind hier, um die Bewohner von Alashia zu warnen.« »Ich bin mit dem weißen Schiff seit Tagen hier.« Charis lächelte. Es schien, als schimmere das Fackellicht auf winzigen Schmucksteinen in ihrer Haut. »Die Menschen der Insel kennen das Orakel und den Tag der Katastrophe.« »Du? Mit dem weißen Zweiruderer?« fragte Nestor. Er verbarg sein Erstaunen nicht. Ich trat zur Seite und betrachtete Charis genauer. Die Tätowierung der Haut zwischen Stiefelrand und Kleidersaum und der Unterarme schien aus goldenen und silbernen Pünktchen zu bestehen, aber auch aus hellen Linien; feine, schlangenartige Fäden und winzige Ranken. Das Lächeln der Frau war bemerkenswert selbstbewußt, sie sprach mit dunkler, leicht kehliger Stimme. »Ich reise hierhin und dorthin, auf welche Weise auch immer, und zuletzt fuhr ich mit dem Zweiruderer.«
»Wir haben viele Fragen«, sagte ich, »aber die Antworten wollen wir nicht hier im Hafen hören.« »Auch ich bin nur ein Werkzeug der Warnung, eine Orakelbotin; gehen wir in mein Haus.« »Mit viel gutem Werkzeug läßt sich eine große Aufgabe leichter vollbringen.« Ptah drehte sich zu unseren Bewaffneten um. »Ich glaube, wir brauchen die Dolche heute nur für den Braten.« Charis winkte. Von allen Seiten drang die Menschenmenge auf uns ein, drückte uns volle Becher in die Hand, bot uns heiße Brotfladen und fetttriefende Hühnerschenkel an. Nestor sprang auf ein umgedrehtes Boot und rief: »Männer der CHARIS!« Er grinste und deutete auf unser Schiff. »Es ist auch der Name unseres tüchtigen Zweiruderers, müßt ihr wissen. Wir danken für euer Willkommen! Fangt keinen Streit mit den Leuten von Alashia an. Wir gehen ins Haus der Charis und reden dort, morgen berichten wir euch, denn auch ich weiß nicht mehr. Laßt keine Waffen oder Ausrüstung liegen und würfelt aus, welche fünf Mann das Schiff bewachen sollen.« Zustimmende Rufe von der Mannschaft und den Leuten im Hafen antworteten ihm. Wir folgten langsam den Fackelträgern auf einem gewundenen Weg, der zur Siedlung führte. Eine zweifache Reihe kleiner Häuser, für eine große Flutwelle leicht zu erreichen, stand auf halber Höhe des Uferhanges; wir sahen keine Burg und keinen Fürstensitz. Offensichtlich wohnten hier nur Fischer und Handwerker. Ich wandte mich an Charis: »Seit wann reist du umher?« »Seit der Nacht des Orakels. Mit kleinen und großen Schiffen, Gespannen, auf Eselsrücken, über unsagbar schlechte Straßen, durch Sturm und Flaute. In manchen Häfen, in denen ich vor dir war, wird man dir von mir berichtet haben.«
»Und du hast andere Orte besucht als ich. Du bist mehr als zwei Monde unterwegs«, sagte ich. Sie nickte. »Du bist eine aufregend schöne junge Frau«, sagte Nestor. »Wie hast du dich der neugierigen Finger und Schlimmerem der Männer erwehren können?« »Niemand rührt eine Orakelbotin an.« Sie lächelte ihn herausfordernd an. »Zumal wenn sie Mittel kennt, sich zu wehren.« »Welche Häfen hast du besucht?« Sie hob beide Hände und spreizte die Finger. Ich sah, daß sie schöne, kräftige Hände hatte und nur drei Ringe trug. »Im Haus hab’ ich alles aufgeschrieben. Wahrscheinlich viel mehr, als ihr kennt.« »Davon bin ich überzeugt«, brummte ich. Charis schien hier in Kition mehr als ein einfacher Gast zu sein. Hatte ich etwas übersehen? Wenn ein Fürst über Kition herrschte, sagte ich mir, würden wir ihn bald kennenlernen. Vor einem mittelgroßen Haus in einem ummauerten Garten steckten brennende Fackeln im Boden. Charis deutete auf den Eingang. »Tretet ein. Alles ist bereit. Nur ein einfaches Haus; aber es ist kühl und anheimelnd.« Ein heller Innenraum nahm uns auf. Dienerinnen versorgten unsere Mäntel und die Waffen. Um einen niedrigen Tisch standen fellüberzogene Sessel und Hocker. Flammen von Öllampen zeichneten helle Kreise auf weiße Wände. Weinkrüge und ein reiches Essen standen auf dem Tisch, im Kamin glomm ein mächtiges Scheit. Charis füllte die Trinkschalen. »Setzt euch, eßt, trinkt, fragt, berichtet… wie war eure Fahrt nach Alashia?« »Auch für weniger gute Seeleute wäre sie einfach gewesen.« Ich setzte mich auf einen Schemel. »Derjenige, von dem wir umhergejagt werden, hat Hilfsmittel, die ans Wunderbare grenzen. Die Fahrt war fast ein Kinderspiel.«
»Ähnliches ist auch mir passiert«, sagte sie. »Aber war nicht jeder von uns darauf vorbereitet?« Die ersten Schalen eines leichten, kühlen Weins lockerten die Zungen, die leichte Befangenheit verflog. Wir erfuhren, daß sich Charis, ausgestattet mit wenig Wissen, vor der Grotte des Orakels befunden hatte. Sie war die Fürstin einer kleinen Siedlung im Westen der Hapimündung, in einer der zahllosen Buchten, in die kleine Flüsse mündeten. Am nächsten Morgen, nach dem Orakel, sah sie die Ausrüstung, und in der Bucht wartete ein Schiff. Mehr von der Ahnung als von einem festen Plan getrieben, machte sie sich auf die Reise; sie verwendete Sprachen, von denen sie nie gehört hatte, und Worte, die ihr bisher unbekannt gewesen waren. Ich fragte: »Wie stark ist deine Vision? Du warnst auch vor der Katastrophe, die in zweiundneunzig Tagen hereinbricht?« »Nichts anderes.« Sie lächelte wieder. Je mehr ich mit ihr sprach, desto hinreißender fand ich sie, trotz des befremdlichen Hautzierats. »Ich begreife nicht ganz, was diese Flutwelle auslösen wird. Kannst du es erklären, Atlan?« Ptah und ich erklärten es ihr. Wir gebrauchten Vergleiche, die ihr das Verständnis erleichterten; sie schien nur den berggroßen Felsen, der von den Sternen kam, nicht recht glauben zu können. Sie wusch ihre Finger und trocknete sie mit einem weißen Tuch ab. »Als ich hierherkam, wartete ein Boot auf mich. Ich wagte nicht, mit der Nußschale zwischen den Inseln zu segeln. Es sind unter Deck versiegelte Truhen, seltsame Griffe und Stangen. Sie lassen sich nicht bewegen. Weißt du, was sie bedeuten?« Zweifellos ein Gleiter, sagte der Logiksektor. Ich nickte. »Ich weiß es selbstverständlich. Morgen.« »Habt ihr Schreibleder oder Shafadurollen auf denen Küsten, Inseln und Häfen verzeichnet sind?« Ich deutete Ptahs Blick
richtig: Konnten wir Charis trauen? Aber sie hatte, nur auf beschwerlichere Art, das gleiche versucht wie wir. Sie schien ebensowenig wie wir die Macht über eine jener Siedlungen anzustreben, die wir vor dem Vernichtetwerden bewahren wollten. Welches Wagnis gingen wir ein? Wir gewannen bestenfalls noch ein paar Helfer hinzu. »Wir haben eine Handvoll Bilder, die unsere Welt wie aus dem Auge des Adlers zeigen.« Nestor holte aus dem Vorraum seine lederne Rolle. Wir schoben die Reste der Mahlzeit zur Seite, legten Krüge, Dolche und Becher auf die Ecken des dünnen, lederartigen Materials, das mittlerweile vor Salz knisterte und stockfleckig war, und deuteten auf die schraffierten Flächen. Mit der Dolchspitze berührte Charis das Mündungsdelta des Hapi, die stiefelähnliche Landzunge, die das Meer teilte, und das Festland im Süden. »An diesen Stellen war ich schon. Ich fand Schiffe, mit denen ich fahren konnte. Ihr braucht die Menschen an diesen Küsten nicht mehr zu warnen. Und es gibt dort nicht viele große Siedlungen.« »Das erspart uns manche Reise mit deinem kleinen Boot, das kein Boot ist«, sagte ich. In einer Welt, in der Nachrichten mondelang unterwegs waren, nie schneller als der Bote, würden viele Warnungen vergessen sein. Daß die Barbaren mit bronzenen Waffen und schweren Roßgespannen gegen die Ungeheuerscharen des Dimensionsreiters kämpften, war ebenso ehrenvoll wie selbstmörderisch. Ich suchte den Blick aus Charis’ dunklen Augen und sagte mit einer skeptischen Geste: »Wenn ich richtig gesehen habe, sind alle Küsten, an denen die Flutwelle ernsthafte Zerstörungen anrichten kann, gewarnt. Von dir, von uns oder von anderen, die in der Grotte des Orakels waren.« Charis nickte langsam, dann senkte sie den Kopf. »Die bärtigen Männer in goldenen Helmen, die jungen Krie-
ger in schweren Rüstungen, mit den großen runden Schilden. Drei Monde bleiben uns noch.« »Was soll in dieser Zeit geschehen?« sagte Ptah. »Weißt du eine Antwort, Weißhaariger?« Ich schüttelte den Kopf. Charis klatschte in die Hände. Die Dienerinnen räumten die Reste unseres Mahls weg und brachten volle Weinkrüge und neue, weiße Schalen. Charis schlug die langen Beine übereinander und wippte mit dem rechten Fuß. »In Kition herrscht ein kluger alter Mann, der aus Dankbarkeit, weil mein Orakelwort ihn gewarnt hat, mir dieses Haus, die Dienerinnen und das Essen gab.« »Du kamst mit dem weißen Schiff nach Kition, Charis?« »Ich traf den Kapitän im Hafen von Melos.« »Melos!« Nestor lachte dröhnend und schlug sich auf die Schenkel. »Wie ist er von Stronghyle nach Melos gekommen? Mit gebrochenem Ruder und heruntergeschnittenem Segel?« »Er ließ rudern.« Charis lachte und winkte. Eine Dienerin füllte Nestors Schale. »Er schwor, euch bis ans letzte Ufer aller Ozeane zu verfolgen.« Ein Schwur wie dieser setzte mehr voraus als zwei hervorragende Schiffe und ebensolche Kapitäne. Nestor fragte: »Ist er in Kition?« »Ja. Kapitän Graios hat sich von mir überzeugen lassen. Dennoch würde ich ihn an eurer Stelle nicht als lebenslangen Freund betrachten.« »Wir werden’s verschmerzen.« Ich rollte die Karten zusammen und schob sie in die Hülle. »Unsere Mannschaft, die beste des Meeres, kann nicht nur rudern und segeln, sondern sie versteht auch zu kämpfen.« Der Lärm des Festes drang bis hierher. Meine Verwirrung war nicht viel geringer geworden, trotz aller beantworteten Fragen. Das Verhängnis näherte sich zwischen den Sternen;
vermutlich erhielt ich von Rico schon die ersten Ortungsdaten. Charis breitete die Arme aus und sagte leise: »Wir sollten zur Ruhe gehen. Hier seid ihr sicher, und für euch wird gesorgt – morgen sehen wir weiter.« »Angesichts der Zeit, in der wir endlos lange warten, der vernünftigste Rat«, sagte ich. »Wo liegt dein rätselhaftes kleines Boot?« »Noch immer hoch auf den Strand hinaufgezogen.« Unsere Schlafräume waren klein, aber sauber und wohlvorbereitet. Wir stiegen in Holzbottiche, voll mit warmem Wasser, das nach Kräuterauszügen roch. Sklaven massierten uns mit Öl, das nach Harz und Ginster roch. Ich wickelte mich in meinen Mantel und setzte mich vor den Eingang des Häuschens. Der Himmel war voll treibender Wolken, den Resten eines Gewitters. Die Sterne und der Mond schoben sich zwischen den Wolken hervor; ich suchte nach einem wandernden Lichtpunkt, der viel größer sein würde, wenn ich ihn ein paar Nächte später sah – aber ich fand nur die vertrauten Sternbilder. Im Hafen waren die meisten Lampen gelöscht. Vor den heruntergebrannten Feuern schwankten Gestalten. Undeutlich erkannte ich die CHARIS, hörte leichte Schritte, das Extrahirn wisperte: Hinter dir. Charis. Sie setzte sich neben mich und roch aufregend nach fremdartigen Ölen oder einem Duft, den ich nicht kannte. Ich fragte leise: »Was wirst du tun, wenn alles vorbei ist und wir noch leben?« »Ich gehe zurück in mein winziges Reich.« Sie strich ihr langes Haar in den Nacken. »Und wohin gehst du?« »Das weiß ich noch nicht. In hundert Tagen kann ich dir eine Antwort geben.« »Wollt ihr die CHARIS nicht ins kleine Fürstentum der Charis segeln? Der Wein ist süß, und meine Gäste werden von al-
len geliebt.« Ich hob die Schultern und blickte auf die zwei großen Schiffe hinunter. Ein Feuer wurde mit Wassergüssen gelöscht; der Dampf brodelte weiß. »Du bekommst auch darauf Antwort, wenn alles vorbei ist.« »Ich warte. Die Einladung ist ausgesprochen.« Wir gingen ins Haus, holten Wein und setzten uns in der warmen Nacht unter den Ölbaum, tranken in kleinen Schlucken und sprachen über alles, was uns bewegte. Mittagswind vom Meer türmte weiße Wolken auf und wirbelte die letzte Asche der Feuer durch den Hafen. Earani, der Fürst der Siedlung, schob seinen Mantel von den Schultern zurück. Der Wind riß an seinem brustlangen weißen Bart. Sein Blick wechselte von Charis zu Graios, zu Ptah und Nestor; der Fürst sagte im halsstarrigen Ton alter Männer: »Du, Graios, hast Atlans Schiff angegriffen. Er hat sich gewehrt, obwohl er das Schiff zerstören und euch hätte töten können. Ich will Frieden zwischen den Hütten und im Hafen. Bekämpft euch, wenn es sein muß, nach der Flutwelle, auf dem Meer – wenn ihr dann noch lebt.« »Ich achte die Gastfreundschaft!« Der Kapitän funkelte mich an. Ich war nahe daran, ihm zu sagen, daß wir nach der Flutwelle spurlos verschwinden würden, sagte aber statt dessen: »Trotzdem solltest du dabeisein, wenn wir Charis’ Boot segeln. Die Wellen sind hoch genug.« »Ich komme mit und helfe dir!« Er lachte grimmig. Wir gingen zum Strand und fanden dort ein etwa zwanzig Ellen langes, breit gebautes Boot mit kurzem Mast, Dreieckssegel und – an Deck festgezurrt – zwei Paar Riemen. Ich untersuchte das Boot, das in sämtlichen Einzelheiten von fast maschinenhafter Sorgfalt hergestellt worden war. Ich kletterte über das Heck hinein, entdeckte bronzefarbene Spanten und mehrere Truhen,
die aussahen, als wären sie aus Holz, fest mit dem Kiel verbunden. Ein Erzeugnis von ES und den Maschinen der Schutzkuppel, dessen Arbeitsweise Charis nicht hatte herausfinden sollen. »Helft mir!« rief ich einigen Männern zu. Wir schoben mit viel Mühe das schwere Boot in die Wellen. Hinter der Mole und dem Wellenbrecher war das Meer unruhig. Charis setzte sich auf die Ruderbank neben den Mast, Graios und ich spannten das Tauwerk, lockerten die Verschnürung des Segels, und als Ptah und Nestor herbeirannten und schrien, sie wollten mitsegeln, half ich ihnen an Bord. Sie setzten die Riemen ein und ruderten zur Hafeneinfahrt, ich setzte mich ins Heck und bewegte prüfend die hölzerne Hebelverlängerung. Ich klappte den Truhendeckel hoch, nachdem ich den Finger in die richtigen Löcher gesteckt hatte, lehnte mich zurück und betrachtete, während wir die Durchfahrt erreichten und Graios das Segel in den Wind brachte, die blinkenden Felder im Inneren des Schaltkastens. Der Extrasinn meinte: Der Gleiter kann euch schneller als jedes andere Schiff an die wichtigsten Schauplätze bringen. Ptah, der mich beobachtete, stieß Nestor an; sie zogen die Riemen ein, und ich schob den Geschwindigkeitshebel einige Zähne weiter. Das Boot bewegte sich, als schöbe es der Wind. Ich führte, schneller werdend, einige Manöver durch; als die Rah herumschwang und Graios an der Schulter traf, wirbelte er herum und schrie: »He! Was ist das? Das Boot fährt gegen den Wind!« »Und gleich werden wir gegen die Wellen fahren.« Ich schob den Hebel weiter vor. Das Boot sprang krachend und in großen Gischtwolken von Wellenkamm zu Wellenkamm. Charis kauerte sich in den Schutz des Segels, Ptah und Nestor lachten begeistert, und Graios starrte mich an, als habe er das Wirken eines Gottes erlebt. Ich schaltete den nächsten Kontakt, hob das Boot aus den Wellen, und die Tropfenschauer hörten so-
fort auf. Mit größerer Geschwindigkeit zog ich einen weiten Kreis über der offenen Bucht und fragte: »Verstehst du, Kapitän Graios, warum es so schwer ist, uns zu besiegen? Machen wir nicht besser gemeinsam das Meer und die Küsten unsicher?« Er war bleich geworden, blickte hilfesuchend um sich und nickte, als ihm Charis aufmunternd auf die Schulter schlug. »Das scheint, bei allen Göttern, besser zu sein. Und sicherer, Kapitän Atlan.« Nur wenige Inselbewohner sahen uns zu. Sie waren ebenso erstarrt wie Graios. Ich ließ den Gleiter dicht über den Wellen aufs Ufer schweben, bremste hart und setzte ihn neben der CHARIS ins Wasser. Graios stieg mit zitternden Knien aus. Charis trocknete ihr Gesicht mit dem Mantel. »Nur wenige Menschen können schreiben«, sagte Charis und ließ sich von mir auf den Kai ziehen. »Kitions Fischer werden alles, was sie gesehen haben, nur weitererzählen können.« »So entstehen Legenden und Berichte über Wunder«, sagte Ptah und fand in einem Vorratsfach das richtige Tauwerk zum Belegen. An Bord der CHARIS lagen die Männer in der Sonne, mit roten Augen. Einige schnarchten, es gab weder Kommandos noch hastigen Aufbruch vor dem Morgengrauen. Nur Telamon fragte: »Wie lange bleiben wir, Atlan?« »So lange, wie es euch und uns gefällt.« Charis winkte zur Bordwand hinauf. »Bald hört der Wind auf, und wir haben drei Monde lang Zeit.« Wir gingen langsam zurück zum Haus. Ptah kam in mein Zimmer und sah sich um. Ein Teil meiner Ausrüstung war ausgebreitet. »Es ist durchaus möglich, daß diese mörderische Sterneninsel sich an einem anderen Tag auf uns stürzt. Es kann auch an einer Stelle sein, an die wir jetzt nicht denken.«
»ES weiß es genau.« Ich klappte den Truhendeckel hoch. »Und Rico wird uns, wenn ich es will, alles zuverlässig schildern.« »Das würde ich nur allzugern glauben.« »In einigen Tagen sollten wir aufbrechen und die Küste am Zederngebirge besuchen. Uschu und Gubala warnen. Und andere kleine Häfen.« »Ein sinnvolles Unternehmen für eine kleine Mannschaft im Gleiter.« Als ich sicher war, allein zu sein, rief ich Rico und ließ mir in aller Ruhe berichten, was ich noch nicht genau wußte: NeTefnacht schlief; noch keine Ortung des Fremden, keine neuen Befehle von ES. Einige Beobachtungssonden schilderten, daß tatsächlich verschiedene Fürsten damit anfingen, Teile der Siedlungen in die Berge zu verlegen. Ich suchte mit Rico zusammen einige Standorte für eine sichere Transmitterverbindung heraus, vergewisserte mich über Anzahl und Positionen der Sonden und beendete den Kontakt.
13. Fünf Tage, nachdem die Kapitäne Graios und Nestor während einer Nacht des Gelächters, unzähliger Schalen Kition-Weines und der Schilderung ihrer Seeabenteuer uns mit unglaublicher Aufschneiderei verwöhnten, war das »Boot aus Bronze« ausgerüstet. Charis und Ptah-Sokar, Nestor, Graios und ich segelten nachts aus dem Hafen, schnürten die Segelleinwand an die Rah und kippten den Mast, dann schwebten wir nach Westen, auf Keftiu zu, und von dort im weiten Bogen nach Osten, an die zerklüftete Küste des Zederngebirges. Beim Besuch der Hafenstädte vermischten sich die vielen Bilder aus meiner Erinnerung mit der Wirklichkeit: Jeder Hafen war größer, jede
Stadtmauer höher geworden, und jetzt, mitten im heißen Sommer, zählten wir fast tausend Schiffe. Wir segelten den Gleiter, als sei er wirklich ein kleines Schiff, und an aufmerksamen Zuhörern mangelte es nicht. Südwestlich von Uschu und Djarh, an einem einsamen Strand, schlugen wir ein Lager auf und spannten die Schattensegel: Mit Hilfe von Ricos Bildern und den Karten erklärte ich meinen Weggefährten, welchen Weg das Unheil nehmen würde. Als wir den wandernden Lichtpunkt zwischen den Gestirnen des Nachthimmels sehen konnten, verabschiedete sich Graios und segelte mit dem Zweiruderer zur Siedlung des Gottes Tarqu, einem Hafen in der Flußmündung, nördlich von Gubla. Dort wollte er das Schiff auf Rollen aus dem Wasser ziehen, möglichst weit im Flußlauf aufwärts. Die CHARIS war nachts verschwunden und lag jetzt einige Pfeilschüsse vom Lager entfernt am Waldrand des Berges Qambo neben dem Gleiter. Der Tag, auf den wir warteten und vor dem wir uns fürchteten, kam heran. Kition war geräumt, die Bewohner mit ihrer Habe und den Herden siedelten in einem Tal, das auch uns flutsicher schien. Seit zwei Nächten beobachteten wir den Nachthimmel, aber bisher hatte weder ein riesiger Schatten die Sterne verdunkelt, noch sahen wir Sternschnuppen, Blitze oder andere Erscheinungen. Noch viermal vierundzwanzig Stunden bis zur Nacht des Vollmondes. Wir lösten einander an den Fernrohren ab; die CHARIS-Mannschaft versorgte das Lager aus Zelten und Hütten aus Flechtwerk. Ich hatte einen Schirmfeldgenerator aufgestellt, dessen kuppelförmiges Feld uns schützen würde. Charis hatte sich leichter als jeder andere an unser scheinbar geheimnisvolles Tun gewöhnt; als Ptah-Sokar und ich die schwere Truhe aufklappten, sagte ich leise: »Wir haben jeden vor diesen Nächten gewarnt, den wir erreichen konnten. Jetzt werden also viele hunderttausend Men-
schen in den Himmel starren.« »Hoffentlich hat niemand unsere Warnungen vergessen.« Die junge Frau seufzte. »Hoffentlich. Das Orakel erfüllt sich.« »Jeder hat, mondelang, getan, was nur irgend möglich war«, sagte Nestor. »Sind das deine fliegenden Augen, Atlan?« Ich nickte. Fünf kinderkopfgroße Kugeln, bestückt mit Linsenbatterien, Antennen und den Öffnungen kleiner Projektoren, waren aus stoßsicheren Umhüllungen befreit und auf einem Tisch aufgestellt worden. Im vagen Licht der Öllampen und der wenigen Energielampen wirkten sie wie Bündel fremdartiger Augäpfel. Nacheinander aktivierte ich den Mechanismus und die Kursprogrammierung, schaltete die Bildfunkverbindungen dazu und sah schweigend zu, wie eine Sonde nach der anderen senkrecht hochstieg und lautlos in die Richtung des Ziels davonschwirrte. Ich hoffte, daß sie die Masse des Eindringlings orten, in sicherem Abstand bleiben und die Vorgänge beobachten konnten. Rico steuerte die übrigen Sonden. Aus dem gastlichen Hafen des Fürsten Earani, in den wir nach vielen kurzen Fahrten zurückgekehrt waren, waren keine Lichter mehr zu sehen. »Viele Fragen hast du beantwortet.« Nestor hüllte sich in den Mantel. Die Spätsommernacht war warm, Zikaden und Grillen lärmten, aber über die Hänge pfiff ein kühler Wind. »Nur eine nicht. Woher kommt diese fliegende Insel voller Ungeheuer?« »Ich weiß es nicht. An vielen Stellen des gestirnten Himmels herrscht Chaos. Der Fremde kommt aus dem Chaos.« »Und du bist sicher, daß er kommt?« »Ich hoffte, daß er nicht käme.« Auch ich fühlte mich halb krank vor Anspannung. Noch mehr machte uns die eigene Vorstellungswelt zu schaffen. »Aber er wird kommen. Nichts ist so sicher wie das Verhängnis.« Die meisten Seeleute hatten Schlaf finden können. Wir betrachteten die Darstellung der umgesetzten Ortungsdaten auf
dem Bildschirm des Truhendeckels. Der Zentralrechner zeigte uns eine Art Faustkeil mit geglätteter Oberfläche, die unter dem Schutz von Energieschirmen lag. Mehr war nicht zu sehen. Der Mond vollendete seine Wanderung zwischen den Sternen; weit entfernt entlud sich ein Gewitter, das wir nur als Wetterleuchten am Horizont sahen. Die Nacht ging vorbei, und in der Morgendämmerung ließen wir uns ablösen und versuchten zu schlafen. Die Stunden schienen sich ins Unendliche zu dehnen. Wir aßen zu wenig und tranken zuviel. Gereiztheit machte sich breit, mitunter brach Streit wegen Nichtigkeiten aus; die Klügeren zogen sich zurück und legten sich unter die Olivenbäume. Fast dreitausend Ellen unter uns breitete sich das strahlendblaue Meer im Sonnenlicht aus. Nachts verdeckte ein unförmiges Dreieck am westlichen Himmel die Sterne, Charis und ich hatten gegessen und einige Stunden geschlafen: PtahSokar weckte uns. »Der Fremdling ist da! Kommt!« Wir kamen gähnend auf die Füße. Unsere Unruhe war schlagartig vergangen. Als wir unter der Leinwand und zwischen den Ästen des knorrigen Olivenbaums hervorkamen, deutete Ptah auf das westliche Firmament. Nur der Horizont war dunstig: die Sicht klar. Plötzlich hörten die Grillen zu zirpen auf, der Wind erstarb, und aus einzelnen Entsetzensschreien der Leute von Kition schien das Murmeln einer vieltausendköpfigen Menge zu werden. Nestor sagte mit abgrundtiefer Stimme: »Dort!« Eine Masse, schwarz wie das All, schwebte zwischen den Sternen, noch etwa so groß wie eine Hand. Es gab keine Geräusche, keine auffälligen Erscheinungen. Aber der gezackte Rand des Weltensplitters war von einem blau schimmernden Faden gesäumt, der beide Hemisphären trennte. Die Spitze
voraus näherte sich der Fremdling dem Meer. Sein Kurs lief von West nach Ost, er befand sich hoch über uns im Norden. »Wie weit ist er entfernt?« Charis Hand klammerte sich um meinen Unterarm. Ich hob die Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Ich kenne die wirkliche Größe auch noch nicht genau. Gleich werde ich euch sagen können, was Rico festgestellt hat.« Ich hatte sofort Verbindung mit Rico. Die Länge des Fragments betrug – ich rechnete schnell um – mehr als sechzig Chen-Nub, die größte Breite vierundzwanzig, die Höhe mitsamt dem Schirm, siebenundzwanzig. Der Koloß schwebte gerade nördlich der Ostspitze Keftius. Ich hob die Hand und rief die Zahlen aus. Dann aktivierte ich die Bildschirme und blickte immer wieder auf. Die Masse schien sich zu vergrößern, das steinerne Ungeheuer kam näher, erstaunlich langsam, ohne die Wirkungen verdrängter Luft oder unterschiedlicher Temperaturen. Wir warteten. Dendro und Merops stellten Lämpchen neben die Karten auf den Tisch, und nach einem Blick darauf murmelten Nestor und Ptah fast gleichzeitig: »Die Linie geht von Keftiu über Stronghyle nach Rhodos und zum Festland!« »Schweben wir hinunter zum Hafen?« fragte Telamon. In weniger als sieben Stunden hörte die Nacht auf. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nicht. Warten wir, bis wir mehr sehen.« Das Weltenfragment schien auf der Stelle zu schweben; es veränderte weder die Größe noch die Umrisse. Der unbekannte Steuermann war über den Landeplatz unsicher. Weder Ricos Messungen noch unsere schwebenden Augen zeigten Veränderungen. Sechzehntausend Chen-Nub über dem Meer schwebte diese Bedrohung, so groß wie eine kleine Insel. Als die Morgendämmerung herankroch, erfaßten die Lichtstrahlen den Dimensionstaucher zuerst: Die Bilder der Sonden wurden
deutlicher und schärfer. Der Unterteil glich einem schrundigen, zerklüfteten Felsen, die Spitze, geformt wie ein Berggipfel, zeigte direkt in die Optiken einer Sonde. Über den mehrfarbigen Felsen spannte sich ein Energieschirm, eine undurchsichtige Blase, ein spitzes Oval, das mit den seitlichen Kanten abschloß. Ich sah weder Höhlen, Projektoren oder irgendwelche Triebwerke, aus denen ich die Fortbewegung schließen konnte. Ich legte einen Finger auf eine Taste: Eine Sonde veränderte Suchwinkel und Tiefenschärfe. Wir sahen nebeneinander am Bildhorizont die dunklen Silhouetten dreier Inseln. »Melos, Stronghyle und Keftiu«, sagte Ptah. Immer mehr Besatzungsmitglieder der CHARIS drängten sich um die Bildschirme. Der Fremde, schräg über uns, war unterarmlang geworden und sank schräg abwärts, auf die Sonde nahe Stronghyle zu. Ich drehte mich um und musterte die Gesichter unserer kleinen Gruppe. Die Last des Wartens war vorbei. Sie zeigten Spannung, Entschlossenheit und Wut. Sie musterten die schweigende Drohung des Fremden, der seine Abwärtsbewegung fortsetzte. Der Logiksektor sagte: Es wird Zeit, Arkonide. Wenn ihr den Fremden schon nicht bekämpfen könnt, seht nach, was er tut. Ich stand auf. Der Sitz fiel ins Gras. Ich sagte: »Das ist unsere Stunde. Ihr bleibt hier und sorgt fürs Lager und die CHARIS. Wir nehmen das kleine Boot und sehen nach. Fürst Earani wird bei seinem Volk bleiben, Nestor trägt die Verantwortung. Die CHARIS wagt sich erst ins Wasser, wenn wir die Flutwelle gesehen haben. Los, zum kleinen Boot!« »Wohin geht es?« »Zuerst nach Keftiu.« Ich war sicher, daß sich der gigantische Felsen an einer eher seichten Stelle ins Meer senken würde. Die Flutwelle würde
uns nichts anhaben können. Einige Ruderer schleppten die Truhe den Hang hinunter, die Bewegung des Felskeils hielt an. Unnatürliche Hast überkam uns; ich hielt Charis’ Hand und riß die Frau mit mir den Hang hinunter. Jetzt erreichten auch uns die Strahlen der Morgensonne. Das Licht war von den Bergen heruntergekrochen; der Himmel war völlig wolkenlos. Ich warf einen Blick auf den Monitor und sah, wie eine Sonde sich der Felsmasse näherte, herangerissen wurde und, bevor sie am Stein zerschellte, noch eine Reihe furchterregender Bilder sendete. Aus den Felsen lösten sich Splitter, Blöcke und Steinlawinen, die ein paar tausend Mannslängen tief in die See stürzten. Ich packte Charis unter der Schulter und wirbelte sie zum Heck des Bootes. Einige Männer kümmerten sich um den Mast und die Rah, lösten die Haken und stemmten die Takelage ins Gras. Wieder wurde ein Auge zerstört, der Bildschirm zeigte die Rauchfahne des Vulkans auf Stronghyle: schwarz, langgezogen und im Nordwestwind nach Südost zerfasert. Darüber erkannten wir den Fremden, vom Morgenlicht vergoldet. Ptah sprang als letzter ins Boot. Ich bewegte die Hebel. »Nach Stronghyle!« befahl ich und sah zu, wie Ptah die Truhe festzurrte. Das Boot startete, hob sich und glitt die Hänge hinunter, folgte einigen Tälern und schwebte nach Westen, ein paar Grad nördlicher. Ich schaltete den Schutzschirm ein und setzte die Geschwindigkeit herauf, bis wir, die Sonne im Rücken, die höchste Geschwindigkeit erreicht hatten. In etwa dreihundert Mannslängen über dem ruhigen Muster der Meeresoberfläche ging es auf Stronghyle zu. Der riesige Faustkeil fiel in gleichbleibend schneller Bewegung, scheinbar direkt auf Stronghyle hinunter, offenbar hatte der Steuermann dort eine genügend große Untiefe entdeckt. Dreimal schneller als eine Möwe jagten wir darauf, zu. In zwei Stunden etwa konnten wir im Reich der Ariadne sein. »Was wirst du tun, Atlan?« fragte einer der Männer. An sei-
ner Stelle hätte ich mich auch an denjenigen gewandt, der das meiste Wissen hatte. Aber ich wußte es selbst nicht und fühlte mich, je mehr sich der winzige Gleiter dem riesigen Keil näherte, hilfloser und entmutigter. Der Fahrtwind winselte und heulte. Charis wechselte den Blick zwischen den Schirmen und der Wirklichkeit. »Weiß ich noch nicht. Es entscheidet sich, wenn wir dort sind.« Ich fühlte, tief in meinem Innersten, das größtmögliche Unheil kommen: Verlängerte ich die Fallinie des Fremden, so endete sie auf Stronghyle. Wir mußten mit ansehen, wie die Spitze auf den Vulkan deutete, wie sich der Koloß, langsamer geworden, auf die Ebene von Stronghyle senkte, binnen eines Atemzuges sämtliche Bauwerke und den Hafen zermalmte, sich tief eingrub und in einer ersten kleinen Welle Trümmer, Baumstämme, Schlamm, Boote und Wrackteile davonwirbelte. Die größere Masse, das Heck des Dimensionsreiters, berührte das Meer, sank ein, das Wasser stieg schäumend und gischtend an den Felswänden aufwärts, wurde zur Seite verdrängt – die Bewegung hörte auf. Charis wimmerte auf. »Nein! Nicht das! Das ist ein Traum…« Ich ahnte, was wir erleben würden, wenn wir zu nahe kämen und änderte den Kurs nach Süd. Undeutlich erschien die Silhouette Keftius. Der Fremde hatte eine fünf Mannsgrößen hohe Welle erzeugt, die sich kreisförmig ausbreitete, den Rest des Landes von Stronghyle überschwemmte und davonraste, nicht anders, als ob ich einen Stein in einen stillen Teich geworfen hätte. Und dann bebten die Bilder. Meine schlimmsten Gedanken wurden zur grausigen Wirklichkeit, und nun steuerte ich nach Süden, fort von Stronghyle. Wir drehten uns um und sahen zu, sprachlos, starr vor Entsetzen, in eisiger Lähmung und unfähig, zu erklären und zu verarbeiten, was wir mit ansehen mußten.
Das Gewicht drückte einen Teil der Insel in ihren Sockel hinein. Klüfte brachen im Gefüge des magmatischen Auswurfs von vor Jahrzehntausenden auf. Der Pfropfen, der den Vulkanschlot verstopfte, wurde herausgesprengt. Der grauenhaft krachende, langanhaltende Donner erreichte uns, überholte uns, breitete sich ebenso wie die Welle aus; er würde noch in Menefru-Mirê gehört werden. Wir waren halb taub und sahen, wie das oberste Drittel der Insel in einem unvorstellbar großen, annähernd halbkugelförmigen Gebilde, in Millionen Bruchstücken, davongeschleudert wurde. Aus dem offenen Schlund schoß eine Feuersäule und trug die Bruchstücke höher hinauf. Rauchwolken breiteten sich aus, warfen mächtige Schatten, Dampffanale kreischten nach allen Seiten, und aus der Wolke schlugen Blitze ringsum ein, auch in die Schirme des Giganten. Rauch, Dampf, kochender Schlammregen und weißes Gestein, das entstand, wenn flüssige Lava, gashaltig, sich an der Luft ausdehnte, verhüllten die Insel. Ich war sicher, mich nicht getäuscht zu haben: Noch bevor selbst der Fremde in diesem Inferno verschwand, hatte ich Bewegungen gesehen. Wie Vogelschwärme oder nächtlich jagende Fledermäuse durchstießen irgendwelche Lebewesen die Schutzschirme, und große Teile der Felsen, die sich aus den Flanken des Weltenfragments lösten, schienen voller Höhlen zu sein, in denen entsetzliche Kreaturen kauerten. Wahrscheinlich spielte mir meine überforderte Phantasie Trugbilder dessen vor, was ich nach der Warnung von ES hatte erwarten müssen. Niemand konnte in diesen erstickenden Gasen überleben. Die Magmakammer tief unter der Insel hatte sich geleert. Die Druckwelle traf uns und wirbelte uns durch die Luft, als wären wir mitten in der Riesenwelle gefangen. Ich versuchte gleichzeitig zu steuern, den Gleiter auf Kurs zu halten und höher steigen zu lassen, das Inselinferno anzusehen und auf
die Bildschirme zu blicken; ich schaffte es gerade, uns nach Süden zu steuern. Von allen Seiten strömte das Meer in den Hohlraum, der beträchtliche Größe haben mußte, denn alle Trümmer mitsamt dem Gestein, das auf den Wellen schwamm, wurden wieder eingesogen. Das Wasser traf auf das flüssige, weißglühende Innere der Planetenkruste, verwandelte sich schlagartig in Dampf, der sein Volumen ausdehnte und mit mehr als dem zweihundertfachen Druck, der auf dem Boden der Welt lastete, wieder aus dem Krater schoß; eine schmutzigweiße Säule, die in größerer Höhe die Form eines Pilzes annahm, und deren Ränder in gleichmäßig großer Geschwindigkeit nach allen Seiten wuchsen. Sicherlich stürzten Teile von Stronghyles Resten in den Hohlraum, aber diese Explosion türmte eine zweite Flutwelle auf, die jedes Schiff in einem großen Radius vernichten würde. Das Beben, das die gesamte Zone ringsum erschütterte, nahmen wir im Gleiter nicht wahr. Ich schätzte die zweite Flutwelle, deren Kamm eine fast ununterbrochene Linie weißer Gischt war, auf eine Höhe von fünfzig Mannslängen. Was unabhängig von den sichtbaren und spürbaren Erscheinungen geschehen mußte, wußte ich aus meiner Vergangenheit: Hinter den Blitzen furchtbarer Gewitter wanderte der Schatten der Wolke und dehnte sich kreisförmig aus. Noch immer wirbelten kleine und große Felstrümmer durch die Schwärze. Ströme von ausgestoßenem Gestein und pulverisierten Ablagerungen, Staub und Rauch, giftige Gase und Dämpfe, die Silber schwarz anlaufen ließen, wirbelten durcheinander. Aus den Wolken regnete in unendlichen Massen weißgraues, aufgeschäumtes Gestein, das auf den Wellen schwamm, an vielen Stellen in beträchtlicher Dicke, so daß man darauf laufen konnte und Schiffe steckenblieben. Die Sonden, die sich der Insel zu sehr genähert hatten, wurden zerstört; Ptah klappte
schließlich die nutzlose Truhe zu. Der Extrasinn sagte mit pathetischer Betonung: Das hat selbst ES nicht voraussehen können, Atlan. Druckwellen würden Inseln und Landbarrieren überspringen und an weit entfernten Orten neue Wellen auslösen. Zumindest die zweite Flutwelle verlief sich nicht überall, nachdem sie ihre Zerstörungen angerichtet hatte, sondern flutete zurück, wie eine atlantische Dünung, löschte die eine Wellenfront aus, baute eine zweite auf. Die Geräusche würden in weit entfernten Gegenden Schrecken verbreiten; die Stärke der Erschütterungen nahm mit steigender Entfernung zwar ab, aber ich glaubte schon jetzt zu wissen, daß ganze Siedlungen oder zumindest Teile davon zerstört, verwüstet und ertränkt worden waren. Die Wolke würde, dünner und größer werdend, sich wie ein Schattensegel zwischen Sonne und Planetenboden schiebend, eine unerwartete Kälte erzeugen, das Sonnenlicht am Morgen und Abend grotesk verfärben, es würde an unerwartet weit entfernten Orten Ascheregen, Windböen und andere Erscheinungen des Wetters geben; zuletzt würden die feinsten Partikel in die obersten Luftschichten gehoben und würden mehrmals Larsaf Drei umkreisen. Ich versuchte mich zu entspannen, holte tief Luft und ordnete an: »Zurück nach Kition, nach Alashia. Hinter uns ist ein Teil der Welt untergegangen.« »Und der Fremde?« Charis löste sich von meiner Schulter. Auf meinem Arm sah ich die Druckstellen ihrer Finger. »Ist er fort? Verfolgt er uns? Wo sind die Horden der Ungeheuer?« »Niemand weiß es«, sagte ich. »Und niemand ist fähig, dort bei den Resten Stronghyles nachzusehen. Auf Stronghyle lebt kein menschliches Wesen mehr; wir werden viele Inseln nicht mehr wiedererkennen – soviel ist sicher.«
Wir schwiegen, bis wir wieder neben der CHARIS landeten. Die Erdstöße hatten sie zur Seite gekippt und einige Riemen zersplittert. Als wir zum Lager hinaufstiegen, sah ich, daß ich den Schutzschirm noch nicht einschalten mußte. Es gab nur Unordnung, aber keine ernsthaften Schäden. Ich setzte mich, trank gedankenlos ungemischten Wein und blickte schweigend nach Westen. Von dort näherte sich die Wolke mit Gewittern, Auswurf und Thromben aus Rauch und zerstäubtem Gestein.
14. Der sanfte Hang am Waldrand und der Wald waren die besten Plätze, um einen halben Mond lang zu warten. Eine Gruppe Ruderer machte sich auf den Weg zu Fürst Earani, um ihm und den Fischern und Handwerkern der Siedlung zu helfen. Graios rief uns über eine Sonde, die Rico über seinen Kopf steuerte, seine Botschaft zu: Seine Männer zusammen hatten mit Flaschenzügen und Werkzeugen aus Arkonstahl den Zweiruderer im Wasser des Flusses und würden versuchen, wieder Kition anzulaufen. Nestor und Telamon wanderten zum Hafen, um nachzusehen, ob es den Kai und den Wellenbrecher noch gab. Schmutziger Regen, wütende Gewitter und Stürme hielt der Energieschirm von unserem Lager fern; die Vorräte reichten aus. Rico aktivierte neue Spionsonden, und aus Hunderten von Bildberichten und den Kommentaren des Roboters ergab sich eine Gesamtansicht der Verwüstungen, die längst nicht vollständig war; aber Vollkommenheit war das Letzte, das ich in diesem Punkt anstrebte. Ptah, Charis und ich begriffen nur langsam, was uns erwartete, wenn wir mit dem Gleiter und dem großen Schiff auf un-
serer nächsten Fahrt die vertrauten Häfen ansteuern würden. Nächste Fahrt? Wohin? Auch das war später zu entscheiden. Stronghyle gab es nur noch als eine halbrunde Gesteinsmauer, deren geäderte Wände, bisweilen aus Dampf und gelben Gasen sichtbar, die Rundung des Kraters andeuteten. Während die Flutwellen auseinanderrasten, hatte der Vulkan unglaubliche Massen jener Schaumsteine ausgeschleudert, die das Meer in weitem Umkreis wie eine Platte bedeckten und das Leben darunter erstickten. Rauch und Gase wehten davon, und viele der Felsbrocken mochten die Schutzfelder des Weltenwanderers durchschlagen und auch dort Verheerungen angerichtet haben. Auch die Reste der Insel waren, soweit wir das sehen konnten, mehrfach mannshoch mit Asche und Schaumstein bedeckt. Kunusa-Gnos und die Nordküste Keftius wurde von beiden Flutwellen erreicht. Die Erde mußte an vielen Stellen lange gebebt und Häuser, Bäume und Schafherden verschlungen haben. Im Meer trieben tote Tümmler und Wale. Gas hatte die spätsommerlichen Pflanzen versengt und verdorrt und stellenweise tief unter Asche begraben, in die wütender Regen breite Furchen fräste. Boote, Schiffe und Hausdächer waren im doppelten Ansturm eine Wegstrecke von einer Stunde Fußmarsch die Hänge hinauf geschleudert; Leuchttürme, Mauern und Trümmer lagen zwischen entwurzelten Ölbäumen verstreut. Die knorrigen Oliven, uralt, hatten den Fluten am besten widerstanden, aber an den kahlen Zweigen hingen nur wenige Blätter und Früchte. Häufig entstanden im grauen Wolkenschatten jähe Gewitter, deren Blitze wahllos ins Meer und ins Land schlugen. Regen und warme Asche verbanden sich zu braunem Brei, der das Meer färbte und von wütenden Stürmen in alle Richtungen weggetragen wurde. Alles, was auf Melos von der Druckwelle, vom Beben und der ersten Flut nicht zerstört worden war, starb unter einem
Regen von Schaumstein, Felsbrocken und glühenden Lavafetzen. Eine Mauer aus festen Partikeln schien sich auf die Insel zubewegt, niedergelassen und deren Umrisse nachgeformt zu haben. Die zweite Riesenwelle, vier Ellen hoch von einer Mischung aus Gischt und Schaumstein gekrönt, schwemmte ein halbverbranntes Wrack heran, setzte es knapp unter der Kante des Uferhangs ab, wo es steckenblieb wie ein unfertiges Denkmal. Das angeschwemmte Gestein füllte Spalten und lagerte sich in Tälern ab. Etwa kurz nach der ersten Zerstörung mußte der Donner in Tyrins und At’hen zu hören gewesen sein. Die wetterleuchtende Säule aus Rauch und pulverisiertem Gestein, vermengt mit Feuer und verdampfendem Regen, der sich wieder an den Ascheteilchen festsetzte, hatte noch nicht die obersten Schichten der Lufthülle erreicht, wuchs weiter und überragte den höchsten Berg Keftius mindestens ums Eineinhalbfache. Unterirdisches Grollen, Beben und die rasendschnelle Front des Schalls erreichte nicht nur Keos, sondern auch kleine, namenlose Inseln, von denen die wenigsten bewohnt waren. Hirten und Herden und Fischerboote, die ihren Fang am Morgen aus den Netzen zogen, waren ausgelöscht. Glutwellen setzten Buschwerk und Bäume in Brand. Aus der Wolke regnete es Schlamm und, wie Geschosse der Götter, große Teile Schaumstein. Tausende und aber Tausende Häuser, in denen Herdfeuer und Lämpchen nicht gelöscht worden waren, stürzten ein; die Dächer aus Balken, Flechtwerk und Wedeln fingen Feuer. Noch ehe flutender Schlammregen die Flammen löschte, verbrannte Hab und Gut unzähliger Menschen ebenso wie die halb Erschlagenen selbst. Was die Flutwelle verschonte, vernichteten Beben. Die Überlebenden konnten an nichts anderes als an panische Flucht denken. Wir sahen die geborstenen Rümpfe von fünf Keftiuschiffen zwischen Baumstümpfen und den Trümmern eines Fürstengrabes eingekeilt; zweihun-
dert Ellen über einen bewachsenen Hang hinauf geschleudert. Die Wolke wuchs, dehnte sich, schluckte das Sonnenlicht und kletterte höher, nachdem sie Sturzbäche kochendheißen Schlammregens entlassen und sich so erleichtert hatte. Ein Hagel fingerkuppengroßer Steine erstickte die Flüchtenden und begrub sie unter sich, ebenso wie Weiden, Äcker und Weinberge. Feuchte Tontäfelchen voller Zahlen und Schriftzeichen verglasten in der Hitze, wurden von Bränden zu harten Scherben gebrannt und im Schutt vom Schlamm begraben. Als die Flutwellen noch kreisförmig gewesen waren, berührten sie zuerst die Inseln und die vorspringenden Festlandsteile. Dort brachen sich die Wassermauern, angefüllt mit einem Gemenge unentwirrbarer Trümmer, und zu beiden Seiten von Inseln, Kaps und Halbinseln rollten sie tief in die Buchten hinein. Zuerst war das Meer zurückgetreten und hatte sterbendes Meeresgetier, hilflos nach Wasser schnappend, im Schlick zurückgelassen. Jetzt kam es in steiler Wucht zurück, füllte die Buchten, verlor an Wucht, gischtete an Felsen herauf oder riß sie aus dem Boden und warf massiv scheinende Mauern um. At’hen und Tyrins wurden von schweren Beben erschüttert. Nachdem der mehrfache Donner ferner Explosionen die Vögel aus den Zweigen gejagt, die Herden auseinandergesprengt und die Pferde scheu gemacht hatte, flüchteten die Menschen in abergläubischer Angst. Stadtmauern brachen zusammen, Dachstühle unzähliger Häuser erschlugen flüchtende Menschen. Dann verdunkelte sich auch für diesen Teil der Welt der Himmel; nicht so finster wie die Nacht. An den hellen Rändern des Schildes aus Finsternis wetterleuchtete es zwischen breiten Bändern aus Sturzregen. Einzelne Wolken trugen feurige Säume, aus denen schwarzer Regen und Schaumstein auf die Erde und ins Meer fielen. Von den Wellen wurde auch Lesbos überrollt; obwohl die schweren Beben weniger lang waren als andernorts, wurden
Schiffe, bis zu den höchstmöglichen Stellen geschleppt und hinter Mauern und Felsen verborgen, zu Wracks zertrümmert und die Teile an die Stämme umbrechender Olivenbäume geschmettert. Die Erde bebte auch auf Chios und in Ilion. In der Stadt richteten die Flutwellen wenige Zerstörungen an, aber das Land zwischen den Ufern der Meerenge und den hochragenden Stadtmauern war, als sich das Wasser zurückzog, kniehoch mit fauligem Schlamm bedeckt. Zuckend verendeten große Tümmler mitten auf einem erstickten Kornfeld; ihre Körper waren von Felskanten halb zerschnitten, und jeder Knochen war gebrochen. Zwischen den Inseln nördlich Keftius überlebten kein Schiff und kein Seemann die beiden Wellen. Diejenigen Seefahrer, die sich an die Trümmer der Schiffe klammerten, wurden von den Schaumsteinmassen erstickt. An manchen Stellen bildete das Gestein, das auf dem kühleren Wasser schlagartig erstarrte, einen leicht schaukelnden Teppich, auf dem Menschen und Tiere hätten gehen können. Noch mehrere Zehntage nach der Katastrophe wurden große Mengen dieses Gesteins an nahezu jeden Teil der Küsten gespült. Das Land Acchijawa, dessen Küstenlinie sich an vielen Stellen verändert hatte, kam mit dem Schrecken und den Zerstörungen weniger kurzer Beben davon. Weiter als die meisten Inseln von Stronghyle entfernt, hatten die mehrfach gebrochenen Flutwellen ihre größte Wucht verloren. Obwohl sie nicht höher als zehn, fünfzehn Mannslängen waren, verwüsteten sie jeden Hafen. Aber für unzählige Menschen im weiten Umkreis der ausgelöschten Insel Stronghyle waren die Schrecknisse noch lange nicht beendet. Im Hapiland, dem Land Khem, mischten sich Erde, Schlamm und Asche in der Luft mit dem Wasser des Stroms und färbten den Hapi an vielen Stellen tief schwarz und rot wie frisches Blut. Nicht einmal die Priester fanden Erklärungen hierfür. An
Orten, an denen es halbe Jahre und länger nicht regnete, ballten sich Gewitterwolken; Blitze zuckten, nie gehörter Donner krachte; Regenfluten und Hagelschloßen, groß wie Enteneier, vernichteten die Ernte, erschlugen Tiere und ließen Dächer zusammenbrechen, unter denen die Mauern sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatten. Windhosen rissen das Wasser, die Pflanzen und Lebewesen aus Tümpeln und Sümpfen, trockneten die Gräben und Löcher aus und wirbelten das Gemisch über weite Strecken hinweg, hoch in der Luft, und ließen es an Orten herabregnen, an denen die Menschen schreiend auseinanderrannten: Fische, Würmer, Frösche und fremdartige Gewächse prallten auf den Sand von Wüstensiedlungen nieder. Andere Erscheinungen der rasenden Luft entwurzelten Bäume, sogen Ziegen und Schafe mit sich und verteilten Kadaver und entlaubte Bäume über weite Teile bewohnten und unbewohnten Gebiets. Eine Gruppe Sklaven, die aus dem Mündungsgebiet des Hapi zu fliehen versuchte, befand sich am Ufer einer riesigen Brackwasserlagune, als das Wasser zurückflutete. Die Lagune, voll von Schilfstreifen, leerte sich, während der Boden zitterte und bebte. Die Sklaven, von Kampfwagen der königlichen Truppen verfolgt, flüchteten nach Osten, zur Wüste; als sich die Gespanne an die Verfolgung wagten, kehrte die Welle zurück und ertränkte die Nachzügler ebenso wie die Hälfte der Gespanne samt der Lenker und Bogenschützen. Der Himmel im Westen, Norden und Süden von Rhodos färbte sich schwarz, nachdem die Flutwelle den Hafen erreicht hatte. Iqaret, Gubla und hinunter bis Djarh und Uschu, im Windschatten Alashias gelegen, besaßen uralte, stark befestigte Häfen. Viele Molen bestanden aus Doppelmauern großer Felsbrocken, die mit Geröll aufgefüllt waren; nicht wenige Fundamente waren unter meiner Verantwortung entstanden.
Die beiden Flutwellen, obwohl mächtiger als die wildesten Brandungswellen im Winter, richteten nur an den ersten Häusern rund um die Molen schwere Schäden an, aber schwerere Beben verwüsteten weite Gebiete Tyreniens und der Sherdaneninsel. Die Wolke wuchs und wuchs. Noch immer bebte der Meeresboden rund um Stronghyles Reste, untermeerische Klüfte und Spalten öffneten und schlossen sich, und aufsteigendes Gas vergiftete weite Teile des Meeres. In Gas und Wasser, das mit den Mineralien in Verbindung geriet, lösten sich Minerale und erzhaltige Gesteine; das Wasser färbte sich rot. Millionen toter Fische trieben unter den Schaumsteinschichten, während die ersten Ausläufer der Auswurfwolke die obersten Luftschichten erreichten, weit oberhalb der Zone, in der das Wetter von Larsaf III entstand. Höhenströme erfaßten Asche, Rauch und feinen Staub und schleppten die Schichten, die ständig nachwuchsen, nach Osten und, in anderer Höhe, nach Süd und Nord. Langsam begann sich eine riesige Spirale auszubilden. Darunter breitete sich fächerförmig eine dünne, graubraune Schicht mit gelben Inseln darin über den gesamten östlichen Teil des Binnenmeeres aus, zog über Ilion ins angrenzende Meer und über Acchijawa und Gubla bis zum Hapiland. Unter der Schicht kondensierte Dampf an festen Partikeln. Riesige Regenzonen breiteten sich aus, der Regen stieg wieder auf und fiel nicht nur rund um At’hen auf das geschundene Land. Rinnsale wurden zu Bächen, Bäche schwollen zu Flüssen, die Wälder vermochten die Fluten nicht mehr zu halten, und große Teile des fruchtbaren Landes wurden ins Meer geschwemmt, nachdem sie Tausende von Menschen und ungezähltes Vieh ertränkten. Das Gesicht des Landes wurde so stark verändert, daß die Überlebenden vom Weltenuntergang sprachen. Nur wenige Menschen gab es noch, die den Göttern opferten und sie zu besänftigen versuchten. In der darauffol-
genden Nacht bebte das gesamte östliche Binnenmeer noch einmal. Der Horizont schien zu brennen; man meinte, die Welt stünde in Flammen. Regentropfen, voll von Schlamm aus vulkanischer Asche, fielen. Neun Zehntel schlugen ins Meer, das letzte Zehntel bedeckte die Überreste der Zerstörungen mit Schlamm. Menschen an Feuern wurden getroffen, die Feuer verlöschten, die Menschen erstickten in pechschwarzer Dunkelheit. Giftige Dämpfe sickerten aus der Wolke; elf Tage lang waren alle Überlebenden auf Lesbos blind. Das Land war von toten Vögeln übersät. Alle Blätter und Zweige waren mit weißem Pulver bedeckt. Tiere, die das Pulver ableckten oder Blätter fraßen, krepierten langsam unter Qualen. Tagelang hörte man ihr Todesgeschrei. Im Hapi-Mündungsgebiet fiel drei Tage lang schwarzer Staub aus der Wolke. Die Sonne wurde nur an jenen Orten sichtbar, die sich entlang einer gedachten Linie von Gubla, Alashia und Keftiu nach Tyrenia spannte. Man konnte mit bloßen Augen in die Sonnenscheibe blicken. Sie schwebte hinter einer rötlichen Staubschicht. Überall tobten kleine Stürme, kurze Gewitter, aber kein Sturm vertrieb die Wolke. Unser Gleiter hielt sich in achtungsvoller Entfernung, nachdem wir nach Druckwellen, Donner und einer nicht abreißenden Kette anderer Naturerscheinungen – die Reste Stronghyles sahen. Auch wir befanden uns im Schatten der Wolke. Wir umkreisten die leblose Ruine der Insel. Der runde Krater, an dessen Rand die annähernd halbkreisförmige Felswand aufragte, brodelte, dampfte und schied schmutzige Gasfontänen aus. Wir umrundeten, von Ricos Sonde gefolgt, mehrmals das ausgelöschte Atlantis der Ariadne und nahmen Kurs auf die CHARIS, die auf dem Weg nach Kition war. »Nun wissen wir genau, daß die Welteninsel aus den Sternen wieder geflüchtet ist.« Ptah-Sokar riß seinen Blick von den In-
selresten los. »Und jene Ungeheuer, von denen jedermann schlecht geträumt hat?« »Ich vermag mir nicht vorzustellen«, sagte ich und setzte die Geschwindigkeit herauf, »daß sie in diesem brennenden, giftigen Inferno überlebt haben.« »Schätzt du etwa diese Gefahr gering ein, Atlan?« Charis war, wie jeder von uns, noch immer von den Schrecken gezeichnet. »Jeder, der die dunklen Seiten der Welt kennt, glaubt an Dämonen, Ungeheuer und Fabelwesen – warum sollte es sie nicht wirklich geben?« »Es mag noch länger dauern, bis die Herbstsonne wieder strahlt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Rico hat bestätigt, daß das Weltenfragment schneller flüchtete, als es gelandet ist. Die Vernichtung, die es auslöste, hat auch das Fragment getroffen.« Die verheerenden Energien hatten, so sagte ich mir, auch den Energieschirm des Felskeils durchschlagen. Die wirkliche Bedeutung des Fremdlings kannten nicht einmal Rico und ich; ES schwieg beharrlich. Daß die vielen Schiffe, durch die Keftius Minos seine Seeherrschaft gesichert hatte, erheblich dezimiert worden waren, wußten wir. Unser kleiner Kosmos – Kition, die beiden Schiffe und der Gleiter – begann sich wieder zu erholen; um auch meine Freunde von den Gedanken an blutgierige Fabelwesen abzulenken, sagte ich: »Du willst uns alle in dein kleines Reich einladen, Charis?« »Ich hab’ euch schon ein paarmal eingeladen. Wir segeln dorthin, ihr zieht die Schiffe auf den Strand, und wenn es euch wieder hinaustreibt, vielleicht als Handelsschiffer, werdet ihr reich werden. Jeder Ort, an dem Menschen überlebt haben, braucht irgendwelche Waren.« »Man wird darüber nachdenken und reden.« Nestor deutete nach vorn. Wir näherten uns Kition; dort arbeiteten die Menschen an ihren zerstörten Häusern; wir halfen ihnen, nachdem
wir unser Lager abgebaut und an einen wenig zerstörten Teil des Hafens verlegt hatten. Der Gleiter landete neben der Mauer eines Lagerhauses, vor einem riesigen Stapel aus Baumstämmen: Ptah-Sokar und ich hatten sie im Meer treibend gefunden, die kleineren Äste mit Desintegratorstrahlen abgeschnitten und mit dem Gleiter in den Hafen geschleppt. Zuerst war von uns das Haus, in dem uns Charis empfangen hatte, wiederaufgebaut worden. In der Nacht saß ich, an die Mauer gelehnt, unter dem Ölbaum, der ein zweites Mal winzige Blätter ausgetrieben hatte und zählte Sterne in Löchern und Rissen der Wolke. Ich versuchte, allein durch konzentrierte Gedanken, Verbindung mit ES aufzunehmen. Wir haben alles versucht und versagen müssen, weil die Aufgabe für uns unlösbar war. Selbst du, der andere Paladin der Menschheit, hast nicht ahnen können, daß sich der Dimensionsreiter auf einen Vulkan senkt, der vor dem Ausbruch stand. Unsere Kräfte sind auch zu gering; wir können nicht allen Überlebenden helfen. Auch hier in Kition werden wir tun, was wir können – hol uns zurück, ES! Versetze uns wieder in langen Tiefschlaf! Wenn es dir und deinem makabren Humor behagt, beziehe auch weiterhin Tefnacht, Tatimar, Merire und auch Charis in den Schlaf ein. Sie alle haben verdient, in einer besseren Zeit aufzuwachen. Nach einiger Zeit sagte das Extrahirn: ES antwortet nicht. Noch nicht, Arkonide. ES ist vielleicht damit beschäftigt, die Toten zu zählen. Später saßen Ptah, Charis und ich unter dem neuen Dach, das den Innenhof umlief. Charis erzählte von ihrer Heimat, und jede weitere Stunde, in der sie vom süßen Schatten der Palmen sprach, bekräftigte unsere Überlegungen: Wir würden ihre Einladung annehmen. Ptah und ich hatten erkannt, daß die Mannschaften des weißen Zweiruderers und der CHARIS in unsere Pläne einbezogen werden konnten. Die Freundschaf-
ten und Beziehungen aller Personen zueinander würden sich ändern, wenn wir dieses Land aus Wasser und Inseln, die Zone des Schreckens, weit hinter uns gelassen hatten. »Als wir in Gubla waren und ich in der Schenke saß, nachdem ihr schlafen gegangen wart, vor der Katastrophe, hat sich ein Handelskapitän aus Kunusa zu mir gesetzt. Er kannte mich nicht, aber er berichtete von… es ist nicht ganz so einfach.« Charis und Ptah-Sokar beugten sich vor. Die Öllämpchen flackerten unter einem kühlen Windstoß. Ich zuckte mit den Achseln und sprach weiter. »Der Kapitän hat eine Nacht zuvor einem Kitharaspieler zugehört, einem Kitharoden mit Namen Dimas. Der Sänger, man sagte, er sei bekannt für gutgereimte, aufschneiderische Lieder, begleitete sich zu Reimen, in denen er von einem Mann sang, den wiederum er vor einigen Tagen getroffen hatte. Eine seltsame Geschichte. Dieser hochgewachsene Mann, einer, der leicht hinkte, sprach mit dem Kitharoden über ein Orakel, und zwar über unser Orakel, das ihn zwinge, nach ThiraStronghyle zu wandern. Er suchte einen Schiffsplatz dorthin. Sie unterhielten sich lange, sagte der Kitharaspieler zum Handelskapitän, und ihm wurde der Fremde immer unheimlicher. Er trug einen Panzerrock aus Kettengliedern und fremdartige Waffen, deren Glanz er unter Stoffbinden verbarg. Seine Schultern waren breiter als die des Eraklos. Am Mittelfinger der linken Hand trug er einen großen Rômetring, schweres Gold, mit edlen Steinen; der Ring stellte den heiligen Cheperkäfer dar. Der Sänger und der Kapitän kannten das Hapiland und mithin den Wert dieses Ringes.« Ptah starrte mich an, runzelte die Brauen und griff nach dem Krug. Als sich der Krug und die Schale berührten, schienen seine Finger zu zittern. »Sprich weiter. Ich ahne, wie das Lied weitergeht.«
»Keine Sorge. Ich werde nicht singen.« Ich versuchte ein Lächeln. »Der Fremde nannte sich Omanzar, sprach mit heiserer Stimme von den Sternen, von Ungeheuern der Nacht, von einer fliegenden Insel; deswegen hörte der Zupfer von elf Saiten zu und dichtete einen Schenkentext. Omanzar, mit überaus kräftiger Stimme, sprach voll Bitternis vom Bösen Wort, vom neunten Mond, und mit dem Finger, an dem der Ring steckte, kratzte er in der tiefen Kerbe seines Kinns.« »Nomazar!« sagte Ptah und schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht aus, was ich denke, denn dies ist nicht möglich.« »Das dachte ich auch.« »Am nächsten Abend, so sagte der Kapitän, spielte und sang der Kitharode Dimas das Lied eines fremden Wanderers, den das Orakel über Land und Meer jagt, und vom Bösen Wort, vom neunten Mond und all dem. Zudem zahlte Omanzar mit Silberscheiben und fand einen Schiffsplatz nach Stronghyle. Der Kapitän hat sich nur wenige Zeilen merken können, aber was er davon behielt, reichte mir aus. Ich suchte jenen Wanderer, der sich damals auch Tervor Aretosa nannte, überall in Gubla, aber sowohl er als auch der Sänger waren verschwunden. Dazu paßt, daß ich von Omanzar träumte: Er ritt auf einem Drachen, zwischen den Sternen, auf einen halbierten Mond zu.« »Es ginge weit über meinen Verstand hinaus, wenn er auf den Weltenwanderer geflogen wäre, um dort die Ungeheuer zu bekämpfen.« »Weder er noch der Drache meines Traumes hätten überlebt.« Ich machte eine ratlose Geste. »Nach jener langen Nacht, in der Nomazar kämpfte und mir den Ring vom Finger zog, hat Rico beträchtliche Energie und Zeit darauf verwendet, ihn zu finden. Es wird diesmal nicht anders sein.« »Die Welt ist riesengroß«, murmelte Ptah. »Vergiß deinen Ring, Nomazar und den Drachen – ich schlage vor, du träumst
künftig von angenehmeren Dingen.« Ich nickte schweigend und blickte in Charis’ goldbraune Augen. Aus einer Baumhöhle schrie klagend ein hungriges Käuzchen.
15. Nestor und Graios handelten wie pflichtbewußte Kapitäne und kluge Kaufleute. Sie kamen zu mir und Ptah, nachdem wir Teile des Hafens instandgesetzt sowie beide Schiffe überholt und ausgerüstet hatten. Obwohl sie genau wußten, was zu tun war, taten sie, als wollten sie unseren Rat. »Wir haben Gold und Silber, Atlan, deine Geschenke. Wir haben auch Eisen bekommen, das wir verkaufen und damit reich werden können. Dazu Werkzeug und Waffen, von denen auch Könige nur träumen können.« »Wahr gesprochen«, sagte ich. »Denn wir haben euch all das geschenkt, das wir nicht mehr brauchen. Geht richtig damit um, wie mit den Schiffen.« »Damit segeln wir zu den Purpurleuten von Gubla und tauschen, was die Inseln brauchen. Sie brauchen, wie wir wissen, einfach alles, und von allem viel.« »Eisen findet ihr auch nahe von Charis’ kleinem Fürstentum.« Ich belud den Gleiter mit gewohnter Sorgfalt, stellte den Ledersack ab und setzte mich aufs Vordeck. »Ihr kennt die Einladung: Kommt alle!« »Ihr fahrt zu Charis?« »In wenigen Tagen. Ihr werdet etwas länger brauchen als wir. Aber dort gibt es Dattelpalmen, sauberes Wasser, Sand und den ganzen Tag heiße Sonne.« »Auch wir werden in wenigen Tagen aufbrechen.« »Wir begleiten euch ein kleines Stück, um zu prüfen, ob ihr
das Segeln und Rudern nicht verlernt habt«, sagte Ptah grinsend. Es war viel geschehen in der Zeit seit Ende der Zerstörungen. Vieles war vernichtet, aber Fürst Earani strahlte. Kition war nicht mehr eine Stätte des Todes. Schon dreimal in zurückliegenden Zeitaltern, hatte er berichtet, sei der Vulkan ausgebrochen, aber niemals mit solcher Wucht. Ich wischte den Schweiß von der Stirn und meinte: »Ich gab euch beiden ein Versprechen. Wenn ihr zu Charis segelt, wartet nicht nur Eisen auf euch. Ich werde euch auch Schmelzer und Schmiede verschaffen – und andere, feine Überraschungen. Ein weiteres Geschenk, wenn ihr kommt. Bleibt ihr aus, erhalten andere die Geschenke. Auch dieser Orakelschwur wird genauso eintreffen.« Graios reichte mir den Krug und sah aufs Meer, das sich stumpfgrau und gischtend jenseits des halberneuerten Wellenbrechers ausbreitete. Er holte tief Luft und murmelte: »Sonne! Junger Wein! Junge Frauen! Sand und Licht!« Er wandte sich ab, stapfte zum Schiff und winkte seine Männer zum Achterdeck. Sie steckten die Köpfe zusammen, tranken Wein, schrien und lachten wild durcheinander. Ptah hob die Schultern und spannte den Haltegurt der großen Truhe. Vier Tage später, nach einem rührenden Abschied von Charis’ Dienerinnen, Fürst Earani und Kitions Bevölkerung, ruderten die Mannschaften der CHARIS und des weißen Zweiruderers aus dem Hafen. Das bislang namenlose Schiff trug den stolzen Namen PTAH. In geringer Höhe folgten wir mit dem schwerbeladenen Gleiter; nur Charis, Ptah und ich sowie die wichtigsten Teile der Ausrüstung. Wir begleiteten die Schiffe eine Stunde lang, verabschiedeten uns winkend und schwebten an zerstörten Küsten vorbei, über Treibinseln aus Schaumstein hinweg, landeten fast gierig an stillen, unversehrten Stränden, stets entlang der Küstenlinie, an Brandungswellen und mächtigen Treibgutwällen, aus deren Holz wir nachts mächtige
Feuer machten. Wir landeten, jenseits des Hapimündungsdreiecks, aber noch vor Stelzenbeins Fischersiedlung existierte sie noch? – und verwandelten den Gleiter in ein Boot. Einen Tag lang, nachdem wir für Graios und Nestor Zeichen hinterlassen hatten, segelten wir flußaufwärts und erreichten das kleine Reich, in dem Charis herrschte. Lehmziegelmauern bildeten niedrige Schutzmauern vor Palmenhainen und Gärten voll unbekannter Sträucher und Büsche. In einem pittoresken kleinen Hafen lag ein Handelssegler aus Gubla. Seit vier Tagen schwebten, badeten und segelten wir im Sonnenlicht. Ptah-Sokar schaute um sich und flüsterte: »Fast wie im Land der Rômet! Mein Herz schlägt schneller.« Dächer aus Palmwedelgeflecht, helle Lehmziegelmauern, Sonnensegel, weiße Tücher mit farbigen Borten, Sand und viele Menschen mit hellbrauner, mitunter tätowierter Haut und dünnen Kleidern; Fischer, Handwerker, Frauen, die in den Gärten arbeiteten, Gazellen hinter Gattern, braune Rinder, Ziegen und langbeinige Schafe: es war wie eine andere Welt, auch wenn sie aus einfachen Teilen zusammengesetzt war. Charis wurde jubelnd begrüßt. Ich half ihr aus dem Boot. »Hier bleiben wir, so lange, wie wir es aushalten!« Ich belegte den Bug des Bootes. »Ausschlafen, ohne feuchte Decken, barfuß im heißen Sand und Wein im kühlen Schatten.« Charis schien sich zu verändern, seit wir in die Flußmündung eingebogen waren. Mit jedem Sonnenstrahl wurde sie lebhafter, schien verjüngt, schien zu vergessen, was hinter uns lag, fiel in ihre eigene Sprache zurück und lachte, als sei sie trunken; mit neuem Selbstbewußtsein. Ich sah lächelnd dieser Wandlung zu, und mein Begehren wuchs. Ich wehrte mich nicht dagegen. Die begeisterte Menge führte uns zu einem flachen Haus mit Terrassen, halb im Schatten großer Sykomoren. Ptah fragte sie:
»Über wie viele Menschen gebietest du, Herrin?« »Über ungefähr tausend. Ich kenne sie alle. Ihr werdet unsere Sprache lernen müssen.« »Was nicht lange dauert«, sagte er, schenkte ihr sein schönstes Lächeln und zwinkerte einer jungen Frau zu. »Es ist schwer, von dir noch mehr beeindruckt zu werden. Aber du solltest deine Aufmerksamkeit mehr dem Weißhaarigen schenken, der vor Begeisterung schon seit Tagen schielt.« Dankenswerterweise hörten nur Charis und ich, was er sagte. Er grinste mir zu. Die Bevölkerung schien halbwegs treffend als »fröhliches Völkchen« gelten zu können, jedenfalls nach meinem ersten Eindruck. Ptah und ich, halb in unseren Rüstungen, waren wie Abgesandte einer anderen Welt. Dienerinnen öffneten Türen und zogen Vorhänge auseinander, rissen uns Waffen und Gepäckstücke aus den Händen und führten uns in helle Räume, in denen leichte Möbel standen; das Innere des Hauses war nicht von Minos, sondern von Charis’ Persönlichkeit geprägt. Nach einer Weile verbeugte ich mich vor Charis’ alter Dienerin und sagte laut: »Ich fühle mich zum erstenmal seit Kition richtig wohl.« Charis trat ein, sie kam über die Terrasse, deren Boden aus schneeweißem Sand bestand. Sie legte die Hand auf meine Schulter. »Ich werde alles tun, was ich kann, damit du die Tage in meinem Reich nicht vergißt.« Sie lächelte. »Und die Nächte.« »Wir werden sicher einige Monde lang, aber nicht jahrelang bleiben können.« »Ptah hat es mir erklärt. Wichtige Aufgaben rufen euch, ganz plötzlich, in dein Reich zurück.« »Leider hat der Schurke, mein Freund, die Wahrheit gesagt. Stets kommt der Abschied mit jäher Plötzlichkeit.« Ich lehnte mich an die Mittelsäule des Raumes. Charis nahm meine Hände und senkte den Kopf, sie flüsterte:
»Heut’ wird die erste Nacht sein, Atlan.« »Die Sonne sinkt«, murmelte ich. »Und es ist ein schöner Brauch, diesen Vorgang mit einer Schale Wein zu genießen.« Ich deutete auf das Gestirn, das hinter den Kronen der Palmen wie gehämmertes Gold leuchtete. Charis zog mich leicht an sich und legte den Kopf auf meine Schulter. »Wir alle waren Werkzeuge des Orakels«, sagte ich leise und strich über ihren Rücken. »Ptah und ich sind Vasallen eines anderen Herrschers. Aber heute sprechen wir nicht vom Abschied oder von großen Aufgaben. Gibt es ein Bad für einen salzverkrusteten Seefahrer? Und vielleicht auch zwei Schalen Wein?« Sie lachte laut, lief auf Zehenspitzen zum Durchgang und rief einige Worte. Mädchen brachten Tonbecher und Krüge, und andere trugen heißes Wasser in eine gemauerte Badehütte hinter den hochgebundenen Weinreben. Über den Rand der Becher, aus denen hellroter, leichter Wein duftete, sahen wir uns in die Augen und erforschten den Ausdruck unserer Gesichter. Mondlicht breitete einen eckigen Teppich auf die Bodenmatten und tauchte unsere Körper in trügerische Helligkeit, glänzte auf den feinen Ornamenten in Charis’ Haut und auf unseren Schweißtropfen. Wir lagen schweigend und erschöpft nebeneinander. Raschelnd jagten kleine Tiere im Gebüsch; die Zikaden erfüllten die Nacht mit ihren Locklauten. Ich hoffte, daß sich diese Stunden wiederholten und versuchte, die Tiefseeröhre, Rico und ES zu vergessen. Kühle, schlanke Finger strichen über meine Brust und schoben die Kette des Zellaktivators zur Seite. Dann murmelte Charis an meiner Schulter: »Jetzt endlich fühle ich wieder als Frau, nicht als unantastbare Botin des Orakels. Werden wir diese langen Monde je vergessen können, Atlan?« Ich war versucht zu sagen: Nur wenn ES unsere Erinnerun-
gen auslöscht. Aber so flüsterte ich: »Die Nacht – noch ist sie nicht vorbei – ist nicht nur das Ende, sondern auch der schönste Anfang von etwas Neuem. Wir sollten uns von der Zukunft ein wenig überraschen lassen. Vielleicht haben wir genug Zeit, uns wirklich kennenzulernen.« Ich schob die Finger durch ihr langes, weiches Haar und küßte sie. »Alles, was ich verspreche, kann eintreten oder nicht; alles, was ich sage, kann geschehen. Oder das Gegenteil davon.« Eine Stunde lang wanderte das Mondlicht. Charis stand auf, mischte viel Wasser in den Wein und füllte die Becher halb. Als ich trank, sagte sie: »Erzähl mir von dir, Atlan. Und von deinem Freund Rico, und warum du Nestor und Graios seltenes Eisen und Schmiede gibst.« »Davon werde ich viel und lange erzählen«, sagte ich. »Aber zuerst müssen sich meine Gedanken klären. Ein paar Stunden Schlaf werden dabei hilfreich sein.« Sie lächelte und beugte sich über mich. Ihre Haarflut hüllte meinen Kopf ein; Charis lachte leise und murmelte zwischen langen Küssen: »Ich bin ganz sicher, daß wir bis zum Morgengrauen keinen Schlaf finden werden. Es ist nicht nur das helle Mondlicht, Atlan, das ich viel zu lange nicht genossen hab’.« Als die ersten Sterne verschwanden und die Grillen ebenso erschöpft wie wir schwiegen, schloß Charis die Flechtwerktür zur Terrasse und zog die Vorhänge zu. So blieb die nächtliche Kühle im Raum, während wir in enger Umarmung schliefen; ohne Drachenträume. Cyr hob den Kopf und wartete. Die SERT-Haube hob sich nicht von Atlans Schultern. Der Historiker zuckte mit den Achseln und fragte sich, ob Atlans Verstand nur deshalb eine
Pause eintreten ließ, um aus der Menge der Erinnerungen die richtige Sequenz herauszusuchen. Für Aescunnar schien der Hauptteil der Erzählung abgeschlossen zu sein. Obwohl Cyr noch nicht dazugekommen war, seine zuletzt gemachten Notizen völlig zu bearbeiten – schließlich konnte er Atlan nicht fragen –, füllte sich die nächste Folie mit handschriftlichen Bemerkungen, hinter denen meist kringelige Fragezeichen standen, wie: Schaumstein ist Bimsstein. Hieß Ugarit jemals Iqarat? Atlans ägypt. Freundin, von ES umfunktioniert, hieß entw. Nefret-Iunit od. Ne-Tefnacht od. Shainsa-Tar? Aber: der Weise Einsiedler a.d. Ritt zu dem Kampf mit div. Monden = ebenfalls ShainsaTar? (andere, unautorisierte Erzählung?) (Datenverknotung Atlan?) Spielte Dimas noch »Leier« oder schon 11saitg. Kithara? Verifizieren. Ausbruch Kalliste/Stronghyle im Jahr 1323? 1324? (A&P waren 18 Monde auf Terra?) also: 6677 bis 6678 + 6 Mon. NUvA. Glaube nicht, daß A&P glatte 265 Jahre tiefgeschlafen haben. Da gibt es einen Hinweis, daß Atlan mit Ramses gesprochen hat, über Gestirne. Wann? Welcher der vielen Ramsesse? »Sonne Naral. Planet Sechs Amboina. Torsen Dag, der Mächtige Mann«, sagte Atlan plötzlich. Seine Stimme schien sich in Aescunnars Kopfhörern in Echos aufzulösen. »Nein. Noch nicht. Später…« Wieder schwieg Atlan, atmete ruhig, schwebte ohne Zucken, scheinbar ruhig, im Überlebenstank. Cyr handelte fast automatisch und tippte die Worte ein, schaltete die Leitung frei und drückte das SUCHEN-Feld. MASTERCONTROLS Zugriffszeit auf diese Begriffe war kurz. Der Text einer frühen Atlan-Erzählung lief über den Schriftmonitor; es waren nur wenige Zeilen. Atlans Schweigen dauerte eine Stunde, und in dem hermetischen Kokon seiner Erinnerungen schien es keinen realen Gäa-Zeitbegriff zu geben, und so saß Aescunnar, als Atlan wieder zu sprechen begann, wieder einmal um vier Uhr morgens vor der Batterie seiner Aufzeichnungsgeräte,
trank kaltgewordenen Kaffee, und seine Augen hinter der großen Brille mit dunklen Gläsern schmerzten und tränten. Der halb abgestorbene Ast eines Baumes, dessen Namen ich nicht kannte – eine Art Zeder mit silbergeränderten Blättern und glutroten Blüten – streckte sich weit über das Ufer. Ein Schatten fiel auf das Bild. Ein großer Vogel mit schwarzen Schwingen streckte die Ständer aus und landete auf dem wippenden Ast, sieben Ellen über dem Wasser. Als er die Flügel einfaltete und sich in die Sonne drehte, sah ich am Hals, auf den schimmernden Federn und auf dem Fächerschwanz gelbgoldene Punkte, von denen kleine Strahlen ausgingen; die Vergrößerung des angehaltenen Bildes hatte starke Ähnlichkeit mit einem Stellarphoto. »Hast du überall nach Nomazar und dem Cheperring gesucht?« fragte ich. »Mit viel Aufwand. Beide blieben unauffindbar«, erwiderte Rico. »Meine Verbote, an die Oberfläche zu gehen, scheinst du eingehalten zu haben.« »Ich respektiere alle deine Anordnungen und Planungen. Welchen Platz finden Ptah-Sokar, Ne-Tefnacht und deine Favoritin in deinen weitreichenden Überlegungen?« »Über Ptah-Sokar und Tefnacht bestimmt ES, Rico. ES hat keine Eile, uns in den Schlaf zu zwingen; nach ein paar Tagen tiefen Nachdenkens werde ich über meine robotgesteuerte nähere Zukunft entscheiden. Zu dir, mein treuer Robot: In Menefru-Mirê oder No-Amûn würde dich jeder mit dem Gottkönig verwechseln – groß, schlank, unglaubwürdig gutaussehend, geschmückt wie ein Rudel teurer Hafendirnen, nur mit echtem Gold und so weiter, mit modisch korrekter Kleidung… seit wann sind arkonidische Hochleistungsrobots derart eitel?« »Seit sie dich kennen. Darf ich dir Wein aus der vorletzten
Lese Hut-Ta-Heri-Ibs bringen, vom Gutshof des Nefer-Hauni? Von mir geseiht, gefiltert, geschönt und unter Luftabschluß in schwarzem Arkonglas aufbewahrt?« »Deine Eitelkeit, Rico, hat im Lauf der Jahrtausende Stil gewonnen.« »Ich hatte den besten Lehrmeister, Atlan, und ununterbrochene Aufmerksamkeit ist Teil meines Urprogramms.« Er brachte mir kühlen, hellen Rotwein, der nach dem Geruch von sehr frischen Blüten des weißen Lotos schmeckte. Ich streckte im riesigen Kontrollsessel die sonnenverbrannten Beine aus, nippte und ließ meine Blicke über die Monitoren, Bildschirme und Holoprojektionen gleiten. Sie zeigten, sich in ungleichem Rhythmus wiederholend, lange Bildersequenzen, in den letzten ungefähr fünfzig Jahren aufgenommen. Ich schloß die Augen, trank und lehnte mich entspannt zurück, geborgen in der sachlichen Kühle meines submarinen Überlebensturms. ES führte uns gegenwärtig am sehr langen Zügel: Es galt, jede Stunde sinnvoll auszunutzen. Ob sich die Zivilisation und Kultur der larsafischen Barbaren einen Mond früher oder später in der Geschwindigkeit einer trunkenen Schnecke weiterbewegt hatte oder nicht – gleichgültig. Mir lag das Schicksal meiner wenigen Freunde mehr am Herzen. Lange studierte ich die Bilder, faßte Pläne, verwarf sie wieder, konstruierte aufwendige Denkmodelle, ließ mich von Berichten aus weit entfernten Planetengegenden ablenken, überlegte, ob ich die strategisch hochwichtige Lage und Bedeutung Ilions in meine Pläne einfügen konnte. Rico stand neben mir, meist schweigend, hielt eine Trinkschale aus gehämmertem, hochpoliertem Silber in der ringgeschmückten Hand und roch am Kondensat des Hapilandweins. Ich leerte nachdenklich den Pokal und überlegte lange, dann sagte ich in abschließendem Ton:
»Bis diese Barbaren in der Lage sind, zu den Sternen aufzublicken und ein Raumschiff bauen zu wollen, vergehen Jahrhunderte. Oder Jahrtausende. Ich will nichts unversucht lassen, sie auf diesen Weg zu steuern. Ich rechne mit demütigenden Rückschlägen. Wir versuchen es dennoch – und bis es soweit ist, behelfen wir uns weiterhin mit Lähmdolchen, Desintegratorbeilen und Antigravgleitern; träfe mich ein Schleuderstein der Barbaren, wären alle hochtrabenden und weitreichenden Gedanken schlagartig hinfällig; es gäbe einen toten Kristallprinzen samt Zellaktivator mehr und einen von zehntausenden Barbarenplaneten, auf dem sich nichts ändert.« Rico stellte die trockene Weinschale auf ein Pult und erwiderte: »All das, was du aussprichst, Gebieter Atlan, haben ich und der Zentralrechner mehrfach durchgerechnet. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist überzeugend hoch. Im Sinn dieser Nachdenklichkeiten: Wann führt dich, in welcher Maske, der Weg wohin?« Ich sagte: »Zuerst zu Charis und mit ihr zu Ptah-Sokar und Merire. Achte auf die Herren Kapitäne Graios und Nestor und deren Eisenfunde. Und sorge für die Sicherheit der eben namentlich erwähnten Personen.« »Selbstverständlich. Wann, Atlan?« »In zwei Tagen. Nachdem ich mich umgesehen und im Luxus des Schlafverstecks ausgeschlafen und neu ausgestattet habe. Verstanden, du falscher Rômet?« »Ich verstehe dich heute besser als vor einigen Jahrtausenden; dein Schlafplatz ist bereit. Alle Schaltungen des Überlebenszylinders gehorchen deinem Individualmuster. Darf ich dich mit Essen und dergleichen verwöhnen?« »Später«, sagte ich grinsend. »Es fällt mir augenblicklich leicht, mein Alleinsein zu genießen. Weil ich allein, aber aus-
nahmsweise nicht einsam bin.« Ich hob den Kopf zu den Galerien voller Rechner, Bildschirme und Kommunikationseinrichtungen. »Aber das kann sich rasch und gründlich ändern.« Nur ein halbes Terra-Standardjahr, las Cyr Aescunnar, dauert die Umlaufzeit des Planeten Amboina VI um die Sonne Naral. Viermal achtzehn Stunden mußten vergehen, ehe der Mächtige Mann Torsen Dag im königlichen Tholosgrab bestattet werden durfte. Der Mörder, einer der letzten Schamanen Amboinas, lag schwer bewacht im Fesselfeld, im Kielraum des kleinen Schiffes. Droysa ging neben mir. Sie fragte leise: »Du schreibst an deinen Erinnerungen?« »Ja.« Ich blickte sie schweigend an. In ihrem Gesicht sah ich den Widerschein vieler Fackeln. Ein längst vergessenes Bild schob sich in mein Bewußtsein. »Ich hab’ eingesehen, daß ich manchen Historikern helfe, wenn ich meine Erlebnisse aufschreibe. Aber aus Zeitmangel wird keine zusammenhängende Geschichte daraus. Nie.« »Erinnert dich, was du siehst, an etwas, das du erlebt hast?« Das Bild wurde deutlicher. »Ja. Ilion. Oder Troia. Troja, wie es später hieß. Ich möchte vermeiden, daß ich mitten in der Prozession in Trance falle und zu reden anfange wie ein Wasserfall.« »Ich verstehe.« Droysa wirkte bekümmert. »Kein Wort mehr darüber.« Wir blieben stehen. Der Extrasinn warnte: Laß dich nicht zu sehr von der Zeremonie beeindrucken! Meine Erinnerung versagt. Ich weiß nicht mehr, wie es weiterging, und wie es endete. Ich weiß nur noch, daß ein sehr viel späteres Geschehen mit der Erinnerung an Ilion zu tun hat. Welches Geschehen? Es fällt mir nicht ein. Aber die Erinnerung an Troja ist klar und deutlich. Ehe Atlan weitersprach, las Cyr Aescunnar den Bericht, der von einem Unbekannten stammte. Wir drangen in den wirklichen Urwald ein. Sonnenmuster und Schatten lagen auf dem Pfad, der in Schlangenlinien vom
Raumhafen zur Siedlung führte. Der Dschungel war von andauerndem Schwirren erfüllt, von exotischen Düften und Geräuschen. Wie zerschlissene Vorhänge streiften Blätter über Köpfe und Schultern. Blausilberne Pseudoäffchen huschten durchs Blattwerk und kreischten. Die Äste, von denen sie sprangen, schnellten hoch. Summende Vögel mit lang herunterhängenden Zierschwänzen taumelten zwischen den Blüten, überall tanzten Insektenschwärme. Veonard Barca machte eine Bemerkung. Niemand antwortete, alle hingen ihren Gedanken nach. Was jetzt kam, nahm auch meine Aufmerksamkeit in Anspruch: Das Begräbnis würde den Frauen und Männern der USO wertvolle anthropologische Einsichten bescheren. Letzte Sonnenstrahlen schienen, wie Lichtbalken durch die Blätter zuckend, den Pfad zu sperren. Fliegen, Mücken, fliegende Ameisen, Motten und silberflügliche Käfer in Schwärmen, Schmetterlinge wie Bronzeflocken und tanzende Myriaden Eintagsfliegen taumelten durchs Licht. Die Sonne ging als drohend dunkelrote Scheibe kurz darauf neben einer schwarzen Wolkenbank unter. Alle Laute des Waldes verstummten. Zwischen knackenden Ästen, unseren schmatzenden Schritten im Lehm, dem Erschrecken eines flüchtenden großen Tieres tauchten Lichter vor uns auf; nach der Niederschlagung des Schamanenaufstandes war mühsam die Ordnung wiederhergestellt worden, und ich wußte nicht, was uns in der Siedlung erwartete. Als wir den Urwald verließen und den Kreisring aus Wiesen und Plantagen um Amb’Charana betraten, begann der rituelle Lärm. Vierzehn Gongs hallten in erschreckender Polyphonie. Phaedra Carruthers griff nach meiner Hand. Die dreitausend Hütten der Siedlung waren Ausdruck der Mischkultur von terranischer Kolonisation und tiefster planetarer Vergangenheit. Sie erinnerten mich an eine Ebene, die von einer Hügelstadt gekrönt wurde. Der innerste Kreis, den wir nach kurzer
Zeit betraten, war scheinbar unverändert. Die Schallwellen der riesigen Bronzegongs und der infernalische Lärm der Bewohner brachen sich an spitzgiebeligen Häusern und schienen den Totempfahl in Schwingungen zu versetzen. Veonard Barca sagte: »Faszinierend! Vor eineinviertel Jahrtausenden vermischten sich Arkonidenabkömmlinge mit terranischen Siedlern. Die Kultur kippte ins Archaische zurück. Das ist das Ergebnis. Die schlagen auf Bronzegongs wie…« »Wie im Jahrhundert der Kämpfe früher Griechen«, sagte ich. »Solche Zeremonien haben sich tausend und mehr Jahre vor der terranischen Zeitwende abgespielt. Es paßt in meine Memoiren.« Der Logiksektor warnte mich: Überschreite nicht die Schwelle, Atlan, die dich zwingt, die Erinnerungen preiszugeben! Ich murmelte resignierend: »Alle bemerkenswerten Ereignisse auf Larsaf Drei passen in meine verdammten Memoiren!« Nach den Kämpfen, bevor Ordnung einkehren konnte, mußte der Mächtige Mann begraben werden. Je länger mein Aufenthalt dauerte, desto deckungsgleicher wurden die Ereignisse mit eigenem Erleben, an das ich schmerzvolle Erinnerungen hatte; auch der Einsatz der USO hatte Ähnlichkeit mit dem Geschehnis vor Ilions Mauern gehabt. Im Zentrum der Siedlung umstanden etwa dreißig Hütten einen Sandkreis, in dessen Mitte der wuchtige Pfahl aus entrindeten Palmenstämmen stand, mit durchsichtigem Lack imprägniert; Linien und Schnitzereien, Augen und Münder, Intarsien aus Platin und Kuafarbe bildeten schwarzfunkelnde Muster. Fünf Feuer und viele Fackelflammen verliehen dem Ort geheimnisvolles Leben, die Siedler trugen historische Gewänder, antike Waffen und Kopfputze: Fische, Reiher, holzgeschnitzte Pflanzen oder Tiere. Die gleichen Toteme kauerten auf den Häusergiebeln. Der Anprall der Bohlen gegen die Riesentrommeln versetzte
alle in Raserei. Dreitausend Menschen waren von den wilden Lauten angesteckt und bewegten sich um die hölzerne Bahre des Toten. Neben dem Katafalk standen, an Pfähle gebunden, die Frau des Mächtigen Mannes – dem Verwalter, der Einfuhren und Ausfuhren kontrolliert hatte –, sein Diener und seine Konkubine. Noch bevor wir gegen diesen archaischen Brauch hatten einschreiten können, hatten sie sich selbst vergiftet. Jetzt wurde auf geschwungenen Zeremoniehörnern geblasen; es klang wie Saurierschreie. Die Menschenmasse teilte sich, der Zug setzte sich in Bewegung, und während er auf die Straße zu den Hügeln schwenkte, sah ich die Krieger. Sie trugen Lederschurze, ihre Köpfe steckten hinter einem Kopfputz aus geweißtem Stroh. Schwarzweiße Schlangenlinien verunzierten die Körper. Die Krieger bliesen in die Mundorgeln aus Bambusröhren; ein Ton, der das Mark erschütterte und mich um Jahrtausende in die Vergangenheit zurückkatapultierte. Stöhnende Menschen, Gongschläge, Mundorgeln, klirrende Zeremonienwaffen, Schreie aufgestörter Tiere, rhythmischer Gesang, brodelnde Gespräche ließen jeden erschauern, noch ehe vierzig Männer der Leichenprozession an den Betonmischmaschinen – auch sie in zeremonieller Farbe gestrichen – vorbei in den Dromos schritten, den Gang zur Grabkuppel. At’hen, Troia – Bilder, Gedanken, Zeiten und Bewegungsabläufe vermischten sich; Gegenwart und Vergangenheit schienen eins zu werden. Die Grabkammer, voller Scheiterholz, nahm den Leichnam auf, daneben wurden die drei Toten abgesetzt. Um die unvollendete Steinkuppel brannte Öl in großen Terkonitschalen, der Schlußstein des Gewölbes war mit Platin überzogen, dem Metall, das Amboinas Reichtum bedeutete. Schilde, Speere, goldene Trinkgefäße, terranische Urkunden hinter Glassit, ein Visiphon, Rekorder, Lesewürfel, Mikrokassetten, Tonkubys und ein tragbarer Computer wurden um die Toten geschichtet; zwischen die Finger des Toten schob
man die Hochenergiewaffe mit gefülltem Magazin, Kunststoffblumen, Fertiggerichte in Aluminiumfolien, alte Bücher, zwei Dutzend unterschiedlicher leerer Flaschen mit farbenprächtigen Etiketten kamen hinzu; mitten im Gelärme fauchte ein Flammenwerfer auf und setzte den Holzstoß in Brand; Flammen loderten senkrecht zur Kuppelöffnung. Verkohlte Blätter, schmorende Gegenstände und Dinge aller Art, der grauenerregende Lärm der Instrumente und lausender Menschen, Flammen und Rauch. Chaos! Untergang einer Stadt. Der Bruder des Toten schleuderte eine mäanderverzierte, mit brennbaren Kohlenwasserstoffen gefüllte Weinamphore ins Feuer, die Betonmischmaschinen liefen summend an, die Scheiterhaufenbalken brachen funken wirbelnd zusammen, und eine ungeheure Wolke aus Funken, Rauch und Flammen stieg in die Nacht. Es stank sehr; nach unbeschreiblichen Dingen. Das Waffenmagazin detonierte und schickte einen irren Blitz zum Himmel. Schließlich, nach einem flammenden Inferno, brach alles zusammen und bildete auf dem Boden der Grabkammer einen glimmenden Haufen. Ich sah regungslos zu, konnte noch immer die Warnungen des Logiksektors ignorieren und wartete, bis die Zeremonie des Vermauerns fortgeführt wurde, bis dreihundert Arbeitsroboter vom Waldrand heranschwebten und in meiner Phantasie zu Sagengestalten wurden, während sie das Tholosgrab vermauerten, Steinplatten aufs Erdreich legten, Steine ringförmig schichteten und mauerten, unter denen die steinernen Rampen verschwanden, und schließlich setzte man den funkelnden Schlußstein: Ich dachte an die toten Helden Ilions. Andromache, Priamos, Troianer… jemand rief: »Verschließt das Grab!« Dreitausend Trauernde trugen mit Erdreich, kleinen Pflanzen, Steinen, Platten, Samen, Schößlingen, handlichen Werkzeugen, Sand und Wassergüssen dazu bei, daß eine halbe Stunde nach dem ameisenhaften Gewimmel das Grab ein
kuppelförmiger Haufen war, der nach einem Regenguß, im Dschungelklima, nach kurzer Zeit mit dem wuchernden Grün der Umgebung verschmolzen sein würde. Der Leichenzug ging zur Siedlung zurück; Veonard Barca deutete über die Schulter. »Die Gleiter warten.« Phaedra Carrathers wandte sich an mich. »Und Sie, Lordadmiral?« »Ich fühle mich nicht besonders gut.« Ich schob die Hand zwischen die Säume des Hemdes und umklammerte den Zellaktivator. Droysa öffnete die Gleitertür. »Ich will zurück ins Hotel.« Der Gleiter schwirrte mit uns davon. Im Amb’Charana Hotel, in meinem Apartment, fiel ich in einen Sessel. Auf meiner Stirn und auf der Oberlippe fühlte ich Schweiß, schaltete das Diktiergerät ein, und die Bilder meiner Erinnerungen begannen plastisch hervorzutreten. Begriffe wirbelten: Arkon, Raumschiffe, die Mesarier, Odysseus, die Ägäis, Stronghyle, Rico und die gewaltige Enttäuschung nach ebenso gewaltigen Hoffnungen. Noch bevor ich mich erinnerte und zu sprechen begann, sah ich den blinden Sänger, der zur Kithara seine Verse der Ilias sang, mit brüchiger, schöner Stimme… Ich erwachte, erinnerte mich, und nach kurzem Wirbel kehrte ich an den Anfang der Geschichte zurück; zu Rico in die Tiefseekuppel und zu der Qual des langsamen Erwachens. Als die Bilder verschwunden waren – sie zeigten Hammurabis Babylon, die durchsonnte Ruhe des Hapilandes, galoppierende Pferde vor Streitwagen, die Zerstörung der Insel Stronghyle und schließlich die CHARIS, die im Hafen der kleinen Siedlung festgemacht hatte – spürte ich, nach einem kurzen Ziehen am Oberschenkel, wie eine angenehme Hitzewelle meinen Körper durchzog. Der Chronometer erschien auf einem Moni-
tor; ich vermochte die Bedeutung der Ziffern noch nicht zu erkennen. Ich versuchte zu murmeln: »Warum hast du mich geweckt?« Rico zögerte. Rechts neben mir fuhr die Aktivierungsdusche aus; Reizstoffe wurden in meinen Körper gespritzt und als Strahlungen angewendet. Die Haube des Schwingungsgenerators schwenkte zur Seite. Seit einer Stunde konnte ich fühlen, wie Leben in meinen Körper zurückkehrte. Obwohl Rico mich kaum hatte verstehen können, antwortete er korrekt: »Vor neun Larsaf-Drei-Umläufen sind auf einer Insel des östlichen Binnenmeeres, unweit der zerstörten KallisteStronghyle, Raumschiffe gelandet. Sie sind nach kurzem Aufenthalt wieder gestartet und haben das Sonnensystem verlassen.« Vor neun Jahren? Und heute wurde ich erst geweckt? Rico schob sich in mein Blickfeld. Er sah zwar noch immer wie RêAnchor aus, wie ein hochgewachsener Hapiland-Bewohner, trug aber keinen Schmuck. Er schaltete die Massagegeräte ein und sagte: »Die Schiffe blieben nur zwanzig Minuten lang. Ich steuerte eine Sonde dorthin, aber noch bevor sie das Tal auf Keftiu erreichten, starteten die Schiffe. Ich konnte die Weckschaltungen noch rechtzeitig widerrufen. Bevor ich dir alles schildere, mußt du wieder ruhen und den Körper wiederbeleben lassen.« Hundert Stunden lang wirkten, vom Zentralrechner gesteuert, die Reanimationsmaschinen und brachten mich so weit, daß ich im Vibrationssessel zur Kuppel schweben und mich vor die Informationsbildschirme, die holografischen Karten und die Sondenmonitoren setzen und begreifen konnte, was ich sah und hörte. Noch arbeitete mein Kehlkopf nicht gut genug; ich schwieg und staunte, wie immer. Das Land des Hapi war einer der blühenden Mittelpunkte der Welt. Ähnlich schien es im Zweistromland zu sein, obwohl
Rico berichtete, daß es militärische Auseinandersetzungen gegeben hatte. Andere Kulturen rund um das Binnenmeer erhoben sich langsam aus der Zeit bronzener Geräte und Waffen: ich sah einzelne Nester, an denen Eisenerz geschürft, verhüttet und geschmiedet wurde. »Im Jahr 6707 NUvA, Atlan, landete der Verband kleiner Raumschiffe. Unsere Satellitensonden haben die Anzahl nicht gezählt. Offensichtlich ist ein Schiff zurückgeblieben und wurde planmäßig versteckt. Dadurch entzog es sich meiner Fernbeobachtung. Vor zwei Monden und zuletzt vor fünfzehn Tagen, nach einem stärkeren und einem schwächeren Beben, tauchte das Schiff aus dem Schutt auf; ich konnte bis auf achthundert Chen-Nub die Lage bestimmen. Nach allen vorläufigen Berechnungen ist das Schiff, augenscheinlich ein Beiboot, eine Kugel von weniger als hundert Ellen Durchmesser. Und nun wirst du dich der Qual unterziehen müssen: flüssige Nahrung, Vater des Schlafes.« Bis mich wieder die Müdigkeit überkam, sah ich Bilder und gespeicherte Aufnahmen an, fühlte, wie mein Magen arbeitete, ließ mich massieren und mit Dampf behandeln und lernte unter den Hypnostrahlern die Änderungen jener Sprachen, die ich beherrschte. Die bewußten Gedanken und Erinnerungen krochen dahin wie dicke, langsame Würmer. Nur eines stand fest, und meine Erleichterung darüber war groß: Nicht ES hatte mich wecken lassen! Hatte ich diesmal das Glück, ein Schiff zu finden, das mich nach Arkon zurückbringen konnte? Rico, die gut sortierten Vorratsräume und die Maschinen des unterseeischen Verstecks arbeiteten längst an meiner Ausrüstung. Ich bestaunte den Götterglauben der Ioner, Aioler, Dorer und Aqqader und die große, vielverzweigte Götterfamilie. Ich lernte die phrygische Sprache und übte unter dem Brennen der Solarlampen, meinen Körper zu bewegen. Schon der
Klang meiner Stimme, die besonders schwierige Satzverbindungen nachsprach, beruhigte mich. Ich hielt mich zurück, um aus Ungeduld nichts zu verderben, während die Sonden das Schiff suchten und den Kreis des Fundortes verkleinerten. Die beiden schneeweißen Robotjagdhunde gewöhnten sich an meine Befehle und folgten mir, als ich durch die stählernen Kavernen streifte. »Du fühlst dich gut? Bereit, um die Suche zu beginnen?« »Noch nicht ganz«, sagte ich. »Vielleicht wirst du es nicht verstehen, aber ich sehne mich nach richtigen Geräuschen: Brandung, Wald, der Klang einer menschlichen Stimme… warum hast du Ne-Tefnacht nicht geweckt?« »Erlaube mir, die Erklärung später zu geben.« »Seltsam – meinetwegen.« Die Kopien der Ausrüstung übertrafen, wie stets, jedes Original. Selbst der mächtige Fiberglasbogen und die Köcher mit fünfhundert Pfeilen, mit Arkonstahlspitzen, davon viele vergoldet, sah wie altes, glattpoliertes Holz aus. Der Zellaktivator, ein glasiertes Tonamulett, steckte in einem Lederbeutel. Ich lenkte Sonden durch die Gassen kleiner Städte, versuchte das Regierungsgefüge zu erkennen, die Handelsbeziehungen und erfuhr von Rico, daß die PTAH, des tüchtigen Kapitäns Graios weißer Zweiruderer, im Sturm zwischen den beiden Inseln des westlichen Meeresteiles gesunken war; mit Eisen aus einem unbekannten Hafen. Rico betrat die Ebene der Tiefschlafzellen vor mir. Einige Sektoren, seit mehr als 67 Jahrhunderten nicht gebraucht, waren dunkel: abgeschaltet. Ein Schott stand weit offen, es roch nach antibakteriellem Fluid, und Reinigungsroboter beseitigten in grellem Licht die Spuren meiner langen Anwesenheit. Dieser Teil aus dick isolierten Kammern bestand aus dreimal fünf Kammern, die übereinander lagen, und in deren Rückwände
ein Gewirr dicker Schläuche und Kabel mündete. Eine unhörbare Schaltung Ricos ließ das Licht im Inneren der vierzehn Elemente aufflammen. Der Roboter winkte. Ich sah NeTefnacht, Ptah-Sokar und Merire-Chemsit, neben ihr… Charis. »Ich kenne keinen Loyalitätskonflikt, Atlan«, sagte Rico in der Amentisprache. »Ich gehorche nur deinen Befehlen; bei begründeten Bitten entscheidet die Wahrscheinlichkeitsrechnung. ES zwang mich, die Anlage und die Zentralrechner, Charis zu versorgen. Sie kam ein halbes Jahr nach dir.« »Ich verstehe.« Gedankenlos legte ich die Hände auf die Köpfe der Jagdhunde, die bis zu meinen Hüften reichten. »Sie möge unter ES Schutz ruhig und sicher schlafen und träumen. Und diese zehn vereisten Behältnisse?« Ich folgte ihm auf die Schräge und sah nacheinander Kapitän Nestor – bartlos, fast kahlgeschoren –, einige der Ruderer der CHARIS und drei Männer, die ich nicht kannte. Rico schaltete die Innenbeleuchtung aus und sagte: »Das Schiff wurde umgebaut und steht, versiegelt, in einer Halle der Großen Weißen Palastburg-Schule, in einem Feldkokon. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß jene drei etwas mit zukünftigen Plänen von ES zu tun haben.« »Auch mein ausgerüsteter Gleiter steht in einem Raum der Schule«, brummte ich. »Wer bin ich, daß ich erraten könnte, was ES vorhat? In der Zukunft! Ich bin nur ein armer, einsamer Arkonide, der für ES die Drecksarbeiten macht.« »ES sähe dies anders. Ich übrigens auch. Du willst eine Führung durch die Schule? Augenblicklich steht sie leer; aber meine Liste der nächsten Entführungsopfer wird von Mond zu Mond länger.« »Wenn ich das Schiff finde und starten kann«, knurrte ich und verließ ein wenig ratlos den Tiefschlafsektor, »dann wird’s in der Schule bald von arkonidischen Flottenlehrern wimmeln. Darum kümmere ich mich – danach!«
»Dein Entschluß ist verständlich und nachvollziehbar.« Ich schaltete die starken Schirmfelder ein, schloß die Hangarschleuse im Tiefstgeschoß der Schule und startete nach Süden, flog durch die Meerenge nach Osten und suchte, als es Tag wurde, die Fischersiedlung. Stelzenbeins Asche war längst verweht; als ich neben den kärglichen Resten des Stegs auf dem Strand landete, fand ich nur noch völlig zugewehte Hütten und einen kleinen Wald alter Bäume um die Quelle. Später Frühling, der Mond Epiphi im Rômetland. Vollmond. Ich schlug ein winziges Lager auf, badete, schwamm, kontrollierte im Spiegel des Schildes mein nackenlanges, gekräuseltes Haar. Es war dunkler braun als meine Augen. Nach einigen Tagen verlor sich der Schmerz in den Muskeln. Ich arbeitete mit Dolch, Schwert, Bogen und Wurflanze und schlief im Schatten, Sand auf der ölverschmierten Haut. Nachts sprach ich mit Rico und rief die Sondenbildberichte ab. Ich programmierte den Kurs nach Keftiu und verließ die Bucht. Als der Gleiter ohne Schutzfelder dicht über den Wellen dahinflog, im Licht des halben Mondes, legte ich den Kopf in den Nacken. Warme Luft umfächelte mich. Weiße, gelbe, blaue und rötliche Gestirne glitzerten. Die Nacht, der barbarische, herrliche Planet, all diese Menschen – es schien wirklich zu sein und gleichermaßen paradox. Alles pendelte unausgesetzt zwischen Extremen: gut und böse, lieblich und grausam, zwischen hochfahrendem Reichtum und bitterster Armut des Lebens und des Verstandes. In dieser einsamen Stunde hatte es für mich den Anschein, als wären die offenkundigen Schwächen aller Barbaren – mich eingeschlossen – ihr Vorteil. Einbildungskraft, Streben, Liebe: Meilensteine eines Wegs, der, wie eine schiefe Ebene, die Menschen immer wieder mitten ins Verderben führte? Ich fand zweifellos die gleichen Probleme wie jedesmal, wenn ich mich
unter sie wagte. Freunde und Geliebte, die ich verlassen mußte, weil ich, verglichen mit der Länge ihres Lebens, noch war, wenn es sie nicht mehr gab. Die Furcht, vor Einsamkeit wahnsinnig zu werden, war geringer geworden seit Ptah, Tefnacht und Charis. Alles schien sinnlos – außer der Suche nach dem Schiff. Wirklich? Ich wußte es nicht. Wieder einmal. Jede weitere Handlung würde aus dem Augenblick geboren werden; ich, Atlan, der Kristallprinz und Hüter des Planeten, überlebte durch Improvisation. Als die Sonne über dem Berg Ida aufging, über der MesaraEbene, verscheuchte sie meine Niedergeschlagenheit. Ich erreichte in der Morgendämmerung eine baumlose Bucht. Die träge Brandung bespülte eine Sichel aus feinem Sand. Die Hunde und ich sprangen in den feuchten Sand; ich freute mich über die Abdrücke meiner Lederstiefel. Das Blau des Himmels, das Meer der Ägäis, weiße Felsen, sattes Grün und Treibholz: Der Anblick verscheuchte die Gedanken während des Fluges in der dunklen Nacht der Seele. Ich setzte mich aufs Vordeck des Gleiters, schnippte mit den Fingern und hob den Arm. »Dort hinauf!« Ich schnalzte mit der Zunge. »Wenn ihr Menschen seht, kommt zurück und meldet.« Ein heiserer Doppellaut antwortete mir. Die Hunde sprangen die steile Felswand hinauf, die mit zerzausten Krüppelkiefern, wildem Wein und Ölbäumen bewachsen war. Ich konnte das Raumschiff nur mit dem Gleiter suchen, aber es war besser, zuerst mit einem Menschen zu sprechen und zu erfahren, was er wußte. Zuerst fand ich eine moosbewachsene Höhle hoch über dem Wasserspiegel, ließ den Gleiter rückwärts hineinschweben und tarnte ihn mit einem Schutzfeld. Die kleine Antigraveinheit brachte mich und die Waffen zu einem Felsen, von dem aus ich die Häuser einer kleinen Siedlung sehen konnte, einen Pfad in eine Bucht, dort einen net-
zeflickenden Fischer. Einige Gebäude waren vor längerer Zeit zusammengebrochen. Ich machte mich auf den Weg in die kleine Bucht. Es war vermutlich sinnvoller, mich in Sparta umzusehen, einer Stadt, von der viele Schiffe nach Ilion aufgebrochen waren. Wenn das Schiff neun Jahre lang unentdeckt geblieben war, würde es noch ein paar Monde bleiben. Ich winkte die Hunde hinter mich, als der Fischer erschreckt hochsah. Ich sprach ihn in Dorisch an. »Ich bin ein Wanderer, Vater«, sagte ich leise, »der dich um eine Gefälligkeit, einen Dienst bittet.« Er verstand, aber sein Gesicht verlor nicht den Ausdruck großen Mißtrauens. Er knurrte: »Du bist gestrandet, Fremder?« Ich wiegte den Kopf und sah sein Boot an; ein einfaches Schiffchen mit Mast, Rahsegel, einem Heckriemen, der seitlich des Achterstevens als Ruder und als Fortbewegungsmittel diente, voller Körbe, Truhen und Reusen aus Weidenzweiggeflecht. »Willst du ein paar Scheiben Silber verdienen, Vater?« »Silber?« Er war runzlig und von der Sonne geschwärzt, stank nach Fisch, Schweiß und Salz, besaß nur einige schwärzliche Zahnstummel und grinste. »Wohin willst du, Fremder?« »Nach Sparta. Der Wind, meine ich, steht nicht ungünstig.« »Zuerst das Silber.« Er deutete auf einen Weinkrug, der neben dem Feuerchen im Sand stak. Auf einem Rost brieten zwei Hälften eines armlangen Fisches. »In dieser Zeit, in der jeder gegen jeden kämpft, traue ich niemandem.« Ich zog, nach einigem Zögern, ein halb daumengroßes Goldplättchen aus der Gürteltasche und zeigte es ihm auf der Handfläche. Die Hunde legten sich in den Schatten einer niedrigen Pinie. Der Fischer nahm das Gold und knurrte: »Gold.« Er biß darauf und verzog das Gesicht, zeigte auf
meine Waffen. »Wirklich. Selten, heutzutage. Du willst nach Sparta? Mit all dem Töterzeug?« »Ich helfe dir beim Steuern und Segelsetzen. Das Gepäck, ich, und die beiden Hündchen. Noch bevor der Mittagswind einsetzt. Ich bin Atlantos, Sohn des Gonozaleios und der Jagtaraia. Man nennt mich Atlan.« Er nickte und zeigte auf das Feuerchen. »Zuerst essen und einen Schluck Wein. Ich bin Lapitho’os. Hast du Brot?« Ich öffnete meinen Sack, zerschnitt mit dem Lähmstrahlerdolch Ricos Brot, zog den Verschluß aus dem stählernen Weinkrug und öffnete die Gewürzdose. Wir aßen und tranken ruhig, vergruben die Reste, dann warf ich meine schweren Packen ins Boot und half Lapitho’os, das Boot anzuschieben. Die Tiere sprangen hinein; wir ruderten durch die Brandung, und ich half, das schwere Segel zu setzen, das der Wind knallend blähte. Kurz darauf schnitt das Boot durch die Wellen. Ich zog das dicke Hemd aus und wickelte es in den Mantel, streifte die Stiefel ab und setzte mich tief in den Bug. Einmal, als der Krug des Fischers leer war und ich ihm aushalf, sagte er: »Nenn mich Pitos. Danke.« Die Hitze nahm zu. Schließlich trug ich nur den breiten Gürtel, um den der Hüftschurz gefaltet war, ein breiter, zwischen den Beinen durchgezogener Tuchstreifen. Aus dem Dunst tauchte eine Insel auf, die bald wieder verschwand. Pitos zeigte darauf und sagte: »Atlan? Diese Insel – wir sind nicht vor morgen früh dort. Kytera. Dort hat dieses Weib den Verbrecher getroffen.« »Ich bin gestrandet und fremd.« Ich grinste ihn breit an. »Erzähl mir alles darüber.« Wir kauten – es war Nachmittag geworden – scharfen, geräucherten Fisch und mischten den harzigen Wein mit Wasser. Unter der Halbkugel aus pastellenem Blau sprangen Tümmler
aus den Wellen und umkreisten uns neugierig. Die Sonne schlug auf die Köpfe wie ein Beil. Ich rückte näher, in den Schatten des Segels. Lapitho’os erzählte, den Ruderriemen zum Steuern benutzend, eine wirre Geschichte. Da gab es einen gewissenlosen Königssohn, »einen von denen, die ihr Leben lang nichts arbeiten, mit den Sklavinnen schlafen und die Weiber verführen«, zusammen mit einer schlagkräftigen Ruderermannschaft, der die schöne Gattin eines Fürsten, »kein Stier, nur ein Ochse, der im Stall keine Ordnung mehr halten kann«, mitsamt dem halben Königsschatz entführt hat. Ich stellte meine Fragen; Menelaos, der Fürst, versammelte – ob wegen seiner Gattin oder des Goldes, wußte niemand – einen riesigen Haufen Krieger aus allen Teilen des Meeres »hier herum«, setzte sie in Schiffe und berannte seit neun Jahren die Burg des Königssohn-Vaters, der Priam oder ähnlich hieß. Pitos spuckte über Bord und schloß: »Poseidon hat mir viele Fische geschenkt, aber kein Weib. Womöglich stiehlt jemand mein Boot, um mit ihr zu fliehen, wie?« »Hast du wirklich kein Weib, Pitos?« Ich grinste und spuckte eine Gräte aus. Er grinste zurück und hängte seinen Fuß ins Wasser. »Nicht mehr. Als sie anfing, alt zu werden, kamen Aioler und haben sie geraubt. Sie werden an ihr wenig Freude haben: eine zänkische Harpyie.« »Wer seinen Acker gut bestellt hat, weiß dennoch nicht, was er erntet.« Ich lachte schallend. Knarrend bewegte sich das Ruder. »Wann sind wir in Sparta?« »Übermorgen. In der späten Nacht. Von deinem Gold kauf ich mir eine phrygische Sklavin. Wenn sie lästig wird, verkauf ich sie mit geringem Gewinn.« Er nickte mir zu: ich dachte mir mein Teil. Ich faltete den Mantel auseinander, legte mich wieder in den Bug und streck-
te mich aus, die Fersen auf Kerberos’ Rücken. Ich schlief bald und wachte erst auf, als wir Kytera anliefen. Dreißig Stunden danach setzte Pitos das Boot an einen Strand, an dem halb gekippte Boote lagen. Wir waren südlich von Sparta, nahe der Mündung des Eurotas. Ablandiger Wind schlug die Purpursäume des Mantels gegen die Arme und die Waden. Ich stand auf dem höchsten Punkt des Ufers. Das Boot des alten Fischers bewegte sich vom Strand Spartas weg; wir winkten lange. Mit den Silber- und Goldplättchen, die ich zum Fährlohn daraufgelegt hatte, konnte er sich drei Sklavinnen kaufen oder eine Sklavin und ein Boot. Wir hatten die Überfahrt nicht ohne Wein hinter uns gebracht; jetzt war auch mein Ziegenschlauch leer. Ich hob die Packen auf meine Schulter, erleichterte ihr Gewicht, indem ich die Antigravelemente einschaltete, belud die Hunde und ging gemütlich, etwa zwei Stunden lang, durch eine ruhige Landschaft in die Richtung der Stadt Vaphio. Mit einiger Mühe hatte ich den alten Fischer ausgefragt: Seit der Katastrophe vor siebenunddreißig Jahren hatte sich die Natur mehr erholt als viele Siedlungen. An vielen Stellen half fruchtbare Vulkanasche; sie düngte Gemüse, Obstbäume und Weinreben, die Oliven waren prall und voll Öl. Münzen waren unbekannt, man tauschte und besaß recht genaue Vorstellungen vom Wert des Metalls, obwohl »Phoiniker« oder »Kaufmann« Beleidigungen für jeden edlen Mann darstellten. Die Welt schied sich noch immer streng in Klassen. Könige und Adlige, die Land besaßen und über das Leben von Sklaven, Leibeigenen, Dienern, Frauen und Vasallen entschieden, und in eine nützliche, aber bedeutungslose Masse aus Kindern, Männern und Frauen, aus der einige Handwerker herausragten. Es gab keinen Herrscher über die vielen Inseln und Städte; Dutzende rivalisierender Fürsten schienen aber aus-
nahmsweise einig zu sein, daß Ilion vernichtet werden müsse. Die Bewohner Spartas, sagte der Fischer, waren ein Volk von seltsamer, erschreckender Härte. Sollte ich dem Alten mehr als die Hälfte glauben? Er hatte gesagt: »Geh nach Norden. Immer nach Norden. Dann kommst du zum Oikos, dem Haus des Menelaos. Wenn du sagst, du kommst aus Ilion, schneiden sie dir den Kopf ab.« Die Warnung war eindeutig. Kerberos blieb vor mir stehen und knurrte. Ich murmelte: »Kerberos. Ausnahmsweise nützliches Tier, das den Namen des Höllenhundes trägt. Berichte, was deine Robotlinsen gesehen haben.« Er machte einige Bewegungen, deren Bedeutung mir schnell klar wurde. Ich schnippte in Hades’ Richtung mit den Fingern und zischte: »Hades! Nachsehen!« Die Tiere stoben davon. Ich warf den Schild über die Schulter, zog zwei Pfeile aus dem Köcher und folgte den Hunden, nachdem ich die Packen flüchtig versteckt hatte. Wir kletterten einen steilen, von Felstrümmern übersäten Hang hinauf und folgten einer kaum sichtbaren Spur. Nach zweihundert Schritten standen die Tiere vor einem Höhleneingang. Ein alter Mann lehnte an einem Felsen; er hielt einen weißen Stab waagrecht vor sich und wollte die Tiere abwehren. »Deine Hunde, Fremder?« Seine Stimme war dünn, aber kräftig. Ich ging langsam näher und blieb betroffen stehen, als ich die würdevolle Haltung und das gutgeschnittene, gepflegte Gesicht sah. Ein Fingerschnippen rief die Hunde zurück. Ich lächelte. »Sie fanden deine Spur. Ich bin kein Räuber, alter Mann; ich wandere ruhig und ein wenig beschützt nach Sparta. Ich bin Atlantos.« »Du wirst leichter wandern, wenn du Brot und Oliven gegessen und Wein getrunken hast.« Er stützte sich auf den Stab
und deutete zur Höhle. »Zeus schützt die Wanderer, und Athena ist mit den Weisen. Komm näher.« Wir schüttelten einander die Handgelenke. Er starrte mich lange und in scharfer Prüfung an; seine scharfen Blicke waren nicht unangenehm, sein Daumen lag an meinem Handgelenk, unter dem Rand des Multifunktionsbandes. Er sagte leise: »Dein weißes Haar ist gefärbt. Gut gefärbt, aber ich sehe es. Größer als jeder andere und von weißen Hunden begleitet, von denen ich nie gehört oder gelesen habe. Die Pfeile sind golden, der Bogen riesig, die Farbe des Auges ungewöhnlich. Auf deinem Schild ist der Adler. Bist du ein Halbgott, Atlantos?« Ich setzte mich auf einen moosbedeckten Felsen und stöhnte. Ich war beeindruckt. »Ich wünschte, ich wär’s, Vater. Dann wüßte ich wohl mehr und etwas Besseres, als zu Fuß nach Sparta zu wandern. Aber ich komme von weither, wo Sitten, Männer und Waffen anders sein mögen als hier.« »Ich bin Kolchis: Sänger, Seher und Lehrer. Warte, Atlan.« Er brachte zwei tiefe Tonschalen mit glasierten und verzierten Außenseiten. Der Geruch harzigen Weins stieg in meine Nase. »Überdies bin ich aus dem Land Ilion; ein Umstand, der mein Leben hier in Vaphio bald verkürzt haben wird.« Ich trank den auffallend kalten Wein. Der Extrasinn sagte: Sparta und Ilion kämpfen gegeneinander. Ich murmelte, einem plötzlichen Einfall nachgebend: »Es scheint, Kolchis, daß du mich für einen Überirdischen hältst. Wäre ich Gott oder Halbgott, wüßte ich alles. Da ich aber kaum etwas weiß, werde ich dich fragen. Was weißt du?« Die Höhle war geräumig und verzweigt. Die wenigen Habseligkeiten des Alten glänzten vor Sauberkeit; ich sah Schreibleder und Shafadurollen in einem Flechtwerkgestell. Kolchis zog mich lächelnd tiefer in seinen Unterschlupf. Die Höhle
hatte drei Ausgänge; einer führte in ein halb trichterförmiges Theater aus Stein, voller Büsche, zwischen denen auf Grasbänken Ziegen weideten. In einem breiten Felsspalt rieselte das Wasser einer kleinen Quelle. Die Sonne brannte fast senkrecht herunter. Kolchis erwiderte mit wenig gebrochenem Selbstbewußtsein: »Ich weiß vieles.« Er betrachtete lächelnd meinen gefüllten Köcher und spiegelte sich in einem Teil der Schildzier. »Frage, Atlan.« Ich setzte mich, verscheuchte die Hunde und streckte die Beine. Kolchis betrachtete schweigend meine staubigen Stiefel. »Ich suche eine eiserne Kugel, etwa achtzig Ellen im Durchmesser. Sie muß vor langer Zeit vom göttlichen Himmel gefallen sein. Um diese Kugel finden zu können, muß ich ungefähr wissen, wo sie versteckt ist. Weißt du etwas?« »Ja«, sagte er halblaut. Ich starrte ihn an. »Sieh, Atlan!« Sein Lächeln war das eines alten Mannes, den nichts mehr erschüttern konnte. »Ich bin von Ilion und habe naturgemäß, um hier, abseits des stolzen Sparta, denken und lehren zu können, einen langen Weg hinter mich gebracht. Bis vor neun Jahren war es der Wille der Götter, mich in Sparta, nahe des Oikos von Menelaos, unterrichten zu lassen. Ich hatte viele Schüler, denen ich Schreiben und Lesen lehrte, die Leier zu schlagen und den Kosmos diesseits des Chaos zu verstehen. Dann kam Paris.« Der Extrasinn sagte: Der ziegenhütende Königssohn! Ich sprach weiter: »… er sah Helena, Menelaos’ Gattin, entbrannte in heißer Liebe und…« »Was verständlich ist.« Kolchis sprach mit unerwarteter Schärfe. »Da er ein Ziegenhirt war, überdies schön und blöde, ein stattlicher Königssohn. Neben dem Hüten meckernder Milch-
tiere zeichnete er sich durch gewisse Prügeleien mit jedermann aus. Er überfiel das Haus, schändete einige Mägde, was schlimmstenfalls den Mägden auffiel, stahl die Frau und den Schatz und floh. Danach kämpfen alle Griechen vor Ilion. Die Schiffe, die nach Sparta zurückkommen, bringen nur Krüppel, Kranke und geringe Beute. Da ich von Ilion bin, haßt man mich. Die wenigen Schüler, die mir aus dem Hafenstädtchen Brot und Wein bringen, wagen sich nur für eine Nacht her.« »Die Eisenkugel…« »Ich habe viele Schüler gehabt und sie viel gelehrt. Einige kamen aus der Ebene von Mesara, auf Kreta. Obwohl alle Kreter selten die reine Wahrheit sprechen, glaube ich ihnen. Sie berichteten von einer Kugel, die in einer Erdspalte langsam versunken ist. Nie wieder hörte ich etwas davon. Vor einem Mond besuchte mich ein Kreter; ich fragte ihn, und er berichtete vom Zorn des Poseidon, der an der Insel rüttelte und das Land erbeben ließ. Sand und Steine fielen von der Kugel, und wenn du offenen Auges die Ebene von Mesara durchquerst, wirst du sie finden.« »Weißt du, Vater, woher diese Kugel kam?« Er sah mich mißtrauisch an und antwortete: »Zeus tut Dinge, als Gott selbst der Moira gehorchend, die wir Sterblichen nicht verstehen können. Im Zorn wird er sie nach einem Ungehorsamen geworfen haben.« »Das wird es gewesen sein«, sagte ich. »Alle Fürsten mit ihrem Gefolge kämpfen also unerbittlich vor Ilion?« »So ist es. Nicht ununterbrochen, aber seit vollen neun Jahren.« »Wegen Helena oder dem Schatz?« »Wegen der Ehre. Und wegen hundert anderen Dingen.« Er goß aus dem triefenden Ziegenschlauch, der im Quellwasser gelegen hatte, Wein in die Schalen. Ich wußte noch nicht, ob der weißhaarige, weißbärtige Mann ein zutiefst Gläubiger o-
der ein Kyniker war. Seine Rede ließ beide Möglichkeiten zu. »Nicht wegen des Schatzes. Wenn Menelaos Gold braucht, raubt er sich welches. Ilions Schatzkammer ist gefüllt, sie birst vor Gold.« Ich beschloß zu warten und zu lernen, lehnte mich gegen den zerklüfteten Stamm des Ölbaums und umfaßte mein Knie. Ich bat zögernd: »Ich würde deine Gastfreundschaft, Vater Kolchis, gern ein paar Tage lang ausnutzen. Ich werde dich fragen, du wirst antworten, und wir sprechen über die Dinge zwischen Himmel und Erde, die ich als Fremder beachten muß, und ich berichte von erstaunlichen Dingen aus meiner Welt. Darf ich dich darum bitten?« »Bleibe, frage und sprich, Atlan.« Er nickte. »Wir werden beide viel Nutzen davon haben.« »Meine Hunde passen auf, daß weder der Weise aus Ilion noch ich gestört werden. Meine Vorräte reichen für zehn Männer. Käme jemand aus Vaphio oder Sparta, um dich zu belästigen, sehen wir ihn Stunden vorher. Und dann vertreib’ ich ihn ganz einfach mit goldenen Pfeilen.« »Gott Kronos läßt die Stunden rasen. Fang an, Atlan.« Zwei Stunden später hatten wir uns eingerichtet. Gepäck und Waffen waren in der trockenen, kühlen Höhle verstaut. Kolchis sah zu, half und sagte kopfschüttelnd: »Nun weiß ich’s, Atlan. Du bist ein Halbgott. Athenas Weisheit ist in dir, die Macht des Zeus und die List des Hermes. Odysseus mag reich an Listigkeiten sein, aber du kommst aus der Welt zwischen uns und den ewigen Göttern.« »Es wird Zeit genug sein, herauszufinden, woher ich komme, und wohin ich gehen muß, alter Kolchis…« Die Stadt Ilion und das Land, in dessen Mitte sie lag, war reich und beneidet; beides seit langer Zeit. Die Gründe erkannten Kolchis und ich ohne langes Nachdenken: Aus den Kopien
zerfallener Karten aus den Jahren des Infernos, deren Informationen, aus Kolchis’ Wissen, das von vielen Schülern seit langer Zeit zusammengetragen worden war, aus neuen Karten und den Bildern der Sonden erhellte sich ein weitaus größeres, schärferes Gesamtbild. Es hatte sich an der Bedeutung Ilions nichts geändert, seit ich mit Ptah und Charis in diesen Gewässern gesegelt war. Einst hatte man auch Ilion und die Troas, das Umland, als »Atlantis« bezeichnet. Ilion beherrschte schon damals die Meerenge, die wegen tückischer Strömungen weder für gesegelte noch geruderte Schiffe ohne Hilfe, Lotsen und Ruderer oder Gespanne auf den Treidelpfaden zu überwinden war. Flußmündungen und umgeleitete Teile des Laufes, mehrere Dämme, Kanäle und künstliche Häfen, eine wuchtig ummauerte Unterstadt für Seefahrer und Händler: Frischwasser, Proviant, Reparaturen, Lotsen, Sklavenhandel, Zölle für die enge Durchfahrt, die mit ein paar bronzenen Ketten zu sperren wäre. Zölle an den Handelsstraßen, die nahe Ilion zusammenliefen; möglicherweise seit Jahrhunderten! Das Land, vom dicken Schlick der Stronghyle-Flutwelle gedüngt, war überraschend fruchtbar. Jetzt, überflutet von Griechen und Schiffen, mehr als fünfhundert, war das Fruchtland überall dort, wo gekämpft wurde, zerstört. Aber Ilion, von rund 10.000 Menschen bewohnt, war noch nicht gefallen. Ich wies Rico an, Ilion zu beobachten und wichtige Informationen zu sammeln, die ich mit meiner Erinnerung von vor dreieinhalb Jahrzehnten vergleichen konnte. Ich rollte die Karte zusammen, hob den Kopf und sagte: »Tausend Worte, o Freund der Wissenschaft, haben tausend Fragen beantwortet, die du und ich hatten. Auch ohne Paris und Helena hätten die Fürsten, die sonst eifersüchtig gegeneinander kämpfen, sich gegen Ilion verbündet.« »Und auch meine Zweifel, ob du halb göttlich bist, sind zerstoben wie Herdasche im Sturm«, sagte Kolchis. »Obwohl vie-
les, was du tust, göttlich zu sein scheint, bist du ein Mensch. Ein Mann aus einem anderen Land, einer anderen Zeit, mit anderen Göttern; Atlantos aus dem goldenen Zeitalter.« Ich legte die Hand auf seine Schulter und brummte: »Nun: Die Nacht steht bevor, und gut ist’s, der Nacht sich zu fügen. Vieles, Freund der Athena, was golden scheint, ist nicht einmal grünspaniges Kupfer.« Wir streckten uns aufweichen Decken und Mänteln aus, lauschten den leise jagenden Eulen und dachten an eiserne Kugeln, mit denen Zeus nach Unbotmäßigen warf. Vielleicht stimmte es sogar, und ich dachte an Ne-Tefnacht und Charis.
16. Hades, der die Höhle sicherte, riß an meinem Mantel, weckte mich, ich zog meinen Schild heraus und berührte einige Punkte; am Schildrand erhellte sich eine runde Fläche. Das Infrarotbild zeigte die Aufnahmen aus Kerberos’ Linsen. Ich stand auf und stöberte in meinem Gepäck. Nahe der schwarzroten Glut regte sich der Seher und warf einige dürre Zweige hinein. »Kolchis. Fünf Reiter mit Fackeln kommen aus der Richtung von Sparta. Sie sehen nicht so aus, als würden sie dich zu größeren Ehrungen abholen.« Kolchis bewahrte Würde, richtete sich auf und warf einen Blick auf meine Waffen. Er sagte niedergeschlagen: »Ich habe es seit langem kommen sehen. Entweder töten sie mich, oder sie pressen mich in ihr Heer.« »Noch ist Zeit. Ich habe dir meine Hilfe versprochen. Willst du, daß ich dir helfe?« Er sah mich einige Augenblicke lang schweigend an, die Arme vor der eingefallenen Brust gekreuzt, dann nickte er. »Erschrick nicht, Kolchis.«
Ich schnallte das Antigravtriebwerk um, befestigte die goldverzierten Beinschienen über den Stiefeln, setzte den Helm auf, der den Kopf bis zu den Schultern bedeckte, ließ mir helfen, beide Teile des Panzers umzuschnallen, und hängte einen Köcher um. Ich verließ die Höhle, bewegte mich im Schatten den Hang abwärts und sah, daß Kolchis mir folgte, sich mit dem Stab abstützte und wieder dreinblickte, als habe er Zeus gesehen oder wenigstens Ares. Er rief: »Ich kann schon die Pferde hören!« Die Straße, nicht besser als eine doppelte Spur breiter Felgen, voller Fußspuren, kleinen Pfützen und Pferdemist, schlängelte sich ins Dunkel. Ich blieb stehen, schaltete den Antigrav zwanzig Ellen über dem Boden ein und legte einen Pfeil auf die Sehne. Schräg unter mir stand Kolchis im schwarzen Mondlicht; er krächzte: »Sie holen mich, Atlan!« Er fürchtete sich vor seinem Schicksal mehr als vor mir, der ich über ihm schwebte. Für ihn hatte ich endgültig die Grenzen des Irdischen abgestreift: ein Halbgott. Ich verstand sein Murmeln: »Sie haben einen meiner letzten Schüler gegriffen und verhört. Sonst wüßte niemand, wo ich mich verstecke.« Er sprach, als versuche er, für sich eine Erklärung zu finden. Jetzt wurde der Hufschlag lauter, und im Mondlicht unterschied ich fünf Reiter auf schwarzen Pferden. Auch die Mäntel, die ledernen, eisenbeschlagenen Schilde und die Helme waren schwarz. Die Tiere hatten Schaum vor den Mäulern. Als die Reiter den alten Seher erblickten, rissen sie die Pferde hart auf der Hinterhand zurück. Kolchis sagte ruhig: »Ich bin Kolchis. Ihr sucht mich?« Der Anführer schwang sich vom Pferderücken und ging auf Kolchis zu; ein breitschultriger Mann mit schwarzem Bart. Der Helm hing am Kinnband im Nacken. Der Reiter zog ein kurzes
Schwert. »Wir suchen den verräterischen Mann aus Ilion, der unsere Jugend verdirbt!« rief er. Kolchis, der zu Tode erschrocken war, ging ihm würdevoll entgegen. Er sagte: »Ich stehe unter Pallas Athenas Schutz. Ihr wagt nicht, mich anzurühren!« »Die Eulengöttin schläft heut’ nacht. Wir wagen noch mehr, alter Mann.« Der Anführer lachte übertrieben laut, als sei ihm nicht wohl. Er blieb vor Kolchis stehen und knurrte: »Wir bringen dich nach Sparta, stellen dich vors Gericht und steinigen dich. Würdest du dich wehren, sparen wir dir den Fußmarsch.« Er packte ihn am Arm. Kolchis ging mit, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich steckte eine kleine Leuchteinheit an den Schildrand, schob den rechten Unterarm durch die Haltegriffe und schaltete die Lampe ein. In dem Augenblick, als der Anführer Kolchis’ Handgelenke mit einer Lederschnur zusammenband, schrie ich: »Halt, Spartaner!« Hoch über der Straße funkelte mein Goldzierat. Ich bewegte den Schild, die Lichtstrahlen blendeten Tiere und Männer. Überraschend schnell wirbelte Kolchis herum, die Krieger starrten mich an, die wiehernden und auskeilenden Tiere mühsam zügelnd. Ich rief: »Kolchis von Ilion steht unter dem Schutz der Götter. Er lehrt die Jünglinge, wie man schreibt; ihr aber schickt sie in tödliche Kämpfe. Wer verdirbt also mehr? Reitet zurück! Sehe ich, daß jemand an Kolchis Hand anlegt, töte ich mit göttlichen Pfeilen!« »Wer bist du?« Der Anführer machte sich schreiend Mut. »Keiner von euch!« »Du bist kein Gott!« Er riß einen Speer aus der Halterung am Bauchgurt des Pferdes. Kolchis wickelte die Fessel von seinem Handgelenk und trat langsam vom Pfad zurück. Ich rief war-
nend: »Wage nicht, mich anzugreifen!« Der Anführer wirbelte den Speer über dem Kopf und bog sich ausholend weit nach hinten. Ich wartete, bis sich seine Armmuskeln spannten, zog die Sehne aus und schoß. Der Pfeil mit der Goldspitze traf den Brustpanzer, durchbohrte ihn und fuhr aus der Achselhöhle hervor. Ein markerschütternder Schrei gellte, der Speer flog summend ins Dunkel; der zweite Pfeil explodierte mit weißen Blitzen und gelbem Rauch zwischen den Reitern. Brüllend schwang sich der Anführer auf den Pferderücken, riß das Tier herum und schrie: »Gegen Götter kämpfe ich nicht!« »Zurück nach Sparta!« rief ich ihnen hinterher. »Seid sicher: Den nächsten, der sich hierher wagt, schicke ich gen Hades.« Als ich neben Kolchis den Hang hinaufstieg, verhallte das Hufgeräusch hinter der Biegung des Pfades. Ich packte langsam die Teile der Rüstung nach, füllte Brennöl in die Lampe und trank zwei Becher kaltes Quellwasser; der Mond schob sich vor den Höhleneingang. Fünf Stunden später begann der neue Tag. Ein Olivenast mit einigen Blättern, die Lanzenspitzen glichen, bildete einen schwarzen Schattenriß vor der vagen Helligkeit außerhalb der Höhle. Der Tag begann. Eine merkwürdige Zeit, sagte ich mir, als ich mich neben der Quelle in eiskaltem Wasser wusch, in der Seher, Weise und Arkoniden in Höhlen hausen mußten. Kolchis rieb sich die Augen. »Was willst du nun tun, Atlan Toxotes, nachdem du mein hinfälliges Leben gerettet hast?« »Ich hole meinen Himmelswagen, dann such’ ich die Kugel des Zeus, und was ich dabei entbehren kann, verstecke ich hier.« Im Spiegel sah ich, daß die Färbung meines Haares ausblich; auf Kolchis’ Rat würde ich es nicht mehr nachfärben. Er sagte
undeutlich, vom Feuer her, wo das Wasser für den Sud zu kochen begann: »Viele versprechen Berge und machen Maulwurfshügel. Du solltest einen Rat von mir hören.« Ich verpackte Teile meiner Rüstung und senkte den Ledersack in das Loch im Sand. »Ich erbitte deinen Rat, Seher.« »Mein Schüler erzählte: Es waren vierzig Männer, die sich von Kreta nach Ilion einschifften. Sie kamen von Mesara; ungeschickt im Waffengebrauch und der Sprache wenig mächtig. Werden sie getötet, begräbt man sie nahe Ilion, nur als Verwundete kommen sie nach Sparta. Suche also zuerst die Kugel, geh dann nach Vaphio und Sparta – aber nicht als goldener Halbgott –, sieh dann selbst den Kampf vor Ilions hochragenden Mauern. Warum ich dies weiß, weiß ich nicht. Aber ich bin, wie du weißt, der Seher der Athena.« Er lächelte entschuldigend und streute trockene Kräuter ins Wasser. Ich prüfte meine Ausrüstung: Was ich brauchte, trug ich am Körper, oder es war griffbereit. Die medizinische Ausrüstung füllte einen Ledersack, im Gleiter befand sich der Rest. Ich betätigte die Fernsteuerung im breiten Bronzearmband und drückte einige Schalter, dann schnitt ich Scheiben vom Braten und setzte mich zu Kolchis. »Ein Tag, der mit Hunger beginnt, ist für Menschen und Götter verloren«, sagte ich. »Tu mehr Honig in die Brühe, denn ich hab’s nicht gern bitter.« Der Gleiter würde zwei Stunden brauchen, bis er, der Peilung folgend, vor der Höhle schwebte. Ich deutete nach Norden und fragte: »Warum nach Sparta, Kolchis?« »Die Mesara-Männer gingen nach Ilion. Bald werden viele verwundet sein; also kommen sie nach Sparta, wie ich gesagt habe. Einige, sagte ein anderer Schüler, wohnten auch im Oikos des Menelaos. In Sparta triffst du einen der ihren, der dir
vor Schmerzen die Wahrheit sagt. Denn, wie ich wiederum von dir weiß, verstehst du dich auf das Heilen vieler Wunden. Darum sei, in Sparta, Atlan Iatros, nicht Atlan Toxotes.« Atlan, der Arzt, nicht der Bogenschütze, sagte der Logiksektor. Ich brummte: »Arzt. Nun gut. Auch für diesen Rat sei bedankt. Ich glaube, das Sternenschiff sehnt sich nicht danach, bald von mir entdeckt zu werden.« Der Gleiter schwebte im beginnenden Abend von Westen auf die kretische Ebene zu. Links an der Bucht von Mesara schienen die Säulen des Tempels zu lodern. Alle Suchgeräte des Gleiters waren eingeschaltet, zwei Sonden hingen vor mir in der Luft. Wenn die vierzig Männer – also waren die Raumfahrer mir und den Barbaren ähnlich – zuerst auf der MesaraEbene gesehen worden waren, konnte ihr Schiff nicht allzu weit sein. Der Gleiter drehte nach Südost; ich überflog die Bucht, kein Instrument schlug aus. Phaistos tauchte auf, eine wenig bevölkerte Siedlung, ebenso von der Vergangenheit gezeichnet wie Teile des Palasts. Ich flog weiter, bis ich den ersten verwitterten Erdspalt entdeckte. Der kleine Bildschirm blinkte, erstellte ein Bild: Rico hob grüßend die Hand und sagte: »O bogenschießender Arzt Atlantos. Zwei Sonden kreisen befehlsgemäß um den Burgberg der stolzen Feste. Die Bilder werden dich weniger faszinieren als folgende Messung: Stark gedämpft durch Fels und Mauerwerk, tief in einem Bauwerk, strahlt eine Störquelle. Es brach das Deflektorfeld der Sonde zusammen. Ich veranlasse Messungen mit einem empfindlicheren Instrument aus größerer Entfernung; etwa zweitausend Schritte ist der Durchmesser der Störzone. Was es ist, wissen wir in einigen Tagen – aber dort ist etwas!« »Auch dir, du Geschöpf des Feinschmieds, gebührt Dank.« Ich grinste in mich hinein. Ricos Sonden hatten die nächtelan-
gen Unterhaltungen in Kolchis Höhle übertragen. »Forsche also weiter. Ich suche, was deinen Linsen entging, nach dem Schiff der Sterne.« »Möge dir Erfolg beschieden sein.« Er schaltete ab. Ich flog, unsichtbar im Schutz des Deflektorfeldes, eine frische Erdspalte entlang, die ihr Entstehen einem Beben verdankte, das auch Häuser und Teile des Palasts beschädigt hatte. Ich verringerte die Geschwindigkeit, ging tiefer und beobachtete jeden der wachsenden Schatten. Ich suchte erfolglos bis zur Dunkelheit, suchte einen einsamen Platz und schlief im Schutz der großen Robothunde. Morgenlicht traf die Hänge des Berges Ida. Der Bergzug schob sich, von der Mesara-Ebene und von Maratos ansteigend, in nord-südlicher Richtung, mehrmals gefaltet, mit hunderten kleiner und großer Täler. Wenn nicht der Zufall half, konnte ich länger als einen Mond suchen. Kolchis’ Auskünfte, die nicht objektiv wahr sein mußten, hatten das Suchgebiet verkleinert. Ich suchte mit dem bloßen Auge, mit dem Feldstecher, den Bordgeräten und den Metalldetektoren. Gruppen kleiner Häuser, arbeitende Bauern, Hirten, Weinberge und Schafherden – nicht alle Teile der Insel schienen gleichermaßen unter den Folgen der Katastrophe zu leiden. Viele Häuser zerfielen und verwilderten – ich fand auch nach achtzehn Stunden Suche nichts. Am folgenden Tag schwebte ich stundenlang über Taleinschnitten, suchte länger als drei Tage, bis meine Augen schmerzten und das salzige Sekret aus den Drüsen tropfte. Ich blickte in den Spiegel: ich sah weder wie ein Halbgott aus noch wie ein Arkonide, der dreieinhalb Jahrzehnte Zeit zum Schlafen gehabt hatte. Der Extrasinn flüsterte eindringlich: Nicht aufgeben! Such weiter, Arkonide. Ein leeres Raumschiff – welch eine Aussicht auf Rettung! Am Nachmittag des fünften Tages entdeckte ich, am Ende einer Feldspalte, die an beiden
Seiten mit jungen Ölbäumen bestanden war, eine annähernd runde Fläche und hielt den Gleiter an. Ich sah mich um, kontrollierte die Instrumente und sah, daß der Masseanzeiger auf Maximum stand. Selbst der Magnetkompaß zeigte, daß ich dem Fund nahe war; die Nadel zuckte hin und her. Ich berechnete die Stelle zwischen den Schwankungsmaxima, steuerte den Gleiter in diese Richtung und schob mich zwischen den zurückschnellenden Ästen der Bäume hindurch. Im grellen Licht sah ich die überwucherte Fläche deutlicher; ein Krater, wie eine Trinkschale geformt. Meine Handflächen waren schweißnaß. Ich wischte sie an den Knien ab und starrte auf die Ränder eines flachen Kraters, in dessen Mitte sich Erdreich zu einer runden, bewachsenen Fläche angehäuft hatte. Wuchernde Pflanzen bedeckten die Rundung des Schiffes so vollständig, daß ich das Schiff nicht hätte sehen können, wenn ich nicht zufällig aus diesem Winkel angeflogen wäre. Ricos Suchsonden waren vermutlich mehrmals darübergeflogen. Die Reste niedergebrochener Bäume füllten den Rest der Vertiefung, auf dem modernden Holz wucherten unzählige Schmarotzerpflanzen; ein Stück war freigeschüttelt worden und zeigte die stumpfsilberne Hülle des Schiffes und ein schwarzes Loch neben einer Felsplatte. Ich landete den Gleiter einen Steinwurf abseits unter einer Zeder. »Endlich!« murmelte ich. Die mögliche Rettung stand hier, dreißig Schritte vor und unter mir. Die Hunde sprangen aus dem Gleiter, blieben ruhig, ihre Linsen schimmerten. Ich stieg langsam aus, zog die Desintegratorwaffe und den breiten Dolch, und ging zum Krater. Als ich mich auf das Geröll legte und in den Erdspalt hineinsah, den Scheinwerfer einschaltete und den moderigen Geruch atmete, sah ich, etwa fünfzig Schritt unter mir, den Boden. Ich holte das Antigravelement und ließ mich und Kerberos langsam herunter, vorbei an Fels
und herunterprasselndem Erdreich. Ich stand zwischen zwei Landestützen, die Krümmung der Zelle stieg über mir an. Überall lagen Schutt und Geröll. Ich glaubte, den Typ des Schiffes zu kennen; es schien ein fernflugtaugliches Beiboot zu sein. Der Logiksektor sagte schroff: Verschaff dir Eintritt. Noch bist du nicht im Schiff! Ich starrte das versenkte Schloß einer Luke an, wahrscheinlich der Schleuse, deren Außenplatte als Rampe auswärts klappte. Ein einfacher Drehhebel mit mehreren Sperren und einem positronischen Schloß. Ich nickte zufrieden: Ich hatte mich gut darauf vorbereitet und holte das Werkzeug aus dem Gleiter. Eine halbe Stunde später hörte ich das schnarrende Summen, mit dem die Positronik die Sperren löste. Ich bewegte sie und drehte den Hebel einmal herum. Ich ging zur Seite, strahlte die Schleuse an und zog den Dolch. Langsam öffnete sich die Schleuse: eine Fläche von etwa sechzig Quadratellen Größe. Ich sah Teile des Schließmechanismus dicht an mir vorbeigleiten und fühlte kalte, abgestandene Luft. Ich sagte leise: »Hinein!« Ich suchte Schaltelemente und fand den Kontakt für die Beleuchtung. Die Anlagen befanden sich, wie ich erwartet hatte, in der Position für ein gleichgroßes Wesen. Ein Korridor lag vor mir; ich fühlte, daß ich vor Aufregung zitterte. Die Anzeigen einer Liftröhre leuchteten nicht; offensichtlich waren die meisten Anlagen des Schiffes energetisch tot. Ich lauschte – kein Ton, kein Geräusch, keine Bewegung. Zweifellos war das Schiff leer, und ich schickte Kerberos vor. Mich hatte mißtrauisch gemacht, daß die Schleuse so leicht zu öffnen gewesen war. Der Hund kletterte die Wendeltreppe hinauf, ich folgte. Niemand schien damit gerechnet zu haben, daß das Schiff entdeckt wurde, und daß einer der Barbaren eine positronische Sperre beseitigen konnte. Meine Schritte wurden schneller. Ich stieß einige Schotte auf, und plötzlich war ich in der
Steuerkabine, einem runden Raum unmittelbar unter der oberen Polwandung. Durch einige Scheiben sah ich zusammengepreßtes Erdreich voller weißer Wurzeln. Seit neun Jahren verlassen? Ich sah mich weiter um, kehrte wieder in die Kabine zurück: es war der einzige Kontrollraum, von dem aus sämtliche Funktionen gesteuert wurden. Konnte ich dieses Schiff starten und fliegen? fragte ich mich und dachte, grinsend und schweigend, an die symbolhaft gewordene Arkonflotte. Ich schob den Strahler in die Dolchscheide, wischte Staub von einigen Pulten und sah die Kontrollen durch. Ich paßte in die Sessel, als sei es ein arkonidisches Schiff. Ich bemühte mein Gedächtnis und versuchte systematisch, alle Schaltungen durchzuprüfen, die das Schiff starten sollten. Eine Stunde später lehnte ich mich zurück, blickte meine schmutzigen Finger an und zuckte mit den Achseln. Alle Anzeigen standen auf Nullwert, nichts hatte sich gerührt. Der Logiksektor sagte: Ein wenig gesichertes Schiff, Arkonide – man hat eine zusätzliche Sicherung eingebaut oder kleine, wichtige Bauteile entfernt. Such! Ich knurrte: »Das ergibt Sinn. Wahrscheinlich hätte ich nicht viel anders gehandelt – vor neun Jahren.« Nach mehr als sechs Stunden schweißtreibender Suche fand ich die Stelle, an der ein Bauteil fehlte, etwa dreihundert Kubikfingerbreit groß, eines von drei Segmenten, die zwischen der Befehlstastatur und den Leitungssteuerungen zu den Maschinen eingesetzt gewesen waren. Ich musterte im grellen Handscheinwerferlicht das Nachbarbauteil: ein plattenförmiges Teil, mit unzähligen Steckanschlüssen, zehn zu zehn zu zwei Fingerbreit, an drei Seiten platinüberzogen. Ohne dieses Bauteil würde das Schiff rollen, aber nicht fliegen; ich fiel erschöpft in den Kommandosessel zurück. Kerberos stand regungslos im Schottrahmen und bewachte mich. Ich war niedergeschlagen: Enttäuschung und Wut suchten mich heim.
Die Fremden hatten das Schiff abgestellt, das Segment mitgenommen und waren weggegangen. Ich hatte verloren! »Dagorverinnerlichung, Raumschiffkapitän und Hochenergieingenieur; Toxotes und Kosmonaut Atlan!« sagte ich laut. »Denkansätze! Lösungsmöglichkeiten?« Ich war nach einer Stunde weiterer Suche und tiefen Nachdenkens sicher, daß die Anlagen des Schutzzylinders weder dieses Bauteil nachbauen noch ein anderes mit gleicher oder ähnlicher Funktion herstellen konnten; diese Gedanken hatte ich in qualvoller Einsamkeit schon viel zu oft gedacht. Was konnte ich also tun? Im Pult lief als einzig Bewegtes ein Chronometer mit zehn Zahlenfeldern. Nur die beiden letzten wechselten in Herzschlaggeschwindigkeit. Zweifellos zeigte die gesamte Ziffernfolge das Datum der Landung oder des beabsichtigten Starts an. Trotz meiner schwarzen Gedanken grinste ich: Irgendwann kamen die Fremden, steckten das Teil ein, schlossen das Pult und starteten – ohne mich. Ich zog zwei Spezialwerkzeuge aus dem Fach im Sockel des Astrogators und suchte, bis ich das Steuerwerk fand, welches das semimechanische, von positronischen Bauteilen gefüllte Rechenwerk ausmontiert hatte. Selbst mit dem Steuersegment und der Hilfe aller Besatzungsmitglieder konnte das Schiff jetzt nicht mehr starten. Beide Bauelemente waren die wichtigsten in den Pulten des Steuerraums; jetzt hatte ich das Steuersegment. Ich steckte das eineinhalb Fäuste große, fast halbkugelförmige Element in einen Lederbeutel und verschloß das Pult, räumte das Werkzeug weg und beseitigte, bis auf die entstaubten Flächen, meine Spuren. Ich verließ das Schiff, verschloß die Schleuse, packte Kerberos und schwebte durch den Spalt. Mein nächstes Ziel stand fest: ein Teil des Palastes von Phaistos. Der Seher Kolchis und meine Berichte deckten sich in mehr als
einem Punkt: Wir hatten beide das Drama erlebt und überlebt. Der Palast war, wie so viele andere Großbauten, zusammengebrochen und nur an wenigen Stellen wieder halbherzig aufgebaut worden. Ich landete neben mächtigen Fundamentmauern aus gelblich weißem Stein. Zerschmetterte Lustrophoren, große, spindelförmige Wasserkrüge, lagen zwischen Steinplatten und Schutt. Gras wuchs auf Quadern, die noch Bearbeitungsspuren trugen. Ich ging zu einem Tempelchen, das aus Steinen der Ruine zusammengebaut worden war. Hinter dem Heiligtum stand eine Wand dunkelgrüner Nadelbäume. Darüber spannte sich der tiefblaue Himmel des frühen Abends, vor dem Berg Ida, auf dessen Nordseite noch kümmerliche Schneereste lagen. Ich hielt den Rechenkopf in der Hand, auf der Oberfläche mattblau, mit Tausenden winziger Kontakte. Über ausgetretene Stufen, Sand und Kiesel, entlang betäubend riechender Blüten, stieg ich zum Tempelchen. Sechs Steinsäulen, hölzernes Fachwerk und der Altar des Apollon Parnopios, »der die Heuschrecken abwehrt«, bildeten ein unversehrtes Bauwerk. An den Seiten des Marmorblocks standen je ein Dinos, ein henkelloser Kessel, auf dem Gesims eines Steinfußes. Auch die Figur des Apoll war aus Stein, trug aber Bronzewaffen. Ich vergewisserte mich, daß mir niemand zusah, suchte nach einem Versteck und fand schließlich einen wenig zerbrochenen Glockenkrater aus Ton, schaufelte mit beiden Händen Sand hinein und bedeckte den Rechenkopf, den ich mehrmals in Folie eingewickelt und mit Klebeband versiegelt hatte. Das schwere Gefäß trug ich hinter den Altar des Gottes, hob einen kleinen Strauch aus dem Boden und pflanzte ihn in den Krater ein. Ich versenkte alles in das Loch, häufte Erde und Steine um die Wurzeln und trat prüfend einige Schritte zurück. Ich war mit dem Versteck an der heiligen Stelle zufrieden. Die Landschaft strahlte tiefen Frieden aus. Ich setzte mich in
den offenen Gleiter, winkte zu Ricos Sonde, wischte Schweiß aus dem Nacken und unter den Armen und nahm einige Schlucke kalten Kräutersud. Ruhig glitten meine Blicke über die Umgebung; ich prägte mir jede Einzelheit ein. Ich war sicher, daß mich eine harte Zeit erwartete, denn es gab keine einfache Möglichkeit, das Steuersegment an mich zu bringen. Ich rechnete in der heißen Stille des Nachmittags, in der selbst Fliegen und Bienen wie gelähmt waren, mit Zufällen und Seltsamkeiten, wie sie nur auf der Barbarenwelt stattfinden konnten. Meine Gedanken, mühsam beruhigt in den Wirbeln der Verzweiflung, der Wut und der Hoffnungslosigkeit, verschwammen; ich ging durch die Trümmer des Palasts, meine Schritte warfen klingelnde Scherben auf; kleine grüne Eidechsen flüchteten vor den Tritten. Ich winkte Hades und Kerberos in den Gleiter, startete das Gefährt und zog, unsichtbar, eine Runde über dem Tempel und der Ruine, die noch jetzt ebenso beeindruckend war wie das weitaus weniger versehrte Kunusa-Gnos-Knossos, und ließ den Gleiter hochsteigen. Ich flog über die Ebene von Mesara, das furchtbare Land um Phaistos und hinter Maratos zum Meer. Kolchis würde sich freuen, mich zu sehen, und vielleicht freute er sich auch über das, was ich ihm erzählen konnte. In Sparta und der Landschaft Lakonien sprach man ein von anderen Dialekten durchsetztes, wenig klangvolles Dorisch. Vaphio breitete sich an der Bucht abseits des Flusses zwischen dem Golf und der Stadt Neapolis aus. Der Fluß Eurotas war, zusammen mit der Bucht, eine gute Voraussetzung für einen kleinen, eckig gebauten Hafen. Ich kam, als Arzt verkleidet, aus dem Westen und hatte bei einem Bauern zwei tüchtige Pferde eingetauscht, die ich zu brauchbaren Reittieren machen würde; bisher waren sie nur gestriegelt und gut genährt. Die
beste Zeit, eine Stadt zu betreten, war die Dämmerung des sinkenden Abends. Am Tor des Erdwalls, der mit Faschinen und Palisaden verstärkt war, hielten mich drei bewaffnete alte Männer auf: die jüngeren Männer berannten alle die ferne Stadt. »Woher?« Ein Bewaffneter musterte Pferde, Hunde und Gepäck. »Aus Messenien.« »Wer bist du?« »Atlan Iatros, der Wundarzt.« Drei Augenpaare hefteten sich mißtrauisch auf mich. Ich war kein Spartaner: das grauweiß gesträhnte Haar und besonders die Körpergröße fielen auf. »Was suchst du hier?« »Ein Schiff, das mich nach Ilion bringt. Dort, hörte ich, sind viele Wunden zu versorgen.« »Das bekommst du schneller, als du denkst.« Ein Mann lachte roh. »Wo wirst du wohnen?« »Beim Wirt Eufronoisos.« »Du kennst Podaleirios und Machaon?« Der andere hatte, während er überlegte, sich heftig unter der Achsel gekratzt. Ich grinste, zeigte meine Handflächen und den großen Schlangenring und sagte: »Wisse, Wächter des Walles: Diese beiden Männer und ich kommen aus ein und derselben Schule der Heilkunst. Sie ließen mich rufen.« Eufronoios führte eine Schenke in Hafennähe. »Es stinkt nach Fisch und Erdpech, aber der Wein ist gut und billig, wie seine Mägde«, hatte Kolchis gesagt. Die beiden Namen gehörten den bekanntesten Ärzten des Landes: von Kolchis wußte ich, daß sie vor Ilion die Knochen der Achaier schienten. Der Wächter sagte knarrend: »Du kannst herein. Wenn das Schiff von Ilion kommt, wird
man dich rufen. Verlaß die Stadt nicht, Fremder.« »Ich hab’s nicht vor. Wächter.« Eine Stadt nahm mich auf, eine merkwürdige Mischung aus Ordnung und Sauberkeit und unübersichtlicher Bauweise. Schmale, leere Gassen führten sternförmig hinunter zum Hafen mit einfachen Ladebäumen und einem Feuer in einer Steinschale; vor dem Regen schützte ein Bronzedach. Ich sah wenig junge Männer, nur alte, hinkende Sklaven, Mädchen und Frauen, die, auffallend genug, das Ginekeion verlassen hatten, den Raum, in dem sie sich sonst aufhielten. Knaben rannten umher, Amphoren auf den Schultern. Aus den Innenhöfen der Häuser leuchteten Feuer auf die gepflasterte, grasbewachsene Straße. Ein Schaf und kreischende kleine Schweine flüchteten vor mir, als ich mich dem Hafen näherte. Die Schenke war nicht zu verfehlen. Ich band die Pferde an die Stange, stieg auf die erhöhte Schwelle und sah mich einem scharfgesichtigen kleinen Mann gegenüber, der eine leuchtendrote Mütze trug, den runden Zipfel nach vorn geklappt. Er kratzte sich hingebungsvoll im Nacken, und sein Blick aus kleinen dunklen Augen ließ mich nicht los. Schließlich sagte er mit verblüffender Bestimmtheit: »Du kommst von Kolchis. Die besten Zimmer sind bereit, Iatros. Halbgötter nächtigen gern bei mir. Ich hab’ ein paar wohlerzogene Barbarenmädchen; überdies hat dich der Weg erschöpft. Tritt ein, Atlantos. Dein Gepäck bringen die Sklaven.« »Um mein Gepäck kümmere ich mich selbst.« Zwei Goldscheiben wechselten den Besitzer. »Sklaven stehlen gern.« »Wie du willst.« Er hob die Schultern. »Du zahlst, ich gehorche. Wein?« »Gemischt mit kaltem Wasser.« Ich nickte und holte das Gepäck »Ich komme gleich zu dir in die Gaststube.« Nach kurzer Zeit hatte ich mich in einem Anbau über dem
ersten Stock der Schenke,- in zwei großen Räumen, die in einen Hof hinausgingen, eingerichtet. Zählte der Wirt zu den Freunden Kolchis’? Ich sicherte mein Gepäck, indem ich die Hunde davor postierte, wusch mich und schloß meinen frischen Chiton mit einer großen Spange auf der linken Schulter. In der Gaststube stellte der Wirt Schalen, Körbe, Brettchen und einen Krug auf den Tisch und setzte sich zu mir. »Ich weiß nicht, ob Kolchis mit allem, was er sagt, recht hat.« Er füllte die Trinkschale. Ich fragte grinsend: »Womit, Vater der harten Betten?« »Kolchis ist alt, seine Zähne wackeln, und sein Verstand war, als er mich lehrte, auch besser.« Seine Zähne wackeln nicht mehr, dachte ich und verstärkte mein Grinsen. Dank des Zellaktivators war er in den Tagen und Nächten gesundet und fühlte sich jünger. »Er hält dich für einen Halbgott. Ich bin es nicht gewöhnt, und die Ehre ist groß, wenn Halbgötter ihre Pferde bei mir anbinden. Wir werden sehen, wie groß seine Macht ist.« »Wessen Macht?« Ich betrachtete die Dienerinnen und Mägde, die in der Küche arbeiteten und mein Badewasser erhitzten. »Deine, Atlan.« Der Gastraum, eine großräumige Megara mit ungefähr hundert Plätzen, war schlecht besetzt: ein paar alte Männer, einige Stadtwachen, Fischer, ein Sklave, der den Boden putzte. Etwa zwanzig Menschen. Sparta schien halb entvölkert, und manche Wächter waren verwundet von Ilion zurückgekommen. Ich wußte noch nicht genug; hier würde ich zweifellos viel erfahren. »Ich bin Arzt, Wirt«, sagte ich. Er goß Wasser in einen Psykter, schüttelte den bauchigen Krug, goß den Skyfos randvoll und schüttete ein Drittel auf den Boden. Der Sklave sprang zur Seite. Der Wirt murmelte ohne Überzeugung:
»Für die Götter. Du wirst bald genug Arbeit bekommen, aber hoffe nicht auf großen Lohn.« »Warum?« Eufronoios’ Gesicht ähnelte dem eines schlauen Vogels mit auffallendem Kopfgefieder. Seine schwarzen Augen huschten ständig umher; zwischen dem gekräuselten schwarzen Bart verschwanden die scharfen Linien ums Kinn, die Augen und Mundwinkel. Um den Hals trug er eine Kette aus blankgescheuerten Eisenplättchen, von Golddraht zusammengehalten. »Wir warten auf ein Schiff mit Verwundeten. Wir Griechen kommen entweder tot, als Sieger oder als Verstümmelte aus der Troas zurück. Das geht jetzt schon ins zehnte Jahr. Erstaunlich, nicht wahr? Ein Ziegenhirt und ein Weib mit Goldhaar halten das Land in Atem. Ihretwegen sterben viele junge Helden. Obwohl…«, sein Blick wurde träumerisch, er sah zur Decke, »… Helena! Eine Schönheit. Ziemlich dumm, wie alle griechischen Weiber. Jedesmal, wenn ich an sie denke, muß ich zum Leuchtfeuer spazieren und Luft holen.« »Wie war das mit dem Schatz des Menelaos?« Ich spülte Fischstückchen, Fleischbällchen und Brot mit Wein herunter. »Menelaos hat genügend Goldzeug. Aber sein Freund, der Kreter mit der Sprachstörung, wurde nahezu rasend vor Wut und Wahn.« Kreter? Freund des Menelaos? Das Steuersegment? fragte der Logiksektor. Ich fragte, mühsam beruhigt: »Er kam mit vierzig Männern von Kreta?« »Der dunkle Xeagros. Xe-xe-xeagros, der Stotterer. Xeagros und die Mesarier.« Ich schwenkte die Trinkschale mit beiden Händen. »Der Stotterer ging mit seinen Vierzig nach Ilion?« »Ja. Sie schwuren, die Unterstadt und den Burgberg binnen eines Mondes zu schleifen.« »Offensichtlich will Xeagros auch aus einem anderen Grund
durch die Mauern.« Ich nickte grimmig. »Ich muß ihn treffen.« Eufronoios stemmte die Hände in die Seiten, sah zum Eingang hinaus ins Hafenwasser und auf das hochbordige Griechenschiff, das mit dicken Tauen an den Pollern lag. »Dann geh nach Ilion! Genieße ein paar Tage meine Gastfreundschaft, Atlan Iatros. Das Bad ist hinter dem Haus; laß dich waschen, ölen und striegeln. Wenn ich mich nicht täusche, werden Spartaner dich ins Heer pressen. So sparst du den Preis für den Schiffsplatz.« Eufronoios grinste scheel. Hedelis, eine Sklavin, brachte heißen Braten, Wurstscheiben und fetten gelben Käse. Als sie den kleinen Weinkrug zwischen die Brotkrumen stellte, sagte sie: »Arzt, das Wasser ist bereit. Die Tücher sind trocken.« »Laß den Kessel auf dem Feuer«, sagte ich. »Ich hab’s gern heiß. Eine halbe Stunde.« Ich wandte mich an den Wirt. »Als Krieger will ich nicht nach Ilion. Zuerst Bad und Schlaf; dann sehen wir weiter.« »Schon morgen früh wirst du mehr wissen, Arzt.« Ich beendete ruhig mein Mahl, ging die knarrende Treppe hinauf und warf den Beutel mit den Reinigungsutensilien über die Schulter. Die Hundeaugen glühten mich an. Im Badehaus wartete Hedelis; ich träufelte Kräuteressenzen ins Wasser, ließ mich mit schäumender Paste waschen, zog Hedelis in den mächtigen Bottich und ließ mich von ihren rauhen Fingern massieren. Als ich mich, nachdem ich die Hunde hinausgeschickt hatte, auf der Decke meiner Liege ausstreckte und den Mantel aufrollte, betrat sie mit einem Weinkrug und zwei Holzbechern das Zimmer, das Haar schwer von Feuchtigkeit. Wortarm drängte sie sich an mich, erstickte mich fast mit leidenschaftlichen Umarmungen, später summte sie fremdartige Worte. Gegen Mitternacht schliefen wir ein. Ihr Haar lag auf meiner Brust; sie roch nach Salben und Öl aus dem Hapiland und heißem Schweiß. Mein letzter Blick ging zum Hafen, einer
unbewegten schwarzen Fläche, auf der das Feuer einen Streifen aus Tausenden winziger Sicheln zeichnete. Der Schiffsbug war wie eine Dämonenmaske geschnitzt: Glühende Metallaugen starrten in meinen Traum von vierfüßigen Ungeheuern und fliegenden Bestien. In der dritten Nacht rissen uns aufgeregte Stimmen, dumpfes Krachen und wirre Geräusche aus dem ungestümen Zusammenspiel unserer Körper. Als wir ruhiger atmeten, schwang ich meine Beine aus dem Bett und sagte: »Zwei Schiffe, Hedelis. Viele Menschen. Ich glaube, sie brauchen den Arzt.« Sie blinzelte schläfrig und lehnte sich schwer auf meinen Rücken, klammerte sich an meine Oberarme. »Bleib nicht zu lange, Arzt. Ich brauch’ dich auch.« »Warte aufs Morgengrauen«, sagte ich, mühsam lächelnd, zog mich an und sah aus dem Fenster. Die Nacht war voller fackeltragender Menschen; die Gesichter voll ängstlicher Erwartung. Das zweite Schiff fuhr ein; zu knappen Kommandos bewegte sich eine Doppelreihe Riemen. Das Galion zeigte das gleiche Ungeheuer wie die CHARIS, das Schlangenhaupt der Medusa. Das Segel fiel, wurde zusammengerollt, die Riemen peitschten rückwärts, und nach Geschrei in kehligem Dorisch flogen die Taue an Land. In die Klagelaute von Frauen und Mädchen mischte sich das Stöhnen der Verwundeten. Die Bordwand knirschte an den Stein der Mole. In kleinen Krügen brannte Öl mit armlangen Flammen und beleuchtete die schaurige Szene. Jemand schrie: »Holt diesen fremden Arzt aus der Schenke!« Ich beugte mich aus dem Fenster und brüllte: »Ich komme schon. Bringt die Männer, die nicht mehr gehen können, direkt in die Schenke!« Ich schaltete den Psychostrahler, dessen Fokus aufs Kopfen-
de des Lagers gerichtet war, wieder ein, polterte mit meiner großen Felltasche die Stufen hinunter, rannte beinahe eine Sklavin nieder und sprang aus dem Eingang. Ich mußte mir fast mit Gewalt den Weg durch die Menschenmenge bahnen und war kurz darauf bei den beiden Schiffen. Was ich sah, verschlug mir fast den Atem, obwohl ich darauf vorbereitet war. Man brachte ungefähr sechzig Verwundete an Land; Männer zwischen siebzehn und fünfzig Jahren mit jeder erdenklichen Art von Wunden. Der Schiffsführer, ein erschöpfter Graubärtiger, den Eisenhelm im Nacken, starrte an mir vorbei, als ich ihn ansprach. »Ich bin Arzt. Alle Männer, die noch gehen können, sollen in ihre Häuser gebracht werden. Die anderen schleppt – schnell! – in die Schenke des Eufronoios.« Jetzt blickte er mich durchdringend aus rotunterlaufenen Augen an, brüllte ein paar rauhe Befehle, deutete hierhin und dorthin. Von Angehörigen umringt, hinkten und humpelten einige Männer zu den Eingängen der Gassen. Plötzlich berührte mich der Wirt an der Schulter. »Du brauchst Hilfe, Iatros?« »Leinwandstreifen, die gekocht werden müssen.« Ich nahm eine Frau am Arm und hielt sie auf. »Viel Licht. Heißes Wasser. Mutter kümmere dich darum, daß die Verletzten zu Eufronoios gebracht werden.« »Wir haben die Schiffe erwartet, Herr; es gibt viele Stoffbinden.« Mägde, erschöpfte Ruderer und Verwandte schleppten eine Kette stöhnender und ächzender Verwundeter in die Wirtsstube. Sämtliche Öllampen brannten, aus der Küche dampfte es. Ich warf ein großes Tuch auf einen Tisch, breitete meine Ausrüstung aus und sah zu, wie man die Männer auf Tische und Bänke legte. Ich teilte einige ältere Frauen dazu ein, die schmutzigen Binden einzuweichen und abzuwickeln, half, sie
an verkrusteten Stellen aufzuschneiden; man warf die stinkenden Lumpen in einen Korb und verbrannte ihn mitsamt dem Inhalt. Die Körperstellen im Umkreis der Wunden wurden gewaschen; ich streute bakterientötendes Pulver ins schäumende Wasser. In den Stunden bis zum nächsten Mittag vergaß ich Hedelis und alles andere; ich versorgte furchtbare Wunden und betäubte die meisten der wimmernden Männer. Wir entfernten Schorf und Krusten, schnitten Eiterbeulen auf, schoren verfilzte, blutverkrustete Bärte und Kopfhaare; ich sprühte antibakterielle Mittel in offene Wunden, vernähte sie, klammerte Wundränder zusammen, schiente Brüche, versorgte Schwertwunden, Blutgeschwüre, die von Schleudersteinen stammten, üble Verbrennungen, sprühte den Vorrat an Biomolplast auf die Wunden, trank ab und zu gierig kalten, honiggesüßten Sud oder einen Schluck Wein, vernähte Lanzenstiche; ungefähr vier Dutzend Männer wurden, nach und nach, auf ledernen Tragen hinausgeschleppt, die Glieder, Köpfe oder Körper von weißen Binden umwickelt. Darüber hinaus waren alle Verwundeten in einem Maß verdreckt, verlaust und voller eitriger Flohstiche, daß ich drei Frauen kurz unterweisen mußte, verkrustetes Achselhaar und Schamhaar mit meinem getarnten Bronzedolch und viel Seife zu rasieren. Keine Wunde war zufriedenstellend versorgt; die Hälfte der Männer wäre binnen weniger Tage elend gestorben. Irgendwann, als mir Eufronoios einen Skyphos voll heißer Suppe reichte, fragte ich: »Mit wieviel Schiffen sind die Griechen in der Troas?« »Man sagt: mit tausend. Aber es sind mehr als fünfhundert. Wo hast du Hedelis gelassen?« »Sie schläft«, sagte ich. »Heute abend sprechen wir über sie – ihr wartet also noch auf ein paar hundert Schiffe voller Halbkrüppel?« Er hob seufzend die Arme zur Decke. Ich schuftete weiter,
half beim Verbinden, strich Heilsalbe auf rosiges Fleisch, schnitt Wucherungen weg, wusch mir zum hundertstenmal die Arme, verbrauchte ein paar Dutzend Kessel Wasser sowie meinen Vorrat an Seife, Salben und Kunsthaut. Ich sagte den Angehörigen, die ihre Brüder oder Männer abholten, was zu tun war, wechselte meinen Chiton, der voll Blut, Schweiß, Eiter und Wundwasser war und sah immer wieder zu dem Dunkelhäutigen mit dem glatten Haar hinüber, auf dessen Brust der Zellaktivator lag. Dreimal mußte ich Arme und Beine so fest schienen, daß sie in dieser Haltung bleiben würden; ich konnte durchtrennte Sehnen nicht flicken. Der letzte, den ich behandelte, würde sterben. Ich ließ ihn, nachdem man den letzten, betäubten Verwundeten weggetragen hatte, in die Lichtbahn vom Eingang her bringen. Sein Körper, inzwischen gewaschen und mit kühlenden, myrrhegetränkten Tüchern bedeckt, war von zahlreichen Wunden förmlich zerfleischt. Ich blickte in sein Gesicht. Der Logiksektor flüsterte: Kein Grieche, kein Spartaner, also…! Ich wartete, bis der schmutzige, nasse Bart entfernt war und konnte nicht recht glauben, daß vor mir ein Akone lag. Ich versorgte Risse, Schnitte und Schürfwunden bis hinunter zur offenen Wunde des Brustkorbs. Trotz des Aktivators atmete der Mann pfeifend; die Lunge war vom Pfeil, der langsam herauszueitern begann, verletzt worden. Die drei Pfeilwunden in Schulter und Schlüsselbein sahen übel aus, waren aber noch nicht tödlich. Selbst unter der Wirkung einer schwachen Paralysatorentladung, die ihn schmerzfrei gemacht und eingeschläfert hatte, spürte ich in diesem Körper einen wilden Überlebenswillen. Was konnte ich noch tun? Inzwischen wurde der hintere Teil der Schenke geputzt. Vier Frauen waren bei mir, reinigten und schienten nach meiner Behandlung beide Beine des Sterbenden. Ich blickte die Bauchwunde an und schauderte. Konnte ich helfen? Ich tastete die Brust ab und konnte keine
Rippen fühlen, sondern… wie bei mir: eine Knochenplatte. Ich hob den Kopf. Nein! Er wird sterben. Sorge für einen milden Tod, sagte hart der Logiksektor. Wundbrand hatte den rechten Arm bis zum Schultergelenk in seinem Griff. Die Finger waren gedunsen, die graue Fäule nagte im Ellbogen. Desintegratormesser? Arm abtrennen? Und dann? Ich schüttelte mich. Das überstieg mein Können. Ich setzte – nichts anderes fiel mir ein – einen Aderknebel und hörte das schnellere Atmen. Der Fremde wachte auf. Er starrte mich an, blinzelte, sagte leise: »Danke.« Ich merkte fast zu spät, daß er Akonisch gesprochen hatte und antwortete in derselben Sprache. »Du bist einer der Männer von Xeagros dem Stotterer«, sagte ich. »Und du wirst sterben müssen.« »Bist du gekommen, um uns abzuholen?« »Nein. Ich fand euer Schiff. Ich habe ein Steuersegment ausmontiert, und ohne mich könnt ihr nicht starten.« Er verstand mit Mühen, seine Stimme war nur ein röchelndes Flüstern. »Ich darf nicht sterben. Ich muß zurück, mit den anderen, nach Arigonth Drei.« »Euer Planet?« »Ja. Wir alle, einundvierzig Männer, sind von dort. In drei Monden läuft die Zeitsperre ab. Wir sind verurteilte Verbannte; wir müssen uns hier bewähren. Dann läuft die Verbannungszeit aus.« »Verbannung? Meine Welt – ein Strafplanet?« »Wir waren ein Expeditionskorps. Anderer Planet. Wir überschritten Gesetze. Wir wurden für zehn Planetenjahre verbannt. Hierher. Verfluchter Barbarenplanet.« »So ist es«, sagte ich und nahm den Aktivator von seiner heißen Brust. »Ich bin Arkonide. Für dich ist es unwesentlich, a-
ber ich hab’ den Rechnerkopf aus der Steuerkabine ausgebaut und versteckt. Ich muß, so wie ihr, zurück. Nach Arkon.« »Arkon? Du glaubst mir?« Er war kein reiner Akone. Die Farbe seiner Haare wies darauf hin, daß sich das Kupferrot mit Weiß gekreuzt hatte, vielleicht mit arkonidischem Blut. Krankhaft stolz waren die meisten Akonen, und willensstark, und gegenüber allen anderen Wesen überheblich. Wie kamen Akonen hierher, in diesen Winkel unserer Galaxis? Seine dunkelbraunen Augen ließen mich nicht los. Ich zeigte ihm die unverkleidete Hochdruckinjektionsspritze. »Vielleicht.« Eine Pause. Dann: »Ja. Ja.« Die Mägde schütteten heißes Wasser über die Tische, streuten Sand darauf, scheuerten und schrubbten. Ein erster warmer Windstoß fuhr durch die Schenke. Ich sagte: »Du wirst nichts spüren, aber du wirst bald sterben. Ich hab’ getan, was ich konnte, aber ich bin kein ausgebildeter Kosmomediziner. Es sind höchstens Stunden.« Ich winkte, man brachte eine Trinkschale. Ich hob seinen Kopf und flößte ihm starken Wein ein. »Du wirst Arigonth nicht Wiedersehen. Offenbar hat einer von euch das Steuersegment, das sehr wertvoll aussieht, in der Schatzkammer des Menelaos versteckt, und der Ziegenhirt hat’s mitsamt dem Schatz gestohlen. Und jetzt müßt ihr versuchen, nach Ilion hineinzukommen. Richtig?« Seine Augen hoben und senkten sich; abermals war das Unerwartete, fast Undenkbare geschehen. »Ihr hattet bisher keinen Erfolg.« »Keinen. Fünf von uns sind tot. Zu grausam, die Strafe.« »Sechs, mein Freund. Wir könnten zusammen fliegen. Lebt Xeagros noch?« »Unser Wächter. Er kämpft an der Seite des Menelaos.« Sein Blick winkte mir zum letztenmal. Ich ließ die Schale fül-
len, und während er gierig trank, schloß er die Augen, drehte den Kopf nach links und starb. Roter Wein lief über seinen Hals und verfloß mit den Blutspuren seiner verwüsteten Brust. Ich hängte das nasse Säckchen des Aktivators um meinen Hals, verbeugte mich vor meinen erschöpften Helferinnen und sagte leise: »Ich danke euch. Vielleicht sollte euch Sparta mehr danken. Geht zu euren Lieben, helft ihnen; mir habt ihr mehr als nötig geholfen. Wir sind alle grausig müde. In ein paar Tagen sehe ich wieder nach den schlimmsten Wunden. Ich will jetzt baden und lange schlafen, im guten Rausch des Vergessens.« Was sie antworteten, daran erinnere ich mich nicht mehr; das Herkömmliche, denke ich. Ich ging zum Tisch, fegte mit dem Unterarm die Reste der Ausrüstung in den Fellsack und zog ihn zu. Als ich mich umdrehte, stand der Wirt vor mir, den Arm um die Schulter einer jungen Sklavin, die mich anglotzte. Eufronoios packte mich an der Schulter. »Schluß, Freund Iatros. Du fällst gleich um. Dieses liebreizende Mägdelein wird sich um das Wohl deines Bades kümmern, und bevor du schläfst, bringe ich dir Essen nach oben. Los, ins Badehaus, Atlantos.« Als ich im warmen Wasser lag und merkte, wie sich Anspannung und Verzweiflung zu lösen begannen, erhoben sich Teile der Gedanken in höhere Klarheit: Mein Aufenthalt in Vaphio, dem Hafen Spartas, näherte sich dem Ende. Mein Ziel war deutlicher, schärfer geworden: Ich mußte nach Ilion, dort zusammen mit Xeagros das Steuersegment finden, mit den Überlebenden zusammen das Schiff starten und den langen Weg nach Arkon beginnen – auch wenn es Akonen waren. Ich zwang mich, nachdem die Sklavin mich mit kaltem Wasser übergossen hatte, noch in eine Reihe klarer Handlungen. Ich schaltete den Psychostrahler ab, sprach kurz und schneidend scharf mit Hedelis und hängte eine dunkle Decke vors Fenster.
Hades und Kerberos und der entsicherte Strahlerdolch unter dem Kissen bewachten meinen Schlaf; es war Nachmittag, und ich schlief wie tot. Und als ich wieder aufwachte, herrschte tiefe Nacht. Ich wußte nicht, ob ich sechs oder sechsunddreißig Stunden geschlafen hatte. Ich riß die Decke vom Fenster, hörte das Knurren meines Magens und sah am Hafen eine einsame Gestalt im Chiton, den ungegürteten Chlamis umgeworfen. Im Licht des Hafenfeuers erkannte ich am Kai Eufronoios. Wahrscheinlich dachte er an Helena und machte seinen rituellen Spaziergang. Ich entzündete das getarnte Öllämpchen und erkannte Hedelis, die zusammengekrümmt auf meinem Mantel, vor dem Lager, schlief. Ich holte tief Atem, meine Gedanken klärten sich; ich hob die Frau auf und bettete sie aufs warme Lager. Die Müdigkeit war verschwunden. Hades starrte mich an. Ich machte beschwichtigende Gesten. Ich erhöhte die Leuchtstärke, sortierte meine Ausrüstung und sah, daß ich sie aus den Vorräten im Gleiter ergänzen mußte. Ich warf einige leere Behältnisse in die Zimmerecke. Zu Schiff nach Ilion? dachte ich. Nein. Der Gleiter war sicherer und besser als alles andere. Ich setzte mich auf den Rand des Lagers und betrachtete die schlafende junge Frau. Eile war sinnlos. War ich etwa auf der Flucht? Ich verpackte alles, was ich innerhalb des nächsten Zehntages nicht brauchte, in ein Felleisen, schaltete den Minideflektor ein und zog das Gepäckstück mit einem Seil in die Krone des Hofbaumes. Mein nächster Befehl galt dem Gleiter, der eine halbe Stunde bis hierher brauchte. Abermals der nächste Gang führte mich in Eufronoios Küche und in die Vorratskammer; ich suchte Öl, Wein, Braten, Würste, Brotfladen und Mehl, Oliven und anderes zusammen und schleppte meine Beute über die knarrenden Stufen hinauf, bündelte alles und schrieb ein
paar Zeilen auf einen Lederfetzen. Dann wartete ich auf weitere Einfälle. Nach einer schwachen Paralysatorenentladung glitt Hedelis aus dem Schlaf in milde Bewußtlosigkeit. Ich legte drei Scheiben Gold in die leere Trinkschale, steuerte den Gleiter bis zum Fenster und ließ die Hunde hineinspringen, schleppte die bewegungslose Frau hinein, sah mich im Zimmer um und hob zuletzt das Lämpchen vom Tisch. Der Gleiter brachte uns zu Kolchis’ Höhle; wir drei waren vor dem ersten Sonnenstrahl in einer abgeschiedenen Bucht, unweit einer Quelle, unterhalb einer der unzähligen Höhlen der Halbinsel von Lakonien.
17. »Als der dämmernde Morgen mit Rosenfingern erwachte«, sagte Kolchis ein wenig undeutlich, »stand die eilige Kraft Atlantos auf von dem Lager. Auch Hedelis erhob sich, die herrliche Gefährtin. Und die kräftige Maid Hedelis führte den Fremdling zu der felsigen Ecke, die nah des Strandes hervorsprang. Allda legten sie sich auf feingeglättete Strände… Ich mag nicht mehr.« Er setzte den Krug an den Mund und deutete wie anklagend auf Hedelis und mich. »Ihr macht mich neidisch mit eurer Verliebtheit, wenn ich euch ansehe. Selbst ich war einst jung.« »Du wirst jünger von Tag zu Tag, Vater«, sagte Hedelis lachend. »Und schon früh so viel Wein, das spricht für eine Leber, stark wie ein Bär.« »Geht und schwimmt.« Er deutete pathetisch aufs Meer. »Noch zu kalt für meine alten Knochen.« Der Psychostrahler hatte auf die fast leere Tafel von Hedelis’ Erfahrungen und ihre entwicklungsfähige Persönlichkeit unzählige Linien aus dichten Informationen geschrieben. Abgesehen von leicht lernbaren Dingen wie Wortschatz, Schreiben,
Lesen, Wissen und Körperpflege war sie bereichert worden; wir verstanden einander in mannigfacher Weise viel besser. Sie nahm meine Hand, wir rannten über den weißen Sand in die niedrige Brandung und stürzten uns ins warme Wasser der kleinen Bucht, die von mächtigen Kastanien beschattet wurde. Kolchis blickte uns nach, als wären wir Kinder, die er hüten mußte. Während wir nebeneinander schwammen, tauchten und uns gegenseitig anspritzten, sagte ich mir, daß ich ihr Schicksal nur unvollkommen würde verbessern können. Es wäre auch von mir vermessen, zu denken, daß ich die Grenzen aufheben könnte, die den Menschen gesetzt worden waren. Aber ich würde dafür sorgen, daß sie nicht als Sklavin in Würdelosigkeit und Armut endete. Wir verbrachten herrliche, nahezu unbeschwerte Tage und lange, leidenschaftliche Nächte. Ich sprach, wenn sie schlief, mit Rico; tagsüber trieben wir bedeutungslose Dinge: Wir schoren gegenseitig das Haar, massierten Zedernöl in unsere Haut, tranken, aßen und führten mehr oder minder kluge Reden mit Kolchis, schliefen lange, vergaßen Ilion und schienen, so gut es uns vergönnt war, glücklich zu sein. Am Ende einer Reihe solcher Tage brachte ich Kolchis zu seiner Höhle zurück, kaufte für Hedelis ein Haus, bezahlte Eufronoios mit Zins den Preis, den er für sie gezahlt hatte; er schwur, sie zur Hüterin seiner Herde, Vorräte und Mägde zu machen, und ich mietete mich wieder in den beiden Dachzimmern ein, um einigen der Opfer der langen Schlacht um Ilion helfen zu können. Ich war auf dem Weg zu Hedelis. Die Nachtluft war kühl; ich packte meinen Dolch und ging langsam die Mole entlang, auf den Felsen mit dem Hafenfeuer zu. Einen Steinwurf abseits davon, hinter den Mauern des Gartens, sah ich das Licht aus Hedelis’ Haus. Eufronoios stand unter dem Fenster und starrte
in den Hafen oder in die breite Flußmündung hinaus. Plötzlich hörte ich hinter mir das feine Schwirren einer Leine, einige knappe, gemurmelte Kommandos. Ich fühlte, bevor ich es hörte, wie Hände nach mir griffen, und sprang nach vorn. Die Männer kamen von allen Seiten, nur Schatten in der Finsternis, sie rückten zusammen, und ich wurde an Armen, Schultern und Hals gepackt. Ich schlug ungezielt um mich, trat zu, traf auf Fleisch und Knochen, aber ehe ich nach dem Lähmstrahler greifen konnte, spürte ich dünne Lederschnüre um die Handgelenke. Einer meiner Dolche klirrte auf das Pflaster, meine Arme wurden grob an einen Speerschaft gebunden. Ich zerrte an den Fesseln, die ins Fleisch der Gelenke schnitten. Ich drehte mich keuchend herum, der Speerschaft traf einen Mann und warf ihn zu Boden. Ich keuchte: »Ich bin der Arzt Atlan. Was habt ihr vor?« »Das weiß ich.« Ich glaubte die Stimme des spartanischen Anführers zu erkennen, den ich durch die Schulter geschossen hatte. Heiße Wut schoß in mir hoch. »Das nächste Schiff nach Ilion gibt dir die Antwort. Agamemnon braucht Krieger.« Die Männer rissen mich mit sich. Wir stolperten eine Viertelstunde lang in nördliche Richtung, am Fluß entlang, durch ein knarrendes Bohlentor und eine ausgetretene Steintreppe abwärts. Warum hatte mich der Extrasinn nicht gewarnt? Eine Tür wurde aufgerissen; jetzt erst gab es Licht von blakenden Fackeln. Ich erkannte rauhe Wände und eine winzige Zelle, dann wurde ich hart gegen eine Mauer geworfen, ein Balkengitter schloß sich, und die Schritte der Männer entfernten sich. Die Fackel verschwand hinter der Biegung des Ganges. Ich war Gefangener der Spartaner. Der Extrasinn sagte resignierend: Du Narr! Ohne Schutzfeld in der Nacht von Vaphio! Ich ignorierte ihn, ließ mich zu Boden sinken und bewegte mich auf den Knien bis zur rechten Wand, rammte das Ende des Stabs dagegen und scheuerte
mein Handgelenk wund bei dem Versuch, den Schaft durch die Schlinge der Fessel zu stoßen. Die Schnüre begannen zu rutschen, der Druck ließ langsam nach, schließlich löste sich die erste, dann die zweite Schlinge. Die rechte Hand war frei. Ich tastete im Dunkeln nach den Schaltern im Armband und sagte scharf: »Kerberos! Hades! Ortet mich, kommt sofort her; ich bin im Norden der Siedlung.« Ich tastete nach dem Speer, riß ihn aus der Fessel der Linken heraus und bewegte prüfend die halb abgestorbenen Finger. Ich steckte die Lederschlinge in den Gürtel, zog aus den Gürtelfächern den kleinen Thermostrahler heraus und konzentrierte mich darauf, ihn richtig zusammenzusetzen. Das Licht der Ladekontrolle leuchtete stechend rot. Den linken Arm tastend ausgestreckt, ging ich geradeaus, bis ich die Balken der Tür spürte und auf der anderen Seite des Holzgitters einen massiven Riegel in metallenen Lagern. Ich leuchtete die Stelle mit dem winzigen Kontrollicht aus, zielte so genau wie möglich und feuerte. Funken sprühten, dichter Rauch verdunkelte die Flammen des brennenden Holzes. Ich schoß ein zweites Mal, trat die Tür auf, sie prallte donnernd gegen die Mauer. Ich tastete mich durch den dunklen Gang, fand die Stufen wieder und kletterte so schnell und leise wie möglich hinauf. Ich stand in der kleinen Burg, die den Ort überragte. Sie schien ausgestorben zu sein. Ich sah, dreißig Schritte entfernt, einige verglimmende Feuer unter einem Vordach. Ich lief einen bewachsenen Erdwall hinauf, sah mich im Sternenlicht um; die Befestigung lag oberhalb des Hafens, und vor mir, hinter den Palisaden, standen zwei Gestalten. Sie hoben sich gegen den Himmel ab. Ich kauerte mich nieder, zielte sorgfältig und schoß. In den Gassen unter mir hörte ich das Tappen der Hundepfoten auf dem Steinpflaster. Auf dem Schild des Speerträgers links brach sich die Feuerflut aus dem Strahler.
Der Mann schrie gellend, schleuderte den brennenden Schild von sich und warf sich zu Boden. Einen Atemzug später durchschlug der Strahl den Schild des zweiten Mannes, und ich schwang mich über die Palisaden. Hinter mir waren Schreie zu hören, Schritte und Waffenklirren. Beide Robothunde sprangen aus dem Dunkel der Gasse hervor, hielten an, als sie mich erkannten; die Robotaugen blinkten. Ich rief unterdrückt: »Haltet die Wachen auf! Keine Toten! Ich bin in der Schenke und dann bei Hedelis.« Ich rannte durch die Gassen zum Hafen, bog zur Schenke ab und kletterte über eine Mauer. Ich sprang vom Dach des Badehauses herunter und lief zum Vorhang, der den Schlafraum des Wirts abtrennte. Dort rief ich, die Lähmwaffe in der Hand, unterdrückt: »Eufronoios!« »Bist du’s, Atlan?« »Ja. Ich bin den Spartanern davongerannt. Waren sie hier?« Er schlurfte näher, zog den Vorhang auf und blickte kopfschüttelnd von der Spitze der Waffe in mein Gesicht. »Sie waren da, haben dein Gepäck gesucht. Die Hunde waren nicht in deinem Zimmer. Sie werden wiederkommen.« »Ich muß mich verstecken, Eufro. Wo?« »Vorratskammer.« Er zündete eine Öllampe an, winkte mir schweigend, und wir gingen schnell in das lange Haus hinein. Als wir am Ausgang zum Garten waren, sprang ich hinaus, desaktivierte das schützende Feld und feuerte einen schwachen Strahl auf das Seil ab. Es verbrannte, sich aufdrehend, und aus der Baumkrone fielen die Ledersäcke. Unbeeindruckt murmelte Eufronoios: »Die Klugheit eines Halbgotts!« Ich rammte ihm den Ellbogen in die Seite. Wir schleppten die Säcke in eine fensterlose, kühle Kammer. Große Amphoren, gefüllt mit Korn und Öl, standen entlang der Wände, Säcke und Körbe voll Früchten lagen auf Wandbrettern, und von
Deckenbalken hingen Schinken und luftgetrocknete Würste. Vor unseren Füßen quiekte eine weghuschende Ratte. Der Wirt stellte gähnend die Lampe zwischen zwei große Brote und bat mich brummig, zu helfen. Wir stemmten einen fast mannshohen Vorratskrug zur Seite, Eufronoios hob eine Bodenklappe an; ich sprang, gefolgt von den Ledersäcken, eine Holztreppe hinunter. »Ich hol’ dich, wenn die Spartaner wieder weg sind. Brauchst du noch etwas? Halt mir die Hunde vom Leib, ja?« »Danke, Eufro.« Die Klappe schloß sich, rumpelnd wurde der Krug wieder an seinen Platz gewuchtet. Dann war Ruhe. Ich setzte mich auf einen Sack, kramte im anderen und hielt die Fernsteuerung des Gleiters in den Fingern. Ich startete ihn und rief die Maschine mit eingeschaltetem Deflektorfeld zu mir. Den Hunden befahl ich, sie sollten sich im Garten von Hedelis verstecken. Ich unterschied die Fußtritte und Stimmen von mindestens sechs Männern, die das gesamte Haus nach mir absuchten. Der Wirt versicherte jammernd, mich seit dem frühen Abend nicht gesehen zu haben. Auch in der Vorratskammer suchten die Spartaner; wir warteten, bis sie lärmend abgezogen waren. Der Gleiter senkte sich in den Hof, ich belud ihn und flüsterte Eufronoios zu: »Komm noch vor dem Morgengrauen zu Hedelis. Ich muß mit euch reden.« »Ich schleich’ mich hin. Vielleicht lauern sie irgendwo zwischen den Häusern.« Ich steuerte den Gleiter zum Hafen, überflog den Felsen und landete neben dem alten Ölbaum. Kerberos und Hades trabten herbei. Ich suchte verschiedene Gegenstände heraus und schlich über die Terrasse in Hedelis’ Schlafgemach. Sie wachte erst auf, als ich mich neben sie setzte und ihre Hand nahm.
Der ölgetränkte Holzstoß des Hafenfeuers brannte herunter und spiegelte seinen Schein im Fluß. Eufronoios stand neben mir auf der Terrasse und blickte auf die ferne Fläche des Meeres hinaus. »Schade, Atlan Iatros«, murmelte er. »Ich weiß nicht, wer du bist und was du hier gesucht hast, aber wir wären gute Freunde geworden.« Seine Stimmung war nicht gut; er suchte nach Worten und sagte schließlich: »Ich wünsche dir viel Glück. Hoffentlich bringt man dich nicht zurück wie die Krüppel in den Schiffen. Ich weiß: Kolchis hat doch recht. Du bist etwas anderes als ein einfacher Grieche.« »Ich bin ein einsamer Mann«, sagte ich, »der verzweifelt versucht, in seine Heimat zurückzukehren. Die Heimat ist unglaublich weit weg, und die Kette um mein Schiff ist mit einem Schloß gesichert. Ich habe den Schlüssel nicht, denn er liegt in Ilion.« »Ich werde Hedelis schützen, so gut ich es kann«, sagte er und packte meine Hand mit erbarmungslosem Griff. »Sie ist längst eine Freigelassene. Ich weiß, du suchst den Schlüssel zum Olympos. Hermes sei mit dir.« »Und mit dir sei die Weisheit der Athena!« Ich blickte ihm nach, bis er in der Finsternis verschwand. Die dünne Mondsichel stand in Mitternacht. Ich ging zurück ins Haus und sah zu, wie Hedelis einen Kessel Sud bereitete, das Gebräu durch ein Tuch seihte, mit Honig und Wein würzte und zwei Schalen füllte. Sie war eines jener Wesen, die versuchten, mit wenigen Worten viel auszudrücken; sie reichte mir eine Schale und sagte leise: »Du verläßt uns noch vor dem Morgengrauen, Atlan. Kommst du jemals zurück?« »Es gibt eine Zeit nach der Zerstörung Ilions«, sagte ich und nahm das weiße Krügelchen vom Tisch. »Hier. Wenn dein Le-
ben in Gefahr ist, wirf den Krug zu Boden und tritt mit der Ferse darauf. Es wird Hilfe kommen; vielleicht bin’s ich. Ich komme zurück, wenn ich Ilion überlebe. Aber ich werde nicht für immer bleiben, Hedelis.« »Dies weiß ich, mein Geliebter, seit ich in den Nächten und Tagen neben dir wissender und klüger geworden bin.« »Aber bis zum ersten Sonnenlicht haben wir noch Zeit füreinander.« Ich zog sie lächelnd an mich und zog den Elfenbeinkamm aus ihrem Haarknoten. Die seidige schwarze Haarflut fiel über meine Hände. »Die Hunde schützen die letzten Stunden unserer Zärtlichkeiten.« Sie sagte nichts, aber ihre Küsse und Umarmungen waren heißer und verzweifelter als je zuvor. Als der Mond hinter den Bäumen verschwand, wusch ich den Schweiß von meinem Körper und zog den Chiton an, der nach Zedernholz und dem Säckchen getrockneter Kräuter roch, das Hedelis stets zwischen das trocknende Leinen legte. Hedelis begleitete mich zum Gleiter, und ich sah im ersten Tageslicht, winkend, ihre Gestalt kleiner und kleiner werden. In einer weiten Schleife flog ich zu Kolchis, holte meine restliche Ausrüstung und verabschiedete mich von ihm. Die Landschaft und das Meer lagen im Morgenlicht unter uns; wir aßen heißes Lammfleisch und tranken Wein. »Du findest leicht zur Troas, Iatros?« »Keine Schwierigkeiten, Seher. Da wir beide wissen, daß die Achaier nicht abziehen, bevor Ilion gefallen ist, biete ich dir nicht an, mitzukommen. Du stündest vor Elend und rauchenden Trümmern.« »Ich habe den Vogelflug beobachtet und Athena gefragt.« Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und hob die Hände mit gespreizten Fingern. »Du wirst den langen Kampf beenden. Dann kann ich in meine Heimat zurück. Zu den Trümmern, Atlan. Vielleicht nimmt mich ein Schiff mit. Ich habe gesehen,
daß wir uns noch einmal treffen werden.« »Deine Visionen sind reichlich kühn, Kolchis.« »Vergiß nicht, ich bin Seher«, sagte er leise, sehr bestimmt, in gemessener Würde. »Ich weiß mehr als andere.« Ich nickte und lächelte. Stunden später holte ich die Karte heraus und flog nach Osten, nach Ilion. Dort versuchten Xeagros und seine Mesarier, in die Stadt zu gelangen, um das Steuersegment zu finden; nichts anderes wollte ich. Das Friedfertige stirbt allerorten, nur Ungeheuer und das grausige Schicksal wüten lebenslang. O ihr Götter! Wer ist Urheber dieser Tragödien? Wollen wir nicht sehen, oder können wir es nicht mehr, daß die Waffen nur der tödliche Ausdruck unbezähmbarer Wut und falschen Stolzes in unsren Herzen sind? Vermag das göttliche Gebot nicht mehr die Grenzen unseres Handelns zu bestimmen? Ich seufzte; die Bedeutung der Worte des Sehers Kolchis galt unverändert, seit ich die Barbaren näher kennengelernt hatte. Ich saß auf einem Felsblock und verglich, was ich durch den Feldstecher sah, mit den unzähligen Bildern der Sonden und meiner Ausschnittkarte. Der schräg ansteigende Strand maß etwa dreitausend Schritte von den Klippen beider niedriger Vorgebirge aus. Er ragte weit ins Meer vor, nach Nordwest. Links waren die Steinhaufen der Sigeionfelsen, rechts die Schroffen des Roetaion. Die gesamte Küstenlinie, unterbrochen von Hafeneinfahrten, Kanälen und verwahrlosten Kais, war aufgeteilt in kleine Buchten, einige schrundige Felswände und die Mündung des Flusses. Die große Ebene außerhalb der Mauern gliederte sich in Weiden, Wälder, abgeerntete Felder, verbrannte Buschflächen. Die Stadt unterhalb des Burgberges, der durch gewaltige Mauern geschützt war, hatte die Form eines prall gefüllten Beutels von ungefähr zwölf Chen-Nub im großen Durchmesser. Das skamandrische Tor im Süden, das dardanische im
Westen und das skaiische im Osten, von meinem Standort aus gesehen, unterbrachen, ebenso wie das Südtor der Bergmauern, die mächtigen Befestigungen. Die Fundamente der Unterstadt-Mauern, die von hölzernen Türmen gekrönt war, waren mindestens zwölf Ellen dick. Dies also, sagte der Logiksektor, ist Ilion, ein Knotenpunkt und die wirtschaftliche Herrscherin an der Passage zwischen zwei Meeren! Niedrige Hügelchen, viel weiße Kalkfelsen, darüber der tiefblaue Himmel mit der bleichen Mondsichel, das Meer mit schwachen Brandungswellen und das riesige Lager der Griechen – mehr als fünfhundert Schiffe, Zelte, Unterstände, massive Gebäude vertriebener Leute der Troas, Pferdekoppeln, Streitwagen und mehr als hundert Rauchsäulen von Kochfeuern. Der Rauch stieg fast senkrecht auf. Weit hinter der Burg stieg das Land bis zum Gipfel des Gargron an; dort gab es dichtere Wälder. Auf der Ebene vor Ilion wuchsen, meist entlang der Küste, struppige Büsche und Bäume. Schiffe landeten und stießen ab; es war ziemlich sicher, daß weit mehr als fünfzigtausend Menschen in unregelmäßigem Drittelkreis vor Ilion lagerten. Ruhig sagte der Extrasinn: Kommst du als einfacher Grieche ins Lager, wirst du in vorderster Linie kämpfen müssen. Das bedeutet unangemessene Gefährdung, vielleicht Verwundung und Tod. Sieh zu, daß du in den Kreis der Fürsten aufgenommen wirst. Suche die Nähe Agamemnons und Menelaos’. Tauchst du als Halbgott auf, mit wunderbaren Erscheinungen, merken Xeagros und die Mesarier, daß du ein Raumfahrer, also ein möglicher Feind bist. Schreien sie, du wärst kein Halbgott, bringt man sie wegen Gotteslästerung um. Tu das Entsprechende. Denke lange nach! Ich packte meine Waffen aus, legte sie auf die Ladefläche und schnippte mit den Fingern. Die Hunde blieben neben mir stehen; ich schnallte ihnen die Gepäcktaschen um und belud Kerberos mit Lanze und Wurfspeeren. Ich legte die Rüstung
an, befestigte den Mantel an den vergoldeten Schulterbändern, setzte den Helm auf und hängte den Schild auf den Rücken. Mein Gleiter und ich waren hinter dem Gebüsch eines Vorgebirges gut versteckt; rechts lag der Burghügel der Stadt. Ich nahm den Helm wieder ab, stützte die Ellbogen auf und beobachtete ein zweites Mal, aus größerer Nähe und schärfer, das Lager der Griechen. Sonnenlicht verwandelte Zelte und Schiffe in ein scheinbares Idyll, aber je mehr ich sah, desto deutlicher wurde, daß ein erbarmungsloser Kampf unmittelbar vor den dichtgestaffelten Reihen der Schiffe tobte, einen Steinwurf von der Wasserlinie entfernt. Ich war verblüfft und murmelte: »Die Leute Ilions berennen die Schiffe! Ein Ausfall!« Wie eine an zwei Stellen unterbrochene Sichel umgab ein hoher Erdwall hinter Palisaden das griechische Lager. Die dunklen, zugespitzten Holzstämme waren zur Außenseite mit bunt bemalten Schilden verziert. Eine breite Masse Kämpfender, eingerammte Speere, Tote, Verwundete und eingekeilte Kampfgespanne zogen eine breite Spur durch die skamandrische Weide, durch die Lücken der Palisaden und mitten durch Hütten und Zelte. Am späten Nachmittag hatten sich die Verteidiger den Weg zu den Schiffen freigekämpft. Der Extrasinn flüsterte aufgeregt: Der richtige Augenblick, um wirkungsvoll aufzutreten! Ich verstaute das Fernglas, gab den Robotern meine Befehle, schaltete die Schutztarnung ein und schwebte, im Schutz des Deflektorfeldes, auf einen stumpfen Kreidefelsen zu, der in Pfeilschußentfernung von dem Platz entfernt war, an dem am heftigsten und erbittertsten gekämpft wurde. Im Heck eines großen Schiffes stand ein breitschultriger Mann und wehrte mit einer überlangen Lanze die Angriffe von einem Dutzend Ilioner ab. Sie hatten sich mit Fackeln und brennenden Ästen ausgerüstet, griffen erbittert an, und ebenso heftig wehrten sich die Achaier. Ein hünenhafter Mann in bronzeschimmern-
der Rüstung mußte Hektor sein, auf der Seite der Stadt seines Vaters kämpfend. Zweifellos wollten seine Krieger die Schiffe in Brand setzen. Auf einem anderen Schiff stand ein Bogenschütze, der nicht viel taugte; er schoß mit einem großen Bogen aus Holz und Horn und traf nur die Schilde. Ob der Kämpfer mit der Riesenlanze jener Fürst Ajas war, dessen Waffe unter den Angreifern aufräumte, wußte ich nicht. Ich faßte auf dem Felsen Fuß, zog einen Pfeil und zog die Sehne bis zum Ohr und traf die Schulter eines Mannes, der ausholte, um die Fackel ins nächste Schiff zu schleudern. Er wurde umgeworfen und fiel schreiend in die Glut der Fackel. Ajas war halbnackt, unmäßig schwarz behaart, und unter dem Eisenhelm, der auf seinen Schultern aufsaß, ringelte sich ein schwarzer Vollbart. Jetzt riß die Bogensehne des Schützen hinter dem hochgebogenen Schiffsbug. Hektor drehte sich um, bückte sich, packte die schwelende Fackel und entfachte sie mit wirbelnden Bewegungen. »Kämpft weiter!« brüllte er. »Zeus hat die Bogensehne zerrissen!« Ajas holte weit aus und rammte die Lanzenspitze durch den Schild in den Brustkorb eines Angreifers. Dieser ließ den Schild fahren und fiel schreiend, mit furchtbarer Brustwunde, aufs Gesicht. Ich zog den Lähmdolch und feuerte auf die Ilioner, die mit ihren Fackeln und Ästen dem trockenen Holz der Schiffe gefährlich nahe gekommen waren. Ajas schrie: »Schande über euch Griechen! Entweder brennt Hektor unsere Schiffe zu Asche, oder wir vertreiben die Troer!« Mein nächster Pfeil traf einen Angreifer in den nackten Oberschenkel. Der Bogenschütze schleuderte seine Waffe wütend in den Kielraum des Schiffes und sprang fluchend von den Planken. Vom benachbarten Schiff, einer kleineren Konstruktion, sprang ein kleinerer, sehniger Mann in voller Rüstung und stellte sich neben Ajas. Er schwenkte mit beiden
Händen ein Kampfbeil. Ajas schrie: »Odysseus! Sie werden uns besiegen!« »Bedankt euch beim trefflichsten aller gehörnten Ehemänner.« Seine Stimme war schneidend klar. »Menelaos sucht Helena vielleicht bei den Schiffen.« Mit einem schnellen, waagrecht geführten Hieb, der beherrschte Kraft verriet, schlug er einen anspringenden Trojaner nieder, mit dem Rückwärtsschlag traf er die Fackel und prellte sie zurück in den Haufen der Angreifer. »Deswegen kämpft er dort drüben. Seht! Wie ein geblendeter Lahmer.« Als der nächste Pfeil die schwirrende Sehne meines Bogens verließ, dachte ich erschreckt, warum ich den gefährlichen Umweg gewählt und nicht nach Ilion geflogen war, um dort sofort nach dem Element zu suchen. Die Angreifer zogen sich zurück, gliederten den Angriffskeil unter Hektors Befehlen neu, ließen einige Sterbende liegen und bildeten, dreißig bis vierzig Männer, den Keil mit Schilden und Speeren; zwischen runden, ovalen und doppelt ovalen Schilden starrten Lanzenspitzen in alle Richtungen. In der Mitte des Haufens sah ich brennende Fackeln, der riesige Hektor führte ihn an. Wie eine metallene Schildkröte schob sich der Igel auf die Schiffe zu. Der Extrasinn zischte: Der beste Augenblick. Strahler! Ich verbarg den Strahler halb hinter dem Schild und zielte sorgfältig. Fünf, sechs Blitzschläge zuckten vom Felsen, setzten die Schilde in Brand, und vor dem Haufen der Angreifer entstand eine Bahn aus rauchender Erde, brennendem Stroh und verglastem Sand. Die Männer schrien. Ich schob den Strahler in den Stiefel und zog die Sehne aus. Der erste aufblitzende Pfeil riß eine Kerbe in Hektors Helm. Gleichzeitig begann das erste Schiff zu brennen. Griechen stürzten aufs Heck und zerrten den Rumpf auf Holzrollen zwischen den anderen Schiffen heraus und zum Strand. Der zweite Pfeil steckte im Oberarm
eines Troers, der dritte prallte mit grellem Knirschen von Hektors Helm ab. Ein entgeisterter Schrei übertönte den Kampflärm und das dumpfe Klirren. Du bist nicht in der Stadt, weil jeder, der in eine ummauerte Gemeinschaft eindringt, besonders auffällt. Wie hättest du beweisen können, kein Späher der Griechen zu sein? »Goldene Pfeile! Apollon ist mit den Achaiern!« Odysseus sah auf, riß den Schild hoch und wehrte einen Speer ab, der davonwirbelte und sich in die Bordwand bohrte, dann spaltete er mit einem einzigen Axthieb den Schädel eines Troers. Der aufgerissene Helm rollte über den Sand. Hektor rückte den Helm zurecht und griff wieder an. Ich spannte den Bogen, erneut heulte ein Pfeil durch die Luft, bohrte sich in einen Harnisch; die weißen, goldgeränderten Federn wippten. Jemand hatte Ajas Lanze zerhackt. Er riß einen zwölf Ellen langen Riemen aus dem Schiff, der mit Bronzebändern geschäftet war, rannte von einem Ende des Schiffes zum anderen und drosch damit auf die Köpfe der Troer ein. Hektor schien zu rasen; an der Spitze seiner Männer drang er immer weiter vor. Ein Pfeil traf seinen Helm in der Höhe der Stirn, durchschlug ihn; Blut lief zwischen den Augen entlang des schwarzen Nasensteges. Hektor schien es nicht bemerkt zu haben. Ich schoß weiter; ein Troer nach dem anderen schlug zu Boden, verlor seine Waffen, kroch zur Seite oder hinkte davon. Einige wurden von Griechen erschlagen, andere kamen lebend davon. Schließlich konzentrierte sich der Kampf auf ein großes, schwarzes Schiff, von dessen Heck Hektor nicht zu vertreiben war. Ajas, Odysseus und ich waren die wichtigsten Kämpfer der Achaier. Nach einigen weiteren Feuerstößen aus dem Strahler fuhr rasender Schrecken in die Troer. »Zeus schleudert Blitze!« schrie einer und stob davon. Der Lanzenkämpfer neben Hektor rief: »Und schießt goldene Pfeile! Die Götter sind gegen uns.«
Ich wurde durch einen Trupp Troer abgelenkt, der mit brennenden Fackeln heranrannte. Ungefähr hundert ausgeruhte griechische Krieger, die Hälfte mit roten Schilden, rannten auf das Schiff zu, an der Spitze ein Krieger in funkelnder Rüstung. War das etwa Achilleos? Seine Männer ordneten sich zum Stoßkeil, er selbst senkte eine lange Lanze. Odysseus lachte und rief Ajas zu: »Sieh an! Achills liebreizender Nachtgefährte.« Patroklos und die Myrmidonen – Kolchis hatte mir kennzeichnende Geschichten über viele griechische Fürsten erzählt – entschieden den Kampf um das Schiff. Ich lähmte einige Troer, sah zu, wie Hektor zu einem Kampfwagen rannte und die Pferde peitschte. Er donnerte über den Graben, durch die Zeltstadt und durch die Bresche im Wall. Patroklos winkte schreiend, ein Wagen rasselte herbei, und er nahm die Verfolgung auf. Als ich, halb verborgen im Rauch der Fackeln, auf dem Deck des Schiffes landete, war an dieser Stelle der Kampf entschieden. Ajas und Odysseus senkten die Köpfe, nahmen die Helme ab und ließen sich auf ein Knie nieder. Odysseus hob den Kopf, starrte mich schweigend an und murmelte: »Ich kenne alle Götter des Olymps, dich aber nicht. Wer bist du, daß du Blitze schleuderst?« »Ich bin Atlan, Arzt und Bogenschütze«, sagte ich und nahm den Helm ab. Ich grinste Odysseus an; aus einem seltsamen Grund mochte ich ihn. »Ich bin kein Gott, auch kein Achaier fürs Fußvolk. Ich helfe euch, Ilion zu schleifen.« Ich setzte mich auf die Bordwand und sah zu, wie Ajas den Lanzenrest in die Planken rammte. »Deine Hilfe können wir brauchen. Wie kommst du hierher?« »Ich kam auf Wegen, die nicht deine sind, Ajas von Salamis.« Ich lachte und hielt den Helm unter dem Arm. »Ich kann vieles, das euch helfen wird.«
»Da du ein Mann von Verstand und wohlklingender Beredtsamkeit zu sein scheinst, Toxotes, bitte ich dich, mein Gast zu sein.« Er nickte knapp und sprach in trockenem Tonfall weiter. »Verwirrende Rhetorik ist nicht Sache der Achaier; du kannst mir helfen, indem du dich mit mir unterhältst. Unzählige Griechen – deren Namen mir entfallen sind – sind dumm, gewalttätig, stolz und nur zum Saufen, Fressen, Kämpfen und Huren zu gebrauchen.« Ajas knurrte in aufkommender Wut: »Deine Zunge ist wie der Zahn einer Giftschlange, Laertide. Eines herrlichen Tages wird dich einer deswegen totschlagen.« »Du nicht, Lokrer«, sagte Odysseus. »Nicht du und auch kein anderer aus dem Kreis der Fürsten. Lassen wir den Zarthäutigen allein wüten, oder helfen wir ihm?« Ajas schirmte die Augen mit der Hand, blickte zum Burgberg und brummte: »Es wird Abend. Patroklos wird sich noch ein wenig mit Hektor herumschlagen, aber nichts ausrichten: Hektor ist besser. Wir sollten das Lager aufräumen, unseren Schweiß abwaschen lassen und uns danach vergnügen.« Odysseus schwang sich aus dem Schiff, rollte einen Toten zur Seite und sagte: »Im zehnten Jahr der Kämpfe ist selbst in meinem Zelt noch Wein übrig, Atlan Iatros. Du wirst mein Gast sein?« »Allein schon deshalb, weil ich die frohen Reden zwischen euch lieben gelernt habe. Ich glaube, wir werden gute Tischund Nachtgespräche führen.« Ajas blickte uns mit gerunzelter Stirn nach, als wir zwischen Troerleichen, schwelenden Fackeln, umherhastenden Kämpfern und Sklaven, die zerbrochene Waffen und Verletzte wegschleppten, hinüber zu dem Haus gingen, in dem Odysseus und seine Gefolgschaft wohnten. Ordentliche Zelte standen in einem unversehrten Garten. Sauber gehacktes Feuerholz war
an der Mauer gestapelt. Ein Diener brachte gemischten Wein; ich bemühte mich, das Geflecht der fürstlichen Beziehungen besser zu verstehen, bis Odysseus sagte: »Mich hat man in dieses blöde, viel zu lange, nutzlose Gemetzel gezwungen. Längst hemmte sich der Schwung der fürstlichen Wut. Jetzt will keiner mehr zuerst nachgeben. Er fürchtet die Schande.« »So ist es überall«, sagte ich. »Kriege, die nicht nach einem Mond entschieden sind, werden nur noch um ihrer selbst geführt.« Odysseus nickte, trank ungemischten Wein und ließ sich die Rüstung abnehmen. Er war nicht nur sehnig, sondern muskulös; ich hatte seinen Körperbau in der Rüstung falsch eingeschätzt. Es begann zu dunkeln. Als junge Frauen die Öllampen anzündeten, brachten Menelaos, Ajas und Autometon, der Wagenlenker des Patroklos, die Leiche des jungen Mannes ins Lager. Hektars Lanze hatte besser getroffen, als beim Kampf um die Schiffe. Odysseus senkte den Kopf und sagte leise, fast gelassen: »Es werden noch viele getötet, ehe wir die Mauern umwerfen.« Wir wechselten einen langen Blick des Einverständnisses und gingen ins Haus. Es war aus Balken, Strohgeflecht und Lehm auf Steinfundamenten errichtet: ein großes Bauernhaus. Männer, Knechte, Mägde und Sklavinnen wohnten darin. Es gab kaum Fenster, nur die Mitte der hölzernen Megara besaß einen großen Rauchabzug. Auf dem Boden lagen Matten und Felle. Niedrige Tische, hölzerne Sitze und Bänke standen regellos herum, in den Ecken lehnten Speerbündel, Waffen, Schilde und Rüstungen hingen an den Wänden. Ich zählte flüchtig etwa fünfzig Krieger und je ein Dutzend Diener und Sklavinnen. Der ländliche Hof war voller Schlachttiere, Treibholz, dahinter standen Schiffe auf Steinen und Holzrollen. Ü-
berall wurde gearbeitet, man reinigte Waffen, kochte und briet, polierte Rüstungen und mörserte Korn zu Mehl. Odysseus ließ ein Zelt räumen, eine Liege hineinstellen, dazu Tische für Becher, Schalen, Krüge und Öllämpchen. Ich hängte jene Waffen, die jeder anfassen konnte, an einen geschälten Stamm vor dem Zelteingang und war, als mich Odysseus zum Mahl bitten ließ, zufriedenstellend eingerichtet.
18. »Dein vorgeblich göttliches Auge ist nicht beleidigt über die Kargheit meines Hauses?« Odysseus und ich kamen von den Trauerfestlichkeiten für Patroklos; einem riesigen Scheiterhaufen, dessen Rauch über dem Lager hing. Achill hatte seine Waffen angelegt; es schien sich eine Versöhnung mit Agamemnon anzubahnen. Odysseus und ich kamen vom Schwimmen zurück; wir gierten nach Wein und einem heißen Bad. Ich antwortete: »Deine kluge Unterhaltung, Odysseus, entschädigt mich für die einsame Kargheit des harten Lagers. Und unendlich viel gibt’s zu sehen und hören in eurem Lager. Man könnte darüber glattweg den Kampf vergessen.« »Du hast viel gesehen und, so scheint’s, alles verstanden, Atlan Iatros.« Er lachte schallend. »Was gefällt dir an uns, so daß du, könntest du singen, dies zur Leier sängest?« »Der Gesang bräche die Mauern.« Ich breitete die Arme aus und zeigte ihm die Handflächen. Er nannte mich »Arzt«; augenscheinlich war er von meiner Göttlichkeit nicht sonderlich überzeugt. Ein Skeptiker also, was ihn schätzenswerter machte. »Ich sänge, indes, daß ich eine große Schar wilder, grausamer Krieger kennengelernt habe, mit unbeugsamer, also sturer
Ehrauffassung, die wegen des Gesichtsverlusts weit weniger als wegen Helena, Paris und dem Staatsschatz der Troas kämpfen, aber auch, um künftig keine Maut und weniger für Lotsen zahlen zu müssen. Andererseits sind sie liebenswert, allerdings seltener, wie mäßig erzogene Kinder, wenn sie weinselig über Frauen, Götter und Schicksal sprechen.« »Wenigstens die Schärfe deiner Sinne ist göttlich: Auge, Ohr, Verstand und Zunge. Und du willst, womöglich durch ein größeres Gemetzel, den Kampf um Ilion beenden helfen?« »Würden wir morgen siegen, brächte dies für Tausende den Vorteil, unverletzt und am Leben zu bleiben. Obwohl es viele Opfer gäbe.« Er setzte sich in den fellüberzogenen Sessel, klatschte in die Hände und rief: »Wein! Richtet das Bad! Die Fußwäsche!« Er sah mich fragend an. Ich ließ meine Schale wieder füllen und erklärte, was ich meinte. »Man nennt dich den Listenreichen aus Itaka. Ich werde dir Dinge zeigen, die du noch nicht kennst. Wir zwingen dadurch die Troer, die Tore zu öffnen und Helena herauszugeben. So bringen wir gleichzeitig deinen innigen Freund Menelaos in Schwierigkeiten.« Er verschluckte sich am Wein, schlug sich auf die Schenkel und funkelte mich an. Er war einen Kopf kleiner als ich, breitschultrig, mit kurzem, rötlichbraunem Haar, an den Schlafen schon grau. Ich schätzte ihn auf höchstens zweiunddreißig Sommer; er reinigte und pflegte seinen Körper im Gegensatz zu den meisten anderen. Auch der sorgfältig gestutzte Kinnbart zeigte an den Schläfen erstes Grau. Ebenso schnell wie seine hellbraunen Augen war sein Verstand, dessen Stärke, wie die des Körpers mit den wuchtigen Schultermuskeln, in einer dauernden Leistung lag, nicht im schnellen, plötzlichen Einsatz. Seine Zunge war wie ein dreikant geschliffener Dolch,
was ich ebenso schätzte. Er sah durch die Öffnung der Megara und murmelte: »Achill ist dumm, stark und unbeherrscht. Ajas zeigt immerhin Spuren von Klugheit, während Agamemnon nur seine Leute gut befehligt. Wird wohl ein böses Ende mit ihm nehmen. Menelaos ist die Gelächterfigur im Heer: Tags und nachts denkt er an und lamentiert er über Helena, die ebenso ein Jahrzehnt älter geworden ist, mit Tränensäcken und einem Pferdearsch. Lohnt es sich, dieses Jahrzehnt – frage ich dich, Freund Atlan?« »Du kennst meine Meinung. Gehen wir ins Bad.« Als wir im dampfenden Wasser saßen, das die letzten braunen Spuren aus meinem nachgewachsenen Haar laugte, sagte ich: »Ein Ende mit Schrecken, Odysseus. Bald, schnell, erbarmungslos. Es ist die bessere Lösung; denk an die unzähligen achaischen Jünglinge, die vor Tod und Verwundung bewahrt werden, ja, und auch an die Troer. Auch aus einem anderen Grund als euer Neid auf die Troas: Xeagros, die Mesarier und ich müssen aus einem anderen Grund in die Mauern und die Schatzkammer des Priamos.« »Xe-Xeagros der Stotterer?« »Derselbe. Er ist der Freund Menelaos’ des Gehörnten.« Odysseus spuckte einen Knorpel des Hammelbratens, den er in der Faust hielt, und dessen Fett große Augen auf dem Badewasser bildeten, ins Feuer. »Von allen Mesariern ist er der Vernünftigste. Falls man von Menelaos’ Freunden Vernunft erwarten kann. Die anderen… die wildeste Horde im Heer. Sie waren einundvierzig. Jetzt leben nur noch siebenundzwanzig der ihren.« »Sechsundzwanzig. Einer starb in Vaphio unter meinen Fingern.« »Auch du wirst bald sterben, wenn du nicht ein Schützling
der Pallas Athena bist, so wie ich.« Odysseus sprach gefährlich leise. »Du bist, wie ich, zu klug für dieses Volk. Was weißt du nicht? Was kennst du nicht?« Ich zuckte mit den Achseln. »Was sucht ihr, du und Xeagros, in Ilion? Helena?« »Schwerlich. Wohl kaum.« Ich nahm einen Schluck. »Den Schlüssel zum Olymp, wie der weise Seher Kolchis zutreffend sagte.« »Entweder bist du, nach mir, der größte Lügner im Heer, oder wirklich ein Gott. In den nächsten Monden werden wir es sehen.« »Wir werden. Zuerst baue ich eine Maschine, die Felsbrocken nach Ilion hineinwerfen kann.« »Das kann ich nicht glauben.« »Ich werde es dir zeigen.« Ich spießte ein Stück weiches Brot auf die Dolchspitze, wippte mit der Waffe und schleuderte den Brocken in einer steilen Flugbahn hoch. Er fiel in die auf stiebende Asche. »So ungefähr. Nur größer. Stell dir vor, aus einer Höhe von hundert Ellen hagelt es kopfgroße Steine.« »Deine Erfindung wird die Mesarier freuen.« Er lachte grimmig. »Sie scheinen dich aus Gründen, die ich nicht weiß, schon zu hassen. Solcher Steinhagel ist schlimmer als eine Rotte Amazonen.« »Eine Rotte was?« »Amazonen. Du kennst sie etwa nicht?« »Nein.« Ich sagte die Wahrheit. »Erzähl!« »Es ist ein Stamm von… Frauen, weit im Osten.« Er sah den abgenagten Knochen an, kicherte und warf ihn dem Knorpelstück hinterher. »Wir haben die Amazonen gebeten, uns gegen Ilion zu helfen. Sie kommen in wenigen Tagen. Was sag’ ich: Frauen? Eine bösartige Verwirrung der Natur. Zeus hat sie nicht in Lust, sondern im Zorn gezeugt.« »Also kriegführende Frauen und Mädchen.« Ich bemühte
mich ernst zu bleiben. Er winkte nach neuem Wein. »Schöne, schlanke, sehnige Mädchen, bessere Kämpfer als die meisten Griechen, gnadenlos in der agonalen Begegnung, härter als Achill, wenn er seinen Hintern hochbekommt. Merkwürdige… Geschöpfe. Sie geben sich nur dann Männern hin, wenn der Tag gekommen ist. Einmal im Jahr. Denk nur! Männliche Säuglinge setzen sie aus, so wie in Sparta die Frühgeburten. Den Männern werden die Augen ausgebrannt, damit sie nicht sehen, wen sie begatten. Die Amazonen kämpfen wie die Wahnsinnigen.« »Lauter Schwestern der Gorgo Medusa.« »Nicht äußerlich.« Odysseus grinste; ich war nahe daran, zu glauben, daß aus seinem Badezuber ein lallender Triton auftauchen würde. »Wart’s ab, Iatros.« »Das ist wieder eine der Geschichten, Odysseus«, – ich lehnte mich zurück – »deretwegen du im Heer als Aufschneider, Narr und Schwätzer bezeichnet wirst, als Listenreicher.« »Bei der hausfraulichen Einsamkeit meiner Penelopaia! Ich schwör’s. Warte ab und sieh selbst, Toxarchos Atlan.« Seine Auswahl war größer als die anderer: Er nannte mich Iatros, Toxotes, Toxarchos, mein Freund, Weißhaariger oder Xenotos, eine Zusammenziehung von »Fremder« und »Atlantos«. »Wann fangen die Amazonen an, Troer zu töten?« »Bald. Sie kommen sicher. Pentesilea, die Achill tötete, ihre ehemalige Anführerin, kämpfte für Priamos, von hinter den Mauern. Aieta Demeter kämpft für uns.« Er weidete sich an meinem ungläubigen Gesichtsausdruck. Ich stand auf; zwei Sklavinnen wickelten mich in weiche Tücher. »Wann bauen wir die Steinewurfmaschine?« »Bald. Sollten wir nicht mit den anderen Fürsten sprechen?« »Ja. Und du solltest mit Xeagros reden. Er haßt dich, weil er dich nicht kennt.«
Ich streckte mich auf der mit Tüchern bedeckten Bank aus, fühlte das warme Öl zwischen den Schulterblättern und die Finger der Sklavin, die meine Muskeln zu kneten begann; ich dachte an Hedelis und ihre Hände, die binnen weniger Tage die Schwielen verloren hatten. Ich drehte mich zu Odysseus herum und sagte kalt: »Nein. Er und die Mesarier hassen mich, weil sie mich nicht kennen. Sie kommen dorther, wohin ich muß: aus meiner fernen Heimat, Vater der feinen Finten.« Er stemmte die Hände in die Seiten, sah lange und schweigend in mein Gesicht, blickte aus dem Badehaus zu den Feuern der Achaier, schlug nach einer Stechmücke und nickte schwer. Dann brummte er: »Eines nicht zu fernen Tages, bei Pallas, werde ich dich verstehen, Freund Atlan. Vielleicht.« Ich hatte von Ilion und der Problematik der Belagerung genug gesehen, und was ich nicht selbst sah, zeigten mir die drei Sonden. Ich konstruierte einen Plan: Jeder Krieger sei ein arkonidischer Kampfroboter, jede Gruppe eine Beibootbesatzung; der Kosmostratege dachte in winzigen Proportionen. Ich begann das alles zu hassen – die Grausamkeit, Teil des täglichen Lebens. Nach unten gerichtet; die launischen Fürsten bestimmten, wer zu gehorchen hatte. Gleichgültigkeit dem eigenen und besonders dem fremden Leben gegenüber. Unlogische, verworrene Ehrbegriffe. Die Achaier der frühen Eisenzeit waren Kinder, Barbaren, abseitiger als die Krieger von Menefru-Mirê oder Babyla. Eine hitzige, erbarmungslose Rasse; ich sah schon heute Ilion brennen. Und ich sah Tausende von Toten, lebenslang verletzte Krüppel, brennende Häuser und Paläste, Gefangene, Gemarterte, Geschändete, Vergewaltigte, Versklavte, Beraubte und einen Ozean bitterer Tränen. Auf beiden Seiten.
Ich war entschlossen, dem Kampf ein schnelles Ende zu bereiten. Es ging nicht anders als durch Gewalt; alle bisherigen Verhandlungen waren an Starrsinn und falschem Ehrgefühl gescheitert. Ilion mußte binnen der nächsten neunundzwanzig Tage – oder höchstens zweier Monde – fallen. Die Mesarier und ich hätten dann das Steuersegment, ich hielt den Rechenkopf dagegen, das Schiff startete, und die Arkonflotte landete zum zweitenmal. Und betrieb was zu betreiben war, mit der Gründlichkeit eines derer von Gonozal! Odysseus fragte leise: »Und – wohin müßt ihr reisen?« »An einen Ort, höher als der Olymp.« »Das«, sagte er gedehnt, »wollen viele. Ob ausgerechnet du diesen Ort erreichen wirst?« Ich hob die Schultern. Zwei Tage später – Holz, Schnüre, Sehnen und Tauwerk der Maschine wurden vorbereitet – saßen Odysseus, Agamemnon und Menelaos an einem Feuer abseits des Lagers, auf einem Roeteionfelsen. An einem geschwärzten Speer drehte sich ein junger Hammel; im Halbdunkel hinter dem Feuer lagerten andere Fürsten und Fürstensöhne. Wir hatten die Holzteile für die Steinschleudern bearbeitet. Odysseus legte die Fersen auf einen Schild, der auf drei Steinen lag. Er schnippte in die Richtung des Heerführers und sagte versöhnlich: »Wir sollten abziehen, Menelaos. Die Männer sind krank vor Heimweh; Helena ist alt und faltenreich, mit hängender Brust. So wie du, Menelaos. Kämpfst du wegen einer alten Frau, die ein anderer ein Jahrzehnt lang besessen hat, während du um den Fuß der Mauern ranntest und von kochenden Liebesnächten träumtest?« Er hob die Trinkschale, schüttete Wein als Trankopfer ins Gras; nur wenige Tropfen. Sein Vertrauen in den Olymp schien gelitten zu haben. Er sprach ruhig weiter: »Nicht einmal dem Paris hat sie Söhne geboren. Was, frage nicht nur ich,
willst du mit dieser unfruchtbaren Greisin beginnen? Ein sechster Frühling eurer Liebe?« Es schien die Nacht ruhiger Gespräche zu sein. Menelaos ging zögernd dreimal ums Feuer und blickte uns an, als wolle er sich Rat für die Antwort holen. Er stöhnte und sprach: »Ausnahmsweise hat du recht, Mann von Itaka. Weshalb kämpfen wir eigentlich noch?« Das Gold, sagte ich mir und lauschte auf Sägen, Hobel und Hämmer, die bei Fackellicht bewegt wurden, das der Kriegszug die Achaier kostete, lag – vielleicht – in Ilions Schatzgewölben. Aufwand und Ertrag hielten sich die Waage. Und Rico hatte dreimal bestätigt, daß Deflektorfelder, Antigravelemente und Hochenergiestrahler im Umkreis des Burgberges versagten. Agamemnon entgegnete störrisch, mit rauher Stimme: »Ich sage euch, warum wir noch hier sind. Wenn wir nach neun Jahren zurückkommen, ohne Helena, ohne den Schatz, ohne der Botschaft, daß Ilion gefallen ist, werden uns in der Heimat nicht einmal die Hunde anbellen, mindere Geschöpfe des Hades. Alle lachen, daß man es auf dem Gipfel des Berges Ida hört.« Er machte eine Pause und atmete schwer. »Dank der Hilfe deines Xenofreundes, Odysseus, haben wir ja die Stadt in wenigen Tagen genommen, beim Weltenerschütterer!« »Daß du laufen kannst, Odysseus, hast du bewiesen.« Achill, von Trauer gezeichnet, kam zum Feuer und stützte sich auf einen monströsen Speer. »Daß du fein reden kannst, wissen wir seit mehr als neun Jahren. Den Beweis, daß du auch denken kannst, bist du uns bis heute schuldig geblieben.« Odysseus blickte auf, starrte schweigend Achill an und entgegnete geringschätzig: »Jeder das, was er am besten kann. Ich renne und gewinne Preise und denke. Agamemnon befiehlt und schreit. Menelaos wartet – worauf, Freunde? – und du schlägst drein, hirnarmer
Pelide. Warte, bis der Steinwerfer arbeitet, warte, bis wir die Schiffe ausgesondert haben, bis die Gräben ausgehoben sind, und warte, bis dir einer in die halbgöttliche Ferse schießt.« »Seit wann dichtet Achill?« fragte Menelaos leise. Achill rammte den Schildrand gegen den Boden und brüllte: »Etwa du?« »Ich habe nicht die Absicht«, sagte Odysseus weich wie Öl. »Schon eher derjenige, der Menelaos hörnte.« Er deutete mit ausgestreckten Armen die Spannweite des Gehörns an. Ich griff zum Lähmdolch; gleich würden sie übereinander herfallen, die schweißstinkenden Fürsten. Ich sah eine Gestalt und sagte laut: »Deine Zunge, Odysseus, ist heute nacht so scharf wie die Pfeilspitzen des Philoktet, den ich im Schatten hinter dem Sohn des Peleos sehe.« Ich saß auf meinem zusammengefalteten Mantel, den Rücken gegen einen halb behauenen Steinquader gelehnt, traute meinen Ohren und Augen nicht und fragte mich, ob ich erwachsene Männer oder zänkische Kinder, das Nächstschlimmere hinter kläffenden Welpen, vor mir hatte. Philoktetes kam näher. Ich war verwirrt: Er kniete vor mir nieder. Seit meinem Auftauchen betrachteten mich manche Griechen als halbgöttliches, zumindest unbegreifliches Wesen, scheuten sich, ihre Ehrfurcht zu zeigen, sagten aber frei heraus, was sie dachten; die halbe Todfeindschaft zwischen Odysseus und dem Meister aller Bogenschützen war selbst der jüngsten Sklavin bekannt. Philoktet sagte: »Toxarchos Atlantos. Man sagte mir, du schössest mit goldenen Pfeilen?« Ich nickte, schnippte, und Hades zerrte meinen Köcher ins Licht des Bratenfeuers. Kerberos brachte Bogen und Unterarmschutz. Ich warf einen Pfeil übers Feuer. Er blieb vor Philok im Boden stecken; er zog ihn heraus und prüfte ihn ausgiebig. Er sah die Güte des Materials, begriff aber dessen
Fremdartigkeit nicht und sah die vier Schneiden, die nadelscharfe Spitze, den ausgewogenen Schaft, die goldene Schicht auf der Spitze und an den Federn, legte das Geschoß, wie auf einer Waage, auf den Finger, betastete die goldene Nock, dann bewegte er das Kinn anerkennend auf und ab. Achilles knurrte: »Wer schießt besser?« »Atlan«, rief Odysseus. »Weißt du nicht, daß er unfehlbar ist in allem? Oder beinahe dem meisten?« Ich begann ihn zu lieben wie einen Bruder. Seine Zunge war besser als drei tödliche Nattern. Ich verschluckte mein Gelächter und sah, wie Achill die Schultern hob und fallenließ; die Rüstung schepperte. Odysseus sagte einschmeichelnd: »Philoktetes, der mir zu Recht gram ist und mich, zu Unrecht, verwünscht und verflucht, ist nach Teukros der beste Bogenschütze. Wollt ihr euch messen?« »Gegen einen Halbgott?« Philoktet zweifelte. »Der mit goldenen Pfeilen schießt wie Apoll?« Philoktetes, etwa fünfzigjährig, war von Odysseus wegen einer ekelerregend schwärenden Wunde auf der Insel Lemnos ausgesetzt worden. Man holte ihn zurück, gewisser Götterzeichen halber; ich und Podaleirios hatten seine Wunde binnen weniger Tage mit arkonidischer Antibiotika geheilt. Nichts anderes als eine schwere Entzündung, durch Schmutz in der Wunde lebensgefährlich. Der Mann, der wußte, wem er die Heilung verdankte, kam in den Lichtschein des Feuers und nahm seinen Bogen in beide Hände. Ich sagte: »Weder die Götter noch ich treffen immer.« Ich nahm meinen Bogen aus den Fängen des Hundes und zupfte an der Saite, die einen Ton wie von einer Leier-Saite von sich gab. Philoktetes kauerte sich nieder, zog den Bogen durch die Kniekehle, ergriff den oberen Schenkel, hängte die Sehnenschlinge ein und prüfte die Zugkraft. Er starrte mich
herausfordernd an. »Du wärmst deinen Bogen nicht am Feuer?« »Es ist der lebende Bogen der Götter und Halbgötter.« Philoktet begann über den Flammen und neben der Glut den Bogen zu wärmen; eine Holz-Horn-Zusammenleimung. Seine Hände schienen ihn zu kneten, er wiederholte den Spannvorgang. Der Bogen war noch ungleich gespannt, die Krümmung beider Hälften war unterschiedlich stark. Dadurch, daß er den Bogen dort erwärmte und rieb, wo er weniger stark gespannt war, richtete sich der Bogen ein. Ich war beeindruckt; derlei Vorbereitungen kannte ich nur von Dagormeistern. Knapp eine halbe Stunde später – der Hammel war gar und wurde verteilt – war der Bogen wärmer als unsere Körper und gab einen zirpend-hallenden Ton ab. Mißtrauisch wiederholte der Bogenschütze: »Dein Bogen braucht keine Wärme, Atlan?« »Nein. Die Wärme ist innen.« Hundert Schritt von uns entfernt hing ein alter Schild an einem schiefen Pfahl. Der Widerschein des Feuers brach sich am halbplastischen Bild, einem Pferdekopf, aus dessen Nüstern Flammen züngelten. Ich hob meinen Bogen mit vergoldetem Griff und ebensolchen Enden, schnallte den Armschutz um und zog einen zweiten Pfeil aus dem raschelnden Köcher. Ich trat aus dem Bereich der blendenden Flammen und sagte: »Triff gut, Freund Philok.« Er schob seine Achaierkappe in den Nacken, stellte sich in der richtigen Haltung hin – linken Fuß entlang der Pfeillänge ausgestellt, den rechten quer dazu, mit gespreizten Beinen –, spannte den Bogen bis zum Ohr, löste die Spannung, setzte meinen ersten Pfeil auf die Sehne, zog ein zweites Mal aus und schoß. Der Pfeil heulte davon, schlug ein; ein Klang wie von einem durchlöcherten Kupferbecken drang an unsere Ohren. Ich schlug Philoktetes auf die Schulter und grunzte: »Gut!«
Odysseus stand auf, sah zum Schild und sagte leise: »Das Auge des Pferdes ist getroffen. Ein Meisterschuß, Philoktet! Ich sag’s neidlos.« Der Mann nickte und sah mich lächelnd an. Ich vergaß meine Unruhe, zog den Bogen aus, einmal, zweimal, dann setzte ich die Nock auf die Sehne, verinnerlichte ausatmend Teile der Dagorphilosophie und löste die Sehne. Der Pfeil heulte davon. Ich sah noch einen Herzschlag lang die weiße Fiederung; es gab ein reißendes Geräusch, und Kerberos sprang laut hechelnd davon. Er sprang hoch, biß den Schild vom Pfahl und schleifte ihn, die Innenseite auf dem Boden, zu uns her. Die drei Dutzend Männer am Feuer machten dem Hund bereitwillig eine Gasse frei. Philoktetes nahm den Schild hoch und hielt ihn ins flackernde Licht. Zwei Atemzüge später murmelte er ehrfürchtig: »Der Schuß eines Gottes.« Mein Pfeil war so dicht an seinem Geschoß eingeschlagen, daß eine der vier Schneiden der Spitze den anderen Schaft der Länge nach gespalten und, als wir beide Pfeile herausgestemmt hatten, die Eisenspitze zerschnitten hatte. Achilles sagte: »Toxarchos. Und er ist doch ein Halbgott.« Odysseus grinste unverhohlen und flüsterte in mein Ohr: »Wenn ich’s nicht gesehen hätte, würde ich’s nicht glauben. Ab heute ist im Heer dein Ruhm unsterblich.« Ich hielt den unversehrten Pfeil, den ich abgeschossen hatte, waagrecht hoch und gab ihn Philoktetes. »Nimm ihn. Es tut gut, in diesen wilden, blutigen Tagen einen freundschaftlichen Wettkampf zu führen. Schieße mit ihm deinen besten, wichtigsten Schuß, Freund Philok.« Er dankte lachend mit einer tiefen Verbeugung. Als ich mit Odysseus das Feuer verließ, um ins Lager zurückzugehen, hörte ich, wie der hünenhafte Xeagros sagte:
»Ein Gott? Wenn Atlan ein Gott ist, bin ich Zeus.« Er hat dich als fremden Exoten identifiziert, sagte der Logiksektor. Ich nickte; jetzt wußte ich es endgültig. Odysseus und ich standen vor den fertigen Wurfmaschinen, die auf sechs wuchtigen Rädern von zertrümmerten Kampfwagen liefen. Den riesigen Felsblock, der auf dem Kraftarm als Gegengewicht liegen sollte, würden wir an Ort und Stelle aufladen. Odysseus stemmte die Fäuste in die Seiten und murmelte: »Ich hab’s selbst gesehen. Diese Götterdinge werfen Steine!« »Eine Maschine sollt ihr dort drüben einsetzen, und ich werde mit zwei Dutzend Männern auf dem östlichen Mauerring der Burg kämpfen. Bestimme die Krieger, die einen harten Kampf nicht scheuen!« »In einer Stunde sind sie ebenso hier wie Maultiere und Pferde.« Die Löffelschleuder wurde von acht Tieren gezogen. Wir wollten nicht, daß das wertvolle Stück von den Troern erbeutet werden konnte, deshalb mußte sie leicht zu bewegen sein. Das ansteigende Gelände jenseits des Burgberges war für eine archaische ballistische Waffe besonders günstig. Ich hoffte, die Troer durch einen Steinregen so zu erschrecken, daß sie, wenn auch nicht sofort, den Kampf aufgaben und die Griechen als Sieger anerkannten. Ob ich zu Recht an eine vernunftvolle Lösung dachte, würde sich herausstellen; ich blieb skeptisch. Odysseus winkte seinen Unterführern und sagte: »Abermals ein göttliches Zeichen, Iatros. In nur sechs Tagen, unterbrochen von vielen Kämpfen, hast du die Schleudern erbaut.« Er prüfte die Sehnen, Taue, Bronzelager, Bänder, Klammern und Balken. Er bewegte prüfend den Schäkel, der die Bewegungen des Schleuderbalkens aufhielt. Ich erwiderte sarkastisch:
»Was Götter tun, Mann von Ithaka, ist meist göttlich und wunderbar. Ich verwende Berechnungen, die ich in deinem Land gelernt habe.« »Ich warte auf den Augenblick, der dir zeigt, daß du nicht göttlich bist.« Er hüstelte und grinste breit. »Selbst Götter sind bisweilen menschlich.« Ich hob beschwörend die Hand. »Denke an Zeus als Stier und Europa, an Leda und ihren zeushaften Schwan. Götter sind um Antworten nie verlegen.« »Zugegeben: eine göttliche Eigenschaft. Warte, fragwürdig Göttlicher, bis du Demeter und die Amazonen kennenlernst!« »Was griechische Männer fürchten« – ich ließ mir von ihm helfen, Brust- und Rückenpanzer anzuschnallen – »wird mich, denke ich, reizen.« »Warte es ab«, sagte er trocken. Am Abend kam eine Gruppe von etwa fünfundzwanzig Männern zu den Wurfmaschinen. Acht stämmige Pferde wurden eingeschirrt, ein dichter Kreis staunender Krieger umgab uns, von Kopf bis zu den Zehen in schartiges, rostiges Eisen gekleidet, schwer bewaffnet; viele hatten leichte Verwundungen. Rotgefärbte, schmucklose Helme bedeckten die Köpfe, die dunklen Augen starrten uns und das Geschütz an. Ich trug meine auffallende Rüstung; die Hunde bewachten die Ausrüstung in meinem Zelt. Einer der Männer sagte: »Wir sind die Krieger, die dir helfen, Toxarchos Atlan.« Odysseus nickte. Auf dem Schild des Truppführers, der wie zwei ineinander übergehende Kreise geformt war, glänzten zwischen Scharten und Narben viele Sterne; Darstellungen unbekannter Sternbilder im Norden. Ich sagte: »Heute nacht umgehen wir die Stadt, indem wir die alte Straße am Skamandros benutzen. Morgen gibt uns Odysseus das Zeichen.« Die Pferde bewegten sich unruhig in den kupferbeschlage-
nen Ledergeschirren. Vom Meer wehte kühle Nachtluft. Sie trug Gerüche nach Braten, Salzwasser, Fisch und faulendem Holz. Ich schaute mich um: Der Haufen der Krieger beeindruckte mich durch die drohende Brutalität, die von jedem einzelnen Mann ausging. Odysseus schien die härtesten und erfahrensten Krieger ausgesucht zu haben. Ein Mann fragte: »Und wenn wir Troern begegnen?« »Dann genügt ein leiser Pfeil.« Ich lachte grimmig. »Am Morgen sollten wir mit dem Werfen verderblicher Steine beginnen.« Die Männer griffen in die Zügel. Peitschen knallten, der Zug setzte sich langsam und knarrend in Bewegung. Die Felgen zermalmten Kalksteinbrocken, das Fett verteilte sich, und das grauenhafte Kreischen der Lager hörte auf. Den Schmieden hatte ich einige neue Möglichkeiten gezeigt, die sie begierig aufgegriffen hatten und vielleicht weitergaben. Pferde wieherten dumpf, eine Fackel schwelte. Eine Gruppe Krieger bildete die Vorhut, der Rest sicherte nach hinten und nach den Seiten. Unter dem Beifall vieler Achaier durchquerten wir das Lager, fuhren durchs Palisadentor und über den Graben, wandten uns nach rechts und ließen den sanften Hang des Vorgebirges hinter uns. Die Landschaft verschmolz mit dem Schwarz, der Farbe des Meeres. Der schweigsame Zug tauchte ein in die Schatten der Bäume am anderen Flußufer und wanderte stundenlang langsam weiter; auf den Mauerkronen brannten Feuer, und ihr Licht, das sich auf Schilden und Panzern spiegelte, diente uns als Beleuchtung. Je näher wir der Burg kamen, desto deutlicher erkannte ich Einzelheiten. Ein Mann murmelte: »Neun Jahre und vier Monde. Verfluchte Stadt!« Ich nahm den Helm ab, klemmte ihn unter die Achsel und wischte den Schweiß aus meinem Gesicht. »Auch ich muß hinein, in den Palast des Priamos.«
»Was suchst du dort, Atlan Toxarchos?« »Du würdest es den Schlüssel zum Olymp nennen. Etwas, das mir den Weg in die Heimat öffnet.« Die Mauern links von uns waren höher als dreißig Ellen. An vielen Stellen saßen die Quadern auf dem gewachsenen Gestein. Die Flächen waren verwunderlich glatt, die wenigen Tore waren schmal und schwer zugänglich, auch in der Unterstadt. Meeresgott Poseidonios und der olympische Bogenschütze Apoll hatten sie, angeblich, vor Urzeiten gebaut. Manche glaubten, daß es so war; Odysseus hatte mir augenzwinkernd erklärt, daß König Priamos, der Steuereintreiber der Meerenge, dieses Gerücht ausgestreut habe. Plötzlich warf der Extrasinn ein: Vergiß Xeagros und die Mesarier nicht! Wir wanderten durch neblige, staubige Finsternis entlang der gluckernden Flußwellen, etwa vierzig Chen-Nub weit, auf dem Weg, den ich ausgekundschaftet hatte. Mehr als sieben Stunden brauchten wir; Pferde schnaubten. Waffen klirrten ab und zu, das Mahlen der Felgen verschmolz mit den vielfältigen Geräuschen der Nacht, Steine polterten unter den Hufen; es ging uns allen nicht anders: Wir waren plötzlich außerhalb des Geschehens, gingen und fuhren durch unberührtes Land, das nur der Nacht gehörte. Im Uferschilf bewegten sich Tiere, Wellen plätscherten, Fische sprangen aus dem Wasser, und der Mondschein brach sich auf den stillen Oberflächen kleiner Buchten. Niemand sprach, wir versuchten, mit Augen und Ohren die Dunkelheit und das Schweigen zu durchdringen. Ein leiser Fluch! Ein Mann war über einen Ast oder einen Stein gestolpert. Ich rief unterdrückt: »Still! Bleibt ruhig!« Ein mürrisch gegrunzter Fluch antwortete. Über uns brannten die Gestirne: mein Ziel und das von Xeagros und den Mesariern. Enten raschelten auffliegend im Schilf. Wilde Schwei-
ne suhlten sich im Schlamm, Wölfe und Luchse starrten uns mit riesigen gelben Augen an. Die Vögel der Pallas schlugen quiekende Mäuse oder Ratten. Meine Gedanken vollführten eine Wendung durch Jahrtausende: Was hatte ich hier zu suchen? Gast aus einer anderen Welt inmitten barbarischer Strukturen, zwischen wütenden Kämpfen ausdrucksvoller Grausamkeit, zwischen Akonen und einem Anführer, dem die Griechen den Namen Xeagros gegeben hatten, ein Steuersegment suchend, ohne das wir alle den Planeten der Verbannung, den Strafplaneten, nicht verlassen konnten. Ich hoffte, es würde nicht mehr lange dauern, die Stadt zu erobern, denn ich konnte wegen der sonderbaren Störstrahlung nicht ohne die Hilfe der Mesarier und der Barbaren in die Stadt eindringen. Überdies kannte ich weder den Schatz des Priamos noch die näheren Umstände, die mit ihm zu tun hatten und mich zu ihm führten. Weiter! Hinein in die Finsternis, durch Gitter aus Schatten und molkigem Mondlicht, an der Stadt und ihren hochragenden Mauern vorbei und im großen Bogen entlang der Hügel des Gargron-Vorgebirges. Wir näherten uns wieder der Stadt, und als der erste graue Tagesschimmer schien, befanden wir uns zwischen Felsen aus hellem Kalkstein. Wir wuchteten einen gewaltigen Steinblock auf den kurzen Kraftarm der Schleuder und befestigten ihn mit Seilen. Ich stellte Wachen auf, wir sammelten Schleudersteine und legten uns zu einem kurzen Schlaf nieder, nachdem wir gegessen hatten. Am späten Vormittag, als die Hitze zunahm und unerträglich zu werden begann, rief mich einer der Krieger an. Hinter der Stadt, am Strand des Meeres, schien ein Feuer aus nassem Holz zu lodern; ein langer schwarzer Rauchfaden stieg ins Tagesblau, wurde unterbrochen, riß ab und zergliederte sich in viele kleine zusammengeballte Wölkchen. Der Unterführer sagte:
»Das Zeichen, Atlan.« »Ja. Ihr habt, wie ich sehe, viele Steine gesammelt.« Ich stand auf, gähnte und trank kalten, bitteren Sud. Wenig später hörten wir den Lärm, den die Achaier machen, als sie wieder einmal gegen die Stadt anrannten. Ich hob den Arm, wir begannen mit unserem Teil des Kampfes. Zuerst schleppten wir einen großen Steinbrocken herbei, befestigten ihn am Hinterteil der Schleuder, beluden den Löffel der Schleuder mit etlichen scharfkantigen Steinen, und dann visierte ich, über hundert Mannslängen hinweg, die Stadt an, schätzte, ohne zu wissen, was hinter der Mauer stand, die Flugbahn und schob einen Keil unter den Lagebalken. Die Maschine kippte einige Handbreit nach vorn. Ich nickte den Männern zu, packte den schweren Bronzehammer und holte aus. Ich schlug den klirrenden Eisenstab aus der Führung. Der Lastarm wurde jäh hochgerissen und prallte gegen die Bronzebänder, die Felsen wurden schräg hochgeschleudert und entfernten sich auf der ballistischen Bahn dreihundert Ellen hoch und zweihundert Ellen weit, drehten sich träge im Flug, schienen am Gipfelpunkt ihres Weges innezuhalten und fielen fast senkrecht hinunter. Sie durchschlugen, dem Lärmen und Prasseln nach zu urteilen, ein Dach. Brechende Bretter und Steinplatten und eine Staubwolke bewiesen, daß wir getroffen hatten. Im krachenden Donnern wurden Dachgestühl und unsichtbare Dinge vernichtet. Hinter der Mauer erscholl wütendes Geheul. Wir schoben die Maschine einige Handbreit nach rechts, griffen zu den Stäben, steckten sie in die Löcher der Walze und drehten sie langsam zurück. Der Lastarm wurde zurückgezogen, der schwere Felsen auf dem Kraftarm hob sich, und der Eisenstab rastete wieder in die Führungen ein. »Drei Felstrümmer!«
Wir schleppten die Geschosse in den Löffel, dann schlug einer der Krieger des Odysseus zu. Wieder wirbelten Felsen durch die Luft, verschwanden hinter der Mauer, zerstörten Dächer, Wände, Mauern oder Kriegsgerät und töteten Menschen. So ging es eine Stunde lang weiter, bis der erste Troer auf der Mauer erschien; ich hatte diesen Augenblick erwartet, stand hinter einer schroffen Kalksteinnadel und schoß einen vergoldeten Pfeil ab. Mit durchbohrter Schulter fiel der Krieger von der Mauerkrone; ich hörte aufgeregte Stimmen: »Apoll schießt vergoldete Pfeile.« Oder: »Die Götter sind heute mit den Achaiern!« Und: »Wir sind verloren! Vorn die Griechen, von hinten die Olympier!« Die Männer des Odysseus arbeiteten schnell; sie bildeten eine Kette und brachten neue, scharfkantige Steingeschosse. Einmal fegte ein riesiger Brocken, sich überschlagend, durch die Luft, dann wieder heulten kopfgroße Steine über die Mauer und schlugen krachend ein. Ich schoß mit Pfeilen und dem Lähmstrahler die Verteidiger aus den aufgesetzten Holztürmen heraus, fegte sie zwischen den Zinnen weg, und auf der gegenüberliegenden Seite des Burgbergs tobte der Kampf zwischen Verteidigern und Angreifern. Als unsere Kräfte gegen Mittag nachzulassen begannen, schossen wir einige Krüge brennenden Öls nach Ilion hinein, und bald schlugen die ersten Flammen hinter den Mauern in die Höhe. Das Inferno begann, der Kampf dauerte den ganzen Tag, und die Nacht kündigte sich an. Als ich, erschöpft und schwitzend, zwischen den Felsen herunterkletterte und mich zu den Männern gesellte, hörten wir den Hufschlag eines Pferdes, das der Reiter in einen stoßenden Galopp zwang. Ich schickte drei Männer in die Richtung des Lärms, nahm den Helm ab, löste die Beinschienen und legte die Teile der Rüstung auf einen Haufen zwischen die Steine. Mein Extrasinn schrie: Hinter dir! Gefahr!
Irgendwoher hörte ich, wie jemand brüllte: »Es ist Xeagros!« Ein gezielter Stein oder der Schlag mit der breiten Seite eines Schwertes traf meinen Nacken, als ich mich aufrichten wollte. Ich fing meinen Sturz mit ausgebreiteten Armen auf, spürte einen zweiten Hieb gegen die Seite des Halses und fiel; als ich mit dem Gesicht in den Sand schlug, verlor ich das Bewußtsein. Als ich die Augen öffnete, sah ich zwischen rostigen Platten von zerbeulten Beinschienen hindurch auf jemanden, der zwischen mir und der Morgensonne stand. Mühsam erkannte ich die rußgeschwärzte Mauerkante; auf einem Kalkfelsen hockte ein Geier. Seine Augen schienen mich durchbohren zu wollen. Zwischen den Beinen mit dem Metallschutz erschien ein Schwert, das in den Boden gestoßen wurde. Jemand krächzte auf Akonisch: »Er ist bei Bewußtsein, Xeagros.« Der Extrasinn rief: Odysseus hat dir die Mesarier mitgegeben, seine blutrünstigste Truppe. Ich holte Luft und blinzelte: Morgendämmerung. Der dumpfe Schmerz im Nacken und im Hinterkopf ließ langsam nach und wanderte pochend durch meinen Körper. Ich merkte, daß meine Handgelenke aneinandergebunden und meine Füße ebenfalls gefesselt waren. Eine dunkle, ruhige Stimme antwortete: »Ich sehe es.« Ich bewegte mühsam den Kopf und schaute auf. Der breitschultrige, hellbraunhäutige Mann, der als Menelaos’ Freund galt, nahm den blutrot gefärbten Eisenhelm ab und starrte mich an. Er schien unschlüssig zu sein, ob er mich am Leben lassen oder töten sollte. Seine Männer feuerten noch immer mit der Steinschleuder. Er sprach Akonisch. »Du bist Arkonide.« »Ja. Du bist Akone. Wir suchen das gleiche, Raumfahrer.« »Wo ist dein Schiff?« fragte er und lachte hart.
»Abgestürzt und detoniert.« »Du warst auf der Mesara-Ebene?« Ich nickte. Langsam bildete sich ein Ring aus Kriegern mit roten Rüstungsteilen um uns. Odysseus hatte mir die härtesten Krieger mitgegeben: knapp zwei Dutzend verwilderter Akonen. Ich war in eine der ältesten Fallen gestolpert; aber wer war Xeagros? Er fragte: »Das Schiff gefunden?« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß, daß ihr in der Stadt das Steuerelement sucht. Du hast es selbst ausgebaut.« Er nickte nachdenklich und schien zu überlegen, wohin diese Unterhaltung führen würde. Ein Mesarier sagte laut: »Schlagen wir ihn tot. Was sollen wir mit einem einzelnen Arkoniden anfangen?« Ich sah ihn an und fragte: »Was wollt ihr mit einem Räumboot anfangen, dessen Rechenkopf ausgebaut ist?« Die Mesarer schwiegen betroffen. Der Ausdruck der Unruhe in den Gesichtern verstärkte sich. Xeagros setzte sich einen Schritt vor mir entfernt auf einen Steinblock. Ein Schild fiel um und schaukelte zweimal. Der Geier auf dem Felsen reckte den Kopf und schlug mit den Schwingen. Xeagros fragte tonlos: »Du hast den Rechenkopf?« »Ich habe ihn ausgebaut und gut versteckt. Ich habe nichts gegen einen baldigen Start von Kunusa oder der Ebene. Aber nur mit mir – und dem Rechenkopf. Ich helfe euch ja auch mit dem Steuerelement.« »Begreiflich.« Er nickte. »Bindet seine Hände los.« Ein Mann trat näher, ging auf die Knie, ein Messer blitzte und durchtrennte die Lederschnüre um meine Handgelenke. Ich zog die Arme unter dem Körper hervor, stützte mich auf und massierte die Handgelenke. Die Mesarier hatten meine Rüstung abgeschnallt, und jetzt vermißte ich den leichten
Druck auf der Brust. Der Zellaktivator! schrie gleichzeitig der Logiksektor. Ich beherrschte mich, faßte unauffällig an die Brust: Der Aktivator war trotz seiner Verkleidung abgenommen worden. Ich sah mich um und sah die Rüstung auf einem unordentlichen Haufen, unweit eines Rades der Wurfmaschine. »Ich ahnte, daß du der Anführer bist, Xeagros«, sagte ich. »Aber ich wußte nicht, daß die Mesarier mit mir die Mauern brechen würden.« »Ich überwache die Strafaktion.« Er sprach leise, sehr bestimmt. »Das Schiff startet nicht ohne mich.« »Und nicht ohne den Steuerkopf des Rechenwerks.« Ich grinste kalt. »Und dessen Versteck kenne nur ich. Ihr könnt mich foltern, aber ihr wißt vielleicht, daß arkonidische Raumfahrer ziemlich schmerzunempfindlich sind.« »Die Strafzeit ist fast abgelaufen.« Xeagros zuckte gleichgültig mit den Achseln, dann lehnte er sich zurück und hob die Hand. »Ich werde nach Keftiu fahren, Männer. Aber zuerst brauchen wir das Steuersegment. Ich sehe nach, ob der Rechenkopf wirklich fehlt.« »Du kannst dir die Reise sparen, Xeagros«, sagte ich ruhig. »Versuch lieber, mit mir zusammen dem verdammten Kampf um die Stadt ein Ende zu machen. Gemeinsamer Kampf gegen eine Passage nach einem Arkonplaneten. Ist das ein annehmbarer Vorschlag?« Ich begann meine Erschöpfung zu spüren; die Schmerzen, vom Aktivator nicht neutralisiert, nahmen zu. Mein Schädel summte wie ein Bienenkorb, die Kehle schien mit Sand gefüllt zu sein. Auf meinen trockenen Lippen spürte ich ätzendes Metall, der Schmerz zog sich vom Nacken herunter bis zum Gürtel. Mühsam richtete ich mich auf und sprach weiter. »Du scheinst alles andere als beeindruckt zu sein, Xeagros. Das verstehe ich nicht.«
Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht mit vielen Kerben; seine großen dunklen Augen musterten mich, als sei ich ein Opfertier. Er sagte: »Ich weiß mehr, als du ahnst; die Dinge liegen anders. Ich werde nachsehen. Ich traue niemandem, bin seit knapp zehn Jahren hier, und bis ich zurück bin, bleibst du in ihrer Bewachung.« »Dein gutes Recht«, murmelte ich. Xeagros stand auf. Erst jetzt sah ich, daß sich unter der Rüstung der muskulöse, durchgearbeitete Körper eines erfahrenen Kämpfers verbarg. Er war ebenso groß wie ich; jetzt strahlte er eine unbestimmte, kalte Drohung aus. Seine Männer wichen vor ihm zurück. »Dolios!« Einer der Männer, ein Mann mit einem wilden Bart und einem hängenden linken Augenlid, stellte sich neben mich. »Schneidet seine Fesseln auf, verhindert aber, daß er entkommt. Er darf sich frei bewegen, aber keinen einzelnen Vorstoß unternehmen. Kämpft weiter, versucht die Stadt zu stürmen, aber laßt ihn nicht aus den Augen.« »Verstanden, Xeagros. Wann bist du wieder zurück?« »Rund zwanzig Tage.« Die Schnüre um die Fußgelenke wurden durchgesägt. Ich stand auf und sagte: »Keine Sorge, Xeagros. Ich bin freiwillig hergekommen; ich werde nicht weglaufen. Ich will so schnell wie möglich nach Ilion hinein.« Xeagros winkte einigen Männern. Sie folgten ihm und liefen hinter ihm her, als er sich auf sein Pferd schwang und davonritt. Ich holte tief Atem und ging langsam, während sich Kreise und Spiralen vor meinen Augen drehten, zur Wurfmaschine, bückte mich ächzend und fuhr mit der Hand zwischen die klappernden Rüstungsteile. Ich sah die Kette des Aktivators, und als ich an ihr zog, flüsterte das Extrahirn: Schnell! Sie denken vielleicht, es wäre der Rechenkopf. Ich zog den Aktivator her-
aus, streifte das Ledersäckchen ab, hakte die Kette aus und löste die Verzahnung der Verkleidung. Meine Finger zitterten, kalter Schweiß sickerte über meine Brust; unerträglich begann die Haut zu jucken. Ein Mesarier fragte: »Was macht dieser Arkonide dort mit seinen Waffen?« Dreimal glitten meine Finger von der stiftförmigen Sicherung ab. Der Extrasinn gab mir eine Reihe Befehle, die ich nicht befolgen konnte. Schließlich hielt ich das goldfarbene Ei in der Hand und hob den Arm. »Er hat den Rechenkopf! Schnell!« Ich führte die Hand zum Mund, sammelte Speichel, schluckte den Aktivator und würgte ihn hinunter. Ich fühlte, wie meine Rettung, der Garant für ein langes Leben, die Speiseröhre verstopfte, nur langsam glitt der Gegenstand abwärts. Es war, als würde ein schwerer Felsen über die Brust rollen. Zwei Männer warfen sich über mich, rissen meine Arme nach hinten; gleichzeitig löste sich der Krampf in der Speiseröhre. Ich keuchte auf und sagte stockend: »Es ist nicht der Rechenkopf. Ein biologisches Gerät, eine Art Medizin. Der Rechenkopf ist doch viel größer.« Sie knieten auf meinen Armen, eine Schwertspitze bohrte sich in meinen Hals. »Du lügst!« »Nein«, flüsterte ich. »Der Rechenkopf ist auf Kreta versteckt. Tötet mich nicht, ihr Narren – ohne mich kommt ihr hier nicht weg.« Der Krieger rechts nahm das Schwert von der Kehle und holte weit aus. Ein krachender Doppelschlag ertönte über mir, beide Männer wurden zur Seite geschmettert; irgend etwas klirrte wie brechendes Glas. Ich verlor abermals das Bewußtsein, aber das letzte Bild, das ich in die Finsternis mit hinübernahm, war der Pfeil, der in der Kehle eines Mesariers steckte.
»Ich sehe die Tatsache, daß in Atlans Erzählungen winzige Einschübe auftauchen, die nur aus späteren Zeiten stammen können, ohne Besorgnis.« Der Ara-Arzt Ghoum-Ardebil hatte sich aus seinem Büro im Krankenhaus Sol Citys zugeschaltet. »Sie wissen, daß Atlan sozusagen vom hohen Gipfel des Jetzt auf die ganze lange Zeit zurückblickt. Mag sein, daß er sich daran erinnert, sich vor dieser Katharsis an das gleiche Erlebnis, unter einem anderen Blickwinkel, erinnert zu haben.« »Das Tholos-Begräbnis scheint ihn damals tief beeindruckt zu haben.« Julian Tifflor, derzeitiger Vertreter des Prätendenten, konnte seine Blicke nicht vom reglosen Körper des Arkoniden losreißen. Atlan lag, offensichtlich schlafend, in der Nährflüssigkeit; die SERT-Haube hatte sich gehoben und war zur Seite geschwenkt. »Einmal das Original, beim zweitenmal ein rituelles Schauspiel. Und wenn meine Bildung zu der Bemerkung ausreicht: nicht nur er hat aus Homers Gesamtwerk rezitiert.« »Vielleicht waren einige ganz typische Zeilen schon vor Homers Dichtung zu hören. Als Spruchgut des Volkes. Atlan versucht sogar, uns, den zeitgenössischen Zuhörern, einen Begriff von der archaischen Sprache zu geben. Er sagte ›sie schwuren‹; ›schworen‹ wäre angebracht. Andererseits scheinen einige wenige Achaier auf hohem Niveau gesprochen zu haben. ›Agonal‹, also ›kämpferisch‹; auch hier will er uns zeigen, wie gesprochen wurde.« Cyr Aescunnar blätterte in seinen Notizen. »Überhaupt die Namen, Begriffe und Bezeichnungen. Wir haben heute eine vollständige Nomenklatur, die aus der klassischen Zeit kommt. Buchstäblich kein einziger Mensch weiß genau, wie die Namen damals geschrieben und gesprochen wurden. Eine Handvoll Ausnahmen gibt es – nur.« »Richtig«, sagte Tifflor. »Diese Feinheiten bedeuten Ihnen als Geschichtswissenschaftler viel, Cyr, aber mich bedrücken drei Fragen weitaus mehr. Was hat die höhere Sprechgeschwindig-
keit zu bedeuten? Wie lange wird Atlan noch im Tank sprechend vor sich hindämmern? Und wird er, wenn die biologischen Schäden seines Körpers beseitigt sind, wieder der alte Arkonide sein, wie wir ihn kennen und schätzen?« Der Mediziner hob die knochigen Schultern. »Ein Gremium arbeitet an dem Problem mit dem schnelleren Sprechen. Wir diskutieren Teile des arkonidischen Metabolismus, über den es in der Wissenschaft wenig Nachschlagenswertes gibt. Wichtige Unterlagen sind auch auf der verschwundenen Erde zurückgeblieben.« »Keine aktuellen Einsichten und Erkenntnisse?« fragte Aescunnar leise. Ghoum-Ardebil schüttelte den Kopf und stützte das Kinn auf die schmalen Fingerspitzen. »Wir haben uns, ohne nachzudenken, auf die Wirkung des Zellaktivators verlassen. Oder hat einer von Ihnen je etwas von einem kranken Atlan gehört oder gelesen?« »Nein. Niemals«, sagte Tifflor. »Gerade das macht den Schock und unsere Sorgen so schwer.« »Begreiflich. In etwa einem Monat, so die letzte Schätzung, wird Atlan nicht mehr im Rekreationsfluid liegen; wir holen ihn schon jetzt heraus und arbeiten an der Muskulatur.« Der Ara warf einen Blick auf einen Monitor und sagte: »Morgen steht eine Stunde Muskelstimulierung auf dem Behandlungsplan. Zur letzten Frage, Administrator: Ich kann sie nicht beantworten. Die Wahrscheinlichkeit, daß er wieder so gesund, dynamisch und einfallsreich wird wie bisher – wäre ich kein Arzt, würde ich sie hoch einschätzen.« »Danke, daß Sie uns Hoffnungen machen, Doc«, sagte Tifflor und stand zögernd auf. »Nur ein kurzer Besuch, Professor. Ich wünsche uns allen, daß beides gut ausgeht: daß Atlan bald aufwacht und wie gewohnt reagiert, und daß Sie ein paar hundert Seiten Ihrer – unserer – ANNALEN als endgültige Wahrheit publizieren.«
»Endgültige Wahrheit.« Cyr seufzte. »Ob wir je die objektive Wahrheit erfahren, ist fraglich. In jedem Fall hören wir Atlans subjektive Wahrheit. Er war dort, und er war dabei. Und er weiß längst nicht alles.« Er begleitete Tifflor zur Tür, verabschiedete ihn und dachte an den achten Gesang der Odyssee, aus der er das Hexameterzitat wiedergefunden hatte. Er kramte in seinen Erinnerungen; er und seine Mitstudenten hatten mit auswendig gelernten Abschnitten geprotzt, als sie während der Ausbildung im klassischen Olympia gegraben hatten. Er setzte sich und winkte Ardebil in der Holoprojektion. »Aus seltsamen und sehr unerklärlichen Gefühlen heraus glaube ich, daß Atlan aus dem komatösen Zustand aufwachen wird wie Phönix aus der heißen Asche.« »Ich kann nur wiederholen, was ich eben erklärt habe.« Ghoum-Ardebil zuckte mit den Schultern. »Eine bessere medizinische Versorgung, als Atlan sie hat, ist nicht möglich. Nicht einmal auf Aralon, meiner Heimat, könnte mehr für ihn getan werden.« Außerhalb des Linsenbereichs blinkte eine Lampe. Ghoum-Ardebil stand auf. »Ich bin gleich wieder bei ihm, in der Intensivstation. Entschuldigen Sie mich bitte, Professor.« »Selbstverständlich.« Die SERT-Haube schwenkte wieder über den Kopfteil des gläsernen Behälters. Cyr wartete. Der Arzt tauchte auf dem Monitor auf, der Cyr mit der Intensivstation des Planetaren Krankenhauses von Gäa verband. Die Pause in Atlans Bericht schien länger zu werden; Cyr breitete die verschieden großen, unterschiedlich bunten Notizfolien vor sich aus, sortierte sie, schrieb einige kurze Texte in den Speicher der Fußnoten und las, was er während der letzten Tage notiert hatte: Ist die ES/Atlan-Erklärung oder besser der Versuch zutreffend? Konnten vom Weltenfragment einzelne Wesen entkommen? Eigentlich undenkbar! Aber diese Flucht böte Erklärungen für die Existenz
etlicher Fabelwesen an: Vogel Rock, die Sirenen, Zyklopen, versch. Wesen, gegen die Herakles siegte? Gorgo Medusa? Aber: die Kentauren? A. muß über die Existenz Takvorians nicht wenig verblüfft gewesen sein. Zusammenhänge zw. Cappins und Kentauren??? Datenunsicherheit über Stronghyle und die Zerstörung Troias? Bis auf weiteres nimmt die Historische Fakultät folgenden Standpunkt ein: Konnotation aller geschätzten und berechneten zu Atlans (Ricos) Zahlen. Wie sagt Oemchen? »Selbst wenn Atlan irrt, ist er präziser als die ›klassischen‹ Daten«. Nun ja. Aber: bewundernswert: die vorausschauende und aufgabenorientierte Logistik, die ES von Wanderer aus betreibt. Gaia = Gäa = gr. Göttin der Erde. Auf die Amazonen achten (Wohngebiet etc.) Die Kämpferinnen gab es wohl wirklich vor Ilion. Warum hat Atlan bei seinem ersten Bericht über das »Inferno« eine andere Jahreszeit angegeben? Schade, daß ich nicht direkt rückfragen kann. Cyr sah auf. Während Ghoum-Ardebil die Anzeigen der Batterie von Überwachungsgeräten kontrollierte und mit einer Liste verglich, senkte sich lautlos die modifizierte SERTHaube. Atlan setzte seine Schilderung fort. Ich erwachte in glühender Nachmittagshitze, blieb liegen, öffnete die Augen und sah zuerst diesen verdammten Geier. Fieber und Kälteschauer hatten meinen Körper verlassen; der Aktivator, den ich als Klumpen im Magen spürte, arbeitete. Ich war geschwächt und schwor mir, während ich mich in die Höhe stemmte, das Körperschutzfeld häufiger ein- als ausgeschaltet zu lassen. Vor mir lag ein Mesarier, einen Pfeil im Hals, daneben zwei Männer mit eingeschlagenen Schädeln. Zwei Schritt weiter erkannte ich eine von Ricos Sonden: die Objektive zerschmettert, die Projektoren zerstört und die Hülle zerbeult. Ich hob schwach die Hand und winkte; vielleicht kreiste unsichtbar ein zweiter Spion über mir. Es schien, als habe mir Rico das Leben gerettet.
Der Geier riß, ohne sich stören zu lassen, Fleischfetzen aus dem Unterleib des Toten. Ich tastete nach einem Stein, traf den Vogel, und er flatterte krächzend auf. Bald darauf kreiste er über der Schleudermaschine und der leeren Stadtmauer. Drei Mesarier lagen tot zwischen den Schleudersteinen. Die Bogenschützen der Troer hatten die Angreifer vertrieben oder getötet, und mich hatte man als vermeintlich Toten liegengelassen. Überall staken Pfeile und Wurfspeere im Boden und im Holz der Schleuder. Es dauerte lange, bis ich meine Ausrüstung und die Teile des Aktivators gefunden und angelegt hatte. Alle Gelenke meines Körpers schmerzten, aber mein Kopf war klar. Ich wankte zu den Zugtieren, fand einen Wasserschlauch und trank gierig. Das Gefühl im Magen war, als habe ich einen Felsen verschluckt. Ich fand meinen Bogen, den Köcher und hängte beides über den Rücken; Schild und Helm befestigte ich an der Schleuder und horchte; hinter den Mauern gab es keinen Kampflärm. Ich zerschnitt die Seile, die den Felsblock hielten. Nacheinander führte ich die Pferde zu dem schweren Gefährt und schirrte sie ein; als sich alle sieben Tiere gegen das Joch stemmten und die Schleuder sich vorwärtsbewegte, kippten die Steine aus dem löffelförmigen Lager. Ich trank einen Schluck lauwarmen Wein und brummte: »Zurück, Atlan! Zu Odysseus!« Ich schirrte das achte Pferd ein; der Logiksektor warnte: Schnell zurück! Du brauchst eine Magenöffnung. Der Aktivator zerreißt deine Därme, Arkonide! Ich fühlte, wie der Schweiß ausbrach, und hatte Mühe, mich auf den Rücken des vordersten Pferdes zu ziehen. Die Peitsche knallte, die Tiere zogen an, und langsam rumpelte die Maschine fünfhundert Mannslängen weit den schmalen Pfad in weiten Schleifen hinab. Ich rief einige Kommandos und ließ die Peitschenschnur auf die Kruppen klatschen. In einem langsamen Trab zogen die Pferde das ratternde und schlingernde Gerät in seinen Spuren zurück,
zwischen die Bäume, über weichen Grund. Ich trieb die Pferde an und hielt einmal an, um sie aus dem Fluß saufen zu lassen. Ich schaltete das Schutzfeld ein, nahm den Bogen von der Schulter und sah einen einzelnen Mann, der weit vor mir über die Straße rannte und in den Fluß sprang. Nach vier Stunden waren die Pferde ausgepumpt, und wir schlichen dahin, dem Lager entgegen. Als die Tiere Futter und Wasser witterten, fielen sie von selbst in Galopp; wir schleuderten durch das Palisadentor und hielten zwischen den Schiffen. Von allen Seiten kamen Männer auf mich zu, starrten und schwiegen. Ich rutschte vom Pferderücken und rief: »Odysseus!« Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmauer, sah mich zweifelnd an und rief kopfschüttelnd: »Jetzt glaub’ ich dir den Halbgott. Man hat dich zurückgelassen; die Mesarier haben gesagt, du bist tot.« Ich legte den Arm um seine Schulter und wankte zu seinem Haus. Der Feuerschein flackerte auf den Gesichtern der schweigenden Achaier. Odysseus fragte leise: »Was ist geschehen?« »Xeagros und seine Männer haben mich überfallen. Ich hatte mehr Glück als einige von ihnen. Der Rest… sind sie hier?« »Die Mesarier kamen mit zwei Verwundeten zurück.« »Sag nichts, unternimm nichts«, bat ich drängend. »Ich muß ein paar Stunden schlafen. Eine Schale Wein und ein weiches Lager. Und dann brauche ich all deine List, mein Freund.« Sklavinnen schälten die Rüstung vom verschwitzten Stoff, ich ließ mich teilnahmslos waschen und mit Öl massieren. Als ich trank, spürte ich erneut den Aktivator im Magen; als ich erholt aufwachte, saß Odysseus neben meinem Lager und sagte: »Xeagros ist verschwunden. Unseren Angriff auf die Stadt haben die Troer zurückgeschlagen; viele Tote auf beiden Sei-
ten. Achill kämpft wieder mit uns. Vor den Augen des Priamos hat er den Hektor getötet und den Memnon mit der Lanze durch die Brust gestochen.« »Was ändert das am Ausgang des Kampfes?« Odysseus’ Gesicht war hart. Er war wütend und beherrschte sich, während er weitersprach. »Achill, dieser hirnlose Kraftprotz, hat es fertiggebracht, vor den Mauern Rektors Fußsohlen zu durchbohren, Lederriemen durchzuziehen und den Körper an der Achse seines Wagens festzubinden. Er hat Hektor dann vom Tor bis zu den Schiffen geschleift und neben dem einbalsamierten Patroklos liegengelassen. Ich fürchte, die Götter werden ihm nur noch ein kurzes Leben gewähren: Apoll ist voll Zorn.« Er starrte mich an. »Dein Gesicht! Was ist los? Du siehst aus, als müßtest du alles Gegessene von dir geben.« »Ich trage sonst, wie du weißt, ein Amulett auf der Brust. Ich mußte es herunterschlucken, weil Xeagros und seine Krieger dachten, es wäre der Schlüssel zum Olymp. Jetzt liegt es im Magen wie eine Schildkröte. Ich brauche deine Hilfe, den frischen Leichnam eines Gefallenen und beide Ärzte, Podaleirios und Machaon. Und meine Habseligkeiten.« »Wozu?« Er nickte. »Sie müssen meinen Körper öffnen. Ich werde ihnen jeden Handgriff an der Leiche erklären.« »Ich versuche, sie hierher zu bringen.« Odysseus war beunruhigt. »Genügt ein toter Troer? Es liegen genug vor dem Wall. Oder muß es ein Achaier sein?« »Es sollte kein Mesarier sein.« Ich rief die Hunde herbei und hielt mich an ihnen fest, als ich zu meinem Zelt wankte und den Ledersack mit meiner medizinischen Ausrüstung öffnete. Zunächst injizierte ich mir selbst ein kreislaufstützendes Mittel, dann packte ich aus, was
ich in den nächsten Stunden brauchte. Zwei Sklavinnen, von Odysseus geschickt, kamen herein. Ich sagte: »Ich brauche ein paar Kessel kochendes Wasser. Schnell!« Kurze Zeit später brachten Odysseus’ Knechte einen toten Troer und warfen ihn auf eine Bank neben dem Zelteingang. Ich nickte ihnen zu und legte Skalpell, Hochdruckspritze, Biomolplast, Scheren, Pflaster und Binden bereit, dazu den kleinen Mechanismus, der mir beim Nähen der Wunden half, entsprechendes Garn, desinfizierende Seife und Tücher. Eine halbe Stunde danach brachte Odysseus die beiden Ärzte, mit denen ich mich mitunter über Verletzungen und Heilungen unterhalten hatte. Sie begrüßten mich laut und freundlich. Ich sagte: »Ich brauche euch, Freunde. Ihr müßt meinen Körper öffnen. Ich zeige euch jeden einzelnen Griff, bis ihr ihn auswendig kennt.« »Den Körper eines prometheischen Halbgotts, Atlan Iatros?« »Meinen Körper, Machaon Iatros«, sagte ich. »Es wird die Krönung eurer Kunst sein. Kommt, ich zeig’s euch.« Wir hoben den Leichnam auf einen Tisch, deckten ihn bis auf den Bauch ab, ich wusch die Haut und zog mit dem Skalpell einen feinen Schnitt durch die Haut. »Es sind nur zwei Schnitte«, sagte ich. »In meinem Magen liegt ein Gegenstand, groß wie ein Ei. Ich mußte ihn schlucken, damit er nicht in die Hände der Troer fiel.« Ein tiefer Schnitt, knapp halblang, quer über die Bauchdecke, öffnete sich. Ich zog die Haut mit Haken auseinander, schob behutsam die Leber nach links, deutete auf den gelblichweißen Magen. »Hier nicht die Blutadern durchtrennen. Einfach einen Schnitt durch die Magenwand.« Ich streifte die Handschuhe aus dehnbarem Material über, ließ die Ärzte an meinem Magen den Aktivator tasten und öffnete den Magen der Leiche. Mit einem winzigen, siebartig zusammengedrehten Drahtlöffel fuhr ich durch den
Brei und sagte: »Ihr müßt in meinem Magen, der fast leer sein wird, nach dem goldenen Ei suchen. Wenn ihr ihn habt, alles reinigen und nähen.« Ich zeigte es ihnen, schob die Leber wieder an ihre Stelle zurück und nähte mit dem Maschinchen zuerst die Wundränder des Magens und dann, nach neuer Säuberung mit fast kochendem Wasser, die der Bauchdecke. »Das Blut wegtupfen, mit diesem Ding an den Rändern entlangfahren, das stillt den Blutfluß, und zum Schluß…« Desinfizieren, Aufsprühen von Biomolplast, ein kurzer Vortrag über Leichengift und sauberes Arbeiten mit vielem Händewaschen, dann hob ich den Kopf. »Ihr habt alles im Gedächtnis behalten?« »Es ist nicht viel anders als bei den Tieren.« Odysseus nickte. »Ich helfe, wo ich kann. Aber schreit ein Gott vor Schmerzen? Der Tote hat nichts mehr gespürt.« »Ich werde einschlafen und zehn Stunden lang nichts spüren. Laßt euch Zeit, arbeitet langsam und besonders gründlich. Zieht die Handschuhe an, die Messer liegen im kochenden Wasser, holt sie mit Zangen heraus.« Ich kontrollierte den Kupferkessel auf dem Dreifuß, die sauberen Tücher, desinfizierte alles, sah zu, wie der Leichnam weggebracht und der Tisch gescheuert wurde, zeigte noch einmal die Werkzeuge und lud die Spritze mit einem Betäubungsmittel. »Dieses goldschimmernde Ei legt ihr dann auf meine Brust und klebt es mit diesem Streifen fest. In zehn Stunden werde ich euch danken – Odysseus, denke ich, wacht an meinem Lager.« Ich setzte die Spritze an, die sich fauchend in meine Armbeuge entlud. Während ich ausgestreckt auf dem Tisch lag und die Sklavinnen meinen Bauch wuschen, versank ich tiefer
in jenen Bereich der Dagorschulung, der meine nackte Angst vertrieb und das Einschlafen nicht zur Tortur machte. Ich bewegte den Kopf, ertastete voller Erleichterung den Zellschwingungsaktivator über der Brust-Knochenplatte, spürte keine Schmerzen, der Kopf war klar; ich fühlte mich fähig, aufzuspringen und herumzurennen. Ich hielt den Aktivator fest, als fürchtete ich, Xeagros käme und wollte ihn stehlen. Der Extrasinn befahl: Langsame, vorsichtige Bewegungen! Ich lag auf den Fellen meines Lagers, mit dem Mantel zugedeckt, und eine doppelt handbreite Binde lag dick um meinen Körper. Ich sah den schlafenden Odysseus von der Seite an, grinste und sagte leise: »Odysseus. Ich lobe und preise euch.« »Atlan!« Er fuhr hoch. »Ich dachte, du wärst tot. Seit dem Morgengrauen warte ich, daß du aufwachst.« »Wie ist es gegangen?« fragte ich. »Gut. Wir folgten deinen Anweisungen. Schnitte, Nähte, die Klammern, es gab wenig Blut, und dein Magen war fast leer. Wir fanden das Amulett sofort. Der Schnitt im Magen war nur drei Finger breit. Zwei Stunden hat’s gedauert.« Mit seiner Hilfe wickelte ich die Binde ab. Ich erwartete Schmerzen, aber der Zellaktivator hatte die Zellen zu großer Aktivität angeregt. Die Schnitte begannen zuzuwachsen, unter dem dünnen Stoff und der Kunsthaut. Ich hoffte, der Magen erholte sich gut, denn der Schnitt in der Haut war weniger bedeutungsvoll. Ich trank dünnen Wein und wickelte den Verband wieder straff. »Ich werde ein paar Tage nichts essen und nur Brühe und gemischten Wein trinken«, sagte ich. »Bringt mich in die Sonne. In einem halben Mond bin ich wieder mitten im Kampf.« »Es wurde alles im Wasser gekocht.« Odysseus glaubte mir nicht. »Deine Hunde haben jede Bewegung verfolgt.«
»Ich bedanke mich, wenn ich wieder gesund bin.« Später ließ ich mir die Kette und die Verkleidung bringen und trug das Amulett wieder um den Hals. Das Lederbeutelchen hatte ich verloren. Die Wunde schloß sich, ich begann zu essen, wanderte umher und wagte mich bis zu den Hüften ins Meer, schlief in der Sonne und vermochte nach neun Tagen langsam zu schwimmen. Die Leichenfeier für Patroklos erlebte ich mit, das riesige Feuer des Scheiterhaufens; ich sah, wie in einer Nacht der König von Ilion das Haus des Achill besuchte, um Hektors Leichnam auszulösen. Odysseus und Ajas rangen bei den anschließenden Spielen; keiner gewann den Kampf. Ich sah zu, im Sessel auf dem Heck eines Schiffes. Odysseus gewann einen riesigen Krater, in dem er viel Wein und Wasser mischen konnte; Teukros und Merion schossen um die Wette, und ich ärgerte mich, daß ich den Bogen noch nicht gebrauchen konnte. Noch zehn Tage dauerte es, bis Priamos Hektors Leichnam auslöste, zwölf weitere Tage brauchten die Troer für das Begräbnis und die Feiern. Ein Waffenstillstand war abgesprochen worden. Kurz darauf entbrannte die fürchterliche Schlacht, in der Achill versuchte, die Bohlen des skaiischen Tors aus den Angeln zu heben: Vor Tagesanbruch bewegten sich sechstausend Männer in fünf breiten Heersäulen aus dem Lager auf Ilion zu. Im Lager wurde es leer. Ich schloß mein Zelt und schaltete eine Verbindung mit Rico, der seinen Verteidigungsversuch bestätigte – aber auch, daß weder mein Körperschutzfeld, der Deflektor noch das Antigravelement in der Nähe von Priamos’ Burg funktionieren würden; wahrscheinlich auch nicht Lähmdolch und Strahler. Ich sah auf dem Bildschirm im Schild, daß etwa hundert Gespanne diese Truppen flankierten. In diesem Moment rief Odysseus vor dem Zelt, und ich beendete den Kontakt abrupt.
Eine halbe Stunde später stand ich neben Odysseus auf einem gepanzerten Wagen. Neben uns fuhren Ajas, Menelaos und Agamemnon, dessen Wagen durch ein Feldzeichen mit einem roten Stoffstreifen kenntlich war, und der die Schlacht leitete. Die Troer kamen uns entgegen, aber sie kannten Agamemnons Kampfordnung nicht. An der Spitze der Achaier marschierte Achill mit seinen Myrmidonen; irgendwo rechts sah ich die Mesarier. Sechs Chen-Nub oder fünfzehn Stadien vor der Stadt stießen die Heere aufeinander. Agamemnon gab das Signal. Die Achaier drängten sich zusammen, die Heersäulen wurden schmaler, und die Kampfgespanne rollten ins Leere. Der Wall aus langen Speeren und Schilden, durch den sich die Achaier schützten, wurde nicht aufgerissen oder durchbrochen. Beim nächsten Signal schwenkten die Heersäulen in rechten Winkeln herum und schlossen die Troer ein. Achaische Kampfwagen rasselten los und umkreisten den Kessel in der Ebene. Ein gräßliches Gemetzel begann, aber die Troer kämpften mit der Wut hungriger Löwinnen. Achill, inmitten des lanzenstarrenden Igels seiner myrmidonischen Krieger, schien den Tod seines Herzensfreundes nicht verwunden zu haben: Seine Raserei nahm unglaubwürdige Züge an. Eingeschlossen von einem tiefgestaffelten Ring mitleidloser Krieger wichen die Troer Schritt um Schritt zurück. Wer den Ring durchbrechen konnte, kam in den Bereich der Kampfwagen. Bogenschützen feuerten aus den Wagenkörben, Ajas stach mit seiner Riesenlanze, und Agamemnon schlug mit einer riesigen Doppelaxt zu. Staubfahnen erhoben sich, die das Sonnenlicht schluckten: es stank nach Blut und Schweiß. Über dem Schlachtfeld begannen Geier zu kreisen, entlang des Küstenstreifens bildeten sich dichte Schwärme schwarzer Rabenvögel.
Der Wind, der gegen Mittag vom Meer kam, trieb die gewaltige Staubwolke auf die Stadt zu; es herrschte ein bedrohliches graues Licht. Wie ein eisenglänzender Tausendfüßler bewegte sich das Achaierheer, der Kreis beulte sich aus, schwankte, schloß sich wieder, wie ein lebendiger Riesenorganismus. Unzählige gellende Schreie bildeten ein Geräuschchaos, das vom Waffenklirren in seltsamem Takt zerhackt wurde. »Dort, Atlan: Achill! Er will die Stadt stürmen.« Odysseus riß an den Zügeln. Die Pferde bäumten sich auf. Ich nahm nicht am Kampf teil, weil ich befürchtete, meine Wunden könnten aufreißen. Vor der Stadtmauer brach der Ring der Angreifer auf. Eine Masse troerischer Krieger, etwa tausend verdreckte, schwitzende, blutende und schreiende Männer, fluteten über die verwüsteten Felder. Aus der Staubwolke, die sich über den Flüchtenden senkte, blitzten manchmal Waffen. Viele Gespanne schwenkten herum und nahmen die Verfolgung auf. In den Spuren der Troer raste Achill aus dem Ring hinaus, und hinter ihm formierte sich ein Schlachtkeil. Von den Seiten griffen die Gespanne in den Kampf ein; sonst brachten die Lenker nur ausgeruhte Kämpfer zum Kampf, aber heute setzte Agamemnon die Schnelligkeit der Tiere ein. Agamemnons und Odysseus’ Gespanne, ein wenig abseits der Spitze, fuhren auf das Stadttor zu. Die Staubwolke und die Rabenschwärme zogen mit uns. Ich verschoß, um nicht aus der Übung zu kommen, einige Pfeile und probierte Energiedolch und Lähmstrahler aus. Ich hatte nichts anderes erwartet – beide Waffen arbeiteten unzuverlässig und in größerer Nähe der Mauern gar nicht mehr. Wie ein Trichter sog das Stadttor die Flüchtenden ein. Kurz bevor Achill das Tor erreichte, donnerten die doppelten Flügel zu. Die Myrmidonen warfen sich gegen das eisenbeschlagene Holz und fingen an, die Torangeln loszuhacken. Riesiger Lärm
erhob sich. Krieger rannten zwischen den angesengten Holztürmen auf die Mauerkrone und warfen Speere, von denen die meisten von den Schilden abprallten. Achill lief von der Mauer zurück, verschwand in der Staubwolke, und wir hörten, wie er nach Männern und Balken schrie. Staub und Rauch entzogen das Tor, die Myrmidonen und Teile der Mauer unseren Blicken. Odysseus zügelte die Pferde und knurrte: »Ein böses Gefühl sagt mir, daß das Leben unseres Helden sich dem Ende nähert.« »Ahnungen, Odysseus?« fragte ich. Wir sahen aus einigem Abstand zu, außerhalb der Reichweite von Pfeilen. »Bisher sind besonders die schlechten Ahnungen immer wieder wahr geworden«, sagte er. »Ich fahre näher heran.« Ich hob den Schild, die Pferde ruckten an und fielen in Galopp. Ich hielt mich an der Brüstung des Wagenkorbes fest. Wir fuhren auf Achill zu, der den Helm heruntergerissen hatte und sich den Schweiß abwischte. Odysseus schrie: »Achill! Du bist ungedeckt! Auch die Troer haben gute Schützen!« »Diese Stümper«, gab Achill lachend zurück. »Heut’ stürmen wir die Stadt. Wo ist deine Schleuder, Atlan Toxarchos? Holt sie!« Beim letzten Wort riß der Sohn des Peleos die Arme hoch, der Helm wirbelte durch die Luft; Achill wurde unter der Sonnenbräune aschgrau, schrie lang und gellend und fiel in den Staub. Unser Wagen ratterte entlang des Mauerfußes auf Achill zu, der sich röchelnd am Boden krümmte. Als ich mich vom Wagen schwang, den Schild trotz des eingeschalteten Schutzfeldes – das immer wieder aussetzte – waagrecht über Kopf und Schultern, zog Achill den Fuß an. Eine Handbreit tief steckte ein Pfeil in der Fersensehne. Achill packte den Pfeilschaft, schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an und riß, schreiend vor Schmerz, das Geschoß heraus und warf
es zur Seite. Er stand auf; zwischen den Riemen und Metallbügeln der Beinschienen floß dunkles Blut in ein staubiges Grasbüschel. Ich zog das Päckchen aus dem Gürtel und sagte: »Laß mich helfen, Achill.« »Geh weg!« Er riß einem Myrmidonen den Helm aus den Händen, setzte ihn auf und sah sich wild um. Ich lief zum Wagen zurück. »Das war kein Schuß eines Sterblichen. Aber zum Hades nehme ich viele Troer mit.« Er hinkte davon, ohne uns zu beachten. Plötzlich rannte er auf das Tor zu. Zugleich mit einem Hagel von Felsbrocken, Pfeilen, Schleudersteinen und Wurfspeeren von der Mauer schwangen die Torflügel auf. Ungefähr hundert ausgeruhte Krieger in schwerer Rüstung brachen aus dem Staub heraus. Von allen Seiten rannten Achaier heran und bildeten einen Halbkreis, den die Troer fast mühelos spalteten. Odysseus faßte einen jungen Mann an der Schulter, sprang im Galopp vom Wagen und warf dem Jungen die Zügel zu. »Warte hier mit dem Wagen. Umdrehen!« rief er. Ich lehnte Bogen und Köcher in den Wagen, griff nach einer Streitaxt und lief hinter Odysseus her. Unser Ziel war die Gruppe um Achill. Der Pelide wütete mit der kalten Todesverachtung eines Mannes, der wußte, daß er nicht mehr lange leben würde. Wahrscheinlich war der Pfeil vergiftet gewesen. Ajas sprengte mit seinem Gespann rücksichtslos zwischen die Troer hinein, sprang ab und senkte die Lanze. Odysseus deutete und brüllte: »Dort steht Paris, der geile Schönling!« Wir schlugen eine Gasse in den Keil der Troer. Paris verschoß einige Pfeile, nahm dann eine Lanze und setzte sich an die Spitze des zweiten Haufens, der aus dem Stadttor quoll. Wir kämpften uns langsam in die Nähe Achills. Odysseus deckte mich. Der riesenhafte Achill rammte den Speer durch Schild und Körper eines Troers, zog den Speer schüttelnd
wieder heraus, dann begann er selbst zu zittern, stützte sich schwer auf den Eschenschaft. Als er wie ein gefällter Baum umfiel, klirrte und krachte seine Rüstung. Ajas schleuderte die Lanze gegen einen Troer, der, in die Brust getroffen, fünfzehn Schritte rückwärts taumelte, ehe es ihn von den Füßen riß. Jetzt zielte Paris auf Ajas; wieder warnte Odysseus: »Achtung, Ajas!« Ajas bückte sich blitzschnell. Der Speer des Paris zischte über ihn hinweg und zerfetzte den Helmbusch; Pferdehaar und Federn flogen. Ajas richtete sich wieder auf, einen doppelt kopfgroßen Mauerbrocken in der Hand. Er schleuderte ihn, fast ohne zu zielen, und der Stein schlug mitten in Paris’ Gesicht. Das Metall des Helms verbog sich; Paris fiel bewußtlos um, die Pfeile aus seinem Köcher verstreuten sich. Es war wie ein Befehl zum Rückzug. Die Troer schleppten Paris auf einen Wagen und zogen sich, blindwütig verfolgt, in die Stadt zurück. Wir legten Achill in einen Wagenkorb. Die Achaier, Fußvolk und Kampfwagen, bildeten einen langen Heerwurm, der sich dem Strand näherte. Klageschreie ertönten in unserem Rücken, und über das Schlachtfeld, von Sterbenden und Toten übersät, fielen jetzt die Geier her. Teile des Heeres schwärmten aus; sterbende Troer wurden erschlagen und ihrer Rüstungen und Helme beraubt, verwundete Achaier bettete man auf Wagen oder trug sie. Leise sagte Odysseus: »Wieder keine Entscheidung. Bis Achill mit unmäßig viel Aufwand und großem Feuer verbrannt und begraben ist, vergehen Tage. Versuch ja nicht, uns Achaier zum Sturm auf die Stadt anzufeuern. Sie bringen dich um, samt deiner Halbgöttlichkeit.« »Ich werde mich hüten.« Zwischen leuchtenden Wolkenbänken sank die Sonne in den Abend; Ilion mit Staub, Schreien und Toten lag in unserem Rücken. Der Strand hinter den Schiffen und die kalkigen Gip-
fel der Vorgebirge inmitten des sommerlichen Grüns leuchteten wie flüssiges Gold. Der Zug der Erschöpften wurde in mystisches Licht getaucht; alles begann im frühen Dunkel und der grauen Wesenlosigkeit der Nacht zu verschmelzen, aber dann wandten alle wie auf ein geheimnisvolles Signal hin die Köpfe. Über den letzten Hügel des Roetaion stob eine Reitergruppe. Ich versuchte zu zählen und kam auf einundzwanzig Gestalten in blitzenden Rüstungen. Auf runden Helmen flatterten schlanke Büsche oder Federn. Odysseus wies mit dem Peitschenstiel auf die Reiter. »Sie werden unseren wütenden Achill nicht ersetzen können.« »Etwa Aieta Demeter und ihre Amazonen?« Er nickte. Ich beobachtete sein Gesicht. Odysseus, unzweifelhaft mit scharfem, geschmeidigem Verstand, rechnete häufiger mit Wirklichkeiten statt mit Göttern, Vermutungen oder überirdischen Zeichen. Auch wenn die Amazonen wie die Rasenden kämpften, konnten sie den Kampf nicht entscheiden. Ich sagte: »Ich möchte die Anführerin kennenlernen.« »Verlaß dich drauf.« Er lachte kurz und voller Spott auf. »Du lernst sie kennen. Hoffentlich nicht so, wie ich es versprochen hab’. Demeter ist Feuer und Eis, Wahnsinn und Schönheit – alles gleichzeitig.« »Hört sich viel versprechend an.« Ich lockerte den Kinnriemen des Helms. »Du hast meine Neugierde geweckt, Odysseus.« Wir kamen zufällig gleichzeitig mit den Amazonen am Palisadentor an. Die müden Kämpfer verteilten sich schweigend auf die Häuser, Lager und Zelte; nur Ajas, Agamemnon, Odysseus und ich erwarteten die Gäste. Diener führten die Packpferde weg, ich lehnte mich an die hölzerne Stützsäule eines Vordachs.
»Willkommen, Aieta Demeter«, grüßte Odysseus ruhig. In seinem Gesicht war kein Spott. »Die Bewunderung flog euch schon voraus wie ein Taubenschwarm vor dem Habicht. Die Achaier grüßen euch.« Hinter einer jungen Frau von weniger als vierundzwanzig Lenzen reihten sich knapp zwei Dutzend Frauen auf: jung, schlank, braungebrannt, sehnig, ein wenig verwildert, in Rüstungen aus Leder und Metall. Ich sah schweigend von einer zur anderen. Unverkennbare Wildheit hatte ihre Gesichter ebenso geprägt wie ihr Verhalten. Sie trugen das hochgesteckte Haar straff am Kopf, musterten schweigend die Achaier, mit deutlicher Verachtung, wie mir schien. Es sprach nur Aieta Demeter. Es schien, als hülle jahrhundertelange Eigentümlichkeit und eine seltsame Form des Matriarchats, der Mutter- oder Frauenherrschaft, die Amazonen ein, verband sie durch unbekannte Riten miteinander und schützte sie wie eines meiner Kraftfelder gegen Einflüsse von außen. Aieta fragte kühl: »Du bist Odysseus, der listenreiche Schwätzer des Heeres?« »Nicht jeder Listenreiche schwätzt.« Odysseus lachte kurz. »Und nicht jeder Schwätzer ist Odysseus. Ich bin sicher, daß ich im Kampf besser bin als du, Aieta.« Ich betrachtete sie nachdenklich von Kopf bis Fuß. Sie bemerkte es, und es schien sie nicht zu freuen. Sie sagte: »Das dort ist Ajas, nicht wahr? Und dieser da muß Agamemnon sein, der Hirte aller Achaier. Wann beginnt der Sturm auf Ilion?« »Eben haben wir den heldenhaften toten Achill ins Lager gebracht.« Agamemnon fuhr erbittert fort: »Ihr werdet euch gedulden müssen, bis ihr wieder Blut fließen seht.« »Wir brauchen Ställe und Fressen für unsere Pferde.« Aieta hob die Hand und zählte auf. »Häuser oder Zelte für uns. Schlachttiere, Wein, Geschirr und Knechte. Lieber Sklavinnen als Sklaven.«
»Dort drüben, bei den Schiffen der Myrmidonen, steht ein Dutzend Häuser leer.« Agamemnon zeigte zum Strand. »Ich lasse hinschaffen, was ihr braucht. Odysseus, ich und Atlan werden kommen und alles einrichten lassen.« »Atlan? Dieser dort?« Mich traf ein langer, prüfender Blick Aietas. Mit ungewöhnlicher Schärfe antwortete Odysseus. »Ja. Ich empfehle dir, ihn weniger grob als uns dumme, ungewaschene Achaier zu behandeln. Atlan Toxarchos, ein Halbgott wie Achill – denkt an die andere Amazone! – kämpft auf unserer Seite. Er tat ein Gelübde und haßt Ilion.« Demeter starrte mich an, ich gab den Blick lächelnd zurück. Sie murmelte geringschätzig: »Ein Halbgott? Er sieht aus wie ein fremder Barbar.« »Demeter, Freundin der Achaier.« Odysseus breitete die Arme aus, seine Stimme bekam einen schmeichelnden Klang. »Göttliche Dinge pflegen meist fremdartig zu wirken. Dort, woher ihr kommt, gibt es vieles, das wir nicht kennen. Dort, wo Atlan herkommt, ist mehr davon. Er ist Halbgott und kann mehr als wir. Glaub’s mir.« »Auch kämpfen?« »Er wird dich mit deinen eigenen Waffen schlagen, Aieta Demeter.« Ich stieß mich von der Säule ab, ging näher und blieb dicht vor Aieta stehen. Ich hob die Hand. Sie zuckte zurück. »Genau das werde ich tun«, sagte ich, drehte mich um und ging zum Haus von Odysseus. Drei Schritt später warnte mich der Extrasinn: Hinter dir! Ein Dolch! Ich hatte es erwartet, sprang zur Seite, drehte mich im Sprung, vergaß dabei den zuckenden Wundschmerz. Ich hob den Schildarm, ein langer Dolch prallte mit der Spitze gegen das Metall. Ich hob den Dolch auf, lächelte Aieta an, die mit hochrotem Gesicht vor ihren Kriegerinnen stand. Ich bewegte ruckhaft das Handgelenk und schleuderte den Dolch, der sich drei Fingerbreit vor
Demeters Sandalen in den Boden bohrte. Ich sagte leise: »Halbgötter, o schönste Aieta Demeter, bewirft man nicht mit Dolchen. Man verehrt sie.« Ich grinste und zog mich durch den wehenden Vorhang ins Innere des Hauses zurück. Hinter mir erscholl das dröhnende Gelächter der griechischen Fürsten.
19. In feierlicher Zeremonie hatten wir Achill auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Unauslöschlich prägten sich mir die Riten jener Begräbnisse ein; Rüstungen erschlagener Troer, bluttriefende Opfertiere, tönerne und goldene Gefäße, abgeschnittene Haare vieler Achaier und die Lockenpracht der Briseis, einer von Achills Sklavinnen, verbrannten stinkend. Öl, krügeweise in die Flammen geschüttet, ließ sie so hoch aufwirbeln, daß Halbblinde sie von Ilions Burg hätten sehen müssen. Stoffflecken wirbelten als glimmende Asche in die Nacht. Schließlich wurden die ausgeglühten Knochen Achills gesammelt, in eine Hydra mit goldener Verzierung geworfen, der Krug wurde mit Ton und Wachs versiegelt und in einem Tholosgrab neben dem des Patroklos eingemauert. Eines Tages würde ich in guter Ruhe darüber nachdenken: Warum war ich bei dieser Art flammendem Ritus so eigentümlich berührt. Rote Flammen? Blutrot? Auflösung des Seins in Aschepartikel? Nach den Begräbnisfeierlichkeiten stellte ich mich mit Ajas und Teukros zum Wettkampf mit Pfeil und Bogen; ein Helm in hundertdreißig Schritt Entfernung war das Ziel. Ajas traf den Helm; kreischend prellte der Pfeil ins Dunkel. Teukros, fast besser als ich, schnitt mit seinem Pfeil den Helmbusch auseinander; unter den Zuschauern erhob sich ungeheures Gebrüll. Ich zielte sorgfältig, zog die Sehne bis zum
Ohr, schoß, und der Rest des Helmschmucks wurde abrasiert. Da ich ein Halbgott war, verzichtete ich auf den sperrigen Siegespreis. Im ersten Morgenlicht des nächsten Tages rüttelte mich Odysseus wach. »Atlan – Ajas ist tot.« »Troer im Lager?« Ich fuhr zwischen den Decken auf. Odysseus sagte voll Bitterkeit: »Nein. Wir hatten ein großes Heldensterben, viele Siege und Niederlagen, haben neun Jahre verloren. Jetzt haben wir den Wahnsinn im Lager. Sollten uns die Götter weiterhin so wohlgesonnen sein, werden wir bald Krätze, Wundfieber, Gliederfraß und Pest im Lager haben.« Er fiel in einen Sessel und schmetterte die Weinschale gegen einen Balken. »Ajas ist wahnsinnig geworden. Nachdem er eine Schafherde niedergemetzelt hat, warf er sich in sein Schwert. In den nächsten Tagen für alle Achaier – viel gebratener Hammel!« »Was sagt Agamemnon, der große Feldherr?« »Er starrt ratlos in die Sterne. Heute nacht treffen sich die wichtigsten Männer in der Bucht vor dem Vorgebirge. Es gibt viele Spione -Agamemnon will aufgeben.« Ich stand auf und fuhr in die dünnen Stiefel. »Bin ich dazu eingeladen?« »Durch meinen Mund bittet dich Agamemnon, dort zu sein.« Odysseus nickte. »Wir werden essen, trinken und reden. Der Beschluß, den wir fassen, wird endgültig sein.« »Ich werde kommen. Und die Amazonen fühlen sich wohl?« »Sie kräftigen ihre Körper am Strand.« Odysseus fuhr lachend mit der Hand durch den Bart, betrachtete verdrossen ein graues Haar und dachte über jedes Wort nach. »Sie sind sehr gute Reiterinnen und führen die Waffen besser als mancher von uns. Demeter fragt, wann die Stadt gestürmt wird.« »Was hast du geantwortet?« »Daß es von deinem Rat abhängt. Und vom heutigen A-
bend.« »Ich komme«, sagte ich. »Sorg du dafür, daß Demeter dabei ist, und daß die Fürsten nicht wieder Ehre und Schuldgefühle oder ähnlichen Unsinn über die Wirklichkeit stellen.« Ich wusch mich, legte das Mehrzweckarmband um und den breiten Gürtel, schlenderte durchs Lager und sah, daß sich eine Gruppe Jäger fertigmachte und nach Osten wegfuhr, andere brachten Körbe von Fisch von den Booten; überall wurden Waffen geschärft und ausgebessert, Pferde gestriegelt oder Verwundete versorgt. Das große, langgestreckte Lager fand wieder zu seiner Ordnung zurück. Zwei Schiffe voll Schwerverletzter waren in See gestochen. Von den dürftig bewachsenen Felsen lösten sich Nebelfetzen und zogen zum Ufer. Über einem Haufen weißer Glut drehte ein Sklave einen Spieß, an dem ein Hammel steckte, die krustige Haut voller Salz und Gewürze und dem dicken Wein, der darübergeträufelt wurde. Unaufhörlich fielen Fetttropfen in die Glut und verrauchten. Die zerzausten Krüppelbäume, von Ziegen zerfressen, raschelten im milden Wind. Wir kletterten hinunter zum weißen Sand der Bucht; die Fürsten kamen einzeln. Über uns jagte ein Luchs zwischen den Felsen und beobachtete uns aus gelben Augen. Ich faltete meinen Mantel zusammen, legte ihn auf einen Felsen und setzte mich. Odysseus saß mir gegenüber am Feuer. Uns war etwas eingefallen, wie die Stadt schnell und mit den geringsten Verlusten gestürmt und eingenommen werden konnte. »Die Verkörperung der Klugheit, die Fürsten, sind zusammengekommen«, sagte Odysseus abschätzig. »Noch fehlt die göttliche Schönheit Aieta Demeters.« »Du bezeichnest diese Furie als Schönheit?« Agamemnon hustete und spuckte ins Feuer. »Mit dir verglichen, bärtiger Völkerhirte, ist Demeter schöner
als Aphrodite. Könntest du dich sehen, würdest du wissen, warum die Amazonen nur einmal im Jahr einen Mann an sich heranlassen.« Ich stimmte in das Gelächter ein. Steine polterten; mit geübten Bewegungen kam Demeter die Felsen hinunter und sprang neben das Feuer. Odysseus deutete auf einen Stapel Treibholz. »Die Schönheit ist da. Nimm Platz, wildeste der Amazonen. Setz dich neben Atlan.« Sie betrachtete uns der Reihe nach, zuckte mit den Schultern und setzte sich. »Wein!« sagte sie herrschsüchtig, schüttelte den Kopf; ihr langes schwarzes Haar flog. Ihre Ausstrahlung faszinierte mich. Anders als alle Achaierinnen schien sie selbständiger als einer der Fürsten zu sein. Ich kippte den Krug, füllte eine Phiala und reichte sie der Frau. »Hier. Du kämpfst und redest wie ein Achaier – trinkst du auch wie ein Achaier?« Sie blickte mich kalt an, forschte in meinem Gesicht, erwiderte scharf: »Weniger, Atlan Toxarchos, und meist Besseres.« »Dadurch unterscheidet sie sich vom Rest des Heeres in vorbildlicher Weise«, meinte Odysseus versöhnlich. »Streiten wir nicht; reden wir.« »Reden wir.« Agamemnon nickte. »Worüber?« »Über Ilion, Held aller Helden«, sagte Odysseus. »Trink etwas Wein, iß vom Hammel; das hilft beim Denken, sagt man.« »Ich denke daran, aufzuhören.« Menelaos stierte ins Feuer. »Kein Kampf mehr. Wir, die Achaier, rotten uns selbst aus. Paris und Helena – sollen sie doch miteinander alt werden.« »Ob Paris ohne Zähne, mit gebrochenem Kiefer und schiefer Nase noch auf ihr Lager darf, glaube ich wiederum nicht«, meinte ich vorsichtig. »Es ist aber wahr, Völkerhirte. Es wird zuviel gestorben im Schatten von Ilions Mauern.« »Er hat das erste vernünftige Wort seit neun Jahren von sich gegeben.« Odysseus zeigte mit der Dolchspitze auf Menelaos.
Dann bohrte er prüfend im Hammel, rümpfte die Nase und schob den Dolch zurück. »Du redest wie ein Narr, Odysseus. Was sollen wir tun?« »Einfach: Kämpfen wir weiter oder hören wir auf?« »Was ihr in neun Jahren im Kampf nicht geschafft habt«, sagte ich und hob die Trinkschale, »werden wir im zehnten Jahr nur mit einer List erreichen können.« Demeter warf mir einen langen, fragenden Blick zu. Odysseus nickte. Die Fürsten starrten mich mit offenen Mündern an. Odysseus stand auf. »Zeus befahl, erzählt der Sänger, einst dem Vulkangott, ein Scheinbild einer schönen jungen Frau zu schaffen«, sprach ich weiter. Der Extrasinn kicherte. Roboter oder Androidin? »Welchen Namen hatte diese Frau?« »Pandora«, sagte Aieta Demeter mit blitzenden Augen. »Pandora also trug ein Gefäß bei sich, gefüllt mit allen Übeln, die Zeus über die Menschen bringen konnte. Nachdem Pandora den Deckel geöffnet hatte, waren fortan Elend und Krankheit unter den Menschen. Wir müssen eine große Büchse schaffen, o Völkerfürsten.« Menelaos stieß Agamemnon in die Seite; Odysseus hob die Arme. »Wie aber, o Mann des offenen Magens, soll die Büchse sein, die wir nach Ilion senden? Und wer ist Pandora?« »Groß genug, um Übel in die Stadt zu bringen. Ein Ding, gefüllt mit den besten Helden der Achaier.« »Ein Schiff?« fragte Agamemnon ungläubig. »Nein. Ein Schiff bringen die Troer niemals in die Stadt hinein. Etwas anderes.« »Vorher aber müssen die Achaier sich zurückziehen. Priamos muß glauben, wir hätten aufgegeben.« Ich sah mich um. »Und wenn die List glückt, kommen nur die Schiffe mit den Kriegern zurück.«
»Du bist wirklich klug«, murmelte Demeter. Ich hob die Schultern und grinste. »Man sagt es.« »Ich bin dafür, daß wir den Kampf abbrechen und in die Schiffe steigen«, sagte Odysseus. »In weniger als neuneinhalb Jahren haben wir fast achttausend Männer verloren. Die Troer nicht weniger. Es ist genug Blut geflossen.« Über dem Meer, vom gegenüberliegenden Land her, wälzte sich ein Nachtgewitter auf uns zu. Wir sahen das Wetterleuchten und hörten fernen Donner. Ich lehnte mich zurück, umfaßte die Knie, blickte Odysseus in die Augen und sagte: »Gerade du willst aufgeben, Odysseus? Ich habe euch einen Weg gezeigt, der wenig Blut kosten wird, denn wir werden die Troer überraschen. Nachts. Wenn sie nach der Siegesfeier betrunken sind und tief schlafen. In diesem Augenblick willst du absegeln?« »Vielleicht brauch’ ich nur jemanden, der mir Mut macht. Ein göttliches Zeichen, vielleicht.« »Ich werde an deiner Seite kämpfen«, versicherte ich. Agamemnon hob den Arm. »Aber was tun wir wirklich?« »Morgen kommen wir und zeigen dir, was Odysseus erfunden hat. Welches Tier würdet ihr der Göttin Pallas Athena weihen?« »Ein Pferd«, sagte Menelaos. »Und Odysseus allein soll den Ruhm haben?« »Er allein«, sagte ich. »Der listenreiche Mann von Ithaka.« »Überdies ist der Hammel endlich gar«, sagte Odysseus. Ich sah ihm an, daß er schon längst begriffen hatte. »Wir sollten nach der schweren Arbeit des Denkens essen und trinken. Den Weinkrug bitte, Xenotos.« »Wir essen nicht in der Nacht«, sagte Demeter kühl. »Hör zu, männermordende Mänade«, brummte Odysseus. »Du bist mit deinen Reiterinnen Gast zwischen unseren Schif-
fen. Sonst sitzt du nie zwischen Männern, die über kluge Dinge reden. Auch nicht neben einem schneehaarigen Halbgott…« »Iß und trink«, unterbrach Agamemnon und schlug ihr so freundlich zwischen die Schulterblätter, daß sie fast ins Feuer stürzte. »Damit du stark bleibst für den Tag des Kampfes. Wann, übrigens, ist der Tag, an dem ihr bei den Männern liegt?« »Bei geblendeten Kriegsgefangenen«, knurrte Menelaos. Die anderen Fürsten und Heerführer sagten nicht viel, berieten mitunter leise miteinander, und das Gewitter kam näher. Ein riesiger, vielfach verzweigter Blitz schlug ins Wasser und übergoß das Land mit kalkiger Helligkeit. Aieta verschwendete keinen Blick an die bärtigen Männer, blickte mich von der Seite an und sagte kalt: »Abgesehen davon, daß jedermann wenig Ehrfurcht vor den Gesetzen der Amazonen hat: Dieser Tag ist fern. Aber ich würde ihn auch mißachten, denn nicht jeden Tag sitze ich neben einem Halbgott.« Ich wußte nicht, ob sie es ernst meinte, hüstelte und sagte: »In der Tat. Auch ich sitze nur selten zwischen berühmten Achaiern und Danaern neben einer Frau von solch großer Schönheit und von ebensolcher Kühnheit des Wortes.« Der Donner krachte und bekräftigte meine Worte. Sie fragte: »Du bist kein Grieche?« »Ich bin Halbgott. Halbgötter weilen im Land der Achaier, aber sie wohnen nicht dort.« Unsere Gesichter waren nur eine Handbreit voneinander entfernt. Ich beugte mich vor und füllte vom nächsten Krug die Schale, reichte ihr das Trinkgefäß, und Odysseus gab ihr einen Dolch, an dessen Spitze ein dampfender Fleischbrocken steckte. Odysseus fragte ohne Ehrfurcht: »Willst du etwa einen halbgöttlichen Sohn haben, Aieta?«
»Von dir hab’ ich Fleisch bekommen, Odysseus.« Ihr Kopf ruckte hoch, ihre Augen leuchteten auf. »Atlan gab mir Wein. Von Atlan Toxarchos will ich einen Sohn haben.« Ich fühlte, wie nicht nur meine Finger unruhig wurden, und kaute auf der süßen Kruste des Bratens, den Odysseus geschickt zerlegte. Solche Aufforderungen im Kreis grölender Griechen hatte ich noch nicht erlebt. Barbaren! Als das Gelächter aufhörte, sagte sie ungerührt: »Bisher hab’ ich immer bekommen, was ich wollte.« »Du hast mich, Atlan, nicht gefragt, ob ich das gleiche will wie du.« Odysseus warf mir einen langen, vergnügten Blick zu, als wolle er sagen: Hab’ ich zuviel oder Falsches versprochen? Ich erwiderte sein Grinsen und sagte: »Guter Wein, heißer Braten, eine solche Aufforderung; ich brauche ein paar Bissen Brot.« Menelaos gab mir ein Fladenbrot. Ich lehnte mich zurück und überlegte, während ich langsam aß und trank. Kämpfende Frauen, die sich nur an einem Tag im Jahr begatten ließen, und dies von geblendeten Gefangenen, die, wenn ich Odysseus glauben durfte, danach getötet wurden, ebenso wie die männlichen Säuglinge, die man rücksichtslos aussetzte. Eine selbst unter Barbaren rohe Welt, in der die Amazonen freiwillig lebten. Ich verstand viel von diesem Verhalten, seit ich die Barbaren dieses Teils der Welt besser kannte; wollte ich, was Aieta wollte? Aieta war zweifellos schöner und selbstbewußter als jede Sklavin. Ich saß im Halbschatten, beobachtete Demeter, die achaischen, griechischen, hellenischen und danaischen Fürsten, zuckte zusammen, als Menelaos laut rülpste, und fragte mich, ob Paris vielleicht die besseren Eßsitten gehabt haben mochte, damals. Ein leerer Weinkrug neben dem einschlafenden Philoktetes fiel um, vom Hammel hingen noch Fleischfetzen und
Knochen am Spieß, das Feuer war fast hinuntergebrannt. Das Gewitter zog sich nach Osten, durch die Meerenge. Menelaos stand schwankend auf. »Also. Bei Zeus! Wir warten bis morgen abend, bis Odysseus und Atlan ihren Plan fertig haben.« Agamemnon schlug sich auf den Bauch und rülpste. »So ist es. Morgen abend.« Philoktetes zupfte an der Bogensehne und stützte sich schwer auf seine Waffe, als er Agamemnon folgte. Fackeln wurden in der Glut angezündet. Odysseus blickte sich um und sagte, die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger erhoben: »Und, Freunde, kein einziges Wort zu den anderen. Nicht ehe wir mit den Vorbereitungen fertig sind.« Wir legten die Hände aufeinander und gelobten, nicht darüber zu sprechen, nichts auszuplaudern. Dann kletterten wir aus der Bucht und gingen schweigend zum Lager. Nach hundert Schritten legte Odysseus den Arm um meine Schulter, deutete auf Demeter und sagte: »Du bist überrascht, nicht wahr, mein göttlicher Freund?« »Mehr als das. In meinem Land schreit man es nicht gerade laut heraus, wenn man jemanden lieben will.« »Hüte dich, sie zu beleidigen.« Odysseus’ Murmeln klang warnend. »Sie ist anders als alle Frauen, die wir kennen.« »Keine Sorge.« Ich stieß gegen einen Stein und fluchte. »Wenn ich tu’, was sie wünscht, dann auf meine Weise. Das hat sie nicht bedacht. Ein ungezähmter Löwe bleibt gefährlich, aber er fällt seinen Herrn nicht mehr an.« Odysseus packte meine Schulter, hielt mich in Armeslänge fest und knurrte: »Dumm bist du ja nicht, aber vielleicht mutiger, als ich denken kann. Nun, wir werden sehen. Sie schickt eine Botin, wenn sie dich haben will.« »Belagern nicht alle Krieger die Häuser der Amazonen?«
sagte ich, neugierig geworden. Odysseus begann schallend zu lachen, weckte den Wachhund vor Ajas’ Haus auf und versetzte ihm, als er ihn kläffend angriff, einen Tritt. »Unsere Krieger, Freund? Du irrst gewaltig! Die Griechen fürchten sich vor den Amazonen, aber keine Amazone fürchtet einen lebenden Mann, sei er Achaier, Barbar oder Troer – oder auch Halbgott!« Auch an diesem frühen Abend herrschte Ruhe im Lager. Nur die Rufe der Posten waren zu hören. Es roch nach Flugasche und saurem Wein. Odysseus und ich saßen im Garten in der kühlen Abendluft. Ich ordnete meine Pfeile, polierte Schild und Helm. Auf hölzernen Sockeln standen unangezündete Öllämpchen. Odysseus hatte eine Sklavin neben sich und spielte gedankenlos in ihrem schwarzen Haar. Ich fragte leise: »Du denkst an unsere Büchse der Pandora?« »Ja. Und an Pallas, die Göttin, die ich verehre. Das Pferd ist nicht ihr Zeichen, aber eine riesige Eule wäre auch nicht das richtige Weihgeschenk.« »Deswegen hab’ ich an etwas anderes gedacht. An einen Stier zuerst, mit Rädern.« »Beleidige nicht Zeus, den Donnerer. Eher noch eine Hindin.« »Wir haben uns alle auf ein Pferd geeinigt. Unter seinen Hufen, sagt Menelaos, wird es Ilion zertreten. Meine Zeichnungen haben die Zustimmung aller Fürsten gefunden, und schon sägen und schnitzen die Sklaven und Handwerker.« »Noch ein Pferd.« Odysseus zeigte zum Hoftor. »In leichtem Trab. Dort kommt, wenn wir nicht irren, eine von Demeters mannlosen Maiden.« Ich stand auf. Von den Schiffen her ritt eine schwarzhaarige Frau auf einem Schimmelhengst. Der Sattel – den meisten Reitern noch immer unbekannt – war nur ein breiter Gurt über
einem Stück Fell, das vor und hinter dem Gesäß des Reiters aufgerollt war. Die Frau schwang sich, die Hand in der Mähne, vor uns zu Boden und fragte gleichgültig: »Du bist Atlan, nicht wahr?« »Ich bin Atlan.« »Das Pferd wird dich zu Fürstin Aieta bringen. Sie wartet auf dich in der vierten Bucht am Sigeion. Hier!« Ohne aufzuhören, im Haar der Sklavin zu wühlen, stieß Odysseus einen scharfen Pfiff aus. Ich begann zu sprechen. »Sag deiner Fürstin…« »Demeter wartet!« Die Frau warf mir den Zügel zu, drehte sich um und verschwand stolz und aufgerichtet hinter der Hofmauer. Ich ging ins Zelt, packte Schalen, Weinkrug, Lämpchen und anderes in einen Sack und nahm, vor Odysseus stehend, den Zügel. Odysseus kicherte, vollführte eine eindeutige Geste und murmelte: »Meinem scharfsinnigen Verstand ist mitnichten entgangen, daß deiner göttlichen Erscheinung, Beredsamkeit und deinen feinsinnigen Gesten zuliebe die wilde Furienfürstin der Amazonen ihren Sinn geändert hat. Sie will dich nicht blenden, sondern einen Sohn von dir. Keine Tochter?« »Vielleicht bekommt sie einen«, sagte ich ein wenig gereizt. »Und vielleicht hast du schon zwei; und Telemach freut sich über ein Brüderchen.« »Wärst du nicht mein Freund, Toxotes, hättest du jetzt meinen Speer im Rücken.« Odysseus wandte sich ab. Ich winkte Kerberos und fragte: »Im Rücken, Odysseus? Wie hinterhältig!« Ich schwang mich auf den Pferderücken und rammte dem Tier die Absätze in die Weichen. Es machte einen Satz: ein halbwilder Hengst, alles andere als gut zugeritten. Er gehorchte jedem Schenkeldruck, galoppierte an und stob zwischen den Schiffen über den Strand und in einem Schauer aus Was-
sertropfen durch die niedrige Brandung. Ich ritt nach links. Vollmond spiegelte sich in den kleinen Wellen und verwandelte den Gischt in ein Gespinst aus Licht und Gekräusel. Der leere, lange Strand, ein Streifen, unterbrochen nur von knorrigem, entrindetem Treibholz, wurde zu einer schmalen Sichel, als ich auf sein Ende zugaloppierte. Ich umrundete die flachen Felsen der ersten Bucht, der zweiten, tastete nach dem Lähmdolch im Stiefel, schaltete das Abwehrfeld ein und aus; in dieser Entfernung von Priamos’ Schatzkammer arbeitete es zuverlässig. Vor uns, wie ein Schemen, ragte ein ausgehöhlter Kalksteinfelsen auf wie der Armstumpf eines Aussätzigen. Meine Unruhe wuchs: Schätzte ich genau ab, was mich erwartete? Oder wünschte ich es nur? Ich zog am Zügel, der Hengst bäumte sich auf und fiel in schnellen Trab. Ich kam zur vierten Bucht, fünf Stadien vom letzten Schiff im zerfallenden Hafen entfernt, sah mich suchend um und entdeckte Aieta Demeter, die am Säulenstumpf eines halbzerstörten, im Sand vergrabenen Tempelchens lehnte. Der Hengst trabte auf die Frau zu; ich zügelte ihn, sprang ab und band den Zügel an einem zehn Ellen langen, weißen Baumstamm fest. Ich ging mit meinem Bündel durch den nassen Sand und blieb vor ihr stehen. »Du hast mich gerufen, Demeter«, sagte ich leise. »Ich bin hier. Glaub nicht, du habest schon gewonnen.« »Du bist hier. Das genügt.« Sie winkte. Ich sah lächelnd in ihr Gesicht, mein Blick glitt an ihr herunter: Sie trug Sandalen, einen Ledergürtel mit polierter Eisenschnalle, zwei lange Dolche in Lederscheiden, den Chiton eines männlichen Griechen, von Bronzeschnallen gehalten und aus rauhem Leinen. »Ich bin gekommen, um dich zu lieben, nicht, um mit dir zu streiten«, sagte ich. Kerberos trabte heran und beobachtete jede Bewegung aus glühenden Linsenaugen. Ohne sich zu rühren fragte sie: »Wer bist du, Atlan?«
»Nicht wie die Männer, die du zu kennen glaubst«, sagte ich und ging langsam zu einem trockenen Platz zwischen Felsen und unter Krüppelgewächsen. Ich warf meinen Mantel in den Sand. »In meinem Land gibt es wenige schönere Frauen als dich. Aber die Frauen kämpfen nicht gegen die Männer wie die Erynnien oder deine Amazonen.« »Was willst du von mir?« Sie war verblüfft und aufgeregt. »Und was willst du von mir?« Ich stand reglos vor ihr und blickte auf die schmale Furche zwischen ihren Haaren. »Du weißt es genau.« »Mit Dolchen im Gürtel, schönste Aieta?« Ich lächelte. »Macht das einen Unterschied? Hier bin ich.« »Ich sitze nicht gern in der Feuerglut.« Ich lachte laut, breitete den Mantel aus, entzündete das Lämpchen, grub kleine Höhlungen für die Schalen in den Sand und drehte den Krug in das größere Loch. »Und du?« »Nein. Ich auch nicht.« Sie war ratlos und konnte es nicht verbergen; selbst die Barbarin schien deutliche Unterschiede im Verhalten zu merken. »Die Männer, die ich kenne, sind anders als du.« »Darauf bin ich nicht wenig stolz«, sagte ich und setzte mich auf den anderen Sockelstumpf. »Nicht, daß ich einem Kampf ausweiche, Demeter. Aber hier und jetzt und gegen dich – ich will keinen Kampf. Ich will die Mutter meines Sohnes lieben können.« Demeter loderte förmlich unter der Kraft ihres starken Willens. Sie verkörperte, was ich ablehnte: Obwohl hinreißend weiblich, sah sie in jedem Mann, auch in mir, einen verachtungswürdigen Feind. Ich war nicht im Kampf um Ilions Tore; ich berührte sie an der Schulter und sagte weich: »In der Nacht der Liebe herrschen Ruhe, Zärtlichkeit, das Gefühl, beim anderen geborgen zu sein. Ich will eine Frau in den Armen halten, nicht mit einem wilden Tier kämpfen. Sieh
dich um, Aieta: Selene strahlt, Wind fängt sich in verkrüppelten Zypressen, Poseidons Wellen singen sanft am Strand; die Natur schläft. Du stehst da, als wolltest du mit mir mit Dolchen, Zähnen und Fingernägeln kämpfen.« Sie schwieg lange verwirrt, plötzlich löste sie sich von der Säule und stieß hervor: »Ich will nichts anderes als du. Ich kenne nicht, wovon du sprichst. Ich weiß es nicht. Als sprächest du eine unverständliche Sprache.« »Wir sprechen dieselbe Sprache«, sagte ich ernst. »Aber wir betonen sie unterschiedlich.« Ich hakte die Finger in ihren Gürtel und zog sie näher heran. Als sie meine Finger an ihrer Haut spürte, zuckte sie zusammen, als habe sie der Blitz getroffen. Ich sagte leise: »Du befiehlst mich hierher. Dann zuckst du, als habe man dich versengt – hast du Angst, Demeter?« »Nein!« Sie kam näher. Ich schaute, regungslos wartend, in ihre Augen und wußte, daß ich mit einigen Worten keine langgewohnten Verhaltensweisen würde ändern können. Vielleicht gelang es mir, auf anderen verschlungenen Wegen der jungen Frau näherzukommen. Ich streichelte ihr Gesicht. Unsicher, tastend, mit winzigen Bewegungen kam sie näher und blieb stehen, als sich unsere Zehen berührten. Sie zuckte mit den Schultern, dann fuhren ihre Hände zur Gürtelschnalle, und der Gurt schlug schwer gegen meinen Fuß. Sie flüsterte: »Die Dolche liegen im Sand. Was soll ich jetzt noch tun?« Ich wies auf den ausgebreiteten Mantel und das flackernde Öllämpchen, warf meinen Gürtel ab und ging zum Mantel. »Setz dich neben mich, ich bin unbewaffnet.« Sie setzte sich, aufrecht wie eine Statue; ich drehte meinen Oberkörper und faßte in ihr Haar. Bedächtig zog ich beide Spangen heraus; als sie sich schwach zu wehren versuchte, schob ich ihre Hände zurück. Das glatte Haar fiel auf ihre runden Schultern. Ich murmelte beruhigend:
»Du bist eine schöne, begehrenswerte Frau, kein achaischer Fürst. Wenn du es nicht willst, bist du häßlich wie Agamemnon.« »Ich will schön sein«, sagte sie widerwillig. »Jetzt! Mit dir.« Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände, drehte ihren Kopf und küßte sie. Ich war der erste Mann, den sie je geküßt hatte, bemerkte ich voll Verwunderung. Meine Finger weckten ihren Körper, ihre Verwirrung wuchs. Als die Sterne zu verblassen begannen und die Fischervögel aufs Meer hinausflogen, schlief Demeter erschöpft lächelnd in meinen Armen; neben der zerbrochenen Säule wachte der Robothund über uns. Der Körper der jungen Frau war gespannt, als habe sie stundenlang gegen ein Dutzend Trojaner gekämpft. Wir liebten uns wieder vor dem Morgengrauen; ich hob Aieta auf meine Arme, watete in die Brandung und setzte sie behutsam ins warme Seewasser; noch im Halbschlaf begann sie zu schwimmen. Als wir auf den windstillen Winkel der Bucht zuwateten, begann hoch über uns ein Steinchen zu rollen, wurde schneller und schlug auf Felsen. Ein größerer Stein polterte den Steilhang abwärts, fiel auf Moos, prallte gegen Holz und in den Strandhafer; es klang wie Fußtritte. Einen Augenblick lang glaubte ich am Schnittpunkt des fahlblauen Himmels und des Grüns der halbtrichterförmig aufsteigenden Bucht eine seltsame Gestalt zu sehen; halb Pferd, halb Mensch – grau, verschwommen, im Galopp nach Westen preschend. Der Tag kam. Mit ihm zog die Ahnung großer Hitze einher. Die Luft knisterte, bald würde es ein schweres Gewitter geben. Aieta trank den letzten Schluck gemischten Weines, starrte mich an; ihre Augen wurden schmal, und die Nasenflügel bebten. Sie sagte leise: »Es war schön. Ich giere danach. Ich habe verloren.« Ich zog sie an mich, sie rührte sich nicht und sagte leise, beharrlich:
»Ich wollte nichts anderes als einen Sohn von dir. Ich habe mich verändert. Mein Körper hat mich verraten. Ich wollte mich nicht verändern: deswegen muß ich dich hassen, Atlan.« »Ich hab’ dir nur gezeigt, was es bedeutet, zu lieben.« Ich wischte eine nasse Haarsträhne aus ihrer Stirn. »Es war eine wunderbare, lange, zärtliche Nacht der Leidenschaft.« »Ich bin unterlegen!« »Niemand unterliegt«, sagte ich sanft. »Jeder hat gewonnen.« »Ich bin von mir selbst, von meinem Körper, bezwungen worden, anders zu sein, als ich sein wollte.« Demeter streifte den Chiton über und schloß die Gürtelschnalle. »Ich bin nicht mehr Demeter, die Fürstin, sondern Aieta, die Sklavin eines weißhaarigen Liebhabers, eines Mannes!« »Du redest so töricht wie Menelaos.« Ich setzte mich auf und sprach mit aller Schärfe. »Du bist so frei wie die Uferschwalbe. Meine Sklavin? Nimm dein Pferd und reite weg – niemand hält dich auf! Schnell!« Sie kniete vor mir, im Sand auf meinem Mantel, sah mir hart in die Augen. »Du bist kein Mann, kein Grieche, sondern ein Halbgott. Meine Schenkel glühen. Ich reite zurück ins Lager.« »Ich warte heute nacht wieder auf dich, meine schöne Geliebte.« Ich blieb sitzen und deutete zum Höhleneingang über uns. »Dort oben. Ein paar Stunden eher als gestern. Nicht dein Stolz ist verletzt, sondern deine Einbildung spielt mit dir. Nach der nächsten Nacht der Leidenschaft wirst du klüger sein, Aieta Demeter.« Sie packte die Mähne des Hengstes, schwang sich auf seinen Rücken und galoppierte wortlos davon. Kerberos drehte den Kopf und sah ihr nach, bis sie hinter dem Felsvorsprung verschwunden war. Als ich morgens ins Lager zurückkam, waren die Troer schon
wieder in einen Angriff der Achaier verstrickt. Noch während sie versuchten, Tote der letzten Kämpfe zusammenzutragen und vor den Mauern zu begraben, griffen Achaier in zehn Gruppen an. Um mein Zelt herrschte Stille; ich betrachtete die Bilder, die Ricos Sonde aus großer Höhe lieferte. Seit vielen Tagen schleppten die Achaier die Wurfmaschinen vor die Mauern, deckten die Unterstadt mit Steinhageln ein und bugsierten die Geschütze wieder an andere Stellen. Es gab kaum noch ein heiles Dach. Änäas, einer der wenigen Überlebenden Ilions, schien zu erkennen, daß die Übermacht der Angreifer nicht so groß war, und befahl den Kampf. Der Bogenschütze Philoktet, in einer funkelnden Rüstung, die einst einem Halbgott gehört haben sollte, kämpfte wie die Rachegöttin selbst; neben seinem Wagenlenker umkreiste er die kämpfenden Gruppen und schoß seine Pfeile ab. Der Lenker peitschte die Pferde und schrie: »Dort drüben. Philok, steht Paris, der Anzettler aller Übel!« Paris kämpfte trotz der Verletzungen, die ihn weniger behinderten, als ich gedacht hatte. Philoks Gespann fuhr einen Bogen, wendete auf kurzem Raum und ratterte dem Königssohn entgegen. Philok federte die Stöße mit den Knien ab und zielte ruhig mit seinem großen Bogen. Hinter dem Kinnschutz des Helms knurrte er: »Der Dieb, Urheber des Unheils! Er soll büßen, daß er sich in meine Nähe gewagt hat.« Paris rannte auf einen Felsen zu. Köcher und Bogen in den Händen. Philoktetes schrie: »Halt an!« Das Gespann kam in einer Wolke trockenen Ackerbodens zum Stehen. Philoktetes zog die Sehne weit aus und schoß. Der heulende Pfeil riß eine tiefe Wunde in Paris’ Schulter. Paris erkannte den Gegner, wirbelte herum und schoß ebenfalls. Der Wagenlenker riß den Arm hoch und wehrte den Pfeil mit
dem Schild ab; er fuhr neben den Pferden in den Boden. Philok zögerte, zog dann den weißgolden gefiederten Pfeil aus dem halbleeren Köcher und knurrte: »Atlan Toxarchos’ Geschoß.« Er legte den Pfeil ein, spannte den Bogen und zielte über den Bug des Wagens hinweg. Paris verließ seine Deckung und wollte schießen, aber noch während er spannte, schlug die Sehne von Philoks Waffe gegen den Sehnenschutz, der Pfeil schoß davon und traf Paris unter dem Hüftknochen tief ins Fleisch. Paris schrie, griff nach dem Geschoß und wollte es abbrechen, konnte aber den Schaft nicht knicken. Der Wagenlenker rief: »Dort humpelt er! Schieß nach ihm, Philok!« »Ich treffe niemanden in den Rücken«, murmelte Philok. »Nicht einmal einen fliehenden Troer.« Paris hinkte zum Wagen, und während das Gespann auf das halboffene Tor zurumpelte, rückten die Achaier vor. Hinter den Hügeln des Gargron zog eine schwarze Gewitterfront auf. Philoktetes sah sich um. »Wahrscheinlich hab’ ich den Knochen getroffen. Wenn es so ist, stirbt Paris in der nächsten Nacht. Atlans Pfeile sind schärfer als die des Herakles. Fahr zurück zu den anderen.« Viele Troer hatten gesehen, daß Paris schwer verletzt war. Schreie gingen durch die Heerhaufen. Die Verteidiger zogen sich hinter die Mauern zurück, und die Achaier versuchten wieder einmal, die Stadt zu stürmen. Ajas der Lokrer, namensgleich mit dem toten Kriegerfürsten, schoß von den obersten Sprossen einer Leiter einzelne Verteidiger von der Mauerkrone; andere, die sich in seine Nähe wagten, stach er mit der Lanze von der Brustwehr. Hinter ihm kletterte Alkimed auf die Mauer, warf einen langen Blick in die Stadt und wurde von einem großen Feldstein getroffen, den Änäas geschleudert hatte. Mit wild schlenkernden Gliedern stürzte der
Krieger ab. Ajas, im Steinhagel des Änäas, sah schwerbewaffnete Verteidiger auf sich zurennen und kletterte die Leiter hinunter, den Schild über dem Kopf. Philoks nächster Pfeil, nach einem bewundernswürdigen Weitschuß, traf nur den Schild des Änäas. Ajas schwang sich zu Philok in den Wagen; nach wenigen Augenblicken hörten die Kämpfe auf. Ein langer Donner hallte über Stadt, Ebene und Lager, und Ajas rief zum Rückzug. Die ersten schweren Tropfen warfen winzige Staubfontänen auf. Vor dem Gewitter fuhren und rannten die Achaier zum Lager zurück, verfolgt von Donner, Blitzen und Regenschauern. Ich schaltete den Monitor aus, hängte den Schild auf und trat unter das Vordach des Zeltes. Regen trommelte auf die geölte Leinwand, von den Rändern liefen breite Tropfenbahnen. Die Herolde rannten zwischen den Häusern umher und riefen zur letzten Versammlung, die über den möglichen Rückzug entscheiden sollte. Triefend naß rollte die Wurfmaschine durch die Lagergasse. Der Seher Kalchas, Prophet der Achaier, zeigte auf die Wolke, aus der unaufhörlich Blitze zuckten und schrie: »Zeus, der Weltherrscher, schleudert Blitze und Donner – das beste Vorzeichen, ihr Helden!« Ich lief zu Odysseus, wir rannten aus dem Haus zu Agamemnon, und noch bevor jemand sprach, hob Odysseus beide Arme zum Himmel und rief: »In der Nacht erschien mir Pallas Athena, meine Freundin, wie jedermann weiß. Sie sprach: Es gibt nur einen Weg in die Stadt. Sie nimmt das hölzerne Pferd, das Weihegeschenk, von uns an.« Ajas hob die Hand und deutete auf Odysseus. »Keine langen Reden, Odysseus. Es regnet, und ich hasse Wasser.« »Man riecht’s, Ajas«, sagte Odysseus. »Hört, versammelte Griechen: Wir bauen gerade ein großes Pferd, in dessen Bauch
sich unsere besten Helden verbergen werden.« Er grinste. »Viele sind es ja nicht mehr; wir haben leicht Platz. Beratet euch mit euren Kriegern und Knechten. Es muß so aussehen, als würden wir kampflos die Troas räumen. Wir segeln und rudern zur Insel Tenedos und verbergen uns dort. Auf ein Zeichen kommen die Krieger zurück.« »Und wer soll dieses Pferd bauen?« fragte einer, dessen Namen ich nicht kannte. Menelaos nickte Epeios zu und sagte: »Epeios ist unser bester Baumeister. Das Pferd ist so gut wie fertig. Unser letzter Versuch!« Die Versammelten blinzelten nach dem grellen Blitzschlag; ein Donnerschlag machte uns alle halb taub. Die Augen des Pferdes waren zwei einseitig verspiegelte gläserne Linsen der Gleiterausstattung. Der nächste Blitz würde wohl mitten in unserem Kreis einschlagen. Kalchas rief schrill: »Auch Zeus heißt das Vorhaben gut!« »Das freut mich.« Odysseus bohrte mit den kleinen Fingern in den Ohren und schaute sich um. »Ihr versteht noch nicht, was es heißt, mehr als fünfhundert Schiffe mit allem Wichtigen zu beladen: Waffen, Vorräte, Hausrat, Sklaven. Die ganze Beute! Und wir müssen die Troer davon abhalten, uns in dieser Zeit zu überfallen – sicher lauscht irgendwo ein Spion. Nicht jetzt, denn Atlans halbgöttliche Hatzhunde rennen ums Haus. Hört also unseren Plan, wie der Rückzug vor sich gehen soll…« Die Fürsten redeten, lachten, gestikulierten und hörten dann zu, wie Odysseus unsere Vorschläge erläuterte. Während das Holztier, etwas höher als das höchste Stadttor, fertiggestellt wurde, würden die ersten Schiffe mit jener Ladung, die nicht unbedingt für den Kampf gebraucht wurde, davonrudern. Epeios war ein guter Zimmermann. Das Pferd sah überzeugend aus, »die Troer werden vor dem Weihegeschenk auf ihre ungewaschenen Knie fallen«, wie Odysseus gesagt hatte. Noch
waren die Achsen nicht angebracht, aber die Räder von erbeuteten Kriegswagen lagen bereit. »Wozu eigentlich die Räder?« fragte Menelaos. Der Regen strömte herunter und verwandelte Staub und Erdreich in Schlamm. Kalchas tanzte wie verrückt im Regen umher und schrie ein ums andere Mal: »Zeus ist mit uns! Die Götter sind mit uns!« »Um das Pferd an einen Platz zu ziehen, an dem es die Troer gut sehen können. Und dafür, daß sie das herrliche Tier leichter in die Stadt bringen.« »Jetzt weißt du es ganz genau«, sagte Odysseus leise zu mir. »Zeus ist mit uns. In den nächsten Tagen wird er reiche Gelegenheit haben, mit uns zu sein und dabei zu bleiben. Stimmt’s, daß Xeagros der Stotterer nicht mehr im Lager ist?« »Er hat die Mesarier zurückgelassen und sucht an anderer Stelle den Schlüssel zum Olymp.« »Die Mesarier werden auch immer weniger. Gestern hab’ ich achtzehn gezählt. Du willst sie nicht bestrafen?« »Nein. Ich brauche sie ja, um den Schlüssel zu finden.« Sturm packte jetzt den Regen, hochgerissener Sand und Staub wurden niedergeschlagen. Alles verwandelte sich in eine triefende Schlammfläche; braune Bäche rannen dem Meer entgegen. Pferde rissen sich los und rasten durchs Lager. Odysseus verfolgte ein losgerissenes Tier mit Blicken und sagte in der Pause zwischen Donnerschlägen: »Ich sehe ein wildgewordenes Pferd – du hast Aieta mit ihren eigenen Waffen geschlagen?« »Ich habe auch meine Waffen gebraucht.« Ich lachte unbehaglich. »Aber jetzt haßt sie mich, und sich selbst auch, eben darum. Sie rannte aufs Ziel zu, ist aber über ihre eigene Natur gestolpert.« »Nun ja. Wartest du heute wieder in der Bucht?« »In der Höhle«, sagte ich. Er schlug mir schwer auf die
Schulter. »Genieß die Tage, die Ilion von der Vernichtung und uns vom Abschied trennen. Vergiß nicht: Frauen sind keine Menschen, und Amazonen sind keine Frauen. Ich, der Listenreiche, weiß das.« »Wie könnte ich an der Klugheit deiner Worte zweifeln?« Wir rannten zu seinem Haus zurück; als wir uns umdrehten, spaltete der Blitz das Halbdunkel ums Lager. Der Mast eines Schiffes wurde zu tausend Splittern zerfetzt; das nasse Holz flammte augenblicklich auf wie Zunder. Zeus war mit uns. Bevor ich, vom Gleiter kommend, den Hang hinunterkletterte, blickte ich nach Osten. Auf den Berghängen des Ida brannte wieder ein mächtiger Scheiterhaufen. Paris wurde im Kreis seiner früheren Freunde, der Ziegenhirten, von den Flammen verzehrt. Inzwischen hatten wir von troischen Überläufern erfahren, daß seine Jugendfreundin Oinone, halb wahnsinnig vor Schmerz, sich ins Feuer stürzen wollte. Ich zuckte mit den Schultern, winkte dem Robothund Hades, der auf dem Strand lag und sicherte. Die Brandung spülte Unmengen losgerissenes Laubwerk an. Ich hatte eine kleine Höhle gefunden, nicht viel mehr als ein großes Loch im Kalkfels. Wie seltsame Moosfäden wucherten Stalakmiten, vielfarbig im Licht des Feuerchens, dessen Rauch durch Spalten abzog und über dem ich ein Stück Fleisch, gewürzt und in viel Öl, im Stahltopf briet. Ein Pferd, an einer Wurzel angebunden, fraß frisches Gras und Hafer, die Sträucher am Hang tropften in einem befremdlichen Takt. Die weiche Luft wehte kühl vom Meer her; ich saß bequem auf meinem Mantel und wartete. Huftritte, raschelndes Laub, schnelle Schritte, ein Schatten bewegte sich. Dicht unter der Höhle hatte sich Aieta Demeter vom Pferd geschwungen. Ich schob die Waffe in den Stiefelschaft und sprang aus der Höhle. »Du kommst früh, Deme-
ter.« »Es sind die Männer, die zu mir kommen sollten.« Sie lächelte kalt. »Du hast wieder gesiegt.« »In ein paar Tagen fällt Ilion.« Ich nahm ihre Hand und zog sie zum Höhleneingang. »Dann werden wir uns trennen. Niemand fragt dann, wer verloren oder gewonnen hat. Hier sind Wein und Braten.« »Ich habe Angst«, flüsterte sie, als sie auf der Decke saß, die ich über den Sand gebreitet hatte. Die Höhlenwände flimmerten und glänzten. Heute trug Demeter keinen Dolchgürtel. Ich rückte den Bratentiegel über die Glut und fragte: »Angst? Wovor?« »Ich hasse mich selbst. Ich sollte stark sein und bin – so schwach. Ich bin gekommen, obwohl ich nicht wollte. Ich hasse dich und warte doch darauf, daß du mich berührst.« Ich hatte einen dickbäuchigen Lagynos mit dünnem Hals und Henkel mitgenommen und eine zweihenklige Schale. Aieta füllte die Schale, nahm einen tiefen Schluck, als wolle sie sich Mut machen, und gab mir die Schale. Ich lehnte mich gegen die Wand. »Du bist heute noch schöner als in unserer letzten Nacht.« »Nein.« Ihr Gesicht, obgleich maskenhaft starr, begann im Widerschein der Flammen zu leben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sprich nicht so. Mit jedem deiner Worte werde ich mehr zu deiner Sklavin. Noch nie hat eine von uns einem Mann gehört.« Ich stach Löcher in das Fleisch der Rinderkeule. Unter der bräunlichen Kruste war das Fleisch noch zu blutig. Über soviel Starrsinn halb verzweifelt sagte ich eindringlich: »Du gehörst nicht mir, Aieta. Du gehörst nur dir allein. Ich habe kein Recht und will auch keines. In wenigen Nächten trennen wir uns, und du bist frei wie zuvor; auch mit meinem ungeborenen Sohn.«
»Aber… du hast schon meine Gedanken vergiftet.« Sie nahm mir den Skyphos aus der Hand und trank. »Du bist ein seltsamer Mann, Atlan. Bist du Halbgott, oder ist das auch eine Lüge?« »Ich bin für die Achaier ein Halbgott«, sagte ich. »Ich regiere ein Land, dort, wo das Gespann des Sonnengottes ins Meer taucht.« »Was tust du vor Ilion?« Ich versuchte es ihr in einfachen Worten zu erklären. Als ich mit der Schilderung von Halbwahrheiten und Wahrheiten fertig war, fragte sie knapp: »Als Halbgott könntest du im Schutz der Nacht, fliegend wie Athenas Eule und listig wie Theseus, in Priamos’ Schatzkammer eindringen und den Schlüssel stehlen.« »Ich habe Zeus und Athena ein Versprechen gegeben. Ich darf nur wie ein Achaier kämpfen«, sagte ich und dachte an das unrhythmische Versagen aller Hochenergiegeräte. Die Barbaren glaubten jeder mystischen Übertreibung lieber als einer auch nur annähernd logischen Erklärung. Aieta begann ihren Oberkörper hin und her zu wiegen und murmelte Halbverständliches; ich hörte ungläubig zu. »Atlan Toxarchos. Wir Amazonen kennen nur Jagd, Kampf und Herrschaft über unser Land. Die Fürstinnen erziehen uns, hart wie Männer zu sein, wie Jäger und Herrscher. Ich kann nicht anders reden und tun; du nimmst mir die Sicherheit wie kein anderer Mann je zuvor. Auch weil Pentesilea zu tief in Achills Augen geschaut hat. Und – weil ich unsicher bin, hasse ich mich und dich.« Der Klang der Stimme und ihre Augen verrieten nichts. Für einen Augenblick war es, als stünden wir auf verschiedenen Seiten eines Abgrunds. Mein Verständnis wuchs, und plötzlich wußte ich den Weg, der sie von vielen Zweifeln befreien konnte. Ich beugte mich weit vor.
»Wenn du einen Sohn von mir hast – wirst du ihn töten und wegbringen lassen, wie ihr es mit männlichen Säuglingen tut?« »Nein«, sagte sie. »Ich bin die Fürstin. Mein Sohn wird herrschen.« »Ein Mann als Herrscher über Amazonen?« »Nicht über uns. Über andere.« »Über wen?« »Ich weiß es nicht, und, wüßte ich’s, würde ich es nicht sagen.« Sie füllte den Lagynos und hob die Schale an beiden Henkeln zum Mund. Ich wickelte dünne Brote aus dem Tuch, erhitzte sie im Öl, schob den Braten auf ein Brett und zerteilte ihn mit dem Vibromesser in dünne Scheiben. Wir aßen langsam und meist schweigend; das Feuer und die Höhlenwände bildeten eine Blase, die uns von der Welt abkapselte, die Welt ausschloß. Fast unmerklich löste sich Demeters Starre. Der Wein mochte mitgeholfen haben. Ich beugte mich über sie. Die braune Haut war vom Feuerschein mit hellen Flecken übergossen wie das Fell eines Leoparden, ihr Gesicht war entspannt, die Lippen geöffnet. Die gespreizten Finger und das aufgelöste Haar schienen Zeichen ihrer ungewöhnlichen Kraft und Wildheit zu sein; eine überaus stolze Frau, allen anderen überlegen. Ich küßte sie; sie öffnete die Augen, starrte mich an und flüsterte: »Ich hasse dich, wenn ich dich liebe, Atlan.« »Ich hasse dich nicht.« Ich wagte ein Lächeln. »Ich versuche dich zu lieben.« Wir tranken einige Schlucke, liefen an Hades und den Pferden vorbei zum Strand, wateten ins Meer und tauchten, und plötzlich schwamm sie auf mich zu, schlang die Arme um mich und preßte sich an meinen Körper. Ihre Haut glühte, sie atmete schwer, als ich sie auf die Arme hob und zur Quelle trug. Wir wuschen das Salz von der Haut und aus dem Haar
und streckten uns neben dem Feuer aus. Nur kleine Flammen züngelten bisweilen aus der Glut, als wir uns wortlos liebten. Weit nach Mitternacht, als der Rand des Nachtgestirns das Land berührte, standen wir neben den geborstenen Säulen am Buchtende. Warmer Wind trocknete die Tropfen auf unserer Haut. Ich nahm schaudernd die Eindrücke des Augenblicks in mich auf; eindringliche Schönheit lag in den Augenblicken des Empfindens, das nur zwei Menschen dieser Welt anging. Plötzlich glaubte ich wieder zu wissen, daß jeder Eindruck, jede Überlegung, die ich in der Verzweiflung vieler Jahrtausende aufgenommen hatte, ein Höchstmaß an Sinnlosigkeit enthielten: Ich war Gefangener dieser Welt, ein Einsamer der Zeit, und selbst die Möglichkeit, die ich mit dem Raumschiff, dem Steuersegment und dem Rechenkopf hatte, blieb winzig klein. Ich rannte im selbstgeschaffenen Käfig umher wie ein Rasender. Der Extrasinn flüsterte: Diese Gedanken helfen dir nicht weiter. Hoffnung bis zum letzten Moment! Der Wind schien Aieta an mich zu drücken, ein Stern strahlte dicht über den Tholosgräbern und spiegelte sich in ihren Augen. Wir gingen in die Wärme der Glut zurück. »Vielleicht hat uns Thetis gesehen«, wisperte Aieta. »Achills Mutter wird das Grab ihres Sohnes besuchen.« »Wenn sie uns sieht«, sagte ich und nahm ihre Hand, »wird sie sich freuen, daß wilder Kampf und milde Leidenschaft gleichzeitig vor Ilions Mauern zu finden sind.« In der Höhle, gegen Morgengrauen, als wir uns schweratmend voneinander lösten, verwandelte sich die Geliebte wieder in die spröde, kühle Fürstin zurück. Sie hielt meine Blicke nicht aus, bekleidete sich schweigend, leerte die Schale und ging, ohne sich umzusehen. Die Geräusche des unwiderruflich letzten Abschieds in dieser Nacht drangen an mein Ohr; ein Wiehern, leises Hufgetrappel und das Rauschen der niedrigen Brandung.
20. Der Anblick des Lagers erschreckte selbst mich. Fast alle Zelte waren abgebaut, die Häuser leer, unzählige Truhen und Säcke auf den Schiffen verladen. Mehr als einmal war fast die Hälfte der Flotte zur Insel gerudert und gesegelt; im Lager befanden sich nur noch Pferde, Krieger, wenige Helfer und Vorräte. Beide Wurfmaschinen waren auf einen niedrigen Hügel in Reichweite der Mauern gezogen worden; sie hatten von dort aus die Stadt beschossen und standen jetzt verlassen dort. Jetzt warteten die Schiffe, an dicken Tauen jenseits der Brandung schaukelnd, während eine Gruppe Bewaffneter eine Pferdeherde nach Osten trieb, zur Heimat der Amazonen. Die jungen Frauen auf ihren Schimmeln entdeckte ich nicht mehr, nur noch den langen Palisadenwall. In der Verlängerung des Tordurchbruchs, von Ilion auf den ersten Blick zu sehen, stand das Pferd hinter einer Flechtwerkwand. Achtundzwanzig Ellen hoch, gelb und weiß, durchdringend nach Harz riechend, so, als wolle es ausschreiten, mit angezogenem Kopf und spiegelnden Kunstglasaugen, als zöge ein unsichtbarer Reiter am Zügel. Die Luke verschmolz, wenn sie geschlossen war, unsichtbar mit den Plankenkanten. Mähne und Schwanz waren aus echtem Pferdehaar; erbeutete Helme und die weggetriebenen Tiere waren gestutzt worden. Agamemnon rammte neben mir den Speer in den Boden. »Ein schönes, tödliches Weihegeschenk, Toxarchos.« »Hoffentlich beenden wir den Kampf, und den Krieg auch.« »Du zweifelst, Atlan Iatros?« »Es wird gefährlich sein, im Bauch des Holztieres zu warten, obwohl Zeus gedonnert hat, was er häufig zu tun pflegt.« Odysseus schleppte ein großes Bündel Waffen, Ausrüstung
und Tücher voller Essen auf den Boden, in den Schatten neben dem linken Vorderhuf. Die Luke klappte auf, ein gezacktes Loch im Bauch, eine Strickleiter fiel herunter, und Epeios, eine Säge in der Hand, kletterte herunter, voll von Sägemehl. Er lachte. »Man könnte glauben, das Vieh fängt jeden Augenblick an zu wiehern.« »Dein Meisterwerk, Epeios!« Menelaos stand hinter uns und grinste verlegen; ihm schien die Vorstellung, ungewiß lange im Bauch des Pferdes versteckt zu sein, nicht zu gefallen. Mir auch nicht; ich dachte an den Gestank der ungewaschenen Fürsten. Aber – es ging um das Schaltelement. Odysseus fragte: »Was nun, Atlan?« »Ruf die Helden zusammen.« Wir stiegen auf ein Dach und warteten, bis sich die Achaier versammelten. Ich schätzte die Masse der Krieger auf mehr als zehntausend. Hinter ihnen standen wenige Knechte und Sklavinnen, einiges Vieh, eine Menge Gepäck. Tausend Unterhaltungen bildeten zwischen den Palisaden und den Schiffen ein teigiges Brodeln. Odysseus schrie über die Menge hinweg: »In fünf Stunden sind alle Schiffe im Meer und steuern Tenedos an. Alle Knechte, Sklavinnen, Kinder, die Hammel und Ziegen werden dort ausgeschifft. Wenn das Zeichen gegeben wird, kommen die Schiffe zurück. Alle Schiffe, gefüllt nur mit Kriegern und Waffen.« Als Odysseus schwieg, brüllte Agamemnon: »Ich schlag’ jedem den Kopf ab, der es wagt, diesem Befehl nicht zu gehorchen.« Odysseus grinste mir zu und schrie: »Die zwanzig Schiffe, die wir ausgelost haben, sollen als erste nach Tenedos segeln. Los! Schnell! Zeus ist mit uns.« Ich fragte Menelaos: »Dein Freund, Xeagros der Stotterer, ich suche ihn. Kannst du sagen, ob er zurückgekommen ist?«
»Er hat gesagt, er holt neue Krieger von Kreta.« Er sah mich an wie das fleischgewordene schlechte Gewissen. »Er ist nicht wiedergekommen. Aber wir haben einundzwanzig Amazonen und, ich glaube, ebenso viele Mesarier. Für den letzten Kampf.« Ich nickte. »Wären wir nur schon in der Stadt«, seufzte Odysseus. »Ohne abgeschlagene Köpfe.« Als wir vom Dach heruntergeklettert waren und sich die Krieger zerstreuten, blieb ein Mann am Hinterbein des Pferdes stehen. Die Haufen der Rüstungen und Waffen im länger werdenden Schatten bildeten seltsame Muster. Odysseus fragte streng: »Was stehst du hier herum, Mann, den ich nicht kenne?« »Ich bin Sinon.« Der Mann war waffenlos, schmutzig und in einen zerrissenen Chiton gekleidet. Menelaos kam hinter dem Haus hervor und rief, in sich überstürzenden Worten: »Sinon hat sich bereit erklärt, den Troern unsere Lügengeschichte zu erzählen. Ein tapferer Mann, Odysseus. Preise ihn!« »Du bist ein tapferer Mann«, sagte Odysseus, ging um ihn herum und betrachtete ihn, als sei er ein Schlachttier. »Ich preise dich, Sinon.« Sinon setzte sich ins staubige Gras zwischen die Hinterbeine des Pferdes, nahm den Krug, der an einer Achse lehnte, und hob ihn an den Mund. Die ersten Schiffe, fast zu schwer beladen, segelten nach Südwest; das Meer war ruhig. Auf der Spitze des Sigeion hatten wir einen Holzstapel geschichtet, der, wenn er brannte, von Tenedos aus sichtbar war. Daneben lagerten Erdpech vom Schiffsbau und Öl; drei Männer versteckten sich dort. Ich schnippte mit den Fingern. Die Hunde, die schweren Tragtaschen auf dem Rücken, blieben vor mir stehen; ich kniete zwischen ihnen und flüsterte:
»Zurück zum Gleiter. Dort wartet ihr, bis ich euch rufe. Los jetzt!« Sie kläfften und rannten davon. Odysseus fragte: »Wohin laufen sie denn?« »Sie rennen mir voraus. Dorthin, wo ich sein werde, wenn ich die Schlüssel zum Olymp gefunden habe. Wo sind die Amazonen Demeters?« »Sie verbergen sich dort drüben, in einem Tal, jagen und warten auf das Feuer, auf des tapferen Sinons Fackelzeichen. Danach beteiligen sie sich an der Prügelei um die Beute. Man hat ihnen junge Troerinnen zugestanden. Willst du bei Aieta warten, Toxotes?« Ich schüttelte stumm den Kopf. Eine Herde Schlachtvieh wurde, von Ilion nicht zu beobachten, in ein Versteck getrieben; ein geschecktes Kalb stolperte zwischen Trümmern und Holz herum, das die Sklaven sammelten, um an verschiedenen Stellen Feuer zu machen. Einige Tische und Bänke wurden herangebracht, Essen und verdünnter Wein kamen, während die nächsten Schiffe ins Wasser geschoben und fortgerudert wurden. Die Helden, die sich im Pferd verbergen würden, kamen aus allen Richtungen und setzten sich. Odysseus warnte: »Bevor wir die Klappe schließen, ihr Helden, geht zwischen die Büsche und erleichtert euch. Sonst müßt ihr in den Pferdebauch pissen, und wir sterben vor Gestank und nicht durchs Schwert. Keine Zwiebeln, Agamemnon!« Alles war geplant. Die Dämmerung kam, die Dunkelheit der Nacht, und zwischen den Mauern und den Palisaden hielten sich nur drei Späher auf, die im Morgengrauen in einem kleinen Boot fortrudern würden. Wir aßen wenig, redeten leise miteinander; einige gewissenhafte Diener verschnürten die Waffen im Hohlraum dergestalt, daß sie nicht klirrten, gegeneinander schlugen oder sich gar lösten. Es würde höllisch eng
werden. Einige Fürsten wickelten sich in Mäntel und Decken; ein einziges Schiff wartete noch. Neo Ptolemo, Achills Sohn, kletterte als erster ins Pferd, zog am Seil unser Essen und die Wasserschläuche hinauf, dann folgten Menelaos, Diomed, Odysseus und Philoktetes mit drei gefüllten Köchern, Ajas und Podaleirios mit voller Arzttasche. Ich faßte an meinen Aktivator und grinste. In weniger als einer Stunde würden die ersten Sonnenstrahlen das Pferdehaupt und die schwarze Mähne treffen. Ich stieg ein und kletterte über gespannte Seilnetze in die Nähe der Ohren; von hier aus konnte ich fast die gesamte Umgebung überblicken. Durch meist versteckte Löcher und verschließbare Ohren erfolgte der Luftaustausch. Odysseus Stimme klang hohl. »Siebenundzwanzig. Einer fehlt.« »Keiner fehlt, Listenreicher.« Epeios warf sein Bündel in den Bauch, zog die Strickleiter herauf und rollte sie gewissenhaft zusammen. Wir lagen in drei Schichten übereinander, auf Querbalken und Netzen. Ungefähr eine halbe Stunde später rief Agamemnon hallend: »Gib das Zeichen, Epeios!« Epeios beugte sich aus der Luke und rief: »Legt Feuer an alles, was wir zurücklassen!« Die letzten wartenden Krieger entzündeten die Fackeln an den verschwelenden Feuern, rannten umher und legten an ungefähr dreihundert verschiedenen Punkten, über die gesamte Lagerbreite hinweg, Feuer an Hütten, Holzvorräte und acht halbverrottete Schiffe. Die Späher aus der Ebene rannten zum Strand, zerrten das Boot ins Wasser und ruderten davon. Als das gesamte Lager brannte, selbst die Häuser troischer Fischer, bemannten die Krieger das Schiff und folgten dem Boot. Ich richtete mich auf, spähte durch die Augen und atmete die abscheuliche Luft, die an mir vorbei zu den Ohren hinausström-
te. Wir lagen im Dunkeln; einige schnarchten. Große Fetzen glühenden Materials und unzählige Rauchsäulen, die sich zu einer großen schwarzen Wolke vereinigten, wirbelten erstickend um das Pferd. Ich murmelte: »Wenn die ersten Troer kommen, haltet den Schläfern die Nasen zu. Epeios – du verschließt sofort die Luke und verriegelst sie.« »Das tu’ ich, Toxotes.« Nach einer Weile sagte ich: »Wir sind achtundzwanzig gegen eine ganze Stadt. Ein weiser Seher sagte mir einst: Deine früheren Leidenschaften wirst du vergessen, du wirst lernen, zu leben und zu sterben und eine erhabene Ruhe allen irdischen Dingen gegenüber gewinnen. Diese Ruhe, ihr Fürsten, brauchen wir in den nächsten Stunden.« »Hast du sie?« Ich erkannte Philoks Stimme. »Du, der Paris mit meinem Pfeil getötet hast, solltest klug genug sein, gerade das nicht zu fragen. Ich bin noch zu jung, habe die Ruhe nicht, aber weiß zu sterben, Philok.« »Ich auch. Wir wollen die Ziele treffen, solange wir leben, Toxarchos.« »Es wird langsam hell«, sagte Epeios. Das Schiff war verschwunden, die Flammen erloschen, überall schwelte Rauch. Die riesige, zerfasernde Wolke trieb aufs Meer hinaus. Ich dachte nach: All jene Verbesserungen, in denen ich griechische Handwerker unterwiesen hatte, neue Schlachtordnung, Wurfmaschinen; sie würden nichts bewirken. Aber der Start der Arkonflotte war in gedanklich greifbare Nähe gerückt. Noch ein Tag. Und zuvor: noch ein gräßliches Gemetzel. Häuserkampf. Zwischen Kindern, Greisen und Frauen. Ich sagte: »Agamemnon. Es ist nicht nötig, die Kinder zu schlachten. Halte deine Krieger im Zaum. Erinnere sie ans göttliche Ge-
setz.« »Ich werd’s versuchen, Atlan. Ich schwör’s.« Ich schlief eine Stunde. Die großen Ohren sogen die Geräusche des Morgens ein und verstärkten sie. Frösche, Wasservögel, Rabengeschrei. Die Fischaugenlinsen fingen das Licht; hell, rötlich, schließlich gelb. Ich hörte, wie Philok und Epeios miteinander flüsterten. »Die ersten Troer kommen.« »Soll ich die Luke schließen?« »Ist Sinon noch beim Pferd?« »Er schnarcht.« Ich spähte durch die Augen. Die Mauerkronen füllten sich mit Troern. Ein Tor schwang auf, die ersten Schwerbewaffneten wagten sich in die Ebene. Ich sagte scharf: »Sie kommen! Die Luke zu! Weckt die Schläfer! Und dann: nicht ein einziges Wort, bis wir in der Stadt sind.« Epeios schob die vier eisernen Riegel im dicken Hundefett vor. Menelaos’ Schnarchen riß ab, ein Gurgeln, hastiges Flüstern, dann herrschte Ruhe bis auf die Atemzüge. Schon jetzt begann die Luft dick zu werden; bald würde man sie kneten können. Wieder warteten wir scheinbar endlos. Nach einer Stunde schwitzten wir wie im Dampfbad, und der Geruch des Holzes stach in den Nasen. Ich blickte hinaus, sah Krieger, unbewaffnete Stadtbürger, eine lange Reihe, die aus den Toren kamen. Jemand schrie mit überkippender Stimme. Ein Priester? »Bürger von Ilion! Treibt euch der Irrsinn? Glaubt ihr, die verfluchten Griechen hätten sich ohne jede List davongeschlichen? Unterschätzt ihr den Odysseus? Dies ist ein Geschenk der Danaer.« Ich sah durch das rechte Auge. Etwa tausend Menschen umringten das Pferd. Jemand, vielleicht der Mann, der eben geschrien hatte, riß einem Krieger eine Lanze aus der Hand und
rammte sie senkrecht hoch. Durch Risse und Löcher sickerte Licht in den Bauch; Odysseus warf sich wie eine Katze über Agamemnon, dem die Lanzenspitze ins Gesäß gedrungen war. Odysseus erstickte Agamemnons Schrei und wischte das Blut von der Metallspitze. Am Schaft wurde gerüttelt, die Spitze verschwand. Odysseus legte ein Brettchen über das Loch. Man schrie den Priester nieder, als dieser brüllte: »Traut diesem Tier nicht!« Einige Krieger hatten Sinon gefunden und aufgeweckt; sie zerrten ihn vor den Wagen des greisen Priamos. Er schilderte laut – damit wir es hören konnten –, was ihm geschehen sei: Die Griechen hatten ihn als Opfer ausgesucht und mit Wein betäubt, und jetzt würden ihn die Troer feierlich töten. Odysseus, der listige Schurke, hatte gesagt, daß das Pferd ein Weihegeschenk an Athena war, und daß sein, Sinons Leben, als Opfer für Iphigenie gedacht war, aber er hatte sich losgerissen und hatte sich versteckt, als die Griechen wegsegelten. Er hoffte nur, die Troer würden großmütiger sein als die Fürsten, denen er zehn Jahre lang gedient hatte, diese schurkischen Griechen; er war, schlechter als ein achtklassiger Schauspieler, von einer Erbärmlichkeit, die mich fast zum Lachen reizte. Priamos glaubte ihm, der Priester widersprach, aber niemand hörte ihm zu. Unsere Sache stand günstig, aber noch waren wir nicht in der Stadt. Drei Stunden später fing erst an, was wir gehofft hatten.
21. Herumstreifende Troer fanden die angebrannten Kampfwagen und die schweren Räder. Sie wurden herangeschleppt und auf die Achsen des Pferdes gehämmert und gesichert. Wir hörten Pferdetrappeln und Wiehern, dann das Knirschen dicker Seile;
schließlich gab es einen Ruck, und das Pferd begann zu rollen. Abteilungen durchstöberten das Lager; Sinon sah ich neben Priamos in dessen Wagen. Ich hing an Griffen im Kopf des Holztieres und sah abwechselnd durch die Augen hinaus. Ich verglich, was ich sah, mit dem, was ich hörte; Krieger umgaben den Wagen des Herrn von Ilion, auf den Sinon einredete, als wolle er jeden Tag aus neuneinhalb Kriegsjahren schildern. Mit einem Psychostrahler hätte ich die Troer vorzüglich beeinflussen können, aber… ich sah die Fürsten schwitzen, ob vor Angst oder nur, weil sie eingesperrt waren und in zahlreichen Ausdünstungen wehrlos ihren Vorstellungen von Abgeschlossenheit und Hades ausgeliefert. Rumpelnd, stoßend und schlingernd bewegte sich das Riesentier, von dreißig seiner lebendigen Artgenossen gezogen, über den Graben, durch Sand, auf steinige Pfade, noch immer klirrte und klapperte nichts im hohlen Bauch, dessen Balken und Fugen ächzten. Ich fragte Epeios mit Gesten: Hält dein Kunstwerk? Er grinste und bedeutete mir: Tröste dich – es hält! Der Hohlkörper dröhnte wie der Kasten einer Kithara und verstärkte jedes Geräusch. Wir hielten uns an Seilen, Griffen und Ledergurten fest. Bei jedem Knirschen verdrehte Epeios die Augen. Sein Gesicht bekam einen irren Ausdruck. Vor uns tauchte das Stadttor auf. Die Bewegung kam zum Stillstand. Ich blickte zum anderen Auge hinaus und sah, nahe des Flusses, einen Altar. Odysseus spähte durch ein winziges Astloch und hauchte: »Ein Priester. Glaube, er heißt Laokoon. Will opfern.« Der Aufenthalt dauerte ungefähr eine Stunde. Ich konnte es am Sonnenstand leidlich genau abschätzen. Der Altar gehörte dem Poseidon. Man zerrte ein Stierkalb herbei; Laokoon und zwei weißgekleidete Knaben besprengten den Steinblock mit Wein, schleppten Holz für ein Rauchopfer, und die Troer versammelten sich nahe des steilen Uferhanges. Ein Knabe schrie
gellend auf, ich preßte mein Auge gegen das Glas und sah, wie aus dem Gras armlange Schlangen hervorkamen, um die Füße der drei am Altar krochen und die Troer zurückweichen ließen. Der andere Junge wehrte sich mit einem Ast; eine Schlange ringelte sich um, seinen Arm und stach blitzschnell zu, als der Priester das Beil auf den Schädel des Tieres schmetterte. Er spaltete beinahe die Wirbelsäule des Tieres, und während Schlangen sich um die Beine des Opfertieres wanden, ergossen sich zwei Blutströme über das helle Fell. Laokoon hob ein Schwert vom Altar auf, rannte auf seine schreienden Knaben zu, der Stier riß sich los, griff Laokoon an, um dessen Beine sich zwei Schlangen ringelten. Einige Augenblicke lang sah man nur blutbedeckte Schlangen, die über die drei Opfernden krochen, zum Altar und dort am abgebrochenen Ast eines Baumes hinauf. Sie wiegten, scheinbar die Menge anstarrend, die Köpfe wie Pendel des Todes und verschwanden. Entsetzen hatte die Menge erfaßt, und die Troer verließen, mit dem Weihegeschenk hinter den trottenden Pferden und Maultieren, die Stätte des Schreckens. Philoktet flüsterte durch das Mahlen der Felgen: »Der Priester, der mit dem Speer im fürstlichen Gesäß, hat seinen Frevel mit dem Leben bezahlt.« Odysseus und ich grinsten uns im Halbdunkel zu. Männer hoben vor uns das skaische Doppeltor aus den Angeln und warfen die Torflügel neben die Mauer, zögerten und berieten sich, dann zerschlugen sie einen Teil der Balken, die den Wehrturm hielten. Steinquadern, Balkenteile, aufgehängte Schilde und Füllmaterial fielen prasselnd herunter, auch das innere Tor wurde weit aufgerissen. Peitschenknallen und Jubelgeschrei umgaben das Pferd, als es über die Führungsvertiefungen gezogen wurde; viermal wurde die Konstruktion schwer erschüttert, und zwei Fürsten fielen aus ihren Sitzen. Dann breitete sich auffällige Ruhe aus.
Wir zuckten alle zusammen, als wir die gellende Stimme einer jungen Frau hörten, scharf wie eine Bronzeschneide. »Elende! Seht ihr nicht, daß ihr auf dem Weg zum Hades dahinrast? Ich aber sehe Ilion brennen, sehe Blut auf den Stufen unseres Palasts rinnen und dampfen; ich sehe die Gefahr aus dem schwangeren Rosse klettern. Aber ihr glaubt mir nicht. Ich, Kassandra, die Seherin des Unheils, sage euch: Die Erynnien werden die frevelhafte Ehre der Helena rächen.« Wer war Kassandra? Die Seherin wurde laut ausgelacht. Einige Männer führten sie weg, zwischen den Mauern zum offenen Tor des Palastberges. Unsere Aufregung wuchs: aber wir zwangen uns, ruhig zu bleiben und uns nicht zu rühren. Der Gestank war fast unerträglich geworden. Stunde um Stunde verging, und ich war inzwischen sicher, daß Kosmopsychologie auch und gerade bei diesen Barbaren wirkte: Weihegeschenk, Zeichen am Altar… sie glaubten, was sie glauben wollten. Jetzt rüstete die ganze Stadt zu einem Siegesfest. Später Abend: Im weiten Kreis um die Füße des Pferdes stellten die Troer drei Dutzend Lustrophoren auf, mit Öl gefüllt. Man zündete das Öl an; gelblich flackernde Riesenflammen erhellten den Platz und die dachlosen Häuser. Unter den Bäumen hasteten Sklaven umher, stellten Tische auf; es begann durchdringend nach Wein zu riechen und nach Feuern, an denen sich bald Braten drehen würden, denn die Troer hatten die kleine Rinderherde der Achaier entdeckt. Von allen Seiten strömten Troer heran, bestaunten das Pferd, unterhielten sich und gingen wieder auseinander. Das meiste sahen und hörten wir nicht. Musikanten erschienen zwischen den Häusern, in deren Türen und Fensterchen Ölflämmchen brannten. Es schien, als sei die gesamte Bevölkerung zusammengekommen. Odysseus seufzte fast unhörbar: »Ein Fest!« Dessen Ende ihr bestimmen werdet, sagte der Extrasinn. Der
Platz füllte sich. Frische Brote wurden herbeigetragen. Als der Geruch in den Pferdebauch drang, kramten die Fürsten in ihren Bündeln und schlugen die Zähne in kalten Braten. Musik und die Laute von Streit – was das Pferd bedeutete, ob es wirklich ein Sühnezeichen oder ein Weihegeschenk war –, und Freudenschreie, daß der lange Krieg zu Ende war, breiteten sich aus. Ich erinnerte mich an Ricos Informationen: Andere Heere hatten diese Stadt, wohl aus den gleichen Gründen, abgesehen von Helenas Untreue, belagert und niedergebrannt, und stets war sie wieder aufgebaut worden, schöner und mächtiger. Rico hatte zwei Beobachtungen gemacht und offensichtlich Erzählungen von mehreren Zerstörungen gehört. In einer Stadt, in der es fast nur Betrunkene gibt, sagte ich mir, wehren sich wenige: Also gibt es auch weniger Tote. Menelaos flüsterte: »Das dauert die ganze Nacht, Freunde!« Irgendwo hinter dem Pferd, wo ich sie nicht sah, begannen sich die Musiker zusammenzufinden; sie spielten eine wilde, stark rhythmische Musik, voller Trommelschläge, hallender Becken, schnellen Folgen knackender Laute, dazwischen klagende Laute aus hölzernen Röhren, viele geschickt geblasene Syringen, Leiern und Kitharen, und wieder schwere Trommeln. Musik, sagte der Extrasinn. Toten- und Trauermusik in Ilion. In unserem Versteck war es wieder dunkel geworden. Die Flammen, die durch Astlöcher und Fugen drangen, riefen blitzenden Widerschein auf den Waffen hervor. Manchmal schimmerte ein Auge auf, wenn es in den Strahl geriet. Bratengeruch zog durch die Straßen. Ich trank etwas Wasser und kaute lange auf dem weichen Brot. Ich beobachtete weiter. Die Troer waren leichtsinnig, leichtgläubig, unvorsichtig. Vielleicht hatten sie Wachen aufgestellt, aber rund ums Pferd
sah ich keine Waffen. Die Bänke waren voller Menschen, ich sah Sklavinnen, die nachschenkten, erstaunlich wenig Kinder, ausgelassene junge und alte Männer, viele Knechte, die Braten zerteilten und Salzschalen herumtrugen. Man saß und sang, übertönte grölend die Musik; dann fingen einige mit einem Reigentanz an. Schatten vor den Feuern und riesige Schatten an den Mauern bewegten sich wild durcheinander, mehr und mehr Menschen schlossen sich dem Tanzkreis an, der sich schließlich in wilden Strudeln um die Hufe des Holztieres drehte. Der Platz schien sich unter der Sternkuppel in eine Halle zu verwandeln, in ein Chaos aus Geschrei und Musik, stampfenden Füßen und klirrenden Trinkgefäßen, berstenden Tonkrügen und dem Klappern der Messer gegen die Knochen der Braten. Hunde jaulten, der Gestank schmorender und brennender Fleischstücke in den Flammen brachte die ersten Betrunkenen dazu, sich in dunklen Ecken zu übergeben und Sklavinnen mit sich zu zerren; es war ein Kreischen, Fluchen und Johlen außerhalb der vier einigermaßen geordneten Kreise, die sich gegenläufig hüpfend ums Pferd bewegten. Die Flammen der Ölkrüge schienen in die Nacht zu wachsen. Ich hörte, wie jemand sein Schwert aus der Scheide zog, Odysseus oder Agamemnon. Ein Flüstern: »Viel Wein, viele Besoffene, ein schneller Sieg! Wir stürmen den Palast. Dort können wir uns, solange die Schiffe kommen, verschanzen.« Es war ausgemacht, daß alle Schiffe bemannt im Wasser zwischen der Insel und dem ehemaligen Lager sein würden; wenn das Feuer brannte, hatten wir das Pferd verlassen und brauchten Hilfe. Ich spähte nach einer Weile wieder zum Platz und murmelte: »Die ersten verschwinden in den Häusern.« Betrunkene schnarchten entlang der Mauern, umarmten
Baumstämme oder tappten hinter den Paaren her, die hinter Türen und Vorhängen verschwanden. Der erste Ölkrug wurde nicht mehr aufgefüllt und brannte leer. Die meisten Feuer waren niedergebrannt, nur noch Glutkreise. Die Musik wurde unrhythmisch und leiser, nur ein Troer mit der Syrinx schien Lungen wie Blasebälge zu haben. Es war, als wäre für die Troer das goldene oder silberne Zeitalter für wenige Stunden zurückgekehrt, aber bald herrschte das eiserne Zeitalter. Der Spieler auf der Syrinx verließ die Gruppe der trunkenen Musiker und begann einen mäandernden Rundgang, stieg über Schlafende hinweg, blies und blies unermüdlich, und sah zu, wie in zwei weiteren Krügen die Flammen erloschen. Jemand schüttete Wein ins Feuer. Roter Dampf stieg aus der Glut. Der Platz hatte sich fast geleert. Noch immer: die Flöte. Niemand sprach, niemand tanzte, alle verkrochen sich in die Häuser, taumelten davon, zum Burgberg, und ich sah, wie der Mann mit der breiten Rohrflöte über den Platz ging, den Arm um eine junge Frau gelegt, endlich endete der letzte Triller, zugleich mit einem Lachen, in der Dunkelheit. Odysseus sagte in kaltem, wissendem Tonfall: »Wir warten auf Sinons Zeichen.« Wir warteten eineinhalb Stunden. Schwitzend, nach Luft schnappend, mit knurrenden Mägen, bis Sinon zwischen betrunkenen und taumelnden Troern eine Fackel fand, sie an der letzten großen Öllampe anzündete, durch einige Gassen zum Torturm lief und dort die Fackel schwang. Er wartete, bis am Rand der Ebene eine zweite Fackel brannte, löschte seine Fackel und wartete, einen halbleeren Weinschlauch in der Hand. Einige Dutzend tiefe Atemzüge später brannte das Feuer auf dem Gipfel des Vorgebirges, zunächst durch Geflecht und nasse Decken abgeschirmt gegen die Sicht von Ilions Burgberg. Sinon schien zuzusehen, wie sich die ersten Schiffe dem Westufer näherten, von wo aus der Weg zur Stadt kürzer war,
dann suchte er eine Lanze, kam zu uns und stieß dreimal leise gegen den Bauch des Pferdes. Epeios zog langsam die fettstarrenden Riegel auf; wir machten uns bereit und tasteten nach den Waffen. Ich schaltete eine Energielampe an, bis jeder wußte, wo seine Waffe war und einige die Schwertgürtel angelegt hatten. Odysseus streckte den Kopf hinaus, sobald die Luke senkrecht hinunterhing, sah sich schweigend um und genoß die frische Luft, die an ihm vorbei ins Innere strömte. Er murmelte: »Hinaus und hinunter. So leise wie möglich!« Langsam und lautlos rollte er die Leiter auf und ließ sie hinunter. Seine Waffen reichte ihm Epeios; er folgte hinter mir, nachdem die gesamte Ausrüstung aus den Aufhängungen und Riemen gelöst und entgegengenommen worden war, kam als letzter Philoktet, warf mir den Bogen zu und sprang zu Boden. Nacheinander huschten wir zu einem Haus, das leer schien und in dessen Eingang das einzige Lämpchen brannte. Sinon kam uns entgegen, lehnte das schwere Kampfbeil gegen die Wand und goß Wein in eine Schale. Sie ging reihum; er zeigte auf den Burgberg, wo einige größere Flammen zuckten. »Dort hinauf! Ich führe euch. Bleibt im Dunkel und macht keinen Lärm. Ehe die Krieger nicht da sind, keinen Kampf. Philok, Brandpfeile in jedes Haus!« Ein Dutzend Männer folgten Agamemnon. Philoktetes stellte einen Köcher gegen den Krug, zog den Pfeil und tauchte die Stoff umwickelte Spitze ins Öl. Ich roch Erdpech und Wachs. Menelaos hob die Öllampe auf den Tisch, und Odysseus sagte: »Eine stolze, schöne und reiche Stadt wird zerstört, weil du geschlafen hast, als du Helena zur Frau genommen hast, Menelaos. Du hättest eine kluge Häßliche nehmen sollen, denn Ziegenhirten stehlen nur dumme Schöne. Das wirft die Frage auf, ob du ein Ziegenhirt… lassen wir’s. Ilion übersteht diese Nacht nicht. Laßt uns das grause Werk anfangen.«
Philok nickte, während ich nach allen Seiten sicherte, den Pfeil auf der Sehne. Er hielt die Pfeilspitze über das Flämmchen. Augenblicklich brannten Öl und Wachs, summend und rauchend jagte der Pfeil über den Platz, die Flamme im Zugwind anfachend, schlug durch ein Fenster in ein Haus, dessen Dach halb zertrümmert war; Philok wartete nicht, bis er Flammen sah. Der zweite Pfeil schlug mit dumpfem Dröhnen an der Stelle in den hölzernen Pferdeleib, wo man die Tiere mit den Fersen antrieb. Der nächste Pfeil setzte ein weiteres Schilfdach in Brand, und wir hasteten, bis auf Philoktetes, den anderen nach. Als wir in der Gasse verschwunden waren und zum Burgberg rannten, drehte ich mich um: Philok rannte auf mich zu, und es brannten, soweit ich sehen konnte, alle Häuser rund um den Platz; das Pferd fing weitaus langsamer Feuer. Ab und zu blieb der Bogenschütze stehen, entzündete einen Brandpfeil an meiner Fackel und jagte ihn in eine Bretterwand, eine aus Flechtwerk, in einen Holzstapel oder die Firstbalken. Die ersten Schreie waren zu hören und hallten in der Gasse wider. »Weiter! Im Schatten bleiben. Schneller!« Wie die Sichel des Schnitters hing der Mond über uns. Je höher wir kamen, desto deutlicher sahen wir das Signalfeuer. Rauch verdeckte den Mond, gab ihn wieder frei. Flammen prasselten, und als wir alle, eine Doppelbahn brennender Gebäude hinter uns lassend, durch das offene Burgtor rannten, verstand ich endlich den Schrei: »Die Archaier sind in der Stadt! Zu den Waffen!« Von den Rändern des unregelmäßigen Kreises unter uns breiteten sich die Flammen in die Richtung auf die Mauern aus. Die ersten Häuser stürzten zusammen und sandten im Fall furchtbare Funkenschauer in den Himmel. Mit einer einzigen lanzenspitzenförmigen Flamme loderte das Pferd. Die Griechen drangen in die Stadt ein, und die ersten Krieger, die
zu uns stoßen mußten, wichen jedem Kampf aus und rannten los. Wie eine zähflüssige Masse rann das Heer durch die Mauern, breitete sich aus, füllte die Gassen und drang in die Häuser ein. Die Troer wurden von den Bewaffneten getrieben wie Tiere; wenn sie sich wehrten, so geschah das mit Krügen, Scheiten oder Bratspießen. Brennende Beile und die Äxte der Schlachter dienten ebenso als Waffen wie Steine und Mauerbrocken. Griechen und Trojaner wurden von stürzenden Mauern erschlagen. Ich probierte den Paralysator aus: keine Wirkung. Ich warf ein halbes Dutzend explodierende, walnußgroße Bomben nach rechts und links weit zwischen die Treppen, Rampen und Wälle der Burgmauer und hoffte, das Schlafgas würde nicht bis zu uns geweht. Wir rannten keuchend weiter; vor uns waren Geräusche, Krachen, Klirren, die Schatten von Bewegungen. Ich konnte Kampflärm am Fuß des Burgberges unterscheiden. Die Achaier waren also dicht hinter uns. Ajas, Idomeneos und Neo Ptolemo warfen sich gegen das wuchtige Palasttor. Ich riß Ajas an der Schulter zur Seite. Er brüllte wütend auf. »Was willst du?« Ich hielt einen dolchförmigen Sprengsatz in der Hand, winkte die Krieger in achtungsvolle Entfernung zurück und schleuderte den Dolch in die Mitte der Bohlenfläche. Zwei Atemzüge nachdem die Spitze sich ins Holz gebohrt hatte, detonierte die Ladung und riß die Balken auseinander. Die Druckwelle warf uns gegen die Wand. Ich schleuderte eine zweite Ladung: Die oberen Angeln und die Verriegelung in der Mitte barsten, und lange Splitter flogen in die dunklen Gänge. Als sich Staub und Rauch verzogen hatten, polterten die Achaier, unter ihnen einige Mesarier mit roten Helmen und lodernden Fackeln, die letzten Stufen herauf und warfen sich gegen die Reste des Tores. Odysseus deutete nach rechts
und links und schrie: »Philok, Atlan – haltet uns den Rücken frei!« Wir standen bereits Rücken an Rücken, und wenn Bewaffnete auf Mauern und in Durchgängen erschienen, jagten wir die Pfeile von den Sehnen. Ich bemühte mich, die Männer kampfunfähig zu machen, ohne sie ernsthaft zu verletzten; viel lieber hätte ich den Lähmstrahler benutzt. Philok wirbelte herum, zielte auf mich und brüllte: »Herunter!« Ich ließ mich in den Knien zusammensacken, und ein sausender Axthieb wischte dicht über meinem Helm krachend gegen die Steinmauer. Dicht neben mir brach ein Troer mit einem Pfeil im Magen zusammen. Ich sprang auf und sah mich um, der Vorplatz war leer. Ich bedankte mich bei Philoktet und keuchte: »Ich muß in die Schatzkammer.« »Ich helfe dir.« Wir warfen die Bogen zu den Köchern auf den Rücken und hoben die Schilde. Ich nahm ein Kampfbeil aus den starren Fingern eines Toten und rannte an zwei brennenden Säulenfassaden vorbei, durch eine schmale Pforte, in der ein blutüberströmter Sterbender lag, durch einen Innenhof, in dessen Mitte ein Ziehbrunnen stand. Woher Philok den Weg kannte, ahnte ich nicht einmal; ich kannte nur die flackernden Bilder der Sonden aus großer Entfernung. Wir stürmten weiter, Seite an Seite. Die Achaier waren längst in den Palast eingedrungen, aber noch immer tauchten Verteidiger auf. Unsere Köcher leerten sich langsam, Funken versengten uns, Steine krachten gegen Helme und Schilde. Einmal sprang ein riesiger Troer, einen brennenden Balken schwingend, fast auf Philoks Rücken. Der Bogenschütze deutete nach links: Eine der vielen schrecklichen Szenen erschien wie im Licht eines Blitzes. »Da. Sie metzeln den Priamos nieder!«
Ein steinernes Zeus-Tempelchen auf einem kleinen Platz. Priamos lag auf den Stufen und schien zu beten. Ölflammen beleuchteten einige Männer, unter ihnen Neo Ptolemo, der das Schwert hob, den Greis am Gewand hochzerrte und ihm mit einer einzigen wilden Bewegung den Schädel abschlug. Ein eisiger Schauer fuhr über meine Haut, ich schüttelte mich und folgte einem Mesarier. Wir kamen in einen Gang, dessen Decke aus altersschwachen Balken auf einer durchbrochenen Doppelmauer bestand. Dichter Efeu wucherte um die Hölzer. Bitterer Rauch brennender Fachwerkhäuser ließ unsere Augen tränen. Hinter den Mauern erschollen rohe Kommandos und gellende Schreie; ein Pfeil bohrte sich dicht vor meinem Gesicht in die Mauer. Von rechts stieß Odysseus zu uns, mit verbranntem Helmbusch, die Arme bis zu den Ellbogen geschwärzt. »Wohin? In die Schatzkammer?« »Den Schlüssel zum Olymp suchen auch die Mesarier. Komm.« Er faßte mich an der Schulter. Wir rannten zwischen reglosen Körpern, blutenden und stöhnenden Männern, Verwundeten und Toten hindurch auf den Mittelpunkt der Palastanlage zu, die zusammen mit Tempeln, einigen Bäumen und Plätzen fast die gesamte Hügelkuppe bedeckte. Zwischen den Mauern schwebte, wie lastender Rauch, das langgezogene Stöhnen vieler Menschen. Odysseus erschauerte und zwang sich zum Sprechen. »Das Grauen! Und Menelaos schließt wohl gerade Helena in die Arme. Welch Grauen! Widerlich!« Überall war Zerstörung. Nur die Mauern brannten nicht. Nach hundert Schritten durch die Galerie des Korridors kamen wir an einen unversehrten Rundturm. Die riesigen Quadern des dicken Bauwerks waren von Kletterpflanzen fast bis zur Unkenntlichkeit überwuchert. Ich stolperte über einen to-
ten Mesarier, ein zweiter lag, einen abgebrochenen Speer im Zwerchfell, sieben Schritte weiter. Eine breite Treppe führte vor dem Turm in die Tiefe. Ich schaute mich verwundert um: Wir waren mit den Toten allein. Odysseus und Philok gingen auf die Treppe zu, als wüßten sie genau, daß der Turm die Schatzkammer beherbergte. Ich zog aus dem Köcherfach eine dünne Fackel, riß den Zünder an und folgte. Die Tür war aus schenkeldicken Bohlen, die von Eisenbändern gehalten wurden; vom Schloß lief eine Kette zehn Ellen lang bis zu einem Ring, der am Halsreifen eines Sklaven klirrte. Ein alter Mann mit faltigem Hals, weißem, verwildertem Bart und Haar, mit roten Augen. Das Licht der Fackel badete die Umgebung in Tageshelle. Der Alte wankte vor der Tür hin und her, aus seinem Mund drangen lallende und blökende Laute. Philok sagte: »Stumm. Man hat ihm die Zunge abgeschnitten.« Ich zog aus dem Stiefelschaft eine Rolle, die wie aufgewickelte Schnur aussah, klebte ein fingerlanges Stück um den Ring, schirmte die Augen des Sklaven ab und berührte die Schnur. Sie fraß sich funkensprühend durchs Eisen, die Kette zog am Ring; alles klirrte zu Boden. Odysseus drohte mit dem Schwert und brüllte: »Scher dich weg! Du bist frei. Renn, was du kannst!« Der Alte ruderte mit den Armen durch die Luft und stolperte davon, als wolle er fliegen. Ich zerstörte die Zuhaltungen und Riegel mit dem Rest der Sprengschnur und zwei stabförmigen Explosionsladungen. Schließlich stolperten wir durch einen Haufen rauchender Holzsplitter und schmorender Kloben. Als wir eindrangen, brach aus einem Palastflügel eine Gruppe von etwa zwölf Kriegern hervor. Ein Blick auf Schilde und Helme sagte mir, daß es die letzten Mesarier waren. Das Extrahirn warnte: Du bist noch nicht am Ziel. Handle schnell und überlegt! Hinter den Mesariern rannten, ich glaubte meinen Au-
gen nicht zu trauen, Aieta und einige Amazonen, bis zur Unkenntlichkeit gepanzert und bewaffnet. Die Mesarier bauten sich im Halbkreis vor dem Eingang auf. Ich hob die Hand und sagte: »Keine Eile. Ich will kein Gold.« Auf Akonisch fügte ich hinzu: »Wir fliegen im selben Schiff – aber nur, wenn wir das Element finden.« »Du fliegst sicher nicht«, sagte ein Mann. »Ich weiß, daß ich fliege, und du wirst mich nicht aufhalten«, versetzte ich, schloß einen Atemzug lang die Augen und konzentrierte mich, während ich die Axt hob, auf einen DagorAngriff. »Wir wollen auch keinen Kampf. Nur deinen Tod, Arkonide.« Philoktet sprang neben mir auf die Stufen und rammte ihm das Beil zwischen die Augen. Ich sprang vorwärts, nach rechts, duckte mich, wehrte einen Schlag mit dem Schild ab und ließ die schwere Waffe gegen die Seiten der Helme donnern. Die Mesarier brachen links und rechts zusammen und zuckten auf dem Boden. Odysseus spießte einen Krieger mit der Lanze auf, Philoktet erdolchte einen anderen, ich schmetterte einem dritten den Schild ins Gesicht und schlug dem nächsten die Schienbeine in Trümmer. Odysseus’ Schwert traf einen Nacken, und ein Blutstrahl blendete den Nachbarn des Sterbenden, dem Philok den Dolch in die Kehle stieß. Sowohl ich als auch die Mesarier kämpften wie die Rasenden; wir wuchsen über uns hinaus, und mit der kalten agonalen Dagor-Logik traf jeder meiner Schläge. Meine Bewegungen waren zu schnell, und ich entging den meisten Schlägen und Hieben. Nach einigem Zögern griffen die Amazonen in den Kampf ein; ein nächster Hieb zersplitterte Demeters Lanze, und zwei Mesarier trieben die Fürstin gegen die efeuberankte Mauer. Ich schleuderte die Axt, die sich in der Luft drehte und
zwischen den Rüstungsteilen in die Seite des Brustkorbs fuhr. Der andere starb durch einen Pfeil Philoks in den Nacken. »Atlan, hinter dir!« Als mich Odysseus’ Warnung erreichte, war ich bereits in der richtigen Bewegung und hob den Schild. Ein Schwerthieb des Mesariers traf statt Demeter die Fläche meines Schildes, machte meinen Arm taub und schlug eine Kerbe in den Schildrand. Ich wich aus, schlug zu, wehrte ab, trieb den Mesarier langsam auf die Treppe zu und sah aus dem Augenwinkel Demeter vorwärtsspringen und ausholen. Der Mesarier traf im gleichen Augenblick meinen Brustpanzer und trieb mit dem furchtbaren Hieb die Luft aus meinen Lungen. Der Dolch verschwand bis zum Heft in seiner Halsseite; er brach halb über mir zusammen, als Demeter die Waffe wieder herausriß. Philoks heulende Pfeile töteten einen fliehenden Akonen. Die beiden letzten Mesarier rannten zwischen den Pfeilern ins Dunkel. Philok hob meine Fackel in die Höhe. Ich nahm den Helm ab und wischte den Schweiß aus meinem Gesicht. Demeter schob ihren Helm in den Nacken, und mich traf ein langer, verachtungsvoller Blick. Sie winkte den drei Amazonen und verließ waffenklirrend den Hof. Philok fragte: »Was hat sie?« »Ich wehrte den Angriff ab«, sagte ich mühsam, »und konnte nicht zusehen, daß Frauen kämpfen. Ich wurde unvorsichtig, und sie rettete mich. Ich habe die gleiche Schwäche gezeigt wie sie – glaubt sie. Sie haßt mich nicht mehr; sie verachtet mich nun. Der letzte Abschied, Odysseus.« Er zuckte mit den Schultern, ging in den kurzen Korridor hinein und sagte über die Schulter: »Wie ich dir sagte: Amazonen sind keine Frauen.« Philok und ich folgten. Der Gang weitete sich, der Schein meiner Fackel zuckte und spiegelte sich im Glanz edlen Metalls. Wir waren wie geblendet. Riesige Schilde aus gehämmertem Gold waren wie Spiegel an den Wänden aufgehängt. Ein
Netzwerk gleißender Strahlen zuckte durch den muffigen, spinnweb verhangenen Raum. Philoktet steckte den Schaft der Fackel in einen silbernen Krug. »Gold«, sagte er ehrfürchtig. »Viel Gold. Reiche Beute.« »Soviel Gold, um damit die Toten beider Seiten aufzuwiegen«, murmelte Odysseus, »gibt es nicht in der ganzen Troas.« Noch einige Stufen, noch mehr Schilde, Nischen voller Krüge und Kelche; aus einem Aryballos hingen Perlenketten, Goldfiguren, Goldketten, Ornamente aus Schnüren edler Steine; wo sollte ich das Steuerelement suchen? Unzählige Fackelflammen hatten Teile der Decke verrußt. Wir gingen auf einem Schneckengang entlang der Innenwände langsam aufwärts. Ein unermeßliches Vermögen lag und hing hier; die Wände schienen mehrfach geschuppt von vergoldeten Rüstungen, Waffen, Truhen voller Finger aus Gold und Silber, ein großer Dinos voller geschliffener und ungeschliffener Edelsteine, die uns mit farbigen Funkenregen überschütteten. Wir näherten uns einer runden Kammer. Odysseuss murmelte: »Genug für das ganze Heer.« »Dafür kann man ein paar Städte bauen, prächtiger als Ilion«, sagte Philok. »Der Schatz des Priamos, um den ihn die Götter beneiden.« »Ich nicht«, brummte ich. »Denn er ist tot.« Auf dem Boden der Kammer standen viele Truhen, Krüge und dicke Lederbeutel, in hundert Nischen standen göttliche Symbole in allen erdenklichen Formen: Menschen, Tiere, Mischungen zwischen Tier und Mensch, Zierhelme, Götterstatuen, runde Scheiben, Klumpen, Edelsteine und schwere Ketten. Alles aus Gold oder jener fast weißen Legierung zwischen Gold und Silber. Ich befestigte die Fackel am Rand einer Schale und fragte: »Und wo finden wir den Schatz des Menelaos?« Odysseus deutete mit dem gepanzerten Fuß auf die Truhen,
die unter Ketten und Panzern, Schwertern und Zierschilden fast versteckt waren und auf denen kostbare Trink- und Mischgefäße standen: Glockenkrater, Lagynos, Lustrophoren, Psykter und Phialen. »Am wenigsten Staub«, sagte Odysseus. »Das dürfte der Schatz sein, den Paris mitbrachte. Wollen wir auf Menelaos warten? Dies würde dauern.« Philoktet sicherte an der Treppe zur Schneckenrampe. Ich riß den Deckel der ersten Truhe auf. Ein gewaltiges Klirren ertönte, und ich begann zwischen den goldenen Kostbarkeiten zu wühlen. Aus meinen Fingern glitten Schalen und Kelche, Statuetten und Ringe, Armbänder, Halsringe, Stirnreifen, Frauenschmuck. Nichts. Ich schmetterte den Deckel zu und riß den einer größeren Holzkiste auf. Philok sah über die Schulter und fragte: »Du willst nichts behalten? Du suchst… was suchst du eigentlich?« »Den Schlüssel zum Olymp. Ihr wißt es.« Ich suchte weiter, voll Aufregung, es klirrte, und ich schwitzte vor Aufregung. Ruhig fragte der Bogenschütze: »Wie sieht dieser Schlüssel aus?« »Ein Kästchen aus Weißgold, mit tausend Stacheln daran.« Odysseus half mir halbherzig und sah zu, wie ich die Lederbänder der dritten Truhe auf riß. Nach einer Weile, in der ich innerlich fluchte und mich zur Ruhe zwang – denn Menelaos würde wissen, was ihm gehörte –, fragte Odysseus: »Ist das der Schlüssel?« »Wo?« schrie ich fast und fuhr herum. Er nahm einen Kelch aus der großen Nische, schüttelte ihn, so daß die Goldketten herausrutschten, und reichte ihn mir. Ich ließ ihn fast fallen: Das Gefäß war aus schierem Gold. Ich hielt ihn schräg und schaute hinein. Philok kam heran, unter seiner Ferse knirschte etwas wie zerbrechendes Glas. Der Extrasinn schickte einen
scharfen Impuls durch meine Überlegungen: Du hast gewonnen! Ich sah im Kelch, unter anderen kleinen Gegenständen, den knapp handgroßen Gegenstand, nahm ihn heraus und wuchtete den Behälter wieder an seinen Platz. Ich zeigte das Steuerelement Odysseus und Philoktetes; er murmelte: »Wie eine goldene Bürste, diese Fläche.« »Das – ein Schlüssel?« fragte Odysseus kopfschüttelnd und betrachtete abschätzend die Schätze. Ich antwortete leise: »Ein Schlüssel zum Olymp, so wie ich ihn verstehe. Ich kann mit ihm zu den Sternen über unseren Häuptern fliegen. Gehen wir, Freunde.« »Menelaos wird seinen Schatz ebenso verteilen wie Agamemnon den des Priamos. Ich bekomme meinen Teil – was willst du haben, Atlan?« »Nichts«, sagte ich. »Doch. Nur zwei kleine Ketten. Für Frauen, die mir etwas bedeuten.« »Aieta Demeter?« fragte Odysseus und lachte. Ich schüttelte den Kopf und suchte aus Priamos’ Goldvorrat zwei fingerdünne, halb armlange Ketten aus, ließ sie in den Gürtelbeutel fallen und bückte mich, als eine Kette zu Boden fiel. Dabei sah ich, worauf Philoktet getreten war; eine Art Schachtel oder kleiner Truhe, wie ein vergoldetes, mit Glasfluß eingelegtes Futteral, größer und viel schwerer als das Steuerelement. Ich hob beides auf, verstaute die Kette und schob das Element seitlich in die Tasche – es war eine inerte Verkleidung, eine energieabsorbierende Hülle! »Du nimmst nichts, weil du ein Halbgott bist?« »Auch deswegen. Was ich gesucht habe, habe ich gefunden.« Ich schloß eine biegsame Klappe. Das Material glich dickem Gewebe aus Blei, mit Plastan dazwischen und darüber. »Ich hab’ den Schlüssel.« Ich schob die Hülle unter den Brustteil der Rüstung, über dem Gürtel. Wir verließen die innere Schatzkammer, und ich
wunderte mich, daß sich hier nicht die Achaier drängten. Odysseus nahm meinen Schild ab, warf ihn achtlos in eine Ecke und riß einen schweren, viel zu großen, prächtig verzierten Schild, schier aus massivem Gold, von der Wand. Er schob meinen Arm über das Schildgehenk und sagte feierlich: »Keine Beute, sondern mein Geschenk! Du hast geholfen, die Stadt zu stürmen.« Er holte Luft und grinste Philoktet an. »Nimm ihn als Erinnerung, auch an Philoktetes und Odysseus, die einst Feinde waren und zur Freundschaft zurückgefunden haben. Sie sind auch deine Freunde, Toxarchos.« »Danke.« Als wir auf dem freien Platz standen, zwischen Blut und Leichen, packte ich die Hände der Männer und sagte: »Ich vergesse euch nicht. Bis zum Abschied ist noch Zeit.« Der Sturm erfaßte uns. Aus Troja, wie aus einem Kessel, brannten die Flammen und vermischten sich zu einer einzigen Spirale, die, voll weißem, grauem und schwarzem Rauch und Funken, sich zum Himmel drehte. Wir blieben stehen, die Helme unter den Armen, mit ernsten Gesichtern, neben einer brennenden Palastwand. Philok fragte wieder: »Und was ist jetzt zu tun, Freunde?« »Ich finde ein Pferd und reite zum Ufer«, antwortete ich. Odysseus berührte mein Handgelenk. »Warte, Atlan. In drei Tagen gibt es hier keinen Troer, es sei, er habe sich sehr gut versteckt oder ist Gefangener unserer Fürsten. Und in drei Tagen ist kein Achaier mehr hier.« »Ich werde am Ufer warten. Wo schlafen wir?« »In den Schiffen, Atlan Toxarchos.« Philok grinste erschöpft; wir verließen den Palast, wanderten durch die Ruinen Ilions, und als wir aus dem Bereich von Bränden und Rauch hinaustraten, begann der neue Tag: die Sonne blendete uns mit einem Glanz, der den des Weißgoldes übertraf. Mein Gleiter lag mit dem Bug im Wasser. Ich hatte ihn wieder
als Boot verkleidet und verändert. Hades bewachte die Ausrüstung. Ich hatte einen Tag lang geschlafen, mich von meinen Vorräten ernährt, gebadet, die meisten Waffen verstaut, das Element sorgsam versteckt; sämtliche Hochenergiegeräte arbeiteten, als sei nichts geschehen. Die Schiffe lagen in der Brandung, eine riesige Menschenmenge bewegte sich davor: Die Beute an Gold, Waffen und Menschen war gewaltig. Ich suchte Odysseus bei den Kriegern aus Ithaka. Er zeigte aufs Meer und sagte: »Die überlebenden Mesarier haben ihre Beute verladen, darunter sechs junge Sklavinnen. Ihr kleines Schiff ist auf dem Weg nach Kreta.« Ich nickte nur. Im langen Gefangenenzug trugen Frauen ihre Kinder; die Troer keuchten unter der Beute der Griechen. Ein schwer beladenes Schiff nach dem anderen legte ab. Odysseus fragte: »Du mußt sie nicht verfolgen?« »Nein.« Ich tätschelte Kerberos Kopf. Odysseus schien sich weder an der Plünderung noch der Verteilung der Beute beteiligt zu haben; die Kriegsgefangenen schienen ihm unwichtig. Er hatte sich sogar der alten Gattin des Priamos, Hekaba, angenommen. Sie schlief, von zwei Männern bewacht, im Heck eines seiner Schiffe. Ich dachte an Xeagros, der inzwischen einen Teil der Mesara-Ebene durchwühlt haben mochte. »Als Halbgott bin ich eher auf Kreta.« Es herrschte starke Dünung, der Wind blies aufs Land zu, und die Besatzungen hatten schwer zu rudern, um auf den Weg nach Tenedos zu kommen. Einige Schiffe wurden zurückgehalten. Überall zankte man sich um Sklaven und Gold. Ich lehnte an einem Wagen, den Sklaven und Diener entluden. »Eine Frage: Was geschah mit Helena? Hat Menelaos sie erdrosselt?« »Laß dir berichten.« Hinter dem Grinsen Odysseus’ spürte
ich die bittere Verachtung. »Du glaubst die Griechen zu kennen! Ha! Nach dem Tod des Ziegenhirten legte sich Helena sofort unter die zärtlichen Hände des Deiphobos, der dann vor seinem Haus, sturzbesoffen, von Menelaos niedergemacht wurde. Als Menelaos seine frühere Gemahlin sah, verrauchte seine Wut; von Erinnerungen übermannt, verliebte er sich wieder rasend in Helena, verzieh ihr alles – für diesen Unsinn von erdenklicher Gräßlichkeit haben wir fast zehn Jahre gekämpft.« Er spuckte aus, trank einen Schluck Wein und brummte: »Ich hab’ das Weib im Sonnenlicht gesehen. Sie ist um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Noch nie sind wegen einer Greisin so viele gute Männer gestorben. Bei Zeus!« »Er war mit uns.« Ich sah, daß sich die langen Reihen der Wartenden gelichtet hatten. »Wann stichst du in See?« »Noch nicht. Jede Reise hat ihre Hindernisse. Auf der Hinreise schlachteten wir Iphigenie, zur Rückfahrt soll die schönste Troerin geopfert werden.« »Was?« Ich starrte ihn entgeistert an. »Um die Wellen zu besänftigen, muß Blut fließen.« Er zog die Schultern hoch. »Brauch in Griechenland, Freund.« Ich war fassungslos; die Barbaren waren blutrünstiger, als meine Vorstellung reichte. Noch ehe ich in der Lage war, etwas zu unternehmen, kam Polyxena, Priamos’ achtzehnjährige Tochter, den Griechen zuvor: Sie entriß ihrem Wächter den Dolch und entleibte sich am Grab des Achill. Ich war nicht erstaunt darüber, daß der Wind nachließ und sich das Meer glättete. Odysseus deutete auf einige Zelte neben seinen Schiffen. »Ich fahre als letzter. Ich reise nicht gern in großer Gesellschaft. Wartest du mit mir?« »Ja. Um deine nächste Frage zu beantworten: Ich habe Aieta Demeter nicht mehr gesehen seit dem Kampf am Schatzturm.« »Der leergeräumt ist. Eine schöne Frau, aber zu wild für
meine häusliche Bedürfnislosigkeit.« Nacheinander kamen die Fürsten, die im Bauch des Pferdes versteckt gewesen waren, verabschiedeten sich von Odysseus und mir; keiner wußte wirklich, ob sie nun einen Halbgott kennengelernt hatten oder nur einen Fremden. Stundenlang, auch nachts, sah die See aus, als flattere ein Schwarm Schmetterlinge von der Troas weg. Als ich wieder vom Gleiter kam, lagen nur noch die Schiffe des Ithakers am Strand. Wir ergriffen unsere Handgelenke und schüttelten die Unterarme. »Du hast versprochen, Atlan, mich zu besuchen, wenn du vom Olymp zurückkommst. Lüge oder Wahrheit? Gilt dein Wort?« »Ich komme nach Ithaka, wenn ich kann. Ich will nicht mehr versprechen, als ich halten kann. Wenn ich komme, wirst du staunen, Freund Odysseus.« »Bartloser Atlan Toxarchos.« Er lächelte breit. »Halbgott, Meisterschütze, Arzt und Erfinder. Ich versuche jetzt, meine Heimat zu erreichen; nur Athena weiß, was Penelopeia inzwischen treibt. In einem halben Mond, das ist gewiß, lande ich an meiner Insel. Lebe wohl auf der Reise zu den Sternen.« Er ging zum Schiff, seine Männer schoben den Rumpf in die Wellen und ruderten; knallend füllte sich das Segel mit Wind. Die Schiffe wurden kleiner; meine Erinnerung speicherte ein letztes Bild: Odysseus im Heck des letzten Schiffes, der mich mit geschwungenem weißen Mantel grüßte. Ich winkte Kerberos, griff nach dem Zügel und zog mich auf den Rücken des Pferdes. »Auf nach Kreta, Arkonide!« sagte ich laut. Der Extrasinn sagte: Nach Arkon, Kristallprinz Atlan! Ich ritt langsam auf Sigeion zu, links vom Ufer stand noch immer die Wolke der schwelenden Reste Ilions. Ich hatte erfahren, daß mehr als fünfzehntausend Bewohner hatten fliehen können. Sie hatten sich gut verborgen, wahrscheinlich in
den Wäldern und in den Felsen der entfernten Hügel. Xeagros war verschwunden, vier oder sechs Mesarier lebten noch, und plötzlich hatte ich das Gefühl, zu lange gewartet zu haben. Ich setzte die Absätze ein, schlug mit dem langen Zügel die Seiten des Pferdes und zwang das störrische Tier in Galopp. Kerberos lief neben mir, und als ich über den ersten Hang hinunter auf mein Boot zukam, sah ich, fünfzehn Galoppsprünge entfernt, von Hades mißtrauisch beobachtet, Aieta Demeter auf ihrem Schimmelhengst. »Demeter! Du hast gewartet?« Ich zügelte das Pferd. Sie trug Halbrüstung, der Helm war am Gurt der Reithilfe angebunden. Das hartmäulige Tier biß auf die Trense. Demeters Fingerknöchel waren weiß von der Anstrengung, den Zügel zu halten. »Gewartet, um mich noch einmal zu sehen? Ich freue mich.« Ihre Blicke jagten mir Schauer über den Rücken. In ihren Augen lag blanker Haß. Sie zwang ihr Tier mit hartem Schenkeldruck und Zügel in einen Kreis, ritt einmal um mich herum, der Hengst schäumte und tänzelte; plötzlich donnerte sie auf den Pfad hinaus und den Hang entlang, ohne sich umzudrehen. Ich schrie: »Warte, Demeter!« Ich ritt ihr langsam bis zur Hügelkuppe nach und sah, wie sie in hitzigem Galopp über den Strand preschte, auf die Reste der Palisaden zu und zu den wartenden Amazonen. Mehr als zwei Dutzend schwerbeladener Pferde und einige Tiere, auf denen je zwei gebundene troische Mädchen und Frauen saßen, bildeten eine Gruppe, die der galoppierenden Fürstin folgte; in langsamem Trab und in weit auseinandergezogener Reihe. Ich ritt zum Boot, ließ das Pferd frei und sah nach der Sonne. Zwei Stunden vor Mittag. Die Hunde sprangen auf die Ladefläche, ich sah mich um, befestigte das Ende der längs festgezurrten Rah und setzte mich ins Heck. Die Gleitermaschinen
hoben das Boot, schoben es durchs Wasser, und als ich sicher war, daß mich auch ohne Deflektor schirm niemand sah, schwebte ich aus den Wellen hinaus und, in geringer Höhe, schaltete ich den Autopiloten ein. Das Ziel war Kreta. Später stieg ich höher und setzte die Geschwindigkeit herauf. Meine Gedanken waren ruhig, die Stimmung behaglich und ausgeglichen. Ich trank dünnen Wein; weit hinter mir waren die Schiffe der Achaier, und ich sah die Küste der Troas. Alles, was jenseits davon lag, war Blut, Überdruß und Ekel.
22. Weit voraus schmolz die Südküste der langen Insel im Dunst über dem Horizont; ich bog nach Westen ab, ging in einen weiten Halbkreis und näherte mich der Ebene, als ich die Ruinen des Palasts erkannte. Mesara und das Versteck des Schiffs lagen schräg voraus. Ich zählte die siebente Schlucht nach dem Geländeeinschnitt jenseits der Insel Gaiduro und näherte mich den Bergzügen, die von der Mesaraebene aufstiegen. Meine Erinnerung ließ mich nicht im Stich. Ich bremste die Maschine ab, fand den Erdspalt und schwebte auf den Geröllkessel zu, über Krüppelbäume und Gebüsch und gelbe Gräser, die im Wind schwankten. Hoch über mir gellten die Schreie jagender Raubvögel. Ich hielt an, schwebte nach links. Neben mir erschien im Nachmittagslicht ein Trichter mit schwarzen, von einer Art Puder bedeckten Wänden. Hatte ich mich geirrt? Ich vergewisserte mich noch einmal, sah in der Ferne das Apolltempelchen – ich schwebte direkt neben dem Raumschiffsversteck. Meine Finger tasteten nach dem Steuersegment. Halb gelähmt von eisigem Schrecken beugte ich mich über die Bordwand des Gleiters, schwebte über den Trichter und blickte auf den
Grund. Langsam erkannte ich die Wahrheit. Das Blut wich aus meinem Gesicht, salziges Sekret lief aus den Augen. Meine schlimmsten Alpträume waren zur Wahrheit zerschmolzen. Die Wände des Trichters, unter dem Staub, waren geschmolzen und verglast. Ein Schwall Hitze stieg auf, als der Wind nachließ. Der Rand war zu einem Kreis aus lavaähnlichem Schaumgestein ausgeglüht, die Büsche im nahen Umkreis waren verbrannt. Als wären sie in schwarze Farbe getaucht, standen die Reste einiger Bäumchen zwischen geschwärztem Gestein, und die Wipfel der großen Bäume waren halbzerfetzt, die Blätter fehlten. Hier hatte keine Explosion stattgefunden, aber das Schiff war in sich selbst zerschmolzen und bildete eine Metallschicht am Grund des Trichters. Ich murmelte im hoffnungslosen Selbstgespräch: »Xeagros der Stotterer hat seine Schützlinge und selbst mich hereingelegt. Er brauchte in Wirklichkeit weder das Steuersegment noch den Rechnerkopf.« Ich landete den Gleiter, stieg aus und dachte regungslos nach. Wahrscheinlich war gar nicht geplant gewesen, das Beiboot wieder starten zu lassen, nach einem langen Jahrzehnt. Xeagros hatte einen Funkspruch abgesetzt, ein Boot war gelandet, und die Selbstvernichtungsschaltung lief an. Als Xeagros’ Beiboot ins Mutterschiff einschleuste, zerstörte sich das versteckte Schiffchen selbst. Ich packte das Steuerelement und warf es samt der Inertumhüllung in den Trichter. Es prallte mit häßlichem Geräusch auf die Schlacke, hüpfte einige male über die Kraterwand und blieb auf dem Schiffsmetall liegen. Ich verzichtete nun darauf, den Rechnerkopf auszugraben. Die vergangenen mühseligen Monde, all die Anstrengungen, Kämpfe, das Risiko, beim Aufgewecktwerden zu erkranken, die barbarische Magenoperation – alles umsonst und vergeblich. Ich zuckte mit den Achseln und bekämpfte meine bodenlose
Enttäuschung vergeblich mit einigen Schlucken Wein. Unbewegt lagen die Hunde mit räudigem, grau gewordenem Fell auf der Ladefläche. »Was nun, frag’ ich wie Philoktet? Zurück zu Rico?« Er hatte das kleine Boot, das sicherlich nachts gelandet war, nicht anmessen können; vielleicht den Schock, als das Mutterschiff den Weltraum um Larsaf Drei verlassen hatte. »Abschied von allem?« Überlege lange und reiflich, mahnte der Extrasinn. Ich flog zurück durch die Schlucht, landete den Gleiter abseits der Ruinen des Palasts und ging, von den Hunden begleitet, durch die Hitze über die weißen Stufen hinauf zum Tempelchen, über Moos in den Ritzen bis in den Schatten der Bäume. Der Himmel über den griechischen Inseln hing über mir wie eine Stahlscheibe. Ich murmelte: »Alles ist hoffnungslos.« Durch meine Vorstellungen rasten die Ereignisse der letzten Monde in zeitlich richtiger Reihenfolge. Mir graute davor, zum Grund des Okeanos zurückzukehren und mich neben die starren Körper Ne-Tefnachts und Charis’ zu legen, für eine unbekannte Zahl langer Jahre. Ich starrte den Bronzegott an, der in einer Hand den Bogen, in der anderen die Leier trug: in den Gefäßen waren frisches Wasser und Blumen, die heute morgen noch frisch gewesen waren. Ich lehnte mich an den Block, betrachtete die Landschaft, ohne sie wirklich zu sehen… mit Odysseus jagen? Mit Philoktet Wettschießen? Den Weg Aietas in ihr fernes Fürstentum verfolgen? Troja wiederaufbauen? Der Logiksektor flüsterte eindringlich: Nichts von alledem. Du willst und mußt Larsaf Drei bewachen und zivilisatorisch fördern. Auch hier hast du gewacht – also wache weiter! Plötzlich wurden mein Ekel und meine Enttäuschung über die letzten sieben Monde übermächtig. Meine Finger zitterten. Ich setzte mich, schloß die Augen, lehnte mich an den Stein-
block des Opferaltars. Ich hörte eine Grille, Eidechsen raschelten, der Ruf des jagenden Falken; eine ungeheure, träge Ruhe lastete, wie vor einem Gewitter über der Landschaft. Ich gab einem plötzlichen Einfall nach, startete den Gleiter und flog zu der Bucht im Norden, in der ich den Fischer getroffen hatte. Dort, in der Höhle, schlug ich im letzten Licht mein Nachtlager auf. Stimmengewirr und Schritte weckten mich auf. Ein Stock schlug gegen einen Stein. Ich wickelte mich aus dem Mantel, griff nach dem Lähmdolch und trat aus dem Höhleneingang. Wer kam hierher, in diese winzige verlassene Bucht? Ich schwang mich um den Felsen, und dort lag ein großes, neues Boot mit neuem Segel; ich erkannte den Fischer Pitos und – »Kolchis, der weise Seher!« rief ich und sprang hinunter. Der alte Mann, mit wehendem weißem Haar, tappte gerade die flachen Steinplatten herauf und blieb stehen. Er hob die Hand und lächelte breit. »Ich wußte«, sagte er langsam, »daß ich dich treffen werde, Atlan Iatros. Du kommst von Ilion?« Ich griff nach seiner Schulter, dann begrüßte ich Pitos, den Fischer, der ein Feuer richtete. »Du willst nach Ilion? Dort steht kein Stein mehr auf dem anderen, alles ist verbrannt; Priamos ist tot, bis auf die Geflüchteten sind alle Troer Gefangene der Achaier. Dorthin willst du?« »Dort werde ich vielleicht gebraucht.« Ihn konnte nichts mehr aus der Ruhe bringen. Wir setzten uns, nachdem ich Wein und Brot aus der Höhle geholt hatte. »Ich fahre mit Booten und Schiffen«, sagte Kolchis. »Von Insel zur Insel. Ich komme schneller nach Ilion, als du denkst, Atlan. Ich hab’ viel von dir gehört, von den Verwundeten; das Meer ist jetzt voller achaischer Schiffe. Willst du mir erzählen, was in Ilion geschah?«
»Ja. Nach dem Essen.« »Das Schloß, für das du den Schlüssel gesucht hast, ist zerstört, nicht wahr?« Seine Stimme hatte sich ebenso wenig verändert wie seine Gestalt. Noch immer wirkte seine natürliche Autorität. Was wußte er nicht? Ich sagte: »Meine Arbeit, alle Hoffnungen; alles war vergeblich.« Er mischte den Wein und füllte die Schalen. »Nein!« »Wie meinst du das, mein Vater?« »Du bist, Atlan Toxarchos mehr als Grieche oder Troer. Es wartet viel schwere Arbeit auf dich, nicht nur hier zwischen den Inseln. Du wirst viel sehen, viel erleben, viel leiden.« Pitos hob seinen verwitterten Schädel und hörte mit dem Fischabschuppen auf. Er blickte schweigend zwischen uns hin und her. Kolchis zeigte auf mich und sprach weiter. »Viel Schönes und Häßliches wirst du sehen. Du wirst verletzen und verletzt werden und töten müssen. Alle Menschen, die du triffst, werden sich an dich erinnern so wie Kolchis, Hedelis, Eufronoios oder Pitos hier. Du wirst dich – haben die Götter in unerforschlicher Weisheit mir gesagt – dieser Aufgabe nicht entziehen, denn dazu bist du da. Viel habe ich über dich erfahren; viele des Gedenkens höchst würdige Taten. Mich strengt das Reden an.« Er trank, ich preßte meinen Rücken gegen den Fels und fragte rauh: »Woher weißt du das alles? Woher diese Sicherheit?« »In dir sehen Menschen Hoffnung und eine schwer zu beschreibende Liebe. Sie strecken dir die Hände entgegen: du hilfst. Sie werden flehen, du mögest sie aus der Wirrnis hinausführen, dem umherirrenden Verstand das klare Licht der Wahrheit zeigen. Hohe Gesinnung, die ich in reichem Maß bei dir gefunden habe, zeigt sich erst, wenn du Schlechtes erfährst und dennoch im Geben fortfährst; dies wirst du viele Ge-
schlechter lang tun.« Er sah mir in die Augen, dachte schweigend nach, sprach leiser weiter. »Ich bin müde. Nach dem Essen werde ich schlafen. Auch du sollst von Ilion ausruhen: Geh zu Hedelis, die dich erwartet. Es geht ihr gut.« Kolchis beugte sich vor, breitete die Arme aus und umarmte mich. Er drückte seine Wange gegen meine, setzte sich ins Heck des Bootes und schlief ein. Er war also doch älter geworden. Wir weckten ihn, als das Essen fertig war. Pitos erzählte, er habe in Vaphos eine Sklavin gekauft und sein altes Boot verkauft: beides waren, versicherte er, keine Fehlkäufe gewesen, aber der Seher hatte für die Überfahrt nichts bezahlt. Ich verabschiedete mich von beiden Männern, schwebte unsichtbar nach Vaphos und wasserte den Gleiter, setzte das Segel und segelte in den Hafen, bis zum Kai von Eufronoios’ Schenke: und zu Hedelis. Der Historiker begriff, obwohl sich die SERT-Haube noch über Atlans Kopf befand, daß die Erzählung mit Ilion-Troias Niedergang nicht beendet war. Die Zeilen auf dem Stimmprinterfeld erstarrten. Cyr blieb skeptisch gegenüber Teilen uralter Berichte, die sich mit Atlans Erlebnissen befaßten; dennoch war er froh selbst um fragwürdige Informationen. In einer holografischen Projektion entwickelte eine Subabteilung MASTERCONTROLS aus alten Landkarten das damalige Aussehen der Troas, setzte Dutzende von Ausgrabungsberichten und geologischer Protokolle um, rekonstruierte Wälder, alte Küstenlinien, tilgte Schwemmland, revidierte den Lauf der Flüsse Skamander und Simoeis und veränderte viele archäologische Schichten des Hisarlikhügels, verwendete Grabungsberichte Schliemanns, Plinius’ Beschreibungen und geologische Daten, um die Ebene von Troja darzustellen, 1500 Jahre vor der Zeitwende. Dutzende Ausgrabungen nach Schliemann und digitalisierte Er-
gebnisse von Cäsium-Magnetometermessungen ließen die Mauern der Unterstadt und die Tore wiederentstehen; der Computer setzte hölzerne Beobachtungstürme darauf, entwickelte über dem Grundrißraster der römischen Stadt Ilium schmale Gassen, Schrägen, Treppen, Häuser und Tempel, veränderte Farben und Größen und schloß die Probeläufe mit einem vorläufigen Endergebnis ab; Cyr Aescunnar speicherte die Darstellung Trojas an der westlichen Einfahrt der Dardanellen (dem altgriechischen Hellespont) und schwor sich, auch andere wichtige Städte zu rekonstruieren und Atlan später wegen möglicher und nötiger Korrekturen zu fragen. Das Ilion des Jahres 1284 vor der Zeit verschwand. Cyr machte sich Notizen: Wie und wann gingen Mohendscho-Daro und die Induskultur zugrunde, und warum? Kann nur Atlan wissen! Die Zeit mit Hedelis war schön, aber stets dachte ich daran, von Larsaf Drei zu entkommen. Ich brauchte ein Raumschiff. Jede Winzigkeit, um die eine Gerade nahe des Ausgangspunktes bewegt wird, lenkt sie am anderen Ende in weitaus stärkerem Maße um; je nach Länge der Geraden, je nach verstreichender Zeit, wenn sich etwas entlang der Geraden fortbewegt; etwa ein Gedanke. Mein Gedanke war, mit dem Entwurf und dem Bau eines kleinen, fernflugtauglichen Schiffes zu beginnen. Hier auf Larsaf Drei. Ich hatte zum Bau unendlich viel Zeit. Oder es glückte mir, woran ich noch weniger glauben konnte, mit dem Schiff irgendwelcher Besucher mitfliegen zu können. Der Extrasinn verzichtete auf jeden Kommentar. Hedelis begleitete mich, Tage und Wochen später, bis dicht vor die Transmitterstation. Wir hatten lange genug Abschied voneinander genommen, sie wußte, daß ich lange, tief und ohne Träume schlafen würde: Dies war die Trennung. Endlich ließ sie meine Hand los, lächelte und trat zurück; neben Rico im Transmitterraum der Schutzkuppel verarbeitete ich den
kurzen Transmitterschock. Schlaf heilt alle Wunden, sagten die griechischen Ärzte; auch die Wunden des Geistes, des Verstandes? dachte ich. Rico nahm in einer anrührenden menschlichen Geste meinen Arm und sagte: »Wie lange willst du schlafen, Atlan, neben Ne-Tefnacht und Charis?« »Nach einigen Tagen, in denen ich Ordnung schaffe und dir neue Aufgaben zuteile – neunzehn Jahre lang.« Ich blickte mich in der sterilen, leblosen Umgebung um; plötzlich fröstelte es mich. »Weil ich vielleicht einen Sohn gezeugt habe. Oder eine Tochter. Oder ein Ungeheuer, wer weiß? Ich will, wenn es so ist, den Listenreichen treffen, mit dem Bastard zwischen Arkon und Larsaf sprechen, den Fortschritt begutachten.« Ich hörte mich reden, sah mich sozusagen in einem blinden Spiegel; ich wußte nicht, ob ich niedergeschlagen war, endgültig resignierte oder, weil mich ES nicht zwang, froh darüber war. Mein braungebrannter Körper würde auch nach nur zwei Jahrzehnten wieder bleichhäutig sein. »Bereite alles vor, Rico. Beobachte Odysseus auf Ithaka und wecke Ne-Tefnacht und mich.« »Selbstverständlich, Atlan. Gegen Ende des Winters, wenn ich’s mit kühler Logik bedenke.« »Wenn es wieder warm zu werden beginnt, richtig. Und jetzt – tausend kleine rechnerische und administrative Überlegungen und Anweisungen…« Ich und Rico sprachen jede Einzelheit durch, verglichen Inventarlisten, und schließlich streckte ich mich in der Tiefschlafkammer aus; zwölf Monde und eine Handvoll Tage lang hatte ich in Wirklichkeit nur einem Hirngespinst nachgejagt. Ich war froh, einschlafen zu dürfen – denn für die Griechen fingen nach Ilions Auslöschung die dunklen Jahrhunderte an.
23. »Zum erstenmal hab’ ich auf dem Umweg über Atlans Erzählungen Ricos Zählwerk bei einer erheblichen Fehlfunktion ertappt.« Cyr Aescunnar warf dem reparierten Chronometer einen mißtrauischen Blick zu. »Der berühmte Wasserleitungstunnel des Eupalinos wurde wohl zur Zeit der Tyrannenherrschaft gebaut, etwa nach minus 538, auf Samos. Das sagen unsere Wissenschaftler. Obwohl…« Oehmchen Orb stützte sich auf seine Schultern und die Sessellehne. Vor ihnen schwenkte die SERT-Haube zur Seite, und ohne besonders tiefe Kenntnisse verstand sie, daß in Atlans Erzählungen jetzt eine lange Unterbrechung eingetreten war. »Davon versteh’ ich bestenfalls ein paar Promille. Cyr, du bist der Spezialist. Was war mit Rico los?« Cyr zeichnete ein paar Ziffern auf eine Folie und erklärte geduldig: »Wenn sich irgendeine Positronik um, sagen wir, eine Ebene geirrt hat und statt präziser Zahlen etwa 999.999 Tage gezählt hat, bedeutet das, terranische Schaltjahre mitgerechnet, eine Differenz von ziemlich genau 2737 Jahren. Die Fehlermarge zwischen 538 und 6677, also 6094, ist sehr groß; rund zweieinviertel Millionen Tage. Das bedeutet, daß sich Rico durchaus bei bestimmten Daten irren kann, wahrscheinlich nur bei großen Zeitspannen. Offensichtlich wurde der Tunnel, dieses Meisterwerk, lange vor Stronghyles Untergang gebaut. Unglaubwürdig für eine positronische Maschine, aber damit müssen wir rechnen. Mit kupfernen Meißeln zuerst, dann mit Ricos Hilfe? Abermals stellt sich die Frage: Was ist objektiv richtig?«
»Du weißt es nicht. Du wirst es heute abend auch nicht herausfinden oder klären.« Sie zog behutsam die Bügel von Cyrs Brille von seinen Ohren. »Schalt dein Instrumentarium ab oder auf Automatik, und vielleicht erinnerst du dich daran, daß du eine anspruchsvolle Lebensgefährtin und Probleme mit deinen armen graugrünen Augen hast.« »Sie sind grüngrau«, sagte er, nickte und schaltete etwa zwei Drittel der Monitoren, Printer und Recorder ab. Die Arbeitslampen verlöschten. Cyr drehte den Sessel und stand auf; obwohl ihm mindestens ein Dutzend verschiedener Fragen durch den Kopf schossen, ließ er sich von Oehmchen zur Sitzgruppe ziehen und trank viel Beruhigungstee, bevor er ihr zum Schlafraum folgte. Cyrs Finger huschten über die fast lautlos arbeitenden Tasten des Keyboards. Er hob eine Notiz auf, schrieb die Fußnote oder Marginalie und zerriß mit einiger Erleichterung die Folien: gelbe, kreischend rote, grüne oder blaue. Zuerst verarbeitete er die gelben. Nomenklatur der Griechen, schrieb er, wobei nicht feststeht, wann die Begriffe GRIECHENLAND, GRIECHEN oder GRIECHISCH erstmals Allgemeingut wurden: Unser Wissen über die Aussprache und Schreibweise stammt aus Dichtungen wie Ilias und Odysseus, in denen die »Griechen« als heroische Fürsten geschildert wurden; edel, göttlich in ihrem Zorn, und schöngelockt, was am Ende der Bronzezeit bestenfalls für Atlan zutraf. Schmutz und Schweiß, Flöhe und Wanzen, Entzündungen, Schorf und übler Mundgeruch waren seinerzeit Standard der Hygiene. Oder sang Homer über Zahnpasta und Bürste? Nicht erst Atlans Erzählungen raspelten den philologischen Hochglanzlack von den Menschen jener Zeit ab. Mögen die Namen, wie Atlan sie nannte, nicht mit der »klassischen« Schreibweise übereinstimmen – wahrscheinlich weniger als ein Prozent der Bevölkerung konnte schreiben! Er verließ sich auf sein Gehör. Versch. Dialekte u. Betonungen.
Sao Miguel: Vulkanischer Gipfel der Insel, an deren Fuß Atlans Fluchtzylinder heute noch in die Felsen geschweißt sein müßte. Stronghyle/Kalliste: Am 30. August 2648 tauchte das Weltenfragment PTHOR, aus schwer nachvollziehbaren Gründen das »Neue Atlantis« genannt, auf Terra auf. Am 1. September desselben Jahres verschwand es, mit Atlan und Razamon/Nomazar/Omanzar? hinter den Schutzschirmen; Atlan blieb etwa zwei Jahre verschollen und »verlor« die Erinnerungen aller Ereignisse. (Wer hat Unterlagen über Algonkin-Yatta, der im Februar und Oktober 2649 Perry Rhodan die Berichte über gewisse Vorkommnisse zukommen ließ? Stichwort: Kosmischer Beobachter). Nachprüfen! War PHTOR derselbe Dimensionsreiter, der sich auf Stronghyle setzte? Welche Individuen entflohen – »Horden der Nacht!« – und bildeten Grundlage für nicht nur griechische Sagengestalten? Auf dem frühen Kreta kämpfte Atlan gegen Kentauren usw. – woher kamen diese Sagenwesen? PHTOR A, B und C??? Bisher warte ich auf eine Erklärung Ricos, warum er Atlan nicht rechtzeitig vom Flug des akonischen Beibootes verständigte. Nicht angemessen? Vergessen? Cyr massierte seine Augen, ging ins Bad, sprühte adstringierenden Nebel auf die Augäpfel und wählte aus der Schublade eine Brille mit Tageslicht-Dunkelgläsern. Er sah mit beiden Augen gleich unscharf, ohne Korrektur, und langsam sickerte mit dem Tränenfluß der Überbelastung die Überzeugung in sein Bewußtsein, daß seine Augen nur deshalb Probleme bereiteten, weil er sich vor vielerlei fürchtete und gefürchtet hatte: vor der geglückten Operation, vor allmählich eintretender Blindheit oder einem Ophthalmoslide, einem Sehsturz. Eine echte, nur tiefenpsychologisch erklärbare Phobophobie. Am späten Nachmittag des folgenden Tages begann Atlan unvermittelt wieder zu sprechen. Aus dem Augenwinkel sah
Professor Aescunnar die modifizierte SERT-Haube herumschwenken und niedergleiten; er beugte sich über das Kontrollpult und schaltete die Geräte an. Nach einigen undeutlichen Sätzen schwieg der Arkonide wieder; er schien nach Worten zu ringen; die Erinnerungen kamen möglicherweise aus einer Phase des Aufweck- und Reanimationsvorganges, die schmerzlich, zumindest unangenehm gewesen sein mußte. Cyr hielt den Atem an und legte die Hände flach auf den Schreibtisch. Dann löste sich die Stockung, und Atlan redete weiter. Als ich nach der langen, erschöpfenden Kette von Prozeduren endlich wieder in der Lage war, klar zu denken und artikuliert zu sprechen, glaubte ich in meiner Umgebung ungewohnte Stille und eine ganz bestimmte Auswahl der Musik – getragene arkonidische Sinfonien und polyphone Gedenkmadrigale – und der informierenden Bildberichte feststellen zu können. Rico bewegte sich gemessen; ich war sicher, daß er sich vormals intensiver und länger in meiner Nähe aufgehalten hatte, wenn ich zu mir zurückfand. Ich sah die Fortschritte in aller Welt und auffällig viele Szenen aus dem Land am Hapi. Da ich bereits in der Lage war, Geschriebenes zu lesen und zu verarbeiten, wußte ich, daß ein Gottkönig mit dem Thronnamen User-Maat-Ré, geboren als Râ-messu, herrschte; die Sonden, die hapiauf, hapiab schwebten, zeigten seine geradezu besessene Bauwut. Als endlich Rico mir einen silbernen Prunkpokal brachte – das Geschenk Agamemnons aus Ilions Beute –, voll mit hellrotem Wein, wollte ich fragen; er kam mir zuvor. Seine Stimme war auf tiefere Frequenzen herabmoduliert. »Ich habe viel herumprobiert. Es gelingt jetzt, Barbarenwein zu klären, mit Eiweiß von Vogeleiern, Säure und Trabstoffe herauszufiltern, mit Quellwasser zu verdünnen und jahrelang in hochpolierten Arkonglasgefäßen aufzubewahren; ich kann
riechen, daß er dir trefflich munden wird.« Ich nahm einen tiefen Schluck; er hatte recht. Dann fragte ich, dem festeren Klang meiner Stimme nachlauschend: »Du tust nichts grundlos. Was soll die düstere Stimmung hier in der Steuerzentrale? Ich rechne mit dem Schlimmsten.« »Die Ereignisse der zurückliegenden einundzwanzig Tage waren betrüblich, Herr… Atlan. Ne-Tefnacht ist tot. Sie ist, trotz aller Bemühungen, während des letzten Drittels der Wiederbelebungsphase gestorben.« Ich ließ den Pokal sinken. Stille. Meine Finger wurden kraftlos; Rico nahm mir den gold- und juwelenstarrenden Pokal ab. Eisige Taubheit kroch wie ein Wurm mein Rückgrat aufwärts; meine Augen schwammen im salzigen Sekret. Starre. Die Gedanken rissen ab oder prallten gegen eine schwarze Wand. Langsam drehte ich den Kopf und starrte in Ricos braunes Gesicht. »Ne-Tefnacht«, hörte ich mich murmeln. »Tot. An meiner Seite gestorben. Haben die verdammten Geräte versagt? Oder die Rechner? Die Medorobots?« »Nein. Ich habe viele Vorgänge dieser Art beobachtet, geleitet, überwacht, Atlan. Ihr Körper, das stellten die Zentralrechner fest, hat sich gegen einen Teil der arkonidischen Medikamente gewehrt, hat ihnen die Wirkung verweigert; es traten mehrere Schocks auf.« »Aber… es war nicht das erstemal, bei Tefnacht; sie ist ein paarmal aufgeweckt worden und war gesund wie ein…; Selbstimmunreaktion, ja?« »Glaube mir: Die Rechner, Medorobots und ich, wir taten nichts anderes. Du warst zu schwach, um es merken zu können. Nicht immer und nicht bei jedem Larsaf-Drei-Bewohner wirken die Arkon-Medikamente so, wie wir es wünschen und erwarten. Eine Möglichkeit wurde errechnet: Sie – und andere – vertragen nur ein oder zwei Schlafphasen, keine drei, vier
oder mehr. Aber das ist ebensowenig aussagekräftig wie anderes. Es wurde alles versucht, aber die Medorobots verloren den Kampf um ihr Leben.« »Mich rettet der Zellaktivator.« Meine Finger krampften sich um das Geschenk von ES. »Tefnacht. Bei den Göttern! Es trifft stets die Unschuldigen, und ich bin machtlos, kann nichts tun, und ich…« Jedes Lebewesen war sterblich. Welcher Tod war milder, gerechter, würdiger? Sie war ohne Schmerzen gestorben, und während ich spürte, wie die Trauer mein Herz zerfraß, in meinen Erinnerungen wütete, leerte ich, ohne nachzudenken, den Pokal. Die Bilder verschwammen vor meinen Augen; es war sinnlos, zu wüten, zu rasen, aufzubegehren. Immer dann, wenn ich gezwungen war, meine Ohnmächtigkeit mir gegenüber eingestehen zu müssen, näherte ich mich der Grenze zur kalten Raserei. Ich versuchte aufzustehen; meine Knie knickten ein. Ich befahl rauh: »Wein! Mehr! Stärker. Nicht diese Brühe.« »In deinem Zustand verträgst du keine stärkere Konzentration von Alkohol, Atlan.« »Tu, was ich sage!« Der Roboter gehorchte. Ich fiel in den Sessel zurück. Klänge und optische Eindrücke schwangen sich einen steilen Hang zum Gipfel der Bedeutungslosigkeit hinauf. Ich stierte verschiedene Punkte an, sah irgend etwas, begriff nichts; es war, als wüte in meinem Inneren etwas mit Dornen und ätzendem Gift. Alle Erinnerungen an Ne-Tefnacht waren plötzlich präsent; kein ES, das lähmend eingriff. Jahre der Zärtlichkeit und des Verständnisses, von tausend scheinbar unbedeutenden Gemeinsamkeiten, von der Erleichterung nach den ES-MaskenSpielen, einander wieder erkannt zu haben, Stunden, Tage und Nächte. Leidenschaft. Das vage Tasten nach dem anderen und die tiefe Zufriedenheit, ihn in der Nähe zu haben, als Teil des
Schutzschildes gegen die Widrigkeiten des Universums: Aus. Nie wieder. Vergiß es, Arkonide. Verkriech dich in deine lausige Abgeklärtheit. Sie wird dir letztlich auch nicht helfen. Und Tefnacht auch nicht. Ich griff nach dem griechischen Krater und fühlte, wie der schwere Wein in meiner Speiseröhre glühte. Nach dem nächsten Pokal war ich betrunken und nahm nicht mehr wahr, daß mich Rico zu den Medorobots zurückbrachte. Vier Tage und Nächte danach stand ich vor dem Körper meiner toten Gefährtin. Ich starrte die reglose Schönheit an und murmelte: »Woher wußtest du, daß ich sie so sehen will?« »Atlan. Ich kenne dich seit Jahrtausenden. Ich glaube, ich habe die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit einer positronischen Maschine alle Jahrzehnte weiter hinausgeschoben. Hier ist sie, schön wie im Leben – was wirst du tun?« »Ich werde sie würdig begraben.« Rauhe Übelkeit hatte jede Zelle meines Körpers ergriffen. Ich stand bewegungslos neben einer vier Ellen langen volltransparenten Säule. Sie lag waagerecht da; versiegelt, etwa zwei Ellen im Durchmesser. NeTefnacht lag ausgestreckt darin, die Arme über den Brüsten gekreuzt, überperfekt geschminkt, mit ihrem Schmuck, das blauschwarze Haar über den Schläfen, mit goldenen Ovalen auf den Augen, den Ringen an den schlanken Fingern, in schneeweißes Rômetleinen gekleidet, die Füße in den alten, niedergetretenen Sandalen, die sie so gern benutzt hatte. Meine Stimme kam eisig aus dem glühenden Zentrum der Galaxis zurück, vorbei an kalten Sternen und toten Welten; ich sagte: »Ja. So war sie. So wird sie bleiben. Ich weiß noch nicht. Rico, wo und wie ich es mache, aber sie wird die Zeiten länger überdauern als die Mumien all jener göttlichen Herrscher, die genauso sterblich waren wie sie. Ich brauche einen halben Mond, um mit all dem klar zu werden.«
»Du wirst sie im Hapiland begraben.« »An einer Stelle, die ihrer würdig ist. Ohne daß Odysseus mir dabei hilft.« »Triff deine Anordnungen. Was soll ich tun?« »Bring den Sarg in die Hangarschleuse der Palastburg. Ich sehe mich im Hapiland des Râ-messu um. Dann entscheide ich. Weißt du einen guten Architekten, der für den Gottherrscher arbeitet?« »Ja. Asenpuerre. Vierundzwanzig Sommer jung. Ein Mann wie Imhotep. Er zeichnet, plant und baut eine riesige Anlage im Land Kush, Atlan, in einem Felsen, der den Hapi überragt.« »Du kennst Imhotep? Den Architekten des Dshoser oder Neter-Chet? Später der Gott der Schreibkunst und so weiter?« »Wir sollten nicht jetzt über Imhotep sprechen. Welche Masken wählst du, Neb Atlan?« »Zuerst die eines fast unglaubwürdig durchdringenden Rômet. Dann ein Grieche, für den Besuch bei Odysseus. Er lebt?« »Er langweilt sich arg. Die übliche Ausrüstung?« »Ja. Weniger drastisch als klein, fein, wichtig. Mir ist dies und jenes eingefallen.« »Ich habe damit gerechnet. Der Gleiter, nicht unähnlich einer Hapibarke, wird in wenigen Stunden ausgerüstet sein.« Ich trank Rômetwein aus dem westlichen Teil des Mündungsdreiecks. Meine besinnungslose Betrunkenheit hatte keine Spuren zurückgelassen; Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Zorn über das Schicksal waren starrer ScheinGleichgültigkeit gewichen. Ich begann aufzuzählen: »Architekt Asenpuerre wird von User-Maat-Rê einen Brief erhalten, in dem ihm aufgetragen wird, Atlan-Anhetes zu beherbergen und ihm einen schönen Sommer zu machen. Diesen Brief wird, in einem halben Mond etwa, ein Palastschreiber schreiben oder der Gottherrscher selbst mit beiden Fingern.
Von den zwölf Monden, die ich mir errechnet habe, will ich den einen oder anderen im Hapiland verbringen. Also: deine Subrobots, unsere Vorräte, Transmitter und so weiter. Bringe ein logisches Gerüst in all das, Rico. Alle Winzigkeiten sind seit langem gespeichert und aufgelistet.« »Es wird mir ein positronisches Vergnügen sein, Steuermann der Jahrhunderte.« »Du wirst keinen Fehler machen…« Ich wollte »Stahl-Idiot« sagen – so nannten die Männer des Achaierheeres den einfachen Soldaten –, hob statt dessen die Schultern und zwang mich zu einem Grinsen. »Nein. Nicht du; inzwischen. Eine Spionsonde dirigierst du nach Menefru-Mirê; von dort schwebe ich nach Süden.« Er verbeugte sich, führte die Geste des absoluten Gehorsams aus und gab Bündel unhörbarer Befehle an seine lautlosen, emsigen Helfer. Ich ging langsam in meine Wohnräume zurück, dachte an die Moira, der sogar die Götter des Odysseus gehorchten, und blieb tief im würgenden Gespinst der Trauer gefangen.
24. Am Tag Eins des Payni erreichte ich die steile, namenlose Felswand. Ne-Tefnachts Sargzylinder lag auf der Ladefläche des Gleiters, den ein starkes Deflektorfeld unsichtbar machte. Mitten in einem Schilfstreifen hatte ich angehalten und viele Blüten vom weißen und blauen Lotos geschnitten, drei Schmetterlinge und einige Libellen gefangen und die betäubten Tierchen auf dem Gebinde abgesetzt. Rechts, schräg unterhalb des Gewirrs aus Meßstangen, gespannten Schnüren, der erkalteten Feuer und verwaisten Ambosse, setzte ich den Gleiter auf.
Dreimal, wie ferner Donner, dröhnte der Desintegrator auf, den ich kaum heben konnte. Ich löste das Gestein des rötlichen Sandsteinfelsens bis in eine Tiefe von zwanzig Schritt auf; eine matt leuchtende Wolke vergasten Gesteins zog träge in die Höhe. Ein Antigravelement bugsierte den Zylinder in die röhrenförmige Aussparung, hundert Ellen unterhalb der herausgemeißelten Zehen der Figuren, die, wenn sie ganz aus dem Fels hervorgetreten waren, gigantische Größe angenommen haben würden. Langsam, den Lotoskranz in beiden Händen, ging ich über den Sand, legte die Blüten neben Ne-Tefnachts Kopf und begann Steinbrocken in die Röhre zu schichten und zu stopfen. »Deine Ruhe, meine Geliebte«, flüsterte ich, »wird kein lebendes Wesen je stören. Du wirst verschmelzen mit dem unzerstörbaren Fels hoch über dem Jotru; fahre wohl in der Sternenbarke.« Ich richtete den Thermostrahler auf die Anhäufung aus Steinen und Sand. Ein Korken aus honigartig fließendem Material, das jeden Hohlraum ausfüllte, verschloß etliche Atemzüge später den runden Schräg-Schacht. Ich warf die Projektoren auf die Ladefläche und lehnte meine Stirn gegen den Fels des fast senkrechten Abbruchs. »Hathor wird dich begleiten, wenn du die Waage der Maat betrittst«, flüsterte ich. »Du warst unschuldig und liebenswert bei jedem unserer Atemzüge. Anubis wird dich auf seinen Händen ins Heck der Jenseitsbarke tragen, und ich, der einsame Fremde in deiner Welt, sorge dafür, daß sie über den Horizont des Westens gleitet. Immer, wenn ich den Sepedet-Stern sehe, denke ich an dich.« Ich setzte mich in groben, mit Steinsplittern durchmischten Sand, lehnte mich gegen eine Felsplatte und blickte nach Osten. Es gab in meiner endlos langen Einsamkeit kaum Wegmarken oder Tage, die gut oder richtig waren für Entschei-
dungen; in dieser Nacht begriff ich – endgültig? –, daß ich mit allen Wesen, die nicht über meine phantastisch großen Möglichkeiten verfügten, nachsichtiger sein mußte als eine Mutter mit ihrem Neugeborenen; ich war und blieb der Stärkere und hatte dadurch einen riesigen Sack Verpflichtungen und Verantwortung übernommen: Atlan, Paladin der Menschheit, sollte zuerst lange überlegen und dann erst handeln. Zum erstenmal meldete sich der Extrashin und sagte: Bist du sicher, daß du diese hehren Vorsätze weiterhin so praktizieren kannst? Ich setzte mich in den Gleiter, schwebte in die westliche Wüste hinaus und schlief zwischen Dünen, unter dem gewalttätigen Sternenhimmel und dem riesigen bleichen Mond; auch ich hatte, wie Ne-Tefnacht, keine andere Wahl. Nur bessere Möglichkeiten. Bessere? User-Maat-Rê oder Paramessu, der zweite Träger dieses Thronnamens, residierte in Pi-Ramessu, dem ehemaligen Djanet der Heka-Chasut-Zeit, östlich des sechsten Mündungsarms; mit vollem Namen nannte sich die Stadt »Pi-Ramessu, geliebt von Amun und Große-Seele-Rê-Harachtes«. In der tiefsten, innersten Kammer unter dem Tempel, zwischen dreimal mannsdicken Säulen und vor dem Schrein der Götter, zwischen den leeren Tischen und in den erstickenden Miasmen der Wände und Säulen bewahrten mich nur der Handscheinwerfer, das Gespräch mit Rico und der kleine Weinkrug vor dem Ersticken, dem Verrücktwerden und dem Zustand, der eintritt, wenn ein aufgeklärter Arkonide im wichtigsten Zentrum der Götterverehrung einer Religion saß, die er einerseits als Irrglauben ablehnte, andererseits als Versuch der Barbaren anerkannte, Unbegreifliches zu begreifen. Wieder einmal wartete ich; ich war wohlvorbereitet. Durch die dicken Mauern dünstete Feuchtigkeit. Der düstere Chor der Tempelpriester schien aus allen Richtungen in die
Heiligste Kammer zu dringen und erfüllte die Luft, die stechend nach Salpeter und Weihrauch roch, mit dumpfem Summen. Als ich Schritte hörte, schaltete ich den Deflektorschirm ein; die Portale schwangen auf, und ein junger Priester zündete mindestens fünf Dutzend Öllampen in Nischen und auf Sockeln an. Ich stand vor dem Schrein, den nur das Abbild der Götter, der Gottherrscher User-Maat-Rê, öffnen durfte. Als die Flammen brannten und Hitze verströmten, brachten würdige alte Priester Tragen aus vergoldetem Flechtwerk, auf denen Opferschalen voller Früchte, Blumen, Brot und Blüten standen. In den Chorgesang mischten sich Trommelschläge, laute Anrufungen und Trompetensignale. Die Priester begleiteten den Herrscher bis zu den Toren, die sich hinter ihm schlossen; ich war mit dem Mann von vielleicht vierzig Jahren allein. Er zog die Götterbilder aus dem Schrein, verrichtete die Gebete, opferte und kniete vor den unterarmgroßen Statuen. Sie waren mit großer Meisterschaft aus Stein gemeißelt, poliert, mit goldenem Schmuck und Edelsteinaugen verziert. User-Maat-Rê hängte Blütenkränze um ihre Hälse, opferte Henket und Wein, und nachdem er die Götter wieder in den kostbaren Holzschrein zurückgestellt hatte, verringerte ich, vor dem Schrein stehend, durch schnelles Ein- und Ausschalten, die spiegelnde Wirkung des Deflektorfeldes; es zeigte mich als Rômet mit dem goldenen Falkenkopf aus Plastan und der Krone; Gott des Himmels, des Lichts und der Könige. Die Falkenaugen strahlten goldbraun, mit grüner Pupille. Meine Stimme, unnatürlich dunkel und nachhallend, schien ihn nicht zu erschrecken. Er ging einige Schritte rückwärts und starrte mich an. »Ich war dabei, als Meni-Narmer vor Ewigkeiten das Obere und Untere Reich vereinigte. Ich sah zu, wie Chnum-Chufu sein riesiges Sehedhu-Totenmal errichtete. Mein Arm führte die Waffe im Kampf gegen die Heka Chasut. Viele von deiner
Art waren meine Freunde, und ich führte ihre Schiffe nach Punt. Höre, was ich dir sage, User-Maat-Rê, Ramessu, Setepen-Rê. Ein weißhaariger Arzt und Baumeister wird für kurze Zeit Gastrecht in deinem Land erbitten. Gib Atlan-Rê-Anhetes was er braucht: einen kleinen Gutshof in einem Gau des Landes der Biene, und wenn er deinen Handwerkern und Bauern Wunderdinge zeigt, sollen sie seinem Wort ebenso gehorchen wie deinem göttlichen Befehl. Seine Freunde seien deine Freunde, Herrscher. Die Götter sind mit dir, und ihre Augen betrachten dich; sie lächeln, wenn sie deine Taten sehen.« Ich kreuzte die Arme über der Brust, berührte winzige Schalter, badete mich nacheinander im Licht aller Farben der Iris und schaltete, bevor das Dunkelblau verging, den Deflektorschirm auf volle Leistung. Langsam, mit belegter Stimme, sehr leise, sagte User-Maat-Rê: »Herr. Nie hast du, außer in Träumen und Visionen, zu mir gesprochen. Ich gehorche deinem Befehl; jener Atlan-RêAnhetes – jeder Gaufürst wird ihm ein Willkommen bereiten. Wann wirst du wieder mit mir sprechen? Ich habe eine Million Fragen!« Ich schwieg und hielt den Atem an. Als er nach einer Weile das Heiligtum verließ, folgte ich ihm, nahm außerhalb der Kammern und Hallen, zwischen den Säulen, den Götterkopf ab und blinzelte den Schweiß aus den Augen. Die Sonne schwebte eine Handbreit über der Ebene des Mündungsdreiecks, die Luft war kühl und voller guter Gerüche. Langsam ging ich zum Gleiter, tauchte in dessen Deflektorfeld ein und startete die Maschine. Der Gottherrscher unterhielt in Pi-Ramessu eine große Pferdezucht und Werkstätten für Waffen und Wagen. Die ersten Gespanne verließen die Ställe, und grauhaarige Männer bildeten die störrisch galoppierenden Zugtiere aus. Als ich nach Nordwest davonschwebte, erhoben sich die langen Staubfah-
nen hinter den Wagen, zwischen den letzten Weiden und dem Rand der Wüste, entlang der Grenze zum Land Djahi. In derselben kleinen Bucht, in der Zakanza-Upuaut, PtahSokar und ich uns auf die Jagd nach den Parasiten vorbereitet hatten, schlug ich am Tag 20 des Payni neben dem Gleiter mein Lager auf und blieb einen halben Mond lang: Ich zwang mich, lange im unangenehm kühlen Wasser zu schwimmen, sonnte mich, übte mit den Varianten zeitgenössischer Waffen und versuchte vergeblich, Spuren des hölzernen Schiffswracks auszugraben. Das große Gleiter-Boot, dieses Mal nicht wie für einen kriegerischen Halbgott ausgerüstet, lag im Schatten des eigenen Segels hoch auf dem Sand; ich studierte die Karten des Landes und der Inseln nahe Ithakas und beobachtete mit Ricos Sonde das kleine Fürstentum. Odysseus lebte, inzwischen etwa fünfzig, und er schien sich zu langweilen. Als mein Verstand und jeder Muskel meines Körpers wieder so arbeiteten, wie ich es gewohnt war, flog ich über Kreta, Rhodos und die Reste Stronghyles nach Nordwesten, kreiste über Vaphio und Sparta und schwebte über das Land auf Same, Dulichion und Ithaka zu; über diese drei Inseln herrschte Odysseus. Ich setzte in einer verlassenen Bucht Mast und Segel und segelte durch den Kanal zwischen Same und Ithaka nordwärts, um einige Kaps herum und durch eine malerische Bucht auf den Palast des Listenreichen zu; das Anwesen zwischen Ölbäumen war groß, aber keineswegs mit der Pracht anderer Paläste zu vergleichen. Ich warf Bogen und Köcher auf die Schulter, fragte einige Fischer und ging zwischen Feldern, Äckern und Weingärten zum Palast. Mittag. Neun Zehntel der Bevölkerung schliefen in der Hitze des Mondes Epiphi, den sie hier wohl anders nannten. Eine wenig fruchtbare Insel, bergig, voller Wälder. Nur in Tälern und in den ebenen Teilen der Bucht war Ackerbau
möglich. Ich winkte einigen Schäfern, kam zu einer niedrigen Mauer, lehnte mich darauf und schaute mich grinsend um. Ein Hund bellte, Katzen dösten in der Sonne, Eidechsen raschelten; von einer Terrasse und vom Dach des weißgekalkten Haupthauses überblickte man die gesamte Bucht. Ich zog einen Pfeil, hängte die Bogensehne ein und wartete. Ich drehte den Kopf. Niemand beachtete mich. Hundert Atemzüge später kam Odysseus aus dem Haus, blinzelte und gähnte, griff nach einem Krug und goß Wasser über seinen Schädel. Ich spannte den Bogen nur halb und schoß einen Pfeil in den Holzladen, zwei Ellen schräg über Odysseus’ Kopf. Er zuckte nicht einmal zusammen, stellte den Krug ab und betrachtete, als sei es ein bloßes Stück Holz, den Pfeil. Er lachte, holte tief Luft und sagte laut: »Goldene Spitze, viel zu lang, goldgefiedert; spring über die Mauer, Atlan Toxotes.« Er rannte über die Terrasse, die Sandalen klatschten. Ich sprang über die Mauer, machte im Schatten von blühenden Obstbäumen lange Schritte und breitete die Arme aus. Wir umarmten uns, schlugen uns gegenseitig auf den Rücken und auf die Schultern, er zog mich über die glänzenden Platten ins Haus und brüllte: »Penelopeia! Bringt Wein und Essen! Uns besucht ein Halbgott! Atlan ist gekommen, wie er’s einst versprach.« Er stemmte die Fäuste in die Hüften und musterte mich. Durch die Korridore und die Küche schwirrten Dienerinnen. »Ich bin zwei Jahrzehnte älter geworden. Jahrelang bin ich in diesem verwünschten Meer herum…, das erzähl’ ich dir später. Du siehst nicht einen Mond älter aus, Weißhaariger.« »Schlafen erhält jung. Ich hab’ genug Zeit gehabt, um tief auszuschlafen«, sagte ich und stand auf, um Penelopeia zu begrüßen. Sie war so groß wie Odysseus, breitschultrig und füllig, mit langem Haar, das, ebenso wie seines, graue Sträh-
nen hatte. Große, kluge Augen überstrahlten ein breites Gesicht mit schmalen Lippen. »Willkommen, Bezwinger der Amazonen«, sagte sie. »Betrachte unser Haus als deines, Freund.« »Ich danke, Herrin«, sagte ich. »Ich brauche nur ein schmales Bett, ein wenig altes Brot und eine Handvoll Oliven. Dafür unterhalte ich euch am Herdfeuer.« »Aber nicht mit Gesang zur Leier, Toxotes!« »Keine Silbe.« Seine Gattin mischte mit langsamen Bewegungen Wein und Wasser und setzte sich zu uns an den wuchtigen Holztisch. Odysseus zeigte zur Bucht. »Du bist mit einem Händlerschiff gekommen?« »Mit meinem Boot«, sagte ich. »Und bevor dich die Neugierde auffrißt, sage ich dir: Ich habe vor, nach Aieta Demeter zu suchen, ebenso nach meinem Sohn oder meiner Tochter. Und wenn sie kein Kind von mir bekam, so will ich es auch wissen. Vielleicht kannst du mir dabei helfen. Zuerst aber will ich deine Gastfreundschaft schamlos ausnutzen. Du zeigst mir dein Königreich…« »Fürstentum. Ein paar Krieger, viele Bauern. Wir sind nicht reich an Gold. Eine Schatzkammer suchst du hier vergebens. Bleibe solange, wie es dir gefällt. Wir haben heute ein spätes Essen; streck die Beine unter meinem Tisch aus und iß. Wahrscheinlich zum erstenmal nach Ilion etwas richtiges, von liebevollen Händen zubereitet.« Er legte seine Pranke auf Penelopeias Hand; ich sah, daß er viel und schwer arbeitete. Penelopeia führte mich zum Badehaus, das neben einer in Stein gefaßten Quelle stand. Wir tafelten stundenlang. Ich erzählte ihm eine glaubwürdige Version vom Schlaf in der Kuppel, er unterhielt zumindest mich mit kurzen Geschichten – ich hielt sie für stark übertrieben –, die ihm nach dem Ablegen vom Strand der Troas passiert waren. Immer wieder dröhnte unser Gelächter durch die
ausgedehnte Wohnhalle. Um Mitternacht waren wir atemlos, und die Gesichtsmuskeln schmerzten vom Lachen. Unter den Zweigen der Ölbäume jagten zuckend Fledermäuse. Längst brannte im Dorf, das sich um die Hälfte der Bucht schmiegte, kein Licht mehr; im Kamin, in dem ein halber Ochse am Spieß Platz fand, unter den eigenen und erbeuteten Waffen, Helmen und Schilden, knackte ein Scheit in der schwarzroten Glut. Odysseus führte mich in einen geräumigen Schlafraum; noch immer war mein Gepäck im Boot. Odysseus sagte: »Eigentlich möchte ich den einen oder anderen Platz auf meiner Irrfahrt Wiedersehen – aber nicht schwimmend, auf dem Floß oder auf vollgeschlagenen und untergehenden Schiffen.« »Du willst zur Kirke«, murmelte ich. »Sag’s doch gleich.« »Und zu den Lotosessern.« »Das ließe sich machen.« Ich gähnte und zog die Stiefel aus. »Aber nicht mehr heute nacht.« In duftendem Leinen aus Kreta, unter schweren Balken und in der Ruhe eines alten Hauses, in dessen Mauern die guten Geister vieler Jahre Unterschlupf gefunden hatten, schlief ich bis gegen Mittag, dann ließ Odysseus einen Wagen bringen und fuhr mit mir zum Boot. Die Karten, die vor drei Monden entstanden waren, zeigten unendlich viele Einzelheiten, selbst die Färbungen unterschiedlich tiefen Wassers, aber natürlich nicht, wohin Aieta Demeter nach dem Brand Ilions geritten war. Zwar besaßen sie präzise Gradnetze und Entfernungsangaben, aber nur die größten der insgesamt wenig ausgedehnten Siedlungen waren zu erkennen. Odysseus war als einer der wenigen Menschen dieser Zeit fast sofort bereit, die Sicht »aus dem Auge des Adlers« als Darstellungsform anzuerkennen und richtig zu benutzen; o-
ben war Norden, rechts Sonnenaufgang. Wir saßen, am vierten Tag meines Besuchs, unter der Sonnenleinwand der Terrasse im warmen Spätfrühlingswind und tranken kalten Kräutersud. Odysseus betrachtete die Ausschnittvergrößerungen seines Inselreiches und schüttelte den Kopf. Leise sagte er: »In diesen neun Jahren meiner Irrfahrt hab’ ich die Götter hundertmal angefleht, mir zu sagen, wo ich bin. Ein solches Bild des Landes und Wassers hätt’ ich haben sollen!« Wir versuchten, den Wohnort der Amazonen zu finden oder wenigstens seine Lage annähernd zu bestimmen. Odysseus schnippte einen Olivenkern nach den Sperlingen im Gras. »Nun hast du ein Bild deiner Inseln«, sagte ich und schob ihm die Karte hinüber. »Willst du deine Dörfer, Köhler und Herden besuchen?« Seine Mägde und Penelopeia hatten sich begeistert meiner Geschenke angenommen, einer Kornmühle mit Kurbelantrieb und verschiedener Gerätschaften für Ölfruchtmühlen und Weinbearbeitung. Odysseus hatte mein großes Boot lange bestaunt und den Schiffbauer gelobt. Er hob den Kopf und brummte: »Das machen wir jedes Jahr im Herbst. Bis ich wieder auf Ithaka bin, vergehen eineinhalb Monde.« »Wenn es deine Gattin erlaubt – segeln wir sieben Tage lang von Bucht zu Bucht, zu jedem Weiler und Meiler?« »Man sagt, ich sei der große Aufschneider, Atlan. Willst du mich übertrumpfen?« »Willst du, oder willst du nicht? Das Wetter verspricht das Beste; es weht ein milder Zephyr.« »Sieben Tage? Und Nächte, versteht sich. Ich sag’s ihr.« »Ich bin bereit. Wir können jede Stunde ablegen. Für unseren Proviant sorgst du.« Er nickte und grinste breit; das Lächeln schien sich in sein Inneres zurückzuziehen und dort zu hocken wie Athenas Eule.
Odysseus war ruhiger geworden, die Schärfe seiner Worte war nicht mehr verletzend; auch sah man fast nichts mehr von seinem Hinken, das ohnehin kaum je aufgefallen war. Er war ein Fürst der Bauern, Handwerker und Fischer, und die Unzufriedenheit über ein geordnetes, ruhiges Leben schimmerte nur dann durch, wenn er von seinen Erlebnissen sprach. Sirenen, Ein- oder Rundäugige, Skilla und Karibtis… gab es sie nur in seiner Einbildung, oder waren sie späte Nachkommen irgendwelcher Horden der Nacht? Als die größte Mittagswärme vorbei war, brachte ein Knecht zwei ungesattelte Pferde, und Odysseus zeigte mir stolz seinen Besitz, die Lagerhäuser und die Werkstätten. Unter einer ausladenden Eiche hielt er das Pferd an und sagte: »Ein Kopf ohne Gedächtnis, Atlan, ist eine Burg ohne Besatzung. All die Fürsten, die Sieger über Ilion: getötet, umgebracht, im Elend. Ich; neun Jahre von Ithaka weg. Die Belagerung meiner Insel und meiner Frau, das Massaker hier mit den größenwahnsinnigen, besoffenen Freiern – ich hab’ zehn Jahre gebraucht, die Ungeheuer aus meinen Träumen zu verjagen.« »Mit solchen Ungeheuern habe auch ich mitunter Umgang«, sagte ich. »Du bist nicht der einzige, der wirr träumt. Weiter! Zur Bucht. Ich werde dir bessere Träume verschaffen, Listenreicher.« »Wie willst du das schaffen? Noch mehr Wein?« »Wart’s ab und erlebe es selbst.« Auf Umwegen, schmalen Pfaden und über kleine Wiesen, die in voller Blüte standen, ritten wir zum Dörfchen an der Bucht. In diesen Tagen und in den langen Nächten schwankte unsere Stimmung zwischen ausgelassener Heiterkeit und tiefer Besinnlichkeit; beide waren wir geübte Geschichtenerzähler, veränderten die Wahrheit nur dort, wo wir sicher sein konnten, daß wir und die Zuhörer lachten. Das Boot war am Steg festgemacht, wir banden die Pferde an ein Fischerboot
und begrüßten einige Dörfler. »Weisheit bedeutet immer, daß einem Mann etwas Selbstverständliches zuerst einfällt. Dieses Segeln zwischen meinen Buchten – wir werden, wenn’s nicht stürmt, morgen früh ablegen? Ja?« »Morgen bei Sonnenaufgang. Um den Wind brauchen wir uns wenig Sorgen zu machen.« Ich sprang ins Boot, half ihm und öffnete Klappen und Luken, zeigte ihm Tauwerk, das zweite Segel, Vorräte und Werkzeug, die kleine Kabine und das Ruder, aber nicht das geteilte Schaltpult. Er prüfte Blöcke, Tauwerk und Rah und nickte mir bedächtig zu, die Unterlippe verschoben. »Größer und besser als dein Boot damals. Ich werde mich sicher fühlen, mit dir an Bord. Auch wenn es kein griechisches Schiff ist.« Odysseus ließ einige Knechte Weinamphoren und Proviant an Bord bringen. Wir gingen früh schlafen, und Penelopeia begleitete uns im Licht der Fackeln zum Boot. Wir verstauten den Proviant, nahmen Abschied und warfen die Leinen los. Ablandiger Wind trieb uns bis zum Kap, dann lehnte ich mich zurück, klappte die Pultabdeckung zurück und warf die Schotleinen los. Das Segel drehte sich flappend in den Wind. »He! Was machst du? Willst du rudern?« »Wart’s ab. Hilf mir.« Wir bargen das Segel, legten den Mast, und ich deutete auf die winzige Bugwelle. Mit dumpfem Summen faltete sich der schwere Kiel aus, das Boot hob sich, nahm Fahrt auf, und nur der Kiel erzeugte unter uns Wellen, Schaum und Gischt. Der Gleiterboden berührte die Wellenspitzen nicht mehr, als ich ums Kap herumsteuerte und sagte: »Von Einäugigen und Stürmen, die in Säcken gefesselt sind, verstehst du mehr. Das wasserlose Segeln haben die klugen
Leute meines Volkes erfunden. Welche deiner weißschimmernden Städte willst du, ehe Phöbus Gestirn im Mittag steht, als erste erblicken?« Er hatte die verschiedenen Handgriffe und die Veränderungen im Verhalten des Bootes schweigend mit angesehen, starrte ins Kielwasser, sah an Steuerbord die Uferfelsen vorbeigleiten und brummte: »Ich war schon mit dem Gedanken vertraut, du wärst kein Halbgott. Jetzt zweifle ich wieder.« »In meinen Worten« – ich meinte »in einfachen Worten und Gleichnissen« – »werde ich dir vieles erklären. Nichts ist göttliches Wunder. Es ist so natürlich wie Blitz, Wind und der Flug der Hummel.« »Wenn du es sagst! Ein Schluck Wein?« »Aus Bechern, nicht aus Schalen«, sagte ich. »Hier ist die Karte. Wohin, Odysseus?« Wir fuhren und schwebten durch den Kanal zwischen den Inseln nach Süden. Er drehte die Karte so lange, bis für seine Augen Süden oben lag, deutete auf eine Bucht und sagte: »Dorthin; Ornion. Sie haben abgelagertes Holz versprochen und nicht gebracht. Sie werden erschrecken, wenn ich im Frühjahr komme und nicht im Herbst. Zeigst du ihnen die halbgöttlichen Eigenschaften?« »Nur wenige.« Ich hob den Becher. »Sonst glauben sie noch, du selbst würdest täglichen Umgang mit anderen Göttern außer Athena haben.« Wir lachten laut, er setzte sich neben mich ins Heck, legte die nackten Beine auf die Bordwand und sah kopfschüttelnd den Möwen, Kormoranen und fliegenden Fischen zu. In sieben Tagen, in denen die Sonnenstunden länger wurden und uns die Wettergötter reich beschenkten, besuchten wir mehr als drei Dutzend Siedlungen auf allen drei Inseln. Der Weg von Bucht zu Bucht dauerte nur Stunden: selten verwen-
dete ich den Gleiter, um über Land zu schweben. Nur dort, wo wir ihn leicht verstecken konnten, kamen wir als Wanderer zu Dörfchen oder winzigen Städtchen, von denen nur drei, nahe ausgezeichneter Naturhäfen, ummauert waren. Odysseus lobte und strafte, entschied Streitfälle, behandelte Mädchen und Frauen gut und trank mit den meisten Männern; er war klug und gerecht. Ich hätte an seiner Stelle nicht viel anders gehandelt. Als Atlan Iatros half ich seinen Leuten mit medizinischer Hilfe; mit Hilfe betäubender Dolchschüsse und einer Zange zog ich drei schwärende Zähne. Es waren herrliche Tage; auch ohne Wein waren und blieben wir fröhlich. Ich genoß jede Stunde, während der ich mich nicht kontrollieren mußte, weil ich neben mächtigen Herrschern stand oder mich durch gefahrvolle Aktionen bewegte. Die unkriegerischen, emsigen Barbaren der Inseldörfer in all ihrer göttergläubigen Einfachheit waren bewunderungswürdige Gastgeber. Die letzte Strecke, zurück nach Odysseus’ Palast, segelten wir wirklich; feuchter Südwind warf hohe Wellen auf. Das Boot lag schräg, das Segel war prall, im Sonnenlicht sahen wir jede Doppelnaht. Der Kiel war bis zum äußersten Punkt ausgefahren, und, obwohl uns die Tropfen ins Gesicht schlugen, hatte ich noch keinen Schutzschirm geschaltet. Odysseus und ich kämpften abwechselnd am Ruder und waren fast erschöpft, als wir ins ruhigere Wasser der Bucht einbogen. Als der Kiel das erstemal über rauhen Sand schrammte und ich den Knopf des Hebemechanismus’ drückte, sagte Odysseus unvermittelt und mit fester Stimme: »Bei Athenas Glaux!« Er druckte mir die Pinne in die Hand. »Ich will mit dir zusammen nach Aieta suchen. Du hast ja selbst gesehen, daß jegliches Chaos mein Land und das Meer rundum flieht. Und meine Gattin ist gewöhnt, daß ich ihr nicht im Haus die Zeit stehle.« »Einverstanden«, sagte ich. »Ich verspreche dir, daß es keine
neun Jahre dauern wird. Zuvor besuchen wir eine besonders schöne Insel, ja?« »Wo liegt sie?« »Am Rand der Welt, wohin kein Schiff fährt.« Er goß mit sicherer Hand gemischten Wein in die Becher und sagte: »Selbst bis dorthin dauert die Fahrt nicht lange.« Wir brachten mühelos eine Wende und danach ein Anlegemanöver fertig, vertäuten das Boot und stellten alle Gepäckstücke und die leeren Krüge auf den Steg. Nur unsere schmutzigen Tücher und Chitons trugen wir ins Haus. Nachdem wir uns im Badehaus und im Schwitzbad gewaschen hatten, massierten uns Dienerinnen, und ich streckte mich auf dem gemauerten Sitz der Terrasse aus. Ich fühlte, wie die Hitze der Sonne durch die ölglänzende Haut sickerte, langsam ins Innere des Körpers, durch die Lider; in meinen Sehnerven entstanden seltsame Muster und Farben. »Ich weiß es! Das kann kein Irrtum sein!« Cyr Aescunnar blickte auf die Uhr, dann huschte sein Blick über die Monitoren; er entdeckte Doktor Ghoum-Ardebil in dessen Büro. Er schaltete eine Sprechleitung auf, drückte die Ruftaste und sagte, als Ghoum-Ardebil aufschreckte: »Haben Sie schon herausgefunden, was der Grund für Atlans schnelleres Sprechen ist?« Der Ara-Mediziner schüttelte den Kopf. Atlan sprach weiter, ohne daß Aescunnar darauf achtete, was er sagte, und worüber er sprach. »Aber ich weiß es.« Cyr hob die Hand. »Die Sonne Arkons, oder vielleicht die veränderte Entfernung, als sie damals die Planeten umgruppiert haben: jedenfalls müssen alle Arkoniden an höhere Temperaturen gewöhnt sein! Sicherlich ist auch – ich bin kein Mediziner – die Placentatemperatur bei Arkoni-
den höher. Die Arkoniden haben sich genetisch an höhere Temperaturen gewöhnt.« »Das könnte die Lösung sein. Die Temperatur der Flüssigkeit im Überlebenstank wird auf den Metabolismus von Terranern abgestimmt. Aber… beide sind doch Abkömmlinge von Lemurern.« »Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, was Atlan berichtete, so müßte sich auch Ihnen der Eindruck aufgedrängt haben, der Statthalter sei ein Bräune- oder Sonnenfetischist. Längere Vorstöße in den kalten Norden sind nicht bekannt. Er hält sich am liebsten im Nilland auf. Er liebt Wasser, Strände und Sonnenbäder.« »Wissenschaftler sollten wirklich häufig miteinander reden und ihre Fachgebiete austauschen. Interdisziplinäre oder übergreifende Erkenntnisse. Für ihre Beobachtungsgabe, Herr Kollege, spreche ich großes Lob aus; eine Preisung, die ohne Schaden für Tatsachen oder Kunde von ihnen ausgeführt werden kann. Alte Ara-Formel.« Er lachte; Cyr konnte sich nicht entsinnen, ihn seit Mitte des Jahres lächeln oder lachen gesehen zu haben. »Ich kümmere mich sofort darum. Wir setzen die Temperatur langsam, aber kontinuierlich herauf, bis er sich wohl fühlt und Sie mir sagen, daß die Anzahl der Worte pro Zeiteinheit wieder Normalmaß angenommen hat.« »Selbstverständlich, Herr Kollege, werde ich weiterhin pflichtbewußt handeln. Sie sollten versuchen – ich lasse auch nachsehen! –, herauszufinden, ob die mittlere Durchschnittstemperatur auf Arkon über dreißig Grad war.« Ghoum-Ardebil war aufgestanden und im Begriff, das Büro zu verlassen. Er grüßte kurz und eilte hinaus. Cyr schaltete die Tonleitung ab und griff nach den Kopfhörern, während er las, was ihm während der kurzen Unterbrechung entgangen war. Atlan hatte nicht aufgehört; jetzt sprach er.
… vier Tage lang aufgehalten. Der dampfende Vulkanrest, die Bucht und das Land im Wasser des Okeanos beeindruckte ihn ebenso wie die Veränderung, die ein achtundvierzigstündiger Tiefschlaf mit umfassender medizinischer Behandlung durch summende und blinkende Medorobots ausgelöst hatte. Er fühlte sich kräftiger, jünger und – unternehmungslustiger. Ich erschreckte ihn nicht mit einer Vorführung der Steuerzentrale, wo er womöglich sah, wie Sonden einzelne Barbaren beobachteten. Aber die Erinnerungsstücke meines Museums in der Tiefseekuppel sah er, trank nachbehandeltes Rômetbier, unterhielt sich ernsthaft-gestelzt mit Rico, der verschiedene Arten Wein vorführte und an den trocknenden Resten roch. Wir rüsteten uns neu aus, ich ließ zwei kostbar wirkende Truhen an Bord schaffen, in denen ein robotischer Falke und ein Geier auf die Aktivierung warteten; abermals im Morgengrauen flogen wir nach Ilion.
25. Am dritten Tag schwebten wir in dreihundert Ellen Höhe über dem wüsten Land, das die Griechen zurückgelassen hatten. Etliche Felder waren bestellt, Ziegen, Schafe und ein paar Rinder und Pferde weideten außerhalb der Ruinen; Regen und Sturm hatten alle Ruinen aus Lehmziegeln in längst überwucherten Tonsandbrei zurückverwandelt. Sieben, acht Dutzend Menschen hausten in den Ruinen. Während der Autopilot das Gefährt – unsichtbar – im Kreis steuerte, öffnete ich die Truhen, nahm die Handgelenkbänder und die Robotvögel heraus und erklärte Odysseus, der breit übers Heck lehnte und nach Spuren suchte, wie der Adler flog, und welchen einfachen Befehlen (»Hierher, tiefer, angreifen, beobachten, senden«) er gehorchte. Dank einiger Stunden Hypnoschulung hatte er kei-
ne Schwierigkeiten. Der Extrasinn bemerkt anscheinend belustigt: Alles, was er in deiner Gegenwart erlebt hat, Arkonide, wird zum Stoff ausschweifend erzählter Märchen, Legenden, von Aufschneidereien, Seemannsgarn und wilden Schnurpfeifereien! Sei’s drum, dachte ich grinsend, stellte die kleine in die große Truhe und sagte: »Kein Schiff wird mehr geschleppt oder begleitet. Kein Frischwasser, keine Hafenschenke, kein munteres Plappern schöner Dirnen mehr. Odysseus! Die Griechen – freilich Angehörige späterer Geschlechter, die vor Ilion nicht gestorben sind –, sterben heute mit den Schiffen, die durch die Meerenge segeln oder rudern. Gleich wirst du das wilde Wasser sehen.« Er sah mich sorgenvoll an und nickte schwer. »Bei Athenas Eule! Du hast recht. Ich habe mich damals wie ein lallender Irrer verhalten, damit sie mich nicht auffordern; vergeblich. Was wir hier angerichtet haben, hast du selbst gesehen, und auch dir ist kein anderer Weg in die Schatzkammer eingefallen. Über den Olymp, dessen Schlüssel du in den göttlichen Fingern hieltest, reden wir an einem späteren Lagerfeuer.« Ich griff in die Steuerung, glitt tiefer und flog dicht über der leeren Wasseroberfläche des schluchtartigen Schlauches zwischen zwei Meeren dahin. Schweigend sahen wir auf die Strudel, die Wirbel und Gegenströmungen, die wandernden Stillwasserzonen, die einmündenden Bäche, spürten siebenmal wechselnden, starken Wind und sahen nicht ein Schiff, das die Durchfahrt wagte. Am Abend schlugen wir neben dem Gleiter unser Lager auf, zündeten ein Feuer an, aßen und tranken Bier – und erzählten uns gegenseitig, in einer von Menschen völlig entleerten Gegend, zurückliegende Abenteuer: nur solche, in denen wir gut abschnitten. Während des Fluges, den Rico mit einer Sonde mitverfolgte, blickten wir häufig »durch das Auge des Geiers« und des Fal-
ken. Die Linsen zeigten uns, nachdem wir in geringer Höhe über die langgestreckte, buchtenreiche Meerenge geflogen und am südlichen Ufer wieder zurückgeschwebt waren, dünn besiedeltes Land. Vier Tage lang, hatte Aieta mir erzählt, seien sie und die Amazonen nach Sonnenuntergang geritten, die Berge zur linken Hand. Ich schwebte in weiten Schleifen über das weglose Gebiet, fand einige schrundige Siedlungen, aber kein Dorf, auf dessen Weiden Schimmelherden oder überhaupt mehr als ein, zwei Pferde grasten. Am späten Nachmittag deutete Odysseus nach vorn. »Einige Hütten und drei Rauchsäulen.« »Wo Rauch ist, brennt Feuer.« Ich schickte den Falken über die Stelle und hüllte den Gleiter in das Deflektorfeld. Hoch über uns glänzte das Gefieder des Geiers im rötlichen Licht. »Und hinter den bewaldeten Hügeln liegt eine grüne Ebene, die Berge sind für jemanden, der nach Sonnenuntergang blickt, zur linken Hand.« Unter uns wurde ein heller Pfad sichtbar, der sich durch dichtes Buschwerk schlängelte, in dem weiße Felshaufen lagen. Er endete bei einigen Hütten aus Holz und Lehmziegeln, neben denen die Feuer brannten. Odysseus packte meinen Arm und deutete auf den Bildschirm des hochgeklappten Truhendeckels. »Es scheint, wir haben die Amazonen gefunden. Hinter dem Wald.« Ich verlangsamte die Geschwindigkeit und sah ungefähr in der Mitte der Ebene, von Äckern und Feldern umgeben, eine Ansammlung von ungefähr sechzig langgestreckten Hütten. Auf großen Koppeln grasten Pferde, darunter auffallend viele Schimmel. »So scheint es«, sagte ich. »Aber wenn wir, als stattliche Männer, mitten zwischen den jungfräulichen Furien landen, reißen sie uns in Stücke; ein wenig ersprießliches Ende.«
»Aus diesen wohlerwogenen und anderen Gründen sollten wir erst an die Wände der Hütten bei den Feuern anklopfen. Vielleicht leben hier die geblendeten Kriegsgefangenen, wenn sie nicht gerade zum Begatten geführt werden.« Seine Blicke gingen zwischen dem Bildschirm und der Wirklichkeit hin und her. »Glückliche Jungfrauen gibt es nicht, sagen Penelopeia und selbst Kirke; ein Mann ist die Erfüllung des Lebens.« »Sagte auch Nausikaa.« Ich grinste und landete auf einer Fläche aus Sand und großen Kieseln. »Wegen eines Lächelns und einiger Fragen wird man uns hoffentlich nicht für Angreifer auf die Unversehrtheit der Amazonen halten.« Ich erklärte ihm, wie der Schutzfeldprojektor arbeitete, und befestigte, wie er, das Gerät neben der Gürtelschnalle. Ich wußte selbst nicht, warum ich nicht im Schutz der Unsichtbarkeit um die Häuser der wehrhaften Jungfrauen geflogen war; eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab. Wir gingen auf die Hütten zu, nachdem ich das Feld so geschaltet hatte, daß der Gleiter schemenhaft sichtbar blieb. In unserem Rücken färbte sich die Sonne rot und näherte sich dem Horizont. Hunde kamen uns kläffend entgegen. Ich legte die Hand auf den Lähmdolch, aber sie umkreisten uns nur wachsam, ohne zu knurren. Erst jetzt sahen wir, daß sich zu beiden Seiten der Hütten fast mannshohe Palisaden erstreckten, von wildem Wein umrankt. Sie endeten an den Bruchsteinmauern. Aus dem mittleren Haus trat eine Greisin im wollenen Chiton. Sandalen an den mageren, haarigen Beinen und starrte uns aus dunklen Augen an. »Mutter«, sagte ich. »Wir sind harmlose Wanderer.« Weder ich noch Odysseus konnten weitersprechen: sie hob herrisch und abwehrend beide Hände und musterte mißtrauisch mein Haar. Ihre Stimme war rauh wie der Rand einer Tonscherbe. »Halt! Ihr seid auf dem Land der Amazonen!«
»Wir haben niemanden getroffen, der uns sagte, wo wir sind, Mutter des Willkommens.« Odysseus verbeugte sich; ich sah sein Grinsen. »Einst hat eure Fürstin, sozusagen, an meiner Seite mutig gekämpft und große Beute gemacht.« »Und weil wir fremde Männer sind, Herrin zorniger Hunde, halten wir hier unsere Schritte an, um kein heiliges Land zu verletzen.« Ich rührte keinen Muskel. Die fünf Hunde lagen in einer Reihe vor ihr, starrten uns an, zogen die Lefzen hoch und knurrten. »Eine Fürstin, die an der Seite von Männern kämpfte«, – es klang wie ein Fluch – »das war, als ich jung war. Fürstin Pentesilea starb. Unsere Fürstin Aieta kämpfte vor Ilions Mauern.« »Zwischen uns«, sagte Odysseus. »Sie lud uns ein; sie sagte, die Gastfreundschaft der Amazonen suche ihresgleichen.« »Ihr seid Griechen?« Sie konnte ihren Blick nicht von meinem Haar losreißen, das sich im Abendwind bewegte. »Und ihr sucht Aieta Demeter?« »So ist es«, sagte ich. »Reitet sie immer noch an der Spitze ihrer Kriegerinnen?« »Nein. Wer seid ihr?« »Vor dir steht Atlan Toxarchos«, sagte Odysseus und zeigte auf mich. Ich deutete auf ihn. »Und der Laertide Odysseus, überall bekannt als der Listenreiche.« Das Knurren der Hunde wurde lauter. Die Greisin rührte sich nicht. Ihr weißes Haar war im Nacken zu einem dünnen Zopf gebunden, die Linien und Falten ihres Gesichtes vertieften sich, als sie, in der Sonne blinzelnd, sagte: »Eure Namen habe ich mir gemerkt. Aieta kam von Ilion zurück, schwanger von einem Halbgott. Von dir!« Ihr Finger stach in meine Richtung wie ein Dolch. »Sie brachte ein männliches Kind zur Welt, was ihr nicht zur Ehre gereichte.« Es klang wie eine Reihe Flüche und Verwünschungen. »Sie sollte
es aussetzen, aber sie gab es einer Jägersippe zur Aufzucht.« »Das Kind, mein Sohn, lebt also?« sagte ich heiser. »Nicht in diesem Land, Weißhaariger. Fürstin Demeter hat sich gegen unsere Gesetze versündigt. Wir haben sie verstoßen. Was ich weiß, ist: Sie hat ihren Balg mitgenommen, als er ein Jahr alt war, und hat unser Land verlassen; mit ihm.« Odysseus und ich wechselten einen schweigenden Blick. »Die Schale deines Wohlwollens würde überströmen, Ehrwürdige, wenn du mir sagen würdest, wohin eure Fürstin ging.« »Sie wollte zu dir!« Ihr Finger zuckte nach Odysseus. »Oder zum Heereslenker Agamemnon. Zu euch. Ins Land hinter den Inseln. Vor neunzehn Jahren haben wir sie ausgestoßen.« Es klang fröhlich, als sei dies ein erstrebenswertes Schicksal. Ich hob beide Hände. Die Hunde rührten sich nicht, aber jetzt geiferten sie, und das Knurren wurde schärfer. »Kannst du mir mehr über ihr Schicksal sagen?« »Wenig. Ihr Sohn, so hat die Unglückselige geprahlt, wird über ein anderes Land herrschen. Überall, wohin er geht, wird er ein Ausgestoßener bleiben mit dem hellen Haar, denn alle Menschen sind dunkelhaarig.« »Bis auf zwei«, sagte ich. Odysseus hakte seine Daumen hinter den Gürtel und musterte die Greisin, als sei sie aussätzig. Er sagte: »Wisse, Mutter der Heiterkeit: Ich bin Odysseus. Bei mir hat Aieta Demeter nicht Schutz gesucht. Bei Agamemnon, der, wie es scheint, von einer aus eurem Stamm im Bade erschlagen wurde, wird sie kaum Hilfe erfahren. Eure Fürstin irrt also durchs Land und ist aufs Wohlwollen von Göttern und Menschen angewiesen. Bist du sicher, daß sich die beiden nicht auf eurer Seite des Landes verstecken?« »Wir haben keine Nachricht.« Ich nickte ihr zu, zwang mich zu lächeln und meinte:
»Wir erbitten weder Willkommensfreude noch Gastfreundschaft. Dank für die Auskunft. Ihr braucht uns keine Kriegerinnen hinterherzuhetzen. Deine Liebenswürdigkeit vertreibt uns wie Hundebisse.« Wir drehten ihr den Rücken zu und gingen. Ich konnte keinen Befehl hören, aber nach fünf Schritten griffen uns die Hunde an. Odysseus und ich deuteten mit den Dolchspitzen auf die geifernden Tiere und lähmten sie: Mitten im Angriff brachen die schwarzen Hunde zusammen und blieben regungslos auf dem Pfad liegen. Die Pförtnerin warf sich jammernd über die Hunde und schickte uns ihre Flüche nach. Neben dem Gleiter drehte sich Odysseus zu mir herum und knurrte: »Die liebenswerte Pförtnerin eines gutherzigen Völkchens. Suchen wir weiter, Atlan?« Wir schoben uns durch den Deflektorschirm und starteten den Gleiter. »Wir suchen auf der anderen Seite des Meeres. Immerhin weiß ich, daß ich einen weißhaarigen Sohn habe: ob er und seine Mutter leben, weiß kaum jemand.« Wir entschlossen uns, zuerst nach Ithaka zurückzufliegen. Ich zeigte Odysseus die Ruinen von Stronghyle und erzählte ihm in Form einer Legende, welches Schicksal die Götter des Chaos einst der Insel zugedacht hatten. Zwei Tage danach segelten wir in die Bucht unter seinem Palast hinein und machten das Boot fest. Aieta Demeter war heute zwischen vierzig und fünfundvierzig, mein Sohn, dessen Namen ich nicht kannte, einige Monde älter als zwanzig. Ich betrachtete auf der Karte die vielen Punkte am südlichen und nördlichen Rand des Meeres; Häfen, zwischen denen Schiffe verkehrten, von denen eines die Fürstin mit dem einjährigen Kind mitgenommen haben mochte. Vor achtzehn oder neunzehn Jahren. Wer würde sich heute an
eine Frau mit hellhaarigem Säugling erinnern? Der Logiksektor half: Es wird erfolglos sein, auf der Küste Ilions zu fragen. Geh in die Hafenschenke des Festlands und der Inseln. »Das sind ein paar Dutzend, eher zehn als sechs«, murmelte ich. Odysseus und Lopeia beugten sich über die Karte; die Hausherrin sagte: »Sie kann mit dem Schiff ertrunken sein, auf einer der vielen Inseln leben oder im Land weit gewandert sein – dreimal sechs Jahre. Dein Sohn ist ein Mann geworden, Atlan.« »Ich weiß«, sagte ich. »Wo würdest du fragen, wenn du nach Aieta und dem Sohn suchen müßtest?« Zögernd zeigten Penelopeia und Odysseus auf ein Dutzend Namen von Hafenstädten zwischen Zestos, das fast Ilion gegenüberlag, und Metone in Lakedaimon, und auf Inseln: Kreta, Rhodos, Alashia, Lemnos. »Also werde ich es versuchen.« Über dem Tisch in der Megara, dem Raum, der in vier unterschiedlich hohen Plattformen erbaut war, hing eine Lichtkugel aus meinem Vorrat. Mücken sammelten sich außen an den dünnen Leinenflächen der Fenster und Türeingänge. Der lange Binnenmeersommer hatte am Ende des Mesore endgültig begonnen. »Ohne dich, Odysseus. So schnell wie möglich. Von einer Hafenschenke zur nächsten. Du kannst recht haben, Lopeia: Wahrscheinlich hat sich ihre Spur verloren.« »Und… wenn du ihn findest, was wirst du ihm sagen, was willst du tun?« »Das, Lopeia, kann ich erst sagen, wenn ich ihn wirklich treffe.« Wir leerten die Schalen und gingen zu Bett. Die TOXEUMA – wir hatten das Boot »Pfeil« getauft – stand seit Tagen bereit; vor dem ersten Sonnenstrahl segelte ich aus der Bucht und verwandelte das Boot in einen Gleiter.
An neunundzwanzig Tagen tat ich jeweils zwanzig Stunden lang das gleiche. Ich landete nachts nach bestmöglicher Vorbereitung den Gleiter, machte ihn und mich unsichtbar und kam zu Fuß zum Hafen, wenn die Fischer vom nächtlichen Fang zurückkamen. Ich stellte jedem Fischer und jedem Schiffsführer meine Fragen, trank harzigen Wein in jeder Schenke, erfuhr aber nichts von Aieta, verließ den Ort und schwebte unsichtbar zum Gleiter, der in die Richtung auf den nächsten Hafenort startete. Im Zickzack flog ich weiter, schlief oft im Boot, ernährte mich von Odysseus’ Proviant, fragte, fragte, fragte… und erfuhr nach siebzehn Tagen – ich zählte Boote und Schenken längst nicht mehr – von einem weißbärtigen Handelskapitän, der seine letzten Jahre in Naupaktos verbrachte, daß er mit seiner TÜMMLER die junge Frau von Ilions Strand mitgenommen hatte. Ich ließ Wein kommen und versuchte, durch geschicktere Fragen seine Erinnerung in die gewünschte Richtung zu führen. »Also, Bogenschütze, wir haben gedacht, daß es da noch einen Hafen gibt, mit gutem Wasser, aber da war nichts mehr; die Frau hat drei Monde lang gewartet. Ein paar Ziegen, hat sie gesagt, sind von den Griechen nicht geraubt worden. Sie waren nicht ausgehungert, die beiden; ein leises, schönes Kind, mit fast weißem Haar. Haben wir alle noch nie gesehen gehabt, so helles Haar.« Er hob die Schale, trank, schenkte mir ein zittriges, zahnloses Lächeln. »Im Gürtel hat sie Gold und Silber gehabt, im Sand gefunden, hat sie behauptet. Haben die Griechen verloren.« Er kicherte, schloß die Augen und schien in der Mittagssonne einzuschlafen. Ich bezwang meine Ungeduld, mischte Wasser in meinen Krater und wartete. Der alte, fast kahle Kapitän stieß geräuschvoll die Luft aus und murmelte: »Sie hat bezahlt, und das Kind hat nicht ein einziges Mal ge-
schrien. War, glaube ich, eine ruhige Überfahrt nach hierher.« Auch Naupaktos im Land Lokris war kein großer Ort. Ich blickte zu den Hügeln im Norden und fragte: »Du hast beide hier an Land gebracht? Kannst du mir sagen, was sie taten? Blieben sie hier, wanderten sie weiter?« Wieder brauchte er lange, um sich zu erinnern. »Die Frau, sie war sehr schön und schnell mit dem Dolch, hat ein Jahr hier in der Schenke gekocht. Hat keinen an sich herangelassen, der Kleine war mit allen Fischern befreundet. Er hieß, glaub’ ich, Toxatlan. Dann sind sie weiter, nach Norden. Allein, nur mit einem alten Pferd. Ich hab’ nie wieder von ihr gehört.« Ich dankte und ging, als ich sicher war, daß er eingeschlafen war. Ich fragte den Wirt, bei dessen Vater sie gearbeitet hatte, und zwei Dutzend Fischer und Dörfler. Alles, was ich erfuhr, war: Mit dem knapp Dreijährigen war Aieta nach Norden gewandert. Dort irgendwo, hatte sie jedem gesagt, wartete ein Stamm auf einen Herrscher, den die Götter ihm zuführten; in einem Dutzend Jahren oder mehr würde Toxatlan über ein Fürstentum herrschen und seiner Mutter ein friedvolles Alter sichern. Der Gleiter schwebte nach Norden, zunächst über dem einzigen Pfad, der aus der Siedlung führte. Über mir kreiste der Robotfalke. Stundenlang flog ich über Wälder, Bergwiesen, entlang kleiner Bäche; vier Tage lang. Jeden, den ich traf, fragte ich: Niemand wußte etwas über den weißhaarigen Toxatlan und seine schöne Mutter, und ich fand auch keinen Hinweis auf einen Stamm, der die beiden hätte aufnehmen können. Als ich, weit nördlich von Odysseus’ Heimatinsel, auf einen Fluß stieß, der sich nach Süden schlängelte, folgte ich diesem und gab am zweiunddreißigsten Tag die Suche auf. Nachts segelte ich an den Steg, vertäute das Boot und streckte mich auf den Polstern aus. Ich war sicher, daß auch Ricos Sonden
Toxatlan nicht finden würden. Toxatlan! Sie schien mich nicht lange gehaßt zu haben, die stolze Fürstin, wenn sie ihren Sohn nach dem bogenschießenden Atlan genannt hatte! Am Tag Zwei des Thot überflogen wir, nachdem wir über die Ebenen Kretas geschwebt waren, die Stiefelspitze des namenlosen Landes, die auf die dreieckige Insel zielte; der schmale Durchlaß zwischen Insel und Festland war nach Aussage von Odysseus die Heimat von Skylla und Kariptis. In geringer Höhe näherten wir uns, von Geier und Falke bewacht, der Durchfahrt. Ich nahm die Geschwindigkeit zurück, als wir kurz vor der engsten Stelle waren, deutete über die Bordwand und sagte: »Abermals erkennen wir am hellen Tage, o Meister abenteuerlicher Geschichten, daß nicht jedes deiner Worte strenger Prüfung unterzogen werden darf. Wo sind die alles verschlingenden Strudel?« Starke Strömungen und unterschiedlich tiefer Meeresboden erzeugten große Wirbel, schäumende Wellen und einige starke Grundwellen, auf Teilen des trockengefallenen Meeresbodens lagen sterbende Seetiere, an denen Vögel herumhackten. Eine Schule großer Tümmler schwamm, tauchte und sprang auf ihrem Weg nordwärts durchs Wasser; wir sahen an einigen Stellen den Grund, an anderen nur Schwärze, und langsam schwebten wir, durch Vogelgeschrei und vielfältige Echos, hinter den Tieren her. Odysseus sah mich an und hob die Schultern. »Für uns war es schrecklich. Sturm, Gischt, ein kleines Schiff, und dort, siehst du, die Skilla!« An Backbord voraus ragten zwei Felsen, voller Höhlen, in denen Bäume mit langen, herunterhängenden Ästen wuchsen, aus der Gischt. Mit sehr viel Phantasie vermochte ich mir eine Bestie vorzustellen, die nach Seeleuten griff und sie ver-
schlang. Um Odysseus nicht verlegen zu machen, flog ich in achtungsvollem Abstand vorbei und grinste. »Und wahrscheinlich war es dunkel und schauerlich«, sagte ich. »Du kamst aus der Gegenrichtung. Zur Kirke?« Langsam schüttelte er den Kopf. Plötzlich waren wir wieder vollkommen ernst. Er stützte sich auf die Heckbordwand und sagte leise: »Flieg weiter zu deinen Titanensteinen. Höre, Atlan: Wir haben ein paar Nächte lang über deinen Sohn gesprochen. Deine vielen Zweifel kenne ich. Ich kenne auch dich, mittlerweile. Wenn du wirklich mit deinem Sohn zusammentreffen hättest wollen, dann würdest du jetzt noch suchen, zu Fuß, auf dem Pferd, überall dort bei den Barbaren. Es war dir eigentlich ganz recht, daß du ihn nicht gefunden hast. So kannst du denken und träumen, aus ihm wäre ein Fürst, ein Seher oder ein Sänger geworden. Sei ehrlich – habe ich recht?« »Ich glaube, du hast recht. Aber was hat das mit Kirke zu tun?« »Wir haben nicht gerade Sandkörner gezählt auf ihrer Insel. Ah! Ihre Hüften. Und ihr Haar! Wie Honig und Öl. Und… vergessen wir’s. Ich wäre so verlegen wie du, wenn ich meinen Söhnen oder Töchtern dort unter die Augen träte. Deswegen: keine Kirke-Insel. Sie wird jetzt so aussehen wie Lopeia, nicht wahr?« Er kramte den Weinschlauch und Becher hervor, goß sich ein und leerte einen großen Becher. »Und beide waren einst jung, glatt und schmalhüftig. Und jetzt?« »Nicht einmal ich bin jünger geworden«, sagte ich, dachte an Ne-Tefnacht und Hedelis und streckte den Arm aus. »Ich verstehe dich. Es ist verdienstvoll, in Würde und Weisheit zu altern, Listenreicher.« »Deine Weisheit kannst du dir würdevoll… hier! Trink, Schütze bösartiger Bemerkungen.« Später (wann?) würde ich mich lächelnd dieser vielen Mon-
de entsinnen. Ich hatte Rico angewiesen, für ein Jahr zu planen, war aber schon jetzt sicher, daß die Zeit länger sein würde. Nur mit Fartuloon, dem Bauchaufschneider, oder mit meinen alten Tiefschlaffreunden hatte ich eine solche Männerfreundschaft entwickeln und pflegen können wie jetzt mit dem Fürst der Ithaker. Mit dem Becher, ebenso wie Odysseus den dunklen Augenschutz unter der Stirn, deutete ich auf das entschwindende Land. Der Gleiter und die Vögel schoben sich in die Höhe und wurden schneller. »Lassen wir also dieses mit Recht unbekannte und namenlose Land hinter uns. Söhne, Kirke, Erinnerungen und Fladenbrot mit totem Fisch. Erst in Stunden kommt wieder Land in Sicht; morgen zeige ich dir etwas, wofür ich keine Erklärung finde.« Ich trank und fügte leiser hinzu: »Wie für so manch anderes.« Er schlug kameradschaftlich mit der flachen Hand zwischen meine schweißnassen Schulterblätter. Wein spritzte in die Bilge: Odysseus lachte unmäßig und duckte sich unter dem Fahrtwind. »Ziemlich zugig, diese Ecke der Welt, Toxotes. Meine übelsten Träume werden wahr, und Erlebnisse für neue von gleich feiner Art kommen hinzu! Wann sehen wir die weißbäuchigen rothaarigen Weiber?« »Gemach.« Ich kippte den warmgewordenen Wein in die Windwirbel hinter dem Heck und hielt ihm auffordernd den Becher hin. »In ein paar Tagen.« Abseits von einer Brutvogelkolonie, unter Pinien auf dem höchsten Punkt einer riesigen leeren Bucht schlugen wir das Nachtlager auf. Ein mächtiger Stapel Treibholz brannte; Stechmücken stürzten sich in die Flammen, der Rauch zog zum Meer hinaus. Wir hockten auf unseren Mänteln im Sand, warfen Pinienzapfen ins Feuer, und Odysseus hörte gebannt zu, als ich ihm von etlichen rätselhaften Beobachtungen Ricos
auf eine Weise erzählte, als habe ich sie gesehen. Wir schwebten über einer Ebene, in der bräunlich dorrende Gräser und Ranken, unzählige aufgerichtete Steinkeile und deren Schatten ein sinnverwirrendes Muster bildeten. Wir starrten hingerissen auf diese Anlage aus grauer Vorzeit. Unter einem strahlenden Himmel, auf einer Ebene und entlang eines Baches erhoben sich lange Reihen von Tausenden riesiger Megalithen, zwischen mehr als zwei und acht Ellen hoch, manche mit der Spitze im Boden, das wuchtige Ende zum Himmel, als wären die Keile senkrecht aus den Wolken gefallen. In zwölf Reihen, die jeweils acht, zehn oder zwölf große Schritte voneinander entfernt und ungefähr viertausend Schritte lang waren; acht Chen-Nub. Der Gleiter kreiste lautlos und langsam, Odysseus lehnte sich hinaus und sagte ehrfürchtig: »Das waren Titanen oder Götter, Atlan. Was soll dieses Zeichen bedeuten?« »Ich weiß es nicht.« Der Boden war, vor hundert oder ein paar tausend Jahren, aufgewühlt worden; viel fruchtbare Erde war weggeschafft und durch Stein, Geröll und Steinsplitter ersetzt worden. Es wuchsen im Bereich dieser Heere aus Stein, deren Kolonnen von Nordost nach Südwest standen, kaum Bäume und Büsche; nur viele Ranken und Gras. An beiden Enden der Reihen schlossen eiförmige, durchbrochene Mauern, ebenfalls aus Riesensteinen, das Rätsel ab: ein Band mit zwei Endkreisen. Ich stieß Odysseus an und zeigte auf einige Steinspitzen, die über alle anderen, ohne erkennbaren Sinn in der Anordnung, hinauswuchsen. Rico hatte die Megalithen gezählt. »Ich weiß, daß es über dreitausend Stücke sind. Es waren Menschen, die einzigartige und seltsame Träume hatten. Tausendmal tausend Stunden oder noch länger haben sie geschuf-
tet; niemand weiß, warum.« Das Land ringsum war menschenleer. Zwischen den lausenden Steinen schien die Stille zu summen. Es war ein gigantischer Anblick; wir schwiegen verwundert und versuchten uns vorzustellen, was die Erbauer auszudrücken versucht hatten, und warum: In meiner Vorstellung bevölkerten lange Prozessionen seltsam gekleideter, singender Menschen, die unbekannte Feldzeichen ihrer dunklen Vorstellungen trugen, die Räume zwischen den Steinreihen. Oder versinnbildlichten Kreise und Streifen das Bild riesiger Kometen, die furchterregend über den Himmel Larsafs gezogen waren? Abwehrzauber? Beschwörungen des Schreckens? Sperber und Bussarde machten Jagd auf Schwärme kleiner Vögel. Die Ebene war erfüllt vom Rascheln unsichtbarer Tiere und vom rasselnden Zirpen der Myriaden Grillen. Odysseus schüttelte den Kopf und brummte: »Du hast mir gezeigt, daß nicht alles, was um uns und über unseren Köpfen geschieht, das Werk der Götter ist. Aber warum haben Menschen so unendlich viel gearbeitet? Um die Götter zu ehren, sage ich. Denn das ist keine Stadtmauer, kein Tempel.« »Vielleicht um Götter, die wir nicht kennen, zu ehren«, sagte ich und ließ den Gleiter steigen. Aus größerer Höhe waren die drei Bänder aus Steinreihen noch erstaunlicher. Rico hatte sie und einige andere solcher Anlagen zufällig erspäht. 3087 Riesensteine; Ricos Rechenversuche hatten Multiplikationen der heiligen Zahlen 3 und 7 ergeben und einen Rest, 49, also 7 mal 7. »Oder um die Bahnen und Finsternisse von Mond und Sonne auszurechnen. Oder aus Langeweile.« Ich zuckte mit den Achseln und steuerte den Gleiter nach Norden, in großer Höhe auf die Insel zu, zu der ich vor Urzeiten, zusammen mit Kaaper und Asyrta-Maraye gesegelt war, damals, mit der GOLDENEN ZEDER. Ich hob den Kopf und
sah das bleiche Gestirn zwischen weißen Sommerwolken; in drei Tagen war Vollmond. Der Pfad zwischen dem Dorf und dem Heiligtum in der Ebene war ungefähr zweieinhalb Wegstunden lang. Im weiten Umkreis des dreifachen Steinkreises war das Gras von Schafen kurzgefressen worden. Es gab weder große Büsche noch Bäume. Am anderen Ende des Pfades begann ein Wald alter Eichen, aus dessen Lichtung spitze Dächer hervorsahen. Ich riß mich von meinen Erinnerungen los und sagte: »Niemand sieht uns, Odysseus. Aber wir sehen uns alles erst einmal genau an. Das ist die Stelle, an der ich gegen das Wesen von den Sternen kämpfte. Für dich wäre es Polyfems großer Bruder gewesen.« »Meine Welt ist voller Götter, deine voller großer Steine. Diesmal ist es ein Kreis. Näher heran.« »Die Lotophagen haben’s mit Steinen, aber mit feinen Quadern, noch viel höher getrieben. Sieh genau hin.« »Ich sehe immer und überall ganz genau hin!« Wir näherten uns einem Gebilde aus vielen Kreisen, in dessen Mitte ein seltsames Bauwerk aus teilweise behauenen senkrechten Steinen aufragte, die durch waagrecht aufgesetzte Traversen verbunden waren. Dreißig dicke, doppelt mannshohe Baumstämme, bemalt und mit Schnitzereien verziert, bildeten den äußersten Kreis, ein engerer Kreis aus ebensolchen, kleineren Stämmen, auch dreißig, zeichnete den perfekt kreisförmigen Graben nach. Zwischen dem Bauwerk aus bläulichem Stein, der einem Rundtempel glich, und fünf Doppelmegalithen, auf denen Quersteine lagen, wechselten zwei Gestalten weiße und schwarze Steine in kleinen Gruben aus; der Vorgang schien eine Art Berechnung zu sein oder eine kultische Handlung. Die Fünfergruppe öffnete sich nach Nordost, wahrscheinlich zum Sommerpunkt des Sonnenaufgangs.
»Ich weiß nicht, wie man uns empfangen wird, Odysseus.« Langsam steuerte ich auf das Dorf zu. Schafherden, Rotwild und kleine Schwärme wilder Tauben unterstrichen den Eindruck der Friedlichkeit. »Beobachten wir also ein wenig die Siedlung.« »Wenn wir als Halbgötter in einem schwebenden Boot erscheinen, wird man uns mit Ehrentänzen und den besten Bratenstücken empfangen.« »Diese Maskierung bleibt uns immer noch.« Das Dorf aus ungefähr dreißig langen Hütten gliederte sich um einen runden Platz. Dicht hinter den Gebäuden und den Tiergattern begann der Wald. Raben kreisten über der Lichtung. In den Kronen der Eichen hingen wie Vogelnester dicke grüne Gewächse. Wir sahen schlanke Männer und Frauen, hellhäutig, mit braunem oder rötlichem Haar. Einige Feuer, über denen Kupferkessel hingen, brannten in sorgfältig geschichteten Steinfassungen. Die Siedlung, in deren Mitte ein einzelner, besonders prächtiger Baum stand, war überraschend sauber und ordentlich. Wir hörten Rufe und Gelächter, als eine Gruppe Männer, mit Speeren, Bogen und Kupferäxten bewaffnet, zwei erlegte fette Rehböcke aus dem Wald brachten. Hunde bellten laut, einige Kinder liefen den Jägern entgegen. Odysseus verfolgte einige junge Frauen mit seinen Blicken; alle Bewohner waren in grobes, gebleichtes Leinen gekleidet, und viele trugen einfachen Schmuck und beutelartig zugeschnürte Lederschuhe. Die Männer wirkten wie kluge, starke Jäger. Ich versuchte, die wenigen Sätze der fremden Sprache zu verstehen, erinnerte mich an die Zeit mit Häuptling Urger, aber ich begriff nicht viel. Nach der dritten Umkreisung sagte ich: »Es ist besser und sicherer, wenn wir zumindest als mächtige Fremde erscheinen. Dafür ist nachts die beste Zeit. Und mir ist auch ein Gastgeschenk eingefallen. Laß uns ein wenig jagen.«
Der Gleiter schwirrte davon. Wir scheuchten ein Rudel Rotwild auf, und Odysseus erlegte einen jungen Hirsch mit einem einzigen Schuß. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang hob sich der große, volle Mond über die Baumkronen, und vor ihm, für die Dörfler als scharfer Schattenriß zu sehen, schwebte ein Segelboot mit zwei Bogenschützen darin. Als wir den Lärm der Siedlung hören konnten, landete ich das Boot neben dem Pfad zwischen dem Heiligtum, zwei Pfeilschüsse vom Waldrand entfernt. Als wir Mast und Segel geborgen hatten, kamen die ersten fackelschwingenden Dorfbewohner auf uns zu. Wir standen neben dem Gleiter, in purpurgesäumten Chitons und goldbestickten Stiefeln, und auf dem Bug der Maschine lag der Hirsch. Ein weißhaariger Mann trat auf uns zu, und seltsamerweise verstand ich das meiste, was er sagte. »Es hat eine Prophezeiung gegeben, vor vielen Jahren. Wenn der Mond reif geworden ist, kommen Fremde und zeigen den Druiden die Welt.« »Seid ihr Druiden wie die Dryaden, die Baumnymphen unseres Landes?« sagte Odysseus. Noch mehr Dörfler kamen heran und bildeten einen Kreis um uns. Der Greis antwortete mit zitternder Stimme: »Das weiß ich nicht, Herr. Sagt, was wollt ihr bei uns? Wir sind einfache Leute, die Mond und Sterne betrachten und den Lauf der Gestirne vorhersagen wollen.« »Vor langer Zeit kämpfte einer meiner Vorfahren bei eurem Heiligtum«, sagte ich. »So kam ich hierher, an einen Platz, der zerstört war, als mein Ahne euer Land verließ. Mein Freund Odysseus kommt aus dem anderen Meer, weit im Süden. Wir wollen eine Zeitlang bei euch wohnen und zusehen, wie ihr die Gestirne berechnet. Damit niemand hungert, hier – « Odysseus hob den Schädel des Hirsches und zeigte auf das Gehörn. »Unser Geschenk. Wie kommt es, daß wir unsere Worte so
gut verstehen? Eure Sprache hab’ ich nie gehört, und ihr sprecht nicht die meine.« »Unter dem Rabenbaum Odins geschieht Seltsames. Manchmal hören einige von uns fremde Stimmen. Vielleicht erlebt ihr es auch.« Ich schwieg und dachte nach. Hätte ein Dorfbewohner versucht, mich hypnotisch zu beeinflussen, hätte ich es gemerkt. Vielleicht, möglicherweise sogar unbewußt, hatten sie Odysseus das Verstehen erleichtert. Ich wartete, bis sich die murmelnde Unterhaltung beruhigt hatte, und sagte: »Dürfen wir für kurze Zeit bei euch wohnen? Wir haben eine Stoffhütte für uns. Vielleicht können wir euch helfen, beim Berechnen der Bahnen unserer Gestirne.« »Ihr seid willkommen. Vier neue Hütten haben wir gebaut, zwei sind fast fertig; es ist Platz genug. Kommt. Wir bringen euch zum Dorf.« Einige junge Männer trugen die Säcke mit unserem Gepäck, schleppten den Hirsch an einer Stange zwischen sich, und die Fackeln verbreiteten zuckendes Licht und stinkenden Rauch. Als wir einige Dutzend Schritte vom Gleiter entfernt waren, schaltete ich am Armband den Schutzschirm ein. Eine größere Gruppe dieser Siedler, sagte ich mir, hatte seit langer Zeit mit den gleichen maßlosen Anstrengungen das Heiligtum nicht nur wiederhergestellt, sondern verändert und erweitert. Wahrscheinlich erfuhren wir, welche der Steinsäulen und der anderen Markierungen als Visierlinien dienten und wie Sonnen- oder Mondfinsternisse berechnet werden konnten. Odysseus war von jungen Frauen und Männern umgeben und sprach mit ihnen wie mit Leuten von Ithaka. An dem Haus, das nach frischem Holz und Rinde roch, fehlten nur einige Teile des Vordachs. Die Dörfler waren von der schwebenden Erscheinung beim Essen unterbrochen worden. Odysseus und ich waren Gäste des Dorfältesten Marr, dem
Mann, der uns begrüßt hatte. Wir saßen auf Banken an einem wuchtigen Tisch; jede Wand, die wir von hier aus sehen konnten, war voller Geweihe, Schnitzereien, Ketten aus farbigen Holzkugeln und vielen Bündeln aus Gräsern und Pflanzen, die beim Trocknen starke Gerüche verströmten. In den Zweigen der großen Eiche krächzten die Raben. Ich fragte Marr nach dem Leben abseits des Steinheiligtums und erfuhr mehr oder weniger, was ich erwartet hatte. »Keiner kann die Jahre zählen«, so lautete die Erzählung Marrs, vom Essen und vergorenem Honigwein unterbrochen, »die vergangen sind, seit sich einige unserer Vorfahren zusammenfanden und die heiligen Steine brachen. Nach und nach schleppten sie die Steine hierher und richteten sie auf, und niemand weiß, warum auf diese Weise und nicht anders. Als ich jung war, und das ist mehr als sechzig Herbste her, sah das Heiligtum nicht anders aus als heute.« Die klügsten Frauen und Männer des Stammes gaben ihr Wissen an ihre Schüler weiter: Sie heilten Menschen und Vieh mit Hilfe vieler Kräuter, aus denen sie Sude oder, mit Fett gemischt, Salben und Pasten machten. Sie erkannten Krankheiten und behandelten sie unter dem großen Baum; ihnen war die Eiche heilig. Auch um die beste Nacht des Jahres zu finden, in der sie dieses oder jenes Kraut sammelten, errechneten sie die Positionen der Sterne und zählten die Tage der Mondveränderungen. »Von weit her kommen Menschen, oder man bringt sie, damit sie geheilt werden. Wenn wir einmal viele Schüler haben, dann schicken wir sie in andere Dörfer. Die Kranken bringen Geschenke mit; so haben wir ein gutes Leben, und die meisten werden alt ohne Krankheiten.« »Ihr seid also Zauberer, Magier, kundiger als Atlan Iatros?« sagte Odysseus. Er trank einer jungen Frau zu, die sein Lä-
cheln erwiderte. »Ihr wollt euer Wissen auch an andere weitergeben?« »Nicht an alle«, entgegnete Marr lächelnd. »Es wird niemals so viele Druiden geben, daß ihre Klugheit und Heilkunst billig werden. Von den Fähigkeiten, die wir anwenden, und für die man uns Essen und Wohnstatt gibt und andere Geschenke, leben wir.« »Es ist verständlich«, sagte ich und nippte an dem süßen, klebrigen Getränk, das durchdringend nach Kräutern schmeckte, »daß ihr klug und sinnvoll mit dem mühsam Erlernten umgeht. Einmal wird vielleicht der Tag kommen, an dem ein Druide in jedem großen Dorf die Gestirne befragt und den Menschen hilft? Ist es das?« »Das ist es, woran wir denken.« Marr hob das Trinkhorn. Durch das zwei Finger lange Horn schimmerte das Kienspanflämmchen. »Morgen, nach der Abenddämmerung, versammeln wir uns am Heiligtum. Alte und junge Druiden. Dann könnt ihr zusehen, wie wir die Sterne befragen.« »Wir werden euch zusehen«, sagte Odysseus. »Auch wir, die Fremden im Boot ohne Wasser, können nicht genug lernen.« Um Mitternacht holte sich Odysseus den Handscheinwerfer. Ich schaltete den Schutzschirm des Bootes aus und sah zu, wie er und die junge Frau hinter dem geisternden Lichtkegel aus der Siedlung stolperten. Am nächsten Tag hörten wir, wie die Druidinnen und Druiden ihr Wissen weitergaben: In scharf betontem Sprechgesang lehrten sie ihre Schüler lange Merksätze, die nachgesprochen und auswendig gelernt wurden. Es war zeitweilig ein Kurs in einfacher, archaischer Psychologie. Die Schüler lernten, wie man die Gedanken anderer »lesen« konnte, wie die Reaktionen kranker und ratsuchender Menschen aussahen, was allein durch die richtige Wahl der Worte und einfaches Handauflegen geschehen konnte, und wie man Menschen in Schlafstarre
versetzen, also hypnotisieren konnte. An all dem war nichts Magisches, sondern nur das konzentrierte Wissen und die Ahnungen, die auch anderen Menschen zugänglich waren. Abends schlossen wir uns den Druiden, ihren Schülern und zwei Dutzend Dorfbewohnern an, die in langer Prozession zum Heiligtum gingen. Einige Männer hielten weiße Holztafeln, auf denen mit fettem Ruß Zeichen und Zahlen geschrieben waren. Eine Handbreit über dem Boden lag eine dünne Nebelschicht, in der am Fuß der Felsblöcke harzige Kienspäne und Fackeln brannten. Druiden und Schüler wanderten zwischen den Steinbauwerken umher, oder sie sangen, kauerten und standen hinter einzelnen Säulen und visierten einzelne Sterne an. Der Mond schob sich über die Szene; er war nun völlig rund. Der dumpfe Sprechgesang hallte über die Ebene, die Sterne blinkten, und es geschah nichts anderes, als daß sich unsichtbare Geraden zwischen einzelnen Druiden, über Holzpfeiler, Steinmarkierungen und vage Schatten hinweg, und einigen Sternen spannten. Langsam kroch die narbige weiße Scheibe vor den Sternbildern durch den Himmel. In den Flammen brannten und schmorten Kräuter und verbreiteten sinnverwirrenden Rauch; Odysseus, die junge Frau – sie hieß Ilaro – und ich zogen uns aus dem Steinkreis zurück. In der Umgebung suchten einzelne Frauen bestimmte Pflanzen und schnitten sie mit Messern und Sicheln. »Wenn ich richtig gesehen und nicht falsch nachgedacht habe, dann tut die feierliche Versammlung nichts anderes als das, was auch bei uns geschieht. Oder siehst du irgendwo ein Wunder oder die Zeichen der Götter?« Ich hob die Schultern und lehnte mich an die Holzsäule. »Ich kam nicht hierher«, sagte ich nachdenklich, »weil ich auf Wunder gewartet habe. Es ist aber wunderbar, zu erleben,
daß irgendwo auf der Welt nicht gekämpft und getötet wird. Sondern daß sich Lehrende und Lernende finden, die anderen Menschen helfen. Vielleicht wollte ich das erleben und dir zeigen.« Wieder begannen die Sternrechner zu singen. Der Mond schien die Oberkanten einiger Holzsäulen zu berühren und auf den waagrechten Decksteinen entlangzurollen. Odysseus zog die Frau an sich und streichelte ihre Hüfte. »Das ist gelungen«, brummte er. »Und nun hab’ ich’s gesehen; mir scheint, daß es nachts viel Angenehmeres zu tun gibt, als die Sterne anzusingen. Komm, meine rothaarige Zauberin!« Er zog die Frau zum Boot; es war nicht zu erkennen, wer von beiden es eiliger hatte. Ich blickte ihnen lachend nach und wartete auf Marr, der in der Mitte des innersten Steinkreises von einer Markierung zur nächsten schritt, einen Stern anvisierte und Zeichen auf das Brett malte. Plötzlich war er verschwunden. Der Gesang schwoll an, riß ab, und eine ältere Frau, die einen mit Kräutern gefüllten Korb trug, verschwand vor meinen Augen; sie hatte zwischen zwei senkrechten Steinsäulen gestanden. Ich spürte, wie sich die Härchen an den Unterarmen aufstellten. Der Extrasinn flüsterte: Wenn du das Richtige gesehen hast, dann ist es ein einzigartiges Phänomen. Ich rührte mich nicht, meine Gedanken überschlugen sich, und noch einmal hallten die dunklen Gesänge laut über den verschwelenden Fackeln. Ich bohrte meine Blicke in das Gemenge aus zuckendem Licht, tiefen Schatten und dünnem Nebel. Als der Gesang abriß, verschwand eine zweite Frau. Deutlich sah ich dort, wo sie sich eben noch aufgehalten hatte, den Lichtschein auf dem schartigen Stein. »Atlan«, murmelte ich. »Du hast also doch ein Wunder erlebt.« Ich ging langsam zum Dorf zurück und suchte erfolglos den
alten Marr. Die Namen der zwei Frauen kannte ich nicht. Ich streckte mich auf dem Lager aus Laub, Heu und Decken aus, verschränkte die Hände im Nacken und dachte über das Gesehene nach. Hatte es Einfluß auf mich, auf die Barbaren dieser Welt oder auf deren Geschichte? Beim Versuch, es zu bejahen oder zu verneinen, schlief ich ein und wachte erst gegen Morgen auf, als Odysseus sich geräuschvoll zum Schlafen fertigmachte. Marr preßte die Handflächen gegen den Stein. Sein Blick richtete sich zwischen Pfeilern und Holzsäulen hindurch auf die Rauchsäulen am Waldrand. Dann sah er mich an und sagte leise: »Deine Augen haben dich nicht betrogen, Fremder Atlan. Du hast richtig gesehen, daß es dreien von uns gelingt, den Ort zu wechseln, ohne zu gehen oder gar zu fliegen. Aber nur in Vollmondnächten. Und nicht immer; eine seltsame Gabe. Geheimnisvoll ist nichts daran, wir fanden diese Gabe wie einen großen Pilz oder eine seltene Mondblume. Und wir können damit nichts anderes anfangen, als unsere Fußsohlen zu schonen.« »Ihr könntet leicht und schnell zu weit entfernten Siedlungen… springen. Und zurück.« »Was sollten wir an Orten, die wir nicht kennen?« »Das ist auch eine Antwort.« Ich lachte. »Ihr könnt diese Gabe euren Schülern nicht beibringen?« Marr schüttelte lächelnd den Kopf. »Vielleicht wandere ich eines Tages weit ins Land. Oder an die Küste. Dann finde ich leicht und schnell nach Eichenhain zurück.« »Nur ihr drei habt diese Gabe?« »Nur Alla, Gröne und ich.« Er löste sich vom Megalithen, und wir gingen durch das
kurze, taufeuchte Gras zum Boot. Vom nächtlichen Treiben ums Heiligtum gab es keine Spuren mehr. Odysseus und Ilaro saßen im Heck und tranken Wein. Ich setzte mich auf die Bordwand und sagte: »Wenn es nach dir geht, o Freund rothaariger Frauen, bleiben wir noch einige Tage im gastfreundlichen Dorf?« »Einige Tage, ja. Und ein paar Nächte, Toxotes.« Wir genossen die sommerliche Ruhe des Dörfchens Eichenhain ein Dutzend Tage und Nächte und erfuhren mehr von den Künsten der Druiden, die aus Früchten, Zapfen und Wurzeln, Blüten und Beeren, aus Honig, Butterfett und eingedicktem Sud viele Heilmittel mischten. Die Hälfte der Bewohner half bei der Suche und der Zubereitung von Salben und Tinkturen, die in Holzgefäßen und Tonkrügelchen verschlossen aufbewahrt und gegen Essen, Honig und Metallwerkzeuge eingetauscht wurden. An einem Abend kam Odysseus in unser Haus, das Haar voller zerbröseltem altem Eichenlaub, die Unterarme von Dornen zerstochen. Er ließ sich auf einen Schemel fallen und stöhnte. »Ich hab’ nie gedacht, daß du von der Liebe zu langhaarigen Druidinnen genug haben könntest.« Ich bot ihm kalten Sud an, mit Wein verbessert. »Willst du nun sehen, wie Berge aus Eis im Meer schwimmen, oder bist du der heißen Liebe von weißhäutigen Frauen noch nicht müde?« »Ich bin todmüde.« Er trank in langen, gierigen Schlucken. »Diese Ilaro! Feurig wie die Farbe, die ihr Haar hat. Zuviel für einen jungen Mann an der Schwelle zum Greis, der ich bin. Laß uns gehen, Atlan.« »Geheimnisvoll, wie wir gekommen sind?« Er deutete nach draußen und setzte den Holzbecher ab. »Vor dem Morgengrauen, Atlan. Geh du zum Boot. Ilaro will mit mir im Waldsee baden und meine Kraft mit magischen Tränken stärken. Ich brauche viel magischen Trunk, glaube
mir.« »Einverstanden. Ich warte eine Stunde vor Sonnenaufgang im Boot. Wir verlassen Eichenhain lautlos und unsichtbar.« Er nickte und hielt mir den Becher entgegen. Ich füllte ihn und mußte grinsen, als ich sah, wie Müdigkeit und Leidenschaft in ihm einen stillen Kampf ausfochten. Er stand auf und ließ seine Muskeln spielen. »Ein Bad, deine weiße Salbe für den Bart, eine Stunde schlafen; dann bin ich für die letzte Nacht gerüstet. Ich werde nur die flammenlose Lampe brauchen, Freund. Und sag’s niemandem, auch Ilaro nicht.« »Keine Sorge. Das Gepäck schaffe ich weg.« Er leerte auch den zweiten Becher, wickelte die Paste, eine Bürste und den Spiegel in weiße Tücher und hob den Handscheinwerfer auf. Auf den Holzstufen vor dem Eingang stolperte er, fluchte und ging zum Quellbrunnen. Ich packte unsere Ausrüstung in die ledernen Säcke und flog, als es Nacht geworden war, im Schutz des Deflektorfeldes und mit dem Antigravgerät zum Boot. Danach aß ich bei Marr; wir redeten, bis er blinzelte und gähnte. Ich räumte den Rest Gepäck, darunter einige Töpfchen voll stark riechender Arzneien, zusammen und schwebte lautlos wie eine Eule über die Lichtung und zum Boot. Odysseus ließ auf halber Strecke den Scheinwerfer blinken, und ich schaltete die Gleitermaschinen an. Er kletterte über die Bordwand, wickelte sich in seinen Mantel und setzte sich neben mich. »Ich fühl’ mich wie nach Ilions Fall. Aber viel besser. Schon gestern hat sie gewollt, daß wir sie mitnehmen zu den Inseln der Sonne – flieg zu den schwimmenden Bergen aus Eis, o geduldiger Freund.« Der Gleiter hob sich, drehte den Bug nach Norden und entfernte sich von Eichenhain und dem Sternenheiligtum. Ich schloß das Schirmfeld über uns, setzte die Geschwindigkeit
herauf und jagte, während die Sonne aufging, auf den Rand der eisbedeckten Insel zu; dorthin, wo Teile der mächtigen Gletscher abbrachen und von den Strömungen nach Süden getragen wurden. Der Anblick des scheinbar unendlichen Meeres, des erdumspannenden Okeanos, der Donner losbrechender Eisberge und die schwimmenden weißen Felsen hatten Odysseus nachdenklich gemacht. Stunden um Stunden flogen wir nun nach Süden, betrachteten Land, Wasser und Küsten, rasteten und näherten uns der kleinen grünen Insel an der Kante des Festlandes. In den vielen Stunden, in denen Odysseus schlief, sprach ich mit Rico. Er bereitete vor, was ich wünschte, und als ich den Gleiter durch die weit offenen Tore des Hangars steuerte, empfing er uns. Bevor er die Lotosesser wirklich kennenlernen wollte, so lautete der Wunsch meines Reisegefährten, wollte er zuerst nach Ithaka. Ich brachte ihn zur Insel, setzte ihn ab und versprach, ihn in zwanzig Tagen abzuholen; jetzt, im Paophi, bedeckte das Schlammwasser Jotrus das Hapiland. Es war die schlechteste Zeit zum Reisen. »Asenpuerre, du kennst den Namen, ist einer von UserMaat-Rês Baumeistern, wird einen neuen Schreiber bekommen, den ich auswähle«, sagte Rico. »Schreib einen Brief, Atlan. Der bauwütige Gottesherrscher bekommt ihn zuverlässig.« »Hast du, weitab von seinen prächtigen Palästen, ein Häuschen gefunden?« »Alles ist bereit; ich denke, es entspricht deinen Wünschen. Ich kenne, Atlan-Rê-Anhetes, deine Vorstellungen über das Leben und Wohnen im Hapiland sehr genau. Wer würde sie besser kennen?« »Wieder einmal hast du alles fein errechnet und geplant.« Der Gottesherrscher des Hapilandes, Enkel des Menpehtire und Menmares Sohn, ließ zwischen dem ersten Katarakt und
den Städten im Mündungsgebiet, im Land der Binse, zahlreiche Tempelanlagen, Stadtteile und Paläste errichten, seit rund zwölf Jahren schufteten Hunderte von Baumeistern, Steinmetze und Arbeiter an jener Anlage, die oberhalb des Katarakts hundertzwanzig Ellen tief in den Fels des Bergmassivs wuchs. Die vier fast siebzig Ellen hohen Sitzstatuen, die seine Züge trugen, waren fertig, und ein System von Hallen und Kammern wurde aus dem Berg herausgemeißelt, einen Steinwurf daneben der kleinere Tempel seiner Großen Königlichen Gemahlin Nefertari.
26. Am Beginn des Athyr lastete die größte Hitze des Jahres über dem Meer und dem Mündungsdreieck. Nur der Tageswind aus Nord, der unser Segel blähte, brachte etwas Kühlung. Die TOXEUMA, unser Boot, segelte langsam, ohne Unterstützung der Maschinen, hapiaufwärts; wir näherten uns der Residenzstadt Pi-Ramesse. »Der Herrscher ist Vertreter der Götter«, sagte ich. »Er hat fünf verschiedene Namen, die seine Macht und Kraft versinnbildlichen: einen Thronnamen, Geburtsnamen, Namen der beiden Herrinnen und so weiter. In einer großen Schlacht hat User-Maat-Rê das Volk von Kadesh besiegt und ließ den Triumph in die Mauern seines Tempels einmeißeln. Usermare, Meri-Imeni oder Setepenre besitzt unzählige Frauen und Nebenfrauen; sein Frauenhaus ist groß und wohlgefüllt. UserMaat-Rê, nicht jünger als sechsundvierzig, regiert in seinem 28. Jahr. Er hat eine göttliche Erscheinung gehabt und wird uns mit überschäumender Gastfreundschaft empfangen.« Odysseus hatte schweigend zugehört und betrachtete beide Ufer. Die ersten Felder und Gehöfte Pi-Ramesses schoben sich
hinter den wuchernden Streifen der Binsen und des Schilfs hervor. Losgerissene weiße und blaue Lotosblüten trieben am Boot vorbei. »Die Insel der Lotosesser«, meinte Odysseus nachdenklich, »war ganz anders. Ich hab’ die Küste angesehen; es war auch nicht hier bei den Mündungen.« »Ich zeige dir die wirklichen Lotosesser; sie schmücken sich damit, essen aber keine Blüten.« Im Schilf, dessen Halme voller trockenem Schlamm waren und die Höhe der Überschwemmung zeigten, stakten Fischer und Entenjäger. Noch waren die meisten Felder überflutet, und die Aussaat konnte nicht beginnen. Viele Menschen arbeiteten an Kanälen und den unzähligen Schleusen und Wassersperrungen. Ich deutete auf Tempelfassaden und bunte Palastwände. Eine Mauer trennte einen Stadtteil vom Flutschlamm. »Wohin fährt die TOXEUMA?« »Wie du siehst: hapiaufwärts. Zu einem Gutshof, der keinen Verwalter hat. Dort können wir bleiben, so lange, wie es uns gefällt.« »Wie lange wird es dir gefallen?« »Länger als ein halbes Jahr.« »Gut. Ich habe, bevor ich den kleinen Abschied von Penelopeia nahm, mit zwei Handelskapitänen gesprochen. Sie schicken Boten überall hin, und die werden viele Fragen stellen. Vielleicht finden sie Aieta und deinen Sohn.« »Ich danke dir, mein Freund. Weißt du, was ich glaube?« Er schüttelte den Kopf und verfolgte mit Blicken eine Kette Enten, die quakend und mit wilden Flügelschlägen ins Schilf einfiel. Hinter den Reihen von Palmen und Binsenmarkpflanzen, die aussahen wie stachelige Kugeln an langen Stengeln, ragten Wände voller Bilderschrift auf und lange Stangen, an denen farbige Stoffbahnen im Wind schaukelten.
»Woher könnte ich es wissen? Du ergehst dich nicht gerade in lauten Gesprächen über deine Gedanken.« »Ich versuche, zu denken, ehe ich rede: Ich glaube, daß Aieta und Toxatlan in der großen Zahl der Menschen untergegangen, in ihr aufgegangen sind. Die Frau wird sich einen Mann genommen haben, und mein Sohn streift durch die Welt und sucht sein herrenloses Fürstentum.« »Vielleicht ist es so.« Ich steuerte die TOXEUMA an einer langgezogenen Sandbank vorbei. »Inzwischen ist ein Bote, dem wir zur höheren Einsicht verholfen haben, im Palast. Der Tatji des Gottesherrschers wird andere Boten dorthin schicken, wo wir in zwei Tagen anlegen. Er muß vor uns dort eintreffen.« »Wir werden genug Zeit haben, über alles, was wir erlebt haben, nachzudenken und zu reden?« fragte Odysseus. »Verlaß dich drauf. Wir werden Ruhe und Sonne, feines bitteres Bier, Musikantinnen und Tänzerinnen haben. Und du wirst ein Land kennenlernen, das ich in mein Herz geschlossen habe – trotz des einen oder anderen Makels.« »Du wirst mir sagen, was ich tun muß.« »Das werde ich.« Vorbei an großen Schiffen, die an Land gezogen worden waren, an Staubwolken, die von den übenden Kampfgespannen kamen, gegen die Strömung und fast unmerklich langsam aus der großen, völlig ebenen Fläche des Dreiecks hinaus fuhren wir aus dem Land der Binse in das der Biene. Markierungsstangen begrenzten den wirklichen Lauf des Mündungsarms; schließlich weitete sich das Land, und wir fuhren auf MenefruMirê zu. Mein Sohn war verschollen. Ich kannte drei Barbaren, die über die Gabe der kontrollierten Ortsveränderung durch distanzlosen Schritt verfügten. In Odysseus’ Heimat begann sich aus
dem harten attischen Dialekt eine schöne Sprache herauszubilden, deren Feinheiten, in manchen Wortfamilien hörbar, schon durchschimmerten. Ich dachte, unter dem Sonnensegel auf dem Dach des Wohnhauses liegend und die warmen Wohltaten der Sonne auf der Haut genießend, an den Seher Kolchis. War er ein Mutant, ein Androide, eine Gestalt, die ES auf meinem Weg postiert hatte? Oder wirklich nur der einfache weißbärtige Seher aus dem verwüsteten Ilion? Ich wußte es nicht einmal ansatzweise. Ich hob den Kopf und hörte, wie Odysseus den Sklaven und Dienern im Garten – Palmen, Wein, Gemüse, Kürbisse und Zwiebeln – Anweisungen gab; von Landarbeit verstand er viel. Was willst du hier, Arkonide? Was willst du tun? fragte der Extrasinn. Für mich stand nur fest, daß ich nach achtzehn Monden wieder neben Charis und den anderen, meist Unbekannten, schlafen würde. Du bist frei, an keinen Auftrag oder an den Zwang von ES gebunden. Vasall der Menschheit, Vater der Barbaren – nütze diese Zeit! In User-Maat-Rê fändest du einen Herrscher, der jedes seiner Worte in Taten umsetzt. Ich hob den Henkel-Krug aus dem kühlenden Wasser, nahm einen Schluck und grinste. Aus dem Küchengebäude hörte ich das Knirschen der steinernen Kornmühle, deren Verwendung schlagartig vier mühselige Arbeitsschritte erspart hatte: das Mörsern der Körner, die Trennung von Schrot und Spelzen und das Zerreiben des Schrots zu immer feinerem Mehl, und das wiederholte Sieben. »Einverstanden, Extrasinn«, murmelte ich. »Aber auf meine Art. Das bedeutet, daß ich Einfluß nehmen kann auf UserMaat-Rê, seine Priester und Vordenker.« Seit einem halben Mond wußte zumindest der Tatji des göttlichen Herrschers, daß wir im Haus des Fürsten des Messergaues wohnten. Das Verhalten meines Freundes Odysseus gab mir einige Rätsel auf. Er schien während und besonders nach
unserer weiten Reise nachdenklich geworden, stundenlang in sich gekehrt; er hatte zuviel gesehen und konnte nicht mehr so unbefangen und eingeengt in den Erkenntnisgrenzen seiner drei Inseln bleiben. Er stellte nicht nur mir unablässig Fragen und dachte lang über die Antworten nach. Dank der Hypnoprogramme der Psychosonde benutzte er die Hapilandsprache fast perfekt. War schon meine Maske, meine Rolle, in meinen Überlegungen nicht klar definiert, so schien er sich halbwegs überflüssig zu fühlen, was für seinen rastlosen Verstand sprach. Der Listenreiche hatte das pfadlose Land der Nachdenklichkeit betreten. Wieder grinste ich und trank Henket. Heri-Mentet, die junge Aufseherin aller gaufürstlichen Vorratskammern, kam langsam die Treppe herauf, eine SusenLotosblüte im Stirnband des kurzen Kraushaars, setzte sich auf den Schemel und blickte mir lange in die Augen. »Herr«, sagte sie und zeigte lächelnd ihre schneeweißen Zähne. »Ich kenne dich nicht lange, und nicht gut, aber wenn du deinen Blick über den Jotru hinweg nach Westen lenkst, habe ich die Wahl zwischen Staunen und Nachdenklichkeit. Vater der Einfälle: welches Ei brütest du aus?« »Ein kleines Ei, schönste Ebenholzhäutige.« Ich richtete mich auf. »Ich kenne Sternbilder und ihre Namen, kenne andere Namen für fremde Sterne. Du kennst User-Maat-Rês viele Kleine Königinnen. Ich will mit ihm und seinen wichtigsten Beratern, in einem Mond, über Götter, Sterne und die Herrscher im Per-Ao sprechen, und bis dahin werde ich eine Mauer aufrichten und mit Bildern schmücken. Sprich mit den richtigen Frauen, damit sie mit den richtigen Männern sprechen.« »Das ist nicht einfach, Neb Rê-Anhetes.« »Wäre es einfach, würde ich dich nicht bitten müssen. Ich kann sicher sein, daß die Priester die Bilder als erste sehen, ohne daß man sie einlädt.« Sie legte die schlanken Hände auf meine Knie und nickte
mehrere Male schweigend, dann flüsterte sie, ein wenig lispelnd: »Ich rede mit allen Frauen und Männern aus Kush, die meine Sprache verstehen.« »Ich danke dir, Heri-Mentet.« Jenseits der Mauer, die das Gelände des Gutshofes zur Wüste im Osten hin schirmten, trockneten viele Dutzend Reihen dunkelbrauner Lehmziegel in der Sonnenhitze. Nachts schwebten einige Roboter heran, zogen einen tiefen Graben im Sand, legten lautlos ein dreißig Ellen langes Fundament aus Sandstein und schichteten Ziegel aufeinander, verbanden sie mit einem Gemisch aus Lehm, Schlamm, Sand und gehäckseltem Binsenstroh. So entstand eine leicht geneigte, trapezförmige Wand, ohne daß die Schnelligkeit auffiel, mit der die Mauer erstellt wurde; tagsüber arbeiteten nur einige Diener des Gutshofes daran. Einmal nachts schwebte ich nach Menefru-Mirê und suchte zwischen den Teilen uralter, halbwegs neuer und solcher Gebäude, die User-Maat-Rê hatte errichten lassen; die hohen, dicken Steinsäulen voller »Götterworte« und Bilder standen noch: Die Säulen der Ewigkeit hatten die Jahrhunderte überdauert und wirkten, als würden sie ausgebessert und gelegentlich frisch gemalt, vergoldet und nachgemeißelt. Auf dem Rückflug dachte ich an Narmer-Meni und seine Schwester; ich war seltsamerweise beruhigt und zufrieden. Die Mauer wuchs, ihre Vorderfront wurde weiß, und Rico übermittelte mir das Bild der größten, mit bloßem Auge sichtbaren Sterne über dem Hapiland und die von mir entwickelten Symbole von sieben Planeten dieses Systems. Odysseus betrachtete die Bilder mit gemäßigter Zurückhaltung. Ich sagte, die Hand auf seiner Schulter: »Jeder noch so lange Weg beginnt mit kleinen Schritten. Erinnere dich: Vor zwanzig Jahren suchte ich den Schlüssel zum
Olymp. Wenn alle Menschen diesen Schlüssel kennen, mag es sein, daß einer oder der andere den Olymp erklimmt.« »Du, Atlan?« »Ich wäre in der ersten Gruppe.« »Morgen, in zehn Jahren, oder wenn wir alle Asche geworden sind?« »Niemand weiß es, Odysseus. Aber nicht morgen. Und nicht in zehn Jahren.« Heri-Mentet, die meine Nächte teilte, streute Halbwahrheiten und Gerüchte aus. Ein kreisförmiges Bild entstand, in das die Himmelsbahnen der Planeten samt der scheinbaren Schleifen eingezeichnet waren. Ich hatte ein einfaches Modell des Planetensystems entworfen, in dem sieben Planeten und fünfundvierzig Götter des Hapilandes ihren Platz und ihre Bedeutung hatten. Tagsüber zeichneten und malten Rômethandwerker, nachts verbesserten die Roboter die Bilder, die binnen weniger Jahre mit dem Lehmziegelbauwerk zusammen vergangen sein würden. »Die Sterne, Atlan. Warum tust du das alles?« »Weil die Sterne der Anfang und das Ende sind, vor Ilion und an jedem anderen Ort unserer Welt und auf vielen anderen Welten.« Er dachte lange nach und nickte. »Du denkst – nein, du bist sicher! –, daß diese Lotosesser, all die Menschen, ihre Ziele und ihre Bestimmung dereinst in den Sternbildern oder zwischen ihnen finden werden?« »So ist es, Odysseus«, sagte ich voller Ernst. »Deswegen sind wir hier. Deswegen habe ich dir so viele seltsame Orte gezeigt.« In meinem kühlen Arbeitszimmer entwickelte und besprach ich einen langen, logisch klar gegliederten Text für eine Hypnoschleife und programmierte zwei starke Psychostrahler. Im Glauben der Rômet war der Sonnenuntergang der Beginn der
Reise zu den Toten, zugleich der Beginn der Nacht, in der Gestirne und Mond sichtbar wurden. Die Sonne, die den Blicken entschwand, trug ihr Licht ins Totenreich, aus dem sie jeden Morgen wieder aufstieg, nachdem sie verjüngt worden war. Aus dieser Gesetzmäßigkeit sog jeder Rômet die Sicherheit, daß der Tod nur ein Schreiten zu neuem Leben war. In der Nähe der Sternenmauer breitete sich das hypnotische Feld aus, das die Gedanken der Betrachter fing und in bestimmte Bahnen lenkte: Über der Flut des Urozeans Nun standen, nachdem Göttin Nut die Sonne verschluckt hatte, die ewigen Sterne, zwischen denen, um die kreisende Sonne herum, sieben Planeten ihre Bahnen zogen; andere Welten als die des Hapilandes. Sie zu besuchen, lohnte sich – in Gedanken, in der Phantasie. Die wichtigsten Männer im Land Amenti am Hapi, von Meer und Wüsten wie von Mauern umgeben, sollten über diese auch selbstgewählte Grenze hinübersehen, nicht nur in Form von Abwehrkämpfen, wie es die Schlacht um Kadesh gewesen war. Sehnsucht nach fernen Welten sollte dieses hypnotisch pulsierende Feld erwecken, nach Abenteuern jenseits der Horizonte. In farbigen Bildern und Schriftzeichen, genauso wie die Malerei an Tempeln, Säulen, Kapitellen und Säulen, waren die sieben Jenseitswelten geschildert; einige Vorlagen stammten aus Dokumentationen der Arkonflotte. Wie viele meiner kulturellen Denkanstöße war der Versuch nicht mehr als ein winziger Schritt. Die Kornmühle und die Siebe aus Kupferdrähten bedeuteten mehr. Sklaven, Diener und Arbeiter des Gutshofes waren die ersten, die staunend die Bilder betrachteten und nach einer Weile, leise miteinander redend, an ihre Arbeit zurückkehrten. Zwei Tage danach kamen vier Priesterschüler, daraufhin pilgerten kleine Gruppen älterer Priester herbei, und nach einiger Zeit fuhren Pferdegespanne heran, und die Soldaten trugen uralte, in Leopardenfelle gekleidete Hohepriester zur Bilderwand.
Vielleicht hatte auch schon der Herrscher davon gehört und entsann sich seines Erlebnisses im Tempel. Ich setzte den Feldstecher ab und verließ das Dach. Der Extrasinn flüsterte: Glaube nicht, daß sich in diesem Land schnell etwas ändert. Vielleicht nur das Wirken einiger zusätzlicher Götter. Ich wartete auf den Tag, an dem User-Maat-Rê in den Bann der Bilder und des Hypnofeldes kam, und mit dem Mißtrauen der Priester hatte ich zu rechnen, seit die uralten Männer weggefahren worden waren. »Frühe Druiden in Stonehenge, die rätselhaften Menhirsetzungen in der Bretagne, und jetzt Ramses der Zweite«, murmelte Cyr und zog die Schultern hoch. Die Holoprojektionen zeigten Tempelbauten aus der Zeit dieses Pharao: Hoch über dem Stausee jenseits des ersten Nil-Katarakts standen die geretteten Felsbauwerke im Schutz des künstlichen Hügels und sahen über die endlose Fläche des Sees hinweg. »Beide schlafen tief im Wasser begraben: Ne-Tefnacht im Fels unter dem Tempel, der jetzt überflutet ist, und Atlan am Fuß Sao Miguels.« 1264/63 v.d.Z. hatte Atlan, unbeeinflußt von ES, eineinhalb Jahre lang seine eigenen Erlebnisse geplant. Cyr überdachte das Gehörte und seine Notizen. Nicht die Existenz, sondern die Magie der Druiden war in der terranischen Geschichtsforschung wenig ausführlich erforscht worden. Es rankten sich zu viele Fragwürdigkeiten um das angeblich tiefe, geheimnisvolle Wissen, das ihnen von späteren Anhängern angedichtet worden war: Schamanismus, Heilkunde, größere Kenntnis der Welt als die Menschen der ausgehenden Bronzezeit indessen setzten die Wissenschaftler voraus. Jetzt war bewiesen, daß Atlan drei Teleporter getroffen hatte – frühe Mutationsfähigkeiten der Larsaf-III-Barbaren. Cyr erlaubte sich, während der Arkonide augenscheinlich Kraft
schöpfte für den letzten Teil seines Berichts, ein breites Grinsen: Der fünfzigjährige Odysseus hatte eine zweite, kontrolliert verlaufende Odyssee im Jahr 29 von Ramses II. erlebt und genossen. Er notierte weiter: »Robot« findet sich als »Schwerarbeit, Frondienst« schon im Altkeltischen; welche Sprache hatten die Eichenhain-Druiden? Odysseus nannte das Gleiterboot TOXEUMA, also Pfeil. Ramses II. (1290 bis 1224 v.d.Z.) regierte 66 Jahre, wurde ca. 82 bis 85 Jahre alt; baute ab ca. 1250 die Tempel von Abu Simbel; ein Bauwütiger. Schlacht gegen die Hethiter bei Kadesh. Mehr als 100 bekannte Söhne u. Töchter! Erst Merenptah, 13. in der Reihe der möglichen Thronfolger, wurde neuer Pharao. Die anderen starben früh. »Die Klarheit der Historie wird verzerrt, wenn sie den Rückblick auf die zukünftige Verselbständigung von Symbolen wagt. Sagt Friedrich Nietzsche. Kryptisch! Wie meint er das?« brummte Cyr. Atlans selbständiger Ausflug: 6736 NUvA = 1264 v.d.Z.; Wiedereinschlafdatum: 6737 + 6 Monde NUvA = 1262,5 v.d.Z. Cyr warf einen langen Blick auf den Körper, der in einem temperaturisolierenden Antigravgitter lag, röhrenförmige Vibrationseinheiten über den Muskeln, noch immer unter der SERT-Haube. Der Historiker ging schnell ins Bad, kühlte seine Augen, sprühte viel Nährfluid auf die Augäpfel und brummte: »Dakrylogie, die Wissenschaft von den Tränen, geht jetzt wohl auch mich an. Wie wird das enden, mit meinen Augen?« Er setzte die dunkle Brille auf und eilte zurück. Die ersten Buchstaben gliederten sich auf dem Stimmprinterfeld zu Worten und Sätzen. Als Cyr den Blick auf seine Monitoren richtete, strahlten sämtliche hellen Bildteile und alle Kontrollfelder auf, schienen zu glühen, und um jeden der vielfarbigen Punkte bildete sich ein Halo, breitete sich aus, die vielen Strahlenkränze wuchsen aufeinander zu und vereinigten sich zu einem regenbogenfarbigen Blitz, der Cyr blendete und tödlich er-
schreckte. Vor seinen Augen wirbelten Funken, und langsam kroch vom Rand des Blickfeldes Dunkelheit heran, überschwemmte die Augen; Cyr fühlte, wie die eisige Kälte der Furcht sein Rückgrat hinunterkroch. Im Morgengrauen des 20. Tages Tybi rüttelte mich HeriMentet an der Schulter und flüsterte: »Neb Atlan. Ein Bote wartet. Er kommt aus dem Per-Ao. Er hat einen wichtigen Ausdruck im Gesicht.« »Wo sollte er ihn auch sonst haben«, murmelte ich und schwang mich von der Liege. »Gib ihm Brot und Henket, ja?« »Er ißt und trinkt schon, mein Fürst.« Ich schloß den breiten Gurt über dem Schurz und schlüpfte in die Sandalen. Als ich in die Halle kam, zog Odysseus die Binsenrolle zwischen den Mauern hoch, gähnte und blinzelte und sah zu, wie der Bote mir eine schmale Shafadurolle überreichte, die mit Golddraht umwickelt war. Ich zog das Binsenmarkblatt auseinander und las: USER-MAAT-RE; DER STARKE STIER IM PALAST, ER LEBE EWIGLICH, LÄSST AN DEN GAST IM HAPILAND FOLGENDES SCHREIBEN: SEINE GÖTTLICHKEIT HAT ERFAHREN, DASS DU DIE GÜTER DES GAUFÜRSTEN SO GUT VERWALTEST, ALS WÄRE ES ZUM LOBE DER GÖTTER. UM DAS WORT DER GÖTTER ZU ERFÜLLEN, WIRD DER GROSSE LIEBLING DER GÖTTER IM PALAST MIT DIR REDEN. KOMME IN DREI TAGEN VIER STUNDEN VOR SONNENUNTERGANG INS GROSSE HAUS: DIES HAT BAUMEISTER ASENPUERRES SCHREIBER APUKI GESCHRIEBEN. »Geh oder paddle zurück zum Palast«, sagte ich, »und ich gehorche, mit meinem Freund, voller Freude dem Befehl des Herrschers. Wir sind pünktlich, Bote.« Er verbeugte sich tief und schluckte den letzten Bissen des
Brotes aus Datteln, It, Beti und Sut herunter, aus Gerste, Spelt und Weizen. Ich grüßte ihn und lächelte Odysseus und der Tänzerin zu, die ihren Kopf über seine Schulter lehnte. »In drei Tagen, vier Stunden vor der Abenddämmerung, mein Freund«, sagte ich leise. »Wir werden auftreten wie Halbgötter; versuche, den Unterschied zwischen diesem Land klar zu erkennen und den Orten deiner Irrfahrt und unserer Reise. Und nun… Müdigkeit spricht beredt aus unseren Zügen; schlafen wir noch ein paar Stündchen.« »Gutes Wort zur viel zu frühen Stunde.« Odysseus grinste, ließ die Schnur los, und die Binsentrommel rollte sich nach unten aus. Man hätte nur das Ablegen unseres Bootes und das Anlegen im Hafen von Pi-Ramesse beobachten können: Der Flug vollzog sich im Schutz des Deflektorfeldes. Nefrure, die Gefährtin meines Freundes, er und Heri-Mentet waren gekleidet, geschminkt und geschmückt, als gelte es unser Leben. Ich steuerte das Boot durch den gekrümmten Kanal ins viereckige Becken des Palasthafens und schaltete in der Passage unter Sykomoren und zwischen Schilfmauern den Deflektorschirm aus. Der Anblick war mir vertraut; in den Augen und Gesichtern meiner Begleiter sah ich das Leuchten der Überraschung. Lange Doppelreihen von Soldaten standen zwischen den Anlegestellen, quer durch die Gärten, bis zu den prunkvollen Portalen. Odysseus und ich belegten das Boot, halfen den Frauen auf den Kai hinaus und sahen uns um. Palastdiener rannten auf uns zu. Aus der Richtung der Gebäude hallten Gelächter, Musik und Geschrei auf uns zu; einige Diener führten uns in einen säulenstarrenden Saal. Zwischen den Mauern von vier großen Sälen bewegten sich kaum weniger als fünfhundert Menschen; es roch nach Weihrauch und Schweiß, Öllämpchen und feuchtem Erdreich, Speisen, Bier und Wein.
User-Maat-Rê feierte ein Fest, und die Halle, an deren Kopfende er thronte, war erfüllt von Dienern und mindestens zehn Dutzend junger Frauen. Sie tanzten, lachten und sprachen miteinander, versuchten die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu lenken, griffen in die Saiten der großen Harfen und irritierten die Musiker. Mitten im Lärm, im Duft schmelzender Fettkegel über den Stirnen von Frauen und Mädchen, im Gewusel der Besucher, zogen Höflinge Odysseus und mich über die glatte Rampe zum Podest hinauf und in die Nähe UserMaat-Rês. Er war kaum jünger als Odysseus, aber wirkte trotz der Schminke und seines Aufzugs zwanzig Jahre älter. Er musterte uns lange schweigend, dann winkte er uns hinter einen Wandschirm, der uns vor den Augen der vielen Gäste, nicht aber vom Lärm und dem Durcheinander abschirmte. »Die Last des zeitraubenden und umständlichen Zeremoniells muß nicht schwer auf euren Schultern lasten«, sagte er. Seine Stimme drückte, wie seine Gestalt und sein Wesen, große Zielstrebigkeit aus. Von der farbigen, geräuschvollen Umgebung schien er nicht im mindesten berührt zu sein. »Vor einiger Zeit erfuhr ich ein Götterwort, das dir galt, Atlan-RêAnhetes. Ich bin der Vertreter aller Götter in Amenti: ich gehorche ihrem Wort. Du hast, Rê-Anhetes, diese Bildermauer bauen lassen?« »Ich habe nur den Befehl meiner Götter ausgeführt«, sagte ich, »und die Errichtung der Mauer ist halbwegs ihr Werk. Sie wuchs in die Höhe und die Breite, ohne daß die Maurer und Ziegelschläger des Messergau-Gutshofes viel zu tun gehabt hätten. Meine Götter sagten: Aus Kush und Wawat droht keine Gefahr. Im Westen und Osten des Mündungsdreiecks ist ein Jahrzehnt lang Ruhe; die Grenzen sind sicher. Die Rômet im Hapiland Amenti sollen ihre Gedanken nach außen strecken, nach Osten, Norden und Westen, und hinauf zu den Sternen und den schönen Welten, die sie verkörpern.«
Odysseus hob die Hand und sagte ruhig, aber mit Nachdruck: »In meinem Land, das viel kleiner ist als deines, Herrscher im Per-Ao, befehle ich allein. Meine Untertanen werden ebenso wenig wie dein Volk binnen weniger Jahre den Gipfel der Weisheit erklimmen, aber sie gehen und fahren auf Schiffen hierhin und dorthin und berichten in zahllosen fremden Häfen, daß wir die Besseren, Klügeren und Wichtigeren sind. Nur wenn wir von Großem träumen, vollbringen wir Großes. Ich, Rê-Anhetes oder du: Träumen wir alle vom Fremden und Unerwarteten! Eines fernen Tages werden unsere Sohnessöhne die Sterne erreichen und dort Menschen und Völker treffen, die bessere Dinge kennen als Kanalblindheit, Bronzemeißel und schwindende Weihrauchmengen aus Punt, und über deine Götter, Herrscher von Amenti, erheben sich vielleicht andere, die weniger göttlich aber wirklicher sind.« Ich schwieg; erstaunt, verblüfft und hingerissen. Odysseus hatte eine höhere Ebene der Erkenntnis erklommen und war in der Lage, sie mit den Worten der Rômet zu verdeutlichen. Schweigend verneigte ich mich vor seiner Klugheit; ich hätte weder andere Gedanken gehabt noch sie besser oder klarer formulieren können: User-Maat-Rê starrte Odysseus und mich kalt und sprachlos an, hob die Schultern und rieb sein linkes Augenlid. »Die Rômet brauchen keine neuen Götter. Tempel und Palast kennen und verehren die richtigen Götter. Unsere Träume werden von Völkern gestört, die im Osten und Westen die beiden Lande bedrohen. Ich, User-Maat-Rê, werde selbst zur Bildermauer kommen und entscheiden, ob die Klagen der Priester zu Recht bestehen.« »Die schönen Bilder, die du sehen wirst, Herr, Geschenke aus göttlichen Träumen, sind nichts Böses. Die Priester fürchten sich selbst vor Träumen, weil sie ihre Macht bedrohen. Du
weißt, daß wir den Gutshof besser bewirtschaften als jeder andere Gaufürst? Das ist so, weil wir als Fremde in deinem Land das Wissen anderer Teile der Welt anwenden. Auch dieses Wissen ist einst erträumt worden.« Ich betrachtete ruhig den göttlichen Herrscher, hinter dem ein Teil seines Hofstaates saß. Sein kurzes Haar schimmerte rötlich, scharfe Linien zeichneten das Gesicht mit der gekrümmten Nase. Er strahlte Unruhe und Machtbedürfnis aus; die vielen steinernen Zeugnisse seiner kraftvollen Persönlichkeit standen zwischen den Felsen von Wawat, entlang des langen Stromlaufs und überall im Mündungsdreieck. »Auch deine Träume hast du, Herrscher, wahr gemacht. Bronzemeißel, die das Kupfer abgelöst haben, kommen aus fremden Ländern. Und manches andere.« »Das ist wahr, Atlan-Rê-Anhetes.« Der Herrscher hob die Hand und zeigte auf das Gewimmel der Halle. »Das Mißtrauen der Priester ist eines, mein Wohlwollen das andere. Götter und Träume schaffen neue Gedanken, deren einfachster größer als ein Geheimnis ist. Erfreut euch am Fest, kehrt in den Messergau zurück und laßt es euch Wohlergehen im Land der alten Götter und Gedanken.« Eine weitere Handbewegung entließ uns. Langsam gingen wir durch das lärmerfüllte Gebrodel, ließen unsere Becher mit kühlem Henket füllen und blieben im Garten stehen. »Bei mir waren es die anderen Fürsten«, sagte Odysseus und sah sich nach Nefrure um. »Bei dir sind’s die Priester, die sich gegen jede Neuerung wehren.« »Ich habe nichts anderes erwartet, Odysseus. Wenn die Priester unsicher werden, zürnen sie, und wenn sie zürnen, werden ihre Gedanken mitunter mörderisch. Die wenige Zeit, die wir noch am Hapi bleiben, kann voller nächtlicher Pfeile sein.« »Im Boot sind Schilde«, sagte er und winkte seiner Gefährtin. »Und deine Vögel sehen im Dunkeln.«
Wir blieben noch einige Stunden im Palast, bewunderten dessen Schönheit und Größe und landeten vor der Morgendämmerung im Kanal neben dem Gutshof. Ich gab dem Robotfalken und dem Geier eine Reihe neuer Befehle und programmierte einige zusätzliche optische Einflüsse ins Hypnofeld. Obwohl wir in den nächsten Tagen nichts von den Priestern sahen und hörten, wußten wir, daß der Aufenthalt im Hapiland dem Ende zuging; Odysseus mußte zur Ernte zurück nach Ithaka. Als uns die Sonne blendete, schwebten wir weit über dem Meer und sahen voraus Kreta aus dem Dunst aufsteigen. Odysseus deutete mit dem Daumen über die Schulter und fragte: »Die Bildermauer? Die Träume? Die anderen Welten?« »Die Mauer wird vom nächsten Sandsturm zerstört. Die Bilder sind schon jetzt ausgeblichen. Eines Tages hören auch die Träume auf. Unser Geschenk an User-Maat-Rê.« »Ich war gern dort bei den Lotosessern.« Er lächelte versonnen in sich hinein. »Und ich kehre gern zu meinen drei Inselchen zurück. Und zu Lopeia.« »In wenigen Stunden segeln wir in deine Bucht.« Wir waren nicht in Eile, sahen einige Handelsschiffe weit unter uns, überflogen Kreta und näherten uns Ithaka. Wieder setzen wir vor dem Kap in den Wellen auf, fuhren den Kiel aus und setzten Mast und Segel. Am frühen Nachmittag legte die TOXEUMA am Steg an. Wir schulterten in der glühenden Nachmittagshitze unser Gepäck und gingen zu Odysseus’ Palast. Nach dem Prunk und der Größe von User-Maat-Rês farbglühendem Bauwerk, von Gärten und Teichen umgeben, sah er unbedeutend, fast schäbig aus. Unter der Kastanie blieb Odysseus stehen, zog mich zum Brunnen in den Schatten und sagte:
»Wir sollten uns nicht über Nefrure und die rothaarige Haro unterhalten, Freund Atlan.« »Ich hatte es nicht vor«, sagte ich. »Namen und manche Erinnerungen sind im Schlamm der Hapiüberschwemmung ertränkt und davongeschwemmt worden.« »Ich werde mich auf dem Totenbett noch vieler schöner und mächtiger Dinge entsinnen.« Wir stapften schwitzend weiter; ich hatte das Antigravelement im Boot vergessen. Zuerst erkannten die Hofhunde ihren Herrn, und ihr Kläffen rief Dienerinnen, Knechte und Penelopeia zusammen. Dem ältesten Diener zählte ich auf, welche Säcke, Krüge und Truhen aus dem Boot zu holen waren, verbeugte mich tief vor Lopeia, und nachdem wir im Badehaus unsere Körper gereinigt hatten, massiert, mit Öl gestriegelt und mit kaltem Wasser übergossen worden waren, kleideten wir uns in die Chitons aus Rômetleinen, nahmen den Begrüßungstrunk und packten die Geschenke aus: Bierkrüge kamen in die Vorratskammer, Lopeia roch begeistert an den Näpfchen, Krügelchen und Dosen der Druiden und den kostbaren Gefäßen, die voller Rômetsalben und Pasten waren. Tonschalen, Pokale aus geschliffenem Stein und Zierkrüge hatten die Reise gut überstanden, und auf dem Tisch glänzte der Schmuck aus Steinperlen, Bronzedraht, Glasfluß und Gold. Ich legte den Packen Binsenmarkblätter dazu und sagte: »Für deine Abrechnungen, Odysseus. Und deine Botschaften; für alles, was geschrieben wird.« Wir hatten zwei Dutzend Dattelpalmenschößlinge mitgebracht; Odysseus wollte versuchen, die Bäumchen im Windschutz von Mauern zu pflanzen und hochzuziehen, auch einige langgezüchtete Weinstöcke aus dem Mündungsdreieck trugen die Knechte in den Garten. Als sich der Tisch zu leeren begann, hob Penelopeia den Kopf und sagte leise, im Ton vorsichtigen Ernstes:
»Die Boten und die Kapitäne, Atlan, haben Nachricht von Aieta Demeter gebracht. Als der eine Händler von ihr erfuhr, lebte sie noch.« Ich ließ die Schale sinken und murmelte: »Wo?« Sie deutete nach Nordosten, zum Festland, und sagte: »In Trachis, sagte er. Odysseus wird es auf deiner Karte finden. Vor eineinhalb Monden erfuhr ich davon.« Ich schloß die Augen. Ich war nahe an diesem Ort vorbeigekommen und hatte nichts erfahren. Im Mond Payni hatte ich Ne-Tefnacht begraben, nun hatten wir, fast eineinhalb Jahre später, Mitte des Choyak. Ich fragte: »Von Toxatlan hat dein Gewährsmann nichts erfahren?« Sie schüttelte schweigend den Kopf und beugte den Nacken; Odysseus stand hinter ihr und verknotete das Riemchen des sichelförmigen Wesech-Brustschmucks. Ich drängte eine Reihe düsterer Empfindungen zurück und blickte von Penelopeia zu Odysseus. »Ihr versteht, daß mein Aufenthalt in der ruhigen Behaglichkeit Ithakas nicht lange dauern wird. Vier oder fünf Tage.« »So lange du kannst«, antwortete Odysseus. »Mein Haus ist deines.« Wir suchten auf der Karte die Lage des Ortes heraus; er lag an einem Fluß, dessen Namen wir nicht kannten, in Achaia, also im Nordosten, meernah jenseits eines hohen Gebirgszuges. Der gelbe Mond über der Insel reifte, und ich durchstöberte sämtliche Fächer des Gleiters und fand viele nützliche Gegenstände, die ich dem Haus des Freundes schenkte. Nach einer langen, stillen Vollmondnacht, in der die Gerüche herbstlicher Dürre und reicher Ernte über das Haus wehten, nahm ich Abschied und verneinte, als mich Odysseus fragte, ob er mich je wiedersähe. Weit nach Mitternacht verschwand der Gleiter aus dem Wasser der Bucht.
Einen halben Tag später dann, am Ende eines schmalen Einschnitts, der nach Nordwest tief ins Land und zur Flußmündung führte, landete ich außerhalb des Ortes, ließ mich vom Falken schützen und bewaffnete mich mit Bogen und Köcher. Ich fragte mich von weinlesenden Bauern zur Schenke, von dort durch eine ebene Landschaft bis zum Tempel unterhalb einer kleinen Fürstenburg. Das Bauwerk war gut erhalten, aber verwaist. Ich ging ratlos zwischen den Säulen entlang, bis mich der Schrei des Robotfalken aufmerksam machte. Einen Steinwurf entfernt, in die Richtung des Quellheiligtums, sah ich halbverfallene Hütten aus Bruchstein. Nur Grillen, Eidechsen und kleine Vögel, die vor dem Falken flüchteten, begleiteten mich auf dem schmalen Pfad. Dann ging ich über die Stufen aus großen, flachen Feldsteinen um einen winzigen Hügel herum und stand vor der Quelle, deren Wasser im Steinbett zwischen Büschen und Baumwurzeln nach rechts verschwand; einige Schritte weiter sah ich den Eingang einer Hütte. Die eine Hälfte des Daches war zusammengebrochen; ich schmeckte kalten Rauch und einen seltsamen Geruch, den ich wiedererkannte: So hatte es in der Schenke in Vaphio gerochen, als ich den Verwundeten half. Ich trat durch den Eingang. An der Rückwand des winzigen Raumes waren Zweige, Laub und Stroh aufgehäuft und bildeten unter schmutzstarrenden Decken ein Lager. Als mein Schatten auf die Wand fiel, drehte sich der bleiche, geschwollene Körper wimmernd herum; ich erkannte mühsam Aieta Demeters Augen und das Gesicht. Ich watete durch Unrat aller Art, beugte mich trotz des Fäulnisgeruchs über sie und sagte: »Ich hab’ dich lange gesucht, Fürstin. Und ich bin nicht froh darüber, was ich jetzt sehe. Du bist krank. Kannst du gehen?« »Atlan!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Zwischen den Worten machte sie jeweils lange Pausen, als habe sie das Sprechen verlernt. »Wenn…du…mir…hilfst.«
Ich sprang hinaus, betätigte die Fernsteuerung und rief den Gleiter hierher. Mit großer Mühe richtete sich Aieta auf; sie keuchte und wimmerte vor Schmerz. Ich faßte sie unter der Schulter und schleppte sie bis unter den Baum neben der Quelle, nahm den Aktivator ab und hängte ihn um ihren Hals. Aus der Gürteltasche zog ich kleine Injektionswürfel und preßte deren Inhalt durch die Hohlnadel in ihre Venen. Sie war unglaublich schmutzig; ich sah verschorfte Wunden, hielt ihren Kopf und flößte ihr starken Wein ein. Ihr Haar war fast hüftlang und völlig verfilzt und voller Läuse. Hundert Atemzüge später hob sie die Arme. Sie spürte keinen Schmerz mehr. »Wie bist du in dieses Dreckloch gekommen, Fürstin?« »Immer gewandert. Mit Toxatlan… weißt du, daß du einen Sohn hast, einen schönen, starken, klugen und mutigen Sohn mit ganz hellem Lockenhaar?« »Ich weiß es. Ich habe lange nach euch beiden gesucht.« »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich…« Sie redete mit langen Pausen, bis der Gleiter sich unsichtbar ins krachende Gebüsch senkte. Ich faltete eine meiner Decken, hängte den Knoten ins Antigravelement und hob Aieta in die Plicht. Wir schwebten bis zu einer verlassenen Bucht, die ich auf dem Weg hierher als guten Lagerplatz entdeckt hatte. Dort hob ich Aieta auf und setzte sie im flachen Wasser ab; sie ließ alles willenlos und schläfrig über sich ergehen. Ich machte Feuer, erhitzte Wasser, wusch und schnitt ihr Haar und versuchte, so schonend wie möglich, den schlaffen, weichen Körper zu waschen. Die Wunden – sie schien oft gefallen zu sein und hatte sich an den Beerenranken die Haut mit den Dornen zerkratzt – waren leicht zu behandeln: Salbe und Biomolplast. Zwei große Ladungen der Hochdruckspritze, ein aufbauendes Breitbandmedikament und eines, das beruhigte, folgten, dann aß sie weiches Brot und Käse, während ich ver-
suchte, das Haar zu kämmen. Die verfilzten Strähnen und den zerlumpten Chiton warf ich ins Feuer. Sie wurde müde, sprach immer wieder ein paar Worte, und ich konnte mir einen Teil ihres Lebensweges vorstellen: Zu Schiff über einige Inseln zum Festland, als Magd in Schenken, immer auf der Suche nach einem Platz, den ihr Ehrgeiz ihr für unseren Sohn vorgaukelte. Silber und Gold, die Beute von Ilion, hatte sie für Lehrer, Waffen, die Kunst der Leier und Harfe und eine seltsame Kampfschule ausgegeben. Als er fünfzehn war, hörten sie von Kriegern weit im Norden. Er machte sich auf den Weg und versprach, bald zurückzukommen und sie zu holen. Dann war sie krank geworden. Ihre Zähne wurden schwarz, schmerzten und fielen aus. Niemand half, nur die Priester erlaubten ihr, hier zu wohnen und gaben ihr hin und wieder etwas zu essen. Sie schlief ein, als es dunkelte. Ich wickelte sie in Decken und überließ ihr den Zellaktivator bis in die Morgenstunden. Ich wachte am Feuer und versuchte die Art der Krankheit herauszufinden, kochte einen nahrhaften Brei und ließ ihn abkühlen. Aus dem Gepäck holte ich einen meiner Chitons, der gerade über den unförmigen Körper passen würde. Ich sprach mit Rico, der mir riet, Aieta von den Medorobots helfen zu lassen. Der Morgen kam. Mit viel Mühe gelang es mir, sie anzuziehen und mit dem Brei zu füttern; trotz aller Medikamente fieberte sie und leerte Schale um Schale eines dünnen Weingemischs. Ihr Gesicht verfiel, während sie aß, trank, keuchend atmete und redete. Nur ihre Augen wurden groß und klar; die Haut hatte eine leichenhafte Starre angenommen. Ihr Atem roch nach Tod. Manchmal kamen Menschen aus der Siedlung, versuchten ihr zu helfen und brachten Essen. Sie sammelte Beeren und trank Quellwasser, während die Krankheit in ihrem Körper wütete und sie aufblähte. Die Wunden eiterten und heilten
nicht mehr. Sie wartete auf Toxatlan, der sie in die reine, kühle Luft der Berge bringen würde. Er kam nicht. Es kam keine Nachricht. Nur Träume: Toxatlan kämpfte, gewann Ruhm und Reichtümer, und seine goldhaarigen Söhne bildeten ein mächtiges Geschlecht, das sich über das Land verteilte und dessen Samen fruchtbar bleiben würde. Aieta sackte zusammen, stieß die Trinkschale weg und fiel schwer in meinen Arm. Der Extrasinn sagte: Sie stirbt, Atlan! »Der Haß, Atlan Toxarchos, ist schneller vergangen als meine Schönheit.« Eine letzte Anstrengung ließ ihre Worte klar werden, trotz der rasselnden Atemzüge. »Ich hab’ tausendmal an dich gedacht. Und ich hab’ alles, was ich konnte, für unseren Sohn getan. Ich hab’ nicht nach dir gesucht. Ich hab’ auf ihn gewartet, auf Toxatlan. Du wirst ihn nicht finden.« Sie hob ächzend die Hand, ihre geschwollenen Finger tasteten nach meinem Gesicht. Mitten in der Bewegung zuckte sie zusammen, atmete auf und starb. Ich drückte ihre Lider herunter und stand langsam auf. Nach einer Weile holte ich aus dem Gleiter die zweite Halskette aus der Ilion-Beute, legte sie um Aietas Hals und schüttete Wasser in die Glut. Angeschwemmtes Holz und Vogelknochen scharrte ich aus der kleinen Höhle, die Steine stapelte ich als Rampe unter dem Eingang. Ich schleppte die Tote in die Höhle, bedeckte sie mit Steinen, schichtete Steine und Felsbrocken in den Höhleneingang und verglaste die wachsende Mauer, bis der Desintegrator die obersten Brocken mit der Höhlendecke verband. Ich rief den Falken, schaltete den Mechanismus aus und verstaute ihn in der Truhe. Ein letzter Blick über die winzige Bucht: Nichts war zurückgeblieben außer würgenden Erinnerungen und dem Felsengrab. Der Gleiter startete und raste mit Höchstgeschwindigkeit hinweg.
Die nächste Schlafperiode war, anders als in der Vergangenheit, für die Dauer von hundert Jahren geplant. Während ich mich auf den Tiefschlaf vorbereitete, spielte ich wahllos einige Aufzeichnungen der Orbitsonden ab. Als ich die gewaltige Eruptionswolke des Stronghyle-Atlantis-Vulkans sah, verfolgte ich im Raffer ihren Weg in den höchsten Luftschichten des Planeten. Über den höchsten Bergen des Planeten, weit im Osten, kondensierte Feuchtigkeit an den Feinpartikeln der größten Wolkenteile und erzeugte lang andauernde Wolkenbrüche, die beide Flüsse des Subkontinents anschwellen ließen. Als die Müdigkeit sich über mich zu lagern begann, glaubte ich Ricos Erklärungen zu hören. »Mo’ensho-tharro, die Stadt Atlans und Aivs, begann sich zu leeren und zu füllen. Viele Gruppen verließen sie und zogen nach Süden und flußaufwärts. Aus Norden kamen andere Gruppen und ließen vieles verfallen.« Und ich glaubte zu sehen: Der Strom wälzte unermeßliche Massen schlammiges Wasser dem Meer zu, überschwemmte Dämme, Häfen und Felder, bedeckte, aus dem Bett austretend, jede ebene Fläche, bis die Stadt eine bröckelnde Insel in der gelben Flut war. Und ich glaubte – eine andere Bildfolge – zu sehen, wie bogenschießende Kentauren am Ufer eines dunklen Sees gegen schreiende Vögel kämpften, die den Stimvaleed glichen, den fliegenden Bestien über Deriones Insel, dem frühen Kreta. Die letzte Empfindung vor dem Eintauchen in die wesenlose Schwärze des Schlafs war grenzenlose Erleichterung, nichts mehr denken, sehen und hören zu müssen. Cyr Aescunnar und Oemchen Orb sahen schweigend zu, wie die SERT-Haube gehoben und weggeschwenkt wurde. Atlans Körper in den Feldern der muskelstimulierenden Geräte, unter dem Licht von quasisolaren Lampen, blieb reglos. Die Pause würde andauern, die Erzählungen schienen vorläufig beendet.
Cyr seufzte und flüsterte: »Sechs Monde und 6737 Jahre nach Untergang von Atlantis sucht er tatsächlich Erlösung von der Wirklichkeit. Ob er je seinen Sohn oder verläßliche Nachrichten über Toxatlan finden wird?« »Du wirst es vielleicht nie erfahren, Cyr.« Oemchen beugte sich vor, um die Holoprojektion abzuschalten. Cyr zuckte zusammen und stöhnte; wieder brach das optische Chaos zwischen Netzhaut, Sehnerv und Gehirn aus. Eine vielfarbige Lichtflut loderte auf, zog sich zu Punkten zusammen, die anschwellende Halos bildeten. Mitten in der Farborgie schnitt absolute Finsternis die leuchtenden Figuren vom Hintergrund ab. »Ich sehe nichts mehr«, ächzte Cyr. Sein Körper schien zu vereisen. Er spürte die Hände der Freundin nicht, als er aufzustehen versuchte und schwer in den Sessel zurückfiel. »Ich bin blind! Ich hab’s schon immer befürchtet, und vor zwei Tagen gab es schon einmal einen solchen Blink…« Cyr blinzelte, rieb die Augen, schloß sie und wartete, er hörte, wie Oemchen den Notdienst der Opthtalmologischen Abteilung des MEDOCENTERS verständigte. Eine Ewigkeit verging, während er versuchte, seine tödliche Angst unter Kontrolle zu bringen. Aus der Finsternis der Blindheit blitzten winzige Sterne auf, wirbelten und drehten sich, wurden größer, und als er die Augen aufriß, sah er einen Teil des Büros vor sich auf eine völlig neue, erschreckende Weise: in scharf getrenntem Schwarzweiß. Später bekamen die Kanten der Gegenstände regenbogenfarbige Linien, und quälend langsam vermochte Cyr nicht nur Konturen, sondern auch Farben zu unterscheiden. Er stemmte sich hoch und sah schweigend seine Freundin an. Sein Gesicht drückte die kalte Furcht aus, die er empfand, wenn er sich vorstellte, daß die Finsternis wiederkommen und bleiben
würde. ENDE