Mike Gayle
Sturzflug ins Leben oder Wie ich meinen 30. Geburtstag doch noch überlebte
scanned by unknown corrected by ps So viel gleich zu Anfang: Ich, Matt Beckford, hatte mich seit langem darauf gefreut, dreißig zu werden. Erwartungsvoll sah ich dem Tag entgegen, an dem mir - kraft meines dreißigsten Geburtstags - ein Weinregal gehören würde, in dem wirklich Wein lagert. Nicht gerade ehrgeizig, werden Sie vielleicht denken, und wahrscheinlich haben Sie Recht - aber nicht in meinem Fall... ISBN 3-426-19575-5 Originaltitel Turning 30 Aus dem Englischen von Helga Augustin 2002 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Artwork by ZERO
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Matt steht kurz vor der magischen Schallgrenze des Lebens dem 30. Geburtstag. Eigentlich hat er alles, was man(n) sich wünschen kann: eine tolle Freundin, eine klasse Karriere. Dann aber verabschieden sich Frau und Job, und Matt findet sich im Haus seiner Eltern wieder. Um nicht ganz den Verstand zu verlieren, beginnt Matt, nach seinen besten Freunden zu suchen, zu denen er schon ewig keinen Kontakt mehr hat. Früher waren sie als die glorreichen Sieben bekannt - doch auch an denen hat der Zahn der Zeit genagt… »Eine wunderbare romantische Komödie mit viel Herz!« Daily Mail
Autor
Mike Gayle, Jahrgang 1970, stammt aus Birmingham. Er arbeitete als Redakteur und Kummerkastenonkel für Jugendzeitschriften und war Model für Benetton. Heute schreibt er als freier Journalist für verschiedene Trend- und Szenemagazine.
Für Jackie Behan und John O'Reilly, zwei Freunde, die wie ich dreißig werden. Alles Gute zum Geburtstag!
Danksagung Ich danke allen Freunden, die mir auch bei diesem Projekt wieder hilfreich zur Seite gestanden haben. Wie immer gilt mein besonderer Dank meiner Frau Claire, ohne die Sie Ihr schwer verdientes Geld für ein Bündel unbeschriebenes Papier hingeblättert hätten. Allen Beteiligten wünsche ich: Life long and prosper!
Die schon obsessive Fixierung unserer Gesellschaft auf das ewige Jungsein führt bei vielen Menschen zu ernsthaften seelischen Schäden, sagt ein Experte… Viele über 65-Jährige wollen beweisen, dass sie »im Kopf jung geblieben sind«, und laufen Rollerblades, machen Aerobic oder besuchen Nachtclubs… »Ewige Jugend« ist der »Heilige Gral« von heute. Jugendliches Image in den Medien, vorherrschend junge Fernsehmoderatoren sowie die Angst, im Beruf »zum alten Eisen« zu gehören, tragen alle zu diesem Trend bei. Bericht aus der Birmingham Evening Mail Als ich dreißig wurde, habe ich mir gesagt: »Jetzt gibt es keine Entschuldigungen mehr. Ich muss wissen, was ich will.« Brad Pitt, 1999
Nostalgie, die; -, ›Pl. ungebr.‹ [lat. nostalgia, zu griech. nóstos = Rückkehr (in die Heimat) u. álgos = Schmerz]: 1. (bildungsspr.) vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wiederbelebt. 2. (bildungsspr. veraltend) [krank machendes] Heimweh. Duden, Deutsches Universal Wörterbuch A-Z nostalgia n. 1. A yearning for the return of past circumstances, events etc. 2. the evocation of this emotion, as in book, film, etc. 3. longing for home or family; homesickness. [Gk. nostos, return; algos, pain]. Collins English Dictionary
1 So viel gleich zu Anfang: Ich, Matt Beckford, hatte mich seit langem darauf gefreut, dreißig zu werden. Erwartungsvoll sah ich dem Tag entgegen, an dem mir - kraft meines dreißigsten Geburtstags - ein Weinregal gehören würde, in dem wirklich Wein lagerte. Nicht gerade ehrgeizig, werden Sie vielleicht denken, und wahrscheinlich haben Sie Recht - aber nicht in meinem Fall. Jede Flasche Wein, die mir in die Hände fällt, wird sofort geleert, sei es in zwanzig Minuten (an einem harten Tag) oder in vierundzwanzig Stunden (an einem weniger harten Tag). Dabei bin ich kein Alkoholiker (noch nicht), sondern einfach ein Weinliebhaber ohne jede Selbstbeherrschung. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Die Antwort darauf ist denkbar einfach (und bitte haben Sie etwas Geduld): Weinregale sind von Natur aus dazu bestimmt, mehr als eine Flasche zu lagern; manche fassen sechs, andere zwölf. Aber darauf kommt es gar nicht an. Wichtig sind allein die Fragen über die Person, die sich ein Weinregal wünscht: 1 Wer kann es sich wirklich leisten, zwölf Flaschen Wein auf einmal zu kaufen? 2 Wer mit zwölf Flaschen Wein im Regal (falls es solche Menschen wirklich gibt), kommt nach einem harten Arbeitstag nach Hause und widersteht der Versuchung, alle auf einmal zu trinken? 3 Wer findet Weinregale überhaupt sinnvoll? Die Antwort auf Frage 3 - und zwangsläufig auf die Fragen 2 und l - ist natürlich: die Dreißiger (wie meine Freundin Elaine sie nennt). Die, die glatte dreißig und drüber sind, die einmal -8-
zwanzig waren und jetzt na ja, nicht mehr so ganz zwanzig sind. Menschen wie ich, die in ihren Zwanzigern gespart, gegeizt und sich krumm gelegt haben, um eines Tages mehrere Flaschen Wein auf einmal kaufen und im todschicken Weinregal ihrer todschicken Küche lagern zu können - ohne sie gleich trinken zu wollen. Jedenfalls nicht alle auf einmal. Wir möchten der Welt unsere Reife beweisen und zeigen, dass wir in der Lage sind, uns nach all den Jahren endlich zu beherrschen und die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Ich wollte dazugehören. Ich war bereit für diese neue, mutige Welt und hatte alles geplant, bis ins kleinste Detail. Auch das bringt der dreißigste Geburtstag mit sich (neben dem Weinregal) : Schon lange vorher glaubt man genau zu wissen, wie es sein wird. Es ist nämlich jener Meilenstein, der das Erwachsensein repräsentiert und dem man sein ganzes Leben lang entgegengefiebert hat. Kein anderer Geburtstag hat das gleiche Gewicht. Dreizehn? Pah! Akne und Angst. Sechzehn? Mehr Akne, mehr Angst. Achtzehn? Akne und Angst gepaart mit einem fürchterlichen Klamottengeschmack. Einundzwanzig? Akne, Angst und ein etwas besserer Klamottengeschmack. Aber dreißig! Dreißig ist wirklich etwas Besonderes. Im Haus Ihrer Eltern liegt bestimmt irgendwo eine Liste (oder vielleicht sind es auch nur hingekritzelte Notizen), die Sie mit… sagen wir mal dreizehn, in Gedanken an das ferne Ereignis Ihres dreißigsten Geburtstags gemacht haben. In Ihrer unverwechselbaren Schrift steht da etwa: »Mit dreißig… will ich (Traumberuf einfügen) sein und mit (auf wen immer Sie seinerzeit scharf waren einfügen) verheiratet sein.« Solche Aufzeichnungen belegen, dass man schon im zarten Alter von dreizehn Jahren begreift, worauf es - wie Freud einmal sagte, im Leben ankommt: Liebe und Arbeit. Was unwillkürlich die folgenden zwei wichtigen Fragen aufwirft: 1 Was will ich werden? -9-
2 Finde ich jemals eine Freundin? Die Antwort auf die erste Frage wusste ich tatsächlich schon mit dreizehn. Während meine Schulkameraden zwischen Reporter, Schauspieler, Lastwagenfahrer oder Astronaut schwankten, wollte ich von Anfang an Computerprogrammierer werden. Und bin es auch geworden. Ich ging zur Universität, machte meinen Abschluss in Informatik und fing bei der Londoner Firma C-Tec an, die sich auf Software für Geldinstitute spezialisiert. Ich erfand zwar weder so erfolgreiche Videospiele wie Space Invaders, Frogger oder Pac Man, wovon ich als Dreizehnjähriger geträumt hatte, aber zumindest arbeitete ich auf demselben Gebiet. Den Punkt konnte ich also abhaken. Die Antwort auf die zweite Frage lautete damals natürlich ja (was ich später noch genauer ausführe), doch im Laufe der Jahre wurde sie von der noch wichtigeren Frage ersetzt: Gibt es die perfekte Frau für mich, und falls ja, wo? Das war ungleich schwerer zu beantworten, was schon daran zu erkennen ist, dass »Madonna« zu den reiferen Eintragungen in meinem Tagebuch zählte. Mein Interesse an Mädchen erwachte ziemlich spät - sehr spät, gemessen an dem, was andere Kids an meiner Schule so trieben. Als ich mich schließlich dem Thema widmete, lief meine Testosteron-Produktion bereits auf Hochtouren. An dem Punkt kam dann Madonna ins Spiel. Ich erinnere mich noch genau, als ich sie das erste Mal im Fernsehen sah, in Top of the Pops. Sie promotete »Lucky Star«, in England der Nachfolgesong von »Holiday«, und ich war hin und weg. Zu der Zeit war sie bei uns noch kaum bekannt und in den Augen meiner Eltern ein wildes Girl mit zu viel Makeup, Schmuck und religiöser Metaphorik. Aber ich fand sie toll, und obwohl ich nur ein -10-
Teenager aus Birmingham war und sie eine Mittzwanzigerin aus New York, war ich felsenfest davon überzeugt, dass sie eines Tages meine Freundin würde. Das nennt man jugendlichen Optimismus. »Jemand muss ja Madonnas Freund sein«, war meine logische Schlussfolgerung, »denn wenn sich keiner für gut genug hält, hat sie niemanden zum Knutschen, und Madonna sieht mir nicht so aus, als könnte sie ohne überleben.« Nach ein paar Jahren entwuchs ich meiner Madonna-Phase und wandte mich realen Frauen zu, zum Beispiel Linda Philipps, die in Geografie neben mir saß und immer nett lächelte; oder Bethany Mitchell, die eine Klasse über mir war und deren enger grauer Schulpullover nichts der Fantasie überließ. Doch selbst diese Phase ging irgendwann zu Ende, ich ließ Linda und leider auch Bethany hinter mir und konzentrierte mich auf wirklich reale Frauen, die ganz normalen, die man nicht anbeten musste. Dazu gehörte auch Ginny Pascoe, meine jahrelange Gelegenheitsfreundin. Ich nenne Ginny zwar meine Freundin, aber genau genommen war sie ein Kumpel, mit dem ich manchmal knutschte. Wir versuchten nie, eine Bezeichnung für unser Arrangement zu finden, das wir im Alter zwischen sechzehn und vierundzwanzig hatten und das anfangs nichts weiter als eine schlechte Angewohnheit war. Innerlich gestärkt mit Thunderbird, einem süßen, schweren Wein - damals das bevorzugte Getränk aller Teenager -, gingen wir regelmäßig zusammen auf Oberstufefeten, zu Hauspartys und gelegentlich sogar ins Kings Arms, die Kneipe in unserem Viertel. Doch sobald wir uns Montagmorgen in der Schule wieder sahen, litten Ginny und ich unweigerlich an Gedächtnisschwund oder taten einfach, als hätte unsere Wochenendpaarung nie stattgefunden. Dieses Arrangement passte uns beiden, denn ich war damals hinter Amanda Dixon her, bei der ich genauso viele Chancen hatte wie bei Madonna in ihrer »Material-Girl‹‹-Phase, und Ginny war scharf auf Nathan Spence. Der war wiederum unerreichbar für -11-
sie und hatte zudem einen gewissen »Ruf«, der ihn - ein bizarrer Aspekt weiblicher Logik, über den ich in jungen Jahren gestolpert war - umso begehrenswerter machte. Wir fanden unser Arrangement niemals komisch (je länger ungewöhnliche Arrangements andauern, desto normaler erscheinen sie einem), und das Beste daran war, dass es unserer Freundschaft nie schadete. Wir waren Freunde. Und manchmal waren wir mehr als Freunde. Das war alles. Doch irgendwann kam die Zeit der Trennung. Ginny verließ die Stadt, um in Brighton zu studieren, und ich ging auf die Universität in Hull. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts hatte ich zahlreiche Freundinnen, und jedes Mal dachte ich, wenn auch nur für einen Moment: Mit der feierst du deinen dreißigsten Geburtstag. Um es kurz und peinlich zu machen, hier ist die Liste meiner Eroberungen: Alter: 19 Freundinnen: Ruth Morell (ein paar Wochen), Debbie Foley (ein paar Wochen), Estelle Thompson (ein paar Wochen), AnneMarie Shakir (ein paar Wochen) Dates mit Ginny Pascoe: 8 Alter: 20 Freundinnen: Faye Hewitt (acht Monate), Vanessa Wright (zwei Monate mit Unterbrechungen) Dates mit Ginny Pascoe: 5 Alter: 21 Freundinnen: Nicky Rowlands (knapp ein Monat), Maxine Walsh (neun Monate) Dates mit Ginny Pascoe: 3
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Alter: 22 Freundinnen: Jane Anderson (etwas über zwei Monate), Chanteile Stephens (drei Monate) Dates mit Ginny Pascoe: 10 (ein katastrophales Jahr in Bezug auf Selbstbeherrschung) Alter: 23 Freundinnen: Harriet »Harry« Lane (ungefähr zehn Monate mit Unterbrechungen) Dates mit Ginny Pascoe: 3 Alter: 24 Freundinnen: Natalie Hadleigh (zwei Monate), Siobhan Mackey (zwei Monate), Jennifer Long (zwei Monate) Dates mit Ginny Pascoe: 1 Alter: 25 Freundinnen: Jo Bruton (ein Wochenende), Kathryn Fletcher (zirka neun Monate), Becca Caldicott (ein Monat) Dates mit Ginny Pascoe: 0 (aus den Augen verloren) Alter: 26 Freundinnen: Anna O'Hagan (zehn Monate), Liz WardSmith (ein Tag), Dani Scott (ein Tag), Eve Chadwick (anderthalb Tage) Dates mit Ginny Pascoe: 0 (immer noch aus den Augen verloren) Alter: 27 Freundinnen: Monica Aspel (fast ein ganzes Jahr) -13-
Dates mit Ginny Pascoe: 0 (aus den Augen verloren, aber unvergessen) Aufgrund der Ereignisse, die ich mein Leben lang als »das Monica-Aspel-Debakel« bezeichnen werde, und ohne den Trost von Ginny Pascoe, beschloss ich im Alter von achtundzwanzig Jahren, dass es reichte. Ich ließ mich von C-Tec in ihre New Yorker Niederlassung versetzen. Ein Wechsel war so gut wie eine Auszeit, sagte ich mir. Um mich auf meine Karriere zu konzentrieren und dahin zu kommen, wo ich schon längst hätte sein sollen, brauchte ich eine Frauenpause. Doch schon nach zwei Tagen in New York lernte ich Elaine Thomas kennen, eine attraktive, intelligente, leicht exzentrische zwanzigjährige Studentin der New York University mit einem Faible für ungesundes Essen, lange Telefongespräche und Engländer. Wir verliebten uns und zogen ziemlich schnell zusammen. Endlich konnte ich mich beruhigt zurücklehnen. Nach all den Jahren und zahllosen Freundinnen wusste ich nun, mit welcher Frau ich meinen dreißigsten Geburtstag feiern würde. Nicht mit Madonna. Auch nicht mit Ginny Pascoe. Mit Elaine. Meiner Elaine. Ich war glücklich. Bis alles ein überraschendes Ende nahm.
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NEW YORK
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2 Es geschah an einem nasskalten Tag Ende September. Ich kam von der Arbeit nach Hause, und Elaine war wie immer am Telefon. Sie liebte das Telefon, es war ihr Ein und Alles. Die wenigen Male, die ich vor ihr eingetroffen war, hatte sie kurz darauf mit dem Handy am Ohr die Wohnung betreten, mich mit einem Kuss begrüßt und eine neue Nummer auf dem Festnetzapparat eingetippt, ohne dass das Handygespräch darunter gelitten hätte. Es war ihr stets mühelos gelungen, das Ende des ersten Gesprächs mit dem Beginn des zweiten zu koordinieren. Ich hatte mich immer gewundert, ob das einfach nur Übung war oder ein Naturtalent, und sie sogar einmal gefragt. Mit ihrem schönsten Lächeln sagte sie in einer Weise, wie nur echte Ostküstenbewohner das können und die mir immer das Gefühl gab, einen Werbespot zu sehen: »Bill Gates hat ein Händchen für Computer, Picasso für Pinselstriche… und ich hab eins fürs Telefonieren. Das ist mein Geschenk an die Menschheit.« Ich stellte meine Tasche auf dem Boden ab, gab ihr einen Begrüßungskuss und bekam einen zurück, ohne dass sie das Gespräch unterbrach. Da ich nicht wusste, was ich als Nächstes tun sollte, setzte ich mich neben sie aufs Sofa und versuchte herauszufinden, mit wem sie sprach. Kein einfaches Unterfangen, denn Elaine hörte die meiste Zeit zu - echt ungewöhnlich für sie. Ihre Kommentare beschränkten sich auf »ich weiß«, »und was hast du dann gemacht?«, »das ist ja furchtbar« oder »na hoppla«, was je nach Stimmlage »so ist das Leben« oder »was auch immer« bedeuten konnte. Jedenfalls war es unmöglich, ihre Gesprächspartnerin zu identifizieren, es konnte jede ihrer Millionen Freundinnen sein. Ich wartete ein paar Minuten, bis sie auflegte, wobei mir schnell klar wurde, dass es noch eine Weile dauern würde. Also ging ich in die -16-
Küche, um nachzusehen, ob sie das Abendessen schon angefangen hatte. Die Küche war tadellos sauber, so wie ich sie am Morgen vor der Arbeit hinterlassen hatte; es gab nicht die geringsten Anzeichen kulinarischer Vorbereitungen. Nicht, dass ich erwartete, von Elaine bekocht zu werden, weil sie eine Frau war diese Vorstellung hatte sie mir schon lange ausgetrieben. O nein, ich erwartete es, weil sie an der Reihe war. Sie hatte diesen Morgen verschlafen, sich auf der Arbeit krankgemeldet und versprochen, den wöchentlichen Einkauf zu erledigen. Insgeheim hatte ich gehofft, wohl zu optimistisch, dass sie uns »was Nettes« besorgte. Ich suchte sämtliche Küchenschränke nach möglichen Einkäufen ab, doch ohne Erfolg. Außer einer Tüte SpiralNudeln, einem Glas Marmite, meinem Lieblingsbrotaufstrich, das meine Mutter mir geschickt hatte, und zwei knochentrockenen Brotscheiben, die zerbröselten, als ich sie versehentlich fallen ließ, herrschte gähnende Leere. Nicht einmal einen Tee konnte ich mir machen, denn die P.G.-TippsTeebeutel, die in Moms Päckchen mit dem Brotaufstrich und einem Video mit den Folgen von zwei Wochen EastEnders gelegen hatten, waren aufgebraucht. Eine andere Sorte trank ich nicht. Mit knurrendem Magen kaute ich auf einer rohen Nudel herum und ging zurück ins Wohnzimmer. Kaum hatte ich mich wieder neben Elaine gesetzt, griff sie zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und zeigte mit ihrem sorgfältig manikürten Finger darauf, als wollte sie sagen: »Sieh mal, die schönen Bilder!«, oder wohl eher: »In einer Stunde bin ich fertig, vergnüg dich so lange.« Ich ignorierte ihren Vorschlag und hopste mit dem Hintern auf dem Sofa herum, um sie zu ärgern. Ich wollte nicht fernsehen, ich wollte ihre Aufmerksamkeit und etwas zu essen. Davon wollte sie wiederum nichts wissen und ignorierte mich nun ihrerseits. Also -17-
stand ich auf und tat auf dem Weg zum Fenster, als fiele ich in Ohnmacht. Ich lag reglos auf dem Boden, atmete kaum und wartete, dass sie ihrem treuen und nun bewusstlosen Freund zu Hilfe eilte. Nach wie mir schien unzähligen Minuten, in denen sie nicht einmal zum Luftholen innehielt, geschweige denn das Gespräch beendete, öffnete ich vorsichtig ein Auge, doch sie sah es sofort und fing an zu lachen. »Wer ist dran?«, formte ich lautlos mit den Lippen. »Deine Mom«, war ihre lautlose Antwort, und: »Bist du zu Hause?« Ich schüttelte heftig den Kopf, wobei ich mehrmals »nein, nein, nein« grimassierte. Nicht, dass ich meine Mom nicht mochte. Im Gegenteil, ich liebte sie sogar. Aber da ich gerade so weit weg von zu Hause lebte, blieb es nie bei einem kurzen Geplauder, und ich hatte sie bereits heute Morgen von der Arbeit aus angerufen, womit meine Pflicht getan war. Außerdem starb ich inzwischen vor Hunger und formte in Richtung Elaine die Frage: »Wo ist mein Abendessen?« Sie hob die linke Augenbraue, als wollte sie sagen: »Du fragst mich nach deinem Essen? Na warte!« Dann kniff sie die Augen zusammen wie ein böswilliger Kobold und sagte ins Telefon: »Ich glaube, Matt kommt gerade, Cynthia«, hielt inne, um auf meine Reaktion zu warten, die darin bestand, ihr die Speisekarte der am nächsten gelegenen Pizzeria mit Lieferservice samt meiner Kreditkarte auszuhändigen. »Nein, er war es doch nicht«, sagte Elaine zuckersüß zu meiner Mutter, während sie gleichzeitig tat, als zöge sie meine Kreditkarte durch ein imaginäres Kartenlesegerät. »Ich höre anscheinend schon Gespenster. Aber ich muss jetzt Schluss machen, Cynthia, es klingelt an der Tür. Tschüss.« Sie wollte gerade auflegen, doch die Stimme meiner Mutter tönte aus dem Hörer - so schnell ließ sie sich nicht abfertigen. »Nein, ich glaube nicht, dass es Matt ist, Cynthia«, sagte Elaine geduldig. -18-
»Er war in letzter Zeit so brav, da hab ich ihm einen eigenen Schlüssel gegeben.« Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch. »Du benimmst dich wirklich wie ein Baby, Matt«, sagte sie und rollte mit den Augen. »Ich verstehe nicht, warum du nicht von selbst vorgeschlagen hast, das Essen liefern zu lassen.« »Du bist heute dran mit Kochen«, protestierte ich. »Du weißt doch sicher, was ›dran sein‹ bedeutet?« »Schon, aber…«, begann sie, doch der Rest des Satzes blieb auf der Strecke, da sie sich auf die Angebote des Lieferservices konzentrieren musste. »Sieht aus, als wäre ich mit Anrufen dran, ja?« Elaine las weiter die Speisekarte, wobei sie hin und wieder lautlos den Namen einer Pizza formte, als wäre er genauso köstlich wie die Pizza selbst. »Deine Mutter hat bestimmt gemerkt, dass ich lüge«, sagte sie, während ihr Finger unter der »Hawaii Speciale« innehielt. »Ich hab echt keine Lust darauf, dass sie mich nicht leiden kann. Du weißt doch, wie wichtig es für mich ist, von allen gemocht zu werden. Ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass jemand schlecht von mir denkt - auch in England.« Sie ließ sich zurück ins Sofa plumpsen, dann drehte sie sich um und legte den Kopf in meinen Schoß. »Das war das letzte Mal, dass ich Mrs B. angelogen habe.« »Aber sicher«, erwiderte ich. »Solange du dich deiner weisen Worte erinnerst, wenn Mama und Papa Thomas das nächste Mal anrufen und ich wieder so tun muss, als wärst du unter der Dusche.« »Wohl gesprochen, mein edler Herr«, sagte Elaine in einem schlecht imitierten britischen Akzent. »Ich lüge für dich und du lügst für mich, das ist die Abmachung. Aber vergiss nicht, wenn wir später einmal vom Blitz erschlagen werden, weil wir unsere Eltern belogen haben, sind wir selbst daran schuld.« »Wie lange hast du überhaupt mit ihr gesprochen?« -19-
»Sie wollte nur fünf Minuten telefonieren, wegen der Kosten. Deshalb habe ich sie zurückgerufen.« Sie dachte einen Moment nach. »Insgesamt war es dann wohl eine halbe Stunde.« »Nach England?» Sie rollte wieder mit den Augen. »Weißt du, wie viel das kostet?« »Es ist doch nur Geld, Matt, und das ist zum Ausgeben da. Wenn du es nicht ausgibst, ist es kein Geld. Dann ist's nur wertloses Papier.« »Das glaubst du wirklich, ja?« »Jedes Wort«, erwiderte sie mit einem engelhaften Lächeln. Es war sinnlos, mit Elaine darüber zu diskutieren. Selbst in ihren hellsten Momenten konnte sie nur schwer nachvollziehen, dass man nicht jeden verdienten Dollar umgehend wieder ausgab. »Worüber habt ihr denn gesprochen?«, fragte ich. »Frauensachen.« »Was für Frauensachen? Sie hat doch nicht etwa wieder gefragt, wann wir endlich Kinder kriegen?« Meine Mom hatte in der Überzeugung, dass Elaine ihr die ersehnten Enkelkinder schenken würde, tatsächlich begonnen, freundschaftliche Bande mit ihr zu knüpfen. »Sag, dass es nicht so ist.« Elaine lachte. »Beruhig dich. Sie wollte nur wissen, was du für deinen dreißigsten Geburtstag planst. Ob du ihn in England feierst.« »Der ist doch erst Ende März!« »Wir Frauen treffen eben gern Vorbereitungen.« »Und was hast du gesagt?« »Dass ich es nicht weiß.« »Und was hat sie gesagt?« »Dass du darüber nachdenken sollst.« -20-
»Und was hast du auf ihre Frage geantwortet, ob ich nach Hause komme?« »Dass ich dich dazu überreden würde. Ich möchte nämlich gern einmal sehen, wo du aufgewachsen bist, und deine Schulfreunde kennen lernen. Das ist sicher lustig.« »Hm«, stieß ich teilnahmslos hervor, obwohl mir der Gedanke gefiel, meiner Heimat einen längeren Besuch abzustatten. »Was hat sie gesagt?« »Dass wir jederzeit willkommen sind. Und dass du sie zurückrufen sollst.« »Wie klang sie?« Elaine verlor die Geduld und warf mir ein Kissen an den Kopf. »Wenn du das alles wissen willst, warum hast du dann nicht selbst mit ihr gesprochen?« Sie nahm mir das Kissen weg, stopfte es unter ihren Kopf, griff zum Hörer und bestellte einfach irgendwas zu essen. Diese Art Geplänkel war Teil unseres Alltags, ermüdend, aber unterhaltsam, obwohl ich zuweilen das Gefühl hatte, in einer Sitcom gefangen zu sein. Manchmal fragte ich mich, warum wir nie normale Gespräche führten, so wie andere Paare. »Ich gehe das Essen holen«, sagte sie. »Es ist zwar erst in zwanzig Minuten fertig, aber wenn ich es selbst abhole, geht's bestimmt schneller - ich bin am Verhungern.« Sie verschwand im Schlafzimmer und kam mit ihrem Mantel wieder, sah in den Taschen nach, ob genug Geld darin war, und öffnete die Haustür. Plötzlich hielt sie inne. »Was ist?«, fragte ich und sah sie an. »Hast du was vergessen?« Die Tür halb offen, kam sie zurück und setzte sich ans andere Ende der Couch. »Sorry, Schatz«, sagte sie sanft. »Ich kann es nicht länger für mich behalten.« Ich verstand nichts. »Was kannst du nicht länger für dich -21-
behalten?« »Das«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Du. Ich. Wir. Ich… ich… liebe dich nicht mehr. So, jetzt ist es draußen. Du kannst mich ruhig hassen, mach nur!« Zu Elaines Bestürzung fing ich fürchterlich an zu lachen. »Lachst du mich etwa aus?«, fragte sie und starrte mich eindringlich an. »Du glaubst jetzt bestimmt, ich will es dir mit gleicher Münze heimzahlen«, sagte ich, wobei ich ihrem Blick standhielt. »Aber mir geht es genauso.« Mit der vollkommenen Gleichzeitigkeit von Paaren, die viel Zeit miteinander verbringen, brachen wir in lautes Gelächter aus und flüsterten wie auf Kommando: »Jetzt geht's mir viel besser.«
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3 »Und das war's dann?«, fragte ich verdutzt. Es war zwei Uhr morgens, und Elaine und ich redeten seit sieben Stunden über unsere Trennung. Es hatte keine Tränen gegeben, kein theatralisches Getue, nur langes Schweigen gefolgt von ein paar erstaunten Worten und weiterem Schweigen. »Sieht so aus«, sagte Elaine und schickte ihren Worten ein Achselzucken, eine merkwürdige Dehnbewegung sowie ein katzenhaftes Gähnen hinterher. Ich hatte sie zwar schon immer als katzenhaft empfunden, aber in diesem Moment ganz besonders: Sie erinnerte mich an eine Perserkatze, die unheimlich gern am Bauch gekrault werden wollte. »War das nicht alles…«, ich durchstöberte mein Vokabular, »ein bisschen zu leicht? Ein bisschen zu… du weißt schon?« Schließlich stolperte ich über das richtige Wort: »Zivilisiert?« Elaine neigte den Kopf zur Seite. »Ja, stimmt«, erwiderte sie. »Wahrscheinlich hast du Recht.« Ich sah sie ermutigend an, denn ich wollte, dass sie etwas sagte, irgendetwas. So fühlte es sich einfach falsch an - nicht unsere Trennung, die war eindeutig richtig, aber das Fehlen jeglicher Dramatik. Aufgrund meiner früheren Trennungen erwartete ich wesentlich mehr Trauer, schon aus reiner Höflichkeit. Unser ruhiges und gefasstes »Nadanntschüssunddankefürdieschöne-Zeit« machte mir irgendwie zu schaffen. Ich fragte mich, ob das eine der seltsamen Begleiterscheinungen am - zugegeben entfernten Vorabend des dreißigsten Geburtstags war. Seit über sechs Monaten schlug ich mich nun als Neunundzwanzigjähriger herum und wartete gespannt auf eine Veränderung angesichts der nahenden Dreißig - dass mein Bart ohne kahle Stellen -23-
wuchs, dass ich ein Weinregal besaß oder sogar eine echte Lebensgefährtin hatte, aber nichts geschah. Vielleicht ist es ja genau das, sagte ich mir jetzt: Meine Dreißig-Power ist die Fähigkeit, das Ende einer Beziehung mit Fassung zu ertragen, wie ein richtiger Mann. Mit siebenundzwanzig hätte es mich völlig aus der Bahn geworfen (siehe Monica Aspel). Mit zweiundzwanzig hätte es mich mit Herzversagen ans Bett gefesselt (siehe Jane Anderson und Chantelle Stephens). Aber dieses taube Gefühl… diese lächerliche Passivität war neu. Wenn es tatsächlich ein Geschenk des nahenden dreißigsten Geburtstags war, hatte ich zumindest eine Entschuldigung. Elaine hingegen war erst zweiundzwanzig. »Sollte es nicht mehr… Heulen und Zähneklappern geben?«, fragte ich nach einer Weile und reichte ihr den Kaffee, den ich gemacht hatte. »Sollte nicht zumindest einer von uns den anderen anflehen, nicht Schluss zu machen?« Sie gab mir die Tasse Kaffee zurück und sank auf die Knie. »Bleib bei mir, Matt! Wir dürfen uns nicht trennen! Wie soll ich denn ohne dich leben?« Vor lauter Lachen hatte sie anschließend große Mühe, wieder aufzustehen. »Du hast Recht. Es ist schon ein bisschen schwach von mir zu sagen: ›Ich finde, wir sollten uns trennen‹, und von dir zu antworten: ›Okay‹.« Sie lachte leise. »Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht liebe«, fuhr sie fort und sah mich dabei mit einer Mischung aus Ernst und Ironie an. »Das weißt du auch. Ich hätte nicht anderthalb Jahre mit dir zusammen sein und ein gemeinsames Zuhause haben können, ohne dich zu lieben. Es ist einfach nur… langweilig. Dir muss es in den letzten sechs Monaten doch genauso gegangen sein. Die Leidenschaft ist verschwunden. Wir sind wie… ich weiß nicht… Bruder und Schwester.« »Peter und Jane«, bot ich an. »Hänsel und Gretel«, erwiderte sie. -24-
»Donny und Marie«, hielt ich dagegen. »Genau«, sagte sie und nahm ihre Tasse Kaffee wieder. Einen Moment lang nippte sie gedankenverloren daran. »Wenn ich dich in letzter Zeit angesehen habe, wollte ich dir weniger die Kleider vom Leib reißen, als sie mal ordentlich bügeln.« »Du hast Recht«, erwiderte ich. »Ich liebe dich auch, aber ich bin zugegebenermaßen nicht mehr verliebt in dich. Wenn ich morgens aufwache und beobachte, wie du im Schrank verzweifelt nach Klamotten fürs Büro suchst, ziehe ich dich mit den Augen an. Wenn du dich dann endlich entschieden hast, hab ich dich im Geiste schon vollständig mit Rollkragenpullover, Mantel und Schal bekleidet.« »Was hat das deiner Meinung nach alles zu bedeuten?«, fragte sie, als erwarte sie ernsthaft eine Antwort. »Glaubst du, es ist normal, so zivilisiert zu sein?« Ich zuckte die Schultern. »Eher nicht. Wenn die Beziehungen von Arbeitskollegen kaputt gehen und ich beide Seiten frage, was passiert ist, heißt es zwar immer: ›Es beruht auf Gegenseitigkeit‹, als gäbe es dafür Pluspunkte. Aber ich glaube, unsere ist die erste tatsächlich auf Gegenseitigkeit beruhende Trennung der Menschheitsgeschichte.« »Das ist echt unheimlich«, sagte Elaine. »Wo haben wir diese Kraft her, und warum hatte ich sie nicht, als ich sie dringend brauchte, zum Beispiel mit vierzehn?« Sie stand auf und verschwand in der Küche, kam mit einer Packung OreoPlätzchen wieder und aß eins nach dem anderen auf. Mitten beim Vierten rief sie dann plötzlich: »Ich hab's!« und wedelte aufgeregt mit dem krümelnden Rest umher. »Was hast du?« »Die Antwort«, erwiderte sie. »Es ist genetisch bedingt. Selbst auf Zellenniveau sind Menschen auf die Selbsterhaltung ihrer Spezies programmiert, stimmt's?« Ich nickte. -25-
»Und trotz aller Ermutigungen deiner Mom verspüren wir keinerlei Drang, gemeinsame Nachkommen in die Welt zu setzen, richtig?« Ich nickte wieder. »Deshalb regen wir uns nicht auf. Weil unsere Gene uns sagen: Was nicht ist, das ist nicht.«
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4 Es war elf Uhr am darauf folgenden Samstagmorgen und wir hatten gerade gefrühstückt. Seit dem Entschluss, uns zu trennen, waren fünf Tage vergangen. Ich schlief nun auf dem Sofa (bekannt als das Höllensofa), was auch der Grund für meine tierischen Nackenschmerzen war. Am Dienstag hatte ich Paul Barron, meinen Boss, um meine Versetzung gebeten, ich wollte weg aus New York und am liebsten ganz aus Amerika. Es war mir zwar gut hier gegangen und ich hatte auch ein paar Freunde gefunden, wollte aber jetzt, wo meine Beziehung mit Elaine zu Ende war, nicht länger bleiben. Ein Umzug war genau das, was ich jetzt brauchte. »Matt«, hatte mein Boss erwidert, »als Teammanager für Software-Design hast du hier einen Level erreicht, auf dem dir alle Türen offen stehen.« Grob übersetzt bedeutete das, ich hatte gute Arbeit geleistet, was stimmte, und konnte zwischen allen europäischen Niederlassungen der Firma wählen: London, Paris, Mailand und Barcelona. »Danke Paul«, hatte ich erwidert. »Das ist… das ist wirklich nett.« Dann fragte er mich, wo ich hin wolle, und ich stand auf einmal dumm da. »Das weiß ich nicht«, erwiderte ich, »nur, dass ich woandershin will.« Er hatte gelächelt und gesagt, ich solle es mir überlegen und ihm dann Bescheid sagen. Ich sah Elaine über die leeren Frühstücksteller hinweg an. Sie wusste noch nicht, dass ich meine Versetzung in die Wege geleitet hatte. Ich wartete auf den richtigen Moment, es ihr zu sagen, hatte aber nicht das Gefühl, dass er jetzt gekommen war. Elaine trug ihr häusliches Gammel-Outfit: ein grau meliertes TShirt, das sie früher beim Yoga angehabt hatte, und braune Shorts von Gap aus dem Jahr, als Braun gerade das neue Schwarz war. Sie hatte einen ihrer nackten Füße auf den Stuhl gestellt und kratzte am dunkelroten Lack ihrer Fußnägel herum. Wer sie so sah, würde nie glauben, dass sie in einer der coolsten -27-
New Yorker PR-Agenturen arbeitete, wenn auch in den unteren Rängen. Von Montag bis Freitag schlüpfte sie in ihre modische und doch stilvolle Arbeitsuniform, aber samstags nahm sie frei. »An was denkst du gerade?«, frage sie. Offensichtlich standen mir die Gedanken an meine Versetzung deutlich ins Gesicht geschrieben. »Was hat bei dir den Ausschlag gegeben?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage, um nichts von der Versetzung sagen zu müssen. »Ich meine, war es ein bestimmtes Ereignis oder die Ansammlung vieler kleiner Dinge?« »Ich glaube, es war der Film, den wir letztes Wochenende bei Sara und Jimmy gesehen haben«, sagte sie, während sie weiter an ihren Fußnägeln zupfte. »Der Englische Patient?« Sie nickte. »Er hat mich einfach nachdenklich gemacht. Die Frau des armen Engländers rennt mit dem deutschen Piloten auf und davon, und das soll dann romantisch sein. Ich meine, Affären sind so… gemein, so widerlich. Was ich eigentlich damit sagen will… Du kennst doch Emily, ja?« Emily war Elaines Kollegin. »Sie und ihr Freund Jez haben sich getrennt, weil er plötzlich ganz komisch wurde und meinte, er hätte im Leben noch nicht genug erlebt und was verpasst.« »Was Jez wahrscheinlich mit ›nicht genug erlebt‹ meinte und wahrscheinlich schon nebenbei ›erlebte‹, waren mehr Frauen im Bett.« »Richtig. Und sie hatte Abermillionen Affären mit allem, was Haare auf der Brust hatte und Mitglied im Fitnessclub war.« »Abermillionen?«, fragte ich ungläubig. »Millionen mal Abermillionen«, sagte Elaine. »Echt.« Sie hielt inne. »Das ist doch furchtbar, oder? Sie haben sich einfach nur miteinander gelangweilt und waren zu feige, sich zu trennen. Stattdessen haben sie sich monatelang mit Fremdgehen das -28-
Leben zur Hölle gemacht…« Sie ließ ihren Satz einen Moment in der Luft hängen, dann fuhr sie fort: »Du musst doch auch gemerkt haben, Matt, dass wir an diesem Punkt angekommen waren.« »Wirklich?« Ich wollte ihren Blick auffangen, doch sie widmete sich schon wieder ihren Fußnägeln. »Na ja, vielleicht noch nicht ganz. Aber doch eindeutig so weit, dass uns andere Leute gefielen - mir der süße Motorradfahrer mit den Dreadlocks, der mich immer anlächelt, wenn wir zusammen im Aufzug fahren; und dir die Frau im Lebensmittelladen, die mit dem Bauchnabelpiercing, die dein Sandwich immer ganz dick belegt, weil sie dich süß findet.« »Welche Frau in welchem Lebensmittelladen?« Elaine sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Das hättest du wohl gern! Die hab ich natürlich erfunden.« Sie kicherte. »Nicht lange, und aus dem Gefallen wäre Begehren geworden, das unvermeidlich zum Handeln geführt hätte. Und so sollte unsere Beziehung nun wirklich nicht enden. Das hätte ich echt gehasst! Wir können es besser. So haben wir ein Stück weit Kontrolle und sind in der Lage in Würde auseinander zu gehen.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich war sowieso nie deine Traumfrau, oder? Und du warst ganz bestimmt nicht mein Traummann. Wir sind einfach so zusammengewürfelt worden. Wenn sich zwischen uns nichts geändert hätte und mein Traummann wäre aufgetaucht…« »Wäre ich im Weg gewesen.« »Und umgekehrt.« Da war was dran. Ich fand schon immer, dass Elaine (die mich mit dem Satz: »Hi, ich stehe auf Engländer« angesprochen hatte) viel besser zu einem hoch gewachsenen, männlicheren Typ passen würde, mit großen Händen, Internatsbildung und nach Möglichkeit familiären Bindungen zu einem unbedeutenden Mitglied der Königsfamilie. Ich selbst sollte -29-
vielleicht eher mit einem kreativen Wesen zusammen sein, einer Sängerin, Künstlerin oder Tänzerin - also dem leicht überspannten Typ Frau. Nicht wirklich durchgeknallt, mehr Janis-Joplinverrückt. Die im Sommer barfuß herumläuft und jedes Jahr einen Selbstmordversuch unternimmt. Aber Scherz beiseite, Elaine hatte Recht. »Willst du damit sagen, wir wären immer noch zusammen, wenn wir uns Stolz und Vorurteil anstatt Der Englische Patient angesehen hätten? Also das ist meschugge.« Sie lachte, als hätte ich sie gekitzelt. »Nein«, sagte sie, als sie sich wieder erholt hatte, »es wäre trotzdem passiert. Auch ohne den Englischen Patienten hätte ich mir ziemlich bald eingestanden, dass du niemals mein Mr Darcy sein wirst.« »Und du nicht meine Elizabeth Bennet.«
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5 »Wir haben uns von Anfang an ziemlich rumgequält«, sagte Elaine traurig. »Es gibt einfach viel zu viel, was uns aneinander stört.« Es war sieben Uhr dreißig morgens, und Elaine und ich waren auf dem Weg zur U-Bahn. Vier Wochen waren ins Land gezogen, und meinem Rücken ging es wesentlich besser, weil ich jetzt wieder im Bett schlief; vor lauter Schuldgefühlen wegen meiner Schmerzen war Elaine aufs Höllensofa umgezogen. Anfang der Woche hatte Paul Barron mich zum Mittagessen eingeladen, um mir mitzuteilen, dass meine Versetzung bewilligt sei und ich der Personalabteilung nur noch mitteilen müsse, wohin ich wollte. Er versuchte sogar eine Stunde lang, mich zum Bleiben zu überreden, was mir schmeichelte, aber auch peinlich war. Ich lehnte dankend ab und versprach, ihm umgehend Bescheid zu geben, sobald ich mich für einen Ort entschieden hatte. Zum Abschied drückte er mir die Schulter, was wohl: »Es war schön, jemanden wie dich im Team zu haben« bedeuten sollte, sich aber wie der vulkanische Todesgriff in Star-Trek anfühlte. Noch Stunden später verspürte ich ein Ziehen im Rücken. »Unsere Trennung ist die richtige Entscheidung«, sagte ich, als wir die Treppe hinunter zur U-Bahn gingen. »Ganz bestimmt«, bestätigte sie. »Ich war eine furchtbare Freundin, wahrscheinlich eine der schlimmsten, die man sich vorstellen kann. Ich koche nicht, ich putze nicht und ich trockne meine Unterwäsche auf der Heizung, was dich verrückt macht.« Das stimmte, Elaine war wirklich eine furchtbare Freundin. Die Aufzählung ihrer Defizite war akkurat, und obendrein kaufte sie manchmal exotische Früchte wie Sternanis oder Kumquats, »um etwas Leckeres damit zu machen«. Sie landeten -31-
dann in einer Küchenschüssel und verrotteten. Unten gingen wir den Bahnsteig entlang und warteten auf die »D«. Wie immer standen die Menschen dicht gedrängt beieinander. Ich sah mich um: Manche lasen Zeitung, andere versuchten, bei ihren Nachbarn mitzulesen, einige aßen Gebäck und wieder andere starrten einfach ins Nichts. Wir waren wahrscheinlich die Einzigen, die eine kürzlich verschiedene Beziehung zu Tode analysierten. »Ich war auch nicht gerade perfekt«, sagte ich und nahm den Faden unserer Unterhaltung wieder auf. »Stimmt«, sagte sie ruhig. »Aber du hast es wenigstens versucht. Jetzt bist du frei und kannst nach Miss Perfekt Ausschau halten.« »Wie ist sie denn so, meine Miss P.?« »Hm, mal sehen. Auf welchen Frauentyp stehst du?« Sie dachte einen Moment nach. »Also sie ist älter als ich - eher in deinem Alter, und versteht deshalb deine Witze, ohne dass du sie ihr erklären musst. Sie ist Engländerin, aus genau dem gleichen Grund. Sie kleidet sich gut, aber nicht übertrieben modisch, und du fühlst dich in ihrer Gegenwart wohl. Wenn du ihr in die Augen siehst, hast du das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.« Sie hielt einen Moment inne, dann fügte sie hinzu: »Oh, und sie hat so tolle Titten, dass du deine Hände nicht von ihr lassen kannst.« »Interessant«, erwiderte ich ausweichend. »Sehr interessant.« »Und wie sieht mein nächster Freund aus?«, fragte Elaine in ihrem schönsten britischen Englisch, als wollte sie damit sagen: »Ich werde dich und deinen komischen Akzent vermissen.« Ich rümpfte die Nase, kratzte mich am Kinn und tat auch sonst noch alles, was auf schweres Nachdenken hinwies. »Also gut«, sagte ich, nachdem ich sie mit meiner Pantomime verärgert hatte. »Er ist einundzwanzig, vielleicht sogar zwanzig. Er geht immer noch aufs College. Er ist Schauspielschüler. Er -32-
hat eine Menge coole Freunde, alles Schauspieler und Schriftsteller, und am Wochenende arbeitet er als DJ in einem Club in Downtown. Samstags bleibt ihr die ganze Nacht auf und redet bis zum Morgengrauen, und er gibt dir das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein.« Elaine zog die linke Augenbraue hoch. »Nicht schlecht, Mr Beckford, echt. Hast du in meinem Tagebuch gelesen?« »Nein«, sagte ich. »Das war gar nicht nötig. Ich hab mir einfach jemanden vorgestellt, der das Gegenteil von mir ist.« Die Bahn kam, und es gelang uns, vor allen anderen hineinzustürmen und die letzten beiden gegenüberliegenden Sitze zu ergattern. Das Abteil war zum Schluss so voll, dass alle Sitzplatzinhaber einen persönlichen Stehplatzinhaber neben sich hatten, der sich im Rhythmus des Fahrtverlaufs an ihn schmiegte. Elaine holte ihren Roman aus der Tasche, so dass ich unsere Unterhaltung für beendet hielt. Doch nach einer Weile ließ sie das Buch auf ihren Schoß sinken. »Matt?« Ihr fragender Tonfall bedeutete, dass ich die Ursache ihrer Lesestörung war. »Wenn du gewusst hast, dass es zwischen uns nicht mehr stimmt, warum hast du nie was gesagt?« »Hmmm.« Ich versuchte, Zeit zu gewinnen. »Gute Frage.« Ich zögerte die Antwort künstlich hinaus, denn sie war simpel: Ich wurde bald dreißig und hatte Elaine vor langer Zeit dazu auserkoren, dieses Ereignis mit mir zu feiern. Deshalb konnte ich mich nicht von der Tatsache, dass es in unserer Beziehung kriselte, aus dem Konzept bringen lassen. Ich wollte einfach meinem Plan folgen und nicht allein sein. So hatte ich Hoffnung gesehen, wo es keine Hoffnung gab, und etwas zu retten versucht, was nicht mehr zu retten war. »Hummeln«, sagte ich schließlich, als ich bemerkte, dass sich die Frau mittleren Alters neben mir nicht länger auf die Berichte der New York Post konzentrierte, sondern mit Elefantenohren -33-
unserem Gespräch lauschte. »Kranke Hummeln, um genau zu sein.« »Hummeln?«, wiederholte Elaine ungläubig. »Ja, dicke, pelzige Hummeln.« Ich stöhnte, wandte mich der New-York-Post-Leserin zu und starrte sie so lange an, bis sie es kapierte. »Als Kind habe ich mich immer furchtbar aufgeregt, wenn ich eine sterbende Hummel im Garten fand. Mit fünf fand ich es ungerecht, dass etwas so Niedliches und Pelziges, das sogar Honig macht und im Garten mithilft, sterben muss. Immer wenn ich eine sterbende Hummel fand, versuchte ich sie zu retten. Ich legte sie auf den Rand eines Tellers mit Zuckerwasser und ermutigte sie zum Trinken, damit sie wieder gesund wurde.« »Und, hat es funktioniert?« »Nein. Sie sind immer…« Mitten im Satz hielt ich inne, denn die New-York-Post-Frau hörte uns wieder zu. Ich starrte sie erneut an, woraufhin sie die Zeitung in Kopfhöhe schob. »Was ich sagen will, ist«, fuhr ich fort, »dass ich in dir und mir, in uns - also in unserer Beziehung eine kranke Hummel gesehen habe. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, dass wir wieder gesund werden. Aber als du dann Schluss gemacht hast, wusste ich, dass es vorbei war. Trotzdem ist es immer ein Schock, wenn so was passiert, auch wenn es unvermeidlich ist.« Ich sah Elaine an. Sie hatte Tränen in den Augen. »Was ist los?« »Hummeln«, sagte sie leise. »Das ist der bescheuertste Vergleich, den ich je gehört habe.«
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6 Als ich schließlich auszog, waren seit unserem Trennungsbeschluss drei Monate vergangen. Kurz vor Weihnachten hatte ich ein weiteres Treffen mit meinem Boss gehabt. Fest entschlossen, mich wieder zurück nach London versetzen zu lassen, machte er mir ein Angebot, das ich unmöglich ablehnen konnte. Die Firma plante, ein Büro in Sydney zu eröffnen, und ich sollte zum Design-Consultant befördert werden und ein Softwareteam aufbauen. Der Vertrag hatte eine Laufzeit von sechs bis zwölf Monaten, und ich sollte über Nacht das Doppelte verdienen. Es war mein ThirtySomething-Traumjob mit einem Thirty-SomethingTraumgehalt. Perfekt. Na ja, fast. Das einzige Problem war, dass dieses Projekt erst in zwei Monaten begann und ich erst einen weiteren Monat später zum Einsatz kommen sollte. Was bedeutete, dass ich drei Monate lang in der Luft hängen würde. Sie boten mir an, so lange weiter in New York zu bleiben, doch das kam für mich nicht infrage. Ich schlug vor, in der Zwischenzeit im Londoner Büro zu arbeiten, aber dort ein Projekt für drei Monate zu finden, schien zu problematisch. Am Ende unseres dreistündigen Treffens war mir der rettende Einfall gekommen: Ich würde drei Monate unbezahlten Urlaub nehmen. Mein Boss war einverstanden. Nach acht Jahren Arbeit wollte ich eine Pause einlegen. Und die brauchte ich auch. Im Gegensatz zu vielen meiner Freunde an der Universität hatte ich weder vor noch nach dem Studium ein Jahr freigemacht. Ich war direkt von der Uni weg angeheuert worden und hatte seither kaum Urlaub gehabt. Mein Sparkonto war reichlich gefüllt, ich hätte sogar doppelt so lange ohne Einkommen überlebt, und so stand meiner dreimonatigen -35-
Auszeit nichts im Wege. »Haben Sie denn schon eine Vorstellung, was Sie alles tun wollen?«, hatte mein Boss gefragt, als könnte er meine Gedanken lesen. »Am Strand liegen? Reisen?« »Nichts dergleichen«, erwiderte ich so schnell, dass es selbst mich verblüffte. »Ich fliege nach Hause, nach Birmingham. Ich werde meine Eltern besuchen, mich mit alten Freunden treffen und meinen dreißigsten Geburtstag feiern.« Natürlich war meine gute Idee in Wirklichkeit eine sehr schlechte, und das hatte mit meinen Eltern zu tun. Hier die drei wichtigsten Gründe: 1 Ich wusste, dass meine Eltern mich in den Wahnsinn trieben, sobald ich länger als vierundzwanzig Stunden mit ihnen unter einem Dach verbrachte. 2 In der ganzen englischen Sprache gab es keine Möglichkeit, mit neunundzwanzig zu sagen: »Ich ziehe zurück zu meinen Eltern«, und es auch nur annähernd cool erscheinen zu lassen. 3 Ein dritter fiel mir gerade nicht ein, aber die ersten beiden waren mehr als genug. Trotz des Eltern-Kind-Konfliktpotenzials und der entschieden uncoolen Figur, die ich abgeben würde, war mein Elternhaus der einzige Ort, an den ich zurückgehen konnte. Wenn das Leben ein Labyrinth mit versteckten Antworten ist, war mein Umzug nach New York und meine Beziehung mit Elaine ein langer, qualvoller Trip in eine Sackgasse gewesen. So schien es nur passend, wo ich jetzt vorübergehend in der Luft hing, noch einmal von vorn zu beginnen. Deshalb wollte ich nach Hause gehen, um eine Pause einzulegen, nicht nur von der Arbeit, sondern auch vom Leben. Ich würde wieder bei meinen Eltern -36-
wohnen, mich bemuttern lassen und mir die Gartenarbeitstipps von meinem Dad anhören. Und in drei Monaten würde ich mich - inzwischen dreißig geworden - zu neuen Ufern in Australien aufmachen. So sollte es sein.
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7 Mein letzter Tag in New York kam schneller, als erwartet, und mit den letzten Stunden war es nicht anders. Ich hatte den ganzen Tag lang gepackt und verstaute gerade ein paar Socken und meinen Laptop in der Reisetasche, als Elaine - gerade von der Arbeit zurück - an die Schlafzimmertür klopfte und eintrat. Verblüfft stellte ich fest, dass sie nicht telefonierte. Dieser Abend, mein letzter Abend, war etwas Besonderes. »Hi«, sagte sie leise und legte ihre Tasche aufs Bett. »Hi«, erwiderte ich ebenfalls leise. »Wie war's im Büro?« »Cool«, antwortete sie. »Ich hab bei den Aufnahmen für ein neues Produkt assistiert, und Martha ist mit orangefarbenen Haaren erschienen.« Martha war eine von Elaines zahllosen Freundinnen. »Sie hatte mit ihrem Freund gewettet, dass sie sie färben würde.« »Echt verrückt«, sagte ich gespielt ungläubig. Elaine grinste, und schließlich lächelte sie, mit leuchtenden Augen. Ich sah, dass sie mir noch mehr Klatsch erzählen und die Erlebnisse des Tages mit mir teilen wollte, was unüblich war. Aber dann wanderte ihr Blick zu meinen Reisetaschen auf dem Bett, und ihr Lächeln sowie das Leuchten in den Augen verschwanden. »Wie war dein Tag?«, fragte sie und setzte sich auf die Bettkante. Ich zuckte die Schultern. »Hast du alles gepackt, was du brauchst?« Elaine verströmte die gebremste Tatkraft von Menschen, die unbedingt etwas tun wollen, aber nicht wissen, was. »Ja, ich denke schon«, erwiderte ich, obwohl ich mir dessen keineswegs sicher war. -38-
»Auch die Zahnbürste?« »Oh, stimmt. Danke fürs Mitdenken, die hab ich noch nicht.« Ich verschwand im Badezimmer und suchte überall nach der Zahnbürste, konnte sie aber nirgends finden. Ich ging zurück ins Schlafzimmer. »Sie ist weg.« »Sie ist in der Küche auf dem Radio«, sagte Elaine, ohne mich anzusehen. »Wo du sie hingelegt hast.« Ich eilte hinaus und kam wenig später mit der Zahnbürste zurück. »Das wird mir fehlen«, sagte sie, als ich die Zahnbürste in die Tasche legte. »Was?« »Zu wissen, wo all die Sachen sind, die du verlegt hast. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du ohne mich nie wieder was findest.« Dass ich immer derjenige war, der genau wusste, wo alles lag, schien ihr entfallen zu sein. Aber ich merkte, dass sie es gut meinte. Wo wir uns jetzt trennten, wollte sie den Eindruck vermitteln, eine Freundin mit Ordnungssinn gewesen zu sein. Schließlich drehte ich eine letzte Runde in der Wohnung, um mich zu vergewissern, dass ich nichts Wichtiges vergessen hatte. Elaine folgte mir und machte mich auf Sachen aufmerksam, die ich übersehen hatte und die absolut überlebenswichtig waren. Eine Stunde später standen meine zukünftige Exfreundin und ich an der Passkontrolle des JFKFlughafens. »Matt?« »Ja?« »Ruf mich an, wenn du in England gelandet bist.« Ich nickte, überlegte es mir dann aber anders. Im Gegensatz zu Elaine telefonierte ich nicht gern und würde sie folglich auch nicht anrufen. »Ich schick dir eine Mail ins Büro«, schlug ich -39-
stattdessen vor. »Wir können transatlantische E-Mail-Freunde werden… das wird auch deiner Telefonrechnung gut tun.« Die Vorstellung schien ihre Laune ein wenig zu heben, also nahm ich meine Reisetaschen und wandte mich zum Gehen. In diesem Moment stellte ich alles infrage, was ich die ganze Zeit für die Wahrheit gehalten hatte. Beruhte unsere Trennung wirklich auf Gegenseitigkeit? Hatte sie irgendetwas mit meinem bevorstehenden dreißigsten Geburtstag zu tun? Oder verzichtete ich gerade kampflos auf das Beste, was mir jemals begegnet war? Meine Zweifel müssen mir deutlich im Gesicht gestanden haben, denn Elaine fing an zu weinen, die ersten wirklichen Tränen seit Beginn unserer drei Monate langen Trennungsphase. Aber sie sagte nicht: »Bleib hier« oder: »Geh nicht«. Sie gab mir nur einen langen, leidenschaftlichen KUSS und ging.
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BIRMINGHAM 1. Monat Datum: 9. Januar Tage bis zum dreißigsten Geburtstag: 81 Verfassung: Ganz okay
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8 »Wohin soll's denn gehen, der Herr?«, fragte der Taxifahrer, nachdem ich mein ganzes Gepäck im Kofferraum des schwarzen Taxis verstaut und mich auf dem glänzenden Polster niedergelassen hatte. »Marlborough Road in King's Heath«, antwortete ich zögernd. Irgendwie kam mir der Mann bekannt vor, aber ich konnte nicht sagen, woher. Er fuhr los. »Sie waren wohl in Urlaub?« »Nein«, erwiderte ich. »Ich komme gerade aus New York, wo ich wohne - oder gewohnt habe, um genau zu sein.« »Ein Cousin von mir lebt in Washington DC«, antwortete er. »Tatsächlich?« »Ja.« Er betrachtete mich im Rückspiegel. »Hab ihn nie besonders leiden können. Fand ihn immer ein bisschen hochnäsig, wie alle auf seiner Seite der Familie.« Er schob mit dem Finger seine Nasenspitze hoch, entweder um einen Popel zu entfernen oder zu verdeutlichen, wie arrogant die ganze Sippschaft war. Dann stieß er ein kurzes Lachen aus und wischte den Finger am Lenkrad ab. Den Rest der Fahrt schwieg der Taxifahrer und trommelte mit den Fingern im Takt der Musik eines Piratensenders auf das fellbezogene Lenkrad. Nachdem ich mir erfolglos das Hirn zermartert hatte, woher ich ihn kannte, sah ich aus dem Fenster und betrachtete mir die Stadt. Wie die meisten Industriestädte, hatte man Birmingham einer Schönheitsoperation unterzogen, doch ihre Metamorphose war zu schnell und zu radikal vonstatten gegangen - ich erkannte meine Heimatstadt kaum wieder. Es schien, als wären die -42-
Einwohner es leid geworden, der ganzen Nation als Lachtablette zu dienen, und hätten die Stadt gezwungen, sich in Schale zu werfen. Doch trotz ihres landesweiten Status als Witzfigur, war ich immer stolz gewesen, aus Birmingham zu sein, gerade wegen des Images. Denn wenn sich die ganze Nation über einen lustig macht, kann man sich selbst nicht allzu ernst nehmen. Das hatte ich besonders in den fünf Jahren in London zu spüren bekommen. Sobald ich den Mund aufmachte, unterstellten mir meine Gesprächspartner totale Beschränktheit und redeten nur noch ganz langsam mit mir. Oder sie versuchten, mich wie einen modernen Hofnarren dazu zu verleiteten, Worte wie »tatsächlich« (thaatzächliech), »gehen« (gähähn) oder »Birmingham« (Bhööörminggam) zu sagen, damit ich die ganze Pracht meines singenden Akzents entfaltete. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ständig rechtfertigen zu müssen, warum ich aus Birmingham kam, als handele es sich um eine Art übertriebene Behinderung, einen Fluch oder einen Witz. Doch letztlich war mir das egal. Ich stammte von hier und würde die Stadt immer lieben. »Entschuldigen Sie«, sagte der Taxifahrer und riss mich aus meinen Tagträumen, »Sie heißen nicht zufällig Matt Beckford?« »Ja«, erwiderte ich zögernd, »stimmt.« »Ich hab's gewusst!«, sagte er. »Seitdem Sie eingestiegen sind, überlege ich, woher ich Sie kenne.« »Und woher kennen Sie mich?« »Sie erinnern sich bestimmt nicht an mich«, sagte er und stellte das Radio leise, »wir sind auf dieselbe Schule gegangen, die King's Heath Gesamtschule.« Er drehte sich um und hielt mir die Hand hin. »Tony Goddard.« Der Name kam mir bekannt vor. »Dave Goddards kleiner Bruder?« »Richtig.« -43-
»Dave Goddard«, sinnierte ich, »von ihm habe ich ewig nichts gehört.« Damals in der Schule war Dave Goddard der Junge, der garantiert einmal Hirnchirurg werden würde. »Was macht er denn so?« »Er lebt in Kanada«, erwiderte der Bruder. »In Toronto, um genau zu sein. Hat dort im Urlaub ein Mädchen kennen gelernt und ist vor fünf Jahren hingezogen. Jetzt hat er drei Kinder und ein großes Haus. Ihm geht's echt gut.« Ich musste es wissen. »Dann ist er also wirklich Hirnchirurg geworden? Er war so klug, dass sonst nichts für ihn infrage kam.« Tony Goddard lachte. »Ich weiß, was Sie meinen. Er war hundert Mal klüger als alle anderen in der Familie. Aber Chirurg ist er nicht geworden, sondern Rechtsanwalt, Spezialgebiet Handelsrecht.« »Und Sie sind sein kleiner Bruder?« »Ja. Ich war erst zwölf, als Sie auf die Kings's Heath gingen. Sie und mein Bruder hatten die Schule schon fast hinter sich, und ich stand noch ganz am Anfang.« Er kicherte. »Aber eins kann ich Ihnen sagen.« »Was?« »Sie waren damals echt cool. Es kursierten ein paar tolle Storys über Sie.« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte ich verlegen. Als Beweis führte er einige der legendären Ereignisse an, in die ich angeblich verwickelt gewesen war: zuerst den Protest gegen das ungenießbare Schulessen, der auf dem Schuldach stattfand (stimmt, ich wurde vierzehn Tage suspendiert), dann die Mutprobe, bei der ich nackt übers Schulsportfeld gerannt war (stimmt nicht, ein modernes Märchen), und schließlich das Geschenk, das ich für meinen Klassenlehrer zum vierzigsten Geburtstag organisiert hatte, eine als Polizistin verkleidete Frau, -44-
die ihm ein Kussogramm überbrachte, die leicht abgewandelte Form eines Telegrams (stimmt fast; ich hatte alles organisiert, aber die Schulsekretärin durchschaute die Absicht der »Polizistin« und ließ sie nicht herein). Es war komisch, diese Geschichten in jenem ehrfürchtigen Ton zu hören, der normalerweise der ersten Mondlandung oder dem Fall der Berliner Mauer vorbehalten war. Aber mit zwölf haben die wirklich beeindruckenden Ereignisse wahrscheinlich alle mit Sex, Nacktheit und Dach-Protesten zu tun. »Es war schon eine schöne Zeit«, gestand ich, »vielleicht die beste. Aber das populärste Kid in der Schule war ich nicht, so viel ist sicher. Ich hab wie die meisten versucht, nicht aufzufallen und zu überleben.« Wir unterhielten uns weiter über früher und tauschten Erinnerungen aus. Ich erzählte ihm, was ich so alles gemacht hatte, und er berichtete mir von seinem Leben. Dann gab er ein paar Gerüchte über Leute aus meinem Jahrgang zum Besten. Die Namen, die er erwähnte, hatte ich schon alle vergessen: Peter Whittacker (damals potenzieller Profisportler) war heute Verkaufsleiter in einer Firma für Doppelglasfenster; Gemma Piper (damals potenzielle Oxford-Absolventin und die zukünftige weibliche Version von Kenneth Branagh) pries heute Waschpulver in einer Fernsehwerbung an; Lucy Dunn (damals nett, aber langweilig, ohne Aussicht auf Besserung) war heute Produktionsleiterin beim Radiosender BBC Pebble Mill; und Chris Adams (damals hatte er immer nach Pipi gerochen) war heute Manager eines Naturkostladens. Das waren die Neuigkeiten. »Hier ist es«, sagte ich, als wir in die Straße meiner Eltern einbogen. »Das Haus mit dem makellos gepflegten Rasen.« Er hielt davor an. »Was kostet es?« Er stellte den Gebührenzähler ab. »Nichts.« »Das möchte ich aber nicht«, sagte ich. Es war eine nette -45-
Geste, doch das konnte ich unmöglich akzeptieren. Vermutlich betrug der Fahrpreis um die zehn Pfund, also hielt ich ihm einen entsprechenden Schein hin. »Das kann ich nicht annehmen«, beharrte er. »Auf keinen Fall.« »Also gut, dann vielen Dank«, erwiderte ich. »Eine schöne Willkommensgeste in der Heimat.« Er bestand darauf, mein Gepäck aus dem Wagen zu hieven, dann verabschiedeten wir uns mit einem Händedruck. Er hupte kurz und fuhr winkend davon. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass die Tüllgardinen unserer beiden Nachbarn sich heftig bewegten. Im Gegensatz zu den Londonern, nahmen die Menschen in dieser Straße immer nur am Anfang und Ende ihres Pauschalurlaubs ein Taxi, für die Fahrt zum und vom Flughafen. Dass ich nach einem einfachen Flug eins genommen hatte, wo meine Eltern ganz nahe an der Bushaltestelle der Linie 50 wohnten, dem am häufigsten verkehrenden Bus in ganz Europa, war ein Zeichen absoluter Dekadenz. In der Tat, der verlorene Sohn war heimgekehrt.
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9 Als ich mit dem Finger über der Klingel vor der Tür stand, kam mir der Gedanke, dass ich meinen Eltern mein Kommen hätte ankündigen sollen, zumal es nicht nur ein kurzes Wiedersehen sein würde, sondern ein dreimonatiger Besuch. Nachdem ich den Entschluss dazu gefasst hatte, wollte ich es ihnen zwar sagen, brachte es aber nicht fertig, weil damit das Ende meiner Beziehung mit Elaine zur Sprache gekommen wäre. Was für sie ebenfalls bedeutete, dass ihr ältester Sohn in absehbarer Zukunft keine Enkelkinder zeugen würde. Ich klingelte und wartete. Selbst durch das Milchglas der Eingangstür sah ich sofort, dass mein Vater sich näherte. »Hallo, Dad«, sagte ich munter, als er die Tür öffnete. »Ich bin wieder da!« Mein Vater, in rot karierten Pantoffeln und mit einem kleinen Gartenrechen in der Hand, musterte mich misstrauisch von oben bis unten. Es war offensichtlich, dass ihn mein Anblick leicht verwirrte. »Matt ist nach Hause gekommen«, drückte sein Gesicht aus. »Warum?« »Matthew?«, sagte mein Dad schließlich, als wolle er sichergehen, dass ich kein Schwindler war. »Dad?«, erwiderte ich im gleichen Ton. »Was machst du hier?« Die schroffe Begrüßung meines Vaters nahm ich gelassen hin. Er kam immer schnurstracks zur Sache und bewegte sich von dort aus wieder zurück. »Ich liefere Milch«, antwortete ich mit einem Augenzwinkern. »Ich hab gehört, deine ist alle, und bin den ganzen Weg aus Amerika gekommen, um dir einen neuen Liter fettarme zu bringen.« -47-
Dad lachte und schüttelte mir fest die Hand. Er umarmte einen nicht gerne, selbst bei Frauen machte er keine Ausnahme, aber er schüttelte mit Begeisterung Hände. Wir standen noch immer vor der Tür, als er sagte: »Du hast Gepäck dabei.« Ich nickte. »Bleibst du länger?« Ich nickte wieder. Es folgte eine lange Pause, in der wir uns wohlwollend betrachteten. Das letzte Mal hatte ich ihn im Mai gesehen, als er und Mum uns in New York besuchten, eines der seltsamsten Erlebnisse in meinem ganzen Leben: Mum hatte sich die ganze Zeit sehr gewählt ausgedrückt, und mein Vater hatte mich jedes Mal um Erlaubnis gebeten, wenn er den Fernseher anstellen wollte. Es war, als wollten sie nicht nur Elaine, sondern auch mich mit ihren trefflichen Umgangsformen beeindrucken. »Lässt du mich irgendwann rein?« »Natürlich, sicher.« Er kam heraus - in Pantoffeln, in den Augen meiner Mutter eine Kardinalsünde - und nahm meinen Koffer. »Ohne Elaine?«, sagte er. Die Frage war eher eine Feststellung, denn sicher glaubte er nicht, dass sie plötzlich vom Himmel fiele. Mein Dad gehörte zu den Männern, die zwei und zwei nur dann zusammenzählten, wenn sie es unbedingt mussten. Er zog es vor, mich auf eine Zwei hinzuweisen, dann auf eine weitere und zu warten, bis ich sagte: »Sieh mal, Dad, vier!«, was ich normalerweise auch tat. Aber diesmal nicht. Im Moment schien es mir besser, ihn eine Weile im Dunkeln zu lassen. »Aber sie lässt herzlich grüßen«, entgegnete ich. Das stimmte. Elaine fand meine Eltern klasse. »Sie sind so ungekünstelt«, hatte sie einmal gesagt, »im Gegensatz zu meinen, die sind so aufgesetzt.« Elaines Vater war -48-
Bauingenieur, und ihre Mutter arbeitete in einer Bank. Sie wohnten in New Jersey, aber wir hatten sie selten besucht, nicht einmal an Feiertagen. Weihnachten hatten Elaine und ich den ganzen Tag allein in der Wohnung verbracht, obwohl wir da schon getrennt waren. Unser Weihnachtsdinner hatte aus Resten vom Chinesen und sechzehn Flaschen Budweiser bestanden. »Das freut mich«, sagte mein Dad, sichtbar erleichtert. »Elaine ist ein nettes Mädchen.« »Ja, Dad, das stimmt«, erwiderte ich, und wir lächelten uns an. »Meinst du, du könntest mich jetzt reinlassen?« Da meine Mutter nicht zu Hause war, blieb es mir zunächst erspart, Elaines Abwesenheit zu erklären. Ich brachte das Gepäck hinauf in mein altes Zimmer, während mein Dad Tee aufsetzte, und dann erzählten wir uns bei dampfenden Tassen und Schokoladenplätzchen, was sich in unserem Leben gerade abspielte. Dazu brauchten wir genau vier Sätze. Erster Satz: Wie geht es dir? Zweiter Satz: Nicht schlecht. Dritter Satz: Und dir? Vierter Satz: Kann mich nicht beklagen. Nachdem wir den Regeln der Höflichkeit genüge getan hatten, konzentrierte sich unser Gespräch auf das Wetter, den Zustand der Nation, die neuesten Entwicklungen im englischen Fußball und meine Geschwister. Mit neunundzwanzig war ich der Älteste, dann kamen die Zwillinge Yvonne und Tony, jetzt siebenundzwanzig. Yvonne machte gerade ihren zweiten Abschluss auf der Universität in Edinburgh, nachdem sie fünf Jahre Medizin studiert und dann beschlossen hatte, doch keine Ärztin zu werden. Tony lebte in Nottingham, flirtete mit dem Alkoholismus und spielte gelegentlich Schlagzeug in der Band »Left Bank«. Das Nesthäkchen, Ed, war zweiundzwanzig; er hatte gerade die Uni abgeschlossen und ein Jahr freigenommen, um Thailand zu bereisen, bevor er sich ins Arbeitsleben stürzte. -49-
Unsere Familie klebte nicht gerade zusammen - das heißt, wir hatten keinen regelmäßigen Kontakt, aber jeder wusste, dass wir in einer Notlage immer füreinander da sein würden.
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10 »Du hättest sagen sollen, dass du kommst.« Das waren die ersten Worte meiner Mutter, als sie am Nachmittag vom Einkaufen nach Hause kam. Nicht »Hallo« oder »Wie geht es dir?«, sondern: »Du hättest sagen sollen, dass du kommst.« Wie mein Vater, wies auch meine Mutter gern auf das Naheliegende hin, selbst in den unpassendsten Situationen. Ich nickte lächelnd, denn es war ihre Art auszudrücken: »Du hast mir gefehlt, Junge.« »Ich weiß, Mum«, murmelte ich reumütig und drückte ihr einen KUSS auf die Wange. »Du hast Recht, ich hätte sagen sollen, dass ich komme.« »Ich hab nicht genug zum Essen da«, erwiderte sie empört. Ich warf einen Blick auf die vier prall gefüllten Supermarkttüten zu ihren Füßen und grinste. »Das macht nichts, Mum«, versicherte ich. »Ich will sowieso abnehmen.« »Und dein Zimmer hab ich auch nicht sauber gemacht«, fuhr sie fort. »Es ist blitzblank, Mum.« »Das stimmt wohl«, gab sie zu, still erfreut. »Elaine wird glauben, wir leben wie die Schweine.« »Nein, bestimmt nicht, Mum«, sagte ich leise, »weil sie gar nicht hier ist.« »Wo ist sie?« »Sie konnte nicht mitkommen«, erklärte ich. »Sie wollte gern, hat aber keinen Urlaub gekriegt.« »Du solltest Elaine nicht allein lassen«, erwiderte sie. »Was ist, wenn sie dich braucht?« »Es geht ihr gut«, beteuerte ich. Trotz aller Proteste konnte -51-
ich die Freude meiner Mutter sehen, ihren Erstgeborenen zurückzuhaben. Sie wollte sich einfach nur vergewissern, dass alles in Ordnung war. »Wie lange bleibst du?« Das war eine heikle Frage. Im Gegensatz zu meinem Vater, war meine Mutter neugierig und beharrlich, wobei Letzteres dominierte. Was bedeutete, dass ich nicht mit einem einfachen Schulterzucken oder »weiß nicht« davonkommen würde. Irgendetwas musste ich ihr erzählen. Ich holte tief Luft und sagte: »Eine ganze Weile?«, als Frage formuliert, um es ihr schmackhafter zu machen. »Wie lang ist eine ganze Weile?«, fragte sie misstrauisch. »Länger als einen Monat, weniger als…« Mein Satz blieb unvollendet, denn ihr strenger Blick verdeutlichte mir, dass sie keine Lust auf Ratespiele hatte. »Drei Monate«, sagte ich schließlich. »Drei Monate?«, wiederholte sie. »Mehr oder weniger«, erwiderte ich und zuckte leicht die Schultern. »Mehr oder weniger was?« »Keine Ahnung… ein paar Tage wahrscheinlich.« »Und Elaine?« Jetzt gab es keinen Ausweg mehr, ich musste es sagen. »Wir haben… uns getrennt.« Kommentarlos ging sie zur zweiten Frage über. »Und was ist mit deiner Arbeit?« »Da«, sagte ich selbstbewusst, »läuft es gut.« Und dann nahm ich allen Mut zusammen und erzählte ihr die ganze Geschichte. Offensichtlich traute meine Mum ihren Ohren nicht, denn sie rief meinen Dad herbei und zwang mich, noch einmal von vorne zu beginnen. »Siehst du, was mit deinem Sohn passiert?«, sagte sie zu -52-
Dad, als ich meine Leidensgeschichte beendet hatte. Das war typisch Mum. Wenn wir früher als Kinder in Schwierigkeiten geraten waren, hatte sie meinem Dad immer vorgeworfen: »Siehst du, was mit deinem Sohn/deiner Tochter passiert?« Jetzt sagte sie: »Mal sehen, ob ich das alles richtig verstanden habe. Du hast dich also von Elaine getrennt und deine Wohnung in Amerika aufgegeben, bist für drei Monate hier, um Zeit mit deinen Eltern zu verbringen, und ziehst dann in ein Land, in dem du noch nie gewesen bist?« Aus ihrem Mund klang das alles ziemlich dramatisch. Ich verstand nicht, wie mein Leben - das in den letzten neunundzwanzig Komma neun Jahren anscheinend so einfach gewesen war - plötzlich so kompliziert werden konnte. »Und um Freunde wieder zu sehen«, fügte ich schwach hinzu. »Genau«, sagte Mum, für die das alles etwas zu viel war. »Wo du jetzt hier bist, sollte ich dir vielleicht besser was zu Mittag machen.« Während die Nahrungsaufnahme für die meisten Menschen bloß eine alltägliche Notwendigkeit ist, hatte Mum sie zum Mittelpunkt ihres Lebens erhoben. Wenn es um mich und meine Geschwister ging, drehte sich alles, was sie tat oder sagte, ums Essen. »Hast du Hunger?«, »Wirst du bald Hunger bekommen?«, »Du siehst durstig aus.«, »Isst du richtig?« So zeigte sie uns natürlich ihre Liebe, aber manchmal ging einem das ziemlich auf die Nerven. Besonders, weil sie im Gegensatz zu anderen Müttern, die es spätestens, wenn ihre Kinder sechzehn waren, aufgaben, mit sämtlichen Familienmitgliedern am Tisch sitzen zu wollen, nach wie vor großen Wert auf gemeinsame Mahlzeiten legte. Um siebzehn Uhr fünfzehn musste mein Vater mit der Gartenarbeit aufhören, und um siebzehn Uhr dreißig wurde dann im Wohnzimmer Abendbrot (niemals »Tee«, das war zu gewöhnlich, oder »Abendessen«, zu nobel) auf dem Schoß serviert, außer samstags, zu besonderen Anlässen oder wenn Besuch da war. Dann aßen wir am Tisch im -53-
vorderen Zimmer, das für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass die Queen einmal unangekündigt vorbeikam und dringend eine Tasse Tee brauchte, immer in tadellosem Zustand war; dort könnte sie dann Zierdeckchen, elegantes Geschirr und das gruselige Markramee-Bild eines Esels bestaunen, das meine verstorbene Großtante Irene gemacht hatte. Das Auslassen einer Mahlzeit wurde nicht akzeptiert. Sätze wie »Ich bin nicht hungrig«, »Darauf habe ich heute Abend keine Lust« oder gar: »Niemand unter achtundvierzig isst so früh zu Abend«, wurden geflissentlich überhört. Nein, ob es einem passte oder nicht, man musste antreten. Als ich meine Koffer auspackte und der Zeiger auf siebzehn Uhr fünfzehn zeigte, hätte ich also damit rechnen sollen, dass meine Mum mich rief: »Matthew, dein Essen ist fertig!« Dass ich immer noch das Chicken-Salad-Sandwich vom Mittag verdaute, zählte nicht. »Was gibt's denn?«, fragte ich vorsichtig, als ich das Wohnzimmer betrat und mich gesetzt hatte. »Dein Lieblingsgericht«, antwortete sie und stellte mir ein Tablett auf den Schoß. »Iss.« Sie lächelte. »Du siehst aus, als hättest du seit Ewigkeiten nichts Richtiges mehr bekommen.« Ich blickte traurig auf meinen Teller und machte mir klar, dass ich mir das alles selbst zuzuschreiben hatte. Ich wusste ganz genau, dass Mum die Lieblingsgerichte ihrer nestflüchtigen Kinder immer durcheinander brachte. Dabei war das, was ich auf dem Teller hatte, nicht einmal das Lieblingsgericht eines meiner Geschwister - eher ihr kulinarischer Alptraum: zwei kleine Schweinekoteletts, drei große Löffel Kartoffelbrei mit so dicker Soße, dass das Messer drin stecken blieb, Erbsen und Karotten und… Rosenkohl: zerkochte, stinkende grüne Kugeln mit traurigen Blättern. Ich warf einen verzweifelten Blick zum einzigen anderen Esser im Kriegsgefangenenlager, um zu sehen, was er von der Mahlzeit hielt. Mein Dad thronte im Sessel, seinem Königreich, wie er meinte, sah Nachrichten im Fernsehen und kaute dabei bedächtig; hin und wieder machte er -54-
einen Kommentar über den Kleidergeschmack der Nachrichtensprecherin. Meine Mum drückte sich nahe der Küchentür herum und wartete darauf, dass ich endlich meine erste hausgemachte Mahlzeit seit langem verschlang. Ich sah auf und lächelte. Ihr Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Sie stand da und wachte über uns, ihre Familie, um sicherzugehen, dass alle gut versorgt waren. Das machte sie anscheinend glücklich. »Warum setzt du dich nicht, Mum?«, fragte ich überflüssigerweise, denn meine Mutter hatte sich noch nie zu einer Mahlzeit hingesetzt. Es war, als wären ihre Knie zusammengebunden und verhinderten es. »Du hast noch gar nichts gegessen«, sagte sie. »Brauchst du Salz? Ich hole es dir.« Ich sah auf meinen Teller und wartete mit der Antwort, denn mir lag auf der Zunge, zu sagen: »Siehst du denn nicht, warum? Siehst du denn nicht, dass hier vier Rosenkohlröschen auf meinem Teller liegen, jedes einzelne so groß wie eine Mandarine?« Natürlich sagte ich nichts dergleichen, hauptsächlich deshalb, weil ich ihr nicht wehtun wollte. Es war wieder wie in meiner Kindheit. Mit neun hatte ich ein raffiniertes System zur Beseitigung von Rosenkohl entwickelt: Ich wickelte einen nach dem anderen in ein Taschentuch, tat, als müsste ich dringend aufs Klo, und auf dem Weg dorthin ließ ich ihn hinter dem Kühlschrank verschwinden. Das funktionierte wunderbar, doch leider besaß ich nicht die weise Voraussicht, ihn später wieder hervorzuholen und angemessen zu entsorgen. Nach sechs Wochen brach mein System zusammen, weil der Gestank nach verfaultem Kohl die Küche verpestete und meine Mutter das Rosenkohl-Versteck entdeckte. Sie war stinksauer und verdonnerte mich zu - wie mir schien - endlosem Stubenarrest. Und jetzt, Jahre danach, stand ich vor dem gleichen Dilemma. »Ehrlich, Mum«, begann ich, »ich kann das unmöglich alles essen.« Ich zeigte mit der Gabel auf den Rosenkohl. -55-
»Quatsch«, sagte sie bestimmt. »Der ist gut für dich.« »Aber ich mag ihn nicht.« »Du hast meinen Rosenkohl immer gemocht! Wie hat Elaine ihn denn gemacht?« Allein die Vorstellung war zum Lachen. »Elaine hat nie Rosenkohl gemacht, Mum. Elaine hat fast nie gekocht. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es in Amerika überhaupt welchen gibt.« »Du hast Rosenkohl immer gern gegessen«, schaltete sich mein Vater ein. »Du hast sogar gefragt, ob du Murmeln damit spielen kannst, erinnerst du dich noch?« Ich sah meinen Vater ungläubig an. »Das war Tony, Dad, und dass er gern Murmeln damit gespielt hat, heißt nicht, dass er ihn auch gern gegessen hat.« »Nein«, widersprach meine Mum, »Yvonne hat gern Rosenkohl gegessen. Du meinst bestimmt Yvonne. Sie liebte ihn über alles.« Yvonne war die Klügste in der Familie. Ich muss wohl nicht betonen, dass sie Rosenkohl hasste. »Sieh mal«, sagte ich mit wachsender Ungeduld, »Tony mochte nie Rosenkohl, Yvonne mochte nie Rosenkohl, Ed mochte nie Rosenkohl und ich sowieso nicht. Ich werde diesen Rosenkohl nicht essen. Weder jetzt, noch später. Nie!«
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11 Im Nachhinein war natürlich klar, dass ich nicht wegen des bisschen Rosenkohls so ausgeflippt war. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, und wenn ich ihn nicht aß, konnte Mum mir ja schlecht Hausarrest geben oder das Taschengeld streichen. Tatsache war, dass mir die neuen Lebensumstände ziemlich zu schaffen machten. Noch vierundzwanzig Stunden zuvor war alles ganz anders gewesen. Zwar auch nicht perfekt, aber für jemanden in meinem Alter zumindest näher an der Normalität. Ich hatte eine eigene Wohnung und eine Beziehung, die den Bach runterging - ein Minimum an Lifestyle, das man von einem bald Dreißigjährigen erwarten konnte. Und was hatte ich jetzt? Nichts. Keine Freundin, einen, zugegeben, guten Job in ferner Aussicht, und ich lebte bei meinen Eltern. Als ich in die Küche ging, um mich zu entschuldigen, drang mir das ohrenbetäubende Geklapper von Töpfen und Pfannen entgegen, die meine Mutter unter einem Schaumberg begraben hatte und die nun ihren Kummer abbekamen. »Es tut mir Leid«, begann ich und schloss die Küchentür hinter mir. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich fühle mich furchtbar deswegen. Aber mir geht so viel im Kopf rum - das mit Elaine und allem und…« »Ist schon gut«, sagte sie und drehte sich zu mir um. »Ich wusste, dass es nichts mit dem Rosenkohl zu tun hatte. Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles.« Sie ging ins Wohnzimmer und kam mit meinem Teller zurück, den sie in die Mikrowelle stellte. Drei Minuten, vierzig Sekunden und einen Piep später servierte sie mir in der Küche ein zweites Mal mein Abendessen. »Bitte schön. Beeil dich, bevor es wieder kalt wird.« Wir verbrachten den Abend zu dritt vor dem Fernseher, sahen -57-
das Beste, was das britische TV zu bieten hatte: Coronation Street, Des O'Connor Tonight, die Neunuhrnachrichten und die letzte halbe Stunde eines Fernsehfilms über eine Mutter mit Krebs, die vor ihrem Tod für ihre Kinder Adoptiveltern zu finden versuchte. Meine Mutter weinte, mein Vater zappte in den Werbepausen durch die Kanäle und ich saß einfach nur da und genoss das Ganze. Genau so war in meiner Kindheit jeder Abend verlaufen: Glotze von sieben Uhr dreißig bis neun, während der Werbung schnell Tee gemacht und die Gasheizung auf zwei gestellt, damit es nicht so kühl im Zimmer ist. »Auf geht's«, sagte Mum kurz nach zehn Uhr. »Dein Vater und ich gehen ins Bett, Matthew.« »Gute Nacht«, wünschte ich munter, nahm mir die Fernbedienung und fing an zu zappen; Dad hatte mich den ganzen Abend nicht in ihre Nähe gelassen. »Gehst du denn nicht ins Bett?«, fragte Mum, als ich keinerlei Anstalten in der Richtung machte. »Nee«, erwiderte ich, wobei ich voll auf dem Schlauch stand. »Ich bleibe noch ein bisschen auf.« »Bist du sicher?«, frage Dad leicht schockiert. »Es ist schon ziemlich spät, Matthew.« Auf einmal ging mir ein Licht auf: Sie wollten, dass ich auch ins Bett ging. Ich störte ihre Gewohnheiten, und meine Eltern liebten ihre Gewohnheiten. Doch obwohl sie darauf beharrten, dass ich Jetlag hätte, mir kalt sei und ich genug ferngesehen hätte, blieb ich bis lange nach Mitternacht auf, gefesselt von Lee Marvins schauspielerischer Leistung in Das dreckige Dutzend. Als der Abspann kam, stellte ich den Fernseher aus und begab mich nach oben ins Badezimmer. Mum hatte mir eine neue Tube Zahnpasta und ein Handtuch neben das Waschbecken gelegt. Bei dem Anblick musste ich wirklich lachen: Während meiner ganzen Kindheit hatte sie mir vorgehalten, unser Haus sei kein Hotel, und jetzt machte sie dem Ritz Konkurrenz. -58-
Als ich schließlich in meinem schmalen Bett lag (Wann hatte ich das letzte Mal in einem Einzelbett geschlafen?), ließ ich den Blick durch das Zimmer wandern, das ich früher mit meinen beiden Brüdern geteilt hatte. Es war recht groß, und jeder hatte eine Ecke in Besitz genommen und ihr seinen eigenen Stempel aufgedrückt. Ich hatte alles voller Poster von Pop-Bands gehängt, und Tonys Ecke war voller Plakate von Dampfloks und allen möglichen Eisenbahn-Utensilien, die jetzt in einer Kiste unterm Bett verstaut waren. Da Ed damals erst zehn war, hatte er die Wände mit seinen Zeichnungen von Superhelden aus Comics und von Autos zugekleistert. Als Tony und ich auszogen, behielt Ed das Zimmer ganz für sich alleine, weshalb es jetzt von seiner Dekoration dominiert war - Poster seines Fußballteams, eingerahmte Schnappschüsse von ihm und seinen Freunden bei verschiedenen europäischen Fußballspielen sowie Poster von Kinder-TV-Moderatorinnen, die nichts trugen als Unterwäsche und ein aufreizendes Lächeln. Doch auch ohne meine eigenen Poster an den Wänden fühlte ich mich hier zu Hause. Dieses Zimmer gehörte zu meiner Vergangenheit, hier war ich zu dem Mann herangewachsen, der ich heute war, und das gab mir ein gutes Gefühl. Es war richtig gewesen, hierher zurückzukommen, sagte ich mir, kurz bevor ich einschlief. Wenn ich überhaupt irgendwo Klarheit finden konnte, dann hier zu Hause.
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12 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Wie? Matt, wie geht es dir? Wie war dein Flug? Wie ist es in Birmingham? Wie geht es deinen Eltern? Wiiiiiiiiieeeeeeeee? Ich will es wissen! Alles Liebe Elaine:-) PS: Nachdem wir uns auf dem Flughafen getrennt hatten, habe ich geweint und geweint, bis ich nur noch ein Häufchen Elend und ganz verquollen war. Sehr attraktiv. Als ich dann nach Hause kam, wurde es noch schlimmer. Die Wohnung war so leer ohne dich. Ich muss auch was beichten. Erinnerst du dich an das schwarze T-Shirt, das du nicht finden konntest? Ich hab's gestohlen, es liegt unter meinem Kopfkissen. Es ist ja so sentimental (was ich getan habe, nicht dein T-Shirt), aber ich wollte einfach etwas, das nach dir riecht, bis es nicht mehr so wehtut. Na ja, genug davon. Tschüss! PPS: Kommt irgendjemand Berühmtes, den ich kenne, aus Birmingham? Nur so aus Interesse. E.
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13 »Guten Morgen, Matt«, sagte mein Vater. Es war halb zwei am folgenden Tag, und er saß auf dem Sofa. Ich war gerade erst aufgestanden und in dem himmelblauen Schlafanzug, den meine aufmerksame Mutter mir den Abend zuvor aufs Bett gelegt hatte, ins Wohnzimmer gekommen. Er war noch originalverpackt gewesen, meine Mum hatte für Notfälle natürlich immer einen neuen Männerschlafanzug parat. Ich sah meinen Vater augenzwinkernd an, um ihm zu verstehen zu geben, dass mir sein keineswegs subtiler Sarkasmus nicht entgangen war. »Alles okay, Dad?«, erwiderte ich und fing an, mich an den Stellen zu kratzen, die immer ein bisschen juckten, wenn ich zu lange in einem kuscheligen Bett gelegen hatte. »Ja, danke, Matthew«, antwortete er forsch. »Deine Mutter wollte schon ein Suchkommando losschicken, ob du überhaupt noch lebst. Ich hab sie aber davon abhalten können und ihr erklärt, dass du wahrscheinlich nur Winterschlaf hältst.« »Nett von dir«, entgegnete ich, zog die Nase hoch, hustete und rieb mir die Schläfen, um aufzuwachen. Ich nahm die Sun meines Vaters vom Couchtisch, setzte mich und überflog die ersten paar Seiten. Eine bizarre Story auf Seite drei gleich neben den üppigen Formen von Gina, 18, aus Essex fiel mir ins Auge. Ein Mann aus Cheltenham war von seiner Freundin aus dem gemeinsamen Haus geworfen worden, weil sie seine Sammlung von zwölftausend Milchflaschen nicht länger ertragen konnte. Beim letzten Satz der Geschichte musste ich wirklich lachen: »Das beweist einfach nur, dass sie nicht die Richtige für mich war. Wenn sie mich lieben würde, hätte sie auch meine Milchflaschen geliebt.« »Worüber lachst du?«, fragte Dad. »Über den Milchflaschen-61-
Typ?« Ich nickte. »So einen Mann muss man echt bewundern. Die Milchflaschen scheinen ihn wirklich glücklich zu machen.« »Total«, erwiderte ich. Es war ein bescheuerter Witz, aber er amüsierte Dad und mich, und ein paar Minuten lang rissen wir immer neue Witze über den Milchflaschenmann, bis aus dem Stoff nichts mehr rauszuholen war. Ich wollte gerade weiter Zeitung lesen, weil ich davon ausging, dass mein Vater lediglich eine kurze Ruhepause von seinen Instandhaltungsarbeiten im Haus einlegte - er reparierte ständig irgendwas, als er hüstelte und unruhig hin und her rutschte, als hätte er etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. »Also?«, sagte er, was wieder einmal gleichzeitig als Frage und Feststellung gedeutet werden konnte. »Also?«, erwiderte ich und zog die Augenbrauen hoch. Plötzlich dämmerte es mir, dass meine Mum ihm aufgetragen hatte, mehr über meine Trennung von Elaine in Erfahrung zu bringen. Da Dad ein Mann war und ich jetzt auch, hielt sie ihn wahrscheinlich für den perfekten Gesprächspartner für meine Herzensangelegenheiten. Doch allein sein Anblick machte deutlich, dass er nicht unbedingt mit meiner Mum übereinstimmte; allerdings war ebenfalls klar, dass meine Mutter ihm das Leben zur Hölle machen würde, falls er ihrem Wunsch nicht Folge leistete. »Also?«, wiederholte er. Ich kratzte mich am Kopf, faltete die Zeitung zusammen und sah ihn erwartungsvoll an. Mum lag falsch, wenn sie glaubte, mit seiner Hilfe mehr über meine Gefühle zu erfahren. Hier sollte schließlich ein Blinder den Blindenführer spielen. Wenn irgend möglich, sprach Dad nie über sich selbst, genauso wenig wie ich (jedenfalls nicht mit meinen Eltern); und sie übersah, dass wir beide es so wollten. Mit fünf oder sechs war das wahrscheinlich anders gewesen, da hatte ich ihm von der Schule und meinen Freunden erzählt und herumfantasiert, was ich -62-
einmal werden wollte. Ich erinnere mich, wie er mir sagte, was er wovon hielt, und dieser Austausch zwischen Gleichgesinnten war für uns beide sehr befriedigend gewesen. Aber schon ein paar Jahre später verstummten diese Gespräche, und mein Vater machte mir das größte Geschenk, das die Menschheit kennt Schweigen. Er gab mir zu verstehen, dass man mit Worten genauso gut wie ohne kommunizieren, dass man eine NUSS auf verschiedene Weise knacken konnte, nicht nur mit reden. Er lehrte mich, dass man manchmal nichts anderes tun konnte, als alles für sich zu behalten, bis man so weit war, damit umzugehen. Ich behaupte nicht, daß das eine gute Philosophie war - im Gegenteil, aber sie half einem in Situationen, in denen die einzige Alternative der Sprung ins kalte Wasser war. Aus diesem Grund hatten mein Vater und ich uns immer nur das mitgeteilt, was der andere unbedingt über einen wissen musste. Doch selbst damit hatten wir in den letzten Jahren aufgehört und stattdessen alles getan, um den Eindruck zu vermitteln, nicht einmal mehr daran interessiert zu sein. Das war natürlich gelogen und Machogehabe, denn wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, erkundigte ich mich jedes Mal nach ihm. Er wiederum befragte Elaine nach meinem Befinden, wobei er sie öfter an der Strippe hatte, als ich ihn. Es war ein tolles System gewesen. Wir beide hatten die Frauen dazu benutzt, unser Schweigen und unsere Griesgrämigkeit in Worte zu fassen. Doch da mein Sprachrohr und ich jetzt getrennte Wege gingen, mussten Dad und ich uns der Wahrheit stellen: Er wollte wissen, was mit mir los war, und umgekehrt. Es war Zeit für mein nächstes »Also?« das ich brav verlauten ließ, noch immer ohne jede Vorstellung, wie das Gespräch in Gang kommen sollte. Er antwortete mit einer Pause, in der er langsam einen Schluck Tee trank. Auch das mochte ich an meinem Dad: seine Bewegungen waren langsam und bedächtig, schon immer. Ich glaube nicht, dass ich ihn jemals rennen gesehen habe. Er war keiner, der durchs Leben rannte, er glich eher einem unbeirrten Geher. Ich -63-
hingegen gehörte zu den Taumlern. Ich wankte, stolperte und schlurfte linkisch durchs Leben, war so uncool, dass es mir schon Sorgen machte. Während mein Vater einmal bei seinem letzten Blick zurück aufs Leben sagen konnte: »Egal, was ich gemacht habe, ob ich Recht oder Unrecht hatte, ich war immer cool«, würde ich bei meinem großen Abschied verlegen in einer Ecke kauern. »Also«, begann er, »wie geht es dir, Matt?« »Mir geht's…« Ich suchte nach dem richtigen Wort, denn ich wollte ihn jetzt nicht anlügen, wo er gerade mutig den Anfang gemacht hatte. »Mir geht's… ganz gut.« Er seufzte und sah zum Fernseher, der nicht einmal angestellt war. »Es ist nicht einfach, das Leben«, begann er erneut. »Oh«, sagte ich leise. »Aber es lohnt sich«, fuhr er fort. Ich nickte. »Gut.« Dann verband er die beiden Sätze und sagte: »Es ist nicht einfach, aber es lohnt sich.« Er trank bedächtig einen weiteren Schluck Tee und wartete. Jetzt war ich offensichtlich dran, meinen Beitrag zur Unterhaltung zu leisten, aber mir fiel nichts ein, was ich auf seine weisen Worte erwidern konnte. Ich verstand, was er meinte, aber das war auch alles. »Prost, Dad«, sagte ich. Er sah von seiner Tasse auf. Vermutlich geboten die Regeln der männlichen Interaktion, dass ich weg sah, als unsere Blicke sich trafen. Doch ich tat es nicht, so dass wir uns viel zu lange verlegen musterten, obwohl es letztlich wohl nur ein paar Sekunden waren. Er wollte reden, und ich wollte es seltsamerweise auch. Als Höhlenmenschen vor mehreren Millionen Jahren hätten wir jetzt wohl ein paar Dinosaurier gejagt, um diese peinliche Situation zu entspannen. Uns aber blieb nur der Fernseher. -64-
»Ich glaube, es gibt gleich Nachrichten, Dad«, sagte ich. »Sollen wir sie uns ansehen?« Er lächelte, zuckte die Schultern und sagte: »Wenn du willst.« Ich stellte den Fernseher an, reichte meinem Vater die Fernbedienung und machte es mir im Sessel gemütlich. Dann taten wie beide, als konzentrierten wir uns auf die Nachrichten.
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14 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Wo bist duuuuuuuuu??? Lieber Matt, wo bist duuuuuuuu??? Alles Liebe Elaine
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15 Freunde. Ein paar hatte ich in New York. Ein paar lebten in Spanien und in Frankreich. Ich hatte sogar welche hier in der Nähe, in London, Cardiff und Glasgow. In Birmingham selbst wohnte nur ein einziger, Gershwin Palmer, mein ältester Freund. Früher haben hier viele Freunde gewohnt, eine ganze Gruppe sogar. Wir waren alle auf die King's Heath Gesamtschule gegangen und sogar noch nach Schulabschluss Freunde geblieben. Dazu hatte außerdem Ginny Pascoe gehört, die hin und wieder auch mehr gewesen war, groß, sehr attraktiv und Königin der falschen Entscheidungen; Elliot Sykes, mit der Statur eines Rugbyspielers, der wie eine Lokomotive lachte und die Begabung hatte, immer auf die Füße zu fallen; Pete Sweeney, besessen von Science-Fiction, Musik und Frauen, und zwar in der Reihenfolge; Katrina Turner, das attraktivste Mädchen in unserer Clique und dazu bestimmt, das erfolgreichste zu werden; und schließlich unser Sonderling Bev Moore, ein Gothic-Fan, was sie aber immer leugnete, mit einem bissigen Sinn für Humor. Mit Gershwin und mir bildeten wir die großartigen Sieben, tranken zusammen, wurden aus Nachtclubs hinausgeworfen und, so jedenfalls das Gerücht, wurde uns sogar so etwas wie Bildung vermittelt. Wir waren Freunde fürs Leben. Dachten wir. Doch selbst Freunde fürs Leben werden irgendwann achtzehn oder neunzehn und gehen getrennte Wege. Nach und nach verließen wir Birmingham: Ginny ging nach Brighton, um einen Kunstkurs zu machen, denn sie wollte Künstlerin werden; Elliot zog nach London zu seiner Schwester, weil er in einer -67-
Werbeagentur arbeiten wollte; Pete ging auf die Universität in Loughborough, um Sportwissenschaften zu studieren, weil ihm nichts Besseres einfiel; Katrina schrieb sich an der Universität in Leeds ein, wo sie ein Journalistik-Studium begann, um die nächste Herausgeberin von der Vogue zu werden; und Bev verkaufte schicke Klamotten bei Miss Selfridge, denn sie wollte erst einmal Geld verdienen und ein paar Jahre auf Reisen gehen. So kam es, dass wir uns nur noch einmal im Jahr an Heiligabend trafen, im Kings Arms in Mosley, einem Pub, der als inoffizielles Clubhaus für ehemalige King's-HeathGesamtschüler fungierte. Doch seit ein paar Jahren fielen auch die Weihnachtstreffen im Kings Arms unter den Tisch. Wir waren in alle Welt verstreut und verloren uns nach und nach aus den Augen. Nur Gershwin war als Einziger nicht weggezogen. Ich kannte Gershwin - benannt nach dem berühmten Komponisten, weil seine Mutter die »Rhapsody in Blue« so mochte - seit meinem ersten Tag in der Mittelstufe, also schon achtzehn Jahre lang, und wir haben die Verbindung nie abreißen lassen. Während die meisten von uns nach der Schule auf die Universität gingen, arbeitete er für eine Krankenhaus-Stiftung in Birmingham, denn er hatte keine Lust mehr auf Bildung. Damals hielten wir das alle für einen großen Fehler, was wir ihm auch sagten; schließlich würde er das wilde Studentenleben verpassen, die wilden Studentenstreiche und nicht zuletzt eine Menge Spaß. So jedenfalls sahen wir das. Die Realität gestaltete sich dann später folgendermaßen: Als wir schließlich die Universität verließen, verwaltete Gershwin als erfolgreicher Junior-Manager bereits ein Budget von mehreren Hunderttausend Pfund. Meine größten Leistungen lasen sich hingegen wie folgt: stellvertretender Chefredakteur der Kunstseite unserer Universitätszeitung sowie die Fähigkeit, dieselbe Folge von Neighbours zweimal an einem Tag zu sehen und trotzdem noch toll zu finden. Deshalb konnte Gershwin auch als Erster von uns allen die wichtigsten Punkte auf der -68-
»Ichbineinvollausgereifter-Erwachsener«-Liste abhaken. Er hatte als Erster richtiges Geld, gab es aus und besaß ein Auto, das nicht mit Tesafilm und gutem Willen zusammengehalten wurde. Er nahm als Erster eine Hypothek auf, überwand als Erster die schwierige 2 ½ -Jahre-Hürde in einer Beziehung mit Zoe, der Liebe seines Lebens, die er in einem Nachtclub kennen gelernt hatte, und war mit vierundzwanzig der Erste, der heiratete. Die Hochzeit, bei der ich Trauzeuge war, werde ich nie vergessen. Nicht zuletzt deshalb, weil es das letzte Mal war, dass alle sieben unserer Clique es schafften, aus sämtlichen Ecken der Welt zusammenzukommen und zu feiern. Zwar hatte ich insgeheim befürchtet, dass Gershwin zu jung war, den Bund fürs Leben zu schließen, andererseits war ich auch sehr stolz, weil mein bester Freund heiratete. In einer Zeit, in der alle (ich eingeschlossen) krampfhaft versuchten, an den Überresten ihres ehemaligen Studentenlebens festzuhalten, sah ich in Gershwin, der sich in die Welt der Ehe, Karriere, Hypotheken und - ein Jahr später - Kinder wagte, eine Art Pionier, der sich in unbekannte Gefilde wagte, die keiner von uns je betreten hatte. Selbst dreißig wurde er vor mir, auch wenn unsere Geburtstage nur ein paar Wochen auseinander lagen. »Matthew Beckford!« »Gershwin Palmer!« »Du dickes Ferkel!« »Du glatzköpfiger Loser!« Das war unsere Standardbegrüßung, die uns jedes Mal wieder zum Lachen brachte. Er durfte mich dick nennen, denn ich war weit davon entfernt, ein Fettsack zu sein, höchstens ein bisschen außer Form; und obwohl die Haare an seinen Schläfen langsam dünner wurden, würde es noch Jahrzehnte dauern, bis er im Reigen der Glatzköpfe mittanzen konnte. -69-
Ich hatte Gershwin im Büro angerufen, um ihm zu sagen, dass ich wieder da war, und er hatte darauf bestanden, dass ich zum gemeinsamen Mittagessen in die Stadt kam. Als wir uns dann gegenüberstanden, begrüßten wir uns mit einer BeinaheUmarmung und lachten viel, womit wir unserer Wiedersehensfreude Ausdruck verliehen. Das letzte Mal hatte ich ihn vor einem Jahr gesehen, als ich geschäftlich nach London geflogen war und einen Abstecher nach Birmingham eingeschoben hatte, um meine Eltern zu besuchen. Insgesamt waren es nur sechsunddreißig Stunden gewesen, trotzdem hatte ich mir Zeit genommen, ihn zu treffen. Seither hatten wir uns ein paarmal gemailt und Postkarten geschickt, aber sehr unregelmäßig. Doch das war unwichtig - manche Freundschaften waren fest genug, um zwischendurch vernachlässigt zu werden, so auch die zwischen Gershwin und mir. Wir blieben noch einen Moment stehen und beäugten uns neugierig. Gershwin trug einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Er sah ganz aus wie jemand im mittleren Management, der er ja war, doch unter dem feinen Zwirn steckte noch immer der frohgemute Gershwin von früher, der Bier durch die Nase trinken konnte, den vollständigen Text der kitschigen Bostoner Soft-Rock-Hymne »More Than A Feeling« auswendig kannte und das beste Sandwich mit Ei und Bacon der Welt machte. Eine große Erleichterung überkam mich: Wenn die, mit denen ich aufgewachsen war, immer noch okay waren, musste ich es auch sein. Und während ich Gershwin so betrachtete und beruhigt feststellte, dass er noch zwei Arme, zwei Beine und seinen Verstand hatte, wusste ich, dass auch mit mir alles in Ordnung war. Als wir das Lokal verließen, war es kalt und regnerisch. Gershwin schlug vor, in eine der Cafe-Ketten zu gehen, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. -70-
Wir marschierten die Corporation Street entlang in Richtung New Street und sprachen über Fußball und Musik. Über uns selbst würden wir später reden, das war klar. Als »später« dann kam, löcherte ich ihn zuerst mit Fragen, bevor er sich auf mich stürzen konnte. Irgendwie war ich noch nicht so weit, über Elaine zu reden. »Wie geht's Zoe?« »Gut«, sagte Gershwin. »Sie arbeitet immer noch als Krankenschwester, immer noch im Queen-Elizabeth-Hospital.« »Macht ihr das Spaß?« Er zuckte die Schultern. »Eher nicht. Ich glaube, Charlotte fehlt ihr. Meine Mum kümmert sich tagsüber um sie, aber… du weißt ja, wie das ist. Wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kommt, ist sie völlig erledigt. Sie hat das Gefühl, Charlotte nicht ihr Bestes geben zu können, und hat deshalb ziemliche Schuldgefühle. Aber jetzt will ich…« »Und wie geht es meinem süßen Patenkind?«, unterbrach ich ihn schnell, um seiner Frage zuvorzukommen. »Ihr geht's auch gut, sie ist echt toll«, sagte Gershwin. »Sie ist fast vier und kommt im September in den Kindergarten.« Er lachte. »Sie wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn sie hört, dass du da bist. Für sie bist du ›Daddys Freund, der immer schöne Geschenke mitbringt.‹ Sie hat ihre Prioritäten bereits gesetzt, die Kleine…« »Und wie läuft's im Job?«, fragte ich schnell weiter. »Beschissen. Es ist langweilig, einschläfernd, langweilig, stumpfsinnig und langweilig. Hab ich schon gesagt, dass ich mich langweile? Aber du weißt ja selbst, wie es ist, alle hassen ihren Job, warum also jammern?« Danach erfuhr ich noch, dass es seinen Eltern gut ging, und ja, auch bei seiner Schwester Andrea lief es ganz ordentlich, und nein, Tweety, der palmerschen Familienkatze, ging es gar nicht -71-
gut, sie war überfahren worden. Als ihm gerade dämmerte, dass ich mit meinem Fragenkatalog die klassische Ablenkungsstrategie verfolgte, von Fragen über mein eigenes Leben abzulenken und somit die Klagen darüber so lange wie möglich hinauszuzögern, erreichten wir unser Ziel. Obwohl es erst kurz nach zwölf Uhr war, herrschte in dem Café reger Betrieb. Es war größtenteils mit hageren Studenten bevölkert, denen der Ausflug vom Campus der Aston University in die Stadt anzusehen war. Sie wirkten alle ein bisschen krank, als lebten sie seit einiger Zeit nur von Zigaretten, Kaffee und Prüfungsdruck. Während wir für unseren Kaffee anstanden, warfen Gershwin und ich uns mit hochgezogener Augenbraue einen Blick zu, in Anerkennung der umwerfenden Schönheit, die den Tisch hinter uns abräumte. Sie hatte ihr unbändiges Haar, das seine Fessel jeden Moment zu sprengen drohte, locker am Hinterkopf zusammengebunden und lächelte distanziert. Bei ihrem Anblick hätte ich vor Dankbarkeit fast geweint, dass es noch solche Frauen gab. Mit den Tassen in der Hand, bahnten wir uns einen Weg zu den Barhockern ganz vorn im Cafe, direkt vor dem großen Fenster. So wurde es Leuten wie uns - die auf der falschen Seite der 29-Jahre-Marke standen - leichter gemacht, den Frauen auf der richtigen Seite der 25-Jahre-Marke hinterherzusehen, ohne dass wir unsere Knie übermäßig belasten mussten. »So«, sagte Gershwin und zog ein Päckchen Silk Cut aus der Jackentasche. »Ich dachte, du hättest aufgehört?« »Hab ich auch. Ab morgen wieder. Aber ich brauche was, wofür es sich zu leben lohnt.« Er lachte. »Vergiss meine schlechten Angewohnheiten, Matt. Jetzt bist du dran. Was ist es denn, das du mir nicht erzählen willst?« Ich seufzte. »Elaine.« »Ist sie der Grund, warum du wieder zu Hause bist?« -72-
Ich nickte. »Für länger?« Ich nickte erneut und erzählte ihm die wichtigsten Details über meine Trennung von Elaine und meinen neuen Job. »Dann hast du ja einiges durchgemacht«, sagte er mitfühlend. »Das kann ich gut nachvollziehen.« Er lächelte. »Trotzdem herzlichen Glückwunsch zu deinem Job, das hört sich toll an. Schade, dass es mit dir und Elaine nicht geklappt hat. Echt schade.« Ich blickte aus dem Fenster und ließ mich von einer attraktiven Frau im Business-Look ablenken, die so schnell vorbeiging, als wäre sie für einen wichtigen Termin zu spät dran. »Es war eine komische Situation«, erklärte ich. »Es hat einfach nicht funktioniert.« Jetzt blickte auch Gershwin aus dem Fenster. »Es gab keine Tränen bei der Trennung, kein großes Hin und Her. Nichts.« »Das klingt merkwürdig«, sagte Gershwin. »Am Ende einer Beziehung ist ein Hin und Her eigentlich ganz normal - selbst wenn man sich hasst. Wenn man sich einfach so friedlich trennt, ist es irgendwie keine… keine richtige Trennung, oder?« »Genau«, erwiderte ich. »So sehe ich das auch.« »Und was passierte als Nächstes?« »Ich besann mich eines Besseren.« »Wann?« »Auf dem Flughafen.« Gershwin schüttelte den Kopf. »Auf dem Flughafen? Konntest du nicht noch ein bisschen länger warten?« »Da stand ich also mit meinem Gepäck«, fuhr ich fort, wobei ich seinen Einwurf ignorierte, »eineinhalb Minuten vor dem letzten Abschied, und besann mich eines Besseren.« »Und dein neuer Job?« -73-
»Den hätte ich gekündigt.« »Und was machst du dann hier?« »Das ist es ja gerade. Sie hat nicht mitgespielt.« »Wobei?« »Was für eine Frage!«, sagte ich gewollt aufgebracht. »Bei meinem Sinneswandel natürlich. Sie wollte die Beziehung nicht fortführen.« »Das hat sie wirklich gesagt?« »Nein. Ich hab's in ihrem Gesicht gelesen. Sie liebt mich und alles, aber eben nicht genug.« Ich hielt inne und zuckte die Schultern. »Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Wahrscheinlich hat es auch was mit dem Alter zu tun. Elaine ist zweiundzwanzig, ich bin neunundzwanzig. Das sind zwar nur sieben Jahre Unterschied und keine große Sache, aber in gewissen Dingen kommt es einem vor wie sieben Hundejahre.« Gershwin nickte. »Ich weiß, dass Frauen angeblich reifer sind als Männer, aber da bin ich mir nicht so sicher. Braucht nicht jeder eine Phase, wo er, na ja, sich einfach herumtreibt und…« Ich verlor meinen Faden, da ich eine hoch gewachsene, dunkelhaarige Frau Anfang zwanzig beobachtete, deren T-Shirt so eng war, dass selbst eine Sechsjährige darin Atemnot bekäme; ihr Begleiter war ein junger, geschmeidiger und voll ausgereifter Knabe. »Im Grunde glaube ich, dass sie es einerseits genoss, eine richtige Erwachsenenbeziehung zu haben, andererseits aber auch einfach nur zweiundzwanzig sein wollte, Single und dumm, was ja verständlich ist.« »Vielleicht wollte sie sich die sprichwörtlichen Hörner abstoßen«, meinte Gershwin, während sein Blick einer Gruppe Spanierinnen folgte, die gerade die Straße überquerten. »Wie du schon sagst, sie ist erst zweiundzwanzig.« »Nein, es ist mehr als das«, erwiderte ich. »Es liegt an mir. Als ich auf dem Flughafen stand, konnte ich mein ganzes Leben vor mir sehen: wie ich irgendwo in Australien eine Wohnung -74-
suche und sie mit der von Männermagazinen empfohlenen Junggesellenbuden-Grundausstattung fülle: TV mit Großbildschirm, CD-Ständer aus Chrom und Ledersofa. Ich sah, wie ich montagabends Squash spiele, mittwochabends FünfMann-Fußball und hin und wieder an einem der anderen Tage mit jemandem einen trinken oder etwas essen gehe. Und genau so wird der Rest meines Leben aussehen.« »Keine Frauen?« »Vielleicht die eine oder andere… aber nichts von Dauer.« Gershwin lachte. Er hatte die düstere Seite an mir schon immer erheiternd gefunden. »Warum nicht?« »Weil ich seit meiner ersten Beziehung davon überzeugt war, dass mein Leben ohne eine Frau unvollständig ist. Aber in dem Moment, wo ich mir in einer Beziehung vorstellen kann, auch ohne sie gut auszukommen, ist alles vorbei. Ich gebe innerlich auf. Ich mache nur noch Mist und bin nicht mehr kompromissbereit. Und du weißt so gut wie ich, dass Beziehungen auf Kompromissen basieren. Ich glaube, Elaine war meine letzte Chance.« »So verrückt es klingt, aber da ist was dran«, sagte Gershwin. »Manchmal bin ich richtig froh, dass Zoe und ich das Ganze schon ernst genommen haben, als wir noch so jung waren. Wir sind zusammengewachsen, haben voneinander gelernt. Aber… na ja, ich weiß nicht. Manchmal glaube ich…« »Was?« »Dass wir etwas verpasst haben. Ich bereue es keine Minute, dass Charlotte geboren wurde, wirklich. Aber manchmal denke ich… ich stelle mir vor… was wäre, wenn?« »Das darfst du nicht«, erwiderte ich. »Denk erst gar nicht in diese Richtung. Sieh mich an.« Ich zeigte mit dem Plastiklöffel auf mich. »Bin ich dein ›was wäre, wenn‹? Dann wärst du wie ich und würdest genau die gleiche Unterhaltung über Frauen führen, die wir bereits vor zwölf Jahren hatten. Das wird -75-
langweilig, wenn man auf die dreißig zusteuert, glaub mir.« Gershwin wirkte nachdenklich, sagte aber nichts. »Dreißig zu werden ist etwas, das niemals passiert«, fuhr ich fort. »Wenn man sich als Kind fragt, wie das Leben mit dreißig sein wird, und dann das entsprechende Jahr ausrechnet, könnten es genauso gut Billionen Jahre sein, so unvorstellbar weit scheint das in der Zukunft zu liegen. Und plötzlich ist die Zukunft Gegenwart.« »Die Welt ist voller Dreißigjähriger«, sagte Gershwin. Die dunkle Wolke, die seine Gedanken überschattet hatte, war verschwunden. »Es ist nicht wie in Flucht ins 23. Jahrhundert, wo alle in irgendeine Unterwelt verbannt werden, sobald sie die dreißig erreichen.« »Wahrscheinlich hast du Recht«, räumte ich ein. »Wir haben bestimmt beide auch Freunde, die das alles schon hinter sich haben und wissen, wie's ist. Dann kann es so schlimm wohl nicht sein, was?« »Keine Ahnung«, erwiderte Gershwin, der das Thema offensichtlich beenden wollte. »Ich glaube, es hängt davon ab, an welchem Punkt man im Leben steht. Ich kenne Leute, die keine Probleme mit dem Dreißigsten hatten und einfach gelacht haben. Andere nahmen es scheinbar gelassen hin und wurden wenige Wochen später ganz komisch. Wieder andere waren bis zum Geburtstag völlig panisch und merkten danach, dass sich gar nichts geändert hatte. Und dann gibt es noch eine kleine, aber nicht unbedeutende Gruppe, die die ›Wassollausmirwerden‹-Reise antraten und nie wieder zurückkamen. Zu welcher Kategorie gehörst du, Matt?« »Ich?«, erwiderte ich unschuldig, »keine Ahnung. Und du?« »Keine Ahnung«, sagte Gershwin, »aber das werden wir ja bald genug herausfinden.«
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16 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Zu Hause Hallo Elaine, sorry, dass du so lange auf eine Antwort von mir warten musstest. Hier ist alles in Ordnung. Der Flug war gut. Mum und Dad haben nach dir gefragt. Ich habe ihnen gesagt, dass wir uns getrennt haben, und sie waren enttäuscht, scheinen es aber zu akzeptieren. Und das mit meinem T-Shirt ist okay. Ich muss auch was beichten - ich hab was von deiner Unterwäsche mitgehen lassen. Sie ziert gerade den Heizkörper in meinem Zimmer. (Ist gelogen.) In Wirklichkeit habe ich eine Kassette geklaut, die ich dir aufgenommen hatte - die, der du den Titel Musik für Loser, Teil II gegeben hast. Ich weiß nicht, warum ich sie mitgenommen habe. Wahrscheinlich wollte ich ein Souvenir von uns beiden. Mehr später. Alles Liebe Matt PS: Der Vollständigkeit halber, du Dummi, nachfolgend einige Weltstars aus Birmingham: 1 John Taylor von Duran Duran (außer Simon Le Bon der Einzige in der Band, der allgemein bekannt ist) 2 Joan Armatrading (Sängerin, schreibt und komponiert auch selbst Lieder. Hatte 1976 einen Hit mit »Love and Affection«). 3 Robert Plant von Led Zeppelin (genau genommen ist er aus Stourbridge, etwas außerhalb von Birmingham, aber immer noch nah genug). 4 Kenny Baker - er spielte den R2D2 in Star Wars. 5 Ozzy Osbourne von Black Sabbath. -77-
6 Eigentlich müsste ich auch die UB40, die Reggaeband aus der Arbeiterklasse, einschließen, ziehe es aber vor, diese lokale Peinlichkeit zu ignorieren.
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17 Nach meinem Treffen mit Gershwin wusste ich zunächst nichts mit mir anzufangen und beschloss, mein Klamottenproblem anzugehen. Den Großteil meines Hab und Guts hatte ich per Schiff nach England geschickt, und es würde also erst in ein paar Wochen eintreffen. Außerdem waren die Sachen, die ich mitgebracht hatte, schmutzig. Ich hatte eine seltsame Abneigung dagegen gehabt, in New York die Waschmaschinen im Keller zu benutzen, und die Vorstellung, meiner Mum eine Ladung schmutzige Wäsche mit nach Hause zu bringen, war merkwürdig tröstlich gewesen. Als ich heute Morgen die wenigen sauberen Sachen aussortierte, kam mir der Gedanke, dass meine Garderobe vielleicht einer Erneuerung bedurfte. Gegenwärtig bestand meine Kleidung der ersten Kategorie (im Gegensatz zur zweiten mit Frankie-Says-No-to-War-T-Shirts, Jeans, die mir nicht mehr passten, und Sachen, die ich nur noch zum Renovieren tragen konnte) aus Hemden, Hosen, T-Shirts und Pullovern, die alle eins gemeinsam hatten: Sie waren entweder blau oder schwarz. Das verdeutlichte sehr gut mein Problem, das ich Gershwin zu erklären versucht hatte: meine zunehmende Inflexibilität. Ich hatte diese Vorliebe aufgrund einer echten Zuneigung für das dunkle Ende der Farbskala in meinen Zwanzigern entwickelt. Doch im Laufe der Jahre hatte sie sich dann in eine geradezu krankhafte Gewohnheit verwandelt, die ich nicht mehr ablegen konnte. Kurz vor Weihnachten waren Elaine und ich an der Upper West Side shoppen gewesen, und sie wollte mich dazu überreden, bei Banana Republik eine hellgraue Hose zu kaufen, die im Fenster ausgestellt war. Sie war nicht scheußlich. Sie war auch nicht zu modern für jemanden wie mich. Sie sah sogar wirklich gut aus. Aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, in den Laden zu gehen, geschweige denn, die Hose -79-
anzuprobieren. Es war nicht meine Schuld. So bin ich einfach. Es war, als hätte ich nach meinem neunzehnten Geburtstag an einer Mega-Meinungsumfrage über das Leben teilgenommen, und irgendwann nach meinem siebenundzwanzigsten wären dann die Ergebnisse eingetroffen. Plötzlich war alles klar und das Leben nicht mehr so kompliziert. Ich hatte schließlich verstanden, was ich mochte und was nicht, und hielt stoisch daran fest. Mein Lieblingsessen beim Inder: Chicken Tikka Masala. Meine Lieblingssendungen: Nachrichten, ScienceFiction, Sitcoms und Wiederholungen von allem, was ich in den siebziger und achtziger Jahren gesehen hatte. Meine Lieblingsmusik: Lieder von Sängerinnen, die selbst texten und komponieren, Platten aus den siebziger und achtziger Jahren und alles, was ich als Student gehört hatte. Ich hatte seit sechs Jahren den gleichen Haarschnitt (rundum kurz) und drei Paar identische Jeans, aus Angst, dass Levis sie irgendwann nicht mehr herstellte. Ich kannte mich, ich wusste genau, was ich vom Leben wollte, und war glücklich. Das hieß natürlich nicht, dass ich allem Neuen gegenüber verschlossen war. Allerdings war das Neue, das ich in mein Leben ließ, meistens eine Variante des Alten, das schon einen Platz bei mir gefunden hatte - und zwar die Variante einer strikt definierten Grundausstattung. Elaine hatte nicht verstanden, wie glücklich mich der Status quo machte, und ich hatte ihr erklärt, dass der Sinn des Lebens doch darin läge, aus Fehlern zu lernen und nicht ständig neue zu machen. So hatte ich also nach einer schrecklichen Pastell-, Beige- und sogar Gelb-Phase entschieden, bis ans Ende meiner Tage nur noch Dunkelblau und Schwarz zu tragen. Bald darauf entdeckte ich sogar, dass Essensflecken auf dunklen Sachen nicht auffielen und ich so ziemlich alles zusammen in der Waschmaschine waschen konnte, ohne Angst, dass etwas abfärbt. Als ich auf der Suche nach neuen Klamotten, die womöglich sogar mein Selbstbewusstsein für den neuen Lebensabschnitt -80-
stärkten, durch die Innenstadt schlenderte, begegnete ich einer alarmierenden Zahl attraktiver Frauen. Bei einigen stellte ich mir vor, wie wir Händchen haltend die Straße entlanggingen, fröhlich lachten, sie in einem luftigen Fummel, obwohl eine kühle Brise wehte, und ich in meinem blauen/schwarzen Outfit. Als ich dann aber einen Blick in ein Schaufenster warf, zerbrach der Zauber. Es hatte nichts mit der Kleidung zu tun, es war der Ausdruck in meinem Gesicht, der besagte: »Ist diese Fantasiereise wirklich nötig?« Der Grund für diese Frage war natürlich der gleiche wie für die Farbe meiner Kleidung: Mit Neunundzwanzig wusste ich ganz genau, was für eine Frau ich wollte. Ich wollte eine, wie ich sie früher schon gehabt hatte, nur ohne die ärgerlichen Seiten. Ich wollte eine, die ich schon kannte - aber die mich noch nicht gut genug kannte, um von meinen Unzulänglichkeiten abgeschreckt zu sein. Ich wollte eine, bei der ich einfach ich selbst sein konnte. Doch genauso wenig, wie es die Kleidung gab, die man so deutlich vor sich sah - mit der richtigen Farbe, dem richtigen Schnitt, dem richtigen Stil, existierte die Frau in meinem Kopf, was dazu führte, dass ich das Shoppen am liebsten sein gelassen hätte. Trotzdem ging ich, einem eher leichtsinnigen Impuls folgend - zweifellos von einem drohenden Anfall von Schwermut getrieben, in einen Laden nahe der New Street, der von außen recht hip und en vogue aussah - falls »hip« und »en vogue« immer noch als hip und en vogue galten. Vielleicht habe ich ja alles falsch verstanden, sagte ich mir. Vielleicht ist Neues ja doch nicht so entsetzlich. Aus den Lautsprechern im Laden hämmerten mir die Bässe des lautesten Songs entgegen, den ich je gehört hatte - gerade mal eine Stufe unter meiner Trommelfellplatzgrenze. Am anderen Ende des Ladens, nahe -81-
der Hintertür, stand tatsächlich ein DJ mit seiner Anlage. Der Anblick ließ mich gleichzeitig lachen und wehmütig werden: lachen, weil der etwa zwanzigjährige Typ, mit Spitzbart, Wollmütze und Turnschuhen, wie ich sie mit elf zum Turnunterricht getragen hatte, sich zweifellos für den Inbegriff von cool hielt, obwohl seine Zuhörerschaft hier war, um Hosen, Hemden und Unterwäsche zu kaufen; und wehmütig, weil auch ich vor nur wenigen Jahren das Plattenauflegen in einem Kleiderladen für die coolste Beschäftigung der Welt gehalten hätte. In einem Anfall von Selbstgeißelung schlug ich alle Vorsicht und meine Dunkelblau/Schwarz-Philosophie in den Wind und nahm mir ein paar bunte Hemden, die mir ins Auge gefallen waren. Damit ging ich zu einem der obercoolen Verkäufer, der bei den Kleiderständern herumschlich. Er war ungefähr einundzwanzig, hatte den Körper einer Gespensterheuschrecke und trug das gleiche Hemd, das ich in der Hand hielt. Da es für mich eine ganz neue Erfahrung war, von einem modebesessenen Verkäufer eingeschüchtert zu werden (obwohl ich von Elaine wusste, dass das in Damengeschäften ständig vorkam), straffte ich meine Schultern, zog den Bauch ein und fragte ihn nach der Anprobe. Er musterte mich eingehend, wobei sein Gesicht fast, nur fast, grimassenhafte Züge annahm, zuckte mit den Achseln und zeigte in die gewünschte Richtung. Ich schloss den Vorhang sorgfältig, zog Jackett und T-Shirt aus, probierte eines der neuen Hemden an und starrte im kalten Licht des dreistufigen Beleuchtungssystems (Stufe eins: simuliertes Tageslicht; Stufe zwei: künstliches Licht; Stufe drei: Gewitter) ungläubig in den Spiegel. Elaine hatte immer behauptet, dass Kleiderläden spezielle Spiegel hätten, in denen die Kunden aussahen wie an den Strand gespülte Wale. In ihren Augen war das alles Teil einer Kampagne dünner Frauen, die die Weltherrschaft übernehmen wollten. Wie ich jetzt so bewegungslos dastand, aus Angst, die Knöpfe würden mir vom -82-
Hemd platzen wie bei Incredible Hulk, wurde mir klar, dass die dünnen Männer dieser Welt ähnliche Pläne hatten. »Wie sieht's aus?«, fragte der Verkäufer vor der Kabine. Ich schob den Vorhang beiseite, damit er es selbst beurteilen konnte. Wir starrten gemeinsam in den Spiegel, trauten unseren Augen nicht. »Ist es nicht ein bisschen eng?« »Es ist extra so geschnitten«, sagte er knapp. Darauf gab es keine Antwort, die ohne Kraftausdruck und/oder Schlag ins Gesicht ausgekommen wäre. Also dankte ich ihm und verschwand mit dem bisschen Würde, das mir noch geblieben war, hinter dem Vorhang und trauerte meiner Jugend nach.
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18 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Diverses Liebe Elaine, vergiss bitte nicht, die Grünlilien im Badezimmer zu gießen - wie du weißt, zählt es nicht, einmal pro Woche die Dusche drüberzuhalten. Denk ebenfalls daran, deine Kreditkartenrechnung zu bezahlen, bevor du (wieder) ein Vermögen an Zinsen löhnen musst. Matt :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Kein Dad Liebe Elaine, vergiss die letzte Mail. Wer bin ich denn? Dein Dad? Vergiss die Grünlilien. Bezahl die Kreditkartenrechnung nicht. Mach was du willst. Alles Liebe Matt An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Dad! -84-
Zu deiner Information: Die Grünlilien hatte ich schon gegossen, gebe aber zu, dass ich die Visakartenrechnung vergessen habe. Das macht mir alles ziemlich Angst, Matt. Wir haben uns getrennt, und jetzt muss ich nicht nur daran denken, meine eigene Visakartenrechnung zu bezahlen, sondern dich auch noch vermissen. Wage es ja nicht, mit dem Wehklagen aufzuhören… Alles Liebe Elaine
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19 In der ersten Woche zu Hause führte ich ein Doppelleben. Abends traf ich mich mit Gershwin - hin und wieder waren Zoe und Charlotte dabei, und tagsüber war ich viel mit meinen Eltern zusammen, eine recht bizarre Erfahrung. Seit meinen frühen Teenagerjahren hatte ich nicht mehr so viel Zeit mit Mum und Dad verbracht, und diese Woche machte mir nur allzu deutlich, warum. Überglücklich, ihren ältesten Sohn wieder zu Hause zu haben, versuchten sie auf ihre Weise, mich die Begleitumstände meines Besuchs vergessen zu lassen - durch ein intensives Unterhaltungsprogramm. Das bestand im Wesentlichen aus Tagesausflügen zu sämtlichen Orten, wo sie schon hunderttausend Mal gewesen waren und es ihnen so sehr gefallen hatte, dass sie jederzeit gern wieder hinfuhren. Auf unserem ersten Ausflug besuchten wir das nahe gelegene Stratfordupon-Avon, was zugegebenermaßen ziemlich viel Spaß machte. Wir besichtigten das Haus von Anne Hathaway, das Mum »ein bisschen klein« fand, und spazierten ein paar Stunden in der Innenstadt umher, bis mein Vater meinte, er müsse zum Auto zurück, um »etwas zu überprüfen«. Seinem Wunsch wurde nicht stattgegeben, denn Mum wusste, dass »etwas überprüfen« nur seine Langeweile verschleierte und in Wirklichkeit hieß, ein Nickerchen im Auto zu machen. Abends versuchte ich dann vergeblich, das Essen zu bezahlen. »Du bezahlst nicht für mich«, sagte Dad. »Warum nicht?«, fragte ich verständnislos. »Darum«, antwortete Dad. »Ich sterbe vor Scham«, sagte meine Mutter mit solcher Vehemenz, als wäre sie kurz davor, am Boden mit mir um die Rechnung zu ringen. »Du kannst dein schwer verdientes Geld doch nicht für deinen Dad und mich ausgeben. Steck's weg. Dad -86-
bezahlt.« »Es sind nur zweiundzwanzig Pfund und fünfzig Pence!«, protestierte ich. »Das wird mich nicht in den Ruin treiben. Ich übernehme das, wirklich, das ist okay.« Ich war fest entschlossen, nicht nachzugeben. Bei ihrem Besuch in New York hatten sie schon immer alles für Elaine und mich bezahlt, was um ein Haar zu einem handfesten Streit geführt hätte. Mit einer Halsstarrigkeit, die ich in meiner Kindheit kultiviert hatte, zwang ich sie, mich bezahlen zu lassen. Ich reichte der Kellnerein meine Kreditkarte und ging zur Toilette. Als ich zurückkehrte, mobilisierte Dad gerade alle seine Überredungskünste, damit sie stattdessen seine nahm. Ein paar Tage später unternahmen wir unseren nächsten Ausflug - zum Botanischen Garten in Edgbaston, was Dad ungeheuer freute. Sobald wir ankamen, bestand er darauf, mir eine Grünlilie zu kaufen, weil er das in meiner Kindheit bei einem Besuch mit mir und den Zwillingen schon einmal getan hatte. Es war ein wunderschöner Tag, und wir spazierten im ganzen Garten umher, dann gab es Tee und Gebäck mit Sahne im auf alt getrimmten English Tea Shoppe. Während Mum sich bemühte, Ihre Majestät Queen Elizabeth II beim Essen eines mit Marmelade gefüllten und Sahne gekrönten Stückchens nachzuahmen, fragte Dad: »Erinnerst du dich noch an den sprechenden Hirtenstar, den sie früher hier hatten, Matt?« Ich dachte nach. »Nein.« »Daran musst du dich aber erinnern«, sagte er verdrossen. »Er hat in einem der Treibhäuser gelebt und gesagt: ›Wer ist der freche Junge?‹ und: ›Hoppla, da geht ein Seemannl‹« »Nein, Dad. Ich bin mir sicher, dass ich mich an etwas so Surreales wie ›Hoppla, da geht ein Seemann! ‹ von einem sprechenden Vogel erinnern würde.« Aber so leicht war Dad nicht zu überzeugen. Er plagte mich noch den ganzen Tag über mit dem verdammten Hirtenstar. Hier -87-
ein typischer Dialog: Er: Du musst dich doch daran erinnern, Matt. Er war schwarz mit einem großen gelben Schnabel. Ich: Nein, Dad, ich erinnere mich nicht an einen Hirtenstar. Soweit ich weiß, habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Hirtenstar gesehen. Er: (bestimmt): Du erinnerst dich, du bist einfach nur zu verdammt störrisch! Im Nachhinein weiß ich, dass das der Anfang vom Ende unserer Familienausflüge war. Der Todesstoß kam dann zwei Tage später auf dem Weg zu den Malvern Hills. Um die Geschichte abzukürzen: Wir verirrten uns und landeten schließlich auf der Autobahn in Richtung Bristol, weil Dad meine Richtungsanweisung falsch verstanden hatte. Er beharrte darauf, dass ich es falsch gesagt hätte, und Mum saß auf der Rückbank, lutschte Birnendrops und versuchte uns zu beschwichtigen, während wir unbeirrt weiterstritten. Als wir dann nach Birmingham zurückkamen, verbittert in unseren getrennten Welten schmollend, hatten meine Eltern und ich eingesehen, dass wir uns zwar liebten, aber besser nicht so viel Zeit gemeinsam verbringen sollten.
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20 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Die Dreißiger (wie du sie nennst) Liebe Elaine, vor ein paar Tagen habe ich Gershwin getroffen. Es tut immer gut, ihn zu sehen. In seiner Gegenwart kann ich ganz ich selbst sein. In vierzehn Tagen wird er dreißig, aber es hat den Anschein, als würde er es viel besser verkraften als ich. Ich glaube, wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat, kann man auch gut damit umgehen. Sein Job ist zwar nicht besonders toll, aber er hat eine sehr gute Beziehung mit seiner Frau und eine süße kleine Tochter. Nicht schlecht für einen Dreißiger, würde ich sagen. Ich habe Charlotte übrigens die Barbie-Puppe gegeben, die du ihr gekauft hast. Sie liebt sie total und besteht darauf, sie Elaine zu nennen. Ich habe ihr gesagt, sie sehe dir kein bisschen ähnlich, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Kids! Matt PS: Hab ich irgendwelche Post bekommen? An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Die Dreißiger Lieber Matt, warum tust du dir das an? Warum musst du -89-
ständig ALLES in deinem Leben beurteilen/vergleichen und anderem gegenüberstellen? Ich habe immer gedacht, das wäre typisch Mann, doch inzwischen frage ich mich, ob es einfach nur typisch Matt ist. Dein Leben ist interessant! Beruhig dich, ja? Elaine:-) PS: Betr.: Hab ich irgendwelche Post bekommen? Machst du Witze? Du hast nicht einmal Post bekommen, als du noch hier warst!!! PPS: Ich weiß, ich klinge glücklich, aber ich bin es nicht. Du fehlst mir. PPPS: Mir ist aufgefallen, dass du bis jetzt in keiner Mail geschrieben hast, dass ich dir fehle. Das heißt, du schuldest mir zweimal, wenn ich im Großen Loser Preis des »Exfreundin/Exfreundsuchtimmernoch-Bestätigung«-Rennens nicht meilenweit in Führung gehen soll. PPPPS: Das mit der Barbie-Elaine ist echt lustig. Im Büro haben sie mich den ganzen Tag Barbie genannt. Sag Charlotte, sie ist wunderbar.
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21 »Hier, nimm das mit, Matthew«, sagte Mum. Ich sah auf den Stapel Rabatt-Coupons, die meine Mutter mir in die Hand gedrückt hatte. »Was soll ich denn damit?«, fragte ich. »Was glaubst du wohl?«, erwiderte sie in ihrer nüchternen Art. Ich betrachtete mir den obersten Coupon und sagte: »Also für den hier gibt's zehn Pence Rabatt beim Kauf einer ›Junggesellen-Heiße-Tasse nach Hausfrauenart‹.« »Genau«, sagte Mum. »Aber heutzutage benutzt kein Mensch mehr diese Dinger, Mum, es ist so…« Ihr Blick brachte mich augenblicklich zum Schweigen. »Wer im Kleinen spart«, dozierte sie und drehte mich an der Schulter in Richtung Haustür, »braucht sich ums Große nicht kümmern.« Der Grund für diese Unterhaltung waren Schuldgefühle. Da die Tagesausflüge gestrichen waren, blieb mir nichts anderes übrig, als zu Hause herumzusitzen und meinen Eltern bei der Arbeit zuzusehen. Obwohl beide im Ruhestand waren, schien sich ihre protestantische Arbeitsethik vervierfacht zu haben. Neben den Instandhaltungsarbeiten im Haus, baute mein Vater noch ständig neue Regale für meine Mutter. Und sie bastelte ständig irgendwelche putzigen Körbe mit rustikalen Arrangements aus glasierten, künstlichen Brotzöpfen und getrockneten Blumen, die dann die neuen Regale zierten. Sie arbeiteten die ganze Zeit, wie eine Art Perpetuum mobile des Kunsthandwerks. Arbeit. Arbeit. Arbeit. Deshalb schlug ich in der zweiten Woche vor, die Supermarkt-Einkäufe für meine Mutter zu übernehmen, nur damit ich auch etwas zu tun hatte. -91-
Außerdem durfte ich dann den Wagen meines Vaters fahren, einen makellos gepflegten Vauxhall Nova. Dad liebte sein Auto, er wusch es jeden zweiten Tag und strich die Räder einmal im Monat mit Reifenfarbe, damit sie immer tiefschwarz aussahen. Der Wagen war sein ganzer Stolz. Doch da meine Mutter zu Hause das Kommando führte, verfügte sie auch über seinen ganzen Stolz. »Ich erledige den Wocheneinkauf«, sagte Dad, während er den Autoschlüssel fest umklammerte. »Es dauert nicht lange.« »Aber Matthew hat sich bereits dafür angeboten«, erwiderte Mum. »Und du musst die Regale für mich fertig machen. Außerdem wird es dem Jungen gut tun, mal hier rauszukommen und etwas Nützliches zu tun… zur Abwechslung.« Ich hegte eine gewisse nostalgische Zuneigung zum SafewaySupermarkt in der Hauptstraße von King's Heath. Als Gershwin, Katrina, Ginny, Elliot, Bev und ich siebzehn Jahre alt waren, begann jede große Party mit einem Trip dorthin. Wenn man nicht viel Geld hatte, konnte man mit dem Supermarkt-Alkohol am effektivsten die gleiche Wirkung erzielen, als hätte man mehrere Halbe im Pub getrunken. Wir standen also neben den automatischen Türen, suchten unser Taschengeld und den Verdienst unserer Samstagsjobs zusammen und gaben alles Elliot, weil er am ältesten aussah. Er kaufte dann so viele Thunderbirds wie möglich, die wir alle im Bus auf der Fahrt in die Stadt leerten. Auf meinem Trip zu Safeway traf ich dann Mrs Brockel aus der Nummer fünfundsechzig, die ich seit meinem sechsten Lebensjahr kannte; Mr und Mrs Butler, die Besitzer von Butler's Zeitungskiosk; Mr Mahoney, der mit Mrs Mahoney verheiratet war, die während der Grundschule als Schülerlotsin dafür gesorgt hatte, dass wir vor der Schule sicher über die Straße kamen; Mrs Bates, eine Freundin meiner Eltern, die nach der Schule auf mich und meine Geschwister aufgepasst hatte, -92-
und Mrs Smith, die immer in Pantoffeln herumlief und in meiner alten Oberschule die Mittagspausenaufsicht machte. Es überraschte mich keineswegs, all diese Leute unter einem Dach wieder zu treffen. Sie gehörten zu einer Generation, die daran glaubte, dass man an ein und demselben Ort geboren werden, aufwachsen, heiraten, Kinder bekommen, alt werden und sterben sollte, und wenn schon nicht am selben Ort, dann doch ganz in der Nähe. Sie würden niemals aus der Gegend wegziehen, selbst wenn sie eine Million Pfund im Lotto gewännen. In dem Fall würden sie lediglich die speziellen Doppelglasfenster einbauen lassen, von denen sie ihr Leben lang träumen, und den Rest für einen schönen Urlaub beiseite legen. Erst meine Generation, also ihre Söhne und Töchter, war auf die nicht sehr kluge Idee gekommen, das Land auf der Suche nach einem besseren Leben zu durchwandern. Nach diesem kleinen soziologischen Exkurs muss ich allerdings noch erwähnen, dass mir auch einige der ehemaligen King's-Heath-Gesamtschüler aus meinem Jahrgang begegnet sind: Alex Craven (damals potenzieller Kricketspieler für die englische Nationalmannschaft; heute Gitarrist und TeilzeitDrogenhändler); Mark Basset (damals potenzieller Maurer; heute Hauptgeschäftsführer im eigenen Bauunternehmen und Besitzer eines BMW) und Jane Nicholson (damals potenziell die schönste Frau der Welt; heute Teilzeit-Verkäuferin bei Texas Homecare). Als ich schließlich den Laden verließ und mit meinen schweren Tüten zum Auto meines Vaters ging, dachte ich an New York, das mir unendlich weit weg erschien. Ich dachte an meinen Job, der mir vorkam, als hätte er nie existiert. Und dann dachte ich an Elaine - sie fehlte mir noch wie am ersten Tag.
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23 Heute war Gershwins Geburtstag. Heute wurde er dreißig. Heute war der Tag, von dem er geglaubt hatte, er würde niemals kommen. Und wie wollte er den Geburtstag aller Geburtstage feiern? Mit einer unvergesslichen Ballonfahrt? Mit Freunden bei einem Wochenendtrip nach Dublin? Mit einer Überraschungsparty? Nein. Seit meiner Rückkehr nach Birmingham hatten Zoe und ich uns den Kopf zerbrochen, wie wir Gershwins Geburtstag zu etwas ganz Besonderem machen konnten. Doch kaum hatten wir ihm ein Überraschungswochenende nach Dublin gebucht, durchkreuzte er unsere Pläne. »Der dreißigste Geburtstag ist einfach zu deprimierend«, sagte er am Montagabend, eine Woche vor dem geplanten Trip. »Steve, ein Arbeitskollege, hat mir heute von seinem erzählt. Er war letzten Freitag von der Arbeit nach Hause gekommen und freute sich schon auf einen Fernsehabend mit seiner Freundin, als er im Wohnzimmer von fünfundzwanzig Freunden und Familienangehörigen empfangen wurde. Seine Koffer standen gepackt neben der Tür, und wenig später war er auf dem Weg zu einem Wochenendtrip nach Edinburgh. Er fand's nur furchtbar. Erstens musste er so tun, als freute er sich, und dann ging auch noch das ganze Wochenende drauf.« »Das haben sie bestimmt aus reiner Bosheit gemacht«, sagte Zoe lachend, doch als Gershwin gerade wegsah, warf sie mir einen entsetzten Blick zu. »Meinst du nicht auch, Matt?« »Ganz klar ein Hassgeschenk«, erwiderte ich. »So was würden wir dir nie antun, Gershwin. Wir würden uns was viel Schöneres einfallen lassen.« -96-
»Zum Beispiel eine Ballonfahrt«, sagte Zoe. »Oder eine Überraschungsparty«, warf ich ein. »Oder ein Wochenende in Dublin…«, vervollständigte Zoe die Liste. »Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen«, entgegnete Gershwin ahnungslos. »Halb England feiert derzeit feuchtfröhliche Wochenendpartys in Dublin. Und was Ballonfahrten und Überraschungspartys angeht - ohne mich. Meinen Geburtstag will ich mit ein paar guten Freunden in einem netten und nicht so knallvollen Pub verbringen.« Zoe und ich warfen uns erneut Blicke zu, und als Gershwin dann kurz das Zimmer verließ, sagte sie schnell: »Stornier Dublin - ich übernehme den Rest.« Damit war das also geklärt, wobei Zoe und ich uns noch ein Bonbon einfallen ließen, nämlich den Abend im Kings Arms in Mosley zu verbringen, Gershwins und meinem Tummelplatz in unserer Jugend. Das Kings Arms war für einen Mittwochabend und in Anbetracht der vielen passablen TV-Shows - worauf meine Mutter mich beim Weggehen hinwies, gut gefüllt. Das letzte Mal war ich am Heiligabend vor fünf Jahren hier gewesen, bei unserem alljährlichen Treffen, zu dem allerdings nur noch Gershwin und Zoe gekommen waren, und - für zirka zehn Minuten Pete, der dann zu den Eltern seiner Freundin nach Derby musste. Seither hatte sich kaum etwas verändert. Die geschmackvoll mit Nikotinflecken überzogene Textiltapete wirkte so unverwüstlich wie die Angestellten. Allerdings gab es jetzt auch einen Biergarten mit Betonfußboden, und die Toiletten waren generalüberholt worden. Doch noch immer herrschte die Atmosphäre eines echten englischen Pubs: Hier konnte man sich zurücklehnen, entspannen und mit anderen Menschen unterhalten, unbehelligt von flimmernden -97-
Lichteffekten und dröhnender Chartsmusik. In New York hatte Elaine mich immer in Lokale mitgeschleppt, die von der Werbebranche frequentiert wurden, was zwangsläufig bedeutete, dass sie schwer zu finden waren, überteuertes Flaschenbier verkauften, laute Musik spielten und man nirgends sitzen konnte. Meine Knie taten schon bei der Erinnerung daran weh. Im hinteren Teil des Pubs, den früher unsere alte Gang in Beschlag genommen hatte, saß eine Gruppe Leute um die dreißig, die entspannt plauderten, rauchten und insgesamt einen zufriedenen Eindruck machten. Ein paar von ihnen kannte ich sogar von früher, aber nicht gut genug, um sie anzusprechen. Und in der hinteren Ecke saßen Gershwin, Zoe und die Gäste des Geburtstagskinds, die mir fast alle fremd waren. Zoe hatte es geschafft, den Großteil seiner Freunde zusammenzutrommeln, die ich dann alle im Laufe der ersten halben Stunde kennen lernte: Davina und Tom (Freunde von Zoe und jetzt auch Freunde von Gershwin), Christina und Joel (Christina war eine Freundin und Arbeitskollegin von Gershwin), Neil und Sarah (Neil war anscheinend ein Freund aus Gershwins Fünf-MannFußballteam) sowie Dom und Polly (Freunde von Christina und Joel und jetzt auch von Zoe und Gershwin). Sie alle waren sehr nett, doch ich fühlte mich trotzdem nicht besonders wohl, denn ich war der einzige Single in der Gruppe. Das hätte mir normalerweise nicht allzu viel ausgemacht, wenn ich nicht ein paar durchaus witzige Anekdoten in die Unterhaltung hätte einfließen lassen, die auf keinerlei Interesse gestoßen waren. Unter normalen Umständen - das heißt, wenn man eine Freundin dabei hatte - konnte man die Geschichte einfach weitererzählen, ohne sich a) dumm, b) langweilig oder c) beides vorzukommen, weil man wusste, dass zumindest ein Mensch höflich genug war zuzuhören. Aber als ich so da saß, mit offenem Mund, die bescheuerte Geschichte noch immer nicht fertig erzählt, fühlte ich mich plötzlich ungeheuer einsam. Ich hatte schon immer Probleme, mich mit Menschen zu unterhalten, die -98-
ich nicht kannte, selbst wenn es mir blendend ging. Eine ganze Gruppe Unbekannter war sozusagen mein größter Alptraum. Deshalb hatte Elaine mich auch so fasziniert, die alles Neue liebte und sich davon weder verunsichern noch in Verlegenheit bringen ließ. Sie konnte auf eine Party gehen, wo sie keine Menschenseele kannte, und eine halbe Stunde später hing eine ganze Gruppe an ihren Lippen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich so an alten Freunden hing sie waren die Einzigen, die nicht jede Unterhaltung in einen Beliebtheitswettbewerb oder Monologmarathon verwandelten. Ich hörte mir gerade eine Geschichte von Christina und Joel an, die in eingespielter Paar-Manier von ihrer riesigen Gasrechnung berichteten, als ich nicht länger das fünfte Rad am Wagen sein wollte und mich erbot, die nächste Runde Getränke zu holen. Ich wollte allein an der Bar stehen und mich meinem Selbstmitleid hingeben. Die anderen trugen mir ihre Wünsche auf, und ich machte mich davon. Mit schwerem Herzen stand ich dann an der Bar und versuchte mich zu erinnern, ob Davina nun einen Gin mit Tonic oder einen Wodka mit Tonic wollte, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um. »Matt Beckford?«, fragte die Frau. »Ginny Pascoe?« »Du bist es!«, schrie sie auf und schlang die Arme um mich. »Meine Retterin!«, rief ich beglückt und umarmte sie meinerseits. »Wow. Das ist wirklich eine Überraschung!«
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24 Ich hatte Ginny das letzte Mal vor fast sechs Jahren auf Gershwins Hochzeit getroffen, nachdem wir uns etwa sechs Monate lang nicht gesehen hatten. Unsere mitternächtliche Unterhaltung damals auf dem unbeleuchteten Parkplatz des Grosvenor Country Hotel in Hagley verlief folgendermaßen: Ich: (sie leidenschaftlich küssend): Das ist keine gute Idee. Sie: (mich leidenschaftlich küssend): Du hast Recht. Die Schlechteste überhaupt. Ich: Was machen wir hier bloß? Sie: Haben wir denn kein bisschen Selbstdisziplin? Ich: Sieht so aus. Sie: Aber warum? Warum sind wir damit gestraft? Ich: (verzweifelt): Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Sie: Das geht nun schon seit sieben Jahren so. Ich: Echt deprimierend, ich weiß. Sie: Wann war das letzte Mal? Ich: Das muss Bevs Abschiedsparty gewesen sein, bevor sie (wieder) nach Indien gegangen ist. Sie: (kopfschüttelnd): Falsch! Ich: Das stimmt nicht? Bist du sicher? Sie: Und was war drei Monate danach auf Elliots Umzugsparty? Ich: (erinnernd): O ja. Es ist wirklich schlimm, fast wie eine Krankheit, stimmt's? Sie: Ja, aber was sollen wir dagegen tun? Ich: (zögernd): Vielleicht sollten wir… na ja, hast du jemals daran gedacht… findest du, wir sollten es mal mit einer -100-
richtigen… Sie: (panisch): Sag's nicht! Wag's ja nicht zu sagen! Ich: Was? Sie: Du wolltest das B-Wort sagen, stimmt's? Ich: (offensichtlich lügend): Nein. Sie: Doch, du Lügenbold! Ich: Und wenn schon. Es ist kein Verbrechen. Sie: O doch! Es ist das schrecklichste Verbrechen der Welt. Ich: (lässig): Jetzt redest du aber wirklich Quatsch. Sie: Okay, und was schlägst du vor? Ich: Ich schlage gar nichts vor. Ich gebe einfach ein paar Ideen zum Besten. Warum machst du das nicht auch? Sie: (lachend): Wie war's mit einer Art Pakt? Ich: Welcher Art? Sie: Ich weiß nicht… zum Beispiel so was wie: Wenn wir irgendwann in der Zukunft… Ich:… immer noch beide Single sind… Sie:…weil wir nichts… Ich:…Besseres gefunden haben… Sie:… setzen wir uns zusammen… Ich:… mit sechsundzwanzig… Sie: (empört): Auf keinen Fall! Bist du verrückt? Das ist schon in zwei Jahren! Ich: (ebenfalls empört): Okay, dann schlag du was vor. Sie: (nachdenklich): Siebenundzwanzig ist als Trost zu dicht an sechsundzwanzig und somit ausgeschlossen. (Pause) Mit achtundzwanzig werde ich noch an meiner Karriere basteln, das ist dann ebenfalls ausgeschlossen. (Noch eine Pause) Neunundzwanzig klingt schon besser… aber um wirklich sicherzugehen, sollten wir bis dreißig warten. -101-
Ich: Dreißig? Bist du sicher? Sie: Hundert Prozent. (Erleichtert) Dreißig ist irgendwie Millionen Jahre weit weg. Ich: Also gut. Aber einen Pakt muss man durch Handschlag besiegeln. Sie: (lachend): Vergiss den Handschlag. (Hebt viel sagend die Augenbrauen) Ich kenne eine schönere Methode, einen Pakt zu besiegeln… Also, wo waren wir stehen geblieben?
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25 Die erste Frage, die mir nach unserer Umarmung und der intensiven gegenseitigen Begutachtung durch den Kopf schoss, war natürlich: Hat sie sich seit letztem Mal verändert? Eher nicht, befand ich, jedenfalls weniger als ich. Ihre Haare waren ein bisschen kürzer, und um die Augen zeigten sich die ersten kleinen Fältchen, die ihr gutes Aussehen aber noch unterstrichen. Alles andere - das Lächeln, das Lachen, der Manierismus war unverändert. Ihre Kleidung war interessant: Sie trug eine schwarze Jacke, ein eng anliegendes schwarzes Top, einen schwarzen, knielangen Rock und schneeweiße Turnschuhe von Nike. Alles wirklich ansprechend. Gefiel sie mir? Fand ich sie attraktiv? (Die Frage stellte ich mir natürlich als Nächstes, während ich sie anstarrte.) Ich wusste es nicht. Ja? Nein? Vielleicht? In dem Augenblick, der mir zur Verfügung stand, ging ich alle Möglichkeiten durch. Zweimal. Die Jury machte gerade Pause. »Wie geht es dir?«, fragte Ginny aufgeregt. Sie hatte die Arme noch immer um meine Taille geschlungen, aber nicht kokett, sondern freundschaftlich. Und ihre Frage klang aufrichtig, als ob sie eine ehrliche Antwort wollte. »Gut«, erwiderte ich. »Wirklich gut.« Ein alter Mann drängte sich zwischen uns, um an die Bar zu kommen, weshalb sie mich loslassen musste. »Es ist so lange…« »Ja, das stimmt«, beendete sie meinen Satz. »Bist du noch in London?« »New York.« »Wow!«, rief sie aus. »Von King's Heath nach New York. Das schaffen nicht viele.« -103-
Ich schüttelte den Kopf. »Dann besuchst du also gerade deine Eltern?« Ich nickte. Ginny hielt verdutzt inne. »Hast du vor, auch mal was zu sagen, oder muss ich weiter raten? Sehr lustig wird das dann aber nicht.« Wieder schüttelte ich den Kopf, anstatt ihr zu antworten, weil ich immer noch versuchte herauszufinden, ob ich sie attraktiv fand oder nicht. »Entschuldige«, sagte ich und riss mich zusammen. »Ja, du hast Recht. Ich bin wieder hier, um ein bisschen Zeit mit meinen Eltern zu verbringen.« »Und, wie ist er so?«, fragte sie, während sie mich noch immer aufgeregt anstrahlte. »Der Alltag mit Ma und Pa Beckford?« »Furchtbar«, sagte ich und legte mit gespielter Leidensmiene die Hand an die Stirn. »Sie bringen mich echt auf die Palme. Jedes Mal wenn ich ins Zimmer komme, wollen sie mich in ihre Seltsamaberwahr-Gespräche mit einbeziehen. Die Bandbreite der Themen, die wir seit meiner Ankunft behandelt haben, reicht von den Hauspreisen in London, dem launischen Mann meiner Tante Jean bis hin zu der Frage, wer von uns Geschwistern gern Rosenkohl isst. Ich habe das Gefühl, in einem surrealistischen Alptraum gelandet zu sein. Ich liebe sie, aber…« Ich hielt inne, wollte die Unterhaltung nicht durch meinen Monolog dominieren, doch Ginny reagierte nicht. Offensichtlich war sie mit den Gedanken woanders. »Aber jetzt sag du mal, wie es dir geht«, half ich nach. »Ich meine… was machst du denn hier?« »Im King's Arms?« »Zum Beispiel.« »Ach, du meinst hier in Birmingham? Also was den Pub betrifft, ich bin hier verabredet. Es ist immer noch meine Stammkneipe, sofern ich überhaupt noch so was habe. -104-
Irgendwie arbeite ich die ganze Zeit.« »Das Letzte, was ich über dich gehört hatte, war, dass du es dir in Brighton gut gehen lässt. Stimmt das?« Sie nickte, wich jedoch sofort meinem Blick aus. »Ja, aber das ist schon eine Weile her. Meine Mum ist gestorben, deshalb bin ich wieder hier.« »Das tut mir Leid«, sagte ich. »Das mit deiner Mum. Ist schlimm, was?« Sie lächelte sanft. »Mach dir keine Sorgen. Es ist jetzt schon achtzehn Monate her. Das Schlimmste ist vorbei.« »Deine Mum war wirklich eine nette Frau«, sagte ich, und meinte es auch. Ginnys Mutter gehörte zu den seltenen Elternteilen, mit denen man immer reden konnte, ohne dass es einem aufgesetzt vorkam. »Jedes Mal wenn wir bei dir zu Hause waren, hat sie angeboten, uns Bohnen auf Toast zu machen, egal wie viel Uhr es war.« Ginny lächelte. »Ja, so war meine Mum.« »Kam es unerwartet?« »Eigentlich nicht. Sie hatte Krebs und war schon einige Zeit krank, musste immer wieder ins Krankenhaus. Als die Ärzte dann sagten, es sei ernst, habe ich meinen Job in Brighton aufgegeben und bin zurückgekommen, um mich um sie zu kümmern. Es gab ja immer nur sie und mich, deshalb habe ich nach ihrem Tod das Haus geerbt. Erst wollte ich es verkaufen und wieder weggehen, aber dann dachte ich, warum soll ich nicht bleiben? Und das habe ich dann getan. Das Haus hätte ich wahrscheinlich sowieso nicht verkaufen können, es hängen zu viele Erinnerungen daran.« »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, es tut mir so Leid.« »Das gehört zum Leben«, sagte sie, begleitet von einem Schulterzucken und unbeholfenem Lächeln, und dann -105-
umarmten wir uns noch einmal schweigend. »Also, wie geht es dir?«, fragte ich, als wir erneut dastanden und uns anstarrten. »Irgendwie hast du das schon mal gefragt, Matt«, sagte sie, wobei sie ihre Augenbrauen boshaft hochzog. »Mir geht's gut, ehrlich. Wirklich gut.« Ihr Blick huschte kurz durch den Raum zur Tür. »Du kennst das ja selbst. Es gibt gute Tage und schlechte Tage, und heute ist ein guter.« Sie lächelte. »Aber was treibst du in New York, du Angeber?« »Ich arbeite in der Computerbranche.« »Und als was? Baust du die Dinger? Benutzt du sie? Trägst du sie auf dem Kopf? Man musste dir schon immer alles aus der Nase ziehen.« »Es ist todlangweilig«, sagte ich, denn ich hatte keine Lust, darüber zu reden. »Ehrlich.« »Versuch's doch mal.« »Ich entwickle Software für Banken. Echt stumpfsinnig.« »Aber trotzdem wichtig«, sagte sie netterweise. »Ohne Leute wie dich müsste ich sicher viel länger warten, bis mein Gehalt auf dem Konto ist. Natürlich würde das auch bedeuten, dass ich es nicht mehr so schnell ausgeben könnte. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass du insgesamt eher ein Gewinn als ein Verlust für meine Lebensqualität bist.« »Und was treibst du so?«, fragte ich schnell. »Wie verdienst du deine Brötchen?« »Ich unterrichte Kunst.« »Kunstlehrerin. Meine Hochachtung. Kunstlehrer sind die coolsten von allen - sie ziehen mit ihrer Staffelei umher, sind grundsätzlich ein bisschen verrückt und ermutigen Dreizehnjährige, auf ihre innere Stimme zu hören.« Sie lachte. »Wo unterrichtest du?«, fragte ich. -106-
»Rate mal.« »Doch nicht in der King's Heath Gesamtschule?« »Volltreffer.« »Ist das nicht komisch?« »Und ob. Als ich am ersten Tag das Lehrerzimmer betrat, kam ich mir sofort wie eine Betrügerin vor. Genau vor meiner Nase saßen Mr Collins, Mr Haynes, Mrs Perkins und Mr Thorne.« »Sag nichts«, entgegnete ich lachend. »Lass mich raten - Mr Collins, Geografie, Mr Haynes, Physik, Mrs Perkins, Mathe und Mr Thorne Englisch.« »Beinahe«, sagte sie mit einem Grinsen. »Mr Haynes unterrichtet Geschichte.« »Die sind doch alle bestimmt schon tausend Jahre alt. Als wir sie hatten, waren sie fünfhundert.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Und jetzt bin ich eine von ihnen.« Wir unterbrachen das Gespräch, denn ich musste für Gershwin und seine Freunde die Getränke besorgen, auf die sie bestimmt schon verzweifelt warteten. Gleichzeitig fiel mir auf, dass Ginnys Verabredung noch nicht eingetroffen war. Aber fragen, ob ihre Verabredung männlich sei, wollte ich nicht, das wäre etwas zu offensichtlich. Doch Ginny schien an mir genauso interessiert, wie ich an ihr, denn als der Barkeeper sich um meine Bestellung kümmerte, stellte sie ein paar sehr persönliche Fragen. »Bist du verliebt, verlobt oder verheiratet?«, begann sie. »Hast du Kinder, Haustiere?« »Außer ein paar sehr guten Freunden und einer Exfreundin in den Staaten habe ich nichts zu bieten, nicht einmal Kinder oder Haustiere.« Ich war froh, das hinter mir zu haben. »Und wie steht's mit dir?« Sie atmete tief durch und begann. »Ähm… ein paar sehr gute -107-
Freunde, ein Freund, der extrem spät dran ist. Kinder keine - die hundert natürlich nicht mitgezählt, die ich unterrichte. Haustiere ja, zwei Kater, Larry und Sanders.« Wir unterbrachen das Gespräch wieder, als der Barkeeper mir ein Tablett mit den bestellten Getränken hinstellte. Ich nutzte die Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Die Frage war: Wollte ich Ginny wieder sehen? Und die Antwort lautete: Ja. »Sag mal«, begann ich, »wie spät ist denn dein Typ dran?« »Lass es mich so sagen«, erwiderte sie. »Wenn er kommt, werde ich ihm mindestens eine halbe Stunde lang das Leben zur Hölle machen.« »Wenn du willst, kannst du gern mit rüber an unseren Tisch kommen. Gershwin ist auch hier, er feiert heute seinen dreißigsten Geburtstag. Er würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.« »Dreißig«, sagte sie. »Ich bin letzten Dezember dreißig geworden. Es war gar nicht schlimm, ich hab sogar Spaß gehabt.« Sie hielt inne. »Bist du sicher?« »Ob Gershwin Geburtstag hat?« Sie sah mich drohend an. »Nein, ob ich wirklich einfach so in eure Party platzen kann.« »Du würdest mir einen Riesengefallen tun«, gestand ich. »Es sind nur Gershwin, Zoè, ich und ein ganzer Haufen neue Freunde von Gershwin, die alle nicht an meinen unterhaltsamen Geschichten interessiert sind.« Ginny sah verwirrt aus. »Ich erkläre es dir auf dem Weg. Komm und setz dich zu uns, sonst könnte ich mich gezwungen sehen, etwas echt Drastisches zu tun.« »Zum Beispiel?« Ich hob die Augenbrauen, nahm das Tablett mit den Getränken und ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. Ginny folgte mir. -108-
26 »Gershwin!«, rief ich laut, als ich den Tisch erreichte. »Rate mal, wen ich getroffen habe!« Er sah auf, und nachdem sein Gehirn wieder eingeschaltet war, sprang er hoch und umarmte Ginny. »Ich habe dich seit unserer Hochzeit nicht mehr zu Gesicht bekommen!«, sagte Zoe und küsste sie auf die Wange. »Wie schön, dich wieder zu sehen.« »Ich freue mich auch«, sagte Ginny. »Ich hätte mit euch in Verbindung bleiben sollen, aber ich bin echt schlecht in so was.« »Das sind wir wohl alle«, sagte Gershwin. »Ich bin der Grund, warum ihr so lange auf eure Drinks warten musstet«, erklärte Ginny den anderen Gästen, die keine Ahnung hatten, was vor sich ging. »Ich hab Matt zufällig an der Bar getroffen, und wir mussten uns natürlich sofort erzählen, was wir in den letzten sechs Jahren getrieben haben.« Sie lachte und sah mich an. »Gershwin, Matt und ich sind zusammen in eine Klasse gegangen.« »Darf ich vorstellen, das ist Ginny«, sagte Gershwin in die Runde. »Und Ginny…«, ich sah, dass er überlegte, sie alle einzeln vorzustellen, sich aber dagegen entschied, »… das sind meine Freunde.« Sobald Gershwin sich gesetzt hatte, ging die Unterhaltung lebhaft weiter. Das erste Thema war von Ginnys Ankunft inspiriert: Was für ein Typ war Gershwin in der Schule gewesen? Aus Höflichkeit sahen alle Ginny an, die dann die Geschichte von Gershwin, Pete, Elliot und mir erzählte, als wir uns mit dreizehn den Film Breakdance im Kino angesehen hatten. Obwohl wir wirklich nicht tanzen konnten, schon gar -109-
nicht auf dem Kopf mit den Füßen in der Luft, hatte uns der Film in eine omnipotente Stimmung versetzt, und zwar noch direkt im Kino. Wir fanden, dass wir fantastisch aussahen in den seidig glänzenden Trainingshosen und T-Shirts voller Logos, doch am Ende holten wir uns nur Brandwunden, Kopfschmerzen und vier Wochen Kinoverbot von der Teppichrutscherei. Ginnys Geschichte beflügelte zuerst Sarah (von Sarah und Neil) und dann auch Polly (von Dom und Polly) zu weiteren Schulanekdoten. Diese Gelegenheit nutzte Ginny, um auf die Suche nach ihrem Freund zu gehen. Als sie fünf Minuten später mit einem Mann im Schlepptau zurückkam, führte sie ihn direkt ans Ende des Tisches, wo Zoe, Gershwin und ich saßen. Sie ersparte den anderen, die seine Ankunft mit einem Heben der Augenbrauen registrierten, eine formelle Vorstellung, und wandte sich gleich an uns. »Ian«, sagte sie und zeigte auf uns, »das sind Zoe, ihr Mann Gershwin, ein alter Schulfreund von mir, und Matt, ebenfalls ein alter Schulfreund.« Sie hielt inne, sah ihn an und sagte: »Und das ist Ian.« Ich hatte mir ihren Freund anders vorgestellt. Ginny hatte immer erzählt, sie stehe auf Typen, die ein bisschen abgerissen aussahen. Einmal beschrieb sie ihren Traummann als jemanden, der beim Aufwachen instinktiv zu Zigaretten und Feuerzeug griff. Ian entsprach dem ganz und gar nicht. Er war groß, sehr ordentlich gekleidet, auf feminine Weise gut aussehend und ungefähr in meinem Alter. »Ihr seid also alle mit Ginny zur Schule gegangen«, sagte Ian. »Ja«, erwiderte Gershwin. »Kommt mir vor wie ewig lange her.« »Es ist ja auch schon Ewigkeiten her«, sagte Zoe und fuhr Gershwin liebevoll durchs Haar. »Deine Schulzeit gehört der grauen Vorzeit an, mein Lieber.« -110-
Die anderen am Tisch unterhielten sich über Sendungen, die in unserer Kindheit im Fernsehen gelaufen waren, und bald darauf beteiligten sich auch Gershwin und Zoe an dem Gespräch. Auch ich hätte liebend gern daran teilgenommen, um damit angeben zu können, dass ich alle wichtigen ComicFiguren noch kannte, wie G-Force (Mark, Jason, Princess, Tiny, Keyop), doch mir war klar, dass ich in der Runde keine Chance hatte. Deshalb startete ich meine eigene Unterhaltung mit Ginny und Ian. Dabei konnte ich Ian mit meiner Fähigkeit beeindrucken, alle G-Force-Charaktere namentlich zu nennen, während ich ihm Respekt und Bewunderung zollte, weil er den vollständigen Text der Titelmusik des TV-Comics Hong Kong Phooey auswendig wusste, sogar die schwierigen Stellen. Bald darauf waren wir in ein Gespräch über Musik vertieft, schwärmten mit wachsender Begeisterung von unseren Lieblingssängerinnen und landeten schließlich bei einer Diskussion über den praktischen Nutzen von dunkelblauer und schwarzer Kleidung und wie wichtig es war, beim Friseur jedes Mal genau die gleiche Frisur zu bekommen. Von allen Leuten, die ich an dem Abend kennen gelernt hatte, war Ian mir mit Abstand der Sympathischste. Irgendwann hörten wir dann auf, von unseren diversen Schwärmereien zu erzählen, und sprachen über Persönlicheres. »Ich geb's zu, ich bin auch Lehrer«, sagte Ian. »So haben Ginny und ich uns kennen gelernt. Aushilfslehrer, der Job reicht gerade mal für die Rechnungen.« »Du bist nicht nur Aushilfslehrer!«, rügte Ginny ihn scherzhaft, »Ian schreibt an seiner Doktorarbeit«, erklärte sie. »Mach schon, Ian, erzähl ihm davon.« Er lächelte verlegen angesichts des mütterlichen Enthusiasmus, den seine Freundin an den Tag legte. »Na ja, Ginny hat's ja schon angedeutet, ich studiere nebenher Meteorologie, was aber weder Mensch noch Tier nutzt, sondern einfach nur ein Haufen Nonsens ist. Ich weiß wirklich nicht, -111-
warum ich das mache.« »Ignorier einfach, was er sagt«, warf Ginny ungeduldig ein. »Er wird Dozent an einer Hochschule. Ich hab keine Ahnung, warum er sein Licht so unter den Scheffel stellt.« Ich verstand, warum Ginny ihn mochte. Ian war sowohl charmant als auch witzig, und besaß eine Scheu, die fast schon an Verletzlichkeit grenzte. Und im Gegensatz zu mir, hatte er keine Angst vor Fremden, denn als ich von einem kurzen Trip zur Toilette zurückkehrte, unterhielt er bereits den ganzen Tisch. Er gab eine »Ichbinjasoungeheuerehrlich«-Geschichte nach der anderen zum Besten, und nach jeder sah er verlegen in die Runde, weil er scheinbar ungewollt die Unterhaltung dominierte. Er ermutigte die anderen, die imaginäre Bühne zu besteigen, doch obwohl sicher alle darauf brannten, ihre eigenen witzigen Geschichten zu erzählen, wollte nach seiner Vorstellung keiner der Nächste sein. Und so hieß es Ian und noch mal Ian. »Du bist ja so witzig, Ian.“ »Kann ich dir einen Drink spendieren, Ian?« Und am Ende des Abends: »Wir müssen unbedingt Telefonnummern austauschen und uns wieder sehen, Ian.« Das Komische daran war, dass es mich nicht einmal nervte, denn ich mochte ihn auch. In vielerlei Hinsicht erinnerte er mich an Elaine. Sie besaß die gleiche Fähigkeit, wildfremde Menschen in ihren Bann zu ziehen und binnen Sekunden zu Freunden zu machen.
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27 Es war zehn Minuten vor dreiundzwanzig Uhr, und als folgten sie alle einer inneren Stimme, standen Gershwins neue Freunde auf, zogen ihre Jacken und Mäntel an und machten sich auf den Heimweg. »Also gut«, lallte Gershwin, inzwischen ziemlich angetrunken, »wer hat Lust, noch in einen Club zu gehen?« Kollektives Entsetzen trat auf ihre Gesichter - ein Ausdruck, den fast alle Paare um die dreißig bekamen, sobald jemand vorschlug, mitten in der Woche mal ordentlich einen draufzumachen. Ich konnte geradezu sehen, wie sie die Stunde vor Augen hatten, in der sie aufstehen und zur Arbeit gehen mussten; wie sie sich vorstellten, den ganzen Tag über schlagkaputt zu sein, und dass allein der Gedanke daran sie schon krank machte. Ich wusste das, weil ich immer genau den gleichen Gesichtsausdruck bekommen hatte, sobald Elaine und ihre Freunde vorschlugen, sich mitten in der Woche die Nacht um die Ohren zu schlagen. »Ich komme mit«, sagte ich zu Gershwin, beflügelt vom Wissen, am nächsten Morgen ausschlafen zu können. »Ganz bestimmt.« »Gut«, erwiderte er. »Wer noch?« Folgende Entschuldigungen und Ausreden kamen aufs Tablett: »Wir würden gern mitkommen«, sagte Davina (von Davina und Tom), »aber wir müssen morgen besonders früh im Büro sein.« »Heut Abend geht's nicht, Kumpel«, sagte Dom (von Dom und Polly). »Ich hab gleich morgen Früh ein Meeting mit meinem Boss, und Polly muss um halb elf in Cheshire sein.« -113-
»Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht«, sagte Christina (von Christina und Joel). »Meine Schwester spielt höchstens bis halb zwölf den Babysitter.« »Ist nicht, Geburtstagskind«, sagte Neil (von Neil und Sarah). »Morgen Nacht hab ich Bereitschaftsdienst im Krankenhaus, und Sarah wird echt unleidlich, wenn sie nicht genug Schlaf kriegt.« »Ich kann auch nicht«, sagte Ian (von Ian und Ginny). »Ich bin sowieso schon mit meiner Doktorarbeit in Verzug.« Das fand ich nun wirklich inakzeptabel. »Komm schon, Kumpel!«, bat ich viel zu enthusiastisch. »Du kannst nicht nach Hause gehen, du bist mein neuer bester Freund.« »Ich weiß die Ehre zu schätzen«, sagte Ian lachend, »aber ich kann wirklich nicht.« Gershwin sah Zoe hoffnungsvoll an. »Und was ist mit dir, Baby?« »Ich werd's wahrscheinlich bitter bereuen«, sagte Zoe mit einem Seufzer, »aber da Charlotte heute Nacht bei ihren Großeltern schläft, kann ich offiziell einen auf jung machen. Ich komme mit.« »Bist du sicher?«, fragte Gershwin. »Ich weiß doch, dass du jetzt schon müde bist.« Zoe beugte sich vor, bis ihre Stirn seine berührte, und küsste ihn. »Ja, ich bin sicher. Allerdings bin ich so müde, dass ich wahrscheinlich sofort einschlafe, wenn wir dort ankommen.« Gershwin gab ihr liebevoll einen KUSS. »Okay, dann sind wir schon zu dritt.« Er wandte sich an Ginny. »Und du, Gin? Außer Matt bist du meine älteste Freundin, ich hab dich seit Jahren nicht mehr gesehen. Du kannst nicht einfach nach Hause gehen.« »An einem Schultag kann ich abends nicht lange ausgehen«, sagte Ginny, verlegen über ihre eigenen Worte. »Die Kids -114-
wissen sofort, was los ist, wenn ich verschlafen vor ihnen stehe.« Ich lachte und sah sie an. Unsere Blicke trafen sich nur kurz, doch da wusste ich, dass sie gleich ihre Meinung ändern würde. »Bitte!«, bettelte Gershwin. Sie sah Ian an, der lächelte und ihr aufmunternd zunickte, als wollte er sagen: »Mach nur, genieß das Leben.« »Dann setze ich eben den ganzen Tag eine Sonnenbrille auf!«, erwiderte sie vergnügt.
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28 Nachdem wir Gershwins Freunde und Ian verabschiedet hatten, standen wir vor dem Kings Arms, beobachteten in der eiskalten Luft unseren Atem und wussten nicht, was wir tun sollten. »Wir nehmen uns einfach ein Taxi in die Stadt«, schlug Ginny schließlich vor. »Sollten wir nicht zuerst so etwas wie einen Plan machen?«, fragte ich. »Wo kann man mittwochnachts um…«, ich sah auf die Uhr, »… um zehn nach elf hingehen?« »Wie war's mit dem Dome«, schlug Zoe vor. »Ich glaube, die haben mittwochs so was wie Studentennacht.« »Auf keinen Fall!«, rief Ginny entsetzt. »Da gehen einige meiner Schüler hin, da bin ich mir sicher.« »Was gibt es denn sonst noch?«, fragte ich Gershwin. »Keine Ahnung«, erwiderte er, »ich war schon seit Jahren nachts nicht mehr aus.« Schweigen setzte ein, während dem wir vor Kälte zitterten und - falls auch die anderen so dachten wie ich - mit dem Gedanken spielten, nach Hause zu gehen. »Vergessen wir das mit dem Club«, sagte Ginny. »Wir kaufen uns ein paar Bier, gehen zu mir und machen die Nacht durch.« Das war ganz klar ein Hinweis auf unsere gemeinsame Jugendzeit. Damals hielten wir das Durchfeiern der Nächte für den Inbegriff des Erwachsenseins und probierten es immer wieder. Doch wir waren die Schlaffis in der Arena der Partylöwen und schliefen jedes Mal lange vor Sonnenaufgang ein. Seither hatte ich natürlich mehr als genug Nächte durchgefeiert, aber nicht in letzter Zeit - und lange davor auch nicht. Gershwin und Zoe sahen mich an, ich sah Gershwin an, Ginny sah uns alle an, und dann sagten wir alle gleichzeitig: -116-
»Okay!« Auf dem Weg zu Ginnys Haus wurden viele Erinnerungen an die unzähligen Male wach, in denen ich sie in den frühen Morgenstunden nach Hause begleitet hatte. Fast alle »Wahrzeichen« auf dem Weg von ihr zu mir nach Hause existierten noch: der Briefkasten an der Ecke Ethel Street, die Pommes-Bude in der Podmore Road und der Zebrastreifen auf der Hauptstraße in King's Heath. Nur das alte, heruntergekommene Haus in der Valentine Road war verschwunden, hatte zwei neuen, hochmodernen Häusern des Bauunternehmens Barrat weichen müssen. Sobald wir unser Ziel erreicht hatten, überkam uns ein Riesenhunger. Wir stürmten Ginnys Küche und entdeckten eine große Packung Tortilla-Chips und ein Glas Chili-Sauce. Die Tortillas erhitzten wir in der Mikrowelle, rieben hastig den Cheddar darüber und verspeisten dann alles genüsslich. Danach sorgte Ginny für Musik (Greatest Hits von Wham!), und wir erzählten, was seit dem letzten Zusammentreffen so alles passiert war. Dabei vermieden wir sorgfältig Phrasen wie: »Erinnert ihr euch noch« und: »Was ist aus Soundso geworden«, damit Zoe sich nicht ausgeschlossen fühlte. Als ich noch mit Elaine zusammen war, hatte ich unzählige »WasistausSoundsogeworden‹‹-Unterhaltungen mit ihren alten Collegeund High-School-Freunden durchlitten und mir geschworen, das nie jemandem anzutun. Als ich von einer weiteren Exkursion in Ginnys Küche zurückkam, bewaffnet mit einer Tüte Hobnobs, einer Packung verschiedener Sorten Käse-Cracker sowie einer Plastikschale kandierte Kirschen und die Melodie von »Club Tropicana« sang, bedeutete Gershwin mir, leise zu sein. Zoe war, getreu ihrer eigenen Voraussage, auf dem Sessel eingeschlafen. »Meine Frau ist so ein Schlaffi«, sagte er lachend. »Ist der Sessel nicht zu unbequem?«, fragte Ginny. »Sie kann -117-
in meinem Bett schlafen, wenn sie will. Wenn ich wirklich die ganze Nacht aufbleibe, bin ich sowieso zu müde, die Treppen hochzugehen.« Sie sah zu mir herüber und stieß spielerisch an meinen Fuß. »Für dich gibt es oben auch noch ein Gästezimmer, falls du es nicht mehr nach Hause schaffst.« »Ich werde bis zum bitteren Ende durchhalten«, erwiderte ich. »Bist du sicher, dass Zoe oben schlafen kann?«, fragte Gershwin. »Ich könnte ein Taxi rufen und wir fahren nach Hause.« »Mach dir keine Gedanken«, beruhigte Ginny ihn. »Es ist wirklich kein Problem.« Gershwin rüttelte Zoe sanft wach. »Ginny sagt, du kannst in ihrem Bett schlafen. Willst du das?« Sie nickte, die Augen weiter geschlossen. »Bist du sicher, dass du nicht nach Hause willst?« Sie murmelte unverständlich vor sich hin. »Also gut«, sagte Gershwin und hob sie hoch. »Ab ins Bett.« »Auch schon kaputt?«, fragte ich Ginny, als Gershwin das Zimmer verlassen hatte. »Überhaupt nicht.« Sie hielt inne. »Reich mir mal die Kirschen, du Heini.« Ich gab ihr die Schale, und sie aß gleich mehrere auf einmal. »Die schmecken klasse«, sagte sie. Als ich sah, wie genüsslich sie die Kirschen verspeiste, bekam auch ich wieder Hunger und nahm mir einen Käse-Cracker. »So«, sagte ich und zermalmte den Cracker, »Ian ist nett.« Ich wollte eigentlich etwas Bewegteres sagen, aber »nett« trifft ihn am besten. Sie lächelte zufrieden. »Ja, das ist er.« »Wie lange seid ihr schon zusammen?« »Ungefähr zwei Jahre.« »Aber ihr wohnt nicht zusammen?« -118-
»Nein, nein, nein«, sagte sie nachdrücklich. »Er hat seine Wohnung, ich habe meine.« »Aber ihr plant, zusammenzuziehen?« »Ich dachte, du bist Softwareentwickler und nicht Beziehungsberater«, sagte sie. »Nein, wir haben nicht vor, zusammenzuziehen, zumindest bin ich mir dessen nicht bewusst. Es gefällt uns so, wie es ist, danke vielmals. Aber«, sagte sie mit einem Seufzer, »wo du schon so besorgt um mein Liebesleben bist, wie steht es denn mit deinem?« »Wie meinst du das?« »Die Exfreundin, die du im Kings Arms erwähnt hast, ist sie Amerikanerin?« »Sie heißt Elaine«, erwiderte ich, »ja, sie ist Amerikanerin.« »Wie ist sie denn so?« »Na ja, sie war echt cool…« Dann korrigierte ich mich. »Sie ist echt cool.« »Und was ist schief gegangen?« »Ich glaube, unsere Vertrautheit hat zu Unzufriedenheit geführt.« »Das ist genau der Punkt«, sagte Ginny, »an dem man wieder den Blick wandern lässt.« »Wir fanden es besser, unsere wilde Beziehung zu beenden, bevor wir anfangen, aus dem Mund zu schäumen.« »Hmm«, sagte Ginny und leckte sich die Lippen, »eine schöne Metapher, Matthew. Du solltest dir einen Job als Schreiber von Geburtstagskartenweisheiten suchen.« Sie hielt inne. »Aber wenn die Beziehung zum Scheitern verurteilt war, warum habe ich dann das Gefühl, dass du einen großen Verlust erlitten hast?« »Weil…« Ich brach ab, als Gershwin das Zimmer betrat. »Ich habe euch doch nicht bei irgendwas unterbrochen, -119-
oder?«, fragte er grinsend. Ginny und ich sahen uns an. »Nein«, sagte ich. »Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie dick du um den Hals herum geworden bist. Du siehst richtig bullig aus, Junge.« »Genug des Spottes«, entgegnete Gershwin lachend. »Jetzt geht's zur Sache.« »Zu welcher Sache?«, fragte Ginny mit gespieltem Staunen. Plötzlich brach sie in lautes Lachen aus. »Ich weiß, es ist bescheuert, aber ich sterbe vor Neugier, schon den ganzen Abend. Ich liebe es, über alte Zeiten zu reden. Ehrlich.« Sie riss die Packung Hobnobs auf, nahm sich eins und machte es sich im Sessel bequem. »Habt ihr in letzter Zeit irgendjemanden aus der alten Clique gesehen?« Gershwin und ich schüttelten beide den Kopf. »Ich habe eine Postkarte von Bev bekommen, vor ungefähr hunderttausend Jahren, als ich noch in Brighton gewohnt habe«, erzählte Ginny. »Aber damals war ich ein bisschen durcheinander und hab ewig vergessen, sie anzurufen. Als ich es dann schließlich schaffte, war sie umgezogen.« »Was hatte sie denn getrieben?«, fragte Gershwin. »Keine Ahnung, davon hat sie nichts geschrieben. Wahrscheinlich hat sie gerade Wale oder so was gerettet. Aber die Karte war schön, aus Neuseeland.« »Erinnert ihr euch noch an Petes jüngeren Bruder Ray?«, fragte Gershwin. »Er war damals mit dem Mädchen mit den mausbraunen Haaren zusammen. Zoe und ich haben sie vor etwa einem Jahr zufällig in der Stadt getroffen, und sie sagte, sie hätte immer noch Kontakt mit ihm. Ich fragte sie nach Pete, und sie erzählte, er wäre verheiratet.« »Pete?«, sagte Ginny. »Verheiratet? Niemals!« »Anscheinend hat er sogar ein Kind.« -120-
»Pete verheiratet mit Kind?«, wiederholte Ginny ungläubig. »Niemals. Nie, nie nie.« »Und wen hast du getroffen, Matt?« Ich nahm mir ein Plätzchen und versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal einen unserer alten Freunde gesehen hatte. »Ich glaube, der Letzte, mit dem ich Kontakt hatte, war Elliot, aber das ist schon drei Jahre her, als ich noch in London war. Meine Mutter hatte ihm meine Handynummer gegeben, und er rief aus heiterem Himmel an, weil er gerade in der Stadt war und mich gern sehen wollte. Das wäre grundsätzlich okay gewesen, aber es war zehn Minuten vor Mitternacht, und ich lag schon im Bett. Eine halbe Stunde später stand er dann trotzdem mit seinem noblen Firmenwagen vor der Tür, und wir hatten eine echt wilde Nacht - zuerst waren wir indisch Essen, später in Privatclubs, Hotelbars und so. In seinem Hotelzimmer bin ich dann schließlich kollabiert. Am nächsten Tag tauschten wir unsere Telefonnummern aus, aber keiner hat sich mehr beim anderen gemeldet.« »Klingt ganz nach Elliot«, sagte Ginny. »Und was ist mit Katrina?«, fragte Gershwin. »Hat jemand was von ihr gehört?« »Das letzte Mal habe ich sie auf eurer Hochzeit gesehen«, sagte Ginny. »Damals wohnte sie in London, oder?« »Stimmt«, sagte ich. »Sie ist dahin gezogen, um Herausgeberin der Vogue zu werden. Sie war schon immer die Ehrgeizigste von uns allen. Ob sie es wohl geschafft hat?« Ginny seufzte schwer. »Weißt du was?« »Was?«, fragte ich, dabei wusste ich genau, was sie sagen würde. »Ich vermisse die Clique«, sagte sie. »Und ich vermisse die alten Tage.« »Ich auch«, sagte Gershwin. -121-
29 Als ich am nächsten Morgen auf einem Sofa aufwachte, dachte ich im ersten Moment, ich wäre wieder in New York auf dem Höllensofa. Gershwin schlief auf der kleinen Couch in der Zimmerecke, und Ginny saß zusammengerollt auf einem Sessel. Wir waren scheinbar nach unserer Nostalgierunde eingeschlafen, denn ich konnte mich sonst an nichts mehr erinnern, außer an die Erneuerung des Pakts, dass wir die ganze Nacht aufbleiben und uns gegenseitig wecken wollten, falls einer einnickte. Der ganze Abend, angefangen bei dem Zusammentreffen mit Ginny, hatte mir bewusst gemacht, was mir alles entgangen war, weil ich die Beziehungen mit meinen alten Freunden nicht gepflegt hatte. Bei den Gesprächen mit Gershwin und Ginny hatte ich das Gefühl, die beiden schon immer zu kennen. Und sie kannten den Matt, der einmal eine Stinkbombe in die Englischklasse geworfen hatte und dafür vorübergehend von der Schule suspendiert worden war; und auch den, der auf der Party von Nadine Baggots sechzehntem Geburtstag so betrunken war, dass er die Nacht im Garten geschlafen hatte und am nächsten Tag wegen Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht werden musste. Nur die beiden und der Rest der Clique erinnerten sich an jene Zeit so wie ich. Ohne jemanden aufzuwecken, ging ich zur Toilette, dann holte ich mir mit knurrendem Magen eine Scheibe Brot aus Ginnys Küche und verließ das Haus. Ich sah auf die Uhr: Es war fast Viertel vor sechs. Ich fühlte mich herrlich, zu dieser Stunde auf zu sein, die Kleidung der letzten Nacht zu tragen, einen leicht säuerlichen Geruch auszuströmen und wahrscheinlich ein kleines bisschen verlottert auszusehen. Es erinnerte mich an früher, als ich wirklich noch bis vier Uhr morgens feiern konnte. -122-
Es erinnerte mich daran, wie es einmal war. Unglücklicherweise wartete zu Hause eine weitere Erinnerung an früher auf mich. »Bist du das, Matthew?« Mum stand in Nachthemd und Morgenmantel auf der obersten Treppenstufe, ein alles dominierendes Stirnrunzeln im Gesicht. »Ja, natürlich«, antwortete ich. Mum wusste genau, dass ich das war. »Wo warst du die ganze Nacht? Du hast nichts davon gesagt, dass du so lange wegbleibst. Du hast nicht angerufen, nichts hast du gemacht. Ich kann noch immer nicht glauben, wie rücksichtslos du bist.« Ich ertappte mich beim tiefen Durchatmen, ein Zeichen, dass ich mich zu Geduld zwang. Im ersten Moment wollte ich meiner Mutter natürlich erklären, dass ich mit fast dreißig Jahren das Recht hatte, morgens um sechs nach Hause zu kommen, aber damit hätte ich rein gar nichts erreicht. Dann kam mir der Gedanke, dass sie Recht hatte: Es war rücksichtslos gewesen, ihr nichts zu sagen. Es war nicht ihre Schuld, dass sie sich Sorgen um mich gemacht hatte. Sie machte sich immer Sorgen um mich, ob ich nun in New York lebte oder unter ihrem Dach. »Entschuldigung, Mum«, sagte ich und lief die Treppe hinauf, um sie mit einem KUSS auf die Wange zu beschwichtigen. »Du hast Recht, ich hätte anrufen sollen. Es ist unverzeihlich. Du bist die ganze Nacht auf gewesen, stimmt's?« »Machst du Witze?«, erwiderte meine Mum. »Ich habe einen leichten Schlaf, sonst nichts. Und du solltest lieber ins Bett gehen, du siehst furchtbar aus.«
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30 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Deine letzten hunderttausend Mails… Lieber Matt, als ich heute Morgen an der Arbeit meine Mails abgerufen habe, waren da alle deine »Dufehlstmir«-Mails, und ich habe so geweint, dass ich mich in der Damentoilette verstecken musste. Du hättest mich sehen sollen - mein Mascara war so verschmiert, ich sah aus wie ein Panda. Wie sentimental ich doch bin! Alles Liebe, Elaine PS: Weitere Ichvermissedich sind verboten, okay? An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Sorry E, ich wollte dich wirklich nicht zum Weinen bringen. Sorry. Matt :-)
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31 »Matthew, Telefon für dich!«, rief eine Stimme in meinem Traum. »Matthew, Telefon für dich«, wiederholte sie. Erst beim Dritten: »Matthew, Telefon für dich«, und dem heftigen Klopfen meiner Mutter an der Tür wachte ich auf und begriff, dass mich wirklich jemand sprechen wollte. Ich sah auf die Uhr auf dem Boden neben meinen Hausschuhen; Letztere hatte Mum mir gekauft, und ich beabsichtigte nicht, sie jemals zu tragen. Es war ein Uhr mittags. »Es ist mitten in der Nacht!«, rief ich Mum zu. »Sie sollen's noch mal zu einer vernünftigen Zeit versuchen.« »Ich bin nicht dein Dienstmädchen«, erwiderte sie gespielt empört. »Wenn du die ganze Nacht durchmachst, kriegst du, was du verdienst.« Ich kämpfte mich in meinen Bademantel und tastete mich vorsichtig die Treppe hinunter zum Telefon im Flur. »Wer ist da?«, murmelte ich, nahm den Hörer und kratzte mich überall, wo es juckte. »Entschuldige, Matt, ich weiß, es ist noch ein bisschen früh.« Es war Ginny. »Das sicher nicht«, sagte ich, wobei ich mich auf ein Büschel Haare direkt unterhalb meines Nabels konzentrierte. »Ich wollte sowieso gerade aufstehen und joggen gehen. Ein paar Runden im Park, und ich bin frisch wie der Morgen.« »Ja, sicher«, erwiderte sie lachend. »Das würde ich gern sehen.« »Wo bist du?«, fragte ich. »Zu Hause«, sagte sie schuldbewusst. -125-
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, entgegnete ich und setzte mich auf die unterste Treppenstufe. »Ich weiß zwar, dass sich seit meiner Schulzeit vieles geändert hat, aber Lehrer dürfen bestimmt noch immer nicht so spät zum Unterricht kommen wie Kids.« »Ich habe mich krankgemeldet«, gab sie zu. »Ich hab totale Schuldgefühle, aber so wie es mir heute geht, bin ich sowieso zu nichts nutze.« »Du warst völlig hinüber, als ich gegangen bin, und das war so gegen sechs.« »Ich bin aufgewacht, als die Haustür ins Schloss gefallen ist. Das bist du dann wohl gewesen. Da wollte ich sogar aufstehen, aber es war so gemütlich, dass ich wieder eingeschlafen bin. Als ich dann um Viertel nach sieben richtig aufwachte, konnte ich mich einfach nicht überwinden, zur Schule zu gehen.« »Du rebellische Kunstlehrerin du«, sagte ich. »Wie geht es Gershwin und Zoe?« »Gut. Zoe ist um halb acht zur Arbeit gegangen, und Gershwin liegt immer noch halb tot auf dem Sofa. Was mich zum Grund meines Anrufs bringt. Hast du den Himmel heute schon gesehen? Er ist absolut umwerfend.« »Nein, habe ich nicht. Das ist nämlich ziemlich unmöglich, wenn man mit zugezogenen Gardinen im Bett unter der Decke liegt.« »Verstehe. Geh trotzdem zum Fenster und guck mal raus.« Ich machte die Haustür ein Stück auf und sah nach oben. Die Sonne schien hell, der Himmel war fast wolkenlos, und es sah richtig warm aus, obwohl wir Januar hatten. »Du hast Recht. Sieht nach einem tollen Tag aus. Haben wir das deiner Beziehung zu einem Meteorologen zu verdanken?« »Schön war's«, sagte sie. »Hör mal, Gershwin und ich haben uns gerade unterhalten. Da wir offensichtlich beide den Tag -126-
freinehmen und du scheinbar auch untätig herumlungerst, könnten wir doch tun, was alte Freunde an so einem herrlichen Tag tun sollten, nämlich was zusammen unternehmen. Bist du dabei?« Ich warf wieder einen Blick auf die Uhr und fragte mich, ob ich noch müde war. Die Antwort lautete: ja. Sehr sogar. Trotzdem sagte ich: »Gib mir Zeit, mich zu rasieren, dann bin ich zu allem bereit.«
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32 »Weißt du, woran mich das erinnert?«, fragte Gershwin und reichte mir eine Flasche Thunderbird. »An den Sommer, in dem wir Abitur gemacht haben?«, fragte ich zurück. »Woher weißt du das?“ »Ich hab genau das Gleiche gedacht.“ »Ich auch«, sagte Ginny. »Das ist doch toll, was?« Als ich schließlich kurz nach zwei Uhr bei Ginny eingetroffen war, hatten sie und Gershwin den Tag schon verplant. Als Erstes waren wir zu einem der billigen Little-Chef-Restaurants nahe Halesowen gefahren, wo den ganzen Tag über Frühstück mit unbegrenzt viel Toast serviert wurde und wir ein typisch englisches Breakfast verspeisten. Als Nächstes hatten wir in Erinnerung an alte Zeiten in einem Spirituosenladen eine Flasche Thunderbird gekauft. Unser Ziel waren die nahe gelegenen Clent Hills gewesen, wo wir mit Jacken und Mänteln bewaffnet einen Hügel erklommen, das Bier öffneten und jetzt im Gras lagen, redeten und in den Himmel starrten. 14 Uhr 52 »Weißt du, was ich letztes Jahr um diese Zeit gemacht habe?« »Was?«, fragte Ginny. »Ich war einen Monat lang in meinem Büro in New York eingeschlossen und habe Neulinge angelernt. Von halb sechs morgens bis zehn Uhr abends. Ich, Matt Beckford aus King's Heath, in Manhattan. Als Dank für den ganzen Stress habe ich mir dann ein nettes kleines Magengeschwür eingehandelt. Und ein Jahr später liege ich hier im Park, mit Bier, Zigaretten und Freunden. Was braucht ein Mann mehr?« -128-
»Ich habe mir schon oft überlegt, weniger zu arbeiten«, sagte Ginny. »Auf eine Halbtagsstelle zu wechseln und was Interessantes mit meinem Leben anzufangen. Was nützt einem das ganze Geld, wenn man immer nur arbeitet?« Sie hielt inne, rülpste, trank noch einen Schluck Thunderbird und reichte mir die Flasche. »Das war ein Großer.« Sie kicherte, dann zeigte sie seufzend in den Himmel. »Wie konnten wir nur auf all das verzichten?« »Es ist einfach so passiert«, erwiderte Gershwin. »Man ist ständig mit irgendwas beschäftigt und hat andere Prioritäten. Wir sind selbst daran schuld.« »Nur zu wahr«, sagte Ginny. »Wir sind verrückt, das einfach zuzulassen. Wir werden älter und merken nicht einmal, was passiert, erst wenn…« »… man in unser Alter kommt…«, warf ich ein. »… merkt man, wie wichtig so was wie das hier ist«, vollendete Gershwin den Satz. 15 Uhr 05 »Bis zu dem Tag, als ich neunundzwanzig wurde, hatte ich nichts gegen die Vorstellung, dreißig zu sein«, sagte ich und rollte mich auf den Bauch. »Ich wusste, dass ich nicht plötzlich Caro-Kaffee anstatt Wodka trinken würde, und ja, zugegeben, ich fing an, Zinsschwankungen genauso zu verfolgen wie die britischen Fußballergebnisse. Aber ich wollte nie zu den Leuten gehören, die Angst vorm Älterwerden haben.« Ich hielt inne, spürte, wie meine Gedanken unvermittelt abschweiften. »Weißt du, dass es Leute gibt, die sich mit Mitte dreißig genauso fühlen, wie mit vierundzwanzig?« »Ja.« Ginny nickte heftig, als ginge es um einen Psychotest in einer Frauenzeitschrift. »Ich glaube nicht, dass ich mich seit meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr verändert habe. Ich bin alt genug, um mich erwachsen zu fühlen, aber jung genug, -129-
um immer noch Dummheiten zu machen.« Sie lachte. »Und wie ist das bei dir, Gershwin?« Gershwin kratzte sich heftig am Kopf. »Wenn ich Charlotte um mich habe, fühle ich mich wie fünfunddreißig. Wie ein Dad. Aber es ist ein schönes Gefühl. Wenn sie nicht da ist, könnte ich alles zwischen vierzehn und sechsundzwanzig sein.« »Ich glaube, innerlich habe ich mich immer wie dreißig gefühlt«, sagte ich. »Irgendwie scheint mir das Leben mehr Energie abzufordern, als ich habe.« »Er hat Recht«, sagte Ginny zu Gershwin. »Matt ist immer schon der Alte in unserer Clique gewesen. Vernünftig. Unflexibel. Mr Dad.« »Vielen Dank, ihr zwei«, erwiderte ich sarkastisch. »Aber es stimmt. Manchmal hab ich was von einem Dad.« Auf die Antwort meiner nächsten Frage war ich wirklich gespannt. »Wann habt ihr das Gefühl gehabt, wirklich erwachsen zu sein?« »Als Charlotte geboren wurde«, sagte Gershwin. »Als meine Mutter starb«, sagte Ginny. »Und du?« »Ich weiß nicht. Irgendwie warte ich noch darauf.« 15 Uhr 23 »Ich finde, dreißig zu sein, ist heutzutage keine große Sache mehr«, sagte Ginny. »Es kommt mir vor, als hätte eine ganze Generation beschlossen, das wirkliche Leben einfach noch ein bisschen aufzuschieben. Genau genommen kann man doch die Dreißigjährigen nicht von den Zwanzigjährigen unterscheiden, außer dass wir meist mehr Geld haben…« »… und weniger Haare…«, fügte ich hinzu. »… und dass im Kleiderschrank weniger Fehlkäufe hängen…«, ergänzte Gershwin. »Dreißig ist eher wie zwanzig, die Dreißiger sind -130-
wahrscheinlich die echten Zwanziger«, sagte Ginny. »Vierzig ist das neue dreißig.« Sie stieß mich mit dem Ellbogen an. »Du hast noch zehn Jahre, bevor du dir wirklich Sorgen machen musst.« »Und dann ist vierzig hoffentlich das neue Irgendwas«, erwiderte ich. »Oha«, sagte Gershwin. »Das bedeutet wohl, dass die Twenty somethings die neuen Teenager sind?« Darauf wusste keiner eine Antwort. 15 Uhr 37 »Hand hoch, wer schon graue Haare hat«, forderte Ginny. Gershwin und ich wedelten mit der Hand in der Luft. »Ich hab erst eins«, gestand Gershwin. »An der Schläfe. Zoe wollte es rauszupfen, aber ich war dagegen, in der eitlen Hoffnung, ich würde damit distinguierter wirken.« »Ich hab noch keine«, sagte Ginny. »Aber ich färbe mir die Haare schon so lange, ich weiß gar nicht mehr, welche Naturfarbe ich habe. Und du, Matt?« »Zwei«, gestand ich zögernd. »Eins taucht immer wieder auf meiner Brust auf, und das andere… also ich will es mal so ausdrücken, für die Sensiblen unter uns… das andere ist noch eine ganze Ecke weiter südlich.« »Südlicher als dein Nabel?«, fragte Ginny neugierig. »Südlicher.« »Aber nördlich von deinen Knien?« »Ja«, bestätigte ich mit langem Gesicht. Ginny brach in lautes Gelächter aus. »Niemals«, sagte Gershwin, »du verarschst uns.« »Es ist mein Ernst«, entgegnete ich. »Dürfen wir es sehen?«, fragte Ginny und kicherte dabei wie verrückt. »Au ja, bitte.« -131-
»Niemals«, erwiderte ich, bemüht krampfhaft an meiner Würde festzuhalten, während die anderen sich auf dem Boden kringelten. »Nur über meine Leiche.« 15 Uhr 55 »Welche Bedeutung hat es für dich, dreißig zu sein?«, wandte Ginny sich an Gershwin. »Keine große«, erwiderte er. »Eigentlich nur, dass ich in zehn Jahren vierzig werde, was mir uralt erscheint - aber gleichzeitig auch Lichtjahre entfernt.« »Recht hast du«, entgegnete Ginny. »Und welche Bedeutung hat es für dich, Gin?«, fragte Gershwin. »Dreißig zu sein? Ich kann mir selbstzufrieden sagen, dass meine Mutter in dem Alter schon ein Kind und für kurze Zeit einen Ehemann hatte. Und dass ich mich zum ersten Mal im Leben wie eine Frau fühlen und wie ein Mädchen benehmen kann.« »Im Gegensatz zu?« »Ich weiß nicht… das Gefühl zu haben, sich wie ein verwöhntes Gör zu benehmen und das Frausein nur zu simulieren. Meistens glaube ich zwar immer noch, nur so zu tun, als wäre ich erwachsen, doch manchmal fühle ich mich auch wie eine richtige Frau. Ich meine, immerhin bin ich Leiterin des Fachbereichs Kunst! Ich, Ginny Pascoe! Ab und zu, wenn ich den Vorsitz in einem Fachbereichstreffen führe, erstaunt es mich noch immer, dass andere mir wirklich zuhören. Das verunsichert mich natürlich sofort, aber einen Moment lang habe ich dann das Gefühl, es geschafft zu haben. Das heißt es für mich, dreißig zu sein.« Ginny und Gershwin sahen mich erwartungsvoll an. »Jetzt bist du dran, Matt«, forderte Ginny mich auf. »Also los.« -132-
»Ich weiß es nicht.« »Ehrlich, Matt, du bist ein hoffnungsloser Fall«, sagte Ginny. »Okay.« Ich atmete tief durch. »Ich sage euch, was ich wirklich denke. Dreißig zu sein, heißt für mich, nur in Pubs zu gehen, wo man sich auch hinsetzen kann. Es heißt, mindestens eine klassische CD zu besitzen, selbst wenn es Die schönsten Klassiker aller Zeiten, Vol. 6 ist. Und dass man nicht länger nach dem perfekten Partner sucht, weil man nach all den Jahren in der Wildnis endlich den richtigen gefunden hat.« Ich zögerte. »So jedenfalls hatte ich mir das immer vorgestellt.« 16 Uhr 02 »Älter werden ist keine Schande«, sagte ich tröstlich. »Wen interessiert es schon, dass du dir beim letzten Nachtclubbesuch Watte in die Ohren gestopft hast, die dann in der Notaufnahme im Krankenhaus herausoperiert werden musste, weil du sie zu weit reingeschoben hattest?« »Du machst Witze, ja?«, sagte Gershwin ungläubig. »Schön war's.« Ich seufzte. »Fünf Stunden musste ich auf einen Arzt warten, der kaum aus seinem Strampelanzug rausgewachsen war und mich verächtlich ansah, während er mit einer langen Pinzette die Watte wieder rauszog. Als ich ihm erklärte, wie es passiert war, sah ich ihm an, dass er am liebsten gesagt hätte: ›Überlass die Clubs den Kids, Opa.‹ Elaine ist vor Verlegenheit fast gestorben.« »Letzten Winter ertappte ich mich bei Marks & Spencer, wie ich auf den größten Schlüpfer abgefahren bin, den ihr euch vorstellen könnt«, erzählte Ginny. »Es war echt komisch. Ich war von lauter Girls umringt, die gerade den Teenagerjahren entwachsen waren und Tangas und andere Minischlüpfer in der Hand hielten, die man nur mit Mikroskop als solche erkennen konnte, und ich wollte unbedingt den Liebestöter haben.« -133-
»Liebestöter?« »So Riesenschlüpfer, die bis über den Bauchnabel gehen.« Mit gespielter Scham ergriff sie Gershwins Arm. »Meine Unterwäscheschublade ist längst keine Geheimwaffe mehr im Krieg der Verführung. Inzwischen ist sie ein Ort des Friedens, der Ruhe und der Wärme. Ich liebe meine großen Unterhosen. Früher war meine Unterwäsche so sexy, dass ich schon beim Öffnen der Schublade Herzklopfen bekam. Heute sieht's darin aus wie bei einer Oma. Praktisch, praktisch und noch mal praktisch. Und jetzt erzähl du uns etwas, Gershwin, das beweist, dass du genauso bescheuert bist wie wir.« Gershwin sah nervös von einem zum anderen. »Ihr würdet mir das nie glauben.« »Wir werden ja sehen«, sagte Ginny. »Ich hab zu Gärtnern angefangen.« Ginny und ich brachen in lautes Gelächter aus. »Falls es dir entgangen ist, Gershwin«, warf ich ein, »du hast doch nicht mal einen Garten. Du wohnst in einem Haus im zweiten Stock.« »Da sieht man nur wieder, was du alles nicht weißt«, entgegnete er gespielt verdrossen. »In mir steckt mehr, als mit bloßem Auge sichtbar ist. Ich habe einen Schrebergarten.« »Niemals!«, schrie Ginny auf. »Und ob«, erwiderte Gershwin. »Schon seit ungefähr anderthalb Jahren.« »Du, Gershwin Palmer, hast einen Schrebergarten?«, stammelte ich ungläubig. »Du kannst keinen Schrebergarten haben, du bist Gershwin.« »Stille Wasser sind tief«, erwiderte er weise. »Warum hast du das nie erzählt?« »Weil ich genau wusste, wie du reagieren würdest. Und dass ich damit richtig lag, hast du soeben bewiesen. Aber ich sage -134-
dir, es ist herrlich dort, richtig friedlich. Ich habe einen kleinen Schuppen für meine Geräte und sogar eine Vogelscheuche - die habe ich mit Charlotte zusammen gebaut. Ich gehe so oft es geht hin. Zugegeben, es gibt dort haufenweise alte, komische Käuze, die Woodbines rauchen, aber sie sind in Ordnung. Sie haben Humor und geben mir Tipps, wo ich den richtigen Dünger und so was herkriege.«
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33 Als es gegen fünf zu regnen anfing und wir zurück zum Auto gingen, merkten wir, dass unser Alkoholpegel weit über der zulässigen Grenze lag. Doch klug, wie wir sind, verschlossen wir Gershwins Wagen und riefen ein Taxi. Zurück in King's Heath, brachten wir zuerst Ginny nach Hause. Sie küsste Gershwin auf die Wange, gab mir einen KUSS und stieg aus. »Nimm's leicht«, sagte ich und winkte hinter ihr her. »Du auch«, antwortete sie und ging. Das war alles. Kein Versprechen, uns bald wieder zu treffen. Kein Versprechen, bald anzurufen. Nicht einmal das Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Auf der ganzen Fahrt zurück nach King's Heath hatte ich mich gefragt, wie unser Abschied wohl aussehen würde, und jetzt, wo ich es wusste, war ich irgendwie sehr froh. So hatten wir ganz unerwartet eine schöne Zeit miteinander verbracht, mehr nicht. Auf diese Weise gehörten ohne falsche Versprechungen oder unbeholfene Lügen die letzten vierundzwanzig Stunden zu den glücklichen Zufällen, die das Leben einem hin und wieder beschert, damit man nicht vergisst, wie schön es doch sein kann. Als unser Taxi dann die Alcester Road entlangfuhr, wandte Gershwin sich mir zu und stellte die Frage, die ihm schon den ganzen Tag auf der Zunge gebrannt hatte: »Und, gefällt sie dir nach all der Zeit immer noch so gut?« Gefiel sie mir noch? Ich wusste es nicht. Aber Gershwin zuliebe lächelte ich, nickte viel sagend und sagte: »Schon möglich.«
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[email protected] Betreff: Dein sorry Lieber Matt, es tut mir Leid, dass es dir Leid tut. Ich hätte die letzte Mail wegen deiner letzten Mail nicht schicken sollen (???). Manchmal ist es okay und manchmal auch nicht. Aber ich will nicht, dass du dich dafür entschuldigst, okay? Ich habe beschlossen, öfter auszugehen. Heute wollen Sara und ich nach der Arbeit eine Bar-Tour machen. Wir planen eine wilde GirlieNacht, und als Krönung gehen wir dann tanzen! O Gott, ich klinge wie Madonna in ihrer »Susan… verzweifelt gesucht‹‹Phase! Alles Liebe, Elaine :-)
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2. Monat Datum: 1. Februar Tage bis zum dreißigsten Geburtstag: 59 Verfassung: Optimistisch (ziemlich)
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35 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Gershwins Geburtstag Liebe Elaine, habe gerade absolut verrückte vierundzwanzig Stunden mit Gershwin hinter mir. Wir haben zufällig Ginny getroffen, eine alte Schulfreundin von uns (die wir seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatten). Um es kurz zu machen, Gershwin und ich sind zum Schluss bei Ginny gelandet, was zum reinsten Nostalgietrip ausgeartet ist. Am nächsten Tag haben Gershwin und Ginny dann blaugemacht, und wir waren noch bis abends zusammen. Ich hoffe, dir geht's gut. Alles Liebe, Matt :-) An:
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[email protected] Betreff:??? Lieber Matt, wir waren wohl beide in Feierlaune. Sara und ich sind Uptown in eine Bar gefahren und hatten viel Spaß dort. Sara ist mehr oder weniger zu mir gezogen. Das Höllensofa gehört jetzt ihr. Sie hat in letzter Zeit schlimme Auseinandersetzungen mit Jonny gehabt, und ich habe ihr angeboten, hier zu übernachten. Alles Liebe, Elaine
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PS: Ich bin froh, dass du dich mit deinen Freunden in England amüsierst. PPS: Sag Gershwin nachträglich von mir alles Gute zum Geburtstag, wenn du ihn siehst. PPPS: »… eine alte Schulfreundin von uns… die wir seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatten…« Also wirklich!!! Alarmstufe 1, alte High-School-Liebe! (oder das britische Äquivalent). Du bist ja sooooo leicht zu durchschauen, das ist echt süß. An:
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[email protected] Betreff: Alte-Freundin-Paranoia Liebe Ms Hellseherin-Hotline, zu deiner Information, Ginny ist keine Exfreundin… jedenfalls nicht im strikten Sinne. Dass sie weiblichen Geschlechts ist, hat nie eine große Rolle in unserer Freundschaft gespielt. Außerdem hat sie einen festen Freund, mit dem sie sehr glücklich ist. Zufrieden? Alles Liebe, Matt An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Sarkasmus Lieber Matt, ich liebe es, wenn du in Verteidigungsstellung gehst. Wie war es, sie nach so langer Zeit wieder zu sehen? Ich frage deshalb, weil ich unlängst meinen alten High-School-140-
Lover Vance Erdmann getroffen habe und absolut entsetzt über mich selbst war. Er hatte die katastrophalste Frisur, die mir je zu Gesicht gekommen ist, und sah aus, als wäre er WWF-Wrestler mit dem Namen »Desaster Zone«. Anscheinend war Ginny nicht so schlimm, wenn du und Gershwin die ganze Nacht mit ihr zusammen wart. Ich scherze. Alles Liebe, Elaine An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Freunde Liebe E, es war schön, Ginny nach so langer Zeit wieder zu sehen. Aber unsere romantischen Gefühle gehören einer anderen Ära an. Ich sage es mal so: Als meine Beziehung mit Ginny ihre Blütezeit hatte, warst du fünfzehn und hast wahrscheinlich mit Vance Sowieso geschmust (wer im Himmel nennt sein Kind Vance!!!). Es gehört der Vergangenheit an. Aber wir sind unsere Vergangenheit… und das inspirierte mich zu einer Idee. Die Begegnung mit Ginny hat mich an früher erinnert, als ich noch hier wohnte. Weißt du noch, wie ich dir mal erzählt habe, dass wir eine ganze Clique waren? Ich habe hier viel Zeit und nichts zu tun und mir deshalb überlegt, meine alten Freunde Katrina, Bev, Elliot und Pete ausfindig zu machen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sind oder was sie treiben, aber ich glaube, es wäre lustig, mit ihnen zu telefonieren oder sie gar wieder zu sehen. Was hältst du davon? Oder ist das wieder nur die Spinnerei eines Mannes, der demnächst dreißig wird? Alles Liebe, Matt :-)
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36 »Hier, Kumpel!«, rief jemand lautstark. »Hier drüben! Hier drüben!« »Halt ihn!«, brüllte ein anderer. »Halt ihn!« »Auf meinen Kopf!«, schrie ein Dritter, als hinge sein Leben davon ab. »Auf meinen Kopf!« Trotz der Dringlichkeit in ihren Stimmen, konnte ich bei all den verbalen Attacken nichts anderes denken als: 1 Warum in aller Welt habe ich mich von Gershwin überreden lassen, sonntagmorgens um halb zehn Fünf-Mann-Fußball zu spielen? 2 Wie lange ist es noch bis zur Halbzeit? 3 O nein, ich glaube, ich muss brechen. Gershwin, Tom (von Davina und Tom), Joel (von Christina und Joel), Dom (von Dom und Polly) und ich waren offensichtlich die King's Heath Harriers. Sie bildeten seit zwei Jahren ein Team und spielten enthusiastisch, wenn auch mit wenig Talent. Normalerweise gehörte auch Neil (von Neil und Sarah) dazu, aber er war kurzfristig ins Krankenhaus gerufen worden und hatte absagen müssen, woraufhin Gershwin mich um Viertel vor acht heute Morgen anrief. Ich hatte wirklich keine Lust zu spielen, denn nach meiner letzten sportlichen Betätigung Elaine hatte ein paar kostenlose Wochenendgutscheine für einen neuen Fitnessclub ergattert, dauerte es über eine Woche, bis ich wieder schmerzfrei atmen konnte. Gershwin erklärte, dass sie kampflos verlieren würden, falls sie nicht anträten, was all ihre Gewinnchancen für die diesjährige Meisterschaft zunichte gemacht hätte. Er hatte so -142-
verzweifelt geklungen, als ginge es um Leben und Tod, dass ich zugestimmt hatte. Wie ein bisschen Kicken im Park zu einer so ernsthaften Angelegenheit werden konnte, war mir ein Rätsel, das ich jedoch bald lösen sollte. Das andere Team mit dem fantasievollen Namen »Stirchley Wanderers« sah genauso aus wie wir. Alle waren über dreißig, Ehemänner, in festen Beziehungen, junge Väter und im mittleren Management tätig - und alle schlugen sich um den Ball, als wären sie gerade erst zwanzig geworden. Tatsächlich entpuppte sich Joel (der, wie sich herausstellte, erst achtundzwanzig war) als ziemlich fit und geschickt im Umgang mit dem runden Leder. Tom und Gershwin waren harte Arbeiter, wenn auch nicht gerade in Höchstform, was ihre Gesundheit und Leistung anbetraf. Dom und ich bildeten den Schwachpunkt unseres Teams, doch selbst Dom war nicht halb so schlecht wie ich. Nach zehn Minuten Herumgerenne war ich mangels Sauerstoff einer Ohnmacht und gleichzeitig dem Brechen nahe, wegen übermäßig viel Bewegung. Der Rest des Teams war daran gewöhnt, und obwohl auch die anderen aussahen, als wären sie nur zwei Atemzüge von einem Herzinfarkt entfernt, spielten sie entschlossen bis zum bitteren Ende. Wir verloren zwei zu eins (ich vermute, dass die Stirchley Wanderers etwas jünger waren als wir), aber wir hatten tapfer gekämpft. Und keiner tapferer als ich, denn als die anderen nach dem Schlusspfiff dem siegreichen Team die Hände schüttelten und auf den Rücken klopften, lag ich ausgestreckt auf dem Boden und schwitzte aus allen Poren. Ich dachte, ich würde sterben. Wirklich. Später, als wir zusammen an der Theke im Fitnessstudio saßen und männlich unseren Orangensaft tranken, weil es zu früh für Bier war, gratulierten mir alle zu meiner Leistung. Und sie meinten es nicht einmal sarkastisch. Auf der Rückfahrt nach -143-
King's Heath redeten Gershwin und ich im Auto über nichts anderes als Fußball. Wir analysierten jeden Spielzug, besprachen Strategien und beschlossen sogar, mitten in der Woche eine Trainingsstunde einzuführen. Es war natürlich nur Gerede, aber gut tat es trotzdem. »Hast du Lust, heute Abend zu uns zum Essen zu kommen?«, fragte Gershwin. »Was gibt's denn?«, fragte ich. »Normalerweise gab's was ganz Exotisches, nämlich Toast, damit wir den Rest des Tages auf dem Sofa verbringen können. Aber Zoes Eltern haben sich aus Doncaster angemeldet, und deshalb gibt's Huhn, Gemüse, Röstkartoffeln und dergleichen. Da ich mich nicht besonders gut mit meinen Schwiegereltern verstehe, wäre deine Anwesenheit höchst wünschenswert. Kommst du?« »Ich würde gern, Kumpel, aber ich hab versprochen, mich heute Abend bei den Beckfords zum Essen blicken zu lassen.« »Es macht ihnen doch bestimmt nichts aus, wenn du beim Sonntagsessen fehlst. Du wohnst schließlich da.« »Da irrst du aber gewaltig«, entgegnete ich. »Meine Mum hat leider ein gutes Gedächtnis. Seit deinem Geburtstag und meinem nächtlichen Wegbleiben ohne Bescheid zu sagen, vollbringe ich zu Hause einen Eiertanz - besonders mit ihr. Wenn ich beim Sonntagsessen nicht auftauche, streichst sie mir bestimmt mehrere Trips in den Supermarkt.« »Schade.« Er seufzte. »Aber es war eine schöne Nacht.« »An deinem Geburtstag?« »Ja. Und später dann der Ausflug auf den Hügel. Am nächsten Tag im Büro hab ich ab und zu gehustet und getan, als kämpfe ich gegen eine Lungenentzündung an. Ich hab den Märtyrer, der sich mit letzter Kraft zur Arbeit geschleppt hat, so brillant gespielt, dass mein Boss mich sogar fragte, ob ich nicht -144-
lieber nach Hause gehen wollte.« »Und, bist du gegangen?« »Nee«, erwiderte Gershwin traurig. »Ich hatte auch so schon genug zu tun. Dann war's nur noch schlimmer geworden.« Wir hatten das Haus meiner Eltern erreicht, und er hielt an. »Hast du dir noch mal Gedanken über Ginny gemacht?« »Na ja, ein paar«, gab ich zu. »Ich weiß, du würdest gern hören, dass ich total in sie verknallt bin…« Gershwin lachte. »Du bist es nicht?« »Kein bisschen. Sie und Ian scheinen gut zusammenzupassen. Ich bezweifle, dass sie ihm für mich den Laufpass würde.« Ich dachte kurz nach. »Aber es ist schön zu wissen, dass wir Freunde sein können, wo der Bann der Anziehung schließlich gebrochen ist.« »Zoe hat definitiv eine erotische Spannung zwischen euch gespürt. Ich selber hab nichts gemerkt, aber sie ist ziemlich gut in solchen Sachen.« Ich versuchte, nicht zu erfreut auszusehen, was mir wohl nicht gelang. »Nee«, erwiderte ich gleichgültig. »Das war keine erotische Spannung, das war Nostalgie. Das kann man leicht verwechseln.« »Wenn du meinst«, sagte Gershwin grinsend. »Aber ich habe natürlich über uns nachgedacht…«, fuhr ich fort, »… über dich, mich und Ginny. Ich glaube, ich schieße mich innerlich gerade auf meinen dreißigsten Geburtstag ein. Wahrscheinlich werde ich zu den Dreißigjährigen gehören, die sich fragen, wie es weitergehen soll und wieso ich bin, wo ich bin. Das bereitet mir echt Bauchschmerzen, zumal ich gehofft hatte, das Ganze würdevoll hinter mich zu bringen. Stattdessen sieht es aus, als ob ich alle Würde vergessen und schreiend auf den großen Tag zusteuern werde. Ich klinge wahrscheinlich total konfus. Aber dich und Ginny wieder zu treffen - Mensehen, die -145-
ich seit vielen Jahren kenne, hat mir geholfen, mein Leben im Zusammenhang zu sehen.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Gershwin. »Es ist schön, dich wieder hier zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Man vergisst viel zu leicht, wie schön die alten Zeiten waren. Es tut gut, hin und wieder in der Vergangenheit zu schwelgen.« »Genau«, stimmte ich zu, war endlich da angelangt, wo ich hinwollte. »Deshalb hab ich mir überlegt, auch die anderen ausfindig zu machen - Katrina, Elliot, Bev und Pete. Es ist nur so eine Idee. Ich würde sie alle gern wieder sehen, nur ein einziges Mal, um herauszufinden, ob sie immer noch sind wie früher. Ich hab noch viel Zeit bis zu meinem Umzug nach Sydney und im Grunde nichts Besseres zu tun. Was hältst du davon?« »Also, ich weiß nicht«, sagte Gershwin. »Mit mir und Ginny hast du Glück gehabt, weil wir echte Qualitätsware sind. Nicht, dass das auf die anderen nicht zutrifft, aber du weißt, was ich meine. Menschen verändern sich. Sie können einen enttäuschen, das passiert leicht. Ich habe ein gutes Beispiel dafür. Letzten Sommer waren Zoe und ich auf der Hochzeit von einer ihrer College-Freundinnen. Zoes frühere Busenfreundin Michelle war auch da. Auf der Uni waren die beiden wirklich dick befreundet gewesen, aber danach hatten sie sich aus den Augen verloren du weißt, wie so was geht. Jedenfalls war Michelle immer ein verrückter Hippie gewesen, aber in den drei Jahren, in denen sie und Zoe keinen Kontakt hatten, hat sie sich in einen echten Drachen verwandelt, mit einem französischen Lover, einem protzigen Auto und schlechten Manieren. Sie hat Zoe völlig ignoriert und keines Blickes gewürdigt. Aber wir haben bitterböse Rache genommen«, fuhr er verschmitzt lächelnd fort, »sie wohnte in dem Hotel, in dem die Hochzeitsfeier stattfand. Wir bekamen schließlich ihre Zimmernummer raus, taten, als wäre es unser Zimmer und bestellten den WeckService ab fünf Uhr morgens im Fünf-Minuten-Takt, weil wir angeblich solche -146-
Tiefschläfer sind.« »Und die Moral von der Geschichte ist, dass das, was einen früher einmal miteinander verbunden hat, nicht immer ausreicht?« »Genau«, sagte Gershwin. »Das ist traurig, aber wahr. Ich will damit nicht sagen, dass du es nicht tun sollst, denn vielleicht liege ich ja falsch. Ich meine nur, dass du vielleicht auf ein paar Überraschungen gefasst sein musst.« »Na ja«, sagte ich nach einer Weile, »möglich ist alles. Aber um es wirklich zu wissen, muss man es einfach tun.«
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[email protected] Betreff: Trip in die Vergangenheit Lieber Matt, hör auf meinen Rat: Tu's nicht. Damit machst du dir nur die schönen Erinnerungen an diese Leute kaputt. Du hast Glück gehabt mit Gershwin und Ginny, aber ich möchte nicht dabei sein, wenn du herausfindest, dass all die anderen früheren Freunde sich in Arschlöcher verwandelt haben. Erinnerst du dich noch an das Wochenende, als ich meine alten Freundinnen von der High School in Brooklyn getroffen habe? Ich hasste sie alle! Meine alte Busenfreundin Lucy Buchanan hatte auf dem College so viel Gras geraucht, dass sie keinen sinnvollen Satz mehr zu Stande brachte; Sheena Deaver konnte überhaupt nicht verstehen, warum ein Halbnazi, der alt genug war, um ihr Vater zu sein, nicht der Richtige für sie war; Stephanie Dolfini hat ausschließlich von dem superreichen Kinderarzt geredet, mit dem sie verlobt war; und selbst die arme Yona Huges, die Klassenbeste, war nicht mehr dieselbe, nachdem sie ihr Studium in Stanford abbrechen musste, weil sie sich in der High School völlig verausgabt hatte (obwohl das nicht ihre Schuld war). Mein Rat: Halt dich fern. Das Problem mit diesen Reisen in die Vergangenheit ist doch, dass man vor - bösen - Überraschungen nie sicher ist. Alles Liebe, Elaine :-) PS: Aber letztlich mach, was du nicht lassen kannst.
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38 BEV TURNER (Damals hätte sie wahrscheinlich gesagt: »Ich bin keine Gothic-Anhängerin, ich mag einfach nur dunkle Sachen.« Heute heißt sie Mrs Bev McCarthy und lehrt Romanistik im North Yorshire Adult Education Language Department in Sheffield.) Zu meiner Teenagerzeit gab es in jeder Schule eine Bev Turner: Mädchen, die sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag die Haare schwarz färbten, nicht mehr in die Sonne gingen und Makeup im morbiden Gothic-Stil trugen. Wenn man sie als Gothic-Anhängerinnen bezeichnete oder einfach nur Goth nannte, wurden sie bitterböse und behaupteten, man habe keine Ahnung. Auf einen Vergleich mit Ally Sheedy in Der Frühstücksclub hätte Bev wahrscheinlich mit »verpiss dich« reagiert, doch insgeheim hätte sie sich darüber gefreut. Auf die Frage, warum sie unbedingt wie eine Goth aussehen wollte, den erbärmlichen Gothic Rock hörte und nie in die Sonne ging, obwohl sie doch gar keine Goth war, antwortete sie mit Gewaltandrohung. Außer der Diskussion, ob sie nun eine Goth war oder nicht, hatte meine Bev Turner noch das Problem, dass ihre Eltern seit langer Zeit einen Scheidungskrieg führten. Ich mochte Bev wirklich. Ich fand sie echt aufregend. Allein der Gedanke an sie in jener Zeit brachte mich zum Lachen, weil sie für mich immer die Schutzheilige des Trübsinns, der Verdammnis und der schlechten Nachrichten war. Sie hatte stets ein teuflisches Grinsen im Gesicht, hörte sich die deprimierendste Musik auf Erden an und war fasziniert von berühmten Leuten, die jung gestorben waren. Silvia Plath rangierte da natürlich ganz oben, gefolgt von James Dean und Ian Curtis von Joy Division. Diese Art Teenager-Schwermut -149-
war unheimlich attraktiv, und ich hatte immer den Verdacht, dass ziemlich viele Jungen in der Schule heimlich auf Bev standen, weil eine Aura des Unbekannten und Unergründlichen sie umgab. Keiner wagte es jemals, sie um ein Date zu bitten, denn sie war einfach zu Angst einflößend für uns Teenager genau genommen auch für erwachsene Männer, doch geträumt hatten sicher viele davon. Und trotz ihres Hangs zu selbstmörderischen Stars, zu Depressionen und schwarzen Klamotten, hatte Bev einen großartigen Humor und schaffte es immer, mich zum Lachen zu bringen. In der Abschlussklasse hatten Bev und ich die schlechte Angewohnheit, die Pausen im King's-Heath-Park zu verbringen, wo ich mein Sandwich aß und sie eine Zigarette nach der anderen rauchte, bis ihr vom Nikotin ganz schwummrig wurde. Dabei diskutierten wir über das Leben auf eine Art, die mich heute noch schaudern lässt, wenn ich nur daran denke. Als dann alle anderen zur Universität gingen, verzichtete Bev auf ihren Platz an einem reinen Oxford-Frauencollege, wo sie ursprünglich Spanisch und Französisch studieren wollte, um ein Jahr Auszeit zu nehmen und durch Indien zu reisen. Nach fünf Monaten kam sie zurück, um Geld für ihre nächste Reise zu verdienen, die sie nach Australien führte. Danach ging es in den Fernen Osten, später nach Japan und schließlich wieder zurück nach Indien. Zum Zeitpunkt von Gershwins Hochzeit, wo wir sie das letzte Mal gesehen hatten, kam sie nur noch unregelmäßig nach England. Am späten Sonntagnachmittag, nachdem ich das rosenkohlfreie Sonntagsessen meiner Mutter einigermaßen verdaut hatte, beschloss ich, Bev als Erste von meinen alten Freunden zu kontaktieren. Ihre Telefonnummer fand ich problemlos heraus, denn ich hatte die von ihrer Großmutter in Chelmsley Wood. Dort wohnte sie jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, zu »komisch« zu werden und ein bisschen großelterliche Betreuung zu brauchen. Obwohl die alte Dame -150-
nicht mehr allzu gut hören konnte, gab sie mir nach einer längeren, etwas konfusen Unterhaltung eine Telefonnummer, unter der ich Bev hier in England erreichen konnte. Ich dankte ihr, verabschiedete mich und legte auf. Dann nahm ich den Hörer erneut ab und wählte die Nummer. »Hallo?« Es war eine Frauenstimme. »Hi. Ich hätte gern Bev Turner gesprochen.« »Ja, bitte?« »Sind Sie das?« »Vielleicht. Wer spricht da?« Plötzlich war ich unsicher, ob sie es wirklich war. »Mein Name ist Matt Beckford, ich bin ein alter Schulfreund von ihr…« »Matt!«, rief sie aus. »Matt Beckford! Ich bin's, Bev. Ich hatte ja nicht die leiseste Ahnung, wer es sein könnte. Einen Moment lang dachte ich schon, du bist einer der dubiosen Schuldeneintreiber, der mich wegen irgendwelcher Vergehen aus der Schulzeit drankriegen will.« »Hast wohl eine Menge Schulden, was?« »Die eine oder andere unbezahlte Kreditkartenrechnung«, gestand Bev. »Noch aus meiner Globetrotterzeit. Sicher stehe ich inzwischen bei allen auf der schwarzen Liste.« Sie lachte. »Aber das macht nichts, ich nehme einfach Jimmys.« »Und wer ist Jimmy?« »Mein Freund - oder, genau genommen, seit drei Monaten mein Ehemann.« »Herzlichen Glückwunsch.« »Schon gut, Kumpel. Was um alles auf der Welt hat dich dazu getrieben, mich um halb vier an einem Sonntagnachmittag anzurufen, und zwar nach…«, sie rechnete im Kopf nach, »… -151-
fast sechs Jahren Sendepause. Natürlich bin ich absolut angenehm überrascht.« »Na ja, um es kurz zu machen, ich hab in New York gelebt und bin nach Sydney versetzt worden, und in der Zwischenzeit treibe ich mich ein bisschen hier zu Hause in Birmingham rum. Auf Gershwins Geburtstag…« »Du hast noch Kontakt mit Gershwin? Wie geht es ihm?« »Gut. Zoe und er haben jetzt ein kleines Mädchen, Charlotte. Sie ist vier, glaube ich… Jedenfalls waren wir im Kings Arms einen trinken, um seinen dreißigsten Geburtstag zu feiern, als wir plötzlich Ginny getroffen und zu dritt von alten Zeiten geschwärmt haben. Na ja, und da wollte ich einfach herausfinden, was die anderen aus der Clique so treiben. Das ist alles. Ich wollte nur wissen, ob bei dir… alles okay ist.« »Ja, mir geht's gut«, sagte Bev wohl überlegt. »Und wo du jetzt anrufst noch besser als gut, geradezu hervorragend.« In den nächsten zwanzig Minuten erzählte mir Bev, wie es ihr seit unserer letzten Begegnung so ergangen war. Mit fünfundzwanzig und nach sechs Jahren Reisen hatte sie es für ratsam gehalten, ihr Berufsleben in Angriff zu nehmen. Bis dahin hatte sie so ziemlich alles gemacht, vom Bienenzüchten in Australien bis hin zum Kindermädchen bei einer Malaysierin, die sie als malaysische Version von Cher beschrieb. Sie ging zurück nach England und ließ sich in Sheffield nieder, wo sie nach diversen Ausbildungskursen an einem College für Erwachsenenbildung unterrichtete und ihren Mann Jimmy kennen lernte, ebenfalls ein Lehrer. Sie verliebten sich, heirateten und kauften ein Drei-Zimmer-Cottage am Rande von Sheffield. Inzwischen ging es ihnen wieder recht gut, nachdem sie Anfang letzten Jahres ein paar schlechte Nachrichten zu verdauen hatten. Bev war wegen Magenproblemen ins Krankenhaus gekommen, und im Verlauf der Untersuchungen stellte sich heraus, dass sie wohl niemals Kinder haben kann. Sie -152-
erzählte mir alles ziemlich gelassen, wahrscheinlich hatte sie sich lange genug damit auseinander gesetzt, dass es sie nicht mehr aus der Fassung brachte. Für mich war es nur ein weiterer Beweis, wie merkwürdig das Leben mit zunehmendem Alter wurde. »Komm uns doch besuchen, bevor du nach Australien gehst«, sagte Bev am Ende unseres Telefongesprächs. »Ich sage das nicht nur so, ich meine es wirklich.« »Danke«, erwiderte ich, dann tauschten wir Adressen aus und versprachen, in Verbindung zu bleiben.
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39 KATRINA SMITH (Damals waren alle überzeugt, dass sie einmal für ein Hochglanz-Frauenmagazin arbeiten würde. Heute ist sie Lifestyle-Redakteurin beim Staffordshire Evening Herald.) In der Schule gehörte Katrina zu den Mädchen, die immer einen Freund hatten. Am Anfang ihrer Dating-Karriere hatte sie was mit Gershwin (etwas über zwei Monate lang, als wir vierzehn waren), mit mir (anderthalb Wochen lang, wir waren fünfzehn), mit Pete (eine mit Thunderbird angeheizte Nacht heftigsten Knutschens auf Katie Lloyds sechzehntem Geburtstag) und mit Elliot (anderthalb Monate lang kurz vor unserer absurden Abschlussprüfung). Sie war auffallend hübsch, aber unsicher, was ihre Sucht nach Beziehungen erklärte. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit den Jungs darüber, dass Katrina merkwürdigerweise in all der Zeit niemals von einem Typ verlassen worden war. Erst dachten wir, sie hätte einfach nur Glück gehabt, aber dann hatte Elliot (den sie für Adam Warner fallen gelassen hatte) uns darauf hingewiesen ziemlich scharfsinnig für einen Sechzehnjährigen, wie ich fand, dass sie ganz bewusst immer nur mit Jungen ausging, die ein bisschen weniger attraktiv waren als die in ihrer eigenen Liga. Er hatte natürlich Recht. Katrinas Taktik war perfekt. Sie suchte sich immer Typen aus, die dankbar waren, eine so toll aussehende Freundin zu haben, und sie deshalb vor lauter Glück wie eine Prinzessin behandelten. Trotzdem war Katrina keine berechnende Schlange - im Gegenteil, sie war klug, witzig und eine gute Freundin. Nur in einer Liebesbeziehung zeigte sie ihre Krallen. Am Dienstag nach meiner Unterhaltung mit Bev beschloss -154-
ich, als Nächstes aus der alten Clique Katrina zu kontaktieren. Obwohl eine Art Exfreundin, war sie eher mit Ginny befreundet gewesen als mit mir, so dass wir keine Verbindung mehr hatten. Das letzte Mal hatte ich sie ein Jahr nach Gershwins Hochzeit gesehen, auf Elliots Umzugsparty, wo wir gleichzeitig seinen neuen Job gefeiert hatten. Damals hatte sie erzählt, dass sie vorübergehend bei ihrem Freund Greg in East London wohne, bis sie eine eigene Wohnung gefunden habe. Ich suchte in meinem Zimmer und fand tatsächlich ein altes Adressbuch mit Gregs Telefonnummer. Drei Telefonate später hatte ich ihre Nummer - nach einem Gespräch mit ihrem Exfreund in East London, mit einem weiteren Exfreund in Leeds und schließlich mit ihrem erst kürzlich zum Exfreund mutierten Freund in Stokes, der sie mir gab. »Hallo?« »Äh, hi… Ich hätte gern Katrina Smith gesprochen.« Pause. »Wer spricht da?« »Das kann ich leider nicht verraten«, witzelte ich. »Das würde die Spannung kaputtmachen.« »Dave?« »Nein.« »Paul?« »Wieder falsch.« Sie hielt inne. »Greg, bist du das?« »Nicht einmal lauwarm«, erwiderte ich. »Okay, hier ist ein Anhaltspunkt. Ich hatte einmal das Pech, deine Mutter nackt zu sehen…« »Matt Beckford!«, schrie sie auf. Ich wusste, dass diese Geschichte ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde. Wir waren achtzehn gewesen, und ich hatte um drei Uhr morgens gemerkt, dass meine Hausschlüssel verschwunden waren. Ich hatte zu große Angst, zu Hause zu -155-
klingeln und alle aufzuwecken, da hatte Katrina mir das Sofa ihrer Eltern angeboten, aber ohne ihnen was davon zu sagen. Als ich dann morgens aufstand, um aufs Klo zu gehen, begegnete ich ihrer splitterfasernackten Mutter, die gerade auf dem Weg in die Dusche war. Ich schrie, sie schrie, und es war furchtbar peinlich für uns alle. »Ich kann's nicht fassen!«, rief Katrina wieder. »Einen Moment lang dachte ich, du wärst einer meiner Exfreunde.« »Exfreunde? Welcher denn?« »Jeder Einzelne. Du hast Glück gehabt. Ich hab dein Ratespiel nur deshalb so lange mitgemacht, weil ich meine Trillerpfeife in der Handtasche gesucht habe, um dir damit das Gehör wegzupusten!« Wir erzählten beide von unserem bewegten Leben, wobei sie erheblich mehr zu bieten hatte als ich. Sie arbeitete beim Staffordshire Evening Herald, und als ich sie fragte, was ihr Job als Lifestyle-Redakteurin eigentlich beinhaltete, sagte sie: »Miserable Mode, miserable Restaurants, miserable Diätratschläge und alles, was die aufgeblasene PR-Branche sonst noch so an Mist produziert. Sozusagen alles, was die moderne Frau nicht zu wissen braucht.« »Hört sich nicht gerade an wie dein Traumjob«, kommentierte ich. »Ich hasse ihn. Ich hasse ihn total«, erwiderte sie lachend. »Mit dreißig wollte ich bei der Vogue arbeiten. Was heißt hier arbeiten, ich wollte die Herausgeberin sein.« »Und dafür ist es jetzt zu spät?«, fragte ich und offenbarte damit meine ganze Ignoranz gegenüber der Welt von Modemagazinen. »Nur ungefähr zehn Jahre«, erwiderte Katrina. »Weißt du, mein größter Fehler war, auf die Universität zu gehen. Ich hätte eine dieser supertalentierten Teenager-Journalistinnen sein können - ein Wunderkind. Mit neunzehn hätte ich meinen -156-
Durchbruch gehabt, dann hieße es jetzt: ›Hallo, Ms Katrina Vogue.‹« Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie fort mit ihrer Tirade die Thematik schien ihr sehr vertraut. »Ich bin davon überzeugt, dass die Universität Karrieren behindert. Ich habe in Leeds nichts gelernt, was mich auf meine Rolle als Herausgeberin von der Vogue, für die ich sozusagen vorbestimmt war, vorbereitet hätte. Drei Jahre absolut verschwendet. Drei Jahre! Hätte ich diese Zeit nicht in Seminaren rumgehangen, wäre ich jetzt siebenundzwanzig anstatt dreißig! Dann hätte ich vielleicht noch eine Chance.« »Heißt das, ich wäre erst sechsundzwanzig?« »Du bist noch keine dreißig?« »Am einunddreißigsten März. Du kannst mir eine Karte schicken.« »Vergiss die Karte, Matt. Genieß lieber die Tage, die du noch neunundzwanzig bist, denn eins kannst du mir glauben, danach geht's bergab.« Sie seufzte schwer. »Ich wette, für so wahnsinnig hättest du mich nicht gehalten!« »Stimmt«, erwiderte ich. »Aber es hat etwas Beruhigendes für mich, nicht allein so verrückt zu sein.« Danach nahm unser Gespräch eine gelassenere Tonart an. Ich erzählte ihr von der Welt der Softwareentwickler, meinem Leben in New York und der Trennung von Elaine, und im Gegenzug versorgte sie mich mit Details über sich. Als ich mich auf Gershwins Hochzeit mit ihr unterhalten hatte, arbeitete sie gerade freiberuflich für mehrere Zeitschriften und hatte sogar schon Artikel in der Cosmopolitan und in The Face veröffentlicht. Da Miete und reine Lebenshaltungskosten in London aber sehr hoch waren, bewarb sie sich wenig später auf eine Stelle als Reporterin beim South Staffordshire Chronicle. Sie wollte nur vorübergehend dort arbeiten - höchstens sechs Monate, um ihre Schulden zu bezahlen, doch ein Jahr später schreckte allein die Vorstellung sie ab, in London noch einmal -157-
von vorne anzufangen. Sie blieb also, wo sie war, und wurde schließlich vom Staffordshire Evening Herald abgeworben, wo sie zwar nicht reich werden würde, aber halbwegs gut verdiente. Hinsichtlich ihres Liebeslebens war sie etwas zurückhaltender. Zwischen den Zeilen hörte ich heraus, dass sie sich irgendwann doch in einen attraktiven Mann verliebt hatte, der ihr in puncto Aussehen zwar nicht ganz, aber fast das Wasser reichen konnte. Er hieß Stephen und war ihre große Liebe. Sie waren achtzehn Monate lang glücklich zusammen, als er ihr eines Tages eröffnete, sich noch nicht fest binden zu wollen. Ich war gerade im Begriff, ein paar mitleidige Kommentare abzugeben, als sie hinzufügte: »Das war wahrscheinlich das Beste, was mir je passiert ist.« Sie schloss mit den Worten, dass sie jetzt seit einem Jahr Single sei und es abgesehen von ihrer Karriere das beste Jahr in ihrem ganzen Leben gewesen ist. Das überraschte mich so sehr, dass ich nur »cool« heraus brachte. Dann gab ich ihr die Telefonnummer meiner Eltern und sagte, ich würde sie bald besuchen kommen.
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40 PETE SWEENEY (Damals hatte er nichts außer Star-Wars-Trivialitäten im Kopf. Heute ist er Besitzer von Comic Dreams and Movie Memorabilia in Manchester.) Von allen früheren Freunden wollte ich Pete am meisten wieder sehen. Er war immer einer der altmodischsten Menschen gewesen, die man sich vorstellen konnte. Meine Lieblingsgeschichte, die ihn wahrscheinlich am besten charakterisiert, ereignete sich, als wir sechzehn waren und somit die Ältesten in der King's Heath Gesamtschule. Während der ganzen Schulzeit hatten wir dem Tag entgegengefiebert, an dem es schneite und wir die Könige auf dem Feld der Großen Schneeballschlacht sein würden. (Das war eine alte Schultradition: Am ersten Schneetag bombardierten die ältesten Jungen - es waren immer Jungen - die jüngeren mit Schneebällen.) Als es dann endlich so weit war, machte uns die Verantwortung, die anderen ordentlich zu terrorisieren, ganz wild, und, das muss ich leider zugeben, auch total machtbesessen. Angeführt von Pete ließen wir ein Schneeballbombardement nach dem anderen auf den Schulhof der unteren Klassen niedergehen. Es war fantastisch: Hunderte von Kids rannten schreiend in Deckung, und wir begruben jeden, den wir erwischten, unter einem Schneeberg. Und dabei passierte das, was später als der »Weiße Mittwoch« in die Schulgeschichte einging: Wütend, weil massenweise Schüler auf der Suche nach Deckung über den heiligen Rasen vor dem Lehrerzimmerfenster rannten, kam unser Direktor Mr Charles heraus, um sämtlichen Anwesenden eine Strafpredigt zu halten. Am Ende seiner großen Tirade über den Vorbildcharakter, den -159-
ältere Schüler für jüngere haben sollten, warf Pete einen Terminator - ein Schneeball aus reinem Eis, den er zwanzig Minuten lang mit den Händen zum Wurfgeschoss geformt hatte, und traf Mr Charles genau am Hinterkopf. Es war ein klassischer Moment, die Schneeballvariante des KennedyAttentats: Sämtliche Anwesenden auf dem Schulhof, also ungefähr sechshundert Kids, hielten vor Schreck die Luft an. Mr Charles wurde purpurrot und drohte, die ganze Schule nachsitzen zu lassen, wenn der Übeltäter sich nicht stellte. Alle erwarteten, dass Pete seine Strafe wie ein Mann akzeptieren würde, doch er hielt sich bedeckt - was ich aufrichtig bewunderte. Ein echter Feigling hätte sich dem Druck der Schüler gebeugt, aber nicht Pete. Und das, obwohl er wusste, dass die Strafe der Lehrer weniger schlimm ausfallen würde als die der Mitschüler. Nach der Schule, gejagt von einer Meute rachedurstiger Kids, die Vergeltung für ihre verlorene Freizeit forderten, fragte ich ihn, warum er überhaupt auf Mr Charles gezielt hatte. Als Antwort zitierte er die berühmten Worte von Sir Edmund Hillary nach dessen Mount-EverestBesteigung: »Weil er da war.« Ich fand Pete über seine Schwester. Obwohl er verblüfft war, nach so langer Zeit von mir zu hören, telefonierten wir stundenlang. Das Gerücht, dass er geheiratet hatte, stimmte, und er hatte einen dreijährigen Sohn namens Joe. Dass er und seine Frau Amy sich nach achtzehn Monaten getrennt und zwei Jahre später hatten scheiden lassen, kam für mich allerdings überraschend. Doch trotz der schweren Zeiten, hatte er es geschafft, zumindest einen seiner Träume zu verwirklichen. Als Kind war er völlig besessen von Comics und Science-FictionFilmen gewesen, und jetzt, im Alter von dreißig Jahren, war er stolzer Besitzer von »Comic Dreams and Movie Memorabilia« in Chorlton, Manchester. Und er bestand darauf, dass ich ihn besuchte. »Beckford!«, rief Pete, als ich den Laden betrat. -160-
»Sweeney!«, rief ich in typischer Kumpelmanier zurück und ging schnurstracks auf ihn zu in Richtung Kasse. »Du fetter alter Loser!«, begrüßte er mich und kam hinter dem Tresen hervor. Wir schüttelten uns begeistert die Hände. »Du…« Ich musterte ihn von oben bis unten auf der Suche nach einer geeigneten Beleidigung, doch vergebens. Er hatte noch mehr Haare verloren als Gershwin, aber selbst ich fand Witze darüber unpassend. Ansonsten schien er in guter Verfassung. Schließlich stieß ich ein schwaches: »Du SechzigerJahre-Restposten« hervor. Mit fünfzehn hatte Pete beschlossen, dass die sechziger Jahre in jeder Hinsicht seinem Modebewusstsein entsprachen, und jetzt, fünfzehn Jahre später, trug er noch immer den gleichen Stil: Jeansjacke, schwarzer Rollkragenpullover, beigefarbene Kordhosen und natürlich seine geliebten Boots. »Das muss doch inzwischen das hundertste Paar von der Sorte sein«, sagte ich und zeigte auf die Stiefel. »Das zweihundertste kommt der Sache schon näher.« Er grinste übers ganze Gesicht. »War der Trip hierher okay?«, fragte er und ging zurück zur Kasse, um einen Kunden zu bedienen. »Ziemlich langweilig, ehrlich gesagt«, erwiderte ich. »Aber das macht nichts. Wie geht es dir?« »Ganz gut«, sagte er. »Könnte schlimmer sein. Aber der Laden ist doch klasse, was?« Erst jetzt sah ich mich um. Ich war umgeben von mehreren Reihen Science-Fiction- und Fantasy-Magazinen, Comics, Büchern, Postern, Videos und Plastikfiguren. »Das gehört alles dir?« Er nickte eifrig. »Ich zeige dir die neuen Star-Wars-Sachen. Ich hab fast geheult, als sie letzte Woche gekommen sind.« Dann bemerkte er die Kunden an der Kasse. »Warte einen -161-
Moment.« Er sah zu einem der Comic-Ständer hinüber, und plötzlich erschien ein junger Typ mit Spitzbart und Baseballkappe auf der anderen Seite. »Billy«, sagte Pete, »das ist mein Freund Matt Beckford.« Billy nickte verdrießlich. »Matt und ich kennen uns seit…«, er zählte in Gedanken nach, »… siebzehn Jahren. Also genauso lange, wie du auf der Welt bist. Wir gehen auf einen Kaffee und eine Zigarette hoch in die Wohnung. Kümmere dich um den Laden und beleidige nicht die Kunden.« Billy schlurfte hinter die Kasse. Ich folgte Pete durch eine Tür, an der ein DIN-A4-Blatt hing mit der handschriftlichen Warnung »Zutritt verboten - ja, Sie sind gemeint!«, und eine Treppe hinauf in seine Wohnung. »Willkommen in meiner Bude«, sagte er. Als Pete mir am Telefon erzählt hatte, dass er geschieden sei und in einer Wohnung über dem Laden wohne, hatte ich das Schlimmste befürchtet. Doch was ich jetzt sah, war der reinste Pete-Himmel. Kein Achtziger-Jahre-Mobiliar aus schwarzem Leder und Chrom, wie ich mir das immer bei einer Junggesellenbude vorgestellt hatte, sondern ein paar echte Sechziger-Jahre-Sammlerstücke, ein supermoderner Großbildfernseher und ein Hi-Fi-Turm mit Lautsprechern so groß wie Kleinkinder. Außerdem war die Wohnung voll mit Sachen aus dem Laden -Film- und Comic-Poster, jede Menge Plastikfiguren (von Star Wars bis James Bond) sowie seiner Platten-, CD- und Videosammlung, die sich über zwei Wände erstreckte, so dass sein Wohnzimmer wie eine Bücherei aussah. »Wow«, sagte ich, als Pete mit dem Kaffee hereinkam, »du hast eine Menge Videos.« »Ich genieße es, sie um mich zu haben«, sagte Pete, wobei sein Blick zufrieden über die Sammlung wanderte. »Als ich noch mit Amy zusammen war, stand das alles verpackt auf dem Speicher.« Er zeigte auf ein großes Sofa beim Fenster. »Setz -162-
dich, Kumpel.« »Ja, gleich, ich will nur mal sehen, was du für Videos hast. Ich glaube, die Hälfte davon kenne ich überhaupt nicht.« Das war das größte Kompliment, das ich ihm machen konnte oder genau genommen allen meinen Freunden: Manchmal ist die Anerkennung der Altersgenossen für scheinbar wertlose Errungenschaften das Einzige, wofür man lebt. Ich überflog die Titel, die sich von A bis Z wie die Geschichte der letzten fünfzig Jahre TV-Science-Fiction lasen. Er hatte sämtliche Folgen von The Prisoner, Star Trek, Babylon Fünf, Star Trek - The Next Generation und Blake's Seven, die aber zahlenmäßig noch von seiner Dr.-Who-Sammlung übertroffen wurden. »Ich habe jede einzelne Folge, die jemals gedreht wurde«, sagte er, als ich bei »Dr. Who and the Cybermen« stehen blieb. »Ich hab ewig dazu gebraucht, aber es hat sich gelohnt.« »Jede einzelne Folge?« »Na ja… fast. Ein paar fehlen - die BBC hat in einem Anfall von Weisheit einige gelöscht. Ich fand diese Lücken unerträglich und hab deshalb selbst ein paar Hüllen dafür gebastelt.« »Du hast Hüllen für Videos von Sendungen gemacht, die nicht mehr existieren?« Er sah mich verlegen an. »Frag mich nicht, warum. Aber es macht mich glücklich.« Als ich Pete nach sechs Stunden und mehreren Budweiser verließ, hatte ich ein gutes Lebensgefühl und sah meinem dreißigsten Geburtstag beruhigt entgegen. Katrina, Bev und Pete hatten zwar alle ihre Höhen und Tiefen gehabt, sich aber im Kern wenig verändert. Pete hatte wegen der Scheidung eine harte Zeit durchgemacht, trotzdem schien er wieder recht glücklich. Es ging ihnen wie auch Ginny und Gershwin also gut. Ich kann nicht erklären, warum, aber ich war davon überzeugt, wenn es meinen ältesten Freunden gut ging, werde es auch mir -163-
gut gehen - dass ich also mit allem, was das Leben für mich bereithielt, fertig werden würde. Zumindest dachte ich das auf der Rückfahrt von Manchester nach Birmingham. Aber da wusste ich noch nicht, dass unser Freund Elliot gestorben war.
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41 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff:? Liebe Elaine, hier in Birmingham ist es zwei Uhr morgens und ich kann nicht schlafen. Ich habe gerade die seltsamsten Stunden meines Lebens hinter mir. In den letzten Tagen habe ich - wie bereits angekündigt, meine alten Freunde kontaktiert. Ich habe mit Katrina und Bev am Telefon gesprochen und heute (na ja, eigentlich gestern) meinen alten Kumpel Pete in Manchester besucht. Auf dem Weg nach Hause dachte ich, alles ist okay, das Leben kann weitergehen. Als ich dann zu Hause war, ein bisschen beschwipst und eher gut gelaunt, sagte meine Mutter, sie hätte schlechte Nachrichten für mich. Ich erinnere mich nicht mehr an ihre genauen Worte, aber um es kurz zu machen: Elliot ist tot… genauer gesagt, er ist vor zwei Jahren gestorben. Ich hatte Elliots Eltern gestern Morgen angerufen und eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, wer ich bin und ob sie mich zurückrufen und mir die Nummer von Elliot geben können. Während ich also in Manchester war, hat Elliots Mutter angerufen und meiner Mum die traurige Nachricht erzählt. Anscheinend waren Elliot und seine Freundin im Dezember vor zwei Jahren von Leeds nach Liverpool in einen Club gefahren und dabei frontal mit einem Lastwagen zusammengestoßen. Elliots Freundin war sofort tot, unser Kumpel starb eine Woche später. Sie waren beide siebenundzwanzig. Nur die engsten Freunde waren auf die Beerdigung eingeladen worden, -165-
und da von uns seit längerem keiner Kontakt mit Elliot gehabt hatte, hatten wir nicht dazugehört. Jetzt fühle ich mich ganz komisch. Ich weiß nicht, was ich eigentlich empfinden müsste, aber was immer es ist, ich empfinde es nicht. Matt :-)
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42 Nachdem ich Elaine die E-Mail geschickt hatte, versuchte ich zu schlafen. Aber es gelang mir nicht. Ich lag in meinem Bett, starrte an die Zimmerdecke und überlegte, wann genau die Freundschaften zwischen den Mitgliedern der Clique eingeschlafen waren. Doch es gab keinen klaren Zeitpunkt. Deshalb versuchte ich mich zu erinnern, ab wann wir uns nicht mehr um die Aufrechterhaltung unserer Freundschaften bemüht hatten, und das war einfacher: als wir alle von hier fortzogen. Das war der wirkliche Prüfstand einer Freundschaft - die Geografie. Diese Erkenntnis machte mich traurig und schuldbewusst. Die Zeiten, die wir gemeinsam verbracht hatten, gehörten zu den schönsten meines Lebens, und es kam mir erbärmlich vor, dass wir einige der besten Freundschaften einfach aufgegeben hatten, nur weil wir nicht mehr in derselben Stadt wohnten. Vielleicht hatte ich Unrecht. Vielleicht hatten wir uns ja einfach nur auseinander entwickelt. Damit quälte ich mich stundenlang in jener Nacht herum, und dann sinnierte ich noch ewig über meine eigene Sterblichkeit. Meine Gedanken kreisten um die drei großen Fragen des Lebens: »In welche Richtung gehe ich?«, »Was mache ich?« und: »Worum geht's hier eigentlich?« Es waren keineswegs originelle Fragen, und deshalb behielt ich sie wohl am besten für mich. Irgendwann schlief ich dann doch noch ein, wachte aber gegen halb sieben vom Telefon wieder auf. Ich schlüpfte aus dem Bett, ging nach unten und nahm ab. »Hallo?« »Matt, ich bin's.« Es war Elaine. »Wer ist es?«, flüsterte Mum oben auf dem Treppenabsatz. Sie trug ihren Morgenmantel und hatte Lockenwickler im Haar. -167-
»Es ist für mich«, erwiderte ich, »es ist alles in Ordnung.« Ich wollte nicht sagen, dass Elaine dran war, das würde ihr nur wieder Hoffnungen machen. »Ich bin leise, okay?« Sie verschwand, und ich war allein. »Hi«, flüsterte ich ins Telefon, »wie geht es dir? Es ist, lass mich nachdenken, ein Uhr dreißig bei dir. Was ist los?« »Ich habe heute lange gearbeitet und deine Mail mit der Nachricht über deinen Freund Elliot gekriegt. Ich wollte dich sofort anrufen, aber dann dachte ich, deine Eltern schlafen bestimmt schon, und ich wollte sie nicht wecken. Aber von ihrem Besuch hier wusste ich, dass sie Frühaufsteher sind, deshalb bin ich so lange aufgeblieben, um mit dir zu sprechen. Also, wie geht es dir? Kommst du zurecht?« »Ja, mir geht's gut«, sagte ich. »Es ist zwar ein bisschen komisch, aber es geht mir gut.« »Du klingst aber ganz anders, Matt.« »Oh, danke.« »Du weißt schon, was ich meine. Kannst du schlafen?« »Na ja, schlecht.« Ich dachte einen Moment nach. »Ich sage jetzt etwas, das ich nur dir sagen kann, weil ich weiß, dass du mich verstehst. Das wirklich Schockierende an der ganzen Sache ist, wie wenig die Nachricht mich schockiert hat. Elliot war ein guter Freund, den ich zwar lange nicht gesehen hatte, aber trotzdem müsste ich doch etwas fühlen… mehr fühlen.« »Nicht unbedingt«, sagte Elaine. »Du bist jemand, der erst dann den Verlust spürt, wenn ein richtig großes Loch in dein Leben gerissen wird. Das Loch muss so groß sein, dass du noch so viel reinwerfen und versuchen kannst, es mit allem Möglichen zu füllen, es aber immer noch da ist. Wenn ihr weiter gute Freunde und ständig zusammen gewesen wärt, dann würdest du das Loch spüren und darunter leiden. Aber so war die Beziehung schon lange nicht mehr. Das ist völlig okay, es geht vielen so. Dein Problem ist, dass du den Menschen, den du -168-
verloren hast, nicht vermisst, weil du ihn in Wirklichkeit schon lange vorher verloren hast und darüber hinweg warst. Du vermisst das Loch, das er hätte hinterlassen sollen.« Obwohl ich laut »Psychogelaber« und »Blödsinn« rufen wollte, sah ich auch ein, dass Elaine in einem Punkt Recht hatte: Ich fühlte keinen Verlust, weil ich diesen Freund schon lange vorher verloren hatte, ohne es überhaupt zu merken. Elaine und ich telefonierten fast eine ganze Stunde. Ich wollte nicht weiter über Elliot reden, was sie bemerkte, also sprachen wir stattdessen über alles andere, was gerade in unserem Leben vor sich ging: ihr Apartment und das Haus meiner Eltern; amerikanisches und britisches Fernsehen; Elaines Grünlilien und die Gartenarbeit meiner Eltern; ihre Visakartenrechnung und mein Sparbuch; wie es ist, wieder bei den Eltern zu wohnen, und wie es ist, mit Sara zusammenzuleben; das Leben mit Arbeit und ohne; und schließlich, wie sehr wir uns gegenseitig vermissten.
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43 »Ist es das?«, fragte Gershwin. »Ich glaube schon«, erwiderte Ginny. »Gut«, sagte ich. »Und was machen wir jetzt?« Es war kurz nach Mittag am darauf folgenden Sonntag, und wir drei standen mitten auf dem Friedhof in Lodge Hill, am anderen Ende der Stadt. Ich hatte Gershwin und Ginny so bald wie möglich angerufen, nachdem ich von Elliots Tod erfahren hatte. Gershwin erreichte ich sofort nach meinem Gespräch mit Elaine, und obwohl im ersten Moment schockiert, war er ansonsten eher gelassen. Er hatte nach Einzelheiten gefragt, aber sonst nicht viel dazu gesagt. Das bedeutete bei Gershwin keineswegs, dass es ihm nichts ausmachte. Es hieß lediglich, dass er nicht wusste, was er sagen sollte, und lieber schwieg, als etwas Dummes oder Banales von sich zu geben. Da ich Ginny nicht in der Schule anrufen wollte, wartete ich bis zum frühen Abend. Sie verhielt sich ähnlich wie Gershwin und schwieg viel, weinte aber nicht. Auch Bev, Katrina und Pete hatte ich die traurige Nachricht mitgeteilt, und alle drei reagierten entsetzt und mit einer unbehaglichen Sprachlosigkeit. Meine eigenen Gefühle waren ein einziges Wechselbad gewesen, wobei klar wurde, dass Elaines Loch-Theorie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Um diese Erkenntnis zu kompensieren, hatte ich mir die Schulzeit mit Elliot ins Gedächtnis gerufen, weil ich ihn da am besten gekannt hatte und als Teenagerfreund am ehesten vermissen konnte. Er hatte immer schon etwas von einem Geschäftsmann gehabt, selbst als wir noch Kinder waren. So hatte er einmal seinen Vater überredet, eine Unmenge Rückkehr-der-Jedi-Ritter-Sticker bei einem Großhändler, für den Mr Sykes einen Berechtigungsausweis hatte, zu kaufen, und sie dann in der -170-
Schule mit Profit weiterverhökert. Ein andermal hatte er seinen älteren Bruder überreden können, Softporno-Hefte wie Men Only, Razzle und Escort zu kaufen, die er zerschnitt und seitenweise an Jungs in den unteren Klassen verschacherte, was ihm wesentlich mehr einbrachte, als er dafür bezahlt hatte. Und kurz nach seinem zwölften Geburtstag brachte er eines Tages sein Lieblingsgeschenk, eine tragbare Version des SpielsalonVideospiels Defender, mit in die Schule und vermietete es für zwanzig Pence pro Versuch. Das war Elliot. Ich hatte mich am gleichen Abend mit Ginny und Gershwin im Kings Arms getroffen, wo wir die ganze Zeit über das Gefühl redeten, etwas tun zu müssen. Am Ende beschlossen wir, Elliot auf dem Friedhof die letzte Ehre zu erweisen, wenn auch ein bisschen verspätet. Es hätte ihm sicher ein Lächeln entlockt, wie wir drei dastanden, zwei Jahre zu spät für die Beerdigung. Am nächsten Tag hatten wir für einen Blumenstrauß zusammengelegt - es kam uns etwas ungehobelt vor, mit leeren Händen am Grab zu erscheinen, als würde man einen Krankenbesuch ohne Vitaminsaft oder ein paar Weintrauben machen, doch erst einmal stritten wir beim Floristen. Wir konnten uns nicht einigen, welche Blumen Elliot gemocht hätte. Aus irgendeinem Grund wollte ich die samtig violetten mit den langen Stielen, Gershwin wollte Rosen und Ginny einen Strauß gelbe und weiße Blumen mit komischen Namen. Schließlich hatte Ginny gemeint, es sei ihr egal, was wir kauften, weil wir das Ganze schließlich nicht taten, um uns über Blumen zu streiten. Gershwin hielt dagegen, dass wir im Grunde nicht wegen der Blumen stritten, sondern lediglich bemüht waren, uns beschissen zu fühlen. Zum Schluss kaufte jeder, was ihm gefiel, und wir ließen alles zu einem Strauß zusammenbinden. Dann waren wir mit Ginnys uraltem marineblauen Fiat Panda zum Friedhof gefahren. Auf meine Frage: »Und was machen wir jetzt?« bekam ich keine Antwort. Stattdessen starrten wir alle den grauen -171-
Marmorgrabstein an. »Das ist alles schon sehr makaber«, flüsterte ich und brach damit das Schweigen. »Ich weiß«, erwiderte Ginny. »Es ist schwer zu glauben, dass das passiert ist«, sagte Gershwin. »Warum?«, fragte Ginny. Wir sahen sie beide an. »So was passiert doch ständig, jeden Tag. Warum halten wir uns eigentlich für etwas Besonderes und glauben, dass es uns niemals treffen könnte?« »Ich glaube nicht, dass Gershwin gemeint hat, wir wären etwas Besonderes«, entgegnete ich, »sondern dass man irgendwie davon ausgeht, alles würde immer so weiterlaufen. Dass sich im Grunde nichts ändert, obwohl man es besser weiß. Das ist einfach die menschliche Natur.« Ich verlor das Vertrauen in meine große Rede. »Findest du nicht auch, Gershwin?« Gershwin zuckte nur die Schultern und sagte: »Kommt, wir gehen in den Pub.« Und das machten wir dann. Wir legten die Blumen aufs Grab, gingen zurück zum Auto und fuhren ins Kings Arms, wo wir eine Trauerfeier improvisierten.
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44 »Meine Lieblingsgeschichte von Elliot?«, wiederholte Gershwin Ginnys Frage. »Da muss ich erst mal überlegen.« Wir saßen im Kings Arms am selben Tisch wie bei Gershwins Geburtstag - wahrscheinlich sogar jeder auf demselben Platz und hatten seit zwei Stunden getrunken und über alles Mögliche geredet, als Ginny plötzlich diese Frage stellte. »Jetzt weiß ich's«, sagte Gershwin. »Einmal sind wir beide die Kings's Heath Street entlanggegangen, als ein riesiger Junge von einer anderen Schule ihn absichtlich anrempelte. Elliot ignorierte ihn einfach. Der Knabe schubste ihn noch mal von hinten und sagte irgendwas Schuljungenhaftes wie: ›Willst du nicht kämpfen?‹, aber Elliot hat nur zu ihm hochgesehen und gefragt: ›Warum?‹, als wolle er die Antwort wirklich wissen. Das war einfach genial, denn der andere geriet völlig aus dem Konzept. Er wollte seinen Kumpels ja nur zeigen, wie cool er ist, und Elliot fragte einfach, warum er auf Gewalt aus war. Er hat dann trotzdem eins auf die Backe gekriegt, aber der Moment, als der Knabe dämlich aus der Wäsche geguckt hat, weil Elliot nicht erwartungsgemäß reagiert hatte, war einfach herrlich.« »Okay«, sagte Ginny. »Jetzt bin ich dran. Es ist eigentlich keine Story, sondern mein Lieblingslook von ihm. Erinnert ihr euch noch an den dunklen Nadelstreifenanzug, den er secondhand bei Oxfam gekauft und darauf bestanden hatte, ihn auf meinem achtzehnten Geburtstag zu tragen?« »Richtig«, bestätigte Gershwin. »Dazu hat er immer Turnschuhe angehabt. Er fand sich echt cool, und wir fanden, dass er echt bekloppt darin aussah.« Dann kam ich dran. »Elliot und ich saßen zusammen im Chemieunterricht, wir waren dreizehn oder vierzehn, als Philip -173-
Jones wieder einmal ganz er selbst war und die Schulranzen durch die Gegend kickte und dabei auch Elliots erwischte.« »Daran erinnere ich mich auch«, sagte Gershwin. »Also Elliot hatte die Nase davon voll, zog ein Fünfzigpencestück aus der Tasche, legte es auf den Tisch, nahm es mit einer Zange hoch und erhitzte es über dem Bunsenbrenner, bis es glühte. Dann warf er es auf den Boden neben Philip Jones' Bank und tat, als wäre ihm Geld aus der Tasche gefallen. Jones, bescheuert wie er war, schrie: ›Das gehört mir‹, stieß Elliot beiseite und hob es auf. Der Geruch nach verbrannter Haut hing noch tagelang in der Luft. Er war eine Woche nicht in der Schule, und als er wiederkam, hat er Elliot windelweich geprügelt.« »Elliot und ich hatten uns mal Gremlins II auf Video ausgeliehen«, erzählte Gershwin, »und hielten es beide für das Beste, was wir je gesehen hatten. Tagelang haben wir uns im Unterricht Zitate daraus vorgeflüstert und uns vor Lachen geschüttelt.« »Erinnert ihr euch noch, als wir alle zusammen im Wohnwagen meiner Mutter in Wales ein Wochenende verbracht haben?«, fragte Ginny. »Mitten in der ersten Nacht seid ihr beide in den Wald marschiert, um euch selbst mal ordentlich Angst zu machen. Elliot wollte nicht mit, weil es ihm zu kalt war, und ich auch nicht, weil ich Angst hatte, dass meine Mum von eurer Anwesenheit im Wohnwagen erfährt. Bis dahin hatten Elliot und ich nie besonders viel miteinander geredet, aber nachdem jeder von uns eine halbe Flasche Thunderbird intus hatte, änderte sich das. Wir sprachen übers Leben und was wir so alles vorhatten. Ich hab ihm erzählt, dass ich viel reisen und mich dann in Australien mit einem Mel-Gibson-Doppelgänger namens Brad niederlassen wollte. Er wollte dagegen der Boss eines internationalen Unternehmens werden, und ich meinte, dass das echt langweilig klänge, worauf er schwieg und wirklich gekränkt war. Und dann sagte er, wenn das mit dem -174-
internationalen Unternehmen nicht klappte, wollte er Tragflächen-Läufer werden.« »Was?«, fragte ich. »Einer, der sich bei Luftfahrtshows auf die Tragfläche eines Doppeldeckers schnallt. Er erzählte, als Kind hätte er mal so was gesehen und echt toll gefunden. Ich sah ihn an und er sah mich an, und dann fing er an zu lachen und sagte, er wollte weder Boss eines internationalen Unternehmens noch Tragflächen-Läufer werden. Er sagte, und ich zitiere: ›Um ehrlich zu sein, Gin, wäre ich glücklich, wenn ich immer ich selbst bleiben könnte.‹«
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45 Kurz vor drei Uhr nachmittags beschlossen wir, das gemütliche Beisammensein im Kings Arms zu beenden und aufzubrechen. »Ich rufe dich im Laufe der Woche an«, sagte Gershwin draußen vor dem Eingang auf dem Bürgersteig zu mir. Er wandte sich Ginny zu: »Und wir sehen uns… irgendwann, vermutlich.« Ginny lächelte etwas verlegen und umarmte ihn. »Pass auf dich auf«, sagte sie und drückte ihn fest. »Du auch«, erwiderte er und gab ihr einen KUSS auf die Wange. Er winkte mir kurz zu und machte sich auf in Richtung Hauptstraße, ließ Ginny und mich allein zurück. Wir standen ewig einfach nur in Gedanken versunken da, bis es anfing zu regnen und Ginny fragte: »Und was hast du jetzt vor?« »Nichts. Und du? Triffst du dich mit Ian?« Sie sah mich ausdruckslos an. »Nein. Ich habe auch nichts vor.« »Wie war's wenn wir zusammen nichts machen?«, fragte ich vorsichtig. Obwohl wir in einer düsteren Stimmung waren, wollte ich sicher sein, dass sie es nicht als Anmache auffasste. »Ja«, sagte sie und nickte, quasi als Bestätigung, dass es hier um Freundschaft ging und sonst nichts. Sie fasste mich sogar am Arm, was sie nie getan hätte, wenn etwas anderes im Spiel gewesen wäre. »Matt, das scheint mir im Moment die beste Idee überhaupt.« Aus dem Nichtstun wurde dann doch nichts, denn Ginny fiel ein, dass sie seit Wochen nicht mehr richtig Einkaufen war, weil -176-
sie die ganze Zeit Stress in der Schule gehabt hatte. Jetzt war die einzige Gelegenheit, die Vorräte wieder aufzustocken, denn Safeways schloss erst in einer Stunde. Als sie dann den Einkaufswagen durch die Gänge schob, musste ich an Elaine denken. Beide hatten den gleichen ineffizienten Einkaufsstil, gingen zum Beispiel dreimal den gleichen Gang hoch und runter, besorgten tiefgekühlte Ware am Anfang anstatt am Ende und kauften Dinge wegen ihres Aussehens. (In diesem Fall eine Flasche Rosenwasser, wegen des Namens, wie Ginny erklärte, und ein Päckchen silberne Liebesperlen zum Verzieren von Kuchen, obwohl sie nie Kuchen backte.) Natürlich trafen wir in den zweiundvierzig Minuten unserer Einkaufsaktion unweigerlich zwei ehemalige Klassenkameraden: David Kimbel (damals der kleinste Junge unseres Jahrgangs; heute zweifellos der kleinste Lastwagenfahrer im ganzen Land) und Elizabeth Cowan (damals litt sie unsäglich an Reisekrankheit; heute ist sie Stewardess bei Aer Lingus). Beide waren überrascht, Ginny und mich nach so langer Zeit zusammen zu sehen, und zogen natürlich prompt die falschen Schlüsse. Wir versuchten dann so ungeschickt, die Sache richtig zu stellen, dass es schien, als wollten wir nach all den Jahren noch immer unsere Liaison verleugnen. Schließlich kamen wir beladen mit Einkaufstüten zurück in Ginnys Apartment, wo sie den Unterricht für den nächsten Tag vorbereiten musste und ich Pasta machte. Danach öffneten wir eine Flasche Wein, setzten uns auf die Stufe der Hintertür mit Blick in den Garten, tranken und redeten. Wir sprachen über die alten Zeiten, was wir damals für Lebenspläne hatten und was daraus geworden war. Schließlich unterhielten wir uns über Elliots Tod und was für Gefühle er bei uns ausgelöst hatte. Es war ein ehrliches, offenes Gespräch, wie es nur unter alten Freunden und ehemaligen Lovern möglich war: Wir hatten eine lange, gemeinsame Geschichte, die so weit zurückreichte, dass sie keinen Anfang zu haben schien, sondern -177-
einfach existierte. Unsere Stimmung besserte sich zunehmend, wurde sehr persönlich und nachdenklich. Und obwohl dies diverse Möglichkeiten eröffnete, war klar, dass nichts passieren würde, denn etwas hatte sich grundsätzlich geändert: Jetzt hatte alles Folgen, und wir beide wussten das. Ich sah Ginny an und lächelte. »Es ist schon komisch, was?« Auch sie verzog den Mund zu einem Lächeln. »Wir zwei, im alten Haus deiner Mum, zusammen auf der Treppe. Wie oft haben wir früher schon hier gesessen?« »Wer weiß«, sagte Ginny. Sie stellte ihr Weinglas auf den Boden neben ihre Füße und blickte zum hinteren Ende des Gartens. »Meine Mum fehlt mir«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. »Natürlich«, sagte ich. »Das ist doch ganz normal.« »Ja, ich weiß. Es ist nur, dass ich nicht einmal weiß, ob ›fehlen‹ das richtige Wort ist, Matt. Ich habe das Gefühl, dass mir ohne sie was fehlt. Als gäbe es einen Teil von mir nicht mehr.« Sie nahm ihr Glas wieder in die Hand. »Manchmal versuche ich, mit ihr zu sprechen. Ich weiß, es ist nur in meinem Kopf, aber es ist besser als nichts. Ich stelle mir vor, wie wir zusammen am Küchentisch sitzen und ich ihr von meinem Leben erzähle - von der Schule, von Ian, was ich über die Welt so denke, und sie hört zu. Allein die Vorstellung, dass sie zuhört, tut mir gut. Komisch, nicht wahr? Dass es einem schon gut tut, wenn jemand nur zuhört. Mum war eine wirklich gute Zuhörerin. Was immer ich auch gefaselt habe, sie gab mir das Gefühl, es sei ungeheuer wichtig. Doch jetzt ist sie tot, und anscheinend ist alles Gute, was sie in meinem Leben bewirkt hat, mit ihr gestorben.« Sie seufzte. »Pardon«, sagte sie und sah mich an. »Ich will dich nicht wirklich runterziehen.« »Das tust du auch nicht«, sagte ich. »Kein bisschen. Ich bin froh, dass du mit mir darüber reden kannst.« Ginny lächelte. »Natürlich kann ich das.« Sie blickte mich -178-
neugierig an. »Ich kann sehen, dass dir eine Frage auf der Zunge brennt. Also, schieß los.« Ich lachte. »Stimmt. Aber eigentlich ist es weniger eine ‹ Frage… Es ist nur, dass ich bis zu dieser Woche niemanden gekannt habe - jedenfalls nicht gut -, der gestorben ist. Meine Großeltern starben, als ich noch ganz klein war, und das ist schon alles, außer vielleicht irgendwelchen entfernten Verwandten. Als ich dich damals im Kings Arms sah, am ersten Abend, und du mir erzählt hast, dass deine Mutter tot ist, hatte ich keine Vorstellung davon, was du durchgemacht hast.« »Ich weiß, was du meinst. Bevor Mum krank wurde, wusste ich auch nicht, was das eigentlich heißt. Mein ganzes Leben lang gab es immer nur sie und mich. Meinen Dad kannte ich nicht und wollte ihn auch nicht kennen lernen. Es waren immer nur wir beide gegen den Rest der Welt, und das würde sich bestimmt nie ändern - wie auch? Für mich war Mum unzerstörbar, sie würde immer da sein - wir würden bis in alle Ewigkeit zusammen sein. Als sie mir dann sagte, sie sei krank, war das ein Riesenschock. Im Alter von achtundzwanzig musste ich lernen, dass Mum doch nicht unzerstörbar war, dass wir beide nicht für alle Zeiten zusammen sein konnten…« Ginnys Stimme versagte. »Du musst nicht darüber reden«, sagte ich. »Ich will nicht, dass du dich aufregst.« »Es ist in Ordnung, Matt«, sagte Ginny und holte tief Luft. Dann lächelte sie. »Du solltest keine Angst kriegen, wenn sich jemand aufregt. Das ist ganz normal. Du kannst nicht immer weglaufen oder nichts tun, nur weil es dich selbst so mitnimmt.« Sie lachte. »Du hast es immer gehasst, wenn ich dir die Ohren voll geheult habe, stimmt's?« »Nur ein bisschen«, sagte ich leise. »Nur weil ich nicht wusste, wie ich dir helfen kann.« »Genau darum geht es«, entgegnete sie. »Manchmal will man -179-
gar keine Hilfe. Manchmal will man einfach nur jemanden haben, mit dem man den Kummer teilen kann.« »Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, wenn meine Mutter oder mein Vater stürbe«, meinte ich. »Ich jammere zwar immer, dass sie mich nerven und die reinste Plage sind, aber wenn sie nicht mehr da wären, würde ich sie fürchterlich vermissen.« »Das solltest du ihnen mal sagen«, erwiderte Ginny. »Das war das einzige Gute an der Krankheit meiner Mutter, dass ich Zeit hatte, ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Und als es dann so weit war, wusste sie ganz sicher, wie viel sie mir bedeutete.« »Ich hab schon selbst daran gedacht«, begann ich. »Auch wenn du es nicht glaubst, aber es ist wahr. Ich habe mir vorgestellt, meinen Eltern zu sagen, wie sehr ich sie liebe, und bin zu dem Schluss gekommen… also ich glaube nicht, dass sie es verstehen würden. Es ist wirklich toll, dass du so eine Beziehung zu deiner Mum hattest, aber meine Eltern können nicht mit Emotionen umgehen. Natürlich lieben wir uns alle und so, aber es auch ausdrücken? Ich weiß nicht… ich glaube, wir halten es für sicherer, gewisse Dinge nicht auszusprechen. Wenn man das wirklich so empfindet, ist es gut, aber wenn nicht, dann…« Ginny lächelte. »Ich verstehe dich. Diese Art von Kommunikation kann man nicht erzwingen. Außerdem waren meine Mum und ich immer nur allein, was uns wahrscheinlich viel enger zusammengeschweißt hat als die meisten Mütter und Töchter.« »Manchmal denke ich, dass ich seit meiner Kindheit keine richtige Unterhaltung mehr mit meinem Dad geführt habe. Zumindest erinnere ich mich, dass ich als Kind immer reden wollte, und wenn er nicht gerade im Büro war oder im Garten rumgewerkelt hat, dann haben wir auch geredet. Aber hauptsächlich erinnere ich mich an sein freundliches Schweigen, -180-
wenn er mit großen Schritten vorauseilte und ich verzweifelt versuchte, mit ihm mitzuhalten. Obwohl es mich immer ganz fertig machte, konnte ich ihm ansehen, dass er meine Anstrengung zu schätzen wusste.« »Dein Dad liebt dich, das weißt du«, sagte Ginny. Ich nickte. »Und deine Mum auch«, fügte sie hinzu. Ich nickte wieder. »Du versuchst zu verstehen, warum ich dir das alles erzähle.« Ich nickte erneut. »Aus einem einzigen Grund: Selbst wenn man sich noch so sicher ist, geliebt zu werden, tut es immer gut, es auch zu hören.« Wir schwiegen eine Weile und genossen das Gefühl, eng nebeneinander auf der Türschwelle zu sitzen. Und zum ersten Mal fragte ich mich, wie es wohl wäre, Ginny wieder zu küssen. Ich dachte an Elliot und konnte noch immer nicht ganz verstehen, was sein Tod für mich bedeutete. Und schließlich dachte ich an Mum und Dad und versuchte mir ein Leben ohne sie vorzustellen. Vieles, was Ginny gesagt hatte, ergab einen Sinn. Es war beruhigend, sich vorzustellen, dass die Eltern zum Leben gehörten und sich das nie ändern würde. Doch vielleicht sollte ich die Welt lieber sehen, wie sie ist, und nicht, wie ich sie haben wollte. Aber so sehr ich mich bemühte, mir ein Leben ohne sie vorzustellen, so sehr ich versuchte, mir das Loch vorzustellen, das der Tod meiner Eltern hinterlassen würde, es gelang mir nicht. Um zehn nach acht verkündete ich Ginny, dass es Zeit für mich war, nach Hause zu gehen. Ich half ihr noch schnell, das Chaos, das ich beim Kochen hinterlassen hatte, aufzuräumen, ging in den Flur und holte mein Jackett. »Also dann«, sagte ich und öffnete die Eingangstür. »Ich mache mich auf die Socken.« »Okay«, sagte Ginny. Sie trat auf mich zu und küsste mich auf die Wange. »Danke für den schönen Tag, Matt. Es war zwar -181-
ein merkwürdiger Grund, der uns heute wieder zusammengebracht hat, aber trotzdem hat es mir gefallen.« Ich lächelte, trat hinaus und ging den kurzen Pfad entlang zum Gartentor. Dort blieb ich stehen, drehte mich um und ging zu Ginny zurück. »Ich habe gehofft, dass du zurückkommst«, sagte sie. »Und warum hast du dann nichts gesagt?«, fragte ich. »Unsicherheit, Angst, ein Anflug von Selbsthass - was einen gewöhnlich so überkommt. Bei unserem letzten Abschied hab ich das auch gefühlt. Ich wollte etwas sagen, aber du kennst das ja - man hat Angst, sich lächerlich zu machen. Soll ich es jetzt trotzdem sagen und es dir ersparen?« Ich lachte. »Matt, ich würde mich unheimlichen freuen, wenn wir, solange du noch hier bist, unsere Freundschaft wieder pflegen würden. Du kannst mich jederzeit anrufen, um mit mir einen trinken zu gehen, um zu jammern oder einfach nur, um mit mir zusammen zu sein.« »Natürlich würde ich mich freuen, wenn wir wieder Freunde sein können.« »Ich sage das nicht nur so, Matt«, erwiderte Ginny ernst. »Ich meine es wirklich. Richtige Freunde. Und nicht nur du, auch Gershwin.« Sie schlang die Arme um mich und drückte mich. »Wir hätten es besser wissen müssen, als unsere Freundschaft einfach im Sand verlaufen zu lassen.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Wir hätten es besser wissen müssen.«
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[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Wie geht es dir? Lieber Matt, ich wollte nur kurz nachfragen, wie es dir geht. Ich habe mir richtig Sorgen um dich gemacht seit der schlimmen Nachricht. Ich weiß, ich soll mir keine Sorgen machen, aber ich kann nun mal nicht anders. Ich will einfach wissen, ob du okay bist. Die Neuigkeiten auf dieser Seite des Ozeans sind ziemlich banal. Die Arbeit ist ein bisschen lästig (aber wann ist sie das nicht?), Sara schläft noch immer auf dem Höllensofa (übrigens hat sie noch nicht gesagt, wie unbequem es ist, also ist sie entweder sehr höflich oder hat ein Rückgrat aus Stahl) und meine Eltern wollen mich besuchen kommen. Ich habe ihnen von unserer Trennung erzählt, und Dad war glücklich wie der Gewinner in einer Gameshow. Hab ich dir je den Grund gesagt, warum Dad dich nicht mag? Weil du Engländer bist. Dad hat Engländer noch nie gemocht. Er sagt zum Beispiel, und ich zitiere: »Die benehmen sich alle, als hätte ihnen jemand einen Fahnenmast in den Hintern geschoben.« Aber in Wahrheit konnte er noch keinen meiner Freunde leiden. Das können Väter wahrscheinlich am besten - die Lover ihrer Töchter hassen. Jetzt muss ich Schluss machen und ein bisschen arbeiten (oder zumindest so tun als ob). Nimm's leicht. Ewig deine Elaine :-) An:
[email protected] -183-
Von:
[email protected] Betreff: Ich Liebe Elaine, ich bin froh, dass es dir gut geht, daß das Höllensofa Sara noch nicht zum Krüppel gemacht hat und dass dein Vater mich immer noch hasst. Abgesehen davon auch danke für die anderen Mitteilungen in der Mail und für deinen Anruf. Mir geht es wirklich gut. Ehrlich. Gershwin, Ginny und ich haben heute Elliots Grab besucht, was bloß komisch war und kein bisschen tröstend. Ich hab keine Ahnung, was wir uns davon erhofft hatten. Es ist schon merkwürdig, dass man in Krisensituationen nicht weiß, wie man sich verhalten soll, und es dann fast natürlich erscheint, sich wie in einem Fernsehdrama zu benehmen. Glücklicherweise haben wir es ziemlich schnell gemerkt und sind in einen Pub gegangen. Ich habe das Gefühl, als wäre heute ein Wendepunkt eingetreten und wir drei von nun an wieder richtige Freunde sind; das macht mich glücklich. Also, nimm auch du das Leben nicht so schwer und lass dich von deinen Eltern nicht so stressen, wenn sie zu Besuch kommen. Alles Liebe, Matt :-)
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47 Wie versprochen, blieben Ginny und ich in Kontakt. Es begann mit gelegentlichen späten Drinks im Kings Arms, wobei Gershwin so oft er konnte mitkam, entwickelte sich zu Kinound Restaurantbesuchen mitten in der Woche und erreichte dann den Punkt, an dem eine Freundschaft etwas Besonderes wird: Man besucht sich zu Hause, einfach nur, weil man Lust auf Gesellschaft hat, einen Kaffee oder auch mal eine Zigarette. Manchmal kam Ian mit, manchmal auch Zoe, aber meistens waren wir zu dritt. Und - das gebe ich schweren Herzens zu es war wie in alten Zeiten. Am Dienstag, fast drei Wochen nach dem Aufleben unserer Freundschaft, verbrachten wir wieder einen geselligen Abend im Kings Arms (genau genommen jammerte ich über das Zusammenleben mit meinen Eltern, Ginny jammerte über die Arbeit und Gershwin jammerte über das Leben und die Arbeit), als der Beginn der jeden Dienstag stattfindenden Quiznacht »Rock Around the Pop« verkündet wurde. Wir waren schon letzte Woche hier gewesen und hatten einen Riesenspaß gehabt. Diese »Great-British-Pub-Pop-Quiz«-Veranstaltungen haben etwas wunderbar Tröstliches. Es tat gut zu erfahren, dass es einmal im Leben nützlich war, das Jahr des Vertragsabschlusses der Sex Pistols mit EMI zu kennen oder die Namen aller fünf Mitglieder von Musical Youth; es war herrlich, Ginnys und Gershwins Ehrfurcht zu ernten, als ich bei der Runde »Wielautetder-Textvon…« nicht nur eine Zeile, sondern den ganzen Text von Wham!'s »Club Tropicana« aufsagen konnte. Es hat uns ungeheuer verbunden. Meine Spezialität waren die Hits der achtziger Jahre, Ginny wusste fast alles über die aktuellen Charts und Gershwin praktisch den Rest. Wir waren wie ein gut geölter Popmusik-Trivialitäten-Automat. -185-
Mitten im Quiz, als Gershwin und ich über Ginny gebeugt zusahen, wie sie als unsere Schriftführerin die Antwort aufschrieb, tauchte unerwartet Ian auf. Plötzlich hatte ich Schuldgefühle. Seit ich mit ihr auf der Türschwelle ihres Hauses gesessen und erwogen hatte, sie zu küssen, war es zusehends schwerer geworden, nicht »in diese Richtung« zu denken. Ich war enttäuscht von mir selbst, denn mit fast dreißig hatte ich erwartet, meine »dunkle« Seite besser unter Kontrolle zu haben; die Vorstellung, auf die Freundin eines anderen Mannes scharf zu sein, deprimierte mich. Außerdem fand ich es gut, dass Ginny und ich nach all dieser Zeit einfach nur Freunde sein konnten und nicht übereinander herfallen mussten. Ein fast dreißigjähriger Mann sollte zu einer platonischen Freundschaft mit seiner Exfreundin fähig sein. Leider half es mir auch nicht, dass allein ich mit der Versuchung zu kämpfen hatte. Ginny war zwar sehr herzlich mir gegenüber, hatte aber ansonsten nicht erkennen lassen, dass sie mehr wollte. Warum auch? Im Gegensatz zu mir hatte Ginny alles, was man als Dreißigjährige haben sollte: einen guten Job, ein Zuhause und eine Beziehung mit Zukunft. »Hallo«, sagte Ginny und stand auf, um ihrem Freund einen Kuss zu geben. »Was für eine nette Überraschung.« »Tja«, sagte er und gab ihr ebenfalls einen Kuss. Dann sah er mich und Gershwin an. »Ist alles in Ordnung, Jungs?« »Welchem Umstand habe ich dieses Vergnügen zu verdanken?«, fragte Ginny und zog einen Stuhl für Ian heran. »Schlechten Nachrichten, fürchte ich«, erwiderte er und setzte sich. Ginny ließ ein paar missbilligende Töne verlauten. Es war komisch, sie in dieser typischen Freundin-Manier zu erleben. Da in unserer Beziehung der Freundschaftsaspekt immer stärker gewesen war als der des gelegentlichen Lovers, war ich nie in die Verlegenheit gekommen, mir so etwas anhören zu -186-
müssen. Angesichts ihres grimmigen Gesichtsausdrucks war klar, dass sie gut darin war. »Ich gehe zur Bar«, sagte Gershwin, nachdem wir uns mit einem schuljungenhaften Grinsen zu verstehen gegeben hatten, dass keiner von uns beiden in Ians Schuhen stecken wollte. »Kann ich dir einen Drink mitbringen, Ian?«, fragte er beim Aufstehen. »Nein danke«, erwiderte Ian. »Ich kann leider nicht lange bleiben, hab zu viel zu tun.« »Na, klasse«, meinte Ginny verärgert. »Tut mir echt Leid, Baby«, sagte Ian. »Ich mach's bald wieder gut.« »Du hast mir noch nicht einmal gesagt, was die schlechte Nachricht ist«, erwiderte Ginny. »Äh…«, unterbrach Gershwin verlegen. »Für dich noch mal das Gleiche, Ginny?« »Nein, danke. Einen doppelten Wodka mit Tonic, wenn's recht ist.« Sie hatte den ganzen Abend an einem Glas Cidre genippt. »Kein Problem«, erwiderte Gershwin und verschwand rasch. Ich erhob mich, brabbelte: »Ich helfe dem alten Knaben wohl besser beim Tragen« in Ginnys Richtung, nickte Ian kurz zu und verschwand ebenfalls. »Was da wohl los ist?«, fragte ich Gershwin, als wir beide an der rettenden Bar standen. »Keine Ahnung, aber es sieht ziemlich nach Ärger aus.« Als wir dann schließlich zurück zum Tisch kamen, war Ian schon gegangen und Ginny so sauer, als ob ihr Freund ihr ein großes Unrecht angetan hätte. »Wo ist Ian?«, fragte ich. »Er kann doch nicht schon wieder weg sein.« -187-
»Doch, ist das okay?« »Beziehungskrise?«, fragte Gershwin. »Kann man so sagen«, erwiderte Ginny knapp. »Meine College-Freundin Adele gibt jedes Jahr eine Geburtstagsparty in ihrer Wohnung in Belsize Park. Das ist immer total lustig, und alle aus der Collegezeit kommen zusammen.« »Und?«, fragte ich. »Und«, wiederholte Ginny und warf mir einen bösen Blick zu, »ich gehe jedes Jahr hin, um alle wieder zu sehen, und jedes Mal fühle ich mich total beschissen, weil alle anderen es geschafft haben. Adele arbeitet in einer Kunstgalerie und hat einen halbseidenen, stinkreichen Fatzke zum Freund. Ihre allerbeste Freundin Liz ist Artdirector in einer piekfeinen Werbeagentur in Soho, und ihr Freund ist Fernsehmoderator und fährt einen dicken schwarzen Sportwagen…« »Ferrari oder Porsche?«, fragte Gershwin unklugerweise. »Ist doch egal, oder?«, fuhr Ginny ihn an. Sie atmete tief durch. »Entschuldige, Gershwin. Wo war ich stehen geblieben? Oh, ja, und dann ist da noch Adeles zweitbeste Freundin, Penny. Sie ist mit einem Banker verheiratet, hat zwei tolle Kinder, ein Haus in West London und ein Cottage in Cornwall, und weil das noch nicht reicht, hat sie letztes Jahr ihre Gemälde in der Serpentine-Galerie ausgestellt. Und dann gibt's noch mich.« »Magst du diese Leute denn?«, fragte ich. »Kein bisschen! Ich konnte sie auf der Uni schon nicht leiden.« »Und warum gehst du dann hin?« »Weil ich mich sonst geschlagen geben müsste. Sie sind alle so verdammt gönnerhaft. Es heißt immer nur: ›Oh, die arme Ginny!‹, und ich würde ihnen ihr Mitleid am liebsten in den… schieben.« »Aber, aber«, unterbrach Gershwin im Ton eines Pfarrers. -188-
»Das würde sicher nichts nützen.« »Dieses Jahr sollte alles anders werden. Erstens wollte ich allen sagen, was ich wirklich von ihnen halte, und zweitens wollte ich mit meinem gut aussehenden Freund angeben. Ich habe ihn schon vor Ewigkeiten gefragt, ob er mitkommt, und er hat's versprochen, aber jetzt kommt er mit irgendwelchen Ausreden, und ich kann wieder alleine hingehen.« »Also wenn Ian arbeiten muss, kann man nichts machen«, sagte ich, ganz die Stimme der Vernunft. Ginny hatte keine Lust, vernünftig zu sein, und starrte mich an. »Es ist nur eine Idee«, begann Gershwin, »aber wir könnten dich doch begleiten. Sozusagen als deine Abendeskorte. Matt könnte tun, als wäre er ein megaberühmter Musikproduzent und mit Namen von Superstars um sich werfen.« Ich unterbrach ihn. »Und Gershwin könnte einen Flugzeugpiloten mimen.« Ginny versuchte ein Grinsen, versagte aber kläglich. »Ich fand Piloten schon immer ausgesprochen interessant. Die sind ziemlich sexy, oder?« »Genau«, bestätigte Gershwin. »Ich wollte schon immer sexy sein und ein Flugzeug fliegen. Ich könnte behaupten, ich wäre extra von Singapur gekommen, um mit dir auf die Party zu gehen.« »Und was soll ich sein?«, fragte Ginny, allmählich in Stimmung für Fantasieberufe. »Ich bin doch nur Lehrerin.« »Das ist doch gerade das Schöne am Lügen«, erwiderte ich wohlwollend. »Du bist einfach du selbst. Gershwin und ich sind zwei Freier, die du im Urlaub auf Barbados kennen gelernt hast und die um deine Liebe buhlen. Es wird herrlich. Adele und ihre schicken Freundinnen werden total neidisch sein, dass du dir zwei so gut aussehende Junggesellen geangelt hast, und vor -189-
Eifersucht ersticken.« Ginny kicherte, legte den linken Arm um mich und den rechten um Gershwin. »Danke, Jungs, es ist gut gemeint, aber lieber nicht. Ich muss schon ich selbst sein, wenn's funktionieren soll. Allerdings fände ich es schön, wenn ihr mitkämt, aber nur als die, die ihr wirklich seid. Ich werde Adele ein letztes Mal die Genugtuung bereiten, mich vor ihren schicken Freunden demütigen zu können; dann gehe ich ins Bad, weine eine Runde, reiße mich zusammen und verabschiede mich auf Nimmerwiedersehen. Was haltet ihr davon? Am Wochenende, macht ihr mit?« »Einer für alle, alle für einen,«, sagte Gershwin munter. »Ich komme so sicher wie der nächste Sonnenschein«, tönte ich, bereits in Partylaune. »Also abgemacht«, sagte Ginny, hielt ihren unangetasteten Wodka in Augenhöhe, als wollte sie ihn in einem Zug trinken. »London, wir kommen.«
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[email protected] Betreff: Neuanfänge Lieber Matt, ich muss dir etwas beichten. Sara und ich sind am Freitag nach der Arbeit wieder ausgegangen, wir haben den ganzen Abend nur getrunken und gelacht, es hat total gut getan. Um es kurz zu machen, ich habe jemanden kennen gelernt. Das Unvermeidliche ist passiert. Ich werde ihn nicht wieder sehen. Alles Liebe, Elaine :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Wo bist du? Matt, jetzt sind schon anderthalb Tage vergangen, seit meiner großen Neuigkeit. Wo bist du? Schreib mir eine Mail, damit ich mir keine Sorgen machen muss, dass du deswegen sauer bist. Elaine :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Wo bist du 2 Matt, wenn du mir wegen meinem Geständnis nicht zurückmailst, dann… dann bist du nicht der Mann, für den ich -191-
dich gehalten habe. Elaine :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Warum ich von Männern die Nase voll habe Lies… meine… Mail… ZUSAMMEN, ARSCHLOCH! Alles Liebe, Elaine :-)
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genau…
REISS
DICH
49 Am frühen Samstagmorgen trafen wir in London ein. Ein paar Tage lang war es unsicher gewesen, ob Gershwin mitkommen konnte, weil die Party mit dem lange geplanten Wochenendbesuch bei Zoes Eltern zusammenfiel. Dann hatte er sich jedoch auf einen Deal mit Zoe geeinigt und versprochen, seine zwanzig Prozent Mithilfe im Haushalt auf die goldenen fünfzig Prozent der perfekten Ehe aufzustocken; außerdem gelobte er, dass sie beide ganz allein für ein Wochenende »an einen wunderschönen Ort« fahren würden. Für mich hingegen war die Party zum Mittelpunkt meines Lebens geworden. Die Aussicht, einmal etwas anderes mit anderen Menschen in einer anderen Umgebung zu tun, fand ich ausgesprochen reizvoll. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil ich den Großteil der Woche meinem Dad beim Ausräumen der Garage geholfen und für meine Mutter im Supermarkt eingekauft hatte und ansonsten mit Elaines Eröffnung umzugehen versuchte, dass sie den nächsten Schritt vollzogen und einen anderen Mann kennen gelernt hatte. Sie hatte Recht. Je länger wir damit warteten, desto schlimmer wurde es. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn ich diesen Schritt zuerst gemacht hätte (vielleicht mit Ginny?), aber so war es nun einmal nicht. Deshalb hatte ich auch nicht gleich auf ihre E-Mail geantwortet. Ich wollte nichts Dummes sagen, das ich später bereuen würde. Als Erstes checkten wir im Hotel ein, das Rembrandt Court nahe der Oxford Street. Ginnys Freundin Adele hatte zwar angeboten, wir könnten bei ihr auf dem Sofa schlafen, aber die Erinnerung an mein Höllensofa in New York hatte mich zu dem Vorschlag bewogen, lieber in ein Hotel zu gehen. Da Ginny jedoch ihr schwer verdientes Geld nicht so leichtsinnig verprassen wollte, einigten wir uns schließlich darauf, dass -193-
Gershwin und ich ein Doppelzimmer buchten und sie auf dem Sofa schlafen konnte, wenn es eins gab. »Ihr macht Witze«, hatte Ginny gesagt, als wir ihr unseren Vorschlag unterbreiteten. »Keineswegs«, logen wir unisono. Wir hatten die Reisetaschen noch nicht ausgepackt, als wir bereits die Minibar überfielen und absurd überteuerte Erdnüsse aßen und dazu absurd überteuerten Sprudel tranken. Dann machten wir uns auf die Socken, fest entschlossen, die nächsten Stunden wie Touristen zu verbringen. Obwohl ich nach dem Studium ganze fünf Jahre in London gewohnt hatte, war ich nie auf eine Touritour gegangen, weshalb sie jetzt fällig war. Wir begannen mit einem Spaziergang die South Bank der Themse entlang, wo wir in eine Schar skateboardender Jugendlicher gerieten und Gershwin einem der Jungs ein Pfund gab, damit er ihn eine Runde auf seinem Skateboard drehen ließ. Danach besuchten wir die National Portrait Gallery, wo Ginny eine Postkarte von Audrey Hepburn kaufte - für Ian, der jetzt wieder ganz gute Karten hatte. Weiter ging's zum Trafalgar Square, wo wir ein Eis aßen und Ginny mit einem Obdachlosen diskutierte, der behauptete, es gebe eine staatliche Verschwörung zum Diebstahl von Tauben. Zum Schluss landeten wir in einer Bar nahe der Carnaby Street, in die ich seinerzeit immer nach Büroschluss gegangen war. Dort saßen wir stundenlang, tranken Wodka und blätterten die Wochenendzeitungen durch, lachten über schnieke Studenten in ihren Zwanzigern mit bescheuerten Haarschnitten und lächerlichem Schuhwerk. Am frühen Abend kamen wir schließlich zurück ins Hotel, wo wir uns ohne große Diskussion betrunken und erschossen auf die Betten fallen ließen und wie Vierjährige schliefen. Um acht Uhr wachten wir auf, duschten und machten uns fertig für Adeles Party. Um Viertel vor neun waren wir abmarschbereit. -194-
Wir hatten die Hotellobby bereits erreicht, als Ginny plötzlich stehen blieb. »Wisst ihr was? Ich habe eigentlich keine Lust, den ganzen Weg bis nach Belsize Park für eine Party auf mich zu nehmen, die ich ganz bestimmt hassen werde, nur um ein paar Leute zu brüskieren, die ich sowieso nicht leiden kann.« »Ich bin ja so froh, dass du das sagst«, erwiderte Gershwin, »weil ich nämlich auch finde, wir sollten hier bleiben. Ich bin immer noch total betrunken und so müde, dass ich kaum die Augen aufhalten kann… und das Bett da oben war himmlisch. Können wir diese Adele nicht einfach anrufen und am Telefon unverschämt sein?« »Gute Idee, Sir«, kommentierte ich, bereit, mit den anderen das Handtuch zu werfen. »Ihr habt beide Recht. Ich hatte im Stillen gehofft, auf der Party jemanden kennen zu lernen, um mich besser zu fühlen, weil meine Exfreundin jetzt nämlich auch mit anderen Männern ausgeht. Aber wisst ihr was? Das ist mir echt zu blöd. Lasst uns wieder hochgehen, wir bestellen was beim Zimmerservice, erledigen den unverschämten Anruf bei Adele und feiern unsere eigene Party.« Ich sah Gershwin an, Gershwin sah Ginny an und Ginny sah mich an. Dann brachen wir wie auf Kommando in schallendes Gelächter aus, machten eine Kehrtwendung und gingen zurück in unser Zimmer. Zwanzig Minuten später schliefen wir fest: Gershwin im Doppelbett, Ginny im Einzelbett und ich auf dem hoteleigenen Höllensofa.
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[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Der Mann in der Bar Liebe Elaine, danke für deine vielen seltsamen und leicht verrückten Mails. Zu deiner Information, ich habe nicht gleich zurückgeschrieben, weil ich nicht wusste, was ich sagen soll. Vermutlich gehören willkürlich abgeschleppte Bar-Typen zu dem Prozess, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu beginnen. Im Bauch, und der ist nicht unbeträchtlich, bin ich eifersüchtig, aber im Kopf weiß ich, dass das irgendwann passieren musste. Matt :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Ein alter Freund Matt, deine Mail hat mich daran erinnert, warum ich mich in dich verliebt hatte. Wer sonst würde so denken? Manchmal bist du so sensibel, dass ich glaube, du bist halb Frau. Nur zu deiner Information, abgesehen von dem »anderen« (wovon ich weiß, dass du nichts hören willst), war der abgeschleppte Bar-Typ ein miserabler Küsser. Erinnerst du dich noch daran, als wir kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten, auf dem Rückweg von Alexandra's in einen Platzregen gerieten und uns in einem Hauseingang so lange küssten, bis er aufgehört hatte? Das war eine glatte Elf auf der Skala von eins bis zehn. Der Typ war bestenfalls eine Zwei. Elaine :-) -196-
51 »Matthew!«, rief Mum die Treppe zu meinem Zimmer hoch. »Telefon für dich!« »Okay«, rief ich zurück. »Ich komme gleich. Wer ist es?« »Gershwin!« »Was will er denn?«, schrie ich. »Ich weiß es nicht«, schrie Mum. »Aber wenn du deinen Hintern nicht sofort hier runterbewegst, wirst du es nie herausfinden, weil ich dann nämlich auflege!« Es war der Montag nach unserem Londontrip, daher lag ich im Bett und erholte mich von den Nachwehen des Alkohols und des höllischen Hotelsofas. Abgesehen davon hatte ich wirklich vor, den Anruf entgegenzunehmen, und führte nur deshalb eine lautstarke Fernunterhaltung mit ihr, weil ich von früher wusste, dass sie dieser Konversationsstil mit ihrem Sprössling tierisch ärgerte. Auch wenn es undankbar und egoistisch erscheinen mag, so glaube ich, dass meine Mum genau das bekam, was sie verdiente. Das klingt hart, ist es aber nicht. Wir lieben unsere Eltern von ganzem Herzen, sie bringen uns in diese Welt, sie geben uns alles, was wir brauchen, und behandeln uns für gewöhnlich ziemlich gut. Aber gerade diese Menschen, die all diese wunderbaren Dinge für uns getan haben, wissen ganz genau, dass diese Fürsorge ihnen später Macht verleiht: Die Macht, ihren Kindern wie sonst niemand unter die Haut zu gehen; die Macht, jeden einzelnen Schwachpunkt zu finden, den wir vor der Welt verstecken möchten, und sie alle auf einmal zu treffen und zu erreichen, dass wir aus harmlosem Anlass schier ausflippen. Eltern wissen genau, was sie tun. Es ist eine Art Sport für sie, um die Langeweile zu vertreiben. Sollte es jemals -197-
zur olympischen Disziplin werden, seine Kinder auf die Palme zu bringen, wird meine Mutter unter den Klängen der Nationalhymne aufs Podium steigen und die Goldmedaille entgegennehmen. Deshalb wollte ich sie ärgern. Aus Rache. Kleingeistig, ich weiß. Aber in meinen Augen war es Selbstverteidigung, und außerdem hatte Dad mir erzählt, dass sie früher mit meiner Oma genauso umgesprungen war. Es hatte mit kleinen Sticheleien über mein etwas unordentliches Äußerliches angefangen, doch im Laufe der Zeit verloren ihre Bemerkungen an Großmut, bis sie eines nachmittags einen regelrechten Anfall bekam und rief: »Du wirst nicht ausgehen, bis du dich ordentlich angezogen und dein Zimmer aufgeräumt hast.« Ich traute meinen Ohren nicht. Mein Zimmer war makellos. Irgendwie, durch Umstände, auf die ich keinen Einfluss hatte, war ich in einem rückwärts laufenden Film auf einen Minderjährigen reduziert worden. Obwohl ich wusste, dass sie mich liebte, hatte sich auch bei ihr der Reiz, ihren neunundzwanzigjährigen Sohn wieder zu Hause zu haben, leicht abgenutzt. Irgendwo in ihrem Hinterkopf wuchs die Sorge, dass ich mich zu wohl hier fühlte und nie wieder ausziehen würde. Weit gefehlt. Das Ende war bereits in Sicht. Genau genommen würde ich in sechs Wochen wieder verschwinden. Aber so wie sich die Dinge entwickelten… Hatte ich das Gefühl… Die nächsten sechs Wochen… Würden die längsten sechs Wochen meines Lebens… Deshalb brauchte ich so lange, um zum Telefon zu kommen. -198-
»Hallo?« »Äh… hallo«, sagte Gershwin. »Ist alles okay bei dir?« »Ja, mir geht's gut. Ich hab dich doch nicht gestört, oder?« »Nein«, erwiderte ich. »Ich hab nur meine Mum geärgert, das ist alles.« »Gut«, sagte er. »Das beruhigt mich.« »Womit kann ich dienen, Sir?« »Mit einem Gefallen«, erwiderte Gershwin vorsichtig. »Und wie groß ist er?« »Ungefähr Schenkelhöhe.« »Ich hab keine Ahnung, was das sein könnte«, erwiderte ich. »Meine Mutter hat gerade angerufen, sie muss nach Norwich und sich um meine Tante kümmern, weil sie sich das Bein gebrochen hat oder so was. Sie weiß nicht, wie lange sie dort bleibt, was heißt, sie kann nicht auf Charlotte aufpassen. Die Kleine geht ein paarmal die Woche einige Stunden in den Kindergarten, aber nicht morgen…« »Du willst, dass ich auf sie aufpasse?«, fragte ich ungläubig. »Damit würdest du Zoe und mir einen Riesengefallen tun«, erwiderte Gershwin. »Du hättest echt was gut. Du musst einfach morgen Früh um halb neun hier sein, wenn Zoe zur Arbeit geht. Sie gibt dir eine Liste mit Anweisungen und anderem Kram und kommt gegen fünf Uhr zurück.« Ich dachte nach: Sollte ich den Tag mit einer Vierjährigen verbringen oder mit meiner Mum? »Kein Problem«, sagte ich überzeugt. »Ich hab sowieso nichts vor, und eine Abwechslung tut mir sicher gut.« »Bist du sicher?«, fragte Gershwin. Es klang ein bisschen schuldbewusst. »Wir könnten sie auch in einen Ganztagskindergarten bringen, wenn es dir zu viel ist.« -199-
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte ich. »Ich bin fast dreißig und habe einen Abschluss in Computerwissenschaften. Ich werde mich wohl einen Tag lang um mein Patenkind kümmern können!«
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52 »Hi, Matt«, sagte Zoe, als sie die Tür öffnete, »oder sollte ich lieber Tagesvater sagen?« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und führte mich ins Wohnzimmer. »Hi, Zoe«, erwiderte ich. »Ich bin bereit, mich von Charlotte mit allem bewerfen zu lassen: Cornflakes, Teddybären… was immer sie in die Finger kriegt.« »Sie ist ein liebes Kind«, sagte Zoe. »Bei dir wird sie sich wie ein Engel benehmen, nicht wahr, Schätzchen?« Charlotte war hereingekommen und sah mich mit offenkundigem Interesse an. Dann wanderte ihr Blick zu Zoe. »Was möchtest du denn heute machen, Charlotte?«, fragte ich. Sie zuckte die Schultern. »Na gut«, fuhr ich fort. »Dann denke ich mir was aus, okay?« Zoe kniete sich neben sie. »Willst du nicht erst einmal dein Zimmer aufräumen, Schätzchen?« Charlotte verschwand im Flur. »Okay«, sagte Zoe und gab mir eine Liste. »Der Kühlschrank ist voll, und ich habe aufgeschrieben, was sie wahrscheinlich zum Mittagessen will. Manchmal ändert sie ihre Meinung, aber lass dich nicht von ihr schikanieren. Ich hab dir für alle Fälle meine Nummer im Büro und die vom Handy aufgeschrieben, und Gershwins Durchwahl.« Ich überflog die Liste. »Darf sie fernsehen?« »Ja, aber nur jeweils eine Stunde. Sonst wird sie zum Zombie.« Dann verließ Zoe das Wohnzimmer und machte sich fertig für die Arbeit. Während ich so dastand, fiel mein Blick auf ein Foto von Gershwin, Zoe und Charlotte an der Wand. Es war komisch, die ganze Mama-Papa-Kind-Show von Leuten -201-
vorgeführt zu bekommen, die so alt waren wie ich. Noch komischer war es jedoch, den Gershwin auf dem Foto in seiner Rolle als Ehemann und Vater mit jenem in Verbindung zu bringen, der als Kind in der Klasse herumgefurzt hatte. »Also dann«, sagte Zoe und trug Charlotte auf den Armen zur Haustür. Sie drückte und küsste ihre Tochter und ließ sie hinunter auf den Boden. »Du bist doch ein braves Mädchen und nett zu Onkel Matt, ja?« Bis weit in den Nachmittag war es leicht, auf Charlotte aufzupassen. Mit vier war sie in einem Alter, wo sie sich meist selbst beschäftigte und ich ihr nur hin und wieder etwas zu trinken geben und ein Auge darauf haben musste, dass sie nichts Gefährliches tat. Zu Mittag aßen wir bei meinen Eltern, was allen großen Spaß machte und bewirkte, dass meine Mutter und ich ausgesprochen friedlich miteinander umgingen. Und als ich sah, wie ungezwungen mein Vater mit Charlotte sprach, staunte ich nicht schlecht. Nach dem Essen war es laut Plan Zeit für Charlottes Mittagsschlaf, also gingen wir zurück in Gershwins und Zoes Wohnung. Als die Kleine eine Stunde später aufwachte, spielten wir ein paar Runden Hungry Hippo und sahen ein wenig fern. Gegen vier Uhr hatte sie genug davon, und dann lernte ich, dass zur Kindererziehung mehr gehörte, als auf den ersten Blick erkennbar war. Charlottes Aufmerksamkeitsspanne war auf etwa zehn Minuten pro Aktivität geschrumpft, und sie musste nonstop unterhalten werden. Ich durchstreifte die Wohnung auf der Suche nach Inspiration. Als Jugendlicher war Gershwin ein fanatischer Musikliebhaber gewesen, mit einer Schallplattensammlung von ungefähr tausend Alben. Als ich mich nun umsah, konnte ich nichts davon entdecken, obwohl seine Hi-Fi-Anlage auch einen Plattenspieler hatte. Er besaß CDs, aber der Tod der Schallplatte und sein Erwachsenwerden mussten mit dem Verlust seines -202-
Musikgeschmacks zusammengefallen sein, denn die CDs waren alle beschissen. Ähnliches hatte ich auch schon bei anderen Freunden beobachtet, und es war immer der gleiche Verlauf: Diejenigen, die als Teenager und bis in ihre Zwanziger hinein Musikliebhaber waren, hatten wegen ihres Jobs plötzlich keine Zeit mehr für Musik. Dann heirateten sie oder zogen mit ihrer Freundin zusammen, und ihre Plattensammlung wurde entweder ins Haus ihrer Eltern verbannt oder auf dem Dachboden verstaut, weil sie nicht mehr zur Wohnungseinrichtung passte. Gershwins lagerte vermutlich auf dem Dachboden, denn sein Dad hatte sein Zimmer in ein Büro umgewandelt, als Gershwin ausgezogen war. Da kam mir der Gedanke, dass dies eine Gelegenheit war, mich und Charlotte sowohl weiterzubilden als auch zu unterhalten. Ich nahm mir einen Stuhl aus Gershwins und Zoes Schlafzimmer und benutzte ihn als Leiter, um mich auf den Dachboden zu hieven, wobei ich Charlotte im Auge behalten musste, was nicht leicht war. Bei meiner Suche erstickte ich fast in Staub, doch schließlich wurde meine Mühe belohnt: Neben den Trümmern seiner Jugend - einem alten 64erCommodore-Computer, einer Atari-Konsole, mehreren Paaren alter Turnschuhe und seiner großen Kollektion Bücher über den Zweiten Weltkrieg - fand ich schließlich auch seine Schallplatten. Sie waren ordentlich verpackt und beschriftet und offenbar seit Jahren nicht angerührt worden. Ich nahm mir einen Karton und trug ihn hinunter zu Charlotte. »Weißt du, was das ist?«, fragte ich sie. »Nein«, sagte sie. »Schallplatten«, erklärte ich. »Was machen die?«, fragte sie »Weißt du, was eine CD ist?«, fragte ich. Sie nickte. »Also eine Schallplatte ist eine altmodische Version davon.« Neugierig geworden, wollte Charlotte ein Album aus der -203-
Schachtel ziehen, aber es war zu schwer. Ich reichte es ihr. »Weißt du, wer das ist?«, fragte ich und zeigte auf das Cover. Sie schüttelte den Kopf. »Kennst du Michael Jackson?« Sie nickte, aber vielleicht nur, um mir einen Gefallen zu tun. »Also die hier«, sagte ich mit Blick auf das Albumcover, »heißt Off the Wall und ist von Michael Jackson, bevor er dann nur noch Schrott produzierte. Sollen wir sie uns anhören?« Sie bekundete aufgeregt ihre Zustimmung. Das war der heftigste Gefühlsausbruch, seit ihre Mum gegangen war, und ich nahm es als gutes Zeichen. Eigentlich wollte ich nur einen Song vorspielen, aber am Ende hörten wir die ganze erste Seite. Charlotte war ganz hin und weg. Als »Don't Stip Til You Get Enough« kam, schoss sie vom Sofa hoch und tanzte wie eine Mini-Disco-Queen. Ich musste die Platte viermal hintereinander abspielen. Mitten in »She's Out Of My Life«, klingelte es an der Tür, und ich drehte die Musik leiser. »Ist das Mummy?«, fragte Charlotte. »Vielleicht will sie auch tanzen.« Ich sah auf die Uhr. Es war zu früh für Zoe, und Gershwin konnte es auch noch nicht sein. Nervös ging ich zur Gegensprechanlage, sicher, dass sich einer der Nachbarn über die laute Musik und die quietschende Vierjährige beschweren wollte. »Hallo«, sagte ich in die Anlage. »Hi, Matt, ich bin's, Ginny. Kann ich hochkommen?« »Natürlich«, erwiderte ich erleichtert und drückte den Türöffner. Während ich dann auf ihr Klopfen an der Tür wartete, fragte ich mich, warum sie gekommen war und woher sie wusste, dass sie mich hier finden konnte. »Hallo«, begrüßte ich sie und ließ sie herein. »Woher wusstest du, wo ich bin?« -204-
»Ich habe bei deinen Eltern angerufen, und die erzählten mir, was du heute treibst. Da konnte ich einfach nicht widerstehen und wollte unbedingt sehen, wie du dich als Kindermädchen so machst…« Sie hielt inne, als Charlotte im Flur auftauchte. »Bist du Charlotte?«, fragte sie, ging zu der Kleinen hin und kniete vor ihr. »Hallo. Ich bin Ginny. Ich bin eine Freundin von deiner Mum und deinem Dad.« »Ich bin vier«, erwiderte Charlotte. »Du bist wundervoll«, murmelte Ginny und strahlte mich an, als wäre ich mit verantwortlich für Charlottes Existenz. »Sieh mal, was wir machen«, sagte Charlotte und zog Ginny an der Hand ins Wohnzimmer. »Onkel Matt, spielst du die Platte noch mal? Wo wir gerade zu getanzt haben?« Ich gehorchte. Wir hörten sie uns dreimal hintereinander an, während Charlotte auf dem Sofa hüpfte wie auf einem Trampolin. Die Zeit bis zur Zoes Eintreffen wird in meinen Memoiren als eine der schönsten in meinem Leben eingehen. Wir lauschten zu dritt Guilty von Barbara Streisand (ich glaube, die Platte gehörte Gershwins Mutter), Sign of the Times von Prince, wobei wir »If I was Your Girlfriend« wegließen, weil ich es ein bisschen zu heftig für Charlottes Ohren fand, Breakdance - The Album in Erinnerung an alte Zeiten, und zwei Singles von Duran Duran, um die Kleine stolz auf ihr kulturelles Erbe zu machen. Als Zoe dann kurz nach fünf nach Hause kam, fand sie Ginny, Charlotte und mich auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Wir lagen da, starrten an die Decke und spielten Luftgitarre, während wir gebannt dem großartigen Jimi Hendrix lauschten, seiner Version von »All Along The Watch Tower, die auf Gershwins Album von Hendrixs Greatest Hits war. »Macht ihr das schon den ganzen Nachmittag?« fragte Zoe. »Charlotte entdeckt gerade ihre Liebe für Gershwins Plattensammlung«, erklärte Ginny. -205-
»Was habt ihr denn alles gehört?«, wollte Zoe wissen. »Coole Musik!«, schrie Charlotte. »Wo hat sie nur diese Ausdrücke her?«, fragte ich. »›Cool‹ hat ihr Gershwin beigebracht«, erklärte Zoe. »Er will, dass unsere Tochter einen guten Geschmack hat. Und seiner Meinung nach kriegt man den am besten, wenn man weiß, was ›cool‹ ist und was nicht.« Sie wuschelte der Kleinen durchs Haar. »Und was ist nun coole Musik, Charlotte?« Charlotte machte ein ernstes Gesicht, als sie versuchte, sich an den nachmittäglichen Unterricht zu erinnern, doch dann zuckte sie nonchalant die Schultern, als wäre das nun wirklich unwichtig. »Cool ist Michael Jacksons Off the Wall«, sagte ich für Charlotte. »Cool sind auch Elvis, The Greatest Hits of Barry White, Culture Clubs erstes Album und Kajagoogoo«, fügte Ginny hinzu. »Und was ist uncool?«, fragte Zoe. »Daddy«, sagte Charlotte. Ginny und ich blieben noch bis kurz vor sechs. Ich hatte nicht die geringste Lust, nach Hause zu gehen und den Abend mit meinen Eltern vor dem Fernseher zu verbringen. »Sollen wir noch auf einen schnellen Drink ins Kings Arms gehen?«, fragte ich, als wir die Wake Green Road in Richtung der Hauptstraße von Moseley entlangschlenderten. »Aber wirklich nur kurz«, sagte Ginny. »Ian kommt gegen sieben Uhr zu mir nach Hause. Ich glaube, er will mit mir essen gehen. Du kannst mitkommen, wenn du Lust hast.« »Nein, nein, nein«, erwiderte ich ein bisschen zu eifrig. »Ich brauche nur einen kleinen Drink.«
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53 »Zu Hause mit deinen Eltern läuft's wohl nicht so gut?«, fragte Ginny, als wir mit einem Bier in der Hand im fast leeren Kings Arms saßen. »Könnte man so sagen«, erwiderte ich und trank einen Schluck. »Ich überlege schon, ein bisschen früher nach Australien zu fliegen.« »Das ist wohl ein Witz? So schlimm kann es doch nicht sein.« »O doch«, sagte ich entschieden und erzählte ihr die Dukannstnichtausgehenbevordudein-ZimmeraufgeräumthastGeschichte. »Niemals!«, entgegnete Ginny. »Das hat sie gesagt?« »Wortwörtlich«, bestätigte ich unglücklich. »Es ist nicht normal für einen Mann in deinem Alter, bei den Eltern zu wohnen«, sagte Ginny. »Auch wenn es nur vorübergehend ist. Wahrscheinlich ist es sogar illegal!« Sie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. »Aber das mit Australien ist nicht dein Ernst, oder?« »Mein Todernst. Es wären nur ein paar Wochen früher als geplant. Sie quartieren mich bestimmt in einem Hotelzimmer ein, wenn ich das will. Außerdem ist es verständlich, dass ich meinen Eltern allmählich lästig werde - ich bringe Unordnung in ihr Zuhause. Wir sind uns sehr nahe gekommen und haben so viel zusammen gemacht wie möglich, vielleicht ist es deshalb besser, wenn ich gehe, so lange wir noch miteinander reden.« »Und was ist mit uns?« »Wie meinst du das?« »Mit dir, mir und Gershwin«, sagte Ginny. »Ich dachte, wir wären jetzt Freunde. Richtige Freunde, nicht einfach eine Zeiterscheinung.« -207-
»Das sind wir auch«, erwiderte ich schnell. »Ihr könnt mich jederzeit in Australien besuchen. Das Apartment, das die Firma mir zur Verfügung stellt, ist anscheinend sehr schön. Ich habe viel Platz, wenn du mich mit Ian besuchst.« »Haben wir denn nicht einen Heidenspaß miteinander?« »Schon, aber weißt du, was ich heute Abend mache? Gershwin und Zoe wollen zu Hause bleiben, du gehst mit Ian aus…« »Ich hab doch gesagt, du kannst gern mitkommen«, erwiderte sie. »Und ich habe abgelehnt! Weil ich nicht das fünfte Rad am Wagen sein will, okay? Nein, wirklich, es ist schon richtig so. Dann hab ich Zeit, mich ein bisschen einzugewöhnen, bevor die Arbeit wieder losgeht.« Sie lächelte sanft. »Was könnte dich davon überzeugen, hier zu bleiben? Eine Million Pfund?« »Mehr.« »Zwei Millionen, und ich lasse dich einen kurzen Blick auf meine nackten Brüste werfen«?, gluckste Ginny. »Wie war's mit zwei Millionen, und ich gebe dir fünfhundert zurück, damit du sie mir nicht zeigst?« Ginny lachte. »Wie war's, wenn du kein Geld kriegst, dafür aber kostenlos in meinem Gästezimmer wohnen darfst?« Langes Schweigen. »Das soll wohl ein Scherz sein?«, fragte ich schließlich. »Ich meine es todernst, Sir. Warum sollte ich scherzen? Du brauchst ein Dach überm Kopf, stimmt's?« »Ja.« »Und das hast du jetzt«, erwiderte Ginny lakonisch. »Problem gelöst.« »Bist du sicher?«, fragte ich. »Oder haben dich die drei -208-
Schluck Bier dazu verleitet, weil du Trinken unter der Woche nicht gewohnt bist?« Ginny lachte. »Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Es ist schon komisch. Ich begegne dir und Gershwin zufällig an seinem Geburtstag, und vierundzwanzig Stunden später schwänze ich die Schule. Und ein paar Wochen danach sitze ich fast jeden Abend mit euch beiden im Pub. Ich mag solche Zufälle im Leben.« Sie hielt inne und trank einen weiteren Schluck. »Erinnerst du dich noch, als wir einmal während der Kurzferien im Trimester eine Woche lang alle bei Bev wohnten, weil ihre Eltern weg waren und sie das Haus für sich hatte? Damals haben wir gesagt, dass wir uns bei der ersten Gelegenheit ein großes Haus mieten und bis ans Ende unserer Tage darin zusammenleben, wie in der Folge von Monkees. Jetzt ist die Gelegenheit. Gershwin und Zoe können mit Charlotte auch einziehen.« »Und was ist mit Ian?«, fragte ich. »Was soll mit ihm sein?« »Hätte er denn nichts dagegen?« »Wogegen? Dass ein alter Schulfreund im Gästezimmer wohnt? Natürlich nicht.« Ich dachte darüber nach. »Ich würde natürlich Miete bezahlen.« »Auf keinen Fall. Das habe ich bereits gesagt«, erwiderte Ginny. »Du kaufst für uns beide die Lebensmittel, das ist dann dein Beitrag, wenn du willst.« Ich ließ es mir durch den Kopf gehen. »Und du bist sicher, dass du sicher bist?«, fragte ich. »Natürlich«, sagte sie nachdrücklich. »Ian ist wie die meisten gleichgültigen Männer. Bei mir könnte ein Stripper einziehen, und er würde wahrscheinlich sagen: ›Oh, wie schön für dich, Baby.‹ Außerdem ist es mein Haus, und ich kann darin machen, -209-
was ich will.« Ihre eigene Direktheit schien sie zu belustigen. »Wir müssen natürlich ein paar Regeln aufstellen«, fügte sie in einem Ton hinzu, der besagte: »Ein bisschen Strenge muss schließlich sein.“ »In meiner Jugend hatte ich ein paar furchtbare Erlebnisse, besonders mit männlichen Mitbewohnern.« »An was für Regeln denkst du dabei?« »Grundsätzliches, etwa dass schmutziges Geschirr nicht länger als vierundzwanzig Stunden in der Spüle stehen darf.« »Gebongt.« »Nicht nur zwei Blätter Klopapier für den Nächsten übrig lassen.« »Gebongt.« »Unappetitliche Männerunterhosen nicht in Gemeinschaftsräumen rumliegen lassen.« »Gebongt.« Ginny schwieg, doch ich sah, dass sie überlegte, ob ihr noch mehr einfiel. »Ist das alles?«, fragte ich nach. »Ja«, erwiderte sie zögernd. »Ich denke schon.« »Okay«, sagte ich. »Ich habe auch welche - oder besser gesagt, eine.« »Du kannst doch der Hausbesitzerin keine Vorschriften machen, du frecher Kerl.« Sie kicherte, gähnte kurz und fuhr fort: »Also los, was ist es?« »Keine Schlüpfer und BH's zum Trocknen auf die Heizkörper legen«, erwiderte ich. »Mehr nicht. Das hat Elaine immer gemacht, und es hat mich fast in den Wahnsinn getrieben.«
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[email protected] Betreff: Beichten Liebe Elaine, da du dich kürzlich zu einem Beichtanfall hast hinreißen lassen, muss auch ich jetzt ein Geständnis ablegen. Jedenfalls etwas in der Art. Weil das Zusammenleben mit meinen Eltern ziemlich unerträglich wurde, hatte ich schon überlegt, ein paar Wochen früher als geplant nach Australien aufzubrechen. Dann hat Ginny mir das Gästezimmer in ihrem Haus angeboten, und ich ziehe jetzt also zu ihr, auf rein platonischer Ebene sozusagen (das Gästezimmer wird meine Domaine). Ihr Freund findet das völlig okay, es ist ja sowieso nur bis zu meinem Abflug nach Sydney. Das ist schon alles. Keine große Sache. Alles Liebe, Matt :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Deine Beichte Lieber Matt, okay. Alles Liebe, Elaine An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Beichten, meine Beichte -211-
Liebe Elaine, was für ein »Okay« ist das? »Okay« im Sinne von »ist in Ordnung« oder »nur über meine Leiche?« Reine Neugier. Alles Liebe, Matt An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Du hast KEINE Ahnung, stimmt's? Lieber Matt, ich meinte okay im Sinne von: »Natürlich ist es okay, bei der alten High-School-Freundin (oder was immer das englische Äquivalent zur High School ist) zu wohnen, besonders an diesem wichtigen Punkt in deinem Leben, wo du gerade deine (fast) dreißig Lebensjahre unter die Lupe nimmst und meinst, die beste Zeit hinter dir zu haben, wo doch offensichtlich eine Wiederbelebung der alten Anziehung unmöglich ist, selbst wenn sie dir den ganzen Tag in Unterwäsche vor der Nase herum läuft.« Das bedeutet mein »Okay«. Alles Liebe, Elaine
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55 Am nächsten Tag verkündete ich meinen Eltern beim Abendessen - Rinderhack, Kartoffeln, Kraut und Karotten, dass ich ausziehen würde. Es war ein ziemlich ermutigendes Erlebnis, denn sofort war ich wieder der beste Sohn der Welt. Mum versuchte, mich zum Bleiben zu überreden, und forderte auch Dad dazu auf, was er dann ein wenig halbherzig auch tat. Nicht, dass er mich je auf die Straße setzen würde, aber als Mann wusste er, dass es wenn ich wirklich wieder auf eigenen Füßen stehen wollte - nur möglich war, wenn Mum nicht alle fünf Minuten kommen und fragen konnte, ob alles okay bei mir sei. Am nächsten Abend, nachdem ich tagsüber wieder auf Charlotte aufgepasst hatte, zog ich also zu Ginny, wobei meine Eltern mir halfen. Obwohl ich nur zwanzig Minuten entfernt wohnen würde, musste ich Mum versprechen, mindestens einmal die Woche zum Abendessen zu kommen. Außerdem bestand sie darauf, dass ich einen großen Karton mitnahm, den ich erst auspackte, als ich mich in meinem Zimmer eingerichtet hatte. Er war voller Konservendosen, Teebeutel, Müsli und Cornflakes.
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56 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Okay Liebe Elaine, haben wir hier eine Meinungsverschiedenheit? Matt :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Dein Okay Lieber Matt, natürlich haben Meinungsverschiedenheit. WAS DENN SONST? Elaine :-)
wir
hier
eine
An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Meinungsverschiedenheit Liebe Elaine, also gut, streiten wir uns ein bisschen. So sieht's aus: Du bist sauer, weil ich, obwohl wir uns getrennt haben, in das Gästezimmer einer Exfreundin von vor ungefähr Hundertmillionen Jahren (deine Worte) gezogen bin. In der Zwischenzeit treibst du dich mit irgendwelchen Typen aus Bars rum… und ich soll ein schlechtes Gewissen haben? Ich liebe deine absolute Unfähigkeit, logisch zu denken. Alles Liebe, Matt :-)
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57 Insgesamt war mein Zusammenleben mit Ginny weniger stressig, als ich aufgrund unserer gemeinsamen Vergangenheit befürchtet hatte. Früher wäre todsicher ein Desaster daraus geworden, so wie wir zwischen Liebesbeziehung und Freundschaft pausenlos hin und her gewechselt haben. Aber mit der neuen Reife eines fast Dreißigjährigen konnte ich damit umgehen. Natürlich mussten wir in den ersten paar Tagen noch ein paar neue Regeln einführen: Wer die Milch leer trinkt, muss neue kaufen - ein paar Tropfen auf dem Flaschenboden zählen nicht; die Badewanne muss nach jeder Benutzung sofort geputzt werden, und zwar mit richtigen Reinigungsmitteln schnelles Trockenwischen mit dem feuchten Handtuch gilt nicht; und Rasierklingen dürfen nur nach vorheriger Anfrage ausgeborgt werden. Ehrlich gesagt, waren das meine Regeln, aber Ginny beschwerte sich nicht allzu sehr. Denn ordentlich, wie ich bin, war ich meistens - wenn nicht immer derjenige, der für uns beide kochte und sauber machte. Alles in allem ähnelte es sehr meinem Zusammenleben mit Elaine, war merkwürdig tröstlich und machte das Leben in den weniger guten Momenten erträglicher.
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58 An:
[email protected] Von
[email protected] Betreff: Streit Lieber Matt, lass uns den Streit beenden. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich nur hier sitze und auf deine nächste Mail warte. Nachdem ich alles noch einmal überschlafen habe, gebe ich zu, dass ich vielleicht etwas voreilig hinsichtlich dir und deiner Exfreundin war. Entschuldigung. Ich verspreche, nicht eifersüchtig zu sein. Ich mach mir nur Sorgen um dich. Ich kenne dich ja. Vielleicht solltet ihr wirklich eine Beziehung anfangen. Womöglich wäre es eine gute Therapie für dich, auf die Weise noch einmal in die Vergangenheit zu reisen. Alles Liebe, Elaine :-)
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59 Ginny und ich entwickelten eine Alltagsroutine, als wären wir ein glückliches Paar. Unter der Woche stand sie täglich um sechs Uhr dreißig auf, verschwand zum Duschen im Bad und danach wieder in ihrem Zimmer, wo sie sich die Haare föhnte, Makeup auflegte und sich ankleidete. Dann ging sie hinunter in die Küche, aß ihr Müsli und machte sich Sandwiches zum Mitnehmen. Alles in allem brauchte sie ungefähr anderthalb Stunden, so dass sie grundsätzlich zu spät das Haus verließ. Mein Tagesablauf war wesentlich ungemütlicher. Gershwins Mutter war noch immer fort, so dass ich an den Tagen, an denen ich auf Charlotte aufpasste, um sieben Uhr fünfundvierzig aufstand, schnell duschte, mich in meinem Zimmer anzog und wenige Sekunden vor Ginny das Haus verließ. Es machte Spaß, mit der kleinen Charlotte zusammen zu sein, und glücklicherweise schien es ihr auch zu gefallen. Um sie zum Lachen zu bringen, musste ich nur mit dem Mund Furzgeräusche auf meinem Handrücken machen; und um mich zum Lachen zu bringen, musste sie nur über meine Furzgeräusche lachen. Sie sah gern fern, aß am liebsten seltsame Zusammenstellungen (trockene Bohnen mit Hüttenkäse auf Toast) und spazierte mit Vorliebe im Park herum, was sie zur perfekten Gefährtin machte. Vermutlich war ich zum Kindermädchen geboren; es sah jedenfalls ganz so aus.
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60 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Deine letzte Mail Liebe Elaine, ich habe Probleme, deinem Gedankengang zu folgen. Du willst jetzt, dass ich mit Ginny was anfange? Ich möchte nur auf Nummer Sicher gehen, dass ich dich richtig verstanden habe. Alles Liebe, Matt An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Nummer Sicher Lieber Matt, erstens werde ich in null Komma nichts gefeuert, wenn sie rauskriegen, dass ich hier nur noch Mails nach England schicke. Zweitens habe ich mich seit unserer Trennung (und das ist schon sehr lange her) lediglich mit einem Typen »rumgetrieben«. Du hingegen bist bloß zu einer alten Freundin gezogen, die schon einen festen Freund hat! Und wenn du keine Beziehung mit ihr anfängst, solltest du zumindest eine andere Frau kennen lernen. Das ist nur normal. Alles Liebe, Elaine
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61 Mein einziges wirkliches Problem war die Einsamkeit. An den Abenden, wenn Ginny sich mit Ian traf und Gershwin zu Hause blieb oder mit anderen Freunden wegging, war ich ziemlich verloren. Ich gehöre nicht zu denen, die sich selbst gerne Gesellschaft leisten. Ich brauche Menschen um mich. Ich bin ein geselliger Typ.
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62 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Das Dating-Spiel Liebe Elaine, okay, ich verspreche, jemanden kennen zu lernen. Und zwar nur, weil ich weiß, dass du so lange keine Ruhe gibst, bis du deinen Willen gekriegt hast. Es tut dir sicher gut, zu wissen, dass deine Macht, andere zu quälen, bis über den Atlantik reicht. Aber mal ernsthaft, ich glaube, du hast Recht. Allerdings ist das schwieriger für mich, als du vielleicht glaubst. Ich habe mir letzten Samstag die Kontaktanzeigen in der Zeitung angesehen, und Frauen in den Dreißigern (also in meiner neuen Jagdzone) wollen ausdrücklich immer nur einen Mann, der 1) solvent, 2) unterstützend, 3) und ohne emotionale Altlasten ist. Ich bin zwar 1) und 2), vermute aber, dass du meine »emotionale Altlast« darstellst. Davon abgesehen, werde ich alles tun, um jemanden kennen zu lernen, damit wir unser Leben weiterleben können. Alles Liebe, Matt »einsamer Altlastenträger« Beckford :-)
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63 »Und, wie ist es dir ergangen?«, fragte Ginny. Es war Freitagabend kurz nach halb elf, eine Woche nach meinem Einzug bei ihr. Meine beschwipste Vermieterin hatte den Abend mit Ian verbracht und war gerade zurückgekommen. Meine letzten Stunden hatten sich etwas schlichter gestaltet: Weekend Watchdog gefolgt von Top of the Pops gefolgt von Hunger und Selbstmitleid gefolgt von einem Anruf bei Domino's Pizza gefolgt von mehr Selbstmitleid und intensivem, halbstündigem Zappen gefolgt von der Ankunft meiner dünnkrustigen Pizza Bolognese gefolgt von Friends gefolgt von einem halben Becher Eiscreme gefolgt von Frasier gefolgt von der Hälfte eines nicht überzeugenden Vampirfilms gefolgt von Ginnys Ankunft. »Furchtbar«, erwiderte ich auf die Frage, ohne den Kopf von der Sofalehne zu heben. »Und selbst?« »Vermutlich nicht im Entferntesten so schlecht wie dir.« Sie zog den Mantel aus, schob meine Beine beiseite und ließ sich neben mir auf das Sofa fallen. »Wir hatten einen Drink in einer neu eröffneten Bar und danach Dinner im persischen Restaurant darüber.« »Wie war das Essen?« »Gut.« Sie lächelte. »Sie kochen ziemlich gut, die Perser.« Sie gähnte verstohlen und streckte sich. »Und warum war dein Abend so furchtbar, Mr Elend persönlich?« »Kein besonderer Grund.« »Hattest du Schwierigkeiten mit Charlotte?« »Im Gegenteil, sie ist toll. Am Nachmittag waren wir im Kunstmuseum, das hat ihr gut gefallen. Jedenfalls glaube ich das, denn im Bus nach Hause erklärte sie mir, sie wolle einmal -221-
Künstlerin werden. Na ja, entweder das oder Buchhalterin.« Ginny kicherte. »Das stimmt wirklich. Ich hab keine Ahnung, wo sie das alles herhat, ehrlich. Der kindliche Verstand ist mir ein absolutes Rätsel.« »Und warum geht's dir nicht gut?« »Ich langweile mich.« »Oh, du armer Kerl«, sagte Ginny und rieb sich die Augen, »Ian will morgen Abend ins Kino. Du kannst mitkommen, wenn du willst.« »Das ist jetzt das zweite Mal, dass du mich einlädst, den Anstandswauwau zu spielen. Ich habe meinen Stolz, ich brauche deine Almosen nicht… noch nicht.« »Du schaffst das schon.« Ginny kickte ihre Schuhe von den Füßen und sah auf die Uhr an der Wand. »Was machst du jetzt? Ab ins Bett?« »Es ist noch zu früh«, erwiderte ich. »Ich spiele mit dem Gedanken, mir die letzte Folge von ER auf Video anzusehen. Ich hab sie am Mittwoch aufgenommen und auf einen richtigen Tiefpunkt dafür gewartet. Ich meine, das Unglück anderer Leute, selbst das fiktive, müsste mir doch ein besseres Gefühl für mein eigenes Leben geben.« »Ich habe ER noch nie gesehen«, sagte Ginny und machte es sich auf dem Sofa bequem. »Die Vorstellung von Blut, Eingeweiden und Schreien fand ich nie besonders attraktiv.« »Du machst wohl Witze!«, entgegnete ich. »Das Schreien ist das Beste überhaupt. Früher war ich wie du und hab mich für so was nicht interessiert. Ich bin sogar aus dem Zimmer gegangen, wenn Elaine es angesehen hat, hatte keine Lust auf die Mädchensendung. Aber sie hat mich bekehrt. Nach drei Folgen war ich süchtig. Du machst uns jetzt einen Kaffee, ich bereite das Video vor und gebe dir einen Schnellkurs in der Geschichte aller Protagonisten, wie Elaine es bei mir getan hat - wer mit wem schläft oder geschlafen hat, wer wen hasst und wer von -222-
wem schwanger ist. Es ist wie im richtigen Leben, nur eben in einem Krankenhaus.« Es war Viertel vor eins, als Ginny und ich nach sechzig Minuten erstklassigem Krankenhausdrama einen zweiten Energieschub verspürten. Genau genommen waren wir so hellwach, dass wir beschlossen, ER live! zu spielen, das Elaine und ich erfunden hatten und kein Mensch auch nur annähernd witzig fand. Aber wir konnten uns vor Lachen kaum halten. Um ER live! zu spielen, musste man lediglich einen willigen Patienten finden (Elaine und ich benutzten ein von ihrer Mutter besticktes Kissen), die Rollen verteilen (Elaine war immer Dr. Shula Hobgoblin, eine einarmige, hitzköpfige, einzelgängerische Chirurgin und neu auf der Unfallstation, und ich war Krankenpfleger Zimmermann, hart, aber fair und auf der falschen Seite der österreichischen Alpen geboren.) Der Rest des Spiels bestand darin, pro Minute so viele ER-Klischees wie möglich zu bringen. Ginny gefiel die Vorstellung, weil sie so schön bizarr war. Sie wollte Dr. Elizabeth Hatstand sein, eine hervorragende, aber exzentrische Chirurgin aus London, die seit zwei Jahren im Krankenhaus arbeitete. Da ich nicht allzu viele alte Erinnerungen wecken wollte, beschloss ich, Dr. Lance Buttie zu sein, ein ebenfalls hervorragender, aber total unglücklicher Chirurg, der Ärzte ausbildete und haushohe Komplexe hatte. »Dr. Buttie!«, rief Ginny, wobei sie ein Lachen kaum unterdrücken konnte. »Kommen Sie schnell! Wir haben ein Gangmitglied mit GSW im Kopf, ausgelöst durch einen anaphylaktischen Schock und - äh - andere Sachen.« »Hier ist der Patient, Dr. Hatstand.« Ich nahm Ginnys Kater Larry (der andere, Sanders, ein kluges Tier, hatte sich aus dem Staub gemacht), pflanzte ihn vor den Fernseher, und wir beide knieten uns daneben. »Es sieht nicht gut aus«, sagte ich. »Er -223-
scheint eine Menge Blut verloren zu haben. Vielleicht kann er nie wieder eine tote Maus ins Haus bringen.« Ich schlug mit gespielter Pein die Faust auf den Boden. »Diese verdammten Jungs mit ihren Bandenkriegen. Sehen sie denn nicht, wie viele junge Leben dabei zerstört werden?« Ginny tat, als würde sie mir eine runterhauen. »Verdammt, Buttie, reißen Sie sich zusammen. Ich habe noch nie einen Patienten verloren. Nicht einmal einen mit Schnurrhaaren.« Sie schlug mich wieder. Larry beobachtete uns beide teilnahmslos, zuckte mit seinen Schnurrhaaren und rollte sich auf den Rücken. »Sie haben Recht, Dr. Hatstand. Es tut mir Leid, ich bin hysterisch. Aber ich habe Ihnen nie erzählt, dass ich meine Katze auf genau die gleiche Weise verloren habe. Es ist eine echte Tragödie, ich hätte niemals…« Ginny unterbrach mich mit lauten Piepstönen. »Was ist los, Hatstand?« »Der Patient hat einen zweiten anaphylaktischen Schock. Geben Sie mir zwei Teelöffel 0neg, einen ECG, ein DTP, ein CBC, ein Chem7, einen BBC1, einen BBC2 und vielleicht sogar ein ITV - oh, bringen Sie schnell das große Ding für die Elektroschocks, sonst ist dieses Wesen gleich auf dem Weg in den Katzenhimmel, und zwar ohne Rückfahrkarte!« »Aber Dr. Hatstand, sollten wir nicht einfach eine Intubation vornehmen? Oder eine Cricothyroidoctomie durchführen? Wie wär's mit einer Cordotomie? Oder gar einer Lobotomie?« »Verdammt, Dr. Buttie!«, schrie Ginny, der die Rolle zunehmend Spaß machte. »Wer ist der ältere Chirurg hier, Sie oder ich?« Larry hatte genug von den beiden Menschen, die sich über seinem Kopf Nonsens zu schrieen, rollte sich auf die Pfoten, streckte sich und wanderte ab in die Küche. »Komm zurück, Larry!«, sagte Ginny und kugelte sich -224-
lachend auf dem Boden. »Wir werden dich heilen, das verspreche ich!« »Undankbarer Patient«, rief ich hinter ihm her und krabbelte zurück aufs Sofa. »Ich bin am Boden zerstört«, sagte ich. »Wer will schon in einer Unfallstation arbeiten? Computer sind viel einfacher zu handhaben.« Ginny lachte. »Vergiss die Computer. Wir machen eine Flasche Wein auf, entspannen und reden wie in alten Zeiten.«
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64 »Du vermisst Sie also?«, fragte Ginny und reichte mir ein Glas Wein, dem noch viele folgen sollten. »Wen?«, fragte ich und stellte mich dumm. »Elaine.« Ich versuchte, unser Gespräch zu rekonstruieren, um nachvollziehen zu können, wie sie von Computern auf Elaine gekommen war. »Ich wollte schon die ganze Zeit einmal über sie reden. Als wir ER live! fertig gespielt hatten, sahst du so traurig aus - als würdest du an sie denken«, begann Ginny. »Aber vielleicht stimmt das ja gar nicht. Vielleicht hast du schon über die nächste Folge von ER nachgedacht.« Ginny hatte Recht. Elaine war mir durch den Kopf gegangen, aber nur flüchtig. Ich musste daran denken, wie sie immer über einen bestimmten Charakter herzog, den keiner von uns beiden spielte und den wir Dr. Salami nannten. Es waren derbe, billige Witze, über die normalerweise kein Mensch lachen würde. Aber sie gehörten uns ganz allein, und das machte sie so herrlich. »Es stimmt«, erwiderte ich. »Ich vermisse sie… sehr. Es sind die kleinen, dummen Dinge. Außer ER haben wir noch ein anderes Spiel gespielt, das wir ›Gemüseraten‹ nannten. Wir haben abwechselnd Gemüse unter einem Handtuch versteckt und es zu erraten versucht.« »Hmmm«, sagte Ginny und zog die Augenbrauen hoch. »Das klingt wirklich etwas verrückt.« »Ich weiß«, sagte ich lachend. »Aber wirklich durchgeknallt daran war, dass wir immer eine Kartoffel genommen haben.« »Willst du mir nicht erzählen, warum es zwischen euch schief gelaufen ist? Ich sterbe seit langem vor Neugier, und erst jetzt, -226-
wo ich dich betrunken gemacht habe, traue ich mich zu fragen. Bislang hast du nur gesagt, dass es nicht funktioniert hat.« Ginny verzog das Gesicht. »Du hast mir nicht einmal erzählt, wo ihr euch kennen gelernt habt - und dabei wollen wir Freunde sein!« »Bist du sicher, dass du das alles wissen willst?«, fragte ich. »Es ist eine ziemlich traurige Geschichte.« »O nein«, erwiderte Ginny leidenschaftlich. »Über Beziehungen reden ist nie traurig - es ist therapeutisch.« »Also gut.« Ich trank einen Schluck Wein. »Mach es dir gemütlich, ich fange an. Es war einmal ein gut aussehender Computersoftware-Designer namens Matt. Er hatte fünf Jahre lang in London gelebt, war erfolgreich in seinem Beruf und hatte eine umwerfend schöne Freundin namens Monica Aspel, die als Management-Beraterin arbeitete. Matt war sehr stolz auf seine Beziehung mit Monica, denn im Alter von siebenundzwanzig Jahren war es das allererste Mal, dass beide sich gegenseitig als meine Freundin/mein Freund bezeichneten, und zwar ohne die ironischen Anführungsstriche im Kopf. Er glaubte sogar, sie würden die Zwölf-Monate-Hürde schaffen, was ihm bislang versagt geblieben war. Leider machte er einen Monat vor ihrem Einjährigen den Fehler, frühzeitig von der Arbeit in ihre Dachgeschosswohnung in Muswell Hill zu kommen, wo er seine liebe Berater-Freundin vorfand, die sich offensichtlich ein wenig Arbeit mit nach Hause gebracht hatte und einen Manager hautnah im Bett beriet…« »O nein!«, rief Ginny aus. »Keine Sorge«, erwiderte ich. »Matt überlebte - am Ende. Er packte umgehend seine Sachen und richtete sich ein neues Zuhause auf dem Sofa eines Kollegen ein. Zur gleichen Zeit hörte er, ach Scheiße, Schluss damit. Also ich hörte intern von einer freien Stelle als Software-Projektleiter, ein Schritt weiter die Karriereleiter hinauf, und das Beste daran, es war in New -227-
York. Ich hatte ein echt anstrengendes Vorstellungsgespräch, bekam den Job und flog rüber, um meine neuen Bosse kennen zu lernen. Im Handumdrehen hatte ich dann eine Green Card in der Tasche und saß in einem Flugzeug der Virgin Atlantic auf dem Weg zum JFK.« »Das klingt doch alles total aufregend«, ermutigte mich Ginny. »Das war es auch, aber anfangs war mir alles ein bisschen zu viel. Ich hatte eine Menge Pläne. Ich wollte einen Ford Gran Torino kaufen, wie der von Starsky and Hutch, ich wollte im Urlaub lange Fahrten durchs Land machen und einem Fitnessclub beitreten, um einen anständigen Bizeps zu entwickeln ich wollte alles. Stattdessen lernte ich in der ersten Woche in New York, zwei Tage nach dem Einzug in mein neues Apartment, Elaine auf einer Party in Greenwich Village kennen. Wir verstanden uns gut. Wir gingen gerade mal zwei Wochen miteinander, als sie Streit mit ihren Mitbewohnern bekam und zu mir zog. Natürlich sollte es nur vorübergehend sein, während sie sich was Eigenes suchte, aber sie zog nie wieder aus.« »Wer zu schnell zusammenzieht, landet irgendwann auf dem Sofa«, sagte Ginny weise. »So ungefähr«, fuhr ich fort. »Es lief ziemlich lange gut, gemessen an all meinen anderen Beziehungen, aber dann ging es plötzlich nicht mehr. Wir haben nie gestritten. Im Gegenteil, wir haben uns wirklich gut verstanden. Wir waren - und sind immer noch - gute Freunde. Ich habe meinen Laptop dabei und schreibe ihr fast jeden zweiten Tag eine Mail. Mit Elaine kann ich über alles reden, aber jedes Mal, wenn ich mir die große Frage gestellt habe, ob ich glaubte, in fünf Jahren noch mit ihr zusammen zu sein, war die Antwort ein klares Nein. Und Elaine ging es genauso.« Ich sah Ginny an, unsicher, ob ich es ihr beichten sollte. »Als wir uns trennten, war das für uns beide in Ordnung, keiner machte eine große Sache draus. Es war vorbei, und wir waren beide glücklich, doch dann…« -228-
»Was?« »Ich habe im letzten Moment meine Meinung geändert.« »Aber das ist doch gut, oder?« »Nein«, erwiderte ich. »Es war schlecht. Alles war nur deshalb okay, weil wir beide die Trennung wollten. Wenn einer sie will und der andere nicht, ist es einfach nur, na ja, schrecklich.« »Warum hast du deine Meinung geändert?« Ich sah Ginny erneut an, um mich zu vergewissern, ob ich dem Gesicht mir gegenüber vertrauen konnte. »Mein anstehender dreißigster Geburtstag«, erwiderte ich. »Ich weiß, es ist ein trauriger Grund. Ich weiß, es ist einfach nur ein Geburtstag. Aber in dem Moment hatte ich es so satt, immer wieder irgendwo ein- und auszuziehen. Ich hatte es satt, neue Leute kennen zu lernen und sie davon zu überzeugen, dass ich liebenswert bin, mit ihnen zusammen zu sein und dann festzustellen, dass ich doch nur wieder meine Zeit verschwende. Ich weiß nicht, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, sie wäre meine letzte Chance. Diese Sicht der Dinge ist zwar nicht gerade dynamisch, aber ich bin nun mal kein besonders dynamischer Typ.« Ginny nickte, als dächte sie über etwas nach. »Dir hat was gefehlt.« »Was?« »Dir und Elaine hat das gefehlt, was man empfindet, wenn man jemanden wirklich liebt - der Blitzschlag, der Donnerschlag, was immer es ist, das einem das Gefühl gibt, keine Sekunde mehr ohne den anderen leben zu wollen.« »Ich glaube, du hast Recht. Wahrscheinlich hatten wir das sogar irgendwann, ohne es zu merken. Und jetzt ist es einfach weg, verschwunden.« Ich hielt einen Moment inne. »Und wie ist das bei Ian und dir?« -229-
»Was?«, fragte Ginny und zeigte mit gespielter Unschuld auf sich. »Ob ich das gewisse Etwas mit Ian habe? Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich, ja, und dann fühle ich mich wieder meilenweit entfernt von ihm. Ich fürchte, ich bin dir ziemlich ähnlich. Die Hälfte aller Enttäuschungen in meinem Leben beruhen darauf, dass ich mir etwas ganz anderes vorgestellt hatte, wenn ich einmal dreißig bin.« Ich wusste haargenau, was sie meinte. »Und was hattest du dir vorgestellt?« Ginny dachte nach. »Mit vierzehn wollte ich Rechtsanwältin werden, weil ich jeden Donnerstagabend LA Law im Fernsehen gesehen habe. Ich wusste sogar schon, dass ich mich auf Strafrecht spezialisieren und Frauen verteidigen wollte, denen sonst niemand half. Ich wollte einen schwarzen BMWSportwagen fahren, eine Sonnenbrille im Haar tragen, egal, was für Wetter war, und einen klugen Freund mit markanten Gesichtszügen und muskulösen Oberschenkeln haben. Wir würden heiraten und zwei Kinder haben - ein Mädchen und einen Jungen, um die ich mich die halbe Woche kümmerte; die andere Hälfte war ich damit beschäftigt, widerliche Männer hinter Gitter zu bringen. Und jetzt sieh dir die Realität an: Ich bin dreißig Jahre alt, Kunstlehrerin in einer recht guten Schule, habe einen festen Freund, der manchmal wundervoll und manchmal unausstehlich ist, aber keiner von uns beiden hat vor, der Beziehung einen endgültigen Status zu geben. Ich besitze ein eigenes Haus, kann aber keine Wände tapezieren. Ich habe zwei Katzen, die zweifellos Ersatzkinder sind, und ein Exfreund wohnt in meinem Gästezimmer. Und obendrein bin ich Vollwaise.« Sie lächelte traurig. »Na, wie findest du das als Beispiel für unverwirklichte Träume?« Eine Weile saßen wir schweigend da. »Und du, Matt? Wie hast du dir dein Leben mit dreißig vorgestellt?« -230-
»Was meinen Beruf betrifft, ist es eigentlich so gekommen, wie ich es immer wollte. Und was die Lebenspartnerin angeht, wer weiß? Als Kind wollte ich mit Madonna zusammen sein, aber die ist wohl schon vergeben.« »Und wen hattest du sonst noch im Visier?« Ich dachte intensiv über die Antwort auf diese Frage nach, dann sagte ich: »Dich.«
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65 »Ist das wirklich eine gute Idee, Matt?« »Du bist dir nicht sicher?« »Nein«, sagte Ginny. »Ich bin mir nicht sicher.« »Worüber bist du dir nicht sicher?« »Über dich. Mich. Hier auf dem Sofa. Deine… linke Hand unter meinem Pullover.« Ich zog sie zurück. »Muss ich noch mehr sagen?« »Nein«, seufzte ich. »Das würde diese schmerzliche Episode nur weiter in die Länge ziehen. Musstest du unbedingt dein Gewissen wecken und meins gleich mit? Willst du es denn nicht?« »Und du?«, fragte Ginny und fuhr sich dabei nervös mit der Hand durch die Haare. »Ja«, erwiderte ich, doch meiner Stimme fehlte die Überzeugung. »Bist du ganz sicher? Oder einfach nur sicher?« »Ich bin sicher! Ich bin sicher! In der ganzen Geschichte der Menschheit gab es keinen Mann, der sich sicherer war, das tun zu wollen, was ich jetzt tun will.« Ginny lachte, und wir küssten uns weiter, hörten aber Sekunden später schon wieder auf. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«, fragte ich barsch. »Das ist nun wirklich der angemessene Ton in dieser Situation.« Ich lachte. »Tut mir Leid.« »Gut. Also angenommen, wir tun, was wir jetzt vorhaben, wie geht es uns dann hinterher? Ich meine, wobei mir bewusst ist, dass das extrem vorausplanend und überhaupt nicht -232-
leidenschaftlich klingt, aber ich will einfach nicht… du weißt schon.« Ich atmete tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also gut, vergessen wir's.« »Moment«, sagte Ginny überraschenderweise. »Nicht so schnell. Ich denke nur an unsere Freundschaft, mehr nicht. Das kann ja nicht verkehrt sein, oder?« Ich nickte. Da hatte sie Recht. »Hör also zu schmollen auf und lass uns das wie erwachsene Menschen ausdiskutieren. Okay? Zuerst müssen wir uns versprechen, dass unsere Freundschaft dadurch keinen Schaden nimmt.« »Versprochen. Sonst noch was?« Ginny dachte einen Moment nach. »Nein.« »Gut.« Wir küssten uns also weiter, bis sie wieder mittendrin aufhörte. »Und wenn einer von uns seine Meinung ändert?« »Änderst du deine Meinung?«, fragte ich und rutschte auf dem Sofa herum. Ginnys Bein lag auf meinem, das gerade einschlief. »Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Aber du vielleicht.« »Glaub mir, Ginny, ich bezweifle sehr, dass ich meine Meinung ändern werde…« »Dann sind wir also einer Meinung?« »Total. Sonst noch was?« »Nein.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Gut.« »Na ja, da wäre noch…« »Was?« -233-
»Nichts. Ignorier mich einfach.« »Was?« »Es ist nichts, ehrlich. Vergiss es.« Sie küsste meinen Nacken, quasi als Bekräftigung, doch es war zu spät. Ihr »Nichts« war nicht nichts. Obwohl ich alles versuchte, mein Gewissen zu ignorieren, hing ihr Nichts, das kein Nichts war, unheilvoll in der Luft. »Was ist es?«, wollte ich wissen. Ginny lachte. »Entschuldige, Matt. Das ist jetzt wirklich der letzte Punkt, versprochen. Ich will einfach sicherstellen, dass, falls wir es tun, es bei einem Mal bleibt. Das heißt dann nie wieder. Keine Wiederholung, weder in diesem noch in einem anderen Leben.« »Warum?« »Meinst du abgesehen davon, dass ich eine Beziehung mit Ian habe, du unter der Trennung von deiner Exfreundin leidest und bald nach Australien ziehst?« »Genau«, erwiderte ich. »Abgesehen davon.« »Nun ja, es könnte eine lange Periode von Verhaltenswiederholungen nach sich ziehen, was zwangsläufig Probleme schaffen würde. Denn du kennst ja das Synonym für Verhaltenswiederholungen, nicht wahr?« »Alpträume?« »Treffer!«, erwiderte Ginny. »Und… wir sind keine siebzehn mehr.« »Handlungen haben Folgen«, fügte ich hinzu. »Genau. Deshalb sollten wir es vielleicht doch lassen.« »Ja«, sagte ich und wand mich traurig aus ihren Armen. »Das ist vielleicht wirklich besser.« Ich seufzte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Es ist kein Schaden entstanden, oder?« »Wir haben uns nur geküsst«, sagte Ginny. -234-
»In einem Anfall von Wahnsinn«, fügte ich hinzu. »Es hatte nichts zu bedeuten. Es war einfach… Nostalgie.« »Eine Reise in die Vergangenheit.« Eine lange Pause entstand. »Und es sollte nicht wieder passieren«, sagte ich schließlich bedacht. »Stimmt«, erwiderte Ginny. »Du hast Recht. Es sollte nie wieder passieren.«
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66 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Hellseherin Liebe Elaine, Frage: Was passiert, wenn man einen Exfreund/Nicht-Exfreund/Untermieter und eine Exfreundin/Nicht-Exfreundin sowie ein paar Flaschen Wein auf engem Raum zusammenpfercht? Richtig… mein Leben ist ja so vorhersagbar. Genau wie du geahnt hast, haben Ginny und ich wirklich geknutscht, aber glücklicherweise rechtzeitig aufgehört, bevor es zu weit ging. Es ist komisch, aber wir haben dann Witze darüber gemacht, obwohl ich es in Wirklichkeit schlimm finde. Immerhin hat sie einen festen Freund, mit dem sie ziemlich glücklich ist. Wir haben nicht versucht, es zu analysieren, sondern die andere Möglichkeit gewählt, nämlich so zu tun, als wäre nie etwas passiert. Ich weiß, dass das jetzt wie eine riesen Entschuldigung klingt, aber ich glaube momentan an die Theorie, dass es einfach nur Neugier war. Wir hatten über Beziehungen geredet und auch einiges getrunken, aber der Wunsch, sie zu küssen, war weder Lust noch Leidenschaft entsprungen, sondern der Frage, wie es wohl ist, diese Frau zu küssen, die ich mit vierundzwanzig das letzte Mal geküsst habe? Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber es war eindeutig anders als früher. Um ehrlich zu sein, es war eher wie… na ja… ein Trostessen. Kartoffelbrei mit viel Butter; ein eiskaltes Bier und eine Zigarette; ein englisches Frühstück mit einer Tasse lauwarmem Tee. Echt poetisch, was? Aber egal, es ist vorbei, wir benehmen uns wieder vernünftig, und ich bin ausnahmsweise froh darüber. Schreib mir bald.
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Alles Liebe, Matt :-) An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Deine Hellseherin Lieber Matt, hör mir gut zu: ICH HAB'S GLEICH GEWUSST!!! Und dazu hab ich nicht einmal meine besondere weibliche Intuition gebraucht. Deine Mails waren überdeutlich. Willst du meinen Rat? Halt dich von ihr fern. Nächsten Monat gehst du weg, und sie ist ziemlich glücklich mit diesem Ian. Ich gebe es ungern zu, aber ich verstehe deine Trostessen-Analogie. Wenn du und nicht Sara (die übrigens eine echt blöde Kuh ist, weil sie nie das Geschirr spült) auf dem Höllensofa schliefst und ich (wie heute) von einem beschissenen Arbeitstag nach Hause käme, würde ich wahrscheinlich auch ein bisschen vom MattBeckford-Trostessen kosten wollen - es ist greifbar, vertraut und befriedigt umgehend!!! Stattdessen muss ich mich jetzt mit der zwei Tage alten Pizza im Kühlschrank trösten. Nimm's leicht, ganz liebe Grüße, Elaine :-) PS: Ich weiß, es war ein Fehler, Matt, und du solltest ihn wirklich nicht noch einmal begehen. Wenn ich an Ians Stelle wäre und es herausfände, wäre ich fix und fertig. Du kennst mich. Ehrlichkeit geht über alles.
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67 Donnerstag. Mitten am Nachmittag. Drei Uhr, um genau zu sein. Ich dachte an die Tageszeit, weil mir plötzlich, als ich mit Charlotte an der Hand die Hauptstraße zum Supermarkt entlanglief, bewusst wurde, dass ich mir noch vor zwei Monaten das Leben ganz anders vorgestellt hatte. Damals hatte ich geglaubt, ich würde um diese Zeit in einem Design-StrategieMeeting sitzen oder in einer Besprechung mit einem Kunden, oder ich würde einem Kunden ein Angebot unterbreiten oder einer Design-Präsentation beiwohnen, einer TeamStrategiesitzung oder einer Team-Design-StrategieBesprechung, wobei der Unterschied zwischen den beiden Letztgenannten für das bloße Auge so gut wie unsichtbar war. Und jetzt war ich in Birmingham mit der vierjährigen Tochter eines Freundes auf dem Weg zum Safeway zum wöchentlichen Lebensmitteleinkauf für meine Exfreundin/Nicht-Exfreundin, die jetzt auch meine Vermieterin war (so ungefähr). Das Leben ist komisch. Als wir zum Einkaufswagen-Parkplatz kamen oder wie das heißt, wo sich Einkaufswagen versammeln, bestand Charlotte darauf, es sich in dem Kindersitz eines Rieseneinkaufswagens bequem zu machen, der sicher nur von Hausfrauen mit VolvoDiplom gelenkt werden konnte. Am liebsten hätte ich Nein gesagt, denn der Wagen hatte etwas Kastrierendes, aber Charlotte und ich hatten an dem Tag bereits eine Auseinandersetzung gehabt (ich hatte ihr nicht erlaubt, mit dem Lippenstift ihrer Mutter zu malen), und ich wollte keine neue riskieren, nur weil meine Männlichkeit auf die Probe gestellt wurde. Ich schob also das Riesending mit der strahlenden Charlotte vor mir her durch die automatischen Türen und -238-
begann, alles auf Ginnys Liste in den Wagen zu packen. Hätte mich jemand beobachtet, was ich nicht hoffe, hätte er mich sicher für ein Musterbeispiel der Emanzipation gehalten: ein neunundzwanzig Jahre alter Mann mit Tampons im Einkaufswagen und einer fast Vierjährigen in seiner Obhut. Die Tatsache, dass weder das Kind noch die Tampons (und nicht einmal die Frau, für die die Tampons waren) mir gehörten, verstärkte nur noch meine Befangenheit. Selbstverständlich traf ich wieder unzählige Leute, mit denen ich früher zur Schule gegangen war: Adam Heller (damals potenzieller Drogendealer, heute ein hoch qualifizierter Zahnarzt); Lionel Orton, dessen Schwester Janine mein Jahrgang war (damals hatten sich meist ältere Jungen mit ihm angefreundet, um so an seine Schwester ranzukommen; heute ist er Bibliothekars-Assistent in der Universität); und Faye Jones (damals potenziell Friseurin; heute Friseurin). Bei jeder Begegnung fühlte ich mich bemüßigt - selbst wenn ich nicht gefragt wurde - zu erklären, dass weder Charlotte noch die Tampons zu mir gehörten, und jedes Mal wurde ich ungläubig angesehen, nach dem Motto: Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Wovor habe ich Angst?, fragte ich mich. Dass meine ehemaligen Mitschüler von der King's-Heath-Gesamtschule rumerzählten, dass Matt Beckford ein Hausmann war? Bin ich wirklich so kleinkariert? Gerade, als mein Unterbewusstsein: Ja! Du bist kleinkariert! rufen wollte, entdeckte ich Ian in der Getränkeabteilung, wo er das Etikett einer Weinflasche studierte. »Hallo!«, rief ich. »Wie geht's, Kumpel?« »Matt…«, erwiderte er zerstreut. »Ich hätte angenommen, dass ein Mann wie du einen der sportlicheren Versionen fährt«, sagte ich mit Blick auf seinen Einkaufswagen. »Was?«, entgegnete er verwirrt. -239-
»Ich meine einen der kleineren, stilvolleren Einkaufswagen«, fuhr ich fort. »Die für moderne, in nichtehelichen Verhältnissen lebende Menschen wie dich konzipiert sind. Gerade groß genug, dass ein paar Packungen frische Pasta, Gläser mit Pesto und eine Ausgabe des Guardian reinpassen.« Er blickte sich mit einem nervösen Lachen um. »Oh, ja, verstehe.« Ich schielte verstohlen in seinen Wagen. Das Kind in Ian war anscheinend unheimlich hungrig, denn mein Blick fiel auf acht Packungen Pickled Onion Monster Munch, Chips mit Zwiebelgeschmack, drei Packungen Coco-Pops und eine große Flasche Limonade inmitten des üblichen Sortiments aus Obst und Gemüse. Ich überlegte kurz, meinen Kommentar herunterzuschlucken, denn es gab nichts Peinlicheres als Small Talk über die Supermarkteinkäufe anderer, schaffte es aber nicht. »Wirklich sehr gesund«, bemerkte ich fröhlich. »Ich habe seit Jahren keine Monster Munchs mehr gegessen. Gershwin hat damit im Unterricht immer das Klassenzimmer verpestet.« »Äh… ja«, murmelte er. »Ich… äh…« Ian konnte den Satz nicht vollenden, denn er wurde von einer jungen Frau unterbrochen, die ihm zwei Flaschen Weißwein vor die Nase hielt. »Welche von beiden? Den Ungarischen, den wir letztes Mal hatten, oder den Italienischen mit fünfzig Pence Preisnachlass?« »Ist mir egal«, sagte er ausdruckslos. Sie seufzte schwer. »Das ist mal wieder typisch.« Sie sah mich an, dann ihn, und wurde verlegen. »Oh, entschuldige, Ian, du unterhältst dich gerade.« »Äh… ja«, erwiderte Ian. Sie hob grüßend die Hand. »Hallo«, sagte sie freundlich. »Ich glaube nicht, dass wir uns kennen, oder?« -240-
»Hi«, murmelte ich und wünschte mir sehnlichst noch einen anderen Supermarkt in King's Heath, in dem nicht so viele Leute einkauften, die ich kannte. Ich schüttelte ihre Hand. »Ich bin Matt Beckford.« »Ich bin Susanna, Ians bessere Hälfte.« Ian sah mich schuldbewusst an, wie ein kleiner Junge, den die Eltern bei etwas Unanständigem erwischt hatten. In seinem Gesicht blitzte Panik auf, verschwand aber schlagartig, als Susanna sich ihm zuwandte. Offensichtlich erwartete sie, dass er mich vorstellte. »Matt ist der Freund einer Bekannten von einer der Schulen, in der ich gearbeitet habe«, erklärte er. »Wir haben uns vor einiger Zeit kennen gelernt, als ich mit den Kollegen nach der Schule einen trinken war.« »Ja, stimmt«, bestätigte ich gedankenverloren, »im Pub, nach der Arbeit…« Von der letzten Überraschung in dieser Farce völlig überrannt, beendete ich meinen Satz nicht. »Daddy«, schrie ein kleines Kind an der Hand einer älteren Frau, »Jammy Dodgers oder Plätzchen mit Schokostücken?« »Keins von beiden!«, rief Ian. »Wir wollen doch nicht, dass dir die Zähne ausfallen, oder? Geh und bring die Sachen zurück, sei ein guter Junge.« »Wir haben gerade einen Freund von Ian getroffen«, erklärte Susanna der älteren Frau, wahrscheinlich ihre Mutter. »Das ist Matt Beckford.« »Hallo«, begrüßte sie mich. »Ich muss gleich weiter und hinter meinem dreijährigen Enkel her, der gerade die Plätzchenabteilung entdeckt hat.« Susanna nahm das Gespräch wieder auf. »Ich bin sicher, dass du mir gegenüber Matt noch nie erwähnt hast«, sagte sie, hielt die Hand halb vor den Mund und flüsterte mir weithin hörbar zu: »Ian erzählt mir nicht alles. Ich erfahre Neuigkeiten immer als Letzte. Warum haben Männer nur solche -241-
Kommunikationsprobleme?« Ich lachte viel zu laut, denn inzwischen war ich so nervös, dass ich schon Verhaltensstörungen entwickelte. Mein Lachen war so unmäßig, dass Ian sich mir anschloss, nur damit ich nicht wie ein Idiot dastand. Susanna starrte uns sprachlos an, sich sehr wohl bewusst, dass ihr Witz so witzig nicht gewesen sein konnte. »Ist das Ihre kleine Tochter?«, fragte sie und lächelte Charlotte an. »Hallo, Schätzchen.« Charlotte blickte verständnislos drein, kaute auf ihrer Lippe herum und wandte sich dann mir zu. »Sie ist sehr ruhig«, erklärte ich. »Aber sie ist nicht meine Tochter. Und die Tampons sind auch nicht für mich.« »Tampons?«, fragte Susanna. Verdammt. Sie hatte sie nicht gesehen. »Also das nenne ich einen richtigen Mann. Kauft Tampons für seine Partnerin. Ian bekäme einen Herzanfall, wenn er das für mich tun müsste.« »Die sind nicht für meine Partnerin«, erklärte ich - aber das klang noch schlimmer, als wollte ich gleich erklären, sie wären nun doch für mich selbst. »Sie sind für Ginny, meine Mitbewohnerin.« »Ginny, mit der Ian früher zusammengearbeitet hat?« Meine Zunge klebte am Gaumen. »Äh… ja.« »Mir war gar nicht klar, dass sie die Bekannte ist, Ian. Das hättest du sagen sollen. Ginny ist sehr nett. Ich habe sie ein paarmal getroffen, als Ian noch in der King's-HeathGesamtschule gearbeitet hat. Es war wirklich traurig, als ihre Mutter starb. Ich erinnere mich noch, dass Ian mir davon erzählt hat. Die Arme war ganz außer sich.« »Ich weiß«, sagte ich. »Sie und Ginny sollten einmal zum Abendessen zu uns -242-
kommen«, schlug Susanna vor, wohl um die Stimmung etwas zu heben. »Ich würde sie gern wieder sehen.« »Hm, ja«, sagte ich. »Das klingt gut. Aber momentan steckt sie bis über beide Ohren in Arbeit…« »Ich weiß, was Sie meinen. Dann sagen Sie ihr einfach, sie soll Ian anrufen, wenn sie wieder etwas Land sieht.« »Gern«, erwiderte ich und sah auf die Uhr. »So spät ist es schon? Dann muss ich mich aber sputen.« »Ja, natürlich«, sagte Ian. »Es war nett, dich wieder zu sehen, Matt.« »Ja«, erwiderte ich. »Danke, die Freude ist ganz meinerseits.« Ich wandte mich Susanna zu. »Und es war schön, Sie einmal kennen zu lernen.« Ich lächelte. »Bis bald.« »Und vergessen Sie nicht, uns anzurufen«, sagte Susanna. »Bestimmt nicht«, erwiderte ich, froh, diesen Irrsinn gleich hinter mir zu haben. »Ich richte Ginny aus, sie soll Sie bald anrufen.« Und dann machte ich dieses dumme Handzeichen mit dem Daumen nach oben und dem kleinen Finger nach unten, das in der universellen Zeichensprache bedeutete: Ich rufe ganz bestimmt an, darauf können Sie sich verlassen, und ging.
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68 Ich lieferte Charlotte pünktlich zu Hause ab und traf um halb sechs bei Ginny ein. Sobald ich die Haustür aufgeschlossen hatte, rief ich sie: Ich hatte beschlossen, es ihr zu sagen. Mir war klar, dass Ginny am Boden zerstört sein würde und den Überbringer der Nachricht mit dem Absender verwechseln würde. Aber ich wusste auch, dass ich keine Wahl hatte. Ich würde niemals auch nur in Betracht ziehen, alles für mich zu behalten, denn ich hatte bei anderen gesehen, dass es nichts Schlimmeres gab, als mit der schockierenden Nachricht fertig zu werden und zu wissen, dass es für alle anderen ein offenes Geheimnis war. Elaine fehlte mir wirklich - sie konnte gut mit den extremen Emotionen anderer umgehen. Ich hingegen würde bestimmt das Falsche sagen und Ginny noch mehr deprimieren. Ich hatte keinen Plan, wie ich es ihr beibringen sollte. Wie verhielt man sich in so einem Fall? Sollte ich erst fragen, wie ihr Tag gelaufen war, und dann wie nebenbei erwähnen: »Oh, dein Freund hat übrigens Frau und Kinder«? Oder vielleicht besser der Methode von Seifenopern folgen, ihr einen starken Drink in die Hand drücken und darauf bestehen, dass sie sich setzte, bevor ich die Katze aus dem Sack ließ? Dann gab es natürlich noch das Spiel mit der guten Nachricht/schlechten Nachricht: »Zuerst die gute: bald ist Zahltag, ja? Jetzt die schlechte: Dein Freund ist der größte Mistkerl aller Zeiten.« Es würde nicht leicht sein. Ginny war nirgends zu sehen, aber ich hörte Musik aus ihrem Zimmer und das Wasser lief oben im Bad. Die dritte Symphonie von Mahler tönte lautstark durchs Haus. Die Musik zusammen mit dem Bad so früh am Abend bedeutete, dass sie einen schlechten Arbeitstag gehabt hatte und ihn zu vergessen suchte. -244-
»Hallo?«, rief ich laut die Treppe hinauf, um die Musik zu übertönen. »Ginny, ich bin zu Hause.« »Ich bin im Bad!«, kam es gedämpft aus dem Badezimmer. »Lass mich in Ruhe, bis ich wieder ein menschliches Wesen bin!« »Ich wollte nur…«, ich überlegte, was ich sagen sollte, »… sehen, ob du okay bist.« »Mir geht's gut!«, schrie sie zurück. »Ich hatte einen langen, furchtbaren und qualvollen Tag. Ich erzähl dir später davon.« Ich ließ sie in Ruhe und brachte die Einkäufe in die Küche. Als ich das zweite Mal durchs Wohnzimmer ging, kam mir der Gedanke, den Anrufbeantworter abzuhören, ob Ian vielleicht schon eine Nachricht hinterlassen hatte. Und ich hatte richtig gelegen. Auf dem Band war die Stimme eines übernervösen Ian zu hören, der sie bat, ihn so schnell wie möglich auf dem Handy zurückzurufen. Offensichtlich wollte er ihr seine eigene Version der Geschichte unterbreiten, bevor ich meine präsentieren konnte. Ich löschte die Nachricht, räumte die Einkäufe weg, machte zwei Tassen Tee und ging nach oben. Ginny war jetzt in ihrem Zimmer und föhnte sich die Haare. Ich klopfte an. »Bist du sittsam gekleidet?« »So sittsam wie immer«, erwiderte sie. »Komm rein.« Ich drückte die Tür mit der Schulter auf. Ginny saß im Morgenmantel auf der Bettkante, den Föhn in der Hand. »Was kann ich für Sie tun, Mr Beckford?« »Darf's eine Tasse Tee sein, meine Dame?«, fragte ich. »Keinen Zucker, keine Milch, nicht zu stark und nicht zu schwach.« »Genau wie ich ihn mag«, sagte sie, sah mich jedoch verwirrt an. »Womit habe ich diesen Service verdient?« »Mit nichts«, erwiderte ich. »Es ist nur eine Tasse Tee.« Ich hielt inne. »Vielleicht hast du es der Tatsache zu verdanken, -245-
dass ich so eine nette Vermieterin habe.« Ginny sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Du willst dir Geld leihen, stimmt's?« »Nein«, entgegnete ich. »Aber wenn du welches verschenkst, nehme ich's gern. Mir war nur eingefallen, wie gut es tut, wenn man verwöhnt wird. Ich kann natürlich jederzeit damit aufhören und so griesgrämig sein wie du, wenn dir das lieber ist.« Ginny lachte. »Ich mag die aufmerksame Matt-Version. Bleibt er länger?« »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob Nettigkeit sich langfristig lohnt.« Ich trank einen Schluck Tee. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum Elaine dich jemals aus ihren Klauen gelassen hat.« Ich lächelte. »Hat das Telefon geläutet, als du im Bad warst?« »Nein«, erwiderte Ginny und rubbelte sich mit dem Handtuch den Kopf. Dann hörte sie auf und dachte noch einmal nach. »Also, wo ich jetzt darüber nachdenke, hat es doch einmal geklingelt. Aber ich war so fertig und hatte keine Lust, aus der Badewanne zu steigen und dranzugehen. War es was Wichtiges?« »Nein«, log ich, denn ich hatte lediglich wissen wollen, ob sie schon etwas von Ian gehört hatte. »Es war nur eine Nachricht für mich. Von meinen Eltern. Mich hat nur interessiert, um welche Zeit sie angerufen haben. Sonst hat es niemand versucht?« »Nicht, dass ich wüsste«, sagte sie. »Aber das ist jetzt genug Telefongerede. Frag mich, wie mein Tag war.« »Wie war er?« »Katastrophal. Alles, was schief gehen konnte, ist schief gegangen.« Sie seufzte schwer. »Ich würde am liebsten einfach weglaufen.« »Wohin?« -246-
»Wo das Leben einfacher ist.« »Und wo es vielleicht auch einen Strand gibt?« »Unbedingt. Irgendwo in die Karibik. Ich könnte den ganzen Tag am Strand sitzen und den einheimischen Kids Kunstunterricht geben.« »Du könntest Kollagen mit Muscheln und Algen machen«, schlug ich vor. »Wunderbar.« Sie lächelte. »Das gefällt mir. Kommst du mit?« »Auf deine karibische Insel? Warum?« Ginny lachte. »Auch im Paradies braucht man Freunde.« »Heißt das, dass wir Gershwin auch mitnehmen müssen?« »Es wäre gemein, ihn hier zu lassen.« Wir lachten wieder, und dann trat ein kurzes Schweigen ein. Mir wurde klar, dass ich es ihr bereits hätte sagen sollen. Aber das hatte ich nicht. Weil ich es nicht konnte. »Was hast du heute Abend vor?«, fragte ich. »Ian hat keine Zeit, wie immer. Und du?« »Nichts Besonderes.« Sie sah mich nachdenklich an. »Du bist wohl wieder in deiner traurigen ›Ichwillzurücknach-Amerika‹-Stimmung. Das sehe ich dir an.« Ich verzog das Gesicht und gab so zu verstehen, dass das immer noch ein wunder Punkt war. »Hast du Hunger?«, fragte ich. »Ist das ein Angebot zu kochen?« »Warum nicht«, erwiderte ich. »Worauf hast du Lust?« »Auf ein tröstendes Mahl«, sagte sie. »Du willst ein Trostessen?«, wiederholte ich. Ginny sah mich verwundert an. »So seltsam ist dieser Wunsch nun auch wieder nicht, Matt. Am liebsten hätte ich was mit -247-
Kartoffeln, wie Pfannkuchen oder Bratkartoffeln oder Pommes mit Bohnen und Spiegelei. Mit etwas Tomatenketchup.« »Das ist alles?« »Und jemanden, mit dem ich den Rest des Abends vor dem Fernseher rumhängen kann, damit ich mich nicht so alleine in meinem Loserreich fühle.« »Okay«, sagte ich erleichtert. »Ich kümmere mich um die Kartoffeln, Bohnen und Spiegeleier.« »Und was ist mit dem Fernsehkumpel?« »Würde ich denn genügen?« »Unbedingt.« »Könnten wir wieder ER live! spielen?« »Aber sicher.
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69 Inzwischen war es halb zwölf. Ginny und ich hatten unseren Dinner-Brei verspeist, uns massenweise hundsmiserable Fernsehsendungen reingezogen und ER live! gespielt. Doch ich hatte es noch nicht fertig gebracht, ihr zu erzählen, was ich wusste. Erst als sie dann gähnte und sagte, dass sie jetzt ins Bett gehe, nahm ich allen Mut zusammen. »Heute Nachmittag habe ich Ian im Safeway getroffen.« »Du triffst immer alle im Safeway«, erwiderte Ginny. »Habt ihr euch unterhalten?« »Er war mit einer Frau da«, entgegnete ich. Eine kaum merkliche Pause setzte ein. Dann sagte Ginny: »Erzähl mir jetzt nicht, dass Ian im Supermarkt von einer Frau verfolgt wurde«, und lachte. Aber es war zu spät. Die kurze Pause hatte alles offenbart. »Du weißt es schon?« »Dass Ian im Supermarkt war?«, bluffte sie. Ein Blick in ihre Augen verriet mir, dass ich Recht hatte. »Du weißt, dass er verheiratet ist.« »Schon immer«, sagte sie und biss sich auf die Lippe. Tränen standen in ihren Augen. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie. Keiner sagte ein Wort, bis ihre Tränen versiegt waren. Dann stand ich auf und holte unsere Jacken aus dem Flur. »Lass uns gehen«, sagte ich. »Und wohin?« Ich lächelte, nahm ihre Hand und küsste sie auf die Stirn. »Wir laufen weg.«
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70 »Nachts sind Parks komisch«, sagte Ginny, »aber angenehm komisch.« »Ich weiß, was du meinst«, erwiderte ich. »Als wäre der Park nur für uns alleine da.« Wie ferngesteuert waren wir von Ginnys Haus zum King's Heath-Park gegangen, der sogar nach Mitternacht noch etwas Einladendes hatte. Gleich am Eingang sagte Ginny: »Lass uns zu unserer Bank gehen«, was ich für eine gute Idee gehalten hatte. Es war eine alte Holzbank mit Blick auf den Springbrunnen mitten im Park. Als prüfungsgestresste Teenager hatten wir uns immer dort getroffen, um zwischen den ganzen Vorbereitungen eine Pause einzulegen. Es war schwer zu glauben, dass die Bank nach all der Zeit noch immer existierte. Ich hätte darauf wetten können, dass sie schon vor einer Ewigkeit Vandalen zum Opfer gefallen war, doch stattdessen hatten nur Schulkinder mit Stiften und Messern ihre Spuren hinterlassen, so dass der Schaden sich in Grenzen hielt. »Erzählst du mir jetzt, wie alles passiert ist?«, fragte ich nach einer Weile. »Du musst nicht, wenn du nicht willst. Wir können auch einfach nur hier sitzen. Aber wenn dir doch nach reden zu Mute ist, höre ich dir gern zu.« Lange Zeit sagte sie nichts. Auf dem Weg hierher, den wir ebenfalls schweigend zurücklegten, hatte ich mir Ginnys Situation vor Augen geführt und überlegt, was für Auswirkungen ihre Lage auf sie haben musste. Offensichtlich hatte sie von Anfang an in ihrer Beziehung die Tränen niedergekämpft. »Wie ich schon sagte«, begann sie niedergeschlagen, »es ist alles meine Schuld.« -250-
»Wie meinst du das?«, fragte ich. »Es liegt daran, wie ich bin. Viele meiner Freundinnen sehen einen gut aussehenden Typ und denken sofort, den will ich. Ich fühle mich immer wie eine Betrügerin, wenn ich genauso reagiere, denn in Wahrheit könntest du mir einen umwerfenden Go-Go-Tänzer vor die Nase setzen, und mich würde nur interessieren, ob er einen guten Tee machen kann. Es ist meine Schuld, dass ich so bin. Ich finde fremde Männer nicht attraktiv. Kein bisschen. Sie lassen mich kalt. Wenn ich nichts über einen Mann weiß, interessiert er mich nicht.« Sie hielt inne und sah mich an. Unsere Blicke trafen sich kurz, dann wandte sie sich ab. »Jedenfalls war ich eine Zeit lang Single gewesen. Ich glaube, ich hatte es satt, immer so viel Energie in eine Beziehung zu stecken und gleichzeitig zu wissen, dass sowieso nichts draus würde. Deshalb habe ich mich auf meine Freunde konzentriert, auf meine Arbeit und auf meine Mum…« »Und dann?« Wieder sah sie mich an. »Und dann kam Ian als Aushilfslehrer in die King's Heath.« »Und unterrichtete Geografie«, bemerkte ich ironisch »Du hast's erfasst«, erwiderte sie und lächelte ansatzweise, um mir zu zeigen, dass sie meinen Witz verstanden hatte. »Zuerst konnte ich ihn nicht leiden. Ich hatte mich mit ihm unterhalten und das Gefühl gehabt, dass er ein Spiel mit mir treibt. Ich kann nicht erklären, wieso. Aber ob es nun Neugier oder Hartnäckigkeit war, jedenfalls gefiel er mir dann doch recht gut, und wir gingen ab und zu nach der Arbeit einen trinken. Daraus hat sich dann eine Freundschaft entwickelt, ein echte Freundschaft. Sie hat auch weiter bestanden, als er an eine andere Schule versetzt wurde. Er war ein wirklich guter Freund für mich, als Mum starb. Ich hatte große Probleme, mit allem fertig zu werden, und er schien immer zur richtigen Zeit da zu sein, um mich wieder aufzurichten. Irgendwie machte er sich -251-
unentbehrlich - er füllte sämtliche Lücken in meinem Leben aus. Bis dahin war nichts zwischen uns gewesen, aber ich merkte, wie ich mich in ihn verliebte. Und dann, eines Abends letztes Jahr im Sommer, saßen wir bei mir im Garten, die Sonne ging gerade unter, und ich sah ihn an und wusste, dass er der Richtige war - den Rest kennst du.« »Wann hast du erfahren, dass er verheiratet ist?« Ihre Stimme wurde leiser, dünner. »Er hat es mir an dem Abend gesagt. Ich weiß, es klingt pathetisch, aber er sagte es mir gleich nach dem ersten Kuss.« »Und?« »Da war es schon zu spät. Ich hatte mich rettungslos verliebt«, wiederholte sie mit brüchiger Stimme. Ich nahm sie wieder in die Arme. »Ist schon gut«, flüsterte ich und drückte sie an mich. »Ist schon gut.« »Es ist nicht gut«, widersprach sie schluchzend. »Es ist überhaupt nicht gut. Ich weiß, ich klinge, als würde ich über den Dingen stehen, aber das tue ich nicht. Ich kann dir nicht sagen, wie weh es tut. Ich habe Millionen Mal versucht, Schluss zu machen, aber ich schaffe es nicht. Ich liebe ihn. Es ist so dumm, so aussichtslos.« Sie brach in Tränen aus, was sicher gut tat. »Ich hasse mich für das, was diese Beziehung aus mir macht. Ich fühle mich wie ein Miststück, aber das bin ich nicht. Bestimmt nicht. So was mache ich doch nicht! Deshalb habe ich auch niemandem davon erzählt. Ich habe ihn dir nur an Gershwins Geburtstag als meinen Freund vorgestellt, weil ich glaubte, wir würden uns danach nie wieder sehen. Es ist mir unerträglich, wenn Leute das von mir denken. Es ist mir unerträglich, wenn du das von mir denkst.« »Ist schon gut«, sagte ich. »Ich denke deshalb nicht schlecht über dich, überhaupt nicht, das verspreche ich.« »Warum mache ich das? Er hat ein Kind, einen kleinen Jungen.« -252-
»Stimmt es, dass seine Frau - Susanna - nichts weiß?« Ginny nickte. »Ja. Ich kenne sie - was alles noch schlimmer macht. Früher hat Ian ihr erzählt, wir würden an einem Grundschulprojekt arbeiten, wenn er sich mit mir traf. Dann hat sie ihm eines Tages gesagt, er soll mich doch mal zum Abendessen einladen, und er konnte nicht Nein sagen, ohne dass es verdächtig gewesen wäre. Es war furchtbar, einer der schlimmsten Abende meines Lebens.« »Und was erzählt Ian ihr jetzt, wenn er mit dir zusammen ist?« »Dass er seine Kumpel trifft, dass er Fußball spielt, dass er in der Bibliothek an seiner Doktorarbeit schreibt. Alles mögliche was die Palette so bietet.« »Will er sie verlassen?« »Nein. Das hat er von Anfang an klar gemacht. Er sagt, er liebt sie auf seine Weise, und er liebt seinen kleinen Sohn Jake über alles. Das will er nicht kaputtmachen, wie sehr er mich auch liebt.« »Er liebt dich?« Ich wollte die Frage nicht stellen, aber ich musste sicher sein. »Ja«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn ich Schluss machen wollte, hat er mich unter Tränen gebeten, bei ihm zu bleiben.« Sie hielt inne. »Es ist lustig, aber ich habe ihm erst letzte Woche erzählt, dass wir beide mehr oder weniger Ex-Lover sind. Ich war echt überrascht, wie eifersüchtig er reagierte, wo es doch schon so lange her ist.« Wir redeten noch eine Weile darüber, doch ich sagte nur wenig, was sie gemerkt haben musste. Denn dann stellte sie mir die eine Frage, die ich wirklich nicht beantworten wollte. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« Wenn Freunde einem diese Frage stellen, wollen sie niemals hören, was man wirklich glaubt. Sie wollen hören, dass die -253-
Entscheidung, die sie bereits getroffen haben, die Richtige ist. Das ist ganz normal. Bei mir wäre das nicht anders. Doch wenn ich eines aus meiner Beziehung mit Elaine gelernt habe, dann das: Was man hören will, ist selten gut für einen. Deshalb hatte Elaine mir jedes Mal, wenn ich ihr diese Frage stellte, ihre ehrliche Meinung gesagt, egal wie weh es tat. Das ist etwas, das ich sehr an ihr bewundert habe. »Du weißt, dass du ihn nicht mehr sehen darfst«, sagte ich. »So einfach ist das nicht«, erwiderte sie. »Ich weiß«, gab ich zu. »Nichts ist mehr einfach.« Plötzlich fiel mir etwas ein, und ich musste lächeln. »Was ist?« »Du wirst mich für verrückt halten.« »Tu ich doch sowieso.« »Also gut«, begann ich. »Ich hatte gerade die Eingebung, dass man irgendwann im Alter zwischen achtzehn und dreißig in die Seifenopern-Ära eintritt.« »Du schweifst ab, Matt«, sagte Ginny. »Wovon redest du?« »Das Leben wird zur Seifenoper, ein niemals endender Strom von Verwicklungen, Kehrtwendungen und unglaublichen Szenarien. Du kennst das: Wenn man jung ist, ist das Leben leicht zu deuten. Es gibt so wenig Höhen und Tiefen, dass man sozusagen was erfinden muss, worüber man sich Sorgen machen kann. Deshalb sind Teenager auch so launisch - das hat nichts mit wild gewordenen Hormonen zu tun, sondern liegt einzig und allein daran, dass in ihrem Leben nichts passiert. Wenn ich an dich, mich und Gershwin denke, war früher alles so einfach für uns. Aber sieh uns jetzt an, Jahre danach. Gershwin ist verheiratet mit Kind und langweilt sich, du hast eine Affäre mit einem verheirateten Mann, und ich versuche herauszufinden, ob meine Exfreundin in den Vereinigten Staaten doch die Richtige für mich ist. Das meine ich mit Seifenoper.« -254-
»Ich habe einen Freund in Brighton«, sagte Ginny, »der nicht weiß, dass seine Freundin mit seinem besten Freund schläft.« »Siehst du!«, entgegnete ich. »Das klingt wie eine Episode von The Bold and the Beautiful oder Brookside.« Ich dachte einen Moment nach. »Und wie findest du das: Kurz bevor ich aus New York weg bin, haben Freunde von Elaine herausgefunden, dass sie niemals Kinder haben können, nicht einmal ein Retortenbaby oder mit einer Hormonbehandlung.« »Ich glaube, etwas in der Richtung habe ich letzte Woche in Home and Away gesehen«, sagte Ginny, der es sichtbar besser ging. »Okay, hier ist noch so was: Eine Freundin in Keele hat letztes Jahr herausgefunden, dass ihre Mum vor achtundzwanzig Jahren eine Affäre hatte und ihr Dad nicht ihr richtiger Dad ist.« »Das klingt total nach Dallas«, sagte ich. Ginny lachte und schien sich selbst einen Moment lang wieder zu mögen. »Verstehst du jetzt, was ich meine?«, fuhr ich fort. »Das ist genau der Stoff, aus dem Seifenopern sind: kinderlose Paare, hintergangene Freunde, Väter, die nicht die wirklichen Väter sind und das alles passiert realen Menschen. Und jetzt erklär du mir, wie es so weit kommen konnte.« »Ich will kein Leben wie in EastEnders«, sagte Ginny leise. »Ich will einfach, dass alles wieder normal ist.« Sie rückte näher zu mir. »Ich auch«, sagte ich und legte meinen Arm wieder um sie. »Vielleicht sollten wir uns auf die Suche nach besseren Drehbuchautoren machen.« Eine halbe Stunde später waren wir wieder in ihrem Haus, wo wir abwechselnd das Bad benutzten und uns zum Schlafengehen fertig machten. »Geht's dir ein bisschen besser?«, fragte ich, als Ginny im Morgenmantel aus dem Bad kam. »Ja, mir geht's ganz gut«, sagte sie, beugte sich vor und küsste mich. Ihr Atem roch nach Zahnpasta. »Danke, dass du dich um -255-
mich gekümmert hast.« »Schlaf gut, wir sehen uns morgen Früh.« Auf halbem Weg zu ihrem Zimmer blieb sie stehen und drehte sich um. »Matt?« »Was ist?« »Nichts.« »Was ist?«, wiederholte ich. »Nichts.« »Willst du die ganze Nacht hier auf dem Treppenabsatz stehen?« Sie lächelte. »Es ist wirklich nichts, nur Geschwafel. Du hältst es bestimmt für blanken New-Age-Nonsens, aber ich glaube, dass nichts ohne Grund passiert. Ich glaube, dass es einen Grund gibt, dass du wieder nach Hause gekommen bist. Ich glaube, dass du, Gershwin und ich wieder zusammen sind, um uns gegenseitig zu helfen. Das glaube ich wirklich. Im Moment sieht es für uns beide echt düster aus, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sich das bald ändert, denn… na ja, wenn Freunde für einen da sind, ist alles möglich.«
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[email protected] Betreff: Das Leben Liebe Elaine, das Leben hier nimmt wahrlich seltsame Formen an. Gestern Abend habe ich erfahren, dass Ginnys perfekter Freund verheiratet ist. Mit Kind. Sie hatte es niemandem erzählt, und ich fand es nur heraus, weil ich ihm und seiner Frau zufällig begegnet bin. Aus dem Gespräch mit Ginny wurde mir klar, dass sie tief in ihrem Inneren aus der Beziehung herauswill. Sie sagte sogar, sie akzeptiert, dass er seine Frau niemals verlassen wird, und weiß, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Sie sieht ihn selten, will oder eher kann - aber nicht Schluss machen. Ich will mich ja nicht aufs hohe Ross der Moral schwingen (nicht mal aufs kleine Pony, falls eins rumsteht), aber das ist doch nicht okay. Oder bin ich einfach ein alter Furz? Das Schlimmste ist, dass er damit keinerlei Probleme hat. Er kriegt alles und Ginny nichts. Ich hatte schon überlegt, ob ich mich mal mit ihm »unterhalte«, aber Ian ist ein ziemlich stämmiger Kerl, so dass meine Chancen nicht gerade gut stehen. Wäre ich allerdings bei der Mafia, hätte ich keine Probleme, ihm von jemandem eine »Bombe in den Arsch« schieben zu lassen, wie es im Gangsterjargon so schön heißt. Das scheint mir doch gerechtfertigt. Ich sehe mir jetzt Godfather 2 an, das entspricht meiner Stimmung. Schreib mir, wie das Leben in NYC ist, Kleines. Alles Liebe, Matt :-) An:
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[email protected] -257-
Betreff: Die Welt ist voller verheirateter Männer!!! Lieber Matt, es ist furchtbar, dass Ginnys Situation so verfahren ist. Erinnerst du dich noch an Melissa, meine Freundin vom College? Du hast immer gesagt, irgendwas an ihr ist komisch, und ich habe gesagt, es sind ihre zu dünn gezupften Augenbrauen, worauf du meintest, deshalb sieht sie immer so überrascht aus. Also jedenfalls ist sie mit diesem Danny gegangen, der war auch verheiratet und hat, wie nicht anders zu erwarten, ihr das Herz gebrochen. Aber das Verrückte ist, dass sie das Gleiche ein paar Jahre später noch einmal gemacht hat, und das ist auch wieder in die Hose gegangen. Schließlich hat ihre Mum ihr eine Therapie bezahlt, weil sie fand, das sei immer noch billiger als die langen Ferngespräche, wenn Melissa wieder mal zusammengebrochen war. Um es kurz zu machen, der Therapeut sagte ihr, sie sei süchtig nach schlechten Beziehungen. Als sie mir das erzählte, gab ich ihm sofort Recht, denn im College hatte sie wie ein Magnet die Loser der Stadt angezogen. Aber die Therapie hat nichts genutzt. Letzte Woche habe ich mit ihr gesprochen, und sie wohnt mit einem Typ zusammen, der sie schon zweimal betrogen hat und sie hat ihm jedes Mal verziehen. Ich gebe ihr nicht die Schuld, aber ich finde es sehr traurig. Zum Schluss noch etwas zur Aufmunterung: Es freut dich sicher zu hören, dass ich jetzt ein Tattoo auf dem Hintern habe, das japanische Symbol für Liebe. Frag mich nicht, warum, ich könnte es dir nicht erklären. Es musste einfach sein. Nimm's leicht. Elaine :-) PS: Was deine Freundin betrifft, weiß ich, dass du ihr da raushelfen willst, so einer bist du nämlich. Aber selbst du kannst nicht alles reparieren. Versuch einfach, für sie da zu sein. Wenn sie nur halb so ist, wie du sie beschreibst, wird sie selbst eine Lösung finden. -258-
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[email protected] Betreff: Ladys mit Tattoos Liebe Elaine, manchmal machst du mir Angst. Für mich hast du den verrücktesten Verstand auf der ganzen Welt, und dann überraschst du mich mit einer Weisheit, die selbst Oprah Winfrey in den Schatten stellt. Ginny sagt, wenn Freunde für einen da sind, ist alles möglich. Vielleicht ist sie da ein bisschen zu optimistisch - ich muss wohl nicht erwähnen, dass Ian noch immer ihr Freund ist, aber sie hat Recht, dass Freunde zumindest gute Zuhörer abgeben. Die Zeit, die ich seit meiner Rückkehr nach England mit Gershwin und Ginny verbracht habe, ist die beste überhaupt. Das ist natürlich nicht gegen dich gerichtet - ich will nur sagen, dass die beiden ein Teil meiner Vergangenheit sind. Ich nehme deinen Rat also an und versuche nicht, Ginnys Situation »zu reparieren«!!! Aber ich werde mir eine Überraschung für sie überlegen. Nur damit sie weiß, dass ich - na ja - auf ihrer Seite bin. Alles Liebe, Matt :-) PS: Ich habe immer versucht, unsere Beziehung zu reparieren, stimmt's? An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Du
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Lieber Matt, eine Überraschung ist immer gut. Das wird ihr bestimmt gefallen. Alles Liebe, Elaine :-) PS: Ja, du hast immer alles zu reparieren versucht, aber nie ohne guten Grund.
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3. Monat Datum: 1. März Tage bis zum dreißigsten Geburtstag: 31 Verfassung: Ganz okay (in Anbetracht der Ereignisse)
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73 Es war Viertel vor neun am folgenden Freitagabend, und Ginny und ich standen im Wohnzimmer und diskutierten über ihre Kleidung. Seit einer halben Stunde wanderte sie zwischen ihrem Zimmer und dem Wohnzimmer hin und her und führte mir verschiedene Kombinationen vor. »Wie findest du das?«, fragte sie. »Hervorragend«, sagte ich ermunternd angesichts ihres langärmligen schwarzen Oberteils und den schwarzen Hosen. »Besser oder schlechter als das Letzte?«, fragte sie. Ich erinnerte mich nicht mehr an das Letzte. »Besser«, behauptete ich schamlos. »Hm«, sagte Ginny nachdenklich, »es ist also kein schickes Restaurant?« »So könnte man sagen.« Sie musterte mich von oben bis unten. Ich trug meine dunkelblaue Cargo-Hose, einen dunkelblauen Kapuzenpulli und schwarze Turnschuhe. »Du bist sehr leger gekleidet.« »Tatsächlich?«, fragte ich, nicht gerade hilfreich. »Das weißt du ganz genau«, sagte sie und sah mich aus zusammengekniffenen Augen drohend an. Dann begutachtete sie mich erneut. »Aber es ist wohl ganz okay«, sinnierte sie, »wenn es wirklich kein elegantes Restaurant ist.« »Dann sind wir jetzt fertig und können gehen?« »In ein paar Minuten«, sagte sie, hastete wieder hoch in ihr Zimmer und erschien fünf Minuten später an der Wohnzimmertür in einer hauchdünnen schwarzen Bluse und Jeans. »Und wie sieht das aus?« »Ich kann's nicht fassen, dass du dich noch mal umgezogen -262-
hast.« Sie ignorierte meinen Kommentar. »Besser oder schlechter als das Vorige?« »Besser«, sagte ich begeistert. Sie sah hinab auf ihre nackten Füße. »Turnschuhe oder Schuhe?« »Schuhe«, erwiderte ich. Sofort bedachte sie mich mit einem verächtlichen Blick. »Auf keinen Fall Turnschuhe.« Wieder verschwand sie und kam, keineswegs unerwartet, nach einigen Minuten in einem vollkommen anderen Outfit zurück: einem langärmligen weißen Baumwollshirt, sandfarbenen (es soll keiner behaupten, ich hätte von Elaine nicht eine Menge über das weibliche Farbenspektrum gelernt) weiten Hosen und Birkenstock-Sandalen. »Gute Wahl«, sagte ich so begeistert wie möglich, obwohl ich inzwischen schon ziemlich erschöpft war.« »Danke«, sagte sie. »Jetzt muss ich nur noch überlegen, ob ich eine Jacke brauche oder nicht.« Sie drehte eine Pirouette vor mir. »Jacke oder keine Jacke?« »Jacke«, erwiderte ich »Aber wir nehmen doch ein Taxi? Dann könnte ich auch ohne Jacke gehen. Es sei denn, wir sitzen draußen.« »Wir sitzen drinnen«, sagte ich geduldig. »Also keine Jacke.« Ginny runzelte nachdenklich die Stirn. Ich sah, wie sie innerlich hin und her schwankte. »Du hast Recht. Ich brauche keine Jacke.« »Klasse. Dann können wir jetzt gehen.« »Aber findest du nicht, dass die Jacke zu den Birkenstocks passt? Ja, die Birkenstocks können nicht ohne Jacke.« Es klang, als würden die Schuhe ohne die Jacke schwerste Depressionen bekommen. -263-
»Nein.« »Ich glaube, du hast Recht. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine gute Frau abgeben würdest?« »Nicht diese Woche.« »Ein echtes Versäumnis«, erwiderte sie, als wir in den Flur traten. »Jede Frau sollte jemanden wie dich haben.«
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74 Der Plan für den Abend war simpel gewesen: Ich sollte mit Ginny ins King of the Baltis kommen, ein indisches Restaurant nahe Sparkbrook, und zwar um halb zehn. Da wir aber noch einmal zurück zum Haus mussten, weil sie ihre Jacke am Ende doch mitnehmen wollte, kamen wir um Viertel vor zehn und somit zu spät. »Hier gehen wir also essen?«, sagte Ginny, als unser Taxi vor dem Restaurant hielt. »Indisch, schön. Und warum tust du dann so geheimnisvoll?« Ich hielt ihr die Tür auf. »Das wirst du gleich sehen.« Sie lächelte. »Es macht dir wirklich Spaß, mich im Dunkeln tappen zu lassen, stimmt's? Du glaubst, es verleiht dir etwas Mysteriöses, wie James Bond. Also…« Sie brach mitten im Satz ab, als an dem für »Matt Beckford, sechs Personen« reservierten Tisch plötzlich Bev, Pete, Katrina und Gershwin aufstanden und uns lautstark willkommen hießen. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, beendete sie schließlich strahlend ihren Satz. »Das ist echt toll, Matt. Es ist ja schon so lange her, dass wir alle zusammen waren, ich kann's nicht fassen. Bev, Pete und Katrina sind hier. Und du hast es organisiert!« Ich zuckte die Schultern, als wäre es nicht der Rede wert. »Du hast doch selbst gesagt«, begann ich in Gedanken an den Satz, den sie vor etwas mehr als einer Woche geäußert hatte. »›Wenn deine Freunde für dich da sind, ist alles möglich‹. Ich wollte einfach nur, dass du weißt, dass du keinen wie Ian brauchst, wenn du Menschen um dich hast, die…« Plötzlich war ich ganz befangen. Es klang alles viel zu aufgeblasen. »Menschen die was?«, hakte sie nach, als klar war, dass ich -265-
den Satz nicht vollenden würde. »Nichts.« »Nichts?« Sie musterte mich eingehend, stellte sich auf die Zehenspitzen, flüsterte mir »Lügner« ins Ohr und gab mir einen Kuss, der jedoch nichts Neugieriges oder Tröstliches hatte, wie unser letzter, sondern ziemlich leidenschaftlich war. Aber er war auch Ausdruck des Augenblicks und somit vergänglich, zumal wir merkten, dass uns alle am Tisch anstarren. Zurück blieb nur das schöne Gefühl, es könnte bald wieder passieren. Dann kamen die Kellner mit zwei Flaschen Sekt, machten sie knallend auf und schenkten unsere Gläser voll. Ginny stieß mich an. »Mach schon, Matt, sag was - bring einen Trinkspruch aus.« »O nein«, erwiderte ich. »So was kann ich nicht. Mach du es doch. Immerhin ist es dein Abend.« »Ich kann das auch nicht«, beteuerte sie. »Ich krieg kein Wort raus. Aber es würde mir eine Menge bedeuten, wenn du es tätest.« »Nun mach schon!«, rief Gershwin. »Einer von euch bringt jetzt einen Trinkspruch aus, bevor das Zeug hier warm wird.« »Auf die abwesenden Freunde«, sagte ich und hob mein Glas. »Und die alten Freunde, die hier sind.« Wir hatten uns so viele Neuigkeiten zu erzählen, dass die nächste Stunde wie im Flug verging. Ich unterhielt mich lange mit Bev. Es war komisch, sie ohne ihre Gothic-Aufmachung zu sehen, nachdem ich sie mir bei unserem Telefonat noch darin vorgestellt hatte. Aber ihre alte schwarze Uniform war perlenbesetzten Baticklamotten im Hippie-Stil gewichen. Wie die meisten von uns, hatte auch sie ein paar Pfund zugenommen, war aber immer noch schön; und das teuflische Lächeln, schon damals ihr Markenzeichen, hatte sie auch noch. Doch das Beste war, dass sie sich benahm wie früher: In einer Welt, in der alle meine Freunde um die dreißig ihre gesundheitsschädlichen -266-
Angewohnheiten aufgegeben hatten, rauchte sie ihre Silk Cut Ultras nonstop, als hinge ihr Leben davon ab. Im Gegensatz dazu hatte Katrina sich sehr verändert: Früher attraktiv, war sie jetzt umwerfend schön, so dass Pete den ganzen Abend kaum seinen Blick von ihr abwenden konnte. Irgendwie waren ihre dunkelbraunen Augen noch betörender geworden, ihr Verhalten koketter und gleichzeitig zurückhaltender und ihr Modebewusststein stilvoller. Sie schien von uns allen die Erwachsenste zu sein, diejenige, die sich mit ihren dreißig am wohlsten fühlte. Während meines Gesprächs mit Katrina musste ich kurz auf die Toilette, und als ich zurückkam, unterhielt sie sich mit Pete. Ginny sprach mit Gershwin und Bev, so dass ich einen Moment alleine dasaß. Hier waren sechs Menschen versammelt, die sich bis vor kurzem aus den Augen verloren hatten und jetzt wieder alle zusammen waren. Jedenfalls fast alle. Obwohl keiner Elliots Tod angesprochen hatte, spürten offensichtlich alle sein Fehlen. Dass wir jetzt nur noch sechs waren, machte das Vertraute unvertraut, als wäre es aus dem Gleichgewicht geworfen. Trotzdem war es ein gelungener Abend. Dessen war ich mir sicher, weil ich sonst in Restaurants immer das Gefühl hatte, die Leute an den anderen Tischen hätten viel mehr Spaß. Jetzt saß ich zum ersten Mal im Leben selber an dem Tisch mit der besten Stimmung. Dabei hatte ich Angst gehabt, das ganze Wochenende würde eine Katastrophe werden. Was, wenn wir uns nicht mehr mochten? Was, wenn wir uns in Wirklichkeit nie gemocht hatten? Oder wenn uns ganz schnell der Gesprächsstoff ausging? Aber der Umgang miteinander zeigte klar, dass wir uns immer noch wohl in der Gesellschaft der anderen fühlten. Die Geschichten von früher bestätigten, dass die guten Zeiten damals wirklich gute Zeiten gewesen waren. Und dass wir der lauteste Tisch im ganzen Lokal waren, bewies, dass wir uns noch eine ganze Menge zu sagen hatten.
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75 Es war Viertel nach elf. Wir hatten fertig gegessen, mehrere Flaschen Wein getrunken und waren in jener ausgelassenen Stimmung, wie sie in großen Gruppen zu dieser späten Stunde oft herrschte. Bev erzählte mir gerade, wie sie ihren Ehemann kennen gelernt hatte, als Katrina schrie: »Matt!« »Was ist?«, schrie ich zurück. »Pete und ich wollen eine Runde ›Was macht eigentlich…‹ spielen.« »Wasmachteigentlich…«-Gespräche hatten wir früher jeden Heiligabend im Kings Arms geführt, wenn alle zu den Feiertagen nach Hause gekommen waren. Dabei hatten wir zu siebt um den Tisch gesessen und Neuigkeiten über die Leute ausgetauscht, die wir von der Schule her kannten. »Muss das wirklich sein?«, fragte Ginny mit leicht weinerlicher Stimme. Sie sah mich an, als wäre ich der Anführer dieses bunten Haufens. »Ich habe immer das Gefühl, damit das Schicksal herauszufordern«, fuhr sie fort. »Als ob irgendwo in der Welt eine andere Gruppe ehemalige King's-Heath-Schüler um einen runden Tisch säße und sagte: ›Oh, wisst ihr, wen meine Mum vor kurzem gesehen hat? Ginny Pascoe! Sie läuft rum wie eine Obdachlose, unterrichtet an unserer alten Schule und versteckt Matt Beckford in ihrem Gästezimmer!‹ Eine echt gruslige Vorstellung. Ich will nicht, dass die ganze Welt weiß, was für eine Loserin ich bin. Das würde ich lieber für mich behalten.« »Ginny hat irgendwie Recht«, gab ich zu. »Ich will auch nicht, dass jemand sagt: ›Und ich habe Matt Beckford bei Safeway gesehen, wie er Tampons gekauft hat.‹« Plötzlich waren alle Blicke auf mich gerichtet. »Das ist eine lange Geschichte«, erklärte ich. »Wenn wir es trotzdem machen, -268-
würde ich vorschlagen, dass wir uns auf Außergewöhnliches beschränken, nach dem Motto: Das hätte ich in hundert Millionen Jahren nicht von so und so erwartet.« »Also gut«, sagte Katrina. »Ich fange an, denn ich hab was ganz Tolles. Vor ungefähr anderthalb Jahren war ich mit einem Exfreund in einem Club in East London, und was glaubt ihr, wer da als Rausschmeißer an der Tür gestanden hat?« »Angela Murphy!«, schrie Bev aus Leibeskräften. In unserer Schulzeit war Angela Murphy diejenige gewesen, die bestimmt einmal Rausschmeißerin, Ringerin oder Kugelstoßerin werden würde. »Colin Birch!«, sagte Katrina. Colin Birch war vermutlich der schmächtigste Knabe der ganzen Schule gewesen. Andre Sasky (der obligatorische Schläger/Psychopath unseres Jahrgangs) hatte Colin immer gern die Hose ausgezogen und sie versteckt. Während Colin einigen sicher Leid tat, war die Mehrzahl wahrscheinlich froh, dass er existierte: So hatte Andre Sasky seinen Spaß und ließ uns in Ruhe. »Er ist echt riesenhaft«, fuhr Katrina fort. »Und sogar ein bisschen sexy.« »Colin Birch sexy?«, fragte Pete ungläubig. »Ich muss zugeben«, sagte Ginny, »dass ich mir das nur schwer vorstellen kann.« »Aber es stimmt«, beharrte Katrina. »Richtig breite, muskulöse Schultern.« »Hast du mit ihm geredet?«, fragte Gershwin, als hätte er etwas Bestimmtes im Sinn. »Nee«, sagte Katrina und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Er wirkte zu beschäftigt…« Gershwin brach in lautes Lachen aus. »Du lügst«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie. »Wahrscheinlich hast du mit ihm geflirtet und gefragt, ob er sich mal mit dir treffen will, und er -269-
hat dich abfahren lassen!« »Oh, verdammt«, sagte Katrina lachend. »Woher weißt du das?« »Ach Kat, nach all den Jahren«, erklärte Gershwin, »spielst du immer noch mit den Haaren, wenn du lügst!« »Ich habe noch was Besseres als Colin Birch«, warf Pete ein. »Ich sitze mit meiner Ex und meinem Sohn im Zug, um das Wochenende bei meiner Mum zu verbringen, und was glaubt ihr, wer sich mir gegenüber hinsetzt?« »Wo ist der- oder diejenige eingestiegen?«, fragte Gershwin. »Wieso willst du das wissen?«, entgegnete Pete. »Ist das wichtig?« »Es könnte ein Hinweis sein«, erwiderte Gershwin. »Also der- oder diejenige ist in Wolverhampton eingestiegen.« Mir fiel niemand ein, der mit uns zur Schule gegangen war und eine Verbindung zu Wolverhampton hatte. »Keine Ahnung«, sagte ich schließlich im Namen aller verwirrt Dreinschauenden am Tisch. »David Coote!«, rief Katrina auf einmal. David Coote war der Oberschichtsschnösel unserer Schule gewesen (seinem Vater gehörten die Coote-Weinläden, die an jeder Ecke zu finden waren) und wahrscheinlich der Einzige, der noch nie von Wolverhampton gehört hatte, geschweige denn dort gewesen war. »Ich habe mich immer gefragt, was aus ihm geworden ist«, sagte Bev. »Ich hatte an Ruth Hennasseys sechzehntem Geburtstag mit ihm rumgeknutscht. Er sah ziemlich gut aus, wenn ich mich recht erinnere.« »Er sah gut aus?«, erwiderte Ginny empört. »David Coote? Niemals! Hast du denn das Gerücht über ihn nicht gehört? Dass er drei Nippel hat?« -270-
»David Coote hat keine drei Nippel«, protestierte ich. »Woher willst du denn das wissen?«, erwiderte Ginny. »Bev, hilf mir«, sagte ich aufgebraucht. »David Coote hatte keine drei Nippel, oder?« »Dazu kann ich leider nichts sagen«, entgegnete Bev. »Ich hab nur zehn Minuten mit ihm geknutscht, wobei er versuchte, mir einen Knutschfleck zu machen, und plötzlich todkrank wurde. Und nein, das hatte nichts mit mir zu tun, sondern mit der Flasche Cola, die er mitgebracht hatte.« »Ihm ist von 'ner Cola schlecht geworden?«, fragte Katrina verwundert. »Nicht von der Cola«, erwiderte Bev grinsend. »Von Daddys Whisky, der in der Flasche war.« »He… halloo?!?«, unterbrach Pete. »Darf ich euch daran erinnern, dass ich gerade am Erzählen war. Also vor der unhöflichen Unterbrechung hatte ich von der Zugfahrt erzählt, bei der mir… Faye Chambers gegenübersaß!« Schweigen trat ein, während wir uns fragend ansahen und versuchten, den Namen zuzuordnen. »Klein und blond?«, fragte Katrina. »War immer mit Liz Mäher zusammen?« »Du meinst Annette Rolosen«, sagte Bev. »Übrigens hab ich zufällig Nick Hall getroffen - rotes Gesicht, hat im Unterricht immer Sandwiches gegessen, an einer Tankstelle gleich außerhalb von Sheffield. Seine Schwester ist mit Annette zur Uni gegangen und jetzt anscheinend Krankenschwester oder Ärztin oder sie arbeitet in einer Arztpraxis, jedenfalls irgendwas mit kranken Leuten… oder Tieren.« Sie hielt verlegen inne, weil sie uns mit dieser blöden Geschichte vollgelabert hatte. »Zurück zu dir, Pete«, sagte sie schließlich reumütig. »Danke«, erwiderte er knapp. »Faye Chambers war das Rechengenie in unserem Jahrgang - sie hatte drei Jahre -271-
hintereinander den Mathepreis gewonnen.« »Ich dachte, Jamie Mannig wäre das gewesen«, sagte ich, um ihn aufzuziehen. »Pass nur auf, Beckford«, warnte Pete. »Vergiss nicht, ich hab den schwarzen Gürtel im Hosengummiziehen.« Bei der bloßen Erwähnung vom Hosengummiziehen jaulten alle Männer am Tisch auf. Es bezeichnete Petes Foltermethode, einem hinten in die Hose zu greifen und das Unterhosengummi so weit hochzuziehen, dass der Schlitz in der Arschspalte klemmte und man ewig brauchte, um ihn wieder rauszupulen. »Du hast meine volle Aufmerksamkeit, Pete«, sagte ich lachend. Pete nahm den Faden seiner Geschichte wieder auf. »Faye hatte dunkelbraune Haare, war entsetzlich dürr und immer allein.« »Die einsame Bohnenstange!«, riefen Ginny, Katrina und Bev wie auf Kommando. »Es ist erschreckend, wie grausam vorpubertäre Mädchen sein können«, kommentierte Gershwin. »Wir haben sie ja nicht so genannt«, verteidigte sich Ginny im Namen aller anwesenden Damen. »Das war Shelley Heath.« »Shelley Heath«, sagte Katrina. »Also das war eine echte Teufelin… Wisst ihr noch, wie sie mir mal in den Arm gebissen hat, weil…« »Erzähl uns endlich deine Geschichte, Pete«, unterbrach Ginny sie, »sonst explodierst du noch. Was macht Faye denn jetzt?« »Sie ist Model für Glamour«, sagte Pete selbstgefällig. »Nein!«, rief Bev aus. »Niemals!«, schrie Ginny. »Nie im Leben!«, sagte Katrina -272-
»Das ist ein Witz!«, kommentierte Gershwin. Als ich dann an der Reihe war, meine Ungläubigkeit kundzutun, fehlten mir die Worte, also schwieg ich. »Ich hab sie gefragt, was sie so macht«, fuhr Pete fort, »und genau das waren ihre Worte: ›Model für Glamour‹. Und zwar kein bisschen verlegen.« »Ist sie hübsch?«, fragte Bev. »Sehr«, antwortete Pete. »Ist das jetzt nur deine Meinung als Mann?«, wollte Katrina wissen. »Was hat denn deine Ex gesagt?« »Amy fand sie auch umwerfend.« Nach dieser Eröffnung verlor unser Spiel an Schwung, weil alle wussten, dass Petes Geschichte nicht zu übertreffen war. Katrina erzählte noch kurz, dass der Bruder ihrer ehemaligen Mitbewohnerin mit Douglas Burton gegangen war (damals potenzieller Prozak-Konsument; heute Radioreporter in Cardiff). Gershwin erwähnte, er habe in einem Pub zufällig ein paar Typen getroffen, die in die Klasse unter uns gegangen waren und Adrian Shearer aus unserem Jahrgang kannten (damals potenzieller Posträuber mit abgesägter Schrotflinte; heute sitzt er eine zehnjährige Strafe im Strangeways ab). Ginny verriet, dass sie einmal vor dem Kino in der Stadt geparkt hatte und dabei Stephanie Tucker (damals scheinbar zur Mittelmäßigkeit verdammt) im Mercedes-Coupe vorbeifahren sah. Und schließlich erzählte ich noch, dass Lara Reid (damals potenziell ein Girl, das vor seinem sechzehnten Geburtstag hundert Kerben am Bettpfosten haben würde) den Christlichen Buchladen in King's Heath führte. »Wer hätte das gedacht?«, sagte Pete nachdenklich. »Wer hätte sich auch nur eine dieser Entwicklungen jemals vorstellen können?«
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76 Es war ein Uhr morgens, und wir saßen alle zusammen in Ginnys Wohnzimmer. Ginny schrie gerade »Neiiin!«, während der Rest von uns so furchtbar lachte, dass es wehtat. Katrina und Pete lümmelten sich auf dem Sofa; Bev hatte sich im Sessel neben der Stereoanlage niedergelassen (sie durfte offiziell DJ spielen, solange sie keinen Gothic-Rock einlegte); Gershwin hatte sich mit der Fernbedienung in der Hand vor dem tonlosen Fernseher breit gemacht, Ginny lag auf dem Boden neben ihm und ich neben ihr. Eigentlich hatten wir nur noch in aller Ruhe vor dem Schlafengehen ein paar Bier trinken wollen, doch dann hatte Bev alte Fotos ausgepackt, die sie aus Sheffield mitgebracht hatte, und schlagartig waren wieder alle hellwach gewesen. Ginnys bestürzter Aufschrei galt einem verwackelten Foto, auf dem sie im Badeanzug am Strand entlanglief. Auf den ersten Blick schien es harmlos, doch bei genauerer Betrachtung sah man, dass ihre linke Brust entblößt war. »Du bist Schuld, Gershwin!«, sagte Ginny und versuchte, ihm das Foto zu entreißen. »Du hast es aufgenommen!« Gershwin zuckte die Schultern. »Und darum soll es meine Schuld sein? Es ist doch dein Balkon, der da rausguckt. Du hättest ihn besser unter Kontrolle haben sollen.« Das Foto war im Sommer nach unserer Prüfung aufgenommen worden. Keiner von uns hatte die geringste Lust auf einen Ferienjob verspürt, obwohl wir uns höchstens Johannisbeersaft oder mal 'ne Limo im Kings Arms leisten konnten. Elliots Eltern wussten, wie arm wir waren und wie schwer wir für die Prüfungen gelernt hatten, und erlaubten uns, in ihrem -274-
Ferienhaus in St. Ives zu wohnen. Am dritten Tag, als wir alle zusammen am Strand lagen, hatte Ginny die Jungs zu einem Wettrennen herausgefordert, für sich aber einen Riesenvorsprung gefordert. Gershwin war zu faul zum Laufen, bot sich aber als Schiedsrichter an. Und damit alles fair ablief, lieh er sich für das Zielfoto Bevs Kamera. Das Rennen ließ sich zunächst ganz normal an, wurde aber schnell zur Farce, als Gershwin »Auf die Plätze, fertig, los!« schrie. Es genügt wohl zu sagen, dass es nicht die beste Idee einer »gut ausgestatteten« Sechzehnjährigen war, in einem Bikini am Rennen teilzunehmen, dessen Oberteil nur locker am Hals zugebunden war. Beim Überqueren der Ziellinie, wobei sie Elliot und mich weit hinter sich ließ, befreite sich ihre linke Brust aus dem engen Stoffgefängnis, was Gershwin in seiner ganzen Pracht auf Zelluloid gebannt hatte. Gershwin stand auf, nahm mir das Foto ab und reichte es Ginny. »Was machst du da?«, rief ich entsetzt. »Sie wird es zerreißen.« Ginny lachte. »Ich nehme zurück, was ich über dich gesagt habe, Gershwin. Du bist ein Held. Ein vollkommener Gentleman.« Sie sah mich an und verzog das Gesicht. »Ich werde das Foto behalten«, sagte sie. »Wie viele Frauen haben schon ein Bild von ihrem Busen, als er noch in Spitzenform war?«
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77 Inzwischen war es fast drei Uhr dreißig, und wir saßen noch alle genauso da wie vor zwei Stunden. Allerdings hatte Bev aufgehört, DJ zu spielen, Ginny betrachtete nicht mehr das Foto, Pete und Katrina, die sich die ganze Zeit unterhalten hatten, schwiegen jetzt, Gershwin war kurz vor dem Einschlafen und ich sah Ginny an und dachte, dass ich momentan nichts lieber täte, als sie zu küssen. »Ich hoffe, du schläfst nicht ein, Matt«, sagte Ginny und stieß mich an. »Ich bin hellwach«, erwiderte ich und stieß sie zurück. »Wir sollten wieder versuchen, die ganze Nacht aufzubleiben«, sagte sie. »Okay.« Ich gähnte, hätte durchaus andere Foltermethoden derzeit vorgezogen. »Und was ist mit euch?« »Klar«, murmelte Bev. »Sowieso«, seufzte Pete. »Sicher«, stöhnte Katrina. »Zweifellos«, brummte Gershwin.
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78 Als ich am nächsten Morgen aufwachte, weil ich dringend aufs Klo musste, hatten wir es wieder nicht geschafft, die ganze Nacht wach zu bleiben. Das wunderte mich keineswegs, zumal mir sowieso nicht klar war, was wir damit beweisen wollten (Dass wir noch immer jung waren? Dass wir keinen Schlaf brauchten? Dass wir nach wie vor bis vier Uhr morgens Unsinn reden konnten?). Doch was immer es war, unser Versagen bewies das Gegenteil. Ich erinnerte mich nur noch, dass Ginny und ich nach oben gingen und Decken und Schlafsäcke holten, um es uns »bequemer« zu machen. Etwas zu bequem, wie sich jetzt herausstellte. Alle lagen in unterschiedlichen Stadien der Bewusstlosigkeit kreuz und quer in Ginnys Wohnzimmer herum. Katrina und Pete hatten sich unter ein Federbett gekuschelt; Bev saß im leuchtend gelben Schlafsack aus Ginnys Pfadfindertagen zusammengerollt im Sessel; Gershwin lag mit seiner Jacke zugedeckt auf dem Sofa und Ginny und ich hatten vor dem Sofa unter der Bettdecke aus meinem Zimmer geruht. Ich schlich hinauf auf die Toilette. Auf dem Rückweg hörte ich Geräusche in der Küche und sah nach, wer sich da zu schaffen machte. Es war Katrina. »Guten Morgen«, sagte sie fröhlich, während sie Wasser in den Kessel füllte. »Guten Morgen«, erwiderte ich. »Hast du gut geschlafen?« »Nein. Furchtbar. Und du?« »Auch furchtbar.« »Hast du mitgekriegt, was passiert ist?«, flüsterte sie. Ich sah sie ahnungslos an. »Ich tappe völlig im Dunkeln.« »Das sehe ich dir an«, sagte sie. »Ich sage es dir lieber, obwohl du's nie glauben wirst.« -277-
Ihr letzter Satz hatte meine Neugierde geweckt. »Wann ist, was immer es ist, denn passiert?« »Letzte Nacht.« »Wo?« »Da drin.« Sie zeigte aufs Wohnzimmer. »Verstehe«, sagte ich verwirrt. »Du hast meine ganze Aufmerksamkeit. Was kannst du in einem Raum voller Leute gemacht haben, über das man nur flüstern darf…« Plötzlich wurde es mir schlagartig klar. »Willst du etwa sagen, du…« »Das nicht!«, entgegnete Katrina missbilligend. »Weniger als das.« »Mit wem?« »Es waren letzte Nacht nur zwei unverheiratete Männer im Zimmer, und du warst einer davon.« »Willst du damit sagen, du hast mit Pete im Wohnzimmer geknutscht, während wir alle geschlafen haben? Das ist ja echtes Teenagergetue. Wie ist das denn passiert?« »Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Gerade hatte es noch geheißen, wir bleiben die ganze Nacht auf, und einen Moment später waren alle außer Pete und mir fest eingeschlafen. Eine Bombenexplosion hätte euch nicht geweckt. Wir fingen an zu reden, und das ging dann die ganze Nacht weiter, das Reden, meine ich. Er erzählte mir von seiner Scheidung und dass er seinen Sohn vermisst, und ich hab ihm von meinen schief gegangenen Beziehungen erzählt, und schließlich… küssten wir uns und schliefen ein.« »Du und Pete. Das ist so… ich weiß nicht.« »Er sagt, er will mich nächstes Wochenende in Stoke besuchen.« »Was? Ihr wollt eine Beziehung daraus machen?« -278-
Sie nickte begeistert. »Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, nachdem wir nur ein paar Stunden zusammen waren, aber ich habe so ein Gefühl. Ein gutes Gefühl. Dass alles gut wird.« »Hm«, sagte ich. »Was soll das denn heißen?« »Ich finde nur, dass du es nicht so ernst nehmen solltest. Du wirst ihn vergessen, sobald du wieder zu Hause bist und Lifestyle-Artikel für den Staffordshire oder wie die Zeitung heißt schreibst, und er wird zurück in sein Comicbuch-Imperium fahren. Es ist schön, wieder einmal zusammen zu sein, doch es ist auch leicht, es zu übertreiben. Aber das willst du sicher nicht hören, oder?« »Es klingt ein bisschen zynisch.« »Ich nenne es lieber realistisch.« Katrina hob viel sagend die Augenbrauen. »Klingt eher, als ob du aus Erfahrung sprichst.« Ihr Blick wanderte zu der offenen Wohnzimmertür, wo Ginnys Körper sich unter der Bettdecke abzeichnete. Das Wasser im Kessel fing an zu kochen, und Katrina machte zwei Tassen Tee. »Wir sind nur Freunde«, betonte ich nachdrücklich, als Katrina mir die Tasse gab. Wieder hob sie die Augenbrauen, sagte aber nichts. »Sie liebt einen anderen«, fügte ich hinzu. »Wen?«, wollte Katrina wissen. »Das ist eine lange Geschichte.« »Und du?« »Was ist mit mir?« »Wen liebst du?« Ich antwortete nicht. Sie nahm ihre Tasse und ging zurück ins Wohnzimmer.
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79 Als alle anderen gegen elf Uhr und ziemlich mitgenommen aufwachten, beschlossen wir einstimmig, frühstücken zu gehen. Pete schlug vor, zu British Home Stores in die Stadt zu fahren, weil es dort ein komplettes Englisches Frühstück für nur ein Pfund achtzig gab. Doch dann fiel ihm ein, dass es nur bis elf Uhr serviert wurde und somit nicht infrage kam. Katrina hatte bei seinem Vorschlag sowieso die Nase gerümpft und schlug das Café Rouge vor, denn dort gab es anscheinend leckeres Rührei und Räucherlachs. Ich war gerade dabei, McDonald's in King's Heath zu preisen, als Ginny vorschlug, zur nahe gelegenen Autobahnraststätte zu fahren - ein weiterer Trip in die Vergangenheit. Als Pete als Erster von uns den Führerschein gemacht hatte, schenkten seine Eltern ihm einen uralten Triumph Dolomite, unser erstes offizielles Fahrzeug. Wann immer wir Zeit hatten, schwangen wir uns in den Wagen und fuhren zur Autobahnraststätte, wo wir ganze Abende bei einer Tasse Kaffee und einem Teller Pommes verbrachten. Wir machten diese verrückten Trips nur aus einem Grund, nämlich weil wir die Möglichkeit dazu hatten. Zwei Stunden später und gut gestärkt beschlossen wir, den Tag nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Natürlich klafften die Definitionen von »ungenutzt« weit auseinander, von Shopping bis einen Pub finden, in dem man seiner Schlaffheit frönen konnte. Schließlich entschieden wir uns für Letzteres, und am Abend gab es dann ein Barbecue. Pete, Gershwin, Katrina und ich bereiteten das Essen vor, während Ginny und Bev sich die wöchentliche Zusammenfassung von Brookside im Fernsehen ansahen. Hin und wieder kamen die beiden und fragten, ob wir verrückt seien, weil es eiskalt und windig war und jeden Moment anfangen konnte zu regnen. Nach dem Essen unterhielten wir uns wieder, tranken und spielten (Trivial -280-
Pursuit, Monopoly und Fang die Maus) bis in die frühen Morgenstunden. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, zogen Ginny und Bev los, um die Zutaten für ein herzhaftes Frühstück zu besorgen, das Gershwin, Katrina und ich dann zubereiteten. Pete bot sich an, hinterher abzuwaschen, wobei er sicher sein konnte, dass Katrina Mitleid haben und ihm helfen würde. Später gingen wir alle zusammen ins Kings Arms, wo wir den ganzen Nachmittag redeten und tranken. Gegen acht Uhr abends mussten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass das Wochenende fast um war, auch wenn es uns noch so Leid tat. »Ich mache mich lieber auf«, sagte Bev und trank ihr Glas leer. »Die Züge nach Sheffield sind sonntags immer rappelvoll.« »Ich würde gerne noch bleiben«, sagte Pete, wobei er Katrina kurz ansah, »aber ich muss auch weg. »Und ich auch«, sagte Katrina. »Ihr könnt doch nicht einfach alle so gehen«, beschwerte sich Ginny. »Wir müssen noch unser nächstes Treffen festlegen.« »Du willst, dass wir uns alle bald wieder sehen?,« fragte ich. »Ich dachte, einmal in sechs Jahren genügt.« »Echt witzig«, sagte Ginny. »Und als Dank dafür treffen wir das nächste Mal an deinem dreißigsten Geburtstag, Matt.« »Das lohnt sich nicht«, erwiderte ich. »Ich mache es wie Gershwin - ich gehe in den Pub, nehme ein paar Drinks und schleiche mich wieder nach Hause.« »Das hättest du wohl gerne«, sagte Gershwin. »Aber ich fürchte, in diesem Fall hast du kein Stimmrecht. Ginny und ich haben gestern alles geplant.« Ich sah Ginny an. Unsere Blicke trafen sich, und sie senkte schuldbewusst den Kopf. »Ach so«, sagte ich, »ihr habt euch heimlich zusammengetan, um mich zu überraschen.« »Ach, halt den Mund!«, sagte Ginny. »Ich wollte mich nur für -281-
dieses Wochenende erkenntlich zeigen.« »Und was habt ihr geplant?«, fragte Bev. »Nun«, erwiderte Gershwin, »wir hatten überlegt, für Matt eine Überraschungsparty zu veranstalten, wussten aber nicht, ob er schon was anderes an seinem großen Tag vorhat.« »Weshalb wir uns für das Nächstbeste entschieden haben«, fuhr Ginny fort, »nämlich eine Überraschungsparty zu organisieren, von der er schon weiß.« »Das wird dann aber keine große Überraschung«, meinte Pete. »Egal«, erwiderte Ginny aufgeregt. »Es wird ihm trotzdem gefallen.« »Ganz bestimmt«, sagte Gershwin. »Und ihr wollt mir wirklich nicht verraten, was ihr genau vorhabt?«, fragte ich. »Auf keinen Fall«, entgegnete Ginny. »Aber eines kann ich allen Anwesenden schon verraten: Haltet euch den Samstag in vier Wochen frei und kommt mit Frau, Mann, Freundin oder Freund oder einfach nur mit euch selbst zu der tollsten Feier eines dreißigsten, die ihr jemals erleben werdet.« Und alle versprachen zu kommen. Eine halbe Stunde später waren wir wieder bei Ginny und verabschiedeten uns. Bev fing an zu weinen und sagte, wie sehr sie uns alle liebe. Pete und Katrina hatten beschlossen, ihre neu entdeckte Liebe nicht länger zu verstecken und knutschten heftig vor der Tür; Gershwin fand das alles sehr amüsant, und Ginny sah so glücklich aus wie lange nicht mehr. Das war das Ende. Katrina fuhr zurück nach Stoke. Bev fuhr zurück nach Sheffield. Pete fuhr zurück nach Manchester. Gershwin ging nach Hause zu Zoe und Charlotte. Und plötzlich, nachdem wir das ganze Wochenende mit alten Freunden verbracht hatten, waren wir allein. Auf dem Sofa. Allein. -282-
80 »Ist das wirklich eine gute Idee, Ginny?«, fragte ich, während ich mit ihrem BH-Träger kämpfte. »Ich glaube, diese Unterhaltung hatten wir schon einmal, Matt«, sagte sie und knöpfte weiter mein Hemd auf. »Du bist dir also wieder unsicher.« »Was meinst du damit, dass ich mir unsicher bin? Du warst dir das letzte Mal auch nicht sicher.« »Aber diesmal frage ich dich. Und wie lautet deine Antwort?« »Also gut«, gab ich zu. »Ich bin mir nicht sicher.« »Und warum?« »Wegen dir. Wegen mir. Hier auf dem Wohnzimmerboden. Weil deine…«, ich zögerte einen Moment, wollte nichts Falsches sagen, »… deine rechte Hand mein Hemd aufknöpft und die linke unter besagtem Hemd fummelt.« Sie zog die Hand zurück. »Muss ich noch deutlicher werden?« Da fingen wir beide an zu lachen, sahen uns in die Augen und benahmen uns wieder wie Teenager.
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81 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Dies und das Liebe Elaine, sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Wie geht es dir? Wie läuft's im Büro? Wie klappt das Zusammenwohnen mit Sara? Was macht die Grünlilie? Mir geht es gut. Das Wochenendtreffen war ein voller Erfolg. So viel Spaß hatte ich seit, na ja, Ewigkeiten nicht mehr. Es freut dich sicher zu hören, dass ich immer weniger hysterisch werde, je näher mein dreißigster Geburtstag rückt. Vielleicht fordere ich das Schicksal heraus, wenn ich das sage, aber im Moment habe ich das Gefühl, es wird ein Geburtstag wie jeder andere auch. Ich hoffe, dir geht's gut, und pass auf dich auf. Alles Liebe, Matt :-)
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82 An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Mein Versuch, ehrlich zu sein l Liebe Elaine, ich schreibe diese Mail ganze sechs Sekunden, nachdem ich die erste abgeschickt habe (die du gern ignorieren kannst… oder lieber nicht… du kannst sie behalten und Anlage A nennen, sollte ich dich jemals der Feigheit beschuldigen). Drei Sekunden, nachdem ich auf »senden« gedrückt hatte, wurde ich von Schuldgefühlen übermannt. Ich meine wirklich übermannt (feuchte Hände, Hitzewallungen und Übelkeit mit dem Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen). Dies ist ein ziemlich unbeholfener Versuch, dir mitzuteilen, dass ich Neuigkeiten habe - von denen ich nicht weiß, wie du darauf reagierst. Also: Ginny und ich haben's gemacht. Ja. Natürlich ist alles ziemlich kompliziert. Wir haben noch keine Zeit gehabt, darüber zu reden - sie ist heute Morgen zur Arbeit gegangen, ohne mich zu wecken, aber wahrscheinlich setzen wir uns heute Abend zusammen. Ich kann mir gut vorstellen, dass du das nicht hören willst (weil ich es nämlich ganz bestimmt nicht hören wollte, wenn es anders herum wäre), aber wenn ich es dir nicht sage, geht alles, was zwischen uns ist, kaputt. Und eins habe ich auf der Zielgeraden zu meinem dreißigsten ganz sicher gelernt: Gute Freunde fallen nicht vom Himmel, und wenn man welche gefunden hat, sollte man sie unbedingt festhalten. So, das ist alles. Mail mir bald zurück, ja? Wie immer alles Liebe, Matt :-) -285-
83 Obwohl ich Elaine geschrieben hatte, dass Ginny und ich wohl noch heute das Gespräch führen würden, glaubte ich immer weniger daran, je weiter der Tag voranschritt, ohne dass Ginny anrief. Und ich hatte allen Grund, skeptisch zu sein. Wir sprachen nicht nur nicht an jenem Abend darüber, sondern erwähnten es auch nicht am nächsten. Oder übernächsten. Es war wieder wie in der Oberschule, mit dem einzigen Unterschied, dass wir diesmal nicht verheimlichen mussten, wie scharf wir aufeinander waren. Im Gegenteil, wir benahmen uns wie ein richtiges Liebespaar und konnten nicht voneinander lassen, sobald sie abends nach Hause kam. Sie ignorierte Ians Anrufe, was mich zutiefst befriedigte, und wir verbrachten jede freie Minute zusammen. Aber wir redeten nicht - oder, genauer, wir führten nicht das Gespräch. Es war schlichtweg unmöglich. Stattdessen unterwarf ich mich während Ginnys arbeitsbedingter Abwesenheit einer strengen Selbstanalyse. Das ging etwa so: 1. Bin ich glücklich? Ein überzeugtes Ja, gefolgt von einem heftigen Stirnrunzeln und der Frage: Aber was ist glücklich? Bedeutet glücklich sorgenfrei? Dann bin ich weit vom Glücklichsein entfernt. Wenn es bedeutet, dass man über jeden schlechten Witz der neuen Freundin/Nicht-Freundin so sehr lacht, dass einem der Bauch wehtut, wenn glücklich bedeutet, in den Augen der Freundin/Nicht-Freundin das zu entdecken, was man schon lange verloren geglaubt hatte - wenn das Glücklichsein ist, dann bin ich wirklich glücklich. Aber wenn nicht, dann nicht. Was zwangsläufig die nächste Frage aufwarf:
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2. Darf ich mir erlauben, dieses Glück zu genießen, obwohl es vergänglich ist und nur ein Zwischenspiel sein kann, weil • ich in nicht einmal drei Wochen nach Australien fliege, • meine neue Freundin/Nicht-Freundin auch noch mit einem verheirateten Mann liiert ist, • ich vermutlich die Trennung von Elaine noch nicht ganz überwunden habe und • bald dreißig werde? Nein. Trotz all der Fragen, auf die ich keine richtige Antwort hatte, verbrachten Ginny und ich eine tolle Woche miteinander. Wäre unser Leben ein Film gewesen, hätte er mit einem Kuss am Sonntagabend angefangen und im weiteren Verlauf wie eine kitschige Montage ausgesehen: Ginny und ich lachend und Händchen haltend barfuß am Strand; Ginny und ich baden im kristallblauen Meer - und sie fällt mir in die Arme, um mich zu küssen; Ginny und ich sehen uns tief in die Augen, während die Sonne hinter uns untergeht. Und so weiter. Leider waren wir aber nicht in Hollywood, sondern in Birmingham, so dass der Film nicht ganz so schön wurde. Montage, 1. Szene Es ist Montagmorgen. Ich wache auf, aber Ginny liegt nicht mehr neben mir. Stattdessen finde ich eine Nachricht auf dem Kissen, dass sie uns schnell etwas zum Frühstück besorgt, bevor sie zur Arbeit muss. Ich rolle mich auf den Bauch, wodurch mein Arm über die Bettkante fällt, und stoße mit der Hand an etwas - einen Schuhkarton. Ich weiß sofort, was drin ist, denn ich habe sie alte Fotos von Gershwin herausnehmen sehen. Ich ergreife die Gelegenheit und inspiziere den Karton, finde sofort -287-
Bilder von Ginny und mir, die ich nicht mehr gesehen habe, seit sie sie damals bei Boots hatte entwickeln lassen. Auf diesen Fotos waren wir siebzehn. Ich denke, wie jung man mit siebzehn doch ist. Sie kommt zurück. Ich verstecke den Karton, und wir küssen uns. Montage, 2. Szene Es ist früher Dienstagabend. Ginny und ich sitzen auf der Türschwelle und blicken in den Garten hinterm Haus, obwohl es regnet und der Garten einem Unkrautdschungel gleicht. Sie füttert mich mit Pralinen, eine nach der anderen, so wie ich sie zuvor mit kernlosen Trauben gefüttert habe. Es ist schon fast krankhaft, wie wir miteinander umgehen. Ich beschließe, das Gespräch mit ihr zu führen, sobald die Schachtel leer ist. Das Gespräch über uns. Und die Zukunft. Und was wir mit unserem Verhalten eigentlich bezwecken wollen. Dinge, die wir beide wissen müssen, was uns auch bewusst ist. Ich werfe einen Blick in die Pralinenschachtel, es sind nur noch drei übrig. »Weißt du eigentlich, wie süß du bist?«, fragt sie. Die mit Honigfüllung. »Du bist echt süß, unerträglich süß«, fährt sie fort. Die aus Milchschokolade, die aussieht wie eine fliegende Untertasse. »Ich glaube, ich könnte mich tatsächlich…«, beginnt sie und hält dann inne. Die mit der Orangenmarmeladen-Füllung. »Du glaubst, du könntest tatsächlich was?«, frage ich kauend. Sie zuckt die Schultern, küsst mich und sagt: »Ich glaube nichts.« Montage, 3. Szene Es ist später Mittwochnachmittag, und wir treffen uns in der -288-
Stadt. Ginny ist direkt aus der Schule hierher gekommen, wir wandern ziellos umher, weil wir das in den langen, heißen Sommern nach den Prüfungen fast jeden Tag gemacht hatten. Wir gehen in einen Laden, in dem es Bilder und Bilderrahmen gibt, und sehen uns ein paar Schwarzweißfotos an. Ich zeige auf eines mit Louis Armstrong, das mir gefällt. Er steht neben Ella Fitzgerald und sieht aus, als würde er vor Glück gleich platzen. »Ich kaufe es dir«, sagt Ginny. »Nein, das ist nicht nötig.« »Doch.« Sie ignoriert meinen Einwand. Fünf Minuten später laufe ich mit dem Foto und einem Rahmen umher und weiß nicht so recht, was ich fühle, nur dass es sehr angenehm ist. Montage, 4. Szene Es ist Donnerstagabend, und Ginny und ich sind bei Gershwin und Zoe zum Essen eingeladen. Ich hatte erwartet, dass wir unsere Beziehung noch eine Weile geheim halten, aber dem ist nicht so. Ginny sitzt die ganze Zeit dicht an mich gedrückt neben mir und himmelt mich an, als wäre sie an jedem noch so banalen Kommentar von mir interessiert. Vermutlich tue ich das Gleiche. Gershwin und Zoe gehen echt cool damit um. Sie lassen sich nichts anmerken, obwohl ich Zoe die Neugier ansehe. Ein paarmal erwische ich Zoe, wie sie mich fragend anblickt, aber eigentlich will sie keine Antwort, sondern nur die Bestätigung ihrer Vermutung: »Du hast dich verliebt, stimmt's?« Montage, 5. Szene Es ist etwa elf Uhr am Freitagabend. Wir sind gerade aus dem Kings Arms nach Hause gekommen und leicht angetrunken; unser Atem riecht nach Pommes und Currysauce. Den ganzen Rückweg über bin ich bedrückt. Ich will etwas sagen, weiß aber -289-
nicht, wie. Ich stelle den Fernseher an und starre gedankenverloren auf den Bildschirm, während Ginny Popcorn macht, nur weil ich ihr heute eine Popcornmaschine geschenkt habe, die sie schon immer haben wollte. »Was machst du?«, fragt sie, als sie mit einer putzeimergroßen Schüssel voller Popcorn ins Zimmer kommt. »Denken«, erwidere ich. »Du denkst?«, fragt sie leicht sarkastisch. »Und ich hab schon gedacht, du schaust dir einfach nur…«, sie sieht auf den Bildschirm, »… Wiederholungen von Magnum an.« Ich lächele. »Ich weiß, dass es so aussieht, aber in Wirklichkeit arbeite ich. In meinem Kopf. Im Kopf leiste ich immer gute Arbeit. Nur sonst nicht.« Sie stellt das Popcorn vor den Fernseher, setzt sich und legt die Arme um mich. »Alles wird gut«, sagt sie. »Glaubst du?« »Natürlich.« »Warum?« »Weil ich es sage.«
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84 »Äh… Ginny«, begann ich zögernd, um endlich loszuwerden, was ich seit fünf Tagen mit mir herumschleppte. »Ich… äh… weiß, dass es schwierig ist, aber wir müssen reden.« Wir saßen mit einem leichten Kater in der All Bar One am Brindley Place, nahmen ein herzhaftes Frühstück zu uns und tranken literweise Orangensaft, als wäre Vitamin C ein probates Gegenmittel für besagten Kater. Ich war fest entschlossen, über uns und unsere Beziehung zu sprechen, was wir bislang vermieden hatten. Doch obwohl ich das Problem seit Tagen in meinem Kopf hin und her wälzte, war mir doch keine Lösung eingefallen. »Ich weiß, ich weiß«, sagte Ginny, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. »Du hast Recht. Ich vermeide das Gespräch wie die Pest. Dabei ist es nicht so, dass ich nicht reden will, Matt, bestimmt nicht. Es ist einfach nur…« »Du hast Angst, dass es plötzlich zu Ende ist, wenn wir darüber reden?« »Genau. Aber trotzdem hast du natürlich Recht, wir müssen reden.« Schweigen. »Du zuerst«, sagte sie. »Du kannst viel besser über so was reden als ich.« Ich wünschte, Elaine hätte das gehört. »Also gut. Es ist…«, meine Stimme versagte. Schweigen. »Vielleicht sollte ich es versuchen«, schlug Ginny vor. »Gern«, erwiderte ich großzügig. »Also, es ist doch so…« Lange Pause, gefolgt von einem -291-
Seufzer, gefolgt von einer langen Pause. »So wird es einfach nichts.« Ich trank einen Schluck Orangensaft, weil mir plötzlich der Kopf von den Nachwirkungen des Alkohols zu explodieren schien. »Das Gespräch oder die Situation?« »Beides.« »Sieh mal«, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen - die Katerexplosion rüttelte noch immer an meinen Grundfesten, »ich verstehe, wenn es für dich einfach nur eine kurze Affäre ist. Ich bin inzwischen ein großer Junge. Ich bin fast dreißig. Ich breche nicht gleich zusammen, wenn es das ist…« »Aber das ist es nicht«, erwiderte Ginny. »Überhaupt nicht. Dabei wünschte ich mir in vielerlei Hinsicht, dass es so wäre, weil dann alles viel einfacher sein würde. Ich weiß wirklich nicht, was mit uns vorgeht, Matt, ehrlich. Wenn du mich nach meinen Gefühlen für Ian fragst, würde ich wahrscheinlich sagen, dass ich ihn liebe - was auch stimmt, aber ich weiß auch, dass daraus nie etwas werden kann und unsere Beziehung im Grunde wertlos ist. Ich habe genug von all dem Lügen und Betrügen. Ich will mein Leben zurück, so wie ich früher einmal war. Weißt du, selbst wenn nichts weiter zwischen dir und mir passiert, selbst wenn wir jetzt aufhören und beschließen, einfach nur Freunde zu sein, werde ich nichts bereuen, weil es…«, sie zeigte auf den Tisch, der anscheinend »uns« repräsentierte, »… mir hilft, über ihn hinwegzukommen. Ich will damit sagen, dass es gut tut zu merken, dass nichts in Stein gehämmert ist, dass hin und wieder auch plötzlich sehr schöne Dinge passieren können.« »Heißt das, jetzt ist Schluss zwischen uns?« »Nein.« Sie beugte sich vor und küsste mich. »Natürlich nicht. Es heißt: Ja, ich hätte gern mehr als nur eine Affäre mit dir, aber wenn es nicht möglich ist, akzeptiere ich das.« »Ich nicht.« »Was?« -292-
»Ich akzeptiere nicht, dass es nur eine Affäre ist.« Ginny sah mich an und lächelte. »Ich auch nicht.« »Aber du hast gerade gesagt…« »Okay, Matt«, sagte sie. »Ich habe gelogen. Es ist Quatsch, es sind an den Haaren herbeigezogene Mädchenlügen, wenn ich sage, dass ich nichts bereue, weil es mir hilft, über Ian hinwegzukommen. Das nennt man Schutzbehauptung. Aber wenn du das Gleiche empfindest wie ich, bin ich sehr froh darüber, weil du sonst nämlich kurz vor deinem dreißigsten Geburtstag auch noch eine Exfreundin aus der Schulzeit am Hals hättest, die sich total in dich verliebt hat.« »Total?« »Bis über beide Ohren.« »Dann hättest du also gern, dass es weitergeht?« »Zwischen dir und mir?« Eine kurze, kaum wahrnehmbare Pause. »Ja, natürlich.« »Das klingt nicht sehr begeistert«, erwiderte ich angesichts der kaum wahrnehmbaren Pause. »Wie denn auch, wenn alles gegen uns spricht? Du gehst in Kürze nach Australien, da ist Ian…« »Also Ersteres ist leicht zu beheben. Ich gehe nicht nach , Australien.« Ginny sah mich schockiert an, ob aus freudiger Überraschung oder Entsetzen, wusste ich nicht. Als sie den nächsten Satz mit den Worten: »Matt, ich weiß nicht…« begann, entschied ich mich für Letzteres. Wahrscheinlich war ich ein bisschen zu weit vorgeprescht. »Du willst nicht, dass ich bleibe«, stellte ich betroffen fest. Sie nahm meine Hand. »Natürlich will ich, dass du bleibst…« »Dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen«, behauptete ich, und packte so den sprichwörtlichen Stier bei den Hörnern. »In -293-
den letzten sechs Tagen haben wir größere Fortschritte gemacht als in den ganzen zehn Jahren davor. Es ist richtig so, Ginny, das fühle ich.« »Ich weiß und ich stimme dir zu, aber sechs Tage sind nun mal nur sechs Tage, Matt. Und das ist viel zu viel Druck für eine Beziehung.« »Unter normalen Umständen würde ich dir Recht geben, Ginny, aber das hier sind keine normalen Umstände.« Ich war nicht sicher, ob ich den nächsten Satz wirklich aussprechen sollte. »Erinnerst du dich noch an die Abmachung, die wir auf Gershwins Hochzeit getroffen haben?« Ginny öffnete den Mund, und ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie das am liebsten vergessen hätte. »Ich hatte ziemlich viel getrunken«, gestand sie lachend. »Aber ja, ich erinnere mich daran. Wir sagten, wenn wir beide mit dreißig noch Singles wären, würden wir uns zusammentun.« Sie wirkte verlegen. »Aber wir haben das mit vierundzwanzig gesagt, Matt. Das ist eine Ewigkeit her.« »Ich sage ja nicht, wir sollten es wegen irgendeiner dummen Abmachung miteinander versuchen. Ich finde vielmehr, wir sollten es tun, weil wir es sogar damals und wahrscheinlich schon seit unserer ersten Begegnung gewusst haben: nämlich dass wir füreinander bestimmt sind. Denk darüber nach. Wir kennen uns seit wir siebzehn sind und haben alles versucht, um nicht zusammen zu sein: Wir sind mit anderen gegangen, in fremde Städte und sogar in fremde Länder gezogen - und sieh dir an, wo wir wieder gelandet sind. Genau da, wo wir angefangen haben.« Ich küsste sie. »Wir müssen nichts überstürzen. Wir können uns Zeit lassen und sehen, wie es läuft. Aber eins ist klar: Ich bin hierher zurückgekommen, ohne recht zu wissen, wie es weitergehen soll. Und dann ist das mit uns passiert, und wenn du glaubst, ich könnte jetzt einfach wieder weggehen, kennst du mich kein bisschen.« -294-
»Meinst du das wirklich?« »Natürlich. Ich war mir nie sicherer bei einer Sache. Wenn du willst, rufe ich noch heute in meiner Firma an und sage, dass ich nicht nach Australien gehe.« »Nein, warte. Zumindest, bis ich mit Ian gesprochen habe. Wenn mit ihm Schluss ist, kann ich auch wieder richtig denken. Ich tue es morgen«, sagte sie leise. »Ganz bestimmt. Aber jetzt machen wir uns einfach einen schönen Tag.« »Und wie?«, fragte ich. Sie trank den Rest ihres Orangensafts und stand auf. »Wir gehen shoppen.«
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85 Zwei Stunden später standen wir in demselben Männerbekleidungsgeschäft, in das ich mich in meiner ersten Woche in Birmingham verirrt hatte. Der spitzbärtige, blutjunge DJ machte in der Ecke noch immer seine schräge Musik, der spindeldürre Verkäufer hatte noch immer sein höhnisches Grinsen im Gesicht, und ich versuchte noch immer voller Überzeugung, an Dunkelblau und Schwarz festzuhalten. Aber Ginny wollte davon nichts wissen. »Heißt das«, begann sie, während sie eine Kleiderstange nach einem T-Shirt für mich durchsah, »dass alles, was du seit deinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr zum Anziehen gekauft hast, dunkelblau oder schwarz ist?« »Ausnahmslos«, erwiderte ich stolz. »Socken?« »Ja.« »Boxershorts« »Immer.« »Hemden?« »Ein paar weiße Hemden habe ich zwar, aber die ziehe ich nur an, wenn ich einen wichtigen Kunden treffe, sonst nehme ich immer…« »… dunkelblaue oder schwarze.« Ich sah Ginny an, dass sie ihren Ohren nicht traute. Wir zogen von den T-Shirts weiter zu den Freizeithosen. »Und die hier?«, fragte sie und zeigte auf eine grüne CargoHose. »Nein, die ist grün.« Als Nächstes hielt sie mir ein paar burgunderrote Samthosen hin. »Und die?« -296-
»Burgunderrot?«, erwiderte ich. »Machst du Witze?« Ginny konnte es noch immer nicht glauben. Sie ging zu einem Ständer mit Anzügen und zog einen hellgrauen mit drei Knöpfen heraus. »Also wirklich, Matt, dein Farbempfinden in allen Ehren, aber dagegen kannst du doch nichts sagen. Die Farbe steht dir bestimmt gut.« »Hellgrau? Ich würde mein halbes Leben damit verbringen, ihn in die Reinigung zu bringen und wieder abzuholen. Nicht in hundert Millionen Jahren, meine Liebe.« »Du weißt, dass das ziemlich verrückt ist, ja?« »Ich hab's dir ja gesagt«, erwiderte ich. »Ich kann nicht anders. Ich weiß genau, was ich mag. Beim Inder ist es Chicken Tikka Masala, in der Musik sind es Sängerinnen, die selbst schreiben und komponieren, und bei Klamotten ist es Dunkelblau und Schwarz.« Ich drehte mich um und blickte ihr in die Augen. »Und bei Frauen bist du's.« Sie lachte und küsste mich leidenschaftlich, obwohl der Laden inzwischen ziemlich voll war. »Nicht so stürmisch«, protestierte ich. »Was heißt hier stürmisch? Von der Sorte habe ich noch viel mehr auf Lager. Es ist schon so lange her, dass ich das Vergnügen hatte, meine Gefühle in aller Öffentlichkeit zu zeigen, also verzeih mir, wenn ich es in vollen Zügen genieße.« Sie küsste mich wieder und sah mir dann tief in die Augen. »Warum tut das so gut?« »Weil du die ganze Zeit Selbstverleugnung betrieben hast und ich dir den Weg ins Licht gezeigt habe«, erwiderte ich, auf einmal selbstbewusst. Ich fühlte mich wohl hier in der Öffentlichkeit, mit dieser attraktiven Frau. Es tat gut, wenn jeder auch noch so exzentrisch gekleidete Mann in diesem Laden sah, dass Ginny meine Freundin war. »Du hast Angst gehabt, zu wissen, was du willst, weil das Leben für dich ein Abenteuer sein soll. Du findest es aufregend, einfach nur umherzulaufen, -297-
immer wieder die gleichen Fehler zu machen und niemals daraus zu lernen. Während ich es spannend finde, genau zu wissen, wie etwas sein wird. Und wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich mag, und sorgsam damit umgehe, wird es mir immer die gleiche Freude bereiten, wie beim ersten Mal. Genau genommen wird sie manchmal sogar noch größer. Ich mag nichts Neues. Neues macht mich nervös. Ich mag das Altbewährte.« »Hm«, sagte Ginny grinsend. »In die Kategorie falle ich dann wohl auch.« Sie lachte. »Sehr charmant.« »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, denn du bist anders. Aber das Besondere an den Lieblingsdingen in meinem Leben ist, dass ich ihrer nie überdrüssig werde. Nie. Denn jedes Mal, wenn ich sie ansehe oder anhöre oder was auch immer, erlebe ich etwas Neues; ich entdecke Details, die ich nie zuvor wahrgenommen habe, und das macht sie nur noch faszinierender.« Ginny lachte so laut, dass eine Gruppe älterer Teenager zu uns herübersah. Einer hielt ein leuchtend orangefarbenes T-Shirt in der Hand, und Ginny zeigte darauf und sagte lautlos »Modedesaster« in seine Richtung, dann lachte sie weiter. Sie war wie betrunken. Ich zog in Betracht, verlegen zu werden. »Was ist mit dir los?« »Ich bin glücklich. Ich kann es selbst kaum glauben, aber deine ganze Ansprache, warum du nur Blau und Schwarz trägst, hat mich total überzeugt.« »Dass man bei dem bleiben soll, was man kennt?« »Also ganz so weit würde ich nicht gehen, aber von einem hast du mich wirklich überzeugt.« »Wovon?« »Dass du in den Samthosen furchtbar aussehen würdest.«
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[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Deine beiden letzten Mails Lieber Matt, ich finde, wir haben schon so viel gemeinsam durchgestanden, dass wir ruhig ehrlich zueinander sein sollten. Wie du in deiner letzten Mail richtig gesagt hast, ist »Ehrlichkeit alles«. Wenn ich an dich und unsere Beziehung denke, fällt mir als Erstes ein, dass wir immer über alles reden konnten… irgendwann zumindest. Ich sage das als vorbereitende Maßnahme auf meinen Umgang mit deinen Neuigkeiten - ich habe geweint. Aber das Schlimmste daran ist, dass ich heftiger geweint habe, als an dem Tag, an dem du abgeflogen bist. Um den Grund dafür herauszufinden, war ich die ganze Nacht auf und habe darüber gegrübelt. Also ich will nicht, dass wir wieder zusammenkommen. Wirklich. Ich bin noch nicht einmal eifersüchtig - ich freue mich ganz ehrlich für dich. Schließlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es etwas damit zu tun haben muss, was du in einer deiner ersten Mails geschrieben hast, über deine Träume als Kind. Du hast gesagt, dass du jetzt, wo du bald dreißig wirst, ein paar deiner Träume begraben musst. Na ja, und ich glaube, dass deine neue Beziehung so etwas wie mein Dreißigwerden ist. Ich weiß, als wir noch zusammen waren, habe ich mir niemals anmerken lassen, dass ich über die Zukunft nachdenke - über unsere Zukunft. Aber das habe ich. Ich liebte die Vorstellung, dass wir einmal Kinder haben würden (mindestens sechs - nicht gerade praktisch, was?), und malte mir aus, wie sie aussehen und von wem sie den Charakter geerbt haben könnten. Ich träumte, dass wir von New York nach Philadelphia ziehen, in das alte Haus meiner -299-
Großeltern. Ich stellte mir sogar vor, wie wir zusammen alt werden, du wirst immer mürrischer und ich immer verrückter. Ich wollte sogar, dass wir zusammen sterben (ich zuerst, weil ich es hasse, allein zu sein, und du eine Woche später, weil du mich so vermisst). Obwohl ich immer wusste, dass es mit uns vorbei ist, hatte ich wohl noch nicht alle meine Träume begraben, und dass du und Ginny jetzt zusammen seid, zwingt mich, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Also wenn ich ganz ehrlich sein soll (und das sollte ich), muss ich zugeben, dass es wesentlich leichter für mich wäre, wenn es sich um irgendeine Frau handelte, die du gerade kennen gelernt hast, wie ich den Typen in der Bar. Irgendeine hübsche, aber hohle Übergangsfrau, die überhaupt nicht zu dir passt. Aber scheinbar bist du zum ersten Mal auf Gold gestoßen. Oder vielleicht das zweite Mal??? Ich schwafele herum. Wenn du meinen Rat willst (ich bin mir nicht sicher, dass dem so ist) und glaubst, dass Ginny die Richtige ist, dann nimm die Sache ernst - und vergiss Australien. Es ist schon schwer genug, das zu finden, was man immer sucht, so dass man es keinesfalls ignorieren sollte, wenn es einem in den Schoß fällt. Was immer du tust, ich möchte, dass du glücklich bist. Ehrlich. Deine dich immer liebende Elaine :-) PS: Vermutlich willst du jetzt das Geburtstagsgeschenk, das ich mir überlegt hatte, lieber nicht haben. Ich wollte dich besuchen, eine Woche vor deinem Geburtstag. (Du wärst so stolz auf mich, denn ich habe das Geld für den Flug tatsächlich schon GESPART.) Aber ich glaube, dass Exfreundinnen und neue Freundinnen nicht gut zusammenpassen. Ich schenke dir was anderes und gebe das Geld für einen Urlaub in der Karibik aus. Ich war noch nie dort, und es ist eine tolle Gelegenheit, mit meinem Tattoo anzugeben (das sich übrigens entzündet hat hm, autsch). -300-
87 Ich mailte Elaine sofort zurück, dass sie kommen sollte und ich ein Nein nicht akzeptieren würde. Zuerst hielt sie das für keine gute Idee. Aber ich bestand darauf und versicherte ihr, dass es wirklich okay war, vorausgesetzt, dass sie meine Kleidung immer noch lieber bügelte als sie mir vom Leib zu reißen. Elaine war für mich nicht einfach eine gute Freundin oder Exfreundin, sondern sie gehörte zur Familie - was ein bisschen blauäugig erscheinen mag.
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88 Es war Samstagabend nach dem Shoppingexzess mit Ginny. Ich war allein auf dem Weg zu Gershwin und Zoe und trug einen knallroten Kapuzenpulli von Stüssy, den mir Ginny am Nachmittag gekauft hatte. Nachdem wir nach Hause gekommen waren, wollte sie ein bisschen allein sein, um sich über die Trennung von Ian klar zu werden. Das verstand ich und rief Gershwin und Zoe an, um zu hören, was sie vorhatten, und wurde zum Videoabend und zum Essen eingeladen, das sie vom Restaurant liefern ließen. »Hier ist dein Kaffee.« Zoe drückte mir die Tasse in die eine Hand und zog mich an der anderen ins Wohnzimmer. »Charlotte schläft«, fuhr sie fort und zeigte zur Decke, »Gershwin ist dort drüben«, sie wies mit dem Kopf zum Sessel, wo ihr Ehemann etwas verwirrt saß, »und wir möchten gern wissen…« Sie hielt inne, als sie dem Blick ihres Mannes begegnete, und verlor einen Moment an Schwung. »Mir macht es nichts aus«, sagte Gershwin. »Ich bin daran gewöhnt, Zoe.« »Also gut«, erwiderte Zoe. »Aber ich will wissen, was zwischen dir und Ginny läuft. Und zwar alle Einzelheiten, hier und jetzt!« Es tat gut, ein Liebesleben zu haben, das des Tratsches würdig war. Und dass gerade Zoe so großes Interesse daran zeigte, machte es noch viel glamouröser, als es in Wirklichkeit war. Hätte ich es nur Gershwin erzählt, hätte er alles runtergespielt und höchstens »Oh« gesagt und die Augenbrauen hochgezogen. Aber Zoe behandelte es wie die Topstory in den Nachrichten. »Was zwischen mir und Ginny läuft?«, wiederholte ich, um das Thema des Abends abzuklären, was wirklich nicht nötig war. -302-
»Ja.« Zoe nickte eifrig. »Ich will alles wissen.« Ich überlegte, mich nur so aus Spaß in Schweigen zu hüllen, aber das ließ sie natürlich nicht zu. »Komm schon«, sagte sie und sah mich gespielt böse an. »Spuck's aus.« »Ich hab keine Ahnung, was vor sich geht«, erklärte ich. »Ich glaube nicht, dass es für so was eine Bezeichnung gibt. Es ist alles ein bisschen…« »Das reicht«, unterbrach Gershwin mich. »Vergiss, was ich gerade gesagt habe, jetzt will ich es auch wissen. Also los, erzähl, und zwar jedes Detail. Wann, wie und vor allem warum?« »Das Wann ist einfach«, begann ich. »Es war letzten Sonntagabend, nachdem alle nach Hause gegangen waren. Das Wie ist schon ein bisschen schwieriger, obwohl… ich weiß eigentlich nicht, wie das Wie passiert ist… wahrscheinlich könnte man sagen, wenn es denn sein muss, dass es irgendwie spontan war, aber beschwören könnte ich es nicht. Und das Warum… also am Warum arbeite ich noch, aber ich glaube, sie ist es.« »Ist was?«, fragte Zoe. »Die Liebe meines Lebens, die Frau, die ich nie vergessen habe, die, mit der ich meinen dreißigsten Geburtstag feiern werde.« Zoe sah mich ungläubig an. Ich konnte ihr ansehen, dass sie die Welt nicht mehr verstand. »Heißt das, du hast beschlossen, dass sie die Richtige ist, obwohl sie einen festen Freund hat und du in drei Wochen nach Australien gehst?« »Trefflich formuliert«, sagte Gershwin lachend. »Gut gemacht, liebes Weib.« Zoe starrte ihn wütend an. »Sieh mal, Schatz, so sehr sollte dich das auch wieder nicht überraschen«, erklärte er. »Die beiden machen das seit sie siebzehn sind. Es ist -303-
reine Gewohnheit.« Er hielt inne. »Obwohl ich zugeben muss, dass sechs Tage hintereinander für euch sicher ein Rekord sind.« »Stimmt«, bestätigte ich gut gelaunt. »Du hast Recht. Mit zweiundzwanzig hatten wir einmal eine kurze Phase von zwei Wochenenden hintereinander, aber… ja, ich glaube, das hier ist Weltrekord.« »Jedenfalls reden sie jedes Mal von immer und ewig«, fuhr Gershwin fort, »und am nächsten Tag ist Schluss. Sie geht wieder mit Ian, er geht nach Australien, und alles geht wieder seinen geregelten Gang, bis sich ihre Wege das nächste Mal kreuzen.« »Danke für deinen Zynismus, Gershwin«, entgegnete ich grinsend. »Unter normalen Umständen würde ich dir zweifellos zustimmen, wäre da nicht die Tatsache, dass Ginny morgen um diese Zeit den Herrn trifft, der offiziell als ihr Freund firmiert, um ihm eine gut vorbereitete Abschiedsrede zu halten.« »Sie verlässt Ian?«, fragte Gershwin ungläubig. »Aber ich mag Ian. Er war so witzig auf meinem Geburtstag. Zoe's Freunde Davina und Tom haben noch ewig von ihm geschwärmt.« »Hurra«, erwiderte ich knapp. »Also wirklich, Matt, du musst doch zugeben, dass er ein idealer Freund ist. Viel besser als du, Kumpel.« Zoe blickte mich neugierig an. »Da ich dich seit meinem elften Lebensjahr kenne, will ich nicht allzu geringschätzig von dir denken, Matt, aber selbst ich sehe die Löcher in diesem Plan. Ich meine, was ist zum Beispiel mit Australien?« »Ich habe noch nicht alles bis ins kleinste Detail durchdacht, aber eins ist sicher, ich werde nicht gehen. Ich kann leicht hier in England einen Job finden. Wahrscheinlich verdiene ich nicht so viel wie in den Staaten oder in Australien, aber es wird reichen.« -304-
»Und wo genau willst du leben?« »Keine Ahnung.« Ich zuckte die Schultern. »Irgendwo. Das haben wir noch nicht besprochen.« »Und trotzdem macht Ginny mit Ian Schluss?«, fragte Zoe. Sie hielt inne. »Er ist verheiratet, stimmt's?« Ich versuchte, um eine Antwort herumzukommen. »Sag mir die Wahrheit, Matt«, fuhr Zoe mich ärgerlich an. Ihre ganze Haltung hatte sich schlagartig verändert. »Es passt alles zusammen. Die beiden haben getrennte Wohnungen. Er kam zu spät zu ihrer Verabredung an Gershwins Geburtstag. Gershwin hat mir erzählt, dass sie sich unregelmäßig sehen, was seltsam ist, wo sie schon so lange miteinander gehen. Er hatte nichts dagegen, dass du zu ihr ziehst. Er sagte im letzten Moment, dass er nicht mit auf die Party nach London kommt.« »Stimmt das?«, fragte Gershwin. »Ist Ian verheiratet?« »Ja«, gestand ich, »es stimmt.« Und dann erzählte ich ihnen alles von Anfang an. Irgendwie war ich erleichtert, dass es nun rauskam. Gershwin und Zoe hörten aufmerksam zu, doch mir entging nicht, dass Zoe immer wütender wurde. »Hat er Kinder?«, fragte sie, als ich fertig war. »Ja.« Ich nickte. »Einen kleinen Jungen.« Keiner von beiden reagierte. Die Atmosphäre wurde zunehmend ungemütlich. Ich versuchte, das Thema zu wechseln, und Gershwin holte das geliehene Video und schob es in den Rekorder. Aber der Vorspann lief noch, als Zoe, die seit meiner Eröffnung kein Wort gesagt hatte, abrupt aufstand und das Zimmer verließ. Gershwin ging ihr nach und blieb über eine Viertelstunde weg. Als er zurückkam, nahm er seinen Mantel, gab mir meinen, und wir verließen das Haus in Richtung Kings Arms.
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89 »Du fragst dich wahrscheinlich, was Zoe hat.« Ich nickte. »Und wie sie so schnell darauf kam, dass Ian verheiratet ist.« Ich nickte wieder. »Es ist ein wunder Punkt bei ihr«, sagte Gershwin mit ausdrucksloser Stimme. »Weil ich vor etwa drei Jahren auch eine Affäre hatte.« Ich traute meinen Ohren nicht. Ich war Trauzeuge auf ihrer Hochzeit gewesen und hatte gesehen, wie glücklich sie waren. »Ich versichere dir, Matt, ich habe nie aufgehört, Zoe zu lieben, nicht einen Moment. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber ich war damals voller Selbstzweifel. Ich hatte kein Selbstvertrauen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich hasste meine Arbeit. Zoe hat immer gesagt, ich soll kündigen und etwas tun, das mir Spaß macht, sobald sie wieder anfängt zu arbeiten. Sie war sicher, wir würden es irgendwie hinkriegen, ich dagegen nicht - weil es nämlich einfacher ist, im alten Trott weiterzumachen, als etwas zu verändern. Ich hab's mir leicht gemacht. Ich verstand mich gut mit Kate - sie hat bei uns in der Verwaltung gearbeitet - und erzählte ihr von meinen Zweifeln. Wir begannen eine Affäre, die etwa sechs Monate lang dauerte.« »Hat Zoe es herausgefunden?« »Nein, obwohl ich mir das manchmal gewünscht hatte dann wäre es einfacher gewesen. Ich habe Schluss gemacht. Ich hab die Schuldgefühle einfach nicht mehr ertragen. Ich hab's nicht ausgehalten, mich selbst zu verachten. Zoe und Charlotte sind meine Familie, und ich habe sie betrogen, Matt. Zoe hat mir noch nie einen Grund gegeben, sie nicht zu lieben. Selbst jetzt -306-
kann ich es kaum glauben, dass ich riskiert habe, sie zu verlieren. Ich hab die Beziehung mit Kate beendet und Zoe alles erzählt. Ich wusste, dass ich auch ohne es ihr zu sagen davongekommen wäre, aber ich fand, dass sie das nicht verdient hatte.« »Was ist dann passiert?«, fragte ich fassungslos. »Wir haben uns getrennt.« »Du und Zoe habt euch getrennt? Warum hast du mir nie davon erzählt?« »Du warst zu der Zeit in London. Wir haben uns selten gesehen, und dann schien nie der richtige Moment zu sein. Es hat nichts mit dir zu tun. Es ging einfach nicht anders.« »O Mann«, sagte ich, »es tut mir echt Leid, was du alles durchgemacht hast, und dass ich nicht für dich da war.« »Ist schon okay«, sagte er und gab mir mit einem Lächeln zu verstehen, dass er wusste, was ich meinte, auch wenn ich es nicht ausdrücken konnte. »Ich bin für ungefähr fünf Monate zurück zu meinen Eltern gezogen«, fuhr er fort. »Es war furchtbar, Matt. Zoe hat die ganze Zeit geweint, der Arzt hatte ihr Beruhigungsmittel verschrieben, ich habe sie fast zerstört. Ich will gar nicht darüber nachdenken, was für Auswirkungen es auf Charlotte hatte. Ich dachte, wir würden alles verlieren…« Er räusperte sich. »Ich hätte sogar verstanden, wenn sie die Scheidung eingereicht hätte. Aber während der ganzen schlimmen Zeit sagte sie mir immer, dass sie mich liebte. Und das stimmt, Matt. Sie liebt mich, und es war schwer und manchmal schier unmöglich, aber wir haben es geschafft. Sie hat uns gerettet. Sie hat mich gerettet.« »Dann ist jetzt alles wieder okay?« Gershwin zuckte die Schultern. »Ja und nein. Manchmal scheint es nie passiert zu sein, und manchmal ist es, als wäre es gestern gewesen.« -307-
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, begann ich. »Wirklich.« »Da gibt's auch nichts zu sagen. Ich hab das Ganze selbst angerichtet und bin allein dafür verantwortlich.«
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90 »Hör mal, Matt«, sagte Gershwin um Viertel vor zehn, »es ist schon ziemlich spät, und ich gehe jetzt besser nach Hause.« »Ja, natürlich«, erwiderte ich und zog den Mantel an. »Nach Hause.« »Also dann«, sagte Gershwin, als wir draußen waren, »mach's gut.« Er sah mich an. »Danke.« »Wofür?« »Für deine Freundschaft«, erwiderte er. »Und ich danke dir für deine«, sagte ich. »Bei dir ist doch alles okay, ja?« »Ja, natürlich«, sagte er überzeugt. »Aber wie steht's mit dir? Ich weiß, ich hab deine Beziehung mit Ginny immer ein bisschen wie einen Witz behandelt, aber mir ist schon klar, wie viel sie dir bedeutet. Also viel Glück morgen. Ich hoffe, alles geht gut.« »Prost«, erwiderte ich. »Was auch immer passiert, ich werd's überleben.«
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91 Auf dem Rückweg zu Ginny konnte ich an nichts anderes denken als an Gershwins Enthüllung. Ich machte mir klar, wie lächerlich es war, schockiert zu sein, wo doch die ganze Menschheitsgeschichte voller Ereignisse war, die niemand je für möglich gehalten hätte. Aber es hatte mich wirklich getroffen, dass Gershwin Zoe betrogen hatte, dass Ginny eine Beziehung mit einem verheirateten Mann hatte und Elliot gestorben war… und doch passieren solche Dinge immer wieder, ob es einem gefiel oder nicht. Und je älter man wurde, desto mehr geschah. Doch als eine Lektion des Lebens schien das alles ein bisschen offensichtlich - ja fast kindisch. Als ich dann bei Ginny ankam, hatte ich das Gefühl, immer nur in einer Traumwelt gelebt zu haben. Ich war mit vielen großen Erwartungen durchs Leben gegangen - ich wollte einen befriedigenden und anständig bezahlten Job, gute Freunde, ein schönes Haus und eine glückliche Beziehung, aber das waren nichts als Fantasien, die nur für wenige Wirklichkeit wurden. Als wir - Gershwin, Ginny, Elliot, Bev, Katrina, Pete und ich zusammen aufwuchsen, war ich davon ausgegangen, wir würden alle die gleiche Richtung einschlagen, dass wir alle die gleichen Ziele hatten und immer gleichgestellt wären. Aber so war es nicht gekommen. Alles im Leben war willkürlich: der Tod von Ginnys Mutter, Petes Scheidung, Katrinas gescheiterte Karriere, Bevs unerfüllbarer Kinderwunsch, Gershwins Unzufriedenheit. Unsere Erfahrungen waren nicht übertragbar: Jeder musste sich den Prüfungen selbst stellen. Und wenn ich mir mein eigenes Leben betrachtete, wenn ich Ginny und mich ansah, verstand ich schließlich, warum wir immer und immer wieder zusammengefunden hatten. Aus Nostalgie - sonst nichts. Wir hatten versucht, daran festzuhalten, wie es einmal gewesen war, weil uns die Welt, wie sie wirklich war, nicht gefiel. Aber dabei -310-
war uns entgangen, dass nicht einmal mehr die Vergangenheit war, wie wir sie früher gesehen hatten. Wenn Gershwins Enthüllung eines bewies, dann das: Wir hatten uns alle verändert. Wir waren alle so weit auf unseren getrennten Wegen gegangen, wir hatten alle so unterschiedliche Erfahrungen gemacht und uns so sehr voneinander entfernt, dass keiner von uns mehr derselbe war. Ginny wollte jetzt ihr Leben für mich ändern, aber sie vertraute dabei einer Version von mir, die nur noch in ihrer Vorstellung existierte. Ich war nicht mehr der, den sie vor so langer Zeit gekannt hatte.
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92 Kurz nach elf traf ich bei Ginny ein. Obwohl sie ziemlich fertig aussah, war sie noch wach, lag zusammengerollt mit Larry und Sanders auf dem Sofa und sah fern, den Ton ganz leise gestellt. »Hallo«, sagte sie. »Hallo«, erwiderte ich, ging zu ihr hin und küsste sie. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr sagen sollte, was ich sagen musste. »Warum bist du noch wach? Du siehst kaputt aus.« »Danke vielmals.« »Du weißt, was ich meine.« Sie lachte. »Ja. Ich bin müde, aber ich wollte auf dich warten.« Ich setzte mich neben sie. Larry und Sanders sprangen von ihrem Schoß auf den Boden und verschwanden in der Küche. Ich fragte mich kurz, ob Katzen einen sechsten Sinn für aufziehende Gewitter hatten. »Du hast mir gefehlt«, sagte Ginny, schlang die Arme um meine Taille und zog mich zu sich. Ich sah sie an und küsste sie wieder. In dem Moment war ich überzeugt, Unrecht zu haben. Sie war die Richtige für mich. Sie allein. Ich saß da, sie ganz nah bei mir, und fühlte mich so wohl - wie konnte das nicht stimmen? »Wie geht es Gershwin und Zoe?«, fragte sie. Die Frage brachte mich wieder zurück in die Realität. »Gut«, log ich. »Was habt ihr gemacht?« »Nichts Besonderes.« »War Charlotte noch auf?« -312-
»Sie hat schon geschlafen.« »Hast du gegessen? Ich kann dir was machen, wenn du Hunger hast.« »Wir haben gegessen.« Ein langes Schweigen trat ein. Dann ließ Ginny mich los und setzte sich aufrecht hin. »Sagst du mir, was los ist?«, fragte sie leise. Ich blickte sie an, sagte aber nichts. Sie war wunderschön, wirklich. Ich konnte nicht glauben, dass ich Schluss mit ihr machen wollte. Und doch griff ich auf den ältesten Trick der Welt zurück - den mürrischen, miesen Freund, um alles zu beenden. Es war nicht zu fassen. »Nichts ist los«, erwiderte ich bissig. »Klar, und genau so siehst du auch aus.« Ich zuckte die Schultern und schwieg. »Ich warte, Matt.« »Auf was?« »Dass du mir sagst, was los ist. Wir hatten doch einen schönen Tag heute, wir haben uns so gut verstanden. Als du vorhin weggegangen bist, warst du völlig okay. Was ist passiert?« Ich schloss die Augen und seufzte, nahm alle Kraft zusammen, denn die brauchte ich jetzt. Ich machte mir noch einmal klar, warum es mit uns nicht funktionieren konnte. Ich machte mir noch einmal klar, warum ich nicht das Recht hatte, mich in ihr Leben einzumischen. Ich machte mir noch einmal klar, dass sie etwas Besseres verdiente und warum ich es ihr nicht geben konnte. Und dann sagte ich schließlich, was ich sagen musste. »Also gut«, begann ich, wobei ich ihrem Blick bewusst auswich. Ich -313-
konnte ihr nicht in die Augen sehen, dazu war ich nicht stark genug. »Ich glaube nicht, dass es mit uns funktioniert.« »Warum?«, fragte sie vorsichtig. »Warum hast du deine Meinung geändert?« »Ich weiß es nicht genau… Es ist, weil… weil ich nicht klar denken kann… weil ich nicht das Recht habe, dein Leben so durcheinander zu bringen… weil es hier nicht um dich und mich geht, im Hier und Jetzt, sondern weil es Nostalgie ist… Sicherheit, wenn du so willst. Das weißt du genauso gut wie ich, Ginny. Da bin ich mir sicher. Wie können wir nach nur sechs Tagen all die Entscheidungen für unsere Zukunft treffen? Ich darf nicht von dir verlangen, mit Ian Schluss zu machen, nur weil wir eine verrückte Affäre haben. Du solltest mit ihm Schluss machen, weil du es willst. Wir sind keine Teenager mehr. Wir können so was einfach nicht mehr machen.« »Du hast natürlich Recht«, erwiderte Ginny schließlich. Ihre Stimme war ruhig und gefasst. »Es hätte niemals funktioniert.« »Stimmt«, erwiderte ich leise. »Ich bin nicht das, was dir im Leben fehlt.« Schweigen. »Es tut mir Leid«, sagte ich, »es tut mir wirklich Leid. »Mir auch«, sagte sie und stand auf. »Deshalb glaube ich, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Diesmal für immer«, fügte sie noch hinzu. Nach fünf Minuten war alles vorbei. Als ich nach oben ging, um meine Sachen zusammenzusuchen, überkam mich die gleiche Niedergeschlagenheit wie bei der Trennung von Elaine. Doch diesmal machte es mir keine Angst. Ich brach nicht in Panik aus, meine Seele zu verlieren. Ich werde überleben, sagte ich mir. Was auch immer passiert, ich werde überleben.
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93 Zur Überraschung meiner Eltern zog ich wieder nach Hause zurück, und die nächsten beiden Wochen verliefen ereignislos. Ginny versuchte nicht, mich zu kontaktieren, weil ich ihr wohl keinen Grund dazu gab. Ich hingegen überlegte hundert Mal, sie anzurufen oder zu ihr zu gehen, widerstand aber immer. In der kurzen Zeit, seit ich zurück in Birmingham war, hatte ich unsere Freundschaft wieder aufleben lassen, mich in sie verliebt und es geschafft, dass sie sich in mich verliebte, ihre Beziehung mit Ian verkorkst (obwohl die natürlich sowieso schon verkorkst gewesen war) und mich erneut von ihr getrennt. Das Beste, was ich jetzt tun konnte, war, mich von ihr fern zu halten. Das tat ich auch, und mein Leben wurde wieder genau so wie vor fast drei Monaten, als ich nach Birmingham gekommen war: Ich wohnte in meinem ehemaligen Zimmer, meine Eltern trieben mich regelmäßig in den Wahnsinn, und ich erledigte hin und wieder die Einkäufe für meine Mutter, wobei ich nur dann losging, wenn Ginny garantiert in der Schule war. Ich traf noch mehr ehemalige Klassenkameraden: Adele Farley (damals hätte sie einem für eine Packung Crisps sicher ihren Schlüpfer gezeigt; heute war sie stellvertretende Managerin einer Bausparkasse und Mutter von zwei Kindern) und Bridget Gibbons (damals hätte sie einem auf dem Spielplatz bestimmt eine Ausgabe des Socialist Worker verkauft; heute sammelte sie halbtags Spenden für die Labour Party). Außerdem traf ich mich ziemlich oft mit Gershwin und Zoe. Anfangs war es schwierig, weil ich einfach nicht vergessen konnte, dass sie sich einmal getrennt hatten. Doch je öfter ich die beiden sah, desto klarer wurde mir, wie gut sie zueinander passten und dass sie sich trotz allem immer noch liebten. Und das gab mir mehr als alles andere ein gutes Gefühl. Als dann jedoch die Vorbereitungen für meinen Geburtstag anstanden, wurde es kompliziert. Dass Bev, Katrina und Pete -315-
von so weit her nach Birmingham kamen, machte ohne Ginny keinen Sinn, und so überredete ich Gershwin, den dreien abzusagen, obwohl er zunächst dagegen war. Ähnlich wie er bei der Vorbereitung zu seinem Geburtstag, lehnte auch ich sämtliche extravaganten Vorschläge ab, ein Wochenende in London (Gershwin), eine Radtour zu viert in South Wales (Zoe) und entschied mich für das Kings Arms. Ich wollte keinen großen Wirbel. Ich wollte nur mit wenigen Leuten feiern und es einfach hinter mich bringen. Ich muss sagen, dass mein vom eisernen Willen gestärkter Gleichmut - das Ergebnis fast dreißigjähriger Arbeit - in den zwei Wochen ohne Ginny gute Dienste für mein zukünftiges Leben leistete. Ich hätte gern behauptet, dass ich alles jederzeit unter Kontrolle hatte, dass ich mit Fassung ertrug, möglicherweise die Liebe meines Lebens für immer verloren zu haben, was irgendwie auch stimmte. Aber es gab Zeiten, meist spät nachts, wenn ich an sie dachte und mir bewusst wurde, dass ich zwar äußerlich okay war, innerlich jedoch zerbrach. Ohne sie fühlte ich mich verloren. Wirklich. Doch Elaines Ankunft rettete mich.
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94 »Matt!«, schrie Elaine, sobald sie mich entdeckte. »Hier!« Die anderen Passagiere in der Ankunftshalle sahen sie an, als wäre sie auf eine niedliche Weise verrückt. Sobald die Sperre hinter ihr lag, ließ sie den Gepäckwagen stehen, warf sich mir in die Arme und übersäte mich mit Küssen. »Also das nenne ich eine Begrüßung«, sagte ich, als ihr Sturmangriff schließlich nachließ. Plötzlich wirkte sie verlegen. »Das war wohl unangemessen für eine Exfreundin, deren Exfreund gerade eine Neue gefunden hat.« »Nein«, erwiderte ich, »kein bisschen.« »Das sagst du nur so«, fuhr sie verwirrt fort. »Ich verspreche dir, dass ich nicht die ganze Zeit die bedürftige Exfreundin geben werde.« Sie lachte. »Nur die ersten fünf Minuten.« Sie sah auf die Uhr und umarmte mich wieder. »Also«, sagte sie und sah mich an, »wir haben jetzt noch ganze zwei Minuten.« »Es ist wirklich toll, dich wieder zu sehen«, begann ich, »ehrlich. Ich habe dir nur noch nicht alles erzählt.« Elaine sah mich erwartungsvoll an. »Ginny ist nicht hier, oder? Ich bin im schlechtesten aller schlechten Momente gekommen, stimmt's?« Aus verschiedenen, meiner Meinung nach guten Gründen hatte ich Elaine nicht geschrieben, was zwischen mir und Ginny passiert war. Erstens wollte ich nicht, dass sie glaubte, ihr Besuch hier in England habe irgendwas damit zu tun, zweitens wollte ich einfach nicht darüber reden - nicht einmal mit ihr -, und drittens glaubte ich, dass sie mich für einen riesen Dummkopf halten würde, sobald ich ihr die Gründe der Trennung erklärte. -317-
»Stimmt«, erwiderte ich, »sie ist nicht hier, weil… na ja… wir sind nicht mehr zusammen.« »Aber ihr habt euch doch erst vor drei Wochen wieder gefunden.« »Es ist schon eine Weile vorbei. Sechs Tage, nachdem es angefangen hatte, um genau zu sein. Sorry, ich konnte es dir einfach nicht sagen.« Ich überlegte, welche meiner Entschuldigungen ich benutzen sollte. »Ich hab's irgendwie ignoriert.« »Sechs Tage, Matt«, sagte Elaine. »Ich dachte, sie wäre die Liebe deines Lebens. Die perfekte Frau für dich.« »Das ist wahrscheinlich genau das Problem«, gab ich zu. »Wenn man etwas so eine Riesenbedeutung beimisst, muss es zwangsläufig schief gehen.« Elaine sah mich eingehend an. »Was war der Grund für eure Trennung?« »Eigentlich gab es keinen. Ich hatte einfach die Erleuchtung, wahrscheinlich weil ich dreißig werde, dass ich einem Traum hinterherjage, der nie Wirklichkeit werden kann. Ich sagte ihr, dass es meiner Meinung nach nicht mit uns funktioniert. Sie stimmte mir zu und wollte, dass ich ausziehe.« »Und ich weiß auch schon, wie es weiterging«, erwiderte Elaine. »Du bist ganz still geworden, wie immer in solchen Situationen, hast einfach ›okay‹ gesagt, als hätte dir jemand ein Bier angeboten, hast deine Sachen gepackt und bist gegangen.« Sie grinste selbstzufrieden. »Hab ich Recht?« Ich lächelte schwach, sagte aber nichts. »Und du hast nicht versucht, es zu retten?« »Nein. Es ist vorbei.« »Aber ich dachte, du wolltest sogar deinen neuen Job für sie sausen lassen?« »Alles nur Gerede«, erwiderte ich. »Darin waren Ginny und -318-
ich schon immer gut.« Ich hielt inne. »Aber ich will nicht mehr darüber sprechen - es ist zu deprimierend.« Ich nahm Elaines Hand. »Meine Exfreundin Elaine ist jetzt bei mir, und wir lieben uns nur noch rein platonisch…« »… was zutrifft.« »In weniger als einer Woche werde ich dreißig.« »Auch wahr.« »Du bist noch nie in England gewesen, geschweige denn in Birmingham.« »Aber ich habe EastEnders im Fernsehen gesehen.« »Deshalb schlage ich vor, dass wir die kurze Zeit in vollen Zügen genießen, bevor du wieder abreisen musst.«
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95 Die nächsten fünf Tage mit Elaine waren herrlich. Sie bekam das frühere Zimmer meiner Schwester und wurde wie ein Familienmitglied aufgenommen, was ihr durchaus gefiel. Da sie aber auch Gast meiner Eltern war, bestanden die beiden darauf, noch einmal an all die Orte zu fahren, wo wir schon in den ersten Wochen nach meiner Ankunft gewesen waren. Wir besuchten also wieder Stratfordupon-Avon (wo Elaine darauf bestand, sich vor jeder Sehenswürdigkeit der »alten Welt« mit meinen Eltern fotografieren zu lassen, um ihren Kolleginnen etwas bieten zu können), den Botanischen Garten (wo Dad einfach nicht widerstehen konnte, die Geschichte mit dem Hirtenstar noch einmal zum Besten zu geben), und dann schafften wir es ganz ohne böse Worte bis nach Malvern. Das hatten wir alles Elaine zu verdanken. Meine Eltern mochten sie sehr und fanden selbst ihre Weigerung, sich in die Küche zu stellen, gerechtfertigt. Mum beharrte darauf, dass moderne Frauen eben keine Zeit zum Kochen hätten und ich wahrscheinlich Schuld an unserer Trennung sei; angesichts der Unordnung in meinem Zimmer schien offensichtlich, dass ich nie im Haushalt mitgeholfen hatte. Auch Gershwin und Zoe fanden Elaine hinreißend. Sie luden uns am zweiten Abend zum Essen ein, und schon nach einer halben Stunde lachten und witzelten Elaine und Zoe zusammen wie alte Freundinnen. Selbst Charlotte, zu der ich inzwischen so etwas wie eine Beziehung aufgebaut hatte, schloss Elaine sofort ins Herz. Gegen Ende der Woche zeigte ich Elaine all die Gebäude, die eine wichtige Bedeutung für mich hatten: meine alte Grundschule mitsamt der Stelle auf dem Schulhof, wo ich mir beim Fußballspielen den Arm gebrochen hatte; das Kings Arms -320-
mit der Textiltapete und sogar die Spirituosen-Abteilung im Safeway. Sie wurde nicht böse, als ich nach kaum fünf Minuten wieder Schulkameraden traf: Jez Morris (damals derjenige, der wohl durch alle Prüfungen fallen würde; heute Teilzeitschauspieler und -model) und Mel Langer (damals diejenige, die bestimmt einmal Schauspielerin werden würde; heute macht sie Recherchen fürs Fernsehen). »Ist dir eigentlich klar«, fragte Elaine, als wir vollgepackt mit Einkäufen für meine Mum den Supermarkt verließen, »dass du es dir hier ganz gut eingerichtet hast?« »Ich möchte die zufällige Begegnung mit Bekannten im Supermarkt ungern als den Höhepunkt meiner Karriere betrachten.« »So meine ich das auch nicht.« »Ich weiß.« »Aber vergiss nicht, wenn ich in New York ausgehe, treffe ich nie jemanden, den ich kenne.« »Das wäre anders, wenn du wieder nach Brooklyn ziehen würdest.« »Aber ich will nie wieder nach Brooklyn ziehen. Das ist genau der Punkt.« Sie hielt inne. »Genau genommen hab ich keine Ahnung, warum du überhaupt weggezogen bist. Es scheint dir hier gut zu gefallen.« »Weißt du was?«, sagte ich, als wir den Fish-&-Chips-Laden in der Einkaufsstraße erreichten. »Ich auch nicht. Es gehört einfach zum Älterwerden, man packt seine Sachen und zieht weiter.«
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96 Am Abend vor meinem dreißigsten Geburtstag gingen Elaine und ich mit meinen Eltern essen. Diesmal erlaubten Mum und Dad, dass ich bezahlte, und zwar ohne jede Diskussion. Dad muss die Überraschung in meinem Gesicht gesehen haben, denn er sagte: »Du bist jetzt fast dreißig und kannst allmählich für dich selbst bezahlen.« Kurz nach zehn waren wir schon wieder zu Hause. Meine Eltern gingen zu Bett, und Elaine und ich sahen fern, aber auch wir schliefen schon bald auf dem Sofa ein. Als ich später aufwachte, lag sie mit dem Kopf auf meiner Brust, wie in alten Zeiten. »Elaine«, flüsterte ich, um sie vorsichtig aufzuwecken. »Elaine.« Sie öffnete die Augen und gähnte. »Wir sind eingeschlafen.« »Ich weiß. Ist das ein Zeichen, dass wir alt werden? Als ich ein Kind war, ist mein Vater immer vor dem Fernseher eingeschlafen.« »Nein, ich glaube nicht, dass wir alt werden. Deine Entschuldigung kenne ich nicht, aber meine ist Jetlag«, murmelte sie. »Was auch immer«, sagte ich. »Ich gehe jedenfalls ins Bett.« »Wie spät ist es?« Ich sah auf die Uhr des Videorekorders. »Zehn nach eins.« Sie runzelte heftig die Stirn, als würde sie schwer nachdenken. »Ich glaube, dann hast du schon Geburtstag.« »Was? Weil es jetzt rein technisch gesehen Samstag ist?« Sie streckte sich und setzte sich auf. »Nein, weil du um null Uhr fünfundvierzig geboren und somit seit fünfundzwanzig Minuten dreißig bist.« -322-
»Ich bin nicht um null Uhr fünfundvierzig geboren«, widersprach ich entrüstet. »Wann dann?« »Ich weiß es nicht.« »Wie kannst du dann behaupten, du wärst nicht um null Uhr fünfundvierzig geboren?« Da hatte sie Recht. »Und woher willst du das wissen?« »Von der Frau, die dich zur Welt gebracht hat.« Ich dachte einen Moment darüber nach. »Dann bin ich jetzt also dreißig?« Elaine lachte und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag.« Sie hielt inne und sah mir direkt in die Augen. »Matt?« »Ja?« »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?« Ich blickte sie gespielt fassungslos an. »Wieso denn das auf einmal?« Elaine seufzte tief. »Ich meine wirklich nur bei dir schlafen, nicht mit dir schlafen. So wie zwei müde Menschen im selben Bett zur selben Zeit.« »Aber warum?«, fragte ich vorsichtig. »Weil…« Sie wendete den Blick ab; ich glaube, ich hatte Elaine noch nie zuvor verlegen erlebt. »… weil mir das am meisten fehlt.« Ich konnte und wollte nicht Nein sagen. Wie früher putzten wir uns im Badezimmer gemeinsam die Zähne, zogen uns aus (sie bestand darauf, den Schlafanzug anzuziehen, den Mum mir gegeben hatte, so dass ich Boxershorts trug) und schlüpften in mein Einzelbett. Es dauerte keine zehn Minuten und Elaine schlief wie ein Murmeltier, während ich mich damit herumschlug, dass ich jetzt dreißig war. Dabei dachte ich nicht -323-
an die Tatsache per se, sondern verwandelte das Ganze in ein Frage-und-Antwort-Spiel mit meinem Herzen. Und das ging so: 1. Gibt es irgendetwas, das ich bedauere? Im Klartext heißt das vermutlich, habe ich meine Zeit als Twen weise genutzt, oder habe ich sie sinnlos verstreichen lassen? Wenn ich mir die vergangenen zehn Jahre vor Augen halte, habe ich im Großen und Ganzen wie Edith Piaf nichts zu bereuen. Wenn ich sie noch einmal erleben könnte, würde ich es anders tun? Das bezweifle ich stark. Allerdings bedauere ich ein bisschen, dass ich mich auf körperlicher Ebene etwas gehen gelassen habe. Wenn ich noch einmal Anfang zwanzig wäre, würde ich mir wahrscheinlich den Rat geben: Iss mehr und trink mehr, solange dein Stoffwechsel noch so prächtig funktioniert, denn wenn du dir in zehn Jahren neue Klamotten kaufst, lachen die Zwanzigjährigen dich aus. Und - die Liste wurde doch ziemlich lang für jemanden, der noch kurz zuvor nichts zu bereuen hatte - ich hätte mir vielleicht gewünscht, netter zu meinen Eltern gewesen zu sein. Obwohl ich mich viel über sie beklagt habe, waren sie vermutlich doch eine ganze Ecke klüger, als ich ihnen zugestand. Aber um auf den eigentlichen Punkt zurückzukommen - was mit zunehmendem Alter immer schwerer wird, gab es etwas, das ich wirklich bereute? Ja, eine ganze Menge: Stephen Cooper meine tadellos erhaltene Platte Meat is Murder gegeben zu haben, die ich nie wieder sah; meine vierundzwanzigstündige Romanze mit Liz Ward-Smith, die mit meiner Liebesbezeugung begann und vierzehn Stunden später endete; nicht Französisch gelernt zu haben (ich weiß nicht, warum, habe aber das Gefühl, ich hätte es tun sollen). Die Liste war endlos. 2. Was bedauere ich am allermeisten? -324-
Ginny. 3. Habe ich das Gefühl, nicht mehr jung zu sein? Die kurze Antwort lautet: nein. Aber die Wahrheit ist Ja und Nein. Als Dreißigjähriger werden die Zwanzigjährigen mich ansehen und sofort wissen, dass ich nicht mehr zu ihnen gehöre. In einem Gespräch mit ihnen werden sie mich nicht fragen, auf welche Universität ich gehe oder auf welche Musik ich stehe, denn unsere musikalischen Welten werden sich wohl kaum kreuzen; aus dem gleichen Grund werden sie auch nicht wissen wollen, welche Clubs ich bevorzuge. Meine Freunde werden sie wahrscheinlich auch nicht sein wollen - wer will schon ständig daran erinnert werden, dass Alter, Tod und Haarausfall um die Ecke lauern? Und warum sollte ich mich mit Leuten abgeben, mit denen ich zwangsläufig die gleichen endlosen, dummen philosophischen Gespräche über das Leben führen müsste wie vor zehn Jahren? All das und vieles mehr muss ich akzeptieren, und ich weiß, dass ich damit leben kann. 4. Wer oder was würde mir das Gefühl geben, jünger zu sein? Ginny. 5. Fühle ich mich wirklich älter? Die Antwort darauf lautet wieder: Ja, aber… In einer etwas düsteren Stimmung wird mir bewusst, dass das Leben nicht immer so verläuft, wie man es sich vorstellt, was ich in meinen Zwanzigern zu wenig berücksichtigt habe. Etwas leichter fällt -325-
mir die Einsicht, dass der Remington-Ohren- und Nasenhaarschneider für immer zu meinem Leben gehören wird. (Kann mir jemand den entwicklungsgeschichtlichen Zweck von Nasenhaaren verraten, die plötzlich ein kleines bisschen zu lang werden?) Allerdings bin ich noch immer Lichtjahre von einer Ehe sowie den zwei Komma vier Kindern entfernt, wenn auch die Hypothek bestimmt schon in den Startlöchern lauert. Kurz gesagt, ich will nicht länger sinnlos jung sein, was aber nicht heißt, dass ich mich benehmen muss, als wäre mein Leben vorbei. Ergo, ich strebe es nicht an, mit vierzig einen Sportwagen, eine schicke Bude in London und einen endlosen Strom achtzehnjähriger Freundinnen zu haben, ohne jemals sesshaft werden zu wollen. Das wäre total deprimierend. 6. Mit wem oder was würde ich gern das Leben verbringen, so dass ich kein modegestresster, ewig junger Vierziger mit Sportwagen, einer schicken Bude in London und einem endlosen Strom achtzehnjähriger Freundinnen werden muss, ohne jemals sesshaft werden zu wollen? Ginny. Mein dreißigster Geburtstag Datum: 31 März Tage bis zum dreißigsten Geburtstag: 0 Verfassung:?
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97 »Guten Morgen, Geburtstagskind!« Ich öffnete die Augen und sah Elaines strahlendes Gesicht nur wenige Zentimeter vor mir. »Guten Morgen, verrücktes Huhn.« Ich seufzte. »Weckt man so einen Mann an seinem dreißigsten Geburtstag? In meinem Zustand könnte ich glatt einen Herzanfall bekommen.« Ich rieb mir die Augen. »Wie spät ist es?« »Sechs«, erwiderte sie schuldbewusst und zeigte auf den Wecker am Boden. »Du weckst mich um sechs Uhr morgens?«, fragte ich ungläubig. »Nicht einmal dein Jetlag kann Schuld daran sein.« »Ich war so aufgeregt«, sagte sie, noch immer strahlend. Ich blickte sie an und musste lächeln. Ich war froh, dass sie da war. Wenn überhaupt jemand diesen Tag erträglich machen konnte, dann Elaine. »Ich will dir jetzt deine Geschenke geben«, fuhr sie fort, »weil ich nämlich zurück in mein Zimmer muss, bevor deine Mom merkt, dass ich nicht in meinem eigenen Bett geschlafen habe.« »Gute Idee«, sagte ich. »Das würde sie nur verwirren.« Ich dachte noch einmal über ihren letzten Satz nach. »Geschenke?«, wiederholte ich. »Ich dachte, dein Besuch sei mein Geschenk.« Elaine schaute einfältig drein. »Ich konnte mich einfach nicht beherrschen und habe ein Vermögen ausgegeben. Aber ich wollte dir unbedingt etwas schenken, das dir wirklich gefällt.« Sie nahm eine große Reisetasche, die wie durch ein Wunder neben dem Bett stand, und gab sie mir. Darin lagen ein paar geschmackvoll eingewickelte Päckchen. »Die sind alle für mich?« -327-
»Nein«, sagte sie und grinste übers ganze Gesicht. »Ich hab einfach nur große Lust, dich zu quälen.« »Was ist denn da drin?« Sie stöhnte gespielt enerviert. »Glaubst du wirklich, ich packe das stundenlang ein und erzähle dir dann, was drin ist? Mach sie auf und sieh selber nach.« Zehn Sekunden und eine Zerreißprobe mit dem schönen Geschenkpapier später, fand ich es heraus: die General-UrsusFigur aus Planet der Affen (»Sie sah so süß aus mit dem kleinen Revolver und dem Affengesicht, dass ich sie dir einfach kaufen musste«); eine Hörkassette des Selbsthilfebuchs Der wunderbare Weg (»Ich fand, es passt gut zu deiner momentanen Gemütsverfassung«); ein paar CDs (»Ich hab dem Typ in Tower Records eine Liste von den jammernden Ladys gezeigt, die du so gut findest, und er meinte, die hier werden dir sicher gefallen«) und schließlich ein Foto, das Sara von uns beiden auf dem Höllensofa gemacht hatte, wie wir eine riesige Tüte Tortilla-Chips essen (»Ich finde, wir sehen glücklich darauf aus. Wie richtige Freunde. Daran sollten wir immer denken«). »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand ich und umarmte sie. »Es sind nicht nur die ersten Geschenke zu meinem dreißigsten Geburtstag, sondern zweifellos auch die besten.« Ich küsste sie herzlich. »Danke, sie sind einfach toll.« »Gern geschehen«, sagte Elaine, gab mir ihrerseits einen Kuss und schlüpfte aus dem Bett. »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.« Wie sie so vor mir stand, die zierliche Gestalt in meinem viel zu großen Schlafanzug, bei dem die lackierten Fußnägel gerade so unter dem Hosensaum hervorlugten, sah sie absolut liebenswert aus. Perfekt. Warum wollte ich sie nicht mehr? Warum wollte sie mich nicht mehr? Die perverse Natur menschlicher Anziehungskraft ist so… na ja… pervers, dachte ich. »Zehn Dollar für deine Gedanken«, sagte Elaine. »Was hast -328-
du gerade gedacht, Kumpel?« Sie betonte das Wort »Kumpel« wie Keanu Reeves in dem Film Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit. Sie war eine gute Keanu-Reeves-Imitatorin. »Wann?«, fragte ich ausweichend. »Gerade eben, als ich aus dem Bett gestiegen bin.« »Da habe ich gar nichts gedacht.« »Lügner.« »Ehrlich.« »Doppellügner.« Ich lachte. »Also gut… du hast Recht. Ich habe was gedacht.« Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich mich gefragt hatte, warum ich sie nicht mehr anziehend fand, sondern entschied mich für den darauf folgenden Gedanken. »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie sich irgendwann ein Mann fürchterlich in dich verlieben wird. Und wie glücklich du ihn machen wirst.« »Ist er auch nett?« »Der Allernetteste.« »Und liebe ich ihn auch?« »Du bist vollkommen verrückt nach ihm.« »Mag er das Tattoo auf meinem Hintern?« »Er findet es ganz reizend.« »Und das sagt dir alles mein Anblick in deinem Schlafanzug?« Ich lachte. »Was denn sonst?« »Du bist wirklich kein schlechter Fang, Matthew Beckford«, sagte Elaine, als sie das Zimmer verließ. »Im Gegenteil.«
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98 Es war früher Abend, Elaine und ich sahen im Wohnzimmer fern und warteten auf Gershwin und Zoe, um mit ihnen auf einen Geburtstagsumtrunk ins Kings Arms zu gehen. Ich war offiziell seit etwa achtzehn Stunden dreißig, und bis jetzt war es ein schöner Tag gewesen. Nach dem Frühstück (das fetttriefendste, das ich in meinem ganzen Leben genossen habe) hatten meine Eltern mir ihre Geschenke gegeben (Socken/Seife/Unterhosen/Schokolade), woraufhin Elaine und ich im King's-Heath-Park spazieren gegangen waren. Danach hatten wir bei einem Italiener in der Innenstadt zu Mittag gegessen, waren zurück zu meinen Eltern gegangen und hatten mit ihnen während einer Pause in ihrem alltäglichen Arbeitspensum im Garten gesessen. Am Nachmittag hatte Elaine mich gezwungen, einen langen, prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, um mich zu vergewissern, ob der Geburtstag meine Gesichtszüge verändert hatte - anscheinend tat sie das jedes Jahr an ihrem Geburtstag (mit zwanzig und zweiundzwanzig hatte sie wirklich gut ausgesehen, aber mit einundzwanzig »echt beschissen«). »Wie findest du deine neue Geburtstagshaut?«, hatte sie gefragt und mir dabei über die Schulter gesehen. Es dauerte lange, bis ich ihr antwortete, denn ich war total vertieft in meinen Anblick. Ich sah nur selten in den Spiegel. Hin und wieder natürlich schon, aber nie so lange, dass mir meine Poren auffielen. Ich erkannte mich kaum wieder. »So sehe ich immer aus?«, fragte ich und wollte meinen Augen nicht trauen. »Du klingst enttäuscht.« »Ich bin nicht enttäuscht, nur irgendwie überrascht. Man hat ja immer eine bestimmte Vorstellung, wie man aussieht, auch ohne in den Spiegel zu schauen.« Elaine nickte eifrig. »Na ja, -330-
und ich sehe ganz anders als in meiner Vorstellung aus.« »Ich finde, du siehst gut aus«, sagte Elaine. »Danke«, erwiderte ich. »Das kann man von dir auch behaupten, aber ich war nicht auf Komplimente aus. Ich sage ja nicht, ich bin hässlich - ich bin einfach nur schockiert, dass ich die ganze Zeit rumlaufe, ohne zu wissen, wie ich wirklich aussehe.« Es klingelte an der Haustür. »Das sind bestimmt Zoe und Gershwin«, sagte ich und stand auf. »Alles Gute zum Geburtstag«, schrie Zoe, als sie ins Wohnzimmer gestürmt kam. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und nahm mich ungestüm in die Arme. »Danke«, erwiderte ich. »Von mir auch«, sagte Gershwin, schüttelte mir die Hand. »Bist du bereit für deine große Nacht im Kings Arms?« »Höre ich da etwa Kritik an der Ortswahl für meine Geburtstagsparty heraus?«, fragte ich. »Durchaus«, erwiderte er. »Es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern.« »Ich will aber meine Meinung nicht ändern. Du hattest deine Geburtstagsparty im Kings Arms, warum kann ich meine dann nicht auch da haben?« »Es ist wohl allgemein bekannt, dass ich ein nichtswürdiger Langweiler bin. Aber du, Matt, bist ausgesprochen gesellig.« »Bin ich nicht.« »Bist du doch. Oder zumindest warst du das in der Schule.« Ich lachte. »Tja, das ist aber schon ziemlich lange her, was?« »Zu lange«, sagte Gershwin grinsend. »Viel zu lange.« Er sah Elaine an. »Und wie hat er sich heute so gehalten?« »Ausgesprochen gut, muss ich sagen. Am späten Nachmittag schien es, als würde er in eine leichte Geburtstagsdepression -331-
verfallen, aber er hat erfolgreich dagegen angekämpft.« »Kommt schon«, sagte Zoe mit einem Blick auf die Uhr. »Lasst uns gehen. Wir verschwenden wertvolle Trinkzeit.« Natürlich konnten wir nicht gehen, ohne dass Gershwin und Zoe meine Eltern begrüßten - sie tauchten immer gern auf, um mit meinen Freunden zu plaudern, besonders wenn diese ihren Eltern bereits Enkel geschenkt hatten. Als wir das hinter uns hatten, verließen wir zu viert das Haus, wobei Zoe schnurstracks zum Auto ging, was mich verwirrte. »Fährst du?«, fragte ich. Zoe nickte. »Ja, warum nicht? »Und was ist mit dem: ›Wir verschwenden wertvolle Trinkzeit‹?« »Ich lasse ihn auf dem Parkplatz stehen, und Gershwin und ich fahren mit dem Taxi nach Hause.« Ich wandte mich an Gershwin. »Sag bitte deiner Frau, dass an meinem Geburtstag absolute Alkoholpflicht besteht und ich keinesfalls akzeptiere, wenn sie auf einmal sagt: ›Oh, ich habe meine Meinung geändert - wir nehmen kein Taxi, und ich trinke dafür Orangensaft. ‹« Gershwin lachte. »Ich passe auf, dass sie wirklich trinkt, okay?« »Ich verstehe sowieso nicht, warum ihr überhaupt mit dem Auto gekommen seid«, sagte ich und ließ mich mit Elaine auf der Rückbank nieder. »Ihr wohnt doch nur fünfzehn Minuten zu Fuß von hier entfernt.« »Es war kalt, als wir aus dem Haus kamen«, entgegnete Zoe und ließ den Wagen an. »Hörst du jetzt endlich auf zu jammern?« Ich wollte gerade etwas antworten, aber Elaine kam mir zuvor. »Kein Wort mehr«, sagte sie ruhig. »Mach's dir bequem und genieß die Fahrt.« -332-
99 »Okay«, sagte Gershwin, nachdem wir fast zehn Minuten gefahren waren. »Wir sind da.« Zoe hielt an, und ich sah zum Fenster hinaus. Wir standen in einer nichts sagenden Sackgasse nahe der Hauptstraße in King's Heath. »Was sollen wir hier?«, fragte ich. Gershwin ignorierte mich. »Hast du die Augenbinde?«, fragte er Elaine. »Klar«, erwiderte sie und zog einen Schal aus der Tasche. »Augen zu«, befahl Elaine kichernd, »das wird eine Überraschung!« Ich sah Gershwin fragend an, ob ich auch richtig gehört hatte. »Pech gehabt«, sagte er. »Wir haben unsere Geburtstagsüberraschung nicht storniert, weil du, ehrlich gesagt, manchmal keine Ahnung hast, was gut für dich ist. Also, sei ein braver Junge und lass dir von Elaine die Augen verbinden.« »Aber wo gehen wir hin?« »Musst du ausgerechnet heute einen Haufen dumme Fragen stellen?«, erwiderte Elaine. »Es ist eine Überraschung, und wir verraten natürlich nichts. Das haben Überraschungen nämlich so an sich. Und jetzt sei still und warte einfach ab.« Mit verbundenen Augen wurde ich aus dem Auto geführt, dann entlang eines Bürgersteigs. Nach einer Weile ging es ein paar Stufen hinauf, anschließend über einen Rasen und weiter auf einer Straße, die geteert zu sein schien. Schließlich landete ich an einer weiteren Treppe, die auf einen langen betonierten Weg führte und an einem Gebäude endete. Obwohl die Augenbinde auch meine Ohren bedeckte, hörte ich gedämpfte Musik. Ich lauschte angestrengt. Es waren die ersten Takte von Madonnas »Holiday«. Das verwirrte mich nun wirklich. -333-
Mit jedem Schritt wurde Madonnas Musik lauter, und als ich schließlich das Gefühl hatte, in einem Nachtclub zu sein, blieben wir stehen. Ich hörte Stimmen, ein gelegentliches Rufen oder einen Schrei, aber ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Ganz bestimmt nicht im Kings Arms. »Du kannst ihm die Augenbinde abnehmen, Elaine«, sagte Gershwin. Sie tat es, und ich öffnete die Augen. Ich stand nicht nur umringt von Katrina, Pete, Bev und einem Herrn, der wohl ihr Ehemann war, in der Aula meiner ehemaligen Schule, es gab auch einen DJ mit kompletter Ausrüstung, der gerade Harold Faltermeyers »Axel F« spielte, sowie über den ganzen Raum verteilt Gruppen von Menschen, die sich unterhielten, tanzten oder an der improvisierten Bar in der Ecke des Raums standen alles in allem ein paar Hundert ehemalige Schüler meines Jahrgangs der King's-Heath-Gesamtschule. Ein paar Gesichter erkannte ich sofort wieder, weil ich ihnen schon im Safeway begegnet war; andere hatte ich seit Verlassen der Schule mit sechzehn nicht mehr gesehen. Das gesamte Schülerspektrum war vertreten: die Lehrerlieblinge, Schläger und Klassenclowns, die Verrückten, Einzelgänger und Versager, Hasch-Raucher und Manisch-Depressive, die Beliebtesten, weniger Beliebten und Unbeliebten, die schönsten Girls und bestaussehenden Boys, die Superklugen und die Sportlichsten, die Kleinkriminellen, Schwächlinge, Spinner und natürlich auch eine Menge ganz normale Leute - einfach alle. »Keine Angst«, sagte Gershwin lachend. »Das ist nicht deine Geburtstagsparty, sondern ein Klassentreffen. Trotzdem herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« »Aber wie ist das hier zu Stande gekommen?«, fragte ich. »Wer hat das alles organisiert? Hast du mit einem Megafon im Safeway gestanden und gewartet, bis sämtliche ehemaligen Schüler zum Einkaufen vorbeigekommen sind?« -334-
Gershwin lächelte. »Ich habe nichts gemacht, oder jedenfalls nur sehr wenig.« »Wer war es dann?« »Denk mal scharf nach, Matt«, sagte Bev. Das tat ich. »Wollt ihr etwa sagen, dass Ginny das alles auf die Beine gestellt hat?« Bev nickte. »Nachdem du unser Wiedersehen organisiert hattest, kam Ginny auf die Idee mit dem Klassentreffen. Da alle aus unserem Jahrgang jetzt dreißig sind oder werden, schien es ein guter Zeitpunkt, um herauszufinden, was alle so treiben.« Katrina erzählte weiter. »Und da hat sie das Treffen so gelegt, dass es mit deinem Geburtstag zusammenfällt und zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich habe einen DJ organisiert, der Musik aus unserer Jugend auflegt, und Bev, Pete und Katrina haben das Essen ausgewählt, aber Ginny hat die ganzen schwierigen Sachen übernommen. Sie hat die Aula gebucht, wegen der Schuldisko-Atmosphäre, und alle alten Schulakten nach Adressen durchstöbert und die Einladungen verschickt.« »Und wo ist Ginny jetzt?« fragte ich und ließ den Blick durch den Raum wandern. »Ist sie hier?« »Nein«, sagte Pete, »leider nicht. Sie wollte, dass du eine schöne Geburtstagsparty hast, aber keinesfalls selbst kommen. Den Grund hat sie mir nicht erzählt, aber du kennst ihn ja wahrscheinlich.« Elaine und ich sahen uns an. »Sieh mal, Matt«, sagte Gershwin, um mich aufzumuntern, »was mit dir und Ginny passiert ist, kann man nicht ändern. Aber heute ist dein dreißigster Geburtstag, Kumpel, und du bist von einer einmaligen Ansammlung von Menschen umgeben, die alle dabei waren, als du die beste Zeit deines Lebens hattest.« Er lachte, als der Culture-Club-Song »Do You Really Want To Hurt Me« durch den Raum dröhnte. -335-
»Ich liebe den Song«, sagte Elaine, nahm meine Hand und versuchte, mich auf die Tanzfläche zu ziehen. »Komm und tanz mit mir. Sei nicht so verkrampft!« »Okay«, erwiderte ich, kein bisschen locker. »Gleich. Zuerst muss ich noch schnell jemanden anrufen.« Als Elaine dann alle auf die Tanzfläche trieb, entschuldigte ich mich und ging hinaus. Von einer Telefonzelle aus rief ich Ginny an. Mein Herz schlug wild, als ich dem Klingelton lauschte und hoffte, dass sie gleich abnehmen würde und ich mit ihr reden konnte. Aber das passierte nicht. Ihr Anrufbeantworter sprang an, und ich fragte mich, ob sie vielleicht doch zu Hause war und eventuell mithörte. Deshalb hinterließ ich ein tief empfundenes: »Es tut mir ja so schrecklich Leid«, legte auf und ging zurück zur Party.
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100 Im Verlauf des Abends trank ich, ermutigt von Gershwin und Pete, so viele Plastikbecher Wein, Bier und sogar Thunderbird, dass ich ihn wie durch eine Nebelwolke erlebte. Dank des Alkohols entspannte ich mich und führte zahllose Gespräche, die mit den Worten begannen: »Ich kann nicht glauben, dass du es bist«, »Ich kann nicht glauben, wie kahl du schon bist« und »Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht im Gefängnis sitzt.« Es war berauschend, all die Leute nach so langer Zeit wieder zu sehen, selbst jene, die ich während der Schulzeit absolut nicht ausstehen konnte, wie Penny Taylor (damals sah es immer so aus, als würde sie gleich Streit mit mir anfangen; heute ist sie Designerin bei einer Illustrierten in London) und John Green (damals jemand, der einem einen Zirkel an den Kopf warf, nur um was zu lachen zu haben; heute ist er Automechaniker in Coventry). Auch Elaine schien ihren Spaß zu haben. Sie hatte sich mit Katrina, Bev und deren Ehemann angefreundet, und ich hatte beobachtet, wie sie die drei aufforderte, zu den berühmten Klängen von Blondies »Atomic«, Musical Youths »Pass The Dutchie« und Jan Hammers »Theme To Miami Vice« so verrückt wie sie zu tanzen. Ich kam gerade von der Toilette - glücklicherweise durften wir die Lehrerklos benutzen, als ich Katrina traf. »Kannst du es jetzt auch ein bisschen genießen?«, fragte sie. »Ja«, erwiderte ich. »Und du?« »Aber sicher.« Auf dem Rückweg zur Aula wurde mir bewusst, dass ich sie noch nicht nach dem Stand ihrer unlängst erblühten Beziehung mit Pete gefragt hatte. Die beiden hatten den ganzen Abend kein Wort darüber verloren, gingen aber freundlich miteinander um. Ich fragte sie einfach. -337-
»Erinnerst du dich noch, wie Pete früher war? Ein arbeitsscheuer, selbstgefälliger, Sciencefictionbesessener Loser?«, antwortete Katrina mit einer Gegenfrage. »Ich hätte ihn nicht unbedingt mit diesen Worten beschrieben, aber ich weiß, was du meinst«, erwiderte ich. »Also jedenfalls ist er heute ganz anders. Ich hatte damals immer vermutet, dass es jugendliche Arroganz ist -, offensichtlich zu Recht. Der neue Pete ist so lieb und nett, dass mir manchmal die Tränen kommen. Seit unserem Wochenendtreffen haben wir uns öfter gesehen, ich habe ihn entweder in Manchester besucht, oder er ist nach Stoke gekommen. Wir benehmen uns wie Schüler, wir lachen, erzählen Witze und rufen uns dreimal am Tag an, nur um nichts zu sagen. Okay, ich gebe zu, er ist nicht perfekt - seine ScienceFiction-Besessenheit kann einem manchmal zu viel werden, besonders wenn er einem stundenlang beweisen will, dass die letzten drei Folgen von Babylon Fünf die besten in der Geschichte des Fernsehens sind. Aber es ist für mich eine der schönsten Beziehungen seit Jahren geworden.« »Herzlichen Glückwunsch, das freut mich für dich«, sagte ich. »Na ja, ohne dich wären wir nie zusammengekommen.« »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, erwiderte ich. »Hoffentlich gibst du mir nicht irgendwann mal die Schuld daran.« »Ich habe doch gesagt, es ist eine gute Beziehung geworden.« »Und du bist sicher, es ist eine Beziehung?« »Wie meinst du das?« »Na ja, ob du das Gefühl hast, dass es irgendwohin führt, dass ihr in die gleiche Richtung geht… also wahrscheinlich will ich einfach nur wissen, ob es nicht einfach nur, na ja, Nostalgie ist? Seid ihr beide zusammen, weil ihr euch mögt, wie ihr jetzt seid, oder mögt ihr den anderen für das, was er einmal war? Natürlich -338-
sage ich nicht, dass es so ist. Aber bei Ginny und mir konnte ich einfach das Gefühl nicht loswerden, dass es bloße Nostalgie war.« »Ist das der Grund, warum sie heute Abend nicht hier ist?« Ich zuckte die Schultern. »Matt, du denkst zu viel. Meine Beziehung zu Pete hat nichts mit früher zu tun. Damals hat er mir nicht einmal gefallen! Okay, vielleicht ein bisschen. Aber wichtig ist doch, dass ich ihn liebenswert finde, dass wir toll miteinander auskommen und Freunde sind. Ich weise ihn doch nicht zurück, nur weil er zu meiner Vergangenheit gehört. Das wäre doch verrückt.« Katrina sah mich aufgebracht an und verschwand. Wieder allein, die Musik erschien mir wie ein entferntes Dröhnen, beschloss ich, ein wenig durch die dunklen, leeren Schulkorridore zu spazieren. Seltsamerweise spürte ich den Drang, einen Blick in die Jungenklos zu werfen, wohl um mich daran zu erinnern, wie ekelhaft sie damals waren. Überrascht und kein bisschen entsetzt, stellte ich fest, dass sich nichts verändert hatte: Graffiti an den Türen, mysteriöse Brandflecken an den Wänden und über meinem Kopf zwanzig oder dreißig Jahre alte Klopapierkügelchen, die damals jemand klatschnass an die Decke geworfen hatte. Doch einige Veränderungen gab es schon. Ich entdeckte, dass die ehemaligen Englischräume im dritten Stock in Geografieräume umgewandelt worden waren, die alten Geografieräume im zweiten Stock in Wirtschaftslehre, in den alten Geschichtsräumen wurde jetzt Mathe unterrichtet und wo die Religions-/Musikräume jetzt abgeblieben waren, fand ich nie heraus. Ich beendete meinen Schulrundgang bei den Kunsträumen, wo ich Miss Pascoes Klassenzimmer suchte. Da die Tür abgeschlossen war, schaute ich durch das dicke Glasfenster. Es war hell genug, um einige der Arbeiten von Ginnys Schülern zu erkennen: Gemälde, Wandfriese und Pappmachemodelle. Alles sah noch genau so aus wie damals, als ich hier Unterricht hatte. -339-
Ich wollte gerade zurück in die Aula gehen, als die schwere Korridortür hinter mir aufschwang. Ich drehte mich um und sah Ginny im Schatten der Tür stehen. »Ich habe deine Nachricht erhalten«, sagte sie. »Du warst zu Hause?« Sie nickte. »Ich wollte abnehmen, aber… ich konnte nicht.« »Dann hast du mir also nicht vergeben?« Ihr Blick wanderte zu ihrem Unterrichtsraum. Offensichtlich wollte sie die Frage noch nicht beantworten. »Die Schule hat sich sicher sehr verändert, seit du das letzte Mal hier warst«, sagte sie. »Ja, das stimmt«, erwiderte ich. »Alles ist irgendwo anders.« »Bis auf die Kunsträume«, sagte sie lächelnd. »Hast du dir jemals gewünscht, dass wir alle wieder hierher zurückkommen?« »Ich bin zurückgekommen.« »Nein, ich meine, dass wir alle zusammen wieder hier in die Schule gehen, als Oberstufenschüler. Es war eine schöne Zeit.« »Ja.« Sie nickte. Schweigen trat ein, unterbrochen nur von ein paar Leuten, die an der Tür vorbei nach oben gingen. Offensichtlich tourten auch sie durch die Schule, so wie ich zuvor. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?« »Katrina hat beobachtet, wie du weggegangen bist. Als Nächstes hätte ich in der Turnhalle nachgesehen.« »Die Turnhalle hatte ich ganz vergessen.« Ich überlegte, was ich jetzt sagen sollte. Ich wollte ein für alle Mal Klarheit. »Wie geht es Ian?«, fragte ich. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Wir sehen uns nicht mehr.« »Was ist passiert?« »Du weißt, was passiert ist, Matt. Du bist passiert.« -340-
»Entschuldigung«, erwiderte ich. »Für alles. Entschuldige bitte, wenn ich dir wehgetan habe, das wollte ich nicht. Als ich sagte, ich will mit dir zusammen sein, dass ich hier bleiben und alles tun will, dass das mit uns klappt, habe ich es wirklich gemeint.« »Ich auch.« »Aber immer, wenn ich über uns nachgedacht habe, konnte ich nie sagen, warum wir eigentlich zusammen sind. So meine ich es natürlich nicht, ich meine - offensichtlich besteht zwischen uns eine große Anziehungskraft.« Ginny lächelte. »Offensichtlich.« »Aber wenn wir dann zusammenkommen, wird nie etwas Richtiges daraus.« »Stimmt.« »Ich hatte wirklich geglaubt, dass es diesmal anders ist. Aber ich weiß nicht… ich glaube, nachdem ich erfahren habe, dass Elliot tot ist, hat sich meine Einstellung gegenüber allem geändert. Plötzlich wusste ich, dass nichts selbstverständlich ist.« »Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Ginny. »So ging es mir beim Tod meiner Mutter.« »Auf einmal kann ich alles, was ich an dir mag, nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen. Aber gleichzeitig will ich es auch nicht kaputtmachen. Ich habe es satt, Angst zu haben, Ginny. Ich will, dass wir es wirklich versuchen.« »Das stimmt nicht«, sagte Ginny. »Jedenfalls nicht wirklich. Du glaubst, dass du es willst. Du glaubst, dass unsere Beziehung die Antwort auf alles sein wird. Und wenn ich ehrlich bin, ging es mir genauso. Es wäre so einfach für uns, zusammen zu sein, Matt, weil ich dich wirklich liebe. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass es niemals gut gehen würde. Wir haben beide die leise Befürchtung im Hinterkopf, dass wir nur zusammen sind, -341-
weil wir Angst vor dem Alleinsein haben.« Obwohl ich in dem Moment das große Bedürfnis verspürte, mit ihr zusammen zu sein, musste ich Ginny Recht geben. Ich hatte Angst vor dem Alleinsein. »Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte ich schließlich. »Wir bleiben Freunde«, erwiderte sie. »Aber findest du es nicht traurig, dass wir uns nie richtig aufeinander eingelassen haben?«, fragte ich. »Bedauerst du es nicht, nie wirklich zu wissen, ob unsere Beziehung nicht doch funktioniert hätte…« »Oder ein riesiger Alptraum geworden wäre.« Sie lächelte. »Du vergisst etwas.« »Was?« »Dass wir eine Gewissheit haben.« »Und die ist?« »Dass wir Freunde sein können.« Sie hielt inne. »Sollen wir zurück auf die Party gehen?« »Ja, natürlich«, erwiderte ich. »Matt?« »Ja?« »Das klingt jetzt bestimmt komisch, aber…« »Was?« »Katrina hat mir erzählt, dass deine Exfreundin Elaine hier ist.« »Ja?« »Ich würde sie gern kennen lernen.« »Warum?« Sie lächelte und zuckte die Schultern. »Reine Neugier.«
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Genau ein Jahr später
An:
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[email protected] Betreff: Mein einunddreißigster Geburtstag Liebe Elaine, zuerst einmal Danke für die Karte und das Geschenk - deine Happy-Birthday-Snoopy-Karte ist sehr geschmackvoll, und das von mir selbst zusammengebaute Weinregal hat einen Ehrenplatz in meiner Küche bekommen. Das Leben hier in Australien ist cool. Mein Apartment ist echt toll. (Und so ordentlich, dass es mir Angst macht. Gestern Abend bin ich ins Bett und hatte die Aluschale von meinem chinesischen Dinner auf dem Wohnzimmertisch stehen lassen. Zehn Minuten später bin ich aufgestanden, um sie wegzuwerfen. So verrückt bin ich inzwischen.) Hinsichtlich meines Liebeslebens, nach dem du dich so schamhaft erkundigst (»Also, Matt, jetzt erzähl schon, wer deinen Dudelsack spielt«), muss ich leider sagen, dass es etwas ruhig geworden ist. Eine Weile war ich mit einer Frau zusammen, die ich im Büro kennen gelernt hatte, sie war nett und alles, aber irgendwie hatte sie nicht… das besondere Etwas. Deshalb werde ich mich wohl weiter umschauen müssen. Es freut mich aber zu hören, dass dein Singledasein noch immer so ereignisreich ist. Um ehrlich zu sein, hat mir dein Harry aus der Werbeabteilung nicht besonders gefallen (zu arrogant), ebenso wenig dein MusikerWoody (ein zweiunddreißig Jahre alter Mann, der denkt, er ist zweiundzwanzig - echt traurig), aber Carl klang okay, er hatte ein paar gute Eigenschaften (und erinnerte mich ein bisschen an -343-
mich selbst). Doch du hast ihn ungerecht behandelt. Du wolltest wissen, wie es Gershwin, Zoe und Charlotte geht, und die Antwort lautet: gut. Gershwin hat endlich seinen Job gekündigt und hat sich für Oktober an der Universität eingeschrieben, um Geschichte zu studieren. Warum Geschichte? Keine Ahnung. Aber sie haben ein bisschen Geld gespart und kriegen es bestimmt hin. Charlotte ist echt cool. Sie liebt die Schule und ist sehr gut, vermisst aber anscheinend die Furzgeräusche, die ich immer auf meinem Handrücken gemacht habe. Katrina und Pete, die du auf meinem Geburtstag kennen gelernt hast, haben mich vor kurzem angerufen und mir mitgeteilt, dass sie verlobt sind. Katrina war anscheinend total dagegen, aber Pete überzeugte sie davon, dass es eine gute Idee sei. Von Katrina weiß ich, dass es Bev auch gut geht - was mich daran erinnert, dass ich sie bald wieder anrufen muss. Bleibt also noch Ginny. Sie hat die Schule gewechselt und an der neuen viel weniger Stress. Sie ist immer noch Single, hatte aber eine kurze Affäre mit einem Kollegen von der Schule (glücklicherweise ohne Anhang), doch das ist vorbei. Als sie mich gestern anrief und mir zum Geburtstag gratulierte, schlug sie vor, mich über Ostern in Australien zu besuchen - da sie jetzt wieder Single ist, könnte ich sie ja mit ein paar gut aussehenden Australiern bekannt machen. Ich sagte, ich würde mein Bestes tun. Damit kennst du jetzt alle Neuigkeiten. Nimm's leicht. Alles Liebe, Matt :-) PS: In deiner letzten Mail hast du mich um ein paar Ratschläge aus meinem persönlichen Erfahrungsschatz eines Dreißigers gebeten, die dir nützlich sein könnten, wo du doch jetzt fünfundzwanzig wirst. Ich hab mir ewig lange das Hirn zermartert; hier ist das Ergebnis: 1 Nimm nichts als selbstverständlich hin. Ist es erst einmal verschwunden, ist es zu spät. -344-
2 Sei immer für deine Freunde da - dann sind sie auch für dich da. 3 Das einzige im Leben, was mit zunehmendem Alter leichter wird, ist die Fähigkeit, mitten in einer Unterhaltung einzuschlafen. 4 Zieh nie zurück zu deinen Eltern - das kann nicht gut gehen. 5 Und zu guter Letzt, geh nur in einen Pub, wo man sich auch hinsetzen kann. Aber eigentlich beruht das alles bloß auf gesundem Menschenverstand.
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