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Thursday, 3rd 2002
Wer Rechtschreibfehler findet, ...
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Scanned by "Steel" Many Thx to: Kristy, Cathy, John, Dr-Gonzo - aso
Thursday, 3rd 2002
Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten :)
Sandy Asher
Sunnyboy und Aschenputtel Roman
»Ah!« seufzte Buddy glücklich, während wir vor einer roten Ampel warteten. »Was kann schöner sein als so ein Abend in Braden's Port?« »Ja, was wohl?« murmelte ich mit einem prüfenden Seitenblick auf meinen Beifahrer. War da nicht eine Spur Sarkasmus in seinem Gesicht? Nein, da war nichts dergleichen. Buddy lächelte zufrieden vor sich hin und saß so entspannt, wie es für einen Kerl seiner Länge möglich war, in meinem Auto, das mal wieder verrückt spielte: Immer wenn ich dieses Gefährt zum Stillstand bringen will, fängt es an zu rattern und zu wackeln, daß man Schüttelfrost davon bekommen könnte. Aber wenn ich das einem Mechaniker in der Werkstatt vorführen will, verhält sich das Auto prompt ganz brav, und der Mechaniker wirft mir einen Blick zu, als säßen bei mir und nicht bei meinem Auto die Schrauben locker. Ich bin das schon gewohnt. Wenn ich zu der Sorte Jungens gehörte, die gerne mit Zündkerzen und Vergaserschwimmern herumbasteln, hätte ich die Sache längst selbst in Ordnung gebracht. Aber mir macht das keinen Spaß und Buddy ebenso wenig. »Es gibt Leute, die machen sich gerne die Finger schmutzig«, hat Buddy einmal gesagt. »Ich will ihnen ihr Vergnügen nicht nehmen.« Mein Vater hätte das Problem in einer Minute gelöst, aber ich habe ihm nie davon erzählt. Ich finde, er löst schon genug Probleme für mich. »Du scheinst nicht allzu begeistert zu sein, oder irre ich mich?« erkundigte sich Buddy, der sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, gemütlich im Sitz räkelte. Sich irgendwo gemütlich räkeln ist eine Spezialität von Buddy. Er
ist so etwas wie ein menschliches Kissen, ein riesiges blauäugiges Kissen ohne Ecken und Kanten. Federleicht. Ich bin das genaue Gegenteil von ihm, nämlich überhaupt nicht »weich« mit meinen spitzen Ellenbogen und den spitzen Knien. Ma findet mich >drahtig<, Pop nennt mich >dürr<. Wahrscheinlich bin ich irgend etwas dazwischen. »Hast du was dagegen, daß wir den Abend in Braden's Port verbringen?« fragte Buddy nach. »Nein. Das heißt doch. Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich alles auswendig kenne. Erst bummeln wir ein bißchen herum oder sehen uns einen Film an, dann gehen wir zu Sweet Polly's und essen Eis. Dann schlendern wir wieder herum, schauen bei irgend jemandem vorbei und erkundigen uns, was so los ist. Und was ist so los? Ein paar Jungens, die zusammenhocken und über Mädchen und Baseball reden. Ein paar Mädchen, die vorbeikommen und schließlich mit ein paar Jungen wieder davonziehen. Irgendeiner ist immer betrunken und grölt rum. Oder einer ist betrunken und muß kotzen, während der Rest der Gesellschaft sich eine Pizza kommen läßt.« »Mir gefällt das.« »Dir gefällt alles, Buddy!« »Seit wann ist es verboten, zufrieden zu sein?« Die Ampel sprang um und ich startete den Wagen durch. Wir schössen so rasant über die Kreuzung, daß Buddy sich festhalten mußte. »Was ist los mit dir, Michael?« keuchte Buddy. »Nichts«, sagte ich, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. »Nichts Besonderes.« »Was für eine Laus ist dir bloß über die Leber gelaufen, eh? Wir haben Juni, ist dir das klar? Ein wunderbarer Sommer liegt vor uns. Die Sonne scheint, und das Leben ist ein riesiger Früchtekorb. Aber du maulst nur rum. Also, was ist los? Raus mit der Sprache! Faß dir ein Herz, Kumpel. Einem alten Freund kann man doch die Wahrheit sagen, Mensch!« Ich verringerte die Geschwindigkeit ein bißchen. »Okay«, sagte ich, »hör zu: Schon als wir Kinder waren, sind wir jeden Sommer mit unseren Leuten nach Braden's Port gefahren. Damals fanden wir es toll. Wir spielten im Sand, plantschten im Wasser, radelten die Strandpromande entlang ...« »Genau«, unterbrach mich Buddy, »ein richtig schönes Leben.« »Nur, daß es immer dasselbe ist, seit Jahren immer dasselbe! Nichts hat sich geändert«, hielt ich ihm entgegen. »Na ja, mit sieben haben wir uns noch nicht um Mädchen gekümmert, Paeglis. Und konnten uns selbst keine Pizza leisten.« »Buddy, wenn du mich aufforderst, dir zu erklären, was mir so zum Hals raushängt, dann mußt du mir auch eine Minute zuhören, ohne dich über das lustig zu machen, was ich sage. Mir selber fällt es ja schon schwer genug, das zu verstehen.« »Tut mir leid, alte Angewohnheit von mir. Aber ich bleibe dabei: Es hat sich doch etwas verändert, und es wird sich noch mehr ändern. Und zwar zum Besseren. Wenn wir erst Seniors sind, wenn wir erst das College hinter uns haben, dann – « »Bleibt alles beim alten«, widersprach ich. »Wir machen unsere Berufsausbildung. Dieselbe, die unsere Väter gemacht haben. Am Ende haben wir genauso gelebt wie sie. Im Winter in der Stadt, im Sommer an der Küste. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis.« »Wir können von Glück sagen, daß es uns so gut geht«, fand Buddy. »Ich fühle mich überhaupt nicht glücklich«, gestand ich. »Ich fühle mich wie in einer Sackgasse.« »Denk mal dran, wie hart deine Eltern haben arbeiten müssen, damit du heute ...« »Als ob ich das nicht wüßte. Und weißt du, was daran so schrecklich ist? Daß ich ihnen alles verdanke, was ich habe, was ich bin und was ich jemals sein werde. Ich komme mir vor wie ein Schmarotzer.« »Dabei bist du nur ein braver Sohn mit einer vielversprechenden Zukunft.« »Aha. Buchhaltung, Management, Betriebswirtschaft . . . das soll meine Zukunft sein? Ich habe mir die Ausbildungsunterlagen angesehen. Schon wenn man sie liest, muß man sich eine Krawatte umbinden. Ich verabscheue dieses ganze Zeugs. Jedes Aufnahmeformular, das ich fürs College ausfülle, besiegelt meinen seelischen Untergang.« »O Mann, übertreib nicht so!« schnaubte Buddy, der mein Gejammere satt hatte. »Noch ein paar Jahre auf der Schulbank sitzen, na und? Ist das so schlimm? Jedenfalls ist es dort besser als auf der High School. Wir wohnen im Studentenheim, feiern Partys, spielen Football. Und da sind auch Studentinnen. Es gibt schlechtere Arten, die nächsten vier Jahre rumzubringen, findest du nicht?« Ich dachte über Buddys Worte nach, während ich den Scheibenwischer einschaltete. Auf der Windschutzscheibe klebten unzählige kleine Tierchen, die sich auch mit dem Wasserstrahl kaum entfernen ließen. Die toten Fliegen vollführten unter der kleinen Fontäne einen grotesken Tanz, als wollten sie niemals aufgeben. »Geht es nur darum«, fragte ich Buddy, »daß wir die nächsten vier Jahre irgendwie totschlagen?« »Klar. Dann können wir endlich in die Fußstapfen unserer Eltern treten. Ein paar Footballspiele zu sehen und ein paar Mädchen kennenzulernen, gefällt mir jedenfalls besser als direkt nach der High School zu arbeiten. Dir
nicht?« »Ich denke immer, es muß doch noch mehr geben – « »Mehr? Wovon?« fragte Buddy verwundert. »Unsere Eltern besitzen alles und das geben sie an uns weiter. Was verlangst du mehr?« Ich vermied es, ihn anzublicken, und beschäftigte mich statt dessen weiter mit der Windschutzscheibe. »Na ja, vielleicht nicht mehr, aber etwas anderes«, sagte ich schließlich. »Reicht es dir denn, dasselbe zu machen wie deine Eltern? Hast du nie davon geträumt – na ja, einfach dein Glück zu machen?« »Und wie soll das aussehen? Drachen töten? Eine Prinzessin retten? Weißt du was, Paeglis, du liest einfach zu viele Romane. Ich habe dich immer davor gewarnt, daß du dir damit die Augen ruinierst. Aber du wolltest nicht auf mich hören. Und jetzt haben sie dir auch noch den Verstand geraubt. Hör mal, Alter, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Und in Amerika. Unsere Familien können mit dem, was sie haben, zufrieden sein. Also freu dich dran, so lange es noch geht. Es gibt schon genug Leute, die uns das alles wieder wegnehmen wollen. Ich meine es ernst. Auf den Straßen schlagen sie sich schon gegenseitig tot.« »Ich habe gewußt, daß du mich nicht verstehen würdest«, sagte ich seufzend. »Was gibt es da schon groß zu verstehen?« gab Buddy zurück. »Du sehnst dich nach Abenteuern? Dann geh doch ins Kino. Und wenn du schon ein Held sein willst – hast du darüber jemals mit deinem Vater gesprochen?« »Nein.« »Falls du das vorhast, sag mir Bescheid. Dann mach' ich mich rechtzeitig aus dem Staub.« Buddy lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Ein Windstoß fuhr durch seine blonden Haare, und der Geruch von Salz wehte zu mir herüber. Der Geruch des Meeres, den ich immer so sehr geliebt hatte. Aber allmählich ging er mir einfach nur noch auf die Nerven. Buddy hatte natürlich recht. Pop würde alles andere als entzückt sein, wenn ich ihm meine Pläne unterbreitete – in deren vollen Umfang ich übrigens nicht einmal Buddy eingeweiht hatte. Und auch sonst niemanden. Pop hatte immer Großes mit mir vor: Das College, eine Führungsposition im Geschäft, eine Teilhaberschaft mit ihm. Wie soll man einem Menschen, der einen immer noch ernährt, klarmachen, daß man selbst ganz andere Träume hat? Pop bezahlt meine Kleidung und natürlich auch das Auto, das ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr fahre. Völlig in meine Gedanken versunken, raste ich über den Highway. Ich kam wieder zur Besinnung, als in meinen Rückspiegel ein rotes Licht auftauchte, das bald mein ganzes Auto zu überfluten schien. »Gute Leistung, Michael!« brüllte Buddy, der plötzlich kerzengerade auf seinem Sitz saß. »Endlich hast du's geschafft!« Ich fuhr hundertdreißig, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Wagen wieder unter Kontrolle und das Tempo gedrosselt hatte. Mein Herz schlug heftig, und meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Der Polizist kam sehr langsam auf uns zu. Ich stellte fest, daß ich nicht einmal den Kopf wenden konnte, um ihn zu beobachten. Irgend jemand hatte mir anscheinend einen eisernen Ring um den Hals gelegt. Buddy dagegen verrenkte sich in seinem Sitz, um den Polizisten im Rückspiegel ausfindig zu machen. »Ein Bulle«, sagte er schließlich. »Hab7 ich's nicht geahnt? Typisches Schabegeräusch von Polizeistiefeln!« Neben meinem Fenster tauchte ein schwarzbehaarter Arm auf, bald darauf auch ein Gesicht. »Name?« »Michael Paeglis, Sir,« krächzte ich. »Wie alt sind Sie, Paeglis?« wollte der Polizist mit gerunzelter Stirn wissen. Er sah aus, als ob er mir keine Antwort glauben würde. »Siebzehn, Sir. Im November werde ich achtzehn, Sir. Genau am dreiundzwanzigsten November, Sir.« Ich wunderte mich selbst über all die >Sirs<, die ich hervorsprudelte. Meine Eltern haben mir das jedenfalls nicht beigebracht. Offensichtlich weckte der Anblick der Polizeiuniform Erinnerungen an sämtliche Kriegsfilme, die ich je gesehen hatte. »Ihren Führerschein, bitte.« Immer noch mit diesem Würgegefühl im Hals fummelte ich in meiner Jackentasche nach der Brieftasche, in meiner Brieftasche nach dem Führerschein. Meine Hände zitterten so stark, daß ich das Papier nicht herausziehen konnte. Also mußte ich dem Polizisten meine ganze Brieftasche aushändigen. Er trat einen Schritt zurück, sah sich erst den Führerschein an, dann mich, dann wieder den Führerschein und dann nur noch mich. Es war, als warte er auf eine einzige falsche Bewegung von mir, um mich endgültig zu vernichten. Ob er nicht bemerkt hatte, daß ich von der Nase abwärts wie gelähmt war? »Sonst schon mal Ärger gehabt, Paeglis?« »Nein, Sir, Sir«, bellte ich. Ich sah, wie Buddy mühsam ein Lachen unterdrückte. »Tachometer in Ordnung?« »Soviel ich weiß, ja, Sir.« »Wir haben Sie bei hundertdreißig fotografiert. Erlaubt sind hier nur siebzig.« »Ich weiß, Sir. Ich glaube – ich habe einfach nicht aufgepaßt, Sir.«
Der Polizist gab mir meine Brieftasche zurück und beugte sich zu mir durchs Wagenfenster. »In Zukunft sollten Sie aufpassen, Michael«, sagte er. Sein Atem, der nach Tabak und Pfefferminz roch, streifte mich kurz. »Diesmal kommen Sie noch so davon. Aber ich warne Sie. In Zukunft: Langsam fahren! Ich sage das nicht zweimal, verstanden?« »Äh, ja ... Sir.« »Passen Sie auf sich auf, mein Sohn. Gute Fahrt.« »Oh, danke, Sir. Ich werde bestimmt aufpassen.« Das rote Blinklicht auf dem Polizei wagen war inzwischen ausgeschaltet, aber ich sah, daß der Beamte noch wartete, bis ich mein Auto gestartet hatte. Bis zur nächsten Ausfahrt sprachen Buddy und ich kein Wort. Erleichtert sahen wir beide, wie der Polizist uns überholte. »Verflixt!« stöhnte Buddy. »Fast hätten sie dich drangekriegt. Üble Sache, auch wenn dein Vater das Protokoll bezahlt hätte. Weißt du noch, wie du damals mit dem Müllauto zusammengestoßen bist, kurz nachdem du deinen Führerschein bekommen hattest?« »Jetzt reicht's mir!« brüllte ich und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Ich gebe auf.« »Was heißt das, du gibst auf?« fragte Buddy außer Atem, denn er lachte sich immer noch halb krank bei dem Gedanken an meinen Zusammenstoß mit einem Müllauto. »Alles!« sagte ich. »Ich will nicht mehr leben, ich halt7 es nicht mehr aus. Ich bringe es nicht mal fertig, ein Protokoll zu ergattern. Und selbst wenn ich eines bekäme, müßte ich es nicht bezahlen. Ich lebe wie unter einer Glaskugel, Buddy. Total geschützt. Wie dieser arme kranke Junge, der keine Abwehrkräfte hatte. Alles, was er sich wünschte, war einmal barfuß über eine Wiese zu laufen. Aber genau das durfte er ja nicht.« »Und deine ganze Sehnsucht ist ein Knöllchen?« fragte Buddy und verdrehte seine Augen himmelwärts. »Dann fahr zurück und versuche diesen Polizisten aufzutreiben und erklär ihm dein Anliegen. Er versteht dich bestimmt. Und gibt dir zusätzlich noch eine Bescheinigung über mangelnde Zurechnungsfähigkeit.« Ich trat unvermittelt auf die Bremse, und der Wagen rutschte quer über die Straße. Buddy hob schützend die Hände über den Kopf. »Ich weiß auch nicht genau, was ich will, Buddy«, erklärte ich. »Aber ich möchte es wenigstens herausfinden. Selber herausfinden. In meinem Leben ist alles fein säuberlich arrangiert. Ich bin so unschuldig wie ein Baby. Aber ich will das Leben kennenlernen, ich will wissen, was in der Welt passiert und wo mein Platz in dieser Welt ist.« »So schön ist diese Welt gar nicht, Michael«, versuchte Buddy mich zu dämpfen. »Vieles ist aus den Fugen geraten. Warum willst du unbedingt dabeisein?« Pop, der in einem Sessel neben dem Kaminfeuer saß, denn die Abende waren um diese Zeit noch kühl, blickte von seiner Zeitung auf, als ich ins Zimmer kam. Wie jeden Samstag war er mit dem Kreuzworträtsel beschäftigt. »Du bist aber früh zu Hause«, meinte er erstaunt, dann beugte er sich mit gerunzelter Stirn wieder über die Zeitung. »Ja. War nicht viel los.« »Das ändert sich bald, wenn erst mal alle Sommergäste eingetroffen sind. Wie geht es Buddy?« Ich ließ mich aufs Sofa fallen, kreuzte die Arme über der Brust und wärmte meine Füße am Feuer. An den Wänden und an der Decke führten die züngelnden Schatten des Kaminfeuers einen merkwürdigen Tanz auf. »Buddy geht es gut«, sagte ich. »Du weißt ja, Buddy gehört zu den Menschen, denen es immer gutgeht.« Nun betrat auch Ma, in jeder Hand einen Becher Kaffee, den Raum. »Michael! Hab7 ich doch richtig gehört. So früh zurück?!« »Ja«, sagte ich, »das wurde bereits festgestellt.« Als Ma die Becher auf dem Couchtisch abstellte, sah ich, wie sie mit Pop einen jener >O-je-was-ist-bloß-los-mit-ihm<-Blicke wechselte. Nachdem sie sich in ihrem Sessel niedergelassen hatte, betrachtete sie mich aufmerksam. »Stimmt was nicht?« erkundigte sie sich. »Nein, Ma.« Ich hätte mir die Antwort sparen können. Ma sieht immer, wenn etwas mit mir nicht stimmt. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Pop war schneller. »Acht Buchstaben, Stadt in Georgia. Fängt mit >M< an«, sagte er, den Bleistift in der Hand, die Lesebrille auf der Nase. »Marietta«, erwiderte Ma in einem Tonfall, als verscheuche sie eine lästige Fliege. Ihre Augen ruhten immer noch auf mir. Ma und Pop zusammen zu erleben, ist wirklich süß. Beide sind klein, rundlich und grauhaarig – wie füreinander geschaffen, wenn es das gibt. Ein eingespieltes Team. Pop stammt aus Lettland, Ma ist Polin, aber in Chicago aufgewachsen. Und nun leben sie beide an der Westküste und sehen aus wie Geschwister! Pop bildet sich ein, daß er das Kreuzworträtsel am Samstag löst, aber in Wirklichkeit macht er nichts anderes, als die Fragen laut vorzulesen und die Antworten, die Ma gibt, in die Kästchen einzufügen. So entspannt er sich am
besten, und das ist in Ordnung. Mam hat im Laufe ihres Lebens Tausende von Kreuzworträtseln gelöst, deshalb kennt sie alle diese Begriffe, die man im täglichen Leben nicht braucht. Sie hat als private Krankenpflegerin gearbeitet und ganze Nächte neben den Betten schwerkranker Menschen verbracht, über ein Kreuzworträtsel gebeugt. Erst als ich auf die Welt kam, hörte sie damit auf. Die meiste Zeit des Jahres hilft Ma Pop im Geschäft, aber so lange ich mich erinnern kann, fuhren wir jeden Sommer hierher, so wie die meisten Mütter mit ihren Kindern in Maple Grove. Und wie die meisten Väter dort, kam Pop jedes Wochenende zu Besuch. Pop ist Juwelier. Er hat im Geschäft seines Vaters, der Uhren reparierte, angefangen. Heute besitzt er drei Juweliergeschäfte, ein Haus in Maple Grove, ein Ferienhaus in Braden's Port und eine Eigentumswohnung in Miami, dem Altersruhesitz seiner Eltern. Für den einstigen Sohn armer Auswanderer ist das nicht schlecht. »Also, was macht dir zu schaffen, Michael?« Ma gab nicht auf. »Wirklich, Ma, es ist nichts.« »Tropenkrankheit, drei Buchstaben«, verkündete Pop. »Kra.« »Kra?« »Ja, Kra. K-R-A. Könntest du bitte endlich diese Zeitung weglegen, Ed? Michael hat Probleme.« »Nein, Louisa, er hat keine Probleme. Das hat er bereits zweimal kundgetan. Zurückweisung. Neun Buchstaben.« Ma nahm einen Schluck und versuchte streng auszusehen. Trotz meiner miesen Stimmung mußte ich lachen. Es ist einfach komisch, wenn jemand mit einem so runden, weichen Gesicht und so sanften braunen Augen, wie Ma sie hat, sich Mühe gibt, streng auszusehen. »Ich verrate es dir erst, wenn wir mit Michael gesprochen haben«, ließ sie Pop wissen. »Wenn Michael das Bedürfnis hat zu reden, wird er es schon tun. Er ist ja nicht stumm. Bis dahin: Zurückweisung, neun Buchstaben. ABSCHEU! Ach nein, das sind nur sieben!« Mam hielt die Lippen fest aufeinandergepreßt. Hinter ihnen ruhte das gesuchte Wort mit neun Buchstaben wie hinter einem Siegel. Verblüfft blickte Pop schließlich auf. Seufzend und mit übertriebenen Bewegungen faltete er die Zeitung zusammen, legte den Bleistift zur Seite und setzte die Brille ab. Müde rieb er sich die Augen, schloß sie für eine Weile und öffnete sie dann wieder, um mich direkt anzusehen. »Also dann mal raus mit der Sprache«, sagte er zu mir. »Das scheint mir das sinnvollste zu sein.« Ich richtete mich auf dem Sofa auf. Jetzt oder nie, dachte ich. Sag's ihnen. Sag ihnen alles! »Ich habe vor, mir einen Job zu suchen«, fing ich an. Das war natürlich längst nicht alles. Es war so gut wie gar nichts. Ich hatte mal eben meinen dicken Zeh ins kalte Wasser gesteckt, mehr nicht. Das hatte Ma mir immer geraten, als ich klein war und befürchtete, das Badewasser könne zu heiß oder das Meer zu kalt sein: Steck mal deinen Zeh rein! Pop setzte die Kaffetasse, aus der er gerade hatte trinken wollen ab, ohne einen Schluck genommen zu haben. »Wieso?« fragte er nur. »Weil ich finde, ich sollte langsam eigenes Geld verdienen.« »Gefällt dir meines nicht?« »Darum geht es nicht. Ich will arbeiten, verstehst du?« Ich will arbeiten und Geld verdienen, damit ich das Recht habe, mein eigenes Leben zu leben, hätte ich gern hinzugefügt. Und noch direkter: Pop, was immer du davon hältst, ich will nicht mehr zur Schule. Ich habe es schon in dem Betriebswirtschaftkurs nicht mehr ausgehalten, und es wird mir mit dem Buchhaltungskurs nicht anders gehen. Nein, es liegt nicht am Lehrer. Es liegt an mir. Noch vier Jahre Schule und ich werde verrückt. Bitte zwing mich nicht dazu, Pop. Bitte, bitte, laß mich gehen. »Eine Menge Jungens in meinem Alter arbeiten bereits«, fuhr ich statt dessen fort. Ich versuchte, ganz entspannt zu reden. »So ungewöhnlich ist das gar nicht. Du selber warst sogar um einiges jünger, als du angefangen hast.« »Ich habe nicht freiwillig angefangen.« »Gut, aber ich. Ich umarbeiten.« Pop blickte ratlos zu Ma, die schulterzuckend ihre Zustimmung gab. »Gut«, sagte er dann, »komm morgen mit mir in die Stadt. Da finden wir bestimmt etwas für dich. Zum Beispiel in einer meiner Filialen. Kein Problem. Und Tante Edie kann deiner Mutter Gesellschaft leisten. Das wollte sie immer schon mal. Sie bekommt dein Zimmer.« »Aber ich möchte nicht in deinem Geschäft arbeiten, Pop«, sagte ich leise. »Ich will mir meinen Job selber suchen.« Das Kaminfeuer fing an Funken zu sprühen. Schnell stand ich auf, griff mir den Schürhaken und stocherte im Holz herum. »An welche Art Job denkst du denn, in deinem Alter?« erkundigte sich Pop. »Vielleicht Zeitungen austragen morgens um fünf? Oder Tellerwaschen? Ich könnte dir Arbeit in einem sauberen Laden mit Klimaanlage besorgen! Es wäre eine Gelegenheit für dich, dich schon mal einzuarbeiten.« »Aber ich will es nicht!« brüllte ich. Der Versuch, den Schürhaken mit einem eleganten Wurf wieder in seine
Aufhängung zu befördern, schlug fehl. Er knallte laut scheppernd auf die Kaminplatte. Als ich ihn aufhob, beruhigte ich mich wieder. »Alles, was ich will, ist mich umsehen und einen Job finden«, sagte ich und blickte meinen Eltern dabei fest in die Augen. »Ist das denn so außergewöhnlich?« Sie antworteten mir nicht. Pop saß unbewegt in seinem Sessel und strich mit dem Zeigefinger über die Kaffeetasse. Ma betrachtete ihn mit weitaufgerissenen, feuchten Augen. Ihren Zorn hätte ich noch ertragen können, aber ich spürte, daß sich hier etwas anderes abspielte. Sie waren verletzt. Das war viel schlimmer. Mein Herz raste wie wild. »Hört mal, Leute«, begann ich, »Ich weiß es zu schätzen, daß ihr mir helfen wollt. Wirklich. Es ist nur ...« . Ich verstummte. Ich wußte, hinterher würde es mir leid tun, gesagt zu haben, was ich sagen wollte. Nämlich, daß ich das Geschäft in- und auswendig kenne, daß ich früher ganze Tage darin verbracht habe und es heute nicht mehr ausstehen kann. Daß ich da nicht hingehöre. Auch wenn du, Pop, meinst, daß ich dahin gehöre. Ich wußte, diese Worte würden sie umbringen. »Ich möchte gerne mal etwas ganz anderes machen«, sagte ich. »Darum kümmern«, sagte Pop in einem Ton, wie man mit kleinen Jungen redet, die etwas angestellt haben. »Wir? Du meinst wohl: du.« »Was macht das für einen Unterschied, solange der Schaden ezahlt wird?« fragte Ma. »Einen Riesenunterschied«, flüsterte ich, ohne Hoffnung, daß ie mich jemals verstehen würden. »Und du hast ganz sicher heute abend keinen Unfall gebaut?« akte Pop noch einmal nach. »Ganz sicher«, beruhigte ich ihn. »Vergiß es. War dumm von tir, davon anzufangen.« Erleichtert wandten sich beide wieder ihrem Rätsel zu. Gewiß leiten sie diese ganze Szene für etwas, das jeder Junge in einem ^stimmten Alter einmal aufführen muß, und meinten, es würde sicher bald vorübergehen. Verzweifelt warf ich mich in [einem Zimmer auf mein Bett. Ich hatte nicht einmal mehr Lust, .eine Sachen auszuziehen. Die weiß gestreiften Markisen wirkten sehr einladend. Wir haben uns auch stundenlang über den Namen amüsiert und versucht, uns den Gesichtsausdruck einer fröhlichen Makrele vorzustellen. Jedesmal, wenn wir vorbeifuhren, nahmen wir uns vor, dieses Lokal einmal zu besuchen. Nun war ich der erste aus unserer Familie, der die Schwelle dieses Hauses überschritt. Und soweit ich von meinen Freunden wußte, hatte noch nie ein Sommer-Mensch dieses Restaurant betreten. Das spielte sich auch in den Mienen der Männer wieder, die dort, in Jeans und Arbeitshemden, saßen und Kaffee tranken; ebenso im Verhalten der Bedienung, einem sehr hübschen Mädchen, das in eine Illustrierte vertieft war. Sie warf nur einen kurzen Blick auf mich und wußte Bescheid; dann vertiefte sie sich wieder in ihre Lektüre. Ich fühlte mich alles andere als willkommen. Nachdem ich mich mehrmals geräuspert hatte und von einem Fuß auf den anderen getreten war, richtete sich das Mädchen schließlich auf. Sie reckte und streckte sich, dann klappte sie die Illustrierte zu und strich sie mit der Hand glatt. Zu meiner Überraschung sah ich, daß es sich um die Newsweek handelte. Kein Mensch in meinem Alter las Newsweek, außer wenn man Infor-mationen für die Hausaufgaben suchte. Natürlich konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob sie genauso alt war wie ich. Es machte mich vor allem stutzig, daß sie überhaupt nicht geschminkt war. Alle Mädchen in meiner Klasse sind geschminkt. Aber um ehrlich zu sein: Sie hatte es auch nicht nötig. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie mich schließlich mit einem Seitenblick aus ihren großen, meergrünen Augen. Wenn dieser Blick dazu dienen sollte, mich zu verunsichern, so hatte er seinen Zweck erfüllt. Ich fühlte mich geradezu vernichtet. Auf ihrer blau weiß gestreiften Schürze stand zu lesen: Hi! Ich bin Lisa. Der erste freundliche Satz in diesem Raum. »Ich habe einen Termin bei Mr. MacElroy«, sagte ich. »Zum Vorstellungsgespräch. Es geht um den Job, der in der Zeitung angeboten war. Ich hatte angerufen.« Ich weiß nicht, ob sie mir überhaupt zuhörte. Sie stand mit abgewandtem Gesicht da und verdrehte die Augen, als würde ich sie zu Tode langweilen. »Noch einmal Kaffee für alle!« rief einer der Männer aus der Ecke. »Kommt sofort, Fred«, antwortete sie gedehnt. Dann verschwand sie hinter einer blitzblanken Schwingtür aus Stahl. Besorgte sie dort den Kaffee, oder sagte sie Mr. MacElroy Bescheid? Oder beides? Ich hatte keine Ahnung. Ohne jeden Hinweis hatte sie mich einfach stehenlassen. Manchmal wünscht man sich, daß Mädchen, die so unfreundlich sind, wenigstens nicht so furchtbar hübsch wären. Schon nach wenigen Sekunden erschien sie wieder auf der Bildfläche, ein Tablett mit Kaffeetassen vor sich her balancierend. Sie übersah meinen erwartungsvollen Blick und bewegte sich in Richtung Ecktisch, wo die Männer saßen. Eigentlich hatte sie das nicht verdient, aber ich konnte nicht anders, als ihr hinterherzuschauen. Sie trug enganliegende Jeans, darüber das Jolly MacAere7-T-Shirt und eine Schürze, deren Bänder bei jedem Schritt aufreizend wippten. Die Bemerkungen, die die Männer am Tisch machten, verstand ich, auch ohne daß ich sie genau hören konnte. Lisa stellte unbeeindruckt den Kaffee auf den Tisch und kehrte mit dem bekannten gelangweilten, ja verächtlichen Gesichtsausdruck hinter ihre Theke zurück. Offensichtlich versuchte sie sich bei den Männern genauso wenig beliebt zu machen wie bei mir.
»Michael Paeglis?« Das war nicht Lisas Stimme. Ich drehte mich um und stand einem kleinen, glatzköpfigen Mann mit gerötetem Gesicht gegenüber. Er hatte einen dichten schwarzen Bart und eine altertümliche Brille auf der Nase. »Mr. MacElroy?« fragte ich. Er ließ ein Lachen hören, das sich irgendwo zwischen Quietschen, Kichern und Gackern bewegte. »Das bin ich«, sagte er dann und nickte mir zu. »MacElroy. Mackerei. Verstanden? Mein Spitzname im Koreakrieg. Marine. 1952.« So also sieht eine fröhliche Makrele aus? dachte ich belustigt. »Hier entlang«, sagte er und lachte erneut. Ich folgte ihm durch die Schwingtür und fand mich in einer riesigen Küche wieder, in der die Hitze mit der Klimaanlage einen Dauerkrieg zu führen schien. Zwei Frauen steckten bis über die Ellenbogen in einem Bottich voll Paniermehl, in dem sie unzählige Portionen Fisch zu wenden hatten. Drei stämmige Männer, zwei ältere und ein junger, arbeiteten im Schweiße ihres Angesichts über den Friteusen und Eisenpfannen. Das heiße Öl zischte und spritzte ihnen ins Gesicht, wenn sie den Fisch buken und wendeten. Es gab noch ein paar andere Leute in der Küche, die mit Aushilfsarbeiten beschäftigt waren: Einen Jungen meines Alters, der den Boden wischte, und eine ältere Frau, die die gleiche blau-weiße Schürze trug wie Lisa. Als ich so hinter Mr. MacElroy durch die Küche trottete, lächelte ich jeden an, an dem ich vorbeikam. Aber alle speisten mich mit einem herablassenden Seitenblick ab. Was mir bei Lisa widerfahren war, war offensichtlich nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Vor mir ging Mr. MacElroy und schüttelte sich vor Lachen in Erinnerung an irgend etwas. Seine Glatze glänzte in der blinkenden Küche wie eine Billardkugel. Am anderen Ende der Küche öffnete er eine Tür und bat mich einzutreten. Ich blinzelte ein paarmal, um mich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Wo waren wir? Auf der Herrentoilette? Oder in der Besenkammer? Als Mr. MacElroy endlich Licht machte, sah ich, daß der Raum tatsächlich nicht größer war als eine Vorratskammer und keine Fenster besaß. Aber er war holzgetäfelt und enthielt einen Schreibtisch, zwei Klappstühle und einen Aktenschrank. Also mußte es sich um MacElroys Büro handeln. Mr. MacElroy nahm auf dem einen Stuhl Platz und schob mir den anderen hin. Ich setzte mich ihm gegenüber hin. »Sie möchten also einen Job haben?« fragte er mich. »Ja, das will ich«, sagte ich und kämpfte gegen die Versuchung, von den bisher fehlgeschlagenen achtzehn Versuchen und der drohenden Niederlage gegen Pop zu erzählen. »Dies ist kein Arbeitsplatz für Leute, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen«, klärte er mich auf, »es sei denn, ich bilde mir die Hitze, den Fischgeruch und die Fettspritzer in der Küche nur ein. Saubermachen, wischen, kehren, putzen – das war's. Haben Sie Erfahrung im Kellnern?« »Nein, Sir.« »Überhaupt schon mal gearbeitet?« »Nein. Nicht richtig.« Der Mann mir gegenüber kniff für einen Moment die Augen zusammen, dann lehnte er sich vor und strich sich zweifelnd den Bart. »Gibt es irgendwelche Gründe Sie einzustellen?« äußerte er. Bei sieben Vorstellungsgesprächen hatte man mich bereits dasselbe gefragt. Diesmal war ich auf die Antwort vorbereitet. »Ja, Sir«, sagte ich. »Folgende Gründe: Ich werde hart arbeiten. Sie werden Mühe haben, jemanden zu finden, der sich mehr anstrengt. Und ich lerne schnell. Und ich kann sofort anfangen, in dieser Minute, falls Sie mich haben wollen.« Mr. MacElroys Augen weiteten sich vor Staunen. Dann lehnte er sich zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Ich konnte an dem, was ich gesagt hatte, eigentlich nichts Komisches finden. Erst sehr viel später begriff ich, daß fast jedes meiner Worte geeignet war, Mr. MacElroy zum Lachen zu bringen. »Ich brauche eine Hilfe, und zwar sofort«, erklärte er, »die letzte hat mich vor ein paar Tagen sitzenlassen. Nicht zu glauben! Also, Sie können sofort anfangen, ich gebe Ihnen eine Chance. Sie bekommen eine Schürze und können Lisa beim Bedienen helfen. Machen Sie sich nützlich, wo immer es nötig ist. Die Schicht endet um halb drei und beginnt morgens um sechs. Im Moment ist nicht so viel zu tun, aber ab elf Uhr sieht das anders aus, da wissen Sie hinterher, wofür Sie Ihr Geld bekommen. Trinkgelder gibt es nicht. Sie kommen in die niedrigste Lohngruppe. Die Mittagspause, die sie hier im Haus verbringen müssen, ist dreißig Minuten lang. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, können Sie auch am 1. Mai kommen. Ansonsten arbeiten Sie am Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag. Wenn's nicht klappt, trennen wir uns in Frieden.« Ich war aus dem Häuschen. Ich hatte einen Job! Die ganze Zeit wartete ich darauf, daß er hinzufügen würde: >Ich rufe Sie an, falls noch etwas dazwischenkommt<, aber er sagte nichts dergleichen. Wir gaben uns die Hand, und es gab ein kleines, verlegenes Gerangel um meinen Stuhl, als wir den Raum verließen. Aber ich hatte einen Job! Wenn ich Mr. MacElroys Erwartungen gerecht wurde. Anfangs waren es nur ein paar Teller hier, ein paar Gläser dort, ein bißchen Fegen, aber dann ging es Schlag auf Schlag. Ich brachte schmutziges Geschirr in die Spülküche, sauberes Geschirr in die Regale, Abfall zum
Mülleimer, den Mülleimer zur Mülltonne. Wischlappen, Besen, Schrubber, Schwämme, noch mehr Schwämme, Wischlappen und Schrubber. Die Gäste interessierten mich nur insofern, als ich aufpassen mußte, sie nicht anzustoßen. Gegenstände – Tische, Stühle, Bestecke, Tabletts, Zitronenscheiben – waren für meine Knöchel, Ellbogen oder Füße gefährlich. Ma hatte mir geraten, mich zu dem Gespräch gut anzuziehen. Doch in Zukunft würde ich hier in Jeans und Turnschuhen antreten. Was soll man mit einer weißblauen Schürze, wenn man pausenlos dreckigen Abfall herumschleppt. Meine Gelenke waren geschwollen, der Schweiß stand mir auf der Stirn, und der Geruch von gebackenem Fisch verfolgte mich, wohin ich auch ging, sogar bis auf die Toilette, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht schaufelte, um mich ein bißchen zu erfrischen. Bei all dem freute sich Mr. MacElroy glucksend über die guten Einnahmen, Lisa versah ihren Dienst flink und konzentriert und heimste dafür jede Menge dicker Trinkgelder ein, und der Rest der Mannschaft übersah mich einfach oder ließ gelegentlich eine zweideutige Bemerkung fallen. »Ganz schön hart für einen Sommer-Jungen, diese Arbeit, oder?« fragte mich der jüngste der drei Köche und betrachtete grinsend den Haufen Scherben auf dem Boden, der von einem Stapel Gläser übriggeblieben war, den ich ins Regal zu räumen versucht hatte. Er sah auf diese schmierige Weise gut aus: So ein langer, dunkler, rauhbeiniger Typ mit vorspringenden Bizeps und einem Päckchen Tabak in der Tasche seines T-Shirts. Ich fühlte, wie sich meine Nackenhaare vor Empörung sträubten, aber ich beherrschte mich. Ich wollte diesen Job nicht aufs Spiel setzen. »Harte Arbeit macht mir nichts aus«, antwortete ich. »Tatsächlich? Ich dachte immer, Sommer-Menschen strengen sich nur an, um braun zu werden?« Ich bewegte den Schrubber noch etwas heftiger über den Boden. Um zwei war ich völlig erschöpft. Um viertel nach zwei hatte ich Arme wie Blei und fegte nur noch mit letzter Kraft die letzten Krümel vom Boden. »Du kannst ja schuften wie ein Pferd!« rief Mr. MacElroy anerkennend. »Was meinst du, Lisa?« fragte er dann und nahm mir den Besen aus der Hand, »ist er für diesen Job geeignet?« Lisa band sich ihre Schürze ab und warf sie in den Wäschekorb vor der Tür. Dann drehte sie sich langsam zu uns herum, betrachtete mich kühl und ließ anschließend ihren Blick über das schmunzelnde Gesicht von Mr. MacElroy gleiten. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. Mr. MacElroy schüttelte sich vor Lachen. »Ist sie in Ordnung?« fragte ich ihn. »Sie ist phantastisch«, versicherte er mir. »Umwerfend. Sie macht mich wahnsinnig.« Wem geht das nicht so? dachte ich. Aber vielleicht war ich ja schon verrückt, als ich unbedingt einen Job haben wollte. Falls ja, dann war dies hier offensichtlich der richtige Arbeitsplatz für mich. Es ist ein Unterschied, ob du um fünf Uhr morgens allein am Strand entlangwanderst, nur von ein paar kreischenden Möwen begleitet, in dem Gefühl, daß dieser Morgen mit all seinen Schönheiten nur dir gehört, oder ob du um fünf Uhr morgens mit zerschlagenen Gliedern und einem dicken Muskelkater aufstehst und mit Schrecken an die Stoßzeit im Restaurant denkst, wo die Arbeit dir über den Kopf wächst. Die Möwen am Strand stoßen zur Begrüßung wenigstens einen kleinen Schrei aus, wenn jemand auftaucht. Im Jolly Mackerei dagegen begrüßte mich niemand, außer dem Chef selber. Alle anderen schienen sich lieber mit ihren Fischstäbchen als mit mir zu unterhalten. »Machen Sie sich nichts draus«, tröstete mich Mr. MacElroy, als er mir eine frische Schürze und einen Besen in die Hand drückte. »Die Winter-Menschen sind auf die Sommer-Menschen angewiesen, und das nehmen sie uns übel. Die Situation ist vertrackt, denn andererseits wäre diese Stadt ohne den Tourismus gar nicht überlebensfähig.« Hatte er wirklich >uns< gesagt? Gehörte er denn zu den Sommer- oder den Winter-Menschen? Stand er etwa auf meiner Seite? Mr. MacElroy erklärte mir, daß er nicht aus Braden's Port stamme. »Vor Jahren bin ich zusammen mit ein paar Kumpels hierhergekommen, als der Koreakrieg vorbei war und ich die Marine verließ. Es war ein heißer Sommer und während meine Kumpel sich bräunen ließen, wurde ich reich. Ich bin geblieben. Sieh dir diesen Laden an. Als ich ihn kaufte, war er noch die reinste Bruchbude. Und jetzt?! Drei Vettern von mir kümmern sich um die anderen Restaurants, die ich noch an der Küste besitze.« »Wie lange hat es gedauert, bis die Winter-Leute Sie akzeptiert haben?« wollte ich wissen. »Dreiundzwanzig Jahre«, bekannte er unter schallendem Gelächter, dann schlug er mir freundschaftlich auf die Schulter und schickte mich an die Arbeit. Als ich mich umdrehte, stolperte ich mitsamt meinem Besen fast über Lisa. »Paß doch auf, Mensch!« beschwerte sie sich. Immerhin, sie hatte wenigstens einmal das Wort an mich gerichtet! Um elf herrschte immer der dickste Betrieb, aber diesmal fiel es mir schon leichter, damit klarzukommen. Es gelang mir, meinen Rhythmus auf diesen Stoßverkehr abzustimmen. Und diesmal stieß ich auch mit niemanden zusammen und zerbrach kein Geschirr. Ich war richtig stolz auf mich und hätte dieses Gefühl gern mit jemandem geteilt. Ich hätte sogar über die Patzer, die ich mir am Vortag geleistet hatte, lachen können. Ich hätte mich auch
gern einmal mit meinen Kollegen über das merkwürdige Verhalten meiner Gäste ausgetauscht. Aber in der Kaffeepause stand ich wieder nur alleine herum. Der junge Koch namens Pete Sowieso, Mr. MacElroy und die ältere Kellnerin, von der ich inzwischen wußte, daß sie Julie hieß, saßen in der Küche zusammen und machte ihre Scherze. Als ich eintrat, verzogen sich alle mit ihren Kaffeetassen in das Hinterzimmer. Der Tellerwäscher und der Aushilfskellner waren nach draußen gegangen, um zu rauchen. Lisa saß, in eine Zeitschrift vertieft, hinter der Kasse. Ich selbst hockte, ein Glas Tee in der Hand, auf dem Klappstuhl neben dem Wäschekorb und fühlte mich wie ein kleiner ausgestoßener Junge, den kein Mensch leiden mag. Am Sonntag war ich schon soweit, daß mir die Stunden, wo hektischer Betrieb herrschte, mehr zusagten als die Zeiten, in denen nichts los war. Ich hatte mir eine Art Spiel ausgedacht, mit dem ich mir die Arbeit versüßte: Während ich immer geschickter darin wurde, volle Tabletts zu balancieren und Mülleimer zu leeren, beobachtete ich gleichzeitig die Stammgäste und versuchte mir auszumalen, was sie beruflich machten, wie sie privat waren und wie sie zueinander standen. Anhaltspunkte für meine Phantasien waren die Art, wie sie sich kleideten, ihre Gestik, Mimik und die wenigen Wortfetzen, die ich aufschnappte, wenn ich mit meinem Servierwagen an ihnen vorbeikam. So ein Spiel macht Spaß, aber was mir fehlte, war ein Mitspieler. Es ist eine traurige Sache, gegen sich selbst zu spielen, auch wenn man gewinnt. Einsamkeit macht mich traurig: vielleicht, weil ich ein Einzelkind bin. Ich kam erst spät dazu, Mittagspause zu machen, weil nach dem Gottesdienst immer besonders viel zu tun ist. Die Mittagspause verlief genauso öde wie die Kaffeepause. Ich saß allein in einer Ecke der Küche und würgte meinen Fisch hinunter. Alle anderen unterhielten sich angeregt miteinander. Deprimiert verzog ich mich in eine stille Ecke des Lokals und dachte über meine Situation nach. Viel Erfreuliches kam nicht dabei heraus. Wenn ich ganz ehrlich war, mußte ich zugeben, daß die Wirklichkeit des Arbeitslebens meinen hochgesteckten Erwartungen keineswegs entsprach. Mir selbst konnte ich das eingestehen, aber auf Vaters Fragen antwortete ich ausweichend, um mein Gesicht nicht zu verlieren. »Wie behandeln sie dich denn da? Sind die Leute, mit denen du zusammenarbeitest, nett?« Den ganzen Samstag hatte er mich mit solchen Fragen genervt, und die allerschlimmste war: »Wann hat dieser MacElroy denn die Güte, dich wissen zu lassen, ob er dich weiterbeschäftigt?« Ich wußte es selbst nicht. Noch ein Grund mehr, das Ende meiner heutigen Schicht hinauszuzögern. Meine Probezeit war in wenigen Stunden um. Alles, was ich wußte, war, daß Mr. MacElroy fand, ich könne wie ein Pferd schuften. Aber ob er ein Pferd in seiner Küche anstellen wollte, wußte ich nicht. »Hallo, Michael! Wirst du fürs Herumstehen bezahlt? Bei wem kann ich denn hier bestellen?« Das war die vertraute Stimme meines alten Freundes! Buddy stand in der Tür. Noch bevor ich antworten konnte, erschien Lisa in der silbernen Schwingtür. Als Buddy sie sah, blieb ihm der Mund offenstehen. Lisa dagegen gab sich wie immer völlig unbeeindruckt. Sie ging zu ihrer Kasse und füllte neues Wechselgeld in die Lade. Buddy ließ sich kurzerhand auf einem Stuhl direkt neben der Kasse nieder und starrte Lisa unverhohlen an. »Entschuldigen Sie, Miß«, brachte er schließlich hervor. Lisa blickte ihn unter ihren langen, schwarzen Wimpern flüchtig an. »Wollen Sie mich heiraten?« fuhr Buddy unerschrocken fort. Der nächste Blick, den Lisa Buddy zuteil werden ließ, war an Kälte und Verachtung nicht mehr zu übertreffen. Aber sie konnte ja nicht ahnen, daß Buddy nicht zu den Leuten gehörte, die sich so schnell entmutigen lassen. »Nein? Sie wollen mich nicht heiraten? Wie wäre es dann mit einem heißen Urlaubsflirt? Einem Rendezvous? Drei Minuten Ihrer kostbaren Zeit? Schenken Sie mir ein einziges Lächeln und ich werde Sie für immer in Ruhe lassen. Versprochen!« legte Buddy los. Fast wider Willen mußte Lisa lächeln. Eigentlich war es mehr ein herablassendes Grinsen, aber immerhin entdeckte ich so, daß sie Grübchen hatte. Buddy erstaunte mich. Nicht daß er bei Mädchen schlecht ankommt, im Gegenteil. Aber Lisa schien mir doch eine Nummer zu groß für ihn. Buddy ist gewöhnlich nicht sehr wählerisch. Er sucht sich die Mädchen aus, wie andere Jungen ihre Krawatten aussuchen: Hauptsache sie paßt zum Anzug. Die Mädchen machen es allerdings auch nicht viel anders. Ich glaube, die meisten verabreden sich nicht mit Buddy, sondern mit seinem roten Porsche. »Das hätten wir schon mal«, stellte Buddy befriedigt fest. »Wie geht es jetzt weiter? Urlaubsflirt oder Heirat? Wenn wir gleich heiraten, könnten wir bei meinen Eltern leben. Ich kann nämlich noch keine Frau ernähren. Meine Eltern hätten übrigens nichts dagegen, wahrscheinlich würde es ihnen nicht einmal auffallen. Mom ist den ganzen Tag einkaufen, und Daddy verhökert Grundstücke.« »Sie wollten mich doch in Ruhe lassen«, erinnerte ihn Lisa, während das Lächeln langsam aus ihrem Gesicht wich. Sie hielt den Kopf wieder so hochmütig gerade wie gewohnt. »Ich weiß«, sagte Buddy, »ich habe gelogen. Eigentlich lüge ich nie, aber das hier war ein Notfall. Sonst bin ich eigentlich sehr ehrlich und offen. Und unheimlich nett. Stimmt es nicht, Michael? Sag ihr, was ich für ein toller Kerl bin.« »Genau genommen ist er verrückt«, sagte ich lachend. Auch Buddy lachte darüber. Aber Lisa nicht. »Das glaube ich sofort«, bemerkte sie, dann schloß sie die Kasse und ließ uns stehen. Buddy starrte die
Schwingtür, durch die Lisa entschwunden war, so lange an, bis sie sich nicht mehr bewegte. »Die ist ja eiskalt!« stellte er schließlich fest. »Nimm's nicht persönlich«, versuchte ich ihn zu trösten. »Sie ist immer so. Sie macht den Mund nicht auf, außer wenn es sich gar nicht mehr vermeiden läßt.« Buddy hob gleichmütig die Schultern. »Na gut, dann eben nicht«, beschloß er. »Gutaussehendes Mädchen, aber wahrscheinlich zu anstrengend.« Ich wollte Buddy gerade eine Cola anbieten, als Mr. MacElroy hereinplatzte. »Paeglis, machen Sie immer noch Mittagspause?« bellte er in einem Ton, den er beim Militär gelernt haben mußte. »Ich habe noch zehn Minuten«, antwortete ich. »Zu dumm. Kommen Sie mit. Ich brauche Sie hier dringend.« Damit verschwand er durch die Schwingtür, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich verabschiedete mich kurz von Buddy, packte meinen Kram und stand auf. Buddy schlug zum Abschied die Hacken zusammen und salutierte. Dann war er aus der Tür. Als ich in der Küche stand, erklärte mir Mr. MacElroy die Lage. »Pete ist heute reichlich spät und ... reichlich angetrunken zum Dienst erschienen. Ich mußte ihn wieder nach Hause schicken«, sagte er leise. Wir standen direkt hinter den beiden anderen Köchen, die, über die heißen Herdplatten gebeugt, mit flinken Händen die Fische wendeten. Hoffentlich hat er ihn rausgeworfen, dachte ich bei mir. Zeit, das herauszufinden, blieb mir allerdings nicht, denn Mr MacElroy wies mich bereits in Form eines Schnellkurses in die Geheimnisse des Fischbratens ein. Ich begriff, daß es vor allem darum ging, jeden Handgriff präzise und zügig durchzuführen oder mir die Finger zu verbrennen. Das Zusammenspiel zwischen Panierern, Köchen, Kellnern und Reinigungspersonal funktionierte wie eine Art geöltes Ballett. Würde ich diesen Rhythmus unterbrechen, hätte ich mit Sicherheit sofort irgendeinen Ellenbogen im Rücken oder einen fremden Fuß auf meinem Fuß. Also konzentrierte ich mich so gut es ging auf die eine heiße, fetttriefende Pfanne, für die ich zuständig war und auf den Berg von Fischen, die in diesem Fett schwimmen sollten. Neben mir hantierten die beiden älteren, erfahrenen Köche so geschickt, als hätten sie acht Arme und acht Hände; allerdings fluchten sie dabei ununterbrochen. Schon nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, in einer riesigen Wolke aus Fischgeruch, Qualm und Hitze zu stehen. Vom Hals bis zu den Füßen tat mir alles weh, und meine Augen tränten. So miserabel, wie ich mich fühlte, muß ich auch ausgesehen haben, denn Mr. MacElroy zog mich ein paar Minuten vor der geplanten Zeit aus dem Verkehr, schubste mich zur Tür und murmelte etwas von >Dringend frische Luft schnappen<. Ich taumelte nach draußen und stieß auf Buddy, der, an seinen roten Porsche gelehnt, eine doppelte Portion Fisch mit Pommes Frites in sich hineinstopfte. Schon beim bloßen Anblick von Fisch wurde mir übel, und ich fürchtete umzukippen. Irgendwie wünschte ich mir sogar, ohnmächtig zu werden, um diesem Fischgestank zu entgehen. »Was machst du denn hier?« gelang es mir dennoch zu fragen. »Ich muß dauernd an sie denken«, antwortete er mit vollem Mund. »An wen?« »An diese Kellnerin Lisa. Der Eisberg. Kennst du ihren Nachnamen?« »Nein«, sagte ich und streckte mich erschöpft auf einem der komfortablen Sitze in Buddys Auto aus. »Mir hat sie ihn auch nicht verraten«, bekannte Buddy. »Wann hast du sie denn danach gefragt?« Er stopfte sich die letzten Pommes Frites in den Mund, warf das fettige Papier in einen Abfallkorb und hockte sich neben mich. »Vor ein paar Minuten«, erzählte er. »Ihre Antwort lautete: Das geht Sie nichts an. Als nächstes habe ich sie gefragt, wo sie wohnt. Sie sagte: Das geht Sie nichts an. Dann habe ich gefragt, ob wir heute abend zusammen ausgehen wollen. Sie sagte kurz und bündig nein. Ich fragte, warum nicht. Sie sagte: Das geht Sie nichts an. Darauf habe ich gefragt...« »Genug!« ächzte ich. »Es reicht. Den weiteren Verlauf kann ich mir lebhaft vorstellen. Gib's auf, Buddy. Du kannst davon ausgehen, daß sie einfach kein Interesse an dir hat.« »Ich kann nicht aufgeben. Ich liebe sie nämlich.« »Du liebst sie? Gestern hast du sie überhaupt noch nicht gekannt!« »Gestern wußte ich auch noch nicht, daß man so fühlen kann«, beteuerte er hartnäckig. »Ich war eben auf dem Weg zu Dallmey-ers. Ich wollte die Zwillinge fragen, ob sie Lust hätten, mit mir einen Ausflug nach Atlantic City zu machen. Und da wurde mir plötzlich klar: Ich habe noch nie ein Mädchen wie Lisa getroffen.« »Du meinst, ein Mädchen, das sich nicht einmal dafür interessiert, welchen Wagen du fährst?« fragte ich sarkastisch, in der Hoffnung, das würde ihn wieder zur Vernunft bringen. »Das gehört auch dazu«, bekannte er mit einem heftigen Nik-ken. »Sie ist einfach - anders. Deshalb bin ich gar nicht bis zu den Dalimeyers gefahren, sondern habe kehrtgemacht und bin wieder hier hergefahren. Ich muß sie einfach wiedersehen. Was kann das anderes bedeuten, als daß ich sie liebe?« Meine verspannte Nacken- und Schultermuskulatur lockerte sich allmählich, so daß ich wieder aufrecht sitzen
und mich normal bewegen konnte. Ich drehte mich um und sah Buddy ins Gesicht. Tatsächlich blickte er drein wie einer, dem etwas Berauschendes widerfahren war. »Und was hast du nun vor?« wollte ich wissen. »Zum Beispiel könnte ich jeden Tag hier essen. Ich mag Fisch.« »Jeden Tag Fisch! Vier Wochen lang?« Schon bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. »Jedenfalls könnte ich auf diese Weise mit ihr reden. Schließlich muß sie meine Bestellung entgegennehmen.« »Da wüßte ich was Besseres«, sagte ich. Buddys Miene hellte sich auf. »Ja, natürlich!« rief er strahlend. »Wann macht sie Feierabend?« »Zur selben Zeit wie ich. Sie muß jeden Moment herauskommen.« »Wahnsinn! Wir fahren einfach hinter ihr her. Wenn ich erst einmal weiß, wo sie wohnt, kann ich mir eine Strategie zurechtlegen.« »Eine Strategie?« wiederholte ich amüsiert. »Buddy, Buddy, dir sind doch auf dem Weg zu Dallmeyers hoffentlich keine außerirdischen Wesen begegnet, die dir einen geheimen Killerauftrag erteilt haben?« »Ich bin schwer verliebt, deine dummen Bemerkungen können mich überhaupt nicht jucken«, sagte Buddy unbeeindruckt. »Zieh lieber deine Schürze aus. Wenn wir die Operation Lisa erledigt haben, fahre ich dich auch bis zu deinem Wagen zurück. Also los, beweg dich. Wir haben nicht viel Zeit.« Er warf mich praktisch aus dem Auto, wo ich es mir gerade gemütlich gemacht hatte. So energisch kannte ich meinen alten Freund gar nicht. »Und bring mir noch eine Handvoll gebackenen Fisch mit?« rief er hinter mir her, als ich mich auf den Weg machte, meine Schürze abzuliefern. Eine Welle von Übelkeit stieg in mir hoch, als ich das hörte. Sie verstärkte sich, als ich entdecken mußte, daß Pete seinen Arbeitsplatz wieder eingenommen hatte. Und Mr. MacElroy bat mich auch noch, in sein Büro zu kommen. »So was kommt schon mal vor«, bemerkte er beiläufig, als sei damit erklärt, daß ein Angestellter es sich einfach leisten konnte, mehr als einmal betrunken und verspätet zu erscheinen – und seinen Job trotzdem zu behalten. »Sie sollten sich jetzt ausruhen, Michael. Ich bedanke mich, daß Sie eingesprungen sind. Nächsten Donnerstag sehen wir uns wieder, selbe Uhrzeit, selber Ort. Willkommen an Bord!« Soll Pete ruhig seinen Job behalten! dachte ich glücklich. Ich hatte meinen! Ich muß ausgesehen haben wie eine freudestrahlende junge Makrele, als ich eine Packung Fisch für Buddy besorgte. Der Geruch störte mich plötzlich gar nicht mehr. Im Gegenteil, ich fand ihn wunderbar! »He, Sommer-Typ!« Natürlich, das konnte nur Pete sein. Es beleidigte mich, so angeredet zu werden, aber ich ließ mir Pete gegenüber nichts anmerken. Er stand da lässig an den Herd gelehnt, zog an seiner Zigarette und blies den Rauch aufreizend langsam wieder aus. Dabei betrachtete er mich mit zusammengekniffenen Augen. Das ganze Gehabe erinnerte mich an die Helden alter Filme, Typ >harter Bursche<. Eigentlich war es zum Lachen, aber ich durfte nicht vergessen, daß Pete neben dem Gehabe auch die Figur und die Muskeln solcher Tpyen besaß. »Wenn ich dir was raten darf: Laß die Finger von meinem Job!« sagte er drohend. »Kein Interesse«, antwortete ich und bemühte mich, dabei freundlich zu lächeln. »Da kannst du deinen Kopf drauf setzen! Und übrigens: Ich heiße Michael.« »Meinen Kopf?« antwortete er gedehnt. »Wenn überhaupt was auf dem Spiel steht, dann dein Kopf, du Sommer-Jüngel-chen!« »Du wolltest doch das Leben kennenlernen, wie es wirklich ist. Dieser Koch hört sich ziemlich lebendig an, oder?« stellte Buddy fest, als ich wieder neben ihm saß und ihm von dem Zwischenfall erzählte. »Finde ich nicht«, sagte ich. »Er ist ein Hochstapler, sonst nichts. Ein Schauspieler. Er spielt die Hauptrolle in einem Film, der vorgibt, das wirkliche Leben darzustellen. Alles Schwindel. Aber ich frage mich, warum er das macht?« »Das ist doch nicht wichtig. Hauptsache, du hältst dich fern von ihm«, fand Buddy. »Er hat zwei verschiedene Augen«, sagte ich. »Eines, das verschlagen und bösartig schaut, und eines, das müde und entmutigt wirkt.« »Wie aufregend! Und was schließt du daraus?« »Ich habe kürzlich in einem Artikel gelesen, daß jeder Mensch zwei verschiedene Gesichtshälften hat. Jede Hälfte drückt einen Teil seiner Persönlichkeit aus.« »Du meinst, dieser Kerl ist sowohl müde als auch gemein?« fragte Buddy und bot mir ein Stück Fisch an. Ich lehnte dankend ab. »Er ist traurig«, sagte ich. »Er schaut müde, weil er sehr traurig ist.« »Das ist gut. Dann gibt es ja Hoffnung, daß er, wenn er dich mit seiner bösartigen Seite zusammengeschlagen hat, mit der traurigen Hälfte darüber weint, daß er so böse war. Ich will dir mal was sagen, Michael. Die Welt ist voll von Schlägern und brutalen Kerlen. Und ich bin heilfroh, daß ich mit solchen Typen nichts zu tun habe.« »Und was ist mit Lisa?« erinnerte ich ihn. »Lisa würde ich am liebsten auf die Insel meiner Träume mitnehmen. Dahin, wo alles schön ist. Ich bin nicht scharf darauf, mich mit irgendwelchen Kerlen zu schlagen.« »Es ist doch nur einer bisher.«
»Einer reicht. Ehrlich, ich will mit all dem nichts zu tun haben. Von mir aus können sie Unfrieden stiften, wo sie wollen, solange sie mich auf meiner Insel in Frieden lassen.« »Und wer beschützt deine Insel, wenn die ganze Welt ringsum zu Bruch geht, Buddy?« »Ich selbst. Und das Geld, das mein Vater hat. Dafür ist es nämlich gut.« Bevor ich ihm widersprechen konnte, sahen wir, wie Lisa eben aus der Tür trat. »Pst! Sie kommt«, zischte Buddy und warf die fettige Fischtüte achtlos in den Fond des Wagens. Eines mußte ich Buddy lassen: Er hatte einen guten Geschmack. Wahrscheinlich gibt es höchstens drei Mädchen auf der ganzen Welt, die in einer Jeans und einem T-Shirt eine so gute Figur machen wie Lisa, und wahrscheinlich haben zwei davon bereits einen Vertrag für Hollywood in der Tasche. Ohne Notiz von uns zu nehmen, setzte Lisa eine riesige Sonnenbrille auf, so eine verspiegelte, durch die man die anderen beobachten kann, ohne selbst angeschaut zu werden. Sie steuerte geradewegs auf ihr Auto zu, eine alte Kiste, die in allen möglichen Brauntönen schimmerte: Dunkelbraun auf dem Dach, schokoladenbraun unten und rostbraun an den Kotflügeln und der Motorhaube. Der Wagen beschwerte sich heftig, als Lisa ihn anließ; er hustete und spuckte, gab aber schließlich klein bei und setzte sich in Bewegung. Zu meiner Verwunderung reagierte Buddy überhaupt nicht. »Immer langsam, junger Mann, ich weiß schon, was ich zu tun habe«, beruhigte er mich. Er wartete, bis Lisa um die nächste Ecke verschwunden war, dann nahm er die Verfolgung auf. Als wir die Ausfahrt erreichten, sahen wir Lisa gerade noch rechts um die Ecke biegen. »Sehr geschickt«, stellte ich fest. Buddy grinste und schaltete den rechten Blinker ein. »Entweder man kann Auto fahren, oder man kann es nicht«, erklärte er zuversichtlich. »Mit einem Radargerät ginge es noch besser«, bemerkte ich ein paar Minuten später, denn inzwischen hatten sich einige Autos zwischen uns und Lisas Wagen geschoben und die Sicht versperrt. »Quatsch!« Buddy nahm die nächste Gelegenheit wahr, seinen Porsche auf die linke Fahrspur zu bringen. Aber zu spät! Lisa bog an der nächsten Ampel rechts ab und wir saßen in der falschen Spur fest. Vier Abbiegemanöver waren nötig, damit Buddy die Verfolgung wieder aufnehmen konnte. Inzwischen hatten wir Lisa längst aus den Augen verloren. Wir grasten die ganze Gegend ab, aber das braungescheckte Auto war nicht mehr zu sehen. »Gib's auf für heute, Buddy« schlug ich vor. »Das bringt nichts mehr. Laß uns lieber an den Strand gehen. Morgen ist ja auch noch ein Tag.« »Aber morgen arbeitest du doch gar nicht!« rief Buddy verzweifelt. »Und Lisa auch nicht. Das habe ich mitbekommen, als sie sich mit diesen Typen am Ecktisch unterhielt. Was sind das eigentlich für Leute?« »Ich weiß es auch nicht genau. Vielleicht Leute ohne Arbeit, die vormittags im Lokal sitzen und Kaffee trinken können. Ich glaube, Mr. MacElroy hat für jeden eine offene Tür: Betrunkene, Gammler, Sommer-Jüngelchen ...« »Und für geheimnisvolle Frauen«, schloß Buddy, womit wir wieder beim Thema waren. Seine Leidenschaft für Lisa grenzte schon an Besessenheit. »Am Donnerstag kannst du sie wiedersehen. Inzwischen solltest du etwas für deine Bräune tun. Laß uns schwimmen gehen!« Was blieb ihm anderes übrig, als mir zuzustimmen? Aber auch wenn Buddy Lisa drei Tage lang nicht sehen konnte, hielt ihn das nicht davon ab, pausenlos von ihr zu reden. Da er noch so wenig von ihr wußte, bestand unsere Unterhaltung überwiegend aus dem, was er sich über sie so zusammenphantasierte. »Glaubst du, daß sie schon mit jemandem geht? Bestimmt nicht, das hätte sie mir gesagt. Vielleicht ist sie ja auch sterbenskrank und möchte einfach nicht, daß ich miterlebe wie sie dahinsiecht. Um mir den Schmerz zu ersparen. Nein – das kann auch nicht sein. Dann würde sie nicht als Kellnerin arbeiten. Wahrscheinlich...« »Wahrscheinlich bist du so verrückt nach ihr, weil du sie nicht bekommen kannst«, gab Melanie Dallmeyer zu bedenken, als wir am Mittwoch abend mit einer Gruppe Jugendlicher in einer Pizzeria zusämmensaßen. Halb Maple Grove war dort versammelt. Buddy bestritt die Unterhaltung fast allein. Aber die Dall-meyer-Zwillinge nahmen kein Blatt vor den Mund. »Diese Erfahrung machst du wohl zum ersten Mal«? stellte auch Melanies Schwester Merrye fest. »Du bist beliebt, alle mögen dich. Aber dieses Mädchen offensichtlich nicht. Das reizt dich wahrscheinlich erst recht.« »Im Grunde will der Mensch ja immer gerade das, was er nicht hat«, fuhr Melanie fort. »Und da du bisher immer alles bekommen hast, was du haben wolltest, kommt dir Lisa jetzt wie etwas Besonderes vor. Ist es nicht so, wenn du mal ganz ehrlich bist, Buddy?« »Ich glaube, sie hat irgend etwas zu verbergen«, sinnierte Buddy, der die scharfsinnige Analyse der Zwillinge einfach überhörte. Seine Pizza, die er nicht angerührt hatte, war inzwischen kalt geworden. »Vielleicht deckt sie jemanden, der in irgendwelche schmutzigen Geschäfte verwickelt ist. Und sie will nicht, daß ich da mit hineingezogen werde. Deshalb läßt sie mich nicht ran, aus Angst um mich.« Das war zwar nicht auszuschließen, aber was die Zwillinge vermutet hatten, überzeugte mich mehr. Doch da
Buddy in diesem Punkt auf beiden Ohren taub zu sein schien, hielt ich den Mund und aß statt dessen seine Pizza auf. Am nächsten Tag gelang es uns, Lisa bis zu ihrer Wohnung zu verfolgen. Es war ein älteres stuckverziertes Haus in einer gepflegten Gegend. »Ich hätte ihr auch zugetraut, daß sie uns in eine Falle lockt«, bekannte Buddy. »Aber sie hat doch gar nicht gemerkt, daß wir ihr gefolgt sind.« »Auch wieder wahr«, gab Buddy zu und beobachtete, wie Lisa hinter der Haustür verschwand. Daraufhin diskutierte er wieder einmal endlos mit sich selbst, was als nächstes zu tun sei. Straße und Hausnummer notieren? Oder direkt hingehen und klopfen? Wir könnten zusammen zur Tür gehen und klopfen. Oder er könnte allein zur Tür gehen und klopfen. Natürlich könnte auch ich allein hingehen und klopfen. Andererseits könnte man auch jemand Drittes bitten zu klopfen. Während er das Für und Wider sorgfältig abwog, näherten sich drei kleine Jungen auf ihren Dreirädern und schauten durch meine Fensterscheibe. Buddy war zu beschäftigt, um sie zu bemerken. Der älteste Junge stieg vom Rad und hämmerte mit seinem Lutscher gegen die Scheibe »Buddy!« mahnte ich meinen in Gedanken versunkenen Freund. »Klasse Auto, Mister!« brüllte der Junge mir zu. Auch die beiden anderen waren inzwischen abgestiegen und kamen feixend näher. »Bud-dy!« rief ich noch einmal, etwas lauter. Buddy registrierte gerade noch, wie der Älteste das Fenster genüßlich mit seinem Lutscher vollschmierte. Im selben Moment war er hellwach, sprang aus dem Wagen und richtete sich vor den Kleinen zu seiner vollen Größe auf. »Brrr!« brüllte er mit hochrotem Gesicht. Hinter seinen Brillengläsern blitzte es. »Haaah! Brrr! Schsch!« Er wirbelte herum wie eine Furie, und die Augen der Jungen wurden vor Schreck so kugelrund wie die Lutscher, die sie in der Hand hielten. Kreischend schwangen sie sich auf ihre Räder und rasten davon. »Haaah!« brüllte Buddy noch einmal und schüttelte die erhobene Faust. Doch plötzlich ließ er sich mit einem Entsetzensschrei ins Auto fallen. »Ach, du lieber Gott!« stöhnte er und lugte verängstigt über das Lenkrad. Lisa hatte es sich einfallen lassen, genau in diesem Moment wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, und ihr Auftritt ließ nichts zu wünschen übrig. Sie trug ein hellgrünes Sommerkleid, sozusagen schulterfrei bis auf einen hauchdünnen Träger um den Hals. Ihr Rücken war natürlich nackt. Der Rock schwang um ihre Hüften. Statt der bekannten Tennisschuhe hatte sie zierliche Sandaletten angezogen, die ihre schlanken Fesseln betonten. Und ihre Haare, die sie gewöhnlich hinten zusammengebunden trug, fielen in sanften Locken auf ihre Schultern. »Du lieber Himmel, ob sie mich wohl eben gesehen hat?« fragte Buddy noch einmal. Seine Stimme klang verzweifelt. Lisa war zu ihrem Wagen gegangen und startete. »Mensch, wenn sie hier vorbeikommt! Bück dich! Los, runter!« zischte Buddy, drückte meinen Kopf unter das Handschuhfach und warf sich in voller Länge über mich. »Buddy«, flüsterte ich, obwohl ich kaum Luft bekam. »Das ist doch Blödsinn. So viele rote Porsches stehen hier nicht rum. Wenn sie vorbeikommt, erkennt sie mindestens dein Auto. Und möchtest du etwa, daß sie dich so sieht?« »Mh«, brummte Buddy. »Du hast recht.« Ich hatte meine Bewegungsfreiheit wieder und atmete tief durch. Buddy seinerseits startete durch. »Sie haut ab in Richtung Süden«, sagte er und drückte aufs Gaspedal. Als wir an den drei kleinen Jungen vorbeikamen, schwenkten sie ihre Lutscher in der Hand. »Brrr! Haaah!« brüllten sie begeistert. Wenigstens bei ihnen hatte Buddy mächtig Eindruck hinterlassen. Wir blieben Lisa auf den Fersen und sahen, wie sie vor Fanet-te's, dem exklusivsten Modegeschäft am Ort parkte. Die Besitzerin, eine zierliche Französin, die sich die Haare je nach Lust und Laune mal blau, mal grün, mal lila färbt, ist jedem ein Begriff. Außer diesem Laden besitzt sie weitere Geschäfte in Paris, London und New York. In jedem von ihnen hält sie sich drei Monate des Jahres auf. Ihr Ruf ist legendär. Angeblich soll sie unzählige Liebhaber gehabt haben, darunter Mafiabosse und drei Unglückselige, die sich ihretwegen das Leben nahmen. Einige behaupten, sie sei erst vierzig und sehe nur aufgrund ihres ausschweifenden Lebens so alt aus, andere wollen beschwören, daß sie eine guterhaltene Frau in den Siebzigern ist. Sie selbst kümmert sich nicht um die Gerüchte, sondern lebt einfach so weiter, wie es ihr gefällt. Wenn die braven Bürger von Braden's Port überhaupt nichts mehr haben, worüber sie sich das Maul zerreißen können, dann bleibt als letztes immer noch Fanette. Der kleine, feine Laden liegt an einem ebenso feinen Platz. Ein Schmuckstück der Stadt mit einer Menge exotischer Pflanzen in Blumenkübeln. Wir parkten ein paar Meter von Lisa entfernt, sahen sie über den Platz schreiten und in dem Geschäft verschwinden. »Die Kleider, die da verkauft werden, kann sie sich gar nicht leisten«, stellte Buddy erstaunt fest. »Alles Modelle von bekannten Designern. Meine Mutter hat sich einmal eines gekauft. Willst du wissen, was es gekostet hat?« »Lieber nicht.«
»Richtig. Genau soviel hat es gekostet.« Wir warteten eine Weile im Wagen, aber Lisa zeigte sich nicht mehr. Dann stiegen wir aus und bezogen vor Sweet Polly's, dem beliebten Cafe, Posten. Vergebens. Wir setzten uns hinein und bestellten einen Rieseneisbecher mit Sahne. Wir aßen ihn fast leer, ohne daß Lisa wieder erschienen wäre. Mit den Resten, denen die Sonne ohnehin nichts mehr anhaben konnte, setzten wir uns nach draußen und warteten weiter. »Vielleicht gibt es einen Hinterausgang?« mutmaßte ich. Buddy kratzte den letzten Rest aus seinem Eisbecher. »Vielleicht hast du recht«, sagte er schließlich. »Laß uns ein bißchen auf und ab gehen.« Wir gingen vor Fanette's auf und ab. Durch die dunkel getönten Fensterscheiben konnten wir nicht ausmachen, ob sich in dem Laden noch jemand befand. Wir trauten uns schließlich bis vor die Eingangstür, die nicht abgetönt war. Ich kam mir langsam vor wie jemand, der durch fremde Schlüssellöcher schaut. Aber auf diese Weise entdeckten wir Lisa tatsächlich. Sie stand direkt an der Tür, mit dem Rücken zu uns, eines der kostbaren Kleider in der Hand, und redete auf eine ältere Dame ein. »Hier arbeitet sie auch!« schrie Buddy, der es nicht fassen konnte. Im selben Moment drehten sich Lisa und die Kundin um. Buddy wäre am liebsten im Erdboden versunken. Lisa dagegen behielt einen kühlen Kopf. Während sie die Fragen ihrer Kundin weiterhin freundlich beantwortete, traf Buddy ein eiskalter, vernichtender Blick. Dann geleitete Lisa die Kundin zur Umkleidekabine. Wenn Blicke töten könnten! dachte ich. »Nichts wie weg hier«, murmelte Buddy und zog mich mit sich. Wir hechteten über den Platz. Am Auto angekommen, ließ sich Buddy atemlos auf die Kühlerhaube fallen. »Au! Das Blech ist ja heiß!« schrie er auf, um gleich darauf wieder in verzweifeltes Grübeln zu verfallen. »Was soll ich bloß tun? Was soll ich denn jetzt machen?« »Findest du nicht, daß du für heute genug Unheil angerichtet hast?« gab ich zu bedenken. »Ja, du hast vollkommen recht. Auf zum Strand. Wer Sorgen hat, muß sich entspannen. Pause machen. Am besten am Strand. Vielleicht kommt eine große Welle und spült mich fort. Hoffentlich!« Am Freitag morgen stellte mich Lisa noch vor der Tür des Jolly Mackerei zur Rede. »Warum verfolgt ihr mich?« wollte sie wissen. »Ich nicht, ich verfolge dich nicht«, beteuerte ich. »Das sieht zwar so aus, weil ich mit Buddy gefahren bin. Buddy, so heißt mein Freund. Wußtest du das? Eigentlich heißt er Buford, Buford Rensen der Dritte, ganz genau. Aber wer möchte schon so heißen, nicht? Paeglis und Rensen, die Unzertrennlichen. In der Schule kamen wir nämlich in der alphabetischen Reihenfolge direkt hintereinander. Zufällig war niemand in unserer Klasse, der mit >Q< anfing. Aber was erzähle ich da? Das interessiert dich vielleicht gar nicht. Jedenfalls, er ist es, der hinter dir her ist. Ich saß nur zufällig neben ihm im Auto, verstehst du?« »Na gut«, sagte sie daraufhin mit hocherhobenem Haupt und einer herablassenen Güte, wie man sie kleinen Kindern oder etwas zurückgebliebenen Leuten zukommen läßt. »Warum verfolgt mich also dein Freund Buford Rensen?« »Weil er überzeugt ist, daß er dich liebt!« platzte ich heraus. »Aber er kennt mich doch gar nicht.« »Stimmt. Aber das liegt nicht an ihm. Er hat versucht, dich kennenzulernen. Aber du gibst nichts preis. Also muß er dich verfolgen, um etwas über dich herauszufinden.« »Ach? Und was hat er herausgefunden?« »Nicht viel, glaube ich! Wo du wohnst. Und daß du zwei Jobs hast. Wieso eigentlich?« »Das geht dich nichts an«, war Lisas Antwort. »Und deinem Freund kannst du sagen, er soll verschwinden.« Damit lief sie die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich folgte ihr, war aber offensichtlich nicht schnell genug: Die Schwingtür knallte mir voll vors Gesicht! Gegen zehn Uhr traf der erste Blumenstrauß ein. Das Blumengeschäft hatte gerade aufgemacht. Rosen für Lisa – in Liebe, von Buddy. Nelken für Lisa. In Liebe, Buddy. Gardenien für Lisa. Von Buddy in Liebe. Eine einzelne Orchidee für Lisa. Und so weiter und so weiter. Etwa alle zehn Minuten traf ein neuer Strauß ein. Mr. MacElroy, die Köche und die Gäste schlössen bereits Wetten ab, welche Sorte Blumen als nächstes dran sei. Auf die erste Sendung reagierte Lisa sichtlich verärgert. Sie wollte den Strauß nicht annehmen, aber der Bote weigerte sich seinerseits, ihn wieder mitzunehmen. Erstens weil die Blumen bezahlt seien, und zweitens, weil der Strauß doch so schön sei. Ob sie den keine Blumen möge, oder ob sie etwa allergisch sei? Lisa schob daraufhin jedes Blumenbouquet an die äußerste Ecke der Theke und ignorierte es. Ebenso überhörte sie die Scherze, die inzwischen das ganze Lokal darüber machte. Schon bald faßte die Theke das Blumenmeer nicht mehr. Bei jeder neuen Sendung brachen die Umstehenden in lautes Johlen und Pfeifen aus. Niemand, der nicht unbedingt mußte, verließ das Lokal. Alle waren viel zu gespannt, wie die Geschichte ausgehen würde. Als nächstes bat Lisa den Boten, die Sträuße auf der Treppe vor der Tür abzustellen. Allerdings konnte sie es
nicht lassen, eine Weile draußen stehen zu bleiben und die Blumen zu betrachten. So ganz eiskalt war sie also doch nicht. Sie roch sogar an der einen oder anderen Blüte und arrangierte die Töpfe und Schalen so, daß sie nicht die Treppe herunterfallen konnten. Punkt halb drei kam das letzte Blumenbouquet, von Buddy persönlich überreicht. Er sah dabei so eifrig und erwartungsvoll aus, daß ich ganz gerührt war. So kannte ich Buddy nicht. Er trug sogar Anzug und Krawatte. Der Anzug wirkte reichlich zerknittert, entweder wegen der Hitze oder weil er seit Ewigkeiten ungenutzt im Schrank gehangen hatte. Das verrückteste aber waren die Turnschuhe und ein blaues T-Shirt unter dem Jackett. Später erfuhr ich, daß er seine Hemden und Schuhe in Maple Grove gelassen hatte; Anzug und Krawatte hingen noch in Bra-den's Port, übriggeblieben vom letzten Sommer, wo Buddy an einer Hochzeitsfeier hatte teilnehmen müssen. Seine Haare waren mit Pomade gestylt wie bei einem Filmstar der zwanziger Jahre, und in den Armen hielt er zwei Dutzend rote Rosen und eine riesige Konfektschale in Herzform. »Für Lisa«, sagte er laut. »In Liebe von Buddy.« Alle im Lokal standen auf, lachten, pfiffen und applaudierten. Die gesamte Küchenbesatzung stand in der Schwingtür und ergötzte sich an dem Schauspiel. »Rosen!« kreischte Mr. MacElroy. »Die Wette geht an mich!« Nur Lisa hockte mit zusammengebissenen Zähnen und hochrotem Gesicht hinter ihrer Kasse. Die Luft vibrierte regelrecht von ihrer unterdrückten Wut, wie mir schien. »Was zum Teufel hast du dir eigentlich dabei gedacht, Ren-sen?« fuhr sie Buddy an. Im Lokal herrschte plötzlich Totenstille. »Sie kennt meinen Namen!« schrie Buddy außer sich. Er grinste vor Freude übers ganze Gesicht. Lisa rieb sich eine Sekunde ratlos das Kinn, dann drehte sie sich um und herrschte die Küchenmannschaft an: »Habt ihr gar nichts Besseres zu tun?« Kichernd verzog sich das Grüppchen. Als sich die Schwingtür schloß, war es, wie wenn im Theater der Vorhang fällt. Lisa hatte gewonnen. Das gab ihr Auftrieb, es erneut mit Buddy aufzunehmen. Kaum stand er vor ihr, riß sie ihm die Blumen und die Konfektschachtel aus der Hand und knallte sie in die Ecke. »Und du auch!« brüllte sie mich an. Ich stellte mich neben Buddy. »Kümmert ihr euch um eure eigenen Angelegenheiten«, schnauzte sie dann die Gäste an, die aufgestanden waren und sich an der Theke versammelt hatten. Zwei verzogen sich wieder an ihren Tisch, doch der dritte stellte sich breitbeinig vor sie hin, steckte seinen Daumen in den Hosengürtel und forderte sie zusätzlich heraus. »Ich nehme an, Sie haben jetzt keine Lust, uns einen neuen Kaffee zu kochen, Miß Lisa?« fragte er. »Das sehen Sie verdammt richtig«, ließ Lisa ihn wissen. Mit einem breiten Grinsen setzte er sich wieder zu seinen Freunden. Als er an Buddy vorbeikam, winkte er ihm aufmunternd zu. Alle anderen taten so, als würden sie sich nur noch für ihren Kaffee oder ihr Sandwich interessieren. »Hinsetzen!« befahl Lisa. Buddy und ich kletterten auf zwei Barhocker. Wir saßen da wie zwei kleine Jungen, die darauf warten, ausgeschimpft zu werden. »Ich mag so was nicht!« sagte Lisa nun sehr bestimmt. »Und ich werde es auch nicht dulden. Also: Nimm deine Blumen und das süße Zeug und verschwinde. Aber sofort.« »Aber sie sind für dich«, widersprach Buddy. »Ich will sie aber nicht haben. Das ist ja lächerlich. Das alles hat mindestens fünfhundert Mark gekostet.« »Fünfhundertsechsundachtzig Mark und fünfzig Pfennig«, erklärte Buddy. »Aber wieso ist das wichtig?« »Dir vielleicht nicht. Aber mir kannst du damit nicht imponieren. Diese Blumen interessieren mich nicht. Also weg damit. Sofort!« »Ich hätte nie gedacht, daß du – « fing Buddy erneut an. »Was immer du dir gedacht hast: Ich will nicht. Jetzt nicht und in Zukunft nicht. Fertig. Verschwinde, Kleiner. Laß mich in Ruhe. Mach, daß du wegkommst. Und nimm endlich dieses ganze Zeug da mit.« Völlig geknickt rutschte Buddy von seinem Barhocker und nahm den Rosenstrauß und die Pralinen wieder an sich. Ich packte mir beide Arme voll Blumen, und so verließen wir das Lokal. »Es tut mir so leid für dich«, sagte ich zu Buddy, als wir am Auto angekommen waren. »Du hast alles versucht. Und mit soviel Phantasie. Eine prachtvolle, farbenfrohe Werbung!« »Das war noch nicht alles.« »Mein Gott, Buddy, gib's auf. Es ist gelaufen.« »Es ist noch nicht gelaufen.« Wir verstauten die Blumen in unseren beiden Autos. Es sah aus, als führen wir zu einem Begräbnis. Zwei-, dreimal lief ich noch ins Lokal, um auch noch den Rest abzuschleppen. Buddy half mir. Bei der letzten Fuhre
erwartete uns Lisa oben auf der Treppe. In Erwartung eines erneuten Wutausbruchs hielten wir den Atem an. Aber Lisa hatte sich offensichtlich beruhigt. »Was soll nun mit der ganzen Pracht geschehen?« fragte sie uns. »Das Blumengeschäft nimmt sie nicht zurück, wie sie mir sagten.« Buddy hob ratlos die Schultern. »Hast du eine Idee? Schließlich sind es deine Blumen!« meinte er. Lisa zog eine Grimasse, doch dann schien ihr ein guter Gedanke zu kommen, denn sie lächelte plötzlich. »In Corley gibt es ein Kinderheim«, schlug sie vor. »Das ist zwar ein gutes Stück zu fahren aber...« »Gut, aber nur wenn du mir deinen Nachnamen verrätst«, verlangte Buddy mit einem verschmitzten Grinsen. »Wieso?« »Weil ich ihn wissen will. Ich fahre den langen Weg bis Cor-ley, und du sagst mir dafür, wie du heißt. Das ist doch ein faires Geschäft, oder?« Lisa atmete einmal tief ein, aber das Glitzern in ihren Augen verriet, daß die Mauer, die sie gegen Buddy errichtet hatte, langsam bröckelte. »Kenney« verriet sie schließlich und verschwand wieder im Lokal. Auf der Fahrt nach Corely war Buddy regelrecht aus dem Häuschen. »Ich weiß ihren Namen, ich weiß ihre Adresse!« jubelte er. »Jetzt brauche ich nur noch im Telefonbuch nachzuschauen, dann kann ich sie anrufen!« Vor lauter Übermut veranstaltete er mit mir ein Wettrennen, bei dem ich natürlich nicht mithalten konnte. »Gut, fahren wir Konvoi«, rief er mir schließlich durch das heruntergekurbelte Seitenfenster zu. »Ich halte den Fuß auf der Bremse, damit ich Häuptling Langsame Sohle nicht aus den Augen verliere!« Die freudige Überraschung, die er dann dem Direktor des Kinderheims bereiten durfte, machte sein Glück vollkommen. Er verabschiedete sich mit einem freundschaftlichen Nasenstüber von mir und brauste davon. Zu Hause traf ich meine Eltern beim Abendessen an. »Hallo, Mom. Hallo, Pop. Was gibt's Neues in der Stadt?« begrüßte ich die beiden, während ich mir in der Küche rasch die Hände wusch. »Viel Hitze«, sagte Pop. »Und was gibt's bei dir Neues?« »Mir geht's gut«, antwortete ich. Als ich ihnen gegenübersaß, fiel mir auf, daß die beiden sich ständig vielsagend angrinsten. »Was führt ihr eigentlich im Schilde,« wollte ich wissen. »Wir haben uns gerade darüber unterhalten, daß –« begann Pop umständlich. Ma unterbrach ihn. »Wir würden unheimlich gerne morgen im Jolly Mackerei essen«, gab sie bekannt. Mir fiel die Gabel aus der Hand. Soßenflecken machten sich auf dem bluten weißen Tischtuch breit. »Ich habe dir ja gesagt, er will uns da nicht haben«, stellte Pop fest. »Natürlich will er«, widersprach Ma, die bereits damit beschäftigt war, die Hecken zu entfernen. »Wie kommst du bloß darauf, er wollte nicht?« Sonst passiert es Ma nie, daß sie mich total mißversteht. Ich blickte sie überrascht an. Aus der Art, wie sie mich ansah, sprach die stumme Bitte, sie nicht im Stich zu lassen. »Natürlich möchte ich, daß ihr kommt«, hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen. Ma dankte mir mit einem erleichterten Lächeln und einer Portion Nachtisch. »Pop hatte die Idee«, sagte sie. »Nicht ganz«, protestierte Pop. »Aber sicher. Du hast als erster vermutet, daß Michael nach der Probezeit weiterarbeiten darf. Du warst derjenige, der mehrfach erwähnt hat, daß wir doch immer schon mal imjolly Mackerei essen wollten und daß es jetzt ein günstiger Zeitpunkt wäre. Und du hast. . .« »Aber du hast mich gebeten, mehr Interesse und Anerkennung für Michaels Arbeit aufzubringen, indem wir uns sein Restaurant einmal ansehen«, erinnerte Pop sie. »Das ist nicht mein Restaurant«, stellte ich daraufhin fest. »Das ist uns ziemlich klar«, bemerkte Pop. »Sollen wir um eins kommen? Oder lieber um halb zwei?« Ich stellte mir vor, wie Mr. MacElroy Pop in der Eingangstür begrüßen würde. >Das ist mein Vater<, müßte ich erklären, und Mr. MacElroy würde in sein berühmtes Gelächter ausbrechen. Ich sah Pete drohend vor meinem Vater stehen. >Falls Ihr Sohn noch immer auf meinen Job scharf ist, werde ich ihm das Gehirn frisieren!< Ich sah Lisa und die Stammkunden am Ecktisch, wie sie meine Eltern geringschätzig musterten. All das war schrecklich, aber auszuhalten. Schlimmer war der Gedanke, daß ich die Mängel des Restaurants vor Pop und Ma nicht mehr geheimhalten könnte. Sie würden von allem enttäuscht sein. Und natürlich sah ich mich selbst, stolpernd, Gläser und Porzellan zerbrechend, Soße und Kaffee über die Tische, die Kleider der Gäste und den Boden schüttend. Und meine Eltern würden dabei zusehen. Das war die schrecklichste Vorstellung von allen. »Geht in Ordnung, Pop«, sagte ich und schluckte tapfer. || »Kommt, wenn es euch paßt.« Nach dem Essen nahm Ma mich zur Seite, als ich gerade den fj Geschirrspüler einräumte. »Heute abend hat er sich zum ersten-" mal positiv über deine Beschäftigung geäußert«, erklärte sie mir. »Ich dachte, das muß man ausnutzen.«
Ich bedankte mich bei Mutter, obwohl ich eigentlich mehr Angst als Freude empfand. Am späten Abend rief Buddy an. Ich machte mich auf den üblichen Redeschwall gefaßt, aber diesmal faßte er sich etwas kürzer. »Ich habe sechsmal bei Lisa angerufen, abe sie war nie zu Hause«, teilte er mit. »Ich wollte ihr ausrichten, daß wir die Blumen im Kinderheim abgegeben haben. Ihrer Mutter sind meine Anrufe sicher auf den Wecker gefallen! Wahrscheinlich komme ich morgen zum Mittagessen zu euch und erzähle es ihr dann.« »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Buddy«, bekannte ich, »dann komm morgen bitte nicht. Meine Eltern haben sich bereits angekündigt. Daß ist schon Streß genug, mehr kann ich nicht verkraften.« »Ja, dann!« meinte Buddy verständnisvoll. »Dann versuche ich es noch mal telefonisch. Aber vielleicht kannst du ihr ja auch morgen Bescheid sagen, falls ich sie nicht erreiche.« »Wird gemacht. Wenn ich dazu komme.« Aber ich kam nicht dazu. Schon der Vormittagsdienst war der reinste Alptraum für mich. Bei jedem Fehler, den ich machte, jedesmal, wenn ich irgendwo anstieß, dachte ich: Was, wenn Pop und Ma jetzt hier säßen und mich sehen würden? Was, wenn sie nachher wirklich hier sitzen und mir passiert wieder so etwas oder noch etwas Schlimmeres? Je mehr ich daran dachte, desto nervöser und ungeschickter wurde ich. Ein ganzer Wagen voll mit schmutzigem Geschirr und Essensresten kippte mir um. Die Bescherung landete auf dem Küchenboden. Als ich die Müllsäcke wegbringen wollte, rissen sie, und der ganze Inhalt entleerte sich auf dem Parkplatz. Und Pete ließ es sich nicht nehmen, an diesem Tag besonders gemein zu sein, als spürte er meine besondere Verwundbarkeit. »Eins wüßte ich gerne, Sommer-Jüngelchen«, sagte er in der Küche so laut zu mir, daß alle es hören konnten, »wenn deiner Mami und deinem Papi das Lokal gut gefällt, kaufen sie es dir dann?« Ein paar Minuten später trafen meine Eltern ein. Sie fanden alles wunderbar: Das Essen und den Service. Sie waren auch sehr angetan von Mr. MacElroy, der ihnen vorschwärmte, wie fleißig und zuverlässig ich sei. Wenn man seinen Worten glaubte, hätte ich mich glatt um die Wahl zum > Kellner des Jahres< bewerben können. Ma verwickelte Lisa, die sie von Fanette's her kannte, in ein ausführliches Gespräch über die modische Rocklänge. Die Männer am Ecktisch verhielten sich ganz unauffällig. Pete blieb in seiner Küche. Ein einziges Mal wäre mir fast ein Glas umgefallen – aber nur fast. Ma strahlte mich glücklich an. Pop bezahlte die Rechnung und ließ sich sogar zu einer Art Kompliment hinreißen. »Besser als ich erwartet hatte«, gab er knapp von sich. Ich glaube, er war ein bißchen stolz auf mich und da fiel mir zum erstenmal auf, daß ich mir schon lange gewünscht hatte, mein Vater möge einmal stolz auf mich sein. Als dieser Arbeitstag zu Ende war, fühlte ich mich zwanzig Pfund leichter. Auf der Heimfahrt machte ich mir noch einmal bewußt, wie gut doch alles gelaufen war. Also, sagte ich mir, du hast sie in einem wichtigen Punkt überzeugt, nämlich daß du in der Lage bist, auf eigenen Füßen zu stehen. Das ist ein guter Ausgangspunkt für das große Gespräch, das noch aussteht. Jetzt kannst du zu Pop gehen und sagen: Ich bin achtzehn. Ich muß ein paar wichtige Entscheidungen treffen, von denen mein weiteres Leben abhängt. Und ich will sie selber treffen. So wie ich es bei dem Job auch gemacht habe. Also: Ich will nicht auf die Wirtschaftsakademie, klar? Mich interessiert die Arbeit mit Menschen. Pädagogik, Psychologie und so etwas. Mein Lehrer hat gesagt, daß man das sehr gut in Oberlin oder in Carleton studieren kann.. . Als ich die Auffahrt zu unserem Haus hinauffuhr, stand meine Rede bis in alle Einzelheiten. Sie war von ungeheurer Überzeugungskraft, so wie wir es in unserem Rhetorikkurs gelernt hatten. Doch als die Haustür hinter mir ins Schloß fiel, brach das ganze kunstvolle Gebäude zusammen, und ich wußte, daß ich nicht ein Wort herausbringen würde – Rhetorikkurs hin oder her. Samstag abends trifft sich alles auf der Mansion Plaza. Die Geschäfte haben bis in die Nacht geöffnet, man geht einkaufen oder bummelt einfach in der großen Passage herum und wartet darauf, daß bei Einbruch der Dunkelheit die tausend Laternen aufflammen, die den Platz in ein glitzerndes Lichtermeer verwandeln. Ein leichter Wind, der den Geruch des Meeres heranträgt, weht dort immer. Ich mag diesen Platz und diese Abende. Einen Tag nachdem Ma und Pop im Jolly Mackerei aufgekreuzt waren, saß ich mit Buddy bei Sweet Polly's und gönnte mir meinen Lieblingseisbecher. Ma und Pop machten einen Schaufensterbummel, nur wenige Meter von mir entfernt. Noch ahnten sie nichts von meiner großen Rede nach dem Motto >Gebt mir meine Freiheit, oder ich will nicht mehr leben<, die ich so sorgfältig vorbereitet hatte. Aber ein Blick in ihre zufriedenen Gesichter hatte genügt, mich verstummen zu lassen. Sie waren so erleichtert, daß ich nicht in irgendeiner üblen Kaschemme arbeitete und mit dem Job gut zurechtkam, daß mir meine rebellischen Ideen einfach vergingen. Meine Eltern glücklich zu sehen, machte mich auch glücklich. Bei dem Gedanken, sie könnten wegen mir unglücklich sein, wurde mir schlecht. Ich saß in der Klemme und glaubte, aus dieser Zwickmühle nie mehr herauszukommen. Es war wie eine schleichende Krankheit. Doch dieser Abend auf der Plaza war dazu angetan, mich ein bißchen abzulenken und zu zerstreuen. Es war Hochsaison, und man konnte einfach dasitzen und Leute beobachten: Eine buntgemischte Schar von Menschen, deren Ferienlaune ansteckend wirkte. Ich hätte ewig so dasitzen können. Ich entdeckte auch Buddys Eltern mit seiner kleinen Schwester Angela Renson II. Sie ist schon knapp ein Jahr alt, hat aber immer noch kaum Haare auf
dem Kopf. Deshalb bindet ihr Mrs. Rensen stets ein Tuch um den Kopf. An diesem Abend war es ein knallrosa Tuch. »Da gehen deine Eltern und Angie«, sagte ich zu Buddy und winkte hinüber. Die Rensens winkten zurück, aber Buddy reagierte kaum. Offensichtlich war er in Gedanken ganz woanders, denn normalerweise ist er ganz verrückt nach seiner kleinen Schwester, kitzelt sie an den Füßen, wirft sie in die Luft, wirbelt sie an den Beinen um die eigene Achse. Sie liebt diese Spielchen, und das erste Wort, das sie überhaupt gesprochen hat, lautete >Buddy<. Ihre Mutter nennt sie >Muh<, und ihren Vater sieht sie kaum, weil er mit Geldverdienen beschäftigt ist. Mrs. Rensen hat allen Leuten erklärt, daß sie noch mal ein Baby haben wollte, um jung zu bleiben. »Ich hatte die Wahl zwischen Liften-lassen und schwanger werden. Schwanger werden schien mir amüsanter«, hat sie meiner Mutter im letzten Jahr anvertraut. Die Rensens verschwanden aus meinem Blickfeld, und ich wandte mich wieder Buddy zu, der in düsteres Schweigen verfallen war. Zu diesem Schweigen zwang er sich wohl, um mir nicht weiter mit seinem Liebeskummer auf die Nerven zu fallen. Allmählich blickte er der Tatsache ins Auge, daß er mit seinen Bemühungen um Lisa nicht einen Schritt weitergekommen war. Über die Blumen hatte sich nur das Kinderheim gefreut. Seine Versuche, sie telefonisch zu erreichen, waren sämtlich fehlgeschlagen. Er schloß daraus, daß sie ein interessantes, ausgefülltes Leben führte, in dem für ihn kein Platz mehr war. In diesem Augenblick befand sie sich nicht weit von ihm im Fanette's, aber er erwähnte dies mit keinem Wort. Er beherrschte sich, denn er spürte selbst, daß er mir die ganze Geschichte schon hundertmal erzählt hatte. Als auf der Plaza schließlich die Lichter eingeschaltet wurden, konnte man die Menge fast einstimmig »Aah!« seufzen hören. Auch ich bin jedesmal aufs neue hingerissen von dem grandiosen Schauspiel. »Ist es nicht unglaublich, Buddy?« sagte ich. »Was?« fragte er und sah mich zerstreut an. »Dies Geräusch.« »Geräusch? Was für ein Geräusch?« »Diesen Laut, den sie alle von sich geben, wenn die Lichter angehen. Stell dir das vor: Gut zweihundert Leute fühlen für eine Sekunde genau das Gleiche. Und jeder kann nachempfinden, was der andere fühlt.« »Nein, sie verstehen überhaupt nichts«, stellte Buddy bitter fest. »Nun gut, dann eben einhundertneunundneunzig Leute. Alle außer dir.« Buddys Kopf sank noch tiefer über den Eisbecher. So kam es, daß er nicht einmal bemerkte, wie Lisa ihr Geschäft verließ. Oder wollte er diesen Anblick vermeiden, weil er ihm weh tat? Ich sah, daß Lisa sich in unsere Richtung bewegte und nun sah es auch Buddy. Sofort richtete er sich in seinem Stuhl auf, und seine Augen wurden rund vor Staunen und Erwartung. Lisa kam direkt auf uns zu. »Hallo, Michael, hallo, Buddy«, begrüßte sie uns. »Hallo, Lisa«, sagte ich. Buddy sprang auf und zog einen leeren Stuhl heran, fand aber keine Worte. So fragte ich Lisa, ob sie sich nicht setzen wolle. Mit einer graziösen Bewegung strich sie ihren Rock glatt und ließ sich nieder. Als Buddy sich neben sie setzte, war es, als fiele er gleichsam vor ihr auf die Knie. »Möchtest du vielleicht etwas essen?« erkundigte er sich mit gebrochener Stimme. So hatte er zuletzt gesprochen, als er zwölf war. »Nein, vielen Dank.« Peinliches Schweigen breitete sich aus. Die Spannung war so spürbar, daß mir Schweißtropfen auf die Stirn traten. Im Vergleich zu Buddy allerdings wirkte ich noch entspannt. Er räus-perte sich ununterbrochen und zappelte mit seinem Stuhl hin und her. Lisa fuhr mit einem Finger auf der Tischplatte entlang. »Ich muß mich bei euch entschuldigen«, sagte sie dann überraschend. »Akzeptiert«, platzte Buddy heraus, noch ehe er sie angehört hatte. Darüber mußte Lisa so schallend lachen, daß die ganze Spannung sich schlagartig in Luft auflöste. »Du bist uns keine Erklärung schuldig«, versicherte Buddy noch einmal. »O doch, ich bin«, widersprach Lisa. »Gestern hat mich der Direktor des Kinderheimes angerufen – « »Wieso hat er dich erreicht?« wunderte sich Buddy. »Ich habe den ganzen Tag vergeblich hinter dir her telefoniert.« »Du warst das also? Meine Mutter hat mir erzählt, daß irgendein Verrückter dauernd angerufen hat. Der Direktor hat mich nicht erreicht, aber er hat eine Nachricht für mich hinterlassen.« »Daran habe ich auch gedacht. Aber ich habe einfach nicht geglaubt, daß du mich zurückrufen würdest.« »Zu diesem Zeitpunkt hätte ich das auch noch nicht getan«, gab Lisa zu. »Aber nachdem der Direktor angerufen hatte, sah das anders aus. Er hat mir erzählt, daß zwei junge Männer Unmengen Blumen und eine riesige Konfektschachtel in meinem Namen bei ihm abgegeben hätten. Er wollte sich im Namen aller Kinder bei mir bedanken. Und ich möchte diesen Dank jetzt an euch weitergeben, denn ihr habt ihn verdient. Die Blumen haben
mich zwar erst geärgert, aber nun haben sie ja doch noch einen guten Zweck erfüllt. Dafür möchte ich mich bei euch bedanken.« Hochrot vor Verlegenheit und Freude stammelten Buddy und ich »So ein Unsinn!« und ähnliches dummes Zeug durcheinander. Wie erlöst waren wir, als die Kellnerin auftauchte und die Situation rettete. »Hallo, Lisa!« sagte sie. »Bist du zu früh oder bin ich zu spät dran?« »Ich bin etwas früher gekommen«, beruhigte sie Lisa. »Dann ist es gut. Ich wollte dich nicht warten lassen.« »Schon in Ordnung. Ich hatte mit den beiden hier sowieso etwas zu besprechen. Das sind übrigens Buddy und Michael. Und das ist meine Freundin Traci.« Wir begrüßten uns. Traci entschuldigte sich noch einmal für die Verspätung. »Kann ich dir wenigstens etwas zu trinken bringen?« »Nein, danke. Und laß dir Zeit. Ich hab's nicht eilig.« »Ganz bestimmt nicht? Hoffentlich! Meine Ablösung ist nämlich noch nicht da. Und der Chef will mich noch nicht gehen lassen. Viel zu tun heut abend.« »Kein Problem«, versicherte Lisa noch einmal, diesmal schon etwas ungeduldiger. »Dann ist es gut«, wiederholte Traci zögernd. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Lisa noch zu ihrer Beruhigung hätte sagen können. Traci schien zu diesen unterwürfigen Menschen zu gehören, die immer nett sind, immer gefällig und immer Angst haben, etwas falsch zu machen. Die es auf übertriebene Weise allen recht machen wollen und dabei sich selbst vergessen. »Braucht ihr noch etwas?« wandte sie sich schließlich an Buddy und mich. »Wozu?« fragte Buddy. »Wir haben doch Lisa.« Die Antwort schien Traci zu verwirren. Sie kicherte nervös. »Gut«, meinte sie dann. »Ihr könnt euch ja bemerkbar machen, wenn ihr was braucht. Ich glaube, ich muß wieder an die Arbeit. Tschüß! War nett, euch kennenzulernen.« Wir blickten ihr hinterher, während sie an den Nachbartischen neue Bestellungen entgegennahm. Sie sah irgendwie niedlich aus mit ihrem wippenden, braunen Pferdeschwanz und den Ponyfransen, die ihr bis auf die Augen hingen und sie hatte Sommersprossen. »Nettes Mädchen«, bemerkte Buddy, »aber zu verkrampft.« »Sie hat ihre Gründe dafür«, sagte Lisa, ohne mehr zu verraten. »Ist sie neu? Ich habe sie nie vorher im SweetPolly's gesehen.« erkundigte ich mich. »Sie hat erst diese Woche hier angefangen«, verriet Lisa. »Früher hat sie auch mal im Jolly Mackerei gearbeitet. Aber zurück zu dir, Buddy«, fuhr sie dann fort, »was du dir da mit den Blumen hast einfallen lassen, war sehr rührend und schmeichelhaft. Trotzdem möchte ich nicht, daß du es weiter versuchst. Das richtet sich nicht gegen dich persönlich. Es ist eine Grundsatzentscheidung. Ich kann es mir im Moment nicht leisten, mich zu verlieben. Nächsten Sommer gehe ich von hier weg und es soll einfach nichts geben, was mich an Braden's Port bindet.« »Und wohin gehst du?« wollte Buddy wissen. »Nach New York.« Buddy zuckte zusammen, als er das hörte. »Was willst du in New York?« fragte er dann. »Diese Stadt ist laut und dreckig und viel zu groß für dich.« »Aber dort kann ich das machen, was ich mir schon seit meiner Kindheit wünsche«, erklärte Lisa. »Ich werde dort zur Schule gehen und habe auch schon einen Job als Assistentin des Einkaufs bei Fanette. Mein Ziel ist, einmal eigene Modelle zu entwerfen. Das Kleid hier zum Beispiel habe ich selbst gemacht. Gefällt es euch?« Buddy und ich nickten begeistert. »Es ist noch hübscher als das grüne Kleid, und das war schon toll«, sagte ich. »Du scheinst wirklich Talent zu haben.« »Oh, vielen Dank«, flüsterte Lisa. Sie war sogar ein bißchen rot geworden. »Aber die Konkurrenz ist groß. Es wird eine Weile dauern, bis ich mir einen Namen gemacht habe. Aber ich habe fest vor, es soweit zu bringen. Und daran wird mich niemand hindern, auch der netteste Junge nicht.« »Gibst du dich deshalb im Mackerei so unnahbar?« wollte ich wissen. »Ja. Leider geben sich viele Männer mit einem einfachen >Nein, danke< nicht zufrieden. Und ich kenne genug Mädchen, die einmal von einer Karriere geträumt haben, und dann kam ihnen ein Mann dazwischen. Meine Schwester gehört auch dazu. Sie besaß das Zeug zu einer großen Malerin. Sie ist jetzt vierundzwanzig, hat drei Kinder und sieht aus wie eine Frau von vierzig. Und seit sie verheiratet ist, hat sie nie mehr einen Pinsel in die Hand genommen.« »Ich wollte dich nicht schwängern. Ich wollte dir im Mackerei nur freundlich guten Morgen sagen«, bemerkte ich trocken. Lisa mußte lachen. Ihr Lachen war einfach herrlich: natürlich, offen und melodisch. Für mein Empfinden lachte sie viel zu selten. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Deshalb hatte ich ja auch das Bedürfnis, mich bei euch zu entschuldigen. Ihr
seid wirklich nette Kerls und habt diese Behandlung nicht verdient.« Damit stand sie auf. Traci war inzwischen eingetroffen. »Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest«, fing sie wieder an. »Macht nichts. Wir haben uns gut unterhalten«, versicherte Lisa. »Michael, wir sehen uns morgen. Buddy – « Buddy blickte sie mit großen, flehenden Augen an, als hätte er nicht mitbekommen, was sie uns die ganze Zeit klarzumachen versuchte. Er saß da wie ein Hund, der darauf wartet, daß man ihm einen Brocken oder einen Knochen hinwirft. Gib ihm wenigstens einen Krümel, Lisa, dachte ich bei mir. Aber Lisa lächelte schon nicht mehr. »Also, gute Nacht und noch mal vielen Dank«, war alles, was sie sagte. »Können wir dich vielleicht irgendwohin fahren?« fragte Buddy, der von seinem Stuhl aufgesprungen war. »Nein, vielen Dank! Wir gehen zu Fuß. Es ist nicht weit.« »Wir könnten euch begleiten –« »Nein!« sagte Traci plötzlich sehr entschieden. Über ihren eigenen Tonfall erstaunt, fügte sie etwas freundlicher hinzu: »Wirklich, es ist nicht nötig. Bitte, nehmt uns das nicht übel!« Ich bekam mit, wie Lisa Buddys Hundeblick mit einem sanften Kopfschütteln beantwortete. Buddy fügte sich stumm in sein Schicksal. Wenn sie ihn gebeten hätte, das Atmen einzustellen, hätte er das wahrscheinlich auch noch getan. Die beiden Mädchen machten sich auf den Weg, und Buddy sank wieder auf seinen Stuhl. »Merkwürdige Frauen gibt es hier. Aber interessant sind sie«, stellte ich fest. »Was, glaubst du, ist mit Traci los? Als du angeboten hast, sie nach Hause zu bringen, ist sie dir fast ins Gesicht gesprungen.« »Was weiß ich« meinte Buddy schulterzuckend. »Vielleicht hat sie einen eifersüchtigen Freund zu Hause.« Und wie sich bald herausstellen sollte, war es genau so! Tracis eifersüchtiger Freund war niemand anderes als Pete, der Koch, persönlich. Buddy und ich kamen genau eine Woche später dahinter, als wir wieder einmal bei Sweet Polly's saßen und Tracis Verhalten uns den ersten Hinweis darauf gab. Sie wirkte an diesem Tag noch nervöser und schreckhafter als letztes Mal. Sie traute sich kaum, uns zu begrüßen. Ich rief ihr ins Gedächtnis, wer wir waren und unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. »Letzten Samstag, erinnerst du dich nicht mehr? Lisa hat uns miteinander bekannt gemacht«, sagte ich. »Wir hatten angeboten, euch nach Hause zu fahren«, ergänzte Buddy. »Mh, ja, ich erinnere mich«, sagte Traci mit niedergeschlagenem Blick und versteckte sich fast hinter dem riesigen Eisbecher, den sie auf ihrem Tablett blancierte, so daß nur noch ihre wippenden Ponyfransen zu sehen waren. »Möchtet ihr etwas essen?« fragte sie höflich. »Oder soll ich noch mal wiederkommen?« »Wir möchten das Übliche«, sagte Buddy, »aber wiederkommen kannst du auch. Jederzeit!« meinte Buddy grinsend. Traci wurde bleich im Gesicht. »Das Übliche?« fragte sie tonlos. »Vanilleeis mit heißer Schokoladensoße, große Portion«, erklärte ich. »Kommt sofort«, versprach sie und eilte davon. »Irgend etwas stimmt da nicht, was meinst du?« sagte ich zu Buddy. »Vielleicht nimmt sie Drogen«, vermutete Buddy. In diesem Moment erschien der eifersüchtige Freund auf der Bildfläche. Es war nicht auszumachen, ob er das Restaurant gerade betreten hatte oder gerade gehen wollte. Jedenfalls legte er seine grobschlächtige Hand auf Tracis Schulter und hinderte sie daran, durch die nahegelegene Tür in die Küche zu verschwinden. Er nötigte sie in eine Nische, wo noch ein paar leere Tische standen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Buddy«, flüsterte ich aufgeregt, »Das ist ja Pete. Unser Koch vom Jolly Mackerei. Der Schlägertyp. Er steckt also dahinter!« Was er zu Traci, die vor ihm stand, sagte, konnten wir nicht hören, aber es war deutlich zu sehen, daß er sie zur Minna machte. »Was hat er nur?« wunderte ich mich. »Er sieht aus wie einer, der dringend den nächsten Schuß braucht«, fand Buddy. Während Pete ununterbrochen auf Traci einredete, nickte Traci zu allem, was er sagte. Ihre Ponyfransen wippten dazu im Takt. Sie schien ihm nicht zu widersprechen, und dennoch wirkte er unzufrieden und verärgert. Seine buschigen Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengezogen, und seine Finger trommelten nervös auf die Tischplatte. »Der Mann ist offensichtlich in argen Schwierigkeiten«, stellte ich fest. Schließlich gab Pete Traci frei und schwang sich auf seinem Stuhl lässig herum. Über die Stuhllehne gebeugt, ließ er unter halb geschlossenen Lidern seinen Blick über die Menge schweifen, bis er uns, oder besser mich, entdeckte. Ich hatte das ungute Gefühl, daß er geradezu darauf gewartet zu haben schien, mich hier vorzufinden. Wir nickten uns kurz zu, dann schaute ich bewußt in eine andere Richtung. »Hast du eine Ahnung, was das alles bedeuten soll?« fragte ich Buddy. »Ich verstehe schon lange nichts mehr«, sagte Buddy. »Aber vielleicht haben wir soeben unser letztes Eis
bestellt.« »Hör auf, Witze zu machen. Der Kerl geht doch über Leichen!« »Eben. Wenn es um meinen Eisbecher geht, werde ich auch zum Killer, du nicht?« »Du bist unverbesserlich, Buddy«, stellte ich verärgert fest. Buddy lehnte sich über die Tischplatte und sah mir direkt in die Augen. »Im Gegenteil, meiner Lieber«, sagte er. »Diese Welt ist so verrückt, daß man nur überleben kann, wenn man sie nicht allzu ernst nimmt. Leute, die alles genau wissen wollen, wie du, bringen sich nur in Schwierigkeiten. Das heißt: An deiner Stelle würde ich über diesen finsteren Typen nicht mehr nachdenken und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« Er lehnte sich zurück wie einer, der das letzte Wort zur Sache gesprochen hat. Traci näherte sich mit dem Eis. »Sieht ja toll aus«, sagte ich und lächelte sie an. Ohne darauf einzugehen, stellte sie die Becher auf unseren Tisch und machte auf dem Absatz kehrt. »Sag mal, ist alles in Ordnung?« rief ich hinter ihr her. Sie ging weiter, ohne sich umzudrehen. Als sie an Petes Tisch vorbeikam, warf er mir einen triumphierenden Blick zu. Was machte ihn bloß so zufrieden? Was hatte das alles mit mir zu tun? »Das wird immer unheimlicher«, sagte ich zu Buddy, der sich intensiv mit seinem Vanilleeis beschäftigte. »Ich kann nur noch einmal wiederholen, was ich dir eben schon gesagt habe«, meinte er schließlich. »Wenn ich du wäre, würde ich mich da raushalten. Aber ich bin nicht du, und du bist nicht ich. Pech für dich.« An diesem Abend hatte ich nicht mal Augen für das große Lichterspektakel auf dem Platz. Die seltsamen Vorfälle, die ich beobachtet hatte, beschäftigten mich viel zu sehr. Als Traci später kam, um unseren Tisch abzuräumen und sich zu erkundigen, ob wir noch etwas wünschten, wirkte sie, als würde sie mit einer Pistole im Rücken dazu gezwungen. »Ja, ich hätte gern noch etwas«, sagte ich zu ihr. »Und zwar eine Information! Was spielt sich eigentlich zwischen dir und diesem . . . mh, Herrn da ab?« Dabei bewegte ich den Kopf so unauffällig wie möglich in Petes Richtung. »Nichts«, antwortete Traci, und legte uns, ohne daß wir darum gebeten hätten, die Rechnung auf den Tisch. »Macht er dir Schwierigkeiten? Ärger?« hakte ich nach und fragte mich im selben Moment, was ich wohl tun sollte, wenn sie ja sagte. Aber sie verneinte. Dann entschuldigte sie sich mit dem Hinweis, daß sie viel zu tun habe und ging. Ich ließ sie gehen, konnte den Vorfall aber nicht vergessen. Am nächsten Tag fragte ich Lisa, ob sie eine Ahnung habe, was dahinterstecken könnte. Ich erhielt die übliche >das-geht-dich-nichts-an<-Antwort, wenn auch etwas freundlicher vorgebracht als früher. Aber an brauchbaren Informationen war nichts aus ihr herauszubekommen. Als ich am Nachmittag mit Buddy zum Strand ging, grübelte ich immer noch über die Bedeutung des Vorgefallenen nach. Die Küste um Braden's Port hat einige hübsche Buchten. Die lauschigste von allen, eingebettet zwischen zwei Klippen, mit grasbewachsenen Dünen, hat sich unsere High School-Clique gleichsam reserviert. Wäre da nicht der Strandkorb- und Surf-brettverleih gleich hinter den Dünen, und gäbe es nicht die paar Strandwächter auf ihren Hochsitzen, man könnte sich fühlen wie auf einer einsamen Insel. Als wir an unserem Lieblingsplatz ankamen, herrschte dort ein Höllenlärm. Aus unzähligen Rekordern dudelte Musik, die von einer menschlichen Stimme nur durch kräftiges Brüllen übertönt werden konnte. Das Kreischen der über dem Wasser kreisenden, ewig hungrigen Möwen vervollständigte diese Geräuschkulisse. »Sieh sie dir an, die Jugend von Amerika!« rief ich Buddy zu. »Gut gewachsen, knackig braun und auf dem besten Weg taub zu werden.« »Habe ich da einen spöttischen Unterton gehört?« vergewisserte sich Buddy. »Jetzt hast du also auch schon was gegen unseren Strand. Erst gingen dir die Samstagabende gegen den Strich. Jetzt auch die Sonntagnachmittage. Gibt es vielleicht irgendwas, das dir noch Spaß macht? Der Donnerstagmorgen vielleicht?« »Der könnte auch schöner sein«, gab ich lachend zu. »Los, komm mit ins Wasser«, forderte mich Buddy auf. »Dein Gehirn braucht dringend eine kalte Dusche.« Wir rannten zum Waser. Mit einem Kopfsprung waren wir in den Fluten und kühlten unsere erhitzten Körper. Das Meer war unruhig, und der bedeckte Himmel kündigte einen nahen Sturm an. Nach unserem erfrischenden Bad entdeckten wir am Strand die Dallmeyer-Zwillinge, die sich in ihren rotweiß gestreiften Bikinis an diesem Tag zum Verwechseln ähnlich sahen. Ansonsten kann man sie äußerlich ganz gut unterscheiden. Melanie liebt extravagante Klamotten und ausgefallene Frisuren, Merrye zieht eine dezente Aufmachung vor. Die beiden winkten uns zu sich. »Hallo, ihr zwei!« brüllten sie. »Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?« Wir machten uns mit unseren Handtüchern auf ihrer Decke breit, worüber sie sich kindisch zu freuen schienen. »Seit wann macht unsere Gesellschaft euch so glücklich?« erkundigte ich mich schmunzelnd. Ich hatte eher den Verdacht, daß sie wieder einmal in dieser leichtfertigen Stimmung waren, die sie ab und zu überfiel. Merrye und Melanie können sehr ernsthaft, vernünftig und verständnisvoll sein, wie etwa an jenem Abend, als sie Buddy über seine unglückliche Liebe reinen Wein einschenkten. Aber manchmal reitet sie auch der Teufel.
»Ihr kommt uns gerade recht!« meinte Melanie lachend. »Paßt genau in unseren Plan! Dreht euch doch mal um, damit wir euch den Rücken eincremen können!« »Da sage ich nicht nein«, brummte Buddy und legte sich genüßlich auf den Bauch. »Und wer sind die beiden Glücklichen?« »Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, antwortete Merrye ungerührt, während sie die Cremetube über Buddys Rücken ausdrückte. »Was soll sonst dahinterstecken?« murmelte Buddy schläfrig. Die Hitze und die sanfte Massage mit der kühlenden Creme wirkten auch bei meinen verhärteten Muskeln wahre Wunder. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können. »Geld und Berühmtheit sind uns wichtiger«, erklärte Melanie kichernd. »Aber diesmal habt ihr recht: Es geht um zwei Jungen.« »Niemand, den ihr kennt«, fügte Merrye hinzu. »Sie sind nicht aus Maple Grove. Aber super!« »Und die Jungen aus Maple Grove, sind die etwa nicht super?« knurrte Buddy mit geschlossenen Lidern. »Unübertroffen«, beeilte sich Melanie zu versichern. »Aber nicht mehr aufregend genug. Man kennt sich auswendig, wenn man sommers wie winters zusammmen ist. Merrye und ich dachten, eine Abwechslung täte mal not.« »Eine Liebesgeschichte mit einem Jungen aus Maple Grove? Da kann ich ja gleich mit meinem Vetter ausgehen«, fand auch Merrye. »Es ist doch nun mal so: Seine Eltern kennen meine Eltern. Seine kleine Schwester spielt mit meinem kleinen Bruder. Wir selber kennen uns schon vom Sandkasten her. Er weiß, wie du dir damals das Knie aufgeschlagen hast und du erinnerst dich, daß er so lange am Daumen lutschte, bis er ganz schrumpelig war.« »Eine Liebesgeschichte wie im Film kann da nie draus werden«, stellte Melanie resigniert fest. Buddy stützte sich auf seine Ellenbogen und blickte Melanie amüsiert an. »Bist du sicher, daß Jungen von woanders nicht am Daumen lutschen?« »Nicht so lange, glaube ich wenigstens«, ließ Merrye ihn wissen. »Weißt du was, Michael?« wandte sich Buddy an mich. »Die beiden reden schon wie du! Nach dem Motto: Anderswo ist das Gras einfach grüner –« »Und selbst?« rief Melanie triumphierend. »Was ist mit dieser entzückenden Lisa?« »Na ja, wenn du sie schon mal erwähnst –« setzte Buddy an. »Nein, bitte nicht schon wieder!« bettelte ich. Worauf Melanie Buddys Gesicht so lange in das Handtuch drückte, bis er hoch und heilig versprach, uns mit seinem Lieblingsthema zu verschonen. Sein Protest beschränkte sich auf ein schwaches Grunzen, dann knetete er sich das Handtuch zu einem Kopfkissen zurecht und versuchte zu schlafen. »Wie sieht euer Plan denn aus?« wollte ich von den Zwillingen wissen. »Welche Rolle habt ihr uns dabei zugedacht?« »Ihr müßt einfach nur hier liegen. In voller Lebensgröße, mehr nicht«, erklärte Merrye. »Wenn die beiden Jungen dann vorbeikommen und uns zusammen sehen, müssen sie denken, daß es uns an netter männlicher Gesellschaft nicht mangelt. Wenn sich zeigt, daß sie dann immer noch so nett sind wie gestern, erklären wir ihnen, daß ihr nur ein paar alte Freunde seid.« »Aber wenn sie der Lage nicht gewachsen sind, behaupten wir, wir wären schon vergeben und schicken sie zum Teufel«, ergänzte Melanie. »Und drittens, sollten sie unverschämt werden, dann machen wir ihnen klar, daß Buddy einsneunzig lang ist und daß du den schwarzen Karategürtel besitzt«, offenbarte Merrye. Ich kam nicht mehr dazu, dagegen zu protestieren, denn die beiden Zwillinge waren kreischend aufgesprungen. »Da sind sie, da sind sie!« rief Merrye außer sich und vollführte einen Freudentanz. »Besser, wir setzen uns wieder hin und warten, ob sie uns entdecken«, überlegte Melanie. »Na bitte. Hab' ich's nicht gesagt? Sie schauen genau hierher. Und unsere beiden Begleiter haben sie auch im Visier. Fabelhaft, das läuft wie geschmiert. Es kann losgehen! Buddy, Michael, aufgepaßt! Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang!« »Wer hätte das gedacht«, murmelte Buddy verschlafen. Melanie und Merrye bahnten sich entschlossen den Weg durch die Menge zum Wasser. Mit derselben Entschlossenheit wollten sie sich wohl auch in ihr Liebesabenteuer stürzen. »Na, willst du gar nicht sehen, ob der Plan funktioniert?« fragte ich Buddy und rüttelte ihn leicht an der Schulter. »Interessiert mich nicht«, brummelte er und drehte den Kopf zur Seite. »Es macht aber Spaß zuzuschauen«, fand ich. »Sie sind jetzt direkt am Wasser«, gab ich bekannt und hielt mir die Tube Sonnencreme wie ein Mikrofon vor die Lippen. »Leute, seht euch an, was hier passiert. Das Ziel rückt näher und die beiden Mädchen formieren sich jetzt, um Seite an Seite je ihren dicken Zeh ins Wasser zu stecken. Natürlich sind die Zehennägel rot lackiert. Aber was ist das? Merrye spritzt Melanie mit Wasser voll. Melanie kreischt und springt ein paar Schritte zurück, dann taucht sie unter, rächt sich mit einer Ladung Wasser, die sie über Merryes Rücken ausgießt. Nun ist es an Meerye, möglichst laut zu kreischen und davonzulaufen. Und sieh
da! Mit einem Satz stellt sich unser Super-Boy dem jungen Mädchen in den Weg. Was ist jetzt passiert? Merrye, unser Goldmädel, ist ihm auf die Füße getreten. Super-Boy hüpft auf und ab. Sie hüpft ebenfalls. Hat sie sich vielleicht das hübsche Füßchen verstaucht? Super-Boy Nummer zwei eilt zur Rettung herbei. Legt den Arm um ihre Schultern. Melanie und Super-Boy Nummer eins hopsen ebenfalls herbei. Ein großes Hüpfen findet hier statt. Dieses Spiel wird offensichtlich hüpfend entschieden, meine Damen und Herren. Es folgt ein Werbespot.« Damit hielt ich mein >Mikrofon< unter Buddys Nase und er gab ein paar >Schnarcher< von sich. »Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie können heute nacht ruhig schlafen, denn – ach, du lieber Himmel!« »Was ist los?« fragte Buddy, der sich aufgesetzt hatte und sich die Augen rieb. Aber Pete, der Koch, und Traci waren schon so nahe, daß ich nicht mehr mit dem Finger auf sie zeigen konnte, ohne selber aufzufallen. Doch Buddy machte die beiden auch ohne meine Hilfe aus. Pete und Traci waren nur wenige Meter von den Dall-meyer-Zwillingen und ihren Begleitern entfernt. Traci hatte ihre Haare hochgesteckt, silberne Ohrringe baumelten auf ihre Schultern. Jeder Bikini verblaßte gegen ihren atemberaubenden schwarzen Einteiler, der Einblicke freigab, wo man sie nie vermutet hätte. Sie hielt Pete um die Taille gefaßt, während seine Hand ungeniert über ihren Hintern glitt. Er trug seine üblichen Jeans, T-Shirt und eine Sonnenbrille. Seine Füße waren nackt. Wie ein Gockel stolzierte er daher. Kein Wunder: Traci sah in diesem Aufzug phantastisch aus und sie gehörte ihm allein. Alle sollten das sehen und vor Neid erblassen! Was Traci fühlte, war nicht so einfach zu erkennen. Ein gewisses Vergnügen, bestimmt, aber auch Verlegenheit. Immer wieder zupfte sie ihren gewagten Badeanzug zurecht. Wie zufällig lenkte Pete seine und Tracis Schritte in unsere unmittelbare Nähe. Dann blieb er stehen, paffte an seiner Zigarette, schnippte die Kippe ins Wasser und zog Traci noch näher an sich heran. Engumschlungen gingen sie den Weg zurück. Ich war mir ziemlich sicher, daß sie uns gesehen hatten, gerade weil sie sich so angestrengt bemühten, nicht zu uns hinzuschauen. »Was machen die beiden denn hier?« wunderte ich mich. Winter-Menschen benutzen diesen Strand doch niemals.« »Vielleicht haben sie sich verlaufen«, meinte Buddy schulterzuckend. »Red keinen Unsinn. Man muß ein paar Kilometer fahren, um von drüben hierher zu kommen. Das kann man nicht zu Fuß machen. Was das wohl wieder zu bedeuten hatte?« »Warum zum Teufel kümmert dich das?« zischte Buddy mich an. »Ich bin eben neugierig«, gab ich zu. »Neugier hat schon Stärkere umgebracht«, meinte Buddy ungerührt. Der Sturm, der sich vor der Küste zusammengebraut hatte, traf uns mit voller Wucht am Donnerstag. Es war ein ausgewachsener >Nord-Wester<, wie Ma zu sagen pflegte, der für mindestens drei Tage und Nächte anhaltende Regenfälle versprach. Im Jolly Mackerei herrschte Hochbetrieb, denn was sollten die Menschen unter diesen Umständen anders tun als essen und Kaffee trinken? Fischen war bei dem hohen Seegang unmöglich, Schwimmen und Sonnenbaden ebenso. Lisa berichtete, daß sie sich bei Fanette's auch um die eigene Achse drehen mußte. Kleiderkaufen schien ein gutes Trostpflaster gegen schlechtes Wetter zu sein. Zum erstenmal erlebte ich sie erschöpft und genervt. Als zu allem Überfluß am Donnerstag nachmittag auch noch ihr alter Wagen den Dienst verweigerte, explodierte sie. Ich wurde Zeuge, wie sie die Kotflügel ihres Autos immer wieder mit Fußtritten traktierte und dabei eine Flut unzweideutiger Flüche ausstieß. Über ihr Gesicht liefen kleine Bäche aus Regentropfen, Tränen und Wimperntusche. Ihr Haar klebte klatschnaß an ihrem Kopf. »Zwei Monate! Ach, nicht einmal! Sechs lausige Wöchelchen, das ist alles, was ich von dir verlangt habe!« brüllte sie den Wagen an. Aber das war wohl zuviel verlangt, wie? Den Gefallen tust du mir einfach nicht!« Mit der Faust hieb sie bei jedem Satz auf das Wagendach ein. »He. Reg dich nicht auf!« versuchte ich sie zu beruhigen und lief zu ihr. Ich packte sie bei den Schultern und zog sie ein paar Schritte weg, aus Angst, entweder -sie oder das Auto könnten durch ihren Wutausbruch zu Schaden kommen. »Es springt bestimmt wieder an. Mit einer kleinen Reparatur ist das wieder hinzukriegen.« Im Film lehnen sich in solchen Fällen die Mädchen immer schluchzend an die Schulter des jungen Mannes und beruhigen sich nach einer Weile. Nicht so Lisa. Mit Händen und Füßen befreite sie sich aus meiner >Umarmung< und starrte mich wütend an. Ich trat einen Schritt zurück, weil ich fürchtete, ihr nächster Faustschlag könnte in meinem Gesicht landen. »Eine kleine Reparatur, ha!« höhnte sie. »So kannst du das vielleicht sehen. Für mich ist es bares Geld, und zwar eine Menge Geld. Erst einmal das Geld, das die Reparatur kostet. Dann das Geld, das ich heute nicht verdiene, weil ich nicht mehr rechtzeitig zu Fanette's komme. Und ich habe nun mal nicht soviel Geld, daß ich mir solche Ausfälle leisten kann!« Noch einmal trat sie heftig nach dem Wagen. Wie hielten ihre Füße, die nur in leichten Turnschuhen steckten, das nur aus? Sie gab nicht den winzigsten Schmerzenslaut von sich. Statt dessen wandte sie sich erneut an mich. »Sag mal, verstehst du irgend etwas von Autos?« fragte sie mich mit tropfender Nase. »Leider nicht«, mußte ich beschämt zugeben. »Allerdings ist mir bekannt, daß Autos innendrin trocken sind.
Deshalb mein Vorschlag: Du kommst mit mir. Ich fahre dich zu Fanette's. Über deine Schrottkarre regen wir uns ein andermal auf. Einverstanden?« Lisa dachte einige Zeit über meinen Vorschlag nach. Das machte nun auch nichts mehr, denn wir waren beide inzwischen bis auf die Haut naß. Nasser ging es einfach nicht mehr. Während sie vor sich hinstarrte und überlegte, zwang ich mich, nicht ständig auf ihr nasses T-Shirt unter dem offenen Regenmantel zu starren. Bei einem Wettbewerb um nasse T-Shirts hätte sie zweifelsfrei jede Konkurrentin geschlagen. »Du mußt mich aber erst nach Hause fahren«, erklärte sie schließlich. »Ich kann unmöglich so bei Fanette's erscheinen. Ich brauche ein paar Minuten, um mich wieder frisch zu machen, und ...« »Kein Problem«, versicherte ich schnell und versuchte, meine ausschweifenden Gedanken zu verdrängen. Einfach war das nicht! »Gut«, sagte Lisa und lächelte wieder. »Ich bin dir sehr dankbar für das Angebot.« Als wir zu meinem Wagen eilten, erschien Pete in der Hintertür, um eine Zigarettenpause einzulegen. »Hallo, Lisa. Was ist los?« rief er uns zu. »Mein Wagen springt nicht an«, rief sie zurück. »Kann dieses Sommer-Jüngelchen ihn nicht in Ordnung bringen?« »Mensch, hack nicht dauernd auf ihm herum«, wies Lisa ihn zurecht. »Er hilft mir ja schon. Er fährt mich zu Fanette's.« »Was für ein guter Mensch!« spottete Pete grinsend. Dann ging er, auf die bekannte Westernheldenart, langsam und großspurig die Treppe hinunter, seine Zigarette hielt er in der hohlen Hand. »Gib mir mal die Schlüssel!« forderte er Lisa auf. Sie warf ihm den Autoschlüssel zu. Er kletterte in den Wagen und versuchte, ihn zu starten – vergeblich. Daraufhin öffnete er die Motorhaube und prüfte die Lage. Hier und da stocherte er ein bißchen herum. »Es ist die Batterie«, gab er schließlich bekannt. »Sommer-Jüngelchen, du hast doch sicher ein paar Starthilfekabel?« »Leider nein.« »Außerdem hat er einen Namen«, stellte Lisa fest. »Er heißt Michael Paeglis.« »Stimmt«, bemerkte Pete und machte sich weiter unter der Motorhaube zu schaffen. »Merkwürdiger Name, Paeglis. Wo kommt der her?« »Aus Lettland. Mein Vater stammt von dort.« »Nie gehört«, brummte Pete. »Das ist einer von den drei Balkanstaaten«, erläuterte ich. Eine Mühe, die ich mir genausogut hätte sparen können. Heute gehören sie zur Sowjetunion, wollte ich noch hinzufügen, biß mir aber rechtzeitig auf die Zunge. Mit Sicherheit hätte er mich als nächstes einen Kommunisten geschimpft. Dabei sind meine Großeltern quer durch Europa vor dem Kommunismus geflüchtet, als mein Vater gerade drei Jahre alt war. Nein, ich mußte Pete nicht noch mehr Trümpfe gegen mich in die Hand spielen! »Interessant«, war sein letzter Kommentar zur Sache. Dann schlug er die Motorhaube zu. »Ich werde mich um den Wagen kümmern, und du kannst sie jetzt zur Arbeit fahren, Sommer-Jüngelchen«, entschied er kurzerhand. Ich blickte Lisa an. Sie nickte zustimmend. »Danke, Pete«, sagte sie, worauf er knapp salutierte und ihr mit einem Auge zuzwinkerte. »Du vertraust ihm dein Auto an?« wunderte ich mich, als wir endlich nebeneinander in meinem Wagen saßen. »Pete ist in Ordnung«, war alles, was sie dazu sagte. Dann fing sie an, mir den Weg zu beschreiben, doch ich erinnerte sie daran, daß ich ihn schon kannte. Schließlich hatten Buddy und ich sie einmal bis nach Hause verfolgt. Darüber konnte sie inzwischen sogar lachen, so daß wir in bester Laune bei ihr zu Hause ankamen. Sie bat mich jedoch nicht, mit hinaufzukommen. »Es wird nicht lange dauern«, versprach sie und ließ mich allein in meinem Wagen zurück. Die feuchte Schwüle, die im Wagen herrschte, war nahezu unerträglich. Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ frische Luft herein. Dann schaltete ich das Radio ein und verbrachte die Wartezeit damit, die Hitparade der Woche zu verfolgen. Wir waren gerade bei Nummer fünf der Top Ten angekommen, als mir eine einsame Gestalt in einem gelben Regencape mit Kapuze auffiel, die, schwer beladen mit zwei großen Einkaufstüten, tapfer gegen den peitschenden Regen ankämpfte. Als sie näher kam, erkannte ich sie an ihren Ponyfransen, die unter der Kapuze hervorhingen: Es war Traci. Der Regen spülte mir offensichtlich eine hilfsbedürftige junge Dame nach der anderen vor die Füße. Wieder einmal eilte ich zur Rettung herbei. »Traci!« rief ich, während ich in meinen nassen Klamotten, die mir am Körper klebten, aus dem Wagen sprang. »Hast du es noch weit? Komm, ich helfe dir tragen.« Erleichtert ließ sie eine der Tüten in meine Arme fallen. Sie war tatsächlich ungeheuer schwer. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht.« keuchte sie atemlos. »Ich wohne da gegenüber«, erklärte sie und zeigte auf das Haus direkt neben Lisas Wohnung. »Oh, vielen Dank. Ich dachte schon, daß ich es nicht mehr bis zur Haustür schaffe. Und auf der nassen Erde kann man diese Tüten ja nicht abstellen. Es tut mir leid, daß ich ausgerechnet dich damit behelligen muß.« »Das macht doch nichts«, versicherte ich ihr und brachte die Tüten so gut es ging vor der Haustür in Sicherheit,
während Traci in ihren Taschen nach dem Wohnungsschlüssel kramte. Es war gar nicht so einfach mit unseren klammen Fingern, mit den durchweichten Tüten und den verschiedenen Schlüsseln endlich zurande zu kommen. Aber wir hatten eine Menge Spaß dabei, so daß wir kaum bemerkten, wie vor der Haustür ein Wagen bremste. Doch aus der Art, wie der Fahrer die Tür zuknallte, konnten wir schließen, um wen es sich handelte: Pete bewegte sich über den matschigen Rasen mit federnden Schritten auf uns zu. Der Kerl war offensichtlich überall. »Pete!« schrie Traci entsetzt mit schreckgeweiteten Augen. Eine ziemlich ungewöhnliche Reaktion, wenn man seinen Freund trifft, fand ich. Aber auch seine Miene ließ das Schlimmste befürchten. »Pete, das ist Lisas Freund Michael«, beeilte sich Traci zu erklären. »Wir kennen uns bereits«, bemerkte Pete trocken. Er stand auf der untersten Treppenstufe und fixierte mich drohend, als erwarte er von mir auf der Stelle eine Erklärung. Was hatte ich vor Tracis Haustür zu suchen? Offensichtlich hatte auch er das Gefühl, daß ich überall da auftauchte, wo er mich nicht haben wollte. »Lisa und ich sind eigentlich nicht miteinander befreundet«, stellte ich richtig. Durch Petes starren Blick eingeschüchtert, wandte ich mich mit meinen weiteren Ausführungen an Traci. »Freunde würde ich uns nicht nennen«, wiederholte ich. »Wir sind Kollegen. Genau wie Pete und ich. Oder Lisa und Pete. Wir arbeiten im selben Lokal. Ihr Auto ist nicht angesprungen, also habe ich sie hierhergefahren und warte, bis sie sich umgezogen hat, damit ich sie zu Fanette's bringen kann. Ihr wißt bestimmt, daß sie da auch arbeitet. Lisa hat nämlich zwei Jobs. Jedenfalls, als ich hier wartete, sah ich, wie du deine Tüten durch den Regen schlepptest, und da habe ich – na ja, also, jetzt stehen wir wenigstens hier, wie jeder sehen kann.« Ich hätte noch endlos so weiterreden können, in der Hoffnung, daß Pete mir irgendwann den Weg freigab, aber zum Glück erschien Lisa in ihrer Tür. Diesmal rettete sie mich. Mit einem Blick hatte sie die brenzlige Lage erfaßt. Sie spannte ihren Regenschirm auf, lief zu meinem Wagen und winkte uns zu. »Hallo, Pete, was macht mein Auto? Hallo, Traci. Los, Michael, wir müssen. Ich bin spät dran.« Tatsächlich gab Pete nun den Weg frei. Erleichtert drückte ich ihm die beiden Einkaufstüten in die Hände und rannte hinter Lisa her. Da ich das Wagenfenster aufgelassen hatte, war der Fahrersitz völlig durchnäßt, aber ich kümmerte mich nicht darum, sondern ließ sofort den Motor an. Wie der böse Geist aus einem Alptraum erschien, kurz bevor ich losfahren wollte, Petes Gesicht im Fenster der Beifahrertür. »Dein Auto fährt wieder«, teilte er Lisa mit. »Ich bin vorbeigekommen, um dir das zu sagen. Mr. MacElroy bringt es dir irgendwann vorbei.« »Tausend Dank, Pete«, sagte Lisa und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, mit dem sie sonst so sehr geizte. Ich wollte losfahren. Aber im Rückspiegel konnte ich beobachten, wie Pete sich mit dem einen Arm die Einkaufstüten und mit dem anderen Traci schnappte und sie grob vor sich her stieß, so daß sie wenig später mit dem Kopf voll an die Haustür schlug. Mit der einen freien Hand, die sie noch hatte, versuchte sie sich zu schützen. Unsanft bugsierte Pete sie in den Hausflur. Ich wollte es einfach nicht glauben. Wie konnte er nur so brutal zu ihr sein? Warum ging ein kräftiger, großer Kerl mit einem Mädchen, das nicht mehr als die Hälfte von ihm wog, so um? Was mußte er beweisen? Wem mußte er etwas beweisen? Lisa tat so, als hätte sie nichts gesehen. Sie blickte stur geradeaus. »Fahr endlich los«, bat sie mich. »Soll ich das wirklich? Und was wird aus Traci«, fragte ich. »Für Traci ist es auf jeden Fall besser, wenn du von der Bildfläche verschwindest«, stellte Lisa unmißverständlich fest. »Ist das nicht verrückt?« fragte ich Lisa. »Es kommt mir vor, als hätte ich mein Leben riskiert, nur weil ich Traci geholfen habe, ihre Tüten zu schleppen.« »Wahrscheinlich ist es realistisch«, bemerkte Lisa, die immer noch angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte, obwohl es vor uns nichts Besonderes zu sehen gab. Der Duft ihres Parfüms erfüllte den Innenraum des Wagens mit einem süßen Aroma und vertrieb den stickigen Geruch, der von den feuchten Polstern ausging. »Ist das alles? Mehr hast du nicht dazu zu sagen?« wunderte ich mich. »Was soll ich sonst noch sagen?« »Findest du nicht, daß mir langsam eine Erklärung zusteht. Ich meine, was hat dieser Junge gegen mich? Ständig kommt er mir in die Quere. Er macht sich lustig über meine Arbeit, er sitzt im Sweet Polly's und starrt mich an, und vor kurzem flanierte er am Strand entlang und präsentierte mir Traci wie eine Trophäe. Und jetzt spuckt er Gift und Galle, weil ich Traci zwei Tüten mit Lebensmitteln bis zur Haustür getragen habe. Was soll das alles?« »Pete ... hat eben Komplexe«, gab Lisa zu bedenken. »Komplexe? So ein kräftiger Kerl? Das ist doch Unsinn. Wahrscheinlich leidet er unter Verfolgungswahn. Aber Minderwertigkeitsgefühle! Lächerlich!« Lisa seufzte, sagte aber nichts. Schweigend fuhren wir die Uferstraße entlang; ich hatte das Tempo gedrosselt, weil ich sehr schlechte Sicht hatte. »Willst du wirklich wissen, was mit Pete los ist?« fragte Lisa nach einer Weile. »Dann verrate ich dir, was ich weiß. Also: Er schloß gerade die High School ab, als ich anfing. Das heißt, er muß mindestens einundzwanzig,
vielleicht zweiundzwanzig sein.« »Bist du erst achtzehn?« unterbrach ich sie überrascht. »Ich hätte dich für älter gehalten. Du gehörst doch schon zu den Seniors.« »Aber noch nicht lange. Im Januar werde ich neunzehn. Warum? Wie alt bist du denn?« »Na ja, erst siebzehn«, bekannte ich schüchtern. Auf dieses Alter war ich bis vor kurzem noch richtig stolz gewesen. »Hm. Ich hätte dich jünger geschätzt«, stellte Lisa schmunzelnd fest. »Wieso jünger? Jünger als wer?« ereiferte ich mich und vergaß darüber, daß ich eigentlich etwas über Pete wissen wollte. »Ach was, ich habe nur einen Scherz gemacht«, beruhigte mich Lisa. »Im November werde ich achtzehn«, fügte ich hinzu und kam mir plötzlich vor wie ein sechsjähriger Junge, der darauf besteht, daß er in Wirklichkeit sechs Jahre und drei Monate ist. Es wurde höchste Zeit, das Thema fallenzulassen und zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Pete. »Er war kein schlechter Schüler, aber er hat sich auch nie besonders anstrengen zu brauchen, um gute Noten zu bekommen. Er hatte bei allen Lehrern einen dicken Stein im Brett, weil er der beste Football-Spieler war, den es in dieser Stadt je gegeben hat. Wenn in irgendeiner Zeitung eine >Traummannschaft< aufgestellt wurde, war er sicher dabei. Sogar in der Sport-Illustrierten wurde er erwähnt. Von diesem Mann wird man noch hören, hieß es. Bei seinem letzten Spiel wurde er gefeiert wie ein Held. Die Cheerleader schrien sich die Kehlen heiser, eine Musikkapelle spielte zu seinen Ehren, und die Zuschauer froren sich den Hintern ab, nur um ihn noch einmal zu sehen. Anschließend wurde seine Spielernummer aus dem Verkehr gezogen und nie mehr vergeben. Das war eine Sensation. Sein Trikot stand bis zum Ende des Jahres in einer Glasvitrine im Rathaus. Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl riechen mochte, als sie es schließlich herausnahmen.« »Du scheinst nicht gerade ein Fan von ihm zu sein?« bemerkte ich. »Ach, ich mag Pete irgendwie. Man muß ihn einfach mögen, weil er so ein Bild des Jammers ist.« »Wie bitte?« rief ich ungläubig. »Reden wir eigentlich über denselben Menschen? Ich meine diesen großen, gutaussehenden flotten Typen mit der Seele eines wildgewordenen Neandertalers.« »Schön und gut, aber er war immer nur ein erstklassiger Foot-ball-Spieler, sonst nichts. Was soll noch aus ihm werden? Er kann sonst nichts. Wenn das kein Grund ist, Mitleid zu empfinden –« »Und auf dem College?« »Da war es schnell vorbei mit seinem Glanz. Er ging mit Vorschußlorbeeren hin, aber er verließ das College in State schon nach einem Semester.« »Warum?« »Ich weiß es nicht genau«, sagte Lisa. »Man vermutet finanzielle Gründe, aber das kann nicht stimmen, denn er hatte viele Angebote für Stipendien. Außerdem verdienen seine Eltern nicht schlecht. Gut, sein Vater trinkt ein bißchen viel, aber das ist hier nicht ungewöhnlich. Die Winterabende sind lang und langweilig.« »Und jetzt muß Pete beim Jolly Mackerei Fische braten, außer wenn er auch gerade betrunken ist«, bemerkte ich spöttisch. »Tja. Dabei hat er übrigens Traci kennengelernt.« »Und warum ist Traci nicht mehr bei uns?« »Pete konnte es nicht ertragen, wie diese Müßiggänger am Ecktisch sie dauernd anmachten.« »Aber die sind doch letztlich harmlos!« wandte ich ein. »Sind sie auch. Uns beiden ist das klar. Aber das Problem stellt sich für Traci bei jedem Job«, offenbarte Lisa. »Der Junge tickt ja wohl nicht richtig«, ereiferte ich mich. Wir waren inzwischen bei Fanette's angekommen. Lisa öffnete die Wagentür und spannte ihren Regenschirm auf. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie. Und dann, nach einer kleine Pause: »Wenn ich dir was raten darf, Michael, dann würde ich an deiner Stelle in der nächsten Zeit auf den Eisbecher bei Sweet Polly's verzichten.« Damit verschwand sie im Fanette's. Am Wochenende hatte sich der Sturm verzogen, wohin auch immer. Nun lastete eine brütende Hitze über der Stadt. Die Luft knisterte förmlich vor Trockenheit. Der Betrieb imjolly Mackerei normalisierte sich wieder. Lisas Auto fuhr wieder, und ihr Plan, nach New York zu gehen, hatte sich inzwischen allgemein herumgesprochen. Mr. MacElroy verriet, daß er schon davon gewußt hatte, als er sie vor vier Jahren einstellte, und daß er für Lisa eine kleine Reserve zurückgelegt hätte, für den Fall, daß >unvorhergesehene Ausgaben< auf sie zukämen. Auf diese Weise bedankte er sich für ihre hervorragende Mitarbeit. Pete erschien über einen längeren Zeitraum nicht zur Arbeit. Wieder einmal beschränkte sich Mr. MacElroy auf seinen >So-was-kommt-vor<-Kommentar, stellte aber einen Ersatzkoch ein, der früher bei der Marine beschäftigt gewesen war und der während der Arbeit ununterbrochen wüste Seemannslieder grölte. Zu meiner Freude fühlte ich mich seit dem Tag, da ich Lisa aus ihrer Verlegenheit geholfen hatte, vom Rest der Mannschaft endlich akzeptiert. Als >Retter von Lisa< stieg ich in der Achtung aller Mitarbeiter ein gutes Stück auf. Auch wenn alle über Lisas nahen Abschied traurig waren, so nahmen sie doch regen Anteil an ihren
Zukunftsplänen und diskutierten ihre Karrierechancen. In dieser angenehmen Atmosphäre, zu der vielleicht auch Petes Abwesenheit beitrug, ging mir die Arbeit während der folgenden Tage flott von der Hand. Endlich durfte ich nicht nur den Boden wischen und aufräumen, sondern auch mitlachen und mitreden. Einzig Lisa spielte nicht mit. Die Tatsache, daß sie so oft Gegenstand des Gesprächs war, schien ihr sehr unangenehm zu sein. Jedesmal, wenn von ihr die Rede war, ging sie nach draußen oder sie saß stumm mit am Tisch und antwortete widerwillig, wenn sie etwas gefragt wurde. Von meinem Angebot, ihr jederzeit als >Chauffeur< zur Verfügung zu stehen, machte sie keinen Gebrauch, bedankte sich aber höflich. Offensichtlich achtete sie weiterhin auf Distanz. Am Samstag abend kam Buddy bei uns zu Hause vorbei und schlug vor, daß wir entweder ins Kino gehen oder bei Sweet Polly's ein Eis essen sollten. »Ich gehe nicht mehr zu Sweet Polly's«, offenbarte ich. Buddy verschlug es die Sprache, als er das hörte. Ma blickte mich fragend über den Rand ihre Zeitung an, und Pop legte sein Kreuzworträtsel aus der Hand. »Was hast du an Sweet Polly 's auszusetzen?« wollte er wissen. »Oh, gar nichts«, versicherte ich. »Ich kann nur kein Eis mehr sehen. Außerdem habe ich gehört, daß an der Hauptstraße ein neues Kino aufgemacht hat. Das sollte man mal testen. Kann ich mal den Teil mit dem Kinoprogramm haben?« bat ich Pop, der sofort in dem Stapel Zeitungsblätter zu seinen Füßen herumkramte. Ma dagegen blickte mich immer noch ungläubig an. Sie wußte nur zu gut, daß ich von Eis nie genug bekommen konnte. Schuldbewußt versteckte ich meinen hochroten Kopf hinter der Zeitung, um gleich darauf in Begeisterungsschreie auszu-brechen. »Mensch! Indiana Jones läuft. In einer halben Stunde beginnt die nächste Vorstellung!« rief ich und tat furchtbar aufgeregt. »Los, Buddy, wir müssen uns beeilen!« »Wenn wir mein Auto nehmen, können wir es noch schaffen«, sagte Buddy mit einem verwunderten Seitenblick auf mich. »Fahrt vorsichtig!« ermahnte uns Pop. Ich war schon an der Haustür. »Nacht, Ma; gute Nacht, Pop«, verabschiedete ich mich hastig. »Ihr braucht nicht auf mich zu warten!« Ich schubste Buddy förmlich aus der Tür und zog sie ins Schloß, erleichtert, keine weiteren Fragen beantworten zu müssen. Wenigstens nicht von Seiten meiner Eltern. Aber ich hatte Buddy vergessen! »Indiana Jones haben wir schon dreimal gesehen«, erinnerte er mich, als wir zu seinem Wagen gingen. »Und wie du weißt, brauche ich nun mal samstags abends meinen Eisbecher. Was soll das Theater?« Ich wartete, bis wir in Buddys Porsche saßen, dann erzählte ich ihm von Lisas Ratschlag, Sweet Polly's zu meiden. »Das ist doch Unsinn«, fand Buddy. »Der Kerl hat dich einmal scharf angeschaut, und schon denkst du, er trachtet dir nach dem Leben. Deine Phantasie schießt ins Kraut, Michael. Du solltest nicht so viele Romane lesen, wirklich. Versuch es doch mal mit Telespielen!« »Konzentrier dich aufs Fahren, und spar dir deine Predigten«, erwiderte ich lachend. »Ich will nun mal nicht so sein wie du, auch in zehn Jahren nicht.« »Pech für dich«, stellte Buddy trocken fest. Nichts kann mein Herz so zum Pochen bringen wie ein spannender Abenteuerfilm. Ich genieße dieses Prickeln. Beim Abspann war ich so atemlos wie ein Marathonläufer und hätte noch alles mögliche unternehmen können, aber die Tatsache, daß mein Wecker am nächsten Morgen um fünf klingeln würde, setzte meiner Unternehmungslust natürliche Grenzen. Zu Hause angekommen, trank ich ein Glas warme Milch in der Hoffnung, davon wieder ruhig zu werden. Ich setzte gerade zum letzten Schluck an, als das Telefon klingelte. Schnell hob ich den Hörer ab, damit Ma und Pop nicht wach würden. Was Buddy wohl um diese Zeit noch von mir wollte? »Michael? Du mußt unbedingt herkommen. Sofort!« Das war nicht Buddy, es war Lisa. »Was ist passiert, Bist du in Ordnung?« erkundigte ich mich. »Mir geht's gut. Aber Traci ist verletzt. Wir müssen sie dringend zu einem Arzt bringen, aber mein Auto springt wieder mal nicht an. Kannst du uns helfen?« Im Hintergrund hörte ich jemanden schwach protestieren. »Das war Traci«, erklärte Lisa. »Sie will nicht, daß du in die Sache reingezogen wirst, aber diesmal mache ich, was ich für richtig halte.« »Diesmal?« wunderte ich mich. »Hör zu, Michael. Traci blutet stark aus der Nase. Wir können die Blutung nicht stoppen. Also muß ein Arzt ran. Kommst du nun her oder nicht?« »Bin schon unterwegs!« rief ich in den Hörer. Als ich mich umdrehte, standen Pop und Ma in der Küchentür. Sie hatten sich beide einen Bademantel übergeworfen und blickten mich besorgt an.
»Ist etwas passiert?« wollte Ma wissen. »Ein Unfall?« fragte Pop. »Nein, nein«, beruhigte ich sie schnell. »Eine Bekannte hat mich angerufen, weil ihre Freundin sich irgendwie an der Nase verletzt hat. Ich soll sie zum Arzt fahren.« Ich eilte zur Tür. Pop und Ma liefen hinter mir her und löcherten mich mit ihren Fragen. »Wieso gerade du?« – »Woher kennst du das Mädchen?« - »Was ist das für eine Verletzung, wo stammt sie her?« - »Zu welchem Arzt willst du denn mitten in der Nacht?« und so weiter. Ich speiste sie mit Antworten ab, die keine waren. »Ich weiß nicht. Kann ich nicht sagen. Morgen erfahrt ihr mehr. Macht euch keine Sorgen. Tschüß.« Damit war ich aus dem Haus. Ich fuhr so schnell ich konnte. Als ich an Lisas Haustür klopfte, pochte mein Herz wie wild, vielleicht noch eine Spätfolge des Films von vorhin. Lisas Gesicht erschien hinter der Gardine. Sie wollte erst sichergehen, bevor sie mir öffnete. Was ich dann drinnen sah, brachte mich wirklich aus dem Gleichgewicht: Mir wurde schwindelig. Traci saß auf dem Sofa. Das Tuch, das sie gegen ihre Nase drückte, war blutdurchtränkt. Neben ihr stand eine fürchterlich dicke Frau. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keinen so dicken Menschen gesehen. Lisa sparte sich die Begrüßungsfloskeln. »Weißt du einen Arzt?« fragte sie mich statt dessen. »Wieso kennt ihr denn keinen? Ihr lebt doch hier.« »Sie will nicht, daß ich sie zu einem Arzt bringe, der sie kennt. Die Sache soll möglichst nicht bekannt werden! Deshalb habe ich dich angerufen.« »Warum?« fragte ich verwirrt. Ich konnte mich über den Anblick dieser fetten Frau und Tracis blutender Nase immer noch nicht beruhigen. »Warum, warum!« äffte Lisa mich nach. »Mußt du immer so viele Fragen stellen, Michael? Ist nicht unter euren Freunden jemand – « Die Dallmeyer-Zwillinge fielen mir ein. Ihr Vater war Arzt. Aber ich hatte Bedenken, die ich auch äußerte. Erstens war es spät in der Nacht und zweitens galt Dr. Dalimeyer als nicht sehr freundlich, wenn man ihn aus dem Bett klingelte. »Bring uns trotzdem hin«, entschied Lisa und half Traci, vom Sofa hochzukommen. »Kann länger dauern, Mom«, sagte Traci zu der dicken Frau. »Geh solange zu Tante Jeannie. Wir sprechen uns morgen.« Das also war Tracis Mutter. Ich konnte es einfach nicht glauben und starrte sie verwundert an. Die dicke Frau mußte ahnen, was in meinem Kopf vorging, den sie drehte mir plötzlich den Rücken zu. »Eigentlich können wir nicht so einfach bei Dr. Dallmeyer klingeln«, gab ich zu bedenken, während wir durch die nächtlichen Straßen fuhren. »Ich kenne ihn nämlich gar nicht richtig. Ich weiß nur, daß er furchtbar streng ist. Einmal hat er seine Töchter mit Hausarrest bestraft, weil sie seiner Meinung nach zu laut gelacht hatten. Als er entdeckte, daß Melanie heimlich rauchte, mußte sie zur Strafe eine Woche lang ohne Make-up zur Schule gehen. Sie hat sich natürlich heimlich in der Toilette geschminkt. Aber stellt euch das vor!« »Hier handelt es sich um einen Notfall«, bemerkte Lisa. »Red also nicht soviel, sondern bring uns lieber hin.« »Schon gut, schon gut.« Ich war noch nicht oft bei den Zwillingen zu Hause gewesen. Aber jedesmal, wenn ich sie besuchte, mußte ich feststellen, daß sie zu Hause nicht wiederzuerkennen waren. Statt der gewohnten Lebhaftigkeit und guten Laune wirkten Melanie und Merrye in Gegenwart ihres Vaters ängstlich und eingeschüchtert und waren ungewöhnlich still. Mrs. Dallmeyer dagegen wirkt immer ängstlich, zu Hause und in der Öffentlichkeit. Dr. Dallmeyer öffnete die Tür persönlich. Er stand in Schlafanzug und Pantoffeln da, und ich befürchtete schon das schlimmste Donnerwetter. Doch kaum hatte er Traci gesehen, bat er uns sofort nach drinnen. Ziemlich unsanft forderte er Traci auf, in einem Sessel Platz zu nehmen, dann holte er seinen Notfallkoffer hervor. Unter dem Licht einer schwenkbaren Leselampe untersuchte er Tracis Verletzung. An der Treppe standen die Zwillinge und ihre Mutter; sie nickten uns zu, verhielten sich aber ansonsten mucksmäuschenstill. »Wie ist das denn passiert?« wollte er wissen. »Beim Abtauen des Kühlschranks«, erklärte Lisa. »Sie hat sich hingekniet, um ihn sauberzumachen. Beim Aufstehen hat sie nicht aufgepaßt und ist mit der Nase an die Türkante gestoßen.« »Sie hat mitten in der Nacht den Kühlschrank abgetaut?« wunderte sich Melanie. »Nun ja, tagsüber muß sie nun mal arbeiten«, erläuterte Lisa. Die Zwillinge warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, sagten aber nichts mehr. Dr. Dallmeyer verrichtete seine Arbeit schweigend. Er tamponierte Tracis Nase mit Unmengen von Gazestreifen aus und versorgte die Hautwunde. Erst dann fragte er noch einmal, diesmal direkt an Traci gewandt: »Wer hat Ihnen das angetan?« In Tracis blutunterlaufenen Augen war außer Schmerz nutt auch Wut zu erkennen. »Die Tür. Die Kühlschranktür«, wieder holte sie unwillig.
»Das war keine Tür«, befand Dr. Dallmeyer. »Da müßten Sie schon mehrmals hintereinander dagegen gerannt sein. Ich sehe solche Sachen oft genug, und es steht mir bis hier oben, verstehen Sie. Also: Wer war es?« Ich überlegte fieberhaft, was er meinte. Wovon hatte er genug gesehen? Von kaputten Nasen etwa? Hier? Oder in Maple Grove?« Traci blickte Lisa ratlos an. Doch bevor Lisa das Wort ergreifen konnte, war Traci aufgesprungen und stellte sich so neben Dr. Dallmeyer, daß sie seinem prüfenden Blick nicht mehr standhalten mußte. »Ich bedauere, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten mußte. Leider habe ich mein Portemonnaie nicht dabei, aber ich komme morgen früh und bezahle, was ich Ihnen schuldig bin.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erklärte ihr Dr. Dallmeyer. »Mir geht es in erster Linie um etwas anderes. Sie sind dabei, sich sehr unglücklich zu machen –« »Ich bedaure«, sagte Traci noch einmal und entwischte durch die Tür, Lisa im Gefolge. Dr. Dallmeyer packte mich am Arm. »Wenn sie bereit ist, dagegen anzukämpfen, kann ich ihr behilflich sein. Zum Beispiel als Zeuge, wer immer dahintersteckt. Ich bringe ihn hinter Schloß und Riegel. Aber gegen eine Kühlschranktür bin ich machtlos.« »Ja, Sir«, sagte ich schuldbewußt, als würden die Schläge und die Lüge, mit der hier jemand gedeckt wurde, auf mein Konto gehen. Dr. Dallmeyer gab ein unzufriedenes Grunzen von sich, als er meinen Arm wieder losließ. In was war ich da eigentlich hineingeraten? mußte ich mich fragen, als ich sein Haus verließ. Wie ich wieder zu Lisa kam, weiß ich gar nicht mehr. Ich fuhr wie in Trance, während meine Gedanken um Dinge kreisten, die mich erschreckten. Ich wehrte mich gegen die Vorstellung, daß Pete Traci so brutal behandelte. Die Geschichte mit dem Kühlschrank wäre mir angenehmer gewesen. Aber die Tatsachen sprachen für sich. Er hatte sie zusammengeschlagen, und zwar rücksichtslos. Das war kein harmloses Gerangel von zwei übermütigen Jungen auf dem Schulhof. Er hatte sich an einem Mädchen vergriffen, das weder Lust hatte, noch in der Lage war, sich zu wehren. Und das nicht zum ersten Mal. Trotzdem blieb sie bei ihm. Warum? Warum beschützte sie ihn auch noch? »Alles klar, Michael?« fragte Lisa und beugte sich durch das geöffnete Seitenfenster über mich. »Warte einen Moment, ich bringe eben Traci ins Bett. Danach könnten wir zwei einen kleinen Spaziergang gebrauchen, was meinst du?« Auch Tracis kleine, schmale Hand kam nun durch das Fenster und drückte mir den Arm. Ich sah, daß ihre Fingernägel völlig abgekaut waren. »Dank dir, Michael«, sagte sie. »Das ist nun schon das zweite Mal, daß du mir geholfen hat. Vielen Dank.« Ich hätte gern noch so vieles gefragt, aber ich fühlte, daß ich kein Recht dazu hatte. Als ob sie dasselbe fühlte, drehte Traci sich rasch um und ging davon. begann, erschien mir ihre Stimme so nah, als käme sie aus mir selbst. »Eine Lehrerin hat mir mal gesagt, daß die Menschen im Leben nicht das bekommen, was sie verdienen, sondern immer das, wovon sie glauben, daß sie es verdient hätten«, erzählte sie. »Seitdem habe ich es mir zur Regel gemacht zu denken, daß ich immer das Beste verdient habe. Filet mignon. Drunter tu ich's nicht mehr.« »Was war das wohl für eine Lehrerin?« meinte ich kritisch. »Mrs. Janice Brewer. Sie wohnte hier im Block, und so kam es, daß wir manchmal gemeinsam zur Schule gegangen sind. Sie hatte eine Schwäche für meine Schwester und mich. Jeden Samstag fuhr sie mit uns nach Corley ins Museum und gab uns Kunstunterricht. Ihr kleiner Sohn lebte dort im Kinderheim.« »In dem Kinderheim?« fragte ich überrascht. »Ist das denn kein Waisenhaus?« »Nein. Es ist ein Spital.« »Das war mir nicht klar...« stammelte ich. Bei dem Gedanken an ein Krankenhaus für kleine Kinder wurde mir mulmig. »Die wenigstens Menschen wissen es«, sagte Lisa. »Schließlich haben sie ja auch kein Schild da aufgehängt >Heim fürsterbende Kinder<. Aber das ist die traurige Wirklichkeit. Der Kleine hatte Krebs und ist dort gestorben. Als die Diagnose feststand, hat sich der Vater aus dem Staub gemacht. Kannst du dir das vorstellen? Läßt seine Frau mit dem sterbenskranken Kind sitzen. Sie hat nie wieder von ihm gehört – bis zur Scheidung. Dieser Schweinehund!« Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte die Flucht dieses Mannes verstehen. Er ging dem Schmerz aus dem Weg, und das schien mir immer noch natürlicher als Tracis geduldiges Ausharren. Außerdem konnte ich mich gut in seine Hilflosigkeit einfühlen. »Für einen Vater ist es sicher schlimm, seinen kleinen Sohn leiden zu sehen und nichts dagegen tun zu können«, sagte ich. »Von der Seite habe ich es nie betrachtet«, gab Lisa zu. »Vielleicht hast du recht und es gibt tatsächlich Gründe, warum die Menschen solche Sachen machen. Aber ich mache mir nicht die Mühe, sie herauszufinden. Jedenfalls: Meine Schwester und ich haben Bilder gemalt und sie in Tonys Zimmer aufgehängt. Er war ganz verrückt danach. Ich glaube, sie hängen immer noch dort. Wir wollten sie nicht wiederhaben, wir dachten, daß die anderen Kinder
sich vielleicht auch darüber freuen würden. Wie hätte Tony sich über die Blumen und Süßigkeiten von Buddy gefreut! Seit der Sache mit Tony habe ich begriffen, wie wichtig jeder einzelne Tag ist, wieviel Kraft man aus jedem guten Tag ziehen kann und daß man seine Zeit nicht sinnlos verschwenden darf.« Lisa sprang von der kleinen Mauer, auf der wir gesessen hatten, und rannte zum Wasser. Ich folgte ihr langsam. Ich hätte zu gern tröstend meinen Arm um ihre Schultern gelegt, beherrschte mich aber, weil ich dachte, sie könnte etwas dagegen haben. »Ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzähle«, bekannte sie, ohne sich nach mir umzudrehen. Sie mußte gespürt haben, daß ich hinter ihr ging. »Normalerweise trage ich mein Herz nicht so auf der Zunge. Wenigstens nicht in der Öffentlichkeit.« »Öffentlichkeit, ich denke, wir sind Freunde.« Sie antwortete nicht, sondern zeichnete mit dem großen Zeh Figuren in den Sand. »Diese Mrs. Brewer hat dir also geholfen, deinen Beruf zu finden?« erkundigte ich mich. »Ja. Sie hat mich mit dem Fach Mode-Design vertraut gemacht und mich bei Fanette's eingeführt. Damals entwarf ich in ihrem Unterricht schon eigene Modelle. Einmal rief sie mich nach der Stunde zu sich; ich erwartete irgendeinen Tadel, aber statt dessen unterhielten wir uns ausführlich über Mode, Design und Kunst. Auch nachdem Tony gestorben war, fuhr sie weiter mit meiner Schwester und mir nach Corley ins Museum. Meine Eltern fanden das unsinnig, hielten es für Zeitverschwendung. An manchen Tagen konnte man Mrs. Brewer am Pier sitzen sehen, mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt, den Blick auf das Wasser gerichtet. Stundenlang saß sie so, immer an derselben Stelle, in derselben Haltung. Ich habe sie einmal danach gefragt und sie sagte nur, sie würde sich dann mit Tony unterhalten.« »Das ist alles so traurig.« »Das fand ich auch. Aber Mrs. Brewer war anderer Meinung. >Traurig wäre es, wenn ich ihn nie kennengelernt hätte<, sagte sie. Das konnte ich damals nicht verstehen. Mir war, wenn ich an Tony dachte, immer zum Heulen. Und wenn ich eines auf der Welt hasse, dann ist es Heulen.« »Unterrichtet sie noch hier?« wollte ich wissen. »Nein. Sie hat wieder geheiratet und ist jetzt in Maine.« »Hast du noch Kontakt zu ihr?« »Oh, sie hat mir ein paarmal geschrieben, aber ich habe nie geantwortet.« Lisa sah zu, wie die Kringel, die sie in den Sand gemalt hatte, von einer großen Welle weggespült wurden. »Laß uns weitergehen«, sagte sie dann. Ohne meine Antwort abzuwarten, marschierte sie los. Ich zog meine Schuhe aus, warf sie zu den ihren, und so liefen wir nebeneinander am Meer entlang und ließen uns die Füße von den kleinen, flachen, aber kalten Wellen kitzeln. »Deine Mutter scheint nett zu sein«, bemerkte Lisa unvermittelt. »Es hat mir richtig Spaß gemacht, mich mit ihr zu unterhalten.« »Sie ist auch nett. Mein Vater genauso. Meine Eltern sind in Ordnung, wenn auch ein bißchen altmodisch. Ihr ganzer Wunsch ist es, mir das Leben so leicht und angenehm wie möglich zu machen.« »Das scheint dich nicht gerade zu begeistern. So was habe ich mir immer gewünscht. Das muß ja der Himmel auf Erden sein.« »Ja, aber ihr Himmel, nicht meiner. Mein Freund Buddy will mir auch immer klarmachen, wie gut ich es habe. Aber ich werde das nagende Gefühl nicht los, daß das Schicksal mit mir noch mehr vorhat, als nur ein folgsamer Sohn zu sein. Ich habe ein paarmal versucht, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, aber ich rede immer nur um den heißen Brei herum, anstatt einmal klipp und klar zu sagen: Ma, Pop, ich will nicht auf die Wirtschaftsakademie, ich will nicht Juwelier werden. Ich will Sozialarbeiter werden, auch wenn es anstrengend ist und ich dabei keine Reichtümer anhäufen kann.« Der Wind wirbelte Lisas Haare durcheinander. Sie strich sie mit ihren Händen aus dem Gesicht, so daß ich ihr Lächeln deutlich sehen konnte. »Wenn du es ihnen so beibringst, wirst du auch Erfolg haben«, stellte sie fest. »Wer könnte diesem Idealismus widerstehen?« »Ich werde sie nie überzeugen können, ganz egal wie ich es anstelle.« »Bist du denn von deiner eigenen Sache überzeugt?« »O ja«, sagte ich aus tiefster Brust. »Ich habe alles darüber gelesen, und seitdem weiß ich, daß das mein Beruf ist. Wenn ich mir zum Beispiel so eine Sache wie mit Traci und ihren Eltern vorstelle – wie anders könnte alles aussehen, wenn ihnen jemand helfen würde.« »Aber gegen Tonys Tod hättest du nichts machen können«, wandte Lisa ein. »War ja nur ein Beispiel«, sagte ich. »Mir wäre es auch lieber, ich könnte Wunder wirken.« »Vielleicht kannst du das sogar«, sagte sie, und ich sah ihre Augen im Mondlicht leuchten. Dann rannte sie auf und davon mit ausgebreiteten Armen, den Kopf in den Nacken geworfen. Es sah aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen, das Meer, den Mond, den Himmel und – mich. »Mach es, mach es, Michael!« rief sie, als ich sie eingeholt hatte. »Sag es deinen Eltern. Werde Sozialarbeiter. Du bist dafür geboren. Und glaub mir: Wenn du ihnen zuliebe darauf verzichtest, nutzt das niemandem. Am Ende
wirst du sie dafür hassen. Ich sehe es am Beispiel meiner Schwester. Sie ist meinen Eltern zuliebe hier in Braden's Port geblieben, sie hat ihnen zuliebe geheiratet. Jetzt sind sie täglich zusammen, aber sie streiten sich nur. Sie streiten über alles mögliche, aber nie kommt zur Sprache, was sie so unzufrieden macht. Sie darf sich den wahren Grund ihrer Unzufriedenheit nicht einmal eingestehen. Denn was soll sie dann tun? Sich ihre Farben schnappen und weglaufen? Sie sitzt in der Falle. Aber ich nicht. Und du auch noch nicht.« »Ich habe Angst«, bekannte ich. »Ich möchte ihnen nicht weh tun.« »Die Menschen erholen sich von ihren Wunden. Wenn das nicht so wäre, könnten alle Psychologen und Sozialarbeiter einpacken. Oder?« Ich sah ihr ins Gesicht. Sie bettelte förmlich. Wieviel Mühe sie sich gab, mir Mut zu machen!« »Mir fehlt einfach die Courage«, sagte ich. »Wo nimmst du nur deinen Mut her?« »Wahrscheinlich bin ich so geboren«, vermutete sie. »Schon als kleines Kind wollte ich hoch hinaus. Erinnerst du dich an das Kinderlied >Manschen klein, ging allein.. . Ach, wie gern habe ich das gesungen!« Lachend stimmte sie das Lied an. Singend tanzte sie um mich herum. »Manschen klein, ging allein ...«Ich konnte nicht anders, ich mußte mitsingen, mittanzen. Wir faßten uns bei den Händen und hüpften ausgelassen auf und ab. ». . . in die weite Welt hinein . . « Wir sangen immer lauter, zwischendurch lachten wir und drehten Pirouetten. Doch plötzlich hielt Lisa inne und blickte mich ganz ernst an. »Weißt du, daß wir uns sehr ähnlich sind, Michael?« sagte sie. »Zwei kleine Kinder, die sich abenteuerlustig in das Leben stürzen wollen – « Und dann küßten wir uns. Wie das passieren konnte? Fragt mich nicht! Ganz bestimmt war es nicht meine Absicht. Ich habe Lisa weder um diesen Kuß gebeten, noch habe ich ihn mir gewünscht. Natürlich, ich fand Lisa faszinierend, aber so weit wäre ich in meinen kühnsten Träumen nicht gegangen. Lisa küssen? Das konnte sich ein Filmstar erlauben oder sonstwer Berühmtes. Oder überhaupt jeder andere, aber nicht ich. Lisas Verhalten hatte solche Gedanken bisher einfach verboten. Und wenn sie schon einen Kuß zu verschenken hatte, dann doch wohl eher an Buddy. Wieso küßte ich sie also? Ich rede nicht von irgendeinem brüderlichen Küßchen auf die Wange, o nein! Ich rede von dem leidenschaftlichsten Kuß meines Lebens. Zumindest hätte es der leidenschaftlichste Kuß meines Lebens werden können, wenn Lisa sich nicht plötzlich, als ich gerade dabei war, ihn voll zu genießen, aus meinen Armen befreit hätte. »Dieser Kuß hat nie stattgefunden«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. »Da ist auch besser so«, keuchte ich. »Wenn Buddy davon erfährt, bringt er mich um.« »Er wird nichts erfahren, weil nichts stattgefunden hat«, sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ängstlich. Unvermittelt bückte sie sich nach ihren Sandalen, sprang über die kleine Mauer und war verschwunden. Ich rief hinter ihr her, aber sie drehte sich nicht mehr um. Ich schlüpfte in meine Schuhe und versuchte sie einzuholen. Aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. »Es ist zwei Uhr früh, Michael«, gab Pop bekannt, als ich die Haustür hinter mir schloß. »Wo warst du? Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht.« Er und Ma hatten auf mich gewartet. Da standen sie in ihren Morgenmänteln, völlig übermüdet, mit tiefen Ringen unter den Augen. »Was ist daran so besonders?« wollte ich wissen. »Ich bin früher auch oft erst um zwei nach Hause gekommen.« »Ja, wenn du mit Buddy oder eurer Clique unterwegs warst. Aber diesmal wußten wir ja gar nicht, mit wem oder warum – « Ich ließ mich in den nächsten Sessel sinken. »Das hatte ich euch doch gesagt«, erinnerte ich sie. »Ich mußte eine Freundin von einer Freundin zum Arzt fahren.« Ma und Pop standen da und blickten mich an, als erwarteten sie weitere Erklärungen. Meine Eltern sind sonst nicht besonders neugierig, aber daß ihr Sohn mitten in der Nacht den Rettungssanitäter spielen mußte, war für sie wohl etwas ungewohnt. Ich meinte, sie sollten sich doch erst einmal hinsetzen. Dann versuchte ich ihnen so rücksichtsvoll wie möglich eine Geschichte zu erklären, die mich doch selber in heillose Verwirrung gestürzt hatte. »Es ging um Traci Lange«, fing ich an. »Sie ist befreundet mit Lisa Kenney, und die wiederum arbeitet als Kellnerin im Jolly Mackerei. Ihr habt sie ja gesehen, erinnert ihr euch. Also, Traci hat sich die Nase gebrochen und hat Lisa gebeten, sie zu einem Arzt zu fahren, aber Lisas Auto blieb mit dem Hinterrad in einem Graben stecken, und sie kamen nicht weiter. Da hat sie mich angerufen und um Hilfe gebeten. Das ist eigentlich alles. Ich habe die beiden übrigens zu Dr. Dalimeyer gefahren.« Es war mir lieber, wenn meine Eltern es zuerst aus meinem Munde erfuhren und nicht von Dr. Dallmeyer persönlich, der es vielleicht mit dem Arztgeheimnis nicht so genau nahm, wenn es um Patientinnen ging, die er nie zuvor gesehen hatte und die er nachts im Pyjama behandeln mußte. »Zu Dr. Dallmeyer mitten in der Nacht, und er hat euch reingelassen?« fragte Ma atemlos. »So spät war es ja noch gar nicht, Ma. Außerdem kenne ich sonst keinen Arzt hier. Übrigens hat er Traci anstandslos behandelt. Danach habe ich sie wieder nach Hause gefahren.« »Sie? Wen?« »Traci und Lisa.« »Ah ja.« Ma nickte, aber ich konnte buchstäblich sehen, wie sich die Gedanken in ihrem Kopf jagten. Klingt das
glaubwürdig? fragte sie sich wohl, doch bevor sie zu dem Schluß gekommen war, daß an der Geschichte irgend etwas nicht stimmte, trieb mich Pop mit seiner nächsten Frage in die Enge. »Und das alles hat bis zwei Uhr gedauert?« Es war wie ein gemischtes Doppel im Tennis, mit dem Unterschied, daß ich allein gegen zwei antreten mußte. »Nein«, gab ich kleinlaut zu, »das hat bis ungefähr halb eins gedauert. Danach sind Lisa und ich noch ein bißchen am Strand spazierengegangen. Wir haben über Gott und die Welt geredet und dabei einfach jedes Zeitgefühl verloren.« Man muß die Eltern suchen, die eine solche Geschichte glauben. Dr. Dallmeyer hätte seinen Töchtern in diesem Fall wahrscheinlich Hausarrest bis zum Jahr 2000 gegeben. Spazierengehen? Ha! Daß ich nicht lache! Geredet? Wird ja immer besser! So oder ähnlich würden die meisten reagieren. Aber meine Eltern glaubten mir. Sie haben mir noch immer alles geglaubt, und manchmal weiß ich nicht, ob ich das als Beleidigung oder als große Ehre empfinden soll. Dennoch war ich noch nicht aus dem Schneider. Es ist nämlich Ma, die stets so lange nachbohrt, bis sie zum Kern der Sache vorgestoßen ist. Eine Weile starrte sie in die Luft, als ob ihre Augen dort etwas suchten. Dann schienen sie es gefunden zu haben. »Wie ist das denn passiert mit der kaputten Nase?« fragte sie mich. Sekundenlang dachte ich daran, ihnen die Kühlschrankgeschichte zu servieren, aber dann ließ ich es. Ich brachte es nicht übers Herz, Ma zu belügen. »Seid ihr sicher, daß ihr das wirklich wissen wollt?« fragte ich schweren Herzens. »Bisher vielleicht nicht, aber jetzt sind wir es«, sagte Pop. »Also raus mit der Sprache!« »Ihr Freund hat sie zusammengeschlagen«, bekannte ich und war auf die schlimmste Reaktion gefaßt. Ma stieß einen Schrei aus, dann preßte sie sich die geballte Faust vor den Mund. Pop streichelte sie, um sie zu beruhigen. »Absichtlich?« hakte er nach. »Ich denke schon.« Lange sagte niemand etwas. In der plötzlichen Stille fiel mir auf, daß es kalt geworden war. Pop mußte etwas Ähnliches gefühlt haben, den er begann, die Fenster zu schließen. Beim dritten Fenster drehte er sich zu mir um und sagte: »Michael, ich war mit diesem Job nie einverstanden, aber jetzt muß ich dich bitten, ihn aufzugeben.« Mit dieser Reaktion hatte ich am wenigstens gerechnet. »Wieso?« fragte ich verständnislos. »Ich soll meinen Job aufgeben, weil Traci Lange sich die Nase gebrochen hat? Sie arbeitet ja nicht mal im Jolly Mackerei. Lisa arbeitet da, und deren Nase ist in Ordnung.« Ich hatte gehofft, mit dieser Antwort wenigstens Ma zum Lächeln zu bringen, aber sie vermied es sogar, mich anzublik-ken. Pop hatte die Arme über der Brust verschränkt; ein Zeichen dafür, daß er nicht mit sich diskutieren lassen wollte. »Das Lokal hat mir vom ersten Augenblick an, wo wir es betreten haben, mißfallen«, verriet er nun. »Schon der Parkplatz davor war mir zuwider. Ich möchte einfach nicht, daß du weiter dorthin gehst.« »Du hast aber behauptet, es hätte dir gut geschmeckt. Du hast den Service gelobt. Du warst von Mr. MacElroy angetan«, protestierte ich. »Das sind zwei paar Schuhe. Als Gast habe ich nichts gegen das Lokal, aber als Vater eines Sohnes, der dort arbeitet, schon. Ma hat mich damals gebeten, es dir nicht zu sagen, aber wie sich jetzt herausstellt, habe ich doch recht behalten.« »Recht behalten? Womit?« brüllte ich los. »Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum ich dort nicht mehr arbeiten soll, einen einzigen!« »Du bekommst sogar zwei«, sagte Pop. »Erstens bist du auf das Geld nicht angewiesen, und zweitens können deine Eltern auf diese Art Schwierigkeiten verzichten.« »Welche Art Schwierigkeiten? Wovon redest du überhaupt? Ich mache meine Arbeit und werde dafür bezahlt. Wo sind da Schwierigkeiten?« Pop knallte mit voller Wucht das letzte Fenster zu. Er drehte sich nicht mehr um. An der Röte, die seinen Nacken überzog, konnte ich erkennen, wie wütend er war. »Michael«, mischte sich nun Ma ein, »wir beide haben unser Leben lang hart gearbeitet, damit du es einmal leichter hast als wir, also ...« »Wir haben das Leben wirklich von allen Seiten kennengelernt«, fügte Pop hinzu. »Was dieser Traci passiert ist, kommt so selten nicht vor. Und noch Schlimmeres.« »Wenn es so ist, warum wollt ihr mich dann unbedingt davor beschützen?« fragte ich ihn mit überkippender Stimme. Wenn sie mich doch einmal verstehen würden! »Ihr könnt mich nicht ständig beschützen, oder wollt ihr den Rest meines Lebens neben mir herlaufen und aufpassen, daß mir nichts passiert? Das ist praktisch unmöglich. Und selbst wenn es möglich wäre, so würde es mir nicht gefallen. Ich möchte selbst herausfinden, wie das Leben ist und wo ich hingehöre.« »Wo du hingehörst? Das weißt du ja wohl. Hierher. Zu uns«, entschied Pop. Für einen Moment war ich versucht, aufzugeben. Ihnen Recht zu geben. Mich mit den üblichen Umarmungen und
Gutenacht-küßchen in Frieden zu verabschieden. In dem beruhigenden Gefühl, daß am nächsten Tag alles normal weiterlaufen würde. Aber ich konnte nicht. »Das reicht mir nicht, Pop«, sagte ich. »Das reicht dir nicht? Hast du nicht ein gutes, bequemes, vollkommen abgesichertes Leben?« meinte Pop. Jetzt oder nie! Ich atmete tief durch. »Ich will nicht in deinem Geschäft arbeiten, Pop«, sagte ich und war plötzlich ganz ruhig, »Ich will auch nicht auf die Wirtschaftsakademie. Und ich werde in diesem Herbst nicht den vorgesehenen Buchhaltungskurs belegen.« Ma griff tröstend nach Pops Hand, während sie mich beide entgeistert anstarrten. »Es tut mir leid, aber es ist nun mal so«, sagte ich. »Ein gutes Leben«, murmelte Pop vor sich hin, als fiele ihm nichts anderes mehr ein. »Aber nicht mein Leben«, sagte ich. »Was soll das heißen?« brüllte Pop plötzlich los und schüttelte Mas Hand roh von sich. »Für wen hältst du dich eigentlich? Was bist du denn schon? Ich kenne meinen eigenen Sohn nicht mehr. Wer hat dir diesen Höh ins Ohr gesetzt?« Sein Gesicht war rot vor Zorn, und es erschreckte mich, daß er so außer sich war; nicht weil ich befürchtete, er könnte mich jeden Moment schlagen, sondern weil ich begriff, daß ich die Ursache dafür war, ohne daß ich jemals die Absicht gehabt hatte, ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. »Ich finde meine Einstellung nicht so unsinnig«, sagte ich vorsichtig. »Alles was ich getan habe, habe ich für dich getan«, offenbarte Pop mit gebrochener Stimme. »Jede Stunde meines Lebens, jede Mark, die ich in dieses Geschäft gesteckt habe – für wen, wenn nicht für dich?« »Vielleicht war das der Fehler«, bemerkte ich. »Vielleicht hättet ihr nicht nur an mich, sondern auch an euch selbst denken sollen.« »Ein Mann arbeitet für seine Familie, nicht für sich selbst«, zischte Pop mich an. »Mein Vater hat es für mich getan, sein Vater hat es schon für ihn getan, und ich habe es für dich getan.« »Du verlangst zuviel von mir, Pop«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Ich verlange nichts, ich gebe.« »Das kommt auf dasselbe heraus. Verstehst du das nicht? Bitte glaub mir, ich will dir nicht weh tun –« »Natürlich wolltest du das nicht. Du hast es aber getan!« schrie er. Und dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Die Tür fiel knallend ins Schloß. Ich wandte mich zu Ma um und sah, daß auch sie mit den Tränen kämpfte. . »Verlange ich denn wirklich so viel?« wollte ich wissen. »Nicht weniger als alles«, antwortete sie sanft. »Du verlangst von ihm, daß er alle seine Träume und Hoffnungen, die er in dich gesetzt hat, aufgibt. Daß sein Leben, seine Arbeit, das Werk seiner Väter umsonst gewesen sein soll. Mehr nicht.« Ma unternahm einen schwachen Versuch zu lächeln, während ihr die Tränen die Wange hinunterrannen, durch die Furchen ihres Gesichts, die mir in dieser Nacht zum erstenmal bewußt wurden. Ich hatte das Gefühl, für jede einzelne Falte verantwortlich zu sein. »Es tut mir so leid, Ma. Aber ich konnte nicht anders«, sagte ich. »Ich weiß, Michael«, antwortete sie ruhig. »Wird er sich davon erholen?« Sie wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. Dann stand sie auf. »Laß uns schlafen gehen«, sagte sie. »Alles, was wir tun können, ist abwarten.« In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Die wenigen Stunden, die mir noch bis Arbeitsbeginn blieben, verbrachte ich angezogen auf dem Bett, beobachtete das Schattenspiel, das die Äste des großen Baumes vor meinem Fenster an die Schlafzimmerdecke warfen und lauschte dem Geräusch des Windes, der den Geruch von Salz und Tang herbeiwehte. Man hätte wunderbar dabei einschlafen können, doch ich wälzte mich unruhig hin und her, stand schließlich auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Mein schlechtes Gewissen hielt mich wach. Alle Sünden meines Lebens, so harmlos sie auch gewesen waren, fielen mir ein: Angefangen bei einem gestohlenen Radiergummi zu Kindergartenzeiten bis zur Französischarbeit im letzten Schuljahr, bei der ich tüchtig gepfuscht hatte. Oder der Abend, an dem Ma mich fragte, ob ich getrunken hätte und ich nein gesagt hatte; dabei hätte sie nur ein Streichholz anzuzünden brauchen, und mein Atem hätte glatt Feuer gefangen. Als ich endlich ein bißchen eingedämmert war, klingelte auch schon der Radiowecker. Mick Jagger wünschte mir lautstark einen guten Morgen. Ich wünschte ihn zum Teufel. In der Küche gönnte ich mir ein Glas Orangensaft, ängstlich bemüht, Ma und Pop nicht durch irgendein Geräusch zu wek-ken. Der Orangensaft stieß mir so sauer auf wie meine Gewissensbisse vom Vorabend. Ich ging nach draußen, setzte mich auf die Treppenstufen und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen über den Zaun und auf die blechernen Mülltonnen fielen. Die Betrachtung von Mülleimern schien mir für diesen Tag die passende Beschäftigung zu sein. Soviel war zu Bruch gegangen. Und gleich würde ich Lisa gegenüberstehen. In welcher Stimmung sie wohl war nach dem letzten Abend? Auch die Begegnung mit Buddy würde mir nicht erspart bleiben. Guter Buddy, alter Freund, wenn du wüßtest, daß ich gestern deine große Liebe geküßt habe!
dachte ich. Ganz zu schweigen von Pop, der bald wieder in die Stadt zurückkehren würde. Konnte ich ihn gehen lassen, ohne mich mit ihm ausgesöhnt zu haben? Aber was war noch zu sagen zwischen uns? Ich hob mein Saftglas und prostete den Mülleimern zu. Dann trank ich auf mich, Michael Paeglis, der Sozialarbeiter werden wollte und überall nur Unheil anrichtete. Sozialzerstörer hätte besser gepaßt. Auf dem Weg zum JoUy Mackerei überholte ich, ein paar Häuserblocks entfernt, ein Mädchen in Jeans und T-Shirt, dessen vertrauter Anblick mir das Herz erwärmte. Ich hupte und hielt. »Hallo, Lisa«, sagte ich, »kann ich dich mitnehmen?« »Nein, danke«, sagte sie kühl hinter ihrer verspiegelten Sonnenbrille. »Es ist noch ganz schön weit bis zum Jolly Mackerei«, gab ich zu bedenken. »Das Laufen macht mir nichts aus«, erwiderte sie. »Ich bin früher auch zu Fuß gegangen.« Ich öffnete die Autotür. »Und mir macht es nichts aus, dich mitzunehmen«, sagte ich. »Also komm, setz dich.« »Das geht nicht, Michael«, entgegnete sie. »Wieso nicht?« »Das kannst du dir doch denken.« »Hör mal, gestern abend hast du mich zu Hilfe gerufen, hast anschließend die halbe Nacht mit mir verbracht und bist plötzlich ohne ein Wort der Erklärung verschwunden. Womit habe ich das verdient?« Widerstrebend nahm sie ihre Sonnenbrille ab und blickte mir ernst ins Gesicht. »Ich habe es dir schon erklärt«, sagte sie. »Ich kann es mir nicht leisten, mich hier auf etwas einzulassen. Ich darf einfach nicht.« Ich konnte sehen, daß sie auch nicht viel Schlaf gehabt hatte. Ihr Gesicht war ganz spitz und blaß, die Augen rotumrändert. Mein Bauch krampfte sich zusammen. Es war nicht dasselbe Gefühl wie bei unserem Kuß, es war auch anders als die Schuldgefühle, die mich später geplagt hatten. Ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll. Ich glaube, es tat mir einfach weh, sie so unglücklich zu sehen. »Ich bin nicht Buddy«, erklärte ich. »Wenn du nach New York gehen willst, akzeptiere ich das. Ich würde dich sogar zum Flughafen bringen.« »Es tut mir so leid, Michael«, bekannte sie und schlug plötzlich die Augen nieder. »Aber was denn? Kannst du mir das sagen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, bat ich sie. »Es war ein Fehler, daß ich dich gestern geküßt habe«, verriet sie. »Ich hätte es niemals tun dürfen, niemals.« Ihre Stimme war dabei ganz weich. »Es war einfach dumm von mir«, wiederholte sie. Mir ging auf, daß sie darunter noch mehr litt als ich. Mir ging auf, was dieser Kuß für sie bedeutet hatte – und was nicht. Das rückte die Dinge für mich plötzlich in ein ganz anderes Licht. »Vielleicht war es ein Fehler, aber dumm war es nicht«, meinte ich. »Wir sind uns gestern sehr nahe gekommen, Lisa. Wir haben diesen schweren Abend zusammen durchgestanden. Wie zwei gute Freunde. Ich möchte gern mit dir befreundet sein. Ich verstehe, daß du jetzt keine Liebesgeschichte gebrauchen kannst, aber einen guten Freund kann man doch immer gebrauchen. Du hast doch Freunde, oder nicht?« Lisa hob ratlos die Schultern und blickte nachdenklich in die Ferne. Dann lehnte sie sich mit verschränkten Armen gegen die Tür. »Freunde? Ich hatte welche, früher«, verriet sie. »Die eine hat letzten Sommer geheiratet und wünscht sich ein Baby. Die andere hat im Mai ein Baby bekommen und bedauert es schon. Die dritte jobbt ein bißchen herum, weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll und wartet auf den Märchenprinzen, der sie ins Paradies entführt. Mir geht langsam auf, daß ich eigentlich mit allen dreien nicht viel gemeinsam habe.« »Und was ist mit Traci? Ihr seid doch befreundet, oder? Warum darf ich es nicht auch sein?« Das brachte sie völlig aus der Fassung. Erst liefen nur ein paar Tränen still über ihr Gesicht, dann wurde sie plötzlich von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ich stieg aus, nahm ihren Arm und half ihr behutsam in den Wagen, dann setzte ich mich neben sie. Eine heiße Staubwolke von einem vorbeifahrenden Laster nebelte uns sekundenlang ein. »Hör zu«, sagte ich leise, »wenn du nicht mit mir befreundet sein willst, ist es auch in Ordnung. Du brauchst deshalb nicht zu weinen.« Sie lächelte zaghaft unter all den Tränen. Dann wühlte sie in ihrer Tasche herum. Ich reichte ihr eine Packung Tempotücher. »Mensch, wie ich es hasse zu weinen«, sagte sie, während sie sich heftig schneuzte und ihr Gesicht trockentupfte. Es klang wie eine Entschuldigung. »Aber es ist einfach zuviel. Vor mir liegt New York, die Verwirklichung meiner Träume, der Abschied von dieser Stadt. In meinem Schlafzimmer liegt eine jammernde Traci, und mein Auto springt nicht an und . ..« »Wieso ist sie bei dir? Wir haben sie doch zu Hause abgeliefert?« wollte ich wissen. »Sie war zuhause. Allein. Ihre Mutter war bei irgendeiner Tante. Ihr Vater - weiß der Teufel wo. Und dann rief Pete an. Alle fünf Minuten. Beschimpfte sie, drohte ihr, flehte sie an. Er war total betrunken. Traci hatte Angst, den Hörer abzunehmen, aber sie wußte, wenn sie es nicht täte, stünde er bald persönlich vor der Tür. Als sie es nicht mehr aushielt, kam sie zu mir. Das war übrigens nicht das erste Mal. Nächtelang hat sie mir von ihren Sorgen erzählt, und ich habe dabei ganze Kleider genäht. Daß ihr Vater sie nicht liebt, daß ihre Mutter sie nicht
liebt, daß niemand sie liebt. Und dann Pete.« »Ist er immer so oder nur, wenn er betrunken ist?« erkundigte ich mich. »In der letzten Zeit ist es immer schlimmer geworden. Er geht ja nicht einmal mehr zur Arbeit. Und das verrückteste ist – hoffentlich verkraftest du das -, er glaubt, daß Traci ihn betrügt. Und zwar mit dir.« »Ich habe es geahnt!« rief ich. »Aber ich habe mir immer gesagt, daß es Unsinn ist. Völliger Unsinn! Ich kenne das Mädchen doch so gut wie gar nicht.« »Er hat euch einfach zu oft zusammen gesehen«, vermutete Lisa. »Zweimal«, wiedersprach ich. »Und in ganz harmlosen Situationen.« »Dreimal«, erinnerte mich Lisa. »Er hat uns gestern nacht in deinem Auto zusammen wegfahren sehen. Daran bin ich schuld, aber wie konnte ich ahnen, daß er sich den ganzen Abend im Gebüsch versteckt hatte?« »Wie? Erst schlägt er Traci zusammen, läßt sie blutend liegen und versteckt sich dann auch noch, um sie zu beobachten?« »Ach, weißt du, ich kenne die beiden jetzt lang genug. Verstanden habe ich es nie. Ich will es auch gar nicht mehr verstehen.« Erneut ergoß sich ein Tränenstrom aus Lisas Augen. Erschöpft hing sie da auf dem Sitz, unzählige zerknüllte Taschentücher in ihrem Schoß. »Ich will dir was sagen, Michael«, flüsterte sie unter Tränen. »Ich bin nahe dran, die Brocken hinzuschmeißen. Ich bin es so satt, immer zu kämpfen. Vielleicht sollte ich mir doch so einen Mann wie Buddy suchen, der mich zentnerweise mit Liebe und Geschenken überhäuft. Er hat mir übrigens ein goldenes Kettchen geschenkt, mit einem Herz dran. Wußtest du das? Es könnte alles so einfach sein.« Aber nach einer Pause schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn. »Was rede ich da für einen Unsinn! Ich weiß doch, daß ich das gar nicht will. Aber ich bin einfach so fürchterlich müde.« »Ich kann dich so gut verstehen«, sagte ich. »Aufgeben erscheint so einfach, aber du gehörst nicht zu den Menschen, die das können. Du bist eine Kämpfernatur. Und du hast auch mir Mut gemacht, zu kämpfen. Ich habe gestern meinem Vater die Wahrheit gesagt; seitdem redet er nicht mehr mit mir. Willst du mich jetzt etwa im Stich lassen?« »Das hast du tatsächlich getan?« fragte Lisa lächelnd. »Ja«, sagte ich. »Und was wirst du tun?« Sofort schwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Welche Möglichkeiten habe ich denn?« fragte sie sich laut. »Traci mitnehmen nach New York? Das kann ich nicht. Aber sie mitten in ihrem Elend hier sitzenlassen? Das kann ich genauso wenig. Warum zum Teufel habe ich mich nur jemals da mit hineinziehen lassen? Aber was frage ich dich das! Dich habe ich ja auch noch mit hineingezogen.« »Du wirst nach New York gehen«, sagte ich entschieden, während ich ihr ein frisches Taschentuch reichte. »Und zwar ohne Traci. Es gibt bestimmt andere Möglichkeiten, ihr zu helfen und was mich betrifft, so brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen. Nicht du hast mich da reingezogen, sondern Pete. Diese wandelnde Katastrophe. Was der Kerl anfaßt, ist schon verdorben.« »Und wir verderben es uns mit Mr. MacElroy«, erinnerte Lisa mich mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Es war tatsächlich höchste Zeit. Ohne ein weiteres Wort fuhr ich los. Wir schafften es in letzter Sekunde. Am späten Mittag erschien Buddy im Jolly Mackerei; um seinen Zeigefinger kreiste meine Badehose. Ich riß sie ihm aus der Hand und verstaute sie unter der Theke. »Ich habe deiner Mutter gesagt, daß wir gleich zum Strand gehen. Sie hat mich wissen lassen, daß sie dich zum Abendessen erwartet. Gibt es Probleme zu Hause? Sie war ziemlich blaß um die Kiemen. Du hast auch schon mal besser ausgesehen. Wo steckt eigentlich Lisa?« »Oh – ich glaube, sie ist in der Küche.« Ich stellte schmutzige Gläser auf mein Tablett und gab mir den Anschein, äußerst beschäftigt zu sein. »Ich habe gehört, du hast ihr eine goldene Halskette zukommen lassen?« meinte ich beiläufig, während Buddy die Speisekarte studierte. »Hat sie es dir erzählt? Dann hat sie also von mir gesprochen! Phantastisch!« freute sich Buddy. »Ist doch ein gutes Zeichen, oder?« »Wir reden später darüber, ja«, sagte ich schnell. »Am Strand. Jetzt habe ich zu tun, und du willst ja auch deinen Apfelstrudel haben. Ach so, da fällt mir ein: Wir müssen Lisa nachher heimfahren, ihr Auto ist im Eimer.« Nun strahlte Buddy noch mehr. Seufzend bugsierte ich mein Tablett mit Gläsern in die Küche. Lisa und ich taten unser Bestes, Buddy beim Essen nicht zu >stören<. Er schien gar nicht zu merken, daß wir ihm absichtlich aus dem Weg gingen, so sehr war er damit beschäftigt, Lisa während ihrer Arbeit mit Blicken zu verschlingen. Als wir Feierabend hatten, konnte er es offensichtlich kaum erwarten, Lisa zu meinem Auto zu begleiten. Erst als wir alle drei nebeneinander gingen, fiel ihm auf, daß die Stimmung ziemlich angespannt war. »Willst du nicht mit uns zum Strand kommen?« fragte er Lisa, während er ihr die Tür des Beifahrersitzes aufhielt und sich selbst auf den Rücksitz fallen ließ. »Du siehst aus, als könntest du frische Luft gebrauchen.« »O Buddy, gib endlich Ruhe, ja?« ließ Lisa ihn abblitzen. »Mensch, was ist bloß heute mit euch allen los?« wunderte sich Buddy. »Erst deine Mutter, dann Michael und
jetzt du! Warum seid ihr so gereizt? Habe ich irgendwas nicht mitbekommen?« »Wir sind nur übermüdet, reicht das als Erklärung?« sagte ich und wunderte mich selber über den gereizten Tonfall. Was konnte schließlich Buddy für die schlaflose Nacht, die ich verbracht hatte und für meine schlechte Laune? Und doch bekam er alles ab, so wie ich unfreiwillig Leidtragender des Problems zwischen Pete und Traci geworden war. »Schon gut, schon gut!« rief er und hob entschuldigend die Hände zum Himmel. »Mehr Verständnis für die arbeitende Bevölkerung! Wann bin ich schon einmal müde. Entweder ruhe ich mich aus, oder ich schlafe.« Den Rest der Fahrt sagte er nichts mehr. »Sieht aus, als ob Traci nicht mehr da wäre«, bemerkte Lisa, als wir vor ihrer Wohnung ankamen. »Gott sei Dank! Du brauchst nicht zu warten, Michael. Ich komme schon irgendwie zu Fanet-te's. Wir sehen uns am Donnerstag. Tschüß, Buddy.« Die Wagentür schlug zu, ehe Buddy noch einmal das Wort an sie richten konnte. »Soll ich dich am Donnerstag abholen?« rief ich Lisa nach. »Wird nicht nötig sein!« rief sie zurück. »Bis dahin hat man Vater die Kiste wieder startklar gemacht. Falls nicht, ruf ich dich an.« Sie winkte noch einmal, und ich wartete, bis sie im Haus war, während Buddy auf den Vordersitz kletterte. Dann fuhren wir los. »Ihr scheint euch ja inzwischen gut zu verstehen«, bemerkte Buddy. »Wir haben eine ziemlich anstrengende Nacht hinter uns«, gab ich bekannt. »Was soll das heißen? Hast du mit Lisa etwa die Nacht verbracht?« »Nicht ganz«, sagte ich und erzählte Buddy Stück für Stück den Verlauf des vorigen Abends, angefangen bei unserem Arztbesuch bis zu meiner großen Aussprache zu Hause. Um Buddy zu schonen, aber auch weil ich mich schämte und fürchtete, ließ ich ganze Teile der Geschichte einfach weg. Von dem nächtlichen Spaziergang mit Lisa war keine Rede, es gab auch keinen Kuß und keine Unterhaltung, wie wir sie an diesem Morgen noch geführt hatten. Doch es bedarf nicht einmal der hellhörigen Ohren meiner Mutter, um festzustellen, daß einer, dem Schuldgefühle und Mitleid fast die Kehle zuschnüren, nicht die volle Wahrheit erzählt. Buddy bemerkte es jedenfalls sofort. »Hast du nicht etwas vergessen, Michael?« fragte er, nachdem er sein Bedauern über Tracis Unglück und sein Mitgefühl für meine Schwierigkeiten mit meinem Vater zum Ausdruck gebracht hatte. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und steuerte das Auto in eine Parklücke. Dann sprang ich aus dem Wagen. Buddy packte derweil die Badesachen auf dem Rücksitz zusammen. Ich war schon am Strand, als er mich einholte. »Du bist nun mal ein schlechter Lügner, du hast einfach kein Talent dazu«, stellte er einfach fest. »Ich weiß«, sagte ich. »Deshalb lüge ich ja auch so selten.« »Aber eben hast du es getan.« »Nicht wirklich.« »Was soll das, verdammt noch mal heißen?« brüllte er außer sich. »Ich habe nicht gelogen. Ich habe lediglich – äh, nicht die ganze Wahrheit gesagt.« »Das habe ich mir gedacht.« Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander. Dann legte Buddy mir plötzlich die Hand auf die Schulter. »Es geht um Lisa, stimmt's?« wollte er wissen. Ich nickte. »Sie mag dich? Sie hat sich in dich verliebt? Du hast sie gefragt, ob sie mit dir ausgehen will, und sie hat ja gesagt? Du hast dich in sie verliebt? Ist es so? Und überleg dir die Antwort ganz genau, Michael Peaglis, denn falls irgend etwas davon zutrifft, brech ich dir sämtliche Knochen!« Ich konnte nicht anders, ich mußte loslachen. Allein die Vorstellung, daß Buddy mich oder irgend jemanden auf der Welt verprügeln könnte, war zu komisch. Selbst im Krieg wäre Buddy der letzte, der Hand an jemanden legen könnte. Buddy ist ein kräftiger, aber durch und durch gutmütiger Kerl. Seine Körpergröße reicht völlig aus, sich Respekt zu verschaffen. Er muß sich gar nicht erst schlagen. »Was findest du an meinen Fragen so lustig?« wollte er wissen und versuchte, böse dreinzuschauen, kämpfte aber bereits selbst mit einem Grinsen. Ich legte einen Arm um seine Schultern und zog ihn ein paar Schritte zur Seite. Es brauchte ja nicht der ganze Strand zuzuhören. »Buddy«, begann ich, »es stimmt: Lisa mag mich. Ich mag sie auch. Wir sind Freunde geworden. Das passiert schon mal, wenn Menschen gemeinsam etwas Schlimmes durchstehen. Aber du kannst sicher sein, daß sie nicht verliebt in mich ist. Ich habe sie auch nicht um eine Verabredung gebeten, das könnte ich schon mit Rücksicht auf dich niemals tun. Außerdem weißt du so gut wie ich, daß es umsonst wäre. Sie verabredet sich mit niemandem, es sei denn, einer bietet ihr an, sie nach New York zu fahren.« »Eine Frage hast du nicht beantwortet«, bemerkte Buddy düster. »Nämlich, ob du in sie verliebt bist.« Aber so einfach war diese Frage auch nicht zu beantworten. Ich fühlte eine ganze Menge für Lisa, aber was genau? Buddy verstand mein Zögern offensichtlich als Zustimmung.
»Verdammt, Michael!« schrie er und befreite sich von meinen Arm, »du hast kein Recht dazu. Sie gehört mir!« »Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte ich. »Ich bin der letzte, der sie dir wegnehmen würde, selbst wenn ich es könnte, ganz abgesehen davon, daß sie dir keineswegs gehört. Wach endlich auf und blick den Tatsachen ins Auge. Lisa gehört sich selbst, niemandem sonst.« Mit einem Schmerzenslaut ging Buddy in die Knie. »O mein Gott, warum muß sie bloß nach New York gehen«? jammerte er. »Diese schreckliche Stadt. Sie wird mit gebrochenem Herzen und um ihre kühnsten Träume betrogen zurückkehren, das garantiere ich. So geht es nämlich neunzig Prozent der Leute, die ihre Hoffnungen auf New York setzen. Und selbst wenn sich ihr Traum erfüllt, wenn sie berühmt wird und Autogramme geben muß und in jeder Zeitschrift zu sehen ist – was hat sie am Ende davon? Geld und Sichereit kann ich ihr auch geben, und zwar auf der Stelle. Und ohne daß sie durch diese harte Schule muß.« »Es geht ihr doch gar nicht in erster Linie um das Geld oder die Sicherheit«, gab ich zu bedenken. »Um was denn sonst? Was braucht sie noch? Liebe? Die kann sie tonnenweise von mir haben. Reicht für einen harten Winter und alle harten Zeiten, die ihr noch bevorstehen.« »Im Grunde bist du wie mein Vater«, fand ich. »Ihr glaubt, ihr könnt die Menschen dadurch glücklich machen, daß ihr sie mit allem versorgt, was sie brauchen.« »Na und? Ist das ein Verbrechen? Was soll daran so falsch sein?« Diese Frage, die Buddy mit einem gequälten Gesichtsausdruck hervorstieß, erwischte mich an meiner schwachen Stelle. Wenn Buddy und mein Vater recht hatten mit dem, was sie taten, hatten Lisa und ich dann unrecht? Irgendeine Seite mußte doch im Unrecht sein, anders ließ sich dieses ganze Elend doch nicht erklären. Oder gibt es das, daß alle recht haben, und trotzdem kommt etwas Falsches dabei heraus? »Paß auf, Buddy, ich will dir etwas sagen«, begann ich vorsichtig, »aber versuche einmal, es richtig zu verstehen. Klammere dich nicht wieder an irgendeine Hoffnung, wenn ich dir jetzt verrate, daß du Lisa gar nicht gleichgültig bist. Manchmal ist sie sogar versucht, deinem Werben nachzugeben. Aber im Grunde ihres Herzens will sie es eigentlich nicht.« Buddy wollte etwas sagen, doch ich gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt. »Denk erst mal drüber nach«, bat ich ihn. »Wenn dir Lisas Glück wirklich so sehr am Herzen liegt, dann denk über das nach, was ich dir gesagt habe.« Buddy blickte eine Weile zu Boden. Dann sprang er plötzlich auf. »Gehen wir ins Wasser« meinte er ruhig. »Mir platzt sonst der Kopf.« Im Wasser waren wir umgeben von lauter fröhlichen, plantschenden, kreischenden Menschen, die sich übermütig mit Wasser bespritzten und Frisbee-Scheiben durch die Luft sausen ließen. Sie schienen aus einer anderen Welt zu stammen, aus einer Welt, wo alle Menschen jung, schön und sorgenfrei waren, wo von einem ewig blauen Himmel und über glasklarem Wasser die Sonne immer schien. Gab es tatsächlich sterbende Wale, Ölteppiche vor irgendwelchen Küsten? Gab es tatsächlich ganze Arsenale voll Nuklearwaffen? In dieser Welt? War das ein und dieselbe Welt, in der junge Männer ihre Freundin verprügelten, in der Söhne ihre Väter kränkten? Eine große Woge rollte heran und zerstob in tausend glitzernde Tropfen. Nein, dachte ich plötzlich. Das, was ich hier sehe, ist die Welt, für die Pop sechzehn Stunden am Tag arbeitet, für die Großvater und Großmutter aus Lettland geflüchtet sind, tage- und nächtelang, weg vom Krieg, vom Faschismus und Kommunismus, hin zum Frieden, in ein freies Amerika. Die Welt, die sie mir schenken wollten. Die gute Welt. Als die Woge abgeebbt war, konnte ich bis auf den Meeresgrund sehen: Ich sah Büschel von Tang herumschwimmen, Muscheln, darunter viele zerbrochene, auf dem grobkörnigen Sand liegen. Meine Schuldgefühle drückten mich fast bis auf diesen Meeresboden. »Hast du dich je im Leben gefragt, wer du bist und was du hier willst?« fragte ich Buddy. »Ich weiß, wer ich bin, und ich bin hier, um mich zu entspannen und braun zu werden«, antwortete Buddy. »Komm, Buddy, du weißt, wie meine Frage gemeint war. Was glaubst du, warum es in dieser großen, weiten Welt einen, Buford Rensen III gibt?« Er zwinkerte mir zu, sicher nicht nur, weil die Sonne ihn blendete, sondern auch, weil er den Ernst meiner Frage nicht begriffen hatte. »Nun«, sagte er, »weil neun Monate vor meiner Geburt meine Eltern ...« »Vergessen wir's. Wenn du nicht gewillt bist, ernsthaft mit mir zu reden, können wir diese Unterhaltung als beendet betrachten«, erklärte ich. »Aber ich meine es ernst«, beteuerte Buddy. »Warum darf ich nicht einfach mit dem zufrieden sein, was ich habe? Warum ist Lisa damit nicht zufrieden? Was hilft es, sich das Hirn über den Sinn des Lebens zu zermartern?« Es hatte keinen Zweck. Buddy kapierte einfach nicht. Wenn Buddy Adam gewesen wäre, würden wir wahrscheinlich alle noch im Paradies leben und friedlich unsere Weintrauben verzehren. Ich teilte ihm diesen Gedanken nicht mit, denn wahrscheinlich hätte er mich wieder nur gefragt: Na und? Was ist so verkehrt daran? .. Nichts - für alle, die Trauben mögen. Aber was ist mit denen, die lieber Äpfel mögen? Und Trauben essen müssen, weil sie keine\anderer Wahl haben? Wählen können. Plötzlich dämmerte es mir: Darin lag des Rätsels Lösung. Pop hatte gewählt, hatte sich für den
Beruf des Juweliers entschieden, hatte sich ein Ziel gesetzt: aus dem kleinen Laden seines Vaters ein großes Unternehmen zu machen. Und Großvater hatte gewählt, hatte sich entschieden, Lettland zu verlassen. Wir hatten dort immer noch Verwandte. Auch sie hatten eine Wahl getroffen: nämlich da zu bleiben. Jeder hatte seine Wahl getroffen, und daß mein Leben heute so aussah, wie es aussah, war eine Folge ihrer Wahl. Vor meinen Augen tauchten die Dalimeyer-Zwillinge auf, unübersehbar in ihren rotweiß gestreiften Bikinis. Nach der üblichen Begrüßung fragte ich, ob sie Buddy auf dem Heimweg mitnehmen könnten, ich selbst müsse nun nach Hause. »Was ist los?« wunderte sich Buddy. »Ich muß die Angelegenheit mit meinem Vater klären«, sagte ich. »Ehe mir das nicht gelungen ist, kann ich mich nicht entspannen.« ." »Verstehe«, meinte Buddy und klopfte mir ermutigend auf die Schulter. »Viel Erfolg!« »Danke!« »Und ich denke nach über das, was du mir gesagt hast. Über Lisa und was sie eigentlich will.« »Es wird dir helfen«, meinte ich und ermutigte ihn, indem ich meinen Daumen in die Luft streckte. Zwanzig Minuten später traf ich zu Hause ein und mußte feststellen, daß Pops Auto schon nicht mehr da war. »Er hat mir nicht einmal mehr die Chance zu einem Gespräch gegeben«, beklagte ich mich bei Ma, während wir zusammen aßen. »Er ist ohne ein weiteres Wort abgereist. Warum?« Ma zuckte die Schultern, und legte mir wortlos zwei Scheiben Roastbeef auf den Teller. Aber wir stocherten beide lustlos in unserem Essen herum. Die Schüsseln wurden nicht leerer. Wir hatten beide keinen Appetit – und es blieb natürlich auch die Portion übrig, die ursprünglich für Pop gedacht war. Wir wechselten ein paar belanglose Worte über meine Arbeit, den Nachmittag am Strand, Tracis Verletzung. Aber Vaters leerer Stuhl blickte uns dabei an wie ein einziger stummer Vorwurf. »Was soll ich bloß tun, Ma«, fragte ich verzweifelt. Ma legte ihre Gabel zur Seite und faltete die Hände unter dem Kinn. »Ist deine Entscheidung endgültig?« erkundigte sie sich. »Ich glaube ja. In diesem Sommer hat sich viel für mich verändert. Ich kann mir einfach nicht mehr vorstellen, Wirtschaftswissenschaften zu studieren.« »Und was stellst du dir statt dessen vor?« »Psychologie. Soziologie. Anthropologie oder so was«, sagte ich. »Ich möchte das Verhalten der Menschen studieren, möchte herausfinden, welche Gründe sie dazu bringen, so zu handeln, zum Beispiel bei Pete und Traci. Oder Lisa und ihre Schwester. Beide sind in derselben Familie groß geworden, haben dieselbe Erziehung genossen, sind aber grundverschieden. Lisa möchte die Welt erobern, etwas aus ihrem Talent machen; ihre Schwester dagegen hat allen Ehrgeiz aufgegeben, obwohl sie genauso begabt war. Warum? Warum wagt Lisa etwas, was Traci nicht wagt? Warum will ich etwas, was Buddy nicht will?« Mutter lächelte mich liebevoll an. »Du warst immer voller Fragen«, erinnerte sie sich. »Schon als kleines Kind – du konntest kaum laufen – wolltest du immer alles genau wissen. Warum, warum, warum? So ging das den ganzen Tag. Damals haben alle gemeint, das würde sich wieder legen, aber wie man sieht, stimmt das nicht.« »Und warum glaubst du, daß ich so bin?« Erst als Ma laut loslachte, ging mir auf, daß ich schon wieder »Warum?« gefragt hatte. Ich lachte mit, aber trotzdem ließ mir die Frage keine Ruhe. Warum hatte ich mich so lange mit dem, was meine Eltern aus mir machen wollten, einverstanden erklärt, um nun heftig dagegen zu protestieren? Bewegte ich mich vorwärts oder rückwärts in meiner Entwicklung? »Bist ein guter Junge, Michael«, sagte Ma und drückte mir warm die Hand. »Wenn ich daran denke, wie viele Probleme andere Eltern mit ihren Kindern hatten! Ich habe Gott oft dafür gedankt, daß wir davon verschont geblieben sind. >Ich weiß zwar nicht, womit wir dieses Kind verdient haben, aber ich möchte mich bei dir dafür bedanken <, habe ich dann zu ihm gesagt.« »Du redest mit ihm wie mit einem guten Freund, der gleich zum Essen vorbeikommt«, bemerkte ich grinsend. »Nun«, sagte Ma, »ein Fremder ist er für mich nicht.« Da erinnerte ich mich, daß Pop einmal darauf hingewiesen hatte, daß es für Mutter anscheinend überhaupt keine >Fremden < gebe. Sie gewann im Nu die Herzen aller Menschen, ob es nun ein Verkäufer, ein Taxifahrer oder ein Schaffner war. Sogar Lisa war ihrem Charme erlegen. Pop hatte Ma eine leutselige Person< genannt und gleich hinzugefügt, daß er das Gegenteil davon sei. Sich selbst bezeichnete er als >Präzisionsmenschen<. Er liebte Verläßlichkeit und reibungsloses Funktionieren; Dinge, die man von anderen Menschen nicht unbedingt erwarten kann. Menschen sind keine Maschinen. Sicher hätte er gern einen >Präzisions-Sohn< gehabt, aber ich schien eher die Art meiner Mutter geerbt zu haben. »Ob Pop mir wieder verzeihen wird?« grübelte ich. »Falls nicht, wäre ich bereit, meine Pläne noch einmal zu überdenken. Geschäftsmann zu werden ist ja nicht das Schlechteste. Sterben würde ich nicht daran.« »Nein!« sagte Mutter in einem Ton, der uns beide aufhorchen ließ.
»Wie schon gesagt: Du warst immer ein braver Sohn«, fuhr sie fort, »aber vielleicht ist das gar nicht so gesund für ein Kind. Siebzehn Jahre lang hast du immer gemacht, was wir wollten. Und jetzt bietest du uns zum ersten Mal Widerstand, spielst nicht mehr mit. Das war hart für uns, hat mich aber auch dazu gebracht, über alles noch mal nachzudenken. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben. Ich verstehe, daß du dich mit deinem Vater wieder aussöhnen willst, aber das heißt nicht, daß du deine eigene Persönlichkeit aufgeben sollst. Vielleicht muß er endlich lernen, dich so zu akzeptieren, wie du bist, anstatt dich zu dem zu machen, was er sich wünscht.« »Glaubst du ... er könnte sich damit abfinden?« zweifelte ich und merkte, daß ich mir eigentlich noch viel mehr wünschte: nämlich, daß er sich über meine neue Entwicklung freuen, auf mich stolz sein würde. Ich erinnerte mich an Tracis verzweifelten Wunsch, von ihren Eltern geliebt zu werden, und verstand sie plötzlich sehr gut. »Ich weiß es nicht«, gab Ma zu und lehnte sich seufzend zurück. »Er kann manchmal ganz schön stur sein. Er kann es nicht leiden, wenn ihm die Kontrolle aus der Hand genommen wird, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht. Aber auch er muß begreifen, daß Menschen nicht wie Uhrwerke funktionieren.« Sie stand auf und räumte das Geschirr zusammen. Dann verabschiedete sie sich von mir mit einem Kuß auf die Stirn und ließ mich allein, Auge in Auge mit Vaters leerem Stuhl. Zweimal telefonierte ich in dieser Woche mit meinem Vater – verkrampfte, unnatürliche, nichtssagende Gespräche über das Wetter oder ähnliches. Vor dem Wochenende, wenn er wieder dasein würde, hatte ich Angst. Ansonsten verlief die Woche ohne besondere Ereignisse, bis auf ein Vorkommnis mit Traci und Pete, das mir bewußt machte, wie sehr mir ihre Geschichte immer noch unter die Haut ging. Ich war zum Supermarkt gefahren, um für Ma ein paar Einkäufe zu erledigen. Auf dem Parkplatz entdeckte ich Petes Mustang; er und Traci saßen darin und unterhielten sich. Ich winkte ihnen kurz zu. Tracy winkte zurück. In derselben Sekunde schoß der Mustang wie eine Rakete über den Parkplatz. Ohne Rücksicht auf die Leute, die gerade noch zur Seite springen konnten, brauste Pete mit quietschenden Reifen davon. Ich sah noch, wie Traci entsetzt die Hände vors Gesicht schlug, als Pete praktisch nur noch auf zwei Reifen um die Ecke kurvte. Die Leute auf dem Parkplatz ließen ihren Ärger an mir aus, als hätte ich ihnen diesen Schrecken zugefügt. Und tatsächlich ging ich mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern durch den Supermarkt. Ich fühlte mich mitverantwortlich, obwohl ich genau wußte, daß ich es nicht war. Zwischen diesem Ereignis und Pops Ankunft lagen genau vierundzwanzig Stunden. Pop war noch nie sehr gesprächig. Seine Auseinandersetzung mit der Sprache reduziert sich im wesentlichen auf das wöchentliche Kreuzworträtsel. Und selbst dabei half ihm Ma. Am Freitag abend schlug Pops Wortkargheit allerdings alle Rekorde, obwohl Ma sich alle Mühe gab, die Unterhaltung in Gang zu halten. Einem neutralen Beobachter wäre vielleicht nichts aufgefallen; eine Familie sitzt zusammen, ißt und wechselt ein paar Worte. Aber es war kein neutraler Beobachter da und alle Anwesenden spürten nur zu gut, was in der Luft lag. Daß Pop sich direkt nach dem Essen mit dem Hinweis, sehr müde zu sein, zurückzog, verwunderte uns nicht mehr. »Was erwartet er denn noch?« fragte ich Ma, während wir einen Spaziergang um den Block machten, um uns zu beruhigen. »Ich habe mich x-mal entschuldigt. Ich habe versucht, ihm meine Gründe zu erklären – « »Wenn du tatsächlich einmal mit Menschen arbeiten willst«, sagte Ma, »dann mußt du vor allem eines lernen: Geduld. Solche Dinge lassen sich nicht übers Knie brechen, man muß –« Ich blickte auf, um herauszufinden, warum Ma mitten im Satz abbrach. In unserer Auffahrt stand Lisas Wagen. »Gott sei Dank, du bist zu Hause.« rief Lisa mir erleichtert zu. »Können wir reingehen? Bitte! Es ist dringend.« »Klar«, sagte ich. »Ist das nicht Lisa? Vom Jolly Mackerei und von Fanette'sl« fragte Ma zur Begrüßung. Lisa nickte lächelnd, aber in ihren unruhigen Augen flackerte die Angst. Immer wieder schaute sie nervös die Straße auf und ab. »Können wir hineingehen«? flehte sie noch einmal. Ich sprang die Treppenstufen hinauf und öffnete die Haustür. Aber nur Ma war mir gefolgt. Lisa dagegen war damit beschäftigt, jemanden aus ihrem Auto zu ziehen. Die Person, die sich auf Lisa stützen mußte, um überhaupt noch vorwärts zu kommen, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Traci. »O nein!« rief Ma entsetzt. »Diesmal hat er ihr ein paar Zähne ausgeschlagen«, gab Lisa bekannt, während ich zu den beiden eilte, um zu helfen. Traci hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als sie mich sah, dann befreite sie sich aus Lisas Armen. »Ich kann schon allein gehen«, sagte sie. Das stimmte natürlich nicht. Wir packten sie unter beiden Armen, und nun konnte ich ihr verfilztes Haar, ihre zerrissene Bluse und ihre blutbefleckte Jeans sehen. Wir betteten Traci auf die Couch und kühlten ihre Wunden mit Eiswasser. Dabei wagten wir nur zu flüstern, so als könnte schon ein lautes Wort diesem geschundenen Wesen weh tun. Es dauerte nicht lange, bis auch Pop in der Tür stand. »Was geht hier vor?« fragte er. Mit ein paar knappen Worten versuchte Ma ihm die Lage zu erklären und ihn gleichzeitig zu beruhigen. Dabei kümmerte sie sich weiter um Tracis Verletzungen. »Ich werde die Polizei benachrichtigen«, entschied Pop kurz und bündig und hielt schon den Telefonhörer in der Hand. »Wie hieß dieser Kerl noch mal?«
»Nein!« schrie Traci auf. »Bitte nicht anrufen. Ich komme schon wieder in Ordnung. Bitte!« Verwirrt ließ Pop den Hörer sinken. Ich kniete neben Traci nieder, deren zierlicher Körper nicht einmal die Hälfte unseres Sofas in Anspruch nahm. »Warum schützt du ihn auch noch? Warum hältst du das alles aus?« fragte ich, einem plötzlichen Impuls nachgebend. »Weil ich ihn liebe«, sagte sie schlicht. »Und er liebt mich.« Ihre Lippen waren geschwollen, und sie hatte Schwierigkeiten, diese Worte zu formulieren. »Wenn er dich wirklich lieben würde, könnte er dich nicht so behandeln«, gab ich zu bedenken. »Er liebt mich wohl«, widersprach Traci hartnäckig. »Wenn er durchdreht, so ist das meine Schuld.« »Deine Schuld?« rief ich fassungslos. »Und womit, bitte, hast du dir das verdient, wenn ich mal fragen darf?« Traci hob resigniert eine Schulter hoch. »Pete liebt mich«, wiederholte sie dann mit abgewandtem Kopf. Damit war für sie die Diskussion beendet. In ihren Augen standen Tränen. Ich begriff plötzlich, wie lebenswichtig für sie der Glaube an Petes Liebe sein mußte. Vielleicht war ihr eine Sekunde lang aufgegangen, daß diese > Liebe < genauso roh und schmerzhaft war, wie die Tracht Prügel, die er ihr verabreicht hatte, aber diesen Gedanken mußte sie wieder verdrängen. Wie wenig man doch von dem weiß, was im tiefsen Inneren eines Menschen vorgeht, selbst wenn er nur einen halben Meter entfernt von dir sitzt: ein Fremder. Ich ließ mich vor dem Kamin nieder und betrachtete das seltsame Bild, das sich mir bot. Pop und Ma, Lisa und Traci, wir alle waren in einem Raum versammelt. Fremde? Nein, niemand ist uns wirklich fremd, dachte ich plötzlich. Die Menschen schaffen Grenzen, sie unterscheiden Winter-Leute und Sommer-Leute, aber ein unsichtbares Band hält uns alle zusammen, ein unsichtbares Muster verbindet uns miteinander. Traci und Buddy zum Beispiel wollen beide das Unmögliche: er, weil er alles hat; sie, weil sie gar nichts hat. Wenn man genau hinschaut und versteht, macht alles Sinn, auch wenn es zunächst noch so sinnlos erscheint... Das vertraute Geräusch quietschender Reifen ließ uns aufhorchen. Alle wußten, es konnte nur Pete sein, der in seinem Mustang angebraust kam. Pop und ich rannten zum Fenster. Überall in der Nachbarschaft gingen die Lichter an, als Pete scharf in der Auffahrt bremste und, offensichtlich völlig betrunken aus seinem Wagen kletterte und auf unser Haus zutorkelte. »Ich hatte gehofft, er würde sie nicht bis hierher verfolgen«, keuchte Lisa. »Ich dachte, sie wäre hier in Sicherheit.« »Schließ die Tür ab«, befahl Pop und zog selbst die Vorhänge zu. Ich kam gerade noch dazu, die Sicherheitskette vorzulegen, als Pete auch schon heftig an der Tür rüttelte. »Traci?« grölte er. »Mach sofort die Tür auf, ich weiß, daß du da drin bist.« Dann warf er sich mit seinem ganzen Körper gegen die schwere Eichentür, die unter der Wucht seines Stoßes zitterte. »Verflucht, Traci, du sollst die Tür aufmachen!« Das Telefon klingelte. Ich hörte, wie Ma hastig Erklärungen abgab. »Ja, Mrs. Brenner, richtig. Es handelt sich um einen verhängnisvollen Irrtum! Natürlich werden wir die Polizei rufen. Nein, wir brauchen Ihre Hilfe nicht, wirklich nicht. Bleiben Sie am besten zu Hause.« Ma hatte den Hörer noch nicht aufgelegt, da nahm Pop ihn in die Hand und wählte die Nummer der Polizei. »Das dürfen Sie nicht tun, bitte!« heulte Traci auf. Pop kümmerte sich nicht darum. Unterdessen hieb Pete weiter mit beiden Fäusten auf die Tür ein und stieß dabei die wüstesten Flüche aus, die immer wieder von einem markerschütternden Geheule unterbrochen wurden. »Ich werde zu ihm gehen«, kündigte Traci an. »Bitte rufen Sie nicht die Polizei. Ich gehe schon. Ich hätte nie hierher kommen dürfen.« Sie erhob sich und stand wackelig auf ihren schwachen Füßen. Wir flehten sie an, doch zu bleiben, aber sie stellte sich taub und schwankte zur Tür. »Traci. Traaaciü!« brüllte Pete und hämmerte auf die Tür ein. »Traci, es tut mir leid. Ich schwöre bei Gott, es wird nie wieder vorkommen. Traci, ich brauche dich. Ich kann nicht ohne dich leben! Du weißt es. Traci, bitte hilf mir doch!« »Geh nicht«, bat ich Traci und stellte mich vor die Tür. »Dieser Mensch ist von Sinnen! Er weiß nicht mehr, was er tut.« »Die Polizei ist auf dem Weg«, verkündete Pop und warf den Hörer auf die Gabel. Tracis blutunterlaufenes Gesicht verzog sich vor Zorn. »Niemand hier hat das Recht, ihn zu verurteilen!« schrie sie. »Sie kennen ihn nicht. Sie wissen nicht, wie schwer er es hat. Und wie sehr er mich liebt. Sie haben keine Ahnung, von nichts] Ich will weg hier. Michael, gib sofort den Weg frei. Ich meine es ernst.« Was sollte ich noch tun? Sie schob mich zur Seite und hantierte nervös am Schloß und an der Kette. Niemand eilte ihr zur Hilfe. In der Ferne hörte man schon die Sirene des Streifenwagens. Schließlich riß Traci die Tür auf. Auf der obersten Treppenstufe saß Pete, den Kopf in die Fäuste vergraben, schluchzend wie ein Kind. Traci kniete sich zu ihm, und sofort schlang er seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich. Es mußte ihr ziemlich weh tun, aber sie ließ sich nichts anmerken. Pete vergrub den Kopf an ihrer Brust. »Es tut mir so leid, Traci«, beteuerte er heulend. »Ich liebe dich doch, und ich will dich nicht verlieren. Ich verstehe selbst nicht, wie das
passieren konnte.« »Ist schon gut«, sagte sie tröstend, »Aber wir müssen sofort weg von hier. Sie haben die Polizei gerufen. Also los, steh auf!« Pete erhob sich so unvermittelt, daß er Traci fast von der Treppe gestoßen hätte. Während sie versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, drehte er sich um und erblickte – mich. Da stieß er mir seine Faust so heftig ins Gesicht, daß ich taumelte, doch er hatte mich schon beim Hemd gepackt und beförderte mich mit einem Faustschlag in die Rippen treppabwärts. »Du Schweinehund!« brüllte er mir hinterher, als ich unsanft auf dem Boden landete. Mein Brustkorb schmerzte dermaßen, daß ich kaum Luft bekam. Während ich nach Atem rang, fiel Pete erneut über mich her, kniete sich auf mich und drückte mein Gesicht in den Schotter. »Halt dich bloß raus, verstehst du?« brüllte er und diesmal waren es Tränen des Zorns, die über sein Gesicht strömten. »Halt dich bloß aus meinem Leben raus!« Ich hörte Schreie. Leute kamen angerannt. Lichter flammten auf. Dann gab Pete mich plötzlich frei. >Du mußt atmen<, war mein einziger Gedanke. >Weiter atmen<. Ich zwang mich dazu, obwohl jeder Atemzug mir fast die Brust zerriß. Ich konnte gerade noch den Kopf zur Seite drehen, dann erbrach ich mich und wurde bewußtlos. Ich glaube es wenigstens, denn das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist Ma, die neben mir kniete und mich aufforderte, ganz still liegen zu bleiben. Mein Kopf dröhnte, und der Schmerz in meiner Brust war so grauenvoll, daß ich meinte, es nicht mehr aushalten zu können. Ich griff nach Mas Hand und hielt sie fest umklammert. Nach und nach nahm ich auch den Rest meiner Umgebung wahr: den Streifenwagen mitten auf unserem Rasen, zwei Polizisten, die Pete zum Wagen schleppten, Traci, die in Lisas Armen lag und weinte. Und schließlich Pop, der sich schweratmend neben mir niederließ. »Alles in Ordnung, Mikelit?« fragte er. Seit Jahren hatte er mich nicht mehr so angeredet, mit meinem lettischen Kosenamen. Ich versuchte zu lächeln, aber es tat zu weh. Alles tat weh. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir zu nicken. »Die Welt ist voll von Verrückten«, sagte er und im aufblitzenden Scheinwerferlicht des Streifenwagens sah ich, daß seine Augen feucht waren. »Ich weiß, Pop«, flüsterte ich. Er nickte, dann verbarg er sein Gesicht in den Händen, damit niemand sah, wie er weinte. Dr. Dallmeyer, der sich einfach über Pops ängstliche Einwände hinwegsetzte, beschloß, daß ich in die Ambulanz des Krankenhauses von Corley müßte. Trotz meiner Schmerzen fand ich die Vorstellung unter Sirenengeheul und Blaulicht ein Wettrennen mit dem Tod zu veranstalten, irgendwie spannend. Tatsächlich war es dann eine ganz ruhige Fahrt ohne Blaulicht und Sirenen, dafür mit einem Dr. Dallmeyer an der Seite, der endlose Vorträge über die Zunahme der Gewalt im Fernsehen, auf der Straße, beim Sport und so weiter hielt. Seine Tiraden fand ich übrigens mindestens so unangenehm wie den Tatbestand, gegen den sie gerichtet waren. Im Krankenhaus stellten sie beim Röntgen eine gebrochene Rippe fest und versorgten mich mit einer Art Stützkorsett, das mir wieder zu einer aufrechten Haltung verhalf. Außerdem mußte ich lernen zu atmen, ohne zu inhalieren. Sie rasierten mir den halben Schädel kahl, damit meine Platzwunden am Kopf versorgt werden konnten. Die Schürfwunden am Arm wurden mit einer ätzenden und fürchterlich stinkenden Tinktur bepinselt. »Es wird noch eine ganze Zeitlang weh tun«, belehrte mich die junge, sommersprossige Ärztin, die Dr. Dallmeyer irrtümlich für eine Schwester gehalten hatte, »aber Sie werden nicht daran sterben. In den nächsten Tagen würde ich allerdings nicht mehr in den Ring steigen.« Das Lachen tat immer noch entsetzlich weh, aber mit der Aussicht, bald wieder gesund zu werden, ließ es sich aushalten. »Ein paar Tage Bettruhe. In einer Woche kann er schon wieder zur Arbeit gehen«, informierte Dr. Dallmeyer meine Eltern, als wir wieder zu Hause waren. Mrs. Dallmeyer und die Zwillinge erwarteten das Familienoberhaupt in unserem Wohnzimmer, was er mit einem unwilligen Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Sofort sprangen die drei auf, um sich zu verabschieden. »Gute Besserung«, wünschten mir die Zwillinge und als ich Melanie und Merrye so neben ihrer Mutter stehen sah, alle drei mit dem gleichen bedrückten, ängstlichen Gesichtsausdruck, erschrak ich. Mrs. Dalimeyer war anscheinend einmal sehr hübsch gewesen. Doch was war davon übriggeblieben? Und den Töchtern würde es bald genauso gehen. Offensichtlich gibt es viele Arten von Gewalt, nicht nur Gewehr und Fausthiebe, dachte ich mit einem Seitenblick auf Dr. Dalimeyer. Möglicherweise galt sein Haß vor allem sich selbst. Der erste Besucher am Krankenbett war natürlich Buddy. »Blumen gefällig?« fragte er grinsend. »Verschone mich« antwortete ich lachend. Das Lachen fiel mir, wie ich erfreut feststellte, schon etwas leichter. Als nächstes kamen die Zwillinge mit einer Riesentafel schwarze Herrenschokolade, meiner Lieblingssorte. Ferner entrollten sie eine Art Poster, auf dem die ganze Clique von Maple Grove sich mit Genesungswünschen, Fotos und Karikaturen verewigt hatte. Auch ich war auf einem Foto zu sehen: Im zweiten Schuljahr und ohne einen
einzigen Vorderzahn. »Weißt du, daß Daddy uns den Umgang mit dir verboten hat?« verriet Melanie kichernd. »Er möchte nicht, daß wir in schlechte Gesellschaft geraten.« Darüber mußte ich – Schmerzen hin oder her – schon wieder lachen. »Euer Vater ist wohl – äh – ziemlich willensstark«, meinte ich. Eigentlich hatte ich >tyrannisch< sagen wollen, wußte aber nicht, ob das den Zwillingen zuzumuten war. »Tyrannisch meinst du wohl«, bemerkte Merrye. Immer wieder verblüffte mich diese unbestechliche Art der beiden, die Dinge beim Namen zu nennen. »Ja«, gab ich kleinlaut zu. »Wie schafft ihr es eigentlich, euch nicht völlig unterdrücken zu lassen?« »Wir sind zwei gegen einen«, erklärte Melanie. »Das ist unser Vorteil.« Ich hätte gern mehr gewußt, vor allem auch, was die Situation von Mrs. Dalimeyer betraf, aber ich stellte keine weiteren Fragen mehr, denn im Grunde ging es mich ja nichts an. Seltsam, daß ich mir gegenüber den Zwillingen solche Zurückhaltung auferlegte, während es Pete und Traci geschafft hatten, mich völlig in ihren Sumpf hineinzuziehen. Aber vielleicht haben gerade die besten Freunde das Recht auf eine unangetastete Intimsphäre. Auch Mr. MacElroy kam mich zweimal besuchen. Er brachte Fisch und Chips und eine große Apfeltorte für die ganze Familie mit. Zunächst erzählte er den üblichen Klatsch und Tratsch über den Alltag im Jolly Mackerei, dann kam er auf Pete zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob du es hören willst, Michael, aber .. .« »Nein, ich will nichts von ihm hören«, sagte ich knapp. Betreten wechselte Mr. MacElroy sofort das Thema und verabschiedete sich bald. Es war das erste Mal gewesen seit jener Nacht, daß jemand mir gegenüber Pete erwähnte. Ich hatte die ganze Zeit vermieden, an ihn und die zurückliegenden Vorfälle zu denken. Und auch nun merkte ich, daß mir beim Gedanken daran sofort die Galle hochkam. Ja, ich haßte Pete. Nicht nur weil er mir weh getan hatte, sondern auch, weil es ihm gelungen war, meine Friedfertigkeit in nackte Wut zu verwandeln. Das Ausmaß meines Hasses erschreckte mich. Mein einziger Wunsch war, Pete zu vergessen, alles zu vergessen und für immer zu begraben, was mit diesem Menschen zusammenhing. Aber das gelang mir nicht. Als Mr. MacElroy das nächste Mal zu Besuch war, ließ mir die Frage, was er wohl von Pete hatte berichten wollen, keine Ruhe. Ich hakte nach. Mr. MacElroy, der am Fußende meines Bettes saß, sah plötzlich im schummerigen Licht meiner Lampe ganz fahl aus. Im Türrahmen lehnte Pop und hörte mit verschränkten Armen zu, als Mr. MacElroy uns eröffnete, daß Pete die Arbeit hingeworfen hätte. »Das ist zwar schon öfter vorgekommen«, bemerkte er, »aber diesmal meint er es ernst. Ich glaube, es geht rapide bergab mit ihm, und ich sehe weit und breit keinen Menschen, der das verhindern könnte. Du hattest das Pech, Michael, ihm zum ungünstigsten Zeitpunkt in die Quere zu kommen. Das tut mir leid für dich, aber noch mehr tut es mir leid um Pete.« Wenn er mir erzählt hätte, daß Pete tödlich mit seinem Mustang verunglückt sei, hätte ich das lieber gehört. Dennoch war ich von dem ehrlichen Bedauern, das aus Mr. MacElroys Worten klang, beeindruckt. »Wieso tut er Ihnen auch noch leid?« wollte ich wissen. »Er macht nur Ärger - Ihnen, Traci, mir, eigentlich jedem.« »Irgend jemandem muß er ja leid tun, oder?« sagte Mr. MacElroy schulterzuckend. »Und so viele kommen da nicht in Frage. Genau genommen nur Traci und ich. Ich habe miterlebt, wie die beiden ein Paar wurden. Traci war bei mir beschäftigt. Sie hatte gerade mit der High School angefangen, als Pete vom College in State zurückkam. Der große Pete Clark, einstmals berühmter und bewunderter Sohn dieser Stadt. Doch zu diesem Zeitpunkt galt er bereits als Versager, sogar in den Augen seiner Familie. Eine peinliche Figur, eine lebende Legende, was die Vergangenheit betraf, aber ohne Gegenwart und Zukunft. Traci war der einzige Mensch auf der Welt, auf dessen Bewunderung er noch zählen konnte.« »Warum hat er eigentlich das College verlassen?« fragte ich. »Er selbst hat behauptet, weil es ihn langweile. Aber ich habe ihm das nie abgenommen. Ich glaube einfach, er ist nicht damit zurechtgekommen, daß er dort nichts weiter war als ein kleiner Fisch in einem Riesensee, während er hier der große Hecht in einem kleinen Teich gewesen war. Das hat er nicht verkraftet.« Ich wunderte mich im stillen, daß so ein Brocken wie Pete irgend etwas nicht verkraften könnte. »Sie hätten miterleben müssen, wie er hier bei seinem letzten Spiel gefeiert worden ist«, fuhr Mr. MacElroy inzwischen zu meinem Vater gewandt fort. »Auf den Schultern haben sie ihn aus dem Stadion getragen, den großen Helden. Ich habe sein Gesicht dabei gesehen. Er hatte die glücklichen Augen eines kleinen Kindes, das im Riesenrad sitzt und sich die Welt von ganz oben betrachtet – « »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Pop scharf. Mr. MacElroy machte ein überraschtes Gesicht. »Man hat es ihm hier einfach zu leicht gemacht«, erklärte er Pop. »Man hat ihn verwöhnt. Diese Stadt hat ihrem berühmten Sohn alles gegeben, zuviel des Guten und doch nicht genug. Er hat nie lernen müssen, die Zähne zusammenzubeißen. Er war ohnehin kein Kämpfer, aber daß ihn alle so verhätschelt haben, war sein Ruin.« Für eine Sekunde kreuzten sich meine und Pops Blicke, dann schauten wir beide verlegen in eine andere Richtung.
»Nun, Michael, alter Junge, ich will dich nicht überstrapazieren«, sagte Mr. MacElroy, als er sich von meinem Bett erhob. »Aber du solltest dich auch nicht an dieses Faulenzerdasein gewöhnen. Wir haben das schmutzige Geschirr extra für dich aufgehoben.« Mit einer seiner berühmten Lachsalven verabschiedete sich Mr. MacElroy. Pop sah ihm nachdenklich hinterher. »Die Welt ist wirklich voller Verrückter«, meinte er schließlich. »Aber ein paar davon sind in Ordnung.« Ich war gespannt, ob er unseren vielsagenden Blickkontakt mit irgendeinem Wort erwähnen würde. Aber er schüttelte nur meine Kissen auf und stellte mir das Bett hoch, damit ich leichter atmen konnte. Dann wünschte er mir eine gute Nacht und schloß behutsam die Tür hinter sich. Ich lag noch lange wach und dachte über Pete nach. Über Pete, den Helden, und Pete den Versager. Vor allem beschäftigte mich die Frage, warum er Traci so brutal behandelte, wenn er doch so sehr auf ihre Liebe und Anerkennung angewiesen war. Genauso unverständlich war für mich, daß er Mr. MacElroys Gutmütigkeit so sehr ausnützte. Wo sonst würde er so günstige Arbeitsbedingungen finden? Nach langem Grübeln kam ich zu dem Ergebnis, daß es etwas mit dem Problem der Abhängigkeit zu tun haben mußte. So wie die Winter-Menschen die Sommer-Menschen haßten, weil sie auf sie angewiesen waren, so mußte Pete auf Traci Wut empfinden, weil nur sie ihm das Gefühl geben konnte, noch etwas wert zu sein. Er brauchte sie, um sich stark zu fühlen, und genau das war seine Schwäche, die er sich und ihr nicht verzieh. Wie Mr. MacElroy es genannt hatte: Ein Drahtseilakt. Und ab und zu stürzte Pete eben ab. So betrachtet, gelang es mir nicht mehr, noch allzu zornig auf ihn zu sein. Während der ganzen Zeit, wo ich krank war, fuhr Pop nicht in die Stadt zurück. Elf Tage lang war ich Gegenstand seiner Fürsorge und Aufregung. Er versuchte mir mein Krankenlager so angenehm wie möglich zu machen, sorgte für Abwechslung, kaufte mir Bücher und Zeitschriften, sogar Süßigkeiten, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr bekommen hatte. (Buddy und ich hatten unser Vergnügen beim Kaugummiblasen!) Und Pop kümmerte sich um meinen Besuch. Seine Bemühungen, Pete vor den Kadi zu bringen, blieben allerdings erfolglos. Der Staatsanwalt unterhielt sich eine ganze Stunde mit uns, größtenteils über den Diamantring, den er seiner Frau gekauft hatte und zu dem er Pops fachkundiges Urteil hören wollte; dann wies er uns auf Petes Verdienst während seiner High School-Zeit hin und schloß mit der Bemerkung, daß Jungen schon mal Dummejungenstreiche machen. Ich glaube, Pop war nahe daran, ihm den Hals umzudrehen. Ich versuchte ihn zu beschwichtigen, und war froh, als wir aus dem Büro heraus waren. Traci hatte sich natürlich geweigert, Pete zu belasten. Und sie weigerte sich auch, mit irgend jemandem von uns, einschließlich Lisa noch ein Wort zu wechseln. Ja, sie machte Lisa sogar dafür verantwortlich, daß alles so gekommen war. Wir sprachen darüber während der Krankenbesuche, die sie mir zweimal täglich abstattete. Tracis Vorwürfe schienen Lisa weniger zu erschüttern als mich. Sie fand eher, daß sie nun erst recht mit gutem Gewissen, ohne Schuldgefühle gegenüber Traci haben zu müssen, nach New York gehen könne. »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«, sagte sie. »Das ist schon lange mein Wahlspruch.« Sie saß mir in einem Sessel gegenüber und hatte ihre Füße auf meiner Bettkante abgestellt. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern und glänzte im Sonnenlicht. Ich stellte fest, daß es mir einfach guttat, sie anzuschauen. »Vielleicht bringt Pete sie eines Tages um, wenn sie nichts unternimmt«, fuhr Lisa fort. »Nicht vorsätzlich, aber im Affekt. Ich habe mit Traci über Selbsthilfegruppen und Familientherapie geredet. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, daß ihr Leben nicht nach demselben Muster verlaufen muß wie das ihrer Eltern. Aber was kann man schon tun, wenn jemand gar nicht will, daß sich etwas ändert. Hast du eine Idee? Du bist doch hier der Sozialarbeiter!« »Das Bedürfnis nach Veränderung ist die Grundvoraussetzung. Das kannst du in jedem Lehrbuch nachlesen.« »So sehe ich es auch«, sagte Lisa. Dann fügte sie nach einer Pause hinzu: »Vielleicht sollte ich ihr aber doch für alle Fälle meine Adresse in New York geben.« »Dann gib ihr meine in Maple Grove auch«, schlug ich vor. »Das ist etwas näher als New York.« »Allerdings«, sagte Lisa mit gesenktem Kopf. Erst als ein kleiner Schluchzer die Stille unterbrach, fiel mir auf, daß sie weinte. »He, was ist los?« fragte ich. »Ach nichts, gar nichts«, murmelte sie. »Aber für jemanden, der angeblich nicht gern weint, passiert es mir ein bißchen zu oft, oder? Vor allem in deiner Gegenwart, findest du nicht?« »Ich fürchte, ich habe in letzter Zeit eine Menge Leute traurig gemacht«, entschuldigte ich mich. »Ich weine nicht wegen dir, ich weine wegen Traci«, sagte Lisa. »Aber hast du nicht eben noch behauptet, du wärst erleichtert, sie los zu sein?« fragte ich verwundert. »Das bin ich auch«, antwortete sie, während sie sich heftig schneuzte. »Traci war meistens eine Belastung für mich. Trotzdem tut es mir weh, daß sie sich auf diese Weise von mir abwendet. Vor allem jetzt. Denn wer bleibt mir jetzt noch? Meine Familie hat mich quasi aufgegeben, denn in ihren Augen ist jeder, der Braden's Port verläßt, ein Abtrünniger. Meine anderen Freundinnen kümmern sich nicht mehr um mich. Und nun läßt Traci mich auch noch im Stich.«
»Aber war das nicht genau das, was du dir gewünscht hast? Gehen zu können, ohne noch an irgend jemanden gebunden zu sein?« »Ja, ich habe es genauso gewollt. Und jetzt stelle ich fest, wie schrecklich das ist. Ich wollte immer so sein wie Fanette, frei und ungebunden, mal hier, mal da. Aber jetzt fühle ich mich nur noch verloren. Ob ich nun nach New York gehe oder direkt durch dieses Fenster hinausfliege und im All herumkreise – vermissen wird mich kein Mensch.« »Und ob. Buddy würde bei der NASA eine Rakete anheuern und dafür sorgen, daß du zurückkommst.« »Ach, Buddy!« winkte Lisa müde ab. »Der redet von Liebe, aber in Wirklichkeit ist er nur in seine Idee von Liebe verliebt, die er mir überstülpen will. Wer ich wirklich bin, weiß er doch gar nicht. Ich habe ihm übrigens das Goldkettchen zurückgegeben, und ich hoffe, er hat verstanden.« »Gut, aber dann gibt es immer noch mich. Für ein Raumschiff reicht es bei mir nicht, aber vielleicht könnte ich dich an die lange Leine nehmen. Wie bei einem Drachen. Du hebst ab und ich hänge unten dran, damit du nicht ganz wegfliegst.« »Warum solltest du das tun?« fragte Lisa mit niedergeschlagenen Augen. »Nach allem was ich dir zugemutet habe? Ich war eine Plage für dich, so wie Traci für mich.« »Es gab nicht nur Schlechtes«, sagte ich. »Schon, aber wenn ich erst mal weg bin, gibt es gar nichts mehr, nichts Gutes und nichts Schlechtes.« »Ganz so ist es nicht«, widersprach ich. »Ich werde bestimmt viel an dich denken, überlegen wie es dir geht. Und ich bin froh, daß wir uns begegnet sind. Wie traurig, wenn wir uns nie kennengelernt hätten!« »Dasselbe hat Mrs. Brewer auch gesagt – von Tony«, erinnerte sich Lisa lächelnd und wischte sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel. »Siehst du«, sagte ich. »Und ich denke, es gibt da noch jemanden, dem du wichtig bist.« »Oh, fang nicht davon an«, fuhr sie mich an. »Ich habe über ein Jahr lang nichts von ihr gehört.« »Du hast ihre Briefe nicht beantwortet«, gab ich zu bedenken. »Vergiß es, Michael. Das ist vorbei. Aus und vorbei.« »Gut. Aber wie wäre es, wenn wir uns ab und zu schreiben würden?« »Ich weiß nicht recht«, sagte sie zögernd. »Ich bin nicht gut im Briefeschreiben.« »Wieso?« »Oh, du mit deinen ewigen Fragen!« brüllte sie plötzlich und sprang von ihrem Stuhl auf. »Willst du wissen, warum ich ihr nie geantwortet habe. Dumme Frage, natürlich willst du es wissen. Du willst ja immer alles wissen. Also hör zu: Ich habe ihr nie verziehen, deshalb konnte ich ihr auch nicht schreiben. Ich habe sie geliebt. Und es gibt nicht viele Menschen in meinem Leben, Michael, von denen ich das behaupten kann. Ich habe sie geliebt, und sie hat mich enttäuscht. Sie hat mir sehr weh getan damit. Weißt du, als Tony gestorben war, habe ich mich so um sie bemüht. Ich wollte eine Art Ersatztochter für sie sein. Ich wollte so wichtig für sie sein, wie sie es für mich war. Sie wußte das und ist trotzdem fortgegangen und das habe ich ihr nie verziehen. So, bist du jetzt zufrieden? Dann kann ich ja endlich gehen.« Ich saß da wie betäubt und hörte sie die Treppe hinunterlaufen, die Tür aufreißen und wieder zuschlagen. Aber am Abend war sie wieder da. Verlegen lächelnd stand sie in meinem Türrahmen und sagte: »Hallo.« Ich legte das Buch zur Seite, in dem ich seit Stunden unkon-zentriert herumblätterte. Die Frage, ob ich Lisa anrufen sollte, war mir dauernd im Kopf herumgegangen. Aber was hätte ich ihr sagen sollen? »Hallo! Komm doch rein!« bat ich. »Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, nicht?« fragte sie und blieb in der Tür stehen. »Nein«, sagte ich. »Bestimmt nicht?« »Bestimmt nicht.« »Sind wir immer noch Freunde?« »Haben wir eine andere Wahl?« »Aber – warum macht es dir so wenig aus, daß ich weggehe, daß wir uns vielleicht nie wiedersehen? Tut dir der Gedanke denn nicht weh?« »Das ist doch nicht das Entscheidende, Lisa«, sagte ich. »Natürlich tut es weh, aber viel wichtiger ist doch, daß du mir geholfen hast, die Sache mit meinem Beruf durchzukämpfen. Ohne dich würde ich vielleicht immer noch tun, was meine Eltern sagen. Ohne dich wäre es hier ein Sommer wie jeder andere gewesen. Mit dir war es ein ganz besonderer Sommer.« »Ja, kann sein«, sagte sie und strich mit dem Finger über den Türrahmen. »Soll ich morgen noch mal vorbeikommen?« »Ich bitte darum«, sagte ich. Still drehte sie sich um und ging. Am Donnerstag morgen war ich schon eine gute halbe Stunde vor dem Wecker wach. Ich bahnte mir meinen Weg durch die überall verstreut herumliegenden Zeitschriften auf dem Boden. Ich kannte sie so gut wie auswendig. Was kann man tun, wenn man ans Bett gefesselt ist, außer lesen? Im Bad summte ich unter der
Dusche gutgelaunt ein Liedchen. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich so auf abgegessene Teller und schmutzige Tische freuen könnte. Aber das erzwungene Nichtstun hatte tatsächlich dazu geführt. In der Küche war Pop schon damit beschäftigt, mir Kaffee zu kochen. »Was möchtest du zum Frühstück essen?« erkundigte er sich besorgt. »Mach dir keine Arbeit, Pop, ich komme schon allein zurecht«, ließ ich ihn wissen. »Bist du sicher?« »Allerdings. Oder meinst du, ich breche zusammen, wenn ich mir einen Teller Cornflakes anrühre?« Er schwieg. Er schwieg die ganze Zeit, während ich mir Milch, Orangensaft, Zucker, einen Löffel und eine Serviette zusammensuchte. Ich fühlte, daß er mich bei jedem Schritt beobachtete. »Was ist los, Pop?« fragte ich ihn schließlich. »Hast du vor, heute arbeiten zu gehen?« erkundigte er sich. »Klar«, sagte ich. »Der Arzt hat es erlaubt.« »Hast du von diesem Lokal noch immer nicht die Nase voll?« »Pop, fange bitte nicht wieder davon an«, bat ich ihn. »Ich habe bis Anfang August zugesagt, also werde ich auch arbeiten. Außerdem mag ich die Leute da. Es sind meine Freunde.« »So? Pete Clark ist dein Freund? Macht es dir Spaß, zusammengeschlagen zu werden?« »Du weißt genau, daß sie nicht alle wie Pete sind. Also, was willst du?« »Ich möchte, daß du es einmal besser und leichter hast im Leben als ich. Dasselbe wollte mein Vater für mich auch! Aber was willst du?« Ich stellte das Glas Saft, aus dem ich gerade trinken wollte, wieder auf den Tisch. »Großvater hat dein Leben nicht besser und leichter gemacht«, sagte ich. »Er hat dir eine Möglichkeit eröffnet. Alles weitere war deine Sache, deine Entscheidung. Und das ist alles, was ich will: über mein Leben selbst entscheiden dürfen. Frei wählen.« »Was soll das denn heißen? Entscheidungen? Frei wählen? Ich kann mich nicht erinnern, das getan zu haben.« »Nun, immerhin bist du aus Großvaters Laden ausgestiegen und hast deinen eigenen aufgemacht«, erinnerte ich ihn. Pop schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. »Was hat das mit freier Entscheidung zu tun? Gar nichts!« brüllte er. »Ich verstehe dich nicht. Natürlich war es deine Wahl«, beharrte ich. »Er hat schon gewählt. Allerdings mich«, sagte Ma, die unser Gespräch im Türrahmen mitverfolgt hatte. »Eigentlich sollte er Erika Ozols heiraten. Ein Mädchen, das sein Vater für ihn ausgesucht hatte.« »Aha!« sagte ich und blickte abwechselnd Ma an, dann wieder Pop. Ich gab mir alle Mühe, mir meinen Triumph nicht anmerken zu lassen. »Du hast Großvater also verlassen, weil ihr euch in diesem Punkt nicht einig wart?« Pop blickte verlegen zum Fenster hinaus. Er war rot bis unter die Haarwurzeln. »Du mußtest dich entscheiden, und du hast deine Wahl getroffen«, fuhr ich fort, meine Chance nutzend. »Und ich denke, dieser Entscheidung folgten noch eine Menge andere.« »Ja. Aber auch jede Menge Plackerei und Schwierigkeiten«, sagte er, während er mir fest in die Augen blickte. »Davor möchte ich dich bewahren.« Über den Tisch hinweg griff ich nach seiner großen Hand, die schon mit Altersflecken übersät war. »Aber das geht nicht«, sagte ich, »außer du hast vor, mich bis zur Lebensuntüchtigkeit zu verhätscheln. Denk mal an das, was Mr. MacElroy uns erzählt hat.« Pop seufzte einmal schwer, zog seine Hand aus meiner und ließ sie stumm in seinen Schoß fallen. »Lisa hat mir eine Geschichte erzählt von einem jungen Vater, der nicht mit ansehen konnte, wie sein kleiner Junge starb. Also ist er abgehauen. Eine schreckliche Geschichte und trotzdem konnte ich diesen Vater verstehen. Als ich jetzt eine Woche im Bett lag, hatte ich viel Zeit nachzudenken. Auch über uns beide. Ich verstehe, daß es ein furchtbarer Anblick für dich gewesen sein muß, als Pete mich zusammengeschlagen hat und daß du mich nicht gern wieder ins Jolly Mackerei gehen läßt.« Pop blickte mich kurz an, dann betrachtete er wieder seine Hände. »Ich habe einfach Angst um dich«, gab er zu. »Und um mich auch! Ich will dich nicht verlieren.« »Ich werde schon klärkommen«, beruhigte ich ihn. »Und es ist gut zu wissen, daß ich mich an euch wenden kann, wenn es einmal nötig sein sollte.« »Das würdest du tun?« »Ja.« Er wechelte einen kurzen Blick mit Ma und hob seufzend die Schultern. »Iß«, sagte er schließlich, »sonst kommst du noch zu spät zur Arbeit.« Den Rest des Sommers entwickelte Pop ein außergewöhnliches Interesse für Psychologie. Der Stapel von Büchern um seinen Sessel wuchs so gewaltig an, daß man glauben konnte, er hätte die halbe Bibliothek leergeräumt. »Michael«, sagte er jedesmal, wenn ich vorbeiging, und zeigte mit dem Finger auf ein Kapitel, »wußtest du das
schon?« Ma zwinkerte mir dann verschwörerisch zu. Wir beide wußten, daß Pop auf diese Weise versuchte, auch in dem neuen Leben, das ich mir ausgesucht hatte, seine Rolle zu spielen. Der kleine Mikelit betrat Neuland und Pop überwachte seine ersten Schritte. Aber ich konnte das akzeptieren, weil es immer noch mein Neuland, mein Leben war. Im übrigen profitierte Pop selber davon, insbesondere was seinen Wortschatz betraf. Ohne Mas Hilfe fand er das andere Wort mit sechs Buchstaben für >Geisteskrankheit<: Demenz. Die späte Augustsonne macht mich immer wehmütig. Ich glaube, das hat damit zu tun, daß August der Monat des Abschiednehmens ist und diesmal waren es mehr Abschiede als je zuvor. Mr. MacElroy gab eine Abschiedsparty für Lisa und servierte ihr mit dem Wunsch, ihr ganzes Leben möge so aussehen, ein köstliches Filet mignon. Alle im Lokal, sogar die Gäste am Ecktisch, durften ihr zum Abschied einen Kuß auf die Wange drücken. Und mir schüttelten alle die Hand, als wollten sie mir herzliches Beileid wünschen. Am nächsten Tag fuhr ich Lisa nach Corley. Buddy saß auf dem Rücksitz, eingeklemmt zwischen Lisas Koffern. Als wir endlich die Bushaltestelle gefunden hatten, fragte Buddy Lisa ein letztes Mal, ob es den wirklich sein müsse. Lisa zog die Sonnenbrille ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange. »Vielleicht war es dumm von mir, daß ich deine Eroberungsversuche alle abgewehrt habe, Buddy«, sagte sie zu ihm, »aber ich fürchte, es mußte sein. Ich wünsche dir alles Gute, du hast es verdient.« »Du auch«, flüsterte er und seine Augen blickten dabei so traurig wie nie zuvor. »Ich werde dich nie vergessen, hörst du?« »Quatsch. Du wirst mich bestimmt bald vergessen«, widersprach Lisa. »Nie«, wiederholte Buddy, »kannst du mich denn vergessen?« »Kaum«, meinte Lisa lächelnd. »Bei jedem Blumengeschäft werde ich an dich denken.« »Das erinnert mich an etwas«, sagte Buddy und förderte aus seiner Jackentasche die goldene Kette mit dem Herzchen hervor. »Buddy, du weißt, ich will das nicht – « begann Lisa. »Nimm es als Talisman«, sagte Buddy und zog Lisa rasch die Kette über den Kopf. »Außerdem nehmen sie es nicht zurück, weil der Name eingraviert ist.« »Es war kein Name eingraviert«, protestierte Lisa. »Aber jetzt steht einer drin«, belehrte Buddy sie. Lisa gab auf. »Danke«, sagte sie. »Du bist zwar verrückt, aber der netteste Verrückte, den ich kenne.« Übers ganze Gesicht strahlend wuchtete Buddy die Koffer aus dem Wagen und schleppte sie zur Haltestelle. Ich durfte keinen Finger rühren. Als der Bus heranrollte, blickte Lisa mich mit ihren wunderbaren grünen Augen lange an. »Jetzt ist so soweit, Michael«, sagte sie. »Paß auf dich auf. Und auf Buddy.« »Wird gemacht«, sagte ich. »Alles Gute für dich.« »Euch auch.« Wir standen uns eine Weile verlegen gegenüber und traten von einem Fuß auf den anderen. Ich glaube, wir hatten beide dieselben Worte auf den Lippen, trauten uns aber nicht, sie auszusprechen. >Ich liebe dich< zu sagen, ist so schwierig, selbst für gute Freunde. »Oh, fast hätte ich es vergessen!« rief Lisa plötzlich aufgeregt. »Ich habe einen Brief von Mrs. Brewer bekommen.« »Tatsächlich? Nach so langer Zeit? Und ausgerechnet jetzt, wo du wegziehst. Zu dumm.« »Ich habe ihr zuerst geschrieben«, verriet Lisa. »An dem Abend, als wir das Gespräch hatten.« »Mensch! Das finde ich toll!« Im selben Moment fühlte ich ihre Arme um meinen Hals, und ich drückte sie so fest ich konnte an mich. »Halt die lange Leine gut fest«, flüsterte Lisa an meinem Hals. »Laß sie nicht los, bitte!« »Versprochen«, sagte ich. »Und flieg so hoch du kannst.« Der Busfahrer hupte ungeduldig, und Lisa stieg ein. »Komm, wir steigen ins Auto«, sagte Buddy. »Ich kann Männer nicht weinen sehen. Vor allem nicht Männer wie mich.« Trotz des dicken Kloßes in meiner Kehle mußte ich lachen. »Wenn ich nicht bekomme, was ich haben will, werde ich krank«, bemerkte Buddy, als wir im Auto saßen. Eine Weile fuhren wir schweigend und beobachteten die Schatten, die die untergehende Sonne auf die Straße warf. »Ich habe nie gewußt, daß das Leben so weh tun kann«, fuhr Buddy schließlich fort. »Ich habe nie gewußt, daß ich so viel fühlen kann. Dieses wirkliche Leben, nach dem du so verrückt bist, fordert seinen Preis, nicht wahr?« »Ich glaube schon«, war alles, was ich antwortete. »Eine gebrochene Rippe, ein gebrochenes Herz. Ich denke, das reicht fürs erste«, sagte Buddy. Ich steuerte schweigend die Mansion Plaza an. Nun, wo Traci nicht mehr dort arbeitete, konnten wir wieder unbedenklich unser Eis bei Sweet Poüy's essen. Pete brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Übrigens hielt Mr. MacElroy ihm seinen Arbeitsplatz immer noch frei. Genau in dem Moment, als wir unsere Stammplätze einnah-men, gingen überall die Lichter an. Es begeisterte mich
wie immer. Die Rensens kamen mit dem Baby vorbei, und Buddy schmuste und spielte mit seiner kleinen Schwester. Bei diesem Anblick wurde ich plötzlich ganz traurig. Ich stellte mir vor, wie Buddy und ich Jahr für Jahr nach Bra-den's Port kämen, irgendwann mit unseren Frauen und Kindern, die miteinander im Sand spielen würden, so wie wir beide es früher getan hatten. Das gute, einfache, sichere Leben, von dem Pop immer sprach. Ich hatte das Gefühl, es sei für immer vorbei. Wenigstens für mich. Natürlich, ich würde noch öfter hierher kommen. Noch war ich mit der Schule nicht fertig. Und vielleicht würde ich auch die Semesterferien hier verbringen. Aber es wäre nicht mehr dasselbe. Ich war zum Außenseiter geworden, gehörte weder zu den Sommer- noch den Winter-Menschen. Mein Aufenthalt hier wäre nur noch ein Zwischenspiel, bis ich den Platz in der Welt gefunden hatte, an den ich endgültig gehörte. So wie Lisa. Ich sah sie vor mir, wie sie nun durch die Nacht fuhr, in eine fremde Stadt, auf die sie alle ihre Hoffnungen setzte: fürchterlich aufgeregt, aber auch allein, traurig und voll Angst. Sie hatte sich dennoch nicht umgedreht. Und ich würde es auch nicht tun. ENDE