Achim Hiltrop präsentiert
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 4: Terror im Tower Colin Mirth saß in seinem Büro und las die Times, als die Tür aufging und sein Kollege eintrat. "Guten Morgen, Commander Mirth", rief Archibald Moore fröhlich und warf sein Exemplar des Daily Mirror, welches er unter dem Arm getragen hatte, auf den Schreibtisch. Colin sah mißbilligend auf die Titelseite des Daily Mirror. Er konnte nicht verstehen, wie ein Beamter des Scotland Yard seine Informationen aus einem solchen Revolverblatt beziehen konnte, wenn es doch an jeder Straßenecke auch die um Längen seriösere Times zu kaufen gab. An Moore waren jedoch bislang alle seine Missionierungsversuche gescheitert. "Guten Morgen, Sergeant", entgegnete er höflich. Moore legte Hut und Mantel ab und nahm dann an seinem Schreibtisch Platz. Statt jedoch zur Zeitung zu greifen, fixierte er Colin mit einem durchdringenden Blick wie ein zum Sprung bereites Raubtier. Als Colin bemerkte, daß er beobachtet wurde, ließ er die Times sinken und sah seinen Gegenüber über den Rand der Zeitung hinweg fragend an. "Ja bitte, Sergeant?" Moore holt tief Luft und machte eine weit ausholende Geste. "'O Wunder'", intonierte er inbrünstig, "'Was gibt's für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! Wack're neue Welt, die solche Bürger trägt!'" Colin faltete die Times säuberlich zusammen und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. "Zu einfach, lieber Sergeant", sagte er mit einem milden Lächeln, "Der Sturm, fünfter Akt, erste Szene." Moore schien sichtlich zu schrumpfen. "Ich fasse es nicht", brummte er enttäuscht, "es muß doch irgendein Stück von dem Mann geben, das Sie nicht auswendig kennen!" Colin lächelte weiter, die Liebenswürdigkeit in Person. "Keine Chance, Sergeant." "Hmm." Sergeant Moore vertiefte sich trotzig in die Lektüre seiner Zeitung, und Colin ahnte bereits, daß sein Kollege sich auch die nächste Nacht damit um die Ohren schlagen würde, Shakespeares Werke nach Textstellen abzusuchen, um ihn am nächsten Morgen mit einer vermeintlich unbekannten Textstelle zu konfrontieren. In den letzten Monaten war es für Moore geradezu eine Besessenheit geworden, Colins Literaturkenntnisse auf ihre Vollständigkeit abzuklopfen. Bislang vergeblich; ganz gleich, welche Zitate ihm der Sergeant auch entgegenschleuderte, Colin hatte sie alle erkannt und korrekt den Stücken, denen sie entnommen waren, zugeordnet. Doch es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Moore locker lassen würde, dessen war Colin sich sicher. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Inspector Pryce steckte den Kopf herein. "Guten Morgen, Gentlemen. Kann ich Sie mal für einen Augenblick unter vier Augen sprechen, Commander Mirth?" Moore sprang auf. "Ich wollte ohnehin gerade Tee holen gehen. Möchte noch jemand eine Tasse?" Colin und der Inspector winkten ab. Nachdem Moore gegangen war, setzte sich Pryce auf die Kante von Colins Schreibtischplatte.
Colin Mirth "Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß nun endlich alle Formalitäten bezüglich Ihres Transfers vom Secret Service nach Scotland Yard geklärt sind. Sie werden als Sergeant in den Polizeidienst übernommen, mit dem üblichen Gehalt von 58 Britischen Pfund. Ihr neuer Dienstausweis wird gerade vom Superintendent unterschrieben." Colin verzog keine Miene. "Vielen Dank, Sir. Aber mit Verlaub, mein Salär beim Geheimdienst war deutlich höher als 58 Pfund." Pryce lächelte spöttisch. "Dessen bin ich mir bewußt. Sie müssen aber verstehen, daß wir mit Rücksicht auf die anderen Sergeants keine Ausnahme machen können. Dem Superintendent ist die Angelegenheit auch ein wenig unangenehm, und er läßt Ihnen durch mich ausrichten, daß Sie im Rahmen Ihres Transfers eine einmalige Gratifikation von 1000 £ ausgezahlt bekommen. Ich denke, daß Sie diese Summe ein wenig über den Verlust hinwegtrösten wird." Colins Gesicht hellte sich auf. Die Sonderzahlung war um Einiges höher, als er es erwartet hatte. "Danke, Sir. Das wird sie in der Tat." "Fein, dann sind wir uns ja einig." Pryce erhob sich von der Tischkante, strich seinen Anzug glatt und öffnete die Bürotür. "Ich bin übrigens bislang sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Weiter so, Sergeant Mirth!" Archibald Moore, der mit einer dampfenden Teetasse auf dem Korridor gewartet hatte, sah dem Inspector verdutzt nach. Als Pryce um die nächste Ecke des Ganges verschwunden war, betrat Moore das Büro. "Habe ich da gerade richtig gehört? Sergeant Mirth?" Colin nickte und verschränkte zufrieden die Hände hinter dem Kopf. "Präzise. Meine Versetzung ist endlich unter Dach und Fach." "Tja, dann..." Moore stellte seine Tasse auf dem Schreibtisch ab und reichte Colin die Hand, "herzlichen Glückwunsch, Sergeant." "Danke, Sergeant." * Am Abend saßen die beiden Polizisten an ihrem angestammten Platz im Red Lion und stießen auf Colins neuen Dienstgrad an. "Auf Ihr Wohl, Sergeant Moore", sagte Colin und hob sein Bierglas. "Auf Ihres, Sergeant Mirth", prostete Moore ihm zu. Colin nahm einen großen Schluck und wischte sich den Mund mit seinem Taschentuch ab. "Wissen Sie, Sergeant..." "Was denn, Sergeant?" fragte Moore. "Nun, da wir beide den gleichen Dienstrang tragen, kommt das Wort 'Sergeant' für meinen Geschmack ein wenig zu häufig in unseren Unterhaltungen vor", sagte Colin nachdenklich, "was würden Sie davon halten, wenn wir uns in Zukunft mit Vornamen anreden?" Moore grinste breit. "Einverstanden, Serg— ich meine, äh..." "Ich bin Colin", half ihm sein Kollege aus der Verlegenheit. "Einverstanden. Ich heiße Archibald. Sehr zum Wohl, Colin!" Sie waren so vertieft in ihr Gespräch, daß sie den Gardesoldaten, der sich Ihnen genähert hatte, erst bemerkten, als er direkt neben ihrem Tisch stand. "Sind Sie die Gentlemen Moore und Mirth von Scotland Yard?" Colin sah überrascht von seinem Bier auf. Der Mann trug die königsblaue Uniform mit den roten Tressen, die ihn als Yeoman Warder aus dem Tower von London auswiesen. Außerhalb des Towers hatte Colin noch nie einen dieser Gardisten in Uniform gesehen. Seite 2
Colin Mirth "Sergeant Moore und Sergeant Mirth", entgegnete Archibald Moore, "zu Diensten, Sir. Und Sie sind...?" "Sergeant Harold Porter, königliche Garde." "Letzteres ist offenkundig", schmunzelte Colin mit einem Blick auf die auffällige Uniform des Gardisten. "Ich habe schon überall nach Ihnen gesucht, Gentlemen", fuhr Porter fort, "drüben beim Scotland Yard sagte man mir, daß ich Sie nach Dienstschluß hier finden würde." "Sehen Sie, guter Mann, da haben Sie ein entscheidendes Wort gebraucht", sagte Archibald, "nämlich das Wörtchen 'Dienstschluß'. Warum kommen Sie nicht morgen früh in unser Büro, dann können wir—" Porter schüttelte energisch den Kopf. "Morgen früh könnte es zu spät sein", sagte er so laut, daß sich andere Gäste des Pubs nach ihm umdrehten und miteinander zu tuscheln begannen. "So mäßigen Sie sich doch, Sergeant", sagte Colin beschwichtigend. Porter knetete nervös seine Fingerknöchel. "Mein Vorgesetzter, der Yeoman Gaoler, hat gute Kontakte zum Secret Service", sagte er leise, "und er hat schon vor einigen Tagen versucht, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, Sergeant Mirth. Wir haben erst heute erfahren, daß Sie jetzt bei der Metropolitan Police sind." Colin zwinkerte Archibald zu. "Vermutlich bin ich in der Bürokratie Ihrer Majestät nicht auffindbar gewesen, so lange meine Versetzung noch in Bearbeitung war." Der Gardist sah unruhig von einem zum anderen. "Sagen Sie, Sergeant Mirth, der Yeoman Gaoler meinte, Sie wären in Ihrer Zeit beim Secret Service auf paranormale Phänomene spezialisiert gewesen. Ist dem noch immer so?" Colin lächelte schief. "Nein. Zumindest nicht offiziell." "In Gottes Namen, Mann", zischte Porter, "es geht um Leben und Tod! Wir brauchen Ihre Hilfe!" "Schon gut, schon gut", Colin klopfte ihm auf die Schulter und leerte sein Glas, "Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Kommen Sie, Archibald, lassen wir den guten Sergeant nicht warten." Der Gardist war sichtlich erleichtert. "Danke, Sergeant." "Nicht der Rede wert, Sergeant", entgegnete Archibald süßlich. * Die Kutsche mit dem königlichen Wappen preschte mit einer unerhörten Geschwindigkeit durch das nächtliche London. Gegen dreiundzwanzig Uhr erreichte sie das Westtor des Towers. Wo sich seit 1841 tagsüber Besucher aus aller Herren Länder für Eintrittskarten drängten, standen des Nachts lediglich uniformierte Palastwachen. Sergeant Porter wechselte ein paar Worte mit den diensthabenden Offizieren, dann konnte die Kutsche das Tor passieren. Vorbei an den Bauarbeiten an der Südmauer der Festung und dem massiven Bloody Tower ging es eine Steigung hinauf zum Zentrum der Anlage, dem White Tower und den ihn umgebenen Verwaltungsgebäuden. "Was meinen Sie, was der Beefeater mit uns vor hat, Colin?", fragte Archibald leise, als sie vor der Leutnantskaserne ausstiegen. Colin unterdrückte ein Gähnen. "Nach dem, was er sagte, vermute ich mal, daß es sich um ein paranormales Phänomen handelt... was mich übrigens nicht wundern würde, an einem Ort wie diesem." Archibald schürzte die Lippen. "Hmm. Sie denken vermutlich an die vielen Verurteilten, die in diesen Mauern hingerichtet wurden."
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Colin Mirth "In der Tat, Archibald, in der Tat." Colin reckte sich. "Eigentlich habe ich inzwischen die nötige Bettschwere. Ich sollte gar nicht hier sein." Sergeant Porter, der auf der anderen Seite der Kutsche ausgestiegen war und das Gefährt hatte umrunden müssen, hatte Colins letzte Bemerkung gehört. "Im Gegenteil, Sergeant Mirth, Ihre Anwesenheit ist unbedingt erforderlich. Wir wissen nicht mehr weiter, und der Yeoman Gaoler ist davon überzeugt, daß Sie—" "Schon gut, Sergeant", winkte Colin ab, "ich werde mein Möglichstes tun. Ich bin es nur fast nicht mehr gewohnt, zu solch vorgerückter Stunde noch zu arbeiten." "Ich verstehe, Sergeant." Porter wies auf den Eingang des Fachwerkgebäudes, vor dem sie angehalten hatten. "Hier entlang, bitte." * Gaslicht und Kerzen erhellten das kleine Büro des stellvertretenden Kommandeurs der königlichen Garde. Sergeant Porter hielt den beiden Polizisten die Tür auf und salutierte seinem Vorgesetzten. "Yeoman Gaoler, Sir! Ich darf Ihnen Sergeant Mirth und Sergeant Moore von Scotland Yard vorstellen." "Na endlich. Willkommen, Gentlemen. Ich bin Thomas Milton, der Yeoman Gaoler der Garde." Der bärtige Offizier drückte Colin und Archibald die Hand. "Es tut mir aufrichtig leid, daß wir Sie um diese gottlose Zeit noch zu uns bitten mußten, aber die Umstände erforderten es leider." "Natürlich, Sir." Colin nickte verständnisvoll und verdrängte den Nachdurst, den das frisch gezapfte Bier in seiner Kehle hinterlassen hatte. Archibald verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn sich endlich jemand dazu bequemen würde, uns zu sagen, worum es eigentlich geht, könnten wir sicherlich gleich mit unseren Ermittlungen beginnen." "Gerne, Gentlemen. Es fing eigentlich alles ganz harmlos an, mit ein paar gestohlenen Vorräten aus der Speisekammer. Aber dann... Sehen Sie das da?" Milton zeigte auf zwei schmuckvolle silberne Haken an der weiß verputzten Wand seines Büros. Colin trat näher. "Sterlingsilber", sagte er dann langsam. "In der Form einer Rosenblüte. Sechzehntes Jahrhundert, schätze ich." "Ja, ja. Das ist alles richtig." Milton holte tief Luft. "Aber bis vor ein paar Tagen hing an diesen beiden Haken eine Axt, die ich üblicherweise bei Zeremonien trage." Archibald schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, wir müssen Sie enttäuschen. Wir sind von der Mordkommission. Ich kann Ihr Anliegen aber gerne an meine Kollegen übermitteln, die sich um Eigentumsdelikte kümmern, Sir." "Oh, aber es geht durchaus um Mord", beeilte sich Milton zu sagen. "Abgesehen davon hatte ich ausdrücklich um die Anwesenheit der Person von Sergeant Mirth gebeten. Ob wir Sie bei diesem Fall brauchen, Sergeant Moore, weiß ich nicht." "Sergeant Moore und ich arbeiten grundsätzlich zusammen", entgegnete Colin kühl. Milton und Porter wechselten einen Blick. "Schön", sagte Milton dann, "bringen Sie die drei herein, Sergeant." Porter salutierte knapp, machte auf dem Absatz kehrt und kam nach einigen Augenblicken mit einem großen Weidenkorb zurück, auf dem ein weißes Leinentuch lag. Der Vizekommandeur seufzte schwer. "Was ich Ihnen jetzt zeige, Gentlemen, wird Sie vielleicht erschrecken..." Colin grinste. "Dafür sind wir ja hier, Sir." "Also bitte." Milton schlug die Decke beiseite. Archibald atmete hörbar ein. Colin beugte sich interessiert vor. Seite 4
Colin Mirth In dem Korb lagen die Kadaver von drei kopflosen Raben. * "Wir haben sie hier drüben gefunden." Porter ging mit einer Laterne voran und deutete auf den Bloody Tower, der sich schwarz und unheimlich vor dem sternenklaren Nachthimmel abzeichnete. "Die Raben", murmelte Archibald Moore immer wieder kopfschüttelnd. "Was ist mit den Raben?" fragte Colin irritiert. Archibald sah ihn mit großen Augen an. "Sie sind tot." Colin rollte mit den Augen. "Das liegt vermutlich daran, Archibald, daß man ihnen die Köpfe abgehackt hat." "Ich weiß", zischte Archibald gereizt, "aber wissen Sie denn nicht, was das bedeutet? Wenn eines Tages keine Raben mehr im Tower leben, wird die Festung einstürzen!" "Und mit ihr das gesamte Königreich", fügte Porter dumpf hinzu. Colin seufzte, verkniff sich aber einen sarkastischen Kommentar bezüglich des offen zur Schau getragenen Aberglaubens seiner beiden Begleiter. "Hier war es", sagte Porter und deutete auf den unbeleuchteten Torbogen im unteren Drittel des Bloody Tower. "Alle drei?" Colin stutzte. "Sie haben alle drei Raben an der gleichen Stelle gefunden, Sergeant?" "Ja. In drei aufeinanderfolgenden Nächten, Sergeant", bestätigte der Gardist. "Ist es normal, daß sich die Raben nachts hier aufhalten, Sergeant?", hakte Colin nach. Porter runzelte die Stirn. "Äh, nein, Sergeant. Eigentlich nicht. Die meisten von ihnen halten sich normalerweise oben am White Tower auf, und es gibt eine Voliere, in der sie nachts untergebracht sind." Archibald zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Das klingt so, als habe man die Vögel an einem anderen Ort getötet und sie hier abgelegt." "Oder jemand hat die Raben hergebracht und sie hier geköpft", schlug Colin vor. Er hatte kaum ausgesprochen, als aus dem Dunkeln vor ihnen plötzlich ein mitleiderregendes Krächzen und aufgeregtes Flügelschlagen zu hören war. Porter zuckte zusammen und ließ dabei seine Laterne fallen. Die Kerze erlosch. "Wer da?", rief Porter. Die einzige Antwort war das gequälte Krächzen eines Raben, das jedoch so plötzlich verstummte, wie es begonnen hatte. Archibald zog seinen Revolver und spähte in die Finsternis. "Scotland Yard! Kommen Sie mit erhobenen Händen hervor!" Ein kleiner, runder Gegenstand sauste durch die Luft und traf Porter an der Stirn. Erschrocken wich er zurück. Colin bückte sich nach dem Objekt und betastete es. Es war warm und feucht. "Der Kopf eines Raben." "Nein!" Porter rannte los. "Sie haben es wieder getan!" "Sergeant, warten Sie!" Colin hechtete dem Gardisten nach, doch Porter war bereits wutschnaubend in der Finsternis verschwunden. Seine dunkelblaue Uniform ließ ihn schon nach wenigen Schritten eins mit den Schatten der Nacht werden. "Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee von ihm war", murmelte Archibald und ging unschlüssig auf den dunklen Torbogen zu. "Definitiv nicht", sagte Colin leise und folgte ihm. "Warum folgen wir ihm dann?" fragte Archibald nach einigen Schritten. Colin blieb stehen. "Weil..." Irgendwo in der Schwärze vor ihnen gab es ein dumpfes Geräusch. Dann rollte ihnen ein großer, runder Gegenstand entgegen. Vor ihren Füßen blieb er liegen. Seite 5
Colin Mirth In diesem Moment brach der Mond hinter einer Wolke hervor und warf ein fahles Licht auf den körperlosen Kopf von Sergeant Harold Porter, der mit gebrochenen Augen in den Himmel starrte. Archibald und Colin wechselten stumm einen vielsagenden Blick. * Colin zog die schwere Eichentür hinter sich zu und atmete tief durch. Er und Archibald hatten eine Abstellkammer im Erdgeschoß des Bloody Tower gefunden, in der sie sich ungestört mit Abdul beratschlagen konnten. Essensreste auf dem Boden und eine zerknüllte Decke in einer Ecke des Raumes legten den Verdacht nahe, daß die Kammer gelegentlich von den Gardisten des Towers als Pausenraum genutzt worden war. "Wir sollten zur Polizei gehen", murmelte Archibald nervös. "Wir sind die Polizei, Archie." Colin entkorkte die kleine gläserne Phiole, und die blau leuchtende Wolke, die daraus entwich, nahm die Gestalt eines bärtigen, kahlköpfigen Mannes an. "Ihr wünscht, Efendi?" Abdul verbeugte sich. Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Es gibt einige mysteriöse Vorfälle in diesen Mauern, Abdul." "Wir haben eine gestohlene Axt, vier geköpfte Raben und einen enthaupteten Beefeater", zählte Archibald die Stichpunkte an den Fingern ab. Abdul sah ihn verständnislos an. "Ein Beefeater, Sergeant?" "Ein Spitzname für die Gardisten des Towers", erklärte Colin ihm, "offiziell heißen die Soldaten Yeoman Warders." "Ich verstehe." Abdul kratzte sich am Hinterkopf. "Ist die besagte Axt in allen Fällen die Mordwaffe?" "Das vermuten wir im Moment." Colin nickte ernst. "Aber warum sollte jemand harmlose Vögel töten?" "Oh, das ist ganz einfach, Abdul", rief Archibald, "es heißt, daß das britische Königreich an dem Tag untergehen wird, an dem keine Raben mehr im Tower sind. Die Vögel sind so etwas wie Maskottchen." "Nun, wenn das so ist... aber wer in London könnte denn ein Interesse daran haben, das britische Königreich zu Fall zu bringen?", fragte Abdul ratlos. "Angenommen, an dieser Prophezeiung ist etwas Wahres – wovon ich noch nicht überzeugt bin, Gentlemen – dann gibt es nur zwei mögliche Erklärungen", sagte Colin, "entweder handelt es sich um einen feindlichen Agenten oder um ein paranormales Phänomen. In diesen Mauern sind auf Geheiß des jeweils regierenden Monarchen so viele Menschen unschuldig hingerichtet worden, daß mit Sicherheit der eine oder andere früher oder später als ruheloser Geist zurückkehrt... um Rache am britischen Königreich zu nehmen." Archibald fröstelte und sah sich nervös um. "Und wir verstecken uns ausgerechnet im Bloody Tower..." "Die meisten Hinrichtungen fanden auf dem Tower Green statt, oben am White Tower", beruhigte Colin ihn, "die Bezeichnung Bloody Tower rührt von einem anderen Fall her, und zwar..." In diesem Moment öffnete sich ohne jede Vorwarnung die Tür, und ein weiterer Mann betrat die Kammer. Er trug einen dunklen Mantel und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. Als er sah, daß er nicht allein war, blieb er wie angewurzelt stehen. Entsetzt sah er Abduls blau leuchtende Erscheinung an – und verdutzt registrierte er,
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Colin Mirth daß Archibald blitzschnell seinen Revolver auf ihn gerichtet und den Hahn gespannt hatte. "Guten Abend, Sir", sagte Colin ruhig. "Darf ich mich nach dem Grund Ihres Eindringens erkundigen?" Der hagere Fremde, der vielleicht sechzig Jahre alt sein mochte, nahm den Hut ab und verneigte sich leicht, die Augen noch immer fest auf Abdul gerichtet. "Mein Name ist LeBlanc", sagte er mit einem ausgeprägten französischen Akzent. "Und Sie, meine Herren?" "LeBlanc? Jean-Baptiste LeBlanc?" Colins Augen wurden groß. "Sie kennen mich?" Colin trat vor und reichte dem Franzosen die Hand. "Es ist mir eine besondere Ehre, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Kardinal LeBlanc. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ich bin Sergeant Mirth von Scotland Yard. Das ist mein Kollege, Sergeant Moore. Und das ist unser Begleiter Abdul." Archibald zupfte Colin am Ärmel. "Entschuldigung, Colin, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Sie kennen den Gentleman?" Colin nickte ernst. "In der Tat. Kardinal LeBlanc ist für den Heiligen Stuhl als Ermittler in Sachen 'Paranormale Phänomene' unterwegs, so wie ich früher beim Secret Service." Das Gesicht des Kardinals sprach Bände. "Natürlich, jetzt verstehe ich. Commander Mirth vom Secret Service, nicht wahr?" "Eben jener, Sir", bestätigte Colin, "allerdings inzwischen bei der Londoner Polizei." "Ein Mann der Kirche also", brummte Archibald und sicherte seinen Revolver. "Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was Sie hierher führt." "Draußen war eine Patrouille von... wie sagt man? Beefeatern. Ich habe mich hier versteckt", erklärte LeBlanc lapidar. "Ja, aber was führt Sie überhaupt zu dieser nächtlichen Stunde in den Tower?" hakte Colin nach. Er hatte zwar bereits den Verdacht, daß LeBlancs Anwesenheit mit den mysteriösen Enthauptungen in Zusammenhang stand, aber er war trotzdem neugierig auf LeBlancs Fassung der Ereignisse. "Efendi", meldete sich Abdul zu Wort, "ich glaube, daß der Kardinal sich schon seit einiger Zeit hier im Tower verbirgt." Er deutete auf die Essensreste und die karierte Wolldecke, die sie beim Betreten der Abstellkammer bemerkt hatten. Colin fiel plötzlich wieder ein, daß der Yeoman Gaoler bei ihrem Gespräch auch Diebstähle in der Speisekammer erwähnt hatte. Hatte sich der Kardinal etwa auf das Niveau eines gemeinen Diebes herabgelassen, um im Verborgenen arbeiten zu können? "Ist das so?", fragte er. Der Kardinal zuckte mit den Achseln. "Sie wissen doch, Gentlemen, der Zweck heiligt die Mittel." Colins Mundwinkel zuckten nach oben. "Das ist übrigens aus dem Buch Judit", bemerkte er mit einem Seitenblick auf Archibald Moore. Archibald seufzte. "Nun, Eminenz, was also treiben Sie hier im Tower?" LeBlanc lächelte gütig. "Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, meine Herren." "Wie Sie wünschen", Archibald steckte seine Waffe wieder weg, "dann gehen wir jetzt zusammen zum Yeoman Gaoler und anschließend in Richtung Old Bailey. Sie sind im Moment unser Hauptverdächtiger für den Mord an Sergeant Porter, für die Enthauptung von vier königlichen Raben, und für diverse Diebstähle in den Mauern dieser Festung." Das Gesicht des Kardinals wurde fahl. "Das können Sie nicht tun!" "Oh doch", versicherte ihm Colin, "das können wir. Die katholische Kirche hat seit den Tagen König Heinrichs VIII. nicht mehr sonderlich viel Einfluß in England. Seite 7
Colin Mirth Haben Sie also bitte Verständnis dafür, daß wir auf Ihr Amt und Ihren Status keine Rücksicht nehmen können." "Warten Sie!" LeBlanc hob beschwichtigend die Hände. "Monsieur Mirth, Sie waren doch bis vor kurzem genau so wie ich tätig, n'est-ce pas? Verstehen Sie doch, daß ich mitten in einer wichtigen Mission bin." Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Wir sind Polizisten, Eminenz. Und Sie haben augenscheinlich einige Gesetze unseres Landes übertreten." "Ich verstehe. Oui, ich verstehe." Plötzlich sah LeBlanc den Flaschengeist mit neuem Interesse an. "Sie sind jetzt Polizist, und Sie tun naturallement nur Ihre Pflicht, Monsieur Mirth. Und ich bin sicher, der Superintendent von Scotland Yard ist sehr stolz darauf, neben einem ehemaligen Geisterjäger vom Secret Service auch einen echten orientalischen Flaschengeist zu beschäftigen." Abdul schüttelte höflich den Kopf. "Niemand weiß—" "Abdul!", unterbrach Colin seinen Freund, doch es war schon zu spät. "Das dachte ich mir", sagte LeBlanc, um die nun folgende peinliche Stille zu beenden, "und Sie alle möchten doch sicher, daß Monsieur Abduls Existenz ein Geheimnis bleibt?" "Wer würde Ihnen glauben?", fragte Archibald. "Wer würde Ihnen glauben?", konterte LeBlanc. "Wenn Sie mich verhaften und die Todesfälle im Tower gehen trotzdem weiter, haben wir beide verloren." "Da könnten Sie natürlich recht haben", mußte Colin widerstrebend einräumen. "Was schlagen Sie also vor, Eminenz?" "D'accord." LeBlanc klatschte in die Hände. "Ich bin hier, weil uns von einer... wie sagt man? Marienerscheinung? Von einer Marienerscheinung berichtet wurde." Colin, Archibald und Abdul starrten den Kardinal verständnislos an. "Eine Marienerscheinung", wiederholte Colin ungläubig, "hier? Im Tower von London?" "Ich hätte nicht erwartet, daß die heilige Jungfrau sich ausgerechnet an diesem Ort zeigen würde." Archibald schüttelte den Kopf. "Mit der Trennung von der katholischen Kirche hat Heinrich VIII. seinerzeit doch auch den Kult, den die Päpste seinerzeit um Maria ins Leben gerufen haben, in England wieder abgeschafft." "Vielleicht gerade darum", gab LeBlanc zu bedenken. Abdul räusperte sich leise. "Efendi, diese Maria... war das nicht eine Verwandte von diesem Propheten...?", flüsterte er in Colins Ohr. "Jesus." Colin nickte. "Sie war seine Mutter, Abdul." "Der Beweis für eine tatsächliche Marienerscheinung im Tower von London wäre ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß die anglikanische Kirche ein Irrweg ist", sagte LeBlanc in verschwörerischem Tonfall. "Bedenken Sie nur, was eine Wiedervereinigung von Anglikanern und Katholiken für das Christentum bedeuten würde!" Colin verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust. "Und wo genau soll diese Marienerscheinung, der Sie nachgehen, gesehen worden sein?" * "Es war genau hier", flüsterte LeBlanc. "Eine Zisterzienser-Schwester, die zu Besuch in einem unserer Waisenhäuser war, hatte sich in einer freien Stunde den Tower angesehen. Und genau an dieser Stelle hat sie eine geisterhafte Frauengestalt gesehen, die sie gegenüber dem Heiligen Vater einwandfrei als Marienerscheinung identifiziert hat."
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Colin Mirth Colin sah sich um. Er, Abdul, Archibald und Kardinal LeBlanc standen in einem langen Korridor im White Tower, dem kastenförmigen Zentrum der Festungsanlage. In regelmäßigen Abständen waren Nischen in den Wänden eingelassen, in denen prächtige alte Ritterrüstungen standen, welche Schwerter und Hellebarden in ihren eisernen Fäusten hielten. Die einzigen Lichtquellen waren die Pechfackeln, die an den Wänden hingen, sowie das schwache blaue Glühen, das von Abdul ausging. "Also, ich sehe nichts." Archibald zuckte ein wenig zusammen, weil seine Stimme in dem leeren Gewölbe unangenehm hallte. "Ich weiß, Sergeant", erwiderte der Kardinal geduldig, "ich auch nicht. Aus eben diesem Grund bin ich auch schon seit einigen Nächten hier unterwegs. Es ist gar nicht so leicht, den Wachen dabei immer aus dem Weg zu gehen." "Efendi", wisperte Abdul. "Moment, Abdul." Colin hob die Hand. "Haben Sie in dieser Zeit denn gar nichts beobachtet, was mit den geköpften Raben oder dem Mord an Sergeant Porter in Zusammenhang stehen könnte?" LeBlanc zuckte mit den Schultern. "Nein, nichts. Ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Augen nach Marienerscheinungen offen zu halten." "Efendi", wiederholte der Flaschengeist, diesmal etwas nachdrücklicher. Colin seufzte ergeben. "Ja, Abdul, was ist denn?" Abdul kraulte sich nervös seinen spitzen Kinnbart. "Fühlt Ihr es nicht auch? Wir sind nicht allein", sagte er mit einem beunruhigten Blick über seine Schulter. Colin atmete tief durch und entspannte sich. Für einen kurzen Moment blendete er Abdul, Archibald und den Kardinal aus seiner Wahrnehmung aus. Er lauschte nach etwas beinahe Unhörbarem, so wie er es vor vielen Jahren von seinem alten Mentor gelernt hatte. Und wirklich, ganz am äußeren Rande seiner Sinne, spürte er den Hauch einer Bewegung. "Du hast Recht, Abdul. Ein Geist ist in der Nähe..." Plötzlich wurde das unscharfe Gefühl stärker. Eine Welle der Übelkeit stieg in ihm auf. Colin hatte in der Vergangenheit schon vereinzelt erlebt, daß sich Geistererscheinungen auf diese Weise ankündigten, aber die Heftigkeit, in der dies nun geschah, überraschte ihn doch. "Es ist mehr als ein Geist", keuchte er, "und sie sind nicht gerade gut gelaunt." Archibald sah ihn verständnislos an. Im Gegensatz zu Colin hatte er nicht das Geringste gespürt. LeBlanc hingegen schnupperte argwöhnisch, so als ob er das Unheil, das sich über ihnen zusammenbraute, riechen konnte. Im nächsten Moment legte sich ein überirdischer Glanz auf die Ritterrüstungen. Knirschend und quietschend erwachte eine nach der anderen zum Leben. Zuerst waren es nur zaghafte, ruckartige Zuckungen der Helme und Arme, doch schon nach einigen Augenblicken wurden die Bewegungen der geisterhaften Krieger flüssiger. Entschlossen verließen sie ihre Podeste, und mit drohend erhobenen Schwertern, Hellebarden und Morgensternen näherten sie sich unaufhaltsam den drei Männern und dem Flaschengeist. Abdul verschränkte die Finger und ließ die Knöchel knacken wie ein Pianist. "Wenn Ihr gestattet, Efendi..." "Nein, warte", Colin hob die Hand, "das sind zu viele, Abdul." Der Kardinal war trotz der angespannten Lage die Ruhe in Person. "Sind Sie mit Formeln des Euridicus vertraut, Sergeant Mirth?" Colin nickte. Das antike Manuskript, von dem LeBlanc sprach, war ein essentielles Nachschlagewerk in seiner Ausbildung zum Geisterjäger gewesen und gehörte offenbar auch im Vatikan zum Handwerkszeug für Abgesandte, die sich mit paranormalen Phänomenen auseinandersetzen mußten. Seite 9
Colin Mirth LeBlanc straffte sich. "Nun gut. Dann schlage ich vor, daß wir uns des Zwölften Zaubers bedienen." "Oh!" Abdul schien eine Spur blasser zu werden. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich wieder in seine Glasphiole zurückgezogen und den Verschluß hinter sich zugezogen, um vor dem, was nun folgte, sicher zu sein. Colin und LeBlanc hoben beschwörend die Hände und wandten sich an die heranrückende Schar geisterhafter Ritter. "Eodum rahaan", sagten sie langsam und deutlich, "eodum rahaan miszil nahaemeb, devupota yazraain takoris galaemeb. Eodum rahaan galgalex tewikur..." Die herannahenden Geister hatten Colin fast erreicht. Einer von ihnen holte drohend mit seiner Streitaxt aus, um ihm damit den Schädel zu spalten. "Mismix cheotem pogorot ymitur", vollendeten Colin und der Kardinal die Formel. Knirschend kamen die Ritterrüstungen zum Stillstand. Im nächsten Augenblick fuhr eine mächtige Windböe durch das Gewölbe. Zu Archibalds Entsetzen gähnte hinter den Rittern plötzlich eine Öffnung, aus der Rauch und Flammen schlugen. Aus den Fugen der Ritterrüstungen quollen kleine, grünlich leuchtende Wolken hervor, die mit schrillen Kreischlauten in den höllischen Abgrund hineingesogen wurden. Archibald kniff gepeinigt die Augen zusammen. Entseelt sackten die Rüstungen in sich zusammen. Scheppernd fielen Helme, Brustpanzer, Kettenhemden und Waffen zu Boden. Als Archibald wieder die Augen öffnete, war es totenstill. Von den leblosen Rüstungen ging keine Gefahr mehr aus, und das bizarre Tor in eine andere Welt war wieder verschwunden. "Was um alles in der Welt war das, Colin?" "Der Zwölfte Zauber des Euridicus", entgegnete Colin. "Erinnern Sie sich noch an das Manuskript mit Beschwörungsformeln, mit denen meine Schwester zu Weihnachten herumexperimentiert hat?" Archibalds Mund blieb offen stehen. "Solche Sachen stehen da drin?" "Euridicus war einer der ersten christlichen Mönche im alten Rom", erklärte Colin, "der das gesamte Wissen über paranormale Phänomene seiner Zeit zusammengetragen hat. Mysteriös war nur, daß er das in einer Geheimsprache tat, die keiner seiner Zeitgenossen sprach. Man sagt, daß die Worte aus einer Sprache stammten, die älter als die Menschheit ist." "Und damit kann man also Geister herbeirufen und wieder fortzaubern", murmelte Archibald beeindruckt. "Unter anderem", sagte LeBlanc. "Interessant ist auch, daß spanische Conquistadoren in Südamerika später Überlieferungen von magischen Ritualen der Eingeborenen nachgingen, die den Manuskripten des Euridicus bis auf die Silbe genau glichen. Und in Mesopotamien, Indien und China wurden ähnliche Entdeckungen gemacht. Heute wissen wir, daß sich die Formeln des Euridicus weniger an die Geister per se richten, sondern an die übergeordnete Matrix, in denen—" "Ich unterbreche Ihre Ausführungen nur ungern, Sergeant Mirth", sagte LeBlanc säuerlich, "aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Privatlektion zu einem späteren Zeitpunkt fortführen könnten. Wir haben zu tun." Colin schwieg pikiert, dann aber grinste er breit: "'Ei, lauter Arbeit des würd'gen Kardinals!'" An Archibald gewandt, fuhr er augenzwinkernd fort: "Heinrich VIII., erster Akt, erste Szene. Aber abgesehen davon haben Exzellenz natürlich Recht." "Dies war kein gewöhnlicher Spuk", sagte LeBlanc, "ich hatte den Eindruck, daß sich die Ritterrüstungen auf einen Befehl hin in Bewegung gesetzt haben." "So sah es in der Tat aus", räumte Archibald ein.
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Colin Mirth "Dann ist, wer auch immer den Befehl zum Angriff gegeben haben mag, vielleicht derjenige, den wir suchen", folgerte Colin. "Wen Sie suchen, Gentlemen, weiß ich nicht", entgegnete der Kardinal gereizt, "ich suche lediglich meine Marienerscheinung." Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich denke, die Begegnung mit diesen Blechgesellen ist der beste Beweis dafür, daß wir am Besten zusammen bleiben sollten." "In wenigen Stunden graut bereits der Morgen, und keiner von uns ist auch nur einen Schritt weiter, weder Sie noch ich", gab LeBlanc zu bedenken. "Wenn wir getrennt weitersuchen, haben wir größere Chancen, fündig zu werden. Ich weiß, wovon ich rede, Gentlemen. Ich bin schon fast eine Woche hier." Colin ignorierte den Einwand und entkorkte Abduls Glasphiole. "Du kannst wieder herauskommen, Abdul." * Die Kapelle des Heiligen Johannes lag im zweiten Stockwerk des White Towers. Die klobigen runden Säulen, zwischen denen sich halbkreisförmige Bögen spannten, waren ein bleibendes Zeugnis normannischer Architektur. Der schmucklose Raum mit seinen rauhen, unverputzten Mauern war dunkel und kalt und wirkte alles andere als einladend. Kardinal LeBlanc und Archibald Moore betraten die Kapelle mit äußerster Vorsicht. Archibald hielt seinen Revolver mit beiden Händen fest und spähte angestrengt in das Halbdunkel. Jeden Moment erwartete er, daß fahle grünliche Glühen, das für Geistererscheinungen so typisch war, zu sehen. Er wünschte, Colin und Abdul hätten sich nicht dazu überreden lassen, die Gruppe aufzuteilen. Es behagte ihm überhaupt nicht, mit dem Kardinal allein zu sein. Schon die Tatsache, daß LeBlanc das Wort Sergeant stets französisch aussprach, machte ihn Archibald unsympathisch. LeBlanc fingerte nervös an dem schweren Kruzifix herum, das er in der Hand hielt. Er atmete geräuschvoll durch die Nase ein und hielt einige Augenblicke den Atem an. "Nichts", sagte er dann enttäuscht, "keine Geister. Suchen wir weiter, Sergeant." * "Hier ist eine Tür, Efendi", sagte Abdul und zeigte auf eine völlig unverdächtig aussehende Stelle in der Wand des Korridors, den er und Colin entlanggingen. "Bist du sicher?", fragte Colin überrascht. Abdul setzte eine Leidensmiene auf. "Ob ich mir sicher bin?", fragte er verletzt. Colin trat näher, konnte aber keine Anzeichen für eine verborgene Tür entdecken. "Es tut mir leid, mein Freund, aber ich kann nichts entdecken." Der Flaschengeist seufzte theatralisch. "Wenn Ihr gestattet...?" "Bitte." Abdul schwebte auf die Wand zu, beugte sich vor und verschwand bis zur Hüfte in der Mauer. Wenige Augenblicke später hörte Colin ein leises Klicken, und ein Teil der Wand schwang mit einem scharrenden Geräusch auf. "Ganz erstaunlich", sagte Colin beeindruckt, "ich habe wirklich nichts an der Wand bemerkt." "Ich auch nicht", gestand Abdul, "Aber die Kratzer hier auf den Bodenfliesen sind dafür um so deutlicher zu sehen." Colin trat einen Schritt zurück, und nun sah auch er die feinen Schleifspuren auf dem Boden, welche die Geheimtür bei früherer Benutzung hinterlassen haben mußte. Seite 11
Colin Mirth "Eindeutig ein Konstruktionsfehler", bemerkte er sachkundig, "Geheimtüren sollten eigentlich nach innen aufgehen, um geheim zu bleiben. Abdul, aus dir wird noch einmal ein richtig guter Detektiv." "Danke, Efendi." Abdul wies einladend auf die dunkle Türöffnung. "Bitte, nach Euch." * Hinter der Geheimtür lag eine steile Wendeltreppe, die einige Dutzend Stufen in die Tiefe führte. Vorsichtig tastete sich Colin in der fast völligen Dunkelheit vorwärts. Nur Abdul spendete ein wenig bläuliches Licht. Die Treppe endete vor einer schweren Eichentür. Colin brauchte nicht das grünliche Leuchten, das unter dem Türspalt hervordrang, zu sehen, um zu wissen, daß sich hinter der Tür ein Geist aufhielt. "Efendi..." "Ja, Abdul, ich spüre es auch." Colin runzelte die Stirn. Die Tür hatte weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch. "Abdul, wärst du vielleicht so freundlich...?" "Selbstverständlich, Efendi." Abdul schwebte einige Schritte die Treppe hinauf, wie um Anlauf zu nehmen. Dann schnellte er nach vorne und verschwand in der Tür. Einige Sekunden lang geschah gar nichts. Dann vernahm Colin eine schrille Frauenstimme, und im nächsten Moment wurde die Tür von innen geöffnet. "Bitte einzutreten, Efendi." Abdul verneigte sich. "Danke, Abdul." Colin betrat den Raum und blieb wie angewurzelt stehen. Offenbar hatte er eine geheime Folterkammer entdeckt. Streckbänke und Daumenschrauben waren noch die harmlosesten Folterinstrumente, die dieses verborgene Zimmer beherbergte. Über allem lag eine dicke Staubschicht. Und in der Mitte des Raumes schwebte der körperlose Geist einer schönen Frau. Zwar war Colin kein studierter Historiker, doch das Portrait dieser jungen Dame hatte er in genügend zeitgenössischen Abbildungen gesehen, um sie sofort wiederzuerkennen. Auch die Kleidung der Frau, die sie einwandfrei als den Geist einer Adligen aus dem sechzehnten Jahrhundert auswies, sprach für ihn Bände. "Was tut Ihr hier?", rief sie wütend, "wer seid Ihr, und was ist Euer Begehr?" Colin räusperte sich. "Ich bin Sergeant Colin Mirth, Mylady." Die Frau sah unschlüssig von Colin zu Abdul. "Und Euer Begleiter?" "Mein..." Colin sah sich um und bemerkte, daß Abdul seinerseits die grünlich leuchtende Geistererscheinung fasziniert betrachtete. "Das ist Abdul, mein... äh... mein maurischer Diener, Mylady." Die Frau sah ihn mißtrauisch an. "Ihr wißt, wer wir sind?" Colin räusperte sich. "Ihr seid, Mylady, Anne Boleyn. Die zweite Ehefrau von König Heinrich VIII." "Schickt Euch etwa unser Gemahl?" "Unser... Nein, ich bin nicht im Auftrag des Königs hier. Ich bin... ahem... der ergebene Diener meiner Königin", beruhigte Colin sie. Langsam trat er näher. "Wovor fürchtet Ihr Euch, Mylady?" Annes Geist sah sich nervös um, als würde die junge Frau heimliche Beobachter hinter sich erwarten. "Unser Gemahl, der König, will uns töten. Wir wissen es gewiß", flüsterte sie, "daher haben wir uns hier verborgen. Bei Anbruch der Nacht wird uns unsere Zofe aus dieser Festung holen und in Sicherheit bringen." "Ich verstehe", sagte Colin gedehnt. Er begriff in der Tat, was geschehen sein mußte: unmittelbar vor Annes Hinrichtung durch König Heinrich mußte die junge Frau sich in dieses geheime Gewölbe geflüchtet haben. Offenbar hatte sie sich hier sicher gefühlt Seite 12
Colin Mirth und war fest davon überzeugt gewesen, von ihrer Kammerzofe gerettet zu werden. Aus irgend einem Grund war es jedoch offensichtlich nicht zu der geplanten Befreiung gekommen, und Anne war am 19. Mai 1536 im Tower enthauptet worden. Ihr Geist schien keinerlei Erinnerung an die traumatischen letzten Augenblick ihres Lebens zu haben; statt dessen klammerte sie sich noch immer an die Hoffnung auf Rettung in letzter Minute. Er drehte sich zu Abdul um und winkte den Flaschengeist herbei. Abdul schwebte näher, den Blick fest auf Anne gerichtet. "Wir machen das auf die sanfte Tour, Abdul", flüsterte er, "die Lady war immerhin mal für kurze Zeit die Königin von England." "Wie Ihr wünscht, Efendi." "Dann seid Ihr gekommen, um uns zu helfen?" fragte Anne hoffnungsvoll. Colin atmete tief durch und wandte sich wieder an sie. "Mylady, dazu ist es bereits zu spät." Anne schlug die Hände vors Gesicht. "Nein! Sagt, daß das nicht wahr ist!" Abdul und Colin wechselten einen Blick. "Mylady", sagte Colin dann leise, "wie lange versteckt Ihr Euch schon hier?" Anne sah ihn überrascht an. "Wir... wir sind schon... schon eine ganze Weile in diesem Versteck. Warum fragt Ihr?" Colin seufzte leise. "Welches Datum haben wir heute?" Die junge Frau blinzelte irritiert. "Heute ist der... der... achtzehnte Mai im Jahre des Herrn 1536." "Nein, Mylady." Colin schüttelte den Kopf. "Heute ist Dienstag, der siebzehnte April 1877. Wißt Ihr, was das bedeutet?" In Annes Augen schwammen Tränen. "Wir wären heute dreihundertundsieben Jahre alt." Colin nickte ernst. "Ist das möglich, Mylady?" Anne schluchzte herzerweichend. Ohne es zu bemerken, begann Colin wieder, dozierend auf und ab zu gehen. "Mylady, Eurem Gatten ist es zu meinem Bedauern gelungen, Euch im Jahre 1536 dem Henker zu übergeben. Eure Zofe wird nicht mehr kommen. Ihr müßt Euch damit abfinden, daß Eure Dienerin seit über dreihundert Jahren tot ist. So wie Ihr." Er blieb vor ihr stehen und sah ihr fest in die Augen. "Ihr braucht Euch nicht mehr zu verstecken, Mylady." Anne hielt seinem Blick stand und nickte tapfer. "Wir verstehen, was Ihr sagt. Vielleicht ist es besser so..." Annes Konturen begannen zu verschwimmen. Das grünliche Leuchten, das die junge Frau umgab, verblaßte allmählich. Der Geist der Königin wurde zusehends transparenter. "Es ist vorbei", sagte sie leise. "Eine Frage noch, Mylady", Colin hob die Hand, "seid Ihr zufällig in letzter Zeit einer Nonne begegnet?" "Ja, das bin ich", klang Annes Stimme wie aus weiter Ferne. Colin ballte triumphierend die Faust. "Dachte ich's mir doch." "Und die Raben, Efendi?", soufflierte Abdul. Colins Mundwinkel sackten nach unten. Enttäuscht schlug er sich mit der Hand auf die Stirn. Es war zu spät. Die letzten vagen Reste von Annes Geist waren verblaßt. Sie hatte ihren Frieden gefunden – und würde Colins Fragen nicht mehr beantworten können. Nicht einmal die Zauberformeln des Euridicus konnten sie nun noch zurückrufen. "Suchen wir die anderen", schlug Colin vor. Seite 13
Colin Mirth * Archibald Moore bückte sich. "Können Sie etwas sehen, Sergeant?", wisperte LeBlanc hinter ihm. "Psst!" Der Kriminalpolizist spähte vorsichtig durch das Schlüsselloch. Der Kardinal und er waren auf ihrem nächtlichen Rundgang inzwischen wieder im Bloody Tower angekommen. Unweit der kleinen Kammer, in der sich LeBlanc tagsüber vor den Palastwachen verbarg, hatten sie hinter einer Tür Stimmen gehört. Der Kardinal war wie angewurzelt stehengeblieben. Das schwache grünliche Leuchten, das entlang des Türrahmens aus dem dahinterliegenden Raum zu sehen war, konnte – da war Archibald sich sicher – nur eines bedeuten: ein paranormales Phänomen. Es war stockdunkel, doch im fahlen grünen Licht sah er zwei kleine Gestalten, von denen die eine mit einer silbernen Axt bewaffnet war. Die andere hielt einen völlig verstörten Raben im Arm. "Ist es die heilige Jungfrau?", drängelte der Kardinal. "Nein", Archibald zog seinen Revolver, "die Mörder der Raben! Suchen Sie schnell in Ihrem Fundus nach einem geeigneten Bannspruch, Kardinal; wir gehen jetzt da hinein!" Beherzt griff er nach der Klinke, und mit einem kräftigen Stoß öffnete er die Tür. "Scotland Yard", rief er mit vorgehaltener Waffe, "keine Bewegung, im Namen der Königin!" Die beiden Geister sahen überrascht auf. Der mit der Axt hatte in dem Moment, in dem Archibald eingetreten war, drohend die Waffe erhoben, um den Raben, den sein Kompagnon festhielt, zu köpfen. Überrascht registrierte Archibald, daß er den Geistern von zwei Kindern gegenüberstand. Sie konnten zum Zeitpunkt ihres Todes kaum älter als zehn Jahre gewesen sein, dachte er. "Die Königin", schnarrte der größere der beiden Jungs spöttisch. Archibald räusperte sich. "Königin Victoria von England, ganz recht. Hättet Ihr vielleicht die Freundlichkeit, den Raben los zu lassen? Das arme Tier ist ja ganz verängstigt!" "Eure Königin Victoria wäre heute nicht Königin, wenn ihre feigen Büttel mich und meinen Bruder nicht schändlich ermordet hätten", widersprach der kleinere Junge mit einer Stimme, aus der Jahrhunderte der Verbitterung klangen. Archibald ließ für einen Moment die Waffe sinken. Nun dämmerte ihm, wen er vor sich hatte. "Pardon, Sergeant, aber wer sind diese Bengel?", fragte LeBlanc verunsichert. Archibald sicherte seinen Revolver und steckte ihn wieder in die Manteltasche. "Diese Bengel, wie Sie sie nennen, Kardinal, sind Edward V. und sein Bruder Richard. Der junge König wurde vor seiner Krönung von Verschwörern in diesen Mauern im Schlaf ermordet. Das war im Jahre... äh..." "Im Jahre des Herrn 1483", half ihm Edward mit einem schiefen Grinsen. "Seit dieser Zeit", hörte Archibald plötzlich Colins Stimme hinter sich, "ist dieser Trakt der Festung auch als der Bloody Tower bekannt. Sie erinnern sich, Archie, daß wir vorhin bereits davon sprachen?" Archibalds Miene hellte sich auf. "Dem Himmel sei Dank. Da sind Sie ja, Colin." Colin verneigte sich höflich vor den Geistern der beiden Jungen. "Eure Hoheiten." "Wo kommen Sie denn jetzt her?", fragte LeBlanc. "Aus einem geheimen Verlies. Ich hatte eine interessante Unterredung mit dem Geist von Anne Boleyn, die übrigens kürzlich einer Nonne begegnet ist", antwortete Colin.
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Colin Mirth LeBlancs Gesicht wurde lang, als ihm klar wurde, worauf Colin hinaus wollte. Die Suche nach einer Marienerscheinung im Tower von London war für ihn beendet. "Abdul und ich haben einen Geheimgang gefunden, der direkt bis ins Nachbarzimmer führt. Von dort haben wir Ihre Stimmen gehört", fuhr Colin fort. "Wenn Euer Majestät nun endlich den armen Raben loslassen würden?" Edward hob drohend seine Axt. "Kommt nicht näher!" Colin stellte sich unbeeindruckt auf die Zehenspitzen, um die Waffe besser sehen zu können. "Ist das die Axt, die Ihr dem Yeoman Warder gestohlen habt, Euer Majestät?" Der Junge hielt verunsichert inne. "Wir haben sie nicht gestohlen. Uns gehört das alles hier! Dies ist unser Schloß!" Colin schürzte die Lippen. "Ich verstehe. Und die Raben?" Der jüngere der Prinzen lachte spöttisch. "Edward hat gesagt, daß das Königreich untergeht, wenn keine Raben mehr da sind. Darum haben wir angefangen, sie umzubringen. Das geschieht diesen Tudors nur recht." "Königin Victoria ist nicht aus dem Hause Tudor. Diese Linie existiert längst nicht mehr. Die jetzige Königin ist nicht in die Fehden verwickelt, denen Ihr beide zum Opfer gefallen seid", sagte Colin ruhig. Richard sah seinen großen Bruder mit einem erleichterten Seufzen an. "Das Geschlecht der Tudors ist längst erloschen! Das bedeutet ja..." "Lügner!" Edwards Gesicht verfinsterte sich, und das grünliche Leuchten, das von ihm ausging, wurde eine Spur greller. "Er will uns nur täuschen, Richard!" Colin hob beschwichtigend die Hände. "Majestät, Ihr vergeßt Euch. Ich kann Euch versichern—" "Schweig, du Schuft!" Edward holte aus und schleuderte die Axt. Colin hatte keine Möglichkeit, auszuweichen. In Sekundenschnelle hatte die silbrig glänzende Waffe die wenigen Schritte, die ihn von Edward trennten, überbrückt. Nur ein Zoll trennte die Klinge noch von Colins Stirn, als eine muskelbepackte, blau schimmernde Hand über seine Schulter langte und die Axt aus der Luft pflückte. Archibald bemerkte erst jetzt, daß er gebannt den Atem angehalten hatte. Abdul, der sich hinter Colin verborgen gehalten hatte, baute sich nun zu seiner vollen Größe von fast zweieinhalb Metern auf und fixierte die beiden königlichen Geister mit seinem durchdringenden Blick. Lässig ließ er die silberne Axt um sein Handgelenk kreisen. "Wie lautet Euer Befehl, Efendi?", fragte er. Edward und Richard wichen furchtsam vor dem Flaschengeist zurück. "Wer ist das?", fragte Richard ängstlich. "Was ist das?", verbesserte ihn sein großer Bruder. "Wie ich die Sache sehe", sagte Colin, "habt Ihr genau zwei Alternativen. Entweder Ihr geht freiwillig, oder..." Er wies mit einem nonchalanten Lächeln auf Abdul. "Die Entscheidung liegt bei Euch." Edward kniff skeptisch die Augen zusammen. "Schwört Ihr, daß die Tudors ausgestorben sind?" Colin nickte ernst und hob die Hand zum Schwur. "Auf die Bibel! Ihr müßt es mir auf die Bibel schwören", beharrte Edward. Colin breitete die Arme aus. "Majestät, ich bitte Euch! Wo soll ich denn jetzt eine Bibel hernehmen?" "Nehmen Sie meine", brummte LeBlanc, der die Entwicklung des Gesprächs aus sicherer Entfernung mitverfolgt hatte. Er zückte eine kleine, ledergebundene Ausgabe der heiligen Schrift aus den Taschen seines weiten Mantels und reichte sie Colin. "Danke, Eminenz." "Gern geschehen, Sergeant." Edward legte den Kopf schräg. "Nun?" Seite 15
Colin Mirth "Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist", sagte Colin feierlich. Edwards Gesichtszüge entspannten sich. Für einen Moment sah er wieder wie ein unbeschwertes Kind von dreizehn Jahren aus. "Dann bin ich beruhigt", sagte er zufrieden. In wenigen Sekunden verblaßten die Geister der beiden ermordeten Prinzen. Der Rabe, den nun niemand mehr festhielt, krächzte empört. Er hackte einmal nach Archibald und hüpfte dann auf seinen krummen Beinen aus der Tür. * "Der Yeoman Warder war ziemlich erleichtert, seine Axt wieder zu haben", sagte Archibald. Er nahm in einem der gemütlich aussehenden Sessel Platz, die im Wohnzimmer von Colins Haus standen, und lehnte sich seufzend zurück. Colin reichte ihm ein Glas Sherry. "Jedenfalls hat er sich über unsere Neuigkeiten mehr gefreut als Kardinal LeBlanc." "Sie müssen den Kardinal auch verstehen, Colin", sagte Archibald und nippte an seinem Drink. "Er hat sich von seiner Reise nach London sehr viel versprochen und kehrt nun mit leeren Händen in den Vatikan zurück." Colin prostete ihm zu und grinste breit. "Fahrt wohl dann ferner, Ihr mein kleiner guter Lord-Kardinal'." Archibald hob sein Glas. "Heinrich VIII., dritter Akt, zweite Szene. Stimmt's?" Colin verschluckte sich überrascht an dem Mundvoll Sherry, den er eben genommen hatte. Rasselnd rang er nach Luft. "Exakt, Archibald. Haben Sie etwa wieder heimlich die Werke des Barden studiert?" Archibald lächelte bescheiden. Kopfschüttelnd trat Colin ans Fenster. Er starrte hinaus in den schiefergrauen Himmel und zählte die Regentropfen am Fenster. "Denken Sie, wir werden den Kardinal noch einmal wiedersehen?", fragte Archibald nach einer Weile. "Wer weiß, Archie", Colin leerte sein Glas, "wer weiß?" Demnächst: "Horror im Hyde Park"
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