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In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 35 Science-Fiction-Romane Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Fredric Brown: Sternfieber (2925) Samuel R, Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Andre Norton: Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) H. Beam Piper: Null-ABC (2888) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) James H. Schmitz: Dämonenbrut (3022) Richard S. Shaver: Zauberbann der Venus (2944) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zei (2977) Die Rettung von Zei (3000) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Wilson Tücken Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Geheimwaffe Mensch (3030) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882)
Ullstein Buch Nr. 3038 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE GLORY THAT WAS Übersetzung von Ingrid Rothmann Umschlagillustration: Frazetta/Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1960 by L. Sprague de Camp Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03038 6 Erschienen auch als: Lyon Sprague De Camp Von glorreichen Zeiten (1987) (D) (SF) Nachdruck (Ersterscheinungsjahr: 1973) The glory that was (1960) (US) Uebersetzer: Ingrid Rothmann Ullstein SF, 31147: 1. Aufl. (TB) 142 S., ISBN: 3-548-31147-4
L. Sprague de Camp Thalia – Gefangene des Olymp SCIENCE-FICTION-Roman Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Die Dagmar II versank im Wellental, das sie bis auf Top und Takel verbarg. Knut Bulnes rief nach vorn: »Schon was zu sehen von Antikithera?« »Was?« rief Wiyem Flin. »Ich habe gefragt, ob man von Antikithera schon was sieht?« Flin schüttelte den Kopf und ging unbeholfen nach achtern. Als er das Heck erreicht hatte, wiederholte Bulnes seine Frage. »Nein«, erwiderte Flin. »Das will aber gar nichts heißen. Solange dieser widerliche Regen meine Brille bespritzt, könnte ich ebenso gut blind sein.« »Dann geh bitte nach unten und sieh zu, ob du mit dem Teleskop etwas ausmachen kannst. Bald wird es für einen Blick in die Runde zu dunkel sein.« Flin zögerte und sah zu der weißen Schaumkrone der allernächsten Woge auf. Er sagte etwas, das Bulnes bis auf die Worte hippoi Poseidonos nicht verstehen konnte, und ging dann unter Deck. Bulnes hoffte stark, Flin würde nicht wieder durchdrehen. Er sah zu, wie sein Segelgefährte seine behäbige Gestalt durch die Kabinentür zwängte. Bulnes mußte zugeben, daß es eine beachtliche Leistung war, nach einem Anfall von Seekrankheit, die nicht einmal mit den neuesten Mitteln zu heilen gewesen war, klassisches Griechisch zu sprechen. Andererseits gehörte Flin zu jener Sorte Menschen, die glaubten, das Recht, sich Professor für Griechisch nennen zu dürfen, wiege alle Unzulänglichkeiten auf.
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Blitze zuckten herab. Bulnes lächelte unmerklich. Noch ein paar von dieser Sorte, und die Stromunterbrecher auf Antikithera würden ausfallen. Und dann konnte die Dagmar II mit etwas Glück durchschlüpfen, ehe die Energiebarriere wieder instandgesetzt worden war. Gegen den intakten Schutzwall zu prallen, wäre der kleinen Jacht und ihrer Besatzung nicht gut bekommen. Auch wäre es nicht günstig gewesen, im Bereich von Antikithera beim Durchdringen der Barriere und beim Eindringen ins von der Außenwelt abgeschirmte Griechenland ertappt zu werden. Bulnes setzte auf die Hoffnung, daß die Besatzung der Station es mit ihren Pflichten nicht allzu genau nehmen würde, so wie er seine Hoffnung auf einen späteren Frühjahrssturm gesetzt hatte. Flin steckte den Kopf aus der Kabinentür und rief: »Zehn nautische oder siebzehn metrische zur Linken.« Bulnes unterdrückte den Impuls, diese Feststellung mit dem richtigen Ausdruck ›steuerbord‹ zu verbessern. Statt dessen rief er zurück. »Besser, wenn wir uns jetzt an die Barriere heranmachen. Es ist schon dunkel genug.« Er legte den Kurs auf Azimuth dreißig fest und stellte die Rheostat-Steuerung ein. Die Dagmar II erbebte und duckte sich ins Wasser, als ihr Bug sich bei der gesteigerten Geschwindigkeit hob. Obwohl Dunkelheit und waagrecht gepeitschter Regen Antikithera verbargen, konnte Bulnes den aurora-artigen Schein der Energiebarriere vor sich sehen. Er rief hinunter: »Halte Ausschau nach den Felsen!« Flin rief etwas zurück. Die zwei Inselchen zwischen Antikithera und ihrer großen Schwester Kithera mußten sich rechtzeitig auf dem Oszilloskop zeigen, damit man ihnen ausweichen konnte. 6
Ein Blitz, und der Lichtvorhang wurde sekundenlang schwächer. Es bedurfte eines viel größeren Blitzes, um den Strahlenwall außer Funktion zu setzen. Flin kam heraus und rief: »Die Felsen sind gute vier nautische weit weg. Gehen wir die Barriere an?« Der Lichtvorhang dräute. Bulnes stellte die Rheostat-Steuerung auf ›Langsam‹ ein. Die Dagmar II, mit dem Wind von achtern, fand ihre Ruhe in behäbigem Stampfen mit leichtem Rollen auf dem Kamm eines jeden Brechers. Da jede Welle sie von hinten her hochhob, glitt sie die Schräge hinunter wie das Brett eines Wellenreiters, verlangsamte das Tempo fast bis zum Stillstand, sobald der Wellenkamm unter dem Kiel hindurchglitt und der Bugspriet sich bei der Aufwärtsfahrt in den Himmel bohrte. Bulnes betrachtete nachdenklich die großen weißen Wellenkämme. Ihm gefiel weder das Durchgeschütteltwerden in dieser Stellung, noch die Aussicht, dem Wogendruck die Breitseite entgegenzusetzen. Obgleich man in der Dunkelheit Entfernungen sehr schwer schätzen konnte, vermutete er die Barriere knappe hundert Meter voraus. Und dann kam der Urtyp eines gewaltigen Blitzes. Donner grollte, und die Lichtbarriere fiel zusammen. »Aus!« rief Flin. »Warum gehst du nicht…« Bulnes hatte den Rheostat bereits auf ›Volle Kraft‹ eingestellt. Die Dagmar II tat einen Satz vorwärts. Schaumschwingen erhoben sich vor ihrem Bug. Das Stampfen ließ nach, als die Jacht die Geschwindigkeit der Wogen erreichte und mit ihnen dahinglitt. Flin sagte: »Hoffentlich sind wir durch, bevor die …«
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»Dürfte ich dich bitten«, unterbrach ihn Bulnes, »hinunterzugehen und das Skop zu überwachen!« Man konnte sicher sein, daß Wiyem in Worte faßte, was ohnehin sonnenklar war. Natürlich hofften sie, das Schiff würde die Sperrzone passieren, ehe die Elektroniker die Sicherungen wieder einsetzten und die Energiebarriere wieder wirksam wurde. Eigentlich war jetzt der Augenblick gekommen, da sie die Zone passieren mußten. Von Flin kam ein schriller Schrei, als nebelartige Strahlung in der sie umgebenden Atmosphäre auftrat. Bulnes, der seine Steuersäule umklammerte, schüttelte sich, als ein Krampf sein Nervensystem durchlief. Hätte er einmal losgelassen, so wäre er durch das unbeherrschte Zucken seiner Muskeln seitwärts über Bord gegangen und im schwarz-weißen Dunst verschwunden. Indem er seine Nackenmuskeln zum Gehorsam zwang, drehte sich Bulnes weit genug, um zu sehen, daß die Strahlung größtenteils von achtern kam. Hätten sie sich genau im Zentrum der Zone befunden, wären sie unweigerlich verloren gewesen. Die Dagmar II verlor an Fahrt. Sie kam vom Kurs ab, lag treibend vor dem Wind und schlingerte wie wild. Flins bleiches rundes Gesicht tauchte verschwommen in der Kabinentür auf. »Der Motor – die Zündung – hat ausgesetzt…« Bulnes, der seine Vorsicht segnete, die ihn dazu veranlaßt hatte, für die entfernte Möglichkeit des Motorausfalls die Segel zu takeln, tastete nach dem Knopf, der die Winde des Außenklüvers in Gang setzte. Er drückte ihn. Nichts geschah. Er rief Fun zu: »Weißt du, wo die Laternen sind?« Fun nickte. »Dann schaff zwei her!« 8
Die Kabinentür wurde geschlossen, und der Schimmer des Kraftfeldes achtern wurde schwächer. Fun tauchte auf, eine Laterne am Kopf tragend, eine weitere reichte er Bulnes, der sie über seinen Südwester aus Ölzeug schob. Die Lampen warfen bleiche Strahlen in die Dunkelheit. Bulnes sagte: »Findest du die Kurbel für die Seilwinden im Werkzeugschrank?« »Ich glaube, ja.« Während Flins Abwesenheit verlegte Bulnes die Steuerung von dem jetzt nutzlosen Kreiselkompaß auf die Direktsteueranlage. Als Flin mit der Kurbel kam, sagte Bulnes: »Bitte, übernimm das Steuer. Halte den Wind Backbord achtern.« Bulnes nahm die Kurbel und bahnte sich seinen Weg nach vorn. Er setzte die Außenklüverwinde an der Basis des Hauptmastes an und schob die Kurbel ein. Er war seit mehr als einem Jahr nicht mehr gezwungen gewesen, die Segel händisch zu hissen und hoffte, daß die Handwinde nicht verrostet wäre. Unter ihm tanzte das Schiff. Er hockte da, hielt den Mast mit der einen, die Kurbel mit der anderen Hand, und zog. Die Kurbel bewegte sich, schwer zunächst und dann schneller. Der Außenklüver hob sich, die leichten Beschlagzeisinge, die das Segel hielten, klirrten. Wasser lief aus den Falten der Leinwand und wurde weggeweht. Das Schiff gewann an Tempo, als der Wind die Segel straffte. Als er beide Klüver gesetzt hatte, ging Bulnes nach achtern und übernahm das Steuer von Flin. Er probierte so lange, bis das Schiff günstig vor dem Wind lag und machte dann das Ruder fest. Sodann ging er mit seinem Gefährten nach unten. »Ich bin ganz durchgeweicht«, kam die klagende Stimme Flins aus dem Dunkel. 9
»Was hast du denn erwartet?« lautete die scharfe Antwort von Bulnes. »Sei so gut und nimm eine Lampe heraus.« Flin hatte jedesmal dieselbe Bemerkung gemacht, wenn sie in eine steife Brise geraten waren. Unter den Deckplanken gluckste Wasser, weil die automatische Bilgenpumpe ausgesetzt hatte. Bulnes machte sich bereit, die Kraftanlage in dem engen Raum zu besichtigen. Im Licht von Lampe und Kopflaterne sah er bald, daß der Fall hoffnungslos war. Leitungen waren überall abgeschmolzen, und das Herz des Systems – der große Barium-Titanit-Kristall von der Größe eines kleinen Köfferchens – war entlang mehrerer Spaltungsebenen geborsten. »Überspannung durch die Energiebarriere«, brummte er. »Sie hat den Kristall in Stücke zerbrochen. Wir können das Zeug ebensogut über Bord werfen.« Bulnes begann die Energieanlage zu zerlegen und zog Stücke des energiespendenden Kristalls heraus. Wenigstens der Motor schien intakt. Mit einem neuen Kristall und Reparaturen an den Leitungen würde die Dagmar II sich wieder energiegetrieben fortbewegen können. Flin sagte: »Warum hast du keinen Austauschkristall beschafft, als wir zum Aufladen in Marseille festmachten?« Bulnes' Miene umwölkte sich. »Lieber Freund, wo sollte man hier einen Austauschkristall aufbewahren? Troll dich und hau dich in die Koje, wenn's beliebt. Ich kümmere mich um die Sache.« »Wirklich, ich muß schon sagen, du benimmst dich daneben. Schließlich ist es nicht meine Schuld, daß dein verdammter Kristall in die Binsen gegangen ist…« »Ach so? Wessen Idee war denn übrigens diese Fahrt?« 10
»Du hättest voraussehen müssen…« »Mein lieber Gefährte, ich habe dich gewarnt, daß gewisse Risiken bestünden. Und hinter wessen Ehegattin sind wir her?« »Nach meiner natürlich. Versuch aber ja nicht, es so hinzustellen, daß alles nur meinetwegen passiert. Du warst auf die Fahrt genauso wild wie ich, in der Hoffnung, für deine Zeitschrift eine Story zu kriegen.« »Na schön«, sagte Bulnes und bemühte sich, jegliche Schärfe zu vermeiden. »Ich kann nur hoffen, daß wir Thalia auch finden. Und sollten wir Thalia wirklich finden, dann kann ich nur hoffen, daß es der Mühe wert war. Manche meiner altgedienten verheirateten Freunde wären nur zu froh, wenn die Agenten des Imperators ihre Frauen entführten.« »Von diesen Dingen verstehst du nichts, Knut. Wenn man eben ein simpler selbstsüchtiger Junggeselle ist – auweh!« »Wieder die Birne angeschlagen?« »Ja, verdammt!« Bulnes lächelte. »Wohin hast du die Broschüre mit der Radaranleitung gelegt? Ich habe dich heute darin blättern gesehen.« »Ach, was weiß ich – da liegt sie auf dem Boden.« »Du meinst im Deck. Verdammt, ich wünschte, du wärst so überaus liebenswürdig und tätest die Dinge wieder an ihren angestammten Platz.« »Entschuldige! Sag, was hast du vor?« »Ich möchte den Radar vom handbetriebenen Generator aus in Funktion setzen. Es gibt da einen Anschluß, den ich allerdings nie benutzt habe.« Bulnes blätterte im Schein seiner Kopflaterne das wasserdichte Instruktionsbüchlein durch. 11
»Knut«, meldete sich die Stimme von Wiyem Flin. »Ja? Ich dachte, du schläfst?« »Ich bin nicht schläfrig. Ich habe eben über Ehefrauen, Ehe und dergleichen nachgedacht.« »Na und?« »Sieh mal, alter Junge, warum heiratet ihr zwei – du und Dagmar – nicht? Thalia hat mir seinerzeit gesagt, sie wüßte es von Dagmar, daß diese glücklich wäre, wenn …«. »Caramba!« rief Bulnes. »Mein Lieber, meine Beziehungen zu Miss Dagmar Mekrei sind meine eigene verdammte Angelegenheit! Wenn ich Rat bei Problemen wie diesen brauche, gehe ich zu einem waschechten Psychiater. Und jetzt halt gefälligst die Klappe und laß mich arbeiten.« »Na gut, aber deswegen brauchst du doch nicht so empfindlich wie eine Mimose zu sein.« Noch immer vor Wut schäumend, schraubte Bulnes seinen letzten Anschluß fest. Empfindlich! Knut Bulnes hielt sich mit Recht für einen ausgeglichenen und beherrschten Menschen, doch nach zwei Wochen Zusammenseins mit Wiyem Flin, dazu noch das hirnbrandige Vorhaben, die Energiebarriere zu durchstoßen, wobei Gott allein wissen mochte, welche Strafen ihn erwarteten, und als Gipfel Flins unerwünschte Ratschläge bezüglich Dagmar… Er drehte die Handkurbel. Als der Generator aufheulte, drehte er den Schalter und das Radarskop leuchtete auf, als hätte man einen Pinsel voll leuchtend bunter Farbe gegen seine Oberfläche geschleudert. Bulnes konzentrierte seine Blicke auf den kleinen Bildschirm, um jedes einzelne Detail zu erfassen, ehe das Bild wieder verblaßte. Die Scheibe funkelte im Widerschein des Meeres, und doch konnte er das in ihrem Rücken liegende 12
Antikithera ausmachen. Vor ihnen lag nichts. Seiner Erinnerung nach sollte im nordöstlichen Quadranten innerhalb von sechzig nautischen Meilen der Karte nach nichts kommen. Bis sie nach den Kykladen Ausschau halten mußten, würde es Tag sein. Flins Bemerkung nagte noch immer an ihm. Zum Henker, dachte Bulnes, die Welt war viel zu gut organisiert und alle darin zu gut angepaßt und durch und durch darauf abgestellt, das Beste daraus zu machen – zumindest kam es einem anachronistischen Individualisten wie er es war so vor, dachte Bulnes mit einem Lächeln. Er konnte nicht umhin, Sympathie für den Kerl in jenem Gedicht, diesen Miniver Cheevy, zu empfinden, der »… die Medici geliebt, obgleich sie nie gesehen, Gesündigt hätt' er unablässig Wär' einer der ihren er gewesen« Am neuen Puritanismus waren die letzten drei Imperatoren schuld. Obwohl ihnen gemäß der Weltkonstitution politische Macht vorenthalten war, übten sie in Sachen Sitte und Moral eine echte Führerschaft aus. So kam es, daß man unter Serj III bleichem Ästhetizismus huldigte, während unter Kaal IV die Menschen zu Sportfanatikern wurden. Und während sie unter dem zügellosen Rodri einander an Weltlichkeit überboten, war es unter dem sittenstrengen Trio, das mit Vasil IX, dem jetzt regierenden, endete… »Knut?« »Was ist?« »Tut mir leid, mein Guter. Ich wollte dir nicht auf die Hühneraugen treten. Ich dachte aber, du solltest wissen – ich 13
wollte dir auch sagen, daß das der Grund war, warum man dich nicht aufgefordert hat, dem Sphinx-Club beizutreten.« »So?« sagte Bulnes mit veränderter Stimme. »Interessant. Eben habe ich mir überlegt, daß ich besser im einundzwanzigsten Jahrhundert gelebt hätte, als das Privatleben eines Menschen nur ihn allein etwas anging.« »Ich glaube nicht, daß das einundzwanzigste Jahrhundert so fabelhaft war. Und was die unbeschränkte Freiheit angeht, so nimm das perikleische Athen. Wo sonst konnte ein Mann nackt die Hauptstraße entlanglaufen, ohne auch nur die leiseste Bemerkung zu ernten?« »Das beweist nicht, daß sie unkonventionell waren. Nacktheit gehörte eben zufällig zu ihren Konventionen wie das Auffressen der Eltern im alten Irland.« »Eine gemeine Verleumdung meiner irischen Vorfahren«, sagte Flin. »Die Athener brüsteten sich damit, daß sie die Menschen tun ließen, was sie wollten, solange sie die anderen nicht belästigten. Lies deinen Thukydides.« »Alles sehr gut und schön für die Bürger, aber ich glaube mich zu erinnern, daß der Großteil der Bewohner Athens Sklaven waren.« »Trotzdem, alles würde ich dafür geben, wenn ich sehen könnte, wie es damals war.« »Nun, mein Lieber, du wirst bald zu sehen bekommen, wie es jetzt ist, egal, was das bedeuten mag. Möchte wissen, was Vasil Hohnsol-Romano in all den Jahren hier getrieben hat?« »Diese Null!«
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»Du setzt mich in Erstaunen, Wiyem. Das ist Majestätsbeleidigung, und nicht weniger!« »Ich meine es im Ernst. Lenz überläßt ihm nicht nur Griechenland für seine verdammten Experimente, sondern läßt auch zu, daß er die Ehefrauen anderer entführt, nur weil sie zufällig Griechinnen sind. Hör mal!« »Was?« »Mir ist eben etwas eingefallen, was auf die Aktivitäten des Imperators ein Licht werfen könnte. Kurz bevor wir England verließen, habe ich mit dem alten Djounz gesprochen – du weißt, Maksel Djounz, der Historiker. Der alte Djounz kennt einen Burschen namens Adler – August Adler, den Kurator des Dresdener Museums.« »Ist das derjenige, der dir gesagt hat, deine Frau wäre zurück nach Griechenland geschafft worden, zusammen mit all den anderen Exilgriechen?« »Nein. Das hat Dagmars Freund Baiker behauptet. Na, jedenfalls kennst du die Höhlen oder Bergwerksstollen oder dergleichen in Sachsen?« »Gehört habe ich davon.« »Djounz sagt, daß Adler vor einigen Jahren von Seiner Majestät Befehl bekommen habe, in diesen Höhlen Teile von Häusern aufzubewahren. Die Blöcke entpuppten sich als Stücke von Bausteinen und Marmor – alle sorgfältig in Kisten verpackt und numeriert. Ganze Waggonladungen von diesen Dingern. Genug jedenfalls, um eine ganze Stadt zu bauen. August hat fast ein ganzes Jahr gebraucht, um sie zu verstauen. Dabei sind ein paar Kisten zerbrochen, und er sah die Blöcke. Einer davon trug eine Inschrift in klassischem Griechisch, sagt er. So als hätte der
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Imperator die alten Ruinen in Griechenland zerlegt und die Trümmer zur Aufbewahrung nach Sachsen verschifft.« »Hochinteressant«, sagte Bulnes. »Hör auf mich und leg dich aufs Ohr. In wenigen Stunden werde ich dich wecken, damit du die Wache übernimmst.« 2 Flin weckte ihn in der grauen und regnerisch-bewölkten Dämmerung, indem er sagte: »Knut, kannst du mir das da um den Finger wickeln?« »Was ist denn passiert?« »Habe mich am Kocher verbrannt.« Bulnes seufzte. »Gott steh uns bei, sollten wir uns je vor den Häschern des Imperators verstecken müssen. Du würdest sicher im kritischen Augenblick etwas fallen lassen.« »Was geschieht, wenn man uns erwischt?« »Dann wird sich meine Redaktion nach einem neuen Chef umsehen müssen.« »Hoffentlich werde ich mit ihm ebenso gut auskommen wie mit dir.« Flin spielte auf die Artikelserie über römische Ruinen an, die er Bulnes verkauft hatte. Diese Veröffentlichungen hatten den Grundstein zu ihrer Bekanntschaft gelegt. »Danke. Aber du vergißt dabei ganz, daß die Somerset School einen neuen Lehrer für alte Sprachen brauchen wird.« Er grinste über Flins bestürzte Miene. »Es war deine Idee. Und jetzt geh bitte an Deck zurück, während ich uns Kaffee mache.« Bulnes zog Hemd und Hosen an und sprühte sich Wasser ins Gesicht. Er betrachtete mit zusammengekniffenen Augen sein 16
Gesicht im Spiegel und bemerkte, daß die rotbraunen Wangenstoppeln bald zum Schnauzbart und Ziegenbärtchen, die er und Flin trugen, passen würden. Wenige Drehungen der Generatorkurbel ergaben nichts, außer dem Widerschein des Meeres auf dem Radarskop, und ein Blick hinaus zeigte nur die Mirtoönische See. Obgleich der Wind noch immer Gischt übers Deck wehte, hatte der Regen nachgelassen. Während des Frühstücks sagte Bulnes: »Bitte denk daran, falls man uns schnappen sollte: unser Antrieb ist ausgefallen, und der Wind hat uns durch die Energiebarriere getrieben.« »Wir könnten auf unsere durch die Konstitution zugesicherten Rechte pochen«, sagte Flin. »Welch naives Menschenkind du doch bist!« »Ach, laß doch, die Dinge stehen gar nicht so übel.« »Nicht in England. Das heißt noch nicht. Du solltest aber Berichte vom Kontinent und aus Afrika hören.« »Du willst damit sagen, daß sich Lenz auch bei uns breitmachen will, wenn er erst genügend stark ist?« »Natürlich. Ich habe den Verdacht, daß Lenz dem Imperator in Griechenland freie Hand gelassen hat, um ihn aus dem Weg zu haben, damit er die Opposition unterdrücken kann.« »Schockierend!« sagte Flin. »Dann läßt du dich aber leicht schockieren.« »Und ich dachte, wir hätten diese Dinge hinter uns. Die Volkspartei hat sich doch immer stark für persönliche Freiheit eingesetzt.« »Das war, ehe sie an die Macht kam. Hat nicht einer deiner Landsleute mal gesagt: Macht korrumpiert?« 17
»Ich glaube, ja«, sagte Flin betrübt. »Konstitutionelle Rechte werden erst wieder etwas gelten, wenn die Volkspartei eine echte Opposition hat.« »Und wo willst du die herbekommen, ehe sich Lenz selbst zum Weltautokraten gemacht hat?« Bulnes zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Mir gefällt das Programm der Diffusionisten, aber dieser Wong ist ein Windbeutel. Falal Mansu ist der fähigste Oppositionsführer, doch kann ich mir nicht vorstellen, für die Asketizisten zu stimmen.« »Die Volkspartei hatte immer das aufgeklärteste Programm und hat viel Gutes erreicht, wenn sie ihre Mehrheit hatte.« »Das«, sagte Bulnes, »ist haargenau das Übel. Weil sie so viel Gutes taten, wenn sie an die Macht kamen, haben sie eine große Mehrheit erreicht, und weil sie eine so große Mehrheit erreichten, wurden sie durch die Macht korrumpiert und stellen jetzt eine Gefahr dar. Ein Paradoxon, nicht?« »Wenn der Bruder des Imps noch am Leben wäre …« »Wahrscheinlich um kein Haar besser als Vasil. Ich habe Serj in schlechter Erinnerung. Was hat euer Gibbon über die Erbmonarchie gesagt?« »Von allen vom Menschen geschaffenen Regierungsformen, liefert sie das weiteste Feld für Spott. Aber du weißt, was die Soziodynamiker sagen…« Als der Tag der Tag- und Nachtgleiche voranschritt, legte sich der Wind soweit, daß Bulnes und Flin das Besansegel hissen konnten. Gegen Einbruch der Dämmerung zeigte das Radar eine Insel an, etwa vier Meilen lang und annähernd so geformt wie 18
der umgedrehte hebräische Buchstabe vau, ein wenig nach steuerbord geradeaus. Das mußte Velvina sein. Bulnes änderte den Kurs, um gut westlich von dieser Insel in den Saronischen Golf zu kommen. Von Zeit zu Zeit ertappte er sich dabei, wie er auf das »Ping« der Radaralarmanlage lauschte. Der Ton hätte ihm angezeigt, ob jemand die Jacht mit einem Energiestrahl abtastete – dabei vergaß er momentan, daß die Radaranlage, wie alle anderen Geräte, ohne Energiezufuhr nicht funktionierte. Der Wind war auf Süd umgesprungen, was ein Lavieren unmöglich machte. Er legte sich immer mehr, bis sie vor Einbruch der Dunkelheit auch das Hauptsegel aufziehen mußten. Bulnes, der die Dagmar II mit Hilfe des Magnetkompasses (der Gyrokompaß war ausgefallen) manuell steuerte, blickte zu seiner schicken Marconitakelung auf, die sich im mitlaufenden Wind blähte, und er dankte den Göttern, daß er ausreichend Segelpraxis hatte und mit Segeln umgehen konnte. Die alten Fertigkeiten konnten sich auch in einer Welt des Knöpfchendrückens als sehr nützlich erweisen. Natürlich hätte er mit einer intakten Energieanlage Piriefs bereits in der vergangenen Nacht erreichen können. Trotzdem wollte er sich nicht zu sehr beklagen. Beim gegenwärtigen Tempo mußten sie den Hafen von Athini vor morgen erreichen, und falls er ein paar Oppositionisten an Land antraf, würde er vielleicht sogar sein Energieaggregat wieder in Schwung bringen. Er band sein Steuer fest und warf einen Blick auf das Radargerät in der Kabine. »Um der Liebe des Ormazd willen!« sagte er zu Flin. »Du willst wohl um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen!« 19
Flin war eben dabei, seine Stadtkluft herauszulegen: seine besten knöchellangen Hosen, das Faltenhemd, die Goldspitzenjacke, Spitzhut mit Plastikblume. »Na ja, ich möchte ordentlich aussehen, du weißt…« »Und mir die Drecksarbeit überlassen?« schnaubte Bulnes nicht gerade freundlich. Er widmete sich dem Radar. Ein Schwenken der Antenne brachte das zerfranste Dreieck von Eyina nach achtern, und die Doppelsichelkurve der Attischen Küste steuerbords heran. »Wie steht es mit dem Wind?« fragte Flin. »Legt sich.« Sie setzten sich zum Essen. Mit dem Fortschreiten des Abends verminderte sich der Wind zu einer leichten Brise, und es kam Nebel auf. Bulnes sagte: »Ich glaube, wir schaffen es nach Piriefs bis zum Morgen. Wir müssen aber alle Viertelstunden Radar ablesen.« »Wer sollte sich uns wohl in den Weg stellen? Seit die Barriere hinter uns liegt, haben wir nicht ein einziges Schiff oder Flugzeug gesichtet.« »Weil du schon davon redest – es ist eigentlich merkwürdig! Piriefs war eine der geschäftigsten Hafenstädte des Mittelmeeres. Möchte wissen, ob der Imp das Gebiet entvölkert und hier ein Wildreservat geschaffen hat?« »Klingt nicht sehr einleuchtend. Was soll aus den Griechen geworden sein? Warum hat er seine Agenten ausgesandt, um alle Griechen einzufangen, die gewußt hatten, was kommen würde und die aus dem Land geflohen sind, wie die Familie meiner Frau?« 20
Vielleicht will er sie auf Grund einer pseudowissenschaftlichen Rassentheorie ausrotten – wie dieser Bursche, dieser Hitler im zwanz …« »Bei Gott!« sagte Fun, dem die Augen fast aus dem Kopf sprangen. »Du glaubst doch nicht wirklich …« »Nein, nicht wirklich, alter Junge«, sagte Bulnes. »Vasil mag ja seltsame Ideen haben, so wie er sich beispielsweise für die Re-Inkarnation Heinrichs IV von Frankreich oder Franklin Roosevelts hält, aber ich habe immer gehört, er wäre eine durch und durch freundliche und altruistische Seele.« »Freundlich und altruistisch! Wenn er einen Mann von seiner Frau jahrelang trennt…« murmelte Flin. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie abhängig ich von Thalia bin. Wenn sie endgültig weg wäre… na ja…« »Dann wärst du verloren.« Bulnes reckte die langen Arme und gähnte. »Ich kriech noch für ein paar Stunden in die Falle. Bitte weck mich, falls sich auf dem Schirm ein Schiff oder gar schon Piriefs zeigen sollte.« Die stark gegliederte Halbinsel von Piriefs tauchte auf dem Radarschirm erst später, während Bulnes' Wache auf. Er ließ Flin weiterschlafen und ging nur in die Kabine, um die Generatorkurbel mehrmals zu drehen, bis der Hafen Zea nur mehr eine nautische Meile weit entfernt war. Dann weckte er ihn. Flin zwinkerte hinter seinen Brillengläsern. »Meine Güte, man kann ja nichts sehen. Willst du bei dieser Suppe den Hafen anlaufen?« »Falls wir keine Schiffe sichten, dann werde ich es vielleicht versuchen, solange unsere Fernröhre mit ihrer kurzen Sichtweite langt.« »Welchen Hafen? Den Katharos? Der hat am meisten Raum.« 21
»Das schon, aber wir müßten uns um den westlichen Zipfel der Halbinsel herumarbeiten und dazu noch durch einen Kanal. Das halte ich nicht für klug – so in der Nacht und nur mit Segelkraft. Wir könnten vor dem Wind direkt Zea anlaufen. Dort liegen nur kleine Schiffe.« Während die Jacht auf den Hafen von Zea zuhielt und sachte in der leichten Dünung stampfte, bemühte sich Bulnes, die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. »Wir sollten den Leuchtturm von Fretis sehen.« »In diesem Nebel?« »Ja, er hat ein Nebellicht… Dreh doch die Kurbel noch einmal!« Einen Augenblick darauf kam Flins Stimme aus der Kabine: »Es sieht aus, als wären dort kleine Schiffe vor Anker… höchstens dreißig Meter lang. Um die Ecke sind Docks und Bootshäuser. Halte dich li –, ich meine backbord.« »Haben wir die Einfahrt hinter uns?« »Eben jetzt … Etwas steuerbords … Ich sehe jetzt weitere Schiffe vor Anker auf dem Radarschirm … Jetzt müssen wir eines knapp passiert haben. Haben sie keine Lichter gesetzt?« »Nicht ein einziges Licht. Such mir einen freien Platz, und wir gehen vor Anker!« »Rechts. Ein Strich backbord … Noch …« »Wir müssen den Anker mit der Hand werfen. Sag mir wann, und ich halte ihn bereit. Gib auf den Kopf acht, falls wir die Segel umlegen müssen.« Nach einer Weile meldete sich Flins Stimme. »Hier wär's!« Bulnes ließ das Rad rotieren. Die Dagmar II wendete auf knappem Raum und luvte mit sanft flatternden Segeln auf. Flin 22
stürzte aus der Kabine und kämpfte sich vor, wobei er fast seitlich über Bord ging. Bulnes konnte das diffuse Licht seines Kopflichtes sehen und das Rasseln der Ankerkette hören. Die Jacht trieb küstenwärts, bis der Anker sie festhielt. Bulnes und Flin holten die Segel ein. »Der stillste Ort meines Lebens«, sagte Flin. »Wir sollten eigentlich die Verladearbeiten von Katharos her hören.« Bulnes gähnte. »Ich höre, wie sich jemand am Ufer unterhält, also kann die Gegend hier nicht völlig verlassen sein. Wir können es uns genausogut bis morgen bequem machen … Himmel, es ist nicht mal Mitternacht.« »Besteht nicht die Gefahr, daß wir gerammt werden, wenn wir keine Lichter setzen?« »Doch – ja. Aber ich weiß keinen anderen Ausweg.« »Warum schrauben wir nicht die Birnen aus den Fassungen und stellen statt dessen Kerzen hinein? Vielleicht besser als gar nichts.« Bulnes sah seinen Partner erstaunt an. »Hervorragend! Wieso habe ich nicht daran gedacht? Du machst das Backbordlicht.« »Warum überläßt du mir nicht beide, während du einen Blick auf den Schirm wirfst?« Bulnes lächelte zynisch. Alles nur, um der Sklavenarbeit des Generatorkurbeldrehens zu entgehen! Er ging nach unten. Als sich der Schirm blitzartig aufhellte, sah er, daß die Umrisse des Hafens Zea sie umgaben. Obwohl sie anders aussahen, als auf seinen Karten, war Knut Bulnes doch sicher, daß er nicht irrtümlich den Hafen Munihia angelaufen hatte. Das Licht auf dem Schirm war im Begriff zu verblassen, als Bewegung seine Aufmerksamkeit fesselte. 23
Wieder drehte er die Kurbel und drückte den Schalter. »He! Wiyem!« rief er und kurbelte wie wild. Der Generator heulte. »Was denn? Ich habe das Steuerbord –« »Sieh dir das bitte an!« Bulnes wies auf den Gegenstand auf dem Schirm, unmißverständlich ein Schiff, das sich durch die Hafeneinfahrt hindurch auf sie zubewegte. »Sieht aus wie ein verdammter Tausendfüßler!« sagte Flin. »Das ist der Rückschlag vom Kielwasser. Beeil dich, Flin, mit dem zweiten Licht! Sobald du sie hörst, ruf hinüber, sie sollen Abstand halten!« Flin lief wieder hinaus. Bulnes drehte weiter, packte dann eine Lampe und ging hinauf auf Deck. Er spitzte die Ohren in der undurchdringlichen Finsternis und hörte ein Gewirr von Geräuschen: Stimmengemurmel, Wasserplätschern und rhythmisches Pochen. Er wölbte die Hände vor dem Mund: »Abstand halten!« Der Lärm wurde lauter. Wieder rief er hinüber und sagte dann zu Flin: »Weißt du, wo die Signalraketen sind? Rasch, hol eine!« 3 Der Lärm wurde immer lauter. Das unsichtbare Schiff mußte viele Menschen, die alle zugleich redeten, an Bord haben – ein Ausflugsschiff vielleicht. Jemand rief, den allgemeinen Lärm übertönend: »Rhyp-papai! Papai! Rhyppapai! Papai!« Das sich nähernde Schiff mußte jetzt schon so nahe sein, daß der Bug jeden Augenblick auftauchen konnte. Im Nebel 24
vergrößerte sich über Bulnes' Kopf ein Lichtfleck zu einem dunstigen roten Ball. »Das sind sie«, keuchte Flin. »Ich mußte nach den Raketen herumsuchen …« »Weg! Abstand!« schrie Bulnes auf Französisch, Italienisch, Spanisch und Arabisch. Aus der Dunkelheit antwortete eine Stimme: »Ti?« Und darauf erfolgte ein Silbengerassel, das Bulnes nicht verstehen konnte, obwohl es seinem heimatlichen Spanisch nicht unähnlich war. Die Rufe »Rhyp-papei! Papei!« wurden lauter und erklangen im Gleichklang mit dem Plumpsen und Spritzen vieler Ruder. Die blutrote Kugel wurde heller. Bulnes riß eine Rakete auf und entzündete sie mit seinem Feuerzeug. Der rote Ball wurde zu einer Feuerstelle am Bug eines Schiffes. Bulnes erhaschte einen Blick auf eine Schar Männer um einen Kessel. Dann verlosch der Schein, als die Dagmar II mit ekelhaftem Knirschen unter Wasser gerammt wurde. Die Jacht schaukelte hin und her. Bulnes, der beinahe über Bord geworfen wurde, ließ die Rakete fallen und klammerte sich hilfesuchend an den Mast, als eben die rote Flamme aus der Rakete hochschoß. Das Signallicht fiel ins Wasser und erstickte mit einem Aufzischen. Der Ständer oder Dreifuß auf dem seltsamen Schiff kippte um, ließ Kohlen über den Bug rollen und die darum herumkauernden Männer suchten aneinander und an der Reling halt. Die Rhyppapai-Rufe hatten aufgehört. »Ihr blinden Hühner!« heulte Bulnes. »Maricones!« Vom anderen Schiff drangen Rufe herüber, Wasser schäumte, als das Schiff zurücksetzte.
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Bulnes steckte den Kopf in die Kabine. Im Licht seiner Kopflampe sah er, daß die Bodenbretter bereits feucht waren, und ein ominöses Gurgeln von unten teilte ihm den Rest der Geschichte mit. Bulnes schnappte sich die Seilwindenkurbel und stürzte hinaus. »Wiyem« rief er. »Wir laufen voll! Den Anker hoch!« Bulnes kurbelte wie wild an den Seilwinden und nahm dabei die Klüver zuerst, so daß die schwache Brise diese füllte und den Bug der Jacht küstenwärts drängte. Wasser gluckste über die Deckbretter, als alle Segel oben waren und das Schiff auf die Küste zuglitt. »Sie bewegt sich schrecklich langsam«, sagte Flin. »Nicht viel Wind, und außerdem liegt sie tief im Wasser.« »Meine Füße werden naß.« »Du wirst noch an ganz anderen Stellen naß werden!« Wutentbrannt suchte Bulnes im Nebel nach Anzeichen der Küste. Das Wasser stand ihm bis zu den Knöcheln. »Hast du gesehen, was ich sah?« fragte Flin. »Du meinst das Schiff – ein antikes wie in den Geschichtsbüchern?« »Mehr als das. Es war eine klassische Trireme!« »Dachte ich mir's doch. Sicher dreht hier jemand einen Film.« »Möglich«, sagte Flin. »Was hat denn das Leck geschlagen? Der Bug von diesem Kasten ist doch der Dagmar gar nicht so nahe gekommen!« »Falls es eine echte Trireme war, hat sie knapp unter der Wasseroberfläche eine Ramme.« 26
»Was haben diese Menschen gesprochen? Sie haben keine der gängigen Sprachen des Mittelmeerraumes verstanden.« »Wenn ich das wüßte! Ist da vorn etwas?« In dem vor ihnen liegenden Nebel tauchten dunkle, unregelmäßige Formen auf. Die Geräusche von der Galeere waren zu einem Gemurmel abgesunken. Bulnes sagte: »Hol die Hauptsegel ein. Das hier sieht wie ein Pier aus.« Das Wasser stand ihm bis zu den Waden. Der Pier nahm feste Formen an. Die daran festgemachten Schiffchen hatten den ganzen verfügbaren Raum belegt. »Sie sinkt immer tiefer«, sagte Bulnes. »Sobald wir die Schiffe berühren, springst du hinüber.« »Aber unsere Sachen …« »Kann man nichts machen. Fertig?« Die Dagmar II streifte am nächstgelegenen Schiff entlang, das in undeutlichen Linien in der Schwärze vor ihnen auftauchte. Bulnes ließ das Steuer los und sprang auf die Reling zu. Die Jacht erbebte und tauchte unter die Wasseroberfläche, als hätte diese letzte Erschütterung ihr Gleichgewicht endgültig gestört. Bulnes schwang sich über die Reling des anderen Schiffes und drehte sich um, als Flin rief: »Hilf mir, Knut! Ich hänge!« Bulnes sah, daß sein Gefährte mit den Händen an der Reling hing, während seine Füße im Wasser strampelten. Er hievte den beleibten Lehrer über die Reling. »Autsch!« rief Flin. »So grob hättest du nicht zupacken müssen. Liebe Güte, meine guten Kleider, der Paß und alles!« »Kleider! Und was ist mit meinem Schiff?« »Du bist doch versichert, oder etwa nicht?« »Ja, aber das kleine Boot war meine große Liebe.« 27
»Verdammtes Pech, aber ich glaube, man kann sie heben.« »Na, wenn schon.« Bulnes schneuzte sich. »Was mich mehr beunruhigt…« begann Flin. »Ja?« »Das Ding da, auf dem wir jetzt stehen, ist auch von antiker Bauart. Faß mal das Holz an. Man spürt die Spuren der Krummaxt. Wie sollen wir je aus dieser – dieser Phantasmagorie herauskommen?« »Darüber wollen wir uns am Morgen den Kopf zerbrechen, Kamerad. Komm jetzt.« »Wohin?« »Wir suchen uns einen Schlafplatz. Hast du Geld?« »Ja. Das und unsere Kleider und mein Taschenradio und dein Messer sind die einzigen weltlichen Güter, die wir im Augenblick besitzen.« Bulnes tastete sich zu der entgegengesetzten Seite des Schiffes durch und kletterte über die Reling auf den Pier. Er befand sich jetzt auf einer ebenen, steingepflasterten Fläche. Vor ihm erhoben sich niedere Bauten. Von irgendwoher aus der ihn umgebenden Dunkelheit wurde der Klang menschlicher Stimmen herangeweht. Bulnes führte Flin Schritt für Schritt über den Pier, bis seine tastende Hand eine Mauer fand, dann entlang dieser Mauer zu einer Ecke. Es schien der Anfang einer Straße. Dick lag die Dunkelheit vor ihnen. Nachdem sie sich langsam entlang dieser Straße weitergetastet hatten, kamen sie wieder an eine Kreuzung. Etwas Rötliches im Nebel zur Rechten ließ an ein Feuer denken – und dazu kamen Stimmen aus dieser Richtung. 28
»Sollen wir es dort versuchen?« fragte Bulnes. »Na, ich weiß nicht. Versuchen wir es eben. Wenn ich mich bloß trocknen könnte!« Sie hielten auf das Licht zu. Die Röte verdichtete sich zu einem roten Globus, wie ein Planetennebel sich zu einem Stern verfestigt. Der rote Ball wiederum wurde zu einem knisternden Feuer in einem Eisenbehälter auf einem Steinhaufen, mitten auf einer Straßenkreuzung. Bulnes sah vier Männer in einem Kreis hocken oder knien und vor sich auf den Boden blicken, während zwei weitere hinter ihnen standen und zusahen. Als sie die Schritte hörten, sahen sie sich um. Alle trugen Barte. Alle waren mit formlosen Stoffstücken bekleidet, die sie um den Körper gewickelt trugen. Bloße Arme und Beine ragten aus diesen Stoffbündeln hervor. Die Männer stanken nach Knoblauch, Zwiebel, Olivenöl und ungewaschener menschlicher Haut. Als der ihnen am nächsten Hockende, der ihnen den Rücken zugewandt hatte, sich auf den Fersen umdrehte, sah Bulnes eine Handvoll weißer Gegenstände auf dem Boden. Er war in ein Würfelspiel hineingeplatzt. »Pu ime?« sagte er auf griechisch. In dieser Sprache beherrschte er einige Sätze. Die Männer sahen einander an. Einer machte eine unverständliche Bemerkung. Obwohl sich die Sprache europäisch anhörte, hatte sie eine seltsam leiernde Klangfarbe. Bulnes wiederholte die Frage. Wieder der Wortwechsel in Form unbekannter Silben, dazu Gelächter. Sechs Augenpaare konzentrierten sich auf Bulnes. Neben ihm platzte Flin heraus: »Knut! Ich schwöre dir, die sprechen klassisches Griechisch!« 29
»Caray! Dann übernimmst wohl du die Unterhaltung!« »Ich weiß nicht … ich werde es versuchen, aber Konversation betreiben wir ja in der Schule nicht.« Flin sprach die Männer mit »Chaire« an. Jetzt waren alle aufgestanden. Der ihnen am nächsten Stehende war kleiner als die anderen, hatte aber eine breite Brust und kräftige Arme. »Chaire«, wiederholte dieser, wobei die Tonhöhe auf der ersten Silbe auf und nieder glitt. »Pos echeis?« sagte Flin. »Agathon«, grinste der Untersetzte. Weitere Bemerkungen flogen zwischen den sechs Männern hin und her. Bulnes fragte: »Was sagen sie?« »Ich kann es nicht ganz verstehen, aber mir gefällt es gar nicht. Ich werde nach einem Gasthaus fragen.« Flin begann einen Satz Wort für Wort zusammenzustoppeln. Bulnes sah, daß einer der Männer eine auf dem Boden liegende Keule zur Hand nahm. Es würde also kommen, wie damals in Bombay. Er warf einen Blick auf das Messer, das in seinem Gürtel steckte. Als Flin seinen Satz beendet hatte, brummte Bulnes: »Hast du ein Messer in der Tasche?« »Ja. Ja, aber …« »Pack es, bitte. Falls sie uns anfallen – an der Säule Rückendeckung!« Bulnes und Flin standen von der Säule eben so weit entfernt, wie das seltsame Sextett, das dem Spiel in geringer Entfernung von der Säulenbasis gehuldigt hatte, weil das Feuer den Boden unmittelbar unter der Feuerstelle nicht genügend erhellte. Flin wollte wieder mit einem Satz beginnen, doch die sechs 30
schenkten ihm keine Beachtung. Sie steckten vielmehr die Köpfe zusammen und lauschten den Worten des Untersetzten. Bulnes ließ leise die Messerklinge aufschnappen und wollte seine schmierige Arbeitsjacke ausziehen. Er hatte sie erst halb abgestreift, als der kräftige Mann etwas äußerte. Gleichzeitig schnellte die mit einem Messer bewaffnete Faust des Mannes aus der Vermummung hervor. 4 Als die sechs, die sich halbkreisförmig aufgestellt hatten, mit Messern und Keulen vorrückten, stieß Wiyem Flin ein mausartiges Piepsen aus und duckte sich hinter Knut Bulnes. Statt zurückzuweichen, tat Bulnes einen Schritt nach vorn und trat dem stämmigen Anführer fürchterlich in den Unterleib. Obwohl der Tritt ein wenig kurz ausfiel, bohrten sich seine Schuhspitzen in den Wanst des Kerls. Als Bulnes sich wieder gefangen hatte, fiel der Stämmige mit barbarischem Knurren auf Hände und Knie. Inzwischen hatte Bulnes seine Jacke abgestreift und sie um den linken Unterarm gewickelt. In der anderen Hand hielt er sein Messer. Als einer der Männer vortrat und mit einem Messer in der Hand zustechen wollte, fing Bulnes die Messerspitze mit der Jacke auf und stach den Mann in den Solarplexus. Der Mann schrie auf und fiel hin. Dann stand Bulnes auch schon mit dem Rücken zur Säule. Sein Blick jagte von Mann zu Mann. Undeutlich spürte er Wiyem Flin neben sich, der mit einem Taschenmesser Scheinangriffe vollführte. 31
Da zwei ihrer Spießgesellen am Boden lagen, schienen die vier übrigen Angreifer ihren Elan eingebüßt zu haben. Sie tänzelten hin und her, wobei sie die Arme erhoben hatten, um Hieb oder Stich anzubringen, und sie riefen: »Epitithete! Sphazete autous!«, kamen aber nicht näher. Bulnes fing mit seiner Jacke gerade wieder einen Hieb auf. Obgleich sich sein linker Arm schmerzhaft meldete, trieb er sie nach jedem Angriff mit Stichen und Scheinmanövern zurück. Sein Vorgehen wurde dadurch erleichtert, daß diese Gauner den Dolch nur mit dem leicht zu parierenden Überhandstich zu führen wußten. Der stämmige Mann, den Bulnes niedergetreten hatte, rappelte sich auf. Ein Geräusch neben ihm zog Bulnes' Aufmerksamkeit rechtzeitig auf sich. Er sah gerade noch, wie Wiyem Flin, der einen Knüppelhieb auf den Kopf abbekommen hatte, schlaff zu Boden glitt. Jetzt wußte Bulnes, daß er keine Chance mehr hatte. Ein Mann – mochte er auch noch so behende sein – kann nicht in drei Richtungen zugleich sehen … Ein fremdes Geräusch durchstieß die Nebelnacht: das Zischen verdrängter Luft, gefolgt von dem scharfen Schlag von Holz auf menschlichem Schädelknochen. Der stämmige Kerl, den Bulnes vorhin in den Leib getreten hatte, taumelte nun, getroffen von dem Holz, vorwärts und pflügte durch den Halbkreis seiner eigenen Leute mit dem Kopf nach unten, als wolle er Bulnes ins Zwerchfell treffen. Als der Mann näher gekommen war, stieß Bulnes seine Faust zu einem Stich von unten her hoch und versenkte die Klinge in der Kehle des anderen. Gleichzeitig war wieder der Lärm von außerhalb des Kreises zu hören: »Wschh-tuck«, im Verein mit heiserem Geschrei. 32
Der Untersetzte brach gerade über dem wie leblos daliegenden Flin zusammen, als Bulnes eine Gestalt sichtete, die hinter seinen Angreifern auftauchte und sie unter Geschrei mit einem Stock oder Stab auf die Köpfe schlug. Die verbliebenen Angreifer drehten sich in höchster Verwirrung um, um zu sehen, wer sie von hinten bedrängte. Und dann waren sie alle weg. Als sein Retter in den Schein des Feuers vortrat, sah Bulnes einen breiten, bärtigen Mann. Er steckte in einer Gewandung, die auf den ersten Blick wie eine moderne Arbeitskleidung wirkte. Der Feuerschein jedoch enthüllte grundlegende Unterschiede: Hosen in weiche Lederstiefel gesteckt, eine Jacke aus grobem Material, die vorn sehr weit hinunterreichte und durch einen breiten Gürtel zusammengehalten wurde – Knöpfe waren nicht vorgesehen. Und auf dem Kopf trug er eine Art Zwergenkappe aus Filz, die die Ohren bedeckte und hoch aufragte. Darunter quoll das lange Haar hervor. Das alles erweckte den Eindruck, als hätte sich hier jemand als russischer Bauer aus dem Mittelalter verkleidet, um in »Fürst Igor« mitzuspielen. Bewaffnet war er mit einem Bogen, von seinem Gürtel hing ein Köcher voll Pfeile herab. »Chaire!« sagte der Neuankömmling und ließ der Begrüßung einen Schwall Kauderwelsch folgen. Bulnes schüttelte den Kopf und erwiderte: »Danke, aber wer sind Sie?« Weitere unverständliche Laute. »Ist dies hier« – Bulnes machte eine Armbewegung – »Piriefs?« Jetzt dämmerte es in der Miene des Fremden. »Esti ho Peiraieus!« sagte er und ließ sich dann wieder in einen Wortschwall folgen. 33
Bulnes wollte Flin zu Hilfe kommen, dessen schütter behaarter Schädel sich aus dem dunklen Schattenkegel der Säulenbasis abhob. Flins unsichere Stimme meldete sich: »Ei Skythotoxotes?« »Pany men oun«, entgegnete der Mann. Er und Flin sprachen miteinander, ersterer rascher, Flin langsamer. Nach einigen Wortwechseln wandte sich Flin an Bulnes. »Er ist ein Bulle. Einer aus dem Corps der sogenannten Scythischen Bogenschützen, Polizisten-Sklaven, Eigentum der Stadt Athen in der Antike. Wo zum Teufel ist meine Brille?« »Wie kommt es, daß er im günstigsten Zeitpunkt daherkommt?« »Er hält Wache im Arsenal von Philon und hat den Lärm gehört. Er möchte wissen, aus welchem Teil Griechenlands du kommst – er sagt, du hättest den merkwürdigsten Akzent, den er je gehört hat.« »Es hat keinen Zweck, ihm zu sagen, daß ich aus einer Zeit stamme, die dreitausend Jahre in der Zukunft liegt. Ist das, was ihr da plappert, richtiges klassisches Griechisch?« »Absolut«, sagte Flin. »Obwohl es scheint, daß er selbst einen gräßlichen Akzent hat. Klar, wenn er Scythe oder Thraker ist.« »Mit ihm modernes Griechisch zu sprechen, wäre wohl so, als ob man mit König Alfred Neuenglisch spräche?« »Genauso. Ach, da sind sie ja.« Flin hatte seine Brille wieder. Der Bogenschütze setzte zum Sprechen an. »Was gibts?« fragte Bulnes. Flin erklärte. »Er sagt, wir müßten mit ihm ins Büro seines Vorgesetzten hier in Piräus.« »Und dann?« 34
Nach weiterem Wortwechsel fuhr Flin fort: »Wir werden für den Rest der Nacht dort festgehalten und morgen nach Athen geschafft – zu einem Verhör vor dem Polemarchos.« »Wer ist denn das?« »Er führt den Vorsitz bei Strafsachen, die von Ausländern begangen werden.« »Egal, welch unheimliches Spiel hier getrieben wird«, sagte Bulnes, »ich möchte keinesfalls zwischen die Räder der Bürokratie geraten. Frag ihn, wer diese Halunken hier sind.« »Er sagt, der Fette wäre ein notorisch bekannter einheimischer Gangster, Gefolgsmann eines gewissen Phaleas.« »Dann müßte er doch sehen, daß wir uns keines Verbrechens schuldig gemacht haben. Könnten wir ihn nicht bestechen, daß er uns hilft, die Leichen im Hafen zu versenken und uns gehen zu lassen?« »Was! Einen Beamten bei Erfüllung seiner Pflicht bestechen?« »Ach was, lieber Wiyem. Hier ist nicht England. Wir sind entweder im alten Griechenland oder zumindest in einer guten Faksimileausgabe davon.« »Aber … aber …« »Wenn dieser Knabe hier Sklave ist, dann wird er wahrscheinlich nicht bezahlt. Also wird er darauf angewiesen sein, sich die Freuden des Lebens anderweitig zu verschaffen. Los, frag ihn!« Flin stellte seine Frage und berichtete: »Er sagt weder ja noch nein. Ich vermute, es hängt von der Höhe des Betrages ab.« »Wie steht es mit der Kaufkraft unserer Münzen?«
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»Sehr gut. Man könnte bequem einen Monat von einer modernen halben Krone leben.« Bulnes kramte in der Kleingeldtasche seiner Hose und untersuchte die Münzen im Schein des Feuers. Eine halbe Krone aus Silber, vier Silberfranken, ein Silberdaim, drei Fünf-PenStücke aus Aluminium, fünf Kupferpens und einen halben Pen aus Kupfer. Eine vollständige Auswahl von Münzen des Empires – wenn man die großen Silberkronen außer acht ließ, die in manchen Teilen der Welt statt Papiergeld gleichen Wertes verwendet wurden. Er reichte Flin einen Franken und sagte: »Versuch's damit.« Es folgte ein ausgedehntes Palaver. Schließlich grinste der Bogenschütze und stopfte die Münze in den Mund. Flin sagte: »Ich habe ihm erklärt, es wäre eine tartessische Drachme. Wir sind Tartesser.« »Was ist das, bitte schön?« »Und du willst Spanier sein! Tartessos war eine berühmte antike Stadt, die einst in der Nähe von Cadiz stand. Da die Tartesser als reich und zivilisiert galten, dachte ich, es würde uns das beste Prestige verleihen, wenn wir uns als solche ausgeben.« Der Bogenschütze lehnte seinen Bogen an die Säule, kniete nieder und begann die Leichen auszuziehen. »Was macht er da?« fragte Bulnes. »Er sagte, daß er ihre Kleider und Wertgegenstände unter der Hand verkaufe. Falls wir ihn nicht verraten, verrät er uns auch nicht.« »Und was erwartet er, für das Zeug zu bekommen?«
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»Da sie erstens ziemlich abgetragen sind und jetzt Löcher von den Messerstichen und Blutflecken aufweisen, bezweifelt er, ob er pro Stück zwei Obolus bekommen kann.« »Wieviel war ein Obolus?« »Zwei Pen etwa. Da sind etliche.« Der Bogenschütze hatte den Finger in den Mund einer der Leichen gesteckt und ein paar kleine, dünne Münzen herausgezogen. Nachdem er die anderen Leichen einer ähnlichen Untersuchung unterzogen hatte, stand er auf und faßte nach dem Fußknöchel der Leiche des Anführers. Dazu sagte er etwas. Flin erklärte: »Er möchte, daß wir ihm helfen, die Leichen ans Wasser zu schleppen.« »Na und? Nimm den Großen an den Beinen, und den Kleinen schaffe ich allein.« »Sie berühren? Ich – ich kann das nicht!« jammerte Flin. »Su madre!« brüllte Bulnes. Er mußte sich mühsam beherrschen. »Lieber Freund, reiß dich zusammen, falls du nicht willst, daß man dir die Kehle durchschneidet … Pack den Knöchel! Siehst du, es tut nicht weh.« Sie setzten sich in Bewegung und zerrten die Leiber durch den Dreck. Bulnes sagte: »Er sagt zwar, daß wir in Piriefs sind, aber wir könnten versuchen herauszufinden, wann.« »Ich werde ihn fragen … Er sagt, es wäre die Zeit des Archonten Apseudes.« »Wann war das? Oder vielleicht sollte ich sagen, wann ist das?« »Wenn ich das wüßte!« »Ich dachte, du wüßtest auf diesem Gebiet alles.«
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»Sei vernünftig, Knut. Kennst du die Namen und Daten sämtlicher spanischer Könige, angefangen bei Euric?« »Verstehe. Entweder sind wir zeitlich zurückversetzt, wie es im Märchen passiert, oder aber es führt hier jemand einen kolossalen Hokuspokus auf. Frag ihn nach Unterkünften für die Nacht.« »Er sagt, es gäbe hier eine Herberge, in der wimmle es aber von Wanzen.« »Hm. Und ich vermute, der Wirt würde uns beschwindeln, oder eine andere Halsabschneiderbande ermordet uns …« Sie erreichten gepflasterten Boden, der an einer Mauer endete, hinter der Bulnes Wasser schimmern sah. »Ballete!« sagte der Bogenschütze. Bulnes stemmte den Leichnam hoch; er plumpste ins Wasser. Der andere folgte. Bulnes überlegte rasch. Wenn man ihn nicht daran hinderte, würde der Bogenschütze in der Dunkelheit verschwinden und es ihm und Flin überlassen, ihre Suche nach einem Dach über dem Kopf von neuem zu beginnen. Er sagte: »Wir wollen ihn zu seinem Arsenal begleiten. Wie heißt er?« »Triballos. Ich habe ihm gesagt, du seist Bouleus und ich Philon.« »Warum?« »Kein Grieche würde sich die Mühe machen, einen ausländischen Namen auszusprechen, deswegen können wir uns gleich die passende griechische Version zulegen.« Flin nahm seine holprige Unterhaltung mit Triballos wieder auf, während Bulnes hinter ihnen einherstapfte, tief in Gedanken versunken. Den Scythen mußte man wie rohe Eier behandeln. Einerseits war der Mann ihre einzige Verbindung zu dieser 38
seltsamen Welt, in die sie gestolpert waren. Andererseits war Triballos, obgleich Sklave, doch Beamter, und Bulnes' innere Stimme sagte ihm, daß Kontakte mit Behörden von zwei illegalen Besuchern des Landes gemieden werden sollten. Wieder tauchte ein formloser feuriger Schimmer im Nebel auf. Beim Näherkommen sah Bulnes, daß es eine Fackel an der Vorderseite eines großen Gebäudes war. Bulnes fischte seinen Daim heraus und reichte ihn Flin. »Sag ihm, das bekommt er für die Gewänder der Toten und Unterkunft für eine Nacht in seinem Arsenal.« »Was willst du mit dem Lumpen anfangen?« »Du wirst schon sehen. Sag's ihm bitte.« Nachdem Flin das Angebot übersetzt hatte, sah der Bogenschütze die Münze an, wog sie auf seiner Handfläche und grinste schließlich. »Er sagt, es ginge in Ordnung«, erklärte Flin. Der Scythe stieß eine der zwei großen Türen auf, nahm die Fackel aus ihrer Halterung und führte die Schiffsbrüchigen hinein. Das Gebäude erwies sich als lang und verhältnismäßig schmal. Sie standen an einem Ende eines Mittelschiffs, das von zwei Säulenreihen begrenzt wurde. Eine niedrige Steinbalustrade verband die Säulen jeder Reihe miteinander. Zwischen den Säulen waren Bronzegitter eingefügt. Entlang der Seiten des Baues sah Bulnes hölzerne Rahmen, auf die Segel gespannt waren, dazu Stapel von Spieren, Rudern und Spantenwerk. »Entauthoi!« sagte der Bogenschütze und lehnte seinen Bogen an die Balustrade. Er öffnete eines der Gitter und führte die Besucher zu einer auf die obere Galerie führende Treppe. Hier enthüllte das Flackern der Fackeln Regale an den Wänden des Gebäudes, in Abständen von Fenstern durchbrochen, auf 39
denen Seilrollen gestapelt waren. Dickere Trossen waren auf dem Boden gelagert. Triballos sagte etwas. »Wir können auf den Seilrollen schlafen, sagt er«, übersetzte Flin, »aber vor Tagesanbruch müßten wir wach und fort sein, damit er keine Schwierigkeiten bekommt.« Bulnes sah zu, wie der Sklave mit der Fackel die Treppe hinunterging und dabei verzerrte Schatten an die Wand warf. »Was hältst du davon?« »Wovon? Gott hab ich Kopfschmerzen.« »Von diesem angeblich alten Griechenland? Sind wir zeitlich zurückversetzt worden, oder ist alles nur gestellt? Träumen wir, oder sind wir tot?« »Ich glaube, wir befinden uns tatsächlich im antiken Attika.« »Warum, mein werter Herr?« »Die kleinen Einzelheiten …« »Du glaubst also, der Imp hätte eine Art Zeitmaschine, die innerhalb seiner Energiebarriere arbeitet, so daß er die Geschichte wie einen Film ablaufen lassen kann?« »So ähnlich.« »Das würde nicht funktionieren, Kamerad.« »Warum nicht?« fragte Fun. »Die Taten, die wir im alten Griechenland begehen, würden die ganze darauffolgende Geschichte beeinflussen. Daher würden wir, wenn unser eigenes Jahrhundert käme, nie als die geboren werden, die wir sind. Also könnten wir auch nicht existieren und ins alte Griechenland zurückversetzt werden, um besagte Taten zu vollbringen.« »Wir haben die Geschichte noch nicht beeinflußt.«
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»Wir haben zwei Menschen getötet, mit vier weiteren gekämpft und einen siebten bestochen.« »Aber das sind keine Personen von Bedeutung.« »Und doch – ich könnte mir vorstellen, daß die Wirkung dieser Taten sich wie Wellengekräusel ausbreitet, bis sie die ganze Geschichte beeinflußt. Außerdem liegt die Dagmar II auf dem Grund des Hafens von Zea. Sollte man sie an Land ziehen, wird sie neuartige Impulse für den Schiffsbau liefern. Mit einem Besansegel und magnetischem Kompaß könnten sie Amerika zweitausend Jahre früher als die anderen entdecken. Das würde doch die Geschichte ändern!« »Nun«, sagte Flin, »wenn wir die Geschichte schon beeinflußt hätten, wären wir wahrscheinlich wie ein Rauchwölkchen verpufft. Und da wir nicht verschwunden sind, ist es klar, daß dein Paradoxon nicht stichhaltig ist.« »Falls du davon ausgehst, daß das hier wirklich das alte Attika ist. Hast du keine genaueren Vorstellungen in welcher Zeit wir uns hier befinden? Antikes Griechenland umfaßt viele Jahrhunderte.« »Hmm«, sinnierte Flin. »Obwohl ich nicht weiß, wann Apseudes Archont war, glaube ich, daß dieses verdammte Gebäude hier im späten fünften Jahrhundert vor Christus erbaut worden sein könnte.« »In welche Periode sind wir also geraten? Die Zeit der Persischen Invasion?« »Nein. Später. Das Zeitalter des Perikles und des Peloponnesischen Krieges – das Goldene Zeitalter Griechenlands. Genau richtig.« »Wieso bist du so sicher?« »Nenn es meinetwegen Intuition.« 41
Bulnes unterdrückte ein verächtliches Schnauben. »Ich würde keine voreiligen Schlüsse ziehen. Bloß weil wir einen Teil Piriefs in seinem Perikleischen Zustand und ein paar Typen in Bettlaken gehüllt herumflitzen gesehen haben, sollten wir daraus nicht gleich schließen, daß ganz Griechenland auf die gleiche Weise verändert wurde.« Bulnes gähnte. »Morgen gehen wir hinaus und fragen jemanden, ob er Aristoteles gesehen hat.« »Aber Aristoteles ist noch gar nicht geboren …« »Und wenn wir ihn finden, kneifen wir ihn in den Hintern, um zu sehen, ob er der echte Aristoteles ist oder nur ein Theaterrequisiteur in einem Tischtuch mit drei Sicherheitsnadeln.« »Jetzt aber Spaß beiseite …« »Bitte, mein Freund! Wenn du auf weiterer Unterhaltung bestehst, werde ich wieder hellwach und finde heute keinen Schlaf mehr. Gute Nacht!« 5 Mehrere Faktoren wirkten zusammen, um Knut Bulnes lange vor Sonnenaufgang zu wecken: Vogelsang, Stimme ohne Gesang, das Schnarchen von Wiyem Flin und die unnachgiebigen Taurollen, die Bulnes zu seinem Lager erkoren hatte. Dazu kamen ein innerer Aufruhr und die Erregung. In was waren sie da hineingestolpert? Durften sie hoffen, je wieder in ihre eigene Welt zurückzukommen? Bulnes setzte sich auf und rieb sich die juckenden Augen. Flin schlief noch. Im fahlen Licht vor der Dämmerung schimmerte sein rosa Skalp durch das spärliche Haar.
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Bulnes ging ans nächste Fenster: ein einfaches rechteckiges Loch mit einem rohen Holzladen, der offen stand. Als er den Kopf aus dem Fenster steckte, hörte er das Geräusch hoher Stimmen, immer lauter, obwohl er die Quelle der Geräusche nicht ausmachen konnte. Die unmittelbare Nachbarschaft schien aus Gebäuden zu bestehen, die den anmutigen säulenverzierten griechischen Tempeln nicht im mindesten ähnelten: ebenerdige Ziegelbauten, grob und einfach, ohne Fenster nach außen oder Zierumrandung der Fassade. Jetzt kamen die Besitzer von zwei der vernommenen Stimmen in Sicht: zwei junge Frauen in langen drapierten Behängen, jede mit einem großen Krug auf der Schulter. Sklavinnen, die das tägliche Wasser für den Haushaltsbedarf vom nächstgelegenen öffentlichen Brunnen holten, dachte Bulnes. Falls es sich um einen Schwindel handelte, dann war er sehr überzeugend inszeniert. Obwohl ihn das Schauspiel in Anspruch nahm, wurde Bulnes doch einer Melancholie in seinem Inneren gewahr, die er schließlich als Trauer über den Verlust seiner Jacht diagnostizierte. Als die Mädchen um die Ecke verschwunden waren, kam ein Mann, der in die andere Richtung lief. Er trug ein Bündel auf der Schulter. In der darauffolgenden Viertelstunde tauchten weitere Personen auf. Bulnes sah fasziniert zu, bis ihm die Morgenröte sagte, er täte gut daran, Flin zu wecken. Als er Flin rüttelte, murmelte dieser: »Schon die nächste Wache? Wo ist mein Ölzeug? – Ach, du liebe Güte, war es also doch kein Alptraum, der mich ins antike Griechenland zurückversetzt hat!«
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Er sprang von seiner Seilrolle auf und lief ans Fenster. Bulnes bemerkte: »Lieber Wiyem, du hast kürzlich davon gesprochen, wie gern du das alte Attika erleben würdest. Jetzt hast du deine Chance. Ich fürchte nur, wir werden in unseren Segelhosen und Jachtmützen Verdacht erregen.« »Du willst also diesen Plunder tragen?« Flin wies auf den Haufen landesüblicher Gewänder, die sie den Toten vergangene Nacht abgenommen hatten. Bulnes mußte grinsen, als er den angewiderten Ausdruck seines Gefährten sah. »Ja. Wie zum Teufel zieht man das Zeug an?« »Es ist besser, wenn wir die Lumpen zunächst nach – äh – Parasiten durchsuchen.« Sie zerrten die Kleidungsstücke ans Fenster, schüttelten sie aus und untersuchten sie. Bulnes sagte: »Zum Henker, das Ding ist ja bloß ein großes Rechteck aus Stoff. Kein Ärmel, kein Schnitt!« »Natürlich. Das ist ein dorischer Chiton.« »Wie trägt man das Zeug?« »Falte es zusammen und wickle es um dich – unter den Achselhöhlen. Diese Metallspangen halten es an beiden Schultern und an der offenen Seite zusammen. Wenn du dich ausziehst, werde ich dich damit drapieren.« »Ich fühle mich wie ein Mannequin bei einem verdammten Couturier«, sagte Bulnes. »Au!« »Tut mir leid, wollte dich nicht stechen. Da!« Bulnes machte einige Schritte zur Probe. »Das luftigste Ding, das ich jemals anhatte. Und jetzt bist du an der Reihe, teurer Gefährte … Was sind die übrigen Stücke? Die großen?« 44
»Himatia oder Mäntel. Man wickelt sie sich nach Belieben um.« »Und womit werden sie festgehalten?« »Ein kalos k'agathos hält ihn mit einer Hand fest. Daran erkennt man den Gentleman – seine Hände sind anderweitig nicht beschäftigt.« Bulnes probierte es mit dem lakenartigen Stoffrechteck. »Sollten wir um diese Hemden keinen Gürtel tragen?« »Ich sehe keine. Vielleicht sind sie in der Dunkelheit verlorengegangen.« »Dann klauen wir der Marine Athens etwas Seil, sagte Bulnes und ging mit seinem Messer auf eine Rolle dünnen Seils los. »Und was ist mit unseren Sachen?« »Du könntest Uhr und Taschenmesser in deine Brieftasche stecken und das Ding an deinem Gürtel befestigen. Unsere Segelkleidung müssen wir zusammenrollen und hier verstecken.« Flin schaute aus dem Fenster. »Sieh mal, der Nebel ist weg, und die Sonne wird jeden Augenblick aufgehen!« »Wir müssen jetzt gehen.« Bulnes probierte das größere der zwei Sandalenpaare an, das den Toten gehört hatte. »Und mit der Suche nach Thalia beginnen?« »Nicht so hastig! Wir wissen ja nicht einmal, ob sie schon hier ist. Wir möchten zunächst in Erfahrung bringen, in was wir hineingeraten sind. Außerdem müssen wir uns Proviant verschaffen, und du mußt mir genügend klassisches Griechisch beibringen, damit ich mich durchschlagen kann.« »Das dürfte nicht schwer sein, da du Neugriechisch kennst.« Flin stützte das Kinn in die Hand, nahm aber sofort die Hand 45
weg. »Nicht mal rasieren können wir uns – na ja, wir scheinen in eine bärtige Epoche hineingeraten zu sein. Unsere Bartmode wird auffallen.« Er strich sich über Schnurrbart und Spitzbart. »Ein paar Tage ohne Rasur werden das beheben. Wo können wir Geld wechseln?« »Es hat ein Gebäude gegeben, die Deigma, wo die Geldwechsler ihre Tische hatten. Wahrscheinlich werden sie versuchen, uns übers Ohr zu hauen.« »Und wann macht die Bank auf?« »In der Morgendämmerung. Um diese Zeit beginnt nahezu alles.« Bulnes überlief ein Schaudern. »Wir scheinen unter Menschen gefallen zu sein, die das alte Sprichwort von ›Morgenstund hat Gold im Mund‹ ernst nehmen.« »Ganz natürlich, da es ihnen an einem hochentwickelten Beleuchtungssystem mangelt.« Die Straßen belebten sich rasch, nicht nur mit Männern im klassischgriechischen Gewand, sondern auch mit anderen: Negern, einigen dunklen, glattrasierten Männern, die Flin als Ägypter identifizierte, Bärtigen in Jerseysachen und Kilts, die er als Phönizier einstufte, und verschiedenen anderen. Hin und wieder waren Bulnes und Flin gezwungen, einem Lasttier, einem Wagen, oder dem Inhalt eines Unrateimers auszuweichen. Sie gingen den Hang des Hügel Munihia (oder Mounychia, wie Flin ihn nannte) in der Nähe des Arsenals hinauf, bis die Straße aufhörte. Von hier oben sahen sie das sich nach Südwesten ausdehnende Piräus. In der anderen Richtung verliefen die Langen Mauern einige Meilen landeinwärts, auf das eigent46
liche Athen zu. Eben ging die Sonne über der eichenbewachsenen Erhebung des Hymettos auf. Als das Sonnenlicht hinter dem Berg Aigaleos im Norden hervorkam und von Osten her in das Tal einfiel, schimmerte etwas über der Stadt. Flin rief: »Der Helm der Athene des Phidias – die sogenannte Athene Promachos auf der Akropolis! Es heißt, daß man den Helm von hier aus sehen konnte. Das muß die echte sein!« »Was ist es denn? Eine Statue?« »Über zehn Meter groß. Einfach wundervoll!« »Etwas Eßbares wäre mir lieber«, sagte Bulnes. Nachdem Flin seine Augen hatte schwelgen lassen, gingen sie hügelabwärts in Richtung Hafen Kantharos. Dabei kamen sie über eine freie Fläche, auf der eine Anzahl Statuen und andere Monumente standen, zwischen denen Straßenverkäufer lautstark ihre Waren anpriesen. Die immer dichter werdende Menge war fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Kein Mensch beachtete Bulnes und Flin. Flin fragte einen Mann nach dem Weg zur Deigma. »Was hat er gesagt?« fragte Bulnes. »Er ist hier selber fremd.« Die nächste Frage brachte ihnen eine aufschlußreichere Antwort ein, und bald hatten sie die Deigma gefunden: riesige überdachte Kolonnaden voll Lärm und Gedränge. Der Knoblauchgeruch war umwerfend. Ein Teil der Deigma war dem Finanzwesen gewidmet. Jede einzelne Bank bestand aus einem großen Tisch, an dem der Bankier saß, umgeben von seinen Sklaven, Geldkassetten und Papyrosrollen, auf denen die Konten geführt wurden. Vor den meisten dieser Tische standen Kunden. 47
»Wieviel Wechselgeld hast du bei dir?« fragte Bulnes. Flin zählte. »Drei Franken, vier Daims, einen Fünfpen, sechs Pens, drei halbe Pens.« »Nimm einen Franken und versuch's bei einigen dieser Geldsäcke. Gib acht, wer dir am meisten dafür bietet.« »Verdammt, ich hasse das Feilschen«, brummte Flin, stellte sich aber vor dem Tisch des ersten Bankiers an. Als er sich in der dritten Warteschlange aufgestellt hatte, jammerte Flin wegen der Schmerzen in seinen Füßen. Sogar Bulnes mußte zugeben, daß er sich vor Hunger und wegen der Schwaden von Knoblauchduft flau im Magen fühlte. »Nur einmal noch, dann entscheiden wir, mit welchem wir ins Geschäft kommen…« »He!« sagte da eine Stimme auf Englisch, »seid ihr die Jungs, die letzte Nacht in zivilisierter Kleidung in Piräus aufgekreuzt sind und von der Bande des Phaleas überfallen wurden?« Bulnes und Flin wandten sich um. Da stand ein muskelbepackter junger Mann, rundgesichtig, stupsnasig, unschuldig dreinsehend, gekleidet wie ihr Retter von voriger Nacht: Umhang, Hosen, Spitzmütze, auf den Bogen eines Skythischen Bogenschützen gelehnt.
6 »Ja«, sagte Bulnes. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Der junge Mann kam mit ausgestrecker Hand näher. »Mein Name ist Diksen, Roi Diksen aus Yonkers. Die Griechen nennen mich Pardokas.« 48
Bulnes und Flin stellten sich vor; letzter fügte hinzu: »Was ist Yonkers?« »Eine Stadt in den USA. Ihr Jungs seid Engländer?« Bulnes sagte: »Flin ist gebürtiger Engländer. Ich nur durch Adoption.« »Woher stammen Sie dann eigentlich?« »Technisch gesehen bin ich Spanier, obwohl ich der Abstammung nach ein wenig von allem bin.« »Sie reden jedenfalls wie'n Amerikaner.« »Ich bin dort zur Schule gegangen. Wie haben Sie von uns erfahren?« »Triballos hat es mir gesagt; deswegen bin ich von Athen herüber gekommen, um euch zu suchen. Habe in ganz Piräus Jagd auf euch gemacht.« »Sind Sie denn nicht im Dienst?« »Jetzt habe ich frei. Ich arbeite in der Nachtschicht. Was macht ihr hier? Wollt ihr euer Geld gegen griechisches eintauschen?« »Ja«, sagte Bulnes. »Wieviel kriegt ihr dafür?« »Der letzte Bankier hat uns gesagt, er wolle uns einen halben Obolus für einen Pen geben. Wie steht's damit?« »Ganz annehmbar. Weiß nicht, wie ihr das geschafft habt – diese Griechen stecken voller Tricks. Hört mal, wo gibt's hier ein Plätzchen, wo wir uns unterhalten können, wenn ihr fertig seid?« »Wie wär’s mit einem Restaurant? Wir haben noch nicht gefrühstückt, und jetzt ist sicher schon fast Mittag.«
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Mit angeekelter Miene sagte der junge Mann: »Ach, diese Griechen haben von einem richtigen Frühstück keine blasse Ahnung. Die tunken ein Stückchen Brot in ihren lausigen Wein und nennen das Mahlzeit. Was würde ich für einen guten Schinken mit Rührei geben … Aber ihr Jungs wollt ja essen. Gut, ich kenne eine Kneipe.« Flin war endlich an die Reihe gekommen. Da dieser Bankier ihnen einen Wechselkurs angeboten hatte, der einen Bruchteil über dem der zwei vorangehenden Finanziers lag, entledigte sich Flin und Bulnes ihrer gesamten Silber- und Kupferbestände. Die Aluminiummünzen, das wußte Bulnes, würden ihnen erhalten bleiben. »Also los, führe uns«, sagte Bulnes zu Roi Diksen. Der ›Skythe‹ führte sie aus der Deigma heraus. Der Frühlingstag war wolkenlos klar. Diksen blieb vor der Agora stehen und wies seine Gefährten an, zu kaufen, was sie essen wollten. »… weil diese Kneipen zwar kochen, Lebensmittel aber selbst nicht führen, man muß es mitbringen. Eine verdammt windige Art, eine Kneipe zu führen.« Sie kehrten in ein Gasthaus ein, in dem sie auf Bänken an einem langen Tisch sich gegenübersaßen. »Wenigstens«, sagte Bulnes, »stinkt es hier nicht bis zum obersten Dachsparren.« Die Lebensmittel, die sie erstanden hatten, waren ein riesiger Laib Brot, in Öl schwimmende Zwiebeln und Wein. Bulnes kostete von dem Wein. »Pfui Teufel!« rief er aus. »Fichtenzapfenessenz!« »Man gewöhnt sich daran«, sagte Diksen, »so wie man sich an die Art gewöhnt, wie sie alles in Öl schwimmen lassen. O 50
Kallingos!« Er sprach den Wirt in gebrochenem Griechisch an und übergab ihm die Zwiebeln. Bulnes kam zur Sache: »Nun, Mr. Diksen, schießen Sie mit ihrer Geschichte los!« »Also, das kam so. Ich spare meine Kröten zusammen, die ich mir in Kaplens Kramerladen in Yonkers verdient habe, um im Urlaub eine Europareise zu machen. Mein Mädchen sagte immer, ich brauche Kultur. Ausgerechnet… Na, jedenfalls geht alles gut, bis ich nach Belgrad komme. Ich marschiere eben mit den anderen Besuchern durch die große Kathedrale und höre mir an, was der Fremdenführer an alter Geschichte herunterleiert, als alles schwarz wird und ich auf See aufwache.« »Auf welcher See?« fragte Bulnes. »Genau weiß ich das nicht – irgendwo nördlich von hier. Ich sitze mit Ketten um Hand- und Fußgelenke in einem Schiff. Mit mir viele andere arme Teufel. Wir sind in einer Art Verschlag im Bug untergebracht; das übrige Schiff ist voller Kerle, die an langen Rudern sitzen. Ich frage den neben mir Sitzenden, was denn los wäre, aber keiner versteht die Sprache des anderen. Diese Griechen sind alle ziemlich ungebildet – keiner spricht Englisch. Am Abend steuern die Seeleute das Schiff an die Küste und lassen den Bug auf Land stoßen, so daß sie aufs Trockene können, sich ausstrecken und auszuschlafen, aber uns lassen sie auf dem Schiff und zu unserer Bewachung ein paar Burschen mit Speeren, die aufpassen, daß wir nicht auf dumme Gedanken kommen. Nach einigen Tagen kommen wir nach Piräus. Die ganze Zeit über warte ich darauf, daß ich endlich aus diesem schrecklichen Traum erwache, aber nein. Man führt uns auf einen Platz, wo Sklaven verkauft werden. Das hatte mir 51
niemand gesagt, aber ich konnte es mir selbst ausrechnen. Man zieht uns aus und stellt uns auf einen Block – wie im Kino – und die Leute machen Angebote. Als ich dran bin, stehe ich da und komme mir reichlich dämlich vor, weil da ein paar Mädels stehen und zusehen, aber diese Griechen sind ja allesamt Nudisten und wissen nicht, was genieren ist. Der Auktionator fingert an mir herum und befühlt meine Muskeln. Er klopft sogar auf die Silberplatte in meinem Kopf – vor paar Jahren hatte ich einen Autounfall. Mir gefällt das alles gar nicht, aber da steht in der Nähe ein großer niederträchtig aussehender Kerl mit einer Peitsche – für den Fall des Falles. Na, wie so die Zeit vergeht, kommt ein Typ daher und spricht mit dem Auktionator und fragt mich dann etwas. Ich kapiere keine Silbe, da macht er in Zeichensprache und deutet mir an, ob ich mit Pfeil und Bogen umgehen könnte. Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich so was nicht mehr in der Hand gehabt, deswegen schüttle ich den Kopf. Weil das aber bei den Griechen ›Ja‹ heißt, glaubt der Kerl, ich könnte damit umgehen. Er fängt also mit dem Auktionator zu feilschen an, und als nächstes weiß ich nur, daß ich und noch zwei, uns auf dem Weg zu den Polizeikasernen in Athen befinden. Später, als ich die Sprache ein wenig verstehe, bekomme ich dann heraus, daß der Kerl Polizeikommissar ist und drei Rekruten für die Polizeitruppe eingekauft hat. Gut, daß er glaubte, ich hätte ja gesagt; andernfalls hätte man mich in die Silberminen nach Laureion geschickt, wo ich mich zu Tode gerackert hätte, oder man hätte mich an einen privaten Käufer als Haussklave verkauft – und ich wäre lieber tot, als zu erleben, was mit denen geschieht.
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Die ersten Tage sind kein Honiglecken, weil die Altgedienten uns das Leben sauer machen. Ich tue so, als machte es mir nichts aus, denn sollte mir der Geduldsfaden reißen und ich einen von diesen Gaunern eins aufs Dach geben, schlagen die mich zu blutigem Brei. Und die ganze Zeit über versuche ich, ein bißchen Griechisch zu lernen. Außerdem kann ich mir ausrechnen, je schneller ich schießen lerne, desto besser, sonst heißt es ab in die Silberminen. Ich sehe also den Jungs zu, die auf dem Bogenschießplatz üben, und wenn alle, die dienstfrei haben, nach dem Essen schlafen, schleiche ich mich raus und übe. Zuerst habe ich mir die Handgelenke wund gescheuert, aber schließlich bringe ich es doch fertig so zu tun, als hätte ich diese Dinger schon in der Hand gehabt. Man hat mich ausgebildet und zum regelmäßigen Streifendienst eingesetzt. Für Sklaverei ist das gar nicht so übel. Das wäre also meine Geschichte. Ich bin jetzt etwa ein Jahr hier. Und wie steht's mit euch, Gents?« Bulnes berichtete und schloß: »Mr. Diksen, wir sind entzückt, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, aber trotzdem würden uns noch einige Punkte interessieren. Wie haben Sie uns nur so vom Ansehen erkannt?« »An den Schnauzbärten. Entweder Ihr schneidet sie ab, oder ihr versteckt euch eine Woche lang, bis die übrigen Haare wachsen.« »Und wenn nicht?« »Was dann geschehen würde? Weiß nicht, aber ich muß sagen, an dem ganzen Drumherum hier ist etwas sehr seltsam.« »Die Untertreibung des Jahres. Weiter!« »Ich meine, was ist das überhaupt hier? Sieht so aus, als hätte man uns in die Antike zurückversetzt, von der man uns in der 53
Schule erzählt hat. Möchte bloß wissen, was da los ist? Wo ist dabei der Trick? Man kann uns doch nicht wirklich in eine andere Zeit versetzen. Das wäre nicht logisch.« »Genau das haben wir uns auch auszurechnen versucht«, sagte Bulnes. »Kennen Sie noch andere Fälle wie uns?« »Einer der Jungs bei der Truppe hat von einem anderen erzählt, der vor einigen Monaten in moderner Kleidung aufgekreuzt sein soll. Ich habe ihn nicht selbst gesehen, aber man hat sich erzählt, der Bursche wäre nach Laureion geschickt worden.« Bulnes verdrückte die letzte Zwiebel. Jetzt würde er wenigstens stinken wie die anderen. »Was tun wir als nächstes?« fragte er. »Wir modernen Menschen müssen zusammenhalten? Ich habe mir gedacht, vielleicht gerate ich demnächst an jemanden, der weiß, warum das alles hier läuft. Und wie wir wieder rauskommen.« »Warum?« fragte Flin. »Gefällt es Ihnen nicht?« Diksen stieß ein lautes Geheul aus, auf das hin die anderen Gäste sich umdrehten. »Gefallen! Mein Gott, leben Sie mal als Sklave! Sie werden sehen, wie Ihnen das gefallen wird!« »Aber als Sklave haben Sie eine recht gute Stellung. Die Sklaven in Athen wurden am besten von allen …« »Trotzdem muß ich tun, was mir befohlen wird. Und wenn der Job doppelt so gut wäre, würde er mir nicht gefallen, weil ich nicht kündigen kann.« »Angenommen, Sie wären ein freier Mensch. Würde Ihnen Athen in diesem Falle gefallen?«
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»Nein, zum Teufel!« sagte Diksen. »Ihre hübschen Statuen können sie behalten. Mir sind Toiletten mit Wasserspülung, Glasfenster und elektrisches Licht lieber. Hier gibt es doch nichts, was für den menschlichen Komfort unbedingt nötig ist – nicht mal in den Häusern der reichen Bürger. Das Leben hier ist wie Camping ohne moderne Campingausrüstung. Nein, ich will zurück in das gute alte Yonkers! Sehen Sie, Professor, Sie müssen mich zurückbringen! Sie müssen, bevor ich überschnappe!« Bulnes sagte: »Wir werden es versuchen. Wir haben uns auch schon gefragt, ob es das echte alte Griechenland oder eine moderne Nachahmung ist.« »Wie kann man das unterscheiden?« fragte Diksen. »Ich habe nicht Geschichte studiert, deswegen weiß ich nicht, ob es waschecht ist oder nicht.« »Erstens: angenommen es handelt sich wirklich um eine Zeitreise, dann wissen wir nicht, ob wir in die gesamte antike Welt zurückgekehrt sind oder nur in einen Teil von ihr.« »Noch einmal, Mr. Bulnes.« »Wie soll ich das erklären? Nehmen wir an, wir gingen von hier aus in nördlicher Richtung. Da kämen wir durch Böotien und Thessalien und so fort. Jetzt aber, in der modernen Welt, verläuft um Griechenland und die angrenzenden Gebiete eine Energiebarriere, die der Imp aufgezogen hat, um die Leute von draußen abzuhalten, während er seine Experimente macht. Können Sie mir so weit folgen?« »Ja, ich denke schon.« »Nun, wenn wir losmarschieren, müßten wir schließlich wieder an die Energiebarriere kommen – oder werden wir in der antiken Welt bleiben, egal, wie weit wir gehen?« 55
Diksen kratzte sich am Kopf. »Weiß nicht. Einen solchen Marsch könnte ich gar nicht machen, weil die Epheben die Grenzen bewachen, damit kein entlaufener Sklave durch kann.« Flin fragte: »Wie steht es mit einem freien Mann oder mit jemandem, der sich als solcher ausgeben könnte?« »Ich denke, der käme durch. Man hat mir aber gesagt, es ginge da draußen ziemlich wild zu. Räuber und Löwen. Wenn man sich nicht selbst verteidigen kann, ist man geliefert, weil einem niemand beispringt.« Bulnes fragte: »Wissen Sie, wie weit dieser Teil der antiken Welt reicht?« »Lassen Sie mich mal überlegen. Die meisten von uns Bogenschützen kommen aus der Gegend, die wir als Balkan kennen. Alle waren sie Bauern oder Hirten und haben in kleinen EinRaum-Hütten gehaust. Keiner hat je was vom Weltempire, von Langlebigkeitsbehandlung oder Marsraketen mitgekriegt. Und ich glaube nicht, daß Bulgarien und Rumänien innerhalb der Energiebarriere liegen, weil ich auf meiner Weltreise nach Sofia und Bukarest gefahren bin. Wir müssen also in die echte antike Welt zurückversetzt worden sein, zwei- bis dreitausend Jahre vor unserer Geburt.« »Nicht unbedingt. Dieses Experiment läuft seit etwa zehn Jahren, und doch sehen wir Menschen in mittleren Jahren und viele Alte um uns, die davon überzeugt sind, echte Athener zu sein.« »Und woher, glaubst du, kommt das?« fragte Flin. »Sollte es irgendeine Methode geben, mit der man einem Menschen eine falsche Erinnerung eingeben kann, so daß er glaubt, er hätte die fünfzig Jahre seines Lebens im antiken Athen verbracht, könnte man dieselbe Behandlung auch Mr. 56
Diksens Bogenschützenkollegen angedeihen lassen, gleichgültig, woher sie wirklich stammen. Gibt es auch ein echtes Sparta, Mr. Diksen?« »Muß es wohl«, sagte Diksen. »Vor etlichen Monaten hat man uns zu einem Sonderdienst befohlen, weil ein paar Gesandte von dort kamen, und hier mit dem Obermacher einen Vertrag auszutüfteln. Eine Bande von Sauertöpfen mit langen Haaren und noch dreckiger als die Athener, was schon sehr schmutzig bedeutet. Na, jedenfalls wußten die Athener mit den Spartanern nichts anzufangen, weil sie keinen Verstand haben, keine Manieren und keine Kultur. Deswegen hat der Obermacher uns befohlen, diese Gesandten zu bewachen, falls irgendein Kerl ihnen was an den Kopf werfen will. Aber alles ist glatt verlaufen, und der Obermacher hat seinen Vertrag gekriegt.« »Wer ist der Obermacher?« fragte Bulnes. »Der Boss – der General – der oberste Strategos. Perikles.« »Oho!« sagte Fun. »Jetzt können wir unsere Epoche zeitlich einengen. Im Augenblick gibt es keinen Krieg mit Sparta, oder?« »Nein. Es war zwar die Rede davon, aber alles hat sich wieder beruhigt.« »Dann muß es die Zeit vor dem Peloponnesischen Krieg sein. Wie alt sieht Perikles aus?« »Schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß die Menschen früher so viel rascher gealtert sind. Wäre er ein moderner Mensch, würde ich ihn auf hundert oder hundertzehn schätzen, als antiken Griechen aber auf ungefähr sechzig.« »Zu welchem Datum bringt uns das, Wiyem?« fragte Bulnes.
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»Um 430 vor Christus – vielleicht 435 oder 432. Kurz vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges. Ich wünschte, ich könnte mich an die Einzelheiten vor Ausbruch des Krieges erinnern.« Diksen schluckte. »Soll das heißen, daß uns auch noch ein Krieg bevorsteht?« »Falls die Geschichte denselben Verlauf nimmt wie beim erstenmal. Es handelt sich um den Krieg, der das Griechenland der Klassik zerstört hat. Hätte ich gewußt, wo ich da hineingerate, dann hätte ich mir eine Ausgabe des Thukydides mitgenommen.« »Woher wollen Sie wissen, daß es nicht das erstemal ist, Mr. Flin?« Bulnes sagte: »Das, mein lieber Freund, werden wir schon noch herausbekommen. Können wir es nicht mittels der Geographie feststellen?« »Wie denn?« fragte Flin. »Sagen wir zum Beispiel, an Hand von Veränderungen der Küstenlinie oder am Stand der Erosion der Gebirge.« »Ich wüßte nicht wie. Wir besitzen keine genauen Informationen über den Stand solcher Dinge in der Klassik. Auch wenn wir sie hätten, so haben wir keine genauen Karten oder Angaben, nach denen wir uns richten könnten.« »Nun, ein Beispiel«, sagte Bulnes. »Existiert der Kanal von Korinth schon? Der wurde in unserer Zeit Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut.« »Nein«, sagte Diksen. »Es gibt dort einen Bootschleppdienst. Die Schiffe werden auf Rollen über den Isthmus gezogen. Das hat mir einer der Jungs aus der Truppe erzählt.« 58
»Damit wäre die Sache erledigt«, sagte Flin. Bulnes antwortete: »Lieber Wiyem, du bist fest entschlossen, dieses Phänomen um jeden Preis Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn aber der Imp imstande ist, das Griechenland der Klassik bis zum letzten Tempel hin wiederaufzubauen, dann kann er auch den Kanal von Korinth wieder zuschütten.« »Wie ist das dann mit den Tieren?« fragte Flin. »Mr. Diksen hat etwas von Löwen gesagt. Seit der Klassik gibt es in Europa keine wilden Löwen mehr.« »In Thessalien und Mazedonien kommen sie vor«, sagte Diksen. Bulnes sagte: »Das ist auch kein Gegenbeweis. Vasil hätte das Land mit Löwen aus einem afrikanischen Wildreservat bevölkern können.« »Ich habe eine Idee«, sagte Flin. »Wie steht es mit ausgestorbenen Tierformen? Mit Auerochsen? Was ist damit, Mr. Diksen?« »Was ist das?« »Auerochsen waren die Wildrinder, die in den Wäldern Europas hausten.« »Sie meinen den großen schwarzen wilden Bullen mit den langen Hörnern? Ja, den haben sie auch. Bei uns in der Unterkunft hängt so ein Schädel an der Wand.« »Da haben wir's!« rief Flin aus. »Nicht einmal die Hilfsmittel Vasils können eine ausgestorbene Tiergattung zum Leben erwecken. Daher muß es das echte Zeitalter des Perikles sein.« »Wieder falsch, tut mir leid«, sagte Bulnes. »Der Auerochse wurde von einem Zoologen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder zum Leben erweckt. Den Namen habe ich vergessen.« 59
»Wie um Himmels willen hat er das denn geschafft?« »Er hat verschiedene Rassen von Hausrindern, die teilweise von Auerochsen abstammten, gekreuzt, und diejenigen Exemplare ausgewählt, die dem Ahnen am meisten ähnlich waren, bis er dem Originalexemplar ganz nahe gekommen war. Seither existiert eine kleine Herde. Man kann sie im Londoner Zoo besichtigen.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Flin. »Zu schade, daß es hier keine Gattung wie das Mammut gibt. Das würde die Frage wirklich klären.« »Wie steht es mit der Sprache?« fragte Bulnes. »Stimmen Aussprache und Syntax dieser Griechen mit der antiken überein?« Flin breitete die Hände aus. »Wie soll ich das erkennen? Zur Zeit des Perikles hat kein Mensch Tonaufnahmen gemacht; folglich können wir über die Aussprache nur Vermutungen anstellen – mehr oder weniger. In meinen Ohren klingt das alles echt, aber wir haben keine Möglichkeit der Kontrolle.« »Ich habe eine Idee«, sagte Diksen. »Einmal habe ich gelesen, daß sich der Stand der Sterne dauernd ändert, so daß nach einigen tausend Jahren der große Wagen aussieht wie eine Bratpfanne.« »Das ist es!« rief Flin aus. »Knut, du bist doch von deiner Seglerei her mit Astronomie vertraut. Wie steht's damit?« »Geht nicht«, sagte Bulnes. »Die Veränderung wäre zu minimal, um die Frage zu klären. Aber du hast mich auf eine Idee gebracht.« »Welche?« sagten die anderen zwei gleichzeitig. »Der nördliche Himmelspol.« 60
»Was ist das?« fragte Diksen. »Der Punkt direkt über uns?« »Nein, jener Punkt am Himmel, um den sich die Sterne drehen. Er wechselt seine Position und beschreibt einen kompletten Kreis in – die genaue Zahl habe ich vergessen – ungefähr fünfundzwanzigtausend Jahren. Wenn ich einen Astronomen mit ein paar einfachen Instrumenten finden könnte, so ließe sich bestimmen, ob der Pol jetzt in der Nähe des Alpha Ursae oder Alpha Draconis oder wo immer ist. Nicht einmal Vasil der Neunte könnte aus Gründen historischer Forschung die Neigung der Erdachse ändern. Wer ist hierzulande Astronom, Wiyem?« »Ach, du liebe Güte! Ich bin zwar Professor für griechische Klassik, aber ohne meine Nachschlagewerke beherrsche ich das verdammte Gebiet doch nicht so gründlich, wie ich dachte. Vielleicht ist Anaxagoras noch am Leben, und – Moment mal – da war doch noch ein anderer, der den Kalender reformieren wollte. Der Name fällt mir nicht ein. Nicht Myron, das ist der Bildhauer; aber so ähnlich hießt er. Könnten Sie der Sache nachgehen, Mr. Diksen?« »Sie möchten also, daß ich einen Astronomen, der so ähnlich wie Myron heißt, ausfindig mache?« »Genau.« »In der Zwischenzeit, liebe Freunde«, sagte Bulnes, »erhebt sich die nebensächliche Frage, wovon wir leben sollen, denn dieses athenische Silber wird nicht ewig reichen.« »In den Büchern«, sagte Flin, »machen die Leute, die in der Zeit zurückversetzt wurden, immer ihr Glück, indem sie den Einheimischen das Addieren beibringen oder zeigen, wie man ein Flugzeug baut.«
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»Das würde ich lieber nicht versuchen«, sagte Diksen. »Diese Griechen haben keine Vorstellung von der Nützlichkeit von Maschinen, solange sie genügend arme Schlucker haben, die als Sklaven arbeiten müssen. Als ich Dienst auf der Akropolis hatte, da wollte ich ihnen Mühe ersparen und den Jungs zeigen, wie man mit einem Schubkarren Lasten befördert. Und welchen Dank habe ich geerntet? ›Barbar, steck deine verdammte Nase nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Wir Griechen sind das einzige Volk, das denken kann. Wir brauchen keinen Rat von einem minderen Sklaven. Und jetzt troll dich!‹ Junge, dem Architekten hätte ich meinen Bogen um den Hals wickeln können! Ein großer Architekt namens Iktinos.« »Mir scheint, wir haben es hier mit der kompletten Besetzung in jeder Hinsicht zu tun«, sagte Flin. »Kennen Sie Aspasia?« »Ja, sicher – das heißt, ich weiß, wer sie ist.« »Sokrates?« »Der komische alte Kahlkopf, der dauernd in der Agora diskutiert?« »Ja.« »Protagoras?« »Nein!« »Kleon, den Gerber?« »Vielleicht habe ich von ihm gehört. Bin nicht sicher.« »Pheidias?« »Nein.« Nachdem er einige weitere Namen aufgezählt hatte, von denen Diksen die meisten nicht kannte, sagte Bulnes: »Die Frage des Lebensunterhalts bleibt ungelöst, aber ich glaube, Mr. Diksen hat recht, daß wir nicht versuchen sollten, mit Erfindun62
gen zu Reichtum zu kommen. Ganz sicher könnte ich kein Flugzeug erfinden. Ich verfüge weder über eine Ausbildung als Ingenieur noch über Werkzeug und Material. »Ich halte das nicht für wichtig«, sagte Flin. »Sollte ich Thalia finden, dann mache ich mich schleunigst auf den Weg zur nächsten Grenze und riskiere den Übergang.« »Ehe wir uns nicht selbst in Sicherheit fühlen können, sehe ich keine Möglichkeit, deine Frau zu suchen, auch wenn wir annehmen, daß sie sich mit uns in demselben Zeitstrom oder wie immer man das nennt, befindet. Hält man die Frauen hier nicht in Harems?« »Ja«, sagte Diksen. »So wie früher in orientalischen Ländern.« »Welchen Vorschlag hättest du dann parat?« fragte Flin. Bulnes sagte: »Wenn nötig, dann sollten wir uns nicht scheuen, mit den Händen zu arbeiten.« »Die Konkurrenz der Sklaven drückt die Löhne aufs Existenzminimum. Wenn du aber halbwegs fließend griechisch sprechen lernst – warum sollten wir uns nicht als Sophisten etablieren?« »Sie meinen die Burschen, die Vorlesungen halten?« fragte Diksen. »Genau. Sie waren zu dieser Zeit groß im Geschäft und legten die Grundlagen für die höhere Bildung, wie wir sie kennen. Wir könnten den Leuten das Kopernikanische System …« »Mir scheint«, sagte Bulnes, »daß man hier jenen Sophisten, die radikale neue Ideen gepredigt haben, den Schierlingsbecher in die Hand gedrückt hat.« »Na ja, vorsichtig müssen wir schon sein.« 63
»Ich glaube, du hast es erfaßt«, sagte Bulnes. »Mr. Diksen, wie wäre es, wenn wir uns hier draußen ein paar Tage verstecken, bis unsere Barte wachsen und wir unser Griechisch ein wenig aufpoliert haben? Inzwischen könnten Sie diesen Astronomen suchen.« »Klar. Dieser Besitzer dieser Kneipe heißt Kallingos und für einen griechischen Wirt ist er ziemlich anständig. Ich werde in etwa einer Woche wiederkommen. Falls ihr mich eher sprechen wollt, dann kommt in das Quartier auf dem Areopag, wenn ich dienstfrei habe.« Diksen gähnte. »Ich muß meinen Schlaf nachholen. Also, bis dann!« 7 »… im Indikativ«, sagte Fun unerbittlich, »wird an die zweite Person ein Augment angefügt.« »Warum?« fragte Bulnes. »Wie zum Teufel soll ich das wissen? Es ist eben so. Dieses Augment kann silbisch sein, indem man an die Verben, die mit Konsonanten beginnen, ein Epsilon als Prefix anfügt, oder als Dehnung auftreten, indem man einen kurzen Anfangsvokal längt. So wird aus paideuo, ich lehre, im Imperfekt epiadeuon, ich habe gelehrt.« Fun brach ab, als Bulnes nach seiner Hand faßte und sagte: »Hast du den üblen Typ da drüben gesehen, der sich mit unserem Wirt unterhält?« »Ja. Er ist jetzt 'rausgegangen.« »Mir gefällt der Blick nicht, mit dem er uns ansah.«
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Bulnes verlegte sich auf sein lückenhaftes klassisches Griechisch. Er hatte festgestellt, daß er sich manchmal verständlich machen konnte, wenn er ein Wort Neugriechisch einwarf, falls ihm die klassische Form nicht einfiel. »O Kallingos!« »Ihr habt gerufen?« »Lieber Freund, wollt ihr nicht – äh – Euren ausgezeichneten Wein mit uns teilen?« »Was habt Ihr gesagt?« Bulnes wiederholte das Angebot mit noch größerer Sorgfalt. »Nai«, sagte der Wirt, wackelte mit dem Kopf und verwirrte damit Bulnes, bis diesem einfiel, daß es Ja bedeutete. »O Bouleus, Ihr seid höflich wie ein Meder und lange nicht so dumm. Knabe! Noch einen Becher! Ihr dürft jedoch diese attische Magenspülung nicht ausgezeichnet nennen. Wenn ich Euch einen Krug meines lesbischen …« »Was sagte er?« fragte Bulnes Flin, der hastig übersetzte. Bulnes raffte seine geistigen Reserven zusammen und erwiderte auf Griechisch: »Ich fürchte – nicht genug Geld. Wem – hu – wen – der Mann – wie heißt das Wort, Wiyem?« »Der Mann, mit dem Ihr gesprochen habt«, sagte Flin. »Keiner«, antwortete Kallingos, »mit dem Ihr gern sprechen möchtet.« »Was ist das, Wiyem? … Wer ist dieser Mann?« Kallingos senkte die Stimme: »Phaleas, der Sohn des Kniphon.« Bulnes und Flin wechselten Blicke. Letzterer sagte: »Hat Diksen nicht etwas von der Bande des Phaleas erwähnt?« »Möglich.« Bulnes wandte sich an Kallingos. »Ist – ihm – hm –« »Ist er der berüchtigte Räuber?« ergänzte Flin. 65
Kallingos warf einen Blick über die Schulter. »Er ist es. Er sagt, zwei Mitglieder seiner Bande wären vor vier Nächten von einem Paar Barbaren erschlagen worden, und er sucht jetzt diese Mörder, um sich zu rächen. Es waren riesige, kräftige Männer in gräßlichen skythischen oder persischen Gewändern, auf dem Kopf seltsame Mützen. Tunika und Beinkleider zugeschnitten und genäht, so daß sie knapp am Körper anliegen. Einige Mitglieder der Bande vergnügten sich beim Würfelspiel, als diese Riesen aus dem Dunkel hervorsprangen, zwei erstachen und auch die übrigen erledigt hätten, wenn diese nicht das Weite gesucht hätten.« Mit Flins linguistischem Beistand fuhr Bulnes fort: »Die Zeiten sind so schlecht, daß ein armer Dieb in Peiraius, nicht – unehrlichen Unterhalt verdient, ohne – hm – von größerem Dieb beraubt zu werden.« »Richtig, ha-ha. Das war in derselben Nacht, als das mysteriöse Schiff im Hafen Zea auftauchte.« »Welches mysteriöse Schiff?« »Habt Ihr nicht davon gehört? Die Staatsgaieere Paralos geriet auf der Rückfahrt von Epidaurus in den Sturm und wollte das Unwetter hinter Salamis abwarten. Als der Wind sich legte, nahm sie Kurs auf den Heimathafen und wollte eben in Zea einlaufen, als sie mit einem seltsamen Schiff kollidierte, das ihren gewohnten Liegeplatz eingenommen hatte. Das Schiff sank in der Nähe des Piers. Man kann es jetzt noch undeutlich auf dem Meeresgrund ausmachen – Segel von merkwürdigem Schnitt und seltsamer Takelung. Gerüchteweise hört man, daß Taucher hinuntergeschickt werden, die Seile am Schiffskörper befestigen sollen.«
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»Um den Kahn zu heben?« fragte Bulnes und verbarg nur mühsam seine Erregung. »Beim Zeus, nein! Was fangen wir mit einer fremden Schiffstype an? Man wird es in tieferes Wasser schleppen, wo es die Schiffahrt nicht stört. In den Barbierstuben werden die Vermutungen laut, ob zwischen diesen zwei Ereignissen eine Verbindung bestehe.« »Verstehe… o Freund Kallingos, ich fürchte, wir morgen abreisen müssen.« »Was habt Ihr gesagt?« Bulnes wiederholte den Satz. »Das tut mir leid. Gibt es etwas, das Euch mißfällt?« Da wäre etliches, dachte Bulnes, angefangen von den Käfern in der Schlafkammer. Doch er sagte: »Nein, es ist deswegen, weil wir nach Athen gehen.« »Was?« rief Fun auf Englisch aus. Bulnes ignorierte ihn. »Zu schade, daß Ihr nicht auch morgen bleiben könnt!« »Warum?« fragte Bulnes. »Es ist der Tag der Dionysien«, sagte Kallingos. »Was wird da gezeigt?« fragte Flin. »Aias von Sophokles und zwei weitere Stücke. An unserem eigenen Dionysos-Theater. Da Euripides dieses Jahr nicht am Wettbewerb teilnimmt, wird Aias vielleicht den Preis bekommen.« »Hör mal«, sagte Flin. »Ich möchte keinesfalls versäumen …« »Halt die Klappe, teurer Wiyem«, sagte Bulnes. »Wird dieses Stück noch sonst irgendwo gezeigt?«
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»Ja, bei den regelmäßigen Dionysien in Athen. Als Ausländer müßt Ihr natürlich Eintritt bezahlen.« »Vielleicht sehen wir uns das Stück später an. Könnt Ihr uns in der Zwischenzeit einen Wirt in Athen empfehlen, der ebenso anständig ist wie Ihr?« Kallingos machte eine Handbewegung. »Um ehrlich zu sein, in ganz Attika ist keiner so anständig wie ich. Wo Ihr auch hingehen mögt, man wird Euch betrügen. Wenn Ihr Wein bestellt, zu einem Teil mit Wasser vermengt, dann bekommt Ihr zwei Teile Wasser. Jedenfalls wird man Euch in der Schenke des Podokles, einige Häuser östlich der Agora, nicht zu arg berauben.« Bulnes bedankte sich bei Kallingos, bekam noch Ratschläge bezüglich der Preise von ihm und ging hinauf in die Schlafkammer, wo Flin hervorstieß: »Was soll das heißen – Plänemachen ohne mich zu fragen? Bevor wir an einen Ortswechsel denken, wäre es doch das Logischste, sich in Piräus gründlich nach Thalie umzusehen. Wir haben einen guten Wirt erwischt…« »Aber diese Bande …« sagte Bulnes. Flin aber, der für gewöhnlich im Angesicht physischer Gefahr ängstlich war, zeigte jetzt jene unvernünftige Halsstarrigkeit, mit der schwache Menschen sich manchmal zu bestätigen versuchen. Bulnes ließ ihn ausreden und sagte dann: »Ich breche morgen auf, teurer Gefährte. Du kannst ja tun, was dir beliebt.« Als der östliche Himmel langsam heller wurde, ächzte Bulnes und zwang sich zum Aufstehen. An die teuflisch frühen Morgenstunden der Athener würde er sich nie gewöhnen. Sie aßen ihr Frühstück und bezahlten die Rechnung. Flin ließ kein 68
Wort mehr von seiner Weigerung nach Athen gehen, verlauten, und Bulnes unterließ es, ihn damit zu reizen. Bulnes bemerkte, daß Kallingos versucht hatte, sie nur um zwei oder drei Oboloi übers Ohr zu hauen – vergleichsweise rechtschaffen für einen attischen Wirt. Und dann, als die Sonne den Bronzehelm der Athene Prochachos auf der Akropolis erstrahlen ließ, hüllten sich die zwei Reisenden in ihre Himatia und machten sich entlang der staubigen Straße nach Athen auf den Weg, wobei Bulnes die Paradigmata der unregelmäßigen Verben vor sich hinmurmelte. Flin sagte: »Nördlich der Langen Mauern soll eine Straße verlaufen. Von dort hätten wir einen guten Blick über das Land, wogegen man zwischen den Mauern nichts sieht.« »Was du sagst, soll geschehen, teurer Kamerad.« Sie drängten sich in nördlicher Richtung durch die von Menschen wimmelnde Hafenstadt auf das Tor zu, das neben der Kreuzung der Nördlichen Langen Mauer und der Piräischen Mauer lag. Nach Passieren des Tores gelangten sie an den schmutzigen Kephisos, der von der sommerlichen Hitze noch nicht ausgetrocknet war. Die Straße führte an einer Furt durch den Fluß. Bulnes seufzte: »Hier, mein Freund, sieht es ganz so aus, als bekämen wir nasse Füße.« Flin raffte seinen Himation hoch und grollte: »Ein Pech, daß wir nicht in einem späteren Jahrhundert gelandet sind, als es eine Brücke gab.« Sie plantschten durch die breite, knietiefe Furt, kletterten auf der anderen Seite heraus und folgten dann weiter der hartgewalzten Wagenspur über die attische Ebene. Meist war die Ebene unbebautes Land, mit jungem Gras und wilden Blumen, 69
aufgelockert von einigen wenigen Getreidefeldern und in den Senken von Hainen grau-grüner Olivenbäume. In Abständen trafen sie auf andere Wege, womöglich noch schlechter als der ihre. Auf diesen Wegen, die meist nach Athen führten, bewegte sich Lastverkehr. Befördert wurde Gemüse, Häute, Brennholz und ähnliche Annehmlichkeiten des Daseins. Dieser Verkehr, der sich manchmal auf Eselsrücken, manchmal aber auch auf Menschenrücken abwickelte, wurde lichter, je näher sie an die Stadt herankamen. Nach mehr als einer Stunde gabelte sich die Straße und lief wieder zusammen, als sie sich den Mauern von Athen näherten. (Keine sehr eindrucksvolle Verteidigungsanlage, dachte Bulnes.) Auf einer ebenen Fläche vor der Mauer marschierten eine Gruppe Männer mit Schilden, Speeren und verzierten Helmen auf und ab. Während er zum Atemholen und Zusehen stehenblieb, bemerkte Bulnes: »Die sehen aber griechischen Göttern gar nicht ähnlich, oder?« Er hatte recht. Die Miliz Athens beinhaltete die ganze Fülle menschlicher Größen und Formen, groß und klein, dick und dünn. Obgleich die allgemein getragenen Bärte und die Wangenplatten der Helme den Männern trügerische Ähnlichkeit verlieh, zeigte ein näherer Blick, daß sie sich in ihren Zügen ebenso stark unterschieden wie eine beliebig zusammengewürfelte Gruppe von Südeuropäern. Wie die Griechen modernerer Zeit waren sie meist brünett und neigten zu untersetztem Körperbau. Fun seufzte: »Ich muß gestehen, daß ich sie enttäuschend finde. Vielleicht werden wir auf der Agora mehr beeindruckt sein.« 70
Sie ließen sich von der Menschenmenge durch das nächste Tor treiben, einem komplexen Bau, der als Verteidigungsanlage gedacht war; denn er hatte zwei Türen und der dazwischenliegende Gang wurde von Galerien überspannt. Ein Grüppchen skythischer Bogenschützen behielt den Verkehr im Auge und entwirrte etwaige Stockungen. Innerhalb der Mauer führte eine etwa fünfzehn Meter breite Straße auf die Akropolis zu. Die Stadt selbst jedoch entpuppte sich als nicht annähernd eindrucksvoll: ein Haufen ebenerdiger Lehmhäuser mit denselben kahlen, fensterlosen Außenmauern, die Bulnes schon in Piräus aufgefallen waren. Dazu kam, daß die Häuser, statt in einem rechtwinkeligen Raster angelegt zu sein, völlig unregelmäßig standen. Die Straßen waren nur krumme Gäßchen, die sich zwischen den Häusern dahinwanden und oft kaum breit genug waren, um zwei Fußgänger vorbeizulassen. Dazu kam, daß sie ungepflastert waren. Der Gestank war noch ärger als im Seehafen. Aus diesem lärmenden Wirrwarr erhob sich, gekrönt von Marmor und Bronze, die Akropolis wie ein Diadem auf einem Müllhaufen, mit dem dahinter aufragenden Gipfel des Lykabettos. Bulnes, der merkte, daß Fun das Gelände aus seinen Studien kannte, überließ seinem Gefährten die Führung. Fun aber zeigte die Neigung, sich in gieriger Betrachtung der ihn umgebenden Bauwerke zu verlieren. »Komm, teuerer Kamerad«, sagte Bulnes. »Wir suchen die Schenke des Podokles. Denk daran!« Flin schüttelte, als wäre er plötzlich erwacht, den Kopf, und ging weiter. Plötzlich öffnete sich die Straße zur Agora, wie die in Piräus, nur größer. Sie war nur dem Namen nach ein ›freier
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Platz‹, denn zusätzlich zu den Statuen, Monumenten und Platanen gab es hier Stände der Händler. Der übriggebliebene Raum war den Athenern vorbehalten, alle nach Knoblauch duftend. Sie gestikulierten, schrien, lachten, stritten, diskutierten und schüttelten die Fäuste gegeneinander. Viele trugen Veilchen im Haar – ›Zu Ehren der Dionysien‹, wie Flin erklärte. Flin drängte sich in südlicher Richtung durch die Menge. Bulnes, der die kleingewachsenen Griechen hoch überragte, schlenderte in seinem Kielwasser und wünschte sich, er hätte Hosentaschen, um die Hände hineinstecken zu können. »Suchst du jemanden?« fragte Bulnes. »Meine Frau natürlich. Vielleicht sehen wir außerdem Sokrates oder Prodikos.« »Lieber Freund! Wir wissen ja nicht mal, ob es der echte Sokrates oder eine moderne Imitation ist, und in jedem Fall bezweifle ich sehr, ob du ihn erkennen würdest. Es gibt hier genügend kahle, dickbäuchige Männer, die jeder Sokrates sein könnten.« Bulnes drehte sich um und sprach einen vorübergehenden Athener an. »To pandokeion Podoklou?« »Was?« »To pandokeion Podoklou?« »Weiß nicht«, sagte der Mann und ging seiner Wege. Während sie sich zur Westseite der Agora durcharbeiteten, wiederholten sie ihre Frage, bis sie eine Anzahl von Richtungsangaben erhalten hatten, doch mit so viel Herumdeuten und Armeschwenken verbunden, daß die Schenke einfach überall hätte liegen können. Eine weitere halbe Stunde des Suchens und Fragens brachte sie an ihr Ziel im Stadtteil Limoupedion. 72
Podokles erwies sich als stämmiger Bursche, der ein Stück seiner Nase durch einen Schwerthieb eingebüßt hatte. »Ausländer, eh? Woher kommt Ihr?« Bulnes hatte erwartet, Flin würde die Last der Verhandlungen tragen, doch war der Lehrer in die Betrachtung der Form eines Kruges versunken. Daher erklärte Bulnes dem Podokles: »Tartessos. Ich Bouleus und der Philon.« »Wo ist das?« »Weit im Westen.« »Was habt Ihr gesagt?« »Im Westen.« »Ihr meint wohl Sizilien?« »Noch weiter.« »Hm, und ich dachte jenseits von Sizilien wäre nichts außer Untiefen und Seeungeheuern. Kennt Ihr jemanden in Athen? Ich muß Vorsicht walten lassen.« Wohl kaum der geborene Wirt, dachte Bulnes. »Kallingos aus Piräus hat uns an Euch verwiesen. Wir bei ihm gewohnt.« »Dann seid Ihr vielleicht in Ordnung«, sagte Podokles voll Zweifel, und sie feilschten eine volle Viertelstunde um die Bedingungen. Bulnes händigte Podokles den Sack aus, der ihre moderne Kleidung enthielt (die sie aus dem Arsenal mitgenommen hatten) und ihre wenigen übrigen Habseligkeiten und fragte: »Wann sein Essen?« »Im Namen des Hundes, Ihr Burschen werdet aber früh hungrig! Wenn Ihr wollt, daß für Euch etwas zubereitet wird, dann lauft los und bringt es meinem Koch!«
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Bulnes sagte zu Flin: »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, den Tag bereits vor Sonnenaufgang anzufangen. Machen wir uns auf die Suche nach Diksen.« »Was habt Ihr zwei zu tuscheln?« sagte Podokles. »Nicht über Euch, mein Freund«, sagte Bulnes und lächelte höflich durch seine Bartstoppeln. Sie traten vors Haus und bahnten sich ihren Weg durch den Schmutz hinauf auf den Hügel des Ares, wobei sie sich mehrmals umsahen, um sich den Weg für die Rückkehr einzuprägen. Auf dem Hügel selbst kamen sie an einem Schuppen vorbei, der ein seltsames Gerät enthielt. Ein Schiff auf Wagenrädern, das, wie Flin erklärte, bei bestimmten religiösen Prozessionen benutzt wurde. Schließlich gelangten sie zu den Unterkünften der Wache. Roi Diksen, alias Pardokas, kam aus dem Quartier und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich habe nicht erwartet, Euch schon so bald zu sehen.« Bulnes berichtete ihm von den Aktivitäten des Phaleas, dem Gangster. »Hu«, sagte Diksen. »Wie gern würde ich diesem Ganef etwas anhängen, aber ich glaube, er hat sich den Schutz eines der ganz großen Tiere erkauft. Kommt Ihr jetzt mit dem Griechischen zurecht?« »Es reicht, um sich durchzuschlagen, wenn auch nicht dazu, es mit den Rednern aufzunehmen, Haben Sie einen Astronomen aufgetrieben?« »Ja, erst gestern. Einen alten Knacker namens Meton. Lebt in nächster Nähe der Agora.« »Hervorragend!« sagte Bulnes. »Wir sind Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.« 74
»Ach … Wir Barbaren müssen zusammenhalten.« »Meton!« sagte Flin. »Bei Jupiter, jetzt fällt es mir ein: Er ist der Kerl, der sein Haus in Brand setzte – ich meine in Brand setzen wir in – hm – fünfzehn oder zwanzig Jahren, so daß der Rat von Athen seinem Sohn befiehlt, die Expedition nach Sizilien nicht mitzumachen und zu Hause zu bleiben und sich um ihn zu kümmern.« Bulnes sah Flin fragend an. »Wie finden wir Zugang zu diesem Meton?« »Dazu bedarf es einiger Vorarbeiten. Das Heim eines athenischen Bürgers ist seine Burg.« »Ja«, sagte Diksen. »Bei uns in Yonkers, wenn man da von jemandem was will, ruft man ihn an und fragt, ob man bei ihm vorbeikommen kann. Aber diese Griechen sind schon sehr komisch. Man klopft an ihre Tür, höflich, versteht sich, und wenn man kein Bürger ist, hetzen sie einem den Hund auf den Hals. Ausländer wie ihr und Sklaven, wie ich einer bin, sind Staub unter ihren Füßen.« Bulnes fragte: »Besucht Meton jemals die Agora?« »Nein. Der sitzt bloß da und bosselt an seinen Kalendern und Sachen herum.« Bulnes sagte: »Ich nehme an, wir müssen jemanden finden, der die hier übliche Vorstellung übernimmt. Es geht hier zu wie in der Geschichte von den zwei schiffbrüchigen Engländern auf der einsamen Insel, die bis zur Rettung nach sieben Jahren kein Wort miteinander wechselten, weil niemand da war, der sie vorschriftsmäßig bekanntmachen konnte.« »Eine gemeine Falschmeldung«, sagte Flin. »Glauben Sie ihm nicht, Mr. Diksen. Die Engländer sind genauso umgänglich wie alle andern.« 75
»Meine besten Wünsche begleiten Sie«, sagte Diksen, »aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Von einem Sklaven eingeführt zu werden, wäre keine Empfehlung.« Bulnes sagte: »Wenigstens könnten Sie uns sagen, wo Sokrates in der Agora anzutreffen ist.« »Ich denke, er treibt sich meist um die Basileios Stoa oder sonstwo herum. Kann ich jetzt wieder schlafen gehen?« Bulnes und Flin trennten sich von dem Pseudo-Skythen und wanderten den Abhang des Areopags wieder hinunter. Flin, der die nur hundert Meter entfernte Akropolis sehnsüchtig über die Schulter beäugte, sagte: »Glaubst du nicht, daß wir uns ein Stündchen freimachen und ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen könnten?« »Nein, teurer Wiyem, ich nicht. Zuerst Sokrates.« »Wir könnten wenigstens die Straße nehmen, die ans Südende der Agora führt und uns die Dinge an der Nordseite der Akropolis ansehen … Das Bauwerk muß das Thesmothetaion sein – oder das Prytaneion? Verdammt, ich wünschte, ich hätte ein eidetisches Gedächtnis …« »Warum fragst du nicht?« sagte Bulnes. »Damit ich eine dumme Antwort bekomme? Ah, da erkenne ich etwas. Siehst du die Löcher im Felsen?« »Ja.« »Das sind die Höhlen von Pan und Apoll. Von dort aus sollen geheime Treppen oder Gänge zur Akropolis führen … und da sind die Langen Felsen, da drüben die Statuen der Stammeshelden und dort die Anschlagtafeln für öffentliche Bekanntmachungen –«
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»Entschuldige, Kamerad, aber du bringst uns von unserem Ziel ab.« »Ja, das tue ich«, seufzte Flin. Wieder auf der Agora angelangt, konnten sie rasch zwischen den Läden und Kontoren der Westseite des Platzes die KönigsStoa ausfindig machen. Im Inneren wohnte eine große Menschenmenge einer Auseinandersetzung bei, die vor einem auf einem erhöhten Sitz thronenden, in einen Purpur-Himaton gehüllten Mann ausgetragen wurde, der auf dem Kopf einen vertrockneten Kranz trug. »Das«, sagte Flin, »muß der König sein.« »Und ich dachte, Athen wäre Republik!« »Ist es auch, doch hat man das Königtum als verkümmertes Amt beibehalten. Soviel ich mich erinnere, stellte er eine Kombination aus Hohepriester und Richter bei häuslichen Zwistigkeiten dar.« »Verstehe. Bitte frag die Leute nach Sokrates.« »Verdammt, du weißt, wie ich es hasse, Fremde anzusprechen. Warum nicht du? Du brauchst doch die Übung viel nötiger.« »Na schön, deinetwegen tue ich es. Hör dir aber freundlicherweise die Antworten an und sei aufs Übersetzen gefaßt! Sobald die schnell reden, bin ich geliefert.« Knut Bulnes wandte sich mit seinem besten Griechisch an einen seiner unmittelbaren Nachbarn. »Habt Ihr Sokrates gesehen?« Innerhalb einer Viertelstunde hatte er eine Vielzahl von Antworten erhalten: »Was?« »Nein.« »Kenne den Mann nicht.« »Meint Ihr Sokrates, den Schreiner?« »Nie von ihm gehört.« »Was sagt Ihr da?« »Heute nicht.« »Ich kann Euch nicht verstehen.« »Der und seine Fragen!« »Wenn ich den Schurken 77
zu fassen kriege …« »Ich bin hier auch fremd.« »Nein, und falls Ihr ihn findet, sagt ihm, Mnesiphilos möchte seine fünf Drachmen zurück haben.« »Wer seid Ihr denn?« Und schließlich: »Ihr sucht an der falschen Stelle. Gewöhnlich ist er in der Stoa Poikile anzutreffen.« »Danke«, sagte Bulnes und wandte sich an Flin. »Wohin jetzt?« »Ich glaube, die bemalte Säulenhalle lag – liegt – der Agora gegenüber. Und wenn du als Athener gelten willst, wirst du deine hochtrabenden Manieren ablegen müssen. Der Durchschnittsathener hat nicht mehr Manieren als ein Amerikaner.« »Wirklich, teurer Freund? Die meisten Menschen, denen ich in den Vereinigten Staaten begegnete, hatten annehmbare Manieren …« Sie drängten hinaus in die Mittagshitze und machten auf dem Brotmarkt halt, um für drei Kupferstücke von einem wüsten alten Weib einen großen Laib Brot zu erstehen, gingen, aber ohne zu kaufen, an einem Verkäufer heißen Trinkwassers vorüber, der für einen einzigen Becher eineinhalb Oboloi verlangte. Weil Bulnes hungrig die Waren eines Wurstverkäufers musterte, warnte Flin ihn: »Davon kriegt man höchstens Trichinose. Außerdem enthält das Brot Knoblauch und anderes, so daß man alle Vitamine bekommt, die man braucht.« Als sie kauend weitergingen, zupfte ein Bettler am Himation von Bulnes und jammerte. Dem Mann fehlte ein Bein; eine Augenhöhle war leer. Dazu kam noch eine abstoßende Hautkrankheit. Bulnes gab ihm ein Kupferstück. Sofort stürzte sich ein Schwärm von Bettlern auf das Paar, klammerte sich an sie und bestürmte sie.
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»Das haben wir dir zu verdanken!« rief Flin aus. Und dann: »Verschwindet!« Als die Bettler sich endlich zerstreut hatten, fragte er: »Warum machst du das? Wir sind ohnehin selbst fast pleite.« »Wahrscheinlich bin ich zu weichherzig«, sagte Bulnes. Sie arbeiteten sich durch den Pöbel zu der Bemalten Säulenhalle durch. Sofort rasselte Flin eine Beschreibung der Bilder herunter: die Schlacht von Maraton, die Plünderung Troias, der Kampf des Theseus mit den Amazonen, und noch ein Kampf. Bulnes mußte zugeben. »Die Ausführung ist gar nicht so übel, aber von Perspektive haben die keinen Schimmer. Die Wirkung ist grotesk, findest du nicht auch?« Er nahm die Befragung der Passanten nach Sokrates wieder auf, bis Flin ihn an seinem Himation zupfte und sagte: »Da drüben. Sieht aus wie ein Sophist mit seinen Schülern.« Ein würdig aussehender Graubart saß auf einer Bank und hielt drei jüngeren Männern eine Vorlesung. Bulnes stellte sich hinter den Hörern auf und hielt die Hand in die Höhe, bis der Vortragende seine Rede unterbrach: »Ja? Ihr habt einen Wunsch?« »Tausendmal Vergebung, Herr, aber habt Ihr Sokrates gesehen?« »Was ist das?« »Ich sagte, habt Ihr Sokrates gesehen?« Einer der Jünglinge sagte etwas Freches über Barbaren, die nach Weisheit streben, ehe sie noch Griechisch sprächen, und die zwei anderen lachten. Der Graubart aber übertönte die derben Spaße: »Nein, mein Guter, denn heute ist er nicht in Athen.« »Tatsächlich?« 79
»Er nimmt an einer Landpartie auf den Hymettos teil – zu Ehren der Nymphen und Satyren, zusammen mit Alkibiades, dem Neffen des Perikles. Morgen werdet Ihr ihn hier finden. Wo war ich nur? Ach ja … während Philaloas versichert hat, die Welt wäre eine Kugel, wurde diese Spekulation als absurd und unhaltbar bezeichnet von …« »Können wir jetzt die Akropolis besichtigen? fragte Flin. »Also gut, teurer Gefährte.« Sie gingen zurück ans Südende der Agora und von dort zu dem Pfad, der sich am Westhang der Akropolis emporwand, sodann durch die Propylaia oder den Eingang und dann schließlich hinaus auf den flachen Gipfel des großen schiffsförmigen Hügels, der etwa dreihundert Meter lang und halb so breit war. Mit jedem Schritt wurde Flin ekstatischer, bis er schließlich in Laufschritt verfiel und von Statue zu Statue rannte, als hinge sein Leben davon ab, daß er alles auf einmal ansähe. Glücklich ließ er seine Kenntnisse abspulen: »Knut, das ist die große Athene Promachos, obwohl der Name bloß zurückgeht auf … Ein Original des Phidias! Stell dir vor!« Er streckte einen Finger aus und berührte vorsichtig den ehernen Fuß des Zehn-Meter-Kolosses. »Sieht aus wie eine Kuh«, sagte Bulnes. »Ich dachte, einige von den anderen wären hübscher.« Als hätte er nichts gehört, las Flin die Widmungsinschrift auf einem riesigen geschmückten Streitwagen, der so groß war, daß Elefanten als Zugtiere hätten dienen können: »… die den Böotiern und Euböern entrissene Siegesbeute …« Er lief zu der Stelle, wo eine Gruppe von Arbeitern eine lebensgroße Statue der Athene mit Seilen und mit Ächzen auf ihr Piedestal hoben. »Und das muß die Gruppe Athene-Marsyas 80
sein, bloß ist Marsyas noch nicht aufgestellt. Entschuldigt«, sagte er zu einem älteren Mann, der die Arbeiten überwachte. »Seid Ihr Myron?« »Ja. Warum?« sagte der Mann. Flin schloß die Augen und schlug die Hände zusammen. »Ich habe Myron gesehen! Ich habe Myron gesehen! Knut, ist das nicht das Herrlichste, das man je erlebt hat? Und wenn ich morgen sterbe, soll es mir recht sein, jetzt, da ich das gesehen habe! Komm, das ist der Parthenon!« Und er galoppierte in losen Sandalen davon. »Nein, der Eingang ist am anderen Ende.« »Warum?« fragte Bulnes, »hat man den Eingang im Osten angebracht, da man zur Akropolis doch von Westen her aufsteigt?« »Aus irgendeinem religiösen Grund, oder vielleicht deswegen, weil man wollte, daß die aufgehende Sonne die Statue im Inneren bei Zeremonien im Morgengrauen beleuchtet. Ist sie nicht schön? Ist sie nicht umwerfend?« Bulnes meinte: »Ich muß sagen, die Akropolis sieht anders aus, als ich erwartet habe. Die vielen bunten Farben wirken wie ein kitschiger Rummelplatz.« »Hast du nicht gewußt, daß die Tempel und Statuen bemalt waren? Ich kann nur hoffen, daß es sich – nach alldem, was wir mitgemacht haben – um die echte Akropolis handelt und keine moderne Nachbildung wie die in Nashville oder wie diese Stadt in Amerika heißen mag.« 8
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Drei Stunden darauf schlurften sie erschöpft in die Schenke des Podokles. »Ich habe richtige Museumsfüße«, sagte Bulnes. »Ein schöner großer Krug Wein – danke, teurer Podokles! Wiyem, falls du in Athen mal pleite bist, kannst du dich als Fremdenführer durchschlagen. Versuch aber ja nicht, alles auf einmal zu zeigen. Ich habe so viele Statuen gesehen, daß für mich alle gleich aussehen.« »Ich glaube, meine Begeisterung ist mit mir durchgegangen«, sagte Flin bescheiden. Er zog ein Gesicht, als er den Wein probierte. »Zum Henker! Wenn es bloß Tee gäbe!« »Falsches Jahrhundert!« »Hu. Ich muß zugeben, daß die rein physische Unbequemlichkeit dieser Umgebung der Epoche viel von ihrem Glanz nimmt.« »Ich persönlich«, meinte Bulnes, »werde in Hinkunft vollauf zufrieden sein, wenn ich das antike Griechenland in Form von Museumsschaustücken zu sehen bekomme.« »Ja, aber die Wirkung ist hier eine ganz andere!« Flin nahm einen weiteren Schluck von dem Wein und vergoß dabei ein wenig aus der breiten Schale, die eher einem Suppenteller mit Fuß, als einem richtigen Trinkgefäß glich. »Wenn du das nächste Mal auf die Akropolis kommst, werde ich dir die anderen …« »Das möge Gott verhüten! Podokles, mein Freund, leiht uns Eure Weisheit! Wie stehen die Dinge unter der Regierung des Perikles?« Der Wirt, der unter Bulnes' beharrlicher Liebenswürdigkeit aufgetaut war, pflanzte seine Kehrseite auf die Bank. »Nicht allzu gut.« »Wie das?« 82
»Alle haben Krieg erwartet und konnten sich vor Begeisterung nicht fassen. Und dann hat Perikles mit den Spartanern plötzlich einen Vertrag geschlossen, sich mit den Korinthern geeinigt und den Potidaianern Synözismus angeboten.« »Ihnen … was angeboten?« »Gemeinsame Bürgerschaft mit Athen. Viele der Handelsleute sagen: Warum sich all der Mühe unterziehen, ein Reich aufzubauen, wenn man dann die Vorteile an Ausländer weitergibt? Was haltet ihr davon?« »Wir fühlen als Ausländer, mein Freund – und ich bin daher voreingenommen.« »Was?« »Egal. Was wird jetzt sein?« »Ich weiß nicht. Ich fürchte, daß die Radikalen sich mit den extremen Konservativen zusammentun, um die Herrschaft über den Rat zu erlangen, falls Perikles die weiche Welle in der Außenpolitik weiterverfolgt. Ich selbst war immer für Mäßigung und habe daher Perikles unterstützt.« »Also so war das!« sagte Fun. »So genau wissen wir das noch nicht«, widersprach Bulnes und fragte, zu Podokles gewandt: »Wie wollen die Radikalen Perikles ans Leder?« »Es gehen Gerüchte um – Polites Eurybotou hat erst gestern hier davon gesprochen –, daß Dophites und Kleon und diese Burschen sich über seine Freunde hermachen sollen, weil Perikles selbst zu beliebt ist. Sie glauben, sie hätten gegen einige etwas vorzubringen.«
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Fun rief aus: »Dann muß es echt sein! Es muß! Weil genau das passiert ist! Wir müssen Perikles warnen, daß man hinter Phidias und Anaxagoras und Aspasia her ist!« »Ruhig, mein Freund«, sagte Bulnes. »Was hat man mit den Freunden des Perikles vor?« »Anklagen«, antwortete Podokles. »Zum Beispiel hat es Phidias bei seiner Arbeit an dem Neuen Hekatompedon der Athene Polias …« »Welcher?« »Das, was wir Parthenon nennen«, warf Fun ein. »Weiter Podokles!« »Wie gesagt, er hat bei der Arbeit viel mit Gold hantiert, und es wäre verwunderlich, wenn nicht einiges davon an seinen Fingern hängengeblieben wäre.« Später sagte Fun zu Bulnes: »Dieses Warten treibt mich zum Wahnsinn. Wir werden bald unser Geld los sein und haben keines mehr in Aussicht. Meine Frau ist weiß Gott wo. Die Verschwörung gegen Perikles braut sich zusammen. Und wir sitzen da und warten auf die Rückkehr des Sokrates.« »Man kann die Dinge nicht überstürzen, ohne sie zu zerstören. Und warum bist du so sicher, daß wir Perikles retten wollen?« »Der Peloponnesische Krieg hat die hellenische Kultur zerstört…« »Ich dachte, Aristoteles und viele andere wichtige Denker kamen nach diesem Krieg?« »Ja … aber – ach das läßt sich nur sehr umständlich erklären. Die politische Moral war gesunken und so weiter. Offensichtlich 84
hat Perikles versucht, den Krieg abzuwenden, doch die Demagogen haben ihn dazu gezwungen, indem sie seine Freunde angriffen. Deshalb hat er seine Bemühungen, sich mit Sparta auszusöhnen, fallengelassen und erlaubt, daß der Krieg ausbricht, um das Volk hinter sich zu einigen. Wenn wir bloß …« »Teurer Freund, wir wissen ja nicht mal, ob es der echte Perikles ist. Auch wenn wir von der Annahme ausgehen, daß wir in die Antike zurückversetzt worden sind – was könnten wir erreichen? Vielleicht müssen wir entdecken, daß wir nicht imstande sind, etwas zu ändern, da eine einmal vollzogene Tat nicht rückgängig zu machen ist. Und falls wir die Ereignisse beeinflussen könnten, würden wir die gesamte folgende Geschichte ändern und uns im weiteren Verlauf selbst vernichten.« »Unsinn! Wir sind noch vorhanden. Wir könnten die Geschichte auf geändertem Kurs neu beginnen …« »Damit die Menschen die Atombombe schon im dritten Jahrhundert statt im zwanzigsten erfinden und – weil sie keine Ahnung von einer Weltföderation haben – sich fröhlich gegenseitig vom Globus pusten? Warten wir lieber, bis wir alle Tatsachen beisammen haben.« Am nächsten Morgen, als sie die Agora durchstreiften, erregte einige Stunden nach Sonnenaufgang ein Aufruhr um die Bemalte Galerie ihre Aufmerksamkeit. Unter den Schwätzern und Müßiggängern stand ein Neuankömmling, ein kleiner, kahler, dickbäuchiger, knollnasiger Mann um die Vierzig, barfuß, nur mit einem zerfetzten Himation bekleidet, den als Sokrates zu identifizieren, es nicht der Begrüßung durch seine Bekannten bedurft hätte. 85
Obwohl das allgemeine Geschnatter zu hastig war, als daß Bulnes hätte folgen können, erhaschte er doch eine Anspielung auf den Vortrag des Sokrates. »Natürlich«, sagte Sokrates, »werdet ihr verstehen, daß meine Zuneigung zum jungen Alkibiades rein geistiger Natur ist.« Auch der würdige Graubart von gestern war anwesend und sagte: »Heil dir, o Sokrates!« »Heil dir, o Protagoras«, entgegnete Sokrates. »Ich habe gehört, du wärest in Athen, und habe mich beeilt, dich zu sehen. Wie lang wirst du diesmal unter uns weilen?« »Einen Monat vielleicht. Hast du Demokritos gesehen?« »Ich kenne ihn nicht. Ist er auch in Athen?« »Er ist vor mir aufgebrochen und sollte schon hier sein, falls er nicht auf See umgekommen ist.« »Nun, wir haben ihn hier nicht gesehen«, sagte Sokrates. Flin holte Luft. »Das war Protagoras, mit dem wir gestern gesprochen haben! Nie hätte ich gedacht, daß wir mit jemand annähernd so Bedeutendem zusammentreffen würden!« »Wer zum Teufel ist Protagoras?« fragte Bulnes. »Diese Unwissenheit! Er ist – ach, sei still und hör zu!« Sokrates fuhr fort: »Haltet Ihr Vorlesungen ab, Protagoras?« »Nur eine kurze, um meine Reisekosten hereinzubekommen.« »Wie kannst du dann erwarten, daß die Reinheit der Philosophie der Verseuchung durch vulgäre kommerzielle Transaktionen Widerstand entgegensetzen kann?« »Was das betrifft, o Sokrates, so bin ich mir keiner These bewußt, daß Philosophen nicht dasselbe Recht hätten zu essen wie andere Menschen. Drum verlange ich Geld.«
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»Deswegen also haltet Ihr Eure Lehren einer Bezahlung wert?« »Gewiß«, erwiderte Protagoras. »Doch ich entsinne mich Eures letzten Besuches, als wir darüber stritten, ob man Tugend lehren könne. Da habt Ihr bekannt, daß Eure Lehren unschätzbar wären. Wenn aber unschätzbar, dann kann man sie doch nicht materiell bewerten.« »Das tue ich auch nicht. Wie ich schon erklärt habe, verlange ich das Geld für meinen Zeitaufwand. Die Erkenntnisse selbst sind kostenlos.« »Doch wie könnt Ihr den Zeitaufwand von der Lehre trennen, da die Erkenntnisse Zeit brauchen, sich in Euch zu entwickeln, und daher in gewissem Sinne mit der Zeit gleichzusetzen sind?« »Sokrates, Ihr seid ein kurzweiliger Schelm, und ich bin froh, Euch zu begegnen, doch ich will zu Wurst verarbeitet und dem Kerberos vorgeworfen werden, wenn ich mich mit Euch wieder auf eine Eurer Haarspaltereien einlasse.« »Seid mir nicht gram. Ich gebe zu, daß ich im Suchen nach Wahrheit ein unwissender Mensch bin, und da kommt nun Ihr, göttergleicher Protagoras, den ganzen Weg vom windigen Abera her, um diese Weisheit zu verteilen – und da möchte ich natürlich das meiste aus dieser Gelegenheit –« »Entschuldigt«, sagte Protagoras mit Festigkeit. »Ich sehe da zwei Fremde, die gestern nach Euch gefragt haben. Tretet vor, Ihr Herren, und nennt Eure Namen.« »Ich?« sagte Bulnes, ein wenig außer Fassung. »Ich bin – hm – Bouleus aus Tartessos und mein Freund seien Philon aus Tartessos.« »Könnt Ihr ihn verstehen?« fragte ein Zuschauer zum anderen, und Bulnes fuhr fort: »Da wir hörten, weisester Mann 87
in Athen ist Sokrates, so wir Euch gesucht haben, damit wir uns selbst klüger werden.« Sokrates lächelte verlegen. »Nein, nein, jemand hat Euch Lügen aufgetischt. Mein einziger Vorteil besteht darin, daß ich weiß, daß ich nichts weiß, während die anderen Einfaltspinsel das nicht wissen.« Trotzdem schien ihm die Schmeichelei nicht mißfallen zu haben. »Tartessos?« fragte Protagoras. »Liegt das nicht in Spanien, knapp am Ende der bekannten Welt?« »Ja«, sagte Bulnes. »Ich dachte, die Stadt wäre entweder von den Karthagern zerstört worden, oder durch ein Erdbeben unter den Meeresspiegel versunken – zur Zeit der siebten Olympiade. Beide Berichte habe ich gehört.« Bulnes, dessen Kenntnis der historischen Geographie nur gering war, wandte sich hilfesuchend an Fun. Der kleine Engländer sprang in die Bresche: »Gewiß, Tartessos ist nicht mehr das, was es einst war, doch zerstört wurde es nicht. Es hat einen Niedergang erlebt, weil es durch die Versandung des Flusses Tartessis jetzt wie Strandgut zwischen großen Schlammfeldern liegt, so daß große Schiffe die Stadt nicht mehr anlaufen können.« »Ich verstehe«, sagte Protagoras. »Sind die Berichte über den früheren Reichtum an Bodenschätzen wahr?« »Völlig. Tatsächlich glauben wir Tartesser, daß euer Dichter Homer seine Stadt Scheria, die Stadt der Phäaken in der Odyssee, auf einen Bericht über Tartessos gestützt hat.« Protagoras lächelte. »Offenbar stimmen die Tartesser mit der Theorie meines Kollegen Prodikos von Keos überein, daß nämlich alle Mythen entweder die Personifikation von Natur88
kräften sind oder übertriebene Versionen von Taten sterblicher Menschen. Das muß ich dem Prodikos berichten, wenn ich ihn treffe. Ihr wißt ja, Sokrates, Eure athenischen Rhapsoden – wie zum Beispiel dieser Xenophanes – könnte die Sage von Tartessos in ein schönes Pseudo-Epos verwandeln.« »Wie denn?« fragte Sokrates. »Mittels vieler Dichterlügen?« »Ach, man macht Atlas zum König der Stadt – der nach ihm benannte Berg liegt doch irgendwo da draußen – und berichtet sodann, wie Zeus, die goldene Stadt unter die Wasser des Äußeren Meeres versenkt hat, als ihre Bewohner in ihrem Überfluß dreist wurden – und zurück blieben nur unbefahrbare Untiefen.« Flin wollte ergänzen: »Ihr meint Platons Geschichte von Atlant –« hielt aber inne. »Wer ist dieser Platon?« fragte Sokrates. »Ich kenne die Geschichte nicht.« »Er ist noch nicht geb – ich meine, das heißt – hm …« Bulnes half ihm weiter. »Meine Herren: Mit Eurer Erlaubnis will ich Euch – äh – ein Rätsel aufgeben. Nehmen wir an, die Welt wäre von einem Göttergeschlecht bewohnt, dessen Kräfte unsere Kräfte weit übersteigen. Sie können zum Mond fliegen, sprechen miteinander über Tausende von Stadien hinweg und beleuchten ihre Häuser mit Lampen, die kein Öl benötigen. Nehmen wir weiter an, diese Götter könnten vollkommene Menschen schaffen, nicht nur an Leib, sondern auch an Seele, so daß ein eben geschaffener Mensch eine Erinnerung besitzt, die ganz weit zurückreicht, bis in seine nicht vorhandene Kindheit. Nehmen wir an, diese Götter hätten einen Teil der Welt, genannt ›Hellas‹, abgetrennt und ihn mit Leuten jener anderen Länder bevölkert, alle mit dem notwendigen – hm – Pseudogedächtnis 89
ausgestattet, dazu eine komplette Ausstattung bestehend aus Bauwerken, Schiffen, und das Experiment hätte vor sechs Jahren begonnen. Wie könnt Ihr das Gegenteil beweisen?« »Aber«, wandte Protagoras ein, »ich habe ein klares Gedächtnis, das weiter zurückreicht, als mir lieb ist.« »Das habe ich doch erklärt. Wie könnt Ihr beweisen, daß es kein falsches Gedächtnis ist, das Euch von den Göttern eingegeben wurde, die Euch vor sechs Jahren geschaffen haben?« »Lächerlich«, sagte ein Nebenstehender. Bulnes wandte sich dem Zwischenrufer mit seinem nachsichtigsten Lächeln zu. »Ohne Zweifel, guter Mann, aber wie könnt Ihr es beweisen?« »Das braucht man nicht beweisen. Es ist einfach so.« »Es ist das, was man ein Scheinurteil nennt. Was halten die Philosophen davon?« Sokrates sagte: »Was geschieht, wenn einer dieser kürzlich geschaffenen Hellenen sich auf eine lange Reise macht? Wenn zum Beispiel eine griechische Stadt Leute ausschickt, die eine Kolonie in der Euxinischen See gründen sollen? Sie würden an die Grenzen dieses Hellas gelangen und das Land der Götter betreten und entdecken, daß sie selbst bloß Haustiere sind, wie Karpfen in einem Fischteich.« Bulnes fuhr fort: »Angenommen, die Götter versetzen den Reisenden in Schlaf, sobald er sich der Grenze nähert, wecken ihn zu passender Zeit und geben ihm auf den Rückweg nach Hellas eine Ansammlung falscher Erinnerungen an seine Reise durch barbarische Länder mit?« »Ihr meint«, sagte Protagoras, »daß es solche Orte wie Ägypten und Spanien nicht gibt, außer als Trugbilder, die durch 90
diese allesvermögenden listenreichen Götter in unser Bewußtsein verpflanzt wurden?« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Denn da ihr nun alles das wißt, meine Freunde, könnten ich und mein Freund jene Götter sein, die gekommen sind, um zu sehen, wie das Experiment verläuft. Andererseits: Wenn wir es wären, würden wir Euch doch nicht so unvorsichtig in das Geheimnis einweihen.« »Ich verstehe«, sagte Protagoras. »Sehr erfinderisch. Tatsächlich stimmt es mit dem überein, was ich seit Jahren lehre – daß unser gesamtes Wissen mittels unserer fehlbaren Sinne zu uns gelangt und die Wirklichkeit sich von dem, was sie zu sein scheint, sehr gewaltig unterscheiden könnte, weil unsere Wahrnehmungssinne sie verzerrt.« »Ich würde dem zustimmen«, sagte Sokrates, »nur gebt Ihr der direkten Inspiration der Seele durch göttliche Kraft keinen Raum. Andernfalls wäre es so, als säßen wir alle als Gefangene vor dem Eingang einer Höhle, das Gesicht auf die Rückwand der Höhle gewandt, unsere Köpfe so festgebunden, daß wir uns nicht bewegen können. Wir versuchen mit Hilfe der an die Höhlenwand geworfenen Schatten, der Geräusche und der Gespräche hinter uns zu deuten, was in der Außenwelt vor sich geht.« »Ein treffendes Beispiel, Sokrates«, sagte Protagoras. »Und jetzt muß ich zurück zu meinen Schülern. Wir sehen uns sicher wieder. Heil Euch!« Sokrates wandte sich an Bulnes: »Für ein barbarisches Land bringt Tartessos scharfe logische Denker hervor. Was halten die Tartesser für das höchste Gut?« Bulnes, der ein endloses Streitgespräch voraussah, sagte: »Das hängt von den Menschen ab. Manche suchen die Befrie91
digung des eigenen Appetits, einige das Wohl ihrer Gefährten, und einige wiederum den Fortschritt des Wissens. Was uns betrifft, so sind wir so unwissend, wie Ihr es von Euch behauptet, und hoffen, daß Ihr uns erleuchten könnt. Was glaubt Ihr?« »Ach, ich bin ohne Zweifel der unwissendste Mensch in ganz Hellas! Den Protagoras hättet Ihr fragen sollen! Er kennt alle Antworten und wird sie Euch nur zu gern für fünfzig Drachmen pro Tag verraten. Da ihr aber mich gefragt habt, möchte ich Euch die Identität des Guten, des Wahren und des Schönen zeigen …« »Einen Moment, o Sokrates!« sagte Bulnes einigermaßen beunruhigt. »Bevor Ihr beginnt – kennt Ihr Meton den Astronomen?« »Aber ja, ich kenne ihn und auch den Anaxagoras und den Archelaos und die ganze Gesellschaft. Als ich mich für solche Dinge interessierte, habe ich regelmäßig mit ihnen Umgang gepflogen, doch dann entdeckte ich die Nutzlosigkeit jedes materiellen Wissens. Der wahre Astronom, behaupte ich nun, hat es nicht nötig, die Nacht auf dem Dach zu verbringen und zu den Sternen zu schauen, sich dabei den Kopf zu verkühlen und den Hals zu verrenken. Er sollte die Gesetze des Universums vielmehr durch reine Logik ableiten. Denn der Verstand ist der einzig unfehlbare Sinn, den der Mensch besitzt. Die anderen sind fehlbar und trügerisch und wenn man sie auf die banalen und unvollkommenen Dinge dieser materiellen Welt anwendet…« »Wahr«, unterbrach ihn Bulnes, »aber wir haben uns gefragt, das heißt, Ihr könntet uns einen großen Gefallen tun, wenn Ihr uns Meton vorstellt. Als Fremde können wir, wie Ihr wißt, nicht einfach an seine Haustür gehen und …« 92
»Warum wollt Ihr den Kerl kennenlernen? Sein Sternegegucke und Kalenderberechnen hat nicht bewirkt, daß auch nur eine Frau treuer oder ein Politiker anständiger wurde. Dieses Eindringen in göttliche Geheimnisse, die dem Menschen zu wissen nie bestimmt waren, ist reiner Irrwitz. Nun, wie ich eben sagte…« »Während Eure Weisheit«, beharrte Bulnes, »ohne Zweifel von fundamentaler und signifikanter Art ist, hat uns die Stadt Tartessos, als sie uns aussandte, aufgetragen, Meton aufzusuchen und ihm einige Fragen über Geographie und dergleichen Dinge zu stellen.« »Seid Ihr freie Männer?« fragte Sokrates. »Ich sehe keinen Eurer Sklaven.« Flin ergänzte: »Soviel ich weiß, müssen wir, um hier den Schutz des Gesetzes zu genießen, uns bei der Polizei als eingetragene Metöken – also als Ausländer – melden und einen Bürger als Schutzherren benennen. Wenn Ihr jetzt – hm – uns dorthin –« »Nichts leichter als das«, sagte Sokrates. »Wie ich aber über das Gute gesagt habe, so ist nichts einfach gut im Verhältnis zum Nichts. Alles muß für etwas gut sein oder umgekehrt, und daher kann etwas sowohl gut als schlecht sein, je nachdem …« Da er nicht wagte, ihn wieder zu unterbrechen, mußte Bulnes zähneknirschend zuhören. Sechs Stunden später blickte Sokrates in die untergehende Sonne. »Beim Hund der Ägypter! Den ganzen Tag habe ich geredet, ohne Pause für Speis und Trank! Ihr müßt ja verhungert sein!« »Obwohl das Mark Eures Vortrages ausreichend Nahrung bietet«, sagte Bulnes, »muß ich gestehen, daß die Klagen des 93
materiellen Menschen die göttlichen Gedanken zu ertränken beginnen.« »Was die Frage des Abendessens aufs Tapet bringt, Freund!« Ein junger Mann, der mit dem Rücken an eine Säule gelehnt auf dem Boden saß und döste, stand auf und wickelte sich in einen Himation, das womöglich noch zerfetzter war, als der des Sokrates. Bulnes erkannte mit gelindem Schock, daß dies der persönliche Sklave von Sokrates sein mußte. Den Philosophen hätte er sich nie als Sklavenhalter vorstellen können. Sokrates sagte: »Vor zwei Tagen habe ich meinen letzten Obolus für eine Mahlzeit für Dromon und mich ausgegeben und bin daher von meinem Freund abhängig, bis meine nächsten Gelder einlaufen. Als Junggeselle habe ich ohnehin keine Frau, die für mich kocht.« »Aber!« sagte Bulnes. »Ihr müßt es uns gestatten! Da es in unserer Schenke nicht zugeht wie beim persischen König …« »Ein liebenswürdiges Angebot«, sagte Sokrates, »doch habe ich eine bessere Idee. Wen wollt Ihr kennenlernen? Meton? Wir werden bei ihm zum Abendbrot schmarotzen!« Und der Philosoph machte sich mit einem Tempo auf den Weg, das dem kleinen Fun den Atem verschlug und sogar Bulnes zwang, mit den langen Beinen mächtig auszuschreiten. 9 Sokrates klopfte mit seinem Stock an Metons Haustor und brüllte: »Diener, Diener!« Als sich der Spion öffnete und ein runzeliges Gesicht sichtbar wurde, fügte der Philosoph hinzu: »Sag deinem Herrn, der 94
größte Dummkopf Athens sei da, zusammen mit zwei anderen Tölpeln aus fernen Ländern!« Das Loch schloß sich und wurde nach einer Weile wieder geöffnet. Diesmal sah man einen Mann, der älter als Sokrates war, aber jünger als Protagoras – ein Mann mit scharfen Zügen und funkelndem Blick. »O Sokrates!« sagte der Mann. »Seit dem Bankett im Hause des Alkamenes, voriges Jahr, als Ihr Euch betrunken und Kordax getanzt habt, habe ich Euch nicht mehr gesehen.« »Ich bin niemals betrunken! Außerdem habt Ihr damals unter dem Lager gelegen und konntet nicht sehen, was ich tanzte.« »Und wer sind die da?« fragte Meton. »Meine neuen Freunde aus dem fernen Tartessos. Ihr werdet sie als recht wohlerzogen befinden, obwohl es keine Hellenen sind und schon gar keine Athener.« Sokrates stellte sie vor und ergänzte: »Sie sagen, sie hätten ein astronomisches Problem für Euch.« »Tretet ein! Tretet ein, steht nicht herum wie ein paar Säulen!« sagte Meton. Er drehte sich um und rief über die Schulter: »He! Ihr Frauen – 'raus da!« Gezwitscher weiblicher Stimmen und Füßescharren ertönte. Bulnes wollte Sokrates durch die Vorhalle folgen, wurde jedoch von Meton aufgehalten, der mit Betonung sagte: »Ja, wollt Ihr denn nicht Eure Schuhe dalassen?« »Tut mich leid«, sagte Bulnes und legte die Sandalen ab, ehe er Meton in den offenen Hof am Ende des Ganges folgte. Der Hof war nichts weiter als ein kahles Rechteck aus gestampfter Erde, mit einem Altar in der Mitte, von dem sich ein Rauchfaden erhob. Der karge Hof war von Holzsäulen gesäumt, die den inneren Rand des Daches trugen und die 95
Säulen ihrerseits begrenzten eine Vielzahl dunkler, kleiner, von einem Vorhang verhängter Zellen, deren Öffnungen zum Hof gerichtet waren. Im Hof stand ein Tisch, auf ihm lagen Papyrusblätter ausgebreitet, die ein Stein als Beschwerer niederhielt. In einer Ecke saß ein uralter Mann an einem Tischchen und arbeitete an ähnlichen Bögen. »Heil dir, Anaxagoras!« rief Sokrates über den Hof hinweg dem Greis zu, der ähnlich antwortete. »Was ist Euer Problem, Männer aus Tartessos?« fragte Meton. Bulnes hatte in Voraussicht dieser Frage einige Sätze zusammengestellt. Jetzt sagte er: »Ihr – hm – kennt die Theorie, Meton, daß die Erde rund wie ein Ball sei?« »Was habt Ihr gesagt?« Bulnes wiederholte seine Frage. »Ja, natürlich«, antwortete Meton. »Die törichten Pythagoräer haben diese Behauptung mehrere Jahre hindurch aufgestellt, und ich fange an zu glauben, daß sie mittels der falschen Methode auf die richtige Antwort gestoßen sind. Es würde nämlich vieles erklären, so zum Beispiel die Form des Erdschattens während der Mondfinsternisse.« »Was meint Ihr mit ›törichten Pythagoräern‹?«, fragte Sokrates. »Vielleicht würdet Ihr, die Ihr so viel mehr wißt als ich, Euch herablassen zu erklären, worin die Torheit ihrer göttlichen Lehren liegt?« »Ihr Vorgehen, mein teurer Sokrates, ist gänzlich unwissenschaftlich: Zahlenmystizismus, Intuition und all der Unsinn. Übrigens –« Meton warf Bulnes einen scharfen Blick zu – »ich baue darauf, daß Ihr Ausländer nicht hier seid, um jenen
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unseligen babylonischen Aberglauben zu verbreiten, der die wissenschaftliche Astronomie ruiniert hat?« »Was meint Ihr, Herr?« fragte Bulnes. »Ach, jene Art astronomischer Voraussagen, die behaupten, die Sterne beeinflußten unser Schicksal hier auf Erden und könnten zu Zwecken der Prophezeiung herangezogen werden.« »Überhaupt nicht«, versicherte ihm Bulnes. Sokrates begann: »Mein guter Meton, Eure materialistische sogenannte Wissenschaft ist bankrott, und Ihr könnt das genauso gut eingestehen. Ihr und Eure Kollegen habt zu den Sternen emporgestarrt und an Lyra-Saiten gezupft und versucht, Rauch in einem Sack zu wiegen – und Ihr seid in eine Sackgasse geraten. Die materiellen Sinne allein vermögen nicht mehr für Euch zu tun. Würdet Ihr göttlichen Beistand für die Besserung Eures Charakters anrufen, dann …« »Später, später«, unterbrach ihn Meton. »Laßt uns zuerst mit diesen Fremden fertig werden. Was also ist mit der Kugelform der Erde?« Bulnes sagte: »Wir Tartesser glauben, wenn es uns gelänge, die Abmessung der Höhe des nördlichen Himmelspols vom Horizont aus von verschiedenen Punkten aus vorzunehmen, dann hätten wir genügend Material für eine komplette – hm – komplette … wie heißt das doch gleich, Wiyem?« »Karte.« »Eine komplette Weltkarte.« »Papai! Das ist eine Idee«, sagte Meton und vollführte Bewegungen mit seinen Fingern. »Der Winkel zwischen Himmelsnordpol und Horizont ist derselbe, wie der Winkel des Beobachters am Äquator zum Nordpol. Stimmt's? Ein klarer Fall, Anaxagoras!« 97
Der Alte sah auf. »Kommt her und macht Notizen. Diese Männer haben ein interessantes Theorem mitgebracht.« Anaxagoras kam mit einem Papyrusbogen, und schrieb nach Metons Diktat. »Seid Ihr wirklich Anaxagoras von Klazomenai?« fragte Fun. »In der Tat, der bin ich«, antwortete zittrig der Greis. »Wissen denn die Tartesser von dem armen alten Anaxagoras, der vergessen von der Welt als Pensionär des großzügigen Meton lebt?« »Unsinn!« knurrte Meton. »Er genießt es, sich zu bemitleiden. Das ist für den Moment alles, Alter. Nun, denn, Bouleus von Tartessos – was wünscht Ihr außerdem?« »Wir dachten, falls Ihr Geräte hier im Haus habt, würdet Ihr uns vielleicht gestatten, die Position des Pols zu beobachten, um seine Höhe hier in Athen festzustellen.« »Hm. Das ließe sich machen. Hört zu – kommt heute abend nach dem Essen wieder her, und wir werden vom Dach aus Beobachtungen machen. Ihr bleibt doch, Sokrates?« »Ihr müßt mich gar nicht drängen«, sagte Sokrates. »Lebt wohl für den Augenblick, meine fremden Freunde!« Zu Flin gewandt, sagte Bulnes auf Englisch: »Das nennt man in Amerika Schnorrerpech.« Und dann zu Meton: »Vielen Dank, werter Herr. Eine Ehre, Euch begegnet zu sein.« »Unsinn. Es ist überhaupt keine Ehre. Seid nach Einbruch der Dunkelheit hier, laßt mich aber nicht die ganze Nacht warten – Was ist denn Anaxagoras?« Der Alte hatte an Metons Chiton gezupft. Jetzt murmelte er ihm etwas ins Ohr. Nach einer geflüsterten Unterhaltung sagte 98
Meton: »Anaxagoras bittet mich, Euch zum Bleiben aufzufordern, damit er Euch über die Geographie Spaniens befragen kann. Immer ist er hinter solchen Details her, damit er seine Weltkarte verbessern kann. Wie wär's also?« Bulnes lächelte breit. »Ihr seid zu freundlich …« »Wenn Ihr natürlich eine Verabredung habt…« »Aber mein Freund und ich würden um nichts in der Welt eine einzige Stunde in so gelehrter Gesellschaft missen wollen. Wir nehmen mit Dank an, der aus tiefstem Herzen kommt.« Meton, der nicht allzu erfreut dreinsah, rief einem Sklaven zu, es sollten zwei Gedecke mehr aufgelegt werden. Anaxagoras berührte mit seiner knochigen Hand den Arm von Flin und Bulnes und sagte: »Wenn Ihr mein Gemach betreten wollt, teure Freunde…« Der Raum entpuppte sich als eine jener luftlosen, lichtlosen Zellen, die sich auf den Hof hin öffneten. Anaxagoras schob den Vorhang beiseite und führte sie hinein. Drinnen sah Bulnes ein riesiges rechteckiges Stück Papyrus in einem Holzrahmen an der Wand lehnen. Darauf war eine Weltkarte gezeichnet, mit Griechenland als Mittelpunkt der großen kreisförmigen Landmasse, in die das Mittelmeer, Rotes und Kaspisches Meer von verschiedenen Richtungen her eindrangen. Während Griechenland mit großer Genauigkeit eingezeichnet war, wurden die anderen Teile immer weniger kenntlich, je weiter sie vom Zentrum entfernt waren. Nach einigem Rätselraten konnte Bulnes ausmachen, daß das sich verjüngende Horn an der linken äußersten Ecke Europas die Iberische Halbinsel darstellen sollte.
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Er sagte: »Mit aller Bescheidenheit gesagt, lieber Anaxagoras, so glaube ich doch, daß ich Verbesserungen machen kann. Habt Ihr etwas, womit ich zeichnen kann?« Anaxagoras zog ein Stück Kohle aus dem herumliegenden Krimskrams und sagte: »Zeichnet an die Wand, wenn Ihr wollt.« Bulnes starrte die kahle Wand (auf der die halbausgeloschten Reste anderer Kartenskizzen waren) einige Sekunden lang an, während sich in ihm das Bild seines Heimatlandes im Geiste formte. Dann zeichnete er rasch, korrigierte durch Wegwischen, zeichnete ein – oder zweimal neu und fügte den groben Verlauf des Ebro, Tajo und Guadalquivir hinzu. An der Mündung des letzteren, in der unteren linken Ecke, wo Cadiz hätte sein sollen, zog er einen kleinen Kreis. »Tartessos«, sagte er. Anaxagoras wieherte vor Freude. »Tausend Dank! Das ist die größte Einzelergänzung meiner Karte, seit ich sie vor vierzig Jahren begonnen habe. Kennt Ihr weitere Küsten des äußeren Randes der Welt?« Bulnes lächelte und fügte die West- und Nordküste Frankreichs hinzu. Zu Fun sagte er: »Wie wär's, wenn du die britischen Inseln übernimmst? Du kennst sie sicher besser als ich.« Und dann zu Anaxagoras: »Euch Hellenen dünkt, als würdet Ihr im Mittelpunkt der Welt leben und wir am äußeren Rand, aber uns dünkt es, als lebten wir im Zentrum und Ihr am entfernten Ende. Alles ist Ansichtssache.« »Ihr meint also, es gäbe andere Länder jenseits dessen, was wir Rand der Welt zu nennen pflegen?« »Gewiß. Ganze Kontinente, die Euch unbekannt sind.«
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»Bei Hera! Ich arbeite ein Leben lang an dieser Karte, ich korrigiere die Fehler des Thaies und Anaximandos und Hekatios und eben, als ich sie für vollkommen halte, kommt Ihr Freunde aus fernen Ländern und zerstreut meine Hoffnungen mit einem einzigen Satz. So ist das Leben! Was zeichnet da Euer Freund?« »Das sind die Zinninseln«, antwortete Fun, »von denen Ihr vielleicht gehört habt.« »Wundervoll! Dann reicht der Westliche Ozean tatsächlich um den Norden Europas herum? Ha, ich wollte, Herodot wäre in Athen! Er bezweifelt nämlich, daß das der Fall ist. Und wie trennt Ihr die Kontinente Europa und Asien?« »Ach, wir betrachten Europa nicht als eigenen Kontinent«, sagte Fun, »sondern als Anhängsel des Kontinents Asien – au! Warum hast du mich getreten?« Der letzte Satz war in Englisch an Bulnes gerichtet, der mit süßem Lächeln zurückgab: »Sieh zu, daß du nicht mehr weißt, als plausibel ist, ansonsten verrätst du uns noch. Ah – mein guter Anaxagoras, es ist das größte Vergnügen, einem so hervorragenden Gelehrten wie Euch zu helfen – doch ich glaube, ich höre unseren Gastgeber.« Meton bat sie an die Tür am gegenüberliegenden Ende des Hofes. Durch diese Tür betraten sie einen großen, karg möblierten Raum mit Steinfußboden. In der hinteren Ecke stand wieder ein Altar, in einer anderen lag ein großer Stoß Manuskripte, Arbeitsblätter, Zeicheninstrumente und dergleichen. Das Zeug sah aus, als hätte man es hastig zurückgeschoben, um Platz für die Lager zu machen, die die Sklaven eben herrichteten.
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Bulnes seufzte, als er sah, daß er sich einer Unbequemlichkeit unterwerfen mußte, der er bis jetzt entkommen war: der Sitte, wie ein Mann von Welt auf einem Lager liegend zu speisen. Als Flin ihn in die athenischen Sitten und Gebräuche eingeweiht hatte, hatte dieser sich auch ausgiebig über die Feinheiten eines athenischen Gastmahles verbreitert, bei denen Geist und Gesang wetteiferten, ganz zu schweigen von den anderen Köstlichkeiten. Dieses Essen jedoch erwies sich als viel einfacher. Meton schien bloß sein übliches bescheidenes Mahl, bestehend aus Fisch, Brot und ausgewählten Gemüsen, etwas gestreckt zu haben. Er nahm zusammen mit Sokrates das Lager am Kopf der Tafel ein. Statt gewichtige philosophische Fragen zu erörtern, quasselten sie über Sport, die hohen Lebenshaltungskosten und das Tun und Treiben ihrer gemeinsamen Bekannten, während ein zahmer Hausmarder an ihnen herumkletterte. Auf der anderen Seite erörterte Flin, der zusammen mit Anaxagoras das Lager teilte, die Frage, ob der Mond bewohnt sei, und überließ es Bulnes, seine Selleriestengel in einsamem Schweigen zu kauen. Das tat Bulnes denn auch. Unterbrochen wurde diese Idylle, als Anaxagoras sich mit einem Sklaven in einen Streit einließ, den er beschuldigte, ihm einen schlechteren Wein vorgesetzt zu haben als der übrigen Gesellschaft. Da sagte Bulnes zu Flin über den Tisch hinweg: »Wenigstens, mein lieber Wiyem, habe ich jetzt ein Volk entdeckt, das schlechter kocht als die Engländer!« »Unsinn. Wenigstens würzen die hier nicht alles mit Pfeffer, so wie man es in Spanien tut. Als ich von dort zurückkam, hätte ich neue Haut in der Mundhöhle dringend nötig gehabt.«
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»Und die Abwesenheit von Frauen erinnert mich an ein Heim Christlicher Junger Männer in Amerika …« »Worum geht es« fragte Meton. Flin antwortete dem Astronomen in dessen Sprache: »Tausendmal Vergebung, Herr. Wir haben Eure ausgezeichnete Küche gelobt.« Meton schnaubte. »Nichts Besonderes. Nur die Korinther und Barbaren leben für ihren Wanst.« »Genau«, sagte Bulnes. »So heilsam bescheiden in der Quantität und unverdorben in der Qualität! Keiner Eurer Gäste wird völlern, bis er zu einem nutzlosen Fettkloß geworden ist.« Sokrates fügte sentenziös hinzu: »Nichts im Übermaß! Wir wollen essen, um zu leben – nicht leben, um zu essen.« Meton warf Bulnes einen scharfen Blick zu, beschloß dann aber, die Bemerkung für bare Münze zu nehmen. »Na ja«, sagte er. »Wenn Ihr es so seht, dann bin ich froh, daß Ihr es zu würdigen wißt. Da Ihr uns aber für heute abend eine Aufgabe gestellt habt, werden wir nicht Zeit mit Dichtung oder Gesellschaftsspielen vergeuden. Zumal die Sterne bald am Himmel stehen werden, trinken wir noch eine Runde, und dann nichts wie hinauf aufs Dach.« Fun, der den Blick von Bulnes zu erhaschen suchte, wies mit dem Daumen auf die große Tür, die in den hinteren Teil des Hauses führte und durch die man die Speisen hereingebracht hatte. »Siehst du die Tür, Knut? Thalia könnte da hinten sein.« »Wir haben keine Möglichkeit, es festzustellen.« »Der Eingang zum Serail?« Flin nickte. »Es treibt mich zum Wahnsinn, wenn ich daran denke.« 103
Sie erklommen das Dach über eine Leiter. Bulnes war ein wenig beunruhigt, als er sah, wie auch Anaxagoras hinaufturnte, doch der alte Knochenhaufen erreichte das Dach ohne sichtbare Schwierigkeit. Das Dach selbst war flach und bestand aus getrockneten Ziegeln. Von hier aus konnte Bulnes den in Form einer Acht angelegten Grundriß des Hauses, mit seinen zwei offenen Innenhöfen und den kahlen Außenwänden, bewundern. Er ging an die Ecke, wo eine Anzahl primitiver astronomischer Instrumente stand: Visiereinrichtungen und Sehhilfen, die mehr oder weniger den Sternhöhemessern späterer Jahrhunderte glichen, wobei die Winkel als einfache Bruchteile eines Kreises markiert waren. Meton stellte eines dieser Instrumente zurecht. »Kommt, Bouleus«, sagte er. »Blickt an diesem Visier entlang. Seht Ihr jenen Stern, die Schwanzspitze des kleinen Bären? Und jenen, den hellsten im Drachenschwanz? Und den ihm nächstgelegenen im Sternbild Cepheus? Bewegt den Zeiger etwa ein Fünftel vom ersten zum zweiten Stern, und dann kommt Ihr dem gesuchten Punkt sehr nahe. Unglücklicherweise befindet sich in der Nähe der Stelle kein heller Stern…« »Wiyem – er ist noch immer in seiner normalen Position«, rief Bulnes auf Englisch. »Was meinst du damit?« »Ich meine damit, daß wir uns noch immer in unserem eigenen Jahrhundert befinden! Wären wir im fünften Jahrhundert vor Christus, dann wäre er – sehen wir mal nach – auf der anderen Seite des Alpha Ursae Minoirs, gegen Alpha Draconis hin. Hätte ich eine gute Sternkarte, könnte ich dir genau zeigen …« »Nein!« rief Flin. 104
»Sieh doch selbst!« »Ach laß das. Du weißt, ich bin in solchen Dingen völlig unwissend. Aber das kann doch nicht alles Humbug sein! Es wirkt zu echt!« »Da haben wir den Beweis! Wenigstens wird die Suche nach Thalia ein wenig aussichtsreicher.« »Was redet Ihr zwei?« wollte Meton wissen. Bulnes antwortete ganz ernst auf Griechisch: »Wisset, o Freunde, wir haben entdeckt, daß Athen einige hundert Stadien nördlich von Tartessos liegt. Wenn Anaxagoras die Südspitze Griechenlands auf denselben Breitengrad einzeichnet wie unsere Phaakenstadt, dann kommt er der Wahrheit sehr nahe.« Als sie sich mit Sokrates auf dem Heimweg befanden, sagte Bulnes: »Sokrates – hm – vielleicht könnt Ihr uns helfen?« »Auf welche Weise?« »Wie Ihr selbst, so finden auch wir, daß die vulgären Geldangelegenheiten oft der Suche nach höheren Wahrheiten in die Quere kommen. Um ehrlich zu sein: der Zehrpfennig, mit dem uns unsere Stadt ausgeschickt hat, schmilzt wie der Schnee im Lenz und – hm –« »Edle Herren«, sagte Sokrates, »wäre ich so reich wie Kallias, dann würde ich Euch nur zu gern helfen, aber so, wie die Dinge liegen …« »Das habe ich nicht gemeint. Wir haben ehrenhafte Methoden in Betracht gezogen, unsere Börsen aufzufüllen, bevor wir an unseren nächsten Bestimmungsort weiterziehen, und wir sind zu der Ansicht gelangt, daß wir uns vielleicht als Professoren, wie
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Protagoras, etablieren könnten, da einige von unseren wissenschaftlichen Ideen hier unbekannt zu sein scheinen …« »Und?« fragte Sokrates nun schon schärfer. »Wir dachten, Ihr würdet uns raten, wieviel man verlangen kann und wo man ein paar Schüler zusammenbekommen könnte…« »Ich? Ich, der ich seit Jahren die Prostituierung der Philosophie durch diese Hausierer beklage und lächerlich mache? Ich soll Euch helfen, diese Erniedrigung der göttlichen Fähigkeiten fortzusetzen? Gute Männer, man hat Euch falsch informiert…« »Vergebt uns, bitte«, sagte Bulnes. »Betrachten wir den Vorschlag als nicht ausgesprochen.« »Natürlich«, fuhr Sokrates fort, »da Ihr keine Athener seid, kann man nicht erwarten, daß Ihr an diese Dinge mit zivilisierten Ehrbegriffen herangeht. Ich rate Euch, Protagoras selbst aufzusuchen, der sehr wohl in der Lage ist, Euch zu beraten, wie man mit Leimruten Vögel fängt. Und hier trennen sich unsere Wege. Heil Euch!« Und damit ging er, wobei sein Bauch vor ihm herwackelte. »Ich fürchte, der ist jetzt sauer«, sagte Bulnes. »Aber was hätte ich denn sonst tun sollen?« »Verdammt«, sagte Flin. »Du hättest nicht mit der Tür ins Haus fallen sollen. Was tun wir jetzt?« Bulnes zuckte die Achseln. »Seinen Rat folgen und Protagoras fragen, nehme ich an.« 10
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Protagoras richtete sich zu seiner vollen Größe auf – er war etwa so groß wie Flin – und sagte: »Gute Männer, Ihr bittet mich, Euch zu helfen, damit Ihr mit mir in Wettbewerb treten und die Schüler haben könnt, die ich herangebildet habe – oder, ich sollte vielmehr sagen, die schließlich den Wert meiner Lehren nach so vielen Jahren der Nichtachtung erkannt haben. Und Ihr seid nicht einmal Hellenen, sondern Barbaren, deren Griechisch ich kaum verstehe! Seid Ihr verrückt? Schert Euch weg! Für Irre habe ich keine Zeit!« Einige der Schüler des Protagoras, die zusahen, machten die Sache noch qualvoller, indem sie hämische Bemerkungen beisteuerten. Bulnes hatte sich die Tirade mit hochgezogenen Brauen und einem Ausdruck milden Staunens angehört. Als alles vorbei war, warf er das lose Ende seines Himation über die Schulter und sagte: »Danke Euch, teurer Protagoras! Auch wenn Ihr unseren Bitten nicht nachkommt, habt Ihr uns doch eine wertvolle Lektion über die in Athen übliche Seelengröße erteilt. Komm, Philon!« Und mit einer Würde, die jene des Protagoras weit übertraf, wandte er ihm den Rücken und ging. Diesmal hatte er die Lacher auf seiner Seite. »Ihr Herren!« sagte eine leise Stimme. Ein junger Mann, der hinter einer der Säulen gesessen hatte, sprach Bulnes an. Er war etwa dreißig, mit struppigem jungen Bart und einem nervösen Lächeln um die Lippen. »Ist etwas?« fragte Bulnes. »Ja, falls Ihr – falls es Euch nichts ausmacht«, sagte der junge Mann. »Natürlich weiß ich, daß ich kein Recht habe, mich Euch aufzudrängen …« 107
»Kommt zur Sache, edler Herr«, sagte Bulnes. »Nun – hm – vergebt, aber ich habe den Wortwechsel mit Protagoras mitangehört. Nicht, daß ich etwas gegen den großen Protagoras sagen möchte, aber – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll –« Bulnes sagte: »Kommt, beginnt am Anfang. Keine Ursache, vor uns schüchtern zu sein.« »Das ist zu gütig von Euch. Was ich aber zu sagen versuche – falls Ihr die Tartessischen Philosophen seid und Schüler sucht – würdet Ihr mich in Erwägung ziehen? Natürlich weiß ich, daß Ihr Männer von Bedeutung seid, doch ich habe unter Protagoras und Leukipp studiert, habe sieben Jahre in Ägypten verbracht, so daß Ihr mich Eurer Mühe nicht ganz unwürdig finden werdet, wie ich hoffe.« »Nur zu gern«, sagte Bulnes, der seine Freude verbergen mußte. »Wenn Ihr mit uns in unser Quartier kommen wollt, werden wir die Bedingungen und die Zeit festlegen.« »Demokritos!« rief die Stimme des Protagoras hinter ihnen. »Bei Herakles, wo hast du dich herumgetrieben? Kein Mensch in Athen hat dich gesehen. Wann bist du gekommen?« »Oh«, sagte der junge Mann. »Wirklich, es tut mir leid, wenn ich Euch Ungelegenheiten bereitet habe, o Protagoras, doch ich wollte nicht in Eure unschätzbaren Vorlesungen hineinplatzen.« »Warum hast du dich nicht bei Sokrates oder Diogenes oder den anderen Kollegen sehen lassen?« Demokritos zeichnete mit der Sandalenspitze Muster in den Sand. »Ich – ich konnte mich ihnen doch nicht aufdrängen. Es sind gottähnliche Menschen, deren Ruhm…«
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»Unsinn! Du bist so weise wie alle anderen, auch wenn du versuchst, diese Tatsache zu verbergen. Was hast du mit diesen Tartessern zu schaffen?« »Ich dachte – das heißt – sie bieten Belehrung an und waren so freundlich, mich aufzunehmen.« »Der Falke lernt beim Küken fliegen! Nur, Fremdlinge, jedesmal wenn Ihr entdecken müßt, daß die griechische Sprache Eure Kräfte übersteigt, und falls Ihr mit mir das Honorar teilen wollt, das Ihr Demokrit entlockt, werde ich in Erwägung ziehen, Eurer Sprache den letzten Schliff zu geben. Schließlich habe ich als erster die Bestandteile der Sprache klassifiziert und die Regeln der Grammatik formuliert. In der Zwischenzeit – heil Euch!« Protagoras ging zu seinen Schülern zurück, während der strahlende Demokrit mit Bulnes und Flin wegging. Letzterer sagte: »Wir sollen Demokrit Wissen vermitteln? Daß ich nicht lache!« »Was ist dabei, wenn er zahlen kann?« »Das ist so, als ob man Newton oder Einstein belehren möchte. Dieser bescheidene Junge hat eines der genialsten Gehirne aller Zeiten!« »Mein lieber Wiyem, erst gestern abend haben wir erfahren, daß er überhaupt nicht Demokrit ist, sondern ein moderner Mensch, der –« »Nichts dergleichen! Vasil könnte ja einen Weg gefunden haben, die Zeit zu verschieben. Vielleicht hat er das Perikleische Griechenland in der Zeit vorverschoben, statt uns zurückzuversetzen! Das eine ist nicht unglaublicher als das andere!« »Du bist ein unverbesserlicher Rationalist, Wiyem. Persönlich war ich von beiden Versionen nie überzeugt. Ich halte das alles für einen aufgelegten Schwindel.« 109
»Aber nein! Das doch nicht! Vielleicht kennst du die Theorie von den gegeneinander versetzten Zeitlinien? Wir könnten in eine andere Zeitlinie geraten sein, die denselben Kurs folgt wie unsere eigene, aber dreitausend Jahre später. Diese Welt hat sich also erst bis zum Zeitalter des Perikles entwickelt, während unsere eigene …« »Wie's beliebt, Kamerad.« Bulnes wandte sich an den Griechen. »Mein Kollege und ich haben eben besprochen, welche Art Kurs wir Euch erteilen sollen. Vielleicht möchtet Ihr Vorlesungen über die tartessischen Theorien bezüglich Gestalt und Bewegung der Erde?« »Das wäre höchst aufregend.« »Oder über die Natur der Materie?« »Noch besser!« rief Demokrit und faßte zu Bulnes' Erstaunen nach seiner Hand und küßte sie. »Ihr Herren seid viel zu freundlich. Vielleicht wird es Euch auch interessieren, Eure Theorien mit jener zu vergleichen, die ich von meinem Meister Leukipp erhalten und an der ich ein paar geringfügige eigene Änderungen vorgenommen habe.« »Welche Theorie ist das?« »Ich nenne sie Atomtheorie, von den Atomen, winzigen unsichtbaren Teilchen, aus denen nach unserer Annahme alle Dinge bestehen. Es ist meine Auffassung, daß – während manche dieser Atome glatt sind und ungehindert aneinander vorbeikommen, wie in Flüssigkeiten – andere mit Haken ausgestattet sind, mittels derer sie sich zu soliden Massen verbinden, wie wir es bei den festen Stoffen sehen.«
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Später, als Demokrit gegangen war, sagte Fun: »Sieh mal Knut, es hat keinen Sinn, wenn wir uns beide in der Schenke aufhalten, während er da ist. Einer genügt für die Vorlesung.« »Du meinst also, du willst die Sache allein schaukeln?« »Nein, nein, im Gegenteil. Du lehrst, während ich meine Frau suche.« »Mach dich nicht lächerlich, Freund. Ich beherrsche doch die Sprache nicht ausreichend.« »Sicher kannst du es. Du kennst Neugriechisch und hast eine außerordentliche natürliche Begabung. Das muß zum Teil daran liegen, daß Spanisch dem Griechischen phonetisch ähnlich ist.« »Ach was! Ich kann vielleicht einen Laib Brot kaufen, aber eine Vorlesung über das Sonnen –« Fun sagte hastig. »Du bist völlig kompetent. Dir fehlt nur Selbstvertrauen, und das wirst du nie erwerben, wenn ich immer zur Stelle bin und übersetze. Wir gehen jetzt die Sache durch, und alles wird bestens klappen.« »Was hast du denn vor?« Wider sein besseres Urteil war Bulnes von der Schmeichelei Flins entwaffnet worden, der ansonsten eher mit Klagen und Kritik bei der Hand war. »Wir werden heute abend die zweite Vorlesung ausarbeiten, und morgen wirst du den Schüler übernehmen, während ich Thalia suche.« »Wie willst du das anfangen? Alle Frauen werden hierzulande unter Verschluß gehalten.« »So schlimm ist es nicht. Es gibt einige Anlässe, bei denen sie ausgehen: religiöse Zeremonien, von denen es sehr viele gibt, und zu Aufführungen von Tragödien. O Podokles!« »Ihr wünscht?« fragte der Wirt. 111
»Als wir Piräus verließen, wollte man eben die Dionysischen Tragödien spielen. Man hat uns gesagt, diese Stücke würden einige Tage darauf in Athen aufgeführt. Wann ist das?« Podokles überlegte und zählte an seinen Fingern ab. »Morgen ist der Siebente des Elaphebolion. Daher wird die erste Vorstellung übermorgen sein. Von Sophokles, wie ich höre.« »Werdet Ihr gehen?« »Ja, falls nichts dazwischenkommt, was meine Anwesenheit in der Schenke erfordert.« »Hättet Ihr etwas gegen einen Begleiter?« Podokles bedachte Flin mit einem seiner mißtrauischen Blicke. »Als Ausländer müßt Ihr Eintritt bezahlen.« »Ich weiß. Legen wir also ein Datum fest. Was geschieht morgen?« »Eine Sonderversammlung der Bürger, zur Ratifizierung des neuen Vertrages von Perikles. Ihr wißt, daß Ihr daran nicht teilnehmen könnt.« »Das hätten wir«, sagte Flin zu Bulnes. »Du hältst Vorlesung, und ich gehe auf Jagd. Du brauchst dir nichts draus zu machen, daß du das Stück versäumst. Du würdest es ziemlich verrückt finden, mit all den Masken und Konthurnen.« Obgleich sich Bulnes bewußt war, daß er der natürliche Führer des Zwiegespannes war, fühlte er sich ohne Flin verloren, als Demokritos zur Vorlesung erschien. Für jemanden, der die Sprache nur mangelhaft beherrschte, war es tröstlich, den kleinen Flin für den Fall des Steckenbleibens um sich zu haben.
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Demokritos schloß die Sitzung, indem er sagte: »Ehe ich gehe, Bouleus, dachte ich – ich … vielleicht würdet Ihr einen zweiten Schüler annehmen?« »Sicher. Wen?« »Kritias Kallaischros, den Sohn meines Hauswirtes. Als ich beim Proxenos, der für Besucher aus Abdera zuständig ist, das Quartieransuchen stellte, hat er es arrangiert, daß ich im Hause des Kallaischros Logis nehmen konnte.« »Klingt vielversprechend.« »Jedoch – es ist mir peinlich, es auszusprechen – da ist etwas… Ihr werdet meine Unverschämtheit verzeihen .,.« Bulnes seufzte. »Ich verzeihe alles im voraus, wenn Ihr nur endlich zur Sache kommen wollt…« »Da die Familie zu den reichsten in Athen gehört, würde es keinem von ihnen im Traum einfallen, eine Schenke zu betreten. Ihr müßt ins Haus des Kallaischros kommen.« »Einverstanden. Werdet Ihr mich morgen hinführen?« Demokritos sagte zu und ging sodann. Bald darauf kehrte Flin zurück. »Kritias Kallaischros?« fragte er, als Bulnes ihm die Neuigkeit berichtet hatte. »Das muß der »Kritias« aus Piatos Dialogen sein – ein Onkel oder Vetter des Plato. Brillant, aber in der Politik ein schrecklicher Hitzkopf. Jedenfalls ist er im Moment erst ein junger Mensch.« »Was war mit dir los?« fragte Bulnes. »Ich hatte ein denkwürdiges Erlebnis. Ich habe mit Perikles gesprochen!« »Erzähl! Was ist passiert?«
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Flin kaute an seiner Lippe und starrte ins Leere. »Verdammt! Obwohl ich wußte, in der Ekklesia würden keine Frauen sein – aber ansehen wollte ich sie mir –, bin ich hinüber zum Pnyx. Da ich keinen Bürgerpaß hatte, wollten mich die Skyther nicht einlassen, doch ich trieb mich in der Nähe des Eingangs herum und hörte viel von dem, was drinnen vorging. Perikles hat seinen Vertrag durchgebracht, obwohl die Demagogen einen Höllenaufruhr starteten, weil man Sparta nachgegeben hatte. Dann vertagte der Präsident der Versammlung die Sitzung, und alle kamen heraus. Unter den ersten fiel mir ein gutaussehender grauhaariger Mann auf. Ich hatte das Gefühl, ich hätte ihn schon irgendwo gesehen, und fragte mich, wie er ohne das Bartgestrüpp im Gesicht aussehen würde. Die anderen redeten gleichzeitig und gestikulierten, aber dieser eine war ganz still und zurückhaltend. Ein anderer streifte ihn im Vorbeigehen und rief, er habe die Interessen des Volkes verraten – und wenn nicht die Skyther gewesen wären, hatte es einen Tumult gegeben. Aus dem, was die anderen sagten, schloß ich, daß der würdige Mann Perikles war und der andere, ein dickliches Individuum, Kleon der Gerber, einer seiner Gegner vom linken Flügel. Ich nahm meinen Mut in beide Hände, trat vor ihn und sagte: ›Perikles Xanthipou, darf ich Euch auf ein Wort bitten?‹ ›Sprecht‹, sagte er. ›Man hat mir gesagt‹, sagte ich, ›daß eine Gruppe der radikalen Opposition plant, Euch durch Eure Freunde anzugreifen. Man wird gegen Anaxagoras, Phidias und Aspasia Anklage erheben.‹ Er sah mich von oben bis unten an und sagte: ›Wer bist du?‹ ›Philon von Tartessos‹, sagte ich. Er meinte: ›Für einen Fremden scheint Ihr gut informiert. Seid versichert, daß ich den aktuellen Affären auf der Spur bleibe.‹ Und damit ging er. Ich 114
fühlte mich reichlich albern. Dann strömte der Rest der Menge heraus, und ich wurde mitgerissen. Meine Gefühle waren ähnlich wie nach einem Rausschmiß. Ich hätte ihn mir zugänglicher vorgestellt. Ich kann einfach das Gefühl nicht loswerden, daß ich den Mann kenne. Verdammt, langsam glaube ich, daß du recht hast und daß hier alles bloß Maskerade ist. Ich könnte heulen, so enttäuscht bin ich.« »Kopf hoch, teurer Gefährte«, sagte Bulnes. »Angenommen, dies wäre das echte perikleische Athen: Selbst wenn du deine Thalia fändest, was würdest du dann tun? Wie würdest du in deine eigene Zeit zurückgelangen? Vorausgesetzt, du wünschst es dir.« »Das darfst du ruhig annehmen«, sagte Fun düster. »Ich habe vom perikleischen Athen genug gesehen – es reicht mir jedenfalls. Nicht einmal eine Zigarette –« Das Haus des Kallaischros erwies sich als größer und besser ausgestattet, als jenes des Meton, doch war es nach demselben Grundriß angelegt. Demokritos sagte zu Bulnes: »Das ist Euer neuer Schüler, Kritias, und das ist mein Gastgeber, der edle Kallaischros.« »Heil!« sagte Bulnes. »Dies ist ein großes Vergnügen.« »Wie gefällt Euch unsere veilchengekrönte Stadt?« fragte Kallaischros. »Großartig!« sagte Bulnes. »Auch die hiesigen Institutionen finde ich sehr fortschrittlich und interessant. Vielleicht könnten wir einige davon zum Vorteil von Tartessos bei uns einführen.« Kallaischros schnaubte: »Nicht, wenn Ihr wißt, was gut für Euch ist! Demokratie – pah!«
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»Das Regime des Perikles findet also nicht allgemeine Zustimmung?« »Dieser Mann im Odeion!« rief Kallaischros. »Warum einer, der in einer der besten Familien aufwuchs und dem alle Möglichkeiten offenstanden, zum Verräter an der eigenen Klasse werden konnte, um beim untersten unwissenden Pöbel Beliebtheit zu …« »Reg dich nicht auf, Vater«, sagte Kritias, ein flaumgesichtiger Jüngling mit einem Äffchen auf der Schulter. »Das schadet dir.« »… mit unseren heiligen Institutionen zu experimentieren, den Delischen Schatz für ein ausgefallenes Programm unnötiger öffentlicher Arbeiten zu vergeben …« »Vater!« Bulnes sagte: »Aber, Herr, man sollte meinen, daß Ihr als Eupatrid das neue Abkommen mit Sparta billigt?« »Den Vertrag billige ich. Das heißt aber nicht, daß ich seinem Verfasser verziehen habe. Wenn Perikles denkt, er könnte sich die Gunst der besseren Menschen durch Reue in letzter Minute erschleichen …« »Vater!« »Recht hast du, Sohn. Ich sollte an Politik nicht einmal denken, diese vulgäre Demagogie macht mich rasend. In meiner Jugend war das anders … Aber jetzt zu deinen Lektionen.« Bulnes fand, daß sich der Tag in die Länge zog. Während Demokritos – obgleich brillant – ein gehorsamer, bescheidener Schüler mit freundlichem Temperament war, entpuppte sich Kritias als Schüler ganz anderer Art. Er war ein überheblicher, streitsüchtiger, scharf züngiger Jüngling, dem es größtes Vergnügen bereitete, seinen Lehrer in Verlegenheit zu bringen. Als 116
Bulnes mit den Schwierigkeiten des klassischen Griechisch nicht mehr zurechtkam, sagte Kritias todernst zu seinem Affen: »Er verwechselt die Fallendungen wie ein milchtrinkender Barbar, ja?« Und der Affe schüttelte das Köpfchen, was auf griechisch Zustimmung bedeutete. Mittag, als die Lektion vorüber war, war Bulnes froh, wieder in der Schenke des Podokles zu sein, es sich auf der Bank bequem machen zu können und einen Krug Wein zum Essen zu trinken. Er fühlte sich schon leicht angeheitert, als ein schäbiger Jüngling eintrat. Bulnes kam er bekannt vor, doch konnte er ihn nirgends einordnen, ehe der Neuankömmling sich ihm näherte und ihn ansprach: »Mein Herr sendet mich …« »Ach, du bist Dromon, der Sklave des Sokrates?« »Das stimmt. Sokrates schickt mich, um Euch auszurichten, daß Euer Freund, der andere Tartesser, im ›Haus‹ ist.« »In welchem Haus?« »Im Desmoterion.« »Was ist das?« Dromon stieß einen Seufzer der Erregung aus. »Ein Ort, an dem Übeltäter vor ihrer Verurteilung festgehalten werden.« »Im Gefängnis?« Bulnes sprang auf. »Im Namen des Zeus – warum?« »Ich weiß es nicht. Er hat während der Aufführung Unruhe gestiftet, und die Skyther haben ihn abgeführt.« 11 Das bewußte ›Haus‹ stand am Nordende der Agora – ein kleiner, unauffälliger Ziegelbau, dessen Gelasse nach außen führten. 117
In einer dieser stinkenden Zellen saß Wiyem Flin, durch eine Fußfessel an die Wand gekettet. »Da bist du ja endlich!« rief er. »Wo zum Teufel hast du gesteckt? Ich sitze hier seit Stunden und bin fast verhungert!« »Tut mir leid«, sagte Bulnes. »Ich bin sofort gekommen, als ich von deinem Unglück hörte.« Er preßte die Zähne zusammen. »Warum hast du dich nicht auf die Suche gemacht, als ich nicht rechtzeitig nach der Vorstellung nach Hause kam? Und warum hast du nichts zu Essen mitgebracht?« »Bekommt ihr denn nichts?« »Natürlich nicht. Das weiß doch jeder Esel. Warum hast du nicht…« »Lieber Freund«, sagte Bulnes und sah den Kleinen kühl an. »Ich habe mein Bestes getan, und wenn du dich weiterhin wie ein Verrückter aufführst, werde ich gehen, bis du es dir anders überlegst.« Flin murmelte eine Entschuldigung. »Was ist diesmal passiert?« fragte Bulnes den Gefangenen. »Es war eigentlich nicht meine Schuld. Du hättest dasselbe getan, wenn du nicht ein so kaltblütiger…« »Zur Sache bitte!« »Verdammt. Ich ging mit Podokles zur Vorstellung der Äias und sah Thalia in der Frauenabteilung, so wie ich es mir gedacht hatte.« »Du hast sie gesehen?« »Ja! Irrtum ausgeschlossen.« »Bist du sicher, daß es die richtige Frau war?« »Ich werde doch nach elfjähriger Ehe meine Frau erkennen! Nach der Vorstellung lief ich zum Eingang und hielt Thalia auf, 118
als sie hinauswollte. ›Thalia‹, sagte ich, ›hier bin ich!‹ Sie sah mich verständnislos an und erwiderte auf altgriechisch, eine Sprache, die sie ja gar nicht beherrscht: ›Ouk' oida.‹ Also wiederholte ich meine Frage ebenfalls auf griechisch. Sie sagte: ›Ihr habt Euch geirrt. Ich heiße nicht Thalia.‹ ›Oh doch‹, sagte ich. ›Ich bin Melite, das Weib des Euripides Mnesarckou‹ sagte sie. ›Aus dem Weg! Hört auf, mich zu belästigen!‹ und sie wollte an mir vorbei. Da habe ich wohl den Kopf verloren und habe sie am Handgelenk gepackt. ›Thalia, kennst du deinen eigenen Ehemann nicht mehr?‹ Da hat sie um Hilfe geschrien. Als nächstes weiß ich nur, daß zwei Skyther mich packten und mich auf Geheiß eines großen Kerls mit mächtigem langen Bart hinausschleppten. Letzterer war Euripides selbst, wie es sich herausstellte – der große Stückeschreiber. Ein Gutes haben ja diese kleinen Städte. Man kommt überall rasch hin. Es können keine zehn Minuten vergangen sein, und die Schergen hatten mich den ganzen Weg vom Theater um die Akropolis herum zur Agora geschleppt, wo der Polemarchos die Urteile fällt. Wir mußten im Epiloukeion auf den Polemarchos warten, weil er sich wie die anderen Bürger das Stück angesehen hatte. Als er endlich kam, erstattete Euripides Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder dergleichen. Der Polemarchos fragte mich, ob ich etwas zu sagen hätte – und ich war in diesem Augenblick so durcheinander, daß ich nur stammeln konnte, Thalia wäre meine und nicht die Frau des Euripides. Was keinen Eindruck machte. Deswegen befahl der Polemarchos, mich bis zur Verhandlung festzunehmen und setzte die Kaution auf fünf Mnai fest. Was wirst du also unternehmen?«
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Bulnes wollte schon einen scharfen Satz formulieren, der ausdrücken sollte, wieso er für einen verdammten Narren überhaupt etwas tun solle, doch in seiner gewohnten Selbstbeherrschung hielt der Spanier es für besser, dies nicht laut zu sagen. »Fünf Mnai? Das sind fünfhundert Drachmen, was ungefähr fünfundsiebzig bis hundert Kronen in unserem Geld sind. Nicht übertrieben, nehme ich an, aber viel mehr, als ich habe.« »Warum bittest du nicht einen deiner Schüler um das Geld? Demokritos scheint mir gut betucht, und Kritias hat Geld wie Heu.« »Eine gute Idee, Kamerad. Sicher eine gute Idee.« »Wie hast du denn die Nachricht von meiner Festnehmung bekommen?« fragte Fun. »Sokrates hat mir seinen Sklaven mit der Neuigkeit geschickt.« »Hat er das? Verdammt anständig, wenn man bedenkt, wie wütend er auf uns war. Da hast du den echten Sokrates.« »So?« sagte Bulnes und hob skeptisch die Augenbraue. »Wir werden ja sehen. Inzwischen besorge ich dir etwas zum Beißen, und dann werde ich zusehen, wie ich die Kaution zusammenbekomme.« »Beeil dich«, sagte Flin. »Wenn man mir eins über den Kopf gibt und mich in den Barathron wirft, wird es einzig und allein deine Schuld sein. Und bitte, nicht diesen gräßlichen Brei… denk daran!« Bulnes, der sich fragte, womit er sich einen so ungeschickten Gefährten verdient hatte, ging lieber, als diesen Punkt weiter zu erörtern. Auf der Agora erstand er einen Laib Brot, ein Bündel Mischgemüse und ein billiges Gefäß samt Teller, um die Lebensmittel aufzubewahren. Das Gefäß füllte er an einem 120
öffentlichen Brunnen. Dann brachte er Flin das Essen, der es nach einigem Nasenrümpfen gierig verschlang. Sodann wanderte Bulnes zum Haus des Kallaischros und fragte nach Demokritos. Da weder Kallaischros, noch Kritias, noch Demokritos zu Hause waren, sagte der Diener: »Die jungen Leute sind zum Kynosarges gegangen. Kritias besucht gewöhnlich die Akademie, doch sind sie heute ins andere Gymnasion gegangen, da Demokritos kein athenischer Bürger ist.« Wieder machte sich Bulnes auf den Weg. Er stieß auf die Straße, die den flachen Sattel zwischen Areopag und Akropolis überquerte, und gelangte in den südlichen Teil der Stadt, den er bisher nicht kennengelernt hatte. Hätte er sich nicht immer wieder nach der Akropolis umgesehen, wäre er in dem Gewirr enger Gäßchen hoffnungslos verloren gewesen. Vor dem Diomeanischen Tor, nahe dem unvollendeten Olympeion, lag der Kynosarges, ein kleiner Park. Der Skythe vor dem Eingang untersuchte Bulnes auf Sklavenbrandmale und bedeutete ihm dann, einzutreten. Bulnes ging an einigen Altären vorüber und gelangte zu einem großen Geviert, auf dem sich eine Turnhalle und einige Säulenhallen befanden. Im und um das Geviert liefen, hüpften, rangen nackte Männer oder übten sich anderweitig. Bulnes, der Turnen für eine trübe Masche hielt, ging rasch vorüber, denn die Burschen gemahnten ihn daran, daß er bereits die Ansätze eines Bäuchleins, wie es die mittleren Jahre mit sich bringen, mit sich herumschleppte und es ihm an Zeit, Energie und Willenskraft mangelte, um dagegen anzukämpfen. Schließlich entdeckte er Demokritos inmitten einer Gruppe in einer der Säulenhallen. Der junge 121
Mann war in ein griechisches Schachspiel versunken und von einigen Kiebitzen umstanden. Demokritos sah auf: »Heil dir, mein teurer Bouleus! Gleich werde ich hier fertig sein – sobald ich die Steine dieses Mannes von der heiligen Linie abgedrängt habe.« Er machte einen Zug, und sein Gegner sagte: »Genug! Weg mit dir, Mann aus Abdera! Tyche ist zu gut zu dir!« Als die Gruppe sich auflöste, sagte eine Stimme: »Der tartessische Professor! Was können wir für Euch tun?« Es war Kritias, mit schmutzigem Gesicht und vor Öl glänzender Haut. »Wie würde Euch ein Würfelspiel gefallen? Kommt…« »Wenn Ihr gestattet, Ihr Herren«, sagte Bulnes. »Ich bin in ernsteren Geschäften hier. Mein Gefährte sitzt im Gefängnis.« Kritias lachte laut. »Das ist gut! Was hat er verbrochen? Hat er den Schatz der Athene Parthenon aufgebrochen? Hat er versucht, sich als Bürger auszugeben, in der Hoffnung, irgendwo billiger wegzukommen?« »Nicht so tragisch, aber immerhin sehr peinlich.« Und er gab die Geschichte zum besten, die er eigens dafür einstudiert hatte. »Als wir noch in Tartessos waren, hatte mein Freund Philon ein Weib, das er vergötterte. Doch an einem Tag des Schreckens plünderte eine karthagische Galeere die Küste nahe unserer Stadt, und auf der Jagd nach Sklaven raubten sie die Frau meines armen Freundes. Seither ist er in diesem Punkte ein wenig irr. Wenn er eine Frau sieht, von der er glaubt, sie sähe seinem Weib ähnlich, besteht er darauf, daß sie es ist, und erhebt entsprechende Ansprüche.« »Und er hat die Frau eines unsrer Mitbürger haben wollen?« fragte Kritias. 122
»Genau. Es geschah heute morgen bei der Aufführung. Das Opfer war die Frau des Euripides, des Stückeschreibers, der meinen Freund daraufhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen ließ.« »Das wird ihm eine Lehre sein«, sagte Kritias. Demokritos meinte: »Im Gegenteil, es beweist meinen Standpunkt, lieber Kritias. Sicher erinnerst du dich an meine Worte, daß in einem idealen Gemeinwesen Sklaverei nicht gestattet sein sollte?« »Unsinn!« sagte Kritias. »Wer sollte die Arbeiten tun, wenn es keine Sklaven gäbe? Wir natürlich – und daher hätten wir keine Zeit für Sport, Kunst, Wissenschaft und Literatur. Mit anderen Worten: keine Sklaven – keine Kultur.« »Aber es müßte etwas geben …« begann Demokritos. »Außerdem«, fuhr Kritias fort, »ist es nur logisch, daß wir Hellenen, die wir allein unter allen Völkern der Welt Kühnheit und Intelligenz vereinen, die dummen Nordländer und die feigen Südländer beherrschen. Ich will jedoch zugeben, daß in Einzelfällen, wie jenen unseres tartessischen Freundes, die Festnahme einer Person als unverdiente Härte erscheint. Aber was kann man machen?« Bulnes sagte: »Erstens würde er gegen eine Kaution von fünf Mnai, die ich nicht habe, freigelassen –« Demokritos und Kritias sahen einander an. Ersterer sagte: »Es tut mir leid, doch als ich die Reise nach Athen plante, habe ich mit einer so unerwarteten Ausgabe nicht gerechnet. Das liegt nur bei dir, o Kritias.« »Schließlich kennen wir die Tartesser nicht sehr gut!«
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»Ach, ich glaube, wir können Bouleus vertrauen. Er sollte mehr für seine Vorlesungen bekommen, damit sein Freund nicht in Unfreiheit schmachten muß.« »Das wäre nur gerecht«, sagte Kritias. »Wenn Ihr mich bei der morgigen Vorlesung erinnert, Bouleus, wird man Euch das Geld geben.« Bulnes sagte: »Ich danke Euch, meine teuren Freunde. Obwohl ich unbedingt vermeiden möchte, undankbar zu erscheinen – mein armer Gefährte sitzt mit einer Fessel am Fuß im Kerker, und dort wird er auch bleiben, bis die Kaution erlegt wird. Habt Ihr die Summe nicht etwa bei Euch?« »Mein Lieber«, sagte Kritias, »ich trage doch nicht das Familienvermögen auf dem Rücken herum, als Einladung für jeden Straßenräuber in Athen. Und da ich meine Übung hier nicht unterbrechen will, werdet Ihr wohl bis morgen warten müssen.« »Ich verstehe«, sagte Bulnes. »Vielleicht könnt Ihr mir raten, was ich als nächstes tun soll, da ich mit den hiesigen Gesetzen nicht vertraut bin?« Kritias sagte: »Ich würde sagen, die beste Möglichkeit wäre, den Kläger zu überreden, er möge seine Klage zurückziehen. Habt Ihr nicht gesagt, es wäre Euripides, der Dichter?« »Ja. Wo kann man ihn finden?« »Er hat ein Haus in Piräus, verbringt aber die meiste Zeit auf Salamis. Der Mann soll noch zurückgezogener leben als Timon. Gehabt Euch wohl!« und Kritias schlenderte mit einem Lied auf den Lippen davon. Die Sonne stand schon tief, als Bulnes an die Haustür des Euripides in Piräus klopfte. Für den Weg von Athen zum Hafen 124
hatte er eine Stunde gebraucht. Eine weitere Stunde, um das Haus durch Herumfragen zu finden, denn die meisten Straßen hatten keinen Namen, und an Hausnummern hatte man damals nicht im Traum gedacht. Der Versuchung, zum Hafen zu gehen und die Boote und Schiffe anzusehen, hatte er widerstanden. Als Jacht-Fan hatte er dafür naturgemäß viel mehr Interesse, als für säulengeschmückte griechische Tempel. Bulnes faßte den Vorsatz, einen Monat auf der Dagmar II zu verbringen, sich treiben zu lassen und nicht mehr als fünf Schritte auf einmal zu tun, sollte er jemals lebend hier herauskommen. Sollte er weiterhin in Athen bleiben müssen, würde er sich vielleicht eines Tages ein Pferd beschaffen – oder nein, das wohl kaum, ein Eselchen oder Maultier wäre schon angemessener. Außerdem hatte er noch nie auf irgendeinem Tier gesessen und wollte in einem Zeitalter ohne Steigbügel seine Reiterkarriere nicht gleich so hoch oben auf einem Pferderücken beginnen. Außerdem machte er sich Sorgen um Fun, der glatt überschnappen würde, falls er ihm nicht einen Erfolgsbericht mitbrachte. Bulnes konnte jedoch nicht seine Zeit damit vergeuden, indem er wieder zur Oikema zurücktrottete. Vielleicht würde eine Nacht im Kittchen dem kleinen Mann ganz gut tun, wie Kritias auf grobe Weise angedeutet hatte. Der Spion ging auf. »Nein, der Herr ist nicht da.« »Wann erwartest du ihn?« »Ich weiß nicht. Wer seid Ihr?« »Bouleus aus Tartessos.« »Was wollt Ihr?« »Ich hätte gern den bedauerlichen Zwischenfall von heute morgen bei den Dionysien besprochen.«
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»Ihr meint, den barbarischen Versuch, die Herrin zu entführen?« »Ja«, sagte Bulnes. »Ihr werdet später kommen müssen.« »Hör mal«, sagte Bulnes, »ich bin den ganzen Weg von Athen her zu Fuß gekommen. Darf ich nicht wenigstens hereinkommen und mich eine Weile ausruhen?« »Nein, ich kann während der Abwesenheit des Herrn niemanden einlassen. Entfernt Euch!« Bulnes wollte sich schon trollen, als er eine zänkische Stimme vernahm. Dann erschien das Gesicht desselben Sklaven wieder in dem Loch. »Die Herrin sagt, Ihr mögt eintreten.« Was soll das? dachte Bulnes. So sehr er ein Plätzchen zum Ausruhen geschätzt hätte, so wußte er doch, daß Männer, die während der Abwesenheit des Scheichs in einen dieser halborientalischen Harems eindrangen, dies sehr wahrscheinlich zu bereuen hatten. Andererseits war er so müde und hatte so aufgeschundene Füße, daß er auch die Hölle betreten hätte, falls der Teufel persönlich ihm die Tür geöffnet hätte. Die Herrin des Hauses erwartete ihn in der Adronitis. Bulnes sah sie sich genau an, als er näherkam: Es war Thalia! Eindeutig zu erkennen – trotz Chiton und Silberdiadem im schwarzen Haar – eine Frau Mitte dreißig, noch immer anziehend, auf üppige, vollerblühte Weise. Obwohl ihm in England Flins Frau nicht gerade mißfallen hatte, so hatte er doch nicht viel für sie übrig gehabt. Sie war recht intelligent, doch ein schwatzhaftes und redseliges Frauenzimmer – ganz entschieden der dominierende Teil des Gespannes. Eine kindische Person wie Flin aber brauchte zweifellos jemanden, der ihn beherrschte.
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Er sah ihr in die Augen, um einen Funken des Erkennens zu entdecken, sah aber keinen. Statt dessen bedachte sie ihn mit einem Handwinken – Handrücken nach außen – das hier die Stelle des Händedrückens einnahm. Sie sagte: »Heil, guter Bouleus! Euripides wird in etwa einer Stunde zurück sein. In der Zwischenzeit hat es keinen Sinn, daß Ihr in Piräus wandelt wie der Geist eines nicht begrabenen Leichnams. Sosias, bring einen Stuhl für den Herrn und ein Krüglein Wein. Seht sein Stirnrunzeln. Er glaubt, Eure Anwesenheit könnte mich kompromittieren. Mach dem Euages Beine, damit er die Fähre nach Salamis nimmt und dem Herrn meldet, es wäre Besuch da.« Sie wandte sich wieder an Bulnes. »Ich höre, Ihr seid wegen des anderen Tartessers gekommen, der mich heute morgen belästigt hat?« »Ja«, antwortete Bulnes und setzte sich dankbar. »War der Mann denn besessen, daß er sich so benommen hat? Sagt es mir, ich bin begierig, es zu hören. Ist er verrückt? Hat er es so eilig und kann die paar Tage bis zu den Aphrodisien nicht warten?« »Die erste Vermutung trifft fast ins Schwarze, Gnädigste«, sagte Bulnes und tischte Thalia-Melite dieselbe Geschichte auf, die er schon seinen Schülern vorgesetzt hatte. »Der Ärmste«, sagte sie. »Sicher wird Euripides unter diesen Umständen seine Klage zurückziehen. Mein Gatte hat ein gutes Herz, wenn es einem einmal gelingt, ihn lange genug von seinen Wolken herunterzuholen.« »Es heißt«, sagte Bulnes, »daß Euripides die meiste Zeit auf Salamis verbringt?« »Ja, der alte Mummelgreis! Jeden Morgen vor Tagesanbruch nehmen er und Kephisophon das Boot über den Kanal, begleitet 127
von einem Rudersklaven, und verbringen den ganzen Tag kritzelnd. Er behauptet, er könne in einem Haus voll Weiber, Kinder und Sklaven nicht arbeiten, was einfach lächerlich ist. Als ob seine verdammten Stücke wichtiger wären als sein Hausstand!« »Wer ist Kephisophon?« »Sein Sekretär. Dieser Euripides wird langsam eine Sehenswürdigkeit Athens, zusammen mit der Akropolis und dem Schiff des göttlichen Theseus. Man hat mir erzählt, die Fremdenführer hielten den Fremden folgende Rede: ›Und dort, meine Herrn, die Insel Salamis, Schauplatz der großen Seeschlacht gegen die hosentragenden Meder, mit der Grotte des bedeutenden Dichters Euripides. Wenn Sie ein paar Längen weiterrudern, sehen Sie Euripides selbst im Eingang, wie er zweifellos an einem erhabenen neuen Drama arbeitete Und wenn ich mich über Vernachlässigung beklage, sagte er: ›Ich tue das alles wirklich nur für dich, meine Liebe‹, was mich natürlich nicht im mindesten hinters Licht führen kann.« »Ein Mann, der ganz in seiner Arbeit aufgeht?« warf Bulnes ein. »Aufgeht! Er nimmt sich nicht einmal Zeit, Lebensmittel für das Haus zu besorgen, was sonst jeder Mann in Athen tut. Als Folge davon werden wir von den Sklaven nach Strich und Faden betrogen. Ich persönlich halte nichts von diesen attischen Sitten, aber man muß sich eben bis zu einem gewissen Grad anpassen.« »Ihr seid nicht aus Athen?« »Ja und nein. Meine Eltern waren Athener, deswegen werde ich als Bürgerin eingestuft, doch fiel mein Vater dem Scherbengericht zum Opfer und hat sein Exil im kargen Lazedämonien verbracht, wo ich aufgewachsen bin. Dort gelten Frauen als 128
Personen eigenen Rechts und nicht nur als Spielzeug, das man einsperrt, wenn man seiner nicht mehr bedarf.« »Das muß Euch als großer Kontrast erscheinen!« »Kontrast!« Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wie oft glaubte ich, ich würde verrückt. Warum glaubt Ihr, habe ich von den Dienern verlangt, Euch einzulassen? Danae in ihrem Turm kann kein unbefriedigenderes Los gehabt haben, eingeschlossen, ohne Gesellschaft, bis auf einen Ehemann, der so alt ist, daß er mein Vater sein könnte und gelegentliche Besuche von diesen langweiligen athenischen Damen – ich, die ich mich als junges Mädchen nackt wie ein Mann auf der Sportwiese getummelt und Ringkämpfe bestritten habe …« Während dieser Unterhaltung hatte sie ihren Stuhl immer näher herangeschoben und preßte nun sanft ihre Schenkel an seinen. Ihr Gesicht war gerötet, der Atem ging schnell, die Augen waren halb geschlossen, der Mund etwas geöffnet. Sämtliche Sklaven schienen auf einmal verschwunden. Bulnes Puls begann zu rasen… doch dann dachte er an die gewaltigen Komplikationen und entschloß sich, brav zu bleiben, dieses eine Mal wenigstens. Ein andermal… Er rückte steif ab und sagte: »Sagt mir, an welchem Werk arbeitet Euripides zur Zeit? Sein Ruhm ist bis ins ferne Tartessos gedrungen!« »Ach«, sagte sie mit einem Blick, der Bedauern darüber ausdrückte, daß sie diesem stocksteifen Ausländer so weit umsonst entgegengekommen war. »Irgendeine gewaltige Tetralogie – ich kann mir seine Stücke doch nie merken …« 12
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Die Tür zur Straße wurde geöffnet. Herein kam ein Mann, der so groß wie Bulnes war, mit buschigen Brauen, patriarchalischer Nase und einem ergrauenden Bart, der ihm bis zum Solarplexus wallte. Hinter ihm ein jüngerer Mann mit einem Bündel Papyrusrollen unter dem Arm. Dieser sah Bulnes mißtrauisch an, während der Ältere nicht beunruhigt schien. »Bouleus aus Tartessos? Bouleus? Kenn ich Euch, mein Teurer? Danke, Melite, du solltest aber lieber in die Frauengemächer gehen wie ein braves Mädchen. Wie war doch gleich Euer Name?« »Bouleus«, wiederholte er seinen Namen. »Ach ja, ich erinnere mich. O Ihr Schurke, Ihr seid der Barbar, der heute einen unziemlichen Aufruhr verursacht – aber nein, das kann nicht sein, weil Ihr groß seid und dünn wie ich, während der andere kurz und dick war wie Kephisophon. War er nicht auch aus Tartessos? Kennt Ihr ihn?« Bulnes brachte die einstudierte Geschichte vor. »Ach, so geht es eben. Da zeigt sich wieder das unergründliche Walten des Schicksals. Hätte Melite vergangene Woche keine Erkältung gehabt, so hätte sie sich das Stück hier im Theater angesehen, und ich hätte sie nicht nach Athen mitschleppen müssen. Wie habt Ihr von dem bedauerlichen Vorfall erfahren?« »Unser Freund Sokrates hat mir seinen Sklaven geschickt.« »Meint Ihr Sokrates Sophroniskos, den Philosophen?« »Ja.« »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Sokrates ist ein alter und geschätzter Freund, und jeder seiner Freunde ist willkommen. Was haltet Ihr von dem Stück?« 130
»Ich habe es nicht gesehen«, sagte Bulnes. »Ach ja – Ihr seid nicht der Mann, der die Aufführung besucht und meine Frau belästigt hat. Wie hat er geheißen? Philon von Tartessos? Ach ja. Ein wunderbarer Tragödiendichter, dieser Sophokles. Wir sind einander freundlich gesinnte Rivalen, müßt Ihr wissen. Er hatte die Güte gehabt zu sagen, ohne meine Teilnahme wäre es überhaupt kein richtiger Wettbewerb.« »Warum habt Ihr nicht teilgenommen?« »Ich habe meine Tetralogie nicht rechtzeitig zu ihrem Ende gebracht. Ich bin so schrecklich geistesabwesend, daß ich völlig vergessen habe, daß der Termin heuer sehr früh liegt.« »Wirklich?« sagte Bulnes, der heilfroh war, daß etwas vom Vortrag über das griechische Drama, den Wiyem Flin ihm gehalten hatte, bei ihm hängengeblieben war. »Handelt nicht eines der Stücke von der Zauberin Medea?« »Ja. Woher wißt Ihr das?« »Ich nehme es als wahrscheinlich an. Ich kenne ja den ungefähren Inhalt des Mythos. Er ist bis Tartessos gedrungen – so wie Euer Dichterruhm.« »Ja, Ihr seid ein literarisch gebildetes und zivilisiertes Volk. Ich hoffe, in der Medea zum Ausdruck zu bringen, daß auch Barbaren als Mitmenschen anzusehen sind. Dürfte ich Euch einige Stellen, die wir heute ausgearbeitet haben, vorlesen?« »Das wäre eine große Ehre.« »Sehr gut. Kephisophon – such die Stelle, wo Jason Medea anbietet, nach der Scheidung für sie zu sorgen! Ah, da ist sie ja.«
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Und der Dramatiker begann im Hof auf- und abzulaufen und unter Manuskriptschwenken und Mantelschwingen zu deklamieren: »O Friede! Genug der eitlen Kriege: ich bin ihrer leid, Willst nehmen du von dem, was ich besitze, Beistand für diese Kinder hier und seine Bedürftigkeit In der Verbannung, so sag dein Begehr. Hier stehe ich, Gewillt dir zu entsprechen …« Sein mächtiger Bart peitschte die Frühlingsluft. Alle Augenblicke lang wandte er sich an Bulnes: »Wie gefällt Euch das? Bulnes machte so gescheite Bemerkungen, wie es sein begrenztes Wissen gestattete, und schlug sogar ein oder zwei geringfügige Änderungen vor. Da kam ein Sklave aus den Frauengemächern und flüsterte Euripides etwas ins Ohr. »Ach – wieder habe ich es vergessen! Hippodamos kommt zum Abendmahl!« sagte der Poet. »Teurer Freund, mir gefällt es gar nicht, daß ich Euch so Hals über Kopf hinauswerfen muß, aber Ihr wißt ja, wie das ist. Da, nehmt ein Stück Manuskript zum Lesen mit. Euer Urteil würde mich interessieren, da Ihr in solchen Dingen wohlbewandert scheint.« »Danke«, sagte Bulnes. »Vergebt, aber…« »Ach ja, da war noch etwas. Was war es denn?« »Bezüglich meines Freundes im Kerker. Werdet Ihr die Klage zurückziehen?« »Gewiß, nun, da Ihr mir die Sache erklärt habt. Wie war doch gleich Ihre Erklärung? Na, egal. Laßt sehen – ich selbst gehe nicht so bald wieder nach Athen, doch ich werde morgen einen Brief aufsetzen und durch den Sklaven dem Polemarchos senden lassen. Erinnere mich daran, Kephisophon! Und jetzt
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lebt wohl, fremder Freund aus der Ferne. Versäumt nicht, mir Eure Meinung über das Stück mitzuteilen.« Bulnes trat hinaus auf die breite Straße und machte sich auf den Rückweg nach Athen. Die Rast hatte ihm neue Kräfte verliehen und wenn er jetzt bloß einen Happen Eßbares… Als er an der Hippodamianischen Agora vorbeikam, blieb er stehen und kaufte sich einen kleinen Wecken, eine Wurst (zum Henker mit der Trichinose, dachte er sich) und einen Schlag Senf. Damit schuf er sich etwas, was dem amerikanischen Hot Dog ähnelte, einen Imbiß, den er in jenem Land sehr schätzen gelernt hatte. Kauend nahm er seinen Marsch wieder auf, in der einen Hand das Brot, in der anderen die Manuskriptrolle. Die Wurst bestand meistenteils aus Blut und Eingeweiden, nicht schlecht, aber auch nicht sonderlich geschmackvoll. Er entrollte das Manuskript und hielt es im rosigen Licht der untergehenden Sonne hoch, um es zu lesen. Zum Henker, alle Worte ineinander verlaufend! Als ob das Griechische nicht schon mit getrennten Wörtern schwierig genug gewesen wäre! Trotzdem mußte er sich darüber hermachen, um die guten Beziehungen zu Euripides aufrechtzuerhalten … Er rollte das Manuskript zusammen, klemmte es unter den Arm und ging weiter, als ein Mann hinter einem Gebäude hervortrat, die Rolle unter Bulnes' Arm herausriß und damit davonlief. »He!« brüllte Bulnes. »Komm zurück!« Er merkte, daß er in seiner Aufregung Englisch gesprochen hatte, das ihm nach mehrjährigem Gebrauch geläufiger geworden war als Spanisch. Außerdem hatte er keinen Schimmer, was ›Haltet den Dieb‹ auf Griechisch hieß. 133
Er blickte um sich. Nicht ein einziger Skyther zu sehen. Polizisten waren doch allerorten und zu allen Zeiten gleich. Er lief dem Dieb nach, der um einige Ecken bog und seinen Verfolger fast abgeschüttelt hatte. Obwohl Bulnes kaum in der Verfassung für einen FünfMeilen-Lauf war, hielt ihn seine Wut über die Dreistigkeit des Schurken in Schwung. Überdies würde es ihn in große Verlegenheit bringen, das Verschwinden des Manuskriptes erklären zu sollen. Der Dieb war offensichtlich ein jüngerer Mensch, denn er lief zügig vor Bulnes auf der Straße nach Athen dahin. Jetzt plantschte er durch die Furt durch den Kephisos, wäre fast gestürzt, raffte sich aber wieder auf und kam hinkend auf der anderen Seite aus dem Wasser. Offenbar hatte er sich einen Knöchel verstaucht. Bulnes bedauerte nur, daß es nicht das Genick war. Die Jagd ging weiter. Beide gingen jetzt im Schrittempo. Sobald Bulnes' größere Beinlänge die Distanz verkürzte, verfiel der Dieb in hinkenden Laufschritt und vergrößerte den Abstand abermals. Auf diese Art humpelten, stolperten und keuchten sie auf Athen zu. Allmählich holte Bulnes trotz der Sprintversuche des anderen auf. Die Schmerzen im Knöchel mußten ihn ja halb umbringen, frohlockte Bulnes hämisch. Die Sterne gingen auf, Schakale kläfften über die attische Ebene, und noch immer war die Jagd im Gange. Der Dieb erreichte das Piräische Tor von Athen etwa fünfzig Meter vor Bulnes, dessen Hoffnung, die Wachen würden den Mann aufhalten, enttäuscht wurde. Sie hielten vielmehr Bulnes auf. »Was du tun?« fragte man ihn in gebrochenem Griechisch. »Tor für heute geschlossen.« 134
»Ich jage diesen Dieb! Kommt mit!« »Kein Dieb. Wer du? Vielleicht du Dieb?« Entweder waren sie fest entschlossen, sich dumm zu stellen, oder sie standen im Bunde mit dem Dieb. Bulnes merkte, daß einer der beiden seinen Bogen an die Mauer gelehnt hatte. Bulnes schnappte sich den Bogenstab. Wumm! krachte das Holz auf die skythischen Spitzmützen. Ein Bogenschütze setzte sich, der andere fiel auf Hände und Knie. Bulnes raste durch das andere Ende des Torbogens. Da er wußte, daß er nicht der gesamten athenischen Polizeitruppe entwischen konnte, schlüpfte er um die erste Ecke, warf den Bogen weg, drapierte seinen Umhang anders und ging denselben Weg zurück auf das Piräische Tor zu, wie irgendein beliebiger Spaziergänger, der sich des abends ergeht. Eine Gruppe Skyther lief vorbei, einander laut fragend, wohin sich der Schuft gewandt haben mochte. Er ließ sich von ihnen an eine Hauswand drängen, machte eine vage Geste als Antwort auf ihre Fragen und beobachtete, wie sie sich um die Ecken verteilten und verschwanden. Inzwischen hatte er die Spur des Diebes verloren. So klein die Stadt auch sein mochte, sie war doch groß genug, um einen Menschen in ihren gewundenen, stinkenden Gäßchen jenseits aller Möglichkeiten des Wiederfindens zu verbergen, besonders zur Nachtzeit. Bulnes schrieb das Manuskript als verloren ab und machte sich ermattet auf den Weg zur Agora. Er mußte für Flin noch eine Mahlzeit beschaffen, ehe er sich zur Ruhe begab. Er war nur einige Häuserblocks weiter gegangen, als er einen am Straßenrand im Schmutz sitzenden Mann erspähte, mit dem Rücken an die verzierte Hauswand gelehnt, von Erschöpfung 135
gezeichnet. Als Bulnes jedoch in Sicht kam, stemmte sich der Mann hoch, strich sich die Haare aus der Stirn und machte sich auf die Socken, ebenfalls in Richtung Agora. Er hinkte und trug eine Rolle Papyrus unter dem Arm. Obwohl es schon zu dunkel war, um auf diese Entfernung Gesichter zu erkennen, war Bulnes doch sicher, daß dies der Dieb sein mußte. Diesmal aber wollte er die Sache raffinierter angehen. Es mußte einen besonderen Grund dafür geben, daß dieser Mann die Rolle geklaut hatte. Es war keine Beute, auf die der Durchschnittsdieb aus war. Der Mann setzte seinen Weg zielstrebig in südöstlicher Richtung fort und kam dabei an der Agora vorbei, wo die Korbkioske für die Nacht zusammengeklappt worden waren. Am Südende der Agora angekommen, wandte er sich nach links dem Ostende der Akropolis zu, die vor Bulnes aufragte. Plötzlich gelangte der Mann zu einer kleinen Einfriedung, einem winzigen Park. Bulnes fiel der Tag ein, als Flin ihn überall auf der Akropolis herumgeschleppt hatte. Der kleine Lehrer hatte ihm diese Einfriedung als das Theseion, oder Gedenkstätte des Theseus, des sagenhaften Helden Athens, beschrieben. Er hätte Bulnes sogar hineingeschleppt, wenn dieser sich nicht mit seiner Müdigkeit entschuldigt hätte. Das Theseion war von einer dichten Hecke umgeben. Der Dieb humpelte ein Stück an dieser Hecke entlang und schlüpfte dann durch eine Öffnung im Gebüsch. Bulnes folgte ihm in sicherem Abstand und sah ihn in einem kleinen, zwischen Bäumen und Statuen gelegenen Gebäude verschwinden. Dieser Bau war die Gedenkstätte des Theseus: eine viereckige Konstruktion, an einer Seite offen, mit einer Säulenreihe vor dem Eingang. Bulnes lief auf Zehenspitzen zum Eingang und lugte um die Hausmauer ins Innere. 136
Drinnen konnte er undeutlich Wandgemälde ausmachen, einen Altar und eine primitive Kultstatue auf einem Sockel. Der Dieb wandte ihm den Rücken zu und blickte angestrengt auf den Boden hinter dem Altar. Mit einem Surren begann sich der Altar nach vorn zu neigen. Entlang der Basis wurde ein Lichtstreifen sichtbar. Der Altar schien auf einer Falltür befestigt zu sein, die sich nun öffnete. Er neigte sich nach vorn vor, bis er beinahe den Boden berührte und die Falltür offen stand. Der Dieb stieg hinein und lief eine Treppe hinunter. Eins – zwei – drei – nur mehr sein Oberkörper war zu sehen. Jetzt nur sein Kopf, dann nichts mehr. Der Altar begann sich wieder in seine frühere vertikale Stellung zu heben. Bulnes rannte zur Falltür. Er entdeckte eine Bewegung und hörte Bruchstücke einer Unterhaltung. Er war sicher, daß der Raum elektrisch beleuchtet war, aber von so gut abgeschirmten Lampen, daß er kaum etwas erkennen konnte. Verzweifelt dachte Bulnes daran, den Fuß in die Falltür zu stecken. Doch wenn die Tür maschinenbetrieben war, konnte sich die Wirkung auf den Fuß recht schmerzhaft auswirken. Und dann, kurz bevor der Lichtspalt verschwinden wollte, zog er seinen Dolch hervor und steckte den Griff zwischen die sich schließende Falltür und den Rahmen. Die Bewegung hielt mit einem knarrenden Geräusch inne, und der Theseusaltar blieb mit einem leichten Neigungswinkel stehen. Bulnes überlegte, daß es wahrscheinlich geheime Klopfzeichen oder Parolen geben mußte, mittels derer der Dieb – ein Dieb mit ziemlich guten Verbindungen – seine Ankunft angezeigt hatte.
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Er legte das Ohr an den Spalt. Von unten drangen noch immer Stimmen herauf. Er glaubte Englisch, gesprochen mit Akzent, zu hören. Bulnes lehnte die Schulter an den Altar und drückte. Zu seiner Verwunderung gab er nach. Nicht plötzlich, sondern nur zentimeterweise. Dabei drangen gedämpfte mechanische Geräusche unter seinen Füßen herauf. Sobald er jedoch losließ, wollte sich der Altar wieder aufrichten. Er stemmte sich mit voller Kraft dagegen. Der Altar senkte sich langsam nach vorn. Von unten drangen die Stimmen zweier Männer herauf: »… woher zum Teufel hätte ich denn das wissen sollen?« »Kannst du dich nicht an die Anweisungen erinnern?« »Für diesen Fall war nichts vorgesehen.« »Der Abteilungsleiter wird einen Mordswirbel machen.« »Aber er selbst war doch der Idiot, der wollte, daß ich um jeden Preis das blöde Manuskript klaue. Mir scheint, die wollen vergleichen …« Bulnes riskierte einen raschen Blick in die Tiefe. Einer der Männer stand am Fuß der Treppe, mit dem Rücken zu Bulnes. Diesmal waren ihm die Götter wirklich hold! Das Geschrei der Streitenden hatte das Geräusch des Öffnens der Falltür übertönt. Mit einer raschen Bewegung warf er sein Himation ab, hob das Messer vom Boden neben dem Türrahmen auf und sprang auf den unter ihm stehenden Mann hinab. 13
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Als seine Füße den Rücken des Mannes trafen, ließ Knut Bulnes seine rechte Faust mit dem Dolchgriff auf den Kopf des Kerls niedersausen. Das Griffende tat seine Wirkung – der Mann – er brach zusammen. Bulnes sprang beiseite. Federnd landete er auf dem Betonboden und hatte eben noch Zeit zu beobachten, daß der kleine Dieb in einen jonischen Chiton gekleidet war (im Prinzip ein großer Mehlsack mit Löchern für Arme und Kopf) während der Mann, den er niedergeschlagen hatte, eine blaue Drillichjacke trug, an der ein großes Namensschild mit Lichtbild steckte, dazu Arbeitshosen und einen Gürtel, in dem Schraubenzieher und ähnliche Werkzeuge steckten. Der kleinere Mann allerdings erforderte jetzt dringender seine Aufmerksamkeit, denn er hatte ein ähnliches Abzeichen, das er gerade anstecken wollte, fallen gelassen und ein Messer herausgezogen, das unter seinem Chiton am Schenkel befestigt gewesen war. Bulnes' Instinkte warnten ihn, auf keinen Fall zu verraten, daß er etwas anderes war als ein Hellene, darauf versessen, sein ihm gestohlenes Eigentum zurückzuerlangen. Dementsprechend sagte er in klassischem Griechisch: »Gib's her, du Dieb!« Gleichzeitig ging er mit stoßbereitem Messer vor. Der kleine Mann setzte sich in Bewegung, aber nicht auf Bulnes zu, sondern er wich seitlich in eine Ecke zurück, wo ein Bürosessel stand, ein Regal, auf dem ein Heftordner mit Papierbögen lag, daneben ein Durcheinander von Bleistiften, Büroklammern und dergleichen mehr. Darüber war ein Schaltbrett mit einem Mikrofon und vielen Knöpfen und Schaltern. Der Dieb hinkte in diese Ecke und hielt sich dabei Bulnes mit dem Dolch vom Leib. Bulnes vermutete, daß er die Absicht 139
hatte, auf einen Alarmknopf zu drücken. Mit einem katzenhaften Sprung sprang Bulnes vor das Schaltbrett. Der Dieb kam auf Bulnes zu, den Dolch ausgestreckt vor sich haltend wie ein Florett. Bulnes stieß den Unterarm des Mannes beiseite. Sein Gegner spießte sich auf Bulnes' Messer auf. Der Aufprall des Mannes stieß Bulnes' Arm zurück. Der Dieb fiel auf den Rücken, die Augen starrten blicklos ins Leere. Jetzt, dachte Bulnes, jetzt bin ich dran. Eine kurze Untersuchung zeigte ihm, daß der Kleine tot war, der Große aber jeden Augenblick wieder das Bewußtsein erlangen konnte. Bulnes nahm die Papyrusrolle und lief die Treppe hinauf, die er heruntergekommen war… und mußte feststellen, daß sich die Falltür wieder geschlossen hatte. Er legte die Hand an die Unterseite der Falltür und drückte nach oben. Kein Ergebnis! Stärker – noch immer nichts. Er dachte daran, daß es ja seiner ganzen Kraft und der größeren Hebelwirkung des Altars bedurft hatte, um sie zu öffnen. Wahrscheinlich hatte die Falltür einen automatischen Schließmechanismus. Er ging die Stufen wieder hinunter und untersuchte das Schaltbrett über dem Regal in der Ecke. Da gab es einen großen roten Knopf mit der Bezeichnung »Gen.Al.« – Generalalarm – und einige kleinere, die mit so geheimnisvollen Abkürzungen beschriftet waren wie »Kor« und »Tra«, und andere, die nur Nummern oder Buchstaben trugen. Ohne Gebrauchsanweisung ließ es sich unmöglich entscheiden, welcher Knopf den Mechanismus der Falltür einschaltete. Bulnes besah sich den Raum, der eigentlich eine Tunnelröhre war. Die Wände waren kahler Beton. Der Gang neigte sich leicht in eine Richtung. Dem Stuhl gegenüber stand ein langer 140
Spiegel und daneben zweigte ein Seitentunnel ab. In der anderen Richtung stand in wenigen Metern Entfernung in einer Mauernische ein Regal. Als Bulnes näherging, sah er, daß es ein Ständer für sechs Maschinenpistolen war. Die Waffen standen aufgereiht wie die Ehrenwache des Imperators. Die Griffe steckten in Schlitzen im Boden des Ständers, die Mündungen wiesen durch Löcher im Ständergestell nach oben. Die Waffen waren durch eine Stahlstange gesichert, die horizontal durch die Abzugsbügel gesteckt war. An einem Ende war die Stange in einem Loch an der Seite des Ständers befestigt, an der anderen Seite war sie durch ein Schloß gesichert. Vielleicht ließ sich mit dem Ständergestell als Ganzem etwas unternehmen. Als er sich dagegen stemmte, bewegte es sich leicht zur Seite. Es war schwer, aber nicht unbeweglich. Durch wiederholtes Stemmen rückte es Bulnes von der Wand ab, doch nicht so weit, daß die Kanten aus der Nische hervorragten. Dann ging er zurück zu den beiden Männern. Zunächst eignete er sich das Identitätsabzeichen des Toten an. Das Foto auf einem solchen Abzeichen wird von den Leuten nur selten mit dem Träger verglichen. Dann zog er dem toten Dieb den Chiton aus und schnitt ihn in Streifen. Damit knebelte er den anderen und fesselte ihn an Hand- und Fußgelenken. Bulnes zerrte den Burschen, der Anzeichen des Erwachens zeigte, bis ihn ein weiterer Hieb mit dem Messergriff betäubte, den Tunnel hinunter. Unter höchster Kraftanstrengung – der Mann war ebenso schwer wie er selbst – hob er ihn bis auf Schulterhöhe und stemmte ihn über den Waffenständer. Mit viel Gepolter fiel der Körper auf den Boden hinter dem Ständer. Dann ging Bulnes zurück, holte den nackten Leichnam des Diebes und warf ihn hinter dem ersten Opfer her. Zwischen Gewehrständer und Wand war nicht viel Platz, und Bulnes 141
mußte über den Ständer hinweg den Leichnam so zurechtrücken, daß er nicht zu sehen war. Schweratmend sah er sich um. Solange er hier festsaß, konnte er sich daran machen, ein wenig auf Entdeckung zu gehen. Er nahm das Manuskript des Euripides wieder an sich und lief tunnelabwärts. Gleich hinter dem Waffenständer machte der Tunnel eine Biegung, und hinter der Biegung stieß er auf eine weitere kleine Nische, in der zwei Elektroräder standen. Bulnes war versucht, eines auszuprobieren, doch die Zündschlösser waren versperrt. Sodann kam er an eine Kreuzung oder Gabelung. Kleine metallene, in die Wand eingelassene Wegweiser trugen Legenden in Code-Schrift: »A-64« und so ähnlich. Während des Weitergehens nahm er ein leises, entferntes Summen wahr. Der Tunnel machte eine Biegung. Ehe Bulnes es sich versah, stand er vor einer zweiten Falltür, ähnlich der, durch die er eingedrungen war. Am Fuß der Stufen befand sich ein braunhäutiger Kerl mit glattem schwarzen Haar, wahrscheinlich aus dem südlichen Asien stammend. Er saß an seinem Schaltpult und las in einem Magazin. Der Mann sah auf. Ihre Blicke begegneten einander. Bulnes verfluchte sein Zögern. Er hätte einfach vorbeihasten sollen. Jetzt aber verlangte sein Stehenbleiben eine Erklärung. Er überlegte hastig und sagte dann in seinem amerikanischesten Englisch: »Hör mal, Freund, ich habe mich ein wenig verfranzt. In welcher Richtung liegt das Büro des Abteilungsleiters?« An den Titel konnte er sich aus dem Gespräch zwischen Dieb und Wache am Eingang erinnern. Der Angesprochene antwortete mit Hindu-Akzent: »Ärste rächts – zweite links. Kurz vor dem Eingang zur Klima-Sub-Station.« »Danke, Kumpel«, sagte Bulnes und ging weiter. 142
Bald gelangte er an eine weitere Kreuzung. Er mußte zur Seite springen, um nicht von einem Mann auf einem Elektrorad überfahren zu werden. Der Mann trug Sandalen, die Kopfbedeckung und den Chlamys oder Reitermantel eines athenischen Epheben. Der Mantel flatterte hinter ihm her und ließ seinen Körper vorn unbedeckt, als er vorübersurrte. Eingedenk seiner Instruktionen, nahm Bulnes den rechten Tunnel. Das mechanische Summen wurde lauter. Immer mehr Männer kamen ihm entgegen, einige in Gewändern des klassischen Griechenland, andere in moderner Arbeitskleidung. An der nächsten Kreuzung wandte sich Bulnes nach links. Mehr Menschen, weitere Elektroräder, mehr Lärm und geheimnisvolle Zeichen. In den Tunnelwänden waren Türen. Bulnes merkte sich die Aufschriften: »9-E-401«, »Fai.Dip.« und schließlich »Sektor SIUP«. Bulnes spielte mit dem Gedanken, einfach hineinzugehen und seinen Papyrus einer Empfangsdame, einem Sekretär oder dem Aufsichtshabenden selbst – wer eben bereit war, ihn entgegenzunehmen – zu überreichen. Sofort verwarf er jedoch diesen Gedanken. Erstens, weil er das Dokument vielleicht doch dem Euripides zurückgeben wollte, zweitens, weil das Risiko zu groß war, daß jemand den Dieb persönlich kannte. Daher ging Knut Bulnes nach einer kleinen Pause weiter. Immer mehr Lärm, mehr Menschen – und dann eine offene Tür mit einer quergelegten Kette davor. Hier schien der Lärm am lautesten. Das Geräusch war ein mechanisches Klappern und Summen, wie in einer großen Telefonzentrale. Das Bild, das sich ihm bot, als er durch die Tür spähte, glich auch tatsächlich einem solchen Ort. Endlose Reihen von Schaltelementen, jede Reihe bis zur 143
hohen Decke reichend. Relais klickten, Lichter blitzten auf, und in diesem elektromechanischen Dschungel bewegten sich zwanglos einige Techniker, drückten da auf einen Knopf, dort auf einen Schalter oder starrten einfach kleine blinkende Lampen an. Bulnes, der durch sein Interesse für Dinge, die für die hier Beschäftigten ein alter Hut sein mußten, keine Aufmerksamkeit erregen wollte, ging an der offenen Tür vorbei. Er ging auch an einer zweiten, ähnlichen Tür vorbei, machte dann kehrt, ging zurück und sah lange durch jede dieser Türen. In seinem Kopf begann ein Bild Gestalt anzunehmen. Die Wissenschaftler vom Team des Imperators mußten eine Maschine erfunden haben, die die Menschen präparierte – daher der Name Präperator – jede programmierte Geschichte ihrer Identität zu glauben, desgleichen wann und wo sie ihr Leben lang gelebt hatten. Und dann hatte der Imp Griechenland in seinem perikleischen Zustand wieder aufgebaut (nachdem er zuerst alle echten Relikte der Antike in diesem Lande auseinandergenommen und versteckt hatte) und auf gleiche Weise einige Millionen Griechen in den Glauben versetzt, sie wären wirklich Sokrates, Perikles und so weiter. Er hatte die Typen mit Bedacht gewählt, so daß der Pseudo-Sokrates in jeder Hinsicht eine Zweitausgabe des echten war – richtiges Alter, Mentalität, Persönlichkeit, Erscheinung und so fort. Vasil hatte diesen unfreiwilligen Schauspielern eingegeben (etwa durch eine Art Super-Gehirnwäsche), sie verkörperten alle bekannten historischen Persönlichkeiten der fraglichen Zeit, nämlich der dreißiger Jahre des fünften Jahrhunderts vor der christlichen Zeitenrechnung.
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Überdies mußte er genügend andere Leute ebenfalls dieser Behandlung unterzogen haben, damit sie eine lebensechte, menschliche Umgebung lieferten – das richtige Verhältnis von Sklaven zu Freien, Arbeitern zu Aristokraten und so weiter – und das alles, um das Drama vom Goldenen Zeitalter Griechenlands neu zu inszenieren. Zweifellos steuerte der Computer, den er in dieser unterirdischen Anlage gesehen hatte, die Menschen, so daß sie sich weiterhin so verhielten, als lebten sie wirklich im alten Hellas. Das Tunnelsystem, das sich sehr wohl über ganz Griechenland erstrecken konnte, diente zur Aufrechterhaltung des Kontaktes zwischen den Marionetten auf der Oberfläche und den unsichtbaren Puppenspielern unten, die, wenn nötig, durch einen der Geheimgänge auftauchen konnten, unter den PseudoGriechen als ihresgleichen galten, Daten-Unterlagen sammelten und dann wieder zurückkehrten. Das war zweifellos der Grund für den Diebstahl des Manuskriptes des Euripides. Warum aber das Ganze? Vielleicht wollte man die vom Pseudo-Euripides verfaßte Medea mit dem Original vergleichen. War der Computer dazu bestimmt, die Wiederaufführung der gesamten Geschichte jener Periode zu erzwingen? Oder hatte Vasil das Stück bloß aufgezogen, wie es gewesen sein könnte, und ließ es von da an laufen, wie es seine menschlichen Marionetten spielen wollten? Im ersteren Fall würden sich die Verantwortlichen einer unmöglichen Aufgabe gegenübersehen. Das echte perikleische Zeitalter konnte nicht buchstabengetreu reproduziert werden, weil nur über einen Bruchteil der Bevölkerung historische Berichte vorlagen. In den meisten Fällen waren auch diese zu 145
oberflächlich, um eine genaue Neuorientierung des Individuums zu ermöglichen. Man durfte nicht hoffen, eine lebensechte Synthese eines Charakters von jemanden zu schaffen, der bei Plutarch mit nur einem Satz erwähnt wurde, ganz zu schweigen von dessen Eltern, Frau, Kindern, Sklaven und so weiter, die gelebt hatten und gestorben waren, ohne überhaupt eine Spur in der Geschichte hinterlassen zu haben. Daher mußte man mogeln: man stellt sich einfach vor, wie dieser und jener gewesen sein könnte, erfindet Milieu und Charakter und hofft das Beste. Was aber, wenn eines dieser umgekrempelten Wesen sich als begabter Mensch erwies, der es in seiner künstlich geschaffenen Welt auf eigene Faust zu etwas brachte, oder ein Verrückter, der einen der Hauptdarsteller ermordet? Was würde dann aus der perikleischen Geschichte werden? Nicht zu reden von der allgegenwärtigen Gefahr eines Unfalls. Wie konnte Perikles den Peloponnesischen Krieg beginnen, wenn er vorher an einem Schlangenbiß gestorben oder bei einem Zusammenstoß von Streitwagen getötet worden war? Es gab natürlich auch andere Möglichkeiten. Vielleicht gebot Vasil IX. über eine Möglichkeit, mittels der er tatsächlich das perikleische Hellas aus seinem richtigen Raum-Zeit-Rahmen herauslösen und in die moderne Welt übertragen konnte, wie Flin es behauptet hatte … Nein, das würde nicht hinhauen. Bulnes war sicher, daß Melite, die Frau des Euripides, Flins Thalia war. Oder war es möglich, daß der Imp ein Mittel besaß, das es ihm und seinen Leuten ermöglichte, zu beobachten, was tatsächlich in einer vergangenen Epoche geschehen war, ohne das echte Raum-Zeit-Gefüge zu stören – also eine Art ZeitFernsehen? Auf diese Art wäre es möglich, mittels eines 146
Riesenaufwandes an Detailarbeit den Lebensweg jedes echten Griechen des perikleischen Zeitalters von der Wiege bis zum Grabe nachzuvollziehen. Mit dieser Riesenmenge von Daten konnte man wenigstens theoretisch ein Pseudo-Hellas aufbauen, in dem jedes Individuum des echten Hellas von einem präparierten modernen Griechen dargestellt wurde. Dabei blieb aber eines im Dunklen: warum sollte Vasil ein so außergewöhnliches Unternehmen in Gang setzen? Es mußte sagenhaft kostspielig sein. Außerdem würde der Imp Ärger bekommen, da er die Rechte so vieler Menschen mit Füßen trat, indem er sie ohne ihre Einwilligung als Versuchskaninchen benutzt hatte – falls die gemäßigte Diktatur von Lenz eines Tages abgeschafft werden sollte. War es möglich, daß Vasil diese Neuinszenierung als ästhetisches Experiment veranstaltete? Bulnes dachte an die Gerüchte, daß Vasil, ein Anhänger kleiner und esoterischer Kulte, sich für die Reinkarnation verschiedener historischer Größen hielt: für Perikles, Heinrich IV. von Frankreich, Franklin Roosevelt aus den Vereinigten Staaten, Kenji Nogami von Japan … Sollte es hier klappen, würde er dann als nächstes die Geschichte Frankreichs im sechzehnten Jahrhundert oder die der Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert neu inszenieren?« 14 Bulnes rief sich ins Gedächtnis, daß das im Moment dringendere Problem für ihn darin bestand, an die Oberwelt zu entkommen, ehe seine Maskerade aufflog.
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Er ging also den Weg rasch zurück. Als er an jener Stelle angekommen war, wo er das Tunnelsystem betreten hatte, stieß er auf eine Gruppe von drei Menschen. Einer saß am Schaltbrett – ein rundgesichtiger slawischer Typ – während zwei andere, einer in Arbeitskleidung und einer mit Schirmmütze und Pistolentasche – Hinweis auf eine bestehende Sicherheitstruppe mit ersterem redeten. Alle drei drehten sich um, als Bulnes auf sie zukam. Der mit der Pistole sagte: »He, hast du Müller gesehen?« »Nein«, sagte Bulnes. »Was ist mit ihm?« »Das möchten wir ja eben wissen. Surkow wollte ihn ablösen und hat ihn nicht angetroffen. Falls er sich verdrückt hat, um einen zu heben, dann ist er seinen Job los.« Der andere sagte: »Ich glaube nicht, daß Manfred das tun würde. Er hält sich sehr gewissenhaft an die Vorschriften.« Bulnes überlief eine Gänsehaut, weil er wußte, daß Manfred Müller bloß einige Meter weit entfernt gefesselt hinter dem Waffenständer lag. Falls die anderen ihn nicht bald entdeckten, würde es ihm wahrscheinlich gelingen, den Knebel zu lockern und zu schreien. Bulnes fragte den am Schaltbrett: »Hat er denn nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen?« »Gar nichts. Nur seinen leeren Stuhl.« »Habt ihr in der Toilette nachgesehen?« fragte Bulnes. Der Posten sagte: »Ich habe meinen Kollegen eben hingeschickt.« In diesem Augenblick tauchte ein weiterer Mann im Tunnel auf, ein kräftiger Typ, in einen Himation gehüllt. Als er näherkam, sagte Surkow: »Hallo, Pierre!« 148
»Hallo!« Pierre nahm sein Erkennungszeichen ab und legte es auf das Regal unter dem Schaltbrett. »Was soll das alles? Ist ein Präparierter in den Tunnel geraten?« »Müller ist verschwunden«, sagte Surkow und reichte Pierre die Mappe vom Regal. Pierre unterschrieb einen Bogen, betrachtete sich gründlich im großen Spiegel an der Wand, ordnete seinen Himation und schickte sich an, die Treppe hinaufzugehen. Surkow griff nach den Kontrollknöpfen. »He, komm zurück!« sagte der Sicherheitsmann. »Surkow, du wirfst einen viel zu flüchtigen Blick auf das Foto auf dem Abzeichen. Dieser Mann könnte jeder x-beliebige andere gewesen sein.« »Nein, könnte er nicht. Ich kenne ihn. Ich spiele oft Karten mit ihm.« Er hielt dem Sicherheitsmann das Abzeichen unter die Nase und drückte auf einen Knopf. Mit leisem Motorsummen begann sich die Falltür zu öffnen. Bulnes hatte geplant, seine Erkennungsmarke abzugeben und ebenso gelassen hinauszumarschieren, im Vertrauen auf die menschliche Schwäche, die bewirkt, daß alle Sicherheitsmaßnahmen bei ständiger Anwendung lax gehandhabt werden. Da aber ein Wachtposten da war und man wußte, daß Surkows Vorgänger etwas zugestoßen war, würde sicher jemand die Erkennungsmarke des Diebes genauer ansehen, die jetzt an Bulnes' Chiton steckte, und sie würden merken, daß das Foto dem Träger des Abzeichens gar nicht ähnlich sah. »Bis auf später«, sagte Bulnes und ging mit übertrieben zur Schau getragener Zwanglosigkeit in den Tunnel, der neben dem Spiegel abzweigte.
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Erst als er gut hundert Meter zurückgelegt hatte, wagte er, sich umzusehen. Doch da verbarg die Biegung im Tunnel bereits die Sicht auf das Trio an der Treppe. Es ging ziemlich steil nach oben. Jetzt mußte er sich schon über der Erdoberfläche befinden. Bulnes versuchte sich zu orientieren, mußte aber feststellen, daß er jegliche Orientierung zur Oberfläche verloren hatte. Nach der Höhe zu schließen, mußte der Tunnel entweder innerhalb der Akropolis oder des Areopags oder des Berges Lykabettos ansteigen. Schließlich endete der Gang an einer Treppe mit einer Nische, neben der ein Mann an einem Schaltbrett stand. Die Situation war also sehr ähnlich jener an der anderen Falltür, durch die Bulnes das Tunnelsystem betreten hatte. Bulnes ging kühn auf den Mann zu und nahm sein Erkennungsabzeichen im Gehen ab. Er legte es auf das Regal und streckte die Hand nach dem Schreibstift aus, um den Registrierbogen zu unterschreiben, noch ehe der Mann danach gegriffen hatte. Er schrieb »John White«, legte den Stift weg und wollte wortlos die Treppe hinaufgehen, als vertraue er darauf, daß der Türöffner den Knopf zum Öffnen der Tür auch betätigen würde. Der Mann streckte die Hand nach den Knöpfen aus, zögerte dann aber. »He«, sagte er. Bulnes blieb stehen und sah sich um. »Ja?« »Du hast den Schlüssel vergessen.« »Ach, entschuldige.« Obgleich Bulnes nicht wußte, wozu der Schlüssel dienen sollte, ging er die Stufen mit ausgestreckter Hand wieder hinunter. Der Mann übergab ihm einen großen Bronzegegenstand mit langem, gebogenem Bart, einer Sichel ähnlicher als einem Schlüssel. 150
Bulnes bedankte sich und ging wieder die Stufen hinauf. Die Falltür öffnete sich. Bulnes blieb stehen, bis sie fast ganz geöffnet war, stieg dann höher und steckte den Kopf in die Dunkelheit hinaus. In diesem Augenblick ertönte schrill eine Alarmglocke. »He!« rief der Türöffner wieder. Aber Bulnes ging weiter. »Zurück!« rief der Mann und langte nach dem Knopf. Mit leicht geänderten Summton begann sich die Tür wieder zu schließen. Ein Blick zeigte Bulnes, daß der Mann in einer offenen Lade suchte – zweifellos nach einer Waffe. Bulnes schwang den Bronzeschlüssel in der Hand und schleuderte ihn dem Mann an den Kopf. Der schwere Gegenstand prallte vom Schädel des Mannes ab. Als der Schlüssel zu Boden fiel und der Mann umzusinken begann, drehte sich Bulnes um. Er übersprang die letzten drei Stufen mit einem Satz hinauf und hechtete durch die Öffnung hinaus. Die Falltür berührte seine Fersen und schloß sich mit einem dumpfen Aufprall. Von der plötzlichen Dunkelheit überrascht, stieß Bulnes mit dem Schienbein gegen einen Gegenstand. Leise fluchend tastete er sich weiter. Er befand sich in einem großen, mit allen Arten von Möbeln und Gegenständen angefüllten Raum. Er erwartete, daß sich jeden Augenblick die Falltür öffnen und Männer mit Waffen herausstürmen würden. Daß er den Schlüssel als Wurfgeschoß verwendet hatte, war ihm zunächst wie ein Geistesblitz erschienen. Sollte sich jedoch dieser Raum als von außen verschlossen erweisen, dann würde es sich als eine Riesendummheit herausstellen.
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Sich zwischen den Hindernissen hindurchtastend, stieß er schließlich auf eine Wand und ging an ihr weiter. Er erreichte ihr Ende, stieß sich den Kopf an einer Bronze-Statue an, drehte sich um neunzig Grad und ging längs der nächsten Wand weiter, bis er an eine Tür kam. Und was für eine Tür! Ein riesiges Bronzeding, so breit wie seine beiden ausgestreckten Arme und überdies aus zwei Flügeln. Die Tür war versperrt. Innen war ein großer Riegel. Er zerrte an dem Riegel und dann an der Tür selbst. Die riesigen Flügel schwangen leise nach innen auf. Bulnes stand jetzt einer Reihe kleiner dorischer Säulen gegenüber, die durch Metallgeländer verbunden waren. Dahinter befand sich eine größere Säulenreihe. Vor ihm, etwas weiter rechts, ragte die Statue der Athene Promachos zu den Sternen auf, gekrönt von dem mit einem Dreikamm gezierten Helm. Jetzt wußte er, wo er sich befand – im Säulengang an der Westoder Rückseite des Parthenon. Der Raum, durch den er aus dem Tunnelsystem entwichen war, war ein Lagerraum, der das hintere Drittel des Baues einnahm. Dieser Raum – so hatte ihm Fun erklärt – sei das eigentliche Parthenon. Der Tempel als Ganzes hieß eigentlich das Neue Hekatompedon. Bulnes drehte sich um, drückte die großen Torflügel zu, lief zu dem Bronzegeländer und kletterte hinüber. Er lief die Stufen am Ende des Parthenon hinunter und raste auf die Propyleia zu, wobei er im Sternenlicht den Kunstwerken auswich. Er hatte fast sein Ziel erreicht, als sich vor ihm aus dem Säulenwald eine tiefe Stimme mit skythischem Akzent erhob: »Wer da?« Verdammte Skyther! Bulnes duckte sich hinter eine Statue und wartete, wobei er Augen und Ohren offenhielt. Auf dem 152
Marmor trampelten Stiefel. Kriechend legte er den Weg, den er gekommen war, zurück. Jeden Augenblick konnten die Hintertüren des Parthenon aufschwingen und weitere Feinde ausspeien. Genau vor sich erkannte Bulnes eine Statue, auf die Fun seine Aufmerksamkeit während der Besichtigung gelenkt hatte. Es war die Bronzeathene Myrons, eine schlanke, mädchenhafte Göttin, die eher Bulnes' Geschmack entsprach, als die üppige kolossale Promachos des Phidias. Soweit sich Bulnes an den Vortrag seines Kollegen erinnern konnte, war diese Statue ein Teil eines Doppelmonuments. Die zweite, noch nicht aufgestellte, sollte die des Satyrs Marsyas sein. Die Basis für Marsyas stand schon da, doch der Satyr selbst fehlte noch. Da Bulnes die skythischen Bogenschützen hinter sich hatte und die Marionettenlenker im Parthenon vor sich, griff er zu einer verzweifelten Notlösung. Er zog den Chiton aus, wickelte ihn um den Papyrus und warf das Bündel weg. Dann erstieg er nackt das Piedestal für die Statue des Marsyas und nahm eine statuenhafte Pose ein. Die Torflügel des Parthenon gingen auf, und eine kleine Gruppe Männer stürzte heraus. Aus den Augenwinkeln spähend, konnte Bulnes erkennen, daß sie mit Chitons bekleidet waren. Sie verteilten sich planmäßig. Einer ging knapp hinter Bulnes vorüber, und er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht den Kopf zu wenden. Wieder kam aus der Richtung der Propyleia die Stimme des skythischen Bogenschützen. Jemand ließ eine Pfeife trillern. Die chitongekleideten Männer liefen zum Parthon zurück. In Sekundenschnelle waren alle drinnen, und das Tor schloß sich wieder.
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Diesmal näherte sich der Skyther mit Entschlossenheit und rief: »Wer da? Wer bist du! Ich kann dich sehen! Komm heraus, du Dieb!« Bulnes rührte sich nicht, als der Kerl keine zehn Meter entfernt an ihm vorbeistrich. Der Polizist setzte seinen Weg zum Westende des Parthenon fort. Er suchte im Säulengang herum, wie ein williger, aber nicht allzu intelligenter Wachhund, und ging dann zur Propyleia zurück. Bulnes fluchte leise und wartete noch ein paar Minuten. Das Wetterleuchten eines Hitzegewitters ließ den Horizont aufleuchten. Als der Skythe sich nicht mehr zeigte und das Tor des Parthenon geschlossen blieb, sprang Bulnes vom Piedestal, zog sein Hemd an, rollte den verdrückten Papyrus zusammen und lief zur Nordseite der Akropolis. Flin hatte erwähnt, daß an dieser Stelle eine Treppe den Berg hinunterführte. Es bedurfte einer Stunde intensiven, schweißgebadeten Suchens, ehe er die Treppe fand. Sie war hinter einer Abschirmung aus Gebüsch und architektonischem Schnickschnack verborgen, so daß kein Mensch ihr Vorhandensein vermutet hätte. Die Stiege führte nicht an der Außenseite des Berges entlang, sondern längs eines Einschnittes, der die gesamte Nordseite der Akropolis von der Hauptmasse des Felsen trennte. Die Treppe führte durch den Spalt zwischen dieser kolossalen Felsplatte und dem massiven Teil des Blocks. Bulnes mußte sich Schritt für Schritt in fast völliger Finsternis weitertasten. Seiner Ansicht nach näherte er sich jenen Höhlen an der Nordseite der Akropolis, die Fun ihm gezeigt hatte. Er bewegte sich in einem solchen Schneckentempo, daß er für hundert Meter fast eine halbe Stunde brauchte.
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Zuletzt wurde die Treppe flacher, die Stufen wurden immer niedriger, bis er endlich einen Pfad am unteren Ende der Kluft erreichte. Nach weiteren langen Minuten des Dahintastens sah er vor sich einen Lichtschimmer: gelbes Lampenlicht, falls ihn seine Augen nicht trogen, dazu Stimmengewirr. Hin und wieder verengte sich die Kluft so sehr, daß er sich durch den Spalt zwängen mußte. Die Stimmen wurden lauter. Bulnes stand jetzt im Hintergrund einer Höhle – ohne Zweifel eine jener Höhlen, die er von unten gesehen hatte. Eigentlich war es eine Doppelhöhle, da je zwei Höhlen einen gemeinsamen Zugang hatten. Licht und Stimmen kamen aus der anderen Höhle, die man infolge eines Felsvorsprunges, der die Höhlen teilte, nicht sehen konnte. Am Höhleneingang gab es Bewegung. Ein Mann im langen Chiton kam um den Felsvorsprung auf Bulnes zu. Dieser zog sich in seinen Tunnel zurück. Der Mann kam näher, aber nicht auf Bulnes zu, sondern ging nach links. An der Höhlenwand angekommen, zog der Mann einen Vorhang beiseite und zwängte sich in ein im Fels befindliches Loch. Der Vorhang fiel wieder zu und war zwischen den Vorsprüngen und Zacken der Felswand kaum auszumachen. Als der Mann nicht mehr auftauchte, schlich Bulnes vorsichtig zum Höhleneingang vor, von wo aus er die Vorgänge beobachten konnte. In der anderen Höhle befand sich ein Altar, vor dem ein Priester stand. Auf dem Altar schwelte ein Feuer. Auf einem ebenerdigen Sims entlang der Felsenwand stand eine Reihe von Männern. Offenbar Bittsteller oder Andächtige. Der Priester hob die Arme zum Segen und sprach ein Gebet. Als er fertig war, sagte er: »Ihr dürft Fragen stellen.«
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Der erste in der Reihe streckte die Arme mit nach oben gerichteten Handflächen aus und rief laut: »Otototoi, Theoi, Ge! Appollon! Appollon!« Nachdem er die Rufe dreimal wiederholt hatte, erklang eine hohle, menschenunähnliche Stimme aus dem Hintergrund der Höhle. »Hier bin ich, o Mensch! Sprich!« Bulnes fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als die Stimme erklang, erkannte dann jedoch sofort, was in Wahrheit dahintersteckte. Der Bittsteller fuhr fort: »O Abwender des Übels, sag mir, was soll ich tun, damit mein Weib empfängt?« »Sie soll drei Senfsamenkörner schlucken, während sie bei Mondaufgang in der nächsten Vollmondnacht nach Osten blickt. Und du sollst zehn Drachmen an den Priester dieses Apolloschreins zahlen! Der nächste!« Der nächste wollte wissen, ob die Geschäftsreise, in die er acht Mnai investiert hatte, erfolgreich sein würde, und so fort. Bulnes grinste, als ihm klar wurde, warum sich der andere Priester durch das Loch im Hintergrund der Höhle verdrückt hatte. Diese Methode, das Volk von Athen zu melken, brachte Bulnes auf eine Idee. Schließlich brauchte der Gott Apollo nicht immer vom gleichen Mann dargestellt zu werden … Er wartete, bis der letzte Fragesteller seine Antwort bekommen, sein Schärflein entrichtet hatte und gegangen war, und bis die zwei Priester ihre Höhle aufgeräumt, das Geld gezählt, die Lampen gelöscht und sich ebenfalls getrollt hatten. Dann kam Bulnes aus seinem Versteck und tastete sich auf dem Sims entlang, bis er den Nordflügel der Propyleia erreicht hatte. Von dort stahl er sich treppabwärts und nach Hause. Der arme Flin
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mußte es heute ohne Abendbrot aushalten. Es war unmöglich, so spät noch Essen zu besorgen. Bulnes taumelte todmüde in die Schenke des Podokles, beruhigte den knurrenden Hund und schlief ein, kaum daß sein Kopf den Strohsack berührt hatte. 15 Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Fliegen und der Lärm von Athen Knut Bulnes endlich weckten. Er öffnete die Augen. Da er sofort merkte, daß er sich zu seiner Vorlesung verspätet hatte, sprang er erschrocken auf. Der Mangel an Nahrung hatte bewirkt, daß er einen leichten Kopf hatte. Er würde nicht mal Zeit haben, den armen Wiyen zu füttern, wollte er nicht die Chance aufs Spiel setzen, von Kritias die Kaution zu bekommen. Eines hatte die athenische Lebensweise für sich: Es gab kein langweiliges Waschen und Rasieren, kein Suchen nach sauberen Socken in aller Herrgottsfrüh. Seinen Chiton hatte er bereits an, und er sah sich nach seinem Himation um. Da fiel ihm ein, daß er das Ding gestern abend im Theseion abgelegt hatte, bevor er durch die Falltür gestiegen war. Bulnes hatte vom kulturellen Leben Athens so viel mitbekommen um zu wissen, daß er ohne Umhang nicht als Philosoph auftreten konnte. Er mußte sich daher einen beschaffen, auch wenn es ihn das Frühstück kosten würde. Von Podokles erfuhr er die Adresse eines Webers – etwas wie einen Schneider gab es in Athen nicht – und eilte eine halbe Stunde später mit einem zweiten zweimal vier Meter langen Stoffrechteck, das seine schlaksige Figur umhüllte, zum Haus des Kallaischros. 157
Kritias sagte: »Wo wart Ihr? Wir haben den halben Morgen gewartet! Was seid Ihr für ein Lehrer?« Bulnes brachte seine Entschuldigung vor und ergänzte sie mit der Lüge, daß er seinen armen Freund Philon, der in der Oikema vermodere, hätte füttern müssen. »Da wir gerade davon sprechen, edle Herren«, fuhr er fort. »Ich glaube, wir sind gestern übereingekommen, daß der edle Kritias das Geld für die Kaution zur Freilassung meines Freundes stellt.« Kritias machte ein unwissendes Gesicht. »Ich kann mich an nichts dergleichen entsinnen. Gewiß, Ihr habt so etwas in dieser Richtung erwähnt, doch wir erklärten, daß wir beide nicht in der Lage wären, Euch zu helfen. Ist es nicht so, Demokritos?« »Nein! Wahrhaftig, Kritias, du hast Bouleus das Geld fest versprochen. Nein, blinzle mir nicht zu. Da dieser Mann mit mir ehrlich verfährt, möchte ich, daß auch andere ehrlich mit ihm umgehen!« Bulnes hätte Demokritos umarmen mögen, nur wäre im klassischen Griechenland eine solche Geste falsch verstanden worden. Brummend ging Kritias hinaus und kam sofort mit einem klirrenden Sack zurück. »Streckt Eure Hände aus«, sagte er und fing an, die Silbermünzen zu zählen, die meisten gewichtige Zehn-Drachmen, so groß wie eine moderne Silberkrone, nur viel schwerer. »Vierhundertsiebzig, achtzig, vierundachtzig, achtundachtzig, neunundachtzig, neunzig, fünfhundert Drachmen«, sagte er. »Beim Hund, habt Ihr denn keinen Beutel mitgebracht?« Bulnes stand mit ausgestreckten Händen da. Darauf lag das Geld, und noch mehr Münzen lagen verstreut zu seinen Füßen.
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An die Nachteile des Fehlens von Papiergeld und Schecks für große Summen hatte er nicht gedacht. »Das schaffe ich schon«, sagte er. Er legte das Geld auf den Boden und verfuhr damit, wie er es bei vielen Athenern gesehen hatte: er zog den Gürtel enger und verstaute das Silbergeld in der Brust seines Chiton, wobei der Gürtel das Herausfallen der Münzen nach unten verhinderte. Die Geldmenge, die an die fünf Pfund wog, drückte kalt auf seinen Magen. Drei Stunden später kamen Bulnes und der Polemarchos zur Oikema und suchten den Kerkermeister. Der Polemarchos sagte: »Laßt den Gefangenen Philon frei. Dieser Mann bringt die Kaution für ihn.« Der Kerkermeister führte sie zu jener Seite des Baus, wo Flin eingekerkert war. Der Gefangene sah sie schweigend an, während der Kerkermeister die Fußfesseln aufschloß. Er stand auf, schnippte ein Insekt von seinem Gewand und folgte ihnen hinaus. Der Polemarchos sagte: »Ich wollte die Verhandlung für den siebzehnten, doch da Euer Freund hier sagt, Euripides hätte versprochen, seine Klage zurückzuziehen, will ich sie auf den fünfundzwanzigsten verschieben. Dann erst werden wir ihn verhören.« »Vielen Dank, Herr«, sagte Bulnes und wandte sich an Flin. »Ich nehme an, du bist so hungrig, daß …« »Hungrig!« heulte Flin. »Du wolltest mich wohl absichtlich verhungern lassen. Ich habe drei Mahlzeiten versäumt, die Käfer haben mich fast bei lebendigem Ich aufgefressen, und von dir kein Wort! Ich sehe, daß du einen neuen Himation hast. Hast dich wahrscheinlich mit Weibern amüsiert?« 159
»Halt die Klappe«, sagte Bulnes. »Was? Was soll das?« »Ich sagte, halt die Klappe! Calle su! Muß ich noch deutlicher werden?« Bulnes ballte die Faust. »Wenn du jetzt wie ein erwachsener Mensch bis zur Agora mitkommst, werde ich Essen kaufen, damit Podokles uns etwas kochen kann, denn auch ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen.« Flin fügte sich murrend. Während sie über den Markt gingen, berichtete Bulnes von seinen Erlebnissen. Bei der Beschreibung der Szene, wie Thalia, alias Melite ihn in das Haus des Euripides eingelassen hatte, stieß Flin hervor: »Wie hat sie ausgesehen? Was hat sie gesagt? Hat sie erkennen lassen, daß sie mich kennt?« Bulnes fuhr mit seiner Geschichte fort, ließ dabei aber die Stelle weg, wo die Frau ihm offenkundig Avancen gemacht hatte. Flin sagte: »Wann kann ich sie wiedersehen?« »Du kannst sie nicht sehen, teurer Freund.« »Wie meinst du das? Wir können doch das Manuskript als Vorwand für einen Besuch bei Euripides benützen, oder nicht?« »Ich meine folgendes. Erstens hast du es dir mit ihnen schon durch deine Zudringlichkeiten im Theater verdorben. Zweitens konnte ich sie nur durch einen glücklichen Zufall sehen. Die Athener sperren ihre Frauen ein, wie die mittelalterlichen Hidalgos, wie du weißt. Manchmal glaube ich, es ist eine ganz gute Idee. Und drittens: nach Piräus und zurück ist es ein Fußmarsch von fünfzehn Kilometern, den ich nicht so bald wiederholen möchte.« »Aber – aber, verdammt…« 160
»Ruhig Blut! Ein Zusammentreffen würde dich nur aufregen, ohne ein Ergebnis zu zeitigen und sie würde dich ohnehin nicht erkennen. Wir lassen das Ehepaar Euripides am besten in Ruhe, während wir uns den nächsten Schritt überlegen.« Bulnes fuhr fort, ihm von seinen nächtlichen Erlebnissen in den Tunnels und auf der Akropolis zu berichten. »… und darum bin ich nach Hause gegangen«, schloß er, »und ich hätte heute morgen früher aufstehen sollen, aber – was ist denn, lieber Wiyem?« Flin hatte die Lippen geschürzt. Tränen liefen über die runden Wangen. »Ich – ich kann nichts dafür. Du hast meine letzte Hoffnung zerstört, daß das hier die Wirklichkeit sein könnte«, platzte er heraus. »Jetzt weiß ich, daß es nur ein riesiges Theater ist. Kümmere dich nicht drum – ich bin bloß ein nutzloser alter Pedant. Es tut mir leid, daß es mich gerade jetzt übermannt hat, alter Freund.« Bulnes wurde dabei an ein Hündchen erinnert, das bei einer Missetat ertappt, sich auf den Rücken legt und mit allen vier Pfoten gleichzeitig wackelt, um seine Götter zu besänftigen. Man kann dem Tier keinen Tritt versetzen, gleichgültig, wie wütend man auch sein mag. Er sagte: »Die Silberplatte in Diksens Kopf muß wohl die Ursache dafür sein, daß der Computer ihn nicht beeinflußt.« Flin hatte seine Fassung wiedererlangt. »Was hättest du für einen Vorschlag?« »Falls wir Perikles eine Botschaft zukommen lassen und ihm ausrichten könnten, er möge in der Höhle des Apoll erscheinen, könnten wir uns ja im Loch im Hintergrund der Höhle verstecken und ihn kurz interviewen. Falls man ihm einen Tip bezüglich der wahren Natur dieses historischen Theaters 161
zukommen ließe, könnte er diesbezüglich vielleicht etwas unternehmen.« »Würde er dir denn glauben?« fragte Flin. »Darum müssen wir ja als Apollo auftreten.« »Hm. Der echte Perikles war ein eher skeptischer Typ. Übrigens, was meinst du mit ›wir‹? Du glaubst doch nicht, daß ich bei dieser Komödie meinen Hals riskiere?« »Doch, das glaube ich. Wenn wir ihn davon überzeugen können, daß er und all die anderen Pseudo-Griechen Marionetten in einem Spiel sind, wird er vielleicht in die Tunnels vorstoßen und die Schau platzen lassen.« »Da hast du recht, aber warum muß ich dabei mitmachen? Du bist ein abenteuerlustiger Knabe, aber ich habe nie Räuber und Gendarm gespielt.« »Die Sprache, mein Lieber«, sagte Bulnes mit betonter Geduld. »Wie sehr würde ihn wohl ein Apollo beeindrucken, der gebrochen Griechisch mit spanisch-englischem Akzent radebrecht?« »Ich gehe nicht mit«, sagte Flin stur. »Warum nicht?« »Wenn du es unbedingt wissen willst – ich habe schreckliche Angst. »No es verdad?« sagte Bulnes mit ominösem Brauenhochziehen. »Ich glaube doch, daß du gehen wirst. Es sei denn, du ziehst es vor, wieder in die Oikema zu wandern, während ich die Kaution dem Kritias zurückgebe …« »Nein! Das würdest du nicht tun!« »Nein? Versuch es mal!«
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»Verdammt und zugenäht!« Flin stampfte mit dem Fuß auf. »Warum kriegst du mich immer herum? Ein verdammter Tyrann, ja, das bist du. Ein hochnäsiger, arroganter, kaltblütiger Autokrat.« »Danke, teurer Freund. Machen wir hier Schluß. Du wirst für mich den Brief schreiben müssen.« »Und wann willst du dieses Orakel inszenieren?« »Wenn möglich schon heute nacht. Ich möchte Perikles keine Zeit lassen, uns eine Falle zu stellen.« Zwei Stunden darauf, von einer ausgiebigen Mahlzeit sehr gekräftigt, machten sich Bulnes und Flin an die Arbeit mit dem Brief. Das Manuskript des Euripides als Schreibfibel vor Augen, schrieb Flin: »Phoibos Apollon an Perikles Xanthippou aus Cholargos, Strategos Dekatos Autos der Stadt Athen: Wenn Ihr Euch heute abend, den zehnten des Elaphebolion, zwei Stunden nach Sonnenuntergang allein in der Höhle des Apoll einfindet und Vorsorge trefft, daß unser Gespräch nicht gestört wird, sollt ihr Dinge von schwerwiegender Bedeutung für Euch und den Staat erfahren.« Flin sagte: »Ich kann nicht garantieren, daß ich ihn damit packe. Es sieht eher aus wie ein Versuch, ihn zum Zwecke der Entführung oder Ermordung hinzulocken.« »Ach, er wird Freunde oder Sklaven in Rufweite halten. Und jetzt holen wir Diksen und nehmen einen Lokalaugenschein vor.« Als Diksen endlich wach war, war er begeistert über den Plan. Er führte sie unter den Statuen der Stammhelden entlang 163
der Basis der Akropolis und zeigte ihnen die auffallendsten Stellen. »Der Felsspalt verläuft nach hinten zu einer zweiten Höhle – sehen Sie den dunklen Fleck? –, die nach irgendeiner Dame in ihrer Religion Aglaurion genannt wird. Vom Fuße des Spaltes führen zwei Treppen zur Spitze, eine vom Aglaurion und eine von der Mitte aus. Sehen Sie den Pfad, der sich an der Mauer hochzieht? Wo der alte Knabe mit den Ziegen sitzt?« Er wies zum östlichen Teil der Hügelnordseite. »In der Wandneigung ist ein Loch und eine weitere Treppe, die ganz hinaufführt. Diese Treppen sind nicht eigentlich geheim – ich habe sie alle benutzt, wenn meine Runde vorbei war – doch versuchen die Priester, das gewöhnliche Volk fernzuhalten.« Der nächste Schritt war die Übergabe des Briefes. Sie gingen zum Haus des Perikles. Bulnes freundete sich mit einem im Straßenstaub spielenden kleinen Mädchen an und bestach es mit einem Kupferstück, den Brief abzuliefern. Er und Flin lugten um die Ecke und beobachteten, daß der Brief dem Türsteher auch übergeben wurde. Sie aßen zeitig zu Abend und gingen noch vor Sonnenuntergang, nur mit Chitons bekleidet, auf die Akropolis, eben als die Hauptmassen der Besucher herunterkamen. Sie wandten sich hinter der Propyleia nach links und gelangten zu den Einfriedungen an der Nordseite. Bulnes kam das Gelände bei Tageslicht ganz anders vor, so daß er einige Zeit brauchte, um die Route wiederzuerkennen, der er in der vorhergehenden Nacht gefolgt war. Als er sie schließlich gefunden hatte, warteten sie ab, bis niemand hinsah, und versteckten sich im Gebüsch. Es erwies 164
sich als ganz einfach – zu einfach, wie Bulnes fürchtete. Nach Sonnenuntergang verscheuchten zwei Skyther die restlichen Besucher von der Akropolis. Sie machten sich aber nicht die Mühe, die Büsche nach Herumlungerern abzuklopfen. Da er vorübergehend zur Untätigkeit verdammt war, ertappte sich Bulnes dabei, daß seine Gedanken bei Dagmar weilten. Sollte er sie nach seiner Rückkehr bitten, ihn zu heiraten – angenommen, er kehrte jemals in das London des siebenundzwanzigsten Jahrhunderts zurück? Schließlich näherte er sich den Vierzigern. Ja, beschloß er, er würde sie bei der ersten Gelegenheit fragen. Der Abendwind strich über das Gelände. Zwei Priester gingen vorüber und unterhielten sich gedämpft über Geldfragen. »Mir nach«, sagte Bulnes. Er ging gebückt voraus zur Treppe, die in den Spalt hinunter führte. Obwohl der Himmel über ihnen noch hell war, war es im Spalt so dunkel, daß Bulnes den Weg wieder ertasten mußte. Am Fuße der Treppe führte er Flin über die Stein- und Erdmassen auf dem Grund der Kluft, ehe sie die Höhle des Pan erreichten. »Hier warten wir«, sagte Bulnes. »Verdammt schade, daß ich keine Zigarette habe. Wie hast du dir diesen irren Plan bloß ausdenken können?« »Daran ist wohl mein gemischtes Blut schuld. Leise!« Als das Licht schwächer wurde, erklangen Schritte in der benachbarten Höhle des Apollo und dazu die Stimme eines Priesters. »Nein, mein Sohn, der Gott wird sich heute nicht zeigen. Komm morgen mit deinen Fragen.« Und dann, als die Schritte des Fragers sich entlang des Simses entfernten, sprach dieselbe Stimme: »Schlichtweg Räuberei und Ausbeutung, daß 165
Perikles für heute abend den ausschließlichen Gebrauch des Schreines fordert. Warum kann er nicht warten, bis er an der Reihe ist, wie jeder andere Bürger? Das ist die sogenannte Demokratie!« »Wird der Gott ihm eine Botschaft vermitteln?« fragte eine andere Stimme. »Wir könnten ihm ja etwas Kurzes und Zweideutiges bieten, wie man es in Delphi macht. Du erinnerst dich doch, als Krösos, der König Lydiens, fragte, ob er …« »Ach was! Wenn er so wenig Rücksicht auf uns nimmt, kann er meinetwegen die ganze Nacht hier stehen und auf Antwort waren. Eine für den Staat wichtige Botschaft. Man denke!« Die Unterhaltung wandte sich nun dem Liebesleben der beiden Priester zu. Es wurde von einem scharfen Klopfen akzentuiert, das Bulnes als das Schlagen von Feuerstein gegen ein Stück Metall oder Pyrit identifizierte. Plötzlich hörte man das schwache Knistern des Altarfeuers, und es roch nach Weihrauch. Schließlich kamen wieder Schritte den Sims entlang, und die Stimme des Priesters erscholl!: »Heil Euch, teurer Perikles! Es ist uns eine Ehre. Jahre sind vergangen, seitdem Ihr unseren Schrein besucht habt. Der Herr über die Jahreszeiten wird sich freuen.« »Das glaube ich! Da aber der Erleuchtete ausdrücklich mich allein sprechen wollte, würdet Ihr Herren wohl…« Bulnes war sicher, diese Stimme schon gehört zu haben. Es war eine abgehackte Stimme, die in kurzen Sätzen sprach und die Satzenden fast verschluckte. Bulnes bemerkte: »Diese dürre Stimme klingt mir aber nicht nach einem großen Redner.«
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»Das ist Perikles«, flüsterte Flin. »Er war tatsächlich ein kurzangebundener wortkarger Bursche. Seine berühmten Reden hat Aspasia für ihn geschrieben.« »Komm.« Sie krochen auf den Geheimgang der Priesterhöhle zu. Er schob den Vorhang beiseite, und sie schlüpften so weit hinein, bis sie die Öffnung hinter dem Altar erreicht hatten. Der Oberpriester sagte: »… aber mein teurer, teurer Perikles, das wäre ohne Präzedenzfall. Der Gesundheitsspender wäre beleidigt, wenn wir uns entfernten …« Papyrus knisterte, und dann erklang wieder die Stimme des Perikles. »Da. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich bin gewillt, es herauszufinden. Geht Ihr nun, oder muß ich um Unterstützung rufen, damit Ihr Euch entfernt?« »Wir gehen. Sagt aber nachher nicht, wir hätten Euch nicht gewarnt.« »Nicht in diese Richtung. Dorthin. Ich möchte nicht von menschlichen Stimmen, die aus Löchern in diesen Kaninchenbau dringen, belogen werden.« Bulnes blickte durch das rauchfangartige Loch in die Höhle des Apollo. Jenseits des Altars standen die zwei Priester und wandten Bulnes mehr oder weniger den Rücken zu. Dahinter stand Perikles. Bulnes konnte über das Altarfeuer hinweg nur einen ordentlich geschnittenen grauen Bart und einen Umhang sehen. Die Priester wandten sich zum Gehen und entfernten sich auf dem Sims nach links. Perikles trat vor den Altar und sagte: »Phöbus Apollon, wenn du es wirklich bist, dann bin ich gekommen, wie du verlangt hast. Hast du eine Botschaft für mich?« »Los«, flüsterte Bulnes und schob Fun hinter die Sprechöffnung. 167
Flin sagte: »O Perikles, ich bin in der Tat der Gott des Silberbogens. Du und dein ganzes Volk seid Opfer eines ungeheuerlichen Betruges geworden. Es wird Zeit, daß diesem Schwindel ein Ende gemacht wird.« »Wie das, o Gott?« »Du bist nicht Perikles Xanthippou, noch sind die anderen Hellenen jene Personen, für die sie sich halten. Der wahre Perikles hat vor dreitausend Jahren gelebt. Du bist ein Mensch, den die Herren der Welt gefangengenommen haben und den sie kraft ihrer Wissenschaft in den Glauben versetzt haben, daß er tatsächlich Perikles aus der Antike ist. Die anderen Hellenen hat man demselben Betrug unterworfen.« »In der Tat?« Perikles nahm die Neuigkeit mit ungewöhnlicher Fassung auf. »Genauso ist es. Wenn du Beweise haben willst, so befiehl deinen Leuten, sie mögen im Neuen Hekatompedon in der Kammer des Parthenon unter dem Boden nachgraben, und unter dem Theseusaltar im Theseion. Dann wirst du die Gänge entdecken, die die Diener der Weltherren benutzen, um …« Flin brach ab und zuckte von der Sprechöffnung zurück. Bulnes warf einen hastigen Blick durch das Loch und sah den Mann namens Perikles um den Altar herum kommen und eine Pistole aus seinem Faltenwurf ziehen. In dieser Sekunde flammte das Altarfeuer auf. In seinem Licht erkannte Bulnes das Gesicht, das er unzählige Male auf Titelseiten von Zeitschriften gesehen hatte: Vasil Hohnsol-Romano, neunter seines Namens, Imperator der Erde. Bulnes taumelte zurück. Dabei drang der schneidende Knall eines Schusses an sein Ohr. Felssplitter trafen sein Gesicht. Immer wieder kam das Krachen der Pistole und vermischte sich 168
mit dem Explodieren der Sprenggeschosse. Ein Treffer eines dieser kleinen Geschosse konnte einen Menschen in Stücke reißen. Er kroch hinter Flin auf den Vorhang vor dem Eingang zu und stieß dabei mit ihm zusammen. »Caray! Was gibt es!« »Er kommt diesen Weg entlang«, sagte Flin. »Sieh mal!« »Was?« Bulnes verdrehte den Hals. Die Schießerei hatte aufgehört. Im Schein des Altarfeuers, das durch das durch die Explosionen vergrößerte Loch fiel, bemerkte Bulnes eine Geheimtür im Hintergrund des Priesterversteckes. Bulnes glaubte vorn in der Höhle des Pan Schritte zu hören. Wohin die Tür auch führen mochte, sie schien mehr Sicherheit zu bieten als eine Höhle, in die ein bewaffneter und mordlustiger Imperator eindrang. Bulnes kroch zurück ins Versteck. Die Explosionen hatten auch die Verankerungen des Schlosses gelockert, so daß er mit kräftigem Dagegenstemmen die Tür öffnen konnte. Bulnes eilte hindurch, Flin hinter ihm her. »Mach zu!« zischte Bulnes. Als die Tür geschlossen war, befanden sie sich wieder in tiefer Dunkelheit. Jedoch nicht gänzlich. Nachdem seine Augen sich daran gewöhnt hatten, bemerkte Bulnes eine Reihe kleiner Punkte sanft glühenden Lichtes entlang der Tunneldecke. Es waren moderne Notlichter. Allmählich schärfte sich sein Sehvermögen, bis er undeutlich Boden und Wände unterscheiden konnte. Er bewegte sich kriechend weiter, bis der Tunnel im rechten Winkel auf einen anderen stieß. Der neue Tunnel war etwas höher, mit Kabelsträngen an der Decke. Bulnes wandte sich auf gut Glück nach links. Der Tunnelboden senkte sich, machte ein paar Biegungen und 169
endete dann vor einer Tür, die ihn an das Schleusentor eines wasserdichten Schotts auf einem Schiff erinnerte. An der Wand neben der Tür befand sich ein Druckknopf. Darunter die von einem helleren Nachtlicht erleuchtete Legende. Der Einlaßbegehrende wurde auf Englisch angewiesen, den Knopf zu drücken und vom Posten zu verlangen, er möge ihm die Tür öffnen und ihn ins Tunnelsystem einlassen. Bulnes sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das tun werden. Versuchen wir es mit der anderen Richtung.« Sie gingen denselben Weg zurück bis zum Tunnel, der zur Höhle des Apoll führte, liefen aber geradeaus weiter, statt abzubiegen. Bulnes, der die Steigung hinaufkeuchte, sagte: »Jetzt wissen wir einiges: nicht nur, daß Perikles in Wirklichkeit Vasil der Neunte ist, sondern daß er ein nicht-präparierter Mensch ist wie wir und Diksen.« »Woher weißt du das?« »Hätte er sonst mit der Pistole geschossen? Natürlich glaubt er nicht an Apollo, und als er die Stimme hörte, vermutete er ganz richtig, daß ein nicht-präparierter Mensch aus dem Versteck zu ihm sprach.« »Glaubst du, er hat den ganzen griechischen Humbug als eine Art grandioser Scharade inszeniert, um seine Eitelkeit zu befriedigen?« Bulnes zuckte die Achseln. Sie waren am Ende des Tunnels angelangt. Die Kabel über ihnen führten aufwärts, ebenso eine Leiter in eine schwach erleuchtete Wölbung über ihnen. Bulnes verrenkte sich den Hals, um hinaufzusehen, und fing dann zu klettern an. Bald befand er sich inmitten eines Gewirrs von Stützen und Verstrebungen. Der Raum wurde von
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Nachtlichtern erhellt. Um ihn herum war eine ungleichmäßig geformte Wand aus grünlichem Metall. Flin sagte: »Knut, ich weiß wo wir sind!« »Wo denn?« »Im Innern der Athene Promachos!« »Wirklich? Na, hoffentlich verursachen wir der reizenden Dame keine Magenbeschwerden. Sie erinnert mich an die Freiheitsstatue in Amerika. Wohin führen diese Kabel? Ich wünschte, ich hätte eine Taschenlampe …« Bulnes erreichte schließlich einen Punkt, in etwa auf der Höhe der Brüste der Göttin. Als er von hier aus in die Höhe sah, konnte er erkennen, wo die Kabel in einem Wald von Antennen, die Radarantennen glichen, endeten. »Na, da haben wir's ja«, sagte er. »Was denn? Ach, diese Dinger.« Flin verfiel in Schweigen. Nach nachdenklichem Lippenschürzen, das einige Sekunden dauerte, sagte er: »Natürlich verstehe ich nichts von Elektronik, Knut, doch war ich immer der Meinung, Fernseh- und Radarantennen müßten immer im Freien stehen, weil nämlich sie umgebendes Metall die Strahlen oder was immer sie aussenden, ablenken würde.« »Das trifft für das elektromagnetische Spektrum zu, nicht aber für das gravito-magnetische. Du weißt doch, damit haben die Forscher der Weltregierung sich vor einigen Jahrzehnten abgegeben.« »Keine Ahnung.« »Ich bin ja selbst kein Wissenschaftler, aber unsere Zeitschrift hat Material darüber gesammelt, und einmal haben wir einen Artikel darüber gebracht. Es hat damals viel Getue 171
gegeben und Prophezeiungen von den wunderbaren Dingen, die die Sache für uns bringen würde. Auf einmal ist das Thema dann unter den Tisch gefallen. Soweit mir bekannt ist, interessiert sich jetzt kein einziger Forscher mehr dafür.« »Du glaubst also, daß das hier im geheimen entwickelt wurde?« »Sieht so aus.« »Warum?« fragte Flin. »Ich stelle ja nur Vermutungen an, aber ich habe den Verdacht, daß über diese Sendeanlage alle unsere PseudoGriechen gesteuert werden.« Flin sah die Kabel nachdenklich an. »Wenn wir sie durchschneiden könnten, würden wir denen einen schönen Strich durch die Rechnung machen.« Bulnes schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich würden wir dabei einen tödlichen Schlag bekommen, und außerdem sind die Kabel gepanzert. Wir würden sogar mit einer modernen Eisensäge tagelang brauchen. Viel nützlicher wäre es, wenn wir den Hauptschalter fänden. Sehen wir mal nach. In den Röcken der Dame müßte doch auf Straßenniveau ein Ausgang sein. Da! Vorsicht beim Hinausgehen …« Bulnes und Flin tauchten aus der Kolossalstatue auf und liefen zur nordöstlichen Ecke der Akropolis, auf der Suche nach der Treppe und dem Pfad, den Diksen ihnen am Nachmittag gezeigt hatte. 16
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Knut Bulnes wurde von einem Geräusch geweckt. Als er die Augen öffnete, sah er als erstes ein skythisches Hosenpaar, darüber eine skythische Jacke und darüber wiederum das breite Gesicht Roi Diksens. »He, Mr. Bulnes, wie ist die Sache gelaufen? Ich hatte schon Angst…« »Pssst!« sagte Bulnes und wies auf die anderen Schläfer. »Ach, diese Nieten verstehen doch kein Englisch …« »Halt den Mund, Barbar!« stöhnte einer von den Gästen des Podokles. »Ich suche noch Schlaf!« »Wir gehen wohl besser hinaus«, sagte Bulnes und rüttelte Flin wach. Sie wickelten sich in ihre Himations und traten hinaus auf die Straße. Der Himmel wurde im Osten fahl, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Bulnes schauderte in der Kälte des Morgens. Diksen sagte: »Was zum Henker ist passiert? Ich mache eben meine Runde in der Kerameikos, da höre ich Wirbel von der Akropolis her, und heute morgen reden die Jungs davon, daß der Oberbonze in die Höhle des Apoll gegangen wäre, und der Gott ein paar Donnerschläge losgelassen hat, um zu zeigen, wer hier wirklich das Sagen hat. Ich hatte schon gefürchtet, euch hätte man eines vor den Latz geknallt!« Bulnes erstattete Bericht. »Der Imp!« rief Diksen aus. »Wißt ihr was? Der unternimmt jetzt sicher etwas. Jede Wette!« »Ihre Gabe des Verstehens«, sagte Bulnes »ist großartig, mein lieber Roi.«
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»Ach, das ist noch nicht alles! Perikles hat Befehl gegeben, bei der Miliz die Waffen zu kontrollieren. Aus diesem Grund wird der ganze Erechtheis-Stamm heute morgen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, vor dem Dipylon-Tor paradieren. Er hatte die Musterung schon früher angesetzt, nur wäre dann keine Zeit mehr zur Befehlsweitergabe gewesen. Morgen ist dann die Reihe an den Aigeris.« »Können wir zusehen?« fragte Bulnes. »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht. Ich möchte mich jetzt aufs Öhrchen legen. Wir treffen uns dann in zwei Stunden.« »Und was ist mit deinem Lehrauftrag?« fragte Flin. »Mein lieber Freund, den wirst du wahrnehmen«, sagte Bulnes. »Wirklich … ich kann sie doch nicht einfach so …« »Carajo! Du hast mir bei der Vorbereitung der Vorlesung geholfen, und jetzt sollst du mal das Vergnügen haben, dich an den Konjunktiv-Aorist von ›Sein‹ zu erinnern.« »Na gut«, grollte Flin. Zur festgesetzten Zeit machte Bulnes sich auf den Weg zum Dipylon-Tor. Während er durch den Schlamm watete, bemerkte er eine große Anzahl Athener, die in Kampfausrüstung in dieselbe Richtung gingen. Jeder trug einen Rundschild aus Holz und Leder, mit dünner Bronzeauflage, worauf ein großes A gemalt war. Dazu kam eine leichte Zwei-Meter-Pike und ein kammgezierter Helm. Die meisten trugen zusätzlich einen Küraß aus Bronze, einen Kilt aus Lederstreifen und bronzene Beinschienen. Als die Schar auf das Tor zuströmte, flogen Bemerkungen hin und her: 174
»Oi! Hör auf, so zu stoßen!« »Beeil dich, Andokides, oder ich stech dich in den –« »Was bedeutet…?« »Und da sagte ich, gebt mir eine Hetäre wie Theodote …« »Wo hast du gesteckt, o Strymon?« »… ich bin sicher, er hat es dem Volk gestohlen, aber man kennt ja die Gerichte …« »Eia, komm jetzt…« »Vielleicht wird es schließlich doch Krieg geben.« »Ich sagte, wenn du glaubst, du könntest Hegias bemogeln und straflos ausgehen …«»… mein Zahn hat mich zum …« Vor dem Dipylon-Tor reihten sich die Männer bereits ein. Skyther dirigierten die Gaffer an ein Ende der Formation, und Bulnes ließ sich mit den übrigen treiben. Von hier aus konnte er die erste Reihe überblicken – sie war etwas geschlängelt und unregelmäßig, aber tapfer in Bronze und Leder. Vor den Milizmännern stand eine kleine Gruppe, unter denen Bulnes das bärtige Antlitz von Perikles-Vasil bemerkte, der einen korinthischen Helm auf dem Kopf hatte. Es dauerte unendlich lange, bis man in die Reihen der Hopliten Ordnung hineingebracht hatte, denn der Truppe schien es an Offizieren zu mangeln. Jeder Soldat argumentierte aus vollem Halse. Schließlich wurden sie in Hunderter-Kompanien aufgestellt. Perikles rief: »Achtung, Männer vom Stamm Erechtheis, nehmt Haltung an! Wir werden jetzt jeden einzelnen kontrollieren, um zu sehen, ob alle Waffen in gutem Zustand sind.« Langsam ging er auf die Stelle zu, wo Bulnes stand. Bulnes erlebte einen Augenblick der Panik, ehe ihm einfiel, daß Perikles glücklicherweise gestern sein Gesicht nicht hatte sehen können. Gefolgt von den anderen seiner Gruppe, erreichte Perikles dieses Ende der ersten Reihe der Hoplitai. Da blieb er lange 175
stehen, sah die Reihe entlang und wechselte manchmal Worte mit den anderen Würdenträgern: »Seht diese Schmerbäuche! Wir müssen dringend ein besonderes Training einführen …« Er benahm sich, als hätte er unendlich viel Zeit. Oder wie einer, dachte sich Bulnes, der die Zeit totschlagen will. Langsam, fast widerstrebend, bewegte sich Perikles die Reihe entlang. Er blieb vor jedem Milizsoldaten stehen und sah ihm ins Gesicht. Bulnes hörte, wie er zu dem einen sagte: »Der gesprungene alte Schild wird dich niemals vor den Speeren der Feinde bewahren. Sieh zu, daß du zur nächsten Musterung einen neuen mitbringst.« »He, Mr. Bulnes!« ertönte da ein Bühnengeflüster. Da stand auch schon Diksen. »Tut mir leid, aber ich habe verschlafen. Wie geht's?« »Bei diesem Tempo dauert die Musterung einen ganzen Tag.« Sie sahen zu, wie die Gestalten von Perikles und seinen Kollegen mit der Entfernung undeutlicher und ihre Stimmen unhörbar wurden. Und dann plötzlich passierte es. Jeder einzelne Soldat wurde von einem Zucken, einem Auffahren oder Schaudern ergriffen. Speere fielen links und rechts zu Boden, als ihre Besitzer sie losließen und sich erstaunt umdrehten und ihre Nachbarn ansahen. Es ertönte ein Schildegeklapper. Männer befühlten ihre Bärte, beklopften ihre Kürasse. Aus der bewaffneten Menge drang ein Gemurmel. Der angestrengt lauschende Bulnes vernahm Sätze auf Neugriechisch und in einigen anderen Sprachen. »Puime?« »Christe! Ti ine afto?« 176
»Was ist das Ding auf meinem Kopf? Ein Spucknapf?« »Das verstehe ich nicht. Ich drückte auf die Kasse in meinem Restaurant, und in der nächsten Sekunde stehe ich hier draußen, mit einem Kanaldeckel im Arm …« Einige liefen, von Panik erfaßt, über die Ebene davon. Die übrigen brabbelten Fragen, immer lauter, bis der Lärm ohrenbetäubend wurde. Perikles trat zurück und rief: »Alle, die mich verstehen können, hier entlang!« Die Verwirrung wurde mit jeder Sekunde chaotischer. Eine Anzahl von Männern trat auf Perikles zu, aber offenbar nicht, weil sie sein Atisch verstanden. Vielmehr bedrohten sie ihn mit ihren Speeren und verlangten lauthals eine Erklärung. Jetzt reagierte auch die Menge um Bulnes. Gemurmel erhob sich. »Wahnsinn!« »Zauberei!« »Die Götter haben uns heimgesucht!« »Sie sprechen mit fremden Zungen!« »Lauft um euer Leben!« Und dann, als es so aussah, als ob alles Mögliche passieren könnte, fing es bei den Hoplitai wieder an. Sie starrten einander an. Sie gingen auf ihre Plätze in Reih und Glied zurück, hoben ihre weggeworfene Ausrüstung auf und fragten einander: »Was ist passiert? Was ist passiert?« »Aufstellung nehmen!« rief Perikles. »Wir setzen die Inspektion fort.« Noch immer gefolgt von seinen Begleitern, ging er an die Stelle zurück, wo er bei Einsetzen der allgemeinen Verwirrung gestanden hatte und schritt die Reihe weiter ab. Jetzt aber ging er sehr schnell und schenkte dem einzelnen kaum einen Blick. In wenigen Minuten war alles vorüber. Die entlassenen Bürger strömten zurück in die Stadt, noch immer ratlos, sich und den Vorübergehenden Fragen stellend. 177
»Na«, sagte Diksen, »was halten Sie davon?« Bulnes runzelte die Stirn. »Mir scheint, diese Antennen im Inneren der Athene Promachos lenken jeden einzelnen dieser Griechen individuell. Jeder hat sozusagen eine eigene Frequenz. Ich nehme an, die unterirdische Bedienungsmannschaft hat eine Computerkartei von allen Griechen angelegt und er hat seinen Leuten befohlen, alle männlichen Bürger vom Stamme Erechtheis zu überprüfen und dann zu einer bestimmten Zeit die Stromkreise zu unterbrechen, an denen sie sozusagen hängen. Er muß sich wohl erhofft haben, durch reine Beobachtung einen oder mehrere Unpräparierte auszumachen, indem er darauf achtete, wer nicht anfing herumzuhüpfen und dumme Fragen zu stellen.« »Verstehe. Kann mir aber nicht denken, wie das hätte klappen sollen. Es waren einfach zu viele da, die auf einmal reagieren.« »Richtig. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn es heißt, daß die Inspektion der anderen Stämme abgesagt wurde.« Sie holten Flin vor dem Haus des Kallaischros ab und erstanden dann auf der Agora ihr Essen. Flin, der ein in Blätter gewickeltes Omelett verdrückte, hörte sich ihren Bericht an. »Er ist entschlossen, um jeden Preis die Unpräparierten herauszufinden«, bemerkte er. »Wir müssen etwas unternehmen.« Diksen sagte: »Ich frage mich, warum die nicht einfach in ihre Kartei nachsehen, wer Philon und Bouleus sind, und wenn sie entdecken, daß sie die zwei nicht finden können, dann wissen sie, daß ihr beide es seid.« Bulnes sagte: »Ihr müßt bedenken, daß in Griechenland an die zwei oder drei Millionen Menschen leben. Ohne moderne Polizeimethoden kann man nicht die Spur eines jeden einzelnen
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verfolgen, und diese Methoden kann man nicht anwenden, ohne das ganze Spiel aufzudecken.« »Noch was«, sagte Flin. »Die Tatsache, daß die Griechen keine richtigen Familiennamen hatten, macht es noch schwieriger. Man hat da einige Hunderte namens Leon, einer davon nennt sich vielleicht Leon, Sohn des Lykos, ein anderer Leon aus Phaaleron, ein dritter Leon der Kleine oder Leon der Steinmetz. Ihr seht die Schwierigkeit, jedem Leon auf der Spur zu bleiben. Es gibt vielleicht Dutzende von Bouleusen. Wie sollen die je dahinterkommen, daß einer zuviel ist, um ihn durch Abstellen des verdammten Computers entlarven?« »Übrigens«, fuhr Flin fort, »Kritias hat gesagt, einige seiner Freunde möchten ebenfalls unseren Kurs mitmachen.« »Hervorragend, mein lieber Freund«, sagte Bulnes. »Ungeachtet unserer selbst werden wir erfolgreich.« »Einen Nachteil hat die Sache. Die Schar wird zu groß für das Haus des Kallaischros. Wir müssen umziehen.« »Die Agora ist für meinen Geschmack zu laut«, sagte Bulnes und sah zu Sokrates hinüber, der eben in ein Streitgespräch verwickelt war und sagte: »Aber, mein lieber Antiphon, wenn jeder der Ansicht wäre, daß Moral nur darin besteht, sich die besseren Argumente zur Unterstützung seiner Interessen auszudenken, was soll dann aus der öffentlichen Tugend werden? Wie lange wird ein solcher Staat sich behaupten können?« Bulnes fuhr fort: »Wie wäre es mit einem der Gymnasien?« »Es müßte das Kynosarges sein«, sagte Flin, »da die anderen Gymnasien Ausländer nicht einlassen. Aber was machen wir mit dem Imps? Ich hege nicht die leisesten Zweifel, daß man uns schließlich doch entdecken wird.« Flin wandte sich an Diksen.
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»Besteht nicht die Möglichkeit, unter Ihren GendarmenKollegen einen Aufstand zu inszenieren?« »Mhm?« »Er meint«, sagte Bulnes, »ob Sie die anderen zur Revolte aufhetzen könnten?« »Weiß nicht. Bezweifle das sehr. Die skythischen Bullen haben einen guten Job. Sie können sich nebenher Weiber halten, und wenn sie für die Arbeit zu alt werden, dann werden sie freigelassen. Gewöhnlich haben sie bis dahin genügend zusammengestohlen, um sich als Geschäftsleute zu etablieren oder in die Heimat zurückzukehren.« Er gähnte ausgiebig. »Entschuldigt mich, Jungs, aber ich muß in die Unterkunft, mein Schläfchen halten. Ich bin schließlich die ganze Nacht über auf den Beinen.« Er ging. Flin sagte: »Statt Reden zu halten wäre es doch besser, nachzusehen, ob Euripides schon seinen Brief an den Polemarchos abgeschickt hat?« Bulnes zuckte die Achseln. »Wenn wir annehmen, daß Euripides im Original ein geistesabwesender Professor ist, dann müssen wir ihn wahrscheinlich ein Dutzend Male erinnern.« Zu seinem Erstaunen aber erfuhr Bulnes, daß der Brief am Morgen bereits dem Polemarchos zugestellt worden war. »Kephisophon muß ihn daran erinnert haben«, sagte Bulnes. »Edler Herr, ist mein Freund jetzt wieder ein freier Mann?« »Ja«, sagte der athenische Würdenträger. »Wenn Ihr warten wollt, sende ich einen Sklaven in die Schatzkammer, damit er die Kaution bringt. Habt Ihr beide schon einen Schutzherrn gefunden?« 180
»Nein«, sagte Bulnes. »Wir haben den guten Sokrates gebeten, aber er – hm – konnte sich nicht entschließen.« »Dieser aufwieglerische Agitator! Immer bringt er Unruhe unter die jungen Leute, indem er die Weisheit unserer Vorfahren in Frage stellt! Gut für Euch, daß er abgelehnt hat. Ich rate Euch jedenfalls, Euch bald um einen Gönner umzusehen, da ihr auf jeden Fall in die Steuerlisten eingetragen werdet. Da ist es besser, Ihr legt Euch den legalen Stand eines eingetragenen Metöken zu.« Das Geld kam, und Bulnes und Flin machten sich auf den Weg, um es Kritias zurückzugeben. Bulnes sagte: »Schade, daß wir nicht da waren, als der Sklave kam. Wir hätten ihm das Manuskript mitgeben können. In dieser Welt hier ist alles zehnmal komplizierter als in unserer modernen.« Flin nickte. »Ich vermisse das liebe alte London ungemein, samt Nebel und allem Drum und Dran.« 17 Am späten Nachmittag hockten sie in der Schenke des Podokles und arbeiteten die Lehrvorträge für die nächsten Tage aus, als der Sklave Dromon eintrat. »Ihr Herren«, sagte er, »eine Botschaft von meinem Herrn Sokrates: Perikles gibt heute abend in seinem Haus ein Essen und Symposion, zu dem er alle Philosophen Athens eingeladen hat. Er hat meinen Herrn gebeten, alle jene, die er, Perikles, nicht kennt, zusammenzutrommeln, und aus diesem Grund hat mich Sokrates gesandt, Euch, Männer aus Tartessos, aufzusuchen.«
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Bulnes wechselte einen Blick mit Flin und fragte: »Was soll das?« Flin sagte: »Das entspricht nicht seinem Charakter. Der echte Perikles war kein geselliger Typ – hat selten Gäste empfangen und ist nur selten in der Öffentlichkeit erschienen, außer bei Staatsakten. Glaubst du, daß er versuchen will, uns zu entlarven, wie er es heute bei der Miliz versucht hat?« »Würde mich nicht wundern. Da wir aber gewarnt sind, werden wir damit schon fertig werden.« »Du meinst, wenn die anderen aus den Pantinen kippen, könnten wir es auch tun?« »Genau.« »Verdammt, das klingt nach einem schrecklichen Risiko. Warum gehst du nicht allein und läßt mich hier?« »Was hast du gesagt?« fragte Bulnes düster. »Aber du könntest sagen, ich hätte Kopfschmerzen …« »Eine Weigerung wäre noch riskanter. Du kommst mit! Dromon, was haben wir als nächstes zu tun?« »Folgt mir. Mein Herr wird Euch zum Hause des Perikles geleiten.« Sokrates begrüßte sie auf der Agora mit großer Herzlichkeit. Offensichtlich konnte er niemandem, der wie ein vielversprechender Kontrahent bei einem Streitgespräch aussah, lange böse sein. Bulnes hatte den Philosophen taktvoll von dem Thema, ihr »Prostates« zu werden, abgelenkt, als sie auch schon vor dem Haus des Perikles anlangten. Der Strategos begrüßte sie mit würdiger Herzlichkeit innerhalb des Eingangs. Bulnes sah sich den Staatsmann genau 182
an. Kein Zweifel, der Mann war der Imperator! Dabei unterzog Perikles-Vasil Bulnes einer ebenso eindringlichen Musterung. In höflichem Konversationston sagte er: »Wie interessant, einen der sagenhaften Tartesser kennenzulernen. Stammt Ihr aus dem Geschlecht der Kelten, die den westlichsten Teil Europas bewohnen?« »Nein, Perikles.« Fun meldete sich zu Wort: »Wir sind die Ureinwohner Iberiens und haben schon Jahrhunderte vor dem Eindringen der barbarischen Kelten Kunst und Wissenschaft gepflegt.« »Euer Name ist Philon, werter Herr?« fragte Perikles. Als Perikles den Kopf wandte, bemerkte Bulnes die auffallende Länge von dessen Schädel, der überdies nach hinten stark gewölbt war. Hatte er sich geirrt? Vasil IX hatte keine solche Ausbuchtung gehabt. In der Andronitis fand Bulnes sämtliche Philosophen vor, die er bereits kennengelernt hatte: Protagoras, Demokritos, Anaxagoras und Meton – und einige andere, die er nicht kannte. Keiner unterzog sich der Mühe einer Vorstellungszeremonie, alle waren eifrig in Gespräche vertieft. Meton zum Beispiel erklärte seinen Vorschlag zur Kalenderreform und beklagte die Dummheit der Massen, die auf der Verwendung einer veralteten und irrationalen Zeitrechnungsmethode beharrten, und das nur aus reiner Gewohnheit. Fun erklärte Bulnes: »Der Schielende ist Diogenes!« »Der Kerl, der in einem Faß lebt?« »Nein, du meinst den zynischen Philosophen, der jetzt noch nicht geboren ist. Der da ist Wissenschaftler. Und das ist Prodikos, der mit den Theorien über die Natur der Mythen, eben aus Italien zurück …« 183
Prodikos berichtete eben dem Protagoras: »… und in Thourioi habe ich Station gemacht und Herodot besucht…« »Wie geht es dem Alten?« »Noch immer erstaunlich rüstig. Arbeitet an einer Geschichte Assyriens und hofft, nächstes Jahr Athen zu besuchen …« Anaxagoras schalt den jungen Demokrit aus, der sich hinter einer Säule zu verstecken trachtete: »… und du kommst den langen Weg von Abdera her, um Philosophie zu studieren, und denkst nicht daran, den armen alten Anaxagoras aufzusuchen? Was für eine nachlässige Generation!« Demokrit stammelte Entschuldigungen. »Das Essen, meine Herren«, sagte Perikles. Die Schar bewegte sich barfüßig in den Andron. Burnes murmelte Flin zu: »Jetzt könnte ich einen doppelten Martini aber gut vertragen.« Er entdeckte, daß man ihm den Antiphon zugesellt hatte, einen jüngeren Mann im Alter des Demokrit. Flin ruhte auf dem benachbarten Lager. Bulnes, der ihn beobachtete, mußte sich eingestehen, daß sich der kleine Lehrer den athenischen Speisesitten geschickter anpaßte als er selbst. Ein Sklave mit Handtuch und Becken kam und begann Bulnes die Füße zu waschen. Antiphon blickte Bulnes verächtlich an und sagte: »Also hat Perikles – weit davon entfernt, mir den Ehrenplatz zuzuweisen – mich zu einem Ausländer gelegt! Das zeigt seine wahre Einstellung zu den besseren Menschen. Nichts für ungut, mein Bester – schließlich habt Ihr Euch Euren Geburtsort nicht ausgesucht!« Das Innere von Perikles' Haus unterschied sich nur wenig von den anderen Häusern, die Bulnes schon gesehen hatte. Es war 184
weniger verschwenderisch als bei Kallaischros, doch vielleicht ein wenig adretter und geräumiger als bei Meton. Das Genie der Athener fand seinen Ausdruck gewiß nicht in der Innenausstattung der Privathäuser. Eine junge Frau, die nach Bulnes' Ansicht reif für eine gründliche Waschung gewesen wäre, saß auf einem Hocker und dudelte trübsinnig auf einem klarinettenähnlichen Instrument. Die eintönige dürftige Weise erinnerte Bulnes an einen Gregorianischen Gesang. Antiphon, der mit vollem Mund Endivien kaute, sagte: »Mann aus Tartessos, beurteilt nicht alle Bankette Athens nach diesem hier. Unser Langschädel-Zeus ist als Gastgeber zu ernst veranlagt. Ihr solltet eine Gesellschaft bei einem unserer lebhafteren Geister mitmachen, beim jungen Alkibiades …« Da das Essen karg und einfach war, nahm die Mahlzeit nicht viel Zeit in Anspruch. Die Gespräche der Philosophen übertönten fast das Gedudel der Aulos. Perikles räusperte sich und sagte: »Meine Herren, ehe wir mit dem Symposion beginnen, darf ich meine Aspasia als Zuhörerin hereinbringen?« Als niemand widersprach, flüsterte Perikles einem Sklaven etwas zu, der dann hinausging. Antiphon sagte hinter vorgehaltener Hand zu Bulnes: »Das ist einer der Vorteile einer Konkubine. Die gesetzliche Frau kann man anständigerweise nicht in eine solche Versammlung einführen. Und das Komische daran ist, daß Perikles sie nicht heiraten kann, wegen eines Gesetzes, das er selbst vor Jahren eingeführt hat und das die Verbindung von Bürgern mit Ausländern verbietet…« Aspasia schwebte herein – eine große, schöne Frau in Bulnes' Alter. »Meine Herren!« sagte sie. »Es ist überaus freundlich von
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Euch, mir zu gestatten …« Statt sich auszustrecken, setzte sie sich auf einen Stuhl. Antiphon sagte: »Wartet, bis sie in Schwung kommt! Aspasia wird einige der feinsinnigen philosophischen Theorien zu Knoten verknüpfen. Mag sie auch eine Frau sein, so hat die Mileserin einen durchtriebenen und durchdringenden Geist.« Sklaven schleppten drei große Becken herein und stellten sie auf den Boden, mitten in den hufeisenförmigen Raum, den die zusammengerückten Lagerstätten bildeten. Andere trugen die wackligen Tischchen hinaus, auf denen das Essen serviert worden war. Bulnes, der diese Vorgänge beobachtete, spürte, daß jemand von hinten an seinem Chiton zupfte. Hinter ihm stand ein Sklave mit einer Faust voll Stroh. Erstaunt sah Bulnes sich um und stellte fest, daß mehrere andere einen Strohhalm gezogen hatten. Er zog ebenfalls einen Halm. Sodann verkündete Perikles: »Der kurze Strohhalm wurde vom guten Archelaos gezogen, der hiermit zum Zermonienmeister ernannt wird. O Archelaos, übernehmt die Leitung!« Der Graubart, der Bulnes gegenüber lag, erhob sich und befahl: »Man mische den Wein im Verhältnis zwei zu eins!« Bulnes dankte seinem Glücksstern, daß das Los nicht auf ihn gefallen war. Während die Sklaven den Inhalt eines Weinkruges und zweier Wasserkrüge in die großen Schalen gössen, sagte Antiphon: »Wir sollten Krations, den Komödienschreiber, als Diskussionsleiter haben! Der würde eins zu eins mischen lassen und selbst einen ganzen Krug leeren.« Archelaos schöpfte etwas von dem verdünnten Wein aus einer der Schalen, sagte etwas von den olympischen Göttern‹ und goß den Wein auf den Boden. Dann schöpfte er zwei
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weitere Trankopfer: »An die Helden« und »An Zeus, den Retter«. Sodann streute er Räucherwerk auf den Hausaltar. Bulnes hörte, daß um ihn herum zu der Melodie der Klarinette gesungen wurde. Er lauschte und versuchte den Text zu verstehen: »In mächt'gen Krügen sollt ihr bringen Tief rotes Rebenblut herein Auf daß wir zechen und singen und preisen den Gott des Weins.« »Nun«, verkündete Archelaos, »das Thema dieses Abends lautet: der Ursprung des Universums.« Antiphon ließ ein Stöhnen vernehmen, in das mehrere andere einstimmten. »Ich wußte es ja!« jammerte der Sophist. »Genauso gut könnte man unter den Speeren der Spartaner sterben, bevor man seinen Geist vor Langeweile aufgibt. Dieser Anaxagoras wird die ganze Nacht über seine Theorie der Ursaat abhandeln. Aber vielleicht gefällt Euch Fremden dergleichen!« Archelaos sah Antiphon böse an und fuhr fort: »Als ersten rufe ich unseren jungen Freund aus Abdera auf. Sprich, o Demokrit!« Über seinem zerzausten Bart lief Demokrit knallrot an. »Ich – äh – weiß wirklich nicht… Bin nicht wert… Bitte …« »Kommt, kommt, legt Eure Scheu ab«, sagte Archelaos. Demokrit lächelte nervös. »Nun, Leukipp hat mich gelehrt, daß als erstes die Atome waren und das Nichts – auch ich bin schließlich im Vergleich zu diesen hervorragenden Männern ein Nichts. Und als die Atome durch das Nichts fielen, haben die Gewichtsunterschiede – so glauben wir – bewirkt, daß einige 187
schneller fielen als andere, daß daher Wirbel entstanden, und diese Wirbel sich zu festen Teilchen verdichteten …« Während Demokrit, für den das Reden offensichtlich eine Folter war, weiterstotterte, warf Bulnes einen Blick zu Perikles hinüber. Dieser betrachtete Demokrit mit einem mitfühlenden Lächeln und sah dann wieder auf ein Stück Papyrus in seiner Hand. Bulnes fragte sich, ob das Blatt wohl eine Anwesenheitsliste enthielt, die Perikles-Vasil mit der Kartei seiner Pseudo-Griechen vergleichen konnte. »Hör mal, Knut! Beobachte Meton!« flüsterte ihm Flin vom Nachbarlager her zu. Bulnes sah, daß der Astronom denselben Prozeß durchmachte, wie die Milizsoldaten, die er heute morgen auf dem Exerzierplatz beobachtet hatte. Meton schwang die Füße von der Liege, setzte sich auf, starrte wild um sich und rief auf Neugriechisch aus: »Wo bin ich? Was soll das? Bildet Ihr Leute euch ein, ihr wärt alte Griechen?« Demokrit brach ab und starrte Meton, ebenso wie die anderen, an. Meton wollte aufstehen, sah dann zu Boden, als sein einziges Bekleidungsstück, ein lose umgehängter Chiton, hinunterrutschte. Wütend griff er danach. Antiphon sagte: »Beim Herakles, das ist dieselbe Besessenheit, die heute morgen die Soldaten auf dem Exerzierplatz erfaßt haben soll! Geht denn in Athen eine Epidemie allgemeinen Irrsinns um?« »Verdammt!« schrie Meton. »Sagt doch was! Versteht mich denn niemand?« Dann sah sich Meton betroffen um und legte sich wieder auf das Lager. Anaxagoras rief: »Was fehlt dir, o Meton?«
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»Wieso?« fragte Meton in klassischem Attisch. »Was meinst du? Ich spürte eben ein leichtes Schwindelgefühl und habe mich hingesetzt. Jetzt fühle ich mich wieder ganz normal.« »Erinnerst du dich nicht, daß du in einem Kauderwelsch gesprochen hast?« fragte Sokrates. »Überhaupt nicht! Was soll das? Treibt ihr Scherz mit mir?« Bulnes beugte sich zu Flin hinüber und murmelte auf Englisch: »Perikles hat es so eingerichtet, daß bei jedem seiner Gäste einzeln die Strahlung ausgeschaltet wird, und das in einer bestimmten Reihenfolge.« »Was sollen wir tun? Wenn die nicht alle auf einmal lostoben, wann sollen wir dann verrückt spielen?« »Überhaupt nicht. Denn wenn er seinen Leuten befiehlt, die Liste zu überprüfen, werden sie draufkommen, daß wir beide nicht in der Kartei stehen.« »Oho!« sagte Flin. »Ich wußte ja, daß es verdammt blöde war, hierher zu kommen. Sehen wir zu, daß wir verschwinden!« »Noch nicht. Die Gesellschaft wird sich nach einigen weiteren Unterbrechungen dieser Art ohnehin auflösen, und wir möchten uns doch nicht von vornherein verdächtig machen.« Aspasia sagte: »Fahrt fort, teurer Demokritos. Ihr wart herrlich!« Die Unterbrechung hatte den jungen Mann aber derart aus der Fassung gebracht, daß er außer Ahs und Hms nicht mehr herausbrachte. Schließlich sagte Archelaos: »O Demokritos, wir werden auf dich zurückkommen. Inzwischen wird Sokrates, den das Orakel zum weisesten Mann Athens erkoren hat, uns vielleicht mit ein paar Worten über sein profundes Thema erfreuen?« 189
»Es ist allgemein bekannt, daß ich der Dümmste in Athen bin«, begann Sokrates. »Ansonsten würde ich es nicht für notwendig finden, so viele Fragen zu stellen. Und was den Ursprung des Universums anlangt, so halte ich das für keine Frage von großer Bedeutung, weil – was immer der Urgrund sein mag – es vor langer Zeit passiert ist und die Probleme, ein gutes und tugendhaftes Leben zu führen, viel dringlicher sind. Doch da ihr es wünscht, werde ich euch eine Geschichte erzählen, die ich von meinen pythagoräischen Freunden erfahren habe. Sie behaupten folgendes: Da alle körperlichen Dinge erschaffen werden, muß auch der Kosmos erschaffen werden, muß auch der Kosmos erschaffen worden sein, was einen Schöpfer oder Macher bedingt. Diesen Macher nennen wir mangels besseren Wissens ›die Götter‹. So vermeiden die Pythagoräer, wie man sieht, den krassen Materialismus unserer streng naturwissenschaftlichen Kollegen. Und dieser Macher muß das Universum aus den bis dahin bestehenden vier Elementen geschaffen haben: Erde, Luft, Feuer und Wasser, wie Empedokles lehrt, und er hat kein einziges Teilchen oder Wirkungsvermögen dieser Elemente übriggelassen. Und in der Absicht des Machers lag es, daß das Universum ein lebendes Wesen sein soll, vollkommen und gänzlich …« Bulnes, der Archelaos beobachtete, sah, wie dieser erstarrte, den Sokrates verwundert ansah und auf Neugriechisch ausrief: »Was soll das? Ich bin Eleftherios Protopapadakis, und ich habe eben meine Schüler weggeschickt…« Diesmal übertönte der Tumult die Worte von Sokrates und Archelaos. Und dann lag dieser wieder auf seinem Lager, als wäre nichts passiert.
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»Fahren wir fort«, sagte Perikles. »Was immer diese seltsamen Besessenheiten sein mögen – sie dauern nicht lange und zeitigen auch keine üblen Nachwirkungen. »Wollt Ihr Eure Rede wieder aufnehmen, o Sokrates?« Bulnes merkte, daß Perikles den Papyrusbogen in seiner Hand ansah und eine Bewegung machte, als hake er einen Namen auf der Liste ab. Die Gesellschaft war mittlerweile so konfus geworden, daß Archelaos und Perikles fünf Minuten brauchten, um die Gäste zu beruhigen. Sokrates fuhr fort: »… daher schufen die Götter bei ihrem ersten Versuch, intelligente Wesen zu schaffen, androgyne Körper, von denen jeder vier Arme und vier Beine hatte. Doch da sich diese als unbeholfen erwiesen, versenkten die Götter in ihrer Güte diese Wesen in einen Schlaf, und während sie schliefen, spalteten die Götter jeden der Länge nach in zwei Teile, wobei ein Teil ein männlicher Mensch und einer ein weiblicher Mensch wurde. Und so kommt es, daß zwei Geschlechter existieren …« Es kam noch mehr … über die mathematischen Größen, deren sich die Götter bei der Schaffung des Universums bedienten, über die höheren Wesen von Erde und Gestirnen und die Planetenbewegungen – und das alles verwickelt und verschachtelt in zungenbrecherischen Satzfolgen. Antiphon murmelte: »Vielleicht ist er nicht der Dümmste in Athen. Wenn er es aber darauf anlegt, kann er gewiß der Langweiligste sein.« Bulnes schüttelte bejahend den Kopf. Antiphon fuhr fort: »Kein Zweifel, er ist ein gerechter Mann, doch durch seine Überbetonung der Tugend begeht er eine Ungerechtigkeit.« »Wie das?« 191
»Er beharrt darauf, alle Interessenten gratis zu belehren, und vergleicht ehrliche Lehrer wie Protagoras und mich mit Huren, weil wir für unsere Mühen eine angemessene Bezahlung verlangen. Und auf diese Weise setzt er uns herab und ermutigt unsere Schüler, unser bescheidenes Entgelt zu kürzen, indem sie uns drohen, lieber zu Sokrates zu gehen. So bringt er uns ungerecht um unseren Unterhalt.« Während sich der Sophist, über seine eigene Klugheit schmunzelnd, belustigte, wandte Bulnes seine Aufmerksamkeit wieder Perikles zu, weil er die von Sokrates vorgetragenen Ideen nicht nur schwer verständlich fand, sondern auch wissenschaftlich so veraltet, daß sie des Erfassens gar nicht wert waren. Der Staatsmann sah auf seinen Papyrus und hob dann den Blick. Bulnes sagte zu Flin: »Paß auf, er wartet auf den nächsten.« »Sieht aus, als wundere er sich, warum der nächste nicht schon gezappelt hat. Schau mal, wie er Aspasia ansieht!« Das stimmte. Die Blicke, die Perikles nach seiner Gefährtin warf, wurden immer länger und eindringlicher, bis Aspasia selbst es bemerkte und Zeichen von Unbehagen zeigte. Sie beugte sich sogar zu Perikles hinüber und flüsterte ihm eine Frage zu. Sokrates deklamierte weiter: »… und daher haben die Götter Knochen geschaffen: sie haben Erde gesiebt, bis diese rein und weich war, kneteten sie und befeuchteten sie mit Mark, und indem sie sie abwechselnd in Feuer und Wasser tauchten, bearbeiteten sie sie dermaßen, daß sie in beiden Elementen nicht löslich sind. Mit einer Töpferscheibe schufen sie den runden Knochen, der den Schädel bildet…« 192
»Knut«, sagte Flin leise. »Glaubst du, Perikles erwartet, daß Aspasia die nächste ist?« Bulnes nickte. »Ich frage mich schon, ob sie eine Unprä-« In diesem Augenblick durchschnitt ein Schrei den Monolog des Sokrates. Aspasia war von ihrem Sitz aufgesprungen und wich vor Sokrates zurück, der ebenfalls aufgestanden war. »So«, sagte Perikles, »du bist also die Spionin von Lenz?« »Nein, nein …« »Wie kommt es dann, daß du Englisch sprichst?« Perikles näherte sich ihr in drohender Haltung. Seine ruhige, herzliche, väterlich-staatsmännische Art war wie weggeblasen. Die erlauchten Gäste starrten sich offenen Mundes an. Aspasia wich durch die Tür in den Hof zurück. Dann drehte sie sich gewänderwirbelnd um und lief davon. Perikles zog einen Dolch aus seinem Chiton und lief ihr nach. Bulnes sah nichts, was sich als Waffe geeignet hätte, außer einer Schöpfkelle, mit der der Wein in den Krügen mit Wasser gemischt worden war. Er sprang auf, packte den Schöpfer und lief hinter Perikles her. Aspasia verschwand durch die Tür, Perikles ihr nach, und Bulnes folgte Perikles. In der Mitte der Andronitis wich Aspasia dem Altar aus. Dieser kleine Umweg ermöglichte es Perikles, sie einzuholen und ihr den Dolch in den Rücken zu treiben. Fast gleichzeitig hatte Bulnes mit einem einzigen Satz seiner langen Beine Perikles erreicht und hieb ihm mit der Schöpfkelle auf den Kopf. Ein knirschendes Geräusch und Perikles fiel der Länge nach vorne über auf den Körper seiner Geliebten. »Eya! Was ist das?« rief Protagoras vom Eingang her. »Welch ein Graus! Ein Augenblick, den Aischylos wiedergeben 193
sollte! Ich gehe! Knaben, Schuhe und Mantel herbei! Beeilt euch!« Die anderen Gäste riefen ebenfalls nach den Sklaven und nach ihren Sachen. Sie strömten an der Gruppe im Hof vorüber, einige trugen Sandalen und Mäntel in der Hand und nahmen sich keine Zeit zum Anziehen. Sie liefen durch die Haustür und schrien: »Das ist das Werk der Furien!« »Ein Fluch liegt auf Athen!« »Ich war heute abend nicht da!« Dann hörte Bulnes Ausrufe von den Dienern des Perikles: »Der Herr hat die Herrin erstochen, und dann hat der fremde Herr unserem Herrn den Schädel eingeschlagen …« In wenigen Sekunden waren auch sie hinausgelaufen. Bulnes kniete nieder und zog Perikles vom Körper der Aspasia weg. Beide lebten. Bulnes untersuchte den Kopf des Perikles und entdeckte, daß der ausgewölbte Teil des Hinterkopfes eine Konstruktion aus Gips und mit einer Perücke bedeckt war. Die hatte er mit dem Schöpfer eingedrückt. Perikles war bloß betäubt. Aspasia hingegen war ein schlimmerer Fall. Blut färbte ihren Chiton rot. Bulnes sah auf. Flin und Sokrates standen neben ihm. Sonst schien das Haus leer zu sein. Sokrates sagte: »Ein Paar, das einander so treu ergeben war! Und jetzt sind alle Freunde aus guten Tagen auf und davon, damit niemand einer Mitschuld bezichtigt werden kann!« »Und Ihr?« fragte Bulnes. »Mich kümmert es nicht. Wie geht es ihnen? Sind sie tot?« Bulnes stellte seine Diagnose.
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Sokrates sagte: »Ach … der Junge … ihr Sohn! Ein Freund müßte ihn darauf vorbereiten – aber ich scheine der von den Göttern dazu Auserwählte zu sein. Ich komme gleich wieder.« Er verschwand im rückwärtigen Teil des Hauses. Die Frau, die als Aspasia gegolten hatte, öffnete die Augen, bewegte sich und hustete blutigen Schaum. Sie sagte: »Bringt – Lenz – Nachricht.« »Was?« fragte Bulnes. »Sagt ihm – Vasil – hat Verdacht geschöpft.« Sie hustete. »Wenn er den Computer haben will – um ihn auf die Menschheit anzusetzen – jetzt.« »Warum sollte Lenz das wollen?« fragte Bulnes. »Die Macht… Sagt ihm – Eile.« »Und was hat der Imperator bezweckt?« »Die Menschen glücklich zu machen. Er glaubt – am glücklichsten waren sie zu der Zeit des Perikles. Wenn er die ganze Welt so weit bringt…« Sie wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt. »Warum führt er diese Kostümprobe auf?« »Er glaubt, er könne die Fehler – des echten Perikles – vermeiden. Das Goldene Zeitalter zurückbringen.« Flin sagte: »Um Gottes willen, wir müssen etwas für sie tun!« Bulnes gebot ihm Schweigen. »Warum haben Sie Lenz geholfen?« »Ich arbeite – für ihn. Er zahlt gut – und Vasil ist ein Spinner.« »Wo können wir uns verstecken, bis wir Gelegenheit finden, die Nachricht zu überbringen?« »Versucht es bei Kleon. Feind des Perikles.« 195
»Wie exakt ist diese Neuschöpfung Athens? Hat Vasil besondere Mittel und Wege, in die Vergangenheit zu schauen?« »Nein. Seine Experten – haben Bücher gelesen und Relikte studiert – andere auch. Sagt Lenz.« Ihre Stimme verklang, die Augen schlossen sich. Obwohl der Puls noch zu fühlen war, schien sie das Bewußtsein verloren zu haben. Bulnes sagte: »Ich weiß nicht, ob wir für sie noch viel tun können – ohne moderne Ärzte und Medikamente. Wahrscheinlich stirbt sie sehr bald.« »Und er?« »Nur eine leichte Gehirnerschütterung.« »Bei Jupiter, jetzt stecken wir aber in der Klemme! Wir können sie ja nicht gut durch die Straßen tragen – der Transport würde sie ohnehin töten –, wenn wir sie hier liegenlassen, wird er zu sich kommen und ihr den Rest geben.« Bulnes zuckte die Achseln. »Es sei denn, ich erledige ihn jetzt.« »Gott! Nur das nicht!« »Wahrscheinlich hast du recht – aber aus einem falschen Grund. Es hat keinen Zweck, Vasil eins draufzugeben, wenn Lenz den Computer auf die ganze Welt loslassen will. Und wie alle wissen, waren wir die letzten, die das Haus verlassen haben. Er wird sich ausrechnen können, daß auch wir Nichtpräparierte sind. Es wäre nicht gut, wenn er uns hier findet, sobald er zu sich kommt.« Bulnes fühlte Aspasias Puls. Noch immer schlug er schwach. Er wollte sie so nicht liegen lassen, sah aber keinen anderen Ausweg.
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»Sokrates ist noch da«, sagte er. »Er kann genausoviel tun wie wir – was sehr wenig ist. Komm, gehen wir zu Kleon.« 18 Kleons Türhüter sagte: »Ich werde den Herrn rufen.« Nach einer Weile des Wartens wurde die Tür geöffnet. Eine tiefe Stimme dröhnte: »Kommt herein, ihr beiden. Welche großen Neuigkeiten habt Ihr für mich?« Das Fackellicht zeigte einen Mann, ebenso groß wie Knut Bulnes, beleibt und dickbäuchig, mit gelocktem Haarschopf und knapp gehaltenem Bart, aufgeworfener Nase und kleinen, eng beieinanderstehenden Augen. Bulnes schätzte, daß der Mann etliche Jahre jünger als er selbst sein mußte. Bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Mann ein griechisches Kurzschwert in der Hand hielt. »Es verhält sich so, o Kleon …« setzte Flin an, verstummte aber, als Bulnes ihm auf die Zehen trat. Bulnes, der den Mann abschätzend musterte, sagte: »Entschuldigt unser Eindringen zu so umziemlicher Stunde, guter Kleon, aber die Neuigkeiten sind in der Tat gewichtige, besonders für Euch. Erstens müßt Ihr wissen, daß wir nur zwei fahrende Philosophen aus dem fernen Tartessos sind, die …« »Also heraus damit!« sagte Kleon. »Ist dieser Perikles tot, oder was ist?« »Nicht ganz.« »Was soll das, nicht ganz.« »Die Neuigkeiten sind fast ebenso wichtig. Doch hört. Wir, die wir nicht durch eigene Schuld bei Perikles in Ungnade gefal197
len sind, suchen Zuflucht – denn als nichtregistrierte Fremde genießen wir wenig Schutz. Als Gegenleistung für unsere Neuigkeit bitten wir Euch, uns diesen zu gewähren.« Kleon überlegte und sagte dann: »Wenn es Euch nichts ausmacht, mit meinen Sklaven zusammen zu wohnen und wenn Eure Neuigkeiten so wichtig sind, wir Ihr sagt, dann gut. Und jetzt heraus mit der Sprache.« »Perikles hat eben Aspasia ermordet.« »Was? Unmöglich!« »Trotzdem wahr. Und das vor allen Philosophen Athens. Ihr könnt meinen Bericht also leicht nachprüfen.« »Erzählt rasch! Nein, kommt erst herein und schließt die Tür. Es braucht nicht die ganze Welt vor Caria bis Karthago zu hören.« Bulnes berichtete vom Symposion, ließ dabei aber aus, daß er die Gründe für die Ausbrüche scheinbaren Wahnsinns und die wahre Identität des Perikles kannte. »Bei den zwölf Stellungen von Kyrene!« rief Kleon und klatschte sich auf die Schenkel. »Das ist tatsächlich ein Weltwunder!« Er begann in der Andronitis auf und ab zu laufen. »Das wird das Ende dieses Kriechers, dieses Volksverführers sein! Jetzt wird man endlich zu seinem Recht kommen. Kein Frieden mit Sparta mehr! Kein Hätscheln der unterworfenen Städte. Athen wird Herrin eines Reiches, wie das des Großen Königs. Jeder Bürger Athens ein König! Und ich werde es diesen verdammten Reichen zeigen! Kleon, den Gerber, nennen sie mich, diese parfümierten Weichlinge, weil ich meinen Unterhalt verdiene, indem ich ehrlich meine Sklaven selbst antreibe, statt einem schleimigen Metöken meine Angelegen198
heiten zu überlassen. Nun, ich will ihnen die Häute gerben, daß sie lange daran denken werden. Ich werde sie mit den Füßen treten, so wie ich unsere aufrührerischen und undankbaren Verbündeten zertreten werde. Wie aber könnte man den alten Langschädel von seinem Piedestal stürzen? Ha?« Er sah Bulnes an, wobei sich seine Zähne mit einem erbarmungslosen Grinsen entblößten. Bulnes sagte: »Da ich mit den Gesetzen Athens nicht vertraut bin, weiß ich es nicht, aber könnte man ihn nicht wegen Mordes in Haft nehmen?« »Wer sollte ihn festnehmen? Die Aktion gegen einen Mörder muß von den allernächsten Blutsverwandten des Opfers vor den König gebracht werden. Aspasia war aus Milet und hat in Athen keine Verwandten außer den Sohn, den sie von Perikles hat, und der ist bloß ein Junge.« Flin quiekte: »Könnte nicht ihr Schutzherr die Schritte unternehmen?« »Ja, bloß ist ihr Schutzherr derselbe Perikles. Soll er sich selbst anklagen?« »Könnte es nicht der Polemarchos, als gesetzlicher Schützer aller Metöken, tun?« »Ihr berührt damit einen Punkt in der Gesetzgebung, der meines Wissens bis jetzt noch nicht gelöst wurde. Es könnte gehen – wir Athener machen mit Feinheiten des Gesetzes, die der Gerechtigkeit im Wege stehen, kein Federlesen. Zuerst muß ich zum Tholos gehen und mit dem Ratsvorsitzenden die Sache besprechen. Der Vorstand wird eine Sondersitzung für morgen einberufen, um Perikles seines Amtes wegen unehrenhaften Verhaltens zu entheben. Ihr wartet hier, bis ich zurückkomme. Knabe, bring Schuhe und Himation!« 199
Als sich die Haustür hinter Kleons wuchtigem Leib geschlossen hatte, sagte Flin: »Knut, das ist ein gefährlicher Mensch.« »Das habe ich bemerkt. Was hat der echte Kleon seinerzeit gemacht?« »Ich glaube, als er an die Macht kam, hat er den Rat dazu gebracht, die ganze Bevölkerung einer Stadt zu massakrieren oder zu versklaven, weil sie sich nicht dem Delischen Bund anschließen wollte – ach nein, das war zu einer anderen Zeit. Er hat zwar die Absicht gehabt, aber dann hat jemand anderer den Rat dazu gebracht, den Befehl zu widerrufen – in kürzester Zeit.« »Wir müssen uns vorsehen. Du weißt, ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß ich Kleon schon irgendwo gesehen habe.« »Möchte wissen, wer er im normalen Leben sein könnte?« »Ich weiß nicht. Es ist ja nur so ein Gefühl. Wenigstens ist jetzt einiges klarer geworden.« »Zum Beispiel?« »Vasils Plan im allgemeinen. Was ist zu diesem Zeitpunkt der Geschichte mit den Originalathenern geschehen?« »Der Peloponnesische Krieg ist ausgebrochen.« »Ja, aber im Detail?« »Ach du lieber Himmel, es war ein langer und komplizierter Krieg!« »Und die Athener haben verloren?« »Auf lange Sicht ja.« »Und dieser Krieg, behauptest du, hätte das klassische Griechenland zerstört?« »Mehr oder weniger«, sagte Flin. 200
»Warum haben die Athener verloren?« »Soviel ich mich erinnere, aus mehreren Gründen. Einer davon war, daß Perikles gleich zu Beginn an einer Seuche starb und der Rat ohne seinen Führer total aus den Fugen geriet. Man wählte Leute wie Kleon und Alkibiades zu Vorsitzenden und beschloß unverantwortliche Dinge – zum Beispiel die Hinrichtung aller Generäle, weil sie nach gewonnener Seeschlacht versäumt hatten, sämtliche Leichname der Gefallenen der Sitte gemäß zu bergen.« »Verrückt! Warum nur?« »Ach, in bezug auf Bestattungen war man abergläubisch. Am nächsten Tag, als die Generäle tot waren, änderte man die Meinung und richtete den Mann, der den Vorschlag gemacht hatte. »Sehr wetterwendisch.« »Außerdem beuteten sie die unterworfenen Staaten ihres Großreiches aus, bis sie sich deren Haß zuzogen und diese von ihnen abfielen.« »Und ich habe geglaubt, es wäre die große antike Demokratie gewesen?« »War es auch. Du bist die moderne Geschichte gewöhnt, in der Aristokraten und Autoritäre als Imperialisten gelten. In Athen war das einfache Volk imperialistisch und militärisch, während die Reichen und Aristokraten für Frieden und Mäßigung eintraten.« »Warum war das so?« »Weil die Reichen größtenteils Landeigner waren, deren Besitz im Fall eines Krieges mit Sparta vom Feind eingenommen worden wäre, während die polloi ihren Lebensunterhalt mit 201
Überseehandel bestritten und daher für die Ausbreitung des Reiches waren.« »Jetzt verstehe ich«, sagte Bulnes. »Vasil glaubt, das Athen des Perikles wäre ein Höhepunkt der Zivilisation gewesen. Hätte Perikles – das heißt er selbst in einer früheren Inkarnation – manche Dinge nicht falsch beurteilt und wäre er nicht zu einem kritischen Zeitpunkt gestorben, wäre alles immer besser geworden. Warum also nicht Athen mittels des Computers, den seine Wissenschaftler geschaffen haben, neu erstehen lassen und den Film, mit ihm in der Rolle des Perikles, wieder abrollen lassen? Diesmal aber will er aus den Fehlern des echten Perikles lernen. Er will den Krieg mit Sparta verhindern. Er will die Verbündeten einigen und bietet ihnen einen Bund zu ebenbürtigen Bedingungen an, wie ein moderner Staatsmann es tun würde. Und dann, wenn er die ideale Zivilisation auf fester Basis wieder geschaffen hat, will er einen Super-Computer bauen und die ganze Welt von ihm beeinflussen lassen.« »Wie könnte er das, da der Imperator doch keine politische Macht hat?« »Wie konnte er überhaupt so weit kommen? Lenz hat es zugelassen, entweder um sich ihm vom Leibe zu halten oder, was wahrscheinlicher ist, weil Lenz hofft, selbst den Computer anwenden zu können. Wäre Vasil im Grunde nicht ein Spinner, wie Aspasia gesagt hat, dann hätte er das längst durchschaut. Und wie er sie alle gelenkt hat! Man könnte es rechtfertigen, wenn man behauptet, es wären alle so glücklich wie nur möglich gewesen, auch wenn sie dabei nicht über den eigenen Verstand verfügten. Ach, das Ganze ist natürlich eine total verrückte Idee. Kein Mensch denkt daran, die Sklaven – immerhin ein Drittel der Bevölkerung – zu beglücken, und außerdem habe ich den
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Verdacht, daß diese Höhepunkte der Geschichte auf wackligen Beinen stehen.« »Warum?« »Irgendein Professor hat eine Theorie entwickelt, daß es zu diesen Höhepunkten nur kommt, wenn eine Gesellschaft von einer Grundlage des Stillstandes und der Tradition zu einer der Verträge und der Vernunft übergeht und daß dieselben Kräfte, die die Gesellschaft zur Blüte bringen, sie auch verfallen lassen.« »Hör mal, wir sollten Diksen verständigen.« »Von dem Mord wird er ohnehin erfahren, falls du das meinst. Auch ohne Zeitungen.« »Ich meine, er muß wissen, wo wir uns jetzt aufhalten.« »Wir müssen abwarten, was Kleon als erstes tut.« Einige Zeit darauf kehrte Kleon grinsend nach Hause zurück. »Ich habe es hingekriegt!« röhrte er. »Die Perikläer unter den Prytaneis wollten die Sache zwar hinausschieben, aber ich habe es ihnen gezeigt! Die Herolde sind bereits unterwegs, um für morgen früh eine Sondersitzung einzuberufen. Zu schade, daß ihr zwei nicht Zeugen meines Triumphes sein könnt. Wir wollten Perikles ohnehin auf dem Umweg über seine Freunde auf den Pelz rücken, aber so geht es schneller. Also begebt Euch auf Eure Strohsäcke und versucht ja nicht auszurücken. Ich werde Euch vielleicht als Zeugen brauchen, sollte es zu einem Prozeß kommen.« 19
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Eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung wurde Knut Bulnes durch Trompetengeschmetter geweckt. Während er noch lauschte, erstarb die Fanfare und ertönte dann aus größerer Entfernung, dann von noch weiter her, bis sie kaum noch zu hören war. Das waren sicher die Herolde, die man vergangenen Abend in die Nachbarstädte auf Attika geschickt hatte: nach Piräus, Acharnai und die übrigen. Als er und Flin aus ihrer stinkenden kleinen Kammer gekrochen waren, fand Bulnes Kleon unruhig im Hof auf und ab laufend vor. »Ich gehe jetzt«, sagte der Gerber. »Ihr zwei könnt jetzt essen was ihr wollt, euch betrinken, mit einer Sklavin ins Bett gehen – mir alles recht. Aber geht nicht weg, ehe ich es euch erlaube.« Er wies mit einem Kopfnicken zur Haustür, wo zwei kräftige Sklaven mit Knüppeln zur Bekräftigung dieses Befehles dastanden. Flin sagte: »Mein lieber Kleon, wir haben im Haus des Kallaischros eine Verabredung, um Kritias und Demokrit Vorlesungen zu halten.« »Wer ist Demokrit?« »Ein junger Philosoph aus Abdera in Thrakien.« »Nun, Kritias, der Bürger, wird mit seinem Vater in der Versammlung sein – verdammte Reaktionäre, das ganze Pack –, und Demokrit als Fremder zählt nicht.« »Sendet ihm wenigstens Nachricht«, sagte Flin, »daß wir nicht kommen können.« »Darum kann ich mich nicht kümmern«, rief Kleon. »Das Schicksal Athens hängt an einem Faden, und ihr behelligt mich mit Euren läppischen Terminen! Iai für das Volk von Athen!« 204
Kleon ging mit seinen Sklaven hinaus. Flin sagte: »Gestern abend erschien mir das Haus als sichere Zuflucht vor Perikles, heute kommt es mir eher wie eine Fall vor.« Bulnes Lächeln fiel mager aus. »Genau meine Gedanken. Ich glaube, wir müssen den Vormittag mit Vokabeldrillen verbringen, während es im Rat hoch hergeht.« Bulnes hatte seine Liste der auf der drittletzten Silbe betonten Adjektiva zur Hälfte durchgearbeitet, als der Türhüter ihn anredete: »Herr, an der Tür steht ein skythischer Bogenschütze, ein gewisser Pardokas, und will Euch sprechen. Soll ich ihn einlassen?« »Unbedingt!« sagte Bulnes, und als Diksen eintrat: »Mein lieber Roi, wie haben Sie uns gefunden?« Diksen grinste. »Vor Sklaven läßt sich nichts verheimlichen. Die Griechen unterhalten sich in unserer Gegenwart, als wären wir nicht vorhanden, und natürlich schnappen wir vieles auf und tragen es weiter. Was hat es damit auf sich, daß der Gottoberste seiner Holden eine Klinge in den Rücken gejagt hat?« Bulnes berichtete. »Gottchen, was nun?« sagte Diksen. »Die Lage spitzt sich zu. Das heißt, daß ich den ganzen Tag auf den Beinen bleiben muß.« Er gähnte. »Ich muß rüber zum Pnyx, zu dieser Sondersitzung. Könnte gern darauf verzichten!« Der Vormittag zog sich in die Länge. Gegen Mittag hörte Bulnes Kleons Kläffen von draußen. Als der Gerber eintrat, fing er an, den Türhüter mit seinem Spazierstock zu bearbeiten. »Das wird dich lehren, rasch aufzumachen, wenn ich rufe! He, Ihr Tartesser!« »Ja?« sagte Bulnes. »Ist etwas schiefgegangen?« 205
»Hätte ärger kommen können. Ich hatte meinen Fall vorgetragen, und alles ging gut, als die Gefolgsleute des Perikles einen Tumult verursachten und schrien wie Illyrer, bis der Präsident erklärte, er spüre ein Erdbeben und die Sitzung vertagte, weil die Götter nicht gnädig gesinnt wären. Götter!« Er spuckte aus. »Ich hatte gar nicht Zeit, meinen Hauptpunkt vorzubringen – daß Perikles seit langer Zeit geheimnisvolle Besucher empfängt, die aus seinem Haus schleichen und verschwinden. Einer meiner Leute ist einem zum Theseion gefolgt, wo der Kerl sich in Luft auflöste. Zweifellos Spione Spartas, die den Verrat an Athen vorbereiten. Wir werden jedenfalls morgen weitermachen. Wo ist mein Essen? Rasch, du Halunke, ehe ich dich zerschmettere!« Der Sklave lief eilig davon. Während Kleon wartete, ertönte wieder ein Pochen. Ein Mann trat ein. »Was ist, Hermippos?« fragte Kleon. Der Mann erwiderte: »Der Schwellkopf sammelt seine bewaffneten Freunde auf der Akropolis! Am Abend haben wir die schönste Tyrannei, wenn nicht schon früher.« »Was hält uns zurück?« fragte Kleon. »Wir sind auch bewaffnet.« »Aber die Verfassung …« »Ich werde dem Volk eine bessere geben, wenn ich seine Feinde erst in den Staub getreten habe. Sosias, meine Waffen! Hermippos, lauf los und sag Glykon und Diopithes und Drakontides und unseren anderen Freunden, sie wollten sich bewaffnen und ihre Freunde verständigen ah, ich gebe dir lieber eine Liste mit. Wo ist mein nichtsnutziger Sekretär? Sag ihnen, sie sollen auf ihre Schilde ein großes Delta malen. Delta für
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Demos. Sie sollen sich vor Ablauf einer Stunde auf dem Pfad versammeln, der zur Propyleia führt.« Seine Sklaven halfen ihm, Beinschienen und Küraß anzulegen. Flin sagte: »Das entspricht nicht seinem Original-Charakter. Der echte Perikles war ein guter Demokrat, der ohne Anwendung von Gewalt einmal abgesetzt wurde.« »Es ist nicht der echte Perikles«, sagte Bulnes. »Er hält sich bloß dafür. Mein lieber Kleon. Ihr habt keinen Grund, uns weiter hier zu behalten. Laßt uns gehen. Wenn Ihr uns später braucht, könnt ihr uns in der Schenke des Podokles erreichen.« »Geht zum Henker, wenn Ihr wollt! Laßt mich jetzt überlegen. Wir möchten Hagnon und Simmias und Lakratidas …« Bulnes und Flin schlüpften hinaus und liefen in Richtung Akropolis. Bulnes sagte: »Wenn Kleon gewinnt…« »Dieser schreckliche Mensch?« »Genau, mein Freund. Damit ist das Experiment beendet, ganz gleich, was mit Vasil passiert. Jemand wird den Computer ausschalten …« »Nicht unbedingt. Vielleicht übernimmt Lenz ihn einfach, ob Vasil tot ist oder nicht, als ersten Schritt in seinem eigenen Programm.« »Dann ist es wohl unsere Sache, ihn abzustellen.« »Wie denn?« fragte Flin. »Weiß nicht. Wenn wir Sprengstoff hätten …« »Könnten wir nicht ein Seil um den Hals der Statue legen und sie umstürzen?« »Das bezweifle ich. Dazu würde man das halbe Seilzeug aus dem Arsenal des Philon brauchen und einige hundert Mann … 207
Dion!« Bulnes schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Jetzt weiß ich, wer Kleon ist!« »Wer denn?« »Der lang vermißte Prinz Serj, Vasils Bruder. Ich wußte ja, ich hatte diese Schweinsäuglein schon irgendwo gesehen.« »Wie ist das möglich? So groß war der Altersunterschied zwischen den beiden doch nicht!« »Tatsächlich waren sie fünfzehn Jahre auseinander, und ich glaube, Vasil hat sich geschminkt, um älter auszusehen. Wieder eine seiner verrückten Ideen – sich seines Bruders zu entledigen, indem er ihn präpariert, die Rolle eines der Feinde des Perikles zu spielen.« Als sie sich der Akropolis näherten, sah Bulnes, daß ab und zu ein Bewaffneter in dieselbe Richtung ging. Als sie in Sichtweite des Sattels zwischen Akropolis und Areopag kamen, sah er einige Gruppen dieser Männer am Pfad stehen, der sich im Zickzackkurs hinauf zur Propyleia wand. Wie beständiges Tröpfeln kamen immer mehr Männer. Die meisten der in Gruppen Herumstehenden hielten Schild und Speer in der einen Hand, um die andere für drohende Gesten frei zu haben. Als sie noch näherkamen, drang das Lärmen allgemeinen Argumentierens an Bulnes' Ohr, wie das Gackern auf einem riesigen Geflügelhof. Vom oberen Ende des Weges, wo der Pfad sich zwischen Gedenksteinen und Statuen hindurchwand, gingen die Männer weiter zu den säulengeschmückten Nischen der Propyleia. Flin sagte: »Die Athener waren zu diesem Zeitpunkt wenigstens noch ein Volk von Kriegern.« Sie blieben stehen und sahen aus sicherer Entfernung im Verein mit vielen anderen unbewaffneten oder unentschlossenen 208
Athenern zu. Als die Bewaffneten immer zahlreicher wurden, nahmen sie in zwei Gruppen Aufstellung. Die einen waren Parteigänger Kleons (durch das Dreieck auf ihren Schilden gekennzeichnet), und die anderen jene des Perikles. Die zwei Gruppen schleuderten einander Drohungen und Beleidigungen an den Kopf. Einer der Perikläer (die sich zur Propyleia hinaufmühten, während die Kleoniten an den tiefer gelegenen Hängen blieben) sah den Buchstaben Delta auf den Schilden der Kleoniten. Er ging jetzt unter den Perikläern umher und malte ein großes Pi auf deren Schilde. Schließlich kam Kleon den Hang hinaufgekeucht. Er überragte seine Anhänger wie ein Linienschiff einen kleinen Schlepper. Bulnes hörte zwar seine Bullenstimme, konnte aber die Worte nicht verstehen. »Gehen wir näher ran«, schlug er Flin vor. »Alter Freund, wirklich – sind wir nicht nahe genug?« »Unsinn! Komm mit!« Bulnes und Flin kletterten höher, bis sie einen guten Ausblick hatten. Kleon, der nach Nordosten wies, rief: »Athener, seht die Statuen der berühmten Tyrannen! Wollt Ihr dulden, daß wir unsere Nacken unter erneuter Tyrannei beugen? Es wird Zeit, daß wir einen neuen heroischen Harmodios bekommen, einen neuen Aristogeiton …« Der Strom der den Weg hinaufstrebenden Perikläer war abgeebbt. Jetzt stiegen nur mehr wenige hinauf. Kleon brüllte: »Zu welcher Seite streben jene zwei, die den Weg heraufkommen? Perikläer? Erschlagt sie! Elleleleu! Hopliten stürzten vor, Speerspitzen klirrten auf Bronze. Dann lag ein Perikläer auf dem Boden und sie stachen auf ihn ein, 209
während der andere, der während des Laufens Speer und Schild weggeworfen hatte, den Pfad schneller hinunterlief, als seine schwerer bewaffneten Verfolger ihm folgen konnten. »Kommt zurück!« schrie Kleon. »Verzettelt euch nicht!« »Sieh mal dorthin«, sagte Flin. Unten hatte jemand eine Gruppe Perikläer zusammengestellt und marschierte mit ihnen hastig in östlicher Richtung am Nordfuß der Akropolis entlang. Die Nachmittagssonne ließ ihre Helme schimmern. Auch Kleon mußte sie gesehen haben, denn er ließ eine Abteilung vortreten und befahl: »Rasch zu der Hintertreppe der Akropolis! Blockiert sie, so daß keine Parteigänger des Satyr-Königs herauf gelangen!« Er stapfte umher, stieß die Soldaten in Reih und Glied und ließ sich mit vielen in heftige Dispute ein. Bulnes sagte: »Die scheinen den ganzen Tag zur Organisation zu brauchen. Bei diesem Tempo wird es dunkel sein, ehe es zum Kampf kommt.« »Wahrscheinlich wird er versuchen, zu einer politischen Vereinbarung zu kommen, bevor er sich zum Kampf stellt«, sagte Flin. »Siehst du dort die Leute heraufkommen? Da der Polemarchos, dort der König, – die übrigen sind Archonten. Kleon ist ein schlauer Kopf. Er möchte das Gesetz auf seiner Seite haben.« Bulnes und Flin setzten sich und sahen zu, während unendlich langanhaltende Verhandlungen mit endlosem Gestikulieren und Kopfschütteln stattfanden, und Boten kamen und gingen. Die meisten Boten liefen den Weg hinauf in die Propyleia und wieder zurück zu Kleon. Schließlich kam Kleon zu einem Entschluß. Er begann seine Truppen in Schlachtordnung aufzustellen. »Der Schwellkopf«, 210
brüllte er, »sagt, daß er mit uns auf der Akropolis verhandeln will, auf der Ostseite der Propyleia. Bildet eine Viererreihe! Haltet euch bereit – seht zu, daß ihr euch nicht zerstreut. Vielleicht ist es eine Falle.« »Vasil hat etwas vor«, sagte Bulnes. »Gehen wir mit.« Das erwies sich als leichter gesagt, als getan. Unter Kleons Leitung drängten sich seine Leute den Weg zur Propyleia in so dichten Trauben hinauf, daß für Zaungäste kein Platz war. Plötzlich hielt die Reihe an, und es entstand Wirrwarr. »Verteilt euch in der Propyleia!« schrie Kleon. »Macht Platz – ich komme hinauf. Was wollt ihr zwei?« rief er aus und wandte sich damit an Bulnes und Flin, die hinter ihm hinaufstrebten. »Teurer Kleon«, sagte Bulnes, »ich weiß mehr von den Plänen und Methoden des Perikles, als Ihr Euch vorstellen könnt. Wenn Ihr so freundlich seid und uns mitkommen laßt, könnten wir für Euch eine unerwartete Hilfe sein.« »Was erwartet Ihr für Eure Hilfe?« »Nur den Anblick des Triumphes.« »Hm. Also kommt!« Sie drängten sich hinauf zur Propyleia. Dort löste sich das Gedränge ein wenig auf, da die Männer sich zwischen den Säulen und auf den Stufen der großen Eingangshalle verteilt hatten. An der Ostseite der Propyleia, wo die Stufen die Ebene der Akropolis erreichten, hatten Kleons Männer ordnungsgemäß unter den Säulen Aufstellung genommen. Als er zwischen den Helmbüschen durchsehen konnte, bemerkte Bulnes auch, warum: Einige Schritte weiter standen die Perikläer mit erhobenem Schild, Speere in Schulterhöhe. 211
Kleon drängte sich durch die Reihen seiner Leute auf die freie Fläche zwischen den beiden Armeen. »O Perikles«, rief er. »Kommt hervor!« »Da bin ich«, sagte Perikles, der auf einen großen Bronzestreitwagen hinter der ersten Reihe seiner Truppen gestiegen war. Er hatte den korinthischen Helm aus dem Gesicht geschoben, so daß man die olympierhafte Gelassenheit seines ebenmäßigen Gesichtes sehen konnte. Dahinter ragte die Athene Promachos auf. »Was bedeutet dieser Versuch, die Tyrannei einzuführen, du Mörder, du Verräter, du Werkzeug der Reichen, du Kreatur der Spartaner?« »Keine Tyrannei«, sagte die energische Stimme des Perikles, »sondern ein Versuch, einen Akt der Athener zu vereiteln, den sie später bereuen könnten. Ich habe eine Botschaft von der Göttin Athene selbst.« »Erwartet Ihr, daß wir Euch glauben, Ihr, ein notorischer Atheist, soll mit einer göttlichen Botschaft betraut worden sein?« »Nein. Die Göttin selbst soll zu euch sprechen.« »Haha! Ich vermute, Ihr werdet eine große Frau in eine Rüstung stecken und sie als Athene ausgeben, wie es die anderen Tyrannen getan haben!« »Ganz und gar nicht. Pallas Athene selbst soll sprechen – gleich jetzt.« Perikles winkte der Kolossalstatue. »Sprich, o Göttin!« Bulnes kippte fast aus den Sandalen, als eine gewaltige Stimme von der Statue der Athene Promachos herunterdröhnte: »Männer Athens! Athene spricht zu euch! Wisset, daß Perikles kein Tyrann ist, auch kein Verräter oder Mörder, 212
sondern mein heißgeliebter Sohn. Vertraut ihm, folgt ihm, unterstützt ihn auf jede Weise, und er wird Ruhm, Frieden und Wohlstand für euch und eure Nachkommen sichern und ehrenhafte Bestattung für euch alle. Wendet ihr euch aber gegen ihn, so erwarten euch nur Niederlagen. Armut und Zerstörung. Diejenigen unter euch, die voreilig die Waffen gegen ihn erhoben haben, mögen in ihre Häuser zurückkehren und die Waffen verwahren bis zu dem Tag, da Athen ganz Hellas gegen die bedrohlichen Horden der uns umgebenden Barbaren anführen wird. Gehorcht den Gesetzen, bewahrt den Frieden und macht gemeinsam mit Perikles Athen zu einem Leitstern für die ganze Welt.« Dann kam ein Augenblick der Stille, als die große Stimme verstummte. Sie wurde nur durch Flins Ausruf unterbrochen: »Bei Gott, das ist ja eine richtige Stereoanlage!« Und dann folgte Waffengeklirr, als Kleons Männer den Weg von der Propyleia hinunter in die Stadt strömten. 20 Bulnes, gefolgt von Flin, tauchte in der Masse unter und erhaschte den Militärmantel des Politikers Kleon, als dieser mit den übrigen die Treppe der Propyleia hinuntertrottete. »Was nun?« fragte Kleon, dessen breites Gesicht grau vor Entsetzen geworden war. »Ein Trick«, sagte Bulnes. »Wie denn? Das war nicht die Stimme eines Sterblichen – nicht einmal Stentor –«
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»Trotzdem ein Trick. Perikles hat in der Statue eine Maschine verborgen, die die Stimme verstärkt. Ich kann es beweisen, und ich kann die Maschine zerstören. Sammelt Eure Leute, ehe sie sich völlig zerstreuen.« »Sammeln!« kläffte Kleon. »Es ist ein Trick! Ich kann es beweisen. Keine Göttin, sondern nur thessalische Zauberei! Es ist ein Trick! Zu mir, Männer!« Er wandte sich an Bulnes. »Wehe, wenn Ihr nicht recht habt! Sollte dies ein Schwindel sein, den Ihr ausgeheckt habt, dann wird es Euer letzter sein. Hagnon! Diopithes! Hier entlang! Fangt die Renegaten. Es ist ein Trick wie der, den Peisistratos mit dieser Phye angestellt hat.« Er lief umher, fing einen da und einen dort, schüttelte sie, stieß sie und sammelte kraft seiner Persönlichkeit fast die Hälfte seiner ursprünglichsten Streitmacht um sich. »Und jetzt?« fragte Kleon. »Seht zu, daß die Propyleia besetzt wird«, sagte Bulnes«, damit die Perikläer nicht herunterkönnen. Und dann bringt mir eine Menge Stroh – sagen wir einige Dutzend Strohsäcke – und etliche Ölkrüge.« »Was werden wir tun?« flüsterte Flin. »Ein schönes heißes Feuer wird die elektronischen gravitomagnetischen Schaltkreise in der Statue schmelzen lassen.« »Was sagt Ihr da?« fragte Kleon. »Egal – schafft Stroh und Öl herbei, dazu eine Fackel.« Kleon erteilte den Befehl, und eine Schar Männer lief den Hügel hinunter in die Stadt. Bulnes sagte: »Haltet eine Rede, damit unsere Leute beschäftigt sind, bis die anderen zurückkommen.« 214
»O Kleon!« rief ein Mann mit einem Pi auf dem Schild. »Perikles möchte wissen, wann Ihr den Befehlen der Göttin gehorchen wollt?« »Sagt ihm, er möge uns Zeit lassen. Die Sache ist zu ernst, als daß sie ohne Diskussion entschieden werden könnte.« Kleon wandte sich an seine Leute: »Männer Athens, ihr wißt, daß Athene, die tapferste aller Gottheiten, nicht einen stadtbekannten Mörder und Verräter als Mittler ihrer Botschaften an die Sterblichen erwählen würde. Was ihr gehört habt, ist sicher sehr eindrucksvoll, doch wir wollen uns nicht narren lassen wie unsere Urgroßeltern vor einem Jahrhundert von Peisistratos unseligen Angedenkens. Ich habe Grund zu glauben, daß die Stimme, die ihr gehört, ein Trick war …« Er redete und redete, bis die ausgesandten Männer mit Armen voll Strohsäcken heraufkamen. Unter Bulnes Anleitung schleppten sie ihre Lasten zu den Höhlen von Apollo und Pan. Bulnes führte sie in die Höhle des Pan, in den Gang zum Versteck der Priester, bei dessen Anblick einige der Männer überraschte Pfiffe ausstießen. Sie gingen weiter in den Gang, der von dieser Nische in das Hauptsystem unterirdischer Tunnels führte. Bulnes wandte sich an der Kreuzung nach rechts, erklomm die Steigung und stand plötzlich unter den inneren Stützen der großen Statue. Er sagte zu dem neben ihm keuchenden Fun: »Am liebsten möchte ich den Kopf der Dame entfernen, damit es mehr Zugluft für das Feuer gibt. Siehst du die Dinger da oben, die aussehen wie der Haarschmuck einer Frau? Von dort ist die göttliche Stimme gekommen. Gießt Öl auf die Strohsäcke und stapelt sie in der Statue so hoch ihr könnt.«
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Als die ölgetränkten Strohsäcke an Ort und Stelle waren, warf Bulnes selbst die Fackel auf den nächstliegenden. Das Stroh flammte jäh auf. Sie liefen aus dem Tunnel. Hinter ihnen wallten dichte Rauchschwaden auf. In der Propyleia angekommen, sagte Bulnes zu Kleon: »Ihr könnt jetzt wieder hinaufgehen. Bald wird die göttliche Stimme des Perikles für immer verstummen.« »Aus dem Weg!« sagte Kleon und stapfte die Marmorstufen hinauf. In der Halle blieb er stehen. Beim Rückzug der Kleoniten hatten sich die perikläischen Truppen ein wenig vorgewagt, doch die meisten umstanden noch immer den Streitwagen mit Perikles. Hinter dem Wagen drangen kleine schwarze Rauchkringel aus der Promachos. »O Perikles!« brüllte Kleon. »Seht Euch um! Das ist aus Eurer angeblichen Göttin geworden! Falls es kein Trick war, dann laßt Athene abermals sprechen!« Perikles sah sich um, schrie auf, sprang vom Wagen und lief zu der Statue hin. Er hantierte an ihren bronzenen Röcken herum und öffnete dieselbe kleine Tür, aus der Bulnes beim letzten Mal herausgekommen war. Dann sprang er zurück, als ihm hellgelbe Flammenzungen entgegenloderten und ihn daran hinderte, die Tür wieder zu schließen. Die Zugluft fachte das Feuer noch mehr an. Die Rauchwolken wurden größer. Perikles ging jetzt zielbewußt auf Kleon und Bulnes zu: »Also das wolltest du? Gut, wenn das Spiel aus ist, dann sollst wenigstens du nicht überleben und mein Nachfolger werden, du selbstsüchtiger Volksaufwiegler!« Er riß aus seinem Umhang eine Pistole heraus, zielte genau auf Kleon, der ihn verständnislos anstarrte und feuerte. 216
Der Knall der Feuerwaffe und die Explosion des Geschosses waren eins. Bulnes spürte warme Nässe und sah sich noch rechtzeitig um, um mitzukriegen, daß Kleon, dessen Kopf weg war, umfiel. »Der Tartesser!« sagte Perikles auf Englisch. »Auch ein Spion von Lenz?« Perikles brachte die Pistole in Anschlag. Der Finger des Imperators krümmte sich um den Abzug. Hinter Bulnes hörte man ein häßliches Schnappen, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Pfeils, der auf Fleisch trifft. Perikles taumelte zurück und gab einen ungezielten Schuß ab. Dann ertönte das Schwirren einer Bogensehne noch einmal. Mit zwei Pfeilen in der Brust fiel Perikles-Vasil rücklings auf die Pflastersteine. »Bin gar nicht zu früh hier eingetrudelt«, sagte Roi Diksen. »He, seht mal Flin an – der Kerl fällt glatt in Ohnmacht!« In diesem Augenblick überkam die Schar der Bewaffneten dieselbe seltsame Besessenheit, die Bulnes auf dem Exerzierplatz und dann im Hause des Perikles erlebt hatte. Männer ließen ihre Speere und Schilde fallen, drehten sich verwundert und beunruhigt um und fragten einander auf Neugriechisch, wer und wo sie wären. Bulnes trat zu der Stelle, wo Vasil Hohnsol-Romano, Imperator der Erde, lag, und hob die Pistole auf. Der Imperator sah auf und sagte leise: »Ihr Narren! Ich hätte euch den Himmel auf Erden bereitet. Der Pöbel weiß ja nie, was – wofür er …« Er ließ den Kopf sinken. Diksen sagte: »He, Mr. Bulnes, das Theater ist vorüber!«
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Bulnes wies auf die Statue der Athene Promachos. Das Feuer verzehrte sich selbst, obwohl die Statue stellenweise noch rötlich glühte. Er sagte: »Das ist unser Werk!« »Ja? Dann sind wir die einzigen, die hier wissen, was gespielt wurde. Steigt hinauf und sagt es ihnen!« »Ja. Sie haben recht.« Bulnes hievte sich auf den Bronzestreitwagen und sagte in holprigem Neugriechisch: »Meine Herren! Wenn Sie mir freundlichst Aufmerksamkeit schenken, werde ich Ihnen erklären, was geschehen ist…« Eine Stunde später hatte er seine Erklärung beendet. Fragen beantwortet und sogar aus einigen Griechen eine provisorische Regierung Athens gebildet: einige sollten hinunter in die Stadt gehen und seine Erklärung vor dem verwirrten Volk wiederholen, andere die Stadt polizeilich leiten, bis sie sich selbst neu organisieren konnte. Wieder andere sollten Bulnes in die Tunnels begleiten. Diksen machte er zum Polizeichef, ungeachtet dessen Gejammers: »Aber ich will hier nicht mehr Bulle spielen! Ich möchte zurück ins gute alte Yonkers! Sollte ich je wieder meine Nase aus Kaplens Kramladen hinausstecken, dann könnt ihr mich in Olivenöl sieden…« Der wiederbelebte Flin sagte: »Ich muß Thalia suchen!« »Warte, teurer Freund«, sagte Bulnes. »Ich habe eine Aufgabe …« »Ach, da such dir jemand anders! Ich habe keine Zeit zu verlieren.« Bulnes sah ihm nach; sein Zorn verwandelte sich in Verachtung. Und dann brachte ihn der Weggang Flins auf eine Idee. Er führte seine Leute zurück zur Höhle des Apollo, in den von der Orakelnische wegführenden Tunnel. Vor dem Schott,
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das in das Tunnelsystem führte, drückte er diesmal auf den Rufknopf. Nach einer Weile ging die Tür auf und enthüllte einen erstaunt gut aussehenden Mann in Khakihosen und Hemd. Bulnes sagte: »Auf dem Weg, werter Herr! Der Imp ist tot und der Sender ist hin. Die Vorstellung ist aus.« Der Mann wollte nach einer Pistole greifen. Bulnes zog die Waffe der Imps heraus und feuerte! Als sich der Rauch verzogen hatte, sah Bulnes den Mann tot auf dem Boden liegen. Bulnes nahm die Pistole des Mannes, reichte sie dem neben ihm stehenden Griechen und führte seine Männer hinunter zu dem unter dem Theseion gelegenen Eingang. Der Mann am Schreibtisch sah offenen Mundes auf, als Bulnes ihm die Pistole unter die Nase hielt und sagte: »Rück den Schlüssel zum Gewehrständer heraus!« Bulnes schloß den Ständer auf und verteilte die Maschinenpistolen. Nach einer Viertelstunde hatte er mit seinen Leuten über hundert der am Projekt Beschäftigten zusammengetrieben. Alle Schalter hatte man auf Null gestellt, auch den, der die Energiebarriere rund um Griechenland steuerte. Bulnes sagte zu den Griechen: »Führt sie hinaus und kettet sie in der Oikama an, bis wir entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hat. Nun guter Mann, wo gibt es hier ein Telefon?« Nachdem er das Telefon gefunden hatte, schaltete er auf Ferngespräch, wählte die Vorwahl von London und dann Trafalgar 9-0672. »Hört ihr mich?« fragte er. »Ist dort die Zeitschrift ›Trends‹? Gut. Verbinden Sie mich mit Mr. Ricci. Robert? Hier ist Knut Bulnes. Ich habe eine Story für dich. Schalte das Tonbandgerät ein …« 219
Nachdem er seinem Chefredakteur einen Bericht über das Perikleische Projekt und seinen eigenen Anteil an den jüngsten Ereignissen durchgegeben hatte, legte er auf und wählte sodann Dagmar Mekreis' Nummer. »Knut, Liebling!« rief sie aus, nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte. »Was ist denn bloß mit dir passiert? Letzten Monat bist du wie vom Erdboden verschwunden …« »Du wirst alles haargenau morgen in den Zeitungen lesen. Ich bin in Athen…« »Das ist unmöglich! Das ist doch Sperrgebiet!« »Nicht mehr, mariposa. In wenigen Tagen wird der Reiseverkehr wieder normal vonstatten gehen.« »Dann kommst du also nach London zurück?« »Noch nicht. Ricci war von dem Bericht, den ich ihm durchgab, so begeistert, daß er mir Urlaub gab, solange ich Lust hätte. Zufällig liegt mein Schiffchen auf dem Grund des Hafenbeckens …« »Oh, wie schrecklich!« »… und es wird Wochen dauern, bis man es heben kann, weil es hier keine modernen Bergungsgeräte gibt. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust herzufliegen, sobald der Linienverkehr wieder normal läuft, um dir hier alles anzusehen, während ich das Schiff in Ordnung bringe.« »Ach – Knut…« »Ja?« »Es tut mir schrecklich leid – ich bin verheiratet.« »Du bist was?«
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»Verheiratet. Erinnerst du dich an Kaal Beiker? Er hat mir schon vor langer Zeit einen Antrag gemacht, und als du so spurlos verschwunden bist – na ja …« »Wann war das?« »Vor vier Tagen. Er ist zu mir gezogen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick von der Arbeit zurück.« Bulnes schluckte. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und dann wieder entwich. »Na – danke, daß du es mir gesagt hast. Hoffentlich – ach zum Teufel! Adieu, Dagmar!« Eine Stunde später kreuzte Bulnes in Segelhosen und Jachtmützen vor dem Haus des Euripides in Piräus auf. Er packte das Elektrorad und klopfte an die Tür. Euripides selbst öffnete. Als Bulnes erklärte, wer er wäre, sagte Euripides: »Tretet ein o Kirie Bulnes.« »Efcharisto«, sagte Bulnes höflich. »Ich bin in Wirklichkeit Kostis Vutiras«, fuhr der Langbart fort, »früher Reporter des Athenian Herald. Ihr Freund Flin ist da. Er hat mir gesagt, daß ich sieben oder acht Jahre lang das Leben des Euripides, des antiken Dichters, gelebt habe. Mir fällt es schwer, das zu glauben, bis auf …« Er zupfte an seinem Bart und ging voraus ins Hausinnere. »Es ist ein wenig peinlich«, fuhr er leiser fort. »Ich habe auch irgendwo eine Frau, und Gott weiß, was sie durchgemacht hat.« Flin saß mit Thalia auf einem Lager. Sie begrüßte Bulnes, ohne sich auch nur im entferntesten an seinen letzten Besuch zu erinnern. Er sagte: »Da sind deine modernen Sachen, mein lieber Wiyem. Die Götter mögen mich davor bewahren, noch einmal mit dem Elektroherd über diese Straßen fahren zu müssen!« 221
Flin sagte: »Danke. Herrlich, daß man wieder Taschen hat.« Thalia fragte: »Knut, hast du mit London schon Verbindung aufgenommen?« »Ja, ich habe die Story durchgegeben und mit Dagmar gesprochen.« »Wie geht es Dagmar nach all den Jahren?« »Sie ist jetzt die Dagmar eines anderen. Sie hat vor wenigen Tagen diesen Beiker geheiratet.« »Oh, Knut, das tut mir leid«, sagte Thalia. Nach einem vergeblichen Versuch, sich zu beherrschen, platzte Flin vor Lachen heraus. »Du findest das amüsant?« fragte Bulnes drohend. »Entschuldige, Knut, wirklich. Aber du läufst jahrelang herum und sagst, du wolltest dir keine Ehefesseln anlegen lassen und kein verdammtes Frauenzimmer wäre das wert, und dann, wenn du den kürzeren ziehst, machst du ein langes Gesicht.« »Geschieht ihm ganz recht«, sagte Thalia. »So wie er das arme Mädchen hat zappeln lassen. Kein Wunder…« Flin, der seine Sachen überprüft hatte, zog ein Radio heraus, das nicht größer war als eine Zigarettenpackung. Er schaltete es ein. Sofort begann es zu summen, und Musik ertönte. »Woher hast du das?« fragte Bulnes. »Ich hatte es die ganze Zeit über bei mir. Hat innerhalb der Energiebarriere nicht funktioniert.« Ein Sprecher meldete: »Wir unterbrechen unser Programm. Die Nachricht von der Aufdeckung des Perikläischen Projektes des verstorbenen Imperators hat das Weltparlament in New York erreicht und große Erregung verursacht. Eine Anzahl von Volksparteianhängern des Premierministers Rudolf Lenz haben 222
sich von ihm losgesagt und sind zu den Diffusionisten übergegangen. Es scheint jetzt sicher, daß die Regierung gestürzt wird und die zwölf Jahre währende Regierung Lenz, eine Regierung der starken Hand, ein Ende findet. Die Krönung des vierzehnjährigen Kronprinzen Seril wird …« Flin sagte: »Möchte wissen, was man mit all den herrlichen Reproduktionen der antiken Bauwerke anfangen wird? Sie niederreißen und die echten Ruinen aufstellen. Ich könnte mir denken, daß man zur Rettung …« Ein Gluckern ertönte. Euripides-Vutrias schenkte Wein ein. Bulnes sagte: »Wenigstens können wir unseren Wein ungewässert trinken, ohne daß man uns für Barbaren hält.« »Was sind deine unmittelbaren Pläne, Knut?« fragte Flin. »Ich möchte mein Boot heben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du…« »Ach nein! Wir kehren sofort nach England zurück, sobald es eine Verbindung gibt. Warum fragst du nicht Diksen, ob er mitkommen will? Er ist ein geschickter junger Mann, wenn auch kein Intellektueller …« »Keine schlechte Idee«, seufzte Bulnes, der sich auf einmal alt und ungeliebt vorkam. Thalia sagte: »Kopf hoch, mein alter Knut. Falls du deine Meinung über Frauen geändert und ehrbare Absichten hast … Wiyem, sind einige von meinen jüngeren Cousinen noch unverheiratet?« Flin überlegte. »Da wäre Ero, die mit den blauen Augen.« »Ausgezeichnet. Ich werde alles in die Wege leiten.« Bulnes sagte: »Entschuldigt mich! Es sollte mich freuen, die junge Dame kennenzulernen, aber darüber hinaus ziehe ich es 223
vor, selbst etwas in die Wege zu leiten. Ich kenne dich zu gut, meine liebe Thalia. Jetzt will ich erst tun, was ich will, essen, was ich will und nicht das, was so ein größenwahnsinniger Imperator für richtig hält…« »Wirklich?« sagte Vutiras. »Ist Ihnen denn niemals der Gedanke gekommen, daß Sie auch in Ihrer sogenannten normalen, modernen Welt des siebenundzwanzigsten Jahrhunderts nur eine gesteuerte Marionette sein könnten und daß Sie bis jetzt nur nicht auf die Idee gekommen sind, hinter die Kulissen zu schauen?« Bulnes und Flin wechselten einen entsetzten Blick. Flin stieß hervor: »Eine überaus gräßliche Vorstellung!«
Nachwort von Robert A. Heinlein Auf dem Gebiet der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur sind Humoristen rar. Das soll nicht heißen, daß es auf diesen Gebieten nicht zahlreiche Autoren gibt, die es mit Humor versuchen. Die meisten dieser Versuche sind possenhaft, burlesk – und die Burleske ist eine Kunst, die auf einem Gebiet, in dem der Phantasie buchstäblich keine Grenzen gesetzt sind, schwierig anzuwenden ist. Derjenige, der sie anwendet, ist oft versucht, einen Eimer voll zu nehmen, wenn ein Teelöffelchen mehr als ausreichend gewesen wäre. Fast ebenso häufig wie die Burleske kommt die Satire zum Zuge, doch ist die Satire ein noch schwerer zu bändigender Gaul. Um ein Lächeln zu erzielen, muß die Satire sehr subtil gehalten sein. Aber schon 224
längst wurde der Beweis erbracht, daß Satire gar nicht dick genug aufgetragen werden kann, wenn sie von allen Lesern erkannt werden will. Und es bleibt auch dann noch immer eine große, sehr lautstarke und verärgerte Minderheit übrig, die die beabsichtigte Satire völlig ernst und für bare Münze nimmt und daher den Autor der Herabsetzung von Mutterschaft und Kirche beschuldigt und von ihm glaubt, er wäre ein Gegner moderner Straßen und neuer Dinge. L. Sprague de Camp ist meiner Meinung nach der einzige zeitgenössische Autor auf dem Gebiet der Science Fiction und Fantasy, dessen Werk in seiner Gesamtheit (ich kann mich jedenfalls an keine Ausnahme erinnern) durchgehend humorvoll ist. Andere Autoren, die sich auf diesen Gebieten betätigen, haben wirklich lustige Geschichten geschrieben – Henry Kuttner, Theodore Sturgeon und Frederic Brown, um einige der ganz wenigen aufzuzählen, die diese schwierigen Kunstgriffe gemeistert haben –, doch außer de Camp hat meines Wissens kein Autor den Humor zum regelmäßigen Produkt seines Schaffens gemacht und es dabei zu etwas gebracht. So wie der Handstand auf einem Finger, ist auch dieser Kniff schwieriger, als es zunächst aussieht. Kann man analysieren, wie er es macht? Literaturkritik im Übermaß ist bestenfalls trockenes Zeug und stammt zu häufig von jemandem, der das, was er kritisiert, selbst nicht fertigbringt, anderen aber erklären will, wie der wahre Künstler sein Ziel erreicht und wie es dieser hätte besser machen können. Echter Humor ist nicht grausam, zumindest wird Grausamkeit auf einen Spritzer Bitterkeit beschränkt. Es war eine grausame Zeit, als das faule Ei, das ins Gesicht des Gefangenen am Pranger klatscht, oder ein Tritt in den Magen oder sogar unerwarteter Tod als überaus lustig galten. Unsere Kultur hat sich 225
seither gewandelt, und solche Grausamkeiten werden kaum noch jemanden zum Lachen bringen – die meisten jedenfalls nicht. De Camps Humor ist nie grausam. Der Scherz ist erträglich, das Peinliche nicht ätzend. Diese zivilisierte Zurückhaltung wird ihn vielleicht um einige billige Lacheffekte bringen (in seinen Romanen und Erzählungen gibt es nur wenige davon), nicht aber um seine Leser, weil er sie nicht erschreckt oder mit Entsetzen erfüllt. Er führt seine Leser vielmehr durch eine Skala von warmem Lächeln, zufriedenem Schmunzeln, bis zum breiten Grinsen. Im Leser bleibt angenehme Wärme zurück, das Gefühl, daß das Leben schließlich doch nicht so übel ist und die Torheiten unserer emanzipierten Affenrasse erträglich, ja sogar unterhaltsam sind, wenn man sie nur nicht zu ernst nimmt. Und ich behaupte, daß dies in einem Zeitalter der Wasserstoffbomben und des Raketenwettrüstens ein sehr erstrebenswertes Ziel ist. Oft kann sich der Leser in den Prahlereien und Mißgeschicken der unheroischen Helden und unschurkischen Schurken de Camps erkennen. Daraus erwächst ein trauriges, aber nicht verbittertes Lächeln und ein Gefühl der Kameraderie – und hier liegt meiner Ansicht nach der Schlüssel zu de Camps Art und Humor. Er kann über sich selbst lachen; er sieht in sich selbst nur einen von der manchmal edlen, aber immer komplizierten Rasse affenartiger Tölpel – und möglicherweise sogar den allerkomischsten. Das ist die Quelle seines liebevollen und milden Humors. Mit Leichtigkeit könnte ich mich darüber verbreitern, warum ich in de Camps Erzählungen Grund zum Lachen finde, doch das wäre weder amüsant noch lehrreich. Ein Gutteil seines Humors scheint auf dem Verkehrten zu basieren, dem 226
Unpassenden, dem Unerwarteten, wie bei dem klassischen Pferd im Badezimmer. Sollten sie für diese Art Humor keine Ader haben, dann spielt das weiter keine Rolle, denn der Humor hat keine festen Regeln, und für die Zunft der Clowns gilt nur ein unwandelbares Gesetz – dasjenige, das behauptet, der Kunde habe immer recht. De Camps Stories sind immer gehaltvoll. Zu seiner Kunst gesellt sich erstaunlich umfassendes Wissen. Zu seiner Bildung und der jahrelangen Erfahrung als Ingenieur kommt eine erstaunliche Menge an vielfältigen Themen – Alchimie, Aerodynamik, Anthropologie, die Kunst des Bogenschießens, Ballistik, Barbarossa, Bacchanalien, Bimetallismus, Blastogenese, Kulte, Katzen, Katapulte, Cephalopoden, Chitons, Chlamys – man kann das Alphabet selbst zu Ende führen, irren kann man sich nicht. Tatsächlich weiß dieser Mann eigentlich zu viel. Seine Gelehrsamkeit wäre unerträglich, wäre sie nicht so unaufdringlich. So aber füllt er seine Bühne mit so vielen authentischen Details, daß das Einfühlungsvermögen des Lesers angeregt, aber nicht überfordert wird. Noch auf andere Weise erreicht de Camp bei seinem Leser das Mitgehen. In seinen Erzählungen gibt es keine Spur von EiPotz-Mentalität, gleichgültig, wie fern oder unwahrscheinlich die Szenerie ist. Sogar in der Viagener-Serie – obgleich der Schauplatz so weiträumig ist, daß er Fortbewegung mit Lichtgeschwindigkeit erfordert – sind die Charaktere nur lebensgroß und die Handlungen jene von Menschen und nicht von Halbgöttern. De Camp hat nie eine Galaxie vernichtet und nur selten und dann entschuldbar die menschliche Rasse gerettet. Für einige mag dies die Würze beeinträchtigen – für mich jedenfalls nicht. Die beste Fantasy ist für gewöhnlich nicht mehr als spritzig – leichter Wein, die schlechteste bloß Brause227
limonade – nichts als Blasen und synthetischer Geschmack. Die größten Weltraum-Reißer sind im besten Fall starker Bourbon, die schlechtesten Fusel. Im Rahmen dieser Vergleiche würde ich die Romane und Erzählungen de Camps als sehr trockenen Martini einstufen.
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