Frühe Neuzeit Band 150
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben ...
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Frühe Neuzeit Band 150
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Lutz-Henning Pietsch
Topik der Kritik Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern
De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Meinen Eltern
ISBN 978-3-11-023367-4 e-ISBN 978-3-11-023368-1 ISSN 0934-5531 Bibliogra¿sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra¿e; detaillierte bibliogra¿sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen f Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
V
Inhaltsverzeichnis I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Philosophiegeschichte, Ideengeschichte, Kontroversengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Metaphern in Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeitliche und inhaltliche Eingrenzungen . . . . . . . . . .
1 6 13
II. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie 1781–1788 in ihrem historischen Verlauf . . . . . . . . . . . .
25
1. Früheste Aufnahme der Kritik der reinen Vernunft; die Göttinger Rezension (1781–1782) . . . . . . . . . . . 25 2. Weitere Rezensionen; die Prolegomena (1782–1783) . . . 32 3. Erste grundsätzliche Stellungnahmen zur kritischen Philosophie (1784): Tiedemann, Klewiz, Selle, Schultz, Platner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4. Christian Gottfried Schütz und der Beginn der Kantrezeption an der Universität Jena (1784–1785) . . . . 48 5. Gründung der Allgemeinen Literatur-Zeitung; die Auseinandersetzungen mit Herder und Heinicke (1785) 53 6. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) . . . 62 7. Jenaer Adaptionen der kritischen Philosophie (1785–1786): Ulrich, Hufeland, Schmid . . . . . . . . . . 67 8. Frühe Kantianer außerhalb Jenas (1785–1786): Bering (Marburg), Born (Leipzig), Jakob (Halle) . . . . . . 73 9. Die theologisch-religionsphilosophische Debatte: das Kant-Verbot in Marburg; der Pantheismusstreit (1785–1786) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 10. Formierung der popularphilosophischen Offensive gegen Kant (1786): Feder, Meiners, Tittel, Pistorius, Forster, Metzger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 11. Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie (1786–87) 101 12. Zuspitzung der religionsphilosophischen Krise: Reimarus, Kleuker, Obereit, Herder (1787) . . . . . . . . . 108 13. ›Kampf der Systeme‹: Feder, Abel, Kausch, Jacobi und die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) 119
VI 14. Fortsetzung der moralphilosophischen Debatte (1787–1788): Abel, Rehberg, Jenisch und Kants Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . 141 15. Allgemeine Tendenzen der Kantrezeption 1786–1788: Popularisierung und Interdisziplinarität; Kant in Göttingen (Lichtenberg, Bürger) und an weiteren Universitäten; katholische Kantrezeption; Historisierung und Kanonisierung (Will, Jenisch, Schulze) . . . . . . . . . . . 154 16. Fortsetzung der empiristischen Kritik an Kant (1787–1788): Tittel, Selle, Weishaupt; die Antworten Schmids, Borns und Dufresnes; Feders und Meiners’ Philosophische Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Die Rolle von Metaphern in der Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verfassung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . a) Kampfplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Königliche Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kantische Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Krise und Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zerstörung und Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . d) Schlummernde und arbeitsame Vernunft . . . . . . . . . 4. Diskurse der Grenzziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grenzen und Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . b) Insel und Seereise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) ›Reine‹ Vernunft und ›ganzer‹ Mensch . . . . . . . . . . d) Abschließung des Subjekts und Zustrom der Sinnlichkeit 5. Die Neuordnung der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . a) Geographische Vermessung . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmung des Weges . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ruheplatz und Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . d) Position der Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Befriedung der Gelehrtenrepublik . . . . . . . . . . . .
193 193 196 196 200 210 212 212 219 223 231 238 238 249 257 268 271 271 276 280 285 295
IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
1
I.
Einleitung
1. Philosophiegeschichte, Ideengeschichte, Kontroversengeschichte In seiner 1840 erschienenen Geschichte der Kant’schen Philosophie bemerkt Karl Rosenkranz: Die Entwicklung der Kant’schen Philosophie […] hat der Form nach, wie die einer jeden universellen Philosophie, folgende Momente: Erstlich breitet sie sich für sich in einer Schule aus, welche das System des Meisters wiederholt und durch Detailausführungen befestigt. Zweitens erhebt sich gegen dieselbe ein Kampf. Die schon bestehenden Philosophieen durch den neuen Prätendenten, der die allgemeine Aufmerksamkeit des Publikums gewinnt, im ruhigen Genuß des Besitzes ihrer Herrschaft gestört, reagieren und fördern dadurch, indem ihr Inhalt selbst das Bauzeug ist, aus welchem die neue Macht sich organisiert, einerseits ihren Sturz, andererseits, was dasselbe ist, den Sieg der über ihren Häuptern hinschreitenden Philosophie. Drittens aber liegt in diesem Kampf der Keim zu einer positiven Fortbildung der Philosophie, welche […] wahrhaft productiv eine organische, weiterstrebende Konsequenz unternimmt. In den herkömmlich gewordenen Darstellungen der neueren deutschen Philosophie pflegt man nur das letztere Moment hervorzuheben, die beiden ersteren kaum anzudeuten, das zweite von diesen wohl gar ganz zu verleugnen.1
Rosenkranz’ Feststellung, dass die Philosophiegeschichtsschreibung ihre Aufmerksamkeit einseitig auf das produktiv-fortschreitende Moment in der historischen Abfolge philosophischer Entwürfe richtet und darüber das rein reproduktive oder agonale Moment vernachlässigt, hat bis heute wenig an Berechtigung verloren. Bis zu einem gewissen Grad liegt das allerdings in der disziplinären Logik der Philosophiegeschichte begründet. Diese bleibt bei der Würdigung des historischen Materials letztlich den modernen philosophischen Wertungs- und Wahrheitskriterien verpflichtet. Tendenziell sind deshalb historische philosophische Entwürfe für sie vor allem insofern von Interesse, als sie »die Fackel des Fortschritts […] weitergereicht, das Denken der Wahrheit […] nähergebracht«2 1
2
Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie [1840]. Hg. von Steffen Dietzsch. Berlin 1987, S. 237f. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL, 6. Sonderheft (1994), S. 93–157, hier S. 122.
2 haben und sich damit einfügen in die Vorgeschichte der Philosophie der Gegenwart.3 Aus dieser Perspektive erscheint es für den Philosophiehistoriker eher abwegig, sich bei einer genaueren Beschreibung dessen aufzuhalten, was in Rosenkranz’ Schema die ersten beiden Momente in der Entwicklung einer Philosophie ausmacht: die ihrer Verbreitung und Durchsetzung gegen die Widerstände der vorher dominierenden Philosophie. Denn dabei rücken ›äußere‹, historisch-kontingente Faktoren in den Blickpunkt, die sich nur schlecht mit der traditionellen Beschränkung des Blicks auf die Entwicklung und Entfaltung von Argumenten im »einsame[n] Höhengespräch einiger erlauchter Geister«4 vereinbaren lassen. Mögen Begriffe wie »Kampf«, »Aufmerksamkeit des Publikums«, »Herrschaft« und »Macht«, die über »Sieg« oder »Sturz« einer Philosophie entscheiden, bei dem Hegelianer Rosenkranz auch ganz in ein dialektisches Fortschrittsschema eingespannt bleiben, so wird mit diesen Begriffen doch unweigerlich die pragmatische Dimension einer Philosophie innerhalb eines bestimmten historisch-kulturellen Kontextes ins Bewusstsein gerufen, wird der Blick nicht nur auf die kognitiven Gehalte selbst, sondern auch auf die Umstände und Bedingungen ihrer Vermittlung und Verbreitung gelenkt. Eine solche historisch-kontextualisierende Perspektive ist es, die die vorliegende Untersuchung einnimmt. Sie entspricht damit einer Forderung, die die Methodendiskussion schon seit geraumer Zeit bestimmt: sich vom philosophiegeschichtlichen Höhenkamm weg »in die sachhaltigen Niederungen der Intellektualgeschichte« zu begeben, wo »die Unterscheidungen zwischen großen und nicht so großen verstorbenen Philosophen« an Bedeutung verlieren, um auf diese Weise ein vollständigeres Bild der die Epoche beherrschenden intellektuellen Kräfte und Debatten zu erhalten.5 Bedeutende 3
4
5
In der langen und umfangreichen Debatte über das Verhältnis von Philosophie und Geschichte wurde diese Sicht jüngst auf den Punkt gebracht von Ulrich Johannes Schneider: Teaching the History of Philosophy in 19th-Century Germany. In: Teaching New Histories of Philosophy. Proceedings of a Conference, University Center for Human Values, Princeton University, April 4–6, 2003. Hg. von Jerome B. Schneewind. Princeton 2004, S. 275–295, hier S. 287: »In the end, a truly philosophical history of philosophy is possible only if the term history is replaced by the term development. That much we can learn from Hegel.« Vgl. dagegen Karl Ameriks’ Replik, die als exemplarisch gelten kann für neuere Bemühungen um eine Form von Philosophiegeschichtsschreibung, welche historische mit systematischen Aspekten verbindet, ohne einer teleologischen Sicht zu verfallen: Karl Ameriks: Response to Ulrich Johannes Schneider. In: ebd., S. 297–305. Diese polemisch überspitzte Formulierung schon bei Max Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlauf dargestellt. Jena 1932 (Beiträge zur Geschichte der Universität Jena, Heft 4), S. 3. Vgl. Richard Rorty: Vier Formen des Schreibens von Philosophiegeschichte [engl. 1984]. In: ders.: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt a. M. 2003, S. 355–394, hier S. 387–390, 393f. (Zitat S. 387). Zur Forderung nach einer stärkeren Historisierung und Kontextualisierung der Philosophie- und Ideengeschichte vgl. auch Hans Erich
3 Fortschritte bei der Umsetzung dieses Programms sind gerade auf dem Gebiet der Spätaufklärung zu verzeichnen. Musste die Epoche zwischen den beiden Gipfelgestalten Wolff und Kant lange Zeit als wenig erschlossenes Gebiet gelten, so hat sich diese Situation inzwischen geändert. In den letzten drei Jahrzehnten sind zahlreiche (von Philosophie- wie Literaturhistorikern stammende) Arbeiten erschienen, die sich um die sorgfältige Rekonstruktion der sogenannten Popularphilosophie verdient gemacht haben – jener eklektischen Strömung, die in Abkehr von der strengen Systematik der Wolffschen Schulphilosophie und mit der Aufnahme sensualistischer und empiristischer Ideen aus Frankreich und England die philosophische Szene im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts maßgeblich prägte.6 Von dem auf diesem Gebiet erreichten Kenntnisstand profitiert die vorliegende Untersuchung in erheblichem Maße, wenn sie ihr ideengeschichtliches Interesse7 auf einen eng begrenzten, aber folgenreichen historischen Moment konzentriert: die Herausforderung der Popularphilosophie durch das Auftreten von Kants kritischer Philosophie. Deren phänomenaler Aufstieg vollzog sich innerhalb weniger Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781). Von einer obskuren Lehre, die mit ihrer strengen Systematik und abstrakten Begrifflichkeit dem herrschenden Zeitgeschmack so gar nicht zu entsprechen schien, avancierte sie zum »Gegenstand des ganzen denkenden Deutschlands«, wie ein Briefpartner Kants 1789 festhält.8 Dass dieser Aufstieg nicht ohne Widerstände, sondern unter heftigen Auseinandersetzungen stattfand, haben schon Zeitgenossen betont. Karl Leonhard Reinhold resümiert die Diskussion 1789 mit der Feststellung, es sei wohl
6
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8
Bödeker: Von der »Magd der Theologie« zur »Leitwissenschaft«. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14 (1990), S. 19–57, hier S. 19–22; Günther Lottes: »The State of the Art«. Stand und Perspektiven der »intellectual history«. In: Neue Wege der Ideengeschichte. Fs. Kurt Kluxen. Hg. von Frank-Lothar Kroll. Paderborn u. a. 1996, S. 27–45, hier S. 27. In einer Sammelrezension konnte Claus Altmayer bereits 1991 konstatieren: »Im Zuge eines neuen Interesses an bisher brachliegenden Forschungsfeldern zum 18. Jahrhundert, nicht zuletzt auch infolge der konsequenten forschungspraktischen Umsetzung der Forderung nach einem erweiterten Gegenstandsbereich germanistischer Literaturwissenschaft scheint sich […] in jüngster Zeit ein Wandel anzubahnen: Die Popularphilosophie der deutschen Aufklärung wird salonfähig« (Claus Altmayer: Popularphilosophie. Neue Forschungen zu einem immer noch vernachlässigten Thema. In: Das achtzehnte Jahrhundert 15 [1991], S. 86–92, hier S. 86). Vgl. auch den Forschungsbericht von Riedel: Anthropologie und Literatur. Vgl. die begriffliche Differenzierung Dominik Perlers, wonach es bei einer ideengeschichtlichen Betrachtung eher darum geht, was historische Texte »damals bedeuteten«, während aus philosophiegeschichtlicher Sicht die Frage bestimmend bleibt, was die Texte »heute noch bedeuten können« (Dominik Perler: [Rezension zu] The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy. Hg. von Daniel Garber/Michael Ayers. In: Philosophische Rundschau 46 [1999], S. 43–55, hier S. 47). Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern]. Berlin 1900ff. [im folgenden: AA]. Bd. 11, S. 13 (Brief Johann Gottlieb Schummels an Kant vom 28. März 1789).
4 kaum jemals ein Buch »so angestaunt, bewundert, gehaßt, getadelt, verketzert« worden wie die Kritik der reinen Vernunft.9 Begünstigt durch die fortgeschrittene Entwicklung des Bücher- und Zeitschriftenmarkts entspann sich nach dem Erscheinen der Kritik in Form von zahllosen Schriften, Gegenschriften, Aufsätzen und Rezensionen eine Debatte, wie es sie in dieser publizistischen Dichte in Deutschland zuvor wohl noch nicht gegeben hatte.10 Mit dem Ansatz, durch die Nachzeichnung dieser paradigmatischen Auseinandersetzung zur Erhellung des philosophisch-intellektuellen Profils der Spätaufklärung beizutragen, plaziert die vorliegende Studie sich in einem Forschungsfeld, das kürzlich von Carlos Spoerhase umrissen wurde: Wissensgeschichte als historische Kontroversenforschung. Was die Untersuchung intellektueller Kontroversen zu einer interessanten methodologischen Option der Wissensgeschichte macht, so Spoerhase, ist ihr ›archäologisches‹ Analysepotential.11 Bei der Austragung von Konflikten sind die Kontrahenten häufig gezwungen, implizit vorausgesetzte Grundannahmen, auf denen ihre Wissensansprüche beruhen, explizit zu machen. Die eigenen inhaltlichen Positionen müssen besonders deutlich und prägnant formuliert und von konkurrierenden Positionen abgegrenzt werden, intellektuelle Lagerbildungen und Frontverläufe zeichnen sich mit größerer Schärfe ab. So lässt gerade der Blick auf die Kontroversen einer Epoche die ihr zugrundeliegenden historischen Wissensformationen klarer hervortreten. Indem die behandelten philosophischen Positionen und Parteien in ihrem agonalen Verhältnis thematisiert werden, sind Übereinstimmung und Differenz zu einer Forschungsrichtung markiert, deren bevorzugter Gegenstand (Diskussionen und Problemlagen des nachkantischen Philosophierens zu rekonstruieren) dem der vorliegenden Untersuchung nahesteht: Gemeint ist die von Dieter Henrich begründete Konstellationsforschung. Beide Ansätze, historische Kontroversenforschung und Konstellationsforschung, lassen sich als Ausprägungen einer neuen Ideengeschichte begreifen, wie Kurt Flasch sie jüngst charakterisiert hat: An die Stelle der früheren Konzentration auf »Probleme« oder »Gestalten« tritt die Ausrichtung auf »Textkomplexe«, auf das »Denken in variablen Netzwerken«, auf die »örtlich und zeitlich be9
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Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789 [Repr. 1963], S. 12. Hans Saner schätzt die Zahl der bis zu Kants Tod (1804) erschienenen Aufsätze und Bücher, die sich mit der neuen Philosophie beschäftigten, auf über 2000 Titel von ca. 700 Autoren (vgl. Hans Saner: Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Bd. 1: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken. München 1967, S. 131). Vgl. Carlos Spoerhase: Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte. Am Beispiel von Kontroversen in der Literaturtheorie. In: Geschichte der Germanistik 29/30 (2006), S. 17–24, bes. S. 20–22; ders.: Kontroversen: Zur Formenlehre eines epistemischen Genres. In: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Hg. von Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Bd. 19), S. 49–92, hier S. 60, 78–80.
5 grenzte Konstellation«.12 Der durch Henrich begründete Ansatz geht dabei von einem Konstellationsbegriff aus, welcher konfrontative und harmonisierende Aspekte zugleich miteinschließt. Was einen Kreis von Diskutanten zu einer Konstellation zusammenschließt, ist demnach einerseits der Antagonismus divergierender Standpunkte, andererseits zugleich das Bemühen um die produktive Synthese derselben.13 Ein solches vermittelndes Bestreben kann bei den historischen Akteuren aber keineswegs immer vorausgesetzt werden.14 Das zeigt gerade der Blick auf die frühe Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie, in der sich die gegnerischen Parteien zum großen Teil unversöhnlich gegenüberstanden.15 Zudem ist das der Konstellationsforschung zugrundeliegende Interesse letztlich ein philosophisch-systematisches: Im Abschreiten der Probleme und Positionen, die zur Formierung der Philosophie des Idealismus geführt haben, soll dieser als Denkraum theoretisch durchmessen und sein Argumentationspotential für die Gegenwart erschlossen werden.16 Der vorliegenden Studie geht es hingegen ausschließlich darum, die Durchsetzung der Kantischen Lehre stärker, als das bisher geschehen ist, im historischen Zusammenhang der zeitgenössischen Diskussion zu verankern und sie aus der Eigenperspektive der Zeit heraus als offenen Prozess darzustellen – statt sie, was häufig geschieht, immer schon als schnell verfestigtes Resultat zu betrachten. Die Rekonstruktion der Kontroverse soll dazu dienen, ein möglichst plastisches Bild der im Deutschland der 1780er Jahre 12
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Kurt Flasch: Nachwort: Plätze, Kampfplätze, Gemeinplätze. In: ders.: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. Frankfurt a. M. 2008, S. 349–353. Vgl. Marcelo Stamm: Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven. In: Konstellationsforschung. Hg. von Martin Mulsow/Marcelo Stamm. Frankfurt a. M. 2005, S. 31–73, hier S. 42f. Vgl. Spoerhase: Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte, S. 21; ders.: Kontroversen, S. 80. Besonders an den Parteigängern Kants ist mehrfach ihr aggressiver und kompromissloser Diskussionsstil hervorgehoben worden. Kurt Röttgers etwa sieht den Kampf der Kantianer gegen die Popularphilosophen von einem regelrechten »Vernichtungswillen« geprägt; Wolfgang Riedel spricht von einem »philosophischen Autodafé […], das die Generation der nach 1760 Geborenen mit den Vertretern des vorkritischen Empirismus veranstaltete« (Kurt Röttgers: J.G.H. Feder – Beitrag zu einer Verhinderungsgeschichte eines deutschen Empirismus. In: Kant-Studien 75 [1984], S. 420–441, hier S. 436; Wolfgang Riedel: Kommentar. In: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 373–680, hier S. 386). Vgl. Stamm: Konstellationsforschung, S. 68–72, sowie Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991, S. 20f. Zum Schwanken der Konstellationsforschung »zwischen der Option für argumentative Geltung und der für nicht parteinehmende historische Rekonstruktion« vgl. Manfred Frank: Stichworte zur Konstellationsforschung (aus Schleiermacherscher Inspiration). In: Konstellationsforschung, hg. von Mulsow/ Stamm, S. 139–148, hier S. 147f.
6 zur Debatte stehenden philosophischen Denkrichtungen sowie der zugehörigen personalen Allianzen entstehen zu lassen. Zugleich ist dieses Vorgehen durch die Grundannahme bestimmt, dass eine Theorie (selbst wenn sie so abgeschlossen-monolithisch erscheint wie die Kantische Philosophie) ihre vollen Konturen erst im Kontext konfrontativer Auseinandersetzungen ausprägt oder sichtbar werden lässt. »Der mit Kontroversen häufig in Zusammenhang zu bringende Gewinn an Explikationsdichte und Rechtfertigungstiefe« kann somit im rekonstruierenden Nachvollzug dazu führen, dass »ein besseres Verständnis hinsichtlich der vertretenen Positionen und ihres Verhältnisses zueinander gewonnen wird.«17
2. Metaphern in Kontroversen Zur Rekonstruktion einer Kontroverse gehört nicht nur, die verhandelten sachlichen Gehalte und ihre medialen und institutionellen Vermittlungswege nachzuzeichnen. Von Interesse sind auch argumentationslogische und rhetorisch-stilistische Merkmale, die die Debatte prägen – nicht zuletzt im Hinblick auf das allgemeinere Ziel, Bausteine zu einer »Logik und Rhetorik agonaler intellektueller Diskurse« zu liefern.18 Dem rhetorischen Aspekt wird in der vorliegenden Studie auf spezifische Weise Rechnung getragen, indem im zweiten Hauptabschnitt untersucht wird, welche Rolle die von Kant gebrauchten Metaphern in der Auseinandersetzung um seine Philosophie spielen. Die Fokussierung auf die Metaphorik der Texte ist keine Willkür. Die Metaphernforschung hat die wichtige persuasive und normative Wirkung, die die metaphorische Konzeptualisierung von Themen und Argumenten in öffentlichen Debatten entfaltet, schon lange erkannt.19 Aus diskurstheoretischer Sicht hat vor allem Jürgen Link den Gedanken betont, dass öffentliche Debatten maßgeblich durch kollektive Metaphern und Symbole mitstrukturiert werden.20 Die wichtige Rolle bildlicher Redeelemente (Link spricht von ›Kollektivsymbolen‹) im Meinungskampf wird von ihm damit begründet, dass sie »sehr hohe kulturelle reproduktions-kapazität (sie werden mit vorliebe wiederholt, abgeschrieben, wieder aufgenommen) und sehr 17 18 19
20
Spoerhase: Kontroversen, S. 80. Vgl. Spoerhase: Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte, S. 20, 22. Vgl. Donald A. Schon: Generative Metaphor: A Perspective on Problem-Setting in Social Policy. In: Metaphor and Thought. Hg. von Andrew Ortony. Cambridge u. a. 21993, S. 137–163; Jan Bosman: Persuasive Effects of Political Metaphors. In: Metaphor and Symbolic Activity 2 (1987), S. 97–113. Zur Abgrenzung der durch Link repräsentierten Form der Diskursanalyse, die öffentliche Diskurse als symbolische Kämpfe zwischen kollektiven Akteuren analysiert, von der Foucault’schen Diskursanalyse vgl. Reiner Keller: Diskursanalyse. In: Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Hg. von Ronald Hitzler/Anne Honer. Opladen 1997, S. 309–333, hier S. 311–314.
7 hohe paraphrastische kapazität« haben (d. h. »man kann in einem einzigen kollektivsymbol eine ganze ›botschaft‹ zusammenfassen«).21 Beide Aspekte, die unabhängig von Link schon häufiger an Metaphern hervorgehoben wurden – ihr diskursives Anschlusspotential22 und ihr zusammenfassender, ›essentialisierender‹ Charakter23 – lassen es naheliegend erscheinen, eine metaphernorientierte Perspektive in die Untersuchung von Debatten und Kontroversen mit aufzunehmen. Wenn die Metapher typischerweise dazu dient, einen komplexeren Zusammenhang prägnant auf den Punkt zu bringen, und wenn gerade solche metaphorischen Pointierungen im argumentativen Kontext bevorzugt wiederaufgenommen und fortgeschrieben werden – dann liegt die Relevanz der Metapher für das ›wissensarchäologische‹ Interesse der Kontroversenforschung auf der Hand. Deren Unternehmen, die konkurrierenden intellektuellen Standpunkte und Gruppierungen einer Epoche anhand der zwischen ihnen ausgetragenen Konflikte klarer zu profilieren, kann durch den Blick auf die dominierenden metaphorischen Leitvorstellungen heuristisch unterstützt werden. Sind es doch gerade die eine Debatte beherrschenden kollektiven Metaphern, in denen konträre Meinungen sich in zugespitzter Weise artikulieren. Dabei gilt nicht unbedingt, dass jede Partei ihre jeweils eigenen Metaphern verwendet. Eher verhält es sich so, dass sich der Gegensatz verschiedener diskursiver Positionen in der unterschiedlichen Verwendung und Konkretisierung derselben kollektiven Metaphern manifestiert.24 21
22
23
24
Jürgen Link: Kollektivsymbolik und Mediendiskurse. Zur aktuellen Frage, wie subjektive Aufrüstung funktioniert. In: Kulturrevolution 1 (1982), S. 6–21, hier S. 6. Ralf Konersmann spricht von ›Anschlussphantasien‹, die durch Metaphern geweckt werden (vgl. Ralf Konersmann: Vorwort: Figuratives Wissen. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. von Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, S. 7–21, hier S. 15). Hans Blumenberg hat am Beispiel eines verbalen Schlagabtauschs aus einer Bundestagsdebatte darauf hingewiesen, »wie Metaphern dirigieren, führen und verführen, jedenfalls die bloße Fortsetzung einer Gedankenkette antreiben und anleiten« (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher [Erstausgabe 1979]. Frankfurt a. M. 1997, S. 14). Vgl. Arthur C. Dantos Charakterisierung von Metaphern: »[T]hey serve in a powerful way to fix our images of things, powerful because of the essentializing and reductive character they have« (Arthur C. Danto: Metaphor and Cognition. In: Knowledge and Language. Hg. von Frank R. Ankersmit/Jon J.A. Mooij. Bd. 3: Metaphor and Knowledge. Dordrecht u. a. 1993, S. 21–35 [zuerst in: ders.: Beyond the Brillo Box: The Visual Arts in a Post-Historical Perspective. New York 1992, S. 73–87], hier S. 33.) Zur Theorie der ›ökonomischen‹ Funktion metaphorischer Rede, wonach die Metapher einen Sachverhalt auf prägnantere Weise auszudrücken vermag als jede Erläuterung, vgl. Rüdiger Zill: Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien. Diss. Berlin 1994, S. 68 Anm. 17. Vgl. auch Ortonys »compactness thesis« (Andrew Ortony: Why Metaphors are Necessary and not just Nice. In: Educational Theory 25 [1975], S. 45–53, hier S. 47f.). Darin (nicht in tatsächlicher Widerspruchsbeseitigung) besteht Link zufolge die kulturintegrierende Funktion der Kollektivsymbolik. Vgl. Link: Kollektivsymbolik, S. 12;
8 Mit der Thematisierung von Formen und Funktionen bildlicher Rede in philosophischen Texten ist ein weites Problemfeld angeschnitten,25 so dass einige weitere methodische Abgrenzungen notwendig erscheinen. Der berühmteste Versuch, Metaphern im philosophiegeschichtlichen Zusammenhang auszuwerten, stammt von Hans Blumenberg. In seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie konzipiert Blumenberg die Metapherngeschichte als Hilfsdisziplin der Begriffsgeschichte. Metaphern werden im Hinblick auf ihre Eigenschaft betrachtet, philosophische Orientierung in metaphysischen Grundfragen zu stiften, in denen die Begriffsbildung noch nicht gefestigt ist oder sich (im Fall der ›absoluten‹ Metapher) als prinzipiell unzulänglich erweist.26 Meist wird dabei die Karriere einzelner Daseins- oder Weltmetaphern in großen geschichtlichen Längsschnitten und anhand philosophischer Höhenkammtexte verfolgt.27 Das Interesse der vorliegenden Untersuchung ist anders gelagert. Metaphern interessieren hier weniger als vorbegriffliche Tiefenschicht theoriegeschichtlicher Prozesse denn als diskursive Kohärenzpunkte in einer synchronen Konfliktkonstellation. Statt an einzelnen Metaphernlinien die Genealogie des neuzeitlichen Weltbegreifens festzumachen, wird in Form eines synchronen Querschnitts eine Vielzahl kollektiver Metaphern in den Blick genommen, um an ihrem Gebrauch die intellektuellen Frontenbildungen innerhalb eines zeitlich eng begrenzten Diskussionszusammenhangs nachzuzeichnen. Die Aufmerksamkeit gilt daher nicht nur Höhenkammtexten, sondern allen zeitgenössischen Texten, die in diesem Diskussionszu-
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ders.: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 13; ders.: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Link/Wulf Wülfing. Stuttgart 1984 (Sprache und Geschichte, Bd. 9), S. 63–92, hier S. 74; ders.: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann/Harro Müller. Frankfurt a. M. 1988, S. 284–307, hier S. 287f., 293f., 297, 300. Zur Forschungsdiskussion über den kognitiven Status der Metapher in wissenschaftlichen und philosophischen Texten vgl. die folgenden Überblicke: Lutz Danneberg: Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hg. von Hans Erich Bödeker. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 14), S. 259–421, hier S. 305–313; Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin/New York 2008, S. 273–289. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998 [zuerst in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142], S. 7–13, 15, 23, 25, 98, 144, 166, 177; sowie dazu Rüdiger Zill: Wie die Vernunft es macht … Die Arbeit der Metapher im Prozeß der Zivilisation. In: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Hg. von Franz Josef Wetz/Hermann Timm. Frankfurt a. M. 1999, S. 164–183, hier S. 172–179. Zur Problematisierung eines rein diachronischen Verfahrens vgl. aber Blumenberg: Paradigmen, S. 49.
9 sammenhang stehen, von der großen Monographie Kants oder Herders bis zur anonymen Rezension in den Greifswalder Neuesten Critischen Nachrichten. Birgit Recki hat darauf aufmerksam gemacht, dass in Blumenbergs Bestimmung ›absoluter‹ oder ›Daseinsmetaphern‹ zwei Momente ineinanderfließen, die analytisch voneinander zu trennen sind: ihr ›totalisierender‹ Charakter (sie drücken das Ganze eines Weltverhältnisses aus) und ihre begriffliche Inkommensurabilität (sie lassen sich nicht restlos in begrifflichdiskursive Sprache übersetzen). Das letztere Merkmal wird nach der heute vorherrschenden Auffassung gern Metaphern allgemein zugeschrieben.28 Forschungsgeschichtlich wegweisend waren in dieser Hinsicht bekanntlich die Arbeiten von I.A. Richards und Max Black, in denen die Metapher erstmals als eigenständiges Erkenntnismedium gewürdigt wurde, das spezifische Einsichten und Zusammenhänge vermittelt und daher häufig nicht einfach durch wörtliche Paraphrase ersetzt werden kann.29 An die damit vollzogene kognitive Aufwertung der Metapher knüpfen im wissenschaftstheoretischen Kontext eine Reihe von Arbeiten an, die der Metapher eine unverzichtbare und konstitutive Rolle bei der Entstehung wissenschaftlicher Theorien zuschreiben. Metaphern geben dieser Ansicht zufolge den paradigmatischen Rahmen ab, innerhalb dessen neue Theorieentwürfe entfaltet werden, in Form einer der metaphorischen Leitstruktur angepassten imaginativen Neuordnung eines Wissensbereichs. Wissenschaftliche Innovationen werden demnach im Kern als ›metaphorische Revolutionen‹ (Mary B. Hesse) erklärt und beschrieben.30
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Vgl. Birgit Recki: Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick auf Ernst Cassirer. In: Die Kunst des Überlebens, hg. von Wetz/Timm, S. 142–163, hier S. 153f. Vgl. auch Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 52004, S. 22f. Vgl. Klausnitzer: Literatur und Wissen, S. 270f. Im Unterschied zu vielen seiner Nachfolger ist Black selbst weit davon entfernt, seine Interaktionstheorie zum einzig gültigen Maßstab für die Beschreibung von Metaphern zu erheben. Neben nicht-paraphrasierbaren »interaction-metaphors«, die durch die Überblendung zweier Konzepte neue Einsichten erzeugen, gibt es seiner Auffassung zufolge durchaus auch Metaphern, die ohne Verlust an kognitivem Gehalt durch wörtliche Paraphrase ersetzt werden können und besser mit der herkömmlichen Substitutionstheorie beschreibbar sind – wenn dies auch für Black den weniger interessanten Fall darstellt. Vgl. Max Black: Metaphor. In: ders.: Models and Metaphors. Studies in Language and Philososophy. Ithaca 1962, S. 25–47 [zuerst in: Proceedings of the Aristotelian Society 55 (1954/55), S. 273–294], hier S. 45f. Vgl. Michael A. Arbib/Mary B. Hesse: The Construction of Reality. Cambridge u. a. 1986, S. 156, sowie dazu Bernhard Debatin: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin/New York 1995, S. 143–150 (Teil II, Kap. 2.2: »Theoriekonstitutive Metaphern«); Danneberg: Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte, S. 308–310; Klausnitzer: Literatur und Wissen, S. 287–289 (alle mit reichhaltigen Literaturangaben).
10 In Abgrenzung von dezidiert kreativistischen Metapherntheorien31 geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht etwa darum, die philosophische Innovationsleistung Kants auf die Neuheit seiner Metaphern zurückzuführen. Dass eine solche Sicht zu simpel wäre, legt schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis dieser Studie nahe, wo unter Kapitel III die Metaphern aufgelistet sind, die in den Texten Kants und seiner frühen Anhänger und Gegner dominieren. Von diesen Metaphern sind die meisten alles andere als originell. In seiner Arbeit zur Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache hat Markus Buntfuß berechtigte Kritik daran geäußert, dass die Forschung zumeist das Paradigma der innovativen Metapher gegenüber dem Paradigma der topischen Metapher privilegiert.32 Dabei sind es gerade topisch-konventionelle Metaphern, die in der Alltagskommunikation wie auch im wissenschaftlich-theoretischen Diskurs wichtige argumentative und begründungssichernde Funktionen übernehmen.33 Ihre Überzeugungskraft beziehen solche Metaphern gerade daraus, dass es sich um vertraute Übertragungsmuster handelt, deren Aussagegehalt unmittelbar einleuchtet. Nicht Abweichung und Innovation ist ihr hervorstechendes Kennzeichen, sondern Habitualität. Sie bilden ein Reservoir kollektiver Orientierungsschemata, auf das in alltäglicher wie öffentlicher Redepraxis bevorzugt zurückgegriffen wird, um Positionen zu begründen und plausibel zu machen.34 31
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Vgl. auch Christiane Schildknecht, die das ›nicht-propositionale Wissen‹, das die Metapher vermittelt, in der »Eröffnung neuer – sprachlicher, semantischer, textueller, wissenschaftlicher und anderer möglicher – Welten« sieht (Christiane Schildknecht: Metaphorische Erkenntnis – Grenze des Propositionalen? In: Metapher, Kognition, künstliche Intelligenz. Hg. von Hans Julius Schneider. München 1996, S. 33–52, hier S. 46). Zur Kritik am Metaphernkreativismus vgl. umfassend Edith Puster: Erfassen und Erzeugen. Die kreative Metapher zwischen Idealismus und Realismus. Tübingen 1998 (Philosophische Untersuchungen, Bd. 6). Vgl. Markus Buntfuß: Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache. Berlin/New York 1997 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 84), S. 51, 53, 208. Vgl. auch Raymond W. Gibbs: Metaphor and Thought: The State of the Art. In: The Cambridge Handbook of Metaphor and Thought. Hg. von Raymond W. Gibbs. Cambridge u. a. 2008, S. 3–13, hier S. 5, wo die Abkehr von der traditionellen Privilegierung der kreativen Metapher als einer der wichtigsten Trends der neueren Metaphernforschung herausgestellt wird. Vgl. Buntfuß: Tradition und Innovation, S. 54f. Vgl. ebd., S. 57. ›Habitualität‹ ist eines der vier Strukturmomente, die Lothar Bornscheuer als Kennzeichen eines allgemeinen Topos-Begriffs bestimmt hat. Die in dieser Untersuchung behandelten Metaphern sind ›topisch‹ auch im Sinne der anderen drei Momente, die Bornscheuer nennt: Potentialität (Problemoffenheit, vgl. dazu unten S. 194f.), Intentionalität (Bindung an eine konkrete, kontextuell bestimmte Argumentationsabsicht) und Symbolizität (konzentrierter Ausdruck, zum Beispiel in Gestalt bildhafter Schematisierung, sowie dadurch gewährleistete Erkennbarkeit, Merkbarkeit und Wiederholbarkeit). Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976, S. 91–108; ders.: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-Begriffs. In: Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung. Hg. von Heinrich F. Plett. München 1977, S. 204–212, hier S. 208–210. Metaphern können geradezu als Paradefall topi-
11 Wie hat man sich die orientierende Funktion von Metaphern im Kontext öffentlicher Debatten genauer vorzustellen? Bedenkenswerte Hinweise liefert wiederum Jürgen Links Theorie der Kollektivsymbolik. Wichtig ist Link zufolge das abstrakte Anschauungsschema, das den Metaphern eines Bildfelds (oder einem Kollektivsymbol)35 jeweils zugrundeliegt und das von Link auch als ›Topik‹ bezeichnet wird.36 Es lassen sich demnach verschiedene Arten von Topiken unterscheiden: räumliche ›Situations-Topiken‹, zeitliche ›Prozess-Topiken‹, ›Struktur-Topiken‹ und ›Bewegungs-Topiken‹. Um zwei in dieser Studie behandelte Metapherngruppen als Beispiele anzuführen: Im Fall der Grenzziehungsmetaphern, die in Kapitel III.4 thematisiert werden, dominiert eine Situations-Topik, nämlich die von außen vs. innen; eher einer Struktur-Topik zuzuordnen ist die Architekturmetaphorik in Kapitel III.3.c), wo es um den Gegensatz von alter fragiler und neuer stabiler Ordnung geht (zugleich steckt darin ein prozesshaftes Moment). Entscheidend ist, dass die symbolischen Gegensätze (innen vs. außen, stabil vs. fragil, geordnet vs. chaotisch usw.), die durch solche Topiken aufgebaut werden, Wertungen implizieren; sie sind elementar-ideologisch, wie Link sagt.37 So wird beispielsweise das eigene System gern mit dem stabilen, geordneten Binnenraum o. ä. identifiziert und der fremde Standpunkt entsprechend als instabiles, chaotisches ›Außen‹ abgewertet. Mittels ihrer elementar-ideologischen Topiken sind Metaphern geeignet, »Us«-Identitäten und feindliche »Them«-Identitäten zu bilden.38 Darin liegt ihre polemische Funktion in öffentlichen Auseinandersetzungen.
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scher Wissensformen gelten: »[T]opisches Horizontwissen artikuliert sich vornehmlich in Metaphern« (Rudolf Künzli: Zu Ort und Leistung der Metapher im pädagogischen Verständigungsprozeß. In: Unterricht: Sprache zwischen den Generationen. Beiträge zu Schule und Unterricht in einer sich ändernden Kultur. Hg. von Jörg Petersen. Kiel 1985 [Kieler Beiträge zu Unterricht und Erziehung, Bd. 1], S. 355–372, hier S. 363). Dem Terminus ›Bildfeld‹ liegt in der Regel ein erweiterter Metaphernbegriff zugrunde, der wie Links Begriff des Kollektivsymbols die verschiedensten Formen bildlicher Rede (Metapher, Allegorie, Vergleich, Modell u. a.) im Umkreis einer Zentralmetapher oder metaphorischen Leitvorstellung einbezieht (vgl. Dietmar Peil: Art. ›Metaphernkomplex‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2000, S. 576–578, hier S. 577). Wenn ich im folgenden meistens einfach nur von Metaphern spreche, so ist dabei immer die Metapher in diesem erweiterten Sinn gemeint, als Anwendungsfall einer kollektiven metaphorischen Leitvorstellung oder eines Kollektivsymbols. Vgl. Link: Elementare Literatur, S. 42; ders.: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen, S. 70f.; Axel Drews/Ute Gerhard/Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie. In: IASL, 1. Sonderheft (1985), S. 256–375, hier S. 269f. Vgl. Link: Elementare Literatur, S. 42; Drews/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik, S. 270. Frank Becker/Ute Gerhard/Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: IASL 22 (1997), S. 70–154, hier S. 91.
12 Der zum Teil hohe Habitualisierungsgrad der in Kapitel III aufgeführten Metaphern wirft definitorische Probleme auf.39 Bei so allgemeinen Konzepten wie zum Beispiel ›Grenzen der Vernunft‹ oder ›Position der Mitte‹ kann man fragen, ob sie überhaupt bildliche Vorstellungen implizieren und als Metaphern wahrgenommen werden. Dazu ist festzuhalten, dass grundsätzlich unterschieden werden muss zwischen dem einer jeden metaphorischen Äußerung vorausliegenden Typus (type) und dessen sprachlicher Realisierung (token).40 Auf der type-Ebene angesiedelt sind die allgemeinen und kulturell tradierten metaphorischen Konzepte, die als ›metaphors we live by‹ (Lakoff/Johnson)41 oder als elementare symbolische Topiken (Link)42 tief in das Denken eingesenkt sind und die Bildung aktueller Metaphern auf der token-Ebene generieren. Die Metaphern der token-Ebene wiederum weisen starke Unterschiede auf, was den Grad ihrer Usualität betrifft. Einfache Realisierungen der Konzeptmetaphern wie die Rede von den ›Grenzen‹ der Vernunft oder vom ›Mittelweg‹ der Wahrheit sind zum Teil so stark habitualisiert, dass sie nicht als Metaphern auffallen.43 Doch lassen die types zumindest potentiell auch immer Raum für individuellere Realisationen, in denen die Metaphorizität der Konzeptmetapher reanimiert wird, zum Beispiel wenn in der Diskussion gesagt wird, dass Kant das Gebiet der Vernunft mit Grenzpfählen abgesteckt und einen Graben um sie herum gezogen hat. Wichtig ist, dass stark automatisierte ebenso wie innovative Metaphern sich als Instantiierungen derselben übergreifenden Metapherntypes erweisen. Erstere als ›tote‹ Metaphern aus der Betrachtung ausschließen zu wollen, erschiene von daher nicht gerechtfertigt. 39
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Auf das Problem der Metapherndefinition wird hier nicht ausführlicher eingegangen. Mit Lutz Danneberg halte ich mich an das Vorbild einer Metaphernforscherin, die feststellt: »[A]nyone who has grappled with the problem of metaphor will appreciate the pragmatism of those who proceed to discuss it without giving any definition of it at all« (Janet Martin Soskice: Metaphor and Religious Language. Oxford 1985, S. 15; vgl. Danneberg: Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte, S. 263). Zur unüberschaubaren Zahl metapherntheoretischer Untersuchungen vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen bei Debatin: Die Rationalität der Metapher, S. 1. Ich folge mit dieser Unterscheidung Michael Pielenz: Argumentation und Metapher. Tübingen 1993 (Tübinger Arbeiten zur Linguistik, Bd. 381), S. 109–116. George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago 1980. Zur Überschneidung der Begriffe vgl. Becker/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik II, S. 83f. Kant selbst charakterisiert seine Rede von den Grenzen der Vernunft in den Prolegomena übrigens ausdrücklich als sinnbildliche Rede (vgl. Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Sonderausgabe Darmstadt 1998 [im folgenden: WA]. Bd. 3, S. 236). In seiner Rezension bezeichnet auch Pistorius den Ausdruck ›Grenze‹ als »sinnlichen Ausdruck« und fragt, wieweit die damit verbundenen Assoziationen wohl die Konzeption der kritischen Philosophie beeinflusst haben mögen (Allgemeine deutsche Bibliothek 59/2 [1784], zitiert nach: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87. Hg. von Albert Landau. Bebra 1991 [im folgenden: Landau], S. 106).
13 Mit diesen Ausführungen sind die Prämissen vorgezeichnet, auf denen die Darstellung in Kapitel III beruht. Die zuvor in Kapitel II chronologisch rekonstruierte Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie wird hier als ein synchroner Diskurszusammenhang aufgefasst, in dem sich kollektive Akteure (in Gestalt philosophischer Parteien) einen Kampf um die öffentliche Durchsetzung ihrer Positionen liefern, der durch das kulturspezifische Inventar topischer Metaphern mitstrukturiert wird.44 Topoi werden dabei als »Schaltstellen« intertextueller Prozesse begriffen, deren Dynamik sich entsprechend mittels einer »topisch geleitete[n] Diskursanalyse« erhellen lässt.45 In der polemischen Funktionalisierung topischer Metaphern kristallisieren sich gegensätzliche diskursive Positionen aufs deutlichste heraus, weshalb der metaphernorientierte Aufriss der Debatte in Kapitel III dazu dienen kann, die auf inhaltliche Paraphrasen der einzelnen Diskussionsbeiträge sich stützende Darstellung, die in Kapitel II vorherrscht,46 gerade im Hinblick auf die Profilierung zentraler Streitpunkte und übergreifender argumentativer Allianzbildungen zu vervollständigen und zu vertiefen.
3. Zeitliche und inhaltliche Eingrenzungen Im folgenden wird versucht, die Stimmen, die sich in der frühesten Diskussion um Kants kritische Philosophie zu Wort meldeten, möglichst vollständig zu versammeln.47 Den Beginn der Debatte markiert die Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft im Frühjahr 1781. Hingegen liegt das Jahr 44
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Man kann einwenden, dass die früheste Diskussion um die Kantische Philosophie fast ausschließlich unter Philosophen stattfand und insofern nicht den Charakter einer öffentlichen Debatte hatte, sondern eher in den Bahnen eines gelehrten Spezialdiskurses verlief. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die Philosophie im 18. Jahrhundert (welches schon nach dem Selbstverständnis der Zeitgenossen das »philosophische Jahrhundert« war) noch nicht zu einer Fachwissenschaft ausdifferenziert hatte, sondern sich – über den Vermittlungsweg zahlreicher gelehrter Zeitungen und Zeitschriften – an ein breites bürgerliches Publikum richtete (vgl. Bödeker: Vorüberlegungen, S. 49). Vgl. auch unten die Vorbemerkung zu Kap. III. Wolfgang Neuber: Topik und Intertextualität. Begriffshierarchie und ramistische Wissenschaft in Theodor Zwingers METHODVS APODEMICA. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Frühneuzeit-Studien, Bd. 2), S. 253–278, hier S. 254, 273. Zur Verteidigung des (von Dominick LaCapra als reduktionistisch kritisierten) ›synoptischen‹ Lesens als Methode der Intellektualgeschichte vgl. Martin Jay: Two Cheers for Paraphrase. The Confessions of a Synoptic Intellectual Historian. In: ders.: Fin-de-Siècle Socialism and Other Essays. New York/London 1988, S. 52–63. Einen nur skizzenhaften Versuch in diese Richtung unternimmt Manfred Kuehn: Kant’s Critical Philosophy and Its Reception – the First Five Years (1781–1786). In: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy. Hg. von Paul Guyer. Cambridge u. a. 2006, S. 630–663.
14 1789, in welchem Karl Leonhard Reinhold mit seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens die Transzendentalphilosophie erstmals selbständig weiterentwickelte, schon nicht mehr im Fokus der Darstellung.48 Mit der Ausformulierung seiner sogenannten Elementarphilosophie leitete Reinhold eine grundsätzlich neue Phase ein, in der für einen Kantianer bald nicht mehr die Verteidigung der Kantischen Philosophie gegenüber den Nicht-Kantianern im Mittelpunkt stand, sondern die Frage, wie die kritische Philosophie zu reformieren sei und wer dazu berufen sei.49 Die vorliegende Studie beschränkt sich dagegen auf die rein epigonale, erläuternde oder widerlegende Kantrezeption der Jahre 1781 bis 1788.50 Die Veröffentlichungen Kants, die in diesen Zeitraum fallen und um die sich die Diskussion hauptsächlich dreht, sind außer der Kritik der reinen Vernunft (1781, zweite Auflage 1787) die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788).51 Der Anspruch, die Auseinandersetzung um diese Werke möglichst lückenlos zu dokumentieren, kann allerdings für das Jahr 1788 wegen der rapide anwachsenden Zahl einschlägiger Veröffentlichungen nicht mehr eingelöst werden. Die Diskussion des Jahres 1788 wird daher nur noch insoweit berücksichtigt, als sie an vorhergehende Beiträge anknüpft und deren Themen und Motive fortführt, statt neue Linien zu eröffnen. Als eine Art Abschluss der ersten Phase der Kantrezeption können die Beiträge Adam Weishaupts gelten, der 1788 in drei separaten Publikationen noch einmal einige der wichtigsten Leitmotive der vorangegangenen Kant-Kritik aufgreift, und zwar bereits in dem Bewusstsein, damit nicht mehr dem Geist der Zeit zu entsprechen. Aus der Darstellung ausgespart bleiben hingegen zum Beispiel die Angriffe, die seit 1788 von Johann August Eberhard, dem »letzte[n] 48
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Das Interesse der Konstellationsforschung setzt dagegen genau an diesem Zeitpunkt von Reinholds beginnender Selbständigkeit ein. Vgl. Henrich: Konstellationen, S. 228. Vgl. Kurt Röttgers: Die Kritik der reinen Vernunft und K.L. Reinhold. Fallstudie zur Theoriepragmatik in Schulbildungsprozessen. In: Akten des 4. Internationalen KantKongresses Mainz, 6.–10. April 1974. Teil II.2: Sektionen. Hg. von Gerhard Funke. Berlin/New York 1974, S. 789–804, hier S. 800; Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge (Mass.)/London 1987, S. 227. Nur in Einzelfällen wurden Texte herangezogen, die nach 1788 erschienen sind. Hauptsächlich handelt es sich dabei um spät erschienene Rezensionen zu Werken, die innerhalb des Untersuchungszeitraums liegen. Reuß’ Schrift Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosophie erklären? (1789) wurde mit einbezogen, weil sie die frühe Kantrezeption im katholischen Raum repräsentiert. Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) spielten dagegen in der frühesten Diskussion um die Kantische Philosophie keine große Rolle. Auf sie wird nur beiläufig in Kap. II.15 eingegangen.
15 Wolffianer«,52 und seinem Philosophischen Magazin (1788–1792) ausgingen. Diese neue Offensive gegen Kant (die in der Forschung bereits ausführlich behandelt worden ist)53 steht nicht im direkten Zusammenhang mit der Kant-Kritik der ersten Phase und ist daher nicht mehr Gegenstand der Untersuchung. Inhaltlich wird die erste Phase dominiert von dem Konflikt der Kantischen Fraktion mit derjenigen Richtung der zeitgenössischen Popularphilosophie, die sich unter Aufnahme britischer Einflüsse und in Distanz zur Wolffschen Scholastik einem erfahrungsphilosophischen Standpunkt verpflichtet fühlte.54 Diese Strömung war es, die zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft die philosophische Szene beherrschte und deren Vertreter als erste auf die Kantische Herausforderung reagierten: die Göttinger Feder und Meiners; von ihnen beeinflusste Philosophen wie Tiedemann, Tittel und Weishaupt; Vermittler britischer Philosophie wie Garve und Pistorius;55 philosophierende Ärzte wie Platner, Metzger, Kausch, J.A.H. Reimarus und Selle; Schillers ehemaliger Lehrer Jacob Friedrich Abel; der Weltreisende und Naturgelehrte Georg Forster. Alle diese Philosophen lassen sich jenem Kontext spätaufklärerischen Philosophierens zuordnen, der sich auf die folgenden Begriffe bringen lässt:
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Eberhard Günter Schulz: Die Reaktion der Zeitgenossen auf Kants philosophische Schriften. In: Kant in seiner Zeit. Hg. von Eberhard Günter Schulz. Hildesheim 2005 (Philosophische Texte und Studien, Bd. 78), S. 147–163, hier S. 152. Vgl. Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin/New York 1996 (Kant-Studien, Ergänzungshefte, Bd. 128). Zur Forschung vgl. bes. ebd., S. 59–73 (Kap. 3: »Diskussion der Literatur«). Gawlinas informative Studie gleicht der vorliegenden Untersuchung darin, dass es auch bei ihm darum geht, über die historische Nachzeichnung der Kontroverse zu einer klareren Bestimmung und Abgrenzung der konkurrierenden Positionen zu gelangen. Sein Interesse ist allerdings letztlich kein historisch-wissensarchäologisches, sondern ein philosophisches; er behandelt Kant und Eberhard als mustergültige Repräsentanten des systematischen Gegensatzes von epistemologischem und ontologischem Denken (vgl. ebd., S. V). Vgl. Brigitte Sassen: Introduction. In: Kant’s Early Critics. The Empiricist Critique of the Theoretical Philosophy. Hg. von Brigitte Sassen. Cambridge u. a. 2000, S. 1–49, 279–296 (Anmerkungen), hier S. 2f. Zu den englischen und schottischen Autoren, die Garve ins Deutsche übertrug, gehören Adam Ferguson, Edmund Burke, Alexander Gerard, Adam Smith und Henry Home (vgl. Riedel: Kommentar, S. 419f.). Pistorius übersetzte David Hume und David Hartley (vgl. David Hume: Vermischte Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die andern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staats. 4 Bde. Hamburg/Leipzig 1754–1756; David Hartley: Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflicht und Erwartungen [engl. 1749]. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen begleitet [von Hermann Andreas Pistorius]. 2 Bde. Rostock/ Leipzig 1772/73). Zu Pistorius’ umstrittenem Anteil an der Hume-Übersetzung vgl. Günter Gawlick/Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart/Bad Cannstatt 1987 (FMDA, Abt. 2, Bd. 4), S. 20f. Anm. 35.
16 – Exoterik: Von maßgebender Bedeutung ist das Ideal einer ›Philosophie für die Welt‹, die den konkreten Bezug zur Lebenspraxis sucht und auf eine bürgerliche Öffentlichkeit wirken will. Als vorbildlich gilt ein Philosophieren, das sich durch einen allgemein verständlichen und angenehmen Vortrag auszeichnet und dadurch einem breiten Publikum zugänglich ist.56 – Empirismus und Anthropologie:57 Man orientiert sich an der induktiven Methode eines von britischen und französischen Einflüssen (Locke, Condillac) geprägten Empirismus. Die Ausrichtung auf ein erfahrungsnahes Philosophieren ist mit einer Psychologisierung und Physiologisierung der Erkenntnis- und Moralphilosophie verbunden; der Mensch in seiner leib-seelischen Doppelnatur rückt in den Mittelpunkt des Interesses.58 – Gemäßigter Skeptizismus und Eklektik: Die erfahrungsphilosophische Tradition neigt dazu, sich mit Wahrscheinlichkeiten zu begnügen und die Möglichkeiten menschlicher Vernunft, zu endgültigen Gewissheiten zu 56
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Vgl. Helmut Holzhey: Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung? In: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung. Hg. von Helmut Holzhey/Walther Ch. Zimmerli. Basel/Stuttgart 1977, S. 117–138; Gert Ueding: Popularphilosophie. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. Hg. von Rolf Grimminger. München/Wien 1980 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3), S. 605–634; Riedel: Kommentar, S. 403–411; Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart/Bad Cannstatt 2003 (FMDA, Abt. 2, Bd. 17). Zum engen Zusammenhang beider Begriffe vgl. Riedel: Kommentar, S. 423 Anm. 130. Danach »tritt empirisches und das heißt immer auch metaphysikkritisches Philosophieren in Deutschland seit dem späten achtzehnten Jahrhundert unter dem Titel Anthropologie auf. […] Die Geschichte des deutschen Empirismus ist eingelassen in die Geschichte der philosophischen Anthropologie.« Zur empiristischen Fundierung der Popularphilosophie vgl. Riedel: Kommentar, S. 416–421. Zur Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945 [Repr. 1964], S. 265–286 (Kap. 3.1: »Die Lehre vom Menschen«); Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Literatur und Erfahrungsseelenkunde des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 11–40; Wolfgang Proß: Nachwort. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von Wolfgang Proß. 3 Bde. München/Wien 1984–2002 [im folgenden: HW], S. 1128–1216, bes. S. 1128–1175; Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 105–119; ders.: Kommentar, S. 421–436; ders.: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber/Heinz Thoma. Tübingen 2004, S. 1–17, hier S. 1–11, 17. Gegen die totalisierende Rede von einer anthropologischen ›Wende‹ der Spätaufklärung ist in neuerer Zeit Einspruch erhoben worden; das grundsätzliche Faktum einer empiristischen Anthropologisierung der Philosophie des späten 18. Jahrhunderts wird dabei aber nicht bestritten. Vgl. Gideon Stiening: Ein »Sistem« für den »ganzen Menschen«. Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Aufklärung durch Kritik. Fs. Manfred Baum. Hg. von Dieter Hüning u. a. Berlin 2004, S. 113–139, hier S. 113–125.
17 gelangen, skeptisch zu beurteilen.59 Der Einsicht in die Relativität und Standortgebundenheit empirischen Wissens und der damit verbundenen Abkehr vom Ideal strenger mathematischer Demonstration60 entspricht in der Spätaufklärung eine eklektische Arbeitshaltung: Weil kein philosophisches System die ganze Wahrheit besitzt, gilt es, sich von der Autorität der Schulen zu emanzipieren, die verschiedenen Lehrmeinungen kritisch zu sichten und Elemente daraus nach dem Maßstab des eigenen Urteils zu verwerfen oder zu übernehmen.61 – Common Sense: Als Korrektiv gegenüber einem radikalisierten Zweifel dient die Berufung auf den common sense, den ›gemeinen Menschenverstand‹. Dieser beugt insbesondere den möglichen idealistischen und skeptizistischen Konsequenzen vor, die sich aus Lockes sensualistischem Phänomenalismus ableiten ließen,62 indem er uns intuitive Gewissheit 59
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Zur Affinität des Empirismus zum Skeptizismus vgl. Werner Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffes. In: ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Hg. von Frank Grunert. Berlin 2005 (Philosophische Schriften, Bd. 58), S. 319–342 [zuerst in: Studia Leibnitiana 17 (1985), S. 142–161], hier S. 338. Zur Konjunktur eines ›gemäßigten Skeptizismus‹ im 18. Jahrhundert vgl. Giorgio Tonelli: Kant und die antiken Skeptiker. In: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung. Hg. von Heinz Heimsoeth u. a. Hildesheim 1967 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 6), S. 93–123, hier S. 107–109; Johan van der Zande: In the Image of Cicero: German Philosophy between Wolff and Kant. In: Journal of the History of Ideas 56 (1995), S. 419–442, hier S. 436f.; Manfred Kuehn: Scepticism before Kant. In: The Columbia History of Western Philosophy. Hg. von Richard H. Popkin. New York 1999, S. 487–490, hier S. 488f. Vgl. die Epochencharakterisierung bei Wolfgang Proß: Haller und die Aufklärung. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hg. von Hubert Steinke u. a. Göttingen 2008, S. 415–458, hier S. 421–435. Mustergültig kommt dieses Programm in dem Motto zum Ausdruck, das Feder seiner wichtigsten kantkritischen Schrift Ueber Raum und Caussalität (1787) voranstellt: »Prüfet alles, und das Gute behaltet!« Zur Eklektik der deutschen Aufklärungsphilosophie und ihrem Zusammenhang mit dem Programm des ›Selbstdenkens‹ vgl. Helmut Holzhey: Philosophie als Eklektik. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 18–29; Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen. Rationalismus und Eklektizismus, die Hauptrichtungen der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärungsphilosophie. Frankfurt a. M. 1988, S. 7–57; ders.: In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus. In: ebd., S. 203–222; Norbert Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Raffaele Ciafardone: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Dt. Bearb. von Norbert Hinske/Rainer Specht. Stuttgart 1990, S. 407–458, hier S. 417–424; Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der »eklektischen Philosophie«. In: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 281–343; Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones, Bd. 5); Riedel: Kommentar, S. 411–415. Zum sensualistischen oder physiologischen Phänomenalismus der empiristischen Philosophie der Spätaufklärung, wonach wir Gegenstände nicht in ihrer objektiven Realität wahrnehmen, sondern nur so, wie sie durch die körperlichen Sinneswerkzeuge zu-
18 über die Realitätshaltigkeit der Wahrnehmung verschafft. Der Common Sense ist diejenige vorreflexive Instanz, welche die Gültigkeit und Verbindlichkeit der von allen Menschen geteilten Erfahrung sowie bestimmter fundamentaler Prinzipien (zum Beispiel des Satzes vom zureichenden Grund oder des Schließens aufgrund von Induktion und Analogie) als Grundlage und Prüfstein philosophischer Wahrheit verbürgt.63 – Glückseligkeitsethik: Die Probleme, die das anthropologische Wissen vom physisch-materiell und historisch Bedingten menschlicher Existenz in moralphilosophischer Hinsicht mit sich bringt, werden durch eine philanthropische Sittenlehre entschärft. In Anknüpfung an die schottische Moral-Sense-Philosophie (Shaftesbury, Hutcheson) wird davon ausgegangen, dass der Mensch nebem dem Trieb zur Selbsterhaltung auch eine natürliche Neigung hat, seinen Mitmenschen Gutes zu tun: Vermehrung der eigenen wie der allgemeinen Glückseligkeit fallen als oberstes Prinzip moralischen Handelns zusammen.64 Mit diesen Stichworten ist die zeitgenössische philosophische Hauptströmung grob charakterisiert, der die meisten der frühen Kant-Kritiker entstammten. Widerstand gegen die neue Philosophie gab es daneben auch von theologisch Orthodoxen wie Kleuker oder von Hermetikern wie Obereit. Die dogmatische Schule Wolffs ist in den Jahren bis zur Gründung von Eberhards Philosophischem Magazin hauptsächlich durch Moses Mendelssohn in der Debatte vertreten. In seinem letzten großen Werk, den Morgenstunden (1785), nähert sich Mendelssohn allerdings stark an Positionen des Empiris-
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gerichtet werden, vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg 1985 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 17), S. 216–223; ders.: Kommentar, S. 513–515; ders.: Erster Psychologismus, S. 11–13. Zur Common-Sense-Philosophie, die auf den schottischen Moralphilosophen Thomas Reid zurückgeht, und ihrem Einfluss in Deutschland vgl. Walther Ch. Zimmerli: »Schulfüchsische« und »handgreifliche« Rationalität – oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common sense im Widerspruch? In: Wandel des Vernunftbegriffs. Hg. von Hans Poser. Freiburg/München 1981, S. 137–176, hier bes. S. 150–164; Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston/Montreal 1987; Riedel: Kommentar, S. 460, 464f. Zur Spezifizierung der wichtigsten Common-Sense-Prinzipien vgl. die Überblicksdarstellung bei James Beattie, dem wichtigsten Popularisator Reids: James Beattie: An Essay on the Nature and Immutability of Truth, in Opposition to Sophistry and Scepticism [Rev. Edition 1776]. In: The Philosophical and Critical Works of James Beattie. Hg. von Bernhard Fabian. Bd. 1. Hildesheim/New York 1975, S. 3–346, hier S. 31–88. Zur philanthropischen Morallehre der Spätaufklärung vgl. Zwi Batscha: »Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit«. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt a. M. 1989, S. 78f.; Heikki Lempa: Bildung der Triebe. Der deutsche Philanthropismus (1768–1788). Turku 1993 (Annales Universitatis Turkuensis, Reihe B, Bd. 203), bes. S. 34–38, 47f.; Riedel: Kommentar, S. 436f., 488f.
19 mus und der Common-Sense-Philosophie an65 – wie überhaupt der Gegensatz von empiristischer Popularphilosophie einerseits und rationalistischer Schulphilosophie Leibniz-Wolffscher Prägung andererseits, dessen man sich zur Einteilung der Gegner Kants häufig bedient,66 nicht unproblematisch ist. Das wird schon an den widersprüchlichen Klassifikationen deutlich, die einzelne Philosophen wie zum Beispiel Flatt oder Platner in philosophiegeschichtlichen Darstellungen erfahren haben.67 Selbst an dem Göttinger Johann Georg Heinrich Feder, der wie kein anderer als Repräsentant eines deutschen Empirismus im 18. Jahrhundert gilt, lässt sich zeigen, dass neben Lockes Einfluss auch Wolffsche Elemente für seine Philosophie bestimmend bleiben.68 Angesichts des Umstands, dass die Aufwertung der Erfahrung im späten 18. Jahrhundert selbst bei ihren exponiertesten Vertretern häufig »basale Traditionsbestände der rationalistischen Episteme unan65
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Vgl. Leo Strauss’ Einleitung in Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1971ff. [im folgenden: JA]. Bd. 3/2, S. LIXf., LXVIIIf. Zum Beispiel unterscheidet auch Dieter Henrich innerhalb der Gruppe der Kant-Gegner zwischen den »letzten Vertretern der Schule von Leibniz« und den »Empiristen, die sich inzwischen einer popularphilosophischen Mitteilungsart bedienten« (Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken 1794–95. Stuttgart 1992, S. 17f.). Während der Tübinger Philosoph Flatt in älteren philosophiegeschichtlichen Darstellungen mitunter als Empirist firmiert (vgl. Gustav Zart: Einfluss der englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1881; Erich Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie und Metaphysik in ihrer Stellung zum Kritizismus Kants. Diss. Borna/Leipzig 1906, S. 10), wird er bei Saner und Beiser als Wolffianer behandelt (vgl. Saner: Widerstreit, S. 131; Beiser: Fate of Reason, S. 169). Die beiden zuletzt genannten Autoren ordnen auch den Leipziger Mediziner und Philosophen Ernst Platner der Wolffschen Schule zu, der in jüngerer Zeit in den Kontext einer in Abkehr von Wolffs psychologia rationalis sich formierenden empiristischen Anthropologie gestellt worden ist (vgl. Riedel: Kommentar, S. 430–432; ders.: Anthropologie und Literatur, S. 108f.). Im Falle Platners werden die Schwierigkeiten der historischen Verortung dadurch verschärft, dass er im Verlauf seiner philosophischen Entwicklung einen Positionswechsel vollzog (von einem ursprünglich eng an Locke orientierten Standpunkt hin zu einem moderaten Rationalismus). Vgl. dazu jetzt klärend Gideon Stiening: Platners Aufklärung. Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik. In: Aufklärung 19 (2007), S. 105–138. Vgl. Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 11f.; Reinhard Brandt: Feder und Kant. In: Kant-Studien 80 (1989), S. 249–264, hier S. 252. Mandred Kuehn beschreibt Feders Philosophie als »synthesis of German rationalism and British empiricism« (Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, S. 85). Dass sich die Philosophen des späten 18. Jahrhunderts kaum je als reine Empiristen oder reine Rationalisten klassifizieren lassen, weist freilich auch auf den problematischen Status dieses Gegensatzschemas hin, dessen Verwendung zur Beschreibung des vorkantischen Philosophierens ja maßgeblich auf Kant selbst zurückgeht (vgl. Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn u. a. 1996, S. 19; zur Kritik an dem Schema vgl. auch Manfred Kuehn: Kant. A Biography. Cambridge u. a. 2001, S. 178f.).
20 getastet läßt«,69 spricht vieles dafür, die Popularphilosophie insgesamt als ein (nicht auf die außerakademische Philosophie beschränktes)70 breites Spektrum aufzufassen, das stärker empiristisch und stärker rationalistisch geprägte Strömungen gleichermaßen miteinschließt.71 Die in dieser Studie behandelte Kant-Kritik der ersten Rezeptionsphase allerdings wird von Philosophen dominiert, deren Standpunkt sich im allgemeinen genauer mit den oben genannten Begriffen einkreisen lässt. Gesonderte Erwähnung verdienen die drei prominenten kantkritischen Denker, die in philosophiegeschichtlichen Darstellungen häufig separat unter der Bezeichnung der ›Gefühls-‹ oder ›Glaubensphilosophie‹ zusammengefasst werden: Herder, Hamann und Jacobi. Was Herder angeht, so hat die Forschung ihn schon seit längerem dem platten Stereotyp des Irrationalismus entrissen, indem sie gezeigt hat, wie eng sein Werk allenthalben mit dem anthropologischen und naturwissenschaftlichen Diskurs der Zeit vernetzt ist.72 Hamann und Jacobi nehmen gewiss eine Sonderstellung ein, wenn ihre Positionen auch in vieler Hinsicht fester in der Diskussion der Spätaufklärung verankert sind, als das Etikett ›Glaubensphilosophie‹ vermuten ließe:73 Hamann begründet seine christologische Position unter
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Michael Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 221–242, hier S. 235 (vgl. auch ebd., S. 223). Zur systematischen Bedeutung Wolffs für die Anthropologie der Spätaufklärung vgl. auch Gideon Stiening: [Rezension zu] Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber/Heinz Thoma. In: Das achtzehnte Jahrhundert 29 (2005), S. 244–254, hier S. 248f., sowie die dort angegebene Forschungsliteratur. Eine solche Beschränkung des Begriffs der Popularphilosophie ist mitunter gefordert worden (vgl. Walther Ch. Zimmerli: Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur TeilRehabilitierung der Popularphilosophie. In: Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises. Hg. von Hermann Lübbe. Berlin/New York 1978, S. 181–212, hier S. 205). Sie würde jedoch zu sehr künstlichen Abgrenzungen führen, da sich im späten 18. Jahrhundert die Grenzen zwischen außerakademischer Popularphilosophie und popularisierender Universitätsphilosophie überall vermischen (vgl. Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: ders.: Philosophie der Aufklärung, S. 485–510 [zuerst in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 58–92], hier S. 507; vgl. gegen Zimmerli auch Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S. 9 Anm. 27; Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie, S. 227). Diese Sicht wird vertreten von Beiser: Fate of Reason, S. 168f.; van der Zande: In the Image of Cicero, S. 421. Zur philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Rehabilitierung Herders seit den 1980er Jahren vgl. die Literaturangaben bei Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 124f. Anm. 36. Vgl. Kuehn: Scottish Common Sense, S. 221 Anm. 36: »However much the so-called ›philosophers of faith‹ argue against reason, they are far more part of the epoch of the enlightenment than is usually acknowledged.« Vgl. auch ebd., S. 51. Zur Kontroverse um die philosophiegeschichtliche Einordnung Jacobis vgl. den Forschungsüberblick
21 den Prämissen der Erkenntnisphilosophie Humes;74 Jacobi bezieht sich zur Unterstützung seines epistemischen Glaubensbegriffs auf die Common-Sense-Philosophie Thomas Reids.75 Zur Rekonstruktion der Debatte konnte ich auf eine Reihe wertvoller Hilfsmittel zurückgreifen. Um die Erfassung der frühesten Literatur pro und contra Kant haben sich schon die Zeitgenossen verdient gemacht (ein Beleg dafür, wie früh man die Debatte als solche wahrnahm und ein Interesse an der Verfügbarkeit der ausgetauschten Argumente entwickelte).76 Zu nennen sind hier vor allem die kommentierten Bibliographien von Georg Andreas Will, Johann Gottlieb Peucker, Johann Schultz und Karl Gottlob Hausius.77 Ergänzend dazu wurde aus jüngerer Zeit die Kant-Bibliographie von Erich Adickes herangezogen.78 Das genannte Werk von Hausius ist zugleich die erste Quellensammlung zur Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie. Da es 1969 im Reprint erschien, sind viele der darin enthaltenen Artikel und Aufsätze hier
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bei Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 30), S. 3–11. Vgl. Hans Graubner: Theological Empiricism: Aspects of Johann Georg Hamann’s Reception of Hume. In: Hume Studies 15 (1989), S. 377–386. Zur Bedeutung Reids für Jacobi vgl. Kuehn: Scottish Common Sense, S. 143–145, 158–166, 228–230. Die (zum ersten Mal von Günther Baum vertretene) These, dass Reid die Hauptquelle für Jacobis Erkenntnistheorie sei, ist vor kurzem allerdings mit guten Gründen bestritten worden. Vgl. Günther Baum: Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F.H. Jacobis. Bonn 1969 (Mainzer Philosophische Forschungen, Bd. 9), S. 47, 74; Brady Bowman: Notiones Communes und Common Sense. Zu den Spinozanischen Voraussetzungen von Jacobis Rezeption der Philosophie Thomas Reids. In: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hg. von Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 29), S. 159–176. Vgl. Ursula Goldenbaum: Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697–1796. Einleitung. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hg. von Ursula Goldenbaum. Teil 1. Berlin 2004, S. 1–118, hier S. 105. Vgl. Georg Andreas Will: Vorlesungen über die Kantische Philosophie. Altdorf 1788, S. 30–67 (Abschnitt I.C: »Literatur der Kantischen Philosophie«); Johann Gottlieb Peucker: Darstellung des Kantischen Systems nach seinen Hauptmomenten zufolge der Vernunftcritik und Beantwortung der dagegen gemachten Einwürfe. Grottkau/ Leipzig 1790, S. III–XVI (»Historische Uebersicht der Literatur der Kantischen Philosophie, bis zum Schluß des Jahres 1789«); Johann Schultz: [Verzeichnis der Schriften zur Kantischen Philosophie]. In: Königsbergische Gelehrte Anzeigen, 16. Dezember 1791, S. 385–397 (vgl. dazu Werner Stark: Kant und Kraus. Eine übersehene Quelle zur Königsberger Aufklärung. In: Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen. Hg. von Reinhard Brandt/Werner Stark. Hamburg 1987 [Kant-Forschungen, Bd. 1], S. 165–200, hier S. 181, 196 Anm. 75); Materialien zur Geschichte der critischen Philosophie. In drey Sammlungen. Nebst Einer historischen Einleitung zur Geschichte der Kantischen Philosophie. Hg. von Karl Gottlob Hausius. Leipzig 1793 [Repr. 1969] [im folgenden: Hausius], S. 1–96 (Historische Einleitung, Abschnitt 1: »Allgemeine Litteratur der Kantischen Philosophie«). Erich Adickes: German Kantian Bibliography. Boston 1896 [mehrere Reprints].
22 nach wie vor am besten greifbar. Ein besonderes Problem stellt der Umstand dar, dass sich die Debatte um die Kantische Philosophie ganz wesentlich auf der Ebene der Zeitschriftenrezensionen entfaltete,79 die in den genannten Bibliographien nur mangelhaft erfasst ist. Als umso nützlicher erwies sich für die vorliegende Studie die Quellensammlung Rezensionen zur Kantischen Philosophie, die 1991 von Albert Landau herausgegeben wurde. Der Band versammelt alle für die Debatte einschlägigen Besprechungen bis zum Jahr 1787 in chronologischer Vollständigkeit. Für den Zeitraum danach war es notwendig, in den Zeitschriften selbst nachzuschlagen. Um die Suche nicht zu weit ausufern zu lassen (bis heute existiert kein systematisches Gesamtverzeichnis der in diesen Jahren in deutschen Zeitschriften erschienenen Rezensionen),80 wurde die Autopsie auf die Zeitschriften beschränkt, die schon bei Landau vorkommen oder bei denen von anderer Seite aus Hinweise vorlagen, dass sie Zeugnisse früher Kantrezeption enthalten könnten. Der terminus ad quem wurde in diesem Fall über das Jahr 1788 hinausgeschoben, um auch diejenigen Rezensionen miteinzubeziehen, die erst in größerem zeitlichen Abstand zu den besprochenen Werken erschienen. Die ausgewerteten Zeitschriften wurden daher bis einschließlich Jahrgang 1790 durchgesehen.81 79
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Zur wachsenden Bedeutung von Zeitschriftenrezensionen in der Diskussion der Aufklärung vgl. Ute Schneider: Die Funktion wissenschaftlicher Rezensionszeitschriften im Kommunikationsprozeß der Gelehrten. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 109), S. 279–291. Während Schneider ihre Beobachtungen auf die Sphäre der Gelehrtenkommunikation beschränkt, betont Ursula Goldenbaum, dass die Rezensionsorgane vom Typus der ›Gelehrten Zeitung‹ (anders, als ihr Name nahezulegen scheint) sich an ein größeres, auch unakademisches Publikum richteten. Vgl. Goldenbaum: Die öffentliche Debatte, S. 56, 93. Der noch im Aufbau befindliche, unter Leitung der Göttinger Akademie der Wissenschaften erstellte »Systematische Index zu deutschsprachigen Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts« wird nur bis zum Jahr 1784 reichen (vgl. ). Teilweise kompensiert wird das bibliographische Manko durch die zunehmende Zahl von Zeitschriften, die in digitalisierter Form in Datenbanken erfasst sind, welche systematische Recherchemöglichkeiten bieten. Vgl. das durch die DFG geförderte Projekt »Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum« () sowie das an der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek angesiedelte und ebenfalls von der DFG unterstützte Projekt einer »Digitalisierung und Erschließung von Zeitschriften des Weimar-Jenaer Literaturkreises um 1800«. Ein älteres, kaum bekanntes Hilfsmittel zur Ermittlung zeitgenössischer Rezensionen ist das Allgemeine Repertorium der Literatur, ein enzyklopädischer Ableger der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung, der dazu diente, in Abständen von fünf Jahren alle wichtigen Neuerscheinungen systematisch zu erschließen. Zur Sektion Philosophie vgl.: Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785–1790. Bd. 3. Jena 1794. Im Fall der Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen (Mainz 1785–1791) blieb die Durchsicht lückenhaft: Die Hefte der zweiten Hälfte des Jahres 1788 waren im deutschen Fernleihverkehr nicht zu beschaffen.
23 Natürlich wurden auch die vorhandenen philosophiehistorischen Darstellungen zur frühesten Kantrezeption konsultiert. Immer noch nützlich sind einige ältere Untersuchungen, die die Fülle der an der Debatte beteiligten Namen und Werke in seitdem nicht mehr erreichter Ausführlichkeit auflisten (wenn auch häufig die Kommentare, sofern vorhanden, in ihren Einordnungen und Wertungen inzwischen problematisch sind). Zu nennen sind hier außer Karl Rosenkranz’ eingangs zitierter Geschichte der Kant’schen Philosophie vor allem Johann Eduard Erdmanns Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant, Benno Erdmanns Studie über Kants Kriticismus in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sowie Karl Vorländers Kant-Biographie.82 Die wichtigste Darstellung der neueren Forschung ist das 1987 erschienene Buch von Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, auf das ich mich an vielen Stellen beziehe.83 Von dem behandelten philosophiegeschichtlichen Ausschnitt her ist Beisers Arbeit (wie schon der Untertitel anzeigt) allerdings breiter und summarischer angelegt; entsprechend erreicht sie bei der Rekonstruktion der Debatte nicht den Grad an Vollständigkeit und Vernetzung der Beiträge, den die vorliegende Untersuchung anstrebt. Profitieren konnte ich zudem von zahlreichen Studien zu einzelnen Autoren und Komplexen der frühen Kantrezeption (zu nennen sind hier zum Beispiel die Forschungen zum Jenaer Frühkantianismus von Norbert Hinske und Horst Schröpfer); auf sie wird im Verlauf der Untersuchung im entsprechenden Zusammenhang hingewiesen. Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Identifikation anonymer Autoren. Sofern im folgenden bei anonym erschienenen Rezensionen und Aufsätzen kein anderer Nachweis angegeben wird, stützen sich die Angaben zu den Autoren auf folgende Informationsquellen: – Bei Besprechungen, die in Albert Landaus Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787 abgedruckt sind: Die Quellensammlung enthält im Anhang eine »Notiz zu den Rezensenten«.84
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Vgl. Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 5: Die Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant I. Leipzig 1848 [Repr. 1977], bes. S. 232–345 (erstes Buch, Kap. II: »Ausbreitung der Kantischen Lehre und Reaction dagegen«); Benno Erdmann: Kant’s Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1878, bes. S. 98–128 (3. Kap.: »Die ersten Anhänger und Gegner; der Spinozastreit«); Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk [1924]. Erw. Aufl. Hamburg 1992, bes. Bd. 1, S. 406–430 (3. Buch, 1. Teil, 6. Kap.: »Wirkungen nach außen. Die ersten Anhänger und Gegner«). Besonders nützlich für den Zusammenhang der vorliegenden Studie ist Kap. 6: »The Attack of the Lockeans« (vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 165–192). Vgl. Landau 776f.
24 – Bei Besprechungen in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen: Die Rezensenten sind im Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen verzeichnet.85 – Bei Besprechungen in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek: Hier wurde das Rezensentenregister Gustav Partheys herangezogen. Danach stammen die allermeisten der auf Kant bezogenen Besprechungen, welche in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft in Nicolais Zeitschrift erschienen, von ein und demselben Autor: Hermann Andreas Pistorius (ausgewiesen durch die Siglen »Rk.« [Fraktur], »Sg.«, »Wo.« und »Zk.« [Fraktur]).86 Ausnahmen werden im Text vermerkt. – Bei Rezensionen Karl Leonhard Reinholds: Hier stütze ich mich auf die einschlägigen Reinhold-Bibliographien.87 – Bei Jenischs Skizze einer Geschichte der Aufklärung und Sartorius’ Allegorischer Geschichte der Kantischen Philosophie: Die Zuordnung der Autoren entnehme ich dem Göttinger Index deutschsprachiger Zeitschriften.88
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Vgl. auch Oscar Fambach: Die Mitarbeiter der Göttingischen gelehrten Anzeigen 1769–1836. Nach dem mit den Beischriften des Jeremias David Reuß versehenen Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen. Tübingen 1976. Vgl. Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842. Partheys Angaben sind bekanntlich nicht immer ganz zuverlässig. Dass die Rezensionen zur Kantischen Philosophie, die mit den genannten Siglen gezeichnet sind, tatsächlich demselben Autor zuzuordnen sind, wird jedoch durch verschiedene Umstände zusätzlich nahegelegt: Zum einen durch die fast durchgehend hohe Qualität der Besprechungen, die häufig um ähnliche Problemschwerpunkte kreisen; zum anderen durch häufige Verweise auf frühere Rezensionen innerhalb der Reihe. Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Korrespondenzausgabe. Begr. von Reinhard Lauth u. a., hg. von Faustino Fabbianelli u. a. Suttgart/Bad Cannstatt 1983ff. [im folgenden: KA]. Bd. 1, S. 399–418; Alexander von Schönborn: Karl Leonhard Reinhold. Eine annotierte Bibliographie. Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, S. 101–132. Vgl. Index deutschsprachiger Zeitschriften 1750–1815. Autoren-, Schlagwort- und Rezensionsregister zu deutschsprachigen Zeitschriften. Hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Hildesheim 1989.
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II. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie 1781–1788 in ihrem historischen Verlauf 1. Früheste Aufnahme der Kritik der reinen Vernunft; die Göttinger Rezension (1781–1782) Kants Kritik der reinen Vernunft erschien Ende Mai oder Anfang Juni 1781.1 Die frühesten Rezeptionszeugnisse finden sich in den Briefen seines Königsberger Freundes Johann Georg Hamann. Er hatte Kant den Verleger Hartknoch vermittelt und bekam von diesem noch vor der Veröffentlichung der Kritik die Druckfahnen zugeschickt.2 In einem Brief an Hartknoch vom April 1781 äußert Hamann folgende Einschätzung über Kants Buch: »Dem Ueberschlage nach wird es Aufsehen machen und zu neuen Untersuchungen, Revisionen p Anlaß geben. Im Grunde aber möchten sehr wenige Leser dem scholastischen Innhalt gewachsen seyn […]«.3 Zunächst schien alles darauf hinzudeuten, dass sich von Hamanns Prognose lediglich der zweite Teil bewahrheiten sollte. In den ersten Monaten nach ihrem Erscheinen fand die Kritik kaum Resonanz. Der Absatz verlief offenbar schleppend. Das geht aus einem Brief Hamanns an Hartknoch vom August 1781 hervor, in welchem Hamann an den Verleger appelliert, an dem Autor Kant trotz dem sich abzeichnenden Misserfolg der Kritik festzuhalten, und ihn über die möglichen finanziellen Einbußen durch die Aussicht auf einen leserfreundlicheren Auszug hinwegzutrösten versucht: Kant redet von einem Auszuge seiner Kritik im populairen Geschmack, die er für die Layen herauszugeben verspricht. Ich wünschte sehr, liebster Freund, daß Sie sich nicht abschrecken, wenigstens keine Gleichgültigkeit gegen ihn merken lie1
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Zur Entstehungsgeschichte vgl. Georg Mohr: Kants Grundlegung der kritischen Philosophie. Werkkommentar und Stellenkommentar zur Kritik der reinen Vernunft, zu den Prolegomena und zu den Fortschritten der Metaphysik. Frankfurt a. M. 2004, S. 33–38. Vgl. Heinrich Weber: Hamann und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung. München 1904, S. 64–69. Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. von Arthur Henkel/Walther Ziesemer. 7 Bde. Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1955–1979 [im folgenden: H]. Bd. 4, S. 278 (Brief an Hartknoch vom 8. April 1781). Vgl. auch Hamanns Briefe an Herder und Hartknoch vom 27. April bzw. 31. Mai 1781 (H IV 283, 298) sowie den Schluss seiner Rezension zur Kritik der reinen Vernunft (Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Hg. von Josef Nadler. 6 Bde. Wien 1949–1957 [Repr. 1999] [im folgenden: N]. Bd. 3, S. 280).
26 ßen, und sich um seine fernere Autorschaft, soviel sich thun läßt, zu bekümmern schienen. Wenigstens ist er bona fide mit Ihnen zu Werk gegangen und schmeichelt sich damit, daß je älter sein Werk werden, desto mehr Leser finden wird. Der Zug von der Michaelismeße wird Ihnen Licht geben und vielleicht Anlaß – etwa eine kleinere populairere Schrift zu Ihrer Schadloshaltung von ihm zu [er]bitten, und ihn mit reinem Wein zu berauschen oder aufzumuntern zu einem kleineren Buch, das mehr nach dem Geschmack des Publici ist; denn dies war zu abstract und zu kostbar für den großen Haufen.4
Hamann spricht bereits in der Vergangenheitsform über Kants Kritik. Deren Schicksal scheint, wenige Monate nach ihrem Erscheinen, besiegelt. Von Hamann wird das unter anderem mit dem Hinweis begründet, das Buch sei zu »abstract«. Diesem Urteil entspricht auch, was Herder in einem Brief vom Dezember 1781 über den Jenaer Theologieprofessor Ernst Jakob Danovius berichtet: Dieser habe in Jena »im Collegio gesagt: das Buch brauchte ein Jahr um es zu lesen«.5 Der Vorwurf der abstrakten Terminologie und der Unverständlichkeit sollte über die nächsten Jahre hinweg eine Grundkonstante in der Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie bleiben.6 Ungeachtet seiner warmen Worte für Kant gegenüber dem Verleger Hartknoch tritt Hamann in seinen Briefen an Herder als frühester Kritiker von Kants Buch auf. Er bezeichnet es als Produkt einer »scholastischen Vernunft«, die über der Suche nach apriorischer Erkenntnisgewissheit in Spekulationen verfällt und die Verbindung zur Realität der Erfahrung verliert: »Ohne es zu wißen, schwärmt er [Kant] ärger als Plato in der Intellectualwelt, über Raum und Zeit.«7 Die Rede von der reinen Vernunft scheint ihm am Ende »auf Schulfüchserey und leeren Wortkram hinauszulaufen«.8 Sogleich macht er sich Notizen zu einer Rezension,9 die er innerhalb weniger Wochen fertigstellt,10 jedoch (unter anderem aus Rücksicht auf sein freundschaftliches Verhältnis zu Kant) nicht veröffentlicht.11 Auf Drängen Herders arbeitete Hamann später seine Einwände zu einer »Metakritik über den Pu-
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H IV 323 (Brief an Hartknoch vom 11. August 1781). Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hg. von Wilhelm Dobbek/Günter Arnold. Weimar 1977ff. [im folgenden: HB]. Bd. 4, S. 201 (Brief an Hamann vom 31. Dezember 1781). Vgl. zum Beispiel Landau 34, 74f., 77, 82, 140, 276, 318, 320, 323, 326, 684, 713. H IV 294 (Brief an Herder vom 10. Mai 1781). H IV 285 (Brief an Herder vom 29. April 1781). Vgl. H IV 294 (Brief an Herder vom 10. Mai 1781). Vgl. H IV 321 (Brief an Hartknoch vom 11. August 1781). Der Text ist abgedruckt in N III 275–280. Zur inhaltlichen Analyse vgl. Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart/Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung, Abt. 2, Bd. 50), S. 63–149. Vgl. H IV 317 (Brief an Herder vom 5. August 1781). Zu weiteren Gründen vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 64.
27 rismum der Vernunft« aus.12 Anfangs erwog er offenbar eine Veröffentlichung in der Berlinischen Monatsschrift.13 Weil er aber mit dem Ergebnis seiner Arbeit unzufrieden war,14 sah er letztlich von einer Publikation ab und begnügte sich damit, die Schrift Herder im September 1784 zuzusenden.15 So blieb Hamanns Überlegungen zur Kantischen Philosophie eine direkte öffentliche Wirkung versagt, wenngleich sie dadurch, dass er seine Metakritik Herder mitteilte, welcher sie wiederum an Friedrich Heinrich Jacobi weitergab,16 zum Teil indirekt in die Diskussion eingingen.17 Kant selbst war sich von Anfang an darüber im klaren, dass sein Werk für die Zeitgenossen keine einfache Lektüre sein würde. Er rechnete nicht mit einem schnellen Erfolg seines Buches. So bezeichnet er in einem Brief an Marcus Herz das Studium der Kritik als eine »Bemühung«, auf die »ich nur bei sehr wenig Lesern gleich anfangs rechnen darf unerachtet ich mich demüthigst überzeugt halte sie werde mit der Zeit allgemeiner werden denn man kann es nicht erwarten daß die Denkungsart aufeinmal in ein bisher ganz ungewohntes Gleis geleitet werde«.18 Wenn Kant sich, wie aus Hamanns oben zitiertem Brief an Hartknoch hervorgeht, schon im August 1781 mit dem Vorhaben trug, die Grundgedanken seiner Vernunftkritik dem Publikum in einer bündigeren Form darzubieten, so hatte dieser Plan (der schließlich zur Veröffentlichung der Prolegomena von 1783 führen sollte) also zunächst wohl weniger mit akuter Enttäuschung über den bisherigen Rezeptionsverlauf zu tun als mit dem bei Kant von vornherein vorhandenen Bewusstsein, dass es bei einem so sperrigen Werk wie der Kritik der reinen Vernunft weiterer publizistischer Aktivitäten bedurfte, um seine Akzeptanz beim Publikum zu befördern.19 Entsprechend seiner Einsicht in die »Notwendigkeit der Besprechung […], um überhaupt das Durchdringen seiner Ideen in weitere Schichten möglich zu machen«,20 bittet Kant auch im Au12
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Vgl. H IV 400, V 107, 120 (Briefe an Herder vom 7. Juli 1782, 8. Dezember 1783 und 26. Januar 1784). Der früheste Entwurf zu dieser Metakritik reicht bis in die Zeit der Rezension zurück; vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 152. Vgl. H V 107f. (Brief an Herder vom 8. Dezember 1783). Vgl. H V 120, 265 (Briefe an Herder vom 26. Januar und an Jacobi vom 14. November 1784). Noch im September 1785 trug Hamann sich mit Plänen zu einer Umarbeitung der Metakritik; vgl. H VI 75 (Brief an Jacobi vom 28. September 1785). Vgl. H V 210–217 (Brief an Herder vom 15. September 1784). Vgl. HB V 77f. (Brief an Jacobi vom 2. November 1784). Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 38. Hamanns Metakritik wurde erst 1800 veröffentlicht, die Rezension zur Kritik der reinen Vernunft 1801. Vgl. Nadlers Angaben in N III 467f. Zur Wirkung Hamanns auf Herder und Jacobi vgl. Weber: Hamann und Kant, S. 227–230. AA X 269 (Brief nach dem 11. Mai 1781). Vgl. auch den Brief an Biester vom 8. Juni 1781 (AA X 273), in dem Kant ankündigt, er werde es an weiteren Erläuterungen zu seiner kritischen Philosophie künftig nicht fehlen lassen. Günther Röhrdanz: Die Stellung Kants in und zu der Presse seiner Zeit. Diss. München 1936 (Zeitung und Leben, Bd. 29), S. 101.
28 gust 1781 den Königsberger Mathematiker und Hofprediger Johann Schultz um eine Rezension der Kritik.21 In solchen Überlegungen und Vorkehrungen Kants, die darauf abzielten, die Wirkung seines opus magnum durch flankierende publizistische Maßnahmen zu unterstützen, ist ein strategisches Bewusstsein erkennbar, das (wie die folgenden Monate und Jahre zeigen) auch die Bereitschaft zur harten Auseinandersetzung mit seinen Gegnern einschloss. Man kann darin einen gewissen Widerspruch zu Kants vielfach geäußerter Überzeugung sehen, die kritische Philosophie werde sich, einmal vollständig exponiert, langfristig ganz von selbst qua Vernunfteinsicht durchsetzen. Konstatiert und zugleich entschärft wird dieser Widerspruch von Hans Saner: Kant ging gegen seine Zeitgenossen politisch klug vor. Zwar hat er immer daran geglaubt, daß auf lange Sicht die kritische Philosophie durch ihre Überlegenheit sich durchsetzen werde; aber in keinem Augenblick hat er sich der Täuschung hingegeben, daß dieser Sieg seiner Generation, losgelöst von den Bemühungen der Philosophierenden, als eine Frucht der Zeit zufallen werde. Vielmehr mußte er im Kampf der Philosophierenden […] erst errungen werden.22
Dass ein solcher Kampf nötig sein würde, stellte sich spätestens im Januar 1782 heraus, als in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen eine anonyme Besprechung der Kritik der reinen Vernunft erschien. Zwar handelte es sich dabei nicht um die erste Rezension zu Kants Buch: Besprechungen waren zuvor schon in den Frankfurter gelehrten Anzeigen und in den Greifswalder Neuesten Critischen Nachrichten veröffentlicht worden.23 Die ›Göttinger Rezension‹ hatte jedoch von vornherein dadurch ein ganz anderes Gewicht, dass sie in dem – neben Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek – angesehensten kritischen Organ der damaligen Zeit erschien.24 Und während die beiden vorhergehenden Besprechungen kaum über ein
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Vgl. AA X 274 (Brief an Schultz vom 3. August 1781). Die Bitte Kants veranlasste Schultz zur Ausarbeitung der Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft (1784), die unten näher besprochen werden. Kant hat später auch bei Moses Mendelssohn um Mitarbeit am vernunftkritischen Projekt geworben; vgl. seinen Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783 (AA X 345f.). Saner: Widerstreit, S. 214. Dass sein philosophisches System bei aller Perfektion auf zusätzliche publizistische Begleitmaßnahmen nicht würde verzichten können, um beim Publikum Erfolg zu haben, hat Kant selbst metaphorisch wie folgt ausgedrückt: »[…] die Maschine ist einmal vollstandig da, und nun ist nur nöthig die Glieder derselben zu glätten, oder Oel daran zu bringen, um die Reibung aufzuheben, welche freylich sonst verursacht, daß sie still steht« (Brief an Garve vom 7. August 1783, AA X 339). Vgl. Landau 3–6, 6–9. Zum Renommee der Göttingischen Anzeigen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. die Sammlung zeitgenössischer Stimmen bei Gustav Roethe: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen. In: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens. Berlin 1901, S. 567–688, hier S. 571–573.
29 neutrales Referat des Inhaltsverzeichnisses der Kritik der reinen Vernunft hinausgingen, markiert die Göttinger Rezension den Beginn der streitbaren Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie. Die Göttinger Universität war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Zentrum der spätaufklärerischen Popularphilosophie. Hier vertraten Gelehrte wie Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners oder Michael Hissmann das Leitprogramm einer empiristisch und eklektisch orientierten ›Philosophie für die Welt‹.25 Kein Wunder also, dass der Widerstand gegen Kants neue systemphilosophische Esoterik an diesem Ort seinen Ausgang nahm und dass Göttingen auch in den folgenden Jahren eine »Hochburg der Antikantianer«26 bleiben sollte. Feder (1740–1821), führende Figur in Göttingen und einer der angesehensten deutschen Philosophen seiner Zeit,27 war seit 1769 Mitarbeiter der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen.28 Die Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft wurde dem berühmten Breslauer Popularphilosophen Christian Garve (1742–1798) übertragen, welcher sich im Sommersemester 1781 in Göttingen aufhielt.29 Sein Text
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Vgl. Walther Ch. Zimmerli: »Schwere Rüstung« des Dogmatismus und »anwendbare Eklektik«. J.G.H. Feder und die Göttinger Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 58–71, hier S. 58–61. Röhrdanz: Die Stellung Kants, S. 96. Manfred Kuehn bezeichnet ihn als »clearly one of the most influential philosophers in Germany before the success of Kantian thought« (Kuehn: Scottish Common Sense, S. 74 Anm. 13). Er war seit 1768 Philosophieprofessor in Göttingen. Die von ihm verfassten Lehrbücher Logik und Metaphysik (1769) und Lehrbuch der praktischen Philosophie (1770; seit 1782 unter dem Titel Grundlehren zur Kenntniß des menschlichen Willens) waren weit verbreitet und erlebten zahlreiche Auflagen. Zum Kreis der Aufklärungsphilosophen, die von ihm beeinflusst waren, gehörten Garve, Tittel, Meiners, Tiedemann, Weishaupt und Platner (vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 180; Hans-Peter Nowitzki: Platner und die Wolffsche Philosophietradition. In: Aufklärung 19 [2007], S. 69–104, hier S. 78). Zu Feders akademischem Werdegang und philosophischem Profil vgl. die Charakterisierungen bei Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 3–7, 11–13; Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, S. 290–292; Jan Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meiners, Weishaupt). Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Daedalus, Bd. 11), S. 199–216. Informationen zu Feders Leben bieten die postum veröffentlichte Autobiographie (vgl. J.G.H. Feder’s Leben, Natur und Grundsätze. Leipzig u. a. 1825 [Repr. 1970]) sowie Kurt Wöhe: Johann Georg Heinrich Feder. Eine Untersuchung zur Geschichte des Philanthropinismus. Diss. Borna/Leipzig 1928, S. 2–24. Vgl. Feder: Leben, S. 92. Garve war 1770 zum außerordentlichen Professor für Philosophie in Leipzig bestellt worden, kehrte aber aus gesundheitlichen Gründen 1772 in seine Heimatstadt Breslau zurück, um sich hier fortan ganz einer gelehrten Privatexistenz zu widmen. Unter seinen Zeitgenossen hatte er einen hervorragenden Ruf. Vgl. die Äußerung Georg Forsters in einem Brief vom Juli 1784: »Zuverlässig ist Garve der größte jetzt lebende Philosoph« (Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [und Nachfolgern]. Berlin 1958ff. [im folgenden: F]. Bd. 14, S. 140).
30 wurde von Feder gekürzt und überarbeitet und erschien am 19. Januar 1782 in der »Zugabe« zum 3. Stück der Göttingischen Anzeigen.30 Die Besprechung fiel eindeutig negativ aus.31 Das grundlegend Neue von Kants transzendentalphilosophischem Ansatz wird darin nicht erfasst. Stattdessen wird das Werk einem längst überwunden geglaubten Idealismus à la Berkeley zugeordnet; einem »Idealismus, der Geist und Materie auf gleiche Weise umfaßt, die Welt und uns selbst in Vorstellungen verwandelt« und der einen Begriff von »Empfindungen als blossen Modificationen unserer selbst«32 vertritt. Entsprechend läuft Kants Philosophie der Rezension zufolge Gefahr, die Wirklichkeit auf eine bloße Illusion zu reduzieren.33 In bester Common-Sense-Tradition wird Kant vorgeworfen, sein Idealismus widerstreite dem »gemeine[n] Menschenverstand«, und zwar vor allem dadurch, dass er »die Gesetze der äussern Empfindung, und die daher entstehende unserer Natur gemässe Vorstellungsart und Sprache« negiere. Gegen Kant wird das empiristische Argument geltend gemacht, dass der Verstand »in allem, was Wirklichkeit betrifft, sich mehr von den Empfindungen leiten lässet, als sie leitet.«34 Die Göttinger Rezension beeinflusste den frühen Verlauf der Diskussion um die Kantische Philosophie auf fatale Weise. Das Schlagwort vom Idealismus gab ein bequemes Etikett an die Hand, das kaum geeignet war, zu einer eingehenderen Beschäftigung mit Kants schwierigem Werk zu motivieren. Anfang März schreibt Johann Gottfried Herder an seinen Freund Hamann: »Kants Kritik ist für mich ein harter Bißen; es wird beinah ungelesen bleiben. In den Göttingischen Zeitungen ist er weitläuftig recensirt u. als Idealist behandelt. Ich weiß nicht, wozu alles das schwere Luftgewebe soll.«35 Durch den in der Göttinger Rezension vorgenommenen Vergleich Kants mit Berkeley waren die Zeichen der popularphilosophischen Kantrezeption von vornherein auf Ablehnung und Konfrontation gestellt, galt doch die idealistische Philosophie des irischen Bischofs weithin als Inbegriff verstiegener und nicht mehr zeitgemäßer Spekulation.36 30
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Zu den näheren Umständen dieser Rezension vgl. Feders im Kommentar der Akademie-Ausgabe wiedergegebenen Brief an Garve vom 7. Mai 1782 (AA XIII 122f.), Garves Brief an Kant vom 13. Juli 1783 (AA X 329f.) sowie Feder: Leben, S. 117–119. Vgl. auch den Brief von Christian Gottfried Schütz an Kant vom 10. Juli 1784 (AA X 392). Zum Inhalt der Rezension vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 86–88; Cristiana Bonelli Munegato: Johann Schultz e la prima recezione del criticismo kantiano. Trento 1992, S. 58–63; Beiser: Fate of Reason, S. 172f.; Sassen: Introduction, S. 7–9. Landau 10, 13. Vgl. Landau 13f. Landau 17. H IV 209. Vgl. zum Beispiel die Besprechung einer aktuellen Übersetzung der Werke Berkeleys, die 1782 in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek (AdB) erschien. Der Rezensent wendet sich mit aller Schärfe gegen das den »bonsens«, also den gemeinen
31 Kant konnte die schnelle Aburteilung seines Werkes in einem der renommiertesten Rezensionsorgane der damaligen Zeit nicht auf sich sitzen lassen. Eine öffentlichkeitswirksame Polemik bot zudem die Möglichkeit, zusätzliche Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. Kants Reaktion erfolgte im Anhang zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, die im April 1783 erschienen. Unter der Überschrift »Probe eines Urteils über die Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht« verwahrt Kant sich dort in scharfem Ton gegen den oberflächlichen Argumentationsstil der Göttinger Rezension. Er grenzt seinen »kritischen« Idealismus, der die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung durch Rekurs auf deren apriorische Strukturierung im Subjekt erweist, vom traditionellen Idealismus, welcher alle Erfahrung in bloßen Schein verwandelt, scharf ab und hält dem Rezensenten vor, das zentrale Anliegen seines vernunftkritischen Projekts, welches auf die Prüfung der Grundlagen metaphysischer Erkenntnis überhaupt abzielt, gar nicht erkannt und gewürdigt zu haben.37 Für Feder, der schnell als Hauptverantwortlicher der Göttinger Rezension galt,38
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Menschenverstand »so sehr empörende und verwirrende idealistische System« Berkeleys und äußert die Überzeugung, es könne wohl kaum einen Leser geben, der »ein Raisonnement, das der Materie und der ganzen Körperwelt alle äussere und für sich bestehende Existenz abspricht, und ihr nur in einem Geiste […] eine Art vom Daseyn einräumet, nicht als Unsinn, und als einen auffallenden Beweis von den Verirrungen der Philosophen ansehen, und ein Buch, das solche Träumereyen enthält, mit Unwillen wegwerfen sollte« (AdB 52/1 [1782], S. 161). Bei dem Rezensenten handelt es sich um Hermann Andreas Pistorius, der bald darauf zu einem der wichtigsten Kritiker Kants wurde. Zur traditionellen Etikettierung Berkeleys als Musterfall eines dogmatischen Idealismus in der deutschen Aufklärungsphilosophie vgl. auch Désirée Park: Kant and Berkeleys »Idealism«. In: Studi internazionali di filosofia 2 (1970), S. 3–10, hier S. 4f. Vgl. WA III 251–259. Zu Kants Gegenangriff vgl. auch Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 63–68; Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen 1970–1820. Göttingen 1995 (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 10), S. 171–173. Benno Erdmann zufolge stellen einige Abschnitte des Hauptteils der Prolegomena ebenfalls eine direkte Reaktion auf die Göttinger Besprechung dar, so die Anmerkungen II und III zur ersten Hauptfrage: »Wie ist reine Mathematik möglich?« (vgl. Benno Erdmann: Einleitung. In: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hg. von Benno Erdmann. Leipzig 1878, S. I–CXIV, hier S. XX). Auch in diesen Anmerkungen geht es um die Zurückweisung des Idealismusvorwurfs (vgl. WA III 151–158). Spekulationen über Feder als Autor der Göttinger Rezension kursierten bereits kurz nach deren Erscheinen; vgl. Hamanns Brief an Johann Gottfried und Caroline Herder vom 22. April 1782 (H IV 376). Kant selbst behauptet in einem Brief an Garve, welcher ihm kurz zuvor die Umstände eröffnet hatte, unter denen die Göttinger Rezension zustande kam, er könne den verantwortlichen Göttinger Redakteur erraten (vgl. den Brief an Garve vom 7. August 1783, AA X 337). In verschiedenen Zeitschriftenartikeln der folgenden Jahre wurde die Entstehungsgeschichte der Göttinger Rezension publik gemacht; vgl. AdB 59/2 (1784), Landau 107f.; Anonym: Neuste Sensationen im Reich unsrer Philosophie. In: Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie 1 (1786), S. 59–99, hier S. 62f.; Johann Joseph Kausch: Antwort auf den vorhergehenden Brief. In: Apologien 1 (1787), S. 48–53, hier S. 52f.
32 sollte sich Kants Anti-Kritik im nachhinein als Wendepunkt seiner Karriere erweisen. Mit ihr begann sein allmählicher Abstieg in die philosophische Bedeutungslosigkeit.39
2. Weitere Rezensionen; die Prolegomena (1782–1783) Die Prolegomena, in deren Anhang Kants Antwort auf die Göttinger Rezension erschien, waren ein Resultat seiner schon seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft gehegten Überlegung, diesem schwergewichtigen Werk eine besser überschaubare Darstellung seiner Philosophie an die Seite zu stellen.40 Die Schrift folgt im ganzen dem Aufbau der Kritik der reinen Vernunft, deren zentrale Argumente hier aber gestrafft und schärfer profiliert werden. Die Prolegomena sollten die sorgfältige Prüfung der Kritik erleichtern, zu welcher Kant die Gelehrten nachdrücklich aufruft.41 Sein Appell erfolgt vor dem Hintergrund der Feststellung, dass sich bisher kaum jemand mit einem Urteil über die Kritik hervorgewagt habe, was Kant jedoch als Zeichen einer noch anhaltenden gründlichen Beschäftigung mit seinem Werk deutet.42 Als vorbildliches Beispiel einer solchen gründlichen Beschäftigung führt er eine Rezension der Kritik an, die inzwischen in den Gothaischen gelehrten Zeitungen veröffentlicht worden war.43 Verfasser der anonymen Besprechung war Schack Hermann Ewald (1745–1822), Übersetzer, Publizist und Sekretär am Sachsen-Gothaischen Hof. Ewald war Mitbegründer und Redakteur der Gothaischen gelehrten Zeitungen, in denen die kritische Philosophie in den folgenden Jahren eine ihrer verlässlichsten publizistischen Stützen fand. Karl Leonhard Reinhold 39
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Zur ›Vernichtung‹ Feders durch die Transzendentalphilosophen vgl. Feder: Leben, S. 117–129; Saner: Widerstreit, S. 173–176; Röttgers: J.G.H. Feder, S. 431–436. Zur Entstehungsgeschichte der Prolegomena und zu dem damit verbundenen Forschungsstreit um die Frage, inwieweit ihre Konzeption von der Göttinger Rezension beeinflusst wurde, vgl. Karl Vorländer: Einleitung. In: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hg. von Karl Vorländer. Unveränd. Nachdr. d. 5. Aufl. (1913) Hamburg 1965 (Philosophische Bibliothek, Bd. 40), S. VII–XLI, hier S. VIII–X, XIV–XIX; Konstantin Pollok: Einleitung. In: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hg. von Konstantin Pollok. Hamburg 2001 (Philosophische Bibliothek, Bd. 540), S. IX–LXII, hier S. XX–XXII, XXVI–XXIX, XLIX–LII. Vgl. WA III 120, 260f. Vgl. WA III 259f. In einem Brief an Schultz spricht Kant wenige Monate später hingegen von der »Kränkung, fast von niemand verstanden worden zu seyn« (Brief an Schultz vom 26. August 1783, AA X 350). Vgl. WA III 260. Die Besprechung erschien in den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 24. August 1782 (vgl. Landau 17–23). Zu Kants positiver Aufnahme vgl. auch den Brief Hamanns an Hartknoch vom 16. September 1782: »Kant ist im 68 Stück der Gothaischen Zeitungen, nach Wunsch, wie ich höre beurtheilet« (H IV 425f.).
33 lobt sie 1789 in einem Brief an Ewald als diejenige Zeitung, die als einzige neben der (1785 gegründeten) Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung die Kantische Erneuerung der Philosophie befördert statt bekämpft habe.44 Die meisten der einschlägigen Rezensionen stammten wohl von Ewald selbst – als einen der »frühesten, eifrigsten und einsichtsvollesten Verehrer, und thätigsten Verbreiter des Kantischen Systems« bezeichnet ihn sein Freund Adam Weishaupt 1788.45 Ewalds Besprechung der Kritik der reinen Vernunft musste Kant gerade im Hinblick auf diejenigen Punkte, die ihn bei der Göttinger Rezension empört hatten, mit Genugtuung erfüllen.46 Erstens versäumt es der Rezensent nicht, das Kantische Projekt der Vernunftkritik in seiner grundsätzlichen Tragweite vorzustellen und dabei auch zentrale Kantische Begriffe wie ›Kritik‹, ›Reinheit‹ der Erkenntnis und ›Transzendentalphilosophie‹ allgemein zu erläutern. Zweitens widmet er ausgerechnet einem Teil der Kritik eine genauere Inhaltswiedergabe, welcher für den von der Göttinger Rezension erhobenen Idealismusvorwurf einschlägig ist: der transzendentalen Ästhetik. Raum und Zeit, so wird Kants Argumentation hier sorgfältig paraphrasiert, sind Formen reiner Anschauung. Sie stellen nichts dar, was »an den Gegenständen selbst haftete«, und werden nicht erst »von äussern Erfahrungen abgezogen«, sondern liegen a priori im Gemüt bereit. Als subjektiven Bedingungen der Sinnlichkeit kommt ihnen somit aber nichtsdestoweniger »empirische Realität« zu.47 Die Besprechung in den Gothaischen gelehrten Zeitungen blieb die letzte Rezension zur Kritik der reinen Vernunft, abgesehen von der ursprünglichen Version von Garves Besprechung, die im Herbst 1783 nachträglich in der Berliner Allgemeinen deutschen Bibliothek (AdB) abgedruckt wurde.48 Sie 44 45
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Vgl. KA II 82 (Brief vom 30. April 1789). Adam Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen. Nürnberg 1788, S. 129–130 Anm. Historisches Interesse kann Ewald außer für seine Rolle in der frühen Kantrezeption auch wegen seiner Verbindung zum Göttinger Hainbund und seiner Spinoza-Übersetzungen beanspruchen, die 1785 bis 1793 erschienen. Zu seiner Biographie und zu seinem Engagement für die Kantische Philosophie vgl. Max Berbig: Schack Hermann Ewald. Ein Beitrag zur Geschichte des Hainbundes. In: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung, Jg. 1903, S. 88–111; Horst Schröpfer: Der »Nekrolog Immanuel Kant« von Schack Hermann Ewald in den Gothaischen gelehrten Zeitungen. In: Aufklärung 21 (2009), S. 279–288. Erdmann und Beiser unterschätzen die Bedeutung der Gothaer Rezension, wenn sie in ihr lediglich einen dürftigen Auszug aus der Kritik sehen und Kants Lob ganz unverdient finden. Vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 98; Beiser: Fate of Reason, S. 354 Anm. 44. Landau 21–23. Vgl. AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 34–55, sowie dazu Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 74–83. Zur Forschungskontroverse um die Frage, inwieweit Feders Bearbeitung eine Verfälschung von Garves Intentionen darstellte, vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 353f. Anm. 37. Einen für den Vergleich der beiden Fassungen nützlichen synoptischen Abdruck bietet Günter Schulz: Christian Garve und Immanuel Kant. Gelehrten-Tugenden im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 5 (1960), S. 123–188, hier S. 165–188.
34 ist differenzierter in der Argumentation und im Ton etwas höflicher und zurückhaltender als die Fassung der Göttingischen Anzeigen;49 auch der provozierende Vergleich mit Berkeley war ein Zusatz Feders gewesen. Die grundsätzliche anti-idealistische Stoßrichtung der Kritik aber ist in Garves Originalfassung dieselbe.50 Kants Versuch, sich mit dem Begriff eines transzendentalen Idealismus vom Idealismus herkömmlicher Art abzugrenzen, wird von Garve als wenig überzeugend beurteilt.51 Entscheidender Stein des Anstoßes bleibt für ihn, dass Kant »alles, was wir Gegenstände nennen, zu Arten von Vorstellungen macht«, eine philosophische Spitzfindigkeit, die nach Garves Ansicht im Widerspruch zu den »Gesetzen unserer Natur« und zu »unserer Sprache« steht. Ausdrücklich hebt er dagegen die Bedeutung der äußeren Empfindung hervor, welcher im Erkenntnisprozess gegenüber dem Verstand eine primäre Rolle zukomme.52 Weitere Vorbehalte äußert Garve gegenüber Kants Herleitung der Kategorientafel und dem System der transzendentalen Ideen.53 Garves Originalrezension war kurz nach Erscheinen der Prolegomena publiziert worden, von denen zu diesem Zeitpunkt weitere wichtige Impulse für die Ausbreitung der Kantischen Philosophie ausgingen. Viel deutlicher als in der Kritik der reinen Vernunft hebt Kant in der Nachfolgeschrift den 49
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Der verbindlichere Ton ist nicht zuletzt eine Wirkung der kantfreundlichen Einleitungsworte, die der Berliner Popularphilosoph Johann Jakob Engel auf Garves Wunsch hinzugefügt hatte. Dieser Umstand geht aus einem Brief Garves an Nicolai vom 9. Januar 1784 hervor (vgl. Günter Schulz: Christian Garves Briefwechsel mit Friedrich Nicolai und Elisa von der Recke. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 [1974], S. 222–305, hier S. 264; sowie dazu Böhr: Philosophie für die Welt, S. 94). Engel (1741–1802) war neben Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai eine der zentralen Figuren der Berliner Aufklärung. Von seiner intensiven Kantlektüre berichtet Reimarus im Brief an Mendelssohn vom 14. Juni 1784 (vgl. JA XIII 197). Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 176f.; Sassen: Introduction, S. 9–11. Vgl. auch J.A.H. Reimarus’ Brief an Moses Mendelssohn vom 14. Juni 1784, in welchem Kant aufgrund der Garveschen Besprechung als Idealist eingeordnet wird (JA XIII 197). Wie deutlich das Idealismus-Paradigma die früheste Rezeption der kritischen Philosophie bestimmte, wird etwa zur selben Zeit auch durch die deutsche Übersetzung des Buches An Essay on the Nature and Existence of a Material World (London 1781) bestätigt. Der anonyme Autor dieses Werks verteidigt den Idealismus als das einzige metaphysische System, welches für das Problem des Verhältnisses von Körper und Seele eine widerspruchsfreie Lösung biete, und kommt zu dem Schluss, dass die äußeren Dinge »nicht sind, was sie scheinen; daß die Seele der eigentliche Sitz der Empfindungen ist« (Anonym: Versuch über die Natur und das Daseyn einer materiellen Welt. Riga 1783, S. 174). In seinen »Ergänzungen« zum Vorbericht des Buches stellt der Übersetzer Carl Gottfried Schreiter fest, dass der Idealismus des Autors »mit dem Kantischen in mehr als einem Betracht zusammen zu treffen scheint« (ebd., S. XXIV) – eine Gleichsetzung, die der Rezensent H.A. Pistorius bestätigt (vgl. AdB 65/1 [1786], Landau 305). Vgl. Landau 45. Noch 1792 entrüstet sich Kant in einem Brief über Garves »Meynung von der Identität des Berkleyschen Idealismus mit dem critischen« (Brief an Beck vom 4. Dezember 1792, XI 395). Vgl. Landau 51, 55. Vgl. Landau 38f., 44.
35 grundsätzlichen Anspruch seines Systems auf Neubegründung der Metaphysik hervor. Gleich auf den ersten Seiten erklärt er, er werde den Leser davon überzeugen, dass es eine wissenschaftliche Metaphysik »gar nicht geben könne, ohne daß die hier geäußerte Forderungen geleistet werden, auf welchen ihre Möglichkeit beruht, und, da dieses noch niemals geschehen, daß es überall noch keine Metaphysik gebe.«54 In den Prolegomena wird das Projekt, die Metaphysik als apodiktische Wissenschaft nach dem Vorbild von Mathematik und Physik zu etablieren, zum ersten Mal konsequent ausformuliert; erst hier rückt die damit eng verbundene Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (also erkenntniserweiternder, aber von Erfahrung unabhängiger Urteile) ins strukturelle Zentrum der Ausführungen.55 Die von Kant geäußerte Hoffnung, die Prolegomena möchten »die Nachforschung im Felde der Kritik vielleicht rege machen«,56 sollte sich erfüllen. Zwar spricht Hermann Andreas Pistorius noch im Dezember 1784, also mehr als anderthalb Jahre nach Erscheinen der Prolegomena, in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von der »befremdlichen Ruhe, worinn selbst die Metaphysiker von Profession […] nicht nur bey Erscheinung der Kritik, sondern selbst dieser Prolegomenen geblieben sind.«57 Jedoch dürfte sich nicht nur bei ihm der Eindruck ergeben haben, dass Kant in den Prolegomena manches »doch deutlicher und faßlicher« als in der Kritik der reinen Vernunft abgehandelt hatte.58 Vor allem ließ sich nun kaum mehr der radikale Innovationsanspruch übersehen, der Kants Philosophie zugrunde lag und die Zeitgenossen zu einer echten und eingehenden Auseinandersetzung zwang. Besonders klar hervorgehoben wird die Bedeutung der Prolegomena für das Schicksal der Kantischen Philosophie in einem viereinhalb Jahre später erschienenen Artikel der Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen, dessen Autor rückblickend erklärt, dass Kants Kritik »sicherlich ein so genannter Ladenhüter geworden wäre, hätte der Verf. nicht den glücklichen Einfall gehabt, mit seinen Prolegomenen in die Trompete zu stoßen, und die Philosophen aus ihrer Lethargie zur Aufmerksamkeit aufzuschrecken.«59 54 55 56 57
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WA III 115. Vgl. Pollok: Einleitung zu Kants Prolegomena, S. IX–XIII. WA III 244. Landau 107. Vgl. auch schon Johann Schultz: Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft [1784]. Königsberg 21791 [Repr. 1968], S. 6: »[E]s scheint beynahe, daß man vor den Prolegomenen fast nicht weniger zurückbebt, als vor der Critik.« Landau 86. Ähnliche Bekundungen finden sich in der Rezension der Prolegomena in Johann Christian Lossius’ Übersicht der neuesten Philosophischen Litteratur vom Frühjahr desselben Jahres (vgl. Landau 74) und bei weiteren Autoren; vgl. Wilhelm Anton Klewiz: Ueber Idealismus. An den Herrn Professor Kant in Königsberg. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 4. Stück, S. 409–425, hier S. 410; Kausch: Antwort, S. 52; Will: Vorlesungen, unpaginierte Vorrede. Vgl. auch Johann Benjamin Erhards Brief an Kant vom 12. Mai 1786 (AA X 447f.). Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 30. Oktober 1787, Landau 713.
36 Die Besprechungen der Prolegomena trugen ihren Teil zum Gelingen von Kants Kampagne bei,60 indem sie seinen Neubegründungsanspruch in aller Deutlichkeit referieren und ihre Inhaltsangaben konsequent an dem von ihm vorgegebenen Muster der ›transzendentalen Hauptfragen‹ ausrichten, von deren Auflösung »das Stehen oder Fallen der Metaphysik« abhängt: Wie sind synthetische Erkenntnis a priori, reine Mathematik, reine Naturwissenschaft, Metaphysik überhaupt und schließlich Metaphysik als Wissenschaft möglich?61 Die inhaltliche Bewertung fiel durchweg wohlwollend aus, sieht man von vereinzelter Kritik an Kants schwieriger Sprache ab.62 Ansätze zu einer differenzierten inhaltlichen Auseinandersetzung finden sich lediglich in der Besprechung von Hermann Andreas Pistorius (1730–1795), dem scharfsinnigen Rezensenten der Allgemeinen deutschen Bibliothek, von dem auch die meisten der nachfolgenden Besprechungen zu Werken Kants in dieser Zeitschrift stammen.63 Seine Beurteilung der Prolegomena gehört laut Benno Erdmann »zu dem Besten […], was in diesen Jahren gegen oder für Kant geschrieben wurde«.64 Pistorius’ Einwände betreffen unter anderem Kants Begriff der Zeit,65 die Herleitung seiner Kategorientafel66 und die Auflösung der dritten Antinomie der reinen Vernunft (in der es um das Problem von Freiheit vs. Naturnotwendigkeit geht).67 Kritische Reflexe auf
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Bis Ende 1784 erschienen drei ausführliche Rezensionen zu den Prolegomena: außer der genannten in der Allgemeinen deutschen Bibliothek eine in den Gothaischen gelehrten Zeitungen (vgl. Landau 55–63) und eine in Lossius’ Übersicht der neuesten Philosophischen Litteratur (vgl. Landau 64–76). Vgl. WA III 136–141 (Zitat WA III 137). Vgl. Landau 74f. Der Rügener Pastor Pistorius war seit Mitte der 1760er Jahre engagierter Mitarbeiter an Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek: Bis zu seinem Tod soll er über tausend Rezensionen geliefert haben, hauptsächlich im philosophischen und theologischen Fach. Er ist als der »bedeutendste Philosoph« unter den Beiträgern der AdB bezeichnet worden; Sassen bedauert, dass er aufgrund seiner räumlichen Isolation nicht die Wirkung ausübte, die er hätte haben können (vgl. Günther Ost: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek. Berlin 1928 [Germanische Studien, Heft 63] [Repr. 1967], S. 50; Sassen: Kant’s Early Critics, S. 16). Was seine philosophische Ausrichtung betrifft, so wird Pistorius in einem biographischen Nachruf der Klasse der »gemäßigten Sceptiker« zugeordnet (Anonym: Todesfall. In: Intelligenzblatt der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, Nr. 31 [1799], S. 249–253, hier S. 252). Neuerdings hat sich Bernward Gesang in einer Edition darum verdient gemacht, die Aktualität von Pistorius’ Kant-Kritik herauszustellen. Vgl. Bernward Gesang: Einleitung. In: Kants vergessener Rezensent: Die Kritik der theoretischen und praktischen Philosophie Kants in fünf Rezensionen von Hermann Andreas Pistorius. Hg. von Bernward Gesang. Hamburg 2007 (Kant-Forschungen, Bd. 18), S. VII–XLV, hier S. XIII–XLII. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 106. Zum Inhalt der Rezension vgl. auch Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 85–95. Vgl. Landau 92f., 101. Vgl. Landau 95. Vgl. Landau 102.
37 Kants Abwertung der bisherigen Metaphysik, auf seine Entgegensetzung von unsicherer philosophischer und apriorisch gewisser mathematischer Erkenntnis finden sich auch in einem Dialog, den der prominente Philosoph Johann Nikolaus Tetens (der »deutsche Locke«) 1783 veröffentlichte – allerdings ohne Kant namentlich zu erwähnen.68 Keiner der Kritiker aber schien diesmal den von Kant angeprangerten Fehler des Göttinger Rezensenten begehen zu wollen, die Kantische Philosophie dadurch abzufertigen, dass man sie in eine bestimmte philosophiegeschichtliche Schublade steckte.69 In der von dem Erfurter Philosophieprofessor Johann Christian Lossius (1743–1813) herausgegebenen Übersicht der neuesten Philosophischen Litteratur wird Kant sogar bescheinigt, er werde möglicherweise »eine neue Epoche in der Litterar-Geschichte« einleiten.70 Die Provokation, die die kritische Philosophie darstellte, konnte von niemandem mehr ignoriert werden. Was sie für die etablierte philosophische Szene bedeutete, drückt rückblickend der historisch unterlegene Feder wie folgt aus: »Da diese neue Philosophie es sogar problematisch, und mehr als problematisch machte, ob es bis dahin irgend Philosophie gegeben habe: wie hätte die meinige noch einiges Ansehen behalten können?«71 Mehr noch als auf Kants Kritik der reinen Vernunft trifft auf die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik Hans Saners Feststellung zu,
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Vgl. [Johann Nikolaus Tetens:] Von der Abhängigkeit des Endlichen von dem Unendlichen. In: Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten 4 (1783), S. 97–168, hier S. 97–114 [Repr. in: ders.: Kleinere Schriften. Hg. von Jürgen Engfer. 2 Teile. Hildesheim u. a. 2005. Teil 2, S. 259–330]; sowie dazu Jürgen Engfer: Einleitung. In: Tetens: Kleinere Schriften, Teil 1, S. XIII–XLI, hier S. XXXVIIIf. Der auch von Kant hochgeschätzte Tetens (1736–1807) war seit 1776 Philosophieprofessor in Kiel. Eine Fortführung seiner Auseinandersetzung mit Kant blieb aus; 1789 ging er als Beamter der dänischen Regierung nach Kopenhagen. Tetens kann als einer der wichtigsten Vertreter der auf Beobachtung und Induktion gegründeten Erfahrungsseelenlehre des 18. Jahrhunderts gelten (vgl. ebd., S. XVI–XVIII). Häufig wird er aber auch als eine Art Vorläufer der transzendentalen Wende Kants gesehen. Vgl. dazu kritisch Jeffrey Barnouw: The Philosophical Achievement and Historical Significance of Johann Nicolas Tetens. In: Studies in Eighteenth-Century Culture 9 (1979), S. 301–335, hier S. 302–305, 309, 329 Anm. 4. Zum Beinamen »deutscher Locke« vgl. Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, S. 53; zu Tetens’ methodischer Orientierung an Locke vgl. auch Engfer: Einleitung, S. XXIf. Kant hatte wohl den Berkeley-Vergleich aus der Göttinger Besprechung vor Augen, wenn er sich in den Prolegomena über »unbefugte Richter« beschwert, welche »vor jede Abweichung von ihrer verkehrten obgleich gemeinen Meinung gerne einen alten Namen haben möchten« (WA III 157). Die Rezensionen sowohl der Gothaischen gelehrten Zeitungen als auch der Allgemeinen deutschen Bibliothek verweisen explizit auf Passagen der Prolegomena, in denen Kant sich von Berkeleys Idealismus abgrenzt (vgl. Landau 63, 93). Landau 76. Feder: Leben, S. 87.
38 daß nie zuvor in Deutschland, ja vielleicht im Abendland, ein Philosoph mit dem derart klaren Anspruch aufgetreten ist, das Philosophieren neu zu begründen. [/] Dieser Anspruch […] wirkte auf die philosophierenden Zeitgenossen wie eine Herausforderung, ja auf viele wie eine Kriegserklärung. […] [Es] konnte und durfte sich kein Denkender ihm gegenüber gleichgültig verhalten […].72
3. Erste grundsätzliche Stellungnahmen zur kritischen Philosophie (1784): Tiedemann, Klewiz, Selle, Schultz, Platner »Die Kritik der reinen Vernunft wird jetzt rege und fängt an zu gähren«, stellt Hamann im Juli 1784 fest.73 Tatsächlich kann man 1784 als das Jahr ansehen, in dem das Schweigen über Kants kritische Philosophie endgültig gebrochen wurde.74 Neben den wohlwollenden und ausführlichen Besprechungen zu den Prolegomena erschienen nun die ersten Aufsätze und Monographien, deren Verfasser aus dem Schatten der Anonymität heraustraten, um für oder gegen Kant Stellung zu beziehen. Eine der wichtigsten kritischen Auseinandersetzungen mit der Kantischen Philosophie außerhalb des Rezensionsformats war die Untersuchung Ueber die Natur der Metaphysik; zur Prüfung von Hrn Professor Kants Grundsätzen von Dietrich Tiedemann (1748–1803), die in drei Teilen in den Hessischen Beyträgen zur Gelehrsamkeit und Kunst veröffentlicht wurde.75 Tiedemann, der sich sowohl auf die Kritik der reinen Vernunft als auch auf die Prolegomena bezieht, macht in den Einleitungssätzen deutlich, dass er die grundsätzliche Dimension der Kantischen Philosophie, ihren Anspruch auf wissenschaftliche Neubegründung der Metaphysik, durchaus erkennt. Seine Abhandlung versteht er als Antwort auf die bisher wenig beachtete Bitte Kants um Prüfung seines Systems.76 Diese Prüfung erfolgt bei Tiedemann auf empiristischer Grundlage.77 Er verteidigt gegen Kant den empirischen Ursprung der Begriffe von 72 73 74 75
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Saner: Widerstreit, S. 128. H V 170 (Brief an Hartknoch vom 25. Juli 1784). Vgl. Saner: Widerstreit, S. 129; Beiser: Fate of Reason, S. 177. Vgl. Dietrich Tiedemann: Ueber die Natur der Metaphysik; zur Prüfung von Hrn Professor Kants Grundsätzen. In: Hessische Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst 1 (1785), S. 113–130, 233–248, 464–474 (die einzelnen Stücke des Zeitschriftenbandes erschienen bereits 1784); im folgenden zitiert nach Hausius II 53–103. Tiedemann war seit 1776 Professor der klassischen Sprachen am Kasselaner Carolinum. Nach dessen Auflösung wurde er 1786 Philosophieprofessor in Marburg. Vgl. Hausius II 53. Zu Tiedemanns Argumentation vgl. Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 95–114; Beiser: Fate of Reason, S. 178; Sassen: Introduction, S. 11–14, 33f.; Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie. Stuttgart/Bad Cannstatt 2003 (FMDA, Abt. 2, Bd. 18), S. 319f.
39 Raum und Zeit;78 er stellt Kants Konzept synthetischer Erkenntnis a priori in Frage, indem er zugunsten des analytischen Charakters der Erkenntnis sowohl in der Mathematik als auch im Bereich allgemeiner Naturprinzipien (zum Beispiel der Kausalität) argumentiert;79 und er kritisiert Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich als idealistisch.80 Der Vorwurf eines erkenntnisskeptischen Idealismus knüpft an die KantKritik der Göttinger Rezension an. Möglicherweise war Tiedemanns Vorgehen sogar mit Göttingen abgestimmt,81 jedenfalls besaß er enge persönliche Verbindungen dorthin.82 Entsprechend fiel die kurze Notiz, mit der die Göttingischen Anzeigen Tiedemanns Aufsatz annoncierten, zustimmend aus.83 Mehrere frühe Anhänger der kritischen Philosophie äußerten sich hingegen abfällig über Tiedemanns Versuch einer Widerlegung84 – wie auch Kant selbst.85 Eine gewisse Bedeutung muss er Tiedemanns Ausführungen allerdings beigemessen haben, da sich in seinem Nachlass ein Entwurf zu einer Entgegnung findet.86 In den folgenden Jahren bezogen sich Anhänger wie Gegner Kants noch öfter auf Tiedemanns Abhandlung als eine Art locus classicus der frühesten Kant-Kritik, vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion über den synthetischen oder analytischen Charakter mathematischer Erkenntnis.87 78
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Vgl. Hausius II 64–66, 74–76. Auf einen empirischen Raum-Begriff stützt Tiedemann sich auch im Schlussteil der Abhandlung, welcher der Auflösung von Kants erster und zweiter Antinomie (Frage nach einer raumzeitlichen Begrenzung der Welt bzw. nach der Existenz einfacher Teile) und damit der Widerlegung der transzendentalen Dialektik gewidmet ist (vgl. Hausius II 92–103). Vgl. Hausius II 55–61, 68f. sowie den gesamten zweiten Teil, Hausius II 77–92. Vgl. Hausius II 87, 90f. In diese Richtung spekuliert Beiser: Fate of Reason, S. 178. Tiedemann hatte in Göttingen studiert (unter anderem bei Feder), war mit Feders Kollegen Christoph Meiners und mit Christian Gottlob Heyne (dem redaktionellen Leiter der Göttingischen Anzeigen) befreundet und kann »als das typische Beispiel eines Gelehrten Göttinger Prägung […] betrachtet werden« (Marino: Praeceptores Germaniae, S. 174 Anm. 93). Zur Charakterisierung seines Werks vgl. auch Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, S. 299–301. Die Notiz erschien in den Göttingischen Anzeigen vom 15. Mai 1784 (vgl. Landau 77f.) und wurde von Heyne oder von Michael Hissmann verfasst. Entgegen den Angaben im Kommentar der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe ist wohl dies die »Göttingische Recension«, von der J.A.H. Reimarus im Brief an Mendelssohn vom 14. Juni 1784 spricht (vgl. JA XIII 208f. sowie den Kommentar, JA XIII 402). Vgl. Christian Gottfried Schütz in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 12. Juli 1785 (Landau 154f.); Schütz’ Brief an Kant vom 20. September 1785 (AA X 409); die Briefe Johann Berings und Friedrich Gottlob Borns an Kant vom 24. September 1785 bzw. 7. Mai 1786 (AA X 410, 444); sowie Karl Leonhard Reinholds Brief an Christian Gottlob Voigt von Anfang November 1786 (KA I 150). Auf all diese Autoren wird im folgenden noch ausführlicher eingegangen. Vgl. Kants Antwort an Bering vom 7. April 1786 (AA X 440). Vgl. AA XVIII 296–298 (Refl. 5649). Schütz setzte die Verteidigung Kants gegen Tiedemann in einer lateinischen Abhandlung fort, die er 1785 für den akademischen Gebrauch an der Universität Jena verfasste
40 Das Leitmotiv des Idealismusvorwurfs wurde auch im Titel eines kantkritischen Artikels aufgenommen, der 1784 im vierten Band der Dessauischen Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten erschien:88 Ueber Idealismus – An den Herrn Professor Kant in Königsberg. Sein Autor, der junge Jurist Wilhelm Anton Klewiz (1760–1838), hatte sein rechtswissenschaftliches Studium bei Pütter in Göttingen absolviert und sich dort auch mit Philosophie beschäftigt.89 Wie schon die Überschrift erwarten lässt, argumentiert auch Klewiz aus empiristischer Perspektive gegen Kants Theorie von Raum und Zeit als subjektiven Formen der Anschauung. Raum und Zeit sind für Klewiz etwas, das den Dingen selbst objektiv zukommt.90 Entsprechend lassen uns auch die aus der raumzeitlichen Erfahrung entwickelten Verstandesbegriffe zu objektiver Erkenntnis gelangen,91 und zwar nicht nur innerhalb des Bereichs der Erfahrung selbst, sondern »durch gültige Schlüsse von jenen zuverlässigen Erfahrungen«92 sogar im Hinblick auf die Dinge, die Kant in den Bereich transzendentaler Ideen verwiesen hatte, über die keine Erkenntnisgewissheit möglich sei, wie die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele. Klewiz’ (auf Oktober 1783 datierter) Beitrag ist bemerkenswert, weil er zum ersten Mal die negativen Folgen der Kantischen Philosophie für die Religion betont. Schon Garve hatte in seiner Rezension der Kritik der reinen Vernunft, allerdings eher beiläufig, Zweifel darüber angemeldet, ob Kants Moraltheologie einen ausreichenden Ersatz für die von ihm widerlegte spekulative Theologie bieten könne.93 Bei Klewiz rücken diese Zweifel ins Zentrum der Auseinandersetzung. Aus ihnen wird die Notwendigkeit abgeleitet, in der erneuerten Theorie von der Objektivität der Erkenntnis einen »Aus-
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(vgl. dazu Schröpfer: Kants Weg, S. 317–328). Um eine Widerlegung Tiedemanns bemühte sich auch Karl Leonhard Reinhold in seiner Besprechung der Hessischen Beyträge für die ALZ, in der bei aller schonungslosen Kritik hervorgehoben wird, dass Tiedemann immerhin als einer der ersten die neue Philosophie zur Kenntnis genommen habe (vgl. ALZ, 14. März 1788, Sp. 691). Zustimmend wird auf Tiedemann in der Rezension zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verwiesen, die am 11. August 1787 in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen erschien (vgl. Landau 651). Herder spricht Tiedemann noch in einem Brief vom Januar 1791 als Verbündeten im Widerstand gegen die neue Philosophie an (vgl. HB VI 227). Zur Charakterisierung dieses von Carl Christoph Reiche geführten Zeitschriftenprojekts vgl. Johann Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 3: Vom Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740–1804). Leipzig 1909, S. 158f. Klewiz wurde später als hoher preußischer Beamter und Finanzminister bekannt. Zu seiner Biographie vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 16. Jg. (1838), zweiter Theil, S. 706–711. Zur anti-deduktiven, empirisch-historisch orientierten Rechtswissenschaft Johann Stephan Pütters vgl. Marino: Praeceptores Germaniae, S. 261–266. Vgl. Klewiz: Ueber Idealismus, S. 414–416. Vgl. ebd., S. 416–418. Ebd., S. 422. Vgl. Landau 49.
41 weg«94 vor den drohenden Konsequenzen der Vernunftkritik zu suchen. Indem Klewiz das Verhältnis der Kantischen Philosophie zur Religion problematisiert, weist er voraus auf das, was in den folgenden Jahren – neben der erkenntnistheoretischen Problematik – einen Hauptstreitpunkt in der Diskussion um die Kantische Philosophie bilden sollte. Sein Aufsatz scheint von den Zeitgenossen allerdings kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein; direkte Bezugnahmen auf ihn liegen nicht vor.95 Ein dritter kantkritischer Beitrag des Jahres 1784 stammt von dem Berliner Medizinprofessor und Philosophen Christian Gottlieb Selle (1748– 1800).96 Selle war Mitglied der berühmten Mittwochsgesellschaft, dem wichtigsten Gesprächszirkel der Berliner Aufklärung, in dem Kants neue Philosophie frühzeitig diskutiert wurde. Es war ein Vortrag Selles, der Anfang 1784 den Anstoß zu dieser Diskussion gab (dokumentiert sind die Reaktionen Mendelssohns, Engels und Spaldings).97 Ende des Jahres wurde er in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht: Versuch eines Beweises, daß es keine reine von der Erfahrung unabhängige Vernunftbegriffe gebe.98 Aus radikal Lockeanischer Perspektive verteidigt Selle Empirie und Induktion als die einzigen Quellen der Erkenntnis und bestreitet die Existenz synthetischer Urteile a priori. Synthetisches Urteilen, so der Verfasser, beruht immer auf Erfahrungsbegriffen und kann deshalb immer nur einen bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Da, wo synthetische Urteile den Anschein von Allgemeinheit und Notwendigkeit haben, handelt es sich in Wirklichkeit um analytische Urteile (wie Selle am Beispiel des Satzes vom zureichenden Grund zeigt). Aber auch unser Begriff von der Allgemeinheit und Notwendigkeit analytischer Urteile, erläutert Selle, ist letztlich aus der Erfahrung abgeleitet. Kants Name wird in dem Aufsatz an keiner Stelle erwähnt. Terminologie und argumentative Stoßrichtung lassen aber keinen Zweifel daran, auf wen Selles Widerlegung aller Versuche, der Phi94 95
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Klewiz: Ueber Idealismus, S. 413. Das gilt bis heute: Soweit ich sehe, hat Klewiz bisher in keiner Quellensammlung oder philosophiegeschichtlichen Darstellung zur Kantrezeption Erwähnung gefunden. Selle, der wie Tiedemann und Klewiz in Göttingen studiert hatte, war leitender Arzt an der Berliner Charité und ab 1785 Leibarzt Friedrichs II. Kant hatte ihm bei Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft ein Exemplar des Buches zukommen lassen, um sich dafür zu revanchieren, dass Selle ihm zuvor seine Philosophischen Gespräche (1780) geschickt hatte (vgl. Kants Brief an Marcus Herz vom 1. Mai 1781, AA X 267). Zur Charakterisierung von Selles Person und philosophischem Standpunkt vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 179f.; Sassen: Introduction, S. 31f. Vgl. Norbert Hinske: Öffentlichkeit und Geheimhaltung. Zum Wahrheitsverständnis der deutschen Spätaufklärung. In: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Fs. Ulrich Ricken. Hg. von Reinhard Bach u. a. Tübingen 1999, S. 59–83, hier S. 64f. Vgl. Christian Gottlieb Selle: Versuch eines Beweises, daß es keine reine von der Erfahrung unabhängige Vernunftbegriffe gebe. In: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 565–575 (im folgenden zitiert nach Hausius I 98–106), sowie dazu Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 115–118.
42 losophie das Ansehen mathematischer Evidenz zu verleihen, konkret gemünzt ist. Wenn (wie die genannten Beiträge signalisierten) auch nach dem Erscheinen der Prolegomena die Kritik an Kant mit unvermindertem Nachdruck weitergeführt wurde, so galt das ebenso für seine Verteidigung. Zu einem wichtigen Propagator der kritischen Philosophie wurde der Königsberger Hofprediger Johann Schultz (1739–1805), dessen Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft im Frühherbst 1784 herauskamen.99 Das Buch war in enger Abstimmung mit Kant entstanden, von dessen frühester Bitte um eine Beurteilung der Kritik100 über die Anregung, aus der geplanten Zeitschriftenrezension doch lieber »eine vor sich bestehende piece«101 werden zu lassen, weil davon eine größere Wirkung auf das Publikum zu erwarten sei, bis hin zu konkreten Vorschlägen zu Inhalt und Aufbau der Abhandlung.102 Mit diesen Vorschlägen wollte Kant sicherstellen, dass Schultzes Darstellung der Vernunftkritik genauestens mit dem von ihm intendierten Sinn übereinstimme, denn, so das taktische Argument Kants: »[E]s kann Gegnern nichts erwünschteres geschehen, als wenn sie Uneinigkeit in Principien antreffen.«103 Schultzes fertiges Buch, in dessen Vorrede die Kritik der reinen Vernunft als »ohne Zweifel die auffallendste und wichtigste Erscheinung, die sich im
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1787 wurde Schultz ordentlicher Professor für Mathematik in Königsberg. Zu seinem Lebenslauf vgl. den kurzen Abriss bei Robert Theis: Der »wackere Pastor Schultz« und Kant. Ein Beitrag zum Frühkantianismus in Königsberg. In: Königsberger Beiträge. Von Gottsched bis Schenkendorf. Hg. von Joseph Kohnen. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 65–93, hier S. 65f. Vgl. den Brief Kants an Schultz vom 3. August 1781 (AA X 274). Sein Herantreten an Schultz begründet Kant mit dem Verweis auf eine frühere Rezension, die Schultz zu seiner Dissertation De mundi sensibilis verfasst hatte und die nach Kants Meinung damals unter allen Beurteilungen seinen Sinn »am genauesten zu treffen gewust hatte« (ebd.). Schon etliche Jahre früher hatte Kant mit Bezug auf diese Rezension erklärt, der »wackere Pastor Schultz« sei »der beste philosophische Kopf den ich in unsrer Gegend kenne« (Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772, AA X 133). Vgl. dazu Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 29–48; Theis: Der »wackere Pastor Schultz«, S. 66–71. AA X 352 (Brief Kants an Schultz vom 26. August 1783); vgl. auch AA X 350. Zur Entstehung von Schultzes Erläuterungen und zu Kants Rolle dabei vgl. Benno Erdmann: Historische Untersuchungen über Kants Prolegomena. Halle 1904, S. 102–111; Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 152–159; Theis: Der »wackere Pastor Schultz«, S. 71–77. Kant ließ Schultz als zusätzliches Material auch die Garvesche Rezension zukommen, zu der Schultz ihm antwortet: »Sie ist um ein sehr Vieles beßer, als die elende Göttingsche […]. Indeßen satisfacirt sie Dero so wichtigen Werke so wenig, daß sie vielmehr im Ganzen genommen noch immer einen nachtheiligen Schatten auf daßelbe wirft. Es scheint daher, daß mein geringer Aufsaz durch dieselbe noch nicht überflüßig gemacht worden […]« (Brief vom 28. August 1783, AA X 353). AA X 367 (Brief Kants an Schultz vom 17. Februar 1784).
43 Felde der speculativen Weltweisheit ereignen konnte«,104 bezeichnet wird, trägt so wenig den Charakter einer eigenständigen Erschließung Kantischer Gedankengänge, es hält sich vielmehr in Struktur und Sprache so eng an sein Vorbild,105 dass schwer vorstellbar ist, wie diese Art der Darstellung unmittelbar zu einem breiteren Verständnis der Transzendentalphilosophie beigetragen haben sollte.106 Bedeutende Impulse scheinen von den Erläuterungen zunächst eher mittelbar ausgegangen zu sein, vor allem durch die ausführliche Rezension, die der Kant-Vorkämpfer Christian Gottfried Schütz dem Buch im folgenden Jahr in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung widmete.107 Besondere Autorität bezogen die Erläuterungen aus der Tatsache, 104
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Schultz: Erläuterungen, S. 3. Ich zitiere die besser greifbare zweite Auflage des Buches (1791), von der 1968 ein Reprint erschien. Sie unterscheidet sich von der Erstauflage nur unwesentlich durch Abweichungen im Zeilen- und Seitenumbruch sowie durch die Korrektur einiger Druckfehler. Vgl. den Bericht des Herausgebers der englischen Übersetzung: Johann Schultz: Exposition of Kant’s Critique of Pure Reason. Übers. und mit einer Einleitung von James C. Morrison. Ottawa 1995 (Philosophica, Bd. 47), S. XII. Vgl. dazu Schultzes programmatische Bemerkungen in der Vorrede der Erläuterungen, S. 11f. Eine ausführliche inhaltliche Würdigung der Erläuterungen bietet Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 185–231. Vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 112, wo über Schultzes Buch festgestellt wird, dass »alle diejenigen Fragen, die einem Leser jener Zeit das Verständniss des kantischen Werks erschweren mussten, auch hier unbeantwortet bleiben.« Bestätigt wird Erdmanns Einschätzung durch eine Besprechung der Erläuterungen in Karl Adolph Cäsars Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt vom April 1785, wo bemerkt wird, dass »derjenige, der mit dem Werke des Herrn Kants selbst noch nicht vertraut ist, diese hier zusammengedrängten Säzze unmöglich für einen Kommentar ansehen kann, durch dessen Hülfe das Kantische Sistem mehr Licht und Faßlichkeit erhielte« (Landau 142). Skeptisch klingt auch die Äußerung des Rezensenten der Greifswalder Neuesten Critischen Nachrichten vom 1. Oktober 1785: »[W]ir überlassen es den Lesern zu beurtheilen, ob Hr. Schultz die Gabe und Schreibart habe, seinen Autor leichter zu machen« (Landau 225). In einem Brief an Moses Mendelssohn vom 2. Oktober 1785 gesteht J.A.H. Reimarus, dass er sich an das Studium von Schultzes Erläuterungen genausowenig heranwage wie an die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft selbst (vgl. JA XIII 302). Im weiteren Verlauf der Diskussion mehren sich dagegen die positiven Stimmen. In Pistorius’ Rezension für die Allgemeine deutsche Bibliothek vom Mai 1786 heißt es wohlwollend: »Ich glaube, daß es wenige Leser der Kritik und der Prolegomenen des Hrn. Kant geben wird, denen durch diese Erläuterungen nicht manche Dunkelheiten aufgehellet, und Schwierigkeiten, insofern diese den eigentlichen Sinn des Hrn. K. betrafen, gehoben worden […]« (Landau 326). Verschiedene Autoren empfehlen das Buch als Hinführung zur Kritik der reinen Vernunft; vgl. Anonym: Neuste Sensationen, S. 67; Kausch: Antwort, S. 52; Will: Vorlesungen, unpaginierte Vorrede und S. 33. Wieland griff offenbar auf die Erläuterungen zurück, um sich auf die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft vorzubereiten (vgl. den Brief seines Schwiegersohns Karl Leonhard Reinhold an Kant vom 12. Oktober 1787, AA X 498). Der Philosoph J.W.A. Kosmann bekennt 1789 in einem Brief an Kant, Schultzes Buch habe ihm »den Schlüßel zu der Kritik selbst gegeben« (AA XI 79). Zur Rezeption der Erläuterungen vgl. auch Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 232–235. Vgl. dazu unten S. 59f.
44 dass sie sich darauf berufen konnten, die in ihnen enthaltene Darstellung des Kantischen Systems sei von dessen Schöpfer selbst ausdrücklich gebilligt worden.108 Schultz begründete mit diesem Buch seine Rolle als offizielles Sprachrohr Kants, eine Funktion, die später von Kant selbst in einer öffentlichen Erklärung bestätigt wurde.109 Bei aller mechanischen ›Nachbeterei‹110 weist Schultzes Darstellung der Kantischen Philosophie doch auch eine charakteristische Akzentsetzung auf. Hinweise auf die Konsequenzen der Vernunftkritik für die Religion finden sich in Kants Kritik an verschiedenen Stellen.111 Tenor dieser Bemerkungen ist, dass die kritische Philosophie zwar die Unmöglichkeit beweist, von Dingen jenseits der Erfahrung wie Unsterblichkeit der Seele oder Gott positive Erkenntnis zu erlangen, dass sie jedoch umgekehrt auch zeigt, dass die Existenz dieser Dinge ebensowenig von Gegnern der Religion widerlegt werden kann. Was in Kants umfangreichem Buch als beiläufiges Argument unterzugehen droht, erhält eine erste Aufwertung in den Prolegomena: Deren resümierender Schlussteil endet mit dem Hinweis, ein wichtiger Nutzen der Vernunftkritik bestehe darin, dass sie die Theologie gegenüber allen Angriffen dogmatischer Spekulation »völlig in Sicherheit stellt«.112 Die Schutzfunktion der Vernunftkritik für die Religion113 rückt nun in Schultzes Erläuterungen noch stärker in den Vordergrund. Der ausführlichen Inhalts108
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Entsprechende briefliche Äußerungen Kants werden in der Vorrede zitiert (vgl. Schultz: Erläuterungen, S. 9–11). Die Ankündigung in den Gothaischen gelehrten Zeitungen und die Rezensionen heben diesen Aspekt hervor (vgl. Landau 64, 141, 225, 326). Als weiteres Beispiel vgl. Jacob Friedrich Abels (unten näher besprochene) Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie von 1787, in der sich der Autor durchgehend auf die Erläuterungen bezieht mit der Begründung, dass von ihnen »Herr Kant selbst erklärt hat, daß sie seinen Sinn getroffen« hätten ([Jacob Friedrich Abel:] Versuch über die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des Kantischen Systems. Frankfurt/Leipzig 1787 [Repr. 1968], S. 182f.). Vgl. Kants »Erklärung in der litterarischen Fehde mit Schlettwein« von 1797 (AA XII 367f.) sowie dazu Theis: Der »wackere Pastor Schultz«, S. 89–92. Gegen das Bild Schultzes als eines bedingungslosen Verehrers Kants erhebt Theis berechtigten Einspruch; vgl. ebd., S. 81, 87, 92. Vgl. Kurt Röttgers: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin/New York 1975 (Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 8), S. 62, 64. Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach Weischedels Ausgabe zitiert [im folgenden: KrV]. Angegeben werden die dort vermerkten Seiten der Originalausgabe: A bezeichnet die erste Auflage, B die zweite Auflage. Vgl. KrV A 383f., B 423f., A 640f./B 668f., A 742/B 770, A 753/B 781, A 849/B 877. WA III 263. Vgl. auch schon eine entsprechende Bemerkung in der Vorarbeit zu den Prolegomena, AA XXIII 58. In seiner Rezension der Prolegomena bezeichnet Pistorius diesen Nutzen der Vernunftkritik als ein dürftiges Resultat für eine so tiefgreifende und mühevolle Untersuchung; vgl. Landau 106f. Vgl. dazu Emil Arnoldt: Metaphysik die Schutzwehr der Religion. Rede gehalten am 22. April 1873 in der Kant-Gesellschaft zu Königsberg. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Otto Schöndörffer. Bd. II: Kleinere philosophische und kritische Abhandlungen. Erste Abteilung. Berlin 1907, S. 168–191.
45 angabe der Kritik der reinen Vernunft folgt dort ein kürzerer zweiter Abschnitt, »Versuch einiger Winke zur nähern Prüfung derselben«. In diesen Ausführungen wird die Ermittlung der Grenze zwischen Wissen und Glauben, die letzteren gegen Übergriffe der Spekulation immunisieren soll, zu einem der fünf »Hauptmomente« von Kants Kritik erklärt,114 und die letzten Zeilen des Buches verkünden es als durch Kant »erwiesen, daß alle metaphysischen Einwürfe wider die Geheimnisse der Religion nichts weiter, als leere Sophistereyen seyn können, mit so einer hohen Mine von philosophischer Weisheit sie immer auftreten mögen.«115 Die Bedeutung, die Schultzes Erläuterungen für die weitere Ausbreitung der Kantischen Philosophie hatten, liegt wohl weniger in dem fasslichen Gesamtüberblick über das Kantische System, den der Königsberger Hofprediger zu geben bemüht war, als in der »Beruhigung für die Theologen«, die sie enthielten.116 Eine solche Beruhigung anzubringen schien ja nicht überflüssig bei der Propagierung einer Philosophie, die die Gültigkeit aller herkömmlichen Gottesbeweise für nichtig erklärte und damit letztlich auf nichts anderes hinauslief als auf die »Vernichtung der natürlichen Gotteslehre, d. h. aber der Grundlage der ganzen Aufklärungstheologie«.117 In dem Sedativum, welches die Erläuterungen gegenüber den beunruhigenden Konsequenzen der Kantischen Philosophie bereithielten, liegt nach Johann Eduard Erdmann der entscheidende Zug, wodurch Schultz dem Kantischen System »so viele, zum Theil oberflächliche, Anhänger zuführte […]. Die Versicherung von einem gründlichen Kenner dieser Lehre, dass für Moralität und Religiosität nichts zu fürchten sey, lockte jetzt Viele heran, die bis dahin sich gescheut hatten.«118 Ein Beleg für Erdmanns Urteil ist der enthusiastische Bericht, den Heinrich Jung-Stilling in einem Brief an Kant vom März 1789 über seine erste nähere Begegnung mit dessen Philosophie liefert. Was ihn lange von der Rezeption der Philosophie Kants abgeschreckt habe, so berichtet Jung-Stilling, sei »das Geschwäz Ihrer Gegner« gewesen, »als wenn Sie der Religion gefährlich wären«. Durch die (offenbar ab Herbst 1788 begonnene) Lektüre 114
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Vgl. Schultz: Erläuterungen, S. 188f., 220–222. Zur wahrscheinlichen Mitwirkung Kants an der Formulierung der »Hauptmomente« vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 132. Schultz: Erläuterungen, S. 254. Vgl. auch ebd., S. 109f., 252f., sowie das Urteil des Greifswalder Rezensenten, wonach Kant von Schultz »aus dem homelitischen [sic] Grunde vertheidigt wird, daß aus dieser neuen Scheidewand der Vernunft, der Werth der christlichen Rel. desto mehr erhelle« (Neueste Critische Nachrichten, 1. Oktober 1785, Landau 225). Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, S. 243. Wilhelm Maurer: Aufklärung, Idealismus und Restauration. Studien zur Kirchen- und Geistesgeschichte in besonderer Beziehung auf Kurhessen 1780–1850. Bd. 1: Der Ausgang der Aufklärung. Gießen 1930, S. 26. Erdmann: Entwicklung der deutschen Spekulation I, S. 238.
46 von Schultzes Erläuterungen aber sei diese Sorge völlig zerstreut worden, woraufhin Jung-Stilling dann zur Lektüre der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft übergegangen sei.119 Das Gespräch über Kants Philosophie, das zeigen die Beiträge von Tiedemann, Klewiz, Selle und Schultz, kam 1784 allmählich in Gang. Johann Bernhard Merian (1723–1807), Mitglied der philosophischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften, kann seinem Briefpartner, dem berühmten Schweizer Philosophen und Naturgelehrten Charles Bonnet, bereits im Mai berichten, dass Kants Werke die Aufmerksamkeit des gesamten philosophierenden Deutschlands auf sich zögen. In seiner kurzen Charakterisierung der Kantischen Philosophie hebt er besonders Kants transzendentalen Idealismus und die Lehre von Raum und Zeit als subjektiven Anschauungsformen hervor; gleichzeitig verweist er lobend auf Tiedemanns Widerlegung.120 Merians Korrespondenz mit Bonnet kann als das erste Zeugnis für die Rezeption der kritischen Philosophie außerhalb des deutschen Sprachraums gelten. Dass die Kritik der reinen Vernunft in der Wahrnehmung der Zeitgenossen inzwischen tatsächlich einen solchen Stellenwert gewonnen hatte, dass in Deutschland kein philosophisches Grundlagenwerk mehr kommentarlos an ihr vorbeigehen konnte, wird an Ernst Platners Philosophischen Aphorismen sichtbar. Von diesem weitverbreiteten Lehrbuch, das Elemente der schulphilosophischen Überlieferung auf zeitgemäße Weise einem anthropologischen Standpunkt anpasst und in lockerer Darstellungsform aufbereitet, erschien 1784 der erste Band in einer überarbeiteten Auflage. Platner (1744–1818), der zu diesem Zeitpunkt als einer der bedeutendsten deutschen Gelehrten galt,121 äußert in der Vorrede sein Bedauern darüber, dass es ihm 119
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AA XI 8 (Brief vom 1. März 1789). Zu Jung-Stillings Kantrezeption vgl. Maurer: Ausgang der Aufklärung, S. 30–32, 56 Anm. 235; Max Geiger: Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie. Zürich 1963 (Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 1), S. 497–500; Rainer Vinke: Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften Johann Heinrich Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai (1775/76). Stuttgart 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 129), S. 316–321. Vgl. Gerhard H. Müller/Riccardo Pozzo: Bonnet critico di Kant. Due cahiers ginevrine del 1788. In: Rivista di storia della filosofia 43 (1988), S. 131–164, hier S. 132–136. Das erste Mal berichtet Merian über Kant in einem Brief vom 3. April 1784. Zu Merians philosophischem Profil und zu seinem Wirken an der Berliner Akademie vgl. Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1 – Erste Hälfte. Berlin 1900, S. 454–457; Jens Häseler: Johann Bernhard Merian – ein Schweizer Philosoph an der Berliner Akademie. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. von Martin Fontius/Helmut Holzhey. Berlin 1996, S. 217–230. Vgl. Ernst Bergmann: Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1913, S. 281f. Platner war seit 1770 in Leipzig Extraordinarius für Medizin, seit 1780 Ordinarius für Physiologie, hielt aber auch philosophische Vorlesungen (und wurde 1801 zusätzlich zum Professor für Philosophie berufen). Die beiden Bände der
47 aus Platzgründen nicht möglich gewesen sei, Kants Kritik (»dieses wichtige Werk«) ausführlich zu berücksichtigen.122 Die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie findet in den Aphorismen denn auch lediglich in Form einiger punktueller Bemerkungen statt, die an verschiedenen Stellen eingeschoben sind und hauptsächlich zwei Problemkreise betreffen: erstens Kants transzendentalen Raum-Begriff, dem Platner jeden innovativen Gehalt abspricht, indem er erklärt, die Auffassung des Raums als Form der sinnlichen Vorstellung finde sich im Grunde schon bei Leibniz und Wolff;123 zweitens Kants Kritik der rationalen Psychologie, besonders seine Einwürfe gegen die Lehre von der Einfachheit und Einheit der Seele, die Platner als unbegründet zurückweist.124 Außer in seinem Lehrbuch scheint Platner auch in seinen Vorlesungen kritisch auf Kant eingegangen zu sein. Zu Beginn des Jahres 1785 berichtet Johann Adam Lorenz von Oerthel seinem Schul- und Studienfreund Jean Paul aus Leipzig, Platner habe Kant mit dem Skeptiker Hume verglichen.125
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Aphorismen waren in der Erstauflage 1776 und 1782 erschienen. Zu Platners Verhältnis zur Popularphilosophie vgl. Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie, S. 227–238. Zu seinem anthropologischen Programm und dessen Wirkung vgl. Alexander Koˇsenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ›philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 35), S. 25–31, sowie Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, S. 52–55. Zur Charakterisierung der Aphorismen und ihrer Rezeption vgl. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, S. 307–311; Koˇsenina: Ernst Platners Anthropologie, S. 31–37; Nowitzki: Platner und die Wolffsche Philosophietradition. Gegen Tendenzen der Forschung, Platner pauschal für den Empirismus der Spätaufklärung zu vereinnahmen, hat Gideon Stiening jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass Platner in der Aphorismen-Ausgabe von 1784 allerdings in wichtigen Punkten von seinen empiristischen Ausgangspunkten abrückt und zu Leibniz’ Lehre von den angeborenen Ideen konvertiert – laut Stiening ein Akt philosophischer Konsequenz, mit dem Platner der Einsicht Rechnung zu tragen versucht, dass eine rationalistische Fundierung der Anthropologie letztlich unverzichtbar ist (vgl. Stiening: Platners Aufklärung, S. 126–130, 136–138). Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe Leipzig 1784, unpaginierte Vorrede. Einer von Christian Gottfried Schütz kolportierten Anekdote zufolge hatte Platner auf einem frühen Blatt seiner bogenweise fertiggestellten Aphorismen zunächst eine ausführliche Prüfung der Kantischen Philosophie im Anhang angekündigt, diesen Vorsatz im Verlauf seiner Arbeit jedoch wieder aufgegeben (und das Blatt mit der Ankündigung vor dem Druck ausgetauscht). Vgl. AA X 399 (Schütz’ Brief an Kant vom 18. Februar 1785) und Landau 198f. Vgl. Platner: Philosophische Aphorismen, 1. Teil, S. 305 (§ 911). Vgl. ebd., S. 9f. (§ 24), 283f. (§ 866), 285f. (§ 868), 287f. (§ 873), 336–339 (§ 964); sowie dazu Erdmann: Kants Kriticismus, S. 104. In Pistorius’ (spät erschienener) Rezension für die Allgemeine deutsche Bibliothek werden Platners »mit vieler Gründlichkeit und Scharfsinn« vorgebrachte Einwände gegen Kant ausführlich referiert. Vgl. AdB 85/2 (1789), S. 447–449. Dies geht aus Jean Pauls Antwortbrief vom 9. Februar 1785 hervor. Vgl. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abtheilung, Bd. 1: Briefe 1780–1793. Hg. von Eduard Berend. Berlin 1956, S. 147.
48 Jean Paul, der sein Studium in Leipzig kurz zuvor abgebrochen hatte, war selber ein begeisterter Schüler und Verehrer Platners. Wenn er sich in seinem Antwortbrief auch Platners Urteil nicht anschließt, so war bei der Herausbildung seiner insgesamt eher kantkritischen Position der Einfluss seines Leipziger Lehrers doch möglicherweise ein wichtiger Faktor.126 Dass Platner mit seinen kantkritischen Ausfällen auch in den folgenden Jahren fortfuhr, legt eine Mitteilung des Kantianers Karl Leonhard Reinhold an Schack Hermann Ewald (den Redakteur der Gothaischen gelehrten Zeitungen) vom Oktober 1788 nahe: »H. Plattner in Leipzig soll auch sehr heftig gegen uns deklamieren.«127
4. Christian Gottfried Schütz und der Beginn der Kantrezeption an der Universität Jena (1784–1785) Platners Umgang mit Kants Philosophie in den Aphorismen wurde in den beiden Besprechungen, die 1785 in den Jenaischen gelehrten Zeitungen und in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen, ausdrücklich gerügt.128 Beide Artikel betonen mit Nachdruck, wie wichtig Kants philosophische Neuerungen seien und wie wünschenswert es daher wäre, dass sie eine ausführlichere Untersuchung und Beurteilung erführen als die von Platner geleistete. Dass der Veröffentlichungsort der Besprechungen in beiden Fällen Jena hieß, war mehr als ein bloßer Zufall. Die Universitätsstadt an der Saale schickte sich zu diesem Zeitpunkt bereits an, das Zentrum der philosophischen Bewegung zu werden, die durch Kant ausgelöst wurde. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Philosoph und Philologe Christian 126
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Vgl. Walther Hoppe: Das Verhältnis Jean Pauls zur Philosophie seiner Zeit (mit besonderer Berücksichtigung der Levana) [Diss. Leipzig 1901]. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Litteratur und für Pädagogik 8 (1901), S. 65–76, 129–140, 177–189, 277–296, 333–361, hier S. 337. Zu Platners Bedeutung für Jean Paul vgl. Koˇsenina: Ernst Platners Anthropologie; zur frühesten Kant-Rezeption Jean Pauls vgl. auch Josef Müller: Jean Pauls philosophischer Entwicklungsgang. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 13 (1900), S. 200–234, 361–401, hier S. 373–375. KA II 30. Vgl. Jenaische gelehrte Zeitungen, 26. August 1785, Landau 198; ALZ, 2. September 1785, Beilage, Landau 199. Vgl. auch die Kritik Karl Leonhard Reinholds, Platner fertige »die kantischen Grundideen mit einigen kurzen hingeworfenen Anmerkungen ab, ohne auch nur eine einzige von den vielen Berichtigungen […] in sein Werk aufzunehmen« (Brief an Christian Gottlob Voigt von Anfang November 1786, vgl. KA I 150–151; zum Verhältnis Reinholds zu seinem ehemaligen Lehrer Platner vgl. Bergmann: Ernst Platner, S. 283–285, 294–297). Die Kritik der ALZ an Platners Umgang mit Kant schloss nicht aus, dass man ihn in derselben Zeitschrift als Autorität zitierte, um für Kant mit dem Hinweis zu werben, »selbst ein Platner« nenne die Kritik der reinen Vernunft »ein sehr wichtiges Werk« (ALZ, 31. Oktober 1786, Landau 461).
49 Gottfried Schütz (1747–1832), der seit 1779 in Jena eine Professur für Dichtung und Beredsamkeit innehatte. Von ihm stammt wahrscheinlich die Besprechung der Aphorismen in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, dem fortschrittlichen Rezensionsorgan, das seit 1785 herauskam und als dessen Redakteur Schütz vor allem bekannt ist.129 Sein Wirken für die Verbreitung der neuen Philosophie setzte aber schon früher ein. Schütz hatte die Kritik der reinen Vernunft seit ihrem Erscheinen 1781 intensiv rezipiert.130 Bereits 1782 findet sich eine Erwähnung dieses »vor kurzem erschienenen wichtigen Werkes«131 in seiner Schrift über Lessing.132 Schütz verteidigt Lessings Herausgabe der Fragmente eines Ungenannten gegen die christliche Religion, indem er Kants Diktum vom »Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«, zitiert.133 Vermutlich war dies das erste Mal, dass jemand außerhalb der Rezensions- und Buchanzeigen-Routine öffentlich auf Kants Kritik aufmerksam machte.134 1783 verweist Schütz in einer Anmerkung zu 129
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Zu Schütz’ Autorschaft vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 89, 218, 220f. Alessandro Lazzari hat stattdessen Karl Leonhard Reinhold als Verfasser der Rezension vermutet (vgl. Alessandro Lazzari: Zur Genese von Reinholds »Satz des Bewußtseins«. In: Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds. Hg. von Martin Bondeli/Alessandro Lazzari. Basel 2004, S. 21–38, hier S. 25–28). Gegen diese These spricht, dass Reinhold und der ihn protegierende Wieland sich im Dezember 1784 mit dem Redakteur Schütz heftig überworfen hatten. Anlass war Schütz’ Kritik an den ersten beiden Rezensionen gewesen, die Reinhold ihm zur Veröffentlichung in der Allgemeinen Literatur-Zeitung zugesandt hatte. Eine vollständige Aussöhnung zwischen Schütz und Wieland fand erst im Februar 1786 statt. Der Streit ist dokumentiert in Hans Wahl: Wieland und die Allgemeine Literatur-Zeitung. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 19 (1933), S. 167–202; vgl. auch den Kommentar in KA I 45, Anm. 19. »Kants Kritik der reinen Vernunft habe ich, so bald sie herauskam zu studiren angefangen, und studire sie noch« (Schütz in der ALZ, 1785, Februarheft, Umschlagseite). Schütz’ frühe Beschäftigung mit der Kritik erklärt sich aus einer regen Anteilnahme an Kants Philosophie seit seiner Zeit in Halle, wo er studiert hatte und seit 1773 Professor für Philosophie gewesen war. Dort war ihm der vorkritische Kant vor allem durch seinen engen Freund, den Philosophen Ludwig Martin Träger nahegebracht worden. Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 34–67, 104. Christian Gottfried Schütz: Ueber Gotthold Ephraim Lessing’s Genie und Schriften. Halle 1782, S. 120. Vgl. Horst Schröpfer: Christian Gottfried Schütz – Initiator einer wirkungsvollen Verbreitung der Philosophie Kants. In: Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Hg. von Norbert Hinske u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1995 (FMDA, Abt. 2, Bd. 6), S. 15–35, hier S. 20, 31f.; ders.: Kants Weg, S. 104–108. Schütz: Ueber Gotthold Ephraim Lessing’s Genie, S. 120 (Schütz zitiert die Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, KrV A XI). Abgesehen von einer Bemerkung in der Vorrede zur deutschen Übersetzung von Reids Inquiry into the Human Mind, die im gleichen Jahr erschien. Der unbekannte Übersetzer lobt Kant als den einzigen Denker, dessen Hume-Kritik in der Kritik der reinen Vernunft es an Tiefgründigkeit mit derjenigen Reids aufnehmen könne (vgl. Thomas Reid: Untersuchung über den menschlichen Geist, nach den Grundsätzen des gemeinen Menschenverstandes [engl. 1764]. Leipzig 1782 [Repr. 2000], S. IV).
50 Antoine Jacques Roustans Briefen zur Vertheidigung der christlichen Religion erneut auf Kant,135 interessanterweise im Zusammenhang mit demselben Argument, das Johann Schultz dann 1784 in seinen Erläuterungen hervorhebt: Kants Vernunftkritik sichert den Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit, indem sie die Möglichkeit rationaler Gegenbeweise widerlegt.136 Es ist wohl hauptsächlich Schütz’ Einfluss zuzuschreiben, dass in Jena immer mehr seiner Kollegen innerhalb kurzer Zeit auf Kant aufmerksam wurden.137 Möglicherweise wurde Schütz in seinem Werben für die Kantische Philosophie von seinem Schwager, dem Jenaer Theologieprofessor Ernst Jakob Danovius (1741–1782), bestärkt und unterstützt.138 Danovius hatte schon lange vorher am vorkritischen Kant Interesse gezeigt;139 auch die Kritik der reinen Vernunft nahm er sofort nach ihrem Erscheinen zur Kenntnis und wies offenbar schon 1781 im Kolleg auf sie hin.140 Schütz selbst ging spätestens seit dem Sommersemester 1784 in seinen Lehrveranstaltungen auf die Kritik ein. In seinem ersten Brief an Kant vom 10. Juli 1784 teilt er ihm mit: »Das Buch liegt mir am Herzen. Es haben sich verschiedne Commentatoren angeboten, die es popular machen wollen. […] Ich habe in verschiednen meiner Collegien schon Aufmerksamkeit fähiger Köpfe darauf zu lenken gesucht […].« Konkret nennt Schütz zwei Stellen, die er seinen Studenten vorgelesen habe: »S. 312 u. f.« und »S. 753–756«.141 Die eine Stelle betrifft Kants Diskussion des platonischen Ideenbegriffs; bei der anderen handelt es sich um eine Passage aus der »Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs«, in der abermals die immunisie135 136
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Vgl. Schröpfer: Christian Gottfried Schütz, S. 20f., 33f.; ders.: Kants Weg, S. 108–112. Vgl. Antoine Jacques Roustan: Briefe zur Vertheidigung der christlichen Religion. Neue Uebersezung mit einigen Anmerkungen von D. Ernst Jakob Danovius. Halle 1783, S. 176. Danovius starb 1782, bevor er die Arbeit an der Kommentierung Roustans beendet hatte. Schütz übernahm die Ergänzung und Fertigstellung des Manuskripts. Voraussetzung war, dass Schütz es verstand, Beziehungen zu knüpfen und sich von Anfang an in die Arbeit des Kollegiums der philosophischen Fakultät konstruktiv einzubringen. Erleichtert wurde ihm das durch sein enges freundschaftliches Verhältnis zu den beiden ältesten Jenaer Theologen, Ernst Jakob Danovius und Johann Jakob Griesbach. Vgl. Schröpfer: Christian Gottfried Schütz, S. 19; ders.: Kants Weg, S. 77, 79, 82, 83, 109. Vgl. ebd., S. 111. Sowohl Danovius als auch Griesbach waren, wie Schütz selbst, von der neologischen Tradition Johann Salomo Semlers geprägt; deren durch rationalistische wie anthropologische Elemente fundierte Dogmatik begünstigte nach der Meinung Horst Schröpfers die Aufnahme der Kantischen Philosophie. Vgl. Horst Schröpfer: Danovius und Kant. Einige ergänzende Anmerkungen zu dem Brief von Ernst Jakob Danovius an Immanuel Kant vom 12. Januar 1770. In: Aufklärung 7 (1992), Heft 1, S. 77–83; ders.: Christian Gottfried Schütz, S. 19f.; ders.: Kants Weg, S. 23–25, 109f. Vgl. Schröpfer: Danovius und Kant, S. 77; ders.: Kants Weg, S. 110f. Vgl. HB IV 201 (Brief Herders an Hamann vom 31. Dezember 1781). AA X 394.
51 rende Wirkung der Vernunftkritik gegenüber dogmatischen Angriffen gegen die Religion im Vordergrund steht.142 Horst Schröpfer vermutet, dass Schütz zu den möglichen »Commentatoren« der Kritik auch seinen Kollegen, den Jenaer Philosophieprofessor Johann August Heinrich Ulrich (1746–1813) zählte.143 Offenbar hatte Schütz bei ihm Unterstützung für das Bemühen gefunden, Kant an der Jenaer Universität bekannt zu machen, denn auch Ulrich begann im Sommersemester 1784, in seinen Vorlesungen auf die kritische Philosophie einzugehen.144 Ulrich war übrigens vermutlich der zweite der beiden oben genannten Jenaer Rezensenten, die in ihren Besprechungen von Platners Aphorismen eine ausführlichere Untersuchung der Kantischen Philosophie anmahnten.145 Die Behandlung Kants in seinen Vorlesungen setzte er im Wintersemester 1784/85 fort.146 Dass Kants Buch zu diesem Zeitpunkt bereits »in einer breiteren wissenschaftlichen Kommunikation der Universität Jena eine Rolle spielte«,147 zeigt die Vorrede, die der Theologe und amtierende Prorektor Johann Christoph Döderlein dem Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1784/85 voranstellte.148 In dieser Vorrede warnt Döderlein die Studenten, dass eine oberflächliche Erkenntnis der Dinge leicht zu Hochmut und falschen Urteilen führe; der höchste Grad der Wissenschaft manifestiere sich dagegen in der sokratischen Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Wissens (und, so impliziert ein Bacon-Zitat, in dem Anerkennen eines göttlichen Waltens). Als Kronzeugen für diese Auffassung zitiert Döderlein neben Ba142
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Zur zentralen Bedeutung dieses Abschnitts der Methodenlehre für die frühe Kantrezeption vgl. Norbert Hinske: Kant im Auf und Ab der katholischen Kantrezeption. Zu den Anfängen des katholischen Frühkantianismus und seinen philosophischen Impulsen. In: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Hg. von Norbert Fischer. Freiburg u. a. 2005 (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 8), S. 189–205, hier S. 195f. Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 201. Zur Charakterisierung Ulrichs vgl. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 127–137. Vgl. die Meldung in den Jenaischen gelehrten Zeitungen vom 21. Mai 1784, in welcher Ulrichs Vorlesungsankündigung für das beginnende Semester wie folgt kommentiert wird: »Aufmerksamkeit verdienen diese wenigen Blätter um deswillen, weil der Herr Verf. der erste ist, der würkliche Anstalt macht, die Aufklärungen eines Kants in seiner Kritik der reinen Vernunft zu benutzen […]« (Landau 78). Zum kollegialen Verhältnis zwischen Schütz und Ulrich zu dieser Zeit vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 116–118. Vgl. ebd., S. 122 Anm. 387. Vgl. den entsprechenden Auszug aus dem Vorlesungsverzeichnis und die Vorlesungsankündigung Ulrichs zum Wintersemester 1784/85, die wiedergegeben sind in: Norbert Hinske: Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie im Lehrangebot der Universität Jena. Aus den Vorlesungsverzeichnissen und -ankündigungen der Jahre 1784–89. In: Aufbruch in den Kantianismus, hg. von Hinske u. a., S. 1–14, hier S. 2, 6f. Schröpfer: Kants Weg, S. 112. Das Dokument ist abgedruckt in Hinske: Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie, S. 5; übersetzt und kommentiert wiedergegeben wird der lateinische Text in: Norbert Hinske: Der Jenaer Frühkantianismus als Forschungsaufgabe. In: Aufbruch in den Kantianismus, hg. von Hinske u. a., S. 231–243, hier S. 241f.
52 con und Pope auch Kant, und zwar eine Anmerkung aus der transzendentalen Dialektik, wonach die Leistung der Astronomie vor allem darin bestehe, dass sie uns den »Abgrund der Unwissenheit«149 aufgedeckt habe. Die Etablierung Kants in der Lehre der Universität Jena schritt in den folgenden Semestern weiter voran. Für das Sommersemester 1785 kündigte Schütz eine Vorlesung über theoretische Philosophie nach der gerade erschienenen neuen Auflage von Platners Aphorismen an, die er wahrscheinlich auch dazu nutzte, um auf Kant einzugehen.150 Als ein weiterer Verfechter der neuen Philosophie trat jetzt der junge Magister Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812) auf den Plan. Er war Schüler von Danovius und Ulrich gewesen und sollte sich in den folgenden Jahren als einer der zentralen Vertreter des Jenaer Frühkantianismus profilieren.151 Seine Vorlesung im Wintersemester 1785/86 war »die erste Vorlesung, die von einem ausgesprochenen Kantianer als umfassende Darstellung der Kantischen Philosophie in Jena gehalten wurde.«152 Wahrscheinlich war er einer der »fähige[n] Köpfe«, denen Schütz anderthalb Jahre vorher aus der Kritik der reinen Vernunft vorgetragen und von denen er Kant im oben zitierten Brief berichtet hatte.153 Zur selben Zeit, als nach Schütz und Ulrich auch Schmid über Kant zu lesen begann, wurde dessen Philosophie in der Lehre der Jenaer philosophischen Fakultät zudem auch offiziell verankert, und zwar durch die Herausgabe eines von Schütz entworfenen Studienführers, in welchem das Fach Philosophie und seine Teildisziplinen nach Maßgabe der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft vorgestellt werden.154 149 150 151
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KrV A 575/B 603. Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 88f. Schmid hatte in Jena studiert und 1780 sein theologisches Examen abgelegt. Nach einer Reise als Begleiter und Erzieher des zehnjährigen Novalis und nach einer Tätigkeit als Hauslehrer kehrte er 1784 an die Universität Jena zurück, um dort noch im selben Jahr den Magistertitel zu erlangen und Adjunkt an der philosophischen Fakultät zu werden. 1791 folgte er dem Ruf auf eine Philosophieprofessur nach Gießen, ging aber 1793 nach Jena zurück. Er war seit den 1790er Jahren mit Schiller befreundet. Zu Schmids Biographie vgl. Norbert Hinske: Einleitung. In: Carl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Hg. von Norbert Hinske. Darmstadt 1976, S. VII–XXXII, hier S. XII–XVI; Horst Schröpfer: Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812). In: Aufklärung 7 (1992), Heft 1, S. 73f.; ders.: Carl Christian Erhard Schmid – der »bedeutendste Kantianer« an der Universität Jena im 18. Jahrhundert. In: Aufbruch in den Kantianismus, hg. von Hinske u. a., S. 37–83, hier S. 38–41. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 146. Schütz berichtet Kant von Schmids Vorlesung in seinen Briefen vom 20. September und 13. November 1785 (vgl. AA X 407f., 423). Der entsprechende Auszug aus dem Vorlesungsverzeichnis und die Vorlesungsankündigung Schmids sind dokumentiert in Hinske: Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie, S. 2, 8f. Vgl. auch die Meldung in den Gothaischen gelehrten Zeitungen, 7. Dezember 1785, S. 800. Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 89, 201. Vgl. Norbert Hinske: Ein kantischer Studienführer der Universität Jena aus dem Jahre 1785. Über eine für verschollen gehaltene Quelle der frühen Kantrezeption. In: Auf-
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5. Gründung der Allgemeinen Literatur-Zeitung; die Auseinandersetzungen mit Herder und Heinicke (1785) Parallel zur akademischen startete Schütz eine publizistische Offensive zur Verbreitung der Kantischen Philosophie, und zwar in Gestalt der von ihm zusammen mit dem Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch gegründeten Allgemeinen Literatur-Zeitung (ALZ).155 Die erste Nummer erschien am 3. Januar 1785. Neben den Göttingischen Anzeigen und Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek etablierte sich die ALZ bald als eines der bedeutendsten Rezensionsorgane Deutschlands. Schütz, der bis zu seinem Tod 1832 redaktioneller Leiter war, verband mit diesem Zeitschriftenprojekt von Anfang an das Ziel, die Philosophie Kants einem größeren Publikum nahezubringen.156 »Mit Hn. Kant’s Critik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erschien, ist eine neue Epoche der Philosophie angegangen«, erklärt Schütz im April 1785 in der ALZ anlässlich des Erscheinens von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, und er kündigt an, die Zeitschrift wolle künftig »nach und nach eine vollständige Übersicht der Kantischen Grundsätze, und der dadurch bewirkten Veränderungen im Bezirke der Weltweisheit« geben.157 Schütz’ Bemühungen waren für das weitere Schicksal der neuen Philosophie von entscheidender Bedeutung. Durch zahlreiche Rezensionen, in denen Kants Ideen unermüdlich erläutert und propagiert wurden, trug die ALZ in den folgenden Jahren maßgeblich dazu bei, dass der Kritizismus immer breitere Anerkennung fand und schließlich zur herrschenden philosophischen Strömung wurde.158
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klärung 7 (1992), Heft 1, S. 85–92; ders.: Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie, S. 12–14; ders.: Der Jenaer Frühkantianismus, S. 232–236; Schröpfer: Kants Weg, S. 279–316. An den Planungen zu dieser Zeitschrift war ursprünglich auch Wieland beteiligt, der sich jedoch Ende 1784 aus dem Projekt zurückzog. Zur Gründungsgeschichte der ALZ vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 125–132, 140f. Vgl. seine Äußerung im Brief an Kant vom 20. September 1785: »Zur Ausbreitung Ihrer vortrefflichen Grundsätze geschieht zwar lange noch nicht genug, aber doch immer hie und da so viel, daß man hoffen kann, sie werden immer häufiger studiret und in Umlauf gebracht werden. […] Ich werde auch in der Allg. Lit. Zeitung künftig keine Gelegenheit versäumen immer auf Ihre Ideen zurückzukommen« (AA X 408). Landau 135. Von der programmatischen Besprechung der Grundlegung ging nach der Ansicht Schröpfers »ein Anstoß zur Rezeption der Philosophie Kants aus, der eine kaum zu überschätzende Wirkung besaß« (Schröpfer: Kants Weg, S. 211; vgl. auch ebd., S. 213). Zur Kantischen Orientierung der ALZ und ihrem Wirken für die neue Philosophie vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 113f.; Walther Schönfuß: Das erste Jahrzehnt der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Dresden 1914, S. 52f.; Röhrdanz: Die Stellung Kants, S. 46–67; Anni Carlsson: Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart. Bern/München 1969, S. 75–77; Horst Schröpfer: »… zum besten der Teutschen Gelehrsamkeit und Litteratur …« Die »Allgemeine Literatur-Zeitung« im Dienst der Verbreitung der Philosophie Kants. In: Aufbruch in den Kantianismus, hg. von Hinske
54 Schütz’ Engagement für die kritische Philosophie drückte sich auch in dem Bestreben aus, Kant selbst als Rezensenten für die ALZ zu gewinnen. In seinem ersten Brief an Kant vom 10. Juli 1784 verband er seine Einladung zur Mitarbeit sogleich mit dem konkreten Vorschlag, Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zu besprechen, deren erster Band soeben erschienen war.159 Kant nahm das Angebot an. Herder, der herausragende Vertreter eines Philosophierens auf sinnlich-anthropologischer Basis, verkörperte für Kant diejenigen philosophischen Tendenzen der Zeit, die eine breitere Aufnahme der Transzendentalphilosophie bisher verhindert hatten.160 Eine vermutlich auf die zweite Hälfte der 1770er Jahre zu datierende Notiz zeigt, dass ihm der unsystematische, den Bereich des Realen und des Noumenalen nicht sorgfältig trennende Denkstil seines ehemaligen Schülers schon lange ein Dorn im Auge war: »Herder verdirbt die Köpfe dadurch, daß er ihnen Muth macht, ohne Durchdenken der principien mit blos empirischer Vernunft allgemeine Urtheile zu fällen.«161 Wenn Herder nun im Jahr 1784 – zu einem Zeitpunkt, da der Erfolg der kritischen Philosophie alles andere als ausgemacht war – mit der Veröffentlichung seines monumentalen Hauptwerks begann und damit seinen Anspruch auf philosophische Diskurshoheit unterstrich, musste dies Kant alarmieren.162 Dass er gerade in dieser Phase eine rege Publikationstätigkeit auf der Ebene populärer Zeitschriften und Zeitungen entfaltete, hat damit zu tun. Ihm war jede Gelegenheit willkommen, dem Herderschen Philosophieren möglichst öffentlichkeitswirksam entgegenzutreten.
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u. a., S. 85–100; ders.: Christian Gottfried Schütz, S. 22; ders.: Kants Weg, S. 133–138, 154–158, 191–272; Sylvia Kall: »Wir leben jetzt recht in Zeiten der Fehde«. Zeitschriften am Ende des 18. Jahrhunderts als Medien und Kristallisationspunkte literarischer Auseinandersetzung. Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 62), S. 80–84. Vgl. auch Schütz’ folgende Äußerung: »Der sel. Hartknoch, Verleger der Kritik der reinen Vernunft, hat mir gesagt, daß, wenn die A.L.Z. in den Jahren 1786. und 1787. nicht die kantische Philosophie durch ihre Recensionen in Umlauf gebracht hätte, jenes nachher so berühmte, und in sich so vortrefliche Werk höchst wahrscheinlich Maculatur geworden wäre« (Christian Gottfried Schütz: Vertheidigung gegen Hn. Prof. Schellings sehr unlautere Erläuterungen über die A.L.Z. In: Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 57, 30. April 1800, Sp. 465–480, hier Sp. 474). Vgl. AA X 393f. Vgl. Wolfgang Proß: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«. Was kritisiert Kant an Herder? In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 62–119, hier S. 70. Caroline Herder berichtet, Kants und Herders gemeinsamer Verleger Hartknoch habe bei einem Besuch in Weimar 1783 ihrem Mann mitgeteilt, dass Kant ihn verantwortlich mache für die zögerliche Rezeption der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. Caroline Herder: Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder. Hg. von Johann Georg Müller. Dritter Theil. Stuttgart/Tübingen 1830, S. 123. Vgl. dazu auch Beiser: Fate of Reason, S. 149f., 349f. Anm. 68. AA XV 399 (Refl. 912). Vgl. auch die rückblickende Einschätzung Hamanns in einem Brief an Herder: »In Ihren Ideen sind manche Stellen, die auf ihn [= Kant] und sein System wie Pfeile gerichtet zu seyn scheinen, ohne daß Sie an ihn gedacht haben mögen« (Brief vom 8. Mai 1785, H V 432).
55 Die eine Gelegenheit bot sich in Gestalt der 1783 von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike gegründeten Berlinischen Monatsschrift, des zentralen Organs der Berliner Aufklärung.163 In der Zeit von Ende 1784 bis Anfang 1786 plazierte Kant in dieser Zeitschrift mehrere Artikel, die Herder auf seinem ureigenstem Gebiet, der Anthropologie und Geschichtsphilosophie, Konkurrenz machten,164 indem sie die Bedeutung regulativer Vernunftprinzipien im Kontext natur- und menschheitsgeschichtlicher Fragestellungen hervorheben: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (November 1784),165 Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (November 1785)166 sowie Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (Januar 1786).167 Die andere Gelegenheit ergab sich mit Schütz’ Angebot, Herders philosophisches Hauptwerk in der neugegründeten Allgemeinen Literatur-Zeitung zu rezensieren. Kants Besprechung zum ersten Teil der Ideen (sie erschien am 6. Januar 1785 und eröffnete die philosophische Sektion der ALZ) fiel entsprechend angriffslustig
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Kants Beziehung zur Berlinischen Monatsschrift beruhte auf rein publikationsstrategischen Interessen. Inhaltlich wies sein Kritizismus wenig Übereinstimmung auf mit den eher empirisch-pragmatisch orientierten Positionen der Berliner Aufklärung, wie sie ein Biester, Selle oder Nicolai vertraten. Vgl. dazu Peter Weber: Kant und die Berlinische Monatsschrift. In: Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung. Hg. von Dina Emundts. Wiesbaden 2000, S. 60–79. Vgl. den Kommentar in HW III/2 359; John H. Zammito: Stealing Herder’s Thunder: Kant’s Conjectural Beginning of the Human Race. In: Immanuel Kant. German Professor and World-Philosopher. Hg. von Günther Lottes/Uwe Steiner. Laatzen 2007 (Aufklärung und Moderne, Bd. 14), S. 43–72, hier S. 47f. Vgl. WA VI 31–50. »Schon der Titel mußte Herder treffen. Seinen ›Ideen‹, das hieß Einfällen, Meinungen und Möglichkeiten, hielt Kant eine ›Idee‹, einen Leitgedanken, entgegen, der in sich so gegründet war, daß er die Geschichte von ihrem Ursprung bis zu ihrem Ziel zu tragen vermochte« (Saner: Widerstreit, S. 190). Herder empfand den impliziten Bezug dieser Schrift zu seinem Werk sehr deutlich; vgl. seine Briefe an Hamann und Jacobi vom Februar 1785 (HB V 105f., 109). Die Grundidee Kants zu seinem Aufsatz ist allerdings älter als seine Kenntnis von Herders Ideen; vgl. den Kommentar, HB XII 378 und 382, sowie WA VI 33 Anm. Vgl. WA VI 65–82. Wolfgang Proß sieht in dem Aufsatz einen »Angriff« auf Herder (HW III/1 1009 Anm. 285). Dieser richtet sich weniger gegen Herders Auffassung über Menschenrassen im Speziellen – seine Ablehnung des Begriffs der Menschenrasse formuliert Herder erst im zweiten Band der Ideen, welchen Kant frühestens Ende Oktober 1785 in die Hände bekam (vgl. HW III/1 231 und H VI 123, 125) – als allgemein gegen das durch Herder repräsentierte Modell einer faktengesättigten physisch-geographischen Menschheitsgeschichte, welcher Kant das Beharren auf systematischen Begriffsbestimmungen entgegenhält. Vgl. WA VI 83–102. Wie in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte vertritt Kant hier (in impliziter Wendung besonders gegen das achte Buch von Herders Ideen) eine teleologische Geschichtsbetrachtung, die die Kriterien geschichtlichen Fortschritts nicht in naturimmanenten Prozessen, sondern in der Vernunft verankert. Vgl. dazu Manfred Frank/Véronique Zanetti: Kommentar. In: Immanuel Kant: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Hg. von Manfred Frank/Véronique Zanetti. Frankfurt a. M. 1996, S. 889–1371, hier S. 1132–1141.
56 aus.168 Herders umfassender naturphilosophischer Entwurf, der den Bereich des Geistig-Seelischen in das Kontinuum der sich verfeinernden Organisation aller Lebensformen zu integrieren sucht, wird von Kant wegen seiner Meinung nach unzulässiger analogischer Schlüsse letztlich als spekulativ und unphilosophisch verworfen.169 Herder reagierte fassungslos auf die Rezension seines ehemaligen Lehrers.170 Die Kritik der reinen Vernunft besaß er zwar, hatte sie bisher aber wohl kaum eingehender studiert.171 Sein Urteil über dieses Werk war bis dato maßgeblich geprägt durch das, was sein Freund Hamann ihm darüber mitgeteilt hatte, zuletzt in seiner Metakritik über den Purismum der reinen Vernunft, welche er Herder im September 1784 zugeschickt hatte.172 Hamann wendet sich darin mit ironischer Schärfe gegen Kants Hypostasierung einer reinen, apriorischen Vernunft, die vorgibt, der Kontingenz des Empirischen enthoben zu sein, und von kulturellen Bedingungsfaktoren wie geschichtlicher Überlieferung, Erfahrung und Sprache meint abstrahieren zu können.173 Wohin ein solcher Anspruch führte, konnte Herder nun an 168
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Vgl. Landau 109–118 (= WA VI 781–794) sowie die Analyse bei Beiser: Fate of Reason, S. 150–153. Vgl. Landau 115–118 (= WA VI 790–794). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung dieses Streits vgl. Proß: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«. Vgl. seine empörten Äußerungen in den Briefen an Wieland von Ende Januar und an Hamann vom 14. Februar (HB V 103, 105f.). Über die Identität des Rezensenten war Herder wohl durch Wieland informiert. Dieser war eben erst von der Mitherausgeberschaft der ALZ zurückgetreten; im Briefwechsel mit seinem Geschäftspartner Bertuch vom Januar 1785 wird auf die Rezension und deren Verfasser verschiedentlich Bezug genommen (vgl. Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [und Nachfolgern]. 20 Bde. Berlin 1963–2007 [im folgenden: WB]. Bd. 8/1, S. 377, 381). Zum allgemeinen Wissen um Kants Verfasserschaft vgl. zudem auch Schütz’ Brief an Kant vom 18. Februar 1785 (AA X 398, 399). Vgl. Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken. Bd. 2. Berlin 1885, S. 244. Vgl. N III 281–289. Zu Hamanns metakritischem Ansatz vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 8f., 18, 37–43, sowie erschöpfend Bayer: Vernunft ist Sprache. In der Entstehungsgeschichte der Metakritik hat auch die Göttinger Rezension eine Rolle gespielt; vgl. ebd., S. 152, 180–182. Die Trias von Sprache, Überlieferung und Erfahrung wird für Hamann zur Formel für ein philosophisches Programm, über das er sich mit Herder einig weiß. Vgl. seinen Brief an Herder vom 10. November 1785: »Ihr Thema über Sprache, Tradition und Erfahrung ist meine Lieblingsidee, mein Ey, worüber ich brüte – mein Ein und Alles – die Idee der Menschheit und ihrer Geschichte – das vorgesteckte Ziel und Kleinod unserer gemeinschaftl. Freundschaft und Autorschaft« (H VI 127). Zur »metakritischen Programmformel« vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 166, 176, 191, 201, 235, 248–280. Zum Gegensatz von Kants »Vernunfttotalismus« und Hamanns Betonung der »Ursprünglichkeit von Sprache, Geschichte, Überlieferung, Offenbarung« vgl. auch die prägnanten Ausführungen bei Rudolf Malter: Kant und Hamann oder Das eine geistige Antlitz Königsbergs. In: Nordost-Archiv 73 (1984), S. 33–50, hier S. 39–44 (Zitat S. 41). Zum Zusammenhang von Empirismus und (Sprach-)Theologie bei Hamann vgl. Weber: Hamann und Kant, S. 176–182, 219, sowie in jüngerer Zeit
57 Kants Rezension seiner Ideen besichtigen. Sie musste ihm als das skandalöse Produkt einer schulphilosophischen Voreingenommenheit erscheinen, welche selbst auf dem empirischen Feld der Natur- und Menschheitsgeschichte nur apriorische Vernunftwahrheiten gelten lassen will. Sogleich bemühte er sich darum, befreundete Autoren dazu zu bewegen, an seiner Seite in die Debatte einzutreten. Entsprechende Gesuche richtete er an Friedrich Heinrich Jacobi174 und an den berühmten Anatomen Samuel Thomas Soemmerring, welcher ihm kurz zuvor in einem Brief seine Wertschätzung der Ideen mitgeteilt hatte.175 Im Antwortbrief vom 28. Februar 1785 bittet Herder ihn um eine Rezension des Buches in den Göttingischen Anzeigen. Von dem ausgewiesenen Empiriker Soemmerring verspricht er sich eine gerechtere Würdigung seines philosophischen Ansatzes und prominenten Rückhalt für seinen methodischen Standpunkt, »daß nur […] auf diesem Wege der Beobachtung u. Analogie nach factis u. über facta reelle Philosophie möglich sei«.176 Die Reaktion gegen Kant erfolgte dann aber von anderer Seite. In Schütz’ Brief an den Königsberger Philosophen vom Februar 1785, in dem er die Herder-Rezension als »ein Meisterstück von Präcision« lobt, findet sich die Mitteilung: Ein junger Convertit Nahmens Reinhold, der sich in Wielands Hause zu Weimar aufhält, und bereits im Mercur eine gräuliche Posaune über Herders Werke angestimmt hatte, will gar eine (si diis placet) Widerlegung Ihrer Recension in dem Februarstück des d. Mercur einrücken. Ich sende Ihnen dis Blatt sobald ichs erhalte zu.177
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den aufschlussreichen Beitrag von Hans Graubner: Erkenntnisbilder oder Bildersprache. Hamann und Hume. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 135–155, bes. S. 141–155. Vgl. HB V 109 (Brief an Jacobi vom 25. Februar 1785). Jacobi erwog eine Zeit lang offenbar tatsächlich, in eine geschichtsphilosphische Debatte mit Kant einzutreten; vgl. seine Briefe an Herder vom 24. April und 3. September 1785 (Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hg. von Michael Brüggen u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1981ff. [im folgenden: JB]. Bd. 1/4, S. 88, 166). Vgl. Samuel Thomas Soemmerring: Werke. Bd. 19/1: Briefwechsel 1784–1792. Teil 1. Hg. von Franz Dumont. Stuttgart u. a. 1997 (Brief an Herder vom 15. Januar 1785). HB V 112. Für die Göttingischen Anzeigen waren die Ideen allerdings bereits von dem Göttinger Philosophieprofessor Christoph Meiners rezensiert worden. Die Beurteilung fiel positiv aus. In Herders »stets von Erfahrungen und Factis« ausgehenden Darlegungen sieht der Rezensent die allgemeine Beobachtung bestätigt, dass in »Werken großer Männer« häufig die beiläufig und in unsystematischer Form dargebotenen Gedanken »wichtiger und lehrreicher sind« als die aus obersten Vernunftgrundsätzen gewonnenen Resultate (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 15. Januar 1785, S. 65f.). AA X 398 (Brief vom 18. Februar 1785). Über Reinholds Plan war Schütz offenbar durch einen Brief Bertuchs vom 15. Februar unterrichtet worden (vgl. WB VIII/1 405).
58 Die Rede ist von Karl Leonhard Reinhold (1757–1823), seit Juni 1784 Mitarbeiter des von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur und vor allem mit der Redaktion des Anzeigers betraut.178 Einer seiner ersten Beiträge darin war die »gräuliche Posaune« gewesen, von der Schütz spricht: eine enthusiastische Besprechung der Ideen, in der Herders breit angelegtes Unternehmen, die Entwicklung und Bestimmung des Menschen im Zusammenhang der Natur und auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen und anthropologischen Wissens der Zeit abzuhandeln, als Beginn einer eigentlichen Philosophie der Geschichte gefeiert wird.179 Auf Veranlassung Wielands übernahm Reinhold es dann auch, eine Entgegnung auf Kants Rezension auszuarbeiten. Sie entstand unter Mitwirkung Herders180 und erschien in der Februar-Ausgabe des Teutschen Merkur unter dem Titel Schreiben des Pfarrers zu *** an den H. des T. M. Darin charakterisiert Reinhold den Rezensenten der ALZ als orthodoxen Metaphysiker, der sich gegenüber einem Philosophieren verschließt, das sich auf Erfahrung und Analogien statt auf leere Abstraktionen beruft und das daher freilich häufig nur Wahrscheinlichkeiten und vorläufige Vermutungen statt endgültige Gewissheiten bieten kann.181 Auf Schütz’ Anregung hin reagierte Kant mit einem kurzen 178
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Vgl. Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1914 (Palaestra, Bd. 127), S. 168. Reinhold hatte ab 1774 Philosophie und Theologie in den Barnabitenkollegien in Wien und Mistelbach (Niederösterreich) studiert. Nach seiner Priesterweihe 1780 unterrichtete er die Novizen in Kirchengeschichte, Eloquentia Sacra und Philosophie. 1783 entfloh er dem Klosterleben und ging nach Leipzig, wo er ein Semester lang studierte, unter anderem bei Ernst Platner. Im Mai 1784 kam er nach Weimar und fand dort Aufnahme bei Wieland. Ein Jahr später heiratete er dessen Tochter. Vgl. Anzeiger des Teutschen Merkur, Juni 1784, S. LXXXI–LXXXIX, hier bes. S. LXXXII, LXXXVI. Zu Reinholds Besprechung vgl. Werner Sauer: Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie. Würzburg 1982, S. 70f.; Martin Bondeli: Von Herder zu Kant, zwischen Kant und Herder, mit Herder gegen Kant – Karl Leonhard Reinhold. In: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. Hg. von Marion Heinz. Amsterdam/Atlanta 1997, S. 205–234, hier S. 206–208. Zum Verhältnis zwischen Herder und Reinhold vgl. Gerhard W. Fuchs: Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph. Eine Studie über den Zusammenhang seines Engagements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und philosophischen Wirken. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle »Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850«, Bd. 16), S. 49f. Herder hat Reinholds Manuskript gelesen und im Brief an Wieland von Ende Januar 1785 einige Änderungen vorgeschlagen, die in der endgültigen Druckfassung sämtlich berücksichtigt wurden (vgl. HB V 102f. und den Kommentar, HB XII 374–376). Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Schreiben des Pfarrers zu *** an den H. des T.M. Über eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1785, S. 148–174 (im folgenden zitiert nach Landau 119–132), sowie dazu Ernst Reinhold: Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken. Jena 1825, S. 29f.; Herbert Adam: Carl Leonhard Reinholds philosophischer Systemwechsel. Heidelberg 1930 (Beiträge zur Philosophie, Bd. 19), S. 36–39; Alfred Klemmt: Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie. Eine Studie über den
59 Beitrag im Anhang der ALZ zum Märzmonat,182 in dem er unter anderem die Relevanz naturkundlicher empirischer Untersuchungen für Fragen, die auf den Menschen als Vernunftwesen zielen, grundsätzlich bestreitet. Es folgte noch Kants Rezension des zweiten Teils der Ideen in der ALZ vom 15. November 1785.183 Darin moniert Kant den poetischen Stil Herders, stellt die Zuverlässigkeit von Völker- und Reisebeschreibungen als Quelle geschichtsphilosophischer Betrachtungen in Frage und wendet sich gegen Herders Auffassung, dass das Telos menschlicher Existenz eher in der individuellen Glückseligkeit liege als im Vernunftfortschritt der Gattung.184 Mit dieser Besprechung endeten Kants direkte Angriffe auf Herder. Eine Rezension des dritten Teils der Ideen, welcher 1787 erschien, lehnte er ab.185 Er hatte sein Ziel bereits erreicht: Kants Herder-Kritik in der ALZ, so die Einschätzung Horst Schröpfers, »weckte stärker als seine bisherigen Schriften das breitere Interesse am systematischen Hintergrund« der neuen Philosophie.186 Der leitende Redakteur Schütz tat das Seinige, um mit seiner Ankündigung, die ALZ wolle zum Verständnis und zur Verbreitung der neuen Philosophie beitragen, ernst zu machen. Zwischen dem 12. und 30. Juli 1785 veröffentlichte er in fünf Ausgaben seiner Zeitschrift eine von ihm selbst verfasste, ausführliche Darstellung des Kantischen Systems.187 Äußerer Anlass war die Anzeige von Schultz’ Erläuterungen. Schon von der Seitenzahl her sprengte die Artikelserie jedoch bei weitem das übliche Rezensionsformat, und inhaltlich erweist sie sich bei näherer Betrachtung als eigenständige Einführung in Kants Ideengebäude.188 Schütz zitiert eingangs das Urteil Schultzes, die Kritik der reinen Vernunft sei »ohne Zweifel die auffallendste und wichtigste Erscheinung, die sich im Felde der speculativen Welt-
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Ursprung des spekulativen deutschen Idealismus. Hamburg 1958, S. 6–15; Sauer: Österreichische Philosophie, S. 71; Beiser: Fate of Reason, S. 229–231; Fuchs: Karl Leonhard Reinhold, S. 50f.; Bondeli: Von Herder zu Kant, S. 215–217. Vgl. Landau 132–135 (= WA VI 794–797) sowie dazu Beiser: Fate of Reason, S. 231f.; Bondeli: Von Herder zu Kant, S. 217–219. Vgl. Landau 233–240 (= WA VI 797–806). Kant weist damit die Kritik zurück, die Herder – in Reaktion auf die Besprechung des ersten Teils der Ideen – gegen seine Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erhoben hatte. Eine ausführliche Rekonstruktion der Debatte liefert Hans Dietrich Irmscher: Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder. In: Hamann – Kant – Herder. Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. u. a. 1987 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Bd. 34), S. 111–192. Zu Herders Kant-Kritik im zweiten Teil der Ideen vgl. auch Proß’ Kommentar, HW III/2 360, 447, 487, 490, 541f., 552. Vgl. seinen Brief an Schütz vom 25. Juni 1787 (AA X 490). Schröpfer: Kants Weg, S. 204. Vgl. Landau 147–182. Vgl. dazu Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 139–144, sowie die ausführliche Analyse bei Schröpfer: Kants Weg, S. 257–272.
60 weisheit ereignen konnte«,189 um sich im Folgenden der sorgfältigen systematischen Rekonstruktion der Grundgedanken der kritischen Philosophie zu widmen. Umfang und Niveau der Darstellung mussten für die philosophisch interessierten Zeitgenossen als ein auffälliges Signal wirken, dass die neue Philosophie von jedermann ernstgenommen zu werden verdiente.190 Schütz’ Artikelserie bildet daher in der Geschichte der Durchsetzung der Kantischen Philosophie ein wichtiges Ereignis.191 Zu den Personen, die durch sie zur näheren Beschäftigung mit Kant veranlasst wurden, gehörte auch Karl Leonhard Reinhold, der bald darauf bei der Verbreitung des Kritizismus eine herausragende Rolle spielen sollte.192 Die ALZ diente nicht nur der Propagierung der Kantischen Philosophie und der Bekämpfung ihrer Gegner; schon in den ersten Tagen ihres Bestehens sah sie sich auch mit der Aufgabe konfrontiert, Kant gegenüber seinen überschwenglichsten Anhängern in Schutz zu nehmen. Ein solcher KantEnthusiast war der Leipziger Pädagoge Samuel Heinicke (1729–1790). Er wurde schon sehr früh zu einem begeisterten Verkünder der neuen Philosophie. In den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 5. Mai 1784 bezeichnet er Kants Kritik als »unstreitig das vornehmste und nützlichste Produkt des menschlichen Geistes, und die allerwichtigste Entdeckung, die bisher, zum allgemeinen Besten gemacht worden ist.« Gleichzeitig kündigte er eine neue Zeitschrift namens Der Kritiker an, mit der er die Kantischen Grundsätze »populärer machen« wollte.193 Nicht an ihr entzündete sich der Streit mit der 189 190
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Landau 147. Kant dankte Schütz in einem Brief vom 13. September 1785 ausdrücklich für die »lebhafte Theilnehmung an meinen geringen literarischen Bemühungen, davon Sie in der A.L.Z. so einleuchtende Proben gegeben, ingleichen die richtige Darstellung derselben,« und bekräftigt sein Vorhaben, »die Erwartung des Publici, welche Sie rege machten, nicht zu täuschen« (AA X 406). Zur Bedeutung der Rezension vgl. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 145; Schröpfer: »… zum besten der Teutschen Gelehrsamkeit und Litteratur …«, S. 90; ders.: Kants Weg, S. 215. Schröpfer sieht in Schütz’ Besprechung den »Durchbruch« zur allgemeinen Rezeption der Philosophie Kants (ebd., S. 217; vgl. auch S. 258, 272). Zu den von Schröpfer angeführten historischen Stimmen, die die Wirkung der Rezension bezeugen (Wilhelm Traugott Krug, Georg Andreas Will, Karl Leonhard Reinhold, vgl. ebd., S. 258), ließe sich noch folgende hinzufügen: Johann Gottlieb Buhle: Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. Bd. 6. Göttingen 1804, S. 732. Zur Rezeption von Schütz’ Besprechung im Umkreis des Berner Philosophen Johannes Ith (1747–1813) vgl. Martin Bondeli: Kantianismus und Fichteanismus in Bern. Zur philosophischen Geistesgeschichte der Helvetik sowie zur Entstehung des nachkantischen Idealismus. Basel 2001, S. 33–41. Auch für den Kant-Kritiker J.A.H. Reimarus war die Lektüre von Schütz’ Rezension der Einstieg in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Kantischen System. Vgl. Reimarus’ Brief an Mendelssohn vom 2. Oktober 1785 (JA XIII 302–305). Landau 77. Vgl. auch die Ankündigung der Zeitschrift in: Samuel Heinicke: Kant. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 8. Stück, S. 862–864 (im folgenden zitiert nach Landau 78–81). Von Heinickes Zeitschrift erschienen drei
61 ALZ, sondern an Heinickes Buch Metaphysik für Schulmeister und Plusmacher (1785). In diesem Werk bemüht sich Heinicke, einen ausführlichen philosophischen Beweis dafür zu liefern, dass das Buchstabieren für das Lesenlernen schädlich sei, und benutzt dazu Kantische Ideen und Termini. Fassungslos fragt Schütz in seiner Rezension für die ALZ: Aber wozu soll’s dienen Synthesis und Analysis, Raum und Zeit, transcendentale Logik, und mehr dergleichen Kunstwörter zu mißbrauchen, um einem Schulmeister zu sagen, er solle forthin seine Schüler nicht mehr erst be – er – o – de Brod, sondern gleich auf einmal Brod lesen lassen? Wir fürchten sehr Hr. H. habe an mehrern Orten auch weder Hrn. Kant, noch sich selbst verstanden.194
Heinicke, der laut dem Bericht eines Zeitgenossen Kants Schriften auf seinem Tisch angenagelt hatte,195 kann als frühestes kurioses Beispiel für eine Linie der Kantrezeption angesehen werden, über die sich später vor allem Friedrich Nicolai lustig machen sollte:196 die bedenkenlose Anwendung transzendentalphilosophischer Begriffe auf alltägliche praktische Zusammenhänge, die rhetorische Überinstrumentierung banaler Argumente durch apodiktische Formeln à la Kant. Nach diesem Muster erklärt Heinicke zum Beispiel schon in einem Zeitschriftenartikel von 1784, er habe »nach reiner Vernunfterkenntnis, a priori und a posteriori, unumstößlich bewiesen: Daß kein Mensch, so lange die Welt steht, durch das Buchstabiren lesen gelernt, und durch leere Töne Begriffe erlangt hat.«197 Banalisiert wird im übrigen
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Stücke, von denen offenbar keine Exemplare mehr erhalten sind; vgl. Georg Schumann/Paul Schumann: Neue Beiträge zur Kenntnis Samuel Heinickes. Leipzig 1909, S. 88. Zu Hamanns enttäuschtem Urteil über die Zeitschrift vgl. seinen Brief an Johann George Scheffner vom 20. September 1784 (H V 222f.). Dass Hamann und auch Kant sich zunächst für Heinickes Publikationen interessierten, zeigen Hamanns Briefe an Herder vom 8. August und 15. September 1784 (vgl. H V 176, 217). Vgl. auch die positive Erwähnung Heinickes in Hamanns Metakritik, N III 286, sowie dazu Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 317f. ALZ vom 21. Januar 1785, S. 77; vgl. auch Schütz’ Brief an Kant vom 20. September 1785 (AA X 408f.). Heinickes empörte Antwort auf die Rezension sowie eine weitere Entgegnung von Schütz sind auf dem Umschlag des Februarheftes der ALZ abgedruckt. Heinicke führt seine Polemik gegen Schütz weiter im ersten (und einzigen) Stück der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Verkappter Recensenten und Pasquillanten Jagd (Leipzig 1786) sowie in: Samuel Heinicke: Ueber graue Vorurtheile und ihrer Schädlichkeit. Erwiesen, durch Grundsätze der Vernunftkritik. Copenhagen/ Leipzig 1787, S. 329–456 (»Ueber die Architektonik der Larvenkritler«; auch in: Samuel Heinicke: Gesammelte Schriften. Hg. von Georg Schumann/Paul Schumann. Leipzig 1912, S. 558–613), bes. S. 373–380. Vgl. Georg Gustav Fülleborn: Geschichte meiner philosophischen Studien. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie 3 (1793), S. 179–196, hier S. 183. Vgl. zum Beispiel Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s, eines deutschen Philosophen. Berlin/Stettin 1798 [Repr. 1987], S. 152f. Samuel Heinicke: Protestation [gegen eine Rezension im Leipziger Verzeichnis neuer Bücher, Bd. 7, 9. St.]. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 3. Stück, S. 355f., hier S. 356 (ebenfalls erschienen in: Gothaische gelehrte Zeitungen, 3. März 1784, Beilage, S. 151f.).
62 auch Kants Argument von der Schutzfunktion der Vernunftkritik gegenüber der Religion, wenn Heinicke es in der »Nachschrift« zu seinem Buch auf ein dogmatisches Zuchtmittel reduziert: »Leugnet aber Einer gar die Unsterblichkeit der Seele und das höchste Wesen; so muß man nicht mit ihm darüber streiten, sondern ihn zur Kritik der reinen Vernunft verweisen, diese wird seiner übel bekehrten Vernunft schon die gehörige Richtung geben, darauf kann man sich fest verlassen […]!«198 Der inflationäre Einsatz Kantischer Begriffe und Formulierungen bleibt ein hervorstechendes Kennzeichen der weiteren Schriften Heinickes – egal, ob er gegen das Buchstabieren, gegen das anonyme Rezensieren oder etwa gegen Modejournale wettert.199
6. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Im April 1785 hat die ALZ eine »große Neuigkeit«200 aus dem Gebiet der Philosophie zu verkünden: Das Erscheinen von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In diesem Buch unternimmt es Kant, das, was er mit der Kritik der reinen Vernunft für den Bereich der theoretischen Philosophie geleistet hatte, auch auf dem Gebiet der praktischen Philosophie zu verwirklichen: die systematische Rückführung der Vernunftoperationen auf ihre fundamentalen, aller Erfahrung vorausgehenden Prinzipien. In der Entstehungsgeschichte der Schrift201 hat wiederum die Göttinger Rezension eine gewisse Rolle gespielt. Der Satz, der Kant dort in moralphilosophischem Zusammenhang besonders provozieren musste, ist die am Ende der Rezension gegen ihn gerichtete Forderung: »Zuvörderst muß der rechte Gebrauch des Verstandes dem allgemeinsten Begriffe vom Rechtverhalten, dem Grundgesetze unserer moralischen Natur, also der Beförderung der Glückseligkeit, entsprechen.«202 Individuelle wie allgemeine Glückseligkeit als Endzweck tugendhaften Verhaltens zu betrachten, gehörte zu den Grundannahmen der zeitgenössischen, in der optimistischen Tradition der schottischen Moral-Sense-Lehre stehenden Popularphilosophie. Kant hielt einen solchen moralphilosophischen Ansatz für verfehlt. Wie er schon in der Kritik der reinen Vernunft deutlich macht,203 kann seiner Meinung nach Glückseligkeit als sinnlich-empirisch bedingtes Phänomen nie198 199 200 201
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Samuel Heinicke: Metaphysik für Schulmeister und Plusmacher. Leipzig 1785, S. 332f. Vgl. Schumann/Schumann: Neue Beiträge, S. 87. Landau 139. Vgl. dazu allgemein Paul Menzers Einleitung zur Grundlegung in der AkademieAusgabe, AA IV 623–629; Karl Vorländer: Einleitung. In: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. von Karl Vorländer. Unveränd. Nachdr. d. 3. Aufl. (1906) Hamburg 1965 (Philosophische Bibliothek, Bd. 41), S. V–XXVII, hier S. V–XII. Landau 16. Vgl. KrV A 800/B 828, A 806/B 834.
63 mals das Gesetz einer universalen Moral liefern. »Belehrung des rec: in der Moral« heißt deswegen ein Stichwort in der Vorarbeit zu den Prolegomena, in denen Kant auf die Göttinger Rezension antworten wollte: »Es haben schon längst Moralisten Eingesehen daß das Princip der Glückseeligkeit niemals eine reine Moral […] gebe.« Der moralische Imperativ, so Kant, muss unbedingte (also von sinnlicher Erfahrung unabhängige) Gültigkeit haben. Die Frage ist, wie ein solcher kategorischer Imperativ möglich ist. Kant notiert: »[W]er diese Aufgabe auflöset der hat das echte princip der Moral gefunden. […] Ich werde die Auflösung in Kurzem darlegen […].«204 In der endgültigen Fassung der Prolegomena wird das moralphilosophische Thema nicht weiter verfolgt. Der im Zitat angekündigten »Auflösung« ihres Kernproblems widmete sich Kant in einer eigenen moralphilosophischen Schrift, an der er mindestens schon seit Beginn des Jahres 1782 arbeitete.205 Vorübergehend scheint diese Arbeit eine dezidiert anti-Garvesche Stoßrichtung angenommen zu haben. Dass Christian Garve (Ko-)Autor der Göttinger Rezension war, wusste Kant, seitdem Garve es ihm in einem Brief vom Juli 1783 mitgeteilt hatte.206 Die ursprüngliche Version von Garves Besprechung, die Kant dann im August 1783 aus Berlin zugeschickt bekam,207 übte nicht weniger deutlich als die Göttinger Version Kritik an Kants Entwertung des Glückseligkeitsprinzips.208 Kant war über diese Rezension verärgert.209 Etwa zur gleichen Zeit brachte Garve seine Philosophischen An204 205
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AA XXIII 59f. Vgl. Hamanns Brief an Hartknoch vom 11. Januar 1782: »Kant arbeitet an der Metaphysik der Sitten« (H IV 364). Das Zitat weist darauf hin, dass Kant zu diesem Zeitpunkt noch die unverzügliche Ausarbeitung des Systems der praktischen Philosophie (ohne vorausgehende Propädeutik) im Sinn hatte. Dies entsprach auch der Anlage der Kritik der reinen Vernunft, die an verschiedenen Stellen zu erkennen gibt, dass ihr Autor ursprünglich überzeugt war, mit diesem Buch die Voraussetzungen zu einer künftigen Metaphysik der Natur und der Sitten geliefert zu haben (vgl. Paul Natorps Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft, AA V 491–495). Die ersten Überlegungen zu einer eigenen »kritischen Ethik« finden sich dann, wie Karl Vorländer feststellt (Einleitung zu Kants Grundlegung, S. VIII), an der erwähnten Stelle in Kants Vorarbeiten zu den Prolegomena, im Zusammenhang mit der Polemik gegen den Göttinger Rezensenten. Die Vermutung liegt nahe, dass Kants Einsicht in die Notwendigkeit einer gesonderten moralphilosophischen Propädeutik auf seine Auseinandersetzung mit der Göttinger Rezension zurückgeht – ein Schluss, den Vorländer nicht zieht, da er dem unzutreffenden Eindruck unterliegt, in der Göttinger Rezension sei »von ethischen Fragen gar nicht die Rede« gewesen (ebd., S. X). Vgl. AA X 328–330. Kants Antwortbrief zufolge hatte er die Information zuvor schon durch seinen Verleger Hartknoch erhalten, wollte sie aber nicht glauben (vgl. AA X 337f.). Vgl. Johann Joachim Spaldings Brief an Kant vom 16. August 1783 (AA X 347f.). Vgl. Landau 51. Über seine Reaktion vgl. Hamanns Brief an Herder vom 8. Dezember 1783: »Er soll nicht damit zufrieden seyn u sich beklagen wie ein imbecille behandelt zu werden« (H V 107). Kants erster flüchtiger Eindruck war positiver gewesen; vgl. den Brief an Johann Schultz vom 22. August 1783 (AA X 349).
64 merkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten (Breslau 1783) heraus, einen Kommentar zu seiner Cicero-Übersetzung,210 in dem Garve den klassischen Autor als Stichwortgeber nutzt, um in der für die Zeit typischen lockeren Form eigene Reflexionen über verschiedene ethische Probleme vorzutragen. In mehreren Briefen von Februar und März 1784 kolportiert Hamann, Kant arbeite an einer Gegenschrift zu diesem Werk, um sich für Garves negative Besprechung der Kritik Genugtuung zu verschaffen.211 In Briefen von April und Mai berichtet Hamann dann von der Umwandlung der Anti-Kritik gegen Garve in ein »Prodromum« der Moral.212 Die fertige Grundlegung zur Metaphysik der Sitten enthält keinerlei direkten Bezug zu Garve. Die wichtige Stellung, die Kant in seiner neuen Schrift dem Begriff der Pflicht einräumt, ist aber wohl als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit dem Cicero-Kommentar zu betrachten.213 Hatte Garve mit Cicero die moralischen Pflichten letztlich aus der menschlichen Natur und deren Trieben und Bedürfnissen hergeleitet, so geht es Kant im Gegenteil darum, das als Pflicht sich bemerkbar machende autonome moralische Wollen von der empirischen Ebene sinnlicher Affektationen und Neigungen völlig zu trennen.214 Das Glückseligkeitsprinzip der traditionellen eudämonistischen Ethik weist er als »verwerflich« zurück, weil es »der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten«.215 Kants Erhebung des kategorischen Imperativs, eines rein formalen, von allen inhaltlich-materialen Bestimmungen abgelösten 210
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Vgl. Marcus Tullius Cicero: Abhandlung über die menschlichen Pflichten. Übers. von Christian Garve. Breslau 1783. Vgl. H V 123, 129f., 131, 134. Sowohl Garves Cicero-Übersetzung als auch seine Philosophischen Anmerkungen waren in Kants Besitz. Vgl. Arthur Warda: Immanuel Kants Bücher. Berlin 1922 (Bibliographien und Studien, Bd. 3), S. 46. Vgl. H V 141, 147. Bernd Kraft und Dieter Schönecker beurteilen die Verlässlichkeit von Hamanns Angaben und die Bedeutung Garves für Kants Ausarbeitung der Grundlegung eher skeptisch; vgl. Bernd Kraft/Dieter Schönecker: Einleitung. In: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1999 (Philosophische Bibliothek, Bd. 519), S. VII–XXXIX, hier S. XI–XIII. Von anderer Seite wird dem Breslauer Popularphilosophen bei der Entstehung der Schrift dagegen eine wichtige Rolle eingeräumt. Vgl. Eckart Förster: »Was darf ich hoffen?« Zum Problem der Vereinbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft bei Immanuel Kant. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), S. 168–185, hier S. 172–177; Franz Nauen: Garve – ein Philosoph in der echten Bedeutung des Wortes. In: Kant-Studien 87 (1996), S. 184–197, hier S. 188, 192f., 194 Anm. 62. Zur Diskussion vgl. auch Dieter Schönecker: Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs. Freiburg/München 1999, S. 61f.; Manfred Kuehn: Kant and Cicero. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Hg. von Volker Gerhardt u. a. 5 Bde. Berlin/New York 2001. Bd. 3, S. 270–278, hier S. 271f. Vgl. Förster: »Was darf ich hoffen?«, S. 176f. Zu den Übereinstimmungen, die sich ungeachtet dieser grundlegenden Differenz in einzelnen Punkten zwischen Garve und Kant ergeben, vgl. Nauen: Garve, S. 194–196. WA IV 77.
65 Prinzips, zum obersten Prinzip der Moral verbindet sich mit einer allgemeinen Polemik gegen die auf Erfahrung und Beispiel gegründete praktische Anthropologie und Moralpsychologie der Popularphilosophen.216 Die Provokation, die für Garve von der transzendentalen Neubegründung der Sittenlehre ausging, veranlasste ihn in seinen späten Werken der 1790er Jahre noch mehrmals, Glückseligkeit als Motiv moralischen Handelns gegen Kant zu verteidigen.217 Unermüdlich bekräftigt er seinen Standpunkt, dass Sittlichkeit »nicht allein eine Sache der (reinen) Vernunft, sondern Ergebnis eines Bildungs- und Aufklärungsprozesses des ganzen Menschen« in seiner leibseelischen Totalität ist.218 Dass Kant seinem moralphilosophischen Hauptwerk, der Kritik der praktischen Vernunft (1788), eine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als methodischen Zwischenschritt vorangehen ließ, mag von seinen negativen Erfahrungen mit der Aufnahme der ersten Kritik herrühren. Ganz bewusst lässt er die Grundlegung nicht mit abstrakten apriorischen Formbestimmungen beginnen, sondern argumentiert vom alltagspraktischen Moralbewusstsein her, um aus ihm die Prinzipien moralischer Vernunfterkenntnis analytisch zu entwickeln.219 Seine Bemühungen um eine zugänglichere Darstellung, mit denen er den Kurs der Prolegomena fortsetzte, waren zumindest insofern erfolgreich, als Kant im Falle der neuen Schrift keinen Grund hatte, sich über mangelnde Resonanz zu beklagen. Albert Landau weist in seinen Rezensionen zur Kantischen Philosophie für das Jahr nach Erscheinen der Grundlegung ein knappes Dutzend Anzeigen und Besprechungen des Buches nach. Von Schütz’ Artikel, der das Erscheinen der Grundlegung zum Anlass nimmt, auf die grundsätzliche Bedeutung der neuen Philosophie hinzuweisen und das philosophische Profil der ALZ zu schärfen, war schon die Rede.220 Auch Ewalds Gothaische gelehrten Zeitungen brachten eine enthusiastische Rezension des »kleinen aber äusserst wichtigen Buche[s]«.221 Und in einem Artikel, den Schütz’ Schüler Christian Ludwig Lenz 1786 in den einflussreichen Ephemeriden der Menschheit über das Dessauer Philanthropin veröffentlichte, wird die Kantische Morallehre in den höchsten Tönen gelobt, ihr Schöpfer als der »Tiefdenkenderste aller Tiefdenker« bezeichnet und eine »Kritik« oder »Grundlegung« der Pädagogik nach Kantischem Vor216 217
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Vgl. WA IV 37–41. Einen Überblick über die Diskussion bietet Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 36), S. 76–83; vgl. auch Schulz: Christian Garve, S. 147–161. Altmayer: Aufklärung, S. 83. Vgl. auch Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 22f. Vgl. Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch. Leben und Werk. Stuttgart/Weimar 2002, S. 277–279; Kraft/Schönecker: Einleitung, S. XVI. Vgl. dazu auch Schröpfer: Kants Weg, S. 211–215. Gothaische gelehrte Zeitungen, 17. August 1785, Landau 183.
66 bild gefordert.222 Resümierend berichtet die Erfurtische gelehrte Zeitung im selben Jahr von dem »Aufsehn, welches der hie und da hochgepriesene Versuch einer Grundlegung zur Metaphysik der Sitten machte«.223 Es gab jedoch auch zahlreiche kritische Stimmen. Kants Student Daniel Jenisch berichtet seinem Professor im Frühjahr 1787 aus Braunschweig, wo er auch mit Göttingern zusammenkam, die Grundlegung finde »ungleich mehr Widerspruch unter den Gelehrten von meiner Bekantschaft, als ihre [sic] Critik«.224 Einen Grund dafür kann man der insgesamt neutralen Besprechung entnehmen, die in Karl Adolph Cäsars populären Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt erschien und in der es am Ende heißt: »Hin und wieder möchten diejenigen, welche die Erhaltung und Beförderung der Glükseligkeit für das höchste moralische Gesez angesehen wissen wollen, die Äusserungen des Verf. in Ansehung dieses Sistems vielleicht etwas zu hart […] finden«.225 In der Tat überwog in den übrigen Rezensionen die Kritik an genau diesem Punkt.226 Der Rezensent der Göttingischen Anzeigen, bei dem es sich um niemand anderen handelte als um den von Kant in den Prolegomena herausgeforderten Johann Georg Heinrich Feder, wirft dem Autor der Grundlegung maßlosen polemischen Eifer im Kampf gegen die »gemeine, empirische, auf Erfahrungen vom Menschen und seinen Neigungen sich gründende, Moral« vor.227 Von ähnlicher Tendenz sind die Rezensionen in den Tübingischen gelehrten Anzeigen und in den (von dem Erlanger Theologieprofessor Georg 222
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Vgl. Christian Ludwig Lenz: Ueber das Fürstliche Erziehungs-Institut zu Dessau und besonders den gegenwärtigen Zustand desselben. In: Ephemeriden der Menschheit, Jg. 1786, Bd. 2, S. 465–496, hier S. 475 Anm., 488f. Anm. (Zitate S. 489 Anm.). Zur Charakterisierung der Ephemeriden vgl. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). Teil II: Repertorium. Stuttgart 1978, S. 163–167; Holger Böning/Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Stuttgart/Bad Cannstatt 1990ff. Bd. 2/1, Sp. 11–13. Lenz (1760–1833) war seit 1784 am Philanthropin als Lehrer tätig. Er hatte von 1779 bis 1781 in Jena Theologie und Philologie studiert (wie kurz darauf sein jüngerer Brüder Karl Gotthold Lenz, der ebenfalls ein Schüler von Schütz wurde; vgl. unten S. 165 Anm. 768). Zu seiner Biographie vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 11. Jg. (1833), erster Theil, S. 365–371. Vgl. Erfurtische gelehrte Zeitung, 24. Juni 1786, Landau 405. AA X 486 (Brief vom 14. Mai 1787). Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, drittes Quartal 1785, Landau 213. Zur Charakterisierung der Zeitschrift vgl. Paul Feldkeller: Das philosophische Journal in Deutschland. In: Reichls Philosophischer Almanach, Jg. 1924, S. 302–462, hier S. 434f. Vgl. zu den im folgenden erwähnten Göttinger, Tübinger und Berliner Rezensionen auch Eberhard Günter Schulz: Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung ihrer Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkungen auf Reinhold, Schiller und Fichte. Köln/Wien 1975, S. 94–98, 100f., 103–105, 108f. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 29. Oktober 1785, Landau 230f.; vgl. auch Landau 232f. Schütz kommentiert die Rezension im Brief an Kant vom 13. November 1785 mit den Worten, sie habe ihn »wenig befriedigt« (AA X 423).
67 Friedrich Seiler herausgegebenen) Gemeinnützigen Betrachtungen der neuesten Schriften welche Religion, Sitten und Besserung des menschlichen Geschlechts betreffen. Beide Rezensenten erklären die Glückseligkeit zum unverzichtbaren Prinzip moralischen Handelns und argumentieren, dass die Anwendung des kategorischen Imperativs »ohne Rücksicht auf das Empirische« kaum möglich sei:228 »Wie kann […] bey Menschen, die durch die Werke der Sinne, durch Empfindungen und Erfahrung ihre Begriffe sammlen, ein Wille stattfinden, welcher […] von allen sinnlichen Beweggründen entfernt, durch sich selbst wirkt?«229 Dieselben Vorbehalte finden sich schließlich auch bei Hermann Andreas Pistorius, dem Rezensenten der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Auch er verteidigt den Endzweck der Glückseligkeit230 und betont, man müsse bei der Bestimmung eines obersten moralischen Prinzips letztlich »das Materielle mit zu Hülfe nehmen, weil wir, mit dem Formalen weder des Willens noch des Gesetzes auslangen«;231 dem Autor der Grundlegung wirft er »abstruseste Metaphysik« vor.232 In Jenischs Brief an Kant aus Braunschweig heißt es, Pistorius’ Rezension habe »viele Anhänger gefunden«.233
7. Jenaer Adaptionen der kritischen Philosophie (1785–1786): Ulrich, Hufeland, Schmid In einem Brief an Kant vom 20. September 1785 drückt Schütz dem Autor der Grundlegung seine Freude und Zufriedenheit über dessen jüngste Schrift aus, um anschließend eine Zwischenbilanz des bisherigen Schicksals der kritischen Philosophie zu ziehen. »Zur Ausbreitung Ihrer vortrefflichen Grundsätze«, erklärt Schütz, »geschieht zwar lange noch nicht genug, aber doch immer hie und da so viel, daß man hoffen kann, sie werden immer häufiger studiret, und in Umlauf gebracht werden. Alhier ist bisher dazu ein ziemlicher Anfang gemacht worden […]«. Es folgt eine Aufzählung der prokantischen Aktivitäten und Entwicklungen in Jena. Neben der Feststellung, dass schon viele Studenten Kants Werk gekauft haben, dass der junge Magister Schmid eine Vorlesung über Kantische Philosophie plant und dass der Studienführer der philosophischen Fakultät von Schütz nach Kantischen Prinzipien entworfen wurde, findet sich in dieser Liste auch der Hinweis auf zwei neue Bücher von Jenaer Autoren: 228 229
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Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 16. Februar 1786, Landau 281f. Gemeinnützige Betrachtungen 11 (1786), S. 661. Zum Profil der Zeitschrift vgl. Böning/Siegert: Volksaufklärung, Bd. 1, Sp. 584f. Vgl. AdB 66/2 (1786), Landau 357, 367. Landau 355; vgl. auch Landau 360, 362. Landau 366. AA X 487.
68 Hr Hofr. Ulrich hat wie Sie wissen schon auf die Critik der r. V. Rücksicht genommen. Noch weiß ich zwar nicht wie, da ich sein Buch noch nicht habe lesen können. […] In einer Abhandlung über die Quellen des Naturrechts, die von einem Hn. D. Hufeland einem guten Kopfe herauskömmt, werden Ihre Principien oft mit gebührendem Ruhme angeführt.234
Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Institutiones logicae et metaphysicae, ein lateinisches Lehrbuch, das Schütz’ Kollege Ulrich kurz zuvor herausgebracht hatte.235 In dem Buch versucht Ulrich, Kants Philosophie in sein auf Leibnizscher Grundlage errichtetes metaphysisches System zu integrieren. Er geht an vielen Stellen auf Kant ein und übernimmt von ihm eine Reihe zentraler Konzepte: die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen a priori sowie zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntnis, den Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand als den zwei Quellen der Erkenntnis, den Ausschluss des Empirischen aus der Metaphysik, die Auffassung von Raum und Zeit als Formen der reinen Anschauung, die Lehre von den Kategorien, zum Teil auch die Kritik der Gottesbeweise. Insgesamt kann Ulrichs Buch jedoch kaum als das Werk eines Kantianers angesehen werden.236 Kants transzendentaler Grundgedanke wird von Ulrich nicht mitvollzogen. Die reinen Verstandesbegriffe sind seiner Argumentation nach in ihrer Anwendung nicht auf Erscheinungen begrenzt, sondern erstrecken sich auf die Dinge an sich; sie haben nicht subjektive, sondern objektive Gültigkeit. In seiner Kant-Bibliographie von 1788 kommentiert Georg Andreas Will die Institutiones mit den Worten: »Man steht fast an, ob man Herrn Hofr. Ulrich unter die Kantischen Freunde oder Gegner rechnen soll.«237 In der Tat variieren die Urteile der Rezensenten in dieser Frage. Während die frühen Besprechungen in den Gothaischen und Nürnbergischen gelehrten Zeitungen Ulrich als fortschrittlichen Vertreter der neuen Philosophie behandeln,238 234 235 236
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AA X 407f. Vgl. Johann August Heinrich Ulrich: Institutiones logicae et metaphysicae. Jena 1785. Vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 107–110; Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 133; Beiser: Fate of Reason, S. 204f. Vgl. schon das Urteil Karl Leonhard Reinholds in einem Brief vom November 1786, Ulrich habe in seinem lateinischen Lehrbuch »kantische Grundsätze angenommen, ohne den nothwendigen Folgen derselben beyzupflichten, und Folgen unterschrieben, ohne die Grundsätze davon wahr zu finden. In der Meynung die Kritik der Vernunft mit der alten metaphysischen Dogmatik vereinigen zu können, hat er es durch ihre Vermischung mit beyden verdorben« (KA I 151). Will: Vorlesungen, S. 33. Auch Ulrich selbst berichtet 1792 anlässlich des Erscheinens der zweiten Auflage seiner Institutiones von dieser Verwirrung. Vgl. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 132. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 8. Juni 1785, Landau 144f.; Nürnbergische gelehrte Zeitung, 28. Juni 1785, Landau 145–147. Der Erlanger Philosoph Johann Friedrich Breyer begrüßt Ulrichs Buch als Beleg dafür, dass Kantische Begriffe inzwischen »nicht nur einzeln in academische Lehrbücher aufgenommen, sondern zur Grundlage derselben gemacht werden« (Johann Friedrich Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft
69 reklamieren ihn die nachfolgenden Rezensionen in den Göttingischen und den Tübingischen gelehrten Anzeigen als Verbündeten im Widerstand gegen Kant.239 Der Verfasser der letzteren Besprechung war Johann Friedrich Flatt (1759–1821), ehemaliger Student und Repetent am Tübinger Stift und seit 1785 ebendort außerordentlicher Professor für Philosophie. Von ihm stammen die meisten der zahlreichen kantkritischen Rezensionen, die seit 1786 in den Tübingischen gelehrten Anzeigen erschienen. Spätestens ab dem Sommersemester 1787 ging Flatt auch in seinen Lehrveranstaltungen auf Kant ein, zum Teil unter Hinzuziehung von Ulrichs Institutiones.240 In einem Punkt sind sich die Rezensenten Ulrichs einig: Fast alle heben lobend hervor, dass dieser Autor die Kantische Philosophie ausgiebig berücksichtige und selbständig prüfe und dass er damit einem wichtigen Bedürfnis der Zeit entspreche.241 Der Eindruck, dass Kants philosophischem Entwurf eine herausragende Bedeutung zukam, war inzwischen offenbar allgemein geworden (ob man nun mit diesem Entwurf sympathisierte oder nicht); und entsprechend stieg das Bedürfnis nach Publikationen, die mit zentralen Kantischen Ideen bekannt machten und bei der Urteilsbildung halfen. Das zweite Buch, das Schütz in seinem Brief vom September 1785 als Zeichen für die Ausbreitung Kantischer Ideen anführt, ist Gottlieb Hufe-
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über die Spekulative. 5 Abteilungen. Erlangen 1785–1789. 1. Abteilung, S. 6). Als Kantianer wird Ulrich auch eingeordnet in: Anonym: Neuste Sensationen, S. 67. Mit einiger Distanz bemerkt Reinhold in einem Brief vom November 1786, dass Ulrich »für einen Apostel der Kritik der Vernunft gilt« (KA I 151). Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 18. März 1786, Landau 298 (der Verfasser war wiederum Feder); Tübingische gelehrte Anzeigen, 24. April 1786, Landau 310. Vgl. Riccardo Pozzo: Hegel: ›Introductio in philosophiam‹. Dagli studi ginnasiali alla prima logica (1782–1801). Firenze 1989 (Pubblicazioni della Facoltà di lettere e filosofia dell’Università di Milano, Bd. 129), S. 60–62, 70f. Pozzo deutet an, dass die Beschäftigung Flatts mit Kant durch eine Studienreise nach Göttingen (1784–1785) mitveranlasst worden sein könnte, wo Flatt auch mit Feder zusammenkam (vgl. ebd., S. 94). Zu Flatts Biographie und philosophischen Schriften vgl. Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchung zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena (1790–1794). 2 Bde. Frankfurt a. M. 2004. Bd. 1, S. 57–72; zu seiner Stellung zwischen Leibniz-Wolffscher und Locke’scher Philosophie vgl. ebd., S. 58, 77. Vgl. die genannten Rezensionen, Landau 144, 145, 298, 310. Vgl. auch schon die Ankündigungen in: Jenaische gelehrte Zeitungen, 21. Mai 1784, Landau 78; Gothaische gelehrte Zeitungen, 14. Juli 1784, Landau 78; sowie außerdem: Jenaische gelehrte Zeitungen, 16. Mai 1785, Landau 142; Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, viertes Quartal 1785, Landau 240; ALZ, 13. Dezember 1785, Landau 243f., 248; Erfurtische gelehrte Zeitung, 20. Januar 1786, Landau 266. Der Verfasser der ALZ-Rezension war Johann Schultz, der die Besprechung dazu nutzte, einige Zweifel an Kants transzendentaler Deduktion vorzubringen. Seine Kritik führte offenbar beinahe zum Bruch mit Kant. Vgl. dazu Erdmann: Kants Kriticismus, S. 110f.; Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 159–183; Beiser: Fate of Reason, S. 205–207; Sassen: Introduction, S. 34–36, 289–291 (Anmerkungen); Theis: Der »wackere Pastor Schultz«, S. 80f.
70 lands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts. Hufeland (1760–1817) hatte gerade in Philosophie und Jurisprudenz an der Universität Jena promoviert; Bertuch und Schütz bemühten sich schon davor, ihn als Mitarbeiter für ihre Zeitschrift zu gewinnen.242 Mit Erfolg: Im April 1785 wurde Hufeland Assistent des Redakteurs der ALZ.243 Sein Versuch markiert den Beginn der Rezeption Kantischen Denkens in den Rechtswissenschaften. Hufeland zitiert Kant an vielen Stellen und bekennt, von ihm stark beeinflusst worden zu sein.244 Kants zuletzt in der Grundlegung vorgeführtes Verfahren, philosophische Erkenntnis systematisch an höchste Vernunftprinzipien, unter Ausschluss des Empirischen und Zufälligen, zurückzubinden, dient Hufeland als Modell für sein eigenes Programm: einen obersten Grundsatz des Naturrechts zu ermitteln, der geeignet ist, die Lehre vom Naturrecht allererst als Wissenschaft zu begründen.245 Gemäß der Kantischen Grundannahme, dass Erkenntnis subjektiv ist und dass die Prinzipien einer philosophischen oder moralischen Wissenschaft »außer dem Gemüthe des Menschen nirgends« existieren, erklärt Hufeland, die Wissenschaft vom Naturrecht könne »blos aus solchen [Erkennungsgründen] fließen, die der Vernunft gegeben sind«,246 nicht jedoch auf äußere (historische, empirische) »Thatsachen«247 gegründet werden. Vertreter anderer moralphilosophischer Ansätze werden entsprechend kritisiert; zum Beispiel Feder, der sich bei der Behandlung des Naturrechts auf Erfahrung und Induktion beruft, anstatt dessen obersten Grundsatz streng deduktiv zu entwickeln;248 oder Selle und Hissmann, die das Naturrecht aus der gesellschaftlichen Verbindung des Menschen herleiten;249 oder allgemein diejeni242
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Gottlieb Hufeland hatte in Göttingen und Leipzig Jurisprudenz studiert. Er war mit dem Weimarer Regierungsrat Christian Gottlob Voigt verwandt, der ihn bereits 1783 in einem Brief auf Kant hinwies. 1788 wurde er Professor der Rechte in Jena. Zu seinem Leben und seiner frühesten Kantrezeption vgl. Micheal Rohls: Kantisches Naturrecht und historisches Zivilrecht. Wissenschaft und bürgerliche Freiheit bei Gottlob Hufeland (1760–1817). Baden-Baden 2004 (Fundamenta juridica, Bd. 48), S. 18–31. 1788 stieg Hufeland zum zweiten Redakteur auf; er bekleidete diese Position bis 1800. Vgl. Gottlieb Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange. Leipzig 1785, S. 226. In einem Brief vom 11. Oktober, der die Übersendung seines Buches an Kant begleitete, spricht Hufeland von den »wichtigen unschätzbaren Belehrungen, die mir durch Ihre Schriften zu Theil worden sind« (AA X 412). Vgl. zum Beispiel Hufeland: Versuch, S. 50, 61, 134. In Hufelands Brief an Kant vom 11. Oktober wird die Grundlegung ausdrücklich gelobt; ihr komme das Verdienst zu, »die ganze Sittlichkeit zuerst fest gegründet zu haben« (vgl. AA X 412). Auch im Versuch nimmt Hufeland auf diese Schrift Bezug (vgl. Hufeland: Versuch, S. 235–238). Ebd., S. 57f., 147. An anderer Stelle zitiert Hufeland aus der Kritik der reinen Vernunft die rechtsphilosophische Aussage Kants, »die Gesetze gingen auf etwas, was gänzlich unser Werk sey« (ebd., S. 9). Ebd., S. 106, 147. Vgl. ebd., S. 113f. Vgl. Hufeland: Versuch, S. 128. Neben Feder, Selle und Hissmann setzt sich Hufeland unter anderem auch mit J.A. Eberhard, Flatt, Garve, Hamann, Mendelssohn und Ulrich auseinander.
71 gen Autoren, welche Triebe und Neigungen zur Basis des Naturrechts machen.250 Hufelands eigene Argumentation läuft am Ende auf ein recht konventionelles Ergebnis hinaus: Den obersten Grundsatz des Naturrechts sieht er in der Beförderung der Vollkommenheit aller vernünftigen Wesen. Dieses ganz unkantisch anmutende Resultat ist die Folge von Hufelands Bemühung, über Kants Bestimmung der formalen Prinzipien, denen ein praktisches Gesetz genügen muss, hinauszugelangen und es auf inhaltliche Zwecke festzulegen, um daraus klare Handlungsanweisungen gewinnen zu können.251 Allgemeiner Tenor der Rezensionen, die zu Hufelands Versuch erschienen, ist, dass der Autor in prätentiösem Ton und mit unverhältnismäßig hohem argumentativen Aufwand zu wenig originellen Ergebnissen kommt.252 Hufelands Rekurs auf Kant wird von dem Göttinger Rezensenten, bei dem es sich wiederum um Feder handelt, ignoriert, von dem Tübinger Rezensenten (vermutlich wiederum Flatt) für überflüssig erklärt und von dem Erfurter Rezensenten als schädlich kritisiert: Kant habe das Vorbild geliefert für die anmaßende Art des Autors, »alle seine Einfälle als neu anzusehen«.253 Feder lässt es sich in seiner Besprechung nicht nehmen, auf Hufelands Einwände gegen ihn zu antworten und Erfahrung und Empfindung als Quellen vollwertiger Erkenntnis zu verteidigen.254 Von anderer Tendenz ist, wie zu erwarten, die Besprechung in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die von Kant selbst
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Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 236–243. Auch in anderen Punkten weicht Hufeland von Kantischen Positionen ab; etwa, wenn er den physikotheologischen Gottesbeweis gegen Kant in Schutz nimmt (vgl. S. 227, 230–234) oder wenn er Zweifel an Kants Bestimmung der Sittlichkeit als ›Würdigkeit, glücklich zu sein‹ äußert (vgl. S. 235). Vgl. die Besprechungen in den Göttingischen Anzeigen vom 2. Februar, in den Tübingischen gelehrten Anzeigen vom 6. März und in der Erfurtischen gelehrten Zeitung vom 20. März 1786 (Landau 268–271, 288–290, 302–304). Landau 304. Der Verfasser dieser und weiterer kantkritischer Rezensionen in der Erfurtischen gelehrten Zeitung war möglicherweise der Erfurter Philosophieprofessor Johann Christian Lossius. Als regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitung war Lossius vor allem für philosophische und theologische Neuerscheinungen zuständig. Vgl. Maximilian Letsch: Die Mitarbeiter der Erfurtischen Gelehrten Zeitung. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 57 (1940), S. 1–15, hier S. 7. Letsch bezieht sich auf handschriftliche Randnotizen, die in dem Exemplar der Erfurtischen gelehrten Zeitung der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin verzeichnet waren und die Aufschluss über die Autoren zahlreicher Rezensionen gaben. Das Exemplar ist im Krieg verloren gegangen (laut schriftlicher Auskunft der Staatsbibliothek zu Berlin vom 20. Mai 2008). Zu Lossius’ empiristisch-psychologisch orientierter Philosophie, zu seinem Wirken an der Universität Erfurt und zu seiner Opposition gegen Kant vgl. Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil IV: Die Barock- und Aufklärungszeit von 1633 bis zum Untergang 1816. 2., erw. Aufl. Leipzig 1988 (Erfurter theologische Studien, Bd. 47), S. 137, 169f., 264, 354. Vgl. Landau 270, 271.
72 verfasst wurde.255 Kant lobt das Projekt Hufelands, die Grundsätze praktischer Philosophie »in dem Vernunftvermögen selbst« aufzusuchen, als »ein rühmliches Unternehmen« und spricht wohlwollend vom »lebhaften und forschenden Geist des Vf., von welchem sich in der Folge viel erwarten läßt«.256 Die Reihe der Monographien, mit denen Jenaer Autoren sich um die frühe Darstellung und Würdigung der Kantischen Philosophie verdient machten, wurde fortgesetzt und in gewisser Weise gekrönt durch Carl Christian Erhard Schmids Critik der reinen Vernunft im Grundrisse. Das Buch erschien im Mai 1786; bogenweise war es schon für die Hörer von Schmids Vorlesung über Kantische Philosophie im Wintersemester 1785/86 gedruckt worden. Laut dem Bericht der Vorrede will Schmid mit seiner Schrift dem Manko abhelfen, dass bisher keine übersichtliche Darstellung der Kantischen Philosophie für den akademischen Gebrauch existiere.257 Auch Schultzes Erläuterungen, die Schmid lobend erwähnt, sind seiner Meinung nach als Lehrbuch für Vorlesungen wenig geeignet. Was Schmid im Folgenden liefert, ist ein umfassende, klare, in Paragraphen gegliederte Explikation des Kantischen Systems, die sich sowohl auf die Kritik der reinen Vernunft als auch auf die Prolegomena und die Grundlegung mit genauen Seitenangaben bezieht.258 Zudem berücksichtigt Schmid ausführlich die bisherige Diskussion um Kants Werk. Zu den zahlreichen Autoren und Zeitschriften, die er im Verlauf seiner Darstellung anführt, um Kants Argumente zu erläutern oder um auf Einwände hinzuweisen, gehören Schütz, Schultz, Platner, Ulrich, Lossius, Tiedemann, Mendelssohn, Hufeland, Heinickes Kritiker, die ALZ und die Göttinger Rezension. Schließlich ist dem Grundriss noch ein Wörterbuch beigefügt, das den Zugang zur schwierigen Begrifflichkeit Kants erleichtern soll. Schmids Werk markiert somit auch den Beginn der Kant-Lexikographie, die sich in der Folge zu einem eigenen Zweig der KantPhilologie entwickelte.259 Mit seiner Schrift wolle er dazu beitragen, Kantische Grundsätze »mehr in Umlauf zu bringen«,260 schreibt Schmid in einem Brief vom 18. Mai 1786 anlässlich der Übersendung seiner Arbeit an Kant. Dieses Ziel hat Schmid 255
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Vgl. ALZ, 18. April 1786, Landau 305–308 (= WA VI 807–812), sowie dazu auch Schröpfer: Kants Weg, S. 205. Landau 306, 308 (= WA VI 809, 812). Vgl. Carl Christian Erhard Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Jena 1786, unpaginierte Vorrede. Zu Inhalt und Struktur des Grundrisses vgl. Schröpfer: Carl Christian Erhard Schmid, S. 44–47. Ab der zweiten Auflage des Grundrisses (1788) erschien das Wörterbuch separat. Zu seinem Charakter und seiner Wirkungsgeschichte vgl. Hinske: Einleitung, S. VII–XII, XVII–XXVIII; Schröpfer: Carl Christian Erhard Schmid, S. 47–50. AA X 450.
73 erreicht. Der Grundriss wurde in zahlreichen Rezensionen positiv beurteilt.261 Der Erlanger Philosophieprofessor Johann Friedrich Breyer sieht das Buch als »Beweis« dafür an, »daß wenigstens der akademische Lehrer sich der Prüfung und einer gewissenhaften Würdigung der Kantischen Philosophie nicht mehr entschlagen kann.«262 Tatsächlich kündigten kurz nach seinem Erscheinen zwei Professoren für das Wintersemester 1786/87 Vorlesungen zur Kantischen Philosophie nach Schmids Handbuch an: Johann Bering in Marburg und Friedrich Gottlob Born in Leipzig.263 Der Kantianismus begann, sich außerhalb der Grenzen seiner frühen Hochburg Jena in der akademischen Lehre zu etablieren.
8. Frühe Kantianer außerhalb Jenas (1785–1786): Bering (Marburg), Born (Leipzig), Jakob (Halle) Schon bevor sie begannen, Kantische Philosophie nach Schmids Grundriss vorzutragen, hatten Bering und Born sich in kleinen lateinischen Schriften, die sie an Kant übersandten,264 als dessen Anhänger ausgewiesen. Friedrich Gottlob Born (1743–1807) war seit 1782 Philosophieprofessor in Leipzig. 1785 erschien sein Programm De notione existentiae, in welchem die Begriffe von Raum, Zeit und Substanz auf Kantische Weise behandelt werden.265 Bei seinem Eintreten für den Königsberger Philosophen scheute er auch nicht den Konflikt mit den Leipziger Kollegen, wie der Schlagabtausch beweist, den er sich zwei Jahre später mit Christian Friedrich Pezold über Kants Moraltheologie lieferte.266 261
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Am euphorischsten äußern sich die Rezensenten der ALZ vom 19. Mai und der Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 30. September 1786 (vgl. Landau 380f., 434). Selbst diejenigen Rezensenten, die der Kantischen Philosophie kritisch gegenüberstehen, heben die Leistung Schmids lobend hervor; so ein unbekannter Rezensent in der Erfurtischen gelehrten Zeitung vom 16. Oktober 1786, Feder in den Göttingischen Anzeigen vom 23. November 1786, Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen vom 15. März 1787 und Pistorius in der Allgemeinen deutschen Bibliothek vom Herbst 1787 (vgl. Landau 447f., 472, 515, 658). Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 3 Anm. 3. Vgl. die Briefe Berings und Borns an Kant vom 21. September bzw. 8. November 1786 (AA X 465, 471). Vgl. ihre Briefe an Kant vom 24. September 1785 bzw. 7. Mai 1786 (AA X 410, 444). Hamann, an den Kant die Schrift weitergab (vgl. Hamanns Brief an Jacobi vom 25. Mai 1786, H VI 399, 402), äußerte sich anerkennend über Borns Vortrag: »Es fehlt dem Mann weder an Styl noch Geschmack« (Brief an Jacobi vom 27. Mai 1786, H VI 407). Pezold (1743–1788) war seit 1774 Philosophieprofessor in Leipzig. 1787 veröffentlichte er eine kurze, gegen Kant gerichtete Abhandlung mit dem Titel De argumentis nonnullis, quibus, Deum esse, philosophi probant, obervationes quaedam adversus Imman. Kantium. Born antwortete darauf im selben Jahr mit der Schrift De scientia et coniectura specimen metaphysicum, ad diluenda Pezoldi dubia adversus Kantium nuper proposita, die in einem »ziemlich polemischen Tone« verfasst ist (ALZ, 26. April
74 Johann Bering (1748–1825) war seit 1779 Dozent in Marburg. Bereits ab dem Sommer 1784 ging er in Privatkollegien über Baumgartens Metaphysik auch auf Kant ein.267 1785 wurde Bering zum Professor für Logik und Metaphysik berufen. Im selben Jahr erschien seine Dissertation De regresso successivo, in welcher er der Frage nach der Möglichkeit unendlicher Kausalreihen nachgeht und dabei unter anderem gegen Tiedemann und Ulrich argumentiert. »Die ganze merkwürdige Schrift athmet durchaus Kantische Philosophie«, urteilt die Erfurtische gelehrte Zeitung vom 14. März 1786.268 Im Sommersemester 1786 las Bering über die Kantische Philosophie nach Schultzes Erläuterungen,269 bevor er dann zu Schmids Handbuch überging. Über den Erfolg seiner Vorlesungen berichtet zwei Jahre später der in Marburg Station machende Wilhelm von Humboldt in seinem Tagebuch der Reise nach dem Reich 1788 unter dem Datum des 22. September: »Ein junger Mann, Bering, liest über den Kant, nach Schmids Lehrbuch. Er soll, wie man mich versicherte, im Verhältniss der kleinen Zahl der Studenten genug Zuhörer finden, und sie sollen mit ihm und seinem Vortrag zufrieden sein.«270 Zur schmalen Riege der Frühkantianer gehörte auch ein junger Magister der Philosophie in Halle, Ludwig Heinrich Jakob (1759–1827). Jakob begann 1786, Privatvorlesungen über Kant nach Schultzes Erläuterungen zu halten.271 Im gleichen Jahr erschien sein erstes Buch, in welchem Jakob mit dem neuen Instrumentarium der Vernunftkritik gegen einen der angesehensten Denker der damaligen Zeit, den berühmten Berliner Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), zu Felde zog. Mendelssohn hatte im Oktober 1785 seine Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes veröffentlicht. Wenige Monate vor Mendelssohns Tod erschienen, ist diese Untersuchung der letzte großangelegte Versuch eines Vertreters der rationalistischen Tradition, noch einmal auf deduktiv-ontologischem Wege
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1788, Sp. 192; vgl. auch Pistorius’ Kritik in: AdB, Anhang zum 53.–86. Bd. (1791), 4. Abt., S. 1998; zu Pezolds Schrift vgl. die Besprechung in: Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 30. Oktober 1787, Landau 711f.). Vgl. Werner Stark: Der Marburger Streit um das Verhältnis der Philosophie Kants zur Religion (1786–1793). In: Kant-Studien 87 (1996), S. 89–117, hier S. 91. Landau 298. Vgl. die Wiedergabe der entsprechenden Vorlesungsankündigung bei Heinrich Hermelink/Siegfried August Kaehler: Die Philipps-Universität zu Marburg 1527–1927. Fünf Kapitel aus ihrer Geschichte (1527–1866). Marburg 1927, S. 428f. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Bd. 14: Tagebücher. Hg. von Albert Leitzmann. Erster Band. 1788–1798. Berlin 1916 [Repr. 1968], S. 25. Das geht aus dem Brief Jakobs an Kant vom 28. Juli 1787 hervor (vgl. AA X 491). Jakob war 1784 (vermutlich durch seinen Hallenser Studienfreund Johann Wilhelm Lange) auf Kant aufmerksam geworden. Zu Jakobs Kantrezention und zum Erfolg seiner Vorlesungen vgl. Regina Meyer: Die Kantische Philosophie im Lehrbetrieb der Universität Halle am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Fs. Günter Mühlpfordt. Hg. Von Erich Donnert. Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa. Köln u. a. 2002, S. 237–288, hier S. 247–252.
75 einen Beweis vom Dasein Gottes zu führen. Implizit richten sich die Ausführungen über weite Strecken gegen die kritische Philosophie,272 wie schon die Zeitgenossen mutmaßten.273 Das betrifft vor allem die erkenntnistheoretischen Grundsatzüberlegungen im ersten Teil der Morgenstunden, der mit dem Titel »Vorerkenntniß von Wahrheit, Schein und Irrthum« überschrieben ist.274 Im Rahmen seiner Argumentation für einen objektiven Wahrheitsbegriff wendet Mendelssohn sich in diesem Abschnitt gegen einen Idealismus, der alle Erkenntnis in subjektiven Schein verwandelt, der überall nur innerseelische Repräsentationen kennt und kein diesen Repräsentationen entsprechendes äußeres Objekt.275 Jakob hatte Recht, wenn er hier einen »Pfeil«276 gegen Kant vermutete. Mendelssohns Einwände gegen den Idealismus und die Lehre von einem unerkennbaren ›Ding an sich‹ befanden sich ganz auf einer Linie mit der Idealismus-Kritik der empiristischen Fraktion, wie sie zum Beispiel von Garve in der Besprechung der Kritik der reinen Vernunft für Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek formuliert worden war.277 Im März 1786 wandte sich Jakob mit einem Brief an Kant, um ihm seinen Plan einer vernunftkritischen Widerlegung der Morgenstunden vorzustellen. In seinem Antwortbrief ermutigte Kant seinen neuen Schüler zu dessen Vorhaben und bot sogar an, selbst einen kleinen Beitrag für die Schrift zu liefern.278 Sie erschien bald darauf unter dem Titel Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Es handelt sich um eine wenig originelle Abhandlung in dialogischer 272
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Vgl. Erdmann: Kants Kriticismus, S. 118, 121f.; Beiser: Fate of Reason, S. 105f. Zwar bedauert Mendelssohn im »Vorbericht«, dass es ihm wegen seiner geschwächten Konstitution schon seit Jahren nicht mehr möglich sei, sich in neue philosophische Systeme einzuarbeiten, und dass er die Schriften Kants nur aus Berichten seiner Freunde oder aus gelehrten Zeitungen kenne (vgl. JA III/2 3). Aber er hatte mindestens den ernsthaften Versuch unternommen, die Kritik zu studieren (vgl. seinen Brief an Kant vom 10. April 1783, AA X 308), und war über ihre Inhalte informiert (vgl. Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A Biographical Study. Alabama/London 1973, S. 673–675; Beiser: Fate of Reason, S. 342 Anm. 17). Schütz stellt in seiner Besprechung der Morgenstunden fest, man glaube in Mendelssohns Buch »Spuren zu entdecken, daß er Hrn. Kants berühmtes Werk vor Augen gehabt« (ALZ, 2. Januar 1786, Landau 250), und nutzt die Rezension dazu, die Überlegenheit der vernunftkritischen Position zu unterstreichen (vgl. dazu Schröpfer: Kants Weg, S. 221–225). Der Rezensent der Gemeinnützigen Betrachtungen erklärt: »Wir müßten uns sehr irren, wenn wir nicht hie und da in den Morgenstunden, Winke hin auf Kant, ob gleich M. sagte, daß er ihn nicht selbst gelesen, wahrnehmen sollten« (Gemeinnützige Betrachtungen 11 [1786], S. 574). Vgl. JA III/2 9–66. Vgl. bes. JA III/2 56–61. Zu Mendelssohns Idealismus-Kritik vgl. auch Erdmann: Kants Kriticismus, S. 118–121. AA X 437 (Brief an Kant vom 26. März 1786). Mendelssohns Wahrnehmung der Kritik wurde von dieser Rezension mit beeinflusst. Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 106, S. 343 Anm. 42 und 44. Vgl. AA X 435–438 (Brief Jakobs an Kant vom 26. März 1786) und AA X 450f. (Antwort Kants vom 26. Mai 1786).
76 Form,279 die zunächst eine überblickshafte Darstellung des Kantischen Systems liefert, um dann auf dessen Grundlage Mendelssohns rationalistische Axiome und seine Beweise vom Dasein Gottes zu verwerfen. Im Anhang legt sich der Verfasser mit einem weiteren prominenten Zeitgenossen an: mit Ernst Platner. Jakob wendet sich gegen die in den Philosophischen Aphorismen vorgenommene Gleichsetzung des Kantischen mit dem Leibnizschen Raumbegriff, indem er den Unterschied herausstellt zwischen Kants Auffassung des Raums als subjektiver Bedingung sinnlicher Erkenntnis und Leibniz’ Auffassung des Raums als etwas, das den Dingen objektiv zukommt.280 Zwischen Vorrede und Hauptteil der Prüfung sind »Einige Bemerkungen von Herrn Professor Kant« eingerückt, in denen Kant, dem Hinweis Jakobs folgend,281 auf die Idealismus-Kritik Mendelssohns Bezug nimmt und die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich verteidigt.282 Die Nobilitierung durch einen Beitrag aus Kants eigener Feder trug sicherlich dazu bei, dass Jakobs Buch in der Diskussion der folgenden Jahre zu einem der wichtigsten Kantischen Referenztexte wurde – nach Schultzes Erläuterungen. Wie Jakob erklärt, beabsichtigte er mit seinem Buch, Kants Ideen »mehr in Gang zu bringen.«283 In den Briefen, die er Kant im März und Juli 1786 aus Halle schrieb, klagt er über die in seiner Umgebung verbreitete Ignoranz gegenüber der neuen Philosophie. Man klammere sich an die alten Systeme und schrecke die Studenten von der Lektüre der Kantischen Schriften ab, indem man diese als unverständlich darstelle.284 Jakob lässt keinen Zweifel daran, wer mit seiner Beschreibung vor allem gemeint ist: »HE E.«, Johann August Eberhard (1739–1809), renommierter Professor für Metaphysik in Halle und späterer Anführer der Wolffschen Reaktion gegen Kant. Obwohl Eberhard erst 1788 (mit der Gründung des Philosophischen Magazins) in die öffentliche Auseinandersetzung um die kritische Philosophie eintrat,285
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Hamann nennt sie einen »abermalige[n] Brey der Kritik mit Kants und Schultz Worten« (Brief an Jacobi vom 8. November 1786, H VII 44). Vgl. Ludwig Heinrich Jakob: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Leipzig 1786, S. 323–334. Vgl. AA X 436f., 451, 459–461; Jakob: Prüfung, S. 255–259. Vgl. ebd., S. LV-LX (= WA III 289–291). Ein Jahr später setzte Jakob diesen Kurs mit den Prolegomena zur praktischen Philosophie (1787) fort. Vgl. AA X 437f., 459. Bis zu diesem Zeitpunkt beschränkten sich Eberhards schriftliche Auslassungen über Kant auf eine kurze Bemerkung in dem »Vorbericht«, den er der Neuauflage von G.F. Meiers Übersetzung der Baumgartenschen Metaphysik (1783) voranstellte. Darin verwahrt er sich gegen den resoluten Ton, in dem Kant seine Forderungen an eine wissenschaftliche Metaphysik stellt und die metaphysische Tradition abwertet. Vgl. Johann August Eberhard: Vorbericht. In: Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Neue vermehrte Aufl. Hg. von Johann August Eberhard. Halle 1783 [unpaginiert].Wahrscheinlich war es diese Baumgarten-Ausgabe, die Johann Bering seit dem Sommer 1783 seinen Marburger Metaphysik-Vorlesungen zugrunde legte, in denen er dann
77 erwarb er sich seinen Ruf als Gegner Kants schon vorher. Das zeigt eine Publikation des radikalen Aufklärers und Freigeists Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792), der auf der Flucht vor der habsburgischen Reichsgewalt 1779 nach Halle gekommen war, wo er auch philosophische Vorlesungen halten durfte. 1786, im gleichen Jahr, in dem Jakob seine Klage über die Hallenser Zustände führte, gab Bahrdt den ersten (und einzigen) Band der Neuen Litteratur-Briefe heraus.286 Dort ist ein anoymer, mit »W.« unterzeichneter Artikel über Eberhards philosophischen Roman Amyntor (1782) enthalten, in welchem dem Autor vorgeworfen wird, dass er bei seiner Argumentation für die Existenz angeborener Ideen nicht ausreichend berücksichtigt habe, was Kant über die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis lehrt.287 Die in dem Artikel erhobenen Vorwürfe entsprechen ganz denjenigen Jakobs, wenn der Verfasser sich an Eberhard mit den Worten wendet: [G]esetzt auch, es wäre wahr, was man sich ins Ohr sagt, daß Sie auf die Kritik der reinen Vernunft als auf ein dunkles und unverständliches Buch schmählten, Gallimathias es nennten, aus dem man nicht klüger würde; gesetzt das sey wahr; so hätten Sie doch bedenken sollen, daß viele ganz anders urtheilen […]. Ich weiß es wohl, daß sich die alten Systematiker vor jeder Neuerung fürchten […].288
9. Die theologisch-religionsphilosophische Debatte: Das Kant-Verbot in Marburg; der Pantheismusstreit (1785–1786) In den ersten vier Jahren nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft war es in der Diskussion um Kants neue Philosophie hauptsächlich um methodische Grundannahmen und erkenntnistheoretische Prämissen gegangen: Die Objektivität philosophischer Erkenntnis, das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft, der Vorwurf des Idealismus standen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Jetzt begann sich die Aufmerksamkeit zunehmend auch auf die Konsequenzen der Kantischen Philosophie für Religion und Theologie zu richten. Zwar hatte dieser Aspekt, wie oben gezeigt, von Anfang an eine Rolle gespielt, unter Gegnern wie Anhängern Kants. Christian Garve (in seiner Rezension der Kritik der reinen Vernunft) und noch deutlicher Wilhelm
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auch auf Kant einging (vgl. oben S. 74); möglicherweise hat ihn also Eberhards Vorrede zuerst auf Kant aufmerksam gemacht. Vgl. Stark: Der Marburger Streit, S. 90f. Vgl. zu diesem Projekt Karl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Vierter Theil. Berlin 1791, S. 248. Vgl. Anonym: Ueber Amyntor. An Herrn Prof. Eberhard. In: Neue Litteratur-Briefe 1 (1786), S. 11–24, 103–119, 120–142, hier S. 18–21. Ebd., S. 21f. Besonders der dritte Teil des Aufsatzes (vor allem S. 120–135) ist erkennbar von Kantischer Terminologie geprägt. Vgl. auch die ausdrückliche Erwähnung Kants ebd., S. 124.
78 Anton Klewiz (in seinem Aufsatz Ueber Idealismus) äußern sich skeptisch über Kants Bemühung, nach Widerlegung aller rationalen Gottesbeweise die Wahrheiten der Religion dadurch retten zu wollen, dass er sie in der Moralphilosophie verankert; dagegen betonen Johann Schultz (in seinen Erläuterungen) und Christian Gottfried Schütz (in einer Anmerkung zu Roustans Briefen) die Schutzfunktion der Vernunftkritik für den Bereich des Glaubens. Eine neue Virulenz erhielt die theologische Diskussion jedoch im Zuge des sogenannten Pantheismusstreits, der sich 1785 zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) unter starker Anteilnahme der gelehrten Öffentlichkeit entspann und der ja im Kern ein Streit um das Verhältnis von Vernunft und Glaube war. Der Pantheismusstreit bildete auch den eigentlichen Kontext von Mendelssohns Morgenstunden, worauf Jakob in seiner Prüfung allerdings mit kaum einem Wort eingeht.289 Der Streit wird hier nicht eigens in seinem chronologischen Verlauf dargestellt, sondern nur insoweit berührt, wie er in Wechselwirkung mit der Diskussion um die Kantische Philosophie tritt.290 Stark vereinfacht gesagt, vertritt Mendelssohn in diesem Streit die Partei der Vernunft, während Jacobi und dessen Freund, der junge Magister der Philosophie Thomas Wizenmann (1759–1787), für eine Philosophie des Glaubens argumentieren. Mendelssohn ist der Überzeugung, dass jede Wahrheit aus Vernunftgründen demonstriert werden können muss. Das gilt auch für die Wahrheiten der Religion, wie zum Beispiel die Existenz Gottes. Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft alle herkömmlichen Gottesbeweise für ungültig erklärt, musste da als eminente Bedrohung erscheinen. Dies umso mehr angesichts einer Schrift wie dem Antiphädon, der 1785, kurz vor Mendelssohns Morgenstunden, anonym erschien. Der Titel ist eine Anspielung auf Mendelssohns bekanntes Hauptwerk Phädon von 1767, das auf dem Boden der Wolffschen Philosophie die Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele zu beweisen sucht. Im Antiphädon redet dessen Autor Karl Spazier (1761–1805) einer gegenteiligen materialistischen Sicht das Wort – und beruft sich dabei auf Kants Kritik des spekulativen Vernunft289 290
Vgl. Jakob: Prüfung, S. I, 311f. Eine ausführliche Darstellung des Streits bietet Beiser: Fate of Reason, vgl. S. 44–113. Zur Orientierung seien hier nur kurz die vier Publikationen Mendelssohns und Jacobis, die im Zentrum des Pantheismusstreits stehen, in ihrem chronologischen Zusammenhang genannt. Nach einem vorausgegangenen Briefwechsel, in welchem Jacobi ihm von Lessings Bekenntnis zum Spinozismus berichtet hatte, wollte Mendelssohn die Diskussion mit seinen Morgenstunden eröffnen, die im Oktober 1785 erschienen. Jacobi hatte von Mendelssohns Plänen früh genug erfahren, um ihm mit der Veröffentlichung der Briefe Über die Lehre des Spinoza zuvorzukommen, die bereits im September herauskamen. Mendelssohn antwortete im Januar 1786 mit An die Freunde Lessings, worauf Jacobi wiederum im April mit der Abhandlung Wider Mendelssohns Beschuldigungen reagierte.
79 gebrauchs.291 Vor dem Hintergrund solcher Tendenzen ist Mendelssohns Unbehagen gegenüber dem Königsberger Philosophen nur allzu verständlich, welches er im »Vorbericht« zu den Morgenstunden in die schon bald darauf geläufige Formel vom »alles zermalmenden« Kant fasst.292 Nicht nur im erkenntnistheoretischen ersten Teil der Morgenstunden, sondern auch im spekulativen zweiten Teil sind seine Ausführungen außer an Jacobi implizit auch an Kant adressiert,293 gegen dessen Kritik er hier noch einmal eine Verteidigung der herkömmlichen Gottesbeweise unternimmt.294 Bald nach Mendelssohns Morgenstunden erschienen weitere Schriften, die nicht nur indirekt, sondern ganz explizit das Verhältnis der Kantischen Philosophie zur Religion auf den Prüfstand brachten. 1786 erschien im ersten Band der Zeitschrift Philosophische Unterhaltungen ein anonymer Aufsatz über Kants Prolegomena, in dem gleich eingangs erklärt wird, dass es bei der Beurteilung der neuen Kantischen Metaphysik darauf ankomme, inwieweit man mit ihrer Hilfe am Ende »in der Erkentnis eines höchsten Wesens vorgerükt seyn wird«, und dass sie in dieser Hinsicht »keine Befriedigung« biete.295 Etwa zur selben Zeit veröffentlichte Johann Peter Andreas Müller im ersten Band seiner Kritischen Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit einen in Briefform gehaltenen Artikel über die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in welchem Kant eines »tödtlichen Scepticismus« geziehen und mit »Englischen Freydenkern und teutschen Fanatikern«296 in 291
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295
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Vgl. Karl Spazier: Antiphädon oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. In Briefen [1785]. Hg. und eingeleitet von Werner Krauss. Berlin 1961, S. 39–41, 53. Von einem weiteren Beispiel religionsfeindlicher Vereinnahmung der Kantischen Philosophie zeugen zur selben Zeit zwei Briefe Hamanns, in denen er von einer Gruppe Königsberger Studenten berichtet, die unter Berufung auf Kants Kritik der reinen Vernunft das Christentum verspotteten. Vgl. H VI 55, 85 (Briefe an Herder vom 18. August 1785 und an Gottlob Immanuel Lindner vom 4. Oktober 1785). JA III/2 3. Zur Ausbreitung der Formel vgl. unten Kap. III.3.c). Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 94, 97, 105. Vgl. Altmann: Moses Mendelssohn, S. 683f.; Beiser: Fate of Reason, S. 106f. Kant selbst fühlte sich durch Mendelssohn herausgefordert und trug sich eine Zeitlang mit dem Plan, ihn zu widerlegen. Das geht aus mehreren Briefen Hamanns an Jacobi und Herder zwischen Oktober 1785 und Januar 1786 hervor (vgl. H VI 107, 119, 127, 152, 162, 181, 228). Eine entsprechende Nachricht in den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 25. Januar 1786 (vgl. Landau 266) veranlasste Jakob zu seinem ersten Brief an Kant. Vgl. auch die Äußerung von Kants Freund Theodor Gottlieb Hippel in einem Brief vom November 1785: »Kant ist zwar halb und halb entschlossen, dem Herrn Mendelson ein Wort zu seiner Zeit zu erwiedern, weil er die Existenz Gottes zu demonstriren sich herausgenommen, welches wider Kants Kritik ist; indessen ist halb und halb noch nicht zuverlässig« (zitiert nach: Immanuel Kant in Rede und Gespräch. Hg. von Rudolf Malter. Hamburg 1990 [Philosophische Bibliothek, Bd. 329], S. 273). Anonym: Über Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysic. In: Philosophische Unterhaltungen 1 (1786), S. 122–133, hier S. 123. Landau 323.
80 eine Reihe gestellt wird, weil er seine Moral auf ein Gesetz im Menschen statt auf Gott gründet. Ebenfalls im Jahr 1786 bezog auch der Marburger Mathematik- und Philosophieprofessor Johann Gottlieb Waldin (1728–1795) in seinen Grundsätzen der natürlichen Theologie gegen Kants Kritik der Gottesbeweise Stellung,297 indem er den Maßstab einer apriorischen Erkenntnis aus reiner Vernunft als »Hirngespinste« ablehnt.298 Die menschliche Erkenntnis von Gott gründe, so Waldin, wie jede Erkenntnis auf Analogieschlüssen und sei daher zwar notwendigerweise unvollkommen, aber zu unserer Beruhigung völlig hinreichend.299 Die Abhandlung, welche sogleich in der ALZ mit einer kritischen Rezension bedacht wurde,300 war nicht Waldins erste Auseinandersetzung mit Kant. Im Jahr zuvor hatte er bereits eine kleine Schrift veröffentlicht, in welcher er das Dasein Gottes aus der Endlichkeit der Weltreihen beweist und sich im Schlussteil mit den Einwänden auseinandersetzt, die Kant in seiner vierten Antinomie gegen diese Art des Gottesbeweises vorgebracht hatte.301 Die zuletzt genannte Schrift wurde Kant zusammen mit zwei weiteren anti-kantischen Werken 1786 zugeschickt (möglicherweise durch seinen Marburger Anhänger Johann Bering). Das geht aus einem Brief Hamanns vom November 1786 hervor, in welchem er berichtet, soeben erhalte er von Kant »drey Schriften gegen ihn, die er nicht des Lesens würdigt […]. Sie sind zu Marburg herausgekommen, wo seine Philosophie Contrebande ist […].«302 Hamanns Formulierung spielt auf einen Vorgang an, der den vorläu297
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Vgl. Johann Gottlieb Waldin: Die Grundsätze der natürlichen Theologie bewiesen, und aus dem Weltgebäude erläutert, nebst ihren neuesten und wichtigsten Streitigkeiten. Marburg 1786, S. 38–40, 47–49, 52–54, 59–69. Ebd., S. 54; vgl. auch S. 48. Vgl. ebd., S. 70, 78–80. Vgl. Supplemente zur ALZ 1786, Nr. 76, Sp. 604f. Der Rezensent rügt, dass Waldin in seinem Argumentationsgang die kritischen Einsichten Kants nicht berücksichtige (»es gehet alles nach dem gewöhnlichen Schlendrian, wo man willkührliche Definitionen setzt, und daraus, ohne ihre Realität vorher erwiesen zu haben, schließet«), und wirft ihm vor, Kants Aussagen über das Verhältnis von Sinnen- und Verstandeswelt misszuverstehen. Vgl. Johann Gottlieb Waldin: Untersuchung der Weltreihen und des darauf gegründeten Beweises von der Existenz Gottes. Marburg 1785, S. 26–37. Die Schrift wurde in der ALZ an gleicher Stelle wie die Grundsätze rezensiert. Wiederum wirft der Rezensent dem Autor Missverstand und Verdrehung Kantischer Argumente vor (vgl. Supplemente zur ALZ 1786, Nr. 76, Sp. 605–608). H VII 50 (Brief an Jacobi vom 9. November 1786). Hamann gibt über Autoren und Titel der Schriften Auskunft. Außer Waldins Untersuchung nennt er noch zwei lateinische Programme des Marburger Philosophie- und Theologieprofessors Johann Franz Coing von 1785 und 1786, in denen der physikotheologische und der kosmologische Gottesbeweis gegen Kant verteidigt werden. Auf Waldin bezieht sich vermutlich auch schon eine Bemerkung Berings in seinem Brief an Kant vom 24. September 1785, wo er von einer demnächst in Marburg erscheinenden »Widerlegung des Kantischen Systems« (AA X 410) spricht.
81 figen Höhepunkt des Skeptizismus-Verdachts gegen Kant bildete: das offizielle Verbot der Kantischen Philosophie an der Universität Marburg, welches der hessische Landgraf Wilhelm IX. Ende August 1786 verhängte.303 Wilhelm befahl den Professoren der philosophischen Fakultät gleichzeitig, ein Gutachten zu der Frage zu erstellen, »was von des Kant Schriften überhaupt zu halten? Insbesondere ob solche zum Scepticismo Anlaß geben mithin die Gewißheit der menschlichen Erkäntnis untergraben?« Obwohl die Professoren in ihrem gemeinsamen Bericht vom Oktober 1786 Kant insgesamt vom Vorwurf des Skeptizismus freisprachen und für die Erhaltung der Lehrfreiheit plädierten, hielt der Landgraf das Verbot ohne weitere Begründung aufrecht.304 Bering fuhr allerdings auch nach dem Verbot fort, einige seiner Studenten mit der Kantischen Philosophie bekannt zu machen, zum Teil unter Benutzung von Ulrichs neuem Lehrbuch, den Institutiones.305 Der um sich greifende Verdacht, Kants Kritizismus richte sich gegen die Grundlagen der Religion – entsprechende Vorwürfe kursierten, wie Schütz berichtet, auch in Jena –,306 führte zu Gegenreaktionen unter den Anhängern Kants. Zu ihnen gehörte der schon erwähnte Erlanger Philosophieprofessor Jacob Friedrich Breyer (1738–1826), der die Kantische Philosophie laut eigenem Bekunden seit ca. 1782 studierte.307 Hatte Breyer sich im ersten Teil seiner (in Form einer jährlichen Festschrift erscheinenden) Abhandlung Sieg der Praktischen Vernunft über die Spekulative von 1785 weitgehend darauf beschränkt, die apodiktische Widerlegung sämtlicher spekulativer Gottesbeweise als Kernstück der Kritik nachzuzeichnen und zu erläutern, so widmet er sich im zweiten Teil von 1786 dem Problem, ob und inwiefern von dieser Philosophie skeptizistische Konsequenzen zu befürchten seien. Ausdrücklich geht er dabei auf die aktuellen Vorwürfe ein. Gleich zu Beginn weist 303
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Eine detaillierte Darstellung der Ereignisse bieten Hermelink/Kaehler: Die PhilippsUniversität zu Marburg, S. 428–438. Anlass des Verbots war Berings Ankündigung im Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1786 gewesen, über Kantische Philosophie zu lesen. Zitiert nach ebd., S. 429 Anm. 2. Die Voten der Hochschullehrer fielen im einzelnen durchaus unterschiedlich aus. Waldin bringt in seinem Votum Bedenken gegenüber Kants Abweichung von der kirchlichen Schöpfungslehre und seiner Ablehnung einer demonstrativischen Vernunfttheologie zum Ausdruck (vgl. ebd.). Vgl. Berings Brief an Kant vom 28. Mai 1787 (AA X 488) sowie Stark: Der Marburger Streit, S. 93. Sein Vorgehen brachte Bering im Frühjahr 1788 erneut in Konflikt mit der Obrigkeit, nachdem er in einer öffentlichen Disputation seine Studenten (unter ihnen der später berühmte Theologe Carl Daub) Kantische Thesen hatte verteidigen lassen. Als das Verbot in einer landgräflichen Verfügung vom Juni 1788 nicht ausdrücklich erneuert wurde, nahm Bering seine Vorlesungen über Kantische Philosophie wieder auf, allerdings ohne im Vorlesungsverzeichnis Kants Namen zu nennen. Vgl. AA X 430 (Brief an Kant vom Februar 1786) sowie auch H VI 302 (Brief Hamanns an Jacobi vom 4. März 1786). Das geht aus einer Äußerung Breyers von 1789 hervor, in welcher er von seinem »nun siebenjährigen mühsamen Studium der neuern Philosophie« spricht (Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 5. Abteilung, S. 3).
82 Breyer Tendenzen zurück, »die Kantische Philosophie als eine zu weit getriebene, und wohl gar für die Religion gefährliche Grübeley zu verschreyen« (er führt in diesem Zusammenhang Mendelssohn an),308 und zeigt sich entschlossen, entsprechenden Vorurteilen und Missverständnissen entgegenzuwirken. Die zwei wichtigsten Argumente, die Breyer zu diesem Zweck anführt, lauten: 1.) Genauso, wie Kant der Vernunft die Möglichkeit nimmt, Beweisgründe für die Religion zu liefern, so schützt er sie auch vor allen rationalen Angriffen gegen sie.309 Dies ist das Argument, das Johann Schultz in seinen Erläuterungen hervorgehoben hatte, die Breyer lobend erwähnt und aus denen er ausführlich zitiert.310 2.) Den Verlust der spekulativen Gewissheit über die Existenz Gottes kompensiert die Kantische Philosophie dadurch, dass sie den Glauben in der praktischen Vernunft verankert.311 Breyer bezieht sich hier auf Kants Theorie vom »Ideal des höchsten Gutes«312 in der Kritik der reinen Vernunft, wonach das Prinzip der praktischen Vernunft, sich durch moralisches Verhalten als der Glückseligkeit würdig zu erweisen, letztlich notwendig mit der Annahme eines weisen obersten Weltregierers verbunden ist, der eine nach dem Ausmaß des moralischen Verhaltens proportionierte Austeilung der Glückseligkeit (in einem künftigen Leben) gewährleistet.313 Kant hatte seine Moraltheologie wie folgt resümiert: Und so hat am Ende doch immer nur reine Vernunft, aber nur in ihrem praktischen Gebrauche, das Verdienst, ein Erkenntnis, das die bloße Spekulation nur wähnen, aber nicht geltend machen kann, […] zwar nicht zu einem demonstrierten Dogma, aber doch zu einer schlechterdingsnotwendigen Voraussetzung bei ihren wesentlichsten Zwecken zu machen.314
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Vgl. ebd., 2. Abteilung, S. 3f. Vgl. ebd., S. 8–10 (Breyer bezieht sich auf die Kritik der reinen Vernunft, KrV A 742). Dasselbe Argument wird auch im Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie von 1786 für Kant ins Feld geführt; vgl. Anonym: Neuste Sensationen, S. 66. Ebenso wird in der Rezension zu Spaziers Antiphädon, die im Herbst 1786 in der Züricher Bibliothek der neusten theologischen, philosophischen, und schönen Litteratur erschien, die materialistische Vereinnahmung Kants als mit dessen Lehre unvereinbar zurückgewiesen: »Der V. kann wenn er den Kantischen Idealismus gelten läßt, eben so wenig für den Materialismus als für den Spiritualismus fechten« (Landau 437). Vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 4 Anm. 3, S. 11. Breyer beschließt seine Schrift mit der wörtlichen Wiedergabe der letzten Zeilen der Erläuterungen, wo Schultz die Religion für immun gegenüber den Einwürfen der Metaphysik erklärt (vgl. ebd., S. 19f.; Schultz: Erläuterungen, S. 253f.). Vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 4, 9f. Anm. 12, 14, 17. Bereits im ersten Teil der Abhandlung (1785) nimmt Breyer auf dieses Argument Bezug und zitiert dabei die einschlägige Stelle aus Garves Besprechung der Kritik, wo das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant problematisiert wird. Vgl. ebd., 1. Abteilung, S. 6, 19. Vgl. ebd., 2. Abteilung, S. 10 Anm. 12. Vgl. KrV A 804–819/B 832–847. KrV A 818/B 846.
83 Breyer formuliert im Titel seiner Schrift prägnanter: »Sieg der Praktischen Vernunft über die Spekulative«. Während Kants Kritik der spekulativen Theologie von Mendelssohn und anderen Aufklärungsphilosophen und -theologen als Bedrohung empfunden und bekämpft wurde, berief sich Mendelssohns Gegner im Pantheismusstreit, Jacobi, ausdrücklich auf sie zur Stärkung seiner glaubensphilosophischen Position. In seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza (1786) zieht Jacobi Kant als Stütze für sein Argument heran, die Existenz Gottes könne letztlich nie durch Vernunftgründe bewiesen werden, notwendig sei daher der ›Sprung‹ in den Glauben.315 Auch Thomas Wizenmann, der mit seinen Resultaten der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie (1786) im Pantheismusstreit für Jacobi Partei ergriff, führt Kant, den er als »der Deutschen Philosoph« tituliert, als Kronzeugen für die Sache eines vernunftskeptischen Fideismus ins Feld.316 Dass eine solche Interpretation der Kantischen Philosophie sich keineswegs nur als das versponnene Produkt gegenaufklärerischer Propaganda abtun lässt, beweist eine Äußerung Georg Forsters aus demselben Jahr, die Jacobis Rezeptionsperspektive bestätigt: »[I]rre ich nicht, so finde ich in Kant’s Schriften Spuren, daß er gar sehr auf die Jacobi’sche Seite hängt, zu glauben, wo man nicht beweisen kann.«317
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Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher/ Walter Jaeschke. Hamburg 1998ff. [im folgenden: JW]. Bd. 1/1, S. 320–322. Jacobi zitiert die Kritik der reinen Vernunft, KrV A 828–831. Vgl. auch seinen Brief an Goethe vom 13. Dezember 1785, in dem er Kant einen »Glaubens Helden« nennt und erklärt, er solle ihm im Kampf gegen die Berliner Aufklärer »treffliche Dienste leisten« (JB I/4 276). Vgl. Thomas Wizenmann: Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie. Neudr. d. Ausg. Leipzig 1786. Hildesheim 1984 (Texte zum literarischen Leben um 1800, Bd. 13), S. 30, 83, 172f. (Zitat S. 172). Wizenmann war seit August 1783 von Jacobi zur Kantlektüre angeregt worden. Zu seiner Rezeption der Kritik vgl. Alexander von der Goltz: Thomas Wizenmann, der Freund Friedrich Heinrich Jacobi’s, in Mittheilungen aus seinem Briefwechsel und handschriftlichen Nachlasse, wie nach Zeugnissen von Zeitgenossen. Ein Beitrag zur Geschichte des innern Glaubenskampfes christlicher Gemüther in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Gotha 1859. Bd. 1, S. 346–350; Bd. 2, S. 169. Zur allgemeinen Wirkung der Resultate vgl. ebd., Bd. 2, S. 158, 166f., 186f. Dass Wizenmanns philosophische Position keineswegs in allen Punkten mit Jacobi übereinstimmt, betonen Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 22), S. 263–265; Reiner Wild: Nachwort. In: Wizenmann, Resultate, S. 1*–29*, hier S. 6*–8*, 22*; Beiser: Fate of Reason, S. 109, 113. F XIV 549 (Brief an Soemmerring vom 10. September 1786). Vgl. auch das Urteil in den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen vom 25. Juni 1787, wo über Jacobis und Wizenmanns Stellungnahme gegen Mendelssohn und für die Notwendigkeit des Glaubens festgestellt wird: »Kant hatte schon vorher im Grunde den nehmlichen Angriff unternommen« (Landau 618).
84 Mussten Kants Anhänger also auf der einen Seite gegen den Verdacht ankämpfen, die Kantische Philosophie sei religionsfeindlich, so hatten sie auf der anderen Seite nun auch dafür Sorge zu tragen, dass Kant nicht zum Advokaten eines ›Sprungs in den Glauben‹ gemacht wurde. Denn die Glaubensphilosophie Jacobis kam nach allgemeinem Urteil der Schwärmerei gefährlich nahe,318 mit der die Anhänger Kants den Kritizismus auf keinen Fall in Verbindung gebracht sehen wollten.319 Die Befürchtungen, Kants Philosophie könnte dazu missbraucht werden, die Vernunft zu denunzieren, um desto ungehemmter einem neuen Mystizismus oder der religiösen Orthodoxie das Wort zu reden, waren nicht ganz grundlos. Frederick C. Beiser zieht Wizenmann als exemplarischen Fall heran für die Feststellung: »In the hands of the pietists an essentially Kantian-style epistemology becomes a powerful weapon in humbling the claims of reason and uplifting those of faith.«320 Als ein ebenso frühes, wenn auch weniger prominentes Beispiel für diese Tendenz lässt sich ergänzend ein Aufsatz anführen, den Johann Konrad Pfenninger, Pfarrer in Zürich und enger Freund Lavaters, 1786 in seinen 318
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Entsprechende Kritik wird in vielen Besprechungen zu Jacobis und Wizenmanns Schriften formuliert. Vgl. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 23. Februar 1786, Landau 284; Gothaische gelehrte Zeitungen, 22. April 1786, Landau 309; Neueste Critische Nachrichten, 15. Juli 1786, Landau 413. Vgl. Biesters Brief an Kant vom 11. Juni 1786 (AA X 455f.). Beiser: Fate of Reason, S. 112. Vg. zur erweckungstheologischen Kantrezeption auch Geiger: Aufklärung und Erweckung, S. 499, 597 Anm. 124. Die fideistische Auslegung vernunftkritischer Argumente folgt einem bekannten Muster. Pierre Bayle hatte in seinem berühmten Dictionnaire Historique et Critique über die pyrrhonische Skepsis erklärt, sie könne dazu dienen, »die Menschen durch die Empfindung ihrer Unwissenheit zu vermögen, die Hülfe von oben herab anzuflehen, und sich dem Ausspruche des Glaubens zu unterwerfen« (Herrn Peter Baylens […] Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt von Johann Christoph Gottsched. 4 Teile. Leipzig 1741–1744 [Repr. 1974–1978]. Teil 3, S. 745). David Hume verleiht einer solchen Haltung am Ende der postum veröffentlichten Dialogues Concerning Natural Religion (1779) ironischen Ausdruck: »Derjenige, der ein richtiges Gefühl von den Unvollkommenheiten der menschlichen Vernunft hat, wird mit desto größerer Begierde geoffenbarten Wahrheiten zueilen […]. Ein philosophischer Skeptiker seyn, ist bey einem Manne von Kenntnissen der erste und wesentlichste Schritt ein ächter und gläubiger Christ zu werden« (David Hume: Gespräche über natürliche Religion. Nach der zwoten Englischen Ausgabe [übersetzt von Carl Gottfried Schreiter]. Nebst einem Gespräch über den Atheismus von Ernst Platner. Leipzig 1781, S. 253). Zur Spannung von skeptizistischen und fideistischen Elementen in Bayles Dictionnaire und zu dessen disparater Aneigung in Deutschland vgl. Irene Dingel: Die Rezeption Pierre Bayles in Deutschland am Beispiel des Dictionnaire Historique et Critique. In: Interdisziplinarität und Internationalität. Wege und Formen der Rezeption der französischen und der britischen Aufklärung in Deutschland und Rußland im 18. Jahrhundert. Hg. von Heinz Duchhardt/Claus Scharf. Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 61), S. 51–63. Zur Hume-Rezeption der deutschen Glaubensphilosophen vgl. die Literaturangaben unten S. 130 Anm. 569.
85 Sokratischen Unterhaltungen über das Aelteste und Neuste aus der christlichen Welt anonym veröffentlichte. In dem Beitrag mit dem Titel Etwas zur Geschichte der demonstrativen Philosophie wird die durch Mendelssohn repräsentierte rationalistische Methode dafür kritisiert, dass sie Gott mit mathematischer Strenge zu beweisen beansprucht und dabei »unmittelbarere Belehrungsarten der Gottheit, über sie selbst, und über Heil und Pflicht« mit Verachtung straft.321 Befriedigt stellt Pfenninger fest, dass diese anmaßende Haltung nun durch Kants Vernunftkritik erschüttert worden sei; von der Wirkung dieses epochemachenden Werks verspricht er sich für die nächsten Jahre eine »unbefangenere Beurtheilung der Sache des Christenthums«.322 Angesichts der Versuche Jacobis und Wizenmanns, in ihrer Abrechnung mit der Vernunfttheologie Kant zum Gewährsmann eines strengen Antagonismus von Glaube und Vernunft zu machen, war es wieder einmal Christian Gottfried Schütz, der in der ALZ als kompetenter und engagierter Anwalt Kantischer Grundsätze hervortrat. Schon in seiner Rezension von Jacobis Über die Lehre des Spinoza vom Februar 1786 protestiert er gegen die Art und Weise, wie Kant zur Erläuterung Spinozas herangezogen wird (desjenigen Denkers, der für Jacobi das Musterbeispiel dafür abgibt, dass eine konsequente Vernunftphilosophie notwendigerweise zum Atheismus führt).323 Sowohl in dieser Besprechung als auch vor allem in der Doppelrezension zu Mendelssohns An die Freunde Lessings und Jacobis Wider Mendelssohns Beschuldigungen beharrt Schütz mit Kant auf einem Verständnis von ›Glauben‹, das diesen Begriff nicht von der Vernunft abkoppelt.324 Den Höhepunkt von Schütz’ Polemik gegen die Jacobische Philosophie bildet dann die Besprechung der anonymen Schrift Wizenmanns in der ALZ 321
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[Johann Konrad Pfenninger:] Etwas zur Geschichte der demonstrativen Philosophie. In: ders.: Sokratische Unterhaltungen über das Aelteste und Neuste aus der christlichen Welt. Ein Versuch. Leipzig 1786, S. 83–93, hier S. 85. Ebd., S. 88. In den Sokratischen Unterhaltungen finden sich weitere Artikel, die sich mit Kant beschäftigen und dabei vor allem auf dessen Moralphilosophie eingehen. Vgl. [Johann Konrad Pfenninger:] Vom guten Willen. In: ebd., S. 219–224; [ders.:] Warum die Lehren der Tugend so wenig ausrichten? In: ebd., S. 225–230. Pfenninger schätzte Kant schon lange vor dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft, wie aus einem Brief Lavaters an Kant vom 8. Februar 1774 hervorgeht (vgl. AA X 150). Die Tendenz, Kants Erkenntniskritik zur Verteidigung der positiven Religion heranzuziehen, charakterisiert auch eine frühe akademische Schrift Philipp Albert Stapfers (1766–1840) von 1786. Stapfer, zu diesem Zeitpunkt Student an der Berner Akademie, war ein Schüler Johannes Iths. Vgl. Bondeli: Kantianismus und Fichteanismus in Bern, S. 160–163. Vgl. JW I/1 96; Landau 274; sowie Schütz’ Brief an Kant vom Februar 1786 (AA X 430). Eine ausführlichere Erläuterung von Schütz’ Rezension (und Argumente für seine Autorschaft) bietet Schröpfer: Kants Weg, S. 226–228. Vgl. Landau 275, 374. Die Doppelrezension erschien in der ALZ vom 9. und 12. Mai 1786. Schröpfer nimmt sie in seine Analyse der Besprechungen, die Schütz für die ALZ schrieb, nicht mit auf. Ihr Autor offenbart sich jedoch explizit als derjenige, der schon am 11. Februar Jacobis Über die Lehre des Spinozas rezensiert hatte (vgl. Landau 372).
86 vom 26. Mai 1786.325 Erstens verwahrt sich Schütz in dieser Rezension gegen jede Tendenz, die Kantische Philosophie mit Spinozas Philosophie in Verbindung zu bringen, indem er darauf hinweist, dass Kant das System Spinozas wie jedes andere dogmatische System gänzlich widerlegt.326 Zweitens betont Schütz, die Aussagen Jacobis und des unbekannten Verfassers der Resultate zur Unmöglichkeit eines spekulativen Gottesbeweises und zur Bedeutung der Moral für die Erkenntnis Gottes wiederholten nur, was Kant viel deutlicher und präziser dargelegt habe.327 Und drittens insistiert er darauf, dass eine Erkenntnis Gottes, die nicht durch einen rationalen Beweis, sondern – wie bei Kant – ›nur‹ aus der Moral begründet werde, ebenfalls eine Form philosophischer Vernunfterkenntnis sei.328 Glaube oder Vernunft – bei der Grundsätzlichkeit der Positionen, um die in der zeitgenössischen philosophischen Debatte gestritten wurde, gewann nicht selten ein hysterischer Tonfall die Oberhand, wie er sich etwa in der These der Berliner Aufklärer (Biester, Gedike, Nicolai) von einer katholischen Weltverschwörung manifestierte, die die glaubensphilosophischen Schwärmereien der Zeit in ihrem Sinn fördere und lenke. Schütz signalisiert in diesem Punkt Nähe zu den Berlinern, ist jedoch erkennbar um eine Versachlichung des Tons bemüht.329 Kant selbst meldete sich in der Debatte zum ersten Mal in seinem kurzen Beitrag für Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden zu Wort. Er verwirft die Aussagen Mendelssohns wie Spinozas über das Dasein Gottes als gleichermaßen dogmatisch und versichert, allein die Vernunftkritik gewährleiste, dass der Glaube »in einer praktisch-wohlgegründeten, theoretisch aber unwiderleglichen Voraussetzung völlig gesichert seyn kann.«330 Im Oktober 1786 schließlich veröffentlichte Kant in der Berlinischen Monatsschrift mit dem Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? seine lange erwartete grundsätzliche Stellungnahme zum Pantheismusstreit.331 Gegen Jacobi und den Autor der Resultate betont Kant in diesem Artikel, dass es durchaus die Vernunft sei (nicht ein auf Offenbarung oder Tradition beruhender Glaube), die für die Frage nach der Existenz Gottes den obersten Prüfstein bilden müsse. Gegen Mendelssohn hebt er hervor, dass die Vernunft allerdings unvermögend sei, uns durch theoretische Schlüsse irgendein Wissen von Gott zu verschaffen. Kant zufolge wird unsere Überzeugung 325
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Vgl. die ausführlichere Paraphrase dieser Rezension bei Schröpfer: Kants Weg, S. 228–233, wo auf die Merkmale, die für Schütz als Autor sprechen, eingegangen wird. Vgl. Landau 384, 391–392. Vgl. Landau 383, 384, 387, 392 Vgl. Landau 387f., 390. Vgl. Landau 389f. Vgl. Jakob: Prüfung, S. LI (= WA III 287); vgl. auch ebd., S. 269f. Zu Kants Verhältnis zu den streitenden Parteien und deren Versuchen, ihn auf ihre Seite zu ziehen, vgl. die Darstellungen bei Vorländer: Immanuel Kant, S. 331–336; Altmann: Moses Mendelssohn, S. 705–707; Beiser: Fate of Reason, S. 113–115.
87 vom Dasein Gottes durch einen ›Vernunftglauben‹ begründet, d. h. in Kants Erklärung (die bereits in der Kritik der reinen Vernunft angedeutet worden war und die erst in der Kritik der praktischen Vernunft genauer ausgeführt wird): durch ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft.332 Kant sollte mit diesem Aufsatz nicht das letzte Wort in der Debatte behalten. Vier Monate später erschien im Deutschen Museum ein offener Brief Thomas Wizenmanns an den Königsberger Philosophen, in welchem er sich als Verfasser der Resultate zu erkennen gibt und Kants Theorie vom moralischen Überzeugungsgrund der Religion einer scharfsinnigen Kritik unterzieht.333 Nach dem Urteil Hermann Timms hat erst diese Widerlegung des einzigen Vernunftgrundes, den Kant für die Religion noch gelten ließ, ihn »zum wirklich alles Zermalmenden gemacht.«334 Wizenmann argumentiert, dass aus einem Bedürfnis der praktischen Vernunft, an Gott zu glauben, noch nicht das Fürwahrhalten der Existenz Gottes abzuleiten sei;335 statt von einem ›Vernunftglauben‹ könne Kant allenfalls von einem »Bedürfnißglauben«336 sprechen. Den Vorwurf der Schwärmerei, den Kant in seinem Orientierungs-Aufsatz gegenüber Jacobi und Wizenmann erhoben hatte,337 kann letzterer so an Kant zurückgeben.338 Eine Fortführung der Debatte wurde durch den frühen Tod des an Tuberkulose erkrankten Wizenmann verhindert. In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) versucht Kant jedoch seinen Einwänden Rechnung zu tragen.339 Was war die Haltung der Popularphilosophen im Pantheismusstreit, und wie beeinflusste er ihren Kampf gegen Kant? Aufschluss über diese Frage können die Rezensionen geben, die Johann Georg Heinrich Feder für die Göttinger gelehrten Anzeigen zu Mendelssohns, Jacobis und Wizenmanns Beiträgen verfasste. Aus ihnen geht hervor, dass der eigentliche Gegner für Feder weder Mendelssohn noch Jacobi hieß; Feders eigentlicher Gegner blieb Kant bzw. die anmaßende, apodiktische, von aller lebensweltlichen Erfahrung abgehobene Philosophie, die er in ihm verkörpert sah. Feder nutzt seine Besprechungen im Pantheismusstreit dazu, um für ein ›maßvolles‹ Philosophieren zu werben, das auf Naturbeobachtung, Analogieschlüssen 332
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Vgl. WA III 276f. Zu Kants Aufsatz vgl. auch die Analyse bei Beiser: Fate of Reason, S. 115–118. Vgl. Thomas Wizenmann: An den Herrn Professor Kant von dem Verfasser der Resultate Jakobischer und Mendelssohnscher Philosophie. In: Deutsches Museum, Februar 1787, S. 116–156; im folgenden zitiert nach Hausius II 103–144. Zum Inhalt des Textes vgl. auch Beiser: Fate of Reason, S. 118–121. Timm: Spinozarenaissance, S. 349. Vgl. Hausius II 127–130. Hausius II 129. Vgl. WA III 268, 278, 281. Vgl. Hausius II 124. Vgl. unten S. 150. Zur positiven Aufnahme von Wizenmanns Aufsatz, zum Beispiel bei Hamann und Garve, vgl. von der Goltz: Thomas Wizenmann, Bd. 2, S. 243–247.
88 und daraus gewonnenen vernünftigen Wahrscheinlichkeiten beruht und das sich nicht erdreistet, durch scholastische Spitzfindigkeiten selbst in den letzten Fragen mit apodiktischer Gewissheit entscheiden zu wollen. Aus diesem Blickwinkel heraus beurteilt er Jacobis Über die Lehre des Spinoza und Mendelssohns Morgenstunden zunächst gleichermaßen wohlwollend: Jacobi lobt er für die Einsicht in die Begrenztheit metaphysischer Demonstrationen, Mendelssohn für seine Idealismus-Kritik und die Betonung des gesunden Menschenverstandes.340 In seiner Besprechung von Wizenmanns Resultaten der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie ergreift Feder hingegen Partei für Mendelssohn und übt deutliche Kritik an der Glaubensphilosophie. Bei seiner Neupositionierung dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Wizenmann sich in seiner Schrift (wie zuvor schon Jacobi in Wider Mendelssohns Beschuldigungen) dezidiert auf Kantische Argumente berufen hatte. Feder sieht sich herausgefordert, Mendelssohns Prinzip des gemeinen Menschenverstandes gegen den von Wizenmann vorausgesetzten Maßstab ›reiner‹ apodiktischer Vernunfterkenntnis zu verteidigen. Vernunfterkenntnis, betont Feder, ist immer mit einem gewissen Anteil subjektiver Empfindung verbunden.341 Daraus eine generelle Unzulänglichkeit der Beweiskraft der Vernunft in Fragen der Religion, gar einen notwendigen Atheismus der Vernunft abzuleiten, um dann desto stärker die Bedeutung des Glaubens hervorheben zu können, hält er für eine argumentative Verirrung. Er versäumt es nicht, kritisch auf denjenigen Philosophen hinzuweisen, den er für mitverantwortlich an dieser Entwicklung hält: Feder erklärt, der »Einfall, durch atheistische, oder, wenn der Ausdruck zu hart seyn sollte, antithistische [sic] Philosophie der geoffenbarten Religion zu Hülfe zu kommen«, habe nicht zuletzt deshalb so viel Auftrieb erhalten, weil »einer unserer berühmtesten Philosophen sich entschlossen hat, die Fahne vorzutragen, oder doch Waffen herzugeben; welchem dann auch dankbarlichst Weihrauch gestreut, und der in gegenwärtiger Schrift schlechtweg der Teutschen Philosoph genannt wird.«342 Feder sieht in dem Bündnis von Glaubensphilosophie und Vernunftkritik eine fatale Mischung, die einem die Alternative aufzwingt, die Vernunft durch einen ›Sprung in den Glauben‹ zu verleugnen oder in Atheismus zu verfallen.343
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Die Rezensionen erschienen am 12. Dezember 1785 und am 14. Januar 1786; vgl. Landau 240–243 bzw. 262–265. Das Plädoyer für ein auf Analogieschlüssen und Wahrscheinlichkeiten beruhendes Philosophieren bestimmte auch Feders kurz zuvor erschienene Besprechung von Spaziers Antiphädon; vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 15. Oktober 1785, S. 1636f. Vgl. Landau 428. Die Besprechung erschien am 16. September 1786. Landau 429. Vgl. Landau 430.
89 Auch Ludwig Heinrich Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes war geeignet, den Verdacht zu erhärten, dass Kants Vernunftkritik die Einheit von Philosophie und Religion gefährde. Zwar richten sich Jakobs Angriffe in erster Linie und ausdrücklich gegen Moses Mendelssohn als Vertreter der (Leibniz-Wolffschen) »alten Schule«,344 für deren deduktiv-ontologische Gottesbeweise der herrschende popularphilosophische Zeitgeschmack genauso wenig übrig hatte wie Kant und seine Anhänger. In seiner vernunftkritischen Prüfung Mendelssohns fertigt Jakob jedoch auch diejenige Art des Gottesbeweises ab, die zum philosophischen Gemeingut der Epoche gehörte: die Beweisart a posteriori, bei der von der sinnlich-objektiven Realität der Welt und des eigenen Daseins ausgegangen wird, um auf Gott als deren notwendige Ursache oder Bedingung zu schließen, wie etwa beim kosmologischen Gottesbeweis.345 Eher als Jakobs Widerlegung des apriorischen (ontologischen) Gottesbeweises war es seine Kritik am aposteriorischen Gottesbeweis in der zehnten Vorlesung der Prüfung, an der sich der Protest der Rezensenten entzündete, die der Kantischen Philosophie in diesem Zusammenhang zum Teil skeptizistische Tendenzen vorwerfen.346 In der umfangreichen Rezension zu Jakobs Buch, die Hermann Andreas Pistorius für die Allgemeine deutsche Bibliothek verfasste,347 steht ebenfalls die Auseinandersetzung mit der zehnten Vorlesung im Mittelpunkt.348 Jakobs Vorwurf, der Mendelssohnsche Gottesbeweis a posteriori beruhe auf der unkritischen Voraussetzung, dass die Sinnenwelt und das eigene Ich objektiv existierende Dinge an sich seien, wird von Pistorius mit einer engagierten Polemik gegen Kants transzendentale Ästhetik beantwortet. Ausführlich legt er seine (zum Teil schon in früheren Rezensionen vorgebrachten) Einwände gegen die Auffassung von der rein subjektiven Natur von Raum und Zeit und gegen die Lehre von einem unerkennbaren Ding an sich dar. Konsequent beachtet, argumentiert Pistorius, würde diese Lehre den Menschen einem »ufer- und grundlosen Meere von Zweifeln« preisgeben.349 Darüber hinaus macht er ähnlich wie Garve und Klewiz gegen 344 345 346
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Jakob: Prüfung, S. I. Vgl. bes. JA III/2 77–103. Vgl. Jenaische gelehrte Zeitungen, 27. Oktober 1786, Landau 449; Erfurtische gelehrte Zeitung, 8. April 1787, Landau 558; Auserlesene Theologische Bibliothek 4 (1787), Landau 585–587; Neueste Critische Nachrichten, 35. Stück (1788), S. 275–277. Rundweg ablehnend fielen auch die Göttinger und Tübinger Rezensionen aus (vgl. Landau 497f., 607–610). Positiv besprochen wurde Jakobs Buch dagegen in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen, der ALZ, den Gothaischen gelehrten Zeitungen, den Philosophischen Annalen und den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen (vgl. Landau 419–426, 498–500, 501–505, 517–521, 618–621). Vgl. AdB 82/2 (1788), S. 427–470; im folgenden zitiert nach Hausius II 195–238 (wo allerdings ein falsches Veröffentlichungsdatum der Rezension angegeben wird). Vgl. Hausius II 196–220. Hausius II 212.
90 Ende seiner Besprechung deutlich, dass Kants Moraltheologie für den Verlust der spekulativen Theologie keinen überzeugenden Ersatz bieten könne.350
10. Formierung der popularphilosophischen Offensive gegen Kant (1786): Feder, Meiners, Tittel, Pistorius, Forster, Metzger Seit Kants scharfer Entgegnung auf die Göttinger Rezension hatten sich die Popularphilosophen mit einer direkten Antwort zurückgehalten. Dieses Schweigen erschien der philosophischen Öffentlichkeit inzwischen zunehmend wie ein Eingeständnis von Schwäche. Dass Kants Herausforderung an den Göttinger Rezensenten, die kritische Philosophie entweder zu widerlegen oder aber als wahr anzuerkennen,351 lange Zeit ohne Reaktion blieb, wurde im Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie von 1786 mit hämischen Worten kommentiert: »Die stolzen Göttinger stehen beschämt in den Augen von ganz Deutschland.«352 Im selben Jahr nun begann die überfällige Gegenoffensive. Die allgemeine Verschärfung der theologischen Debatte rund um den Pantheismusstreit mag dazu beigetragen haben, dass der Skeptizismusvorwurf dabei ins Zentrum der Argumentation gegen Kant rückte. Das wird zuerst im dritten Band von Feders philosophischem Hauptwerk Untersuchungen über den menschlichen Willen deutlich. Ohne Kants Namen zu nennen, beklagt Feder in der Vorrede zu diesem Band, dass selbst elementare, seit Jahrhunderten von vielen berühmten Denkern anerkannte Wahrheiten immer wieder von einzelnen Sophisten bestritten würden, wie zum Beispiel das Dasein Gottes oder der Zusammenhang von sittlichem Verhalten und Glückseligkeit.353 Direkter wird Kant dann in Paragraph 34 der Abhandlung angegriffen. Hier setzt sich Feder ausführlich mit der Frage nach dem obersten Prinzip der Morallehre auseinander, um am Ende zu dem Schluss zu gelangen, dass dieses Prinzip am ehesten in dem Streben nach Glückseligkeit zu finden
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Vgl. Hausius II 230–232. Vgl. auch: Neueste Critische Nachrichten, 35. Stück (1788), S. 276f. Leise Zweifel gegenüber Jakobs Erläuterung der Kantischen Moraltheologie werden auch in der (insgesamt positiven) Besprechung der Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen laut (vgl. Landau 620f.). Vgl. WA III 258f. Anonym: Neuste Sensationen, S. 64. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen. Dritter Theil. Lemgo 1786, S. VI–X. Zur Bekräftigung zitiert Feder eine aktuelle Publikation des englischen Rechtsphilosophen Manasseh Dawes, der sich gegen einen übertriebenen Skeptizismus, für Erfahrung als Grund aller Erkenntnis und für die Einheit von Tugend und Glückseligkeitstrieb ausspricht. Vgl. ebd., S. XV–XVIII.
91 sei.354 Die allgemeine Verbindlichkeit und Gesetzmäßigkeit moralischer Willensbestimmung erscheint Feder letztlich nicht anders begründbar als durch ihre Verknüpfung mit dem fundamentalen Interesse der Selbstliebe in jedem Menschen. Entsprechend deutlich verwahrt er sich gegen philosophische Theorien, in denen natürlicher Trieb und moralisches Handeln oder, wie Feder mit Kantischen Begriffen formuliert, »Neigung und Pflicht«355 einander entgegengesetzt werden; in einer Fußnote wird der Bezug zu Kant ausdrücklich hergestellt.356 Feder weist unmissverständlich auf die Gefahren hin, die der Moral und der Religion seiner Meinung nach von solchen Theorien drohen: Den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit zu bestreiten heißt, dem Menschen ein wesentliches Motiv für moralisches Wohlverhalten zu rauben und seinen Glauben an einen gerechten und gütigen Gott zu erschüttern.357 Und er kündigt eine theoretische Schrift an, mit der er der »ausschweifenden Zweifelsucht«358 entgegenwirken will; gemeint ist das im folgenden Jahr erschienene Buch Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie. In noch schärferer Form als Feder verurteilte dessen Göttinger Freund und Kollege Christoph Meiners (1747–1810) Kants Philosophie als skeptizistisch, und zwar in der Vorrede zum Grundriß der Seelen-Lehre (die von Feder im Manuskript gelesen und gebilligt worden war).359 Neben der Anmaßung Kants, die reine Vernunft auch außerhalb der Mathematik zum Maßstab der Erkenntnis zu erheben, kritisiert Meiners vor allem, dass der Königsberger Philosoph »von den ersten Wahrheiten der natürlichen Religion und der Sittenlehre als von bloßen Hypothesen spricht«.360 Eindringlich warnt er vor den gefährlichen Zweifeln und Verwirrungen, die Kants scholastische, wortverdrehende Philosophie bei der akademischen Jugend hervorrufe.361 Ein Vergleich Kants mit dem berühmten Skeptiker Hume fällt eindeutig zugunsten des letzteren aus: Habe dieser sich doch letztlich gegen 354
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Vgl. ebd., S. 210, 211. Kritik an Feders empirischer Morallehre aus Kantischer Perspektive war kurz zuvor in der ALZ anlässlich der (bei Landau nicht enthaltenen) Besprechung der zweiten Auflage von Feders weitverbreitetem Handbuch Grundlehren zur Kenntniß des menschlichen Willens (1785) geäußert worden. Vgl. Supplemente zur ALZ 1786, Nr. 6, Sp. 48. Zu Feders Moralphilosophie im Gegensatz zu Kant vgl. auch Röttgers: J.G.H. Feder. Feder: Untersuchungen, 3. Teil, S. 200. Vgl. ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 206f. Ebd., S. XI. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787 [Repr. 1968], S. XXIII. Christoph Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre. Lemgo 1786, S. XVII. Die Vorrede ist nicht paginiert, die Seitenangaben folgen meiner eigenen Zählung. Zu Meiners’ Protest gegen Kants Begriff der reinen Vernunft vgl. auch S. 176f. Zum Inhalt der Vorrede vgl. außerdem Marino: Praeceptores Germaniae, S. 173–175. Vgl. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XIV, XVI, XX, XXIX–XXXI.
92 einen bis zur äußersten Konsequenz getriebenen Skeptizismus ausgesprochen und eingestanden, dass alle skeptischen Grübeleien am Ende durch die Natur und den lebenspraktischen Alltag als leer und nutzlos bloßgestellt würden.362 Gegen Ende der Vorrede erklärt Meiners, es sei dann gerechtfertigt, Maßnahmen gegen eine Philosophie zu ergreifen, wenn sie die Lehren von Gott und der Unsterblichkeit der Seele in Frage stelle.363 Möglicherweise war es diese, stark nach Legitimierung obrigkeitlicher Sanktionen klingende Passage, die bei den Kantianern die Vermutung aufkommen ließ, das Marburger Verbot der Kantischen Philosophie habe seine Ursache in Göttingischer Propaganda.364 Dass Feder und Meiners in ihrem Kampf gegen die Kantische Philosophie jetzt so schwere Geschütze auffuhren, war nicht zuletzt auch ein Zeichen veränderter Kräfteverhältnisse zwischen den streitenden Parteien. Als Kant 1781 seine Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte, war er, in Beisers überspitzter Formulierung, ein »nearly forgotten professor in Königsberg«, der in Göttingen nicht viel galt.365 Feder und Meiners selbst berichten, dass sie die Kritik anfangs für ein völlig unzeitgemäßes Werk hielten, bei dem schon der scholastische Stil und die schwierige Sprache zu garantieren 362
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Vgl. ebd., S. XX–XXIX. Zu Humes Reserve gegenüber einem radikalen Skeptizismus vgl. Richard H. Popkin: David Hume. Sein Pyrrhonismus und seine Kritik des Pyrrhonismus [engl. 1951]. In: David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. von Jens Kulenkampff. Berlin 1997 (Klassiker auslegen, Bd. 8), S. 215–251; Heiner F. Klemme: Scepticism and Common Sense. In: The Cambridge Companion to the Scottish Enlightenment. Hg. von Alexander Broadie. Cambridge u. a. 2003, S. 117–135. Zur gemäßigt-skeptischen Haltung der Göttinger vgl. Manfred Kuehn: Skepticism: Philosophical Disease or Cure? In: The Skeptical Tradition around 1800. Skepticism in Philosophy, Science, and Society. Hg. von Johan van der Zande/Richard H. Popkin. Dordrecht u. a. 1998 (International Archive of the History of Ideas, Bd. 155), S. 81–100, hier S. 91–93. Vgl. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XXXIII. Entsprechende Spekulationen finden sich in Berings Brief an Kant vom 21. September 1786: »Aller angewandten Mühe ohngeachtet, habe ich die Quelle dieses Verbots noch nicht ausfindig machen können, ob ich gleich mit einiger Wahrscheinlichkeit sie in Göttingen vermuthe. Der Prof. Meiners soll nämlich in der Vorrede zu seiner Psychologie (selbst habe ich sie noch nicht gelesen) ebenfals nichts als Scepticißm in Ew. Wohlgeb. Critik gefunden zu haben behaupten und Feder wirklich im Begriff seyn gegen Ew. Wohlgeb. zu schreiben« (vgl. AA X 465f.). Einen Zusammenhang zwischen den Angriffen aus Göttingen und dem Marburger Verbot scheint auch Schütz in seinem Brief an Kant vom 23. März 1787 herzustellen (vgl. AA X 479f.). Beiser: Fate of Reason, S. 234. Johannes Voigt schildert in seiner Biographie des KantSchülers Kraus die Anekdote, Kraus habe während seines Göttingen-Aufenthalts 1779 einmal in einer Gesellschaft von Professoren, unter denen sich auch Feder befand, von Kants Arbeit an einem Werk (der Kritik der reinen Vernunft) berichtet, »welches den Philosophen gewiß noch einmal großen Angstschweiß kosten werde. Die Herren lachten darüber und meinten: von einem Dilettanten in der Philosophie sey so etwas wohl schwerlich zu erwarten!« (Johannes Voigt: Das Leben des Professor Christian Jacob Kraus […] aus den Mittheilungen seiner Freunde und seinen Briefen. Königsberg 1819 [Repr. 1970], S. 87).
93 schienen, dass es nie ein größeres Publikum finden würde.366 Inzwischen mussten sie einsehen, dass sie sich getäuscht hatten. Die Kritik der reinen Vernunft fand mittlerweile regen Absatz; bereits im Frühjahr 1786 war die erste Auflage offenbar vergriffen.367 Kants Reputation nahm langsam, aber stetig zu. Er hatte eine Reihe engagierter Anhänger an verschiedenen Universitäten gewonnen: Schütz und Schmid in Jena, Bering in Marburg, Born in Leipzig, Jakob in Halle. Zwei gelehrte Organe, die ALZ und Ewalds Gothaische gelehrte Zeitungen, hatten sich seiner Sache angenommen. Zwar blieb der Kreis derjenigen, die sich eingehend mit der Vernunftkritik beschäftigt hatten, weiterhin begrenzt. Noch Mitte des Jahres 1786 beklagt Ludwig Heinrich Jakob, dass die Kritik »immer nur noch zu wenig gelesen worden ist«, als dass er sie in seiner Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden als bekannt voraussetzen dürfte.368 Doch ist ebenso richtig, dass Kants Buch zunehmend den Ruf eines bedeutsamen und außergewöhnlich scharfsinnigen Werkes genoss. Schon 1785 konnte Johann Friedrich Breyer rhetorisch fragen: »Wer kennt nicht, wenigstens dem Namen nach, Kants Critik der reinen Vernunft […]?«369 Und die Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen behaupteten Anfang 1786: »Die großen Verdienste des Hr. K. sind bereits entschieden. Die gelehrte Welt kennet seine wohl durchgedachte Kritik der reinen Vernunft, darin er nichts gemeines geliefert hat.«370 366
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Vgl. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XVf.; Feder: Leben, S. 117f. Vgl. auch noch die Prognose in den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen vom 25. Juni 1787: »[W]ir sind versichert, daß die Weltleute […] die Kantischen Grundsätze eben sowohl als ein Gewebe von unnützen Grillen betrachten werden, als die bisherige Metaphysik« (Landau 621). Zur Kant-Kritik als Neuauflage der Kritik am scholastischen Stil vgl. Zimmerli: »Schwere Rüstung« des Dogmatismus und »anwendbare Eklektik«, S. 60f.; Klaus Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« und »Seichtigkeit«. Historisch-systematische Voraussetzungen der Auseinandersetzung zwischen Kant und Garve im Umfeld der Göttinger Rezension. In: Kant-Studien 85 (1994), S. 280–302, hier S. 289, 291f. Vgl. Kants Brief an Bering vom 7. April 1786 (AA X 441). Dass Kants Buch viel gekauft wurde, wird indirekt auch von Jakob in der Vorrede zu seiner Prüfung gesagt, wenn er mit Bezug auf die Kritik beklagt, dass »die Zahl derer, die sie verstehn, der Zahl der Käufer noch lange nicht gleich zu kommen« scheine (Jakob: Prüfung, S. III). Vgl. auch die Bestätigung des Rezensenten in Cäsars Philosophischen Annalen vom Frühjahr 1787: »[G]ekauft ist es [= Kants Buch] freylich genug worden« (Landau 518). AA X 458f. (Brief an Kant vom 17. Juli 1786). Vgl. auch AA X 436, 437 sowie die Vorrede in Jakob, Prüfung, S. XLIVf.: »[W]enn auch gleich neuerlich die allgemeine Litteraturzeitung sich das Verdienst erworben hat, das Kantische Verdienst mehr ans Licht zu bringen […], und obgleich dadurch die Aufmerksamkeit auf die Philosophie dieses Forschers allgemeiner geworden ist; so fehlt es doch nicht an solchen, die […] alles anwenden, das Kantische Verdienst zu verkleinern. Die mehresten Lehrer der Philosophie auf Universitäten erwähnen es in ihren Kollegien gar nicht […].« Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 1. Abteilung, S. 3. Johann Benjamin Erhard schreibt im Mai 1786 aus Nürnberg an Kant, er sei vor einem halben Jahr »durch den Ruff dazu erwekt« worden, die Kritik zu lesen (Brief an Kant vom 12. Mai 1786, AA X 447). Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 14. Februar 1786, Landau 276.
94 So muss auch Christoph Meiners in der Vorrede seines Grundrisses mit Bedauern die »Wendung« konstatieren, »welche der philosophische Geist unserer Nation in den letzten Jahren genommen hat«.371 Da sich Kants streng systematisches, erfahrungsabgewandtes Philosophieren nicht, wie von Feder und Meiners anfangs erwartet, von selbst erledigt hatte, sondern im Gegenteil immer mehr Interesse auf sich zog, schien es erforderlich, die Polemik gegen Kant zu verschärfen: inhaltlich zum Beispiel dadurch, dass man die gefährlichen Folgen der Vernunftkritik für Religion und Moral betonte; publikationsstrategisch aber auch schon dadurch, dass man den Kampf gegen Kants Philosophie nicht mehr nur nebenbei in Rezensionen, Artikeln und Vorreden führte, sondern ihr mit selbständigen Streitschriften entgegentrat, in denen man den Gegner auf breiterem Raum attackieren konnte. Den Anfang machte Gottlob August Tittels Buch Ueber Herrn Kant’s Moralreform (1786). Tittel (1739–1816), Philosophieprofessor in Karlsruhe und überzeugter Lockeaner, war bisher vor allem als Kommentator Feders in Erscheinung getreten.372 Sein neues Werk war eine Abrechnung mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.373 Eine Reihe klassischer Argumente gegen die Kantische Moralphilosophie wurde hier zum ersten Mal ausführlich vorgetragen. So zum Beispiel der Einwand, dass der (vermeintlich aus der reinen Vernunft abgeleitete) kategorische Imperativ sich immer schon auf einen Erfahrungsbegriff von dem, was gut oder nützlich ist, stützen muss, wenn er keine leere Formel sein soll.374 Oder die (später durch Schiller prominent vertretene) Kritik an der Härte eines reinen Vernunftgesetzes, das die sinnliche Natur des Menschen vernachlässigt.375 Die Rezensenten besprachen Tittels Buch allgemein mit Sympathie. Zuweilen werden zwar Zweifel laut, ob der Autor seinen Gegner immer richtig gefasst habe;376 insgesamt überwiegt aber wohlwollende Anerkennung gegenüber diesem 371 372
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Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XV. 1783 bis 1786 erschienen Tittels sechsbändige Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung. Johann Erich Biester, der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, bezeichnet Tittel in einem Brief an Kant vom 11. Juni 1786 als den »schwache[n] Schatten des schwachen F[eder]« (AA X 457). Zu Lebensdaten und Bibliographie vgl. die Angaben in Gottlob August Tittel: Etwas von meinem Leben und Schriften, statt Vorrede. In: ders.: Dreißig Aufsäze aus Litteratur Philosophie und Geschichte. Mannheim 1790, S. VII–XVI. Zum Inhalt der Schrift vgl. Schulz: Rehbergs Opposition, S. 98–100, 105f.; Beiser: Fate of Reason, S. 184f. Vgl. Gottlob August Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform. Frankfurt/Leipzig 1786, S. 32–36, 46, 53f., 67, 73, 79f. Auf die Leere des kategorischen Imperativs weist auch Feder hin: vgl. Feder: Untersuchungen, 3. Teil, S. 171 Anm. Vgl. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 9, 11–13, 42–44, 59. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 5. Juni 1786, Landau 403; Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 27. November 1786, Landau 473; AdB 86/1 (1789), S. 153; Gemeinnützige Betrachtungen 13 (1788), Beylage, S. 303.
95 Versuch, sich Kants resolutem Neubegründungsanspruch in der Moralphilosophie entgegenzustellen.377 Die anti-kantischen Aktivitäten der Popularphilosophen wurden von der Gegenseite aufmerksam verfolgt. Schütz berichtete Kant früh von Tittels Plan einer Widerlegung der kritischen Moralphilosophie.378 Nach dem Erscheinen des Buches bat Kant Schütz darum, es ihm zuzuschicken.379 Offenbar trug er sich eine Zeitlang mit dem Vorhaben, zu Feders und Tittels Angriffen eine Verteidigungsschrift zu verfassen.380 Letztlich beschränkte sich seine Antwort dann jedoch auf einige gegen Tittel gerichtete Bemerkungen in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft (1788).381 Schütz übernahm es, Tittels Buch in der ALZ auf eine Weise abzufertigen, die an Eindeutigkeit des Urteils nichts zu wünschen übrig ließ. Er wirft Tittel völligen Missverstand der Kantischen Moralphilosophie vor und charakterisiert sein Denken als oberflächlich: Tittels Schriften, erklärt Schütz, seien »für Leute, die nicht mehr in prima classe eines illustren Gymnasii sitzen, großen Theils eine schale, und ungenießbare Lectüre«.382 Nicht weniger entschieden fielen die Reaktionen der Kantianer gegen Meiners aus, dessen Angriff sie besonders empörte.383 Kant selbst beschränkte sich auf eine Spitze gegen Meiners’ Skeptizismusvorwurf am Ende seines Aufsatzes Was heißt: sich im Denken orientieren?, wo er betont, dass die Kritik ja gerade darauf ziele, »etwas Gewisses und Bestimmtes in Ansehung des Umfanges unserer Erkenntnis a priori festzusetzen«.384 Im Frühjahr 377
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Vgl. Jenaische gelehrte Zeitungen, 12. Mai 1786, Landau 378; Frankfurter gelehrte Anzeigen, 30. Mai 1786, Landau 398f.; Tübingische gelehrte Anzeigen, 5. Juni 1786, Landau 403; Erfurtische gelehrte Zeitung, 24. Juni 1786, Landau 405f.; Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 13. Juli 1786, Landau 407. Das geht aus einem Brief Hamanns an Jacobi vom 13. Mai 1786 hervor; vgl. H VI 389. Vgl. AA X 468f. (Brief von Schütz an Kant vom 3. November 1786). Jakob äußert sich abfällig über Tittels Schrift in seinem Brief an Kant vom 17. Juli 1786 (vgl. AA X 462). Vgl. AA X 457 (Brief Biesters an Kant vom 11. Juni 1786). Vgl. dazu unten S. 149, 151. ALZ, 31. Oktober 1786, Landau 461 (erster Teil der Doppelrezension zu Kants Grundlegung und Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform). Eine ausführlichere Analyse der Besprechung bietet Schröpfer: Kants Weg, S. 236–244, wo auch auf die Merkmale eingegangen wird, die für Schütz als Autor sprechen (vgl. ebd., S. 236f., 242f.). Zusammenfassend bezeichnet Schröpfer Schütz’ Besprechung als »Höhepunkt seines Wirkens als Rezensent der kritischen Schriften Kants« (ebd., S. 243). Angesichts der entrüsteten Reaktionen sah Feder sich im darauffolgenden Jahr veranlasst, seinen Freund und Kollegen Meiners öffentlich in Schutz zu nehmen für das, was er in der Vorrede gesagt hatte »und was, wie ich höre, einigen so übel aufgefallen seyn soll« (Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XXIII). Vgl. WA III 279. Dass Kant sich mit Meiners’ Ausfall beschäftigte, geht auch aus Hamanns Brief an Jacobi vom 4. Dezember 1786 hervor (vgl. H VII 82). Auf die gegen Meiners gerichtete Bemerkung in Kants Orientierungs-Aufsatz antwortete wiederum Pistorius in seiner späten Rezension zu Meiners’ Grundriß, indem er den Skeptizismusvorwurf gegen Kant bestätigt und erneuert (vgl. AdB 80/2 [1788], S. 469–471). Eine Verteidigung von Meiners’ Angriff gegen Kant findet sich auch im zweiten Band
96 1787 folgten dann gleich drei Zeitschriftenartikel, die Kant vor dem Skeptizismusvorwurf in Schutz nahmen und im Gegenzug die empirisch-eklektische Wahrscheinlichkeitsphilosophie des Göttingers einer aggressiven Grundsatzkritik unterzogen. Einer davon erschien in der ALZ. »Was mich mehr als alles andre bisherige Geschreibsel gegen die Kritik d. r. V. frappirt hat, ist der Angriff des Hn. Meiners in Göttingen in der Vorrede zu seiner Psychologie«, schreibt Schütz an Kant im November 1786 und bietet ihm im Gegenzug eine Rezension zu Meiners’ Grundriß der Geschichte der Weltweisheit (1786) an.385 Kant lehnte ab, drängte aber seinen Königsberger Schüler und Kollegen Christian Jacob Kraus (1753–1807) dazu, die Besprechung zu übernehmen. Auf Kants Fürsprache hin räumte Schütz dieser Rezension, entgegen den redaktionellen Gepflogenheiten, drei volle Nummern seiner Zeitschrift ein.386 Bei den anderen beiden Beiträgen handelte es sich um Jakobs anonymes Sendschreiben an Herrn Professor Meiners in Göttingen, über dessen Angriff gegen Kants System der Philosophie, das im Märzheft der Zeitschrift Neue Litteratur und Völkerkunde abgedruckt wurde,387 sowie um den Artikel eines ungenannten Gelehrten über Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre, den Karl Adolph Cäsar im ersten Band seiner Philosophischen Annalen veröffentlichte.388
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von Johann Peter Andreas Müllers Kritischen Beyträgen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit (vgl. Landau 665–673). AA X 469f. Ähnlich aufgebracht zeigt sich der ehemalige Kant-Schüler Friedrich Victor Leberecht Plessing in einem Brief an Kant vom 16. Januar 1787: »Ich hoffe, daß Ew Wohlgeb. den muthwilligen und in der That böses Herz verrathenden Anfall, den Meiners neulig auf Sie gewagt, nachdrüklich ahnden werden. Dieser Schriftsteller weiß seinen unbesonnenen Urtheilen gar keine Schranken mehr zu sezzen […]. Wie sehr ist dieser Mann noch dadurch bei mir gesunken, daß er Ihre Schriften als der Religion und Moral gefärlich darstellt« (AA X 474). Selbst der Kant-Gegner Georg Forster äußerte sich negativ über die Göttinger Kant-Kritik: »[D]er Polterer Meiners kann nichts mehr als seinen ungeheuern Collectaneensack voll Cruditäten ins Publicum ausleeren« (Brief an Jacobi vom 19. November 1788, F XV 208). Allerdings war dieses abfällige Urteil wohl mitmotiviert durch Forsters eigene Kontroverse mit Meiners auf anthropologischem Gebiet. Vgl. dazu Marino: Praeceptores Germaniae, S. 110–120. Vgl. AA X 479 (Schütz’ Brief an Kant vom 23. März 1787). Die Rezension erschien in der ALZ vom 5. bis zum 7. April 1787 (vgl. Landau 534–556). Bering lobt die Besprechung in einem Brief an Kant wegen ihrer Gründlichkeit und vermutet Kant als Verfasser (vgl. AA X 488). Zu den Umständen ihrer Entstehung und Veröffentlichung vgl. Stark: Kant und Kraus, S. 170–172. Meiners, der möglicherweise durch Hamann über die Identität des Rezensenten aufgeklärt wurde, drohte mit einer Antwort, die jedoch nie zustandekam (vgl. ebd., S. 172). Vgl. [Ludwig Heinrich Jakob:] Sendschreiben an Herrn Professor Meiners in Göttingen, über dessen Angriff gegen Kants System der Philosophie. In: Neue Litteratur und Völkerkunde 1 (1787), S. 221–242. Kant nahm von dieser Veröffentlichung vermutlich Notiz; vgl. Kraus’ Brief an Kant vom 13. Mai 1787 (AA X 484). Die Identität des Verfassers geht aus Reinholds Brief an Kant vom 1. März 1788 hervor (vgl. AA X 529). Jakob stritt allerdings öffentlich ab, Autor des Sendschreibens zu sein; vgl. seine Erklärung in den »Kurzen Nachrichten« in: Gothaische gelehrte Zeitungen, 24. September 1788, S. 632. Vgl. Landau 524–533.
97 Die Kampagne, die Feder, Meiners und Tittel auf moral- und religionsphilosophischer Ebene gegen Kant anstrengten, wurde ergänzt durch die Erneuerung und Forcierung empiristischer Grundsatzkritik an den erkenntnistheoretischen Prinzipien Kants. Hermann Andreas Pistorius, der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek, hatte schon in seiner Besprechung der Prolegomena vom Dezember 1784 Zweifel gegenüber Kants Auffassung der Zeit als subjektiver Anschauungsform laut werden lassen. Seinem Einwand zufolge würde die Entwertung der zeitlichen Folge innerer Vorstellungen, deren Einheit das Ich konstituiert, zu bloßem Schein letztlich dazu führen, dass »nichts als Schein da wäre, und kein reelles Object übrig bliebe, dem etwas erscheine.«389 Die Rezension zu Schultzes Erläuterungen, die im Mai 1786 in der AdB erschien, wird von Pistorius fast ausschließlich dazu genutzt, die Diskussion dieses Problems zu vertiefen.390 Der Autor legt ausführlich dar, warum Raum und Zeit seiner Ansicht nach nicht bloß subjektiven Status haben können, sondern »auch als in der Natur der Dinge an sich selbst […] gegründet betrachtet werden müssen«.391 Letzteres sei unabdingbar, um subjektive Sinnenwelt und objektive intelligible Welt in eine »wirkliche und wahre Verbindung« zu bringen.392 Kants System führe hingegen letztlich dazu, dass die objektive Verstandeswelt für uns »so gut als vernichtet« wäre.393 Wenn Pistorius auch direkte Vergleiche vermeidet, so steht doch im Hintergrund seiner Ausführungen der unausgesprochene Vorwurf, dass Kants transzendentaler Idealismus um nichts besser sei als der traditionelle Idealismus Berkeleys.394 Die empiristische Grundsatzkritik an Kant wurde im gleichen Jahr fortgesetzt durch den Naturforscher und Weltreisenden Georg Forster (1754–1794). Forster hatte in der Berlinischen Monatsschrift Kants Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse und seinen Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte gelesen. Was ihn zu einer Entgegnung provozierte, war die Art, wie der Königsberger Philosoph mit spekulativ gewonnenen Ordnungsbegriffen auf das Feld der Naturkunde übergriff und sich dort Urteile anmaßte, die nach Forsters Ansicht durch das empirische Material nicht gedeckt waren. An seinen Freund Samuel Thomas Soemmerring schreibt Forster am 8. Juni 1786: »Es wäre doch gut, wenn überall der Schuster bei seinem Leisten bliebe! Kant ist ein vortrefflicher Kopf, und doch kommt der verzweifelte Paroxismus, der den Philosophen von Profession eigen ist, auch über ihn, die Natur nach ihren logischen Distinktio389 390
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Landau 101; vgl. Landau 92. Vgl. Landau 326–352. Zum Inhalt der Rezension vgl. Bonelli Munegato: Johann Schultz, S. 119–139; Beiser: Fate of Reason, S. 189; Sassen: Introduction, S. 14–16. Landau 332. Landau 344; vgl. auch Landau 349, 351. Landau 346, 349. Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 189.
98 nen modeln zu wollen. Der Plunder ist doch wahrlich mehr schädlich als nützlich.«395 In seinem Aufsatz Noch etwas über die Menschenraßen, der im Oktoberund Novemberheft des Teutschen Merkur veröffentlicht wurde, übt Forster detaillierte Kritik an Kants schematischer Einteilung der Menschen in vier Hauptrassen, deren Herausbildung aus dem gemeinsamen Stamm der Menschheit durch ursprünglich angelegte Keime präformiert gewesen sei. Forster betont dagegen im Kontext der physischen Anthropologie eines Soemmerring oder E.A.W. Zimmermann die im Zusammenspiel mit äußeren Faktoren sich ergebende empirische Vielfalt und Variationsbreite von Rassemerkmalen, die starre Einteilungen und monogenetische Entwicklungstheorien nach dem Muster Kants als voreilig erscheinen ließen. Im Zentrum von Forsters Kritik an Kant steht die grundsätzliche methodische Forderung, dass sich jede philosophische Begriffsbildung auf Erfahrung stützen muss, dass der Formulierung von Hypothesen stets die sorgfältige Berücksichtigung der empirischen Fakten vorauszugehen habe.396 Herder selbst war es, der sich dafür einsetzte, dass Forsters Aufsatz, nachdem er im Oktober 1786 in Weimar eingetroffen war, schnell gedruckt wurde. Forster hatte ihm seine Arbeit frühzeitig im Manuskript mitgeteilt und eine warmherzige Antwort erhalten.397 Beide Autoren sahen sich in der 395
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F XIV 486. Vgl. auch Forsters Brief an Pieter Camper vom 7. Mai 1787 (F XIV 681), wo er Kant als einen Metaphysiker bezeichnet »qui ayant cru que sa métaphysique étoit bonne à toutes choses, avoit voulu nous prescrire des règles pour déterminer les variétés dans l’espèce humaine, règles, que la nature ne reconnoit point.« Vgl. F VIII 130–156, bes. 132f. Zur Auseinandersetzung zwischen Forster und Kant vgl. den Überblick bei Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 23), S. 108–116 (Kap. 3.2: »Die Kant-Forster-Kontroverse im Spiegel der Forschung«). Wichtige Differenzierungen zu Forsters empirisch-sensualistischem Ansatz, der keinem naiven Positivismus verfällt, sondern durchaus die Bedeutung des beobachtenden Subjekts für die Produktion von Erkenntnis in Rechnung stellt, leisten Manuela Ribeiro Sanches: »Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne«. Das wahrnehmende Subjekt und die Konstituierung von Wahrheit bei Forster. In: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel, 1. bis 4. April 1993. Hg. von Claus-Volker Klenke. Berlin 1994, S. 133–146, bes. S. 138–141; sowie Jörn Garber: Statt einer Einleitung: »Sphinx« Forster. In: Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Hg. von Jörn Garber. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 12), S. 1–19, bes. S. 7–11. Vgl. Forsters Briefe an Bertuch und Herder vom 21. Juli 1786 (F XIV 510–512). Herders Antwortbrief ist nicht erhalten; seine positive Reaktion geht aus Forsters Briefen an Heyne und Soemmerring vom 20. November 1786 und an Herder vom 21. Januar 1787 hervor (vgl. F XIV 587, 590, 620). Forster und Herder hatten sich bei einem Besuch Forsters in Weimar im September 1785 kennengelernt und fühlten sich seitdem außer durch ähnlich gelagerte wissenschaftliche Interessen auch durch persönliche Sympathie einander verbunden. Vgl. Forsters Brief an Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer vom 14. September 1785 (F XIV 362) sowie Haym: Herder, Bd. 2, S. 455.
99 Auseinandersetzung mit Kant als Verbündete, die gegenüber den Abstraktionen des Kritizismus die Sache der Erfahrung vertraten. In einem Brief vom 21. Januar 1787 versichert Forster den Weimarer seiner Solidarität in bezug auf Kants Angriffe: »Ich habe wohl gemerkt, daß der Archisophist und Archischolastiker unserer Zeit, wie Sie ihn treffend nennen, in der ›Allgemeinen Litteraturzeitung‹ Ihre ›Ideen‹ schief und mit seinen gewöhnlichen Wortsubtilitäten recensirt hat […].«398 Forster schätzte Herders Ideen sehr. In einem Brief an Soemmerring vom 19. Mai 1785 bezeichnet er den ersten Teil als »unstreitig ein herrliches Buch«.399 Zwar moniert er die Tendenz Herders, bei bestimmten Fragen in Spekulationen abzudriften, im großen und ganzen jedoch sieht er ihn auf der von ihm favorisierten Linie einer Philosophie, die sich an empirische Fakten hält: »Er geht aber, wie mich dünkt, auf dem rechten Wege der Erfahrung, und zwar der physischen, das ist, der für uns einzig möglichen.«400 In Noch etwas über die Menschenraßen zitiert Forster die Ideen als positives Beispiel für einen philosophischen Ansatz, der, statt wie Kant die empirischen Phänomene nach vorgefertigten Begriffen einer starren Klassifikation zu unterwerfen, den Gedanken betont, dass in der Natur alles mit allem durch analogische Bildung zusammenhängt und es überall nur graduelle Unterschiede gibt.401 Kurze Zeit später legte Forster in seiner Kant-Kritik noch einmal nach. Im Sommer 1787 erschien der erste Teil seiner Übersetzung des Berichts von Cooks dritter Reise. Eingeleitet wurde der Band durch den Aufsatz Cook der Entdecker, einer allgemeinen Würdigung der Lebensleistung des englischen Seefahrers, die mit philosophischen Betrachtungen angereichert ist. Forster mokiert sich darin unter anderem über besserwisserische Philosophen, die sich in ihren Hypothesebildungen über die Beobachtungen des reisenden Entdeckers erhaben dünken402 – offenbar ein Seitenhieb gegen Kant: »Du wirst es wohl merken, wie ich in meiner Abhandlung von Cook gegen ihn hauptsächlich zu Felde ging«, schreibt Forster an Meyer im April 1787.403 Der Name des Königsberger Philosophen wird in dem Aufsatz allerdings an keiner Stelle genannt. Forster war übrigens nicht der einzige Naturforscher, der sich durch Kants Rassentheorie zum Widerspruch herausgefordert sah. Um die Herausgeber des Teutschen Merkur beim Abdruck seines Artikels zur Eile anzu-
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F XIV 621. F XIV 326; vgl. auch schon die Briefe an Therese Heyne vom 25. Juli 1784 und an Jacobi vom 17. Dezember 1784 (F XIV 140, 250). F XIV 293 (Brief an Soemmerring vom 5. März 1785). Vgl. F VIII 141f. Zu Forsters Rezeption von Herders Ideen vgl. Ludwig Uhlig: Georg Forster und Herder. In: Euphorion 84 (1990), S. 339–366, hier S. 345–348. Vgl. F V 234f. F XIV 663 (Brief an Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer vom 2. April 1787). Vgl. dazu auch den Kommentar, F V 735.
100 spornen, verweist er im Brief an Bertuch vom 21. Juli 1786 auf eine bereits vorliegende Reaktion zu Kants Menschenrassen-Aufsatz von »Hrn. Metzger«.404 Die Bemerkung bezieht sich auf einen Kollegen Kants an der Albertina, den Königsberger Medizinprofessor Johann Daniel Metzger (1739–1805). Auch Metzger hatte an der selbstbewussten Art Anstoß genommen, in der Kant mit seinen philosophischen Hypothesen auf das Feld der Physiologie übergriff. Seinem Unmut machte er in zwei kurzen Artikeln Luft, die 1786 und 1788 in medizinischen Fachzeitschriften erschienen.405 Ähnlich wie Forster macht Metzger gegen Kant geltend, dass es innerhalb des menschlichen Geschlechts keine streng unterscheidbaren Rassen, sondern unzählige Varietäten gebe, deren Abweichungen auf die zufällige Wirkung von Umwelteinflüssen zurückzuführen seien. Und auch Metzger beruft sich in seiner Argumentation immer wieder auf »des berühmten Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«.406 Die Kritik an Kants Rassentheorie wird durch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einem erkenntnistheoretischen Apriorismus flankiert: In einer anonym veröffentlichten Schrift von 1787 zeigt Metzger sich darum bemüht, Kants Rede von den reinen Anschauungsformen im empiristischen Sinne umzudeuten und Raum und Zeit als aus der Erfahrung abgeleitete Begriffe zu beschreiben – alles andere sei »unverständlich und paradox«.407 404 405
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F XIV 510. Vgl. Johann Daniel Metzger: Ueber die sogenannten Menschenracen. In: Medicinischer Briefwechsel 2 (1786), S. 41–47; ders.: Noch ein Wort über Menschenracen. In: Neues Magazin für Aerzte 10 (1788), S. 508–512. Ebd., S. 509. Metzgers Diskussionsbeitrag ist in der Forschung bisher fast völlig unbeachtet geblieben, obwohl außer Forster auch Hamann auf ihn verweist. Am 31. Juli 1786 schreibt er an Kraus: »Ich las denselben Abend einen zu Halle herauskommenden medicinischen Briefwechsel, in deßen 2. Stück unser Hofrath Metzger […] eine etwas hämische Recension der Abhandl. über die Racen des menschl. Geschlechts geliefert« (H VI 501; dass der Aufsatz in Königsberg offenbar für große Empörung sorgte, geht auch aus Metzgers zweitem Beitrag von 1788 hervor, in welchem er sich für seine Ausfälle rechtfertigt). Forsters Hinweis auf Metzger im oben genannten Brief an Bertuch bleibt in der Forster-Akademie-Ausgabe unkommentiert. In der Forschung zum spannungsvollen Verhältnis zwischen Metzger und Kant hat die Menschenrassen-Kontroverse bisher noch keine Berücksichtigung gefunden. Vgl. Egbert Braatz: Johann Daniel Metzger in Königsberg. In: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte 82 (1910), 2. Teil, 2. Hälfte, S. 93–98; Karl Vorländer: Die ältesten Kant-Biographien. Eine kritische Studie. Berlin 1918 (Kant-Studien, Ergänzungshefte, Bd. 41), S. 33–36; Heinrich Kolbow: Johann Daniel Metzger. Arzt und Lehrer an der Albertus-Universität zur Zeit Kants. In: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 10 (1960), S. 91–96; Gideon Stiening: Immanuel Kant i historia Fakultetu Medycyny w Królewcu [Immanuel Kant und die Geschichte der medizinischen Fakultät in Königsberg]. In: Komunikaty Mazursko-Warmi´nskie 207 (1995), S. 53–64; Werner Euler/Gideon Stiening: »… und nie der Pluralität widersprach«? Zur Bedeutung von Immanuel Kants Amtsgeschäften. In: Kant-Studien 86 (1995), S. 54–69, hier S. 59–63. Vgl. [Johann Daniel Metzger:] Skizze einer medizinischen Psychologie. O.O. 1787, §§ 54f., 84–88. Zu Metzgers Autorschaft vgl. Gernot Huppmann/Clara-Elisabeth
101 Metzgers Aufsatz von 1786 liefert einen weiteren Beleg für das Ansehen, das Kant mittlerweile (und sicher nicht nur in Königsberg) genoss. »Ich fand für nöthig«, erklärt Metzger am Ende seines Artikels, »diese wenige Anmerkungen aufzuzeichnen, weil Kants Name manchen Leser [sic], als Beweis für die Unfehlbarkeit seiner Lehre, gelten könnte.«408 Vor dem Hintergrund des zunehmenden Renommees des Königsberger Philosophen markiert die im Verlauf des Jahres 1786 sich formierende Offensive eine neue Phase der Auseinandersetzung. Kants Philosophie war inzwischen so stark, dass die Repräsentanten des herrschenden philosophischen Zeitgeschmacks sich veranlasst sahen, ihr mit aller Konsequenz entgegenzutreten. Dass ihren Bemühungen, die kritische Philosophie zu einer unfruchtbaren sophistischen Verirrung abzustempeln, der allgemeine Erfolg versagt blieb, dazu trug ganz wesentlich eine Folge von Artikeln bei, die gerade jetzt zu erscheinen begann und bereits in Kraus’ Meiners-Rezension respektvoll erwähnt wird:409 Karl Leonhard Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie.
11. Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie (1786–87) In der Auseinandersetzung zwischen Herder und Kant hatte Reinhold sich zu Beginn des Jahres 1785 noch ganz auf die Seite Herders gestellt und ihn im Teutschen Merkur vehement gegen Kants negative Besprechung der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit verteidigt. Seitdem hatte Reinhold begonnen, sich eingehender mit der kritischen Philosophie zu beschäftigen. Dazu veranlasst wurde er durch Schütz’ Artikelserie in der ALZ vom Juli 1785, in der die Grundideen der Kritik der reinen Vernunft anlässlich der Besprechung von Schultzes Erläuterungen ausführlich vorgestellt wurden. Reinholds eigenes Studium der Kritik setzte im Herbst 1785 ein.410 Über die Intensität seiner Kantrezeption in dieser Phase berichtet er später rückblickend: »Ich habe, als ich die Critik der reinen Vernunft studirte, über ein ganzes Jahr kein anderes Buch, und dieses viermal […] gele-
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Burgmüller: Johann Daniel Metzger (1739–1805): ein früher Medizinischer Psychologe. In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 5 (1999), S. 79–97, hier S. 82. Zu Metzgers Kant-Interpretation bemerkt der Rezensent der ALZ: »Den Kantschen Satz, daß Raum und Zeit reine Anschauungen der Sinnlichkeit und derselben Formen sind, scheint der Verf. […] nicht ganz genau gefaßt zu haben« (ALZ, 21. November 1787, Sp. 479). Metzger: Ueber die sogenannten Menschenracen, S. 47. Vgl. Landau 552. Vgl. Reinhold: Reinhold’s Leben, S. 39. Über Reinholds philosophische Entwicklung vgl. Angelo Pupi: La formazione della filosofia di K.L. Reinhold 1784–1794. Milano 1966.
102 sen.«411 Im Verlauf dieser Lektüre wandelte Reinhold sich zu einem begeisterten Anhänger der neuen Philosophie. Sichtbarer Ausdruck dafür waren seine acht Briefe über die Kantische Philosophie, die anonym zwischen August 1786 und September 1787 im Teutschen Merkur (TM) veröffentlicht wurden. Über die Motive, die ihn zum Verfassen der Abhandlung bewegten, gibt ein Brief von Anfang November 1786 Auskunft. Darin erklärt Reinhold, dass er nach mehrmaliger Lektüre der Kritik zur »innigsten Überzeugung von der Realität und dem ungemeinen Nutzen« der Kantischen Philosophie gelangt sei und es als seine Berufung empfunden habe, möglichst vielen Leuten die Gründe dieser Überzeugung darzulegen, um dadurch »der Kritik der Vernunft mehrere Leser zu verschaffen und vorzubereiten; und so viel ich konnte, dem schlimmen Eindrucke entgegenzuarbeiten, den ich bey vielen, als eine nothwendige Folge der öffentlichen ungünstigen Urtheile so vieler wichtiger Männer vermuthen konnte.«412 Die ›wichtigen Männer‹, die nach Reinholds Auffassung mit ihrer reservierten Haltung gegenüber der Kantischen Philosophie deren breitere Rezeption bisher verhindert haben, werden namentlich aufgezählt: Reinhold nennt Feder, Meiners, Eberhard, Garve, Selle, Tiedemann, Platner und Ulrich.413 Um mit seinen Artikeln ein möglichst großes Publikum zu erreichen, verzichtet Reinhold darauf, das Kantische System von Grund auf, im strengen Nachvollzug seiner erkenntnisphilosophischen Prämissen, zu erklären. Stattdessen bemüht er sich darum, wichtige Ergebnisse der neuen Philosophie hervorzuheben und als Antwort auf die geistigen Bedürfnisse der Zeit darzustellen.414 Im Mittelpunkt seiner Beschäftigung mit Kant stehen die Konsequenzen der kritischen Philosophie für die Religion. Sie waren es, die zuerst Reinholds Interesse an der neuen Philosophie weckten, wie aus seinem ersten Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 hervorgeht:
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Aus F.H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Hg. von Rudolf Zoeppritz. Bd. 2. Leipzig 1869, S. 95 (Brief Reinholds an Jacobi vom 29. August 1812). An anderer Stelle ist sogar von einer fünfmaligen Lektüre die Rede (vgl. Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften. Hg. von Martin Bondeli. Bd. 2/1: Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Band [1790]. Basel 2007, S. 71). Vgl. auch den autobiographischen Bericht in ders.: Versuch einer neuen Theorie, S. 54f. KA I 153 (Brief an Christian Gottlob Voigt von Anfang November 1786). Vgl. KA I 148–151. Vgl. KA I 153; Karl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Brief. In: TM, August 1786, S. 99–127, hier S. 124; ders.: Vierter Brief. In: TM, Februar 1787, S. 117–142, hier S. 117–118 Anm.; ders.: Versuch einer neuen Theorie, S. 57. Die jüngst von Martin Bondeli besorgte Ausgabe der Briefe (vgl. oben Anm. 411) wählt die Buchfassung von 1790 als Textgrundlage, welche gegenüber der Fassung im Teutschen Merkur erhebliche Differenzen aufweist. Ich zitiere daher die MerkurFassung.
103 Der von Ihnen entwickelte moralische Erkenntnißgrund der Grundwahrheiten der Religion, das einzige Morceau das mir aus dem ganzen in der Litteraturzeitung gelieferten Auszuge Ihres Werkes verständlich war, hat mich zuerst zum Studium der Kritik d. r. V. eingeladen. Ich ahndete, suchte und fand in derselben das kaum mehr für möglich gehaltene Mittel, der unseeligen Alternative zwischen Aberglauben und Unglauben überhoben zu sein.415
Der ehemalige Jesuitenschüler und in Weimar zum Protestantismus konvertierte Reinhold sah in Kants Moraltheologie die Lösung für ein Problem, das ihn seit langem existentiell beschäftigte: ob und wie ›Kopf‹ und ›Herz‹, philosophische Demonstration und Glaube zu vereinbaren seien.416 Dieses Problem im Zusammenhang mit der kritischen Philosophie zu thematisieren, war nichts Neues; neu ist die Konsequenz, mit der es jetzt ins Zentrum einer Abhandlung über Kant rückt und deren gesamte Argumentationsstruktur bestimmt. Reinhold stellt die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Religion als die Wurzel aller gelehrten Grundsatzdebatten der Zeit (wie zuletzt des Pantheismusstreits)417 dar, welche nun sämtlich durch Kants Vernunftkritik einem definitiven Ende zugeführt worden seien. Indem Kant durch die genaue Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens alle herkömmlichen Beweise der spekulativen Vernunft über das Dasein Gottes und über die Unsterblichkeit der Seele als nichtig erwiesen habe, indem er stattdessen die Grundwahrheiten der Religion auf die Postulate der praktischen Vernunft zurückgeführt habe, habe er die Hauptquelle philosophischer Streitigkeiten abgeschnitten und die Voraussetzungen dafür geschaffen, Vernunft und Moral mit dem Glauben,
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AA X 498. Schütz hatte seine Artikelserie über die Kritik der reinen Vernunft in der ALZ mit einer Würdigung von Kants Moraltheologie beschlossen. Vgl. Landau 178–180 sowie dazu Schröpfer: Kants Weg, S. 263; Norbert Hinske: Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens. Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus. Erlangen/Jena 1995 (Jenaer philosophische Vorträge und Studien, Bd. 14), S. 19–22. Nach Hinskes Auffassung lag schon für Schütz die »Quintessenz« der Kantischen Philosophie in der Neubegründung der Religion durch die praktische Vernunft (ebd., S. 22). Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie, S. 52–56, sowie dazu Martin Bondeli: Einleitung. In: Reinhold: Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, S. VII–LXVI, hier S. XXVf. Zur Kontinuität der religiösen Problematik bei Reinhold bis zu den Briefen vgl. Klemmt: Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, S. 15–21. Zu ihrer biographischen Motivierung vgl. Reinholds oben zitierten Brief an Kant sowie Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 149; Sauer: Österreichische Philosophie, S. 59. Auf den Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi bezieht Reinhold sich explizit an verschiedenen Stellen der Briefe. Die Bedeutung dieses Kontexts wird hervorgehoben bei Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 154 Anm. 2; Timm: Spinozarenaissance, S. 404; Sauer: Österreichische Philosophie, S. 80; Beiser: Fate of Reason, S. 233–235; Fuchs: Karl Leonhard Reinhold, S. 64, 67–69; Karl Ameriks: Kant and the Historical Turn. Philosophy as Critical Interpretation. Oxford 2006, S. 169–174; Bondeli: Einleitung, S. XXVII–XXXI.
104 die Philosophie mit dem gemeinen Menschenverstand endgültig auszusöhnen.418 Wie deutlich Reinhold sich mit den Briefen von Herders sinnen- und erfahrungsorientierter Philosophie entfernte, die er zwei Jahre zuvor noch so entschieden gegen Kant verteidigt hatte, zeigt besonders der Blick auf das Ende des sechsten Briefes. Hatte Reinhold im Schreiben des Pfarrers zu *** noch gegen den metaphysischen Abstraktionsgeist polemisiert und an Herders Ideen lobend hervorgehoben, dass sie sich darum bemühten, die »ungeheure Kluft«419 zwischen Metaphysik und Geschichte, zwischen Spekulation und Erfahrung auszufüllen, so äußert er sich nun abschätzig über den »sonderbaren und merkwürdigen Krieg, den Männer von lebhafter Imagination und nicht gemeinem Scharfsinne der spekulativen Philosophie, oder eigentlicher, der reinen Vernunft, ohne sie zu kennen, angekündiget haben. Der leere Vernunftbegrif empört sie. Sie wollen Sachkenntnisse, sie wollen anschauende Begriffe, entweder an historischen, oder gar an physikalischen Thatsachen.«420 Diese Haltung, so Reinhold, führe zur unkritischen Verwischung philosophischer Kategorien und Begriffe und bedeute damit letztlich den Ruin der Metaphysik. Reinholds in flüssigem Stil formulierte Artikel brachten den Teutschen Merkur vorübergehend wieder an die Spitze der intellektuellen Diskussion in Deutschland421 und verschafften dem Kantianismus endgültige Breitenwirkung.422 Selbst ein Gegner der kritischen Philosophie wie Christian Garve konnte ihnen seine Anerkennung nicht versagen: »Wielands Mercur nimmt sich wieder sehr auf. Die Briefe über Kant sollen von seinem Schwiegersohn seyn. Kennen Sie den Mann noch sonst? Sie sind voll Scharfsinns, und besser geschrieben, als Kants eigne Sachen. Wenn jemand diesem Sys-
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Einen detaillierten Überblick über den Inhalt der Briefe bietet Fuchs: Karl Leonhard Reinhold, S. 70–90. Zu Reinholds historisierend-kulturmorphologischem Rezeptionsansatz im Umgang mit der Kantischen Philosophie vgl. Thomas Bach: Karl Leonhard Reinhold (1757–1823). Philosophie und Kulturmorphologie im Teutschen Merkur. In: Der Teutsche Merkur – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Hg. von Andrea Heinz. Heidelberg 2003, S. 254–275, bes. S. 270–275. Noch weiter geht Karl Ameriks, der in Reinholds Kantrezeption den Ausgangspunkt einer ›historischen Wende‹ in der Philosophie erkennt. Vgl. Ameriks: Kant and the Historical Turn, S. 9, 23, 175, 185–206. Zum Zusammenhang mit der geschichtsphilosophischen Diskussion innerhalb des Illuminatenordens (in dem Reinhold Mitglied war) vgl. Bondeli: Einleitung, S. XXXV– XXXVII. Landau 125. Reinhold: Sechster Brief. In: TM, Juli 1787, S. 67–88, hier S. 86f. Vgl. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 170f. Vgl. Reinhold: Reinhold’s Leben, S. 43. Distanzierter, wenn auch das Urteil bestätigend heißt es bei Benno Erdmann, das Verdienst von Reinholds Briefen bestehe lediglich in der »Anpassung des Inhalts der Kritik der reinen Vernunft an die allgemeineren Interessen der wissenschaftlichen Dilettanten; sie haben Kants Gedanken verbreitet, nicht bereichert« (Erdmann: Kants Kriticismus, S. 115f.).
105 teme Anhänger erwecken kann, so ist es dieser Mann.«423 Als Garve seinem Freund Christian Felix Weiße diese Sätze im April 1788 schrieb, war seine Prognose über die zu erwartende Wirkung der Briefe von der Wirklichkeit längst eingeholt worden. Bereits im Mai 1787, nach dem Erscheinen der ersten vier Briefe, konnte Kants Schüler Daniel Jenisch seinem Königsberger Professor aus Braunschweig berichten: »Die Briefe über ihre [sic] Philosophie im Merkur haben die eindringlichste Sensation gemacht […].«424 Jenisch bemerkt, zusammen mit dem Pantheismusstreit hätten die Briefe das Interesse für spekulative Philosophie, zumal für diejenige Kants, in Deutschland neu geweckt.425 Etwa zur gleichen Zeit erschien in der ALZ eine Besprechung des Teutschen Merkur, in welcher besonders die Briefe lobend hervorgehoben werden und Reinholds Anonymität gelüftet wird. Der Rezensent (vermutlich Schütz)426 begrüßt, dass sich endlich einmal ein Kenner des Kantischen Systems der Aufgabe angenommen habe, zu zeigen, »wie sehr angemessen dasselbe den menschlichen und philosophischen Bedürfnissen unsrer Zeit sey.«427 Reinhold selbst verweist in seinem ersten Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 auf die »gute Aufnahme«,428 die seine Briefe gefunden hätten. Kants Antwortbrief ist voll des Lobes für Reinholds Aufsätze, »die an mit Gründlichkeit verbundener Anmuth nichts übertreffen kan die auch nicht ermangelt haben in unserer Gegend alle erwünschte Wirkung zu thun.«429 Zu den prominenteren Zeitgenossen, denen durch die Briefe – die 1790 auch in Buchform erschienen – der Weg zur Kantischen Philosophie gebahnt wurde, gehören zum Beispiel der dänische Schriftsteller Jens Immanuel Baggesen,430
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Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde. [Hg. von Johann Caspar Friedrich Manso/Johann Gottlob Schneider.] Erster Theil. Breslau 1803 [Repr. 1999], S. 323 (Brief an Weiße vom 10. April 1788). AA X 485 (Brief an Kant vom 14. Mai 1787). Vgl. ebd. sowie auch die spätere Äußerung Jenischs von 1799: »Durch seine Briefe über die kritische Philosophie verschaffte Reinhold dem Kantischen System zuerst Popularität, und gewann ihm eine Menge Anhänger« (zitiert nach: Kant in Rede und Gespräch, hg. von Malter, S. 353). Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 196. Kurt Röttgers hält dagegen Gottlieb Hufeland für den Autor; vgl. Röttgers: Die Kritik der reinen Vernunft und K.L. Reinhold, S. 799. ALZ, 3. Mai 1787, Sp. 236. AA X 498; vgl. auch AA X 499. AA X 513 (Brief vom 28. Dezember 1787). Für den Zugang zur kritischen Philosophie, schreibt Baggesen an Reinhold im Dezember 1790, »leisteten Sie mir, wie unzähligen Andern, den einzigen, zu ewiger Dankbarkeit verpflichtenden Dienst, daß Sie, deutlicher und anziehender als Kant selbst, die hauptsächlichsten praktischen Resultate der Kant’schen Kritik darstellten. Ihre ›Briefe über die Kant’sche Philosophie‹ haben mich […] im höchsten Grade befriedigt, belehrt, begeistert« (KA II 324).
106 die Philosophen Bardili und Niethammer 431 sowie Friedrich Schiller.432 Im Anschluss an ein enthusiastisches Lob der Briefe schreibt Wieland seinem Schwiegersohn im Juli 1787: »Ich denke, daß Sie, Mein Bester, in wenig Jahren, eine sehr glänzende Rolle in der Philosophischen Welt spielen werden – oder man müßte auf gar nichts mehr rechnen können.«433 Wieland sollte Recht behalten. Außer für seinen Ruf als philosophischer Schriftsteller zahlten sich die Briefe auch ganz unmittelbar für Reinholds berufliche Karriere aus. Auf Betreiben seines Freundes, des Weimarer Regierungsrats Christian Gottlob Voigt, der als Kurator der Jenaer Akademie entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der außerordentlichen Professuren hatte, wurde Reinhold im Herbst 1787 als Extraordinarius für Philosophie nach Jena berufen.434 Hier erhielten seine Einführungsvorlesungen über die kriti431
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Als Senior am Tübinger Stift beschäftigte sich Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) im Wintersemester 1789/90 mit Kants Philosophie unter anderem anhand der Briefe, um daraufhin zu Reinhold nach Jena zu gehen (vgl. Johann Ludwig Döderlein: Carl Immanuel Diez. Ankündigung einer Ausgabe seiner Schriften und Briefe. In: Hegel-Studien 3 [1965], S. 276–287, hier S. 284). Christoph Gottfried Bardili (1761–1808) wurde nach seiner Tübinger Repetentenzeit 1790 an die Hohe Karlsschule nach Stuttgart berufen; seine Antrittsvorlesung von 1791 zeigt den Einfluss von Reinholds Briefen, auf die er möglicherweise zuerst durch einen Brief Gottlieb Hufelands vom Dezember 1787 aufmerksam gemacht wurde (vgl. Michael Franz: Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen 1996 [Neue Studien zur Philosophie, Bd. 11], S. 144). Der Kontakt zwischen Hufeland und Bardili ist ein anscheinend noch nicht näher untersuchtes Verbindungsglied der Konstellationen Tübingen und Jena. Caroline von Wolzogen berichtet über Schillers früheste Jenaer Zeit (1789/1790): »Mit den meisten Gelehrten stand Schiller im besten Vernehmen, mit Schütz und Hufeland in freundschaftlichem Verhältniß; in genauerer Verbindung mit Reinhold. Es konnte nicht fehlen, daß er besonders durch Letztern auf die Kantische Philosophie aufmerksam gemacht wurde, und daß diese ihn anzog. Reinholds Briefe, erinnere ich mich, waren damals schon oft der Gegenstand seiner Gespräche mit unserm Freunde Gleichen und mir« (Caroline von Wolzogen: Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Stuttgart/ Tübingen 1830. Bd. 2, S. 71). Schon während Schillers erstem Jena-Besuch im August 1787, als er bei Reinhold logierte, hatte dieser ihn auf Kant hingewiesen (vgl. Schillers Brief an Körner vom 29. August 1787 in Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Begr. von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal u. a., hg. von Norbert Oellers. Weimar 1943ff. [im folgenden: NA]. Bd. 24, S. 143). Brief vom 21. Juli 1787 (WB IX/1 295). Zu den genaueren Umständen vgl. Yun Ku Kim: Religion, Moral und Aufklärung. Reinholds philosophischer Werdegang. Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 20, Bd. 489), S. 176–182. Nach der These von Kurt Röttgers geschah Reinholds Ausarbeitung der Briefe auf Anregung Voigts und diente von Anfang an dem Zweck, sich für eine Professur an der Universität Jena zu qualifizieren (vgl. Röttgers: Die Kritik der reinen Vernunft und K.L. Reinhold, S. 794f.; zur ähnlichen Einschätzung eines Zeitgenossen vgl. auch: Freimütiges aus den Schriften Garlieb Merkels. Hg. von Horst Adameck. Berlin 1959, S. 205; vgl. dagegen Bondeli: Einleitung, S. XXXIIIf.).
107 sche Philosophie, die er im Wintersemester 1787/88 begann, von Anfang an regen Zulauf.435 Reinhold wurde bald zu einem der beliebtesten und angesehensten Professoren der Universität Jena. Deren wachsende Reputation als Zentrum der neuen Philosophie gründete sich bis zu Reinholds Weggang nach Kiel (1794) zu einem erheblichen Teil auf sein Wirken. Zwar begann der Aufschwung der Studentenzahlen in Jena schon vor Reinholds Berufung;436 zwar lasen Schütz und Ulrich bereits seit 1784 und Schmid seit 1785 über Kantische Philosophie. In den folgenden Jahren war es dann aber vor allem Reinholds Ruf als gewandter und begeisternder Lehrer des Kantianismus, der viele Studenten, die sich für die neue geistige Strömung interessierten, nach Jena lockte.437 Daran konnte auch die Gegenpropaganda Ulrichs nichts ändern, der unter dem Eindruck seines erfolgreichen jüngeren Kollegen zu einem erbitterten Kant-Gegner wurde und in seinen Lehrveranstaltungen heftig gegen die kritische Philosophie zu Felde zog.438
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Vgl. Reinholds Brief an Kant vom 19. Januar 1788: »Meine öffentlichen Vorlesungen über die Einleitung in die Kritik d.V. […] haben bisher einen meine Erwartung übertreffenden Erfolg gehabt« (AA X 525; vgl. auch den Brief vom 1. März 1788, AA X 530). Vgl. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 147. Genaues Zahlenmaterial liefert Ulrich Rasche: Umbrüche. Zur Frequenz der Universität Jena im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800. Tagung des Sonderforschungsbereichs 482: »Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800« vom Juni 2000. Hg. von Gerhard Müller u. a. Stuttgart 2001 (Pallas Athene, Bd. 2), S. 79–134, hier S. 101 (Diagramm 3). Zu Reinholds erfolgreichem akademischen Wirken in Jena und zu seiner Beliebtheit bei den Studenten vgl. Reinhold: Reinhold’s Leben, S. 48–50, 60f., 63–71; Robert Keil: Wieland und Reinhold. Original-Mittheilungen, als Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens. Leipzig/Berlin 1885, S. 24–28; Ernst Borkowsky: Das alte Jena und seine Universität. Jena 1908, S. 139–143; Horst Schröpfer: Karl Leonhard Reinhold – sein Wirken für das allgemeine Verständnis der »Hauptresultate« und der »Organisation des Kantischen Systems«. In: Aufbruch in den Kantianismus, hg. von Hinske u. a., S 101–121, hier S. 109–111; Fuchs: Karl Leonhard Reinhold, S. 95–98. Fuchs bietet eine Übersicht über sämtliche Vorlesungen Reinholds in Jena; vgl. ebd., S. 171–173. Vgl. dazu auch ergänzend die Auszüge aus den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Jena, die bei Hinske: Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie, S. 3f. wiedergegeben sind. Laut dem Bericht Reinholds an Kant rief Ulrich im Wintersemester 1787/88 vor seinen Studenten aus: »Kant ich werde dein Stachel, Kantianer ich werde eure Pestilenz seyn« (Brief vom 19. Januar 1788, AA X 526). Schütz zögerte nicht, diesen Auftritt in der Allgemeinen Literatur-Zeitung der Lächerlichkeit preiszugeben, allerdings ohne Ulrich beim Namen zu nennen. Vgl. Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 23 (1788), Sp. 203. Zu Ulrichs Gegnerschaft zu Reinhold vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 204; Kim: Religion, S. 182f.
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12. Zuspitzung der religionsphilosophischen Krise: Reimarus, Kleuker, Obereit, Herder (1787) Dass die Briefe über die Kantische Philosophie so viel Aufmerksamkeit erregten, lag zu einem guten Teil in der dramatischen Geste begründet, mit der Reinhold die gegenwärtige Lage der Metaphysik schildert. Skizziert wird eine zugespitzte Entscheidungssituation, wonach die Vernunft ihre Autorität in Fragen der Religion für immer zur verlieren droht, wenn sie nicht endlich auf die Herausforderungen ihrer Gegner angemessener als bisher reagiert und zu ganz neuen Lösungen kommt: Noch nie vielleicht waren diese Gründe [der Vernunft für die Überzeugung vom Dasein Gottes] so allgemein und so nachdrücklich erschüttert worden, als in unsern Tagen. Es liesse sich also schon in dieser Rüksicht hoffen, daß die Vernunft zum Besten der allgemeinen Ueberzeugung etwas unternehmen müsse, was sie noch nie gethan hat. Noch nie war es so laut und öffentlich über ihren Antheil an jener Ueberzeugung zur Sprache gekommen; noch nie war sie dringender aufgefordert worden, denselben bestimmt und allgemein befriedigend anzugeben.439
Natürlich ist es für Reinhold die Kantische Philosophie, welche allein dieser Aufforderung gerecht wird und die Frage nach dem Anteil der Vernunft an der Religion allgemein und befriedigend beantwortet. Wenn sich auch im weiteren Verlauf der durch Mendelssohn und Jacobi losgetretenen Debatte über das Verhältnis von Vernunft und Glaube die Argumente zum großen Teil wiederholen, so unterscheidet sich die Diskussion im Anschluss an Reinholds Briefe gegenüber der ersten Phase des Pantheismusstreits doch in zwei Punkten. Erstens wird nun eindringlicher als zuvor das Moment einer historischen Krise heraufbeschworen, werden die Argumente in dem Bewusstsein vorgetragen, man stehe vor einer epochalen Entscheidungssituation. Zweitens wird Kants Philosophie jetzt endgültig von allen Beteiligten als wichtiger Beitrag zu dieser Diskussion wahrgenommen; sie ist in die erste Reihe der philosophischen Optionen gerückt, die in dem Streit verhandelt werden und zu denen man Stellung beziehen muss. Das ist auch in der unpaginierten Vorrede erkennbar, die der Hamburger Arzt Johann Albert Heinrich Reimarus (1729–1814) seiner Abhandlung Ueber die Gründe der menschlichen Erkentniß und der natürlichen Religion (1787) voranstellt. Der Autor, Freund Moses Mendelssohns und Sohn von Hermann Samuel Reimarus (dem Verfasser der von Lessing herausgegebenen »Wolffenbüttler Fragmente«),440 begründet die Veröffentlichung seiner Überlegungen damit, sie möchten »bey dem jetzigen zweifelhaften Zustande unse439 440
Reinhold: Zweyter Brief. In: TM, August 1786, S. 127–141, hier S. 129. J.A.H. Reimarus hatte 1752–1757 Medizin in Göttingen, Leyden, Edinburgh und London studiert und war seitdem praktizierender Arzt in Hamburg. Außer naturwissenschaftlichen Werken veröffentlichte er eine Reihe von Schriften zur Philosophie und Theologie.
109 rer Erkentniß« anderen Wahrheitsforschern nicht unwillkommen sein. Zu der gegenwärtigen Krise beigetragen haben seiner Meinung nach neben Jacobi und Wizenmann »[v]on einer anderen Seite« auch Kant und dessen Schüler Jakob. Inhaltlich liegen Reimarus’ nachfolgende Ausführungen mit ihrer Verteidigung der Objektivität der Erfahrung,441 der herkömmlichen Gottesbeweise442 und der orientierenden Funktion des gemeinen Menschenverstandes443 ganz auf Mendelssohns Linie. Jacobi und Wizenmann wird die Beförderung von Schwärmerei, Aberglaube und religiösem Fanatismus vorgeworfen,444 Kant wird für einen Idealismus kritisiert, der die gesamte Sinnenwelt (einschließlich des eigenen Selbst) zu bloßen Erscheinungen degradiert und den daraus abgeleiteten Wahrheiten lediglich subjektiven Status zuerkennt.445 Im Anschluss an Mendelssohn verleiht Reimarus mit seiner Schrift noch einmal den Grundüberzeugungen des popularphilosophischen mainstream Ausdruck: Es ist die Vernunft, die den letztgültigen »Probestein«446 für alle metaphysischen Wahrheiten abgibt (dies gegen Jacobi und Wizenmann); und diese Vernunft muss zwar immer von Erfahrungen ausgehen, ist aber in der Lage, durch Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu Erkenntnissen zu gelangen, die über die Erfahrung hinausgehen, und so auch Erkenntnis vom Dasein Gottes zu gewinnen (dies gegen Kant).447 Hatte Reinhold (wie vor ihm schon Breyer) Kants Moraltheologie als das entscheidende Element hervorgehoben, das die Vernunftkritik vor skeptizistischen Konsequenzen bewahrt und der Vernunft zur Beruhigung in Fragen des Glaubens verhilft, so hält Reimarus (wie auch Garve, Klewiz und Pistorius) die Verankerung des Glaubens in der praktischen Vernunft für eine schwache Hilfskonstruktion, die allein kaum ausreichend ist, die Lücke zu füllen, die Kants Kritik der spekulativen Theologie hinterlässt. Er kann sich hier auf Wizenmanns oben besprochene subtile Widerlegung der Kantischen Theorie des Vernunftglaubens berufen, die gerade im Februarheft des Deutschen Museums erschienen war.448 Reimarus’ Position findet die breite Zustimmung all derer, die sich dem vernunftoptimistischen Grundkonsens der Aufklärung verpflichtet fühlen und ihn von Auflösung bedroht sehen. Die von Kaspar Ruef herausgegebenen Freyburger Beyträge erklären sich solidarisch mit Reimarus’ Verteidigung 441
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Vgl. Johann Albert Heinrich Reimarus: Ueber die Gründe der menschlichen Erkentniß und der natürlichen Religion. Hamburg 1787, zum Beispiel S. 17 Anm. 13, 69–74. Vgl. ebd., zum Beispiel S. 109f. Vgl. ebd., zum Beispiel S. 33–37. Vgl. ebd., zum Beispiel S. 22–24, 161–168. Vgl. ebd., S. 50–57, 81–85. Der Idealismusvorwurf bestimmte schon Reimarus’ früheste, mittelbare Kantrezeption, die maßgeblich durch die kritischen Urteile Garves und Tiedemanns geprägt war. Vgl. Reimarus’ Brief an Mendelssohn vom 14. Juni 1784 (JA XIII 197, 209). Reimarus: Ueber die Gründe, S. 32. Vgl. ebd., S. 89–94, 115f. Vgl. ebd., S. 109 Anm. 111.
110 einer Philosophie, die man – nach Meinung des Rezensenten: voreilig – »hie und da schon so gern die alte oder wohl gar die veraltete nennen möchte«.449 Die Kielischen Gelehrten Zeitungen klagen darüber, die »Wissenschaft der reinen Vernunft« scheine einem nur noch die Wahl zwischen Skeptizismus und blindem Glauben zu lassen, und würdigen Reimarus als einen Autor, der dagegen »die Rechte der gesunden Vernunft« in Schutz nimmt.450 Noch besorgter fällt die Gegenwartsdiagnose in dem von Albrecht Wittenberg in Hamburg herausgegebenen Historisch-politischen Magazin aus. Der Rezensent stellt fest: »Seit einigen Jahren arbeiten einige Schriftsteller auch in Deutschland an dem Umsturz aller philosophischen Grundsätze, folglich auch aller vernünftigen Religion«. Auch er stellt die verhängnisvolle Alternative von rational begründetem Unglauben und vernunftfeindlichem Glauben als gefährliche Tendenz des Zeitalters dar und empfiehlt Reimarus’ Buch als heilsames Gegenmittel.451 Schließlich besteht auch für Johann Friedrich Flatt, den Rezensenten der Tübingischen gelehrten Anzeigen, die besondere Bedeutung von Reimarus’ Schrift darin, dass sie auf die Herausforderung reagiert, die Kants und Jacobis Philosophien für das geistige Leben der Zeit darstellen. Entsprechend sieht er einen Hauptvorzug der Schrift in ihrer »in Hinsicht auf die Zeitbedürfniße treflich eingerichteten Apologie der Hauptwahrheiten der angewandten Metaphysik«.452 Sowohl Flatt als auch Feder, der das Buch im November 1787 für die Göttingischen Anzeigen besprach, schließen ihre wohlwollenden Rezensionen mit einem wörtlichen Zitat der düsteren Passage, in der Reimarus auf die möglichen Folgen der gegenwärtigen geistigen Entwicklung hinweist: Ob die Bemühungen zur Verdunkelung der einleuchtenden Ueberzeugung von einem allweisen, allwürkenden und allguten Regierer der Welt, und überhaupt zur Untergrabung aller Gründe unsers Wissens, welche jetzt von einigen Schriftstellern so angelegentlich und mit besondern Wohlgefallen angepriesen werden, Ob [sic] diese Unternehmung, sage ich, unserer Ruhe und Sittlichkeit nachtheilig seyn werden, – davon mögte, wenn es so fort gienge, das nächste Jahrhundert aus Erfahrung urtheilen können.453
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Freyburger Beyträge zur Beförderung des ältesten Christenthums und der neuesten Philosophie 1 (1788), S. 177. Landau 614 (die Rezension erschien am 20. Juni 1787). Vgl. Historisch-politisches Magazin 1 (1787), Litterarischer Anhang, S. 121f. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 31. März 1788, S. 203f., 205 (Zitat). Reimarus: Ueber die Gründe, S. 168; vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 31. März 1788, S. 206; Landau 726f. Feder kann sich dabei des Kommentars nicht enthalten, dass die nachteiligen Folgen für die Sittlichkeit ja schon jetzt an einer Reihe von zeitgenössischen Schriften zu besichtigen seien (vgl. Landau 727). Eine weitere positive Besprechung von Reimarus’ Buch erschien am 27. Oktober 1787 in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen, die sich allerdings weitgehend auf ein Inhaltsreferat beschränkt (vgl. Landau 700–711). Das Gleiche gilt für die 1789 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschienene Rezension, die von Pistorius verfasst wurde (vgl. AdB 85/2 [1789], S. 449–459).
111 Gegen diese unheilschwangere Prognose legt die Besprechung in der ALZ vom Dezember 1788 Einspruch ein. Ihr Verfasser verspricht sich von der Kantischen Philosophie im Gegenteil »für die Richtung des intellectuellen und sittlichen Charakters unsres Zeitalters die erwünschteste Wirkung«.454 Er nimmt Kants transzendentalen Idealismus gegen die Unterstellung in Schutz, dass dadurch die Existenz der Dinge an sich geleugnet würde,455 und verteidigt die Theorie vom moralischen Überzeugungsgrund der Religion.456 Lässt sich Reimarus’ Schrift als Fortführung des Pantheismusstreits auf der Seite Mendelssohns betrachten, so erhält auf der Gegenseite die durch Jacobi repräsentierte Glaubensphilosophie durch dessen Freund, den orthodoxen Theologen Johann Friedrich Kleuker (1749–1827), neue Unterstützung.457 Im ersten Band seiner Neuen Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt von 1787 betont Kleuker, die Wahrheit des Christentums beruhe auf göttlicher Offenbarung und könne niemals unabhängig von dieser bewiesen werden. Heftig kritisiert er die kühnen Anmaßungen einiger Denker besonders der jüngsten Zeit, die selbst in Fragen der Religion alles aus der Vernunft begründen wollen und den Offenbarungsglauben für überflüssig erklären oder ihn gar als schädlich diffamieren.458 Um diesen philosophischen Übermut in die Schranken zu weisen, beruft sich Kleuker auf ein Buch, das schon Jacobi und Wizenmann als »Superwaffe«459 gegen die Vernunftreligion angeführt hatten: die Kritik der reinen Vernunft. Erneut wird Kant als Vernunftskeptiker ins Feld geführt, der den Weg zum Offenbarungsglauben frei macht.460 Die Verwahrungen in 454 455
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ALZ, 29. Dezember 1788, Sp. 883. Vgl. ebd., Sp. 884f. Diesen Punkt betont auch die Rezension in den kantfreundlichen Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 24. November 1787 (vgl. Landau 760). Vgl. ALZ, 29. Dezember 1788, Sp. 885. Nach einem Studium der Philologie, Theologie und Philosophie in Göttingen (1770–1773) war Kleuker zwei Jahre lang Hauslehrer in Bückeburg, wo er Herder kennenlernte. Während die Beziehung zu Herder wegen theologisch-philosophischer Differenzen nicht lange über die gemeinsame Bückeburger Zeit hinausreichte, hatte der über ihn vermittelte Kontakt zu Hamann Bestand. Seit 1778 war Kleuker Rektor in Osnabrück; in diese Zeit fällt der Beginn der freundschaftlichen Beziehungen zu Jacobi, der ihn unter anderem zur Edition einer nachgelassenen Handschrift Wizenmanns anregte. 1798 wird Kleuker als Theologieprofessor nach Kiel berufen. Zu Leben und Werk Kleukers vgl. Frank Aschoff: Der theologische Weg Johann Friedrich Kleukers (1749–1827). Frankfurt a. M. u. a. 1991 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Bd. 436). Vgl. Johann Friedrich Kleuker: Neue Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt. Bd. 1. Riga 1787, S. 27f., 32–34. Zum Inhalt des Buchs vgl. Aschoff: Johann Friedrich Kleuker, S. 124–131. Timm: Spinozarenaissance, S. 266. Vgl. Kleuker: Neue Prüfung, Bd. 1, S. 37–39.
112 der ALZ gegenüber der glaubensphilosophischen Vereinnahmung Kants,461 selbst Kants eigene Distanzierung von Jacobi und Wizenmann in der Berlinischen Monatsschrift werden dabei von Kleuker mit keinem Wort erwähnt. Als polemische Folie dienen ihm stattdessen Reinholds Briefe, in denen ebenfalls die Unvereinbarkeit der vernunftkritischen Position Kants mit der glaubensphilosophischen Position Jacobis betont worden war.462 Reinhold hatte es als epochale Leistung Kants hervorgehoben, dass er einerseits die Ansprüche der ›Naturalisten‹ widerlege, in Fragen der Religion spekulative Vernunftbeweise führen zu wollen, dass er andererseits aber auch durch seine Theorie vom moralischen Überzeugungsgrund der Religion die ›Supernaturalisten‹ (womit die Fraktion Jacobis und Wizenmanns gemeint ist) dazu zwinge, die Verankerung des Glaubens in der praktischen Vernunft anzuerkennen.463 Kleuker weist den zweiten Teil des Arguments zurück, indem er, ähnlich wie Wizenmann, Zweifel am vernunftmäßigen Status des Kantischen ›Vernunftglaubens‹ äußert: Die praktische Vernunft, die laut Reinhold die Überzeugung vom Dasein Gottes verbürgt, ist für Kleuker nur eine »Scheinvernunft«.464 So kann er daran festhalten, dass die Religion ihre eigentliche Grundlage ganz und gar außerhalb irgendwelcher Vernunftsysteme hat, nämlich in der Offenbarung Gottes.465 Alles in allem liefert Kleuker also ein weiteres Beispiel für das von Johann Eduard Erdmann beschriebene Phänomen, »dass auf Kant’s Riesenarbeit, als habe diese nur dazu gedient, der vergeblichen Mühe des Beweisens zu entheben, und die Schwäche der Vernunft aufzudecken, ein theologischer Dogmatismus gegründet wurde«.466 In diese Strömung fügt sich auch der allzeit agile Polemiker Samuel Heinicke mit seinem 1787 erschienenen Pamphlet Nach Kantischer Manier aufgelöste Axiomen von Moses Mendelssohn. Bedenkenlos wird Kants Vernunftkritik hier als Ausgangsbasis benutzt, um in rüdem Ton über alle rationale Theologie herzuziehen (Hauptzielscheibe dabei ist Mendelssohn) und Tradition und Offenbarung zur einzigen Quelle religiöser Gewissheit zu erheben.467 Das Fazit lautet, Kant 461
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Sie werden in der Rezension zu Kleukers Buch erneuert: vgl. ALZ, 16. Dezember 1788, Sp. 771. Vgl. Reinhold: Zweyter Brief, S. 138–140. Kleuker vermutete anfangs Wieland, den Herausgeber des Teutschen Merkur, als Verfasser der anonym erschienenen Briefe; vgl. Aschoff: Johann Friedrich Kleuker, S. 127. Vgl. Reinhold: Zweyter Brief, S. 130f. Kleuker: Neue Prüfung, Bd. 1, S. 43. Vgl. ebd., S. 38f., 45f. Erdmann: Entwicklung der deutschen Spekulation I, S. 273f. Vgl. Samuel Heinicke: Nach Kantischer Manier aufgelöste Axiomen von Moses Mendelssohn, nebst einem Gutachten von Herrn Friedrich Nicolai. Cöthen 1787, S. 25–30. Heinickes Schrift wurde in Kants Umfeld wahrgenommen. Kraus erwähnt sie in einem Brief an Kant vom 13. Mai 1787 (vgl. AA X 484–485). Johann Schultzes kurz darauf in einem Brief an Schütz geäußerter Plan, sie für die ALZ zu rezensieren, wurde allerdings nicht verwirklicht (vgl. Stark: Kant und Kraus, S. 195 Anm. 64).
113 »und sein Commentator, der Herr Hofprediger Schulz in Königsberg – ein sehr frommer und christlicher Mann, verweisen uns beide, aus der Vernunftkritik, in die Bibel.«468 Die Krise der Metaphysik, die sich nicht zuletzt in der Vehemenz manifestiert, mit der Autoren wie Kleuker und Heinicke die Autorität der Vernunft im Bereich der Religion bestreiten,469 wird nirgendwo so klar auf den Punkt gebracht wie im Titel einer kleinen Abhandlung des Schweizer Mediziners und Hermetikers Jacob Hermann Obereit (1725–1798): Die verzweifelte Metaphysik. Obereit war 1785 nach Jena gekommen, zu einem Zeitpunkt also, als das Gespräch über die Kantische Philosophie dort gerade in Gang kam.470 In der Begegnung mit Schmid, Schütz und Ulrich wurde der Neuankömmling schnell von der Diskussion erfasst: Schon im September 1785 berichtet Schütz an Kant, dass Obereit gegen ihn schreibe.471 Obereits erster Beitrag erschien dann aber erst 1787 unter dem besagten Titel. Während Heinicke die durch Kants Vernunftkritik verursachte »terrible Gährung«472 in der zeitgenössischen Publizistik mit einiger Genugtuung konstatiert, spricht Obereit in der unpaginierten »Vorerinnerung« zur Verzweifelten Metaphysik eher besorgt von der gegenwärtigen Zeit als von einem »Augenblick, wo die heftigste Gährung in der gelehrten Welt, über die wichtigsten Gegenstände der Metaphysik ist« und althergebrachte, für das 468
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Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 64. Dieselbe Argumentationslinie wird im folgenden Jahr fortgesetzt in: Samuel Heinicke: Scheingötterei der Naturalisten, Deisten und Atheisten, ec. Nebst einer ganz neuen unfehlbaren Methode für Theologen, alle Irrgläubige, Zweifler und Ungläubige gründlich zu widerlegen und sie damit zu bekehren. Nach Grundsätzen der Bibel und Vernunftkritik. Cöthen 1788. Vgl. auch Schumann/Schumann: Neue Beiträge, S. 93f. Im Falle Kleukers gilt das in noch stärkerem Maße für den zweiten Band der Neuen Prüfung (1789), der die Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold weiter verschärft (vgl. dazu Aschoff: Johann Friedrich Kleuker, S. 132–140). Obereit ist bisher hauptsächlich als Gegner des philosophischen Arztes Johann Georg Zimmermann in der Debatte über Einsamkeit sowie im Zusammenhang mit hermetischen Einflüssen auf Schillers Jugendphilosophie thematisiert worden (vgl. Werner Milch: Die Einsamkeit. Zimmermann und Obereit im Kampf um die Überwindung der Aufklärung. Frauenfeld/Leipzig 1937 [Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 83–85]; Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. Die Räuber im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 [1980/1981], S. 71–95, hier S. 81–85). Seiner Übersiedlung nach Jena waren Studien in Halle und Berlin, eine Tätigkeit als praktischer Arzt und ein langes Wanderleben vorausgegangen; 1786–1791 war er Hofphilosoph des Herzogs von Meiningen. Zu seinen Briefpartnern gehörte Johann Friedrich Kleuker, den er als Herausgeber für seine Schrift Die Einsamkeit der Weltüberwinder (1781) gewinnen konnte (vgl. Aschoff: Der theologische Weg Johann Friedrich Kleukers, S. 111f.). Zu Obereits Biographie vgl. Nekrolog auf das Jahr 1798, S. 1–100. Vgl. AA X 408 (Brief vom 20. September 1785). Heinicke: Nach Kantischer Manier, unpaginierter Vorbericht.
114 Glück der Menschen elementare Überzeugungen in ihrem Bestand bedroht sind.473 Die Überschrift des Hauptteils erweitert den Titel der Abhandlung in einer Weise, die deutlich macht, wer nach Obereits Ansicht für die aktuelle Situation verantwortlich ist: »Die verzweifelte Metaphysik zwischen Kant und Wizenmann«. Im folgenden tritt die Metaphysik als Sprecherin auf und beklagt den Verlust, der ihr durch diese beiden Denker zugefügt worden ist: Der eine […] nimmt mir alle objektive Gründe des geistigen Anschauens, wie des übersinnlichen bloßen Denkens weg; der äußerst scharflogische andre auch die subjektiven Gründe, die ein Kant zum Behuf eines sogenannten Vernunftglaubens für das höchste Wesen noch übrig gelassen hat. Nun, was bleibt mir übrig? Baar Nichts!474
Wizenmann vollendet die Demontage der Metaphysik, die Kant begonnen hat: Schonungsloser kann man die fatale Entwicklung, die die Philosophie seit der Kritik der reinen Vernunft genommen hat, nicht charakterisieren. Kants moraltheologische Postulatenlehre, so Obereits Auffassung, ist durch Wizenmanns Kritik als »blos eine bedürftige, blos subjektiv erbettelte Voraussetzung« entlarvt; auch sie kann den »Bankerot« der Metaphysik, den Kant in seinen Prolegomena konstatiert und zum Ausgangspunkt seines Philosophierens gemacht hatte, nicht abwenden.475 Der deprimierende Befund führt bei Obereit nicht wie bei Jacobi und Wizenmann zu der Konsequenz, Gott aus der Sphäre der Vernunftphilosophie zu exkludieren und in den Bereich eines Übernatürlichen zu verweisen, dem man sich nur über einen ›Sprung in den Glauben‹ oder über die Tatsachen der Offenbarung nähern kann.476 Vielmehr folgt der bedrückenden Diagnose ein enthusiastischer Gegenentwurf, der mit einem aus mystisch-theosophischer Tradition sich speisenden Vokabular eine ewige »Real-Metaphysik«477 beschwört, die Kants Vernunft-Formalismus auf einer höheren Ebene neu zu substanzialisieren versucht und in der Aufhebung der Gegensätze zwi-
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Vgl. Jacob Hermann Obereit: Die verzweifelte Metaphysik. O.O. 1787, S. 7f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Zu Obereits Wizenmann-Rezeption vgl. auch Timm: Spinozarenaissance, S. 349. Bei seinem Verweis auf die Prolegomena mag Obereit Stellen wie die folgende, der Einleitung entstammende Passage vor Augen gehabt haben: »Ist sie [= die Metaphysik] Wissenschaft, wie kommt es, daß sie sich nicht, wie andre Wissenschaften, in allgemeinen und daurenden Beifall setzen kann? Ist sie keine, wie geht es zu, daß sie doch unter dem Scheine einer Wissenschaft unaufhörlich groß tut, und den menschlichen Verstand mit niemals erlöschenden, aber nie erfüllten Hoffnungen hinhält? […] Es scheint beinahe belachenswert, indessen daß jede andre Wissenschaft unaufhörlich fortrückt, sich in dieser, die doch die Weisheit selbst sein will, deren Orakel jeder Mensch befrägt, beständig auf derselben Stelle herumzudrehen, ohne einen Schritt weiter zu kommen« (WA III 113f.). Zur Abgrenzung Obereits von Jacobi vgl. Timm: Spinozarenaissance, S. 342, 350, 358. Vgl. Obereit: Die verzweifelte Metaphysik, S. 24.
115 schen Endlichem und Unendlichem, Sein und Nichts usw. absolute Wesenserkenntnis wiedergewinnen will.478 In den folgenden Schriften, die nun in schneller Folge erschienen, hat Obereit dasselbe Programm in immer neuen Variationen verfolgt, wenige Monate nach der Verzweifelten Metaphysik zum Beispiel unter dem jetzt schon optimistischeren Titel Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik.479 Später hat er seine Forderung nach einem obersten Prinzip der All-Einheit für kurze Zeit in Reinholds Elementarphilosophie verwirklicht gesehen.480 Insgesamt waren seine Beiträge für den Verlauf der philosophischen Diskussion allerdings von geringem Belang.481 Die meisten Zeitgenossen konnten in Obereits anspielungsreichen, monomanisch und unsystematisch wirkenden Schriften nicht viel mehr als die wirren Produkte eines Schwärmers sehen, als welchen ihn schon Schütz in seinem Brief an Kant bezeichnet.482 Suchte Obereit dem Dilemma zwischen nihilistischer Vernunft und blindem Glauben durch die Flucht in eine mystisch inspirierte »Gleichgewichtswissenschaft«483 zu entgehen, so fanden andere Zeitgenossen ihr Heil bei einem Philosophen, der sich wie kein anderer anzubieten schien, den von Kant und Jacobi gleichermaßen affirmierten Dualismus von Materie und Geist, Natur und Gott mit den daraus folgenden Aporien zu überwinden: Spinoza. Es ist eine bekannte Ironie der Philosophiegeschichte, dass Jacobi, der Spinoza als negatives Musterbeispiel für die atheistischen Konsequenzen der Vernunftphilosophie anführt, diesem verfemten Philosophen zu neuer
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Zur Stellung Obereits zwischen mystisch-theosophischer Spekulation, aufklärerischem Rationalismus und idealistischer Neubegründung vgl. Milch: Einsamkeit, S. 219–238 (Abschnitt »Aufklärung, Mystik und kritische Philosophie«); Carsten Behle: »Allharmonie von Allkraft zum All-Wohl«. Jacob Hermann Obereit zwischen Aufklärung, Hermetismus und Idealismus. In: Kunst und Wissenschaft um 1800. Hg. von Thomas Lange/Harald Neumeyer. Würzburg 2000 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. 13), S. 151–174. Zur allgemeinen Charakterisierung von Obereits Denken vgl. auch Timm: Spinozarenaissance, S. 339f., 342f., 358. Vgl. Jacob Hermann Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik. Ein kritisches Drama zu neuer Grund-Critik vom Geist des Cebes. Berlin 1787. Zum Inhalt vgl. Timm: Spinozarenaissance, S. 352–358. Ähnlich begeistert wandte er sich danach Fichte und Schelling zu. Vgl. ebd., S. 343, 345–347. Zur zeitgenössischen Rezeption Obereits vgl. ebd., S. 340, 343, 348. Vgl. AA X 408. Zum zeitgenössischen Schwärmereivorwurf gegen Obereit vgl. auch Milch: Einsamkeit, S. 212–215. Für Biester, den Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, ist er der »berüchtigte Obereit, ein verschriener Schwärmer« (Johann Erich Biester: Noch über den Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei. In: Berlinische Monatsschrift, August 1785, S. 104–163, hier S. 161). Der Begriff entstammt dem Titel einer Schrift Obereits von 1789. Vgl. die Bibliographie bei Friso Melzer: Obereit-Studien. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 25 (1930), S. 209–230, hier S. 213. Zum häufigen Gebrauch des Worts »Gleichgewicht« im Wiederkommenden Lebensgeist und anderen Schriften Obereits vgl. ebd., S. 220.
116 Popularität verhalf.484 Prominentester Vertreter derjenigen, die sich im Zuge der Debatte öffentlich zu Spinoza bekannten und sich um seine Rehabilitierung bemühten, war Johann Gottfried Herder. Ein unmittelbarer Anlass war für ihn Kants scharfe Kritik an bestimmten Grundgedanken seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, die sich implizit an spinozistisches Gedankengut anlehnten, wie die Einbettung des Geistigen in den Naturprozess oder die Rechtfertigung des Glückseligkeitsstrebens als Kern der freien Selbstentfaltung des Menschen.485 Kants Angriffe gegen diese, vor allem im fünften und achten Buch der Ideen vorgetragenen Gedanken waren es, die Herder mit dazu bewogen, sein spinozistisches Credo nun in einer gesonderten Schrift explizit auszuführen und dadurch die Fronten klarzustellen.486 Die im Mai 1787 erschienene Schrift trägt den Titel Gott – Einige Gespräche und wirft, um es mit den Worten von Karl Rosenkranz zu sagen, »auf Kant sehr unwillige Blicke«.487 An verschiedenen Stellen des in Dialogform gehaltenen Buchs wird vor der neuen ›hyperkritischen‹ Philosophie gewarnt, die sich daran berauscht, in gänzlicher Abstraktion von aller Empfindung und Erfahrung das Dasein Gottes und der Welt dem leichtfertigen Spiel einer sophistischen Vernunftdialektik zu unterwerfen.488 In der ALZ, der treuen Fürsprecherin Kants, werden Herders Seitenhiebe sofort registriert und zurückgewiesen. Aus ihnen spreche nichts als »Unwillen gegen gewisse Philosophieen, oder Philosophen, und lebhafte, aber fruchtlose Begierde, ihnen zu schaden.«489 Die Kritik des Rezensenten (es handelt sich um
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Vgl. Lewis White Beck: Early German Philosophy. Kant and His Predecessors. Cambridge (Mass.) 1969, S. 369; Timm: Spinozarenaissance, S. 226, ferner auch S. 137, 186, 197, 217, 307. Vgl. Proß: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«, bes. S. 68, 91, 114–117; sowie in der Ausgabe der Ideen den Kommentar, HW III/2 94, 275, 282, 316–319, 360, 454–456, 541–543. Insgesamt relativiert Proß die Bedeutung, die man dem Spinozismus im Hinblick auf die Ausbildung von Herders ›monistischer‹ Naturphilosophie häufig zugeschrieben hat, zugunsten der Anregungen, die er von den empirischen Naturwissenschaften und einer anthropologisch orientierten Geschichtsschreibung empfing. Vgl. Proß: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«, S. 72, 75, 85. Vgl. Wolfgang Proß: Spinoza, Herder, Büchner: Über »Gesetz« und »Erscheinung«. In: Georg-Büchner-Jahrbuch 2 (1982), S. 62–98, hier S. 83. Auch im dritten Teil der Ideen von 1787 antwortete Herder auf Kants Einwände gegen seine Geschichtsphilosophie mit Rückgriffen auf Spinoza, besonders im 15. Buch. Vgl. Wolfgang Proß: Nachwort. ›Natur‹ und ›Geschichte‹ in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: HW III/1 837–1041, hier HW III/1 966, 1006–1010; sowie den Kommentar, HW III/2 62, 600, 723f., 754. Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, S. 314. Zur Erläuterung von Herders dynamisch-vitalistischer Interpretation Spinozas vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 158–164; zur immensen Wirkung der Schrift auf die Generation der Romantiker und Idealisten vgl. auch Timm: Spinozarenaissance, S. 281. Vgl. HW II 741, 802, 804, 807f., 820f. ALZ, 2. Januar 1788, Sp. 14.
117 August Wilhelm Rehberg,490 auf den später noch ausführlicher eingegangen wird) verläuft im übrigen ganz in den Bahnen, die Kant in seiner Besprechung der Ideen vorgegeben hatte: Herders blumiger Stil werde den Maßstäben wissenschaftlichen Philosophierens nicht gerecht, es mangele ihm an begrifflicher Präzision; die Vereinigung der Geister- mit der Körperwelt im Begriff der »organischen Kräfte« laufe auf metaphysischen Dogmatismus hinaus. Äußerst positiv fällt demgegenüber die Besprechung im Anzeiger des Teutschen Merkur aus,491 dessen Rezensent Herders Buch als »eine der lehrreichsten und nützlichsten Schriften für unsre Zeit« bezeichnet.492 Im dritten Teil seiner jährlichen Festschrift Sieg der Praktischen Vernunft über die Spekulative von 1787 fasst Johann Friedrich Breyer den aktuellen Stand der Diskussion zusammen: »Ob wohl je«, heißt es einleitend, »in den Annalen des menschlichen Verstandes über irgend ein merkwürdiges Product desselben so widersprechende Urtheile gehört wurden, als über das Zeichen unserer Zeit, über die Kantische Philosophie?« Während sie von den einen, so Breyers Beobachtung, als leere, abstrakte Spekulation und als skeptizistisch verschrien wird, feiern die anderen sie (Breyer verweist auf Reinholds Briefe und auf deren Besprechung in der ALZ) als wahre Vollendung der Aufklärung und als Befestigung der Einheit von Religion und Moral.493 Dieser Gegensatz muss die Aufmerksamkeit des philosophischen Publikums »aufs höchste spannen«, ist nach Breyers Meinung aber auch die Ursache eines immer mehr um sich greifenden »förmlichen Vernunfthasses (Misologie)«, weshalb es um so dringlicher erscheint, den Widerspruch aufzulösen.494 Dazu will Breyer im Folgenden beitragen, indem er seine in den 490
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Vgl. den Abdruck der Rezension und Rehbergs Kommentar in August Wilhelm Rehberg: Sämmtliche Schriften. Bd. 1. Hannover 1828, S. 37–49. Dass von Schönborn die Rezension in die Bibliographie der Schriften Reinholds aufnimmt (vgl. von Schönborn: Karl Leonhard Reinhold, S. 121), welcher 1787 längst die Wende von Herder zu Kant vollzogen hatte, erscheint wenig plausibel. Dies vor allem angesichts des zustimmenden Tons, mit dem der Rezensent eine Reihe Herderscher Theoreme referiert, die zu Kant in unüberbrückbarem Gegensatz stehen. Das betrifft z. B. Herders Auffassung von der Demonstrierbarkeit Gottes, von der Einheit von Geist und Materie und von einem System alles durchwirkender, lebendiger »Kräfte« (vgl. Anzeiger des TM, November 1787, S. CLXV, CLXVIIf., CLXX). Ebd., S. CLXII. Ein weiterer Apologet Spinozas, der sich zu diesem Zeitpunkt zu Wort meldete, war der Leipziger Magister der Philosophie Karl Heinrich Heydenreich. 1787 erschien sein Aufsatz Ueber Mendelssohns Darstellung des Spinozismus. Es handelt sich dabei um die erweiterte Fassung seiner lateinischen Magisterarbeit aus dem gleichen Jahr. Heydenreich bemüht sich darin um eine sorgfältige Rekonstruktion des spinozistischen Systems; dabei verteidigt er Spinozas Begriffe eines notwendigen Wesens und eines einigen Ganzen gegen Kants zweite und vierte Antinomie, stützt sich aber auch auf die transzendentale Psychologie Kants, wo ihm Spinozas System als lückenhaft erscheint. Vgl. Karl Heinrich Heydenreich: Ueber Mendelssohns Darstellung des Spinozismus. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 4 (1787), S. 239–300; sowie zum Inhalt Timm: Spinozarenaissance, S. 240. Vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 3. Abteilung, S. 3f. Ebd., S. 4f.
118 ersten beiden Teilen der Abhandlung begonnene Erläuterung der Kantischen Moraltheologie und der Lehre vom Ideal des höchsten Gutes fortsetzt. Außer auf Kants Kritik der reinen Vernunft, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und den Orientierungs-Aufsatz stützt er sich dabei auch auf Schultzes Erläuterungen und Schmids Grundriss; lobende Erwähnung findet außerdem Jakobs Prüfung. Besonderen Wert legt Breyer am Ende seiner Abhandlung darauf, Kants Theorie vom moralischen Überzeugungsgrund der Religion von Jacobis Glaubensbegriff abzugrenzen und dadurch den Verdacht zurückzuweisen, Kant habe der Jacobischen Glaubensphilosophie mit ihrer Tendenz zu Schwärmerei und Aberglaube den Weg bereitet.495 Wenn aus Breyers Ausführungen auch eine lebhafte Anteilnahme für die Kantische Sache spricht, so fühlt er sich doch insgesamt, dem Ethos des eklektischen ›Selbstdenkers‹ entsprechend, einem neutralen Standpunkt verpflichtet.496 Große Sympathien hegt er daher ebenso für den »edle[n] Streiter«,497 der in seinem gerade veröffentlichten neuen Buch gegen Kant Stellung bezog, um damit, wie Breyer kommentiert, die Auseinandersetzung um die kritische Philosophie einer »baldigen Entscheidung«498 zuzuführen: Denn nun ist endlich der Mann als förmlicher Gegner derselben öffentlich hervorgetreten, der seit ihrer ersten Erscheinung mehr im Stillen und seitwärts, wiewohl immer aus den edelsten Absichten, dieser von ihm sogenannten unfruchtbaren und schädlichen Wortphilosophie und ihren vermeintlichen Ansprüchen auf Alleinherrschaft entgegengearbeitet hatte; der Mann, den einst Kant selbst in seinen Prolegomenis zum lauten Widerspruch feyerlich aufrief, und den auch wirklich der allgemeine und gegründete Ruf seines grossen Scharfsinns, seiner eben so tiefen als ausgebreiteten philosophischen Einsichten, und […] seiner bewährten Rechtschaffenheit, zu diesem förmlichen Angriff vor vielen andern berechtigte. […] Er hat […] System gegen System gestellt, er hat der empirisch-analogischen Philosophie, als der einzig möglichen menschlichen Naturkenntniß, ihren bisherigen Besitzstand und ihren Vorzug vor der Philosophie aus Begriffen und Worten zu behaupten gesucht.499
Kaum hält Breyer es für nötig, den Namen des Gemeinten zu nennen (er führt ihn lediglich in einer Fußnote an): Die Rede ist von Johann Georg Heinrich Feder. 495 496
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Vgl. ebd., S. 17–19. Vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 3. Abteilung, S. 7 und S. 19, wo er sich zu der eklektischen Maxime bekennt, »alles zu prüfen und das Gute zu behalten«. Vgl. auch die Charakterisierung Breyers durch einen Zeitgenossen: »Als Philosoph bekennt er sich übrigens zu keiner Schule, sondern ist gewohnt die Wahrheit überall anzunehmen, sobald sie sein denkender Geist dafür anerkannt hat« (Georg Wolfgang August Fikenscher: Vollständige akademische Gelehrten Geschichte der königlich preußischen Friedrich Alexanders Universität zu Erlangen von ihrer Stiftung bis auf gegenwärtige Zeit. Zweite Abtheilung, von den ordentlichen Professoren der Arzneikunde und der Weltweisheit. Nürnberg 1806, S. 242). Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 3. Abteilung, S. 6. Ebd., S. 6, 19. Ebd., S. 6f.
119
13. ›Kampf der Systeme‹: Feder, Abel, Kausch, Jacobi und die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) Die Spannung, mit der Breyer der durch Feders Buch eingeläuteten Entscheidungsphase des »Kampfes zweyer gegen einander gestemmten [sic] Systeme« entgegenfieberte,500 war lange geschürt worden. Kants harter Abkanzelung des Göttinger Rezensenten in den Prolegomena (1783) hatte Feder jahrelang nichts entgegengesetzt, was der Schwere der Herausforderung und seiner Stellung als führendem Repräsentanten der herrschenden Philosophie angemessen gewesen wäre. Abgesehen von verbalen Ausfällen gegen Kant in seinen Lehrveranstaltungen501 hatten sich Feders Reaktionen bisher, wie oben gezeigt, auf einige Passagen im dritten Teil der Untersuchungen über den menschlichen Willen (1786) sowie auf ein paar in verschiedene Rezensionen der Göttingischen Anzeigen eingestreute Bemerkungen beschränkt. Hinweise, dass er an einem größeren Werk über die Kantische Philosophie arbeite, finden sich allerdings sowohl in der Vorrede zu den Untersuchungen als auch in einzelnen Rezensionen Feders seit dem Frühjahr 1786.502 Mit gespannter Aufmerksamkeit wurden diese Hinweise in der gelehrten Welt registriert.503 Auch dem Königsberger Philosophen wurden sie von seinen Anhängern sogleich zugetragen. Ludwig Heinrich Jakob schreibt im Oktober 1786 an Kant: »Herr Feder fühlt die Wunden, welche er sich durch seine Rec. Ihrer Critik zugezogen hat noch so tief, daß er ehestens zu seiner Satisfaktion in einer öffentlichen Schrifft zu erweisen vorgibt, daß Ihre ganze Philosophie nichts sei als eine verfeinerte scholastische!«504 Jakob war es auch, der den öffentlichen Erwartungsdruck, der auf Feders Buch lastete, unmittelbar vor dessen Erscheinen noch einmal anheizte, indem er in seinem gegen Meiners gerichteten Sendschreiben vom März 1787 in aggressivster Weise auch gegen den Göttinger Rezensenten polemisierte. Über diesen wird festgestellt, dass er nach seiner Abfertigung in Kants Prolegomena »seine Wunden lieber in der Stille hat beweinen, als auftreten wollen, um seine Behauptungen zu vertheidigen, wie es einem Mann von Einsicht geziemt hätte.«505 500 501 502
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Ebd., S. 7. Nach der Angabe Berings im Brief an Kant vom 28. Mai 1787 (AA X 488). Vgl. Feder: Untersuchungen, 3. Teil, S. XI; Landau 298f., 498 (Rezensionen zu Ulrichs Institutiones und zu Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden vom 18. März 1786 bzw. 10. Februar 1787). Vgl. die Meldung in den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 11. November 1786 (Landau 470); erwähnt wird Feders Ankündigung auch in einer Rezension der Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen vom 1. März 1787 (vgl. Landau 506). AA X 468 (Brief an Kant vom 25. Oktober 1786). Vgl. auch Berings Brief an Kant vom 21. September 1786 (AA X 465f.) und Hamanns Brief an Jacobi vom 11. November 1786 (H VII 54). Jakob: Sendschreiben an Herrn Professor Meiners, S. 231.
120 Kurz darauf erschien nun die lange und sorgfältig ausgearbeitete Antwort Feders unter dem Titel Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie – in Frederick C. Beisers Worten »a classic in the empiricist Popularphilosophen’s campaign against Kant«,506 der vielen ihrer wichtigsten Einwände auf mustergültige Weise Ausdruck verlieh.507 In der Vorrede begründet Feder, warum er, bei aller »Abneigung vor polemischer Schriftstellerey«, nicht länger zögert, sich gegen die Kantische Philosophie zu Wort zu melden: »Diese Philosophie hat jetzt so viel Aufsehen, bey einigen Besorgniß, bey andern Bewunderung und Hoffnung erregt, daß es keinem Lehrer der Philosophie mehr erlaubt ist, von ihr zu schweigen.«508 Vor allem ist es Kants Herabwürdigung allgemein anerkannter Erkenntnisgründe in der Moralphilosophie und der natürlichen Theologie, die Feder alarmiert.509 Gegen die dogmatisch-idealistischen »Anmaßungen und Verwirrungen« der Kantischen Philosophie setzt er die »Sache des Menschenverstandes«,510 d. h. in Feders Erläuterung: eine empiristische Philosophie, die sich auf übereinstimmende menschliche Erfahrungen und auf daraus abgeleitete analogische Schlüsse gründet. Der Hauptteil der Untersuchung ist, dem Titel entsprechend, in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt argumentiert Feder gegen die Apriorität des Konzepts vom Raum und für dessen empirischen Ursprung.511 Feder hält zwar am apodiktischen Charakter geometrischer Erkenntnis fest (die Kant als ein Hauptargument für die Apriorität der reinen Anschauungsform des Raumes dient), begründet ihn aber dadurch, dass er sagt: Auch empirisch bedingte Erkenntnis kann notwendigen und allgemeinen Charakter haben; und die im Vergleich zu philosophischer Erkenntnis höhere Evidenz geometrischer Erkenntnis hat damit zu tun, dass letztere sich auf abstrahierte, deutlich bestimmte Vorstellungen bezieht, erstere hin-
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Beiser: Fate of Reason, S. 181. Vgl. Sassen: Introduction, S. 17. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XV, XIV. Vgl. ebd., S. XII. Ebd., S. IX. Zu Feders Argumentation vgl. Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 38–42; Beiser: Fate of Reason, S. 182f.; Sassen: Introduction, S. 16–18. Alle drei Autoren weisen darauf hin, dass Feder Kants logisch-epistemisches Konzept von der Apriorität des Raumes im temporal-psychologischen Sinne einer ›angeborenen Idee‹ missversteht. Dieses Urteil formuliert schon der Rezensent der Jenaischen gelehrten Anzeigen vom 23. April 1787: »Keineswegs scheint Kant’s Meinung zu seyn, daß die wirkliche leere Anschauung vom Raum lange vor der wirklichen äussern Empfindung in der Seele vorhanden sey, sondern nur, daß diese Form, als nothwendig und ursprüngliche Determination zu einer gewissen Vorstellungsart, sich bey Gelegenheit gewisser Eindrücke äussere, so wie dieses auch der Fall mit den Kategorien ist« (Landau 573). Zu diesem bis heute diskutierten Komplex vgl. Michael Oberhausen: Das neue Apriori. Kants Lehre von einer ›ursprünglichen Erwerbung‹ apriorischer Vorstellungen. Stuttgart/Bad Cannstatt 1997 (FMDA, Abt. 2, Bd. 12).
121 gegen auf wirkliche Dinge, bei denen immer ein Rest an Unbestimmtheit bleibt.512 Kants Lehre, dass der Raum eine subjektive Form der Anschauung sei, wird von Feder schließlich auch zum Anlass genommen, den Idealismusvorwurf gegen ihn zu erneuern513 und den in der Göttinger Rezension vorgebrachten Vergleich mit Berkeley zu verteidigen.514 Sicher, bemerkt Feder, Kant grenzt seinen transzendentalen Idealismus von traditionellen Formen des Idealismus ab, indem er betont, dass man von den Dingen, insofern sie uns im Raum erscheinen, sagen könne, dass sie eine empirische Wirklichkeit außer uns haben. Aber dieses Zugeständnis sei letztlich doch nur eines der Sprachregelung. Dahinter stehe doch eigentlich die Lehre, dass der Raum und damit auch alle Gegenstände in ihm letztlich nichts als Vorstellungen in uns sind und dass wir keine Erkenntnis haben können von Dingen, die unabhängig von uns existieren.515 Mit dieser Auffassung setzt Kant sich nach Feders Meinung in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den »unvertilgbaren Aussprüchen des gemeinen Menschenverstandes«.516 Im zweiten großen Abschnitt seiner Untersuchung517 widmet Feder sich dem Problem der Kausalität, das ihn auch zu der Frage nach den Grenzen der Metaphysik überhaupt führt. Gegen Kants Begriff der Kausalität als apriorischer Verstandeskategorie, die nur innerhalb des Bereichs der Erfahrung Gültigkeit hat, argumentiert Feder für einen Kausalitätsbegriff, der empirischen Ursprungs ist, jedoch per Analogie auch einen transzendenten Gebrauch zulässt, also Schlüsse im Hinblick auf Ursachen jenseits der Erfahrung erlaubt. Feders Darlegung, dass der Grundsatz der Kausalität »nicht nur 512
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Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 30–50, sowie dazu Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 43–46. Zu Feders anti-idealistischer Argumentation vgl. Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 46–58; Beiser: Fate of Reason, S. 183f.; Brandt: Feder und Kant, S. 257–264; Sassen: Introduction, S. 20f. Wie vor ihm bereits Tiedemann bemüht Feder sich in diesem Zusammenhang um eine Auflösung von Kants ersten beiden Antinomien, um zu demonstrieren, dass man vor ihnen nicht in den transzendentalen Idealismus ausweichen müsse. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 95–113. Vgl. ebd., S. 89, 117f. Den Vergleich mit Berkeley verteidigt Feder noch in seiner postum erschienenen Autobiographie; vgl. Feder: Leben, S. 119. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 62, 71, 116f. Einzelne Formulierungen Kants scheinen Feders idealistische Interpretation zu stützen. Palachy macht dagegen geltend, dass solche Formulierungen bei Kant stets nur zu verstehen sind als »der positive Ausdruck für die Unerkennbarkeit des Dinges an sich«, dessen Existenz Kant nicht bestreitet (Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 48f.) und dessen Unerkennbarkeit von Feder (im Sinne eines sensualistischen Phänomenalismus) grundsätzlich auch bestätigt wird (vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 74f., 83). Ebd., S. 79; vgl. S. 65, 66, 68, 69, 73, 84, 79*, 92*. (Wegen eines Paginierungsfehlers nach S. 96 erscheint die Seitenzählung 79–96 zweimal hintereinander. Der Stern gibt an, dass die zweite Seite mit dieser Zahl gemeint ist.) Zu Feders Verhältnis zur Common-Sense-Philosophie vgl. Kuehn: Scottish Common Sense, S. 74–85, 214–220. Vgl. dazu Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 58–67.
122 zur Befestigung und Ordnung unserer Erfahrungen, sondern auch zur Erzeugung eines vernünftigen Glaubens an unsichtbare Kräfte und Wesen« dienen kann,518 mündet abschließend in eine Verteidigung des kosmologischen Beweises von Gott als notwendiger erster Ursache519 sowie in das Plädoyer für eine auf Erfahrung und Analogie beruhende philosophische Erkenntnis, die zwar keine absolute Gewissheit beanspruchen kann, zur Begründung einer vernünftigen Überzeugung von Gott aber völlig hinreichend ist. Die allgemeine Aufnahme von Feders Werk steht in gewissem Kontrast zu der pompösen Manier, mit der Breyer es als Auftakt zum entscheidenden ›Kampf der Systeme‹ charakterisierte.520 Zwar teilte die Mehrheit der Leser gewiss nicht das Urteil des Kantianers Bering, der das Buch mit einem bloßen »si tacuisses« kommentierte.521 Feder selbst behauptete über seine Schrift rückblickend: »Sie ging über Erwartung gut ab, und blieb auch nicht ohne Wirkung.«522 Und in der Tat wurde das Buch in den Rezensionen mit viel Wohlwollen bedacht. Das Lob blieb allerdings in den meisten Fällen eigentümlich blass. Positiv hervorgehoben wurden vor allem äußerliche Aspekte wie die bescheidene und gütige Haltung, mit der Feder seine Argumente vortrug, sowie die allgemeine Tatsache, dass seine kritischen Einwände gegen Kant der Diskussion gewiss dienlich seien.523 Kaum eine Besprechung machte sich Feders Argumente jedoch vorbehaltlos zu eigen.524 Selbst diejenigen Rezensenten, die sich eindeutig gegen Kant stellen (wie Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen und Pistorius in der Allgemeinen deutschen Bibliothek),525 lassen durchblicken, dass den von Kant behandelten metaphysischen Problemen mit dem von Feder propagierten konsequenten Beharren auf empiristischen Grundsätzen nicht vollständig beizukommen sei. Und so passt es ins Bild, wenn schon Ende Oktober 1787 in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen die Aufnahme von Feders Buch mit den Worten resümiert wird: »Es ist kaum begreiflich, wie wenig dieß 518 519 520
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Feder: Ueber Raum und Caussalität, 208. Vgl. ebd., S. 209–219. Ähnlich wie Breyer stilisiert auch Obereit Feder zum entscheidenden Gegenspieler Kants; vgl. den »Vorbericht« in Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist sowie ebd., S. 46, 124. AA X 488 (Brief an Kant vom 28. Mai 1787). Feder: Leben, S. 120. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 21. April 1787, Landau 565, 571; Jenaische gelehrte Anzeigen, 23. April 1787, Landau 572; Tübingische gelehrte Anzeigen, 30. August 1787, Landau 655, 656; Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 682, 684; Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 1. November 1787, Landau 722; ALZ, 28. Januar 1788, Sp. 249f.; Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 109. Stück (Mai 1788), Sp. 865, 867, 870; AdB 86/2 (1789), S. 356. Eine Ausnahme ist die Besprechung in den Gemeinnützigen Betrachtungen, die Feders Argumente ausführlich und fast durchgehend mit Zustimmung referiert. Vgl. Gemeinnützige Betrachtungen 12 (1787), Beylage, S. 209–224. Vgl. Landau 657; AdB 86/2 (1789), S. 357–359.
123 Werk Sensation unter den Gelehrten zu machen scheint, so lange auch dessen Erscheinung zum voraus bekannt gemacht wurde, wodurch die Erwartung aller hätte gespannt werden sollen.« Die »anscheinende Gleichgültigkeit oder gar Kälte«,526 mit der man dem Beitrag eines der prominentesten Philosophen der damaligen Zeit begegnete, ist ein Hinweis darauf, dass der von ihm repräsentierte philosophische Reflexionsstand allgemein immer weniger zu befriedigen vermochte. Zu welch eigentümlichen Konsequenzen dieses Ungenügen führen konnte, zeigen die Schriften Jacob Friedrich Abels (1751–1829). Unter den Zeitgenossen weniger gerühmt als Feder, aber nicht minder repräsentativ für das empirisch-anthropologische Philosophieren des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ist er heute hauptsächlich noch als Lehrer und Freund Friedrich Schillers bekannt, den er während seines Medizinstudiums an der Stuttgarter Karlsschule (1775–1780) in Philosophie unterrichtete.527 An Abels ab Mitte der 1780er Jahre erschienenen Büchern lässt sich studieren, dass der eklektische »Zwang zur bejahenden Einverleibung« verschiedenster Systeme,528 den Wolfgang Riedel an den Popularphilosophen im allgemeinen wie an Abel im besonderen beschreibt, vor der Kantischen Philosophie nicht haltmachte. Obwohl er von ganz anderen Voraussetzungen her, nämlich denen der empirischen Psychologie, philosophierte, war Abel bestrebt, einzelne Begriffe und Ideen Kants in sein Denken aufzunehmen. Das zeigt sich bereits in seinem Hauptwerk von 1786, der Einleitung in die Seelenlehre, sowie den beiden dazugehörigen Seitenstücken Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen (1786) und Plan einer systematischen Metaphysik (1787).529 Hier verwendet Abel unter anderem Kants Konzept von Kategorien und Anschauungsformen, die die Erfahrung formieren,530 leugnet aber
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Landau 712. Nach viersemestrigem Studium am Tübinger Stift plante Abel 1772, nach Göttingen zu wechseln, wurde aber vom Herzog Carl Eugen an die neugegründete Militärschule (und spätere Hohe Karlsschule) in Stuttgart berufen, wo er seit 1774 als Philosophieprofessor wirkte. 1785 und 1788 erhielt er auf Initiative von Christoph Meiners Rufe nach Göttingen, die er jedoch ausschlug, nachdem ihm die Nachfolge Gottfried Plouquets in Tübingen in Aussicht gestellt worden war. Nach dessen Tod wechselte Abel 1790 nach Tübingen. Zu Abels Biographie vgl. Riedel: Kommentar, S. 377–388; zur Charakterisierung seiner Schriften vgl. den Überblick bei Fritz Aders: Jacob Friedrich Abel als Philosoph. Berlin 1893, S. 9–12. Riedel: Kommentar, S. 414. Die Schrift Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen dient der genaueren Ausführung dessen, was in der Seelenlehre auf den ersten 80 Seiten (bis § 193) behandelt wird; der Plan einer systematischen Metaphysik enthält, wie der Verfasser erklärt, »nichts als Erläuterungen der 620. – 646. §« der Seelenlehre (vgl. Jacob Friedrich Abel: Plan einer systematischen Metaphysik. Stuttgart 1787 [Repr. 1968], unpaginierte Vorrede). Vgl. zum Beispiel Jacob Friedrich Abel: Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart 1786 [Repr. 1985], §§ 437–447, 459–478, 618–623; ders.: Plan, S. 6f.
124 ihren apriorischen Charakter und setzt voraus, dass sie letztlich durch Abstraktionen am empirischen Material gewonnen sind.531 Inkonsequenzen wie diese veranlassen Fritz Aders in seiner frühen Monographie über Abel zu dem Resümee, bei ihm werde »der ganze Zusammenhang des Kantischen Systems durchlöchert und an seine Stelle ein dogmatischer Empirismus gesetzt.«532 Dieses Urteil trifft auch auf diejenige Schrift zu, in der Abel sich dezidiert der Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie widmet: dem Versuch über die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des Kantischen Systems (1787). Die Frage nach dem Ursprung der Begriffe von Raum und Zeit und der Verstandeskategorien steht hier von Anfang an im Zentrum der Untersuchung: »[V]on diesen gieng Kant aus, und von diesen muß auch jeder ausgehen, der sein System zu beurtheilen wagt.«533 Abel macht deutlich, dass es bei dieser Beurteilung um nichts Geringeres geht als um das Schicksal der bisherigen Metaphysik. Er stimmt Kant darin zu, dass die gewöhnliche Ableitung der Formen des Denkens und der Anschauung aus der Erfahrung nicht befriedigend sei, da Erfahrung keine apodiktische Gewissheit der Erkenntnis biete. Gleichzeitig ist er bestrebt, die bisherige Philosophie nicht vollkommen preiszugeben, sondern in ihrer Substanz zu retten.534 Die (in den vorhergehenden Schriften bereits vorgezeichnete) Lösung Abels besteht darin, dem empirischen System, das die Denk- und Anschauungsformen a posteriori, und dem Kantischen System, das sie a priori ableitet, »ein drittes hinzuzusezen, das sie weder a posteriori, aber doch aus Veranlassung und nach gewisser Rücksicht auch aus dem Stoff des empirischen, noch a priori, aber doch aus subjectivisch nothwendigen Gesezen und eigener Schöpfung unsres Verstandes ableitet.«535 Der Begründung dieser Theorie und der Zurückweisung von Kants strengem Apriorismus ist der Hauptteil der Untersuchung gewidmet. Ihm folgt ein Anhang, in dem Abel die fünf »Hauptmomente«536 der Kantischen Philosophie nach Schultzes Erläuterun-
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Vgl. Abel: Einleitung in die Seelenlehre, unpaginierte Vorrede, §§ 360, 618; ders.: Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen. Stuttgart 1786, unpaginierte Vorbemerkung; ders.: Plan, S. 8, 15f., 18, 57, 77, 94, 99–101, 222–224. Aders: Jacob Friedrich Abel, S. 81. Vgl. auch Erdmann: Kants Kriticismus, S. 105, wo die Seelenlehre und Ueber die Quellen als »Compilationen« bezeichnet werden, die zeigten, wie Abel »mit staunenswerther Oberflächlichkeit diesen und jenen Satz Kants über die mathematische Mehode, über die Kategorien u. a. in seine empirisch psychologischen Habseligkeiten aufzunehmen verstand.« Abel: Versuch, S. 9. Der Versuch erschien anonym; um Abels Autorschaft bestand aber offenbar kein großes Geheimnis, mehrere zeitgenössische Rezensionen nennen ihn als Verfasser. Zum Inhalt der Schrift vgl. auch Aders: Jacob Friedrich Abel, S. 84–90. Vgl. Abel: Versuch, S. 10f. Ebd., S. 181. Ebd., S. 183.
125 gen wiedergibt537 und seine Einwände dagegen vorträgt. Dabei opponiert er unter anderem gegen Kants enge Begrenzung der Metaphysik mit dem Argument, dass die Erscheinungen sehr wohl gewisse Rückschlüsse auf ihre transzendenten Ursachen zuließen, dass die Vernunfterkenntnis also durchaus über den Bereich der Erfahrung hinausgehe und dass demnach spekulative Kosmologie, Psychologie und Theologie in ihrem Bestand grundsätzlich legitimiert seien.538 Aders’ Aussage, die zeitgenössische Kritik habe von Abels Büchern kaum Notiz genommen, lässt sich nicht halten.539 Die genannten vier Schriften wurden fast in allen wichtigen Rezensionsorganen besprochen. Abels Versuch, zwischen Kritizismus und Erfahrungsphilosophie zu vermitteln, erfuhr dabei ganz unterschiedliche Bewertungen. Beklagt Feder in den Göttingischen Anzeigen aus konsequent empiristischer Perspektive, dass Abel zu vieles aus subjektiven Verstandesgesetzen und zu wenig aus der Analogie der Erfahrung ableite,540 so liegt für die Rezensenten der ALZ und der ebenfalls kantfreundlichen Gothaischen gelehrten Zeitungen der Stein des Anstoßes gerade darin, dass Abels System letztlich auf nichts anderes hinauslaufe als auf gewöhnlichen Empirismus.541 Während Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen den Versuch über die Natur der spekulativen Vernunft zu den »merkwürdigsten Schriften unseres Jahrzehends« zählt542 und Pistorius in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, Abels empirische Herleitung der Denk- und Anschauungsformen und Kants Apriorismus einander gegenüberstellend,543 zu dem Urteil kommt: »Das Schicksal der Metaphysik bleibt also noch immer unentschieden«,544 erklärt Friedrich Gottlob Born in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen Abels System für ein hoffnungslos veraltetes Stück dogmatischer Metaphysik, das wie alle seine Vorgänger bald in Vergessenheit geraten sein werde.545
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Bezüge auf Schultzes Darstellung des Kritizismus, »die Herr Kant selbst für die wahre erklärt hat« (ebd., Anm.), finden sich in Abels Versuch durchgehend; vgl. zum Beispiel die unpaginierte Vorrede und S. 57, 69, 229, 268, 272. Vgl. ebd., S. 196f., 228, 242f., 276f. Vgl. auch Abel: Plan, S. 106, 109–116, 216, 224f. Vgl. Aders: Jacob Friedrich Abel, S. 12. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 5. November 1787, Landau 728. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 12. September 1787, Landau 674; ALZ, 19. September 1788, Sp. 756. Tübingische gelehrte Anzeigen, 29. November 1787, Landau 762. Vgl. auch schon Flatts äußerst positives Urteil über Abels Einleitung in die Seelenlehre und deren Antwort auf »die durch Hrn Kant so berühmt gewordene Frage von der Entstehung der ästhetischen Begriffe von Raum und Zeit und der Categorien« (Tübingische gelehrte Anzeigen, 15. Juni 1786, S. 379; die Rezension ist nicht in Landaus Anthologie aufgenommen). Vgl. AdB 74/1 (1787), Landau 594; AdB 84/2 (1789), S. 455f. Ebd., S. 458. Vgl. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 20. und 22. November 1787, Landau 752, 757.
126 Einhellig kritisiert werden Abels Defizite in der begrifflichen Präzision und der Systematik der Darstellung, Schwächen, die aus der eigenwilligen Vermischung von Psychologie und Metaphysik, von empirischen und transzendentalphilosophischen Elementen resultieren.546 Am schärfsten wird dieser Vorwurf in der Allgemeinen Literatur-Zeitung formuliert: Wie der Rezensent feststellt, ist bei dem in Abels Versuch vorgenommenen Vergleich des eigenen Systems mit demjenigen Kants »alles so schlecht gefaßt, und so schief dargestellt, daß man gar nicht weiß wo anzufangen, wenn man berichtigen wollte.«547 Am Ende des Artikels rechtfertigt der Verfasser die Länge seiner Rezension damit, dass er angesichts des weiterhin zu befürchtenden eklektischen Missbrauchs Kantischer Theoreme habe zeigen wollen, »was bey einer solchen Philosophie herauskommt, die Kantische Begriffe aufnimmt, ohne die Principien, aus denen sie hergeleitet sind, anzunehmen.«548 Im Zusammenhang mit Abels empirischer Herleitung des Begriffs vom Raum wird in der Rezension der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung auf eine soeben erschienene Untersuchung verwiesen, in der eine solche Herleitung auf überzeugendere Weise geleistet worden sei: Gemeint ist ein Artikel des schlesischen Kreisarztes Johann Joseph Kausch (1751–1825), der 1787 im dritten Heft der von ihm herausgegebenen Apologien erschien.549 Der Artikel versteht sich als Antwort auf die Aufforderung Kants in den Prolegomena, sein System zu prüfen,550 und konzentriert sich dabei auf die Frage nach dem Ursprung des Konzepts vom Raum. Dessen Entstehung führt Kausch ähnlich wie Abel auf Abstraktionsroutinen zurück, die sich in der frühkindlichen Konfrontation mit sinnlichen Eindrücken herausbilden und von da an die Erfahrung ordnen. Kausch kommt zu dem Ergebnis, dass der Raum letztlich »also doch ein empirischer Begriff« und »keine nothwendige Vorstellung a priori« sei, und ergreift damit in der aktuellen 546
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Vgl. Landau 478; 593, 596, 599f.; 747; Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, Januar 1788, Sp. 65; AdB 84/2 (1789), S. 458. Gelobt wird die Ordnung in Abels Darstellung dagegen in den Jenaischen gelehrten Anzeigen vom 1. Januar 1787 und in den Tübingischen gelehrten Anzeigen vom 30. Juli 1787 (vgl. Landau 482, 640). Autor der Jenaer Rezension war vermutlich Ulrich, auf den Abel sich häufig bezieht (vgl. Abel: Versuch, S. 191, 201, 216, 226f.; ders.: Plan, unpaginierte Vorrede). Vgl. auch die positive Besprechung des Versuchs in den Jenaischen gelehrten Anzeigen vom 25. Juni 1787 (Landau 623f.). ALZ, 19. September 1788, Sp. 761 [recte: 762]. Die mangelnde Präzision und Systematik in Abels Büchern ist ein zentraler Vorwurf in der gesamten Besprechung. Ebd., Sp. 766. Vgl. Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, Januar 1788, Sp. 67. Kauschs Artikel wurde allerdings in derselben Zeitschrift kurze Zeit später eher skeptisch besprochen; vgl. ebd., Sp. 173f. Johann Joseph Kausch: Fortsetzung des im ersten Heft der Apologien S. 53. abgebrochenen Aufsazes über Herrn P. Kants Schriften. In: Apologien 1 (1787), S. 329–351, hier S. 333.
127 philosophischen »Fehde, wo der tiefschauende große Kant und der so sehr berühmte Feder einander gegen über stehen«,551 für den letzteren Partei. Unmittelbarer Anlass für Kauschs Stellungnahme war ein offener Brief an die Herausgeber der Apologien gewesen, der im ersten Heft der Zeitschrift abgedruckt worden war. In diesem mit »Suitnack« (Ananym zu »Kantius«) unterzeichneten Brief werden nahezu sämtliche Vorurteile reproduziert, die zum damaligen Zeitpunkt unter den Gegnern Kants im Umlauf waren: Das Kantische System sei unverständlich und versponnen, es imponiere durch bloßen Wortschwulst, seine Anhänger (erwähnt werden der Gothaer Rezensent, Schultz, Schmid und Heinicke) seien unkritische Nachbeter usw.552 Kausch, der den Brief vermutlich selbst verfasste,553 um sich damit eine Vorlage für seine Abhandlung zu liefern, fügte ihm bereits im gleichen Heft eine kurze Antwort bei. Darin nimmt er Kant gegenüber den pauschalen Verunglimpfungen in Schutz und ruft seine Zeitgenossen zu allgemeinerer Prüfung des Kantischen Werks auf, welches ungeachtet des Ausgangs dieser Prüfung »zu ewigen Zeiten ein Denkmal menschlicher Anstrengung bleiben wird«.554 Deutlichster Ausdruck seines Respekts vor der Leistung des Königsberger Philosophen ist indes die panegyrische Ode auf den Herrn Professor Kant, die Kausch 1787 in der von ihm jährlich herausgegebenen Gedicht-Anthologie Schlesisches Bardenopfer veröffentlichte und in der Kant als tiefster Denker Europas geehrt wird.555 Die in den Apologien erhobenen Bedenken gegen die transzendentalphilosophische Theorie vom Raum wurden Kant vom Autor selbst zugeschickt.556 Auch der Anspruch Abels, einen Gegenentwurf zum Kantischen Apriorismus zu liefern, wurde von Kant und seinen Anhängern wahrgenommen. Schon Mitte des Jahres 1786, nach Erscheinen der Seelenlehre und der Abhandlung Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen, schreibt Hamann an Jacobi: »Kant hat einen wichtigen Nebenbuler an Abel in Stuttgart gefunden, der einen Ruff nach Göttingen hat.«557 Abels Plan einer systematischen Metaphysik war Bestandteil von Kants Bibliothek.558 Eine nähere Beschäftigung Kants mit Abel wird in einem Brief Hamanns vom 551 552 553
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Ebd., S. 342f., 330 Anm. Vgl. Suitnack: Brief [Meine Herren …]. In: Apologien 1 (1787), S. 42–48. So die Vermutung Peuckers, der sich der Kommentar der Akademie-Ausgabe anschließt (vgl. Peucker: Darstellung des Kantischen Systems, S. XIII; AA X 193). Kausch: Antwort, S. 50; vgl. auch ders.: Fortsetzung, S. 333. Ähnlich erklärt Abel, »daß Kants System, selbst wenn seine einzelne Säze die Probe nicht halten würden, dennoch eine höchst wichtige Epoche in der Geschichte der Philosophie machen müßte« (Abel: Versuch, Vorrede). Der Text ist im Kommentar der Akademie-Ausgabe wiedergegeben (AA X 192; vgl. auch Landau 633). Kausch übersandte Kant sowohl die Ode wie auch seine Abhandlung in einem Brief vom 29. Februar 1787 (vgl. AA X 476–478). H VI 442 (Brief vom 12. Juli 1786); vgl. auch H VI 466. Vgl. Warda: Immanuel Kants Bücher, S. 45.
128 Dezember 1786 angedeutet.559 Johann Bering verleiht in einem Brief an Kant vom Mai 1787 seinem Wunsch Ausdruck, letzterer möchte die Welt doch bald (nach der propädeutischen Vernunftkritik) mit seinem System der reinen spekulativen und praktischen Philosophie beschenken, denn, so heißt es mit Bezug auf den Plan einer systematischen Metaphysik: »Das Beyspiel des Abels ist abschreckend.«560 Im Kampf der Empiristen gegen die spekulative Philosophie, der laut Feder den »Mittelpunct« bildete, um den sich, »in der neuesten Geschichte der Philosophie, fast alles dreht«,561 waren durch die Arbeiten Feders und Abels die aktuellen philosophischen Optionen klarer als zuvor einander gegenübergestellt und Kant endgültig als neuer Hauptgegner einer auf Erfahrung und gesunden Menschenverstand gestützten Philosophie ausgemacht worden. Die entscheidende Phase in der Auseinandersetzung um die kritische Philosophie schien gekommen. Der Rezensent der Jenaischen gelehrten Anzeigen sieht Anfang 1787 in Abel die Vorhut des »Sturm[s]« derer, »die sich jetzt mit aller Macht wider Kant rüsten«.562 Und in seiner Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität stellt Flatt im August desselben Jahres befriedigt fest, dass mit den »in der lezten Meße erschienenen antikantischen Schriften« nach einer Zeit des bloßen Anstaunens nun endlich die Periode der kritischen Prüfung des Kantischen Systems begonnen habe.563 Es ist gut möglich, dass sich diese Bemerkung auch auf eine Untersuchung bezieht, die kurz nach Feders Buch erschien und in Form einer nur wenige Seiten umfassenden »Beylage« die – nach dem Urteil Hans Saners – »bedeutendste und folgenschwerste Kant-Kritik des Jahrzehnts« enthielt: Friedrich Heinrich Jacobis David Hume über den Glauben (1787).564 Im Jahr 1786, auf dem Höhepunkt des Streits mit Mendelssohn, hatte Jacobi sich auf Kant berufen, um seine rationalitätskritische Position gegen den Vorwurf der Schwärmerei zu verteidigen. Zu diesem Zeitpunkt hoffte er womöglich noch, vom Königsberger Philosophen Unterstützung im Streit mit den Berliner Aufklärern zu erhalten.565 Kants Aufsatz Was heißt: sich im 559 560 561
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Vgl. H VII 82 (Brief an Jacobi vom 4. Dezember 1786). AA X 488. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 8. März 1787, Landau 510 (Feders Anzeige seines Buches Ueber Raum und Caussalität). Jenaische gelehrte Anzeigen, 1. Januar 1787, Landau 483. Tübingische gelehrte Anzeigen, 30. August 1787, Landau 655. Saner: Widerstreit, S. 394. Beiser bezeichnet die »Beylage« als »one of the most influential criticisms of Kant ever written« (vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 122); für Hans Vaihinger ist sie »vielleicht das Beste und Wichtigste, was überhaupt jemals über Kant geäussert worden ist« (Hans Vaihinger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde [1881/92]. Stuttgart u. a. 21922 [Repr. 1970]. Bd. 2, S. 36). Mitteilungen Hamanns, Kant habe Jacobis Schriften im Spinoza-Streit wohlwollend aufgenommen (vgl. H VI 77, 161, 408) und arbeite selbst an einer Schrift gegen Mendelssohn (vgl. oben S. 79 Anm. 294; vgl. auch Jacobis Brief an Hamann vom 3. März 1786, JB I/5 85), hatten diese Hoffnung genährt (vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 122).
129 Denken orientieren? im Oktoberheft der Berlinischen Monatsschrift, in dem der Verfasser seinen philosophischen Kurs von Jacobi nicht weniger deutlich als von Mendelssohn abgrenzte, hatte diese Hoffnung endgültig zunichte gemacht. Jacobis Enttäuschung darüber bestärkte ihn in seinem Plan, mit einer Schrift gegen Kant hervorzutreten, wie der Brief an Hamann von Ende Oktober dokumentiert: »Ueber Kants Abhandlung weiß ich Dir kaum etwas zu sagen. Der Mann will mit aller Gewalt eine Secte stiften. Ich will versuchen, ob ich den Leuten begreifflich machen kann, was er eigentlich lehrt.«566 Der vollständige Titel des Buches, das Jacobi im Frühjahr 1787 veröffentlichte, lautet David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Vorrangig geht es in ihm darum, den Begriff des Glaubens zu verteidigen, wie Jacobi ihn im Pantheismusstreit verwendet und gegen den rationalistischen Demonstrationsgeist ausgespielt hatte. In der Auseinandersetzung mit Mendelssohn hatten Jacobi und in seinem Gefolge Wizenmann betont, dass es nicht nur unsere Überzeugung vom Dasein Gottes sei, die auf ›Glauben‹ basiere, sondern »jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt«,567 das heißt auch die Evidenz der Erfahrung, die anschauende Erkenntnis vom Dasein äußerer Gegenstände. Eine solche erkenntnistheoretische Ausweitung des Glaubensbegriffs hatte Jacobi vielerorts den Vorwurf der Begriffsverwirrung und des religiösen Fanatismus eingetragen.568 Gegen diese Angriffe setzt Jacobi sich nun zur Wehr, indem er darlegt, dass die Verwendung von Begriffen wie ›Glaube‹ und ›Offenbarung‹ im epistemischen Zusammenhang durchaus nichts Ungewöhnliches sei, sondern sich im Gegenteil auf prominente Vorbilder stützen könne. Als wich-
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Dass Jacobi sehr daran gelegen war, zu erfahren, wie Kant zu ihm stand, geht aus seinen Briefen an Hamann zwischen Oktober 1785 und Oktober 1786 an zahlreichen Stellen hervor. JB I/5 388 (Brief an Hamann vom 31. Oktober 1786). Schon am Ende seiner SpinozaBriefe hatte Jacobi »Gespräche« angekündigt (JW I/1 129f.), in denen er es, wie er gleichzeitig in einem Brief an Herder formuliert, auf eine »schlimmere Weise« mit Kant »zu thun kriegen« werde (JB I/4 166, Brief vom 3. September 1785). Vorübergehend plante Jacobi dann offenbar, die Auseinandersetzung mit Kant nicht als selbständige Schrift, sondern in Form einer der Neuauflage der Spinoza-Briefe vorangestellten Abhandlung vorzulegen (vgl. die Briefe an Kleuker und Lavater vom 25. August bzw. 15. September 1786, JB I/5 338, 350). Laut einem Brief an Hamann vom 30. April 1787 war die »Beylage« über den transzendentalen Idealismus schon vor Erscheinen von Kants Orientierungs-Aufsatz entworfen (vgl. H VII 184). JW I/1 116. Vgl. Wizenmann: Resultate, S. 31, 58–65. Vgl. Landau 274f., 383–388, 390 (Schütz in der Allgemeinen Literatur-Zeitung), 284–287 (Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen), 308f., 417f. (Gothaische gelehrte Zeitungen), 412f. (Neueste Critische Nachrichten), 429 (Feder in den Göttingischen Anzeigen), 489 (Tübingische gelehrte Anzeigen) sowie den zweiten Brief von Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie (TM, August 1786, S. 139f.). Vgl. auch Herders und Goethes Kritik in ihren Briefen an Jacobi vom 6. Juni bzw. 21. Oktober 1785 (HB V 128f., JB I/4 213).
130 tigste Autorität führt er David Hume an,569 von dessen skeptizistischen Tendenzen Jacobi sich jedoch zugleich distanziert.570 Außer mit Hume ist sein philosophisches Programm mit einem weiteren schottischen Denker verbunden, der in dem Buch erwähnt wird: Thomas Reid.571 Die von Reid vertretene Common-Sense-Philosophie, wonach die Realität der Dinge um uns herum nicht bewiesen werden kann, sondern eine intuitive, unmittelbare Gewissheit darstellt, weist auffällige Parallelen zu Jacobis Überzeugung auf, die Existenz äußerer Dinge müsse auf der Basis eines ›Glaubens‹ akzeptiert werden, weil alle Versuche, sie aus der Vernunft zu begründen, unweigerlich zur Entwertung der objektiven Realität zu subjektiven Erscheinungen führten.572 Jacobis erkenntnistheoretischer Realismus gibt die Richtung der KantKritik vor, die in der »Beylage« mit dem Titel Ueber den Transscendentalen Idealismus formuliert wird.573 Erneut ist es der Idealismusvorwurf, der die Auseinandersetzung bestimmt.574 Jacobi beschuldigt Kants System der Widersprüchlichkeit. Einerseits gehöre es zu den Voraussetzungen dieses Systems, von objektiven Dingen an sich auszugehen, die auf unsere Sinnlichkeit wirken und die Ursache unserer Vorstellungen sind, und dadurch einen Kern von Realismus zu bewahren. Andererseits bedeute diese Voraussetzung aber einen Verstoß gegen Kants transzendentale Grenzziehung, wonach wir von dem, was unseren Vorstellungen zugrunde liegen mag, nicht das Geringste wissen können.575 Konsequenterweise, so Jacobi, müsste der Anhänger des 569
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Vgl. JW II/1 24–34. Zu Humes epistemischem Glaubensbegriff vgl. Graubner: Erkenntnisbilder, S. 142f. Zur Hume-Rezeption der deutschen ›Glaubensphilosophen‹ vgl. auch Beck: Early German Philosophy, S. 366; Isaiah Berlin: Hume und die Quellen des deutschen Antirationalismus. In: ders.: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Hg. von Henry Hardy [engl. 1980]. Frankfurt a. M. 1982 (Europäische Bibliothek, Bd. 10), S. 259–290; Kuehn: Skepticism, S. 86–88. Vgl. JW II/1 31f., 55. Vgl. JW II/1 22f. Vgl. JW II/1 32f., 35–37. Zur Forschungsdiskussion über Reids Bedeutung für Jacobi vgl. die Literaturhinweise oben S. 21 Anm. 75. Vgl. JW II/1 101–112. Einzelne kritische Bemerkungen gegen Kant finden sich auch schon im Hauptteil der Schrift; vgl. JW II/1 60f. Zu Jacobis Kant-Kritik vgl. auch Beiser: Fate of Reason, S. 122–126; Wilhelm Metz: Die Objektivität des Wissens. Jacobis Kritik an Kants theoretischer Philosophie. In: Friedrich Heinrich Jacobi, hg. von Jaeschke/Sandkaulen, S. 3–18, hier S. 4–8. Vgl. Jacobis Brief an Hamann vom 14. November 1786: An Kants Auslegern ärgere ihn »das geflißentliche Verstecken des Idealismus, der doch die Seele des Systems ist« (JB I/5 411). Jacobi spitzt den Widerspruch zu der berühmten Formulierung zu, dass man »ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben« könne (JW II/1 109). Seit Wilhelm Windelband wird Jacobis Kant-Kritik in der Forschung häufig so paraphrasiert, dass sie sich gegen die illegitime Anwendung der Verstandeskategorien (vor allem der Kategorie der Kausalität) auf das Feld des Transzendenten richte. Ein genauer Blick auf Jacobis Text zeigt allerdings, dass darin von Kategorienmissbrauch explizit nirgendwo die Rede ist (anders als sechs
131 Kantischen Systems die Rede vom Ding an sich ganz aufgeben und sich zu einem rückhaltlosen Idealismus bekennen, wonach alle Gegenstände der Erfahrung nichts weiter als subjektive Bewusstseinsinhalte sind. Obwohl es sich bei Jacobis Kant-Kritik in gewisser Weise nur um eine neue Version des Common-Sense-gestützten Idealismusvorwurfs handelte, wie ihn zuvor zum Beispiel Feder vorgebracht hatte,576 war ihr langfristig eine ungleich größere Wirkung beschieden. Jacobis glaubensphilosophische Position ermöglichte es ihm, seine Idealismuskritik und den damit verbundenen Vorwurf des erkenntnistheoretischen Solipsismus klarer und radikaler zu formulieren als Empiristen wie Feder, die an der mediatisierenden Funktion des subjektiven Erkenntnisvermögens im Bereich der Erfahrung festhielten und in gewisser Weise selbst einer Art gemäßigtem Idealismus anhingen.577 Die Prägnanz, mit der Jacobi die Probleme der Kantischen Lehre vom Ding an sich herausstellte, lieferte der Entwicklung der nachkantischen Philosophie bedeutende Impulse.578 Die ersten Reaktionen auf den David Hume ließen von dieser Wirkung allerdings wenig ahnen. Die Mehrheit der Rezensenten konzentriert sich auf die Ausführungen im Hauptteil, die an den Streit mit Mendelssohn anknüpfen, und berührt die Auseinandersetzung mit Kant gar nicht oder nur am Rande. Der Rezensent der Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen bemerkt lapidar, die in der Beilage enthaltenen Einwürfe gegen Kant seien schon von Reimarus und Feder vorgebracht worden.579 Die Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung immerhin würdigt Jacobis Aufsatz als »eine[n]
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Jahre später in Gottlob Ernst Schulzes Aenesidemus). Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 346 Anm. 66; Birgit Sandkaulen: Das »leidige Ding an sich«. Kant – Jacobi – Fichte. In: Kant und der Frühidealismus. Hg. von Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007 (KantForschungen, Bd. 17), S. 175–202, hier S. 179–181. In der Diskussion wird meistens übersehen, dass der Vorwurf der transzendenten Kategorienanwendung zuerst weder von Jacobi noch von Schulze gegen Kant erhoben wurde, sondern von Hermann Andreas Pistorius (1786 in seiner Rezension zu Schultzes Erläuterungen). Vgl. unten S. 149 sowie Gesang: Einleitung, S. XVII–XX. Vgl. auch Feders Zusammenfassung von Jacobis Kant-Kritik in seiner Besprechung des David Hume: »In einer Beylage wird der Kantische Idealismus noch besonders näher beleuchtet, und gezeigt, wie derselbe, wenn er mit sich selbst und mit seinen Gründen einstimmig erhalten werden soll, mit dem empirischen Realismus, oder der Vorstellung des gemeinen Menschenverstandes von der Wirklichkeit der Dinge ausser uns, unmöglich vereinigt werden könne« (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 28. Juli 1787, Landau 637). Vgl. Kuehn: Scottish Common Sense, S. 79–81; Metz: Die Objektivität des Wissens, S. 12. Zur Wirkung Jacobis auf G.E. Schulze, Maimon und Fichte vgl. den Kommentar zum David Hume, JW II/2 585–588. Vgl. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 13. November 1787, Landau 739. Gar nicht oder nur am Rande berührt wird Jacobis Kant-Kritik außer in der oben genannten Rezension Feders auch in folgenden Besprechungen: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 2. November 1787, Landau 722f.; AdB, Anhang zum 53.–86. Band (1791), 4. Abt., S. 1988–1997.
132 von den wichtigern, die gegen das Kantische System erschienen sind«, da er »eine der Grundsäulen desselben« angreife.580 Stärker beeindruckt zeigt sich Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen: Er zählt Jacobis Beitrag zu den wichtigsten nicht nur unter allen anti-kantischen Schriften, sondern unter den philosophischen Produkten des Zeitalters überhaupt und lobt die »sehr starken, aber treffenden« Äußerungen gegen den transzendentalen Idealismus.581 Verteidigungen Kants finden sich erwartungsgemäß in der Rezension der kantfreundlichen Gothaischen gelehrten Zeitungen und in August Wilhelm Rehbergs Besprechung für die ALZ.582 Die ausführlichste Antwort eines Kantianers auf Jacobi stammt von Ludwig Heinrich Jakob und erschien 1787 in den Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt. Diese von dem Leipziger Philosophieprofessor Karl Adolph Cäsar (1744–1810) herausgegebene Zeitschrift vertrat insgesamt eher die Linie der eklektischen Popularphilosophie,583 was sie nicht daran hinderte, hin und wieder auch engagierte pro-kantische Stellungnahmen zu veröffentlichen. So war im selben Jahr bereits ein anonymer Artikel von Georg Gustav Fülleborn (1769– 1803) mit dem Titel Ueber die Axiome abgedruckt worden, in welchem Kants Leistung gewürdigt wird, durch Abgrenzung der philosophischen von der mathematischen Erkenntnisart die Metaphysik neu begründet zu ha580 581
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Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, Juli 1788, Sp. 1259. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 8. November 1787, Landau 728f., 730. Zur Wirkung Jacobis auf Flatt vgl. Henrich: Grundlegung aus dem Ich, Bd. 1, S. 64–66. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 27./30. Juni 1787, Landau 628, 631; ALZ, 16. April 1788, Sp. 107f. Zu der letzteren Besprechung vgl. auch den Abdruck und Rehbergs Kommentar in Rehberg: Sämmtliche Schriften, Bd. 1, S. 23–37. Eine mit Anmerkungen versehene Wiedergabe der Rezension sowie der sich daran anschließenden Diskussion in Briefen und Anti-Kritiken bietet Oscar Fambach: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik. Bd. 3: Der Aufstieg zur Klassik (1750–1795). Berlin 1959, S. 398–419. So die Charakterisierung bei Erdmann, Entwicklung der deutschen Spekulation I, S. 247. Vgl. auch die oben erwähnten Rezensionsartikel der Denkwürdigkeiten zu Schultzes Erläuterungen und Kants Grundlegung, in denen gegen Kants radikale Entwertung bisheriger philosophischer Ansätze protestiert wird (Landau 140, 218). Das anmaßende Auftreten übereifriger Kantianer und die Dunkelheit der Kantischen Philosophie wird auch in dem folgenden Artikel angeprangert: Anonym: Fragmentarische Ideen über Raum und Zeit in Beziehung auf Kants Kritik der reinen Vernunft. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 6 (1788), S. 191–223 (auch in Hausius II 18–41, hier 36 Anm.). Zur Skepsis des Herausgebers gegenüber der Kantischen Bewegung vgl. die ALZ-Besprechung einer lateinischen Schrift Cäsars von 1789 (ALZ, 31. Dezember 1789, Sp. 783f.) sowie den Brief Jacob Sigismund Becks an Kant vom 1. August 1789 (AA XI 70). Zur Biographie und zum philosophischen Profil Karl Adolph Cäsars vgl. die Angaben Italo F. Baldos in: Storia delle storie generali della filosofia. Hg. von Giovanni Santinello. Bd. 3/II: Il secondo illuminismo e l’età kantiana II. Padova 1988 (Pubblicazioni dell’istituto di storia della filosofia e del centro per ricerche di filosofia medioevale, nuova serie, Bd. 34), S. 646–652.
133 ben.584 Im darauffolgenden Band erschien nun der Brief des Hrn. Prof. Jakob in Halle an den Herausgeber, des Hrn. Jacobi Idealismus und Realismus betreffend.585 Darin hebt Jakob es als Vorzug der Kantischen Philosophie hervor, dass sie sich (im Gegensatz zu den dogmatischen Metaphysikern, zu denen er auch Jacobi zählt) nicht anmaße, über mehr als über bloße Erscheinungen Aussagen treffen zu wollen. Kants Rede vom zugrundeliegenden transzendentalen Objekt rechtfertigt er damit, dass dieses ja in keiner Weise näher bestimmt werde, sondern nur ein »problematisches Etwas« anzeige, »das nicht Erscheinung ist, und worauf unsre Vernunft unaufhörlich geführt wird, das aber immer für sie nur ein logisches Object bleibt«.586 Ergänzt wurde die anti-idealistische Kampagne gegen Kant durch einen Aufsatz mit dem Titel Der Idealist, widerlegt durch sich selbst, der 1787 im zweiten Band der Zeitschrift Philosophische Unterhaltungen erschien. Im transzendentalen Idealismus sieht der anonyme Verfasser den eigentlichen »Geist« der Kritik der reinen Vernunft, »dieses so berühmten Werkes«.587 Die Auseinandersetzung konzentriert sich im Folgenden auf die Antinomie der Vernunft, die den »Mittelpunct der ganzen Kantischen Critic« ausmache.588 Kants Behauptung vom notwendigen Streit der Vernunft mit sich selbst589 wird als unzulässig zurückgewiesen, weil sie durch eine idealistische Voraus584
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Vgl. [Georg Gustav Fülleborn:] Ueber die Axiome. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 4 (1787), S. 85–102 (im folgenden zitiert nach Hausius II 41–52). Bei der Identifizierung des Autors folge ich Adickes: German Kantian Bibliography, S. 59 (Nr. 310). Fülleborn studierte seit 1786 in Halle Philosophie, Theologie und Philologie. 1791 wurde er Gymnasialprofessor für klassische Sprachen am Elisabethanum in Breslau. Er war Herausgeber der Beyträge zur Geschichte der Philosophie (1791–1799), zu deren Mitarbeitern auch Reinhold gehörte. So der ausführliche Titel im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift. Der Beitrag selbst trägt die Überschrift »An den Hrn Prof. Cäsar«, ist auf den 15. August 1787 datiert und von Jakob unterzeichnet. Vgl. Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 5 (1787), S. 228–243. Vgl. auch schon Jakobs Brief an Kant vom 28. Juli 1787: »HE. GehR. Jakobi hat auf eine grobe Art den Transsc. Idealismus misverstanden« (AA X 492). Jakobs Aufsatz wurde Kant von Cäsar zugeschickt; vgl. dessen Brief an Kant vom 1. November 1787 (AA X 501f.). Jakob: Brief an den Herausgeber, S. 233; vgl. auch S. 236. In Pistorius’ Rezension zu Jakobs Aufsatz wird dagegen der Idealismusvorwurf bekräftigt: Indem Kant jeden Zugang unseres Erkenntnisvermögens zur realen Außenwelt negiere, indem er es also ganz auf seine eigene Ideenwelt einschränke, sei der transzendentale Idealismus von dem Idealismus Berkeleys letztlich nicht zu unterscheiden. Vgl. AdB 82/1 (1788), S. 137f. Anonym: Der Idealist, widerlegt durch sich selbst. In: Philosophische Unterhaltungen 2 (1787), S. 117–163, hier S. 119; vgl. S. 163. Ebd., S. 132; vgl. S. 163. Der Verfasser bezieht sich vor allem auf das (von ihm unvollständig wiedergegebene) Argument Kants, dass der Anspruch der Vernunft, zu einem gegebenen Bedingten die vollständige Reihe der Bedingungen aufzusuchen, in der Erfahrung scheitern muss, weil die Erscheinungen, mit denen wir es hier zu tun haben, an bestimmte raumzeitliche Erkenntnisformen wie Sukzession gebunden sind und deshalb als Glieder einer Bedingungsreihe niemals eine absolute Totalität bilden können. Vgl. KrV A 497/ B 525–A 502/B 530.
134 setzung erschlichen sei, nämlich durch die Einführung einer Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung. Im Grunde handle es sich nicht um einen Streit der Vernunft mit sich selbst, sondern um einen Streit zwischen der »gesunde[n] Vernunft«, die die Erscheinungen als Dinge an sich behandelt,590 und dem (unvernünftigen) Idealismus, der bei Kant zuletzt die Vernunft als oberste Autorität verdränge.591 Ohne Einmischung des Idealismus, so der Verfasser, käme es zu gar keinen Widersprüchen, Kants kosmologische Ideen ließen sich als zweifelsfreie Wahrheiten beweisen, wie besonders am Beispiel der Idee der Freiheit näher ausgeführt wird.592 Während der mit »W.« unterzeichnende anonyme Autor der Philosophischen Unterhaltungen sich durch seinen eifernden Tonfall mehr oder weniger selbst disqualifizierte,593 stellte der massierte Widerstand, der Kant zu Beginn des Jahres 1787 in einer Reihe von Schriften von zum Teil prominenten Autoren entgegenschlug, insgesamt eine ernste Herausforderung für das weitere Schicksal der kritischen Philosophie dar. Kants Anhänger waren sich über die Brisanz der Lage im klaren. Bering hält es in einem Brief an Kant für notwendig, »daß irgend Jemand, der der Sache gewachsen HE Feder zurecht wieße«, und fragt: »Werden Sie nicht auf Herrn Feders Schrift antworten?«594 Und Christian Gottfried Schütz begründet seine Entscheidung, die von Kants Schüler Kraus verfasste Meiners-Rezension trotz ihres Umfangs in voller Länge in der ALZ abzudrucken, mit dem Hinweis, dass »wirklich die itzige Crisis höchst wichtig ist.«595 Da mag es zunächst verwundern, dass Kant ausgerechnet zu dieser Zeit den Entschluss fasste, sich vom polemischen Tagesgeschäft zurückzuziehen.596 So lehnt er im Brief an Schütz vom 25. Juni 1787 nicht nur die Besprechung des gerade erschienenen dritten Teils von Herders Ideen ab (sie wurde wiederum Kraus übertragen),597 sondern er erklärt auch, hinsichtlich der weiteren Beförderung seiner Philosophie ganz auf die Wirkung der kurz vor der Vollendung stehenden Kritik der praktischen Vernunft vertrauen zu wollen.598 590 591 592 593 594 595 596
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Anonym: Der Idealist, widerlegt durch sich selbst, S. 120. Vgl. ebd., S. 134–136, 140–142, 157. Vgl. ebd., 142–157. Vgl. die entsprechende Abfertigung in der ALZ, 1. Juli 1788, Sp. 5f. AA X 488 (Brief vom 28. Mai 1787). AA X 479 (Brief an Kant vom 23. März 1787). Eine entsprechende Mitteilung in einem verlorenen Brief an Schütz geht aus dessen Antwort vom 23. März 1787 hervor (vgl. AA X 480). Vgl. auch das Ende der auf April 1787 datierten Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Meinerseits kann ich mich auf Streitigkeiten von nun an nicht einlassen« (KrV B XLIII). Vgl. zu den näheren Umständen Stark: Kant und Kraus, S. 173–178. Vgl. den Brief an Schütz vom 25. Juni 1787 (AA X 490) sowie auch den Brief an Jakob vom 11. September [?] 1787, in dem Kant seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, die Kritik der praktischen Vernunft werde »die Mißverständnisse der theoretischen heben« (AA X 494). Ähnlich äußert Kant sich in seinem Brief an Reinhold vom 28. Dezember 1787 (vgl. AA X 514).
135 Kants Entschluss zu polemischer Enthaltsamkeit ist jedoch konsequent angesichts seiner unerschütterlichen Überzeugung von der Wahrheit seines Systems. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung hatte seine Hauptsorge nach Veröffentlichung der Kritik nur die sein können, durch zusätzliche publizistische Anstrengungen zu verhindern, dass seine Philosophie vorschnell als dunkel und esoterisch abgeurteilt würde599 und auf diese Weise von vornherein jeglicher Möglichkeit beraubt wäre, die Zustimmung zu erhalten, zu der nach Kants Meinung jede sorgfältigere Beschäftigung mit ihr unweigerlich führen müsse. In den Worten Kants: »[W]iderlegt zu werden, ist […] keine Gefahr, wohl aber, nicht verstanden zu werden.«600 Jetzt, sechs Jahre nach Erscheinen der Kritik, als Kant diese Bemerkung in der Vorrede zur zweiten Auflage niederschrieb, waren seine Ideen bereits soweit durchgedrungen, dass ›die Maschine lief‹601 und die endgültige allgemeine Annahme seiner Philosophie, trotz aller vorhandenen Widerstände, aus Kants Sicht nur noch eine Frage der Zeit sein konnte. Beiser fasst den Rang, den die Kantische Philosophie in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen eingenommen hatte, wie folgt zusammen: »By the year 1787 Kant was an established figure on the intellectual scene. He had influential disciples in various universities; Reinhold’s popular Briefe über die kantische Philosophie had appeared; and the Allgemeine Literatur-Zeitung, a pro-Kantian journal, had been in cirulation for years. Kant was becoming popular […]«.602 Ein Zeichen der wachsenden Popularität Kants war nicht zuletzt natürlich auch der Umstand, dass eine zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft notwendig geworden war. Schon im April 1786 berichtet Kant an Bering, dass die erste Auflage komplett verkauft sei und sein Verleger Hartknoch ihn zur Besorgung einer zweiten Auflage dränge.603 Mit der Arbeit daran hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.604 Nach einer (im Wortlaut vermutlich direkt auf Kant zurückgehenden) öffentlichen Ankündigung der Neuauflage in der ALZ vom 21. November 1786605 erschien das Buch dann im Juni des darauffolgenden Jahres. 599
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Vgl. Kants Brief an Schultz vom 21. August 1783. Kant berichtet, dass er sich angesichts der schleppenden Rezeption seiner Philosophie schon gefragt habe, ob er wegen mangelnder Verständlichkeit der Darstellung letztlich »alle Arbeit vergeblich aufgewandt haben möchte« (AA X 350f.). Diese Befürchtung war ja ein Grund dafür gewesen, weshalb er sich an Schultz gewandt hatte mit der Bitte, ihn publizistisch zu unterstützen. Vgl. Theis: Der »wackere Pastor Schultz«, S. 73. KrV B XLIII. Zu Kants Gebrauch dieser Metapher vgl. oben S. 28 Anm. 22. Beiser: Fate of Reason, S. 193. Vgl. AA X 441 (Brief vom 7. April 1786). Vgl. Hamanns Brief an Jacobi vom 25. März 1786: »Kant […] arbeitet jetzt an einer neuen Auflage seiner Kritik« (H VI 330). Vgl. Landau 471f. sowie dazu Schröpfer: Kants Weg, S. 244f. Erwähnt worden war die geplante Neuauflage zuvor bereits in ALZ vom 9. Mai 1786 und in den Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen vom 23. September 1786 (vgl. Landau 377, 433).
136 Die Veränderungen, die Kant in der Neuauflage der Kritik der reinen Vernunft vornahm, sind zahlreich und zum Teil gravierend. In der Kant-Forschung haben sie schon früh zu einer intensiven Diskussion darüber geführt, ob sie lediglich als Verbesserungen und Erläuterungen des im Grundsatz unveränderten vernunftkritischen Projekts anzusehen sind oder ob sie dieses Projekt in seiner philosophischen Substanz tangieren.606 Im vorliegenden Zusammenhang interessieren die Veränderungen nur insoweit, als es sich um direkte und offensichtliche Reaktionen Kants auf die bisher dargestellten Einwände gegenüber der ersten Auflage handelt. Dass Kant sich in seiner Neubearbeitung der Kritik zum Teil an diesen Einwänden orientierte, geht aus mehreren Äußerungen hervor. Schon im Brief an Bering vom April 1786 erklärt Kant, er wolle in einer zweiten Auflage »auf alle die Misdeutungen, oder auch Unverständlichkeiten, die mir binnen der Zeit des bisherigen Umlaufs dieses Werks bekannt geworden, Rücksicht nehmen.«607 In der Ankündigung der ALZ wird vermerkt, Kant habe sich bei seiner Neubearbeitung der Kritik von der »schärfsten Prüfung und Benutzung aller Erinnerungen, die ihm dawider bisher vor Augen gekommen«, leiten lassen.608 Und schließlich erklärt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage, sie solle dazu beitragen, die »Mißdeutungen« zu beheben, »welche scharfsinnigen Männern, vielleicht nicht ohne meine Schuld, in der Beurteilung dieses Buchs aufgestoßen sind.«609 Zwei grundsätzliche Kritikpunkte, so haben die bisherigen Ausführungen immer wieder bestätigt, standen im Zentrum der frühesten Diskussion um die Kantische Philosophie, und beiden versucht Kant in der zweiten Auflage seines Hauptwerks Rechnung zu tragen: zum einen der Idealismusvorwurf, der auch nach den Klärungsbemühungen in den Prolegomena mit unvermindertem Nachdruck erhoben wurde; zum anderen die Kritik am destruktiven Charakter einer Philosophie, welche die metaphysischen Grundlagen von Naturerkenntnis, Religion und Moral zerstöre. Was den ersten Punkt betrifft, so nimmt Kant am Text der Neuauflage zahlreiche Eingriffe und Ergänzungen vor, die auf die Abmilderung idealistischer Töne zielen, indem zum Beispiel der Unterschied zwischen den Begriffen ›Erscheinung‹ und ›Schein‹ betont610 und die Notwendigkeit der Annahme von Dingen an sich stärker hervorgehoben wird.611 Die auffälligste Änderung ist die Hinzu606
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Vgl. dazu die zusammenfassenden Bemerkungen bei Michael C. Washburn: The Second Edition of the Critique: Toward an Understanding of Its Nature and Genesis. In: Kant-Studien 66 (1975), S. 277–290, hier S. 277. AA X 441. Vgl. auch Kants Brief an Jakob vom 26. Mai 1786 (AA X 450f.). Landau 471. KrV B XXXVII. Vgl. KrV B 67–73. Eine ausführliche und kritische Darstellung dieser Änderungen bietet Erdmann: Kants Kriticismus, 189–209. Vgl. auch Pollok, Einleitung zu Kants Prolegomena, S. XXXVII– XXXIX.
137 fügung eines Abschnitts mit dem Titel »Widerlegung des Idealismus«, der zu den meistdiskutierten Passagen von Kants Vernunftkritik überhaupt gehört.612 Kant bezeichnet diesen Abschnitt in der Vorrede als die einzige »[e]igentliche Vermehrung«613 der neuen Auflage; konkret ist sie womöglich eine Reaktion auf die Idealismusvorwürfe Feders und Abels.614 612
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Vgl. KrV B 274–279 und zur Diskussion die zusammenfassenden Bemerkungen und Literaturangaben bei Dietmar Hermann Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus. Berlin/New York 1998 (Kant-Studien, Ergänzungshefte, Bd. 131), S. 6–11; Frederick C. Beiser: German Idealism. The Struggle against Subjectivism, 1781–1801. Cambridge (Mass.)/London 2002, S. 104f. und 621 (Anmerkungen). KrV B XXXIX. So die Vermutung bei Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 92 Anm. 16, S. 93. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, war der Idealismusvorwurf seit der Göttinger Rezension allerdings in der gesamten zeitgenössischen Diskussion um die Kantische Philosophie präsent. Ein direkter Zusammenhang von Kants Idealismus-Widerlegung mit Jacobis David Hume, der jüngst erst wieder von Gerd Irrlitz hergestellt wurde (vgl. Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch, S. 184f.), ist aus chronologischen Gründen jedoch auszuschließen: Jacobis Buch erschien erst im April 1787, zu einem Zeitpunkt also, als Kant die Arbeit an der Neuauflage der Kritik bereits so gut wie abgeschlossen hatte (vgl. die Angaben zur Entstehungsgeschichte der beiden Werke, JA II/2 447f. und AA III 557f.). Zu Forschungsmeinungen, wonach Kants neue Idealismus-Widerlegung auf die Auseinandersetzung mit Jacobi, Descartes, Hume, Ulrich oder Schultz zurückzuführen sei, vgl. auch die Gegenargumente und Literaturangaben bei Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 93f. Anm. 18. Was Feders Einfluss angeht, so stellt sich die Frage, wie weit auch dessen jüngste Schrift noch für die Neubearbeitung der Kritik eine Rolle gespielt haben kann. Dass sie eine Rolle spielte, wird durch eine Äußerung aus Kants unmittelbarem Umfeld belegt. In einem Brief an Schütz vom 22. Juli 1787 teilt Johann Schultz über Kants Arbeit an der zweiten Auflage mit: »Er gedachte auch der Federschen Schrift über Raum und Causalität« (Christian Gottfried Schütz. Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienstes; nebst einer Auswahl aus seinem litterarischen Briefwechsel mit den berühmtesten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit. Hg. von Karl Julius Schütz. Bd. 2. Halle 1835, S. 465). Feders Vorrede zu seinem Buch ist auf den 31. Januar 1787 datiert (vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XXX). Angesichts des engen zeitlichen Fensters kommt für eine Reaktion Kants nur die Vorrede zur Kritik in Betracht, an der er bis April 1787 arbeitete, während der Haupttext zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon im Druck vorlag (vgl. Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 93 Anm. 17). Heidemann hat höchstwahrscheinlich Recht (vgl. ebd., S. 93), wenn er in der Anmerkung, mit der Kant in der Vorrede auf die Idealismus-Widerlegung hinweist, eine Reaktion auf Feders gerade erschienenes Buch sieht, in welchem der Idealismusvorwurf ja mit neuer Vehemenz erhoben worden war. Ein solcher Zusammenhang wurde nicht nur rückblickend von Feder selbst vermutet (vgl. Feder: Leben, S. 120); er wird auch durch den Wortlaut der Anmerkung nahegelegt. Kant betont, der Idealismus sei durchaus ein »Skandal« der Philosophie, mag er auch im Hinblick auf die wesentlichen Zwecke der Metaphysik »für noch so unschuldig gehalten werden« (KrV B XXXIX). Feder hatte erklärt, der Idealismus sei keine Meinung, die »irgend einen Einfluß auf die Bevölkerung, auf Tugend und Glückseligkeit befürchten lässet, wie etwa der Atheismus. Er ist an sich eine in so weit unschuldige nur freylich ein wenig excentrische Hypothese […]« (Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 114f.). Eine stärkere These zum Einfluss Feders auf Kant vertritt Claude Piché: Feder et Kant
138 In dem Abschnitt geht es, wie Kant erläutert, nicht um den Idealismus Berkeleys, der die Existenz von Dingen außer uns schlechthin bestreitet – diesen »dogmatischen« Idealismus sieht Kant durch seine transzendentale Ästhetik hinreichend widerlegt. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr der »problematische« Idealismus, der die Frage, ob unserer Erfahrung reelle äußere Gegenstände entsprechen, für zweifelhaft erklärt und laut Kant »vernünftig und einer gründlichen philosophischen Denkungsart gemäß« ist.615 Kants Beweis für die Realität von äußeren Gegenständen besteht nun in dem Argument, dass sie durch das empirische Bewusstsein vom Ich als einem zeitlich bestimmten Dasein notwendig vorausgesetzt wird, da die innere Erfahrung, als ein Wechsel von Vorstellungen, sich allererst in Abhebung von einem äußeren Beharrlichen konstituieren kann, das seinerseits nicht wiederum nur Vorstellung ist. Was den zweiten Punkt angeht, die Kritik am negativen, zerstörerischen Charakter der Kantischen Philosophie, so findet auch sie ihren Niederschlag in den Änderungen der neuen Auflage. Dem Vorwurf, Kants Werk untergrabe elementare religiöse und moralische Überzeugungen, waren Kant und Schultz (wie oben dargestellt) schon in den Prolegomena bzw. den Erläuterungen mit dem entschiedenen Hinweis begegnet, dass die Vernunftkritik dazu diene, den Bereich der Religion vor Übergriffen der spekulativen Vernunft zu schützen. In ähnlicher Form findet sich das Schutzfunktions-Argument auch am Ende der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.616 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft führt Kant dieses Argument nun breiter aus als zuvor, und zwar an exponierter Stelle, nämlich bereits in der Vorrede.617 Hier wird das unverändert zum negativen Hauptzweck der Kritik erklärte Projekt, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen, durch Erläuterungen qualifiziert, die den positiven Nutzen einer solchen Grenzbestimmung nachdrücklich betonen. Durch diese Grenzbestimmung, so Kant, werde die spekulative Vernunft davon abgehalten, Überzeugungen bestreiten zu wollen, zu denen uns die praktische Vernunft notwendig führe, wie die von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit; durch sie werde mithin dem Materialismus, Fatalismus und Atheismus und letztlich dem Idealismus und Skeptizismus ein für allemal ein Riegel vorgeschoben. Kants Argument kulminiert in dem berühmten Satz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.618
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en 1787. Le § 27 de la déduction transcendantale. In: Années 1781–1801: Kant, Critique de la raison pure. Vingt ans de réception. Actes du 5e Congrès international de la Société d’études kantiennes de langue française, Montréal, 27–29 septembre 2001. Hg. von Claude Piché. Paris 2002, S. 67–76. KrV B 275. Vgl. WA IV 93. Vgl. KrV B XXIV–XXXIV sowie dazu Erdmann: Kants Kriticismus, S. 171–177. KrV B XXX.
139 Nicht nur im Hinblick auf Religion und Moral wird der positive Charakter der Kritik der reinen Vernunft in Kants Vorrede unterstrichen, sondern erneut auch im Hinblick auf eine künftige »Metaphysik als Wissenschaft«. Kant knüpft hier an Aussagen an, mit denen er bereits in den Prolegomena für sein philosophisches Projekt geworben hatte. Indem die Vernunftkritik es unternimmt, das Vermögen der Vernunft, ihre Prinzipien und möglichen Objekte vollständig und genau zu umreißen, schafft sie laut Kant die Voraussetzungen für eine zukünftige Metaphysik als systematisch-strenge und schulgerechte Wissenschaft.619 Fortgeführt wird diese Perspektive in den neu hinzugekommenen Abschnitten V. und VI. der Einleitung, die sich in Inhalt und Wortlaut eng an die Prolegomena (§§ 2, 4, 5) anlehnen und den von dort bekannten Fragenkatalog – wie sind reine Mathematik, reine Naturwissenschaft und Metaphysik als positive theoretische Wissenschaften möglich – als argumentatives Gliederungsprinzip übernehmen.620 Da Aufbau und Inhalt der Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage im großen und ganzen unverändert blieben, begnügen sich die meisten Zeitschriften mit einer relativ kurzen Anzeige des Buchs. Sie beziehen sich dabei hauptsächlich auf die neue Vorrede, in der Kant Umfang und Absicht seiner Änderungen erläutert. Das erklärte Ziel Kants, einzelnen zweifelhaften Punkten seiner Philosophie durch eine veränderte Darstellung größere Deutlichkeit zu verleihen, wurde nicht erreicht – so der verbreitete Kommentar.621 Einzig der Gothaer Rezensent feiert Kants in der Vorrede skizzierte erkenntnisphilosophische Wende als entscheidende Voraussetzung für eine Metaphysik, die den Namen einer Wissenschaft verdienen will.622 Demgegenüber kann Pistorius in der Allgemeinen deutschen Bibliothek in Kants apodiktischem Ton nichts anderes als ein Zeichen unerträglicher Arroganz sehen, die es nicht für nötig hält, auf die gewichtigen Einwürfe so berühmter Gelehrter wie Feder oder Reimarus in differenzierter Weise einzugehen.623 Kants kopernikanische Wende, wonach unsere Erkenntnis nicht in Abhängigkeit von den Gegenständen, sondern die Gegenstände in Abhängigkeit von unserem Erkenntnisvermögen betrachtet werden, kritisiert Pistorius als abwegig; er pocht dagegen auf das »reelle, von unsrer Vorstellung unabhängige, durch sich selbst subsistirende Daseyn einer wirklichen Außenwelt«, das keines619 620
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Vgl. KrV B XXII–XXIV, XXXf., XXXV–XXXVII. Vgl. KrV B 14-B 24. Zu Kants neuem Akzent auf der Begründung der Metaphysik als positiver Wissenschaft vgl. auch die Diskussion bei Erdmann: Kants Kriticismus, S. 177–189, wo der mögliche Eindruck einer ›rationalistischen‹ Verschiebung des vernunftkritischen Projekts zurückgewiesen wird. Vgl. KrV B XXXVII–XXXVIII; Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 11. August 1787, Landau 651; Neueste Critische Nachrichten, 22. September 1787, Landau 676; Tübingische gelehrte Anzeigen, 20. November 1788, S. 738. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 22. März 1788, S. 206f. Vgl. AdB 81/2 (1788), S. 343f. Zu Pistorius’ Rezension vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 189; Sassen: Introduction, S. 25–27.
140 wegs unserer Einbildung unterworfen sei, sondern uns ja im Gegenteil objektive Widerstände entgegensetze, nach denen wir uns richten müssen.624 An diese Kritik schließt sich bei Pistorius nahtlos die Zurückweisung von Kants neuer Widerlegung des Idealismus an: Sie stehe im Widerspruch zu Kants übrigem System, vor allem zur Lehre von der Subjektivität der Anschauungsformen in der transzendentalen Ästhetik.625 Auf die IdealismusWiderlegung gehen auch die meisten anderen Rezensenten ausdrücklich ein, häufig zu dem Zweck, um wie Pistorius Bedenken anzumelden. Der Grundsatzkritik von Jacobis David Hume folgend, den er kurz zuvor besprochen hatte, bezeichnet etwa Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen Kants Beweis für die Realität der Außenwelt als unvereinbar mit der Lehre des transzendentalen Idealismus, dass wir von den Dingen an sich nichts wissen können.626 Die einzige umfassende Besprechung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erschien 1788 im dritten Band der Kritischen Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit, die von Johann Peter Andreas Müller (1743–1820) herausgegeben wurden.627 Müller begründet die ausführliche Rezension damit, dass Kants Buch »bis jetzt immer berühmter oder berüchtigter geworden ist, und viele davon reden und schreiben, die es kaum selbst gesehen, geschweige durchgelesen oder genüglich verstanden zu haben scheinen, welches leztere wir auch wenigstens von manchen Recensenten sagen möchten […].«628 Müllers eigene Besprechung, die er noch im gleichen Jahr auch als anonyme Monographie herausbrachte,629 wird dem Anspruch einer klareren Darstellung des Kantischen Systems allerdings nicht gerecht. Sie besteht hauptsächlich aus einer Auflistung der Kapitel624 625 626
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Vgl. AdB 81/2 (1788), S. 345–349. Vgl. ebd., S. 349–353. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 20. November 1788, S. 740f. Auch der Rezensent der Neuen Leipziger Gelehrten Zeitungen äußert Vorbehalte gegenüber Kants Idealismus-Widerlegung (vgl. Landau 652). Ein neutrales Referat liefert dagegen der Gothaer Rezensent (vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 22. März 1788, S. 205f.). Dass Kant selbst mit seinem neuen Beweis nicht zufrieden war, geht aus einer Reihe von nachgelassenen Reflexionen hervor, die aus der Zeit nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der Kritik stammen und sich erneut mit dem Idealismus-Problem beschäftigen. Vgl. Refl. 5653–5655, 6311–6316 (AA XVIII 305–316, 607–623) sowie dazu Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 175–232; Sassen: Introduction, S. 27; Beiser: German Idealism, S. 127–131. Biographische Informationen zu Müller sind rar. Giorgio Tonelli charakterisiert ihn als Crusianer. Vgl. Giorgio Tonelli: Die Anfänge von Kants Kritik der Kausalbeziehungen und ihre Voraussetzungen im 18. Jahrhundert. In: Kant-Studien 57 (1966), S. 417–456, hier S. 450. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 1–62, 289–335, hier S. 1f. Vgl. [Johann Peter Andreas Müller:] Nähere Notiz und Kritik der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. Aus den kritischen Beyträgen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit. Leipzig 1788.
141 überschriften der Kritik, denen dann jeweils eine beliebig wirkende Wiedergabe von Zitaten folgt, die kaum geeignet sind, den Zusammenhang von Kants Argumentation deutlich werden zu lassen. Vielmehr dienen sie dem Rezensenten als Vorlage für seine polemischen Einwände. Durchgehend moniert Müller Kants künstliche, dunkle Sprache630 und seinen eher auf Machtsprüche als auf Beweise sich gründenden Argumentationsstil.631 Bei der Besprechung der transzendentalen Ästhetik wird auch der Idealismusvorwurf laut;632 im Zentrum der Polemik aber stehen die transzendentale Dialektik und deren Konsequenzen für die Erkenntnis Gottes. Dass Kant es der Vernunft verbieten will, sich über die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung zu erheben und auf Gott als den verständigen Urheber der Welt zu schließen, ist für Müller der größte Stein des Anstoßes.633 Kants in der praktischen Vernunft gegründeten Glauben bezeichnet er dagegen als »Windbeutelglauben«;634 den allgemeinen Erfolg der kritischen Philosophie hält er für ein Symptom der Sittenlosigkeit des Zeitalters und beruft sich dabei auf Meiners’ Vorrede zum Grundriß der Seelen-Lehre.635 Müllers Besprechung des »unseligen Buchs«, dessen Lektüre ihm, wie er beteuert, ein »tiefe[s] Gefühl von Schmerz« bereitet habe, gipfelt am Ende in einem impliziten Atheismusvorwurf gegen Kant.636
14. Fortsetzung der moralphilosophischen Debatte (1787–1788): Abel, Rehberg, Jenisch und Kants Kritik der praktischen Vernunft Die Auseinandersetzung um Kants Moralphilosophie war nicht bei Tittels Schrift von 1786 (Ueber Herrn Kant’s Moralreform) stehengeblieben. Abels Plan einer systematischen Metaphysik (1787) enthielt neben der Grundle630
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Vgl. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), zum Beispiel S. 2, 6, 10, 11, 24, 26, 34, 38, 46, 294, 311, 334. Vgl. ebd., zum Beispiel S. 24, 29, 40, 41, 48, 291, 298, 319, 327. Vgl. ebd., S. 13–16. Vgl. ebd., S. 30–32, 292, 297f., 319, 334. Ebd., S. 328; vgl. auch ebd., S. 316. Vgl. ebd., S. 5f. Eine weiter Bezugnahme auf Meiners findet sich ebd., S. 325. Vgl. ebd., S. 330f. Gegen den Atheismusvorwurf verwahrt sich besonders der ALZRezensent in seiner Besprechung von Müllers Monographie. Insgesamt steht in den wenigen, fast durchgehend negativen Rezensionen zur Näheren Notiz der Vorwurf der unsystematischen Darstellung und des unverschämten Tons im Vordergrund. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 30. Juni 1788, S. 641; ALZ, 21. Juli 1788, Sp. 193–195; Erfurtische gelehrte Zeitung, 15. November 1788, S. 441; AdB 90/1 (1790), S. 127–129. Auf die Erfurter Rezension scheint eine Besprechung zu replizieren, die kurz darauf im selben Journal zu den Kritischen Beyträgen erschien und in der Müllers Aufsatz mit wohlwollenden Worten bedacht wird. Vgl. Erfurtische gelehrte Zeitung, 12. Februar 1789, S. 58.
142 gung einer »Metaphysik der Natur« noch einen kürzeren zweiten Teil, in dem der Plan einer »Metaphysik der Sitten« skizziert wird. Die eklektische Linie des ersten Teils setzt sich hier fort: Einerseits fordert Abel in Anlehnung an Kant, diesen »grosse[n] Mann«,637 eine streng apriorische, apodiktisch gewisse und von Erfahrung unabhängige Wissenschaft der Moral;638 andererseits hält ihn das nicht davon ab, deren obersten Grundsatz in altbekannter psychologischer Moral-Sense-Manier in der Beförderung von Glückseligkeit auszumachen.639 Das von Kant übernommene Prinzip der reinen Moral, den Menschen jederzeit als Zweck an sich zu behandeln,640 wird von Abel kurzerhand mit dem Glückseligkeitsprinzip gleichgesetzt (wie schon Pistorius in seiner Rezension für die Allgemeine deutsche Bibliothek kritisch vermerkt).641 Die Frage nach dem obersten Prinzip der Moral war auch das Thema einer Diskussion, die der junge Wilhelm von Humboldt mit Abel führte, als er ihn im September 1789 in Stuttgart besuchte. Den Tagebuchaufzeichnungen Humboldts zufolge brachte Abel in diesem Gespräch gegenüber dem »bloss formellen grundsaze« der Kantischen Metaphysik der Sitten erneut das Glückseligkeitsprinzip in Anschlag. Um dem Einwand zu begegnen, dass diesem Prinzip notwendigerweise etwas Subjektives anhafte, verweist er dabei auf die »Rehbergschen ideen«.642 Damit bezieht Abel sich auf einen Autor, der seit zwei Jahren maßgeblich in die moralphilosophische und -theologische Diskussion eingegriffen hatte. August Wilhelm Rehberg (1757–1836), Geheimsekretär in Hannover und später prominenter Kritiker der Französischen Revolution, veröffentlichte 1787 seine Untersuchung Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion. Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um ein weiteres Dokument des durch den Pantheismusstreit angeregten »Ringen[s] um die Harmonisierung von religiösem und philosophischem Denken« in dieser Zeit.643
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Abel: Plan, S. 208. Vgl. ebd., S. 182–184. Vgl. ebd., S. 185–189, 192, 197, 203f. In Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lautete eine Variante des kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (WA IV 61). Zum Problem der relativen Unvermitteltheit dieser Formel im Gesamtzusammenhang der Kantischen Moralphilosophie vgl. Wolfgang Kuhlmann: Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und Diskursethik. In: Kant in der Diskussion der Moderne. Hg. von Gerhard Schönrich/Yasushi Kato. Frankfurt a. M. 1996, S. 360–395, hier bes. S. 379f. Vgl. AdB 84/2 (1789), S. 458. Humboldt: Tagebücher, Bd. 1, S. 149. Ich übernehme die Formulierung von Schröpfer: Kants Weg, S. 250. Einen Überblick über den Inhalt der Schrift gibt Rüdiger Otto, der Rehbergs Buch im Zusammenhang mit der Spinozarenaissance ausführlich berücksichtigt. Vgl. Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Bd. 451), S. 311–342.
143 Rehberg offenbart sich darin als entschiedener Anhänger Kants, den er als den »größesten unter allen metaphysischen Denkern« bezeichnet.644 Er bekennt sich zu Kants kritischer Grenzbestimmung aller möglichen Erkenntnis645 und zu seiner Lehre, dass uns die Welt der Erscheinungen zur Idee von einem höchsten Wesen führe, dessen Dasein aber weder rational erkannt noch wiederlegt werden könne.646 Nicht konform geht Rehberg dagegen mit der Kantischen Moraltheologie. In ihr sieht er einen Rückfall Kants in einen »übernatürlichen Dogmatism«647 und eine Verletzung des Prinzips, die Religion von der Metaphysik zu isolieren, um sie vor deren Sophismen zu schützen.648 Kant hatte aus dem Gegensatz zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit, genauer gesagt zwischen dem, was die Vernunft moralisch fordert, und dessen mangelhafter Realisierung in der Welt der Erscheinungen die Notwendigkeit einer transzendenten Versöhnung abgeleitet. Er leistet sie mit seiner Theorie vom Ideal des höchsten Gutes und der Lehre vom moralischen Überzeugungsgrund von Gott, Seele und Unsterblichkeit. Diesen Versuch, die Religion doch noch in der Metaphysik zu verankern, hält Rehberg für ein überflüssiges und philosophisch anfechtbares Konstrukt, das zur Befestigung der Moral nichts beitrage.649 Rehbergs Überlegungen zum Prinzip der Moral im fünften Abschnitt seines Buches zeigen ihn als selbständigen Denker, der über Kantische Positionen hinausgeht.650 Er unterstreicht Kants Forderung nach einer ›reinen‹, »von aller Heteronomie freyen« Sittenlehre.651 Doch er kommt dieser Forderung auf andere Weise nach als Kant: nicht im Rückgang auf die Idee eines Gesetzes an sich selbst ohne jeden materiellen Bezug – Rehberg erkennt sinnliche Neigungen als legitime Triebfeder moralischen Handelns an.652 Sondern mit der Formulierung eines »moralische[n] Äquivalent[s] zum Widerspruchsprinzip«653 – in Gestalt des Grundsatzes, dass die Befrie-
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August Wilhelm Rehberg: Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion. Berlin 1787, S. 69. Vgl. ebd., S. 36, 51f., 65, 69f., 81f. Vgl. ebd., 103–107. So Rehbergs rückblickender Kommentar in Rehberg: Sämmtliche Schriften, Bd. 1, S. 15. Vgl. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 9–12. Vgl. ebd., S. 153–161. Vgl. dazu Otto: Studien zur Spinozarezeption, S. 339–341, sowie George di Giovanni: Rehberg, Reinhold und C.C.E. Schmid über Kant und die moralische Freiheit. In: Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Hg. von Michael Oberhausen. Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, S. 93–113, hier S. 105–108. Vgl. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 26 Anm. Vgl. ebd., 132, 135f. Im Zusammenhang mit dieser Differenz zu Kant mag der Hinweis angebracht sein, dass Rehbergs akademische Sozialisation in Göttingen stattfand, wo er 1774–1779 Medizin, Philosophie und Jurisprudenz studiert hatte. Giovanni: Rehberg, S. 107.
144 digung eines Bedürfnisses als mit der Befriedigung aller anderen Bedürfnisse (sowohl der eigenen wie auch derjenigen anderer Handelnder) vereinbar gedacht sein müsse.654 In diesem Sinn ist Jacob Friedrich Abel zu verstehen, wenn er es in Anknüpfung an Rehberg zur Hauptaufgabe der Moralphilosophie erklärt, »es müsse […] ein wirklich logischer widerspruch im schlecht handlen gezeigt werden«,655 und sich davon eine objektive Morallehre verspricht, die Glückseligkeitsstreben als Motiv des Handelns zu integrieren vermag. In den zahlreichen, häufig durchaus anerkennenden Besprechungen wird Rehbergs Buch meist in seinem engen Bezug zur Kantischen Philosophie wahrgenommen und vor diesem Maßstab beurteilt. Viele Rezensenten bemängeln, dass die (zum Teil spinozistisch gefärbten) Ausführungen über die Existenz eines den Erscheinungen zugrundeliegenden höchsten Wesens nicht frei von Elementen einer vorkritischen Metaphysik seien.656 Auch die Abweichungen von Kants Moralphilosophie werden registriert. Während Feder in den Göttingischen Anzeigen mit Genugtuung bemerkt, dass Rehberg bei aller Anhänglichkeit an die Kantische Philosophie doch auch das Vergnügen als Beweggrund moralischen Wollens zulässt,657 verweist der Autor der ersten von zwei ALZ-Rezensionen (es handelt sich wohl um Johann Schultz) auf Kants strikte Trennung von Tugend und Glückseligkeit.658 Noch nachdrücklicher wird dieser Punkt in der zweiten ALZ-Besprechung hervorgehoben, deren souveränes und streitbares Beharren auf einem ›unverfälschten‹ Kant auf Schütz als Verfasser hindeutet.659 Energisch vertei654
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Vgl. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 122–132. Rehberg knüpft damit an Wolffs Moralprinzip der ›Vollkommenheit‹ an, das als ›Zusammenstimmung des Mannigfaltigen‹ freier Handlungen und Zwecksetzungen gedacht ist. Vgl. dazu Eberhard Günter Schulz: Wolffs Moralprinzip und Kants kategorischer Imperativ. In: Il cannocchiale, Jg. 1989, S. 217–237, bes. S. 228–230. Humboldt: Tagebücher, Bd. 1, S. 149. Vgl. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 20. Oktober 1787, S. 1992; ALZ, 26. Juni 1788, Sp. 692, 695f. (vgl. zu dieser Rezension auch Schulz: Rehbergs Opposition, S. 81–91); Neueste Critische Nachrichten, 24. Stück (1788), S. 186; Philosophische Annalen, 2. Teil (1789), Bd. 1, S. 171f.; AdB, Anhang zum 53.–86. Bd. (1791), 4. Abt., S. 1957f. (der Verfasser ist Pistorius). Vgl. auch das Urteil Ottos, Rehbergs Argumentation springe »zwischen spinozistischem Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus hin und her« (Otto: Studien zur Spinozarezeption, S. 338f.). Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 23. August 1787, Landau 653. Vgl. ALZ, 19. Juni 1788, Sp. 619. Gleichwohl werden einige moralphilosophische Gedanken Rehbergs Kant zur näheren Erläuterung anempfohlen. Vgl. ebd., Sp. 620. Zum Inhalt der Rezension vgl. Schulz: Rehbergs Opposition, S. 78–80; zur Autorschaft Schultzes vgl. zudem Stark: Kant und Kraus, S. 179, 195 Anm. 64. Vgl. dagegen Schulz (Rehbergs Opposition, S. 81–83 Anm. 7), der – m. E. nicht überzeugend – für Reinhold als Verfasser argumentiert. Christian Gottfried Schütz, der als hervorragender Kenner der Kantischen Philosophie erst vor kurzem in den Blickpunkt der Forschung geriet (hauptsächlich durch die Arbeiten Horst Schröpfers), wird von Schulz nicht in Erwägung gezogen. Für Schütz als Verfasser der Rezension sprechen aber neben der für ihn typischen Eigenart, die Inhaltsangabe des rezensierten Buches
145 digt der Rezensent Kants Lehre vom Ideal des höchsten Guts und moniert, dass Rehbergs Begriff der Moral letztlich auf das »gewöhnliche empirische Princip der Selbstliebe oder Glückseligkeit« hinauslaufe.660 Der Gegensatz der Kantischen Moralphilosophie zur Glückseligkeitsethik wird auch in einer vierteiligen Artikelserie herausgestellt, die 1787/88 in Heinrich Christian Boies Deutschem Museum erschien. Zeitgenössischen bio-bibliographischen Nachschlagewerken zufolge handelt es sich bei dem mit »T-h« zeichnenden Verfasser um Daniel Jenisch (1762–1804), den ehemaligen Studenten Kants und späteren Prediger an der Berliner Nicolaikirche.661 Den Anfang machte ein Aufsatz im Augustheft mit dem Titel Versuche über die Grundsäze der Metaphysik der Sitten des Herrn Prof. Kant.662 Darin wird zunächst das System der Glückseligkeitsethik, als das in der zeitgenössischen Moralphilosophie »am häufigsten angenommen[e]«,663
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mit zahlreichen eingeklammerten Kommentaren zu unterbrechen, auch die Umstände der Veröffentlichung. Wenn, gegen alle sonstigen Gepflogenheiten, eine Woche nach dem Erscheinen einer regulären Besprechung zu Rehbergs Buch in der ALZ noch eine zweite in Form einer außerordentlichen Beilage folgte, so lässt sich das am einfachsten damit erklären, dass der Redakteur selbst es war, der, unzufrieden mit Johann Schultzes im ganzen doch sehr harmonistischer Rezension, kurzerhand einen eigenen Artikel in sein Blatt einrücken ließ, um die Differenzen Rehbergs zu Kant in aller Deutlichkeit herauszustellen. Zur These von Schütz’ Autorschaft passt auch, dass er Kant beide Besprechungen zusandte und sich sein Urteil darüber erbat (vgl. den Brief an Kant vom 23. Juni 1788, AA X 543). Vgl. ALZ, 26. Juni 1788, Sp. 696. Kritik an Rehbergs Moralphilosophie übt auch der Gothaer Rezensent; vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 21. Juni 1788, S. 412f. Vgl. Valentin Heinrich Schmidt/Daniel Gottlieb Mehring: Neuestes gelehrtes Berlin; oder literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Bd. 1. Berlin 1795 [Repr. 1973], S. 223; Georg Christoph Hamberger/Johann Georg Meusel: Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller. Bd. 3. Lemgo 51797 [Repr. 1965], S. 528. Jenisch hatte zwischen 1780 und 1785 in Königsberg Theologie und Philosophie studiert. Außer mit Kant pflegte er auch mit Schultz und Hamann vertrauten Umgang; letzterer bezeichnet ihn in einem Brief an Jacobi als »eine[n] unserer besten Köpfe« (Brief vom 9. April 1786, H VI 349). Mit einem Empfehlungsschreiben Kants an Biester ging Jenisch im Mai 1786 nach Berlin, nahm jedoch kurz darauf eine Hofmeisterstelle in Braunschweig an. 1789 wurde er Prediger an der Marienkirche in Berlin, später an der Nicolaikirche. Zu seinen Freunden in Berlin gehörte auch Karl Philipp Moritz. In seinen zahlreichen Schriften erweist Jenisch sich insgesamt keineswegs als strikter Anhänger der Kantischen Philosophie; Gerhard Sauder stellt ihn eher in die Tradition eines popularphilosophischen Eklektizismus. Vgl. Gerhard Sauder: Popularphilosophie und Kant-Exegese: Daniel Jenisch. In: Christoph Jamme/Gerhard Kurz: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart 1988 (Deutscher Idealismus, Bd. 14), S. 162–178. Zu Jenischs Leben und Werk vgl. ergänzend auch Gerhard Sauder: Nachwort. In: Daniel Jenisch: Ausgewählte Texte. Hg. von Gerhard Sauder. St. Ingbert 1996 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 26), S. 103–115. Vgl. [Daniel Jenisch:] Versuche über die Grundsäze der Metaphysik der Sitten des Herrn Prof. Kant. Erster Versuch. In: Deutsches Museum, August 1787, S. 104–118; im folgenden zitiert nach Hausius III 58–72. Hausius III 66.
146 vorgestellt und sodann einer grundsätzlichen Kritik unterzogen: Zwar komme dieses System der populären Denkart sehr entgegen, doch werde es der Tatsache nicht gerecht, dass moralisches Handeln allzu oft gegen unsere sinnlichen Neigungen und Triebe erfolgen müsse, dass Glückseligkeit und Pflicht, Sinnlichkeit und Vernunft letztlich im Widerspruch zueinander stünden. Der herkömmlichen eudämonistischen Morallehre wird das »System der Würde der Menschheit«664 entgegengehalten, welches die Bestimmung des Menschen nicht in einen, und sei es auch noch so verfeinerten, Begriff von Glückseligkeit setzt, sondern in das freie und vernünftige, d. h. von sinnlichen Trieben völlig unabhängige Handeln. Von Kant als dem Repräsentanten dieses Systems wird in einer Fußnote gesagt, dass er »um die Moral eben so viel Verdienst hat, als er sich durch seine Critik um die Metaphysik erworben, wo die Hauptbegriffe auf gleiche Weise durcheinander lagen.«665 Dem Aufsatz schlossen sich im darauffolgenden Jahrgang des Deutschen Museums noch drei Fortsetzungsartikel an.666 Jenisch erklärt, damit den zahlreichen Missverständnissen entgegentreten zu wollen, denen Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht weniger als die Kritik der reinen Vernunft ausgesetzt gewesen sei.667 Dies geschieht, indem er im Folgenden die drei Hauptabschnitte der Grundlegung nacheinander vorstellt und ihre zentralen Konzepte ausführlich kommentiert und erläutert, wie den Begriff des guten Willens, der Pflicht, des kategorischen Imperativs, der Autonomie, der Freiheit usw. Durch seine Ausführungen hofft der Verfasser, wie er abschließend betont, »über das Große und Neue des Kantschen Systems mehr Helle zu verbreiten und mehr Aufmerksamkeit dafür zu erwecken.«668 Für einen prominenten Zeitgenossen ist die entsprechende Wirkung überliefert: Johann Heinrich Jung-Stilling, der seit 1787 Professor der Kameralistik in Marburg war und von dessen berühmter Autobiographie zu dieser Zeit bereits die ersten drei Teile erschienen waren, berichtet in seinem Brief an Kant vom März 1789, die Artikel im Deutschen Museum hätten ihm zuerst den Weg aus der »Gefangenschaft« des Leibniz-Wolffschen Determinismus gewiesen und ihn zum Studium der kritischen Philosophie angeregt (welches
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Hausius III 65. Hausius III 65f. Vgl. [Daniel Jenisch:] Zweiter Versuch, über die Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten, des Hrn. Prof. Kant. In: Deutsches Museum, Juni 1788, S. 543–570; [ders.:] Der Versuche ueber die Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten. Dritter Versuch. In: Deutsches Museum, August 1788, S. 153–184; [ders.:] Vierter Versuch über die Kantsche Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten. In: Deutsches Museum, September 1788, S. 264–293. Der zweite und dritte Versuch werden im folgenden zitiert nach Hausius III 73–104 und 105–136 (der vierte Versuch ist bei Hausius nicht enthalten). Vgl. Hausius III 73f. Jenisch: Vierter Versuch, S. 293.
147 sich in der Lektüre von Schultzes Erläuterungen und den ersten beiden Kritiken fortgesetzt habe).669 Kant selbst blieb nicht müßig in dem Bestreben, den moralphilosophischen Teil seines Theoriegebäudes weiter auszuarbeiten. In der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte er 1785 erklärt, es könne eigentlich keine andere Grundlage einer künftigen Metaphysik der Sitten geben »als die Kritik einer reinen praktischen Vernunft«.670 Damals hatte Kant auf die Ausformulierung einer solchen Kritik noch mit der Begründung verzichtet, dass sie in ihrer vollendeten Form zugleich die Einheit von praktischer und spekulativer Vernunft zu zeigen hätte – ein Unternehmen, das Kant zugunsten einer einfacheren Form der Propädeutik vorerst zurückstellte. Der Zusammenhang zwischen spekulativer und praktischer Vernunft steht dann auch wieder in seinen frühesten Äußerungen zu einem moralphilosophischen Nachfolgewerk im Vordergrund. So spricht Kant in einem Brief an Bering vom April 1786 von der Arbeit an einem »System der practischen Weltweisheit«, das mit dem der spekulativen »vergeschwistert« sei.671 Offenbar plante Kant sogar zeitweilig, die Kritik der praktischen Vernunft der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als Ergänzung beizufügen. Das geht aus der Ankündigung in der ALZ vom November 1786 hervor, die von Kant selbst veranlasst worden war.672 Er gab diesen Plan jedoch bald 669
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Vgl. AA XI 8 (Brief an Kant vom 1. März 1789). Den Ausdruck »Gefangenschaft« verwendet Jung-Stilling im 1804 erschienenen fünften Teil seiner Lebensgeschichte, in der über das Kant-Erlebnis von 1788 berichtet wird (vgl. Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Hg. von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 1976, S. 448f.). Jung-Stilling erwähnt hier den Heidelberger Kirchenrat Johann Friedrich Mieg (1744–1819), der zu seinem »Retter« geworden sei, indem er ihm während eines Besuchs im Sommer 1788 »von einer gewissen Abhandlung über die Kantische Philosophie« berichtete, »die ihm außerordentlich gefallen hatte« – vermutlich Jenischs Artikelserie im Deutschen Museum. WA IV 16. AA X 441 (Brief vom 7. April 1786). Kants Formulierung deutet darauf hin, dass er diesem Zeitpunkt als neues moralphilosophisches Werk bereits eine »Metaphysik der Sitten« im Sinn hatte (vgl. auch schon Kants Brief an Schütz vom 13. September 1785, AA X 406: »Jetzt gehe ich ungesäumt zur völligen Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten«). Die Zurückstellung dieses Plans zugunsten der zweiten »Kritik« muss spätestens im Herbst 1786 erfolgt sein; vgl. die in der folgenden Anmerkung zitierte Äußerung Borns. Zur Enstehungsgeschichte des Werks vgl. Paul Natorps Einleitung in der Akademie-Ausgabe, AA V 495–498; Karl Vorländer: Einleitung. In: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Karl Vorländer. Hamburg 91929 (Philosophische Bibliothek, Bd. 38), S. XI–XLVII, hier S. XIII–XV, XX; Lewis White Beck: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar [engl. 1960]. München 1974, S. 24–28. Vgl. die Meldung in der ALZ, 21. November 1786, Landau 471f., sowie Schütz’ Brief an Kant vom 3. November 1786 (AA X 469). Vgl. auch Borns Brief an Kant vom 8. November 1786, der auf einen verlorenen Brief Kants vom 24. September antwortet: »Uebrigens freue ich mich ungemein schon im Voraus über den wichtigen Zusaz einer Critik der reinen praktischen Vernunft, womit Sie Ihr trefliches Werck noch mehr verschönern werden« (AA X 471).
148 wieder auf. Im Juni 1787 erschien die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft – ohne den Zusatz. Die Kritik der praktischen Vernunft war zu diesem Zeitpunkt beinahe druckfertig;673 ihr Erscheinen verzögerte sich dann jedoch noch bis Dezember. Der von Kant betonte enge Zusammenhang zwischen spekulativer und praktischer Philosophie entsprach einerseits natürlich einem systematischen Interesse. Die Kritik der praktischen Vernunft schließt in einem zentralen Punkt an die Kritik der reinen Vernunft an, indem sie eine wichtige Frage, die in der ersten Kritik offengeblieben war – die Frage nach der objektiven Realität der Freiheit, d. h. die Frage, ob es reine, von empirischen Bestimmungsgründen unabhängige praktische Vernunft gebe – durch die Beweisführung in der Analytik positiv beantwortet und damit den »Schlußstein« zum System der reinen Vernunft liefert.674 Neben diesem systematischen war jedoch auch ein polemisches Interesse maßgebend für Kants Bestreben, der Kritik der spekulativen Vernunft eine Kritik der praktischen Vernunft an die Seite zu stellen. In deren zweitem Buch, der Dialektik, entfaltet Kant ausführlicher als zuvor seine »Lehre vom höchsten Gut«, wonach aus dem Faktum des moralischen Gesetzes die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes wenn auch nicht als objektive Erkenntnis der spekulativen, so doch als subjektiv notwendige Postulate der praktischen Vernunft hervorgehen.675 Indem Kant hier erneut gegenüber den destruktiven Tendenzen der Kritik der spekulativen Vernunft die konstruktive Leistung der praktischen Vernunft herausstellt, versucht er abermals dem Eindruck entgegenzusteuern, seine Vernunftkritik laufe auf die Zerstörung sämtlicher religiöser Gewissheiten hinaus. Dieser Eindruck war es ja, der zum Beispiel Zeitgenossen wie Feder und Abel in ihrer Abwehrhaltung gegenüber der kritischen Philosophie bestärkte und sie dazu bewog, nachdrücklich eine Form des Philosophierens zu verteidigen, die analogisch vom Bereich der Erfahrung auf den Bereich jenseits der Erfahrung schließt, um dadurch die spekulative Erkenntnis von Gott zu retten.676 Kant selbst stellt den polemischen Bezug zu diesen Gegnern her, wenn er in einem Brief an Schütz über seine Kritik der praktischen Vernunft erklärt: Diese wird besser, als alle Controversen mit Feder und Abel […], die Ergänzung dessen, was ich der spekulativen Vernunft absprach, durch reine praktische, und die Möglichkeit derselben beweisen und faßlich machen, welches doch der
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Vgl. Kants Brief an Schütz vom 25. Juni 1787 (AA 490). Vgl. WA IV 107, 120, 155, 159–160, 162–164. Zum Verhältnis der Kritik der praktischen Vernunft zur Grundlegung in diesem Punkt vgl. August Messer: Kants Ethik. Eine Einführung in ihre Hauptprobleme und Beiträge zu deren Lösung. Leipzig 1904, S. 95–101. Vgl. WA IV 108–109. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XII, 208; Abel: Plan, S. 4–6, 106, 109–116, 216, 224f.; Abel: Versuch, S. 242f., 276f.
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Die polemischen Rücksichten von Kants Buch bleiben nicht auf das allgemeine Ziel, eine konstruktive »Ergänzung« der Vernunftkritik zu liefern, beschränkt. An vielen Stellen kommt Kant konkret auf einzelne Einwände seiner Kritiker zu sprechen. So zahlreich sind diese Stellen, dass Beiser die Kritik der praktischen Vernunft als »palimpsest« bezeichnet hat.678 Zu den Punkten, die Kant relativ kurz und resolut innerhalb der Vorrede abfertigt, gehören die Ausfälle Tittels gegen Kants abstrakten Formalismus679 sowie Feders empiristische Bestreitung einer reinen Erkenntnis a priori.680 Größere Aufmerksamkeit bringt Kant den Bedenken entgegen, die Pistorius in seiner Besprechung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in der Allgemeinen deutschen Bibliothek vorgebracht hatte. Kant würdigt den Verfasser, über dessen Identität er durch einen Brief Daniel Jenischs unterrichtet war, in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft als »wahrheitsliebenden und scharfen, dabei doch immer achtungswürdigen Rezensenten«.681 Im weiteren Verlauf der Argumentation geht er an zahlreichen Stellen auf Pistorius’ Einwände ein.682 Seine Auseinandersetzung mit dem Rügener Pastor bezieht sich aber nicht nur auf dessen Besprechung der Grundlegung. Das zeigt sich an der Stelle der Vorrede, wo Kant von den »erheblichsten Einwürfe[n] wider die Kritik« spricht, »die mir bisher noch vorgekommen sind«.683 Gemeint ist die Kritik an der vermeintlichen Inkonsequenz Kants, dass er in praktischer Hinsicht etwas zulasse, was er in spekulativer Hinsicht strikt untersage: die Ausweitung der Verstandeskategorien ins Transzendente.684 Es war Pistorius, der diesen Vorwurf formuliert hatte, und zwar in seiner umfangreichen Rezension zu Schultzes Erläuterungen.685 Kant versucht dem Einwand in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich Rechnung zu tra677 678
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AA X 490 (Brief an Schütz vom 25. Juni 1787). Beiser: Fate of Reason, S. 121. Die im folgenden aufgezählten Punkte stützen sich auf die Übersichten im Kommentar der Akademie-Ausgabe (AA V 506–508) sowie bei Vorländer: Einleitung zu Kants Kritik der praktischen Vernunft, S. XVI–XVIII; Beck: Kants Kritik der praktischen Vernunft, S. 66–68 und 268f. (Anmerkungen). Vgl. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 35; WA IV 113 Anm.; sowie dazu Schulz: Rehbergs Opposition, S. 99f. Anm. 29; Beiser: Fate of Reason, S. 185. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 35–47; WA IV 116–119. WA IV 113. Vgl. auch den Entwurf zur Vorrede, AA XXI 416, sowie Jenischs Brief an Kant vom 14. Mai 1787 (AA X 486f.). Vgl. dazu im einzelnen Beiser: Fate of Reason, S. 190f. WA IV 111. Vgl. WA IV 109–111. Vgl. Landau 340f. In seiner kurz darauf erschienenen Besprechung der Grundlegung verweist Pistorius auf diese Rezension (vgl. Landau 367). Er wiederholt seine Kritik zwei Jahre später in der Rezension zu Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden (vgl. Hausius II 230–232).
150 gen, vor allem in dem Abschnitt »Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist«.686 Hier stellt Kant den Unterschied heraus zwischen der Behauptung, man könne Noumena im theoretischen Vernunftgebrauch gemäß den Kategorien erkennen (was in der Tat unmöglich sei, wie die Kritik der reinen Vernunft beweise), und der Behauptung, man werde im praktischen Vernunftgebrauch dazu angehalten, sie sich gemäß den Kategorien zu denken. Der einzige Kritiker Kants, der in der Kritik der praktischen Vernunft mit Namen genannt wird, ist Thomas Wizenmann. Kant bezeichnet den Anfang 1787 im Deutschen Museum erschienenen Aufsatz Wizenmanns als das Produkt eines »sehr feinen und hellen Kopfe[s]«, dessen früher Tod zu bedauern sei.687 Auf den Haupteinwand des Verfassers, dass man nicht berechtigt sei, aus einem bloßen Bedürfnis der Vernunft die objektive Realität Gottes abzuleiten, antwortet Kant in dem Abschnitt »Vom Führwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft«.688 Darin betont er den Unterschied zwischen bloßer subjektiver Neigung und einem Vernunftbedürfnis, das sich auf die Objektivität des Moralgesetzes gründet. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Vorschriften des Moralgesetzes berechtigen nach Kants Ansicht dazu, die Bedingungen seiner möglichst vollkommenen Realisierung (Gott und Unsterblichkeit) als real vorauszusetzen.689 In die Reihe der Gegner, die Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft bedenkt, kann man mit Wolfgang Proß auch noch Herder stellen.690 Im ersten, von Kant rezensierten Band der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit hatte Herder im vierten Kapitel des vierten Buches dargelegt, wie sich die moralischen Anlagen im Menschen aus den physischen Bedingungen seiner Existenz heraus entwickeln. Gegenüber einer solchen Eingliederung des Menschen in den »Stufengang«691 der Natur betont Kant an mehreren Stellen der Kritik der praktischen Vernunft, dass es gerade das moralische Vermögen sei, das den Menschen vom Reich der Sinnlichkeit und Tierheit strikt scheide.692 Schließlich enthält die Kritik der praktischen Vernunft noch einige weitere polemische Seitenhiebe, die nicht auf einen bestimmten Autor gemünzt sind, sondern in allgemeinerer Form auf häufig erhobene Einwände zielen. 686
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Vgl. WA IV 165–173. Zu dieser Diskussion zwischen Pistorius und Kant vgl. Schulz: Rehbergs Opposition, S. 110–119; Beiser: Fate of Reason, S. 191f. WA IV 278 Anm. Vgl. WA IV 276–278. Zur Kritik an diesem Argument vgl. Beck: Kants Kritik der praktischen Vernunft, S. 234f.; Beiser: Fate of Reason, S. 120. Zur Auseinandersetzung Kants mit weiteren Einwänden Wizenmanns vgl. ebd., S. 121. Vgl. den Kommentar in HW III/2 282. HW III/1 136. Vgl. WA IV 179, 300.
151 Dazu gehört Kants Antwort auf den Vorwurf, er bediene sich einer unverständlichen und künstlichen Terminologie, ein weitverbreiteter Topos der Kant-Kritik, der auch in Tittels Schrift Ueber Herrn Kant’s Moralreform zu finden war.693 Oder die erneute Zurückweisung des Glückseligkeitsstrebens als obersten Prinzips der Moral, als das es ebenfalls von Tittel sowie in zahlreichen Rezensionen zur Grundlegung gegen Kant verteidigt worden war.694 Wie reagierten die philosophierenden Zeitgenossen auf Kants neuestes Produkt? Der bedingungslose Kant-Verehrer Schütz fühlte sich von der Kritik der praktischen Vernunft, wie er Kant in einem Brief mitteilt, »wahrhaftig beseligt«, ein Eindruck, den seiner Behauptung nach »eine große Anzahl trefflicher Männer« mit ihm teile.695 In den Rezensionen wird das Buch allgemein dafür gelobt, den mit der ersten Kritik begonnenen Weg auf moralphilosophischem Gebiet fortgesetzt und die in der Grundlegung enthaltenen Lehren der vernunftkritischen Systematik angepasst zu haben.696 Besonders angetan zeigt sich der Rezensent der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung, der Kants zweite Kritik als »würdiges Gegenstück zu seiner Critik der speculativen Vernunft« und damit als erneutes Zeugnis seines »philosophischen Genies« feiert.697 Auch der Verfasser der Besprechung für die Gothaischen gelehrten Zeitungen bewundert »die Gewalt der Ueberzeugung und den bis zur stärksten Kraft condensirten gedanken- und wahrheitsvollen Ausdruck«.698 Allerdings werden Kant gerade vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhanges seiner Philosophie auch Widersprüche und Inkonsequenzen vorgehalten. Die in der Vorrede erwähnten »erheblichsten Einwürfe« gegen sein System der Vernunftkritik hatte Kant offenbar nicht ausräumen können, trotz seiner Klärungsbemühungen werden sie in mehreren Rezensionen erneuert: Einwürfe, die besagen, dass Kant der praktischen Vernunft im Hinblick auf die Theorie vom höchsten Gut und die Postulatenlehre eine Erweiterung gestatte, die die Kritik der spekulativen Vernunft eigentlich verbietet. In diese Richtung zielen Bemerkungen des Erlanger Rezensenten, Flatts in 693
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Vgl. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 4, 25, sowie oben S. 26 Anm. 6; WA IV 115f. Vgl. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 5; WA IV 137. Zu den Besprechungen der Grundlegung vgl. oben S. 65–67. Neben Pistorius’ Rezension hat Kant nachweislich auch Flatts Besprechung für die Tübingischen gelehrten Anzeigen gekannt. Vgl. Hamanns Brief an Jacobi vom 13. Mai 1786 (H VI 389f.). AA X 541 (Brief vom 23. Juni 1788). Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 17. April 1788, S. 609; Gothaische gelehrte Zeitungen, 28. Mai 1788, S. 353f.; Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, September 1788, Sp. 1785; Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 30. September 1788, S. 323; Tübingische gelehrte Anzeigen, 9. Oktober 1788, S. 641. Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, September 1788, Sp. 1785. Gothaische gelehrte Zeitungen, 31. Mai 1788, S. 365. Positiv äußert sich auch der Würzburger Rezensent; vgl. Wirzburger gelehrten Anzeigen, 19. September 1789, S. 737–742.
152 den Tübingischen gelehrten Anzeigen sowie Rehbergs in der ALZ.699 Letzterer nutzt seine Besprechung dazu, die bereits in Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion enthaltene Kritik an Kants Moralphilosophie fortzuführen. Erneut spricht er sich für den Satz des Widerspruchs als oberstes Prinzip der Moral aus, wodurch das Sittengesetz ganz im theoretischen Vernunftvermögen verankert wird und die Annahme einer besonderen praktischen Vernunft überflüssig wird.700 Erneut auch legitimiert er das Vergnügen als Triebfeder sittlichen Handelns. Kants Gedanken, dass diese Triebfeder allein im reinen Moralgesetz zu suchen sei, hält er für eine Schwärmerei, die zu dem »allerschlimmsten Fanatismus, der Ertötung der Sinne« führe.701 Die Kritik an Kants Negierung der sinnlichen Seite des Menschen spielt auch in Pistorius’ Besprechung für die Allgemeine deutsche Bibliothek eine große Rolle. Gegen Kant argumentiert Pistorius hier für die Glückseligkeit als letzten Zweck der »ganzen«, d. h. aus Vernunft und Sinnlichkeit zusammengesetzten Natur des Menschen.702 Kants Rekurs auf die Glückseligkeit im Zusammenhang mit seiner Theorie vom höchsten Gut steht nach Ansicht des Rezensenten im völligen Widerspruch zu dem sonst überall betonten strengen Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit.703 Am Ende der Besprechung erneuert Pistorius seine Zweifel an Kants Auflösung der dritten Antinomie und an der Dualität von phänomenalem (der Naturnotwendigkeit unterliegendem) und noumenalem (freiem) Ich. Für den Rezensenten liegt hier »das Dunkelste und Unbegreiflichste in der ganzen kritischen Philosophie«.704 699
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Vgl. Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 30. September 1788, S. 327; Tübingische gelehrte Anzeigen, 9. Oktober 1788, S. 647; ALZ, 6. August 1788, zitiert nach: Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Rüdiger Bittner/ Konrad Cramer. Frankfurt a. M. 1975 [im folgenden: Bittner/Cramer], S. 185–187. Zur letzteren Besprechung vgl. den Abdruck und Rehbergs Kommentar in Rehberg: Sämmtliche Schriften, Bd. 1, S. 61–85, sowie die Edition und die ausführlichen Erläuterungen bei Schulz: Rehbergs Opposition, S. 11–42, 230–256. Vgl. Bittner/Cramer 191. Bittner/Cramer 189. Vgl. AdB 117/1 (1794), Bittner/Cramer 164, 170 (zum späten Erscheinungsdatum der Rezension vgl. Bittner/Cramer 482). Berufungen auf die Glückseligkeitsethik spielen auch weiterhin in den Rezensionen Feders und Flatts sowie in der (insgesamt anerkennenden) Besprechung der Gemeinnützigen Betrachtungen eine Rolle; vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 17. April 1788, S. 610f.; Tübingische gelehrte Anzeigen, 9. Oktober 1788, S. 644f.; Gemeinnützige Betrachtungen 13 (1788), Beylage, S. 299f. Vgl. Bittner/Cramer 171–173. Bittner/Cramer 175. Vgl. zu diesem Punkt schon Pistorius’ Rezensionen zu Kants Prolegomena und Schultzes Erläuterungen, Landau 102, 341. Gegen Kants Dualität von intelligiblem und empirischem Ich wendet sich auch der zum Kant-Gegner mutierte Ulrich in einer Anfang 1788 veröffentlichten moralphilosophischen Schrift, in welcher er nach Wolffscher Manier menschliche Freiheit mit naturgesetzlichem Determinismus zu vereinbaren sucht. Vgl. Johann August Heinrich Ulrich: Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit. Jena 1788, S. 19–40; sowie dazu Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena, S. 134f.; Beiser: Fate of Reason, S. 208–210.
153 Leise Zweifel an Kants Moraltheologie klingen nun auch zum ersten Mal in Johann Friedrich Breyers jährlicher Festschrift Sieg der Praktischen Vernunft über die Spekulative an, deren vierter Teil 1788 erschien. Breyer widmet sich hier der Aufgabe, den Stand der Diskussion über Kants moraltheologischen Gottesbeweis, »wie ihn dieser Tiefdenker selbst erst neuerlich [d. h. in der Kritik der praktischen Vernunft] wieder aufstellt«,705 in allgemeinverständlicher Form zusammenzufassen. Der Verfasser hofft, durch die Rekapitulation der Debatte zeigen zu können, »um welche Schritte der für viele edle Seelen noch immer so anstössige und beunruhigende Streit unsrer philosophischen Systeme seiner Entscheidung etwa näher gerückt seyn möchte.«706 Zu den Autoren, auf die er sich im Verlauf der Darstellung bezieht, gehören auf Kantischer Seite Born, Jakob und Reinhold, auf der Gegenseite Wizenmann, Reimarus, Selle, Flatt und Feder. Besonderes Gewicht wird den Argumenten Feders, als des Hauptvertreters einer »empirisch-analogischen Philosophie«, eingeräumt. Warum, fragt Breyer am Ende seiner Untersuchung in Anlehnung an Feders Ueber Raum und Caussalität, soll der Sprung vom Subjektiven zum Objektiven nur im Hinblick auf die Postulate der praktischen Vernunft zulässig sein? Warum sollte nicht ebenso einer theoretischen Verstandeskategorie, der Kausalität, objektive Realität zugeschrieben werden dürfen, so dass der herkömmliche physikotheologische Gottesbeweis, also der Schluss von der geordneten Einrichtung der Welt auf eine höchste vernünftige Ursache, vollauf gerechtfertigt wäre?707 Insgesamt macht Breyer in seinen Ausführungen deutlich, dass er in der Diskussion um Kants Moraltheologie auf einen Ausgang hofft, der nicht in dem Triumph der einen über die andere Partei besteht, sondern in einer Einigung, die den Forderungen des gemeinen Menschenverstandes gemäß ist.708 Er verweist dabei auf die aktuelle Publikation eines der führenden Aufklärungstheologen der damaligen Zeit: Johann Joachim Spalding (1714–1804), preußischer Oberkonsistorialrat und Probst an der Nikolaikirche in Berlin, plädiert in der »Zugabe« zur dritten Auflage seiner Vertrauten Briefe, die Religion betreffend (1788) ebenfalls für eine Rückbesinnung auf »die allgemeinen Begriffe und Grundsätze« der Religion, »die jedem gesunden Verstande einleuchten«.709 Spalding zeigt sich besorgt über radikalisierende Tendenzen in der aktuellen religionsphilosophischen Diskussion, in
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Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 4. Abteilung, S. 3. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 18f. Vgl. ebd., S. 7f., 19f. Im fünften und letzten Teil von Breyers Abhandlung münden die Bedenken gegenüber Kants Moraltheologie schließlich in ein negatives Fazit. Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe. Erste Abteilung, Bd. 4: Vertraute Briefe, die Religion betreffend. Hg. von Albrecht Beutel/Dennis Prause. Tübingen 2004, S. 237; vgl. S. 211, 214f. (Die erste Auflage der Vertrauten Briefe war 1784 erschienen.)
154 der sich eine Fraktion der Skeptiker und eine Fraktion der Schwärmer mit zunehmender Unversöhnlichkeit gegenüberstünden.710 Auch wenn er nirgendwo Kants Namen nennt, so ist doch unverkennbar, dass Spalding bei seinen Ausführungen über die neueren Skeptiker und deren Versuche, die herkömmlichen Gottesbeweise in Zweifel zu ziehen, hauptsächlich an die Kantische Philosophie denkt.711
15. Allgemeine Tendenzen der Kantrezeption 1786–1788: Popularisierung und Interdisziplinarität; Kant in Göttingen (Lichtenberg, Bürger) und an weiteren Universitäten; katholische Kantrezeption; Historisierung und Kanonisierung (Will, Jenisch, Schulze) Zum Zeitpunkt, als Spalding seinem Unbehagen gegenüber den »neuen Gährungen in der speculativischen Welt«712 Luft machte, konnte es schon lange keinen Zweifel mehr daran geben, dass die Kantische Philosophie – ungeachtet aller in den vorangehenden Kapiteln dargestellten Widerstände ihrer Gegner – zu einer dominierenden Größe im Bewusstsein der Zeitgenossen herangewachsen war. Maßgeblich dazu beigetragen hatte die Allgemeine Literatur-Zeitung, die seit ihrer Gründung 1785 in einer Vielzahl philosophischer Rezensionen konstant den Kantischen Standpunkt vorgestellt, erläutert und verteidigt hatte. Karl Friedrich Bahrdt stellte es bereits 1787 als Leistung der ALZ heraus, die allgemeine Aufmerksamkeit auf Kant gelenkt zu haben.713 So ausgeprägt war das pro-kantische Engagement der Zeitung, dass sie schon bald den Vorwurf auf sich zog, parteiisch zu sein. Eine entsprechende Beschuldigung wird von Jacobi in einem Artikel erhoben, den er – als Antwort auf Rehbergs kurz zuvor erschienene kritische Bespre710 711
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Vgl. ebd., S. 217, 235. Vgl. ebd., S. 209–212. Vgl. auch die Rezension in der ALZ, 18. Juli 1788, Sp. 169, 171, sowie Spaldings Brief an Kant vom 8. Februar 1788 (AA X 527f.). Spalding bedankt sich darin für die Zusendung der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. dazu auch AA X 506) und formuliert zugleich vorsichtige Kritik an Kants Unternehmung, den Beweis vom Dasein Gottes der spekulativen Vernunft ganz entziehen zu wollen. Positiv äußert er sich hingegen über Kants Moralphilosophie. Die Vertrauten Briefe zeugen von Spaldings grundsätzlicher Übereinstimmung mit Kants Ansatz, die Moral zum Garanten religiöser Überzeugungen zu machen anstatt umgekehrt (vgl. Spalding: Vertraute Briefe, S. 212–214). Diese Übereinstimmung wird von Breyer und dem ALZ-Rezensenten registriert (vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 4. Abteilung, S. 11–15; ebd., 5. Abteilung, S. 5 Anm. 3; ALZ, 18. Juli 1788, Sp. 171). Vgl. dazu auch Kurt Beckmann: Berührungen Johann Joachim Spaldings mit Immanuel Kant in der Fassung seines Religionsbegriffes. Diss. Göttingen 1913, S. 18–23. Spalding: Vertraute Briefe, S. 214. Vgl. [Karl Friedrich Bahrdt:] Immanuel Kant. In: Kirchen- und Ketzer-Almanach. Zweytes Quinquennium. Gibeon [d. i. Berlin] 1787, S. 100f., hier S. 101.
155 chung des David Hume – 1788 im Intelligenzblatt Nr. 24 der ALZ abdrucken ließ.714 Der Redakteur Schütz hielt diese Anschuldigung für gravierend genug, um sie noch im selben Jahr in einer »Erklärung« öffentlich zurückzuweisen.715 Die Diskussion über Kant blieb nicht lange auf gelehrte Zeitungen und Rezensionsorgane wie die ALZ begrenzt. Schon früh erfasste der Publizitätsradius der neuen Philosophie auch Zeitschriften, die sich an ein breiteres Publikum richteten. Als die bedeutendsten zeitgenössischen Journale hebt der bekannte Aufklärungspädagoge Johann Heinrich Campe Anfang 1788 drei Titel hervor: Biesters Berlinische Monatsschrift, Wielands Teutschen Merkur und Boies Deutsches Museum.716 Wie gezeigt, war die kritische Philosophie in allen drei Organen präsent: in der Monatsschrift durch Kants eigene Artikel, zum Beispiel den Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786); im Merkur durch Reinholds acht Briefe über die Kantische Philosophie (1786–1787), die der neuen Strömung »so viele ächte und verständige Verehrer« erworben hatten;717 im Museum durch Daniel Jenischs vierteilige Aufsatzserie über Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1787–1788). Dem Typus der literarisch-kulturellen Aufklärungszeitschrift, den diese drei Periodika am prominentesten verkörperten,718 lässt sich – mit ethnographischem Schwerpunkt – auch das von Wilhelm von Archenholtz herausgegebene Journal Neue Litteratur und Völkerkunde zurechnen, in dem der Kantianer Ludwig Heinrich Jakob 1787 seine Polemik gegen Meiners veröffentlichte.719 Ganz dem psychologisch-anthropologischen Interesse der Zeit 714
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Vgl. JW II/1 117f. sowie die im Kommentar, JW II/2 596f., wiedergegebenen Zitate aus Jacobis Brief an Rehberg vom 2. Mai 1788 und aus Rehbergs »GegenErklärung« im Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 35 (1788). Schon in einem Brief an J.G. Schlosser vom 23. September 1786 hatte Jacobi abfällig von den »Jenaer Litteratur Bengel[n]« und ihrem »Eifer für das Kantische System« gesprochen (JB I/5 353). Vgl. auch einen Artikel in Wilhelm Ludwig Wekhrlins Hyperboreischen Briefen vom Jahr 1789, wo es mit Bezug auf die Redakeure der ALZ heißt: »Kant hinten, Kant vorne! Wer dieses Schiboleth nicht kennt, dem geben sie den Fus vor den Hintern« (Anonym: Der Sammler an Serpil. Antwort. In: Hyperboreische Briefe 5 [1789], S. 319f., hier S. 320). Vgl. Christian Gottfried Schütz: Erklärung über verschiedene Punkte die Allg. Lit. Zeitung und das Intelligenzblatt betreffend. In: Intelligenzblatt der ALZ, Nr. 50 (1788), Sp. 425–432, hier Sp. 428f., 430. Vgl. Johann Heinrich Campe: Beantwortung dieses Einwurfs [wider die Nützlichkeit periodischer Schriften, von Herrn Prof. Garve]. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 1 (1788), S. 19–44, hier S. 35f. So die Feststellung Breyers ein Jahr nach Erscheinen der Briefe. Vgl. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 4. Abteilung, S. 12. Vgl. zu diesem Typus John A. McCarthy: Literarisch-kulturelle Zeitschriften. In: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. Hg. von Ernst Fischer u. a. München 1999, S. 176–190; Andrea Heinz: Vorwort. In: Der Teutsche Merkur, hg. von Heinz, S. 7f. Zur Charakterisierung dieses Journals vgl. Wilke: Literarische Zeitschriften, Teil II, S. 200–203.
156 verpflichtet war das von Karl Philipp Moritz begründete Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Hier veröffentlichte Daniel Jenisch 1787 einen Aufsatz, in welchem das Phänomen der philosophischen Schwärmerei in ausdrücklicher Anlehnung an Kant beschrieben und erklärt wird: als Ergebnis des unstillbaren Triebes der Vernunft, beim Verfolgen der Reihe der Naturerscheinungen zu einer totalisierenden Erkenntnis zu gelangen und dabei über das Feld der Erfahrung hinauszugehen.720 Kant war sich der Bedeutung der Zeitschriften im philosophischen Richtungskampf bewusst. Sozusagen als »Dankesgabe«721 für seine Rolle bei der Verbreitung der kritischen Philosophie ließ er dem Teutschen Merkur Anfang 1788 einen Beitrag aus eigener Feder zukommen: Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie. Reinhold hatte sich im Oktober 1787 zum ersten Mal persönlich an Kant gewandt und sich ihm als Verfasser der Briefe über die Kantische Philosophie vorgestellt. Er verband seinen Brief mit der Anfrage, ob Kant ihm in einem Artikel für den Merkur öffentlich das Zeugnis ausstellen könne, dass die kritische Philosophie in den Briefen richtig gefasst worden sei.722 Kant schickte ihm umgehend den Teleologie-Aufsatz zu mit der Bitte, »ihm einen Platz im beliebten deutschen Merkur auszuwirken«.723 Wieland, der sich von Kants Beitrag versprach, er werde seiner Zeitschrift »Ehre machen«,724 veröffentlichte ihn in zwei Teilen im Januar- und Februarheft. Der Aufsatz ist eine Antwort auf Forsters ein gutes Jahr vorher in derselben Zeitschrift erschienene Angriffe; implizit führt Kant darin auch die Auseinandersetzung mit Herder fort. Das nach Forsters und Herders Auffassung empirisch legitimierte Verfahren, Entwicklungsprozesse in der Natur auf der Materie immanente Kräfte zurückzuführen, wird von Kant als pseudowissenschaftlich entlarvt. Der Königsberger Philosoph betont dagegen die Bedeutung, die im Hinblick auf teleologische Urteile über die Natur unseren subjektiven Vernunftprinzipien zukommt.725 Die Würdigung Reinholds er720
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Vgl. Daniel Jenisch: Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten. In: ders.: Ausgewählte Texte, S. 7–16, hier S. 12f. Bei der Gründung seines Magazins hatte Moritz um die Mitarbeit Kants geworben, ein Gesuch, das er später noch einmal wiederholte (vgl. die Briefe an Kant vom 4. Oktober 1783 und 14. Mai 1791, AA X 355 und XI 258). Zum Profil der Zeitschrift vgl. Ernst Fischer: Psychologisch-anthropologische Zeitschriften. In: Von Almanach bis Zeitung, hg. von Fischer u. a., S. 316–330, hier S. 318–322. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 189. Vgl. Reinholds Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 (AA X 499f.). AA X 513 (Brief vom 28. Dezember 1787). WB IX/1 382 (Brief Wielands an Reinhold von Mitte Januar 1788). Vgl. WA V 137–170, bes. S. 163–167. Zu Kants Auseinandersetzung mit Forster und Herder, die in der Entstehungsgeschichte der Kritik der Urteilskraft (1790) eine wichtige Rolle spielt, vgl. Manfred Riedel: Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J.G. Herder. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hg. von Bernhard Fabian u. a. München 1980 (Studien zum acht-
157 folgt gegen Ende des Artikels. Kant lobt an dem Verfasser der Briefe das »Talent einer lichtvollen, so gar anmutigen Darstellung trockener abgezogener Lehren, ohne Verlust ihrer Gründlichkeit« und bezeichnet seine Berufung nach Jena als einen »Zuwachs, der dieser berühmten Universität nicht anders als sehr vorteilhaft sein kann«.726 Reinholds Briefe waren das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel dafür, dass sich Anhänger der Kantischen Philosophie in Wielands Zeitschrift zu Wort meldeten. Ihm vorausgegangen war Samuel Heinicke, der in seiner eigenwilligen Manier, Kantische Theoreme auch für relativ philosophieferne Argumentationszwecke einzuspannen, schon 1785 mit seinem (auch im Deutschen Museum abgedruckten) Aufsatz Ueber Taubstumme dazu hatte beitragen wollen, »die Leute […] auf Kants Kritik, aufmerksam zu machen«.727 1787 erschien im Aprilheft des Merkur zudem ein anonymer Beitrag, in dem die Kritik der reinen Vernunft herangezogen wird, um den Wunderglauben zu widerlegen.728 Autor war der Nassauer Justizrat, Aufklärer und Publizist Karl von Knoblauch (1756–1794). Er hatte Kant in ähnlichem Zusammenhang schon 1786 in Wilhelm Ludwig Wekhrlins populärer Zeitschrift Das graue Ungeheur angeführt und ihn dort als »Fürst der teutschen Denker« tituliert.729 In den zahlreichen Beiträgen, die Knoblauch zu Wekhrlins Journal beisteuerte, finden sich immer wieder Bezugnahmen auf Kant. Der Königsberger Philosoph steht bei ihm für die grundlegende Einsicht, dass die Verstandesgesetze unsere Erfahrungswelt konstituieren und nur innerhalb dieser Gültigkeit haben. Zum einen ist für Knoblauch damit die Unmöglichkeit ›übernatürlicher‹ Erfahrungen erwiesen, zum anderen wird dadurch auch die Religion vor metaphysischem Räsonnement völlig in Sicherheit gestellt.730
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zehnten Jahrhundert, Bd. 2/3), S. 31–48 [auch in: Kant-Studien 72 (1981), S. 41–57]; Beiser: Fate of Reason, S. 153–158. Zur weiteren Entwicklung von Forsters Verhältnis zu Kant vgl. Erhard Lange: Georg Forsters Kontroverse mit Immanuel Kant. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 12 (1964), S. 965–980, hier S. 977f.; Sanches: »Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne«, S. 139 Anm. 15. WA V 169f. WB IX/1 62 (Brief Heinickes an Wieland vom 18. September 1785). Vgl. [Karl von Knoblauch:] Ueber Wunder. In: TM, April 1787, S. 85–91, hier S. 87, 89. [Ders.:] Noch etwas von Mirakeln: oder ein Paragraf aus der Kritik der reinen Vernunft. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 329–333, hier S. 329. Als Antidot des Wunderglaubens erscheint Kant auch in dem vermutlich ebenfalls von Knoblauch stammenden Fragment eines Poems in: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 122–124. Vgl. [ders.:] Natur ist unser Gesezz. In: ebd., S. 294–296; [ders.:] Die Sinne. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 48–55. Zum Profil des Ungeheurs und Wekhrlins weiteren publizistischen Unternehmungen vgl. Wilke: Literarische Zeitschriften, Teil II, S. 155–163. Zu den Schriften Knoblauchs vgl. die Bibliographie bei Jean Mondot: Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Un publiciste des lumières. 2 Bde. Lille 1986. Bd. 2, S. 724–729. Zu Knoblauchs Biographie, seiner Zusammenarbeit mit Wekhrlin und seinem Kampf gegen den Wunderglauben vgl. ebd., Bd. 1, S. 274–278; Bd. 2, S. 604–609;
158 Von kantkritischer Tendenz ist hingegen ein Aufsatz, der 1787 in der von Johann Christoph König in Nürnberg herausgegebenen populären Zeitschrift Der Freund der aufgeklärten Vernunft und wahren Tugend erschien. Der anonyme Beitrag trägt den Titel »Glaubensbekenntniß eines deutschen Dorfschulmeisters, die Gewißheit von dem Daseyn Gottes betreffend, gegen die Kantische Philosophie«.731 Verfasser war Paul Joachim Siegmund Vogel (1753–1834), zu diesem Zeitpunkt Konrektor an der Sebalder Schule in Nürnberg. Er schickte Kant seinen Aufsatz im Mai 1787 zu.732 Vogel geht von der Forderung aus, dass der Glaube an Gott sich auf Vernunftgründe stützen können muss. Er wirft Kant vor, diese Vernunftgründe entwertet zu haben, zumal der moraltheologische Gottesbeweis keinen vollen Ersatz bieten könne. Im Folgenden versucht Vogel, von den Kantischen Prämissen her einen eigenen Beweis vom Dasein Gottes zu formulieren. Der Kern des Arguments lautet: So, wie wir die uns sinnlich erscheinenden Gegenstände als außer uns existierend denken müssen und hierbei mit Kant von sicherer Erkenntnis sprechen können, ohne doch etwas über die eigentliche Realitätshaltigkeit dieser Erkenntnis zu wissen: so ist es nicht minder legitim, auch in bezug auf übersinnliche Dinge, sofern wir deren Dasein ebenfalls denken müssen, von Erkenntnis zu sprechen. Nun sind wir in der Tat genötigt, das Dasein Gottes anzunehmen (als einer obersten verständigen Weltursache); folglich können wir sagen, wir haben gewisse Erkenntnis von ihm.733 Bis in die populären Niederungen der Almanache und Kollektaneenbücher drang die Kantische Philosophie vor. 1786 berichtet ein (bereits mehrmals erwähnter) Artikel im Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie über Kants Furore machendes Werk und die Göttinger Affäre unter der reißerischen Überschrift: »Neuste Sensationen im Reich unsrer Philosophie«.734 Karl Friedrich Bahrdt feiert 1787 in seinem satirischen Kirchenund Ketzer-Almanach Kant als den größten unter allen europäischen Denkern, dessen Leistung darin bestehe, sämtlichen dogmatischen Philosophen
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ders.: Carl von Knoblauch zu Hatzbach ou les audaces religieuses et politiques d’un »esprit fort«. In: Recherches nouvelles sur l’Aufklärung. Hg. von Roland Krebs. Reims 1987, S. 43–59, hier S. 43–47. Vgl. [Paul Joachim Siegmund Vogel:] Glaubensbekenntniß eines deutschen Dorfschulmeisters, die Gewißheit von dem Daseyn Gottes betreffend, gegen die Kantische Philosophie. In: Der Freund der aufgeklärten Vernunft und wahren Tugend 1 (1787), S. 30–65 (im folgenden zitiert nach Hausius II 156–174). Zum Profil der Zeitschrift vgl. Böning/Siegert: Volksaufklärung, Bd. 2/1, Sp. 569f. Vgl. Vogels Brief an Kant vom 5. Mai 1787 (AA X 483f.). Noch im selben Jahr wurde Vogel Rektor; 1793 erhielt er eine Professur für Theologie in Altdorf. 1794 nahm Schiller ihn in die Liste möglicher Mitarbeiter der Horen auf (vgl. NA XXII 110). Zum Wirken Vogels vgl. Klaus Leder: Universität Altdorf. Zur Theologie der Aufklärung in Franken. Die theologische Fakultät in Altdorf 1750–1809. Nürnberg 1965, S. 318–336. Eine Widerlegung dieser Argumentation findet sich in der Rezension der ALZ, 25. Februar 1788, Sp. 519f. Vgl. Anonym: Neuste Sensationen, S. 60–67.
159 den »letzten tödtlichen Stoß versetzt« zu haben.735 Die Analekten für Politik, Philosophie, und Literatur kolportieren zur gleichen Zeit in einem Beitrag mit dem Titel »Studenten-Balgerey über die Kantische Philosophie«, wie in einer nicht näher bezeichneten Universitätsstadt ein Moselaner Student, der Kants Überlegenheit über Mendelssohn und die Göttinger lautstark pries, darüber mit einem niedersächsischen und einem Berliner Studenten in Streit geriet, was schließlich zum Duell und zu Gefängnishaft für den Moselaner geführt habe.736 Zum ersten Mal schwappte Kants Ruhm nun auch in die ausländische Publizistik über. 1787 drucken zwei englische Zeitschriften, The English Review und The Political Magazine, den Bericht eines Weimarer Korrespondenten über das gegenwärtige deutsche Kulturleben ab, in dem es am Ende heißt: »the metaphysics of professor Kant, at Königsberg, gain ground.«737 Kants Philosophie wird hier, wiederum in etwas reißerischer Manier, auf ihre religionskritische Dimension reduziert: Berichtet wird, dass ein Brandenburgischer Pfarrer dafür entlassen worden sei, dass er seiner Gemeinde auf der Grundlage Kantischer Prinzipien die Nichtexistenz Gottes bewiesen habe. Die Kantische Philosophie als Medienereignis! Die Gothaischen gelehrten Zeitungen äußern im August 1787 ihr Erstaunen darüber, »wie ausserordentlich jetzt alle Schriften, die sich auf Kant beziehen, abgehen«.738 Zwei Monate später stellt der Würzburger Theologe Franz Berg in seiner kantkritischen Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität spöttisch fest: Alles verstummt vor Kanten, und man hat nichts zu thun, als ihn zu verdeutschen, zu commentiren, Wörterbücher über ihn zu schreiben, die Fruchtbarkeit seiner Grundsätze zu zeigen, und die Gegner desselben zu widerlegen. Kants Kritik ist der Probierstein des menschlichen Verstandes; selbst in die Zellen der Mönche ist sie eingedrungen, und das Triumphierende: »Haben Sie Kant gelesen?« erschallet überall, und reitzt zum Lesen, wie Sterne das – Sind Sie in Frankreich gewesen? – zur Reise.739
Ungefähr zur gleichen Zeit bemerkt Johann Friedrich Breyer, »alle denkenden Köpfe«, egal welchen Berufs, strebten »täglich mehr nach etwas tiefern 735
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Bahrdt: Immanuel Kant, S. 100. Zur Charakterisierung von Bahrdts Almanachen vgl. Maria Lanckoro´nska/Arthur Rümann: Geschichte der deutschen Taschenbücher und Almanache aus der klassisch-romantischen Zeit. München 1954, S. 199f. Vgl. Anonym: Studenten-Balgerey über die Kantische Philosophie. Aus ***, dem Siz einer hohen Schule, geschrieben. In: Analekten für Politik, Philosophie, und Literatur 1 (1787), S. 133–140. Von einem Duell zwischen Jenaer Studenten, die über die Kantische Philosophie in Streit geraten waren, berichtet Schütz im Brief an Kant vom Februar 1786 (AA X 430). Zitiert nach Giuseppe Micheli: The Early Reception of Kant’s Thought in England 1785–1805. London 1993 [zuerst in: Kant and his Influence. Hg. von George MacDonald Ross/Tony McWalter. Bristol 1990, S. 202–314], S. 10f. Gothaische gelehrte Zeitungen, 4. August 1787, Landau 644. Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 682.
160 Einsichten in den Geist dieser neuen Philosophie«.740 Und ein unbekannter Rezensent konstatiert 1788 anlässlich der Besprechung des Glaubensbekenntnisses eines deutschen Dorfschulmeisters: »Kirchenräthe und Schulmeister, Juristen und Aerzte, Philosophen von Profession und Nichtphilosophen, alles macht sich an das Kantische System.«741 Dass die Kantische Philosophie das Interesse der Juristen beanspruchte, war spätestens seit Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (1786) eine Tatsache, wo (wie oben gezeigt) Kantische Theoreme in die Naturrechtsdiskussion miteinbezogen werden. In den Naturwissenschaften und in der Medizin wurde man auf Kant vor allem durch die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von 1786 aufmerksam. Das Buch blieb aus der bisherigen Darstellung ausgespart, weil dieser Versuch Kants, seine transzendentalen Grundsätze auf den Bereich der Naturlehre anzuwenden, in der frühen Diskussion um seine Philosophie keine große Rolle spielte.742 Im Rahmen einer interdisziplinären Rezeptionsgeschichte des Kantianismus kommt ihm jedoch nicht unerhebliche Bedeutung zu. Eine Besprechung dieses schmalen Werks im Medicinischen Journal von 1787 war der (soweit ich sehe) erste Artikel über Kants kritische Philosophie, der in einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift erschien. Verfasser (und zugleich Herausgeber der Zeitschrift) war der Marburger Arzt und Medizinprofessor Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804).743 Er bezeichnet Kant als »eine[n] unsrer ersten Naturkenner« und hebt als positives Merkmal seiner Lehre hervor, dass sie den Gebrauch der theoretischen Vernunft auf den Bereich der Erfahrung beschränke. Die Rezension endet mit dem Ratschlag: »Ich empfehle allen meinen Lesern dringend, dies Kantische Buch zu studiren.«744 740 741 742
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Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 3. Abteilung, S. 9. AdB 82/2 (1788), S. 606. Vgl. Konstantin Pollok: Einleitung. In: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hg. von Konstantin Pollok. Hamburg 1997 (Philosophische Bibliothek, Bd. 508), S. IX–LXII, hier S. XXIII–XXVII. Eine Ausnahme bildet Knoblauch, der sich in seinen naturwissenschaftlichen Aufsätzen verschiedentlich auf die Anfangsgründe bezieht. Vgl. [Karl von Knoblauch:] Etwas von Naturgesetzen [Fortsetzung]. In: TM, Oktober 1787, S. 82–94, hier S. 87; [ders.:] Boscowich’s Philosophie. 2ter §. Fortsetzung. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), 152–166, hier S. 162–165. Zu Baldingers Biographie vgl. Friedrich Münscher: Lebensbilder von Marburger Professoren. Ernst Gottfried Baldinger. In: Hessenland 3 (1889), S. 130–133. Als Professor an der Universität Marburg war Baldinger auch in die dortige Diskussion um ein Verbot der Kantischen Philosophie involviert. Er zeichnete sich hier durch sein konsequentes Eintreten für unbedingte Lehrfreiheit aus (vgl. Hermelink/Kaehler: Die Philipps-Universität zu Marburg, S. 433 Anm. 3). Bei Umlauf des landesfürstlichen Dekrets vom August 1786 fügte Baldinger seinem Sichtvermerk hinzu: »So schlimm ist’s nicht mit dem Kant!« (zitiert nach ebd., S. 429 Anm. 2). Vgl. Medicinisches Journal 11 (1787), S. 26f. Im gleichen Jahr erschien bereits ein erster Versuch, die Anfangsgründe für die Medizin fruchtbar zu machen. Es handelt sich um die Hallenser Dissertation des später als Botaniker berühmt gewordenen Kurt
161 Der prominenteste unter den frühen Lesern der Metaphysischen Anfangsgründe war ohne Zweifel Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Lichtenberg, der in Göttingen Mathematik und experimentelle Physik lehrte, schätzte Kant schon seit langem; die Beschäftigung mit seinen vorkritischen Schriften reicht bis in die 1760er Jahre zurück.745 1786 ließ er in dem von ihm herausgegebenen Goettinger Taschen Calender ein, wie Hamann sich ausdrückt, »feines Lob auf Kant« einrücken, indem er sich anerkennend auf den Aufsatz Ueber die Vulkane im Monde aus der Berlinischen Monatsschrift vom März 1785 bezieht und über den Königsberger Philosophen feststellt: »Sein Ruhm ist bessern Zeiten vorbehalten«.746 Zum selben Zeitpunkt verurteilt er die gegen Kant gerichtete Vorrede seines Göttinger Kollegen Christoph Meiners in dessen Grundriß der Seelen-Lehre (1786) auf das schärfste: »Ich habe lange nichts so Gelehrt schlechtes gelesen, als diese Vorrede.«747 Über Lichtenbergs eigene früheste Rezeption der kritischen Philosophie lässt sich wegen der lückenhaften Überlieferung seiner »Sudelbücher« nichts Genaues sagen (die für den Zeitraum 1781 bis 1788 einschlägigen Hefte G und H sind verloren). Was ihn allgemein für den Kritizismus eingenommen zu haben scheint, war sein eigener antimetaphysischer Denkansatz; in Kants Theorie sah er seine skeptische Auffassung bestätigt, dass alle Erkenntnis an die Welt der Erscheinungen gebunden ist und subjektiven Cha-
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Sprengel (1766–1833) mit dem Titel Specimen inaugurale philosophico-medicum sistens rudimentorum nosologiae dynamicorum prolegomena (Halle 1787). Vgl. die kritische Besprechung dieser Arbeit: Anonym: Endurtheil jeder künftigen Metaphysik der Arzneiwissenschaft. In einem Briefe an den Herausgeber. In: Briefe an Aerzte und Weltweise über Angelegenheit und Bedürfnis der Zeitgenossen 1 (1788), S. 283–308. Herausgeber der Zeitschrift war August Gottlob Weber (1761–1807), ebenfalls Mediziner in Halle. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Hg. von Ulrich Joost/Albrecht Schöne. 5 Bde. München 1983–2004 [im folgenden: LB]. Bd. 3, S. 377, 378 (Kommentar), 517. H VII 59 (Brief Hamanns an Hartknoch vom 12. November 1786); Georg Christoph Lichtenberg: Fortsetzung der Betrachtungen über das Weltgebäude. Von Cometen. In: ders.: Vermischte Schriften. Hg. von Ludwig Christian Lichtenberg/Friedrich Kries. Bd. 6. Göttingen 1803, S. 347–416, hier S. 358f. Der Aufsatz erschien im Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1787. Hamanns Bericht über Lichtenbergs Lob im »Göttingischen Almanach« muss wohl auf diese Publikation bezogen werden, obwohl die Äußerung Hamanns schon von Ende 1786 stammt. Der scheinbare Anachronismus wird behoben, wenn man berücksichtigt, dass die periodisch erscheinenden Kalender im Titel üblicherweise das kommende Jahr trugen, für das sie gedruckt wurden (der den Aufsatz enthaltende populärwissenschaftlich-literarische Teil des Calenders heißt entsprechend: Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1787). Lichtenbergs Artikel wurde also vermutlich schon 1786 veröffentlicht. Ein Niederschlag des Lichtenbergschen Lobs für Kants Kosmogonie findet sich in: [Karl von Knoblauch:] Magnetismus. Schluß. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 339–351, hier S. 347f. LB III 295 (Brief an Gottfried August Bürger, wahrscheinlich vom Herbst 1786).
162 rakter hat.748 Die Vermutung liegt nahe, dass ihn als Physiker die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von Anfang an besonders interessierten. Von der Wirkung dieses Buches zeugt bereits ein Brief vom Juli 1787, in dem Lichtenberg von seinem Plan berichtet, den von ihm herausgegebenen Anfangsgründen der Naturlehre seines verstorbenen Freundes Erxleben ein eigenes Kompendium an die Seite zu stellen – »und da dencke ich in den allgemeinen Betrachtungen von Anfang, Herrn Kant gänzlich zu folgen.«749 In seinen Vorlesungen über Erxlebens Naturlehre hat Lichtenberg sich dann spätestens im Sommersemester 1788 auf Kants Anfangsgründe bezogen, wie die von Horst Zehe mitgeteilten Aufzeichnungen belegen.750 Lichtenbergs Wertschätzung für Kant beruhte auf Gegenseitigkeit. So wandte Kant sich im Sommer 1787 an Christian Gottfried Schütz mit der Bitte, Lichtenberg für eine Rezension der zweiten Auflage der Anfangsgründe in der ALZ zu gewinnen. Auf einen entsprechenden Brief von Schütz antwortete Lichtenberg aber ablehnend. Als Grund verweist er gegenüber Christian Gottlob Heyne, dem Redakteur der Göttingischen Anzeigen, einerseits auf seine Loyalität gegenüber dieser Zeitung, zum anderen auf die kantfeindliche Haltung von Göttinger Kollegen, denen er »nicht gerne widrig begegnen mögte«.751 Lichtenberg verhehlt dabei nicht, wo im philosophischen Parteienstreit seine Sympathien liegen: »Kant mag seyn wie er will, so weiß er gewiß mehr, als glaube ich alle unsere heutigen Metaphysiker zusammen genommen. […] Der gute F.[eder] hat doch gewiß einige sehr große Blößen gegeben, und was Meiners gesagt hat, ist fürwahr nicht der Rede werth.«752 Wie das Beispiel Lichtenbergs zeigt, gab es also keineswegs eine geschlossene anti-kantische Front in Göttingen. So versichert auch Schütz dem Königberger Philosophen in einem Brief vom Frühjahr 1787: »Daß Heyne so gut als die Herrn Kästner u. Lichtenberg ganz anders als Hr. F[eder] u. 748
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Zu Lichtenbergs Kantrezeption vgl. Franz H. Mautner: Lichtenberg. Geschichte seines Geistes. Berlin 1968, S. 320f., 436–445; Ralf Kauther: Lichtenberg und Kant. In: Lichtenberg-Jahrbuch, Jg. 1992, S. 56–77. Kauther streicht Lichtenbergs Tendenz heraus, Kants transzendentalen Ansatz auf einen empirischen Idealismus und Subjektivismus zu verkürzen (vgl. ebd., bes. S. 63–69). Marino macht darauf aufmerksam, dass der skeptische Phänomenalismus, der Lichtenbergs Kant-Interpretation zugrunde lag, grundsätzlich im Einklang mit der empiristischen Tradition und der Linie seiner Göttinger Kollegen stand (vgl. Marino: Praeceptores Germaniae, S. 165). LB III 377 (Brief an Christian Wilhelm Büttner [?] vom 7. Juli 1787). Vgl. Horst Zehe: Georg Christoph Lichtenberg und die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In: Photorin 10 (1986), S. 1–13, hier S. 3f., 12 Anm. 35. LB III 517 (Brief an Heyne vom 27. April 1788). Die Briefe von Kant und Schütz sind nicht erhalten. LB III 517. Vgl. auch schon Lichtenbergs abschätzige Äußerung über die Göttinger »Wassersuppen=Philosophie« im Brief an Georg Forster vom 24. Dezember 1787 (LB III 470).
163 M[einers] von Ihren Schriften denke weiß ich gewiß.«753 Und Daniel Jenisch berichtet in seinem Brief aus Braunschweig vom Mai desselben Jahres: »Unglaublich ist’s, wie wenig Ansehen und Gewicht Meiners und Feder so wie überall, also selbst bey Göttingern haben […]: alles studirt mit dem lebhaftesten Eifer Ihre Kritik und so manche Briefe, die ich darüber aus Göttingen erhalte, zeigen, daß man Sie schäzt, weil man Sie versteht.«754 Im Wintersemester 1787/88 war es dann soweit: Ein berühmter Dichter und akademischer Außenseiter schickte sich an, die »erste offizielle Darstellung der Philosophie Kants in Göttingen«755 zu geben – Gottfried August Bürger (1747–1794). Nach der Niederlegung seiner Amtmannstelle in Altengleichen bei Göttingen hatte Bürger 1784 durch Vermittlung Heynes die Möglichkeit erhalten, an der Philosophischen Fakultät der Georgia Augusta als Privatdozent zu unterrichten. Seine Vorlesungen waren zunächst der Stilistik der deutschen Sprache gewidmet. Laut eigener Auskunft widmete er sich spätestens seit Anfang 1786 dem Studium der Kantischen Philosophie.756 Ein Brief an seinen Schwager Gotthelf Friedrich Oesfeld vom 14. Mai 1787 zeugt von seiner Begeisterung: Bürger erklärt, Kant sei »von allen, die ich kenne, der erste und einzige, dessen Philosophie die Forderungen meiner Vernunft befriedigt hat. Seine Kritik der reinen Vernunft […] ist das wichtigste, was je in diesem Fache geschrieben worden ist. Die hiesige hochlöbliche philosophische Facultät ist zwar anderer Meinung […].«757 Das Zitat deutet schon an, dass Bürgers emphatische Hinwendung zu Kant nicht zuletzt auch etwas mit seinem angespannten Verhältnis zu den Göttinger Kollegen zu tun hatte, die den Quereinsteiger mit Geringschätzung behandelten.758 In einer akademischen Schrift von 1787 benutzt Bürger die Kritik der reinen Vernunft dazu, Spitzen gegen die professorale Hochgelehrtheit auszuteilen, indem er aus der soeben erschienenen zweiten Auflage genüsslich den Passus zitiert, wo Kant das angeborene Vermögen der Urteilskraft über das bloß angelernte Regelwissen stellt, zu dem auch be753
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AA X 480 (Brief vom 23. März 1787). Mit Kästner ist der berühmte Göttinger Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner gemeint. AA X 485 (Brief an Kant vom 14. Mai 1787) Marino: Praeceptores Germaniae, S. 162. Vgl. Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Hg. von Adolf Strodtmann. 4 Bde. Berlin 1874 [Repr. 1970]. Bd. 3, S. 192 (Bürgers Brief an Born vom 5. Februar 1788). Ebd., S. 185. Vgl. Hans Detlef Feger: Einleitung. In: Gottfried August Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie. Eine Reihe von Vorlesungen, vor gebildeten Zuhörern gehalten. Hg. von Hans Detlef Feger. Berlin 1994, S. V–LXXIV, hier S. XI–XV. Vgl. auch Boies Äußerung nach einem Besuch bei Bürger vom September 1787: »Bürger […] liest Collegia, die ihm so bezahlt werden, daß er nicht zu hungern braucht. Sonst sieht ihn jeder Professor über die Achsel an und glaubt sich mehr als er« (zitiert nach Karl Weinhold: Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Halle 1868 [Repr. 1970], S. 214).
164 schränkte Köpfe in der Lage seien.759 Von seinem Freund Lichtenberg bekam Bürger zudem Informationen aus dem Universitätskuratorium zugespielt, wonach eine Vorlesung über Kantische Philosophie seiner akademischen Karriere nur förderlich sein könne.760 Möglicherweise machte man sich in Hannover angesichts rückläufiger Studentenzahlen Sorgen, dass die Blockadehaltung der Göttinger philosophischen Fakultät gegenüber der neuen Denkrichtung dem wissenschaftlichen Prestige der Universität abträglich sein könnte.761 In der erwähnten akademischen Schrift von 1787 jedenfalls kündigt Bürger bereits für das kommende Wintersemester Vorlesungen über »einige Haupt-Momente der Kantischen Philosophie« an.762 Im September berichtet Heinrich Christian Boie in einem Brief an Johann Heinrich Voß, Bürger sitze »bis über den Hals in Kant vergraben, den er sehr lieb gewonnen hat, und, eine Ketzerei in G., über ihn lesen will.«763 Bürgers in populärem Stil gehaltene Vorlesungen hatten bei den Studenten großen Erfolg764 (und wurden im Wintersemester 1791/92 wiederholt). Die ALZ stand nicht an, über diesen neuen Etappensieg der Kantischen Philosophie in Göttingen zu berichten.765 Bürgers Kolleg ist in gedruckter Form überliefert: Unter dem Titel Hauptmomente der kritischen Philosophie. Eine Reihe von Vorlesungen vor gebildeten Zuhörern gehalten wurde es ohne Angabe eines Verfassers 1803 in Münster veröffentlicht.766 Es handelt sich hauptsächlich um eine Exposition der transzendentalen Ästhetik und Analytik, die sich im Wortlaut häufig eng an Kant und die Schriften seiner Anhänger (vor allem Jakob und Schultz) hält.767 Implizit wird darin be759
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Vgl. Gottfried August Bürger: Über Anweisung zur deutschen Sprache und Schreibart auf Universitäten – Einladungsblätter zu seinen Vorlesungen. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Günter Häntzschel/Hiltrud Häntzschel. München/Wien 1987, S. 773–799, hier S. 789; sowie dazu Feger: Einleitung, S. XVf. Bürger bezieht sich auf KrV A 133f./B 172f. Vgl. Lichtenbergs Brief an Bürger vom 17. Juli 1787 (LB III 378f.). In diese Richtung gehen Vermutungen bei Feger: Einleitung, S. XVIII–XXII. Schon im November 1786 verleiht Georg Friedrich Brandes, Universitätsreferent der Hannoverschen Regierung, gegenüber seinem Schwiegersohn Heyne der Befürchtung Ausdruck, dass der Ruf der Göttinger philosophischen Fakultät unter der antikantischen Polemik gelitten haben könnte (vgl. Marino: Praeceptores Germaniae, S. 161). Bürger: Über Anweisungen, S. 799. Zitiert nach Weinhold: Heinrich Christian Boie, S. 214. Vgl. Feger: Einleitung, S. XXIIIf. Vgl. die Meldung in der ALZ, 14. Februar 1788, Sp. 424. Vgl. dazu die Angaben des Herausgebers im Anhang zu Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 367–370. Vgl. dazu die Nachweise bei Christian Janentzky: G.A. Bürgers Ästhetik. Berlin 1909 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 37), S. 57–61. Janentzkys negatives Urteil über Bürgers unselbständigen Umgang mit der Kantischen Philosophie wird zurückgewiesen bei Feger: Einleitung, S. LXIX Anm. 182. Zu Bürgers umfangreicher Lektüre der Schriften Kants und seiner Anhänger vgl. auch Götz von Selle: Bemerkungen zu Gottfried August Bürgers Bibliothek. In: Beiträge zur Göttinger Bibliotheks-
165 sonders gegen die empiristische Grundsatzkritik Feders vorgegangen; auch Abel, Platner, Jacobi und Reimarus bilden polemische Bezugspunkte der Argumentation.768 Trotz der großen studentischen Resonanz brachte das Kolleg des akademischen Außenseiters Bürger nicht den Durchbruch zu einer festeren Etablierung der Kantischen Philosophie in Göttingen.769 Verstärkt widmeten sich hier erst in den 1790er Jahren die Philosophen Buhle und Bouterwek der neuen Lehre.770 Schnellere Fortschritte machte die Rekrutierung kantianischen Nachwuchses anderswo. 1787/88 traten mehrere junge Philosophen mit Erstveröffentlichungen auf den Plan, die als Schüler ausgewiesener KantKenner in gewisser Weise bereits die zweite Generation der Kantischen Bewegung verkörperten: in Leipzig Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801), welchem Born in einem Brief an Kant bescheinigt, dass er »Herz genug hat Ihr System vorzutragen«,771 und der später neben Born zum wichtigsten Repräsentanten der Kantischen Philosophie in Leipzig wurde; in Halle Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter (1766–1819), ein Schüler Jakobs und in den neunziger Jahren »der eigentliche Modephilosoph des Kantianismus«
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und Gelehrtengeschichte. Hg. von der Universitätsbibliothek. Göttingen 1928 (Vorarbeiten zur Geschichte der Göttinger Universität und Bibliothek, 5. Heft), S. 108–117, hier S. 114f. Vgl. dazu die Ausführungen bei Feger: Einleitung, S. LIX–LXXIII, und die Hinweise in seinem Stellenkommentar. Die polemischen Bezüge dürften in Bürgers mündlichem Vortrag noch deutlicher akzentuiert gewesen sein. Ein Hörer des Kollegs, der junge Philologe Karl Gotthold Lenz (der zuvor in Jena studiert hatte, Schüler von Christian Gottfried Schütz war und in der Redaktion der Allgemeinen Literatur-Zeitung mitgearbeitet hatte), berichtet im November 1787 über Bürgers Vorlesung: »Er spricht sehr frey von Kants gegnern, selbst von den dissensus der hiesigen Professoren […]«. Und im Dezember schreibt Lenz: »Bürger hat sich in den letzten Stunden mit den Einwürfen Platners, Jacobis, Abels gegen die Kantische Aesthetik beschäftigt und sehr scharfsinnig sie widerlegt« (zitiert nach August Kluckhohn: Beiträge zur deutschen Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Aus handschriftlichen Quellen II. In: Archiv für Litteraturgeschichte 12 [1884], S. 61–84, hier S. 83f.). Noch 1790, als Forster gegenüber seinem Schwiegervater Heyne bemerkt, früher oder später werde man in Göttingen doch einen Lehrstuhl für Kantische Philosophie einrichten müssen, zumal Bürger »diesem Fache nicht gewachsen« sei, zeigt sich Heyne äußerst reserviert gegenüber der neuen philosophischen Strömung: »Lieber wollen wir warten, bis erst die Gährung sich gesetzt hat, und wir sehen, was auf dem Boden sitzen bleiben wird« (F XVI 171, F XVIII 416). Vgl. zu beiden Marino: Praeceptores Germaniae, S. 187–205. AA X 548 (Brief vom 6. Oktober 1788). Heydenreich hatte Kant seit 1785 studiert. In der Zeitschrift seines Lehrers Karl Adolph Cäsar veröffentlichte er 1787 einen Aufsatz über Spinoza, der Kantische Referenzen enthielt (vgl. oben S. 117 Anm. 492). 1789 wurde Heydenreich Professor der Philosophie in Leipzig; die endgültige Wende von Spinoza zu Kant vollzog er um 1790 (vgl. Timm: Spinozarenaissance, S. 239). Zu Heydenreichs Biographie vgl. Karl Gottlob Schelle: Karl Heinrich Heydenreichs ehemaligen ordentlichen Professors der Philosophie zu Leipzig Charakteristik als Menschen und Schriftstellers. Leipzig 1802, bes. S. 123–126.
166 in Berlin;772 in Erlangen Johann Heinrich Abicht (1762–1816), ein Schüler Breyers und zusammen mit Born Herausgeber des Neuen philosophischen Magazins (Leipzig 1789/90), der ersten philosophischen Zeitschrift, die zum Zweck der Ausbreitung Kantischer Ideen gegründet wurde.773 Abicht begann zum Wintersemester 1788/89, in Erlangen über Kant zu lesen.774 Der Kreis der Universitäten, an denen die neue Philosophie gelehrt wurde, war damit erneut angewachsen und hatte inzwischen einen beträchtlichen Umfang erreicht. Auf Jena, Marburg, Halle und Leipzig waren schon 1787 neben Göttingen auch Erfurt und Altdorf gefolgt, wo die Professoren Johann Christian Lossius bzw. Georg Andreas Will Kant erklärten.775 In Tübingen wurde die theoretische Philosophie in diesen Jahren allein durch Johann Friedrich Flatt vertreten, den kantkritischen Rezensenten der Tübingischen gelehrten Anzeigen. In seinen Lehrveranstaltungen ging er, wie oben erwähnt, spätestens seit 1787 auf Kant ein.776 Seine »klare mit einer anerkennenden Polemik begleitete Darstellung« der neuen Philosophie fand im Tübinger Umfeld viel Anerkennung.777 In den schriftlichen Arbeiten, die die 772
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Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie, S. 249. Bei Kiesewetters Erstlingsschrift handelt es sich um die Abhandlung Ueber den ersten Grundsatz der Moralphilosophie (Leipzig u. a. 1788), zu der Jakob einen einleitenden Aufsatz beisteuerte. Abichts Erstlingsschrift trägt den Titel De philosophiae Kantianae habitu ad theologiam (Erlangen 1788). Noch im selben Jahr erschien der Versuch einer kritischen Untersuchung über das Willensgeschäfte (Frankfurt a. M. 1788); in der vorangestellten Widmung wird Breyer als einer von Abichts wichtigsten »Gönnern und Lehrern« gewürdigt. Über Abichts Schriften stellt Born in einem Brief an Kant fest, dass sie viel von ihrem Verfasser erwarten ließen (vgl. Borns Brief vom 6. Oktober 1788, AA X 548). Zum Neuen philosophischen Magazin vgl. Feldkeller: Das philosophische Journal, S. 333f.; Röhrdanz: Die Stellung Kants, S. 81f. Vgl. Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 7. Oktober 1788, S. 338. Einer Auswertung der Erlanger Vorlesungsverzeichnisse dieser Jahre ist zu entnehmen, dass Breyer zuvor schon im Sommersemester 1786 auf Kants Philosophie eingegangen war (vgl. Tony Saint-Lôt: Philosophie und Medizin in Erlangen. Auf der Grundlage der Vorlesungsverzeichnisse von 1780 bis 1806. Diss. Erlangen/Nürnberg 1976, S. 45, 120). In den Erlanger Gemeinnützigen Betrachtungen fordert ein anonymer Rezensent 1788, die Lehren Kants vorerst nur im Rahmen allgemeiner orientierter Vorlesungen mitzubehandeln: »So geschah es bisher auf unserer Universität meist über die Federischen Compendien« (Gemeinnützige Betrachtungen 13 [1788], Beylage, S. 188). Vgl. die Angabe bei Matern Reuß: Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosophie erklären? Würzburg 1789; im folgenden zitiert nach Hausius I 52–88, hier Hausius I 79. Zum Erfolg von Wills Lehrveranstaltung bei den Altdorfer Studenten vgl. die unpaginierte Vorrede zu Will: Vorlesungen. Vgl. oben S. 69. Karl Klüpfel: Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen. Tübingen 1849 [Repr. 1977], S. 209. Auch Henrich erklärt, Flatt habe Kant in seinen Vorlesungen »mit mehr philosophischer Sympathie behandelt als in seinen Veröffentlichungen« (Henrich: Grundlegung aus dem Ich, Bd. 1, S. 71). Grund für die Alleinvertretung der theoretischen Philosophie durch den Extraordinarius Flatt war, dass der Lehrstuhlinhaber Gottfried Ploucquet seit 1783 wegen eines Schlaganfalls seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte (vgl. ebd., S. 76f.). Als Ploucquet 1790 starb, wurde Abel sein Nachfolger.
167 Tübinger Studenten vor dem Magisterexamen anfertigen mussten (den Specimina), lässt sich die Behandlung Kantischer Themen sogar schon seit 1785 nachweisen.778 Und der Kritizismus blieb nicht auf das protestantische Deutschland beschränkt. Mainz und Würzburg waren es, die unter der Regierung der aufklärerisch orientierten Brüder von Erthal, des Erzbischofs Friedrich Karl Joseph und des Fürstbischofs Franz Ludwig, die Kantische Vorhut im katholischen Raum bildeten. Zum Wintersemester 1788/89 boten hier zwei Philosophieprofessoren erstmals Lehrveranstaltungen über die neue Philosophie an. Der eine war Anton Joseph Dorsch (1758–1819), seit 1784 Professor in Mainz und später begeisterter Anhänger der Französischen Revolution. Er hatte schon seit 1785 in verschiedenen Rezensionen und akademischen Schriften auf Kant hingewiesen.779 Dorschs Werben für Kant wurde im rheinisch-katholischen Raum durch seinen Bonner Kollegen Elias van der Schüren unterstützt, welcher in einem anonymen Artikel, der 1787 in der Niederrheinischen Monatsschrift erschien, Kant von dem Vorurteil der Religionsfeindlichkeit zu entlasten versucht.780
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Vgl. ebd., Bd. 1, S. 71, 80; Bd. 2, S. 895. Henrich vermutet hier eine Wirkung von Schultzes Erläuterungen. So in Beprechungen zu Werken Tittels und Mendelssohns für das Mainzer Magazin der Philosophie und schönen Litteratur (vgl. Landau 226, 227, 290, 294) und in zwei Dissertationen aus den Jahren 1786 und 1787 (vgl. Helmut Mathy: Die Universität Mainz 1477–1977. Mainz 1977, S. 162f.). Zur Charakterisierung des Magazins vgl. Hans Hainebach: Studien zum literarischen Leben der Aufklärungszeit in Mainz. Diss. Gießen 1936, S. 90–100. Zu Dorschs Vorlesungsankündigungen vgl. Rudolf Malter: Intelligible Freiheit, Hang zum Bösen und moralische Bildung. Der Mainzer Theologe Felix Anton Blau und die Religionsphilosophie Immanuel Kants. In: Mainzer Zeitschrift 69 (1974), S. 127–134, hier S. 128, 129 Anm. 11. Womöglich fand die erste Vorlesung über Kantische Philosophie an einer katholischen Universität allerdings schon deutlich früher statt: In seiner Rezension zu Tittel erwähnt Dorsch, dass sein Mainzer Kollege, der Theologieprofessor Felix Anton Blau, bereits im Sommersemester 1785 über Kants Prolegomena gelesen habe (vgl. Landau 229). Der mit ›S.‹ gezeichnete Beitrag liegt in einer Quellensammlung in kommentierter Form vor. Vgl. [Elias van der Schüren:] Ueber die Kantische Kritik der reinen Vernunft. Ein Gespräch. In: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801. Hg. von Joseph Hansen. Bd. 1: 1780–1791. Bonn 1931, S. 160–165. Zu van der Schüren vgl. Franz Xaver Münch: Die philosophischen Studien an der kurkölnischen Universität zu Bonn, mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen Arbeiten Johannes Neebs. Ein Beitrag zur Geschichte des geistigen Lebens in den Rheinlanden am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 87 (1909), S. 75–120, hier S. 79–86. Hingegen bezieht der Koblenzer Priester und Philosophielehrer Johann Heinrich Gerhards in einer lateinischen Schrift vom selben Jahr Stellung gegen Kant, indem er sich gegen die Apriorität von Raum, Zeit und Kausalität wendet. 1790 ging er unter dem Einfluss Reinholds ins Kantische Lager über. Vgl. dazu Georg Reitz: Noch einiges über Joseph Görres’ Philosophieprofessor J.H. Gerhards und dessen Philosophie. In: Mittelrheinische Geschichtsblätter 6 (1926), Nr. 11, S. 2f. und Nr. 12, S. 1f.
168 An der Würzburger Universität war es der Benediktiner Matern Reuß (1751–1798), der im Winter 1788/89 über Kant zu lesen begann.781 Der Theologe Franz Berg (1753–1821) hatte ein Jahr zuvor in der hiesigen gelehrten Zeitung Feders Abhandlung Ueber Raum und Caussalität ausführlich besprochen und dabei eine entschieden kantfeindliche Haltung bekundet.782 Möglicherweise war es diese Rezension seines eigentlich fachfremden Kollegen gewesen, die den Philosophen Reuß dazu veranlasste, sich intensiv dem Studium der Kantischen Philosophie zu widmen.783 Seine 1788 herausgegebene Disputation Aesthetica transcendentalis kantiana wird von der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung als willkommenes Zeichen dafür angesehen, dass die Kantische Philosophie »nun auch auf katholischen Universitäten vorgetragen und untersuchet werde«.784 Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Reuß seine programmatische Schrift Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosophie erklären? Bis zu seinem Lebensende blieb er ein engagierter Anwalt der Kantischen Philosophie.785 Die Vorreiterrolle, die seinem Orden im Hinblick auf die katholische Kantrezeption zukam, wird auch durch eine lateinische Schrift demonstriert, die 1788 von den Benediktinern in Augsburg herausgegeben wurde. Darin wird, wie der Rezensent der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung rühmt, neben den neuesten philosophischen Werken von Schultz, Tittel, Tiedemann, Platner, Feder, Herder und anderen »sogar der […] so vielfältig abschreckende Kant« berücksichtigt.786 Die Salzburger Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung (OALZ) trug ihrerseits seit Beginn des Jahres 1788 maßgeblich zur Verbreitung Kantischen Gedankenguts speziell im süddeutschen Raum bei. Begründet wurde 781
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Vgl. die Vorlesungsankündigung in: Wirzburger gelehrte Anzeigen, 22. November 1788, S. 1020, sowie Clemens Schwaiger: Matern Reuß (1751–1798) – Kants Apostel im aufgeklärten Franken. In: Kant und der Katholizismus, hg. von Fischer, S. 223–233, hier S. 225 Anm. 11. Reuß lehrte seit 1782 in Würzburg Philosophie, 1784 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Vgl. Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 681–700. So die Vermutung bei Schwaiger: Matern Reuß, S. 226. Franz Berg war seit 1785 außerordentlicher Professor für Patristik in Würzburg; 1790 wurde er Professor der Kirchengeschichte. Zum Zerwürfnis zwischen Berg und Reuß über die Kantische Philosophie vgl. auch Johann Baptist Schwab: Franz Berg, geistlicher Rath und Professor der Kirchengeschichte an der Universität Würzburg. Ein Beitrag zur Charakteristik des katholischen Deutschlands zunächst des Fürstbisthums Würzburg im Zeitalter der Aufklärung. Würzburg 1869, S. 378–380. Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, August 1788, Sp. 1608. Vgl. Schwab: Franz Berg, S. 375–377; Robert Haaß: Die geistige Haltung der katholischen Universitäten Deutschlands im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Freiburg 1952, S. 84–86. Über Reuß’ Leben und Werk informiert ausführlich Karl Eugen Motsch: Matern Reuß. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühkantianismus an katholischen Hochschulen. Diss. Freiburg i. Br. 1932. Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, November 1788, Sp. 3163. Zur Bedeutung der Benediktiner für die katholische Aufklärung, besonders in Würzburg, vgl. Motsch: Matern Reuß, S. 55–61.
169 sie von dem Münchener Publizisten und Aufklärer Lorenz Hübner, der 1783 vor der bayerischen Reaktion ins reformkatholische Salzburg ausgewichen war.787 Bis 1790 war Augustin Schelle, Professer für Ethik und Universalgeschichte an der Benediktiner-Universität in Salzburg, Mitherausgeber. Die nach dem Muster der ALZ konzipierte Zeitung, zu deren Mitarbeitern auch die eben erwähnten Philosophen Reuß, Dorsch und Will gehörten,788 wurde bald zum Hauptorgan der Aufklärung in den oberdeutschen und österreichischen Territorien.789 Insbesondere hatte sich die OALZ die Beförderung der Kantischen Philosophie auf die Fahnen geschrieben, die sie »durch etwas weitschichtigere Recensionen in unsren Gegenden mehr bekannt zu machen« suchte, wie es in der oben genannten Besprechung zu Reuß heißt.790 Als ein weiteres katholisches Rezensionsorgan, das 1788 begann, auf die Kantische Philosophie Rücksicht zu nehmen, ist noch die von dem Benediktiner Placidus Sprenger in Franken herausgegebene Zeitschrift Auserlesene Litteratur des katholischen Deutschland zu nennen.791 Die kantfreundliche Haltung der OALZ manifestierte sich unter anderem in der ausgedehnten literarischen Fehde, die sie sich mit dem erbittertsten Gegner Kants im katholischen Deutschland, dem Münchener Exjesuiten Benedikt Stattler (1728–1797) lieferte, welcher 1788 seinen dreibändigen AntiKant veröffentlichte.792 Stattlers berühmtester Schüler Johann Michael Sai787
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Vgl. Karl Otto Wagner: Die Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 48 (1908), S. 89–221, hier S. 101f. Vgl. Motsch: Matern Reuß, S. 52f.; Wagner: Die Oberdeutsche allgemeine LitteraturZeitung, S. 121, 125. Vgl. Max Braubach: Die katholischen Universitäten Deutschlands und die französische Revolution. In: Historisches Jahrbuch 49 (1929), S. 263–303, hier S. 276f.; Sauer: Österreichische Philosophie, S. 338f.; Wilhelm Haefs: Territorialzeitschriften. In: Von Almanach bis Zeitung, hg. von Fischer u. a., S. 331–345, hier S. 339f. Vgl. OALZ, August 1788, Sp. 1608. Vgl. auch schon OALZ, Mai 1788, Sp. 1035, wo erkärt wird, dass »wir gerne mehrere zum Studium der Kantischen Philosophie, das in unsern Gegenden noch wenig getrieben wird, aufmuntern möchten«. Zur Behandlung der Kantischen Philosophie in der OALZ vgl. den Überblick bei Wagner: Die Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung, S. 160–167. Vgl. Auserlesene Litteratur des katholischen Deutschlands 1 (1788), 1. Stück, 5f., 10f., 72f., sowie die weiteren Belege bei Winfried Heizmann: Kants Kritik spekulativer Theologie und Begriff moralischen Vernunftglaubens im katholischen Denken der späten Aufklärung. Ein religionsphilosophischer Vergleich. Göttingen 1976 (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 21), S. 42f. Zum Profil der Zeitschrift und ihrem Verhältnis zur Kantischen Philosophie vgl. Wilhelm Forster: Die kirchliche Aufklärung bei den Benediktinern der Abtei Banz im Spiegel ihrer von 1772–1798 herausgegebenen Zeitschrift. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 63/64 (1951/52), S. 172–233, 110–233, hier bes. S. 217 (Bd. 63), 147–149 (Bd. 64). Zur Auseinandersetzung der OALZ mit Stattler vgl. Wagner: Die Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung, S. 167–169. Zu Stattler vgl. umfassend Georg Huber: Benedikt Stattler und sein Anti-Kant. Diss. München 1904; zum Anti-Kant vgl. auch Roger Bauer: Der Idealismus und seine Gegner in Österreich. Heidelberg 1966 (Beihefte zum Euphorion, 3. Heft), S. 12–17.
170 ler (1751–1832), seit 1784 Professor für Ethik und Pastoraltheologie in Dillingen, muss dagegen mit zum Kreis der katholischen Gelehrten gezählt werden, die sich als erste produktiv mit Kant auseinandersetzten. 1787 veröffentlichte er den ersten Band seiner Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich bei diesem Werk um eine Abkehr vom moralphilosophischen Eudämonismus traditioneller Prägung unter dem Einfluss von Kants Theorie des reinen autonomen Willens.793 Abgesehen vom quantitativen Fortschritt der Kantrezeption, der stetigen Erweiterung des Rezipientenkreises in publizistischer und geographischer, interdisziplinärer und interkonfessioneller Hinsicht gewinnt das Gespräch über die Kantische Philosophie um die Jahre 1787/88 auch qualitativ eine neue Dimension: Sie wird als historisches Phänomen wahrgenommen, als eine geschichtliche Kraft, über deren Genese, Bedeutung und Wirkung selbst ihre Gegner nur mehr im epochalen Zusammenhang glauben Rechenschaft ablegen zu können. Ein erstes prominentes Zeugnis für die beginnende Historisierung der Kantischen Philosophie ist Feders Vorrede zu seinem Buch Ueber Raum und Caussalität. Mit Blick auf die erkenntnisskeptischen Züge der Kantischen Philosophie stellt der Autor sich die Frage, »woher sie so haben entstehen und sich behaupten können«. Sein Erklärungsversuch lautet, dass Kant einerseits die Schwächen der althergebrachten dogmatischdemonstrativischen Metaphysik eingesehen habe, dass er andererseits aber selbst zu sehr im Geiste dieser Philosophie akademisch sozialisiert worden sei, als dass er den Anspruch auf exakte Beweisführung und mathematische Gewissheit hätte aufgeben und sich der analogischen Erfahrungsphilosophie hätte anschließen mögen. Stattdessen habe er sich ganz auf das Projekt verlegt, den Maßstab streng wissenschaftlichen Philosophierens gegen letztere zu behaupten, was freilich nur um den Preis des Rückzugs auf bloße, von aller Erfahrung abstrahierte Formen der Anschauung und des Verstandes zu erreichen gewesen sei.794 Feders Würzburger Rezensent Franz Berg würdigt diese Ausführungen als einen wichtigen Diskussionsbeitrag des Göttingers. Ergänzend hebt er Kants Auseinandersetzung mit Hume als bedeutende Station auf dem Weg 793
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Zu Sailers (durchaus auch kritischer) Auseinandersetzung mit Kant in der Glückseligkeitslehre vgl. Barbara Jendrosch: Johann Michael Sailers Lehre vom Gewissen. Regensburg 1971 (Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie, Bd. 19), S. 31f., 88, 92f., 99f., 103f., 118–125; dies. als Barbara Wachinger: Die Moraltheologie Johann Michael Sailers. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 16 (1982), S. 257–275, hier S. 261–264. Die in der Forschung kursierende Auffassung, eine Beschäftigung mit Kant lasse sich bereits in Sailers Vernunftlehre von 1785 nachweisen, wird zurückgewiesen von Matthias J. Fritsch: Sailers Auseinandersetzung mit der Aufklärung im Spiegel seiner Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 35 (2001), S. 152–166, hier S. 161f. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XVIII–XX.
171 zur Vernunftkritik hervor und führt den allgemeinen Erfolg der Kantischen Philosophie auf die Kombination von dogmatischen und skeptischen, rationalistischen und empiristischen Elementen zurück.795 Auch der Rezensent der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung nimmt die Besprechung von Feders Werk zum Anlass, sich Gedanken über die historischen Voraussetzungen der Kantischen Philosophie zu machen. Seiner Meinung nach kann man Kants Verdienste nicht angemessen würdigen, »wenn man nicht in der Geschichte der Philosophie einige Schritte über unser Zeitalter zurückgeht« – was er im Folgenden tut, indem er sich mit dem Einfluss Lockes auf die deutsche Philosophie beschäftigt. Positive Wirkung, so argumentiert der Rezensent, habe Locke dadurch entfaltet, dass er den scholastischen Stil zurückgedrängt und Erfahrung und Empfindung als Quellen der Erkenntnis aufgewertet habe. Die missbräuchliche Anwendung seiner Philosophie habe jedoch in der Folge auch so bedenklichen Strömungen wie dem Materialismus, Skeptizismus, Idealismus und der Schwärmerei Auftrieb gegeben. Kant sei es gewesen, der diese Auswüchse beschnitten und die Gesetze des Verstandes gegenüber der bloßen Empirie wieder in ihr Recht gesetzt habe.796 Mehr auf den aktuellen Erfolg der Kantischen Philosophie konzentriert ist die Analyse, die Pistorius 1788 anlässlich seiner Besprechung von Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre in der Allgemeinen deutschen Bibliothek vorlegt. »Kants Philosophie«, so leitet Pistorius seine Überlegungen ein, »fängt jetzt an, unter dem philosophischen Theil unsers Publikums so großes Aufsehen zu machen, daß einige allgemeine Betrachtungen über ihren Werth und den Beyfall, den sie gefunden, vielleicht nicht ganz unwillkommen seyn werden.«797 Der Autor nennt sechs Faktoren, die dafür verantwortlich seien, dass die Vernunftkritik von vielen Denkern so bereitwillig aufgenommen wurde: das Ansehen ihres Urhebers, die suggestive Dunkelheit der Sprache, die überschwengliche Ankündigung der Werke Kants in gewissen Journalen (gemeint ist vor allem die ALZ, wie Pistorius implizit deutlich macht), die Sehnsucht vieler Philosophen nach einer neuen Leitfigur, die Desavouierung der demonstrativischen Metaphysik durch Empirismus und Common Sense, das Anknüpfen Kants an vertraute Elemente aus der Leibnizschen Tradition.798 Ebenfalls im Jahr 1788 veröffentlichte der Altdorfer Philosophieprofessor Georg Andreas Will (1727–1798) seine im Sommer 1787 gehaltenen Vorlesungen über die Kantische Philosophie in Buchform. Im einleitenden Teil wird zum ersten Mal der ausdrückliche Versuch unternommen, eine 795 796 797 798
Vgl. Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 684–686. Vgl. OALZ, Mai 1788, Sp. 865–867. AdB 80/2 (1788), S. 459. Vgl. ebd., S. 463f.
172 »Geschichte der Kantischen Philosophie« zu schreiben.799 Die Darstellung besteht aus drei Abschnitten: über den »Ursprung« der Vernunftkritik (wo auf Kants frühere Werke zurückgeblickt und die Auseinandersetzung mit Hume als wichtiger Auslöser genannt wird), über ihre »Aufnahme und Schicksale« (wo ein kurzer Abriss wichtiger Stationen der Kantrezeption gegeben wird, von der anfänglichen Stille um die Kritik über die Göttinger Affäre, den Pantheismusstreit und das Marburger Verbot bis hin zur Etablierung der Kantischen Lehre an verschiedenen Universitäten)800 sowie über die bisher erschienene Literatur (hier liefert Will eine ausführlich kommentierte Bibliographie, in der die Schriften Kants, seiner Anhänger und seiner Gegner nahezu vollständig aufgelistet werden). Dem einleitenden Teil zur Geschichte der Kantischen Philosophie folgen in Wills Buch weitere Kapitel, die der Wiedergabe ihrer Hauptinhalte gewidmet sind. Am Ende schließt sich eine kritische Beurteilung an. Angesichts einiger ungelöster Probleme des Kantischen Systems (Wills Zweifel betreffen vor allem die Lehre von den Kategorien) hält der Autor dessen weiteres Schicksal für offen.801 Unabhängig von der Frage, ob Kants Philosophie langfristig Bestand haben wird oder nicht, bleibt sie nach Wills Meinung aber immerhin »für den Philosophen und Forscher ein äußerst interessantes Phänomen«.802 Dagegen ist für Daniel Jenisch die herausragende historische Stellung der Kantischen Philosophie eine ausgemachte Tatsache. Dies verkündet er in dem anonymen Aufsatz Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, der im Oktober und November 1788 im ersten Band des Berlinischen Journals für Aufklärung erschien.803 Kant bildet in dieser Abhandlung den Schlusspunkt einer Emanzipationsgeschichte der menschlichen Vernunft, die mit Luther ihren Anfang nahm. Diese Geschichte ist nach Jenischs Darstellung jahrhundertelang durch die Polarität von dogmatisch-spekulativen 799
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Vgl. Will: Vorlesungen, S. 15–67. Zu Wills Biographie vgl. Friedrich Bock: Georg Andreas Will. Ein Lebensbild aus der Spätzeit der Universität Altdorf. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 41 (1950), S. 404–427. In kürzerer Form ist ein solcher Abriss auch in der Einleitung enthalten, die der Heilbronner Senator und Gelehrte Christian Ludwig Schübler (1754–1820) einer Publikation vom selben Jahr voranstellte, in der er Kantische Lehrsätze durch mathematische Prüfung zu untermauern sucht. Vgl. Christian Ludwig Schübler: Versuch, der Einrichtung unsers Erkenntnisvermögens durch Algeber nachzuspüren (durchgehends mit Rücksicht auf die Kantische Philosophie). Leipzig 1788, S. 3–13. Vgl. Will: Vorlesungen, S. 149, 155, 156, 165. Wills Bedenken gegenüber Kants Kategorienlehre setzen zum Teil die Kritik fort, die zuvor schon Tittel in seiner Schrift Kantische Denkformen oder Kategorien (1787) formuliert hatte; vgl. dazu unten S. 175–178. Ebd., S. 12. [Daniel Jenisch:] Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant; und wie weit wir in der Aufklärung kommen können, wenn wir diesem Philosophen folgen? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 1 (1788), S. 71–95, 160–182. Zu einer kurzen Charakterisierung der Zeitschrift vgl. Feldkeller: Das philosophische Journal, S. 330f.
173 und kritisch-skeptischen Tendenzen bestimmt gewesen, deren spannungsreiches In- und Gegeneinander einerseits für kontinuierlichen Fortschritt in der Philosophie gesorgt habe (als wichtige Protagonisten der bisherigen Entwicklung behandelt Jenisch unter anderem Bayle, Leibniz, Wolff, Locke, Hume, Jacobi und Mendelssohn), andererseits aber auch die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit eines dauerhaften Ausgleichs immer schärfer hervorgetrieben habe. Kant ist es, der Jenischs Argumentation zufolge nun die Voraussetzungen für diesen Ausgleich geschaffen hat, indem er durch seine systematisch-präzise Bestimmung des menschlichen Erkenntnisvermögens die Vernunft vor allen zukünftigen skeptischen, dogmatischen oder schwärmerischen Verirrungen bewahrt. Ähnlich wie bereits Reinhold in seinen Briefen stellt Jenisch die kritische Philosophie als Antwort auf einen historisch erwachsenen, das zeitgenössische Geistesleben spaltenden Konflikt dar, der von Kant durch den Rückgang auf die grundlegenden Bedingungen aller menschlichen Erkenntnis überwunden wird.804 Angesichts des epochalen Stellenwerts, der der Kantischen Philosophie von Freunden wie Feinden zugeschrieben wurde, wundert es nicht, dass sie frühzeitig in allgemeine philosophiegeschichtliche Darstellungen und Handbücher Eingang fand. Schon 1786 beschließt der Pädagoge Johann Gottfried Gurlitt seinen Abriß der Geschichte der Philosophie, ein stichworthaftes Kompendium für Lehrvorträge, mit der Bemerkung: »Anzeige der neuesten Verdienste des scharfsinnigen Kannts [sic] um die spekulative Philosophie und der neuen durch ihn eröffneten Aussichten«.805 1787 bringt der berühmte Lexikograph Johann Christoph Adelung den dritten Teil seiner (anonym veröffentlichten) Geschichte der Philosophie für Liebhaber heraus. Der Band enthält im vorletzten Kapitel, in dem es um den gegenwärtigen Zustand der Philosophie geht, einen Paragraphen, der eigens dazu dient, Kants herausragende Leistung im Hinblick auf die Kritik metaphysischer Spekulation zu würdigen: »[H]offentlich hat er Muth genug, sein Werk zu vollenden, und dieser After-Philosophie den Stab völlig zu brechen«, lautet Adelungs Kommentar.806 Ebenfalls im Jahr 1787 veröffentlicht Anton Joseph Dorsch Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit zur Einleitung in meine Vorlesungen, in denen er die gegenwärtige Philosophie in drei Hauptrichtungen einteilt: die dogmatische, die empirische
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Vgl. Jenisch: Skizze, S. 169–172, 175–182. Johann Gottfried Gurlitt: Abriß der Geschichte der Philosophie. Leipzig 1786, S. 260. Gurlitt (1754–1827) war Rektor am Pädagogium des Klosters Berge bei Magdeburg. Zu seiner Person und zum Abriß vgl. den einschlägigen, von Italo F. Baldo verfassten Abschnitt in: Storia, hg. von Santinello, Bd. 3/II, S. 655–661. [Johann Christoph Adelung:] Geschichte der Philosophie für Liebhaber. Dritter Band. Leipzig 1787, S. 454f. (Kap. 9, § 15: »Herrn Professor Kants Verdienst«). Zu Adelungs Philosophiegeschichte vgl. die Ausführungen Mario Longos in: Storia, hg. von Santinello, Bd. 3/II, S. 758–791.
174 und die »kantisch kritische«.807 1788 publiziert Gottlob Ernst Schulze (1761–1833) den ersten Band seines Grundrisses der philosophischen Wissenschaften, eines Vorlesungskompendiums, das den systematischen Vortrag über sämtliche Gebiete der Philosophie mit dem Rückblick auf die wichtigsten historischen Positionen zu verbinden sucht808 und dabei durchgehend auch auf Kant Rücksicht nimmt. Bei dem Verfasser des zuletzt genannten Werkes handelt es sich um niemand anderen als um den später als ›Aenesidemus-Schulze‹ berühmt gewordenen Skeptiker,809 dessen Anfang der 90er Jahre formulierte Fundamentalkritik an Reinhold und Kant dem Deutschen Idealismus wichtige Impulse gab. In seinem hier angesprochenen frühesten Werk zeigt Schulze sich noch ganz als typischer Vertreter eines vorkantischen Philosophierens, das seine wichtigsten Stützen im Locke’schen Empirismus und Common-Sense-Realismus findet und Erkenntnistheorie und Logik als Teil der Psychologie behandelt.810 Damit ist die Perspektive vorgegeben, aus der heraus Schulze bereits im Grundriß Kritik an Kant äußert. Seine einschlägigen Bemerkungen lesen sich wie eine Wiederholung der wichtigsten von der zeitgenössischen Popularphilosophie erhobenen Einwände. Schulze wendet sich gegen die Kantische Forderung nach apodiktischer Gewissheit und die Denunzierung der Wahrscheinlichkeitsphilosophie;811 er äußert sich skeptisch über Kants 807
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Anton Joseph Dorsch: Beiträge zum Studium der Philosophie. Heft 1: Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit zur Einleitung in meine Vorlesungen. Mainz 1787, S. 72. Auf eine Kritik des Gothaer Rezensenten an seiner Darstellung Kants antwortet Dorsch im »Vorbericht« zum zweiten Heft der Beiträge. Vgl. ders.: Beiträge zum Studium der Philosophie. Heft 2: Uiber den Unterschied der Geisteskräfte, und dessen physische Ursachen. Frankfurt a. M. 1787, S. V, VIII–XII. Zu weiteren Erwähnungen Kants vgl. ebd., S. 10, 30 Anm., 33. Zu diesem programmatischen Anspruch vgl. die unpaginierte Vorrede in: Gottlob Ernst Schulze: Grundriß der philosophischen Wissenschaften. Bd. 1. Wittenberg/Zerbst 1788. Schulze hatte in Wittenberg (u. a. bei Franz Volkmar Reinhard, einem Crusius-Schüler) studiert und war dort seit 1783 Dozent, bis ihm die Veröffentlichung des Grundrisses 1788 eine philosophische Professur in Helmstedt einbrachte. Als die Universität 1810 aufgelöst wurde, ging er nach Göttingen, wo Schopenhauer sein Schüler wurde. Zu Schulzes Biographie vgl. den kurzen Abriss bei Manfred Frank: Einleitung. In: Gottlob Ernst Schulze: Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Hg. von Manfred Frank. Hamburg 1996 (Philosophische Bibliothek, Bd. 489), S. IX–LXXXII, hier S. X–XIV. Zur Charakterisierung des Grundrisses vgl. ebd., S. 337f.; Heinrich Wiegershausen: Aenesidem-Schulze, der Gegner Kants, und seine Bedeutung im Neukantianismus. Diss. Münster 1910, S. 16f. Schulzes spätere Begründung des Skeptizismus aus der Perfektibilität der menschlichen Vernunft, die sich im unabschließbaren Überprüfen und Korrigieren der bisherigen philosophischen Systeme manifestiere, ist im historisch-anthropologischen Ansatz des Grundrisses bereits angelegt; vgl. Schulze: Grundriß der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 8f. Vgl. ebd., S. 2, 4 Anm. 4.
175 transzendentale Psychologie;812 er verteidigt gegen Kant die Erkenntnis vom Dasein äußerer Gegenstände als intuitive Gewissheit, die keiner Demonstration bedarf;813 er argumentiert gegen die Theorie apriorischer Erkenntnisformen und für die Ableitung sämtlicher Begriffe aus der Erfahrung;814 er sieht einen Widerspruch darin, dass Kant vernünftige Überzeugungsgründe für das Dasein eines höchsten Wesens in spekulativer Hinsicht verwirft und in praktischer Hinsicht restituiert;815 und er kann der Kantischen Aufspaltung des Ich in ein phänomenales, durch Naturgesetze determiniertes und ein noumenales, freies Ich nicht folgen.816 Zu den Autoren, auf die Schulze sich bezieht, gehören Locke, Beattie, Mendelssohn, Reimarus, Pistorius und immer wieder Feder (der übrigens ein paar Jahre später sein Schwiegervater wurde). Anerkennend urteilt der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek, ihm sei noch kein Buch untergekommen, das die Mängel der Kantischen Philosophie mit größerer Unparteilichkeit darstelle als Schulzes Grundriß.817
16. Fortsetzung der empiristischen Kritik an Kant (1787–1788): Tittel, Selle, Weishaupt; die Antworten Schmids, Borns und Dufresnes; Feders und Meiners’ Philosophische Bibliothek Die Flut anti-kantischer Traktate, die die Fraktion der empiristischen Popularphilosophen Kants Kritizismus entgegensetzte, riss auch nach der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nicht ab und erreichte insgesamt in den Jahren 1787–1788 ihren Höhepunkt.818 Nach Feder und Abel begab sich erneut auch Tittel in den Ring der Auseinandersetzung. Seiner moralphilosophischen Polemik von 1786 ließ er im darauffolgenden Jahr eine zweite Untersuchung folgen mit dem Titel Kantische Denkformen oder Kategorien. 812 813
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Vgl. ebd., S. 18–20 Anm. 1–3, 49 Anm. 5. Vgl. ebd., S. 25f. Anm. 5. Schulze macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass Kant seiner Ansicht nach den Idealismus-Verdacht nicht überzeugend von sich zu weisen vermag. Vgl. ebd., S. 4 Anm. 3, 146–149, 153 Anm. 31, 214. In diesem Punkt schlägt sich der Rezensent der OALZ auf Schulzes (und Feders) Seite; vgl. OALZ, 22. April 1789, Sp. 764. Vgl. Schulze: Grundriß der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 260–262. Vgl. ebd., S. 412f. Vgl. AdB 101/2 (1791), S. 416 (die Besprechung bezieht auch den zweiten Band des Grundrisses von 1790 mit ein; bei dem Rezensenten mit dem Kürzel »El.« handelt es sich nach der Angabe Gustav Partheys um den Berliner Prediger Gebhard). Dagegen moniert Buhle in seiner Rezension für die Göttingischen Anzeigen, dass es dem Verständnis der Kantischen Philosophie abträglich sei, »so eklectisch mit den übrigen Meynungen verknüpft und in abgerissenen Bruchstücken« vorgetragen zu werden (vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 16. August 1788, S. 1312). Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 170.
176 Für Frederick C. Beiser gehört dieses Buch zusammen mit seinem Vorgänger zu den besten der frühen gegen Kant gerichteten Schriften.819 In der Tat problematisiert es einen zentralen Aspekt der Kantischen Erkenntnistheorie, der bis heute Gegenstand der Diskussion ist: die Lehre von den Kategorien.820 Hatte sich die empiristische Kant-Kritik bisher auf die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit als ›Testfall‹ des Kantischen Idealismus konzentriert,821 so rücken bei Tittel erstmals Herkunft und Status der reinen Verstandesbegriffe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.822 Wie lauten Tittels Einwände gegen Kant? Den Versuch, die Formen des Denkens und Urteilens auf ein festes Inventar elementarer Verstandeskategorien zurückzuführen, hält er für ein veraltetes Stück aristotelischer Philosophie,823 seine Kantische Neuauflage in Gestalt der Kategorientafel für ein von Willkür geprägtes artifizielles Konstrukt.824 Als abwegig betrachtet er insbesondere Kants Theorie, wonach die Kategorien als reine Verstandesbegriffe a priori im Erkenntnisvermögen bereitliegen. Diese Auffassung läuft Tittel zufolge auf einen leeren und selbstgenügsamen Formalismus hinaus, der völlig im Dunklen lasse, wie man sich die Anwendung bestimmter Verstandesbegriffe auf die Materie der Erfahrung im Einzelfall vorzustellen habe.825 Viel einleuchtender und konsequenter erscheint ihm die herkömmliche Ansicht, dass alle Begriffe auf dem Wege der Abstraktion letztlich aus der Erfahrung abgeleitet sind.826 Hauptgewährsmann seiner Ausführungen ist Locke, dessen empiristische Philosophie der Kantischen am Ende des Buches in einem ausführlichen Vergleich gegenübergestellt wird.827 Kants Kategorienlehre, so lautet das vernichtende Ergebnis der Untersuchung, sei ins Reich der »Nullitäten« zu verweisen.828 Die Reaktionen auf Tittels Buch fielen gegensätzlich aus. Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen sowie der Erfurter und der Würzburger Rensent loben die Schrift und heben hervor, dass sie die Kantische Philoso819 820
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Vgl. ebd., S. 184. Zum Inhalt von Tittels Schrift vgl. ebd., S. 186; Sassen: Introduction, S. 36–38. Zur bis heute anhaltenden Diskussion vgl. den Überblick bei Oberhausen: Das neue Apriori, S. 211f. Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 171. In beiläufiger Form war die Kategorienlehre allerdings schon mehrmals vor Tittel problematisiert worden. So stellen beispielsweise sowohl Garve als auch Pistorius in ihren Rezensionen zur Kritik der reinen Vernunft bzw. zu den Prolegomena die Frage nach der Herleitung der Kategorientafel (vgl. Landau 39f., 95). Abel bezieht seinen Vermittlungsversuch zwischen Apriorismus und Empirismus nicht nur auf die Anschauungsformen, sondern auch auf die Verstandesbegriffe. Vgl. Gottlob August Tittel: Kantische Denkformen oder Kategorien. Frankfurt a. M. 1787 [Repr. 1968], S. 3, 8. Vgl. ebd., S. 12f., 15. Vgl. ebd., S. 30–36, 65–67. Vgl. ebd., S. 36–41, 53, 78f. Vgl. ebd., S. 103–108. Ebd., S. 111.
177 phie an einem elementaren Punkt angreife.829 Letzterer zählt das Werk gar zu den »wichtigen Antikantischen Schriften« und stellt ihren Verfasser in eine Reihe mit Feder, Weishaupt (von dem weiter unten noch die Rede ist), Jacobi, Ulrich und Abel. Er legt das Buch all denen ans Herz, »welche noch auf dem Scheidewege« zwischen Locke’scher und Kantischer Philosophie »umherschwanken«.830 Auch der Rezensent der Jenaischen gelehrten Anzeigen, der sich Tittels empiristischer Position anschließt, äußert sich positiv über das Werk und empfiehlt es (zusammen mit Feders Ueber Raum und Caussalität) besonders dem philosophischen Anfänger, der sich über die Kantische Philosophie ein Urteil bilden will.831 In den Göttingischen Anzeigen erklärt Feder, Tittels Schrift sei als eine Art Abrechnung mit dem übermäßigen Lob zu betrachten, das die Kantische Philosophie seit einiger Zeit erfahren habe. Ansonsten begnügt er sich in seiner kurzen Anzeige damit, Tittels verheerendes Fazit über den Wert der Kategorienlehre zu zitieren.832 Zu einem negativen Urteil über Tittels Schrift kommen dagegen die ALZ, die OALZ und die Gothaischen gelehrten Zeitungen; und selbst der KantGegner Pistorius bezeichnet das Buch in der Allgemeinen deutschen Bibliothek als »eine der unbeträchtlichsten Schriften unter denen, welche durch Hrn. Kants Kritik der reinen Vernunft veranlasset worden«.833 Tittel wird in diesen Besprechungen als mittelmäßiger und selbstgefälliger Philosoph charakterisiert, der nur deklamiere statt zu beweisen und der Kants komplexer Argumentation nicht einmal ansatzweise gerecht werde.834 Einen besonders aggressiven Ton schlägt der Rezensent der ALZ an, der Tittel als »lächerliche[] Figur« karikiert, welche »die plattesten Dinge von der Welt vordocirt«.835 Er schließt seine Besprechung mit den Worten: Nur sehr ungerne, und bloß in Rücksicht auf den Zeitverderbenden und Kopfverwirrenden Unfug, der gegenwärtig von so manchen [sic] unberufenen Gegner und Vertheidiger der Kantischen Philosophie getrieben wird, haben wir uns bey dieser äußerst unbedeutenden Lucubration so lange aufgehalten; ohne daß wir hoffen könnten, Hn. T. und seines gleichen zu überzeugen: daß etwas mehr dazu erfordert werde, um die Kritik der Vernunft zu kritisiren, als um ein populäres Compendium der populären Philosophie zu popularisiren.836 829
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Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 17. März 1788, S. 170, 171; Erfurtische gelehrte Zeitung, 25. April 1788, S. 153, 156; Wirzburger gelehrte Anzeigen, 24. Mai 1788, S. 511f. Ebd. Vgl. Jenaische gelehrte Anzeigen, 9. November 1787, Landau 734, 736. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 21. April 1788, S. 643. AdB 86/1 (1789), S. 143. Vgl. OALZ, Mai 1788, Sp. 871f.; Gothaische gelehrte Zeitungen, 30. Juli 1788, S. 499f.; ALZ, 10. Januar 1789, Sp. 73–76; AdB 86/1 (1789), S. 143f. Weitgehend neutral fällt die Besprechung des Hallenser Rezensenten aus; vgl. Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 3. April 1788, S. 219–221. ALZ, 10. Januar 1789, Sp. 73, 76. Ebd., Sp. 76.
178 Der Schluss des Zitats ist eine Spitze gegen Tittels philosophisches Hauptwerk, die sechsbändigen Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung (1783–1786). Von diesem Werk erschien 1788 der Metaphysik-Band in einer zweiten, erweiterten Auflage, die von Tittel dazu genutzt wird, mit ein paar Seitenbemerkungen erneut Kants Apriorismus anzugreifen.837 Die Kritik an Kants System der Verstandesbegriffe wird im gleichen Jahr von Georg Andreas Will fortgeführt, welcher im siebten und letzten Kapitel seiner Vorlesungen über die Kantische Philosophie die Kategorientafel als ein »bloßes Spiel des Witzes« zu entlarven sucht.838 Einen ähnlich konsequenten Empirismus wie Tittel verfocht Christian Gottlieb Selle, der 1788 mit seinen Grundsätzen der reinen Philosophie erneut in die Debatte um die Kantische Philosophie eingriff. Die Abhandlung ging aus einer Reihe von Vorlesungen an der Berliner Akademie der Wissenschaften hervor, in die Selle 1786 aufgenommen worden war. Wie der Autor in der Einleitung deutlich macht, sieht er die zeitgenössische Philosophie in einer schweren Krise, die auf die Uneinigkeit der Philosophen in einer fundamentalen Frage zurückgeht: der Frage nach den Anteilen von Vernunft und Empirie bei der Konstitution von Erkenntnis. Kants Lösungsvorschlag habe diese Krise eher verschärft, da er die Rechte der Erfahrung zu sehr beschnitten und einen neuen Dogmatismus in die Philosophie eingeführt habe.839 In seinem Brief an Kant vom Dezember 1787 formuliert Selle noch drastischer: »Ich war außer mir, von Ihnen zu hören, daß es eine von der Erfahrung unabhängige Philosophie gebe. Sie, der erste Philosoph Deutsch837
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Vgl. Gottlob August Tittel: Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung. Metaphysik. Neue, verbesserte und vermehrte Aufl. Frankfurt a. M. 1788, S. 45f., 77. In der unpaginierten Vorrede geht Tittel auf die gegenüber den Erläuterungen mehrfach erhobene Forderung ein, die Kantische Philosophie zu berücksichtigen. Entsprechende Vorwürfe waren zum Beispiel in Dorschs Rezension der ersten Auflage des Metaphysik-Bandes für das Magazin der Philosophie und schönen Litteratur formuliert worden (vgl. Landau 226, 227) sowie auch in einer anonymen Besprechung des Logik-Bandes in den Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen von 1787 (vgl. Hainebach: Studien, S. 100). Tittel erklärt, einer solchen Forderung sei im Rahmen eines allgemeinen philosophischen Einführungswerks kaum nachzukommen, und verweist auf die Fülle bereits vorhandener ausführlicher Auseinandersetzungen mit Kant, zum Beispiel von Feder, Weishaupt, Jacobi, Ulrich, Abel, Meiners und von ihm selbst. Vgl. Will: Vorlesungen, S. 149–156 (Zitat S. 149). Wills Kant-Kritik wurde von den Rezensenten insgesamt mit mehr Respekt aufgenommen als diejenige Tittels. Auf rigorose Ablehnung stößt sie nur beim Gothaer Rezensenten; die übrigen Besprechungen fallen freundlich aus. Vgl. Nürnbergische gelehrte Zeitung, 11. April 1788, S. 233f.; Tübingische gelehrte Anzeigen, 29. Mai 1788, S. 341–343; Gothaische gelehrte Zeitungen, 16. Juli 1788, S. 466–469; OALZ, August 1788, Sp. 1545, 1547f.; Gemeinnützige Betrachtungen 13 (1788), Beylage, S. 186–190; ALZ, 10. Januar 1789, Sp. 75; AdB 91/1 (1790), S. 125. Vgl. Christian Gottlieb Selle: Grundsätze der reinen Philosophie. Berlin 1788 [Repr. 1969], S. 1–4.
179 lands, geben meiner Meinung nach, der Sache der Erfahrung, die ohnehin noch gar nicht im Besitz ihrer Rechte war, einen tödtlichen Stoß«.840 Selles Grundsätze, die er auch an Kant übersandte,841 sind der Versuch, diesen fatalen Stoß abzuwenden. Über weite Strecken handelt es sich bei dem Buch um die breitere Ausführung dessen, was schon in Selles 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenem Aufsatz Versuch eines Beweises, daß es keine reine von der Erfahrung unabhängige Vernunftbegriffe gebe in Kurzform enthalten gewesen war: Alle Erkenntnis geht unmittelbar oder – über Analogieschlüsse – mittelbar auf Erfahrung zurück und kann daher nie absolute Allgemeinheit und Notwendigkeit beanspruchen;842 es gibt keine synthetischen Urteile a priori; dort, wo synthetische Urteile apodiktische Gewissheit mit sich zu führen scheinen, handelt es sich eigentlich um analytische Urteile; und auch diese sind letztlich aus der Erfahrung abstrahiert.843 Zu diesen zentralen Argumenten gesellen sich weitere gängige Motive popularphilosophischer Kant-Kritik: so das Bekenntnis zum gemeinen Menschenverstand und seiner orientierenden Funktion für die spekulative Philosophie;844 die Betonung der Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, von Erfahrung und Vernunft;845 die Ablehnung der Auffassung von Raum und Zeit als apriorischen Anschauungsformen;846 die anti-idealistische Überzeugung, dass der Mensch Erkenntnis vom objektiven Dasein der Dinge hat.847 Obwohl Selles Ausführungen von der Sache her unvereinbar mit Kants transzendentalem Ansatz sind, suggerieren viele seiner Formulierungen eine gewisse Nähe zu dessen vernunftkritischem Projekt. Auch Selle sieht die zeitgenössische Philosophie in einer Krise, deren Lösung nur im Rückgang auf die Wurzeln der Erkenntnis, in der genauen Bestimmung des Verhältnisses ihrer Komponenten Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft gefunden werden kann. Schon der Titel der Schrift Grundsätze der reinen Philosophie signalisiert eine Affinität zum Kantischen Begründungsdiskurs. Freilich hat die Rede von der ›reinen‹ Philosophie bei Selle kaum etwas mit Kants Bemühen um die ›reinen‹, d. h. aller Erfahrung vorausliegenden Prinzipien der Erkenntnis zu tun. ›Reine‹ Philosophie ist zwar auch für Selle der Teil der Philosophie, der sich mit den Grundsätzen und Regeln des Erkennens be840 841
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AA X 517 (Brief vom 29. Dezember 1787). Vgl. AA X 516 (mit »beifolgender Schrifft« dürften die Grundsätze gemeint sein; das Buch lag also offenbar schon Ende 1787 gedruckt vor). Dass Kant auf Selles Zusendung geantwortet hat, geht aus einer Notiz Hamanns hervor; vgl. H VII 395. Vgl. Selle: Grundsätze, zum Beispiel S. 9, 11, 13, 19f., 22–24, 27, 34, 49, 51, 82–84, 89, 103, 133f., 165f. Zur Analogie vgl. ebd., S. 53–56, 127. Vgl. ebd., S. 38, 113f., 116, 119, 121, 130–138, 170f. Vgl. ebd., S. 17f., 150f. Vgl. ebd., S. 26, 46f., 95, 98, 107, 165f. Vgl. ebd., S. 28f., 40f. Vgl. ebd., S. 150–155.
180 schäftigt und damit die Grundlage für deren positive Anwendung schafft;848 allerdings sind seiner Auffassung nach diese Grundsätze, wie er durchgehend deutlich zu machen versucht, letztlich allesamt aus der Erfahrung abstrahiert. Dieser diametrale Gegensatz zu Kant hält Selle nicht davon ab, vermittelnde Töne anzuschlagen. So beteuert er in der Einleitung, dass er bei aller Verschiedenheit in Begriffen und Grundsätzen »doch am Ende sehr oft mit Kant zusammentreffe, und es nur darauf anzukommen scheint, auszumachen, wer dem natürlichen Gange der Gedanken und dem richtigen Sprachgebrauche am getreuesten geblieben ist«.849 Worin die postulierte Gemeinsamkeit mit Kant genau liegen soll, bleibt unklar; dass seine vermittelnde Rhetorik bei den Rezensenten aber gut ankam, geht aus den zahlreichen positiven Besprechungen hervor.850 Der Grund für Selles Erfolg bei den Zeitgenossen mag darin zu suchen sein, dass er den Eindruck erweckte, auf dem gleichen Reflexionsniveau wie Kant die Probleme der gegenwärtigen Philosophie erfasst und einen Beitrag zu ihrer Lösung geliefert zu haben, ohne dem Leser den radikalen Bruch mit gewohnten Formen des Philosophierens abzuverlangen. Nur ein Rezensionsorgan stimmte nicht in das allgemeine Lob mit ein – die ALZ. Deren Kritiker weist nach, dass sich hinter Selles scheinbarer Gründlichkeit zahlreiche Ungenauigkeiten und Inkonsequenzen verbergen. So meldet er Zweifel darüber an, ob aus der unbestrittenen Tatsache, dass die Vernunft sich ihrer Gesetze nur in Anwendung auf die Erfahrung bewusst werde, tatsächlich gefolgert werden dürfe, dass diese Gesetze aus der Erfahrung stammen; und er vermisst in Selles Schrift eine befriedigende Lösung des Problems, wie ohne Rückgriff auf das Konzept synthetischer Urteile a priori die Evidenz mathematischer Erkenntnis zu erklären sei.851 Im Resümee spricht der Rezensent dem Autor jegliches Talent zu metaphysischen Spekulationen ab und beklagt, dass die Bemühung des Lesers, sich durch den »verworrenen Vortrag« hindurchzuarbeiten, am Ende nicht belohnt werde.852 Brigitte Sassen vermutet, dass es sich bei dem ALZ-Rezensenten um den Jenaer Kantianer Carl Christian Erhard Schmid handelt.853 Dieser trat im gleichen Jahr mit einer Abhandlung hervor, in welcher Selles Empirismus 848 849
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Vgl. ebd., S. 9f., 12–14, 16, 51, 110, 178f. Ebd., S. 4. Vgl. auch ebd., S. 165, sowie Selles Brief an Kant vom 29. Dezember 1787 (AA X 517). Vgl. Frankfurter gelehrte Anzeigen, 3. Juni 1788, S. 353, 355; OALZ, Juli 1788, Sp. 1381f.; Erfurtische gelehrte Zeitung, 17. August 1788, S. 305, 308; Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 16. September 1788, S. 304; AdB 88/1 (1789), S. 18f., 43 (der Verfasser der zuletzt genannten Rezension war Pistorius). Vgl. ALZ, 3. September 1788, Sp. 612f. Vgl. ebd., Sp. 614–616. Vgl. Sassen: Introduction, S. 289 Anm. 134.
181 und Kants Apriorismus ausführlich einander gegenübergestellt werden. Sie erschien im Anhang der zweiten Auflage von Schmids Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften (1788) unter dem Titel: Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt.854 Darin wird Kants System durchweg als das überlegene präsentiert. Die Kantische Lehre von den transzendentalen Anschauungsformen, so führt Schmid aus, vermeide die Unklarheiten und Inkonsequenzen, zu denen der empirische Begriff der äußeren Empfindung unvermeidlich führe.855 Kants »Purismus« ermögliche es, absolut notwendige und allgemeine Gesetze des Erkennens zu ermitteln, während der Empirismus, der sich nur auf Erfahrung und »unsichere Analogie« berufen kann, in dieser Hinsicht zum Skeptizismus verurteilt sei.856 Und Kants Moraltheologie sei es schließlich, die der Vernunft eine befriedigende Überzeugung vom Dasein Gottes gewähre, wohingegen der Empirismus, um Gott dogmatisch zu beweisen, in unzulässiger Weise Erfahrungsbegriffe auf das Gebiet jenseits der Erfahrung anwende.857 Von den wenigen Rezensionen, die zur zweiten Auflage von Schmids Wörterbuch erschienen, geht nur Pistorius in der Allgemeinen deutschen Bibliothek ausführlich auf den Anhang ein.858 Er nimmt sich Schmids Untersuchung Abschnitt für Abschnitt vor, um dabei stets die empiristische Position zu stützen und auf die Schwachstellen der ›puristischen‹ Seite hinzuweisen. Am meisten Gewicht legt er dabei insgesamt auf die Frage nach der Objektivität der Erkenntnis. Pistorius macht deutlich, dass die ›puristische‹ Auffassung, wonach der erkannte Gegenstand Produkt unseres Erkenntnisvermögens, die Erkenntnis also subjektiv ist, sehr viel eher zu Ungereimtheiten 854
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Die Abhandlung wird nach dem von Norbert Hinske besorgten Reprint der 4. Auflage des Wörterbuchs zitiert, die den Anhang der 2. Auflage in unveränderter Form beibehält. Vgl. Carl Christian Erhard Schmid: Anhang. Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt. In: ders.: Wörterbuch, S. 617–668. Zum Inhalt der Abhandlung vgl. Sassen: Introduction, S. 39f. Sassens Vermutung, dass Schmid auch der Verfasser der ALZ-Rezension zu Selles Grundsätzen ist, wird durch einige auffällige Parallelen gestützt, so etwa, wenn Selles Behauptung, alle Vorstellungen gingen auf Erfahrung zurück, in beiden Texten als ›erschlichen‹ getadelt wird (vgl. ALZ, 3. September 1788, Sp. 610; Schmid: Einige Bemerkungen, S. 632) oder wenn ihm beide Male im Hinblick auf seinen Begriff der Noumena Widersprüchlichkeit vorgehalten wird (vgl. ALZ, 3. September 1788, Sp. 613; Schmid: Einige Bemerkungen, S. 653f.). Vgl. auch die ausdrückliche Erwähnung der ALZ-Rezension bei Schmid: Einige Bemerkungen, S. 620. Vgl. ebd., S. 628–632. Vgl. ebd., S. 639f., 666f. Vgl. ebd., S. 645–648, 656, 660–664. Vgl. AdB 88/1 (1789), S. 103–122. Es handelt sich um eine Doppelrezension zu Schmids Grundriß und dem Wörterbuch, die sich nach einigen allgemeinen Bemerkungen jedoch ausschließlich dem Anhang des Wörterbuchs widmet. Bis auf die Einleitung ist die Besprechung wiedergegeben in Hausius I 200–217.
182 und skeptizistischen Konsequenzen führt als der gegenteilige empiristische Standpunkt, wonach sich die Operationen des Erkenntnisvermögens auf die objektive Beschaffenheit der Gegenstände beziehen und in ihr gegründet sind. Wenn der Rezensent auch am Ende die von Schmid aufgeworfene Frage, welches der beiden einander gegenübergestellten Denksysteme »in seinem Zusammenhange bündiger, und in seinen letzten Resultaten dem ganzen Interesse der menschlichen Vernunft günstiger sey«, weiterhin als offen deklariert, so stellen seine vorangegangenen Ausführungen doch ein eindeutiges Plädoyer für die Sache des Empirismus dar.859 Ende 1788 resümiert Georg Forster in einem Brief an Jacobi die bisherige Auseinandersetzung um Kants Philosophie mit den Worten, er sehe »einstweilen nur so viel ein, daß der Mann eigentlich noch keinen Widersacher gefunden hat, der ihm gewachsen wäre.«860 Forster lässt die Namen der wichtigsten Kant-Kontrahenten Revue passieren. Neben Feder, Meiners, Abel, Herder, Jacobi, Eberhard und Ulrich nennt er einen weiteren Philosophen, dessen neueste Schrift er noch nicht kennt und der in gewisser Weise den Schlusspunkt der frühen Phase empiristischer Kant-Kritik bildete: Adam Weishaupt (1748–1830). Weishaupt war seit 1772 Professor für Kirchenrecht in Ingolstadt und ist vor allem als Gründer des Illuminatenordens bekannt. In der philosophischen Diskussion innerhalb der Geheimgesellschaften spielte Kant offenbar frühzeitig eine Rolle. Hamann berichtet im Juli 1782 von einer Freimaurerkonferenz, auf der angeblich von Kant die Rede war.861 1784 veröffentlichte der aus Bayern stammende Illuminat Anton Kreil im Journal für Freymaurer einen anonymen Aufsatz, in welchem ein erfahrungstranszendentes Philosophieren mit Berufung auf Kant abgelehnt wird.862 Weishaupt selbst hatte die Kritik der reinen Vernunft ebenfalls schon bald nach ihrem Erscheinen zur Kenntnis genommen, war jedoch durch die Schwierigkeit der Lektüre zunächst von einem genaueren Studium abgeschreckt worden.863 Als Weishaupt im Zuge des Verbots der Illuminaten in Bayern 1785 seine Professur verlor, fand er Aufnahme am Sachsen-Gothaischen Hof. Dem 859
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Hausius I 217. Auch Flatt weist Schmids Erhebung des puristischen über das empiristische System zurück, ohne sich jedoch letzterem vorbehaltlos anzuschließen. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 16. April 1789, S. 244f. F XV 208. Vgl. H IV 409 (Brief an Reichardt vom 28. Juli 1782) und dazu Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 108f. Vgl. [Anton Kreil:] Ueber das Buch: Des Erreurs & de la Verité. In: Journal für Freymaurer 1 (1784), 4. Vierteljahr, S. 55–164, hier S. 131, 133–136. Kreil (um 1757–1838) war zu diesem Zeitpunkt Philosoph am Theresianum in Wien; 1785 erhielt er eine Professur an der Pester Universität. Zu seiner Person und dem Aufsatz vgl. Sauer: Österreichische Philosophie, S. 107f., 131f.; zum weiteren Verlauf seiner Kantrezeption vgl. ebd., S. 155–189 (Kap. V: »Kreils philosophische Schriften«). Vgl. Adam Weishaupt: Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum. Nürnberg 1788, S. 4f.
183 Herzog Ernst II. war er von den Göttingern Feder und Meiners (die, wie der Herzog selbst, den Illuminaten angehörten) als ein vorzüglicher philosophischer Kopf empfohlen worden.864 In Gotha trat Weishaupt in nähere Beziehung zum Hofsekretär Schack Hermann Ewald, dem Redakteur der Gothaischen Gelehrten Zeitungen und Kant-Anhänger der ersten Stunde. Laut eigener Auskunft waren es die »freundschaftlichen und belehrenden Unterredungen« mit Ewald, die Weishaupt veranlassten, sich eingehender mit der Kantischen Philosophie auseinanderzusetzen.865 Das Produkt dieser Auseinandersetzung waren drei kantkritische Schriften, die er 1788 in kurzen Abständen veröffentlichte: Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum; Ueber die Gründe und Gewisheit der Menschlichen Erkenntniß. Zur Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft; sowie Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen. Weishaupts Angriffe auf Kant haben vor allem ein Ziel: nachzuweisen, dass die kritische Philosophie auf einen radikalen erkenntnistheoretischen Subjektivismus und damit auf einen heillosen Skeptizismus hinauslaufe.866 Ausgangspunkt in der ersten Schrift ist die Kantische Theorie von Raum und Zeit. Kants Auffassung vom Raum als subjektiver, apriorischer Form der Anschauung bedeutet Weishaupt zufolge letztlich, dass »alle Dinge ausser uns blos in unserer Vorstellung wirklich« sind; dass »folglich kein Ding der Welt ein reelles Daseyn« hat; dass wir »den Traum von der Sache nicht weiter unterscheiden« können. »Wer schaudert nicht vor solchen Folgen zurück? Kann dieß Wahrheit seyn, was allen Menschensinn so gewaltig empört?« – so lautet sein negatives Fazit.867 Zwar ist auch Weishaupt der Ansicht, dass die Art, wie wir die Dinge wahrnehmen, nicht identisch mit den Dingen selbst ist, dass unsere Erkenntnis, insofern sie auf Sinneseindrücken basiert, den Bedingungen unserer Re864
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Vgl. Martin Mulsow: »Steige also, wenn du kannst, höher und höher zu uns herauf«. Adam Weishaupt als Philosoph. In: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Hg. von Walter Müller-Seidel/Wolfgang Riedel. Würzburg 2002, S. 27–66, hier S. 32f. Zu Feders und Meiners’ Beziehungen zu Weishaupt und dem Illuminatenorden vgl. ebd., S. 33–44. Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 130 Anm. Vgl. auch Ewalds Rezension zu Weishaupts Zweifeln über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum, Gothaische gelehrte Zeitungen, 12. März 1788, S. 169. Auf Ewalds und Weishaupts freundschaftliche Kontroverse über die Kantische Philosophie wird auch in einem Gedicht angespielt, das der Schütz-Schüler und Gothaische Gymnasiallehrer Friedrich Schlichtegroll Ewald 1788 zu dessen Geburtstag widmete. Es wird zitiert bei Berbig: Schack Hermann Ewald, S. 108. Zu Weishaupts Auseinandersetzung mit Kant vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 186–188. Verdienstvoll als frühester Versuch, Weishaupt als Kant-Kritiker ins Blickfeld zu rücken, aber ansonsten wenig ergiebig ist Joseph Bach: Adam Weishaupt, der Gründer des Ordens der Illuminaten, als Gegner des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 127 (1901), S. 94–114. Weishaupt: Zweifel, S. 61f.
184 zeptivität unterworfen ist. Diese Form von Idealismus, die Weishaupt zuvor bereits in seiner Schrift Ueber Materialismus und Idealismus (1786) vertreten hatte,868 entsprach aber ganz dem physiologischen Phänomenalismus der empiristischen Tradition, wie er oben bereits im Zusammenhang mit Feder und Lichtenberg erwähnt wurde.869 Weishaupt grenzt seinen Idealismus denn auch deutlich vom Kantischen ab: Ersterer sei völlig vereinbar mit dem sicheren Weg der Erfahrung, von dem letzterer sich durch die Annahme erfahrungsunabhängiger Anschauungen und Begriffe in unzulässiger Weise entferne.870 In Weishaupts erster kantkritischer Schrift ist noch das Bemühen erkennbar, den Königsberger Philosophen vor den Konsequenzen seiner eigenen Lehre in Schutz zu nehmen: Ganz so arg könne Kant es wohl nicht gemeint haben, schließlich fänden sich bei ihm zahlreiche Formulierungen, die voraussetzen, dass es Dinge außer uns gibt, die auf unsere Sinnlichkeit wirken. Doch sieht Weishaupt sich – in auffälliger Parallele zu Jacobi – gezwungen hinzuzufügen, dass diese Voraussetzung des Kantischen Systems unweigerlich in Konflikt gerät mit dem, was aus ihm folgt: dass die raumzeitlichen Bedingungen, an die die Erkenntnis der Gegenstände und ihrer Wirkungen geknüpft ist, rein subjektiver Natur sind.871 Damit ist in Weishaupts Augen einem »durch den Misverstand der Kantischen Philosophie eingeführten und verbreiteten Scepticismus« Tür und Tor geöffnet.872 Dieser Tendenz versucht Weishaupt im Folgenden durch den Nachweis entgegenzuwirken, dass Raum und Zeit (in Weishaupts Präzisierung: Koexistenz und Veränderlichkeit der Gegenstände) in den Dingen selbst objektiv gegründet seien.873 Weishaupt will seine Schrift nicht so sehr als eine Polemik gegen Kant verstanden wissen, sondern eher als einen durch Kant veranlassten Beitrag zu der allgemeinen, »in diesem sceptischen Zeitalter« mehr denn je notwendigen Aufgabe, die Bedingungen unserer Erkenntnis ein für allemal aufzuklären.874 868
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Vgl. Adam Weishaupt: Ueber Materialismus und Idealismus. Ein philosophisches Fragment. Nürnberg 1786. Das Buch erschien 1788 in einer zweiten, überarbeiteten Auflage. Vgl. oben S. 17, S. 121 Anm. 515 und S. 162 Anm. 748. Vgl. auch Feders positive Rezension zu Ueber Materialismus und Idealismus, in der Weishaupts Idealismus als dem Kantischen überlegen dargestellt wird (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 30. November 1786, Landau 473f.). Dagegen erhebt Reinhold in der ALZ Einspruch (vgl. ALZ, 4. August 1787, Landau 645–650). Zu Feders und Reinholds Auseinandersetzungen mit Weishaupt im Kontext der philosophischen Diskussion innerhalb des Illuminatenordens vgl. Mulsow: Adam Weishaupt als Philosoph, S. 60–66; Bondeli: Einleitung, S. XXXV–XXXVII. Vgl. Weishaupt: Zweifel, S. 6–8. Vgl. auch ebd., S. 74, 107f. Vgl. ebd., S. 64–66. Zu Weishaupts Übereinstimmungen mit Jacobi vgl. auch JW II/2 586, 589. Weishaupt: Zweifel, S. 76. Vgl. ebd., S. 84–101. Vgl. ebd., S. 8f., 119f. (Zitat S. 9).
185 Die schonende Haltung gegenüber Kant wird in Weishaupts nachfolgender Schrift Ueber die Gründe und Gewisheit der Menschlichen Erkenntniß aufgegeben. Für den Skeptizismus der gegenwärtigen Epoche, der so »arg und ausgedehnt« sei wie noch nie,875 wird Kant diesmal eindeutig als ein Hauptverantwortlicher ausgemacht: Sein System sei es gewesen, das der Vorrangstellung der Locke’schen Erfahrungsphilosophie ein Ende bereitet und dem Skeptizismus die bisher scharfsinnigsten Argumente geliefert habe.876 Angesichts der historischen Notwendigkeit, den Streit um die Grundlagen unserer Erkenntnis »zur endlichen Entscheidung zu bringen«,877 sieht Weishaupt seine Rolle darin, als Fürsprecher der bisherigen Philosophie aufzutreten.878 Weishaupts Angriffe gegen Kant erfolgen jetzt auf breiterer Front als in der Vorgängerschrift.879 Sie beziehen sich nicht mehr nur auf die transzendentale Ästhetik, sondern auf das gesamte System der Kritik der reinen Vernunft. Seine sachlichen Einwände richten sich unter anderem gegen die willkürliche Systematik der Kategorientafel880 und gegen das widersprüchliche Verhältnis zwischen spekulativer und praktischer Vernunft.881 In der Hauptsache besteht Weishaupts Polemik gegen die Kantische Philosophie aber darin, dass er ihre negativen Konsequenzen ausführlich vor Augen stellt. Kants Philosophie, so beklagt Weishaupt, raubt uns elementare Gewissheiten, ohne Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen; sie lässt die Einheit und Ordnung der Welt als bloße Illusion erscheinen; sie beschneidet Ausdehnung und Gehalt unserer Erkenntnis und würdigt den menschlichen Verstand herab; sie setzt dem intellektuellen Forschungsdrang des Menschen enge Grenzen und wirft ihn dadurch auf Sinnlichkeit und Genuß zurück.882 Im Mittelpunkt steht der Vorwurf, das Kantische System sei durch »totale Subjectivität« gekennzeichnet.883 Kants Subjektivismus, der das Dasein äußerer, auf uns wirkender Gegenstände negiere, der die Naturgesetze lediglich als Produkt unseres Verstandes und Gott bloß als ein regulatives Prinzip der Vernunft gelten lasse, stellt in Weishaupts Augen eine fatale Irrlehre dar, die 875
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Adam Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit der Menschlichen Erkenntniß. Zur Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft. Nürnberg 1788, S. 4. Vgl. ebd., S. 30f., 69. Ebd., S. 3, 5. Vgl. ebd., S. 6, 72. Diese Rolle wird ihm in der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung bestätigt, welche Weishaupt dafür lobt, den Unterschied zwischen dem Kantischen und dem Locke’schen System so klar wie kein Kant-Gegner zuvor bezeichnet zu haben (vgl. OALZ, Mai 1788, Sp. 1025f., 1035). Vgl. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 32. Vgl. ebd., S. 48, 50, 90. Vgl. ebd., S. 88f., 183–186 Anm. Weishaupt räumt allerdings ein, dass er die Kritik der praktischen Vernunft noch nicht hinreichend durchdacht habe, um sie angemessen berücksichtigen zu können. Vgl. ebd., S. 90 Anm. Vgl. ebd., S. 77–85, 88–91, 93–98. Ebd., S. 98.
186 »alle Gewisheit, alle Ruhe, alle Glückseligkeit untergräbt«,884 die er aber der inneren Widersprüchlichkeit überführen zu können glaubt: Eine Philosophie, die alles Objektive aus der Erkenntnis verbanne, dementiere am Ende auch sich selbst.885 In seiner dritten kantkritischen Untersuchung Ueber die Kantischen Anschauugen und Erscheinungen kehrt Weishaupt zur transzendentalen Ästhetik zurück. Ausführlicher als zuvor widmet er sich hier der Aufgabe, nachzuweisen, dass nach Kants Begriffen von Raum und Zeit sämtliche Anschauungen und Erscheinungen rein subjektiver Natur sind.886 Wie schon in den vorhergehenden Schriften stützt er sich dabei nicht nur auf Äußerungen Kants, sondern zitiert auch ausführlich aus Schultzes Erläuterungen und Jakobs Prüfung.887 Dem Kantischen Subjektivismus setzt Weishaupt die Auffassung entgegen, dass wir über Induktion und Analogieschlüsse durchaus Erkenntnis von den Eigenschaften der Dinge an sich erlangen können.888 Das Ende der Abhandlung enthält den Versuch, Kants Beweise für die Aprioriät des Raumes zu widerlegen. Am ausführlichsten wird dabei auf das Argument der Evidenz geometrischer Erkenntnis eingegangen. Ähnlich wie Feder in Ueber Raum und Caussalität begründet Weishaupt die im Vergleich zu anderen Wissenschaften höhere Gewissheit geometrischer Erkenntnis damit, dass deren Gegenstände deutlicher bestimmt und von allen kontingenten Zusammenhängen abstrahiert seien. Grundsätzlich, betont Weishaupt, ist die Metaphysik jedoch des gleichen Grades an Evidenz fähig, sofern der Metaphysiker sämtliche relevanten Eigenschaften seines Gegenstandes genau kennt und angemessen berücksichtigt (was freilich selten der Fall sei).889 In Weishaupts Schriften von 1788 ist an mehreren Stellen ein defensiver Ton wahrnehmbar, der von einem neuen Stadium in der Diskussion um die Kantische Philosophie zeugt. Aus ihnen spricht das Bewusstsein, eine Position zu vertreten, die zunehmend anachronistisch erscheint und von der zeitgenössischen Entwicklung abgehängt zu werden droht. Zum Beispiel, wenn Weishaupt seine Rolle als Anwalt der »bisherigen Art zu philosophieren« definiert, der noch einmal »alles sagt, was sich zu ihrem Behelf sagen läßt«, auf dass sie »nicht ungehört verdammt werde«.890 Oder wenn er an anderer Stelle die pessimistische Prognose stellt: »Ich kann […], wenn ich den Hang
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Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 158–162; ferner auch S. 187–190. Vgl. Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 12–28. Dieses Verfahren wird in der OALZ kritisiert (vgl. OALZ, Dezember 1788, Sp. 3248). Vgl. dagegen die Rechtfertigung in Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 67f. Anm. Vgl. Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 37–54, 73–99, 104–114. Vgl. ebd., S. 251–258. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 6.
187 und die Stimmung des gegenwärtigen Zeitalters betrachte, sehr gut vorhersehen, daß ich ohne Erfolg und sogar gegen den Strom arbeite«.891 Das Verfahren, sich bei der Polemik gegen die Kantische Philosophie über weite Strecken auf die Ausmalung ihrer beunruhigenden skeptizistischen Konsequenzen zu beschränken, statt sie argumentativ zu widerlegen, wirkt darüber hinaus – trotz Weishaupts ausdrücklicher Rechtfertigung892 – wie ein implizites Eingeständnis von Schwäche. Am ungeschminktesten wird dies in einer ALZ-Besprechung zum Ausdruck gebracht: »Der Vf. fürchtet bey dieser Untersuchung für Seelenruhe und Zufriedenheit. Schlechte Empfehlung eines metaphysischen Forschers.«893 Ähnliche Vorwürfe werden auch in anderen Rezensionen laut;894 und die allgemeine Feststellung, dass bei Weishaupt die Deklamation häufig die Oberhand über das sachliche Argument gewinne, gehört zu den häufigsten Kritikpunkten.895 Auffällig ist, dass grundlegende Zweifel an der von Weishaupt vertretenen empiristischen Position nicht mehr nur von den pro-kantischen Meinungsführern wie der ALZ, den Gothaischen gelehrten Zeitungen und der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung vertreten werden, sondern zunehmend auch in die übrigen, meist regional ausgerichteten Anzeigenblätter Eingang finden, die sich gegenüber der Kantischen Philosophie bisher eher abwartend bis distanziert verhalten hatten. Sogar Feder in den Göttingischen Anzeigen entdeckt nun seine Nähe zur kritischen Philosophie und betont, dass sich seine eigene Auffassung von der notwendigen Subjektivität unserer Erkenntnis nur graduell von der radikaleren Position Kants unterscheide.896 891
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Ebd., S. 72. Vgl. auch das Ende von Weishaupts dritter Abhandlung, wo er in Betracht zieht, dass seine ganze Arbeit womöglich »nur dazu dienen wird, das Heer meiner Feinde zu vermehren« (Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 267). Vgl. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 190f. Weishaupt antwortet hier seinem Nürnberger Rezensenten, der ihm vorgehalten hatte: »[D]er Forscher ist um das, was aus seinen Untersuchungen folgt, ganz unbekümmert, und er könnte kein Forscher sein, wenn er, bevor er untersuchte, erst ausmachte, was aus seinen Untersuchungen folgen dürfte oder nicht dürfte. Es ist daher gegen das philosophische Kriegsrecht, seine Untersuchungen in ihren Folgen anzugreifen« (Nürnbergische gelehrte Zeitung, 4. März 1788, S. 150f.). Zu Weishaupts Rechtfertigung vgl. wiederum die Entgegnungen in: OALZ, Dezember 1788, Sp. 3247; Nürnbergische gelehrte Zeitung, 19. Juni 1789, S. 386. ALZ, 5. Juni 1789, Sp. 529. Vgl. außer den in den beiden vorhergehenden Anmerkungen genannten Stellen: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 23. August 1788, S. 1350; ebd., 9. Mai 1789, S. 756 (beide Rezensionen stammen von Feder); OALZ, Dezember 1788, Sp. 3246. Vgl. OALZ, Dezember 1788, Sp. 3246; Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 1. Dezember 1788, S. 772; Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 2. Dezember 1788, S. 405; Gemeinnützige Betrachtungen 13 (1788), Beylage, S. 385; Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 9. Mai 1789, S. 759; ALZ, 5. Juni 1789, Sp. 534. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 9. Mai 1789, S. 756f. Dass Feders Einstellung zu Kant von jeher eine kritisch-bewundernde war, betont Marino: Praeceptores Germaniae, S. 170f.
188 Zwar wird der von Weishaupt unternommene Versuch einer neuerlichen Prüfung Kants in den meisten Fällen emphatisch begrüßt. Doch die hehren Worte weichen in der Regel bald der kühlen Einsicht in die Unzulänglichkeit seiner Argumente. So hält der Nürnberger Rezensent Weishaupts Angriff auf das Kantische System für »einen der stärksten, die je auf dasselbe gemacht worden sind« – um danach festzustellen, dass ihn weder die Rechtfertigung der Allgemeinheit analogischer Urteile noch die Widerlegung von Kants transzendentaler Ästhetik überzeugt habe.897 Feder zollt Weishaupt Anerkennung für den »feurigste[n] Angriff auf das Kantische System, der, unsers Wissens, noch vorgekommen ist« – erklärt aber an späterer Stelle Weishaupts Gründe für die Allgemeinheit und Notwendigkeit empirischer Erkenntnis für nicht befriedigend und zweifelt, ob der Autor die Kantische Unterscheidung zwischen der reinen Anschauungsform des Raumes und dem empirischen Raum richtig gefasst habe.898 Der Erlanger Rezensent würdigt Weishaupts philosophischen Entwurf als willkommenen Beitrag »zu der wichtigen Stimmensammlung, durch welche über das heiligste der Menschheit ein entscheidender Spruch soll abgefaßt werden« – macht jedoch im weiteren Gang der Besprechung deutlich, dass er Weishaupts Skeptizismusvorwurf gegen Kant für überzogen hält.899 Der Hallenser Rezensent berichtet, er habe mit Spannung vernommen, dass von Weishaupt »der stärkste, zur Zeit auf das Kantische System gewagte Angriff« zu erwarten sei – und zeigt sich enttäuscht: Weishaupt bietet seiner Ansicht nach keine überzeugende Erklärung, wie objektive Erkenntnis von Gegenständen außer uns möglich ist, und vermag Kants System nicht zu stürzen.900 Der Greifswalder Rezensent immerhin zählt Weishaupt zusammen mit Reimarus, Feder, Selle, Flatt, Platner und Pistorius zu denjenigen Autoren, deren Kritik an Kant uneingeschränkt gehört zu werden verdiene. Aber auch er deutet an, dass er nicht in jedem Punkt mit dem Autor übereinstimmt, enthält sich jedoch eines ausführlicheren Kommentars.901 Der Rezensent der 897
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Vgl. Nürnbergische gelehrte Zeitung, 19. Juni 1789, S. 388–390. Vgl. auch ebd., 4. März 1788, S. 150f. Zur Zurückweisung der Einwände Weishaupts gegen Kants transzendentale Ästhetik vgl. auch Gothaische gelehrte Zeitungen, 12. März 1788, S. 171–173. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 8. November 1788, S. 1777; ebd., 9. Mai 1789, S. 757, 759. Zur Kritik an Weishaupts Raumbegriff vgl. auch OALZ, 4. März 1789, Sp. 422f. Vgl. Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 2. Dezember 1788, S. 401–405 (Zitat S. 401). Gegen den Vorwurf des Subjektivismus und des skeptischen Idealismus vgl. auch: OALZ, Mai 1788, Sp. 1022f., 1034f.; ebd., 4. März 1789, Sp. 417f.; sowie vor allem: ALZ, 2. Juli 1788, Sp. 10–16 (Verfasser war vermutlich Reinhold); ebd., 5. Juni 1789, Sp. 529–532, 534. Vgl. Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 1. Dezember 1788, S. 769f.; vgl. auch ebd., 20. Oktober 1788, S. 680. Zur Kritik an Weishaupts Verteidigung objektiver Erkenntnis der Dinge an sich vgl. auch OALZ, 4. März 1789, Sp. 419, 424f.; ALZ, 5. Juni 1789, Sp. 533f. Vgl. Neueste Critische Nachrichten, 50. Stück (1788), S. 393, 395.
189 Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen dagegen erklärt summarisch, »dass er völlig von der Richtigkeit der Beweise des Herrn Verfassers, welcher sich hier als einen Philosophen von der ersten Größe zeigt, überführt« sei.902 Eine eingehendere positive Würdigung erfahren Weishaupts Schriften allein in den anti-kantischen Bastionen der Allgemeinen deutschen Bibliothek und der Tübingischen gelehrten Anzeigen. Pistorius lobt die Unparteilichkeit und die klare Sprache des Autors, rechtfertigt dessen Verfahren, Kants System aus seinen Folgen zu bestreiten, und ergänzt Weishaupts Kritik an Kants transzendentaler Ästhetik durch den Hinweis, dass er selbst sie in früheren Rezensionen bereits in ähnlicher Form vorgebracht habe.903 Flatt schließt sich dem Skeptizismusvorwurf gegen Kant an und bekräftigt Weishaupts Einwand, dass sich die kritische Philosophie über das Dasein äußerer Gegenstände widersprüchlich auslasse.904 Allgemein hebt Flatt in seiner Rezension den »Muth« hervor, den es erfordere, das Kantische System anzugreifen, ohne sich »durch den Gedancken an die gegenwärtige Stimmung des Zeitalters« irre machen zu lassen.905 Damit bestätigt er, wie sehr sich im achten Jahr nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft das philosophische Klima verändert hatte. Die Zeiten, da die Kantianer sich vor die Aufgabe gestellt sahen, als kleiner Haufen gegen eine ignorante oder feindliche Mehrheit antreten zu müssen, schienen endgültig vorbei zu sein. Mittlerweile hatte die Kantische Philosophie den mainstream so nachhaltig infiltriert, dass es nun die Gegner Kants waren, die eine Änderung des philosophischen Zeitgeists herbeisehnten. So zum Beispiel Feder, der in einer seiner Weishaupt-Rezensionen den Wunsch äußert, »es möchte gut seyn, je eher, je lieber, zur alten Philosophie wieder einzulenken«.906 Bei alledem ließen die Anhänger Kants in ihrer Propaganda nicht nach. 1788 veröffentlichte der Münchener geistliche Rat und OALZ-Mitarbeiter Joseph Maria von Dufresne (1748–1821) eine Lobschrift auf Kant, in der er für das Studium der Kritik der reinen Vernunft wirbt.907 Dufresne bezeichnet 902 903
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Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen, 21. Mai 1788, S. 164. Vgl. AdB 93/2 (1790), S. 437, 443, 449f. Punktuelle Kritik äußert Pistorius lediglich am Ende seiner Besprechung gegenüber der Art und Weise, wie Weishaupt die Evidenz mathematischer Erkenntnis erklärt. Vgl. ebd., S. 454–458. Vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 18. Dezember 1788, S. 800, 802f., 805. Ebd., S. 799. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 8. November 1788, S. 1780. Vgl. Joseph Maria von Dufresne: Epistel an Herrn Schubaur, der Medicin Doktor in München, über den Werth der kantischen Philosophie. Durlach 1788, S. 5f. Bei dem im Titel der Schrift genannten Adressaten handelt es sich vermutlich um den Münchener Arzt und Komponisten Johann Lukas Schubaur (1749–1815). Zu Dufresnes Biographie vgl.: Gelehrten- und Schriftsteller-Lexikon der deutschen katholischen Geistlichkeit. Hg. von Franz Karl Felder/Franz Joseph Waitzenegger. 6 Bde. Landshut 1817–1822. Bd. 1, S. 185, und Bd. 6, S. 481–484; Richard Bauer: Der kurfürstliche geistliche Rat und die bayerische Kirchenpolitik 1768–1802. München 1971 (Miscellanea Bavarica Monacensia, Heft 32), S. 100 Anm. 35.
190 dieses Buch als das »tiefgedachteste Werk, das der menschliche Verstand je hervorgebracht hat«,908 und hebt mit Reinhold die Aussöhnung von Vernunft und Religion als Kants besondere Leistung hervor.909 Dem Kritiker Weishaupt wird totaler Missverstand der Kantischen Philosophie vorgeworfen, seine Qualifikation als Metaphysiker wird in Zweifel gezogen.910 Weishaupts Ausführungen über Raum und Zeit, so Dufresnes Urteil, böten keine Handhabe, die Evidenz der mathematischen Erkenntnis befriedigend zu erklären – allein Kant vermöge dies.911 Friedrich Gottlob Born schickte Kant im Oktober 1788 seinen soeben erschienenen Versuch über die ersten Gründe der Sinnenlehre zu, in welchem er, wie er sich in seinem Begleitbrief rühmt, »außer Weishaupten, den Herren Feder, Abel, Selle, Tittel, Plattner und andern ihre gebührende Abfertigung« gibt.912 Seine Angriffe auf die genannten Philosophen folgen zumeist einem simplen Muster: Kants System, dieses »Meisterstück des menschlichen Geistes«, verlangt bedingungslose Annahme; wer sie verweigert, beweist damit nur, dass er das System nicht verstanden hat oder nicht verstehen will.913 Nach diesem Schema wischt Born eine ganze Reihe von Einwänden gegen die Kantische Philosophie beiseite: Weishaupts Zweifel gegenüber Kants Theorie der Sinnlichkeit,914 Abels Ableitung der Begriffe von Raum und Zeit aus der Abstraktion,915 Selles Insistieren auf der Einheit von Sinnlichkeit und Verstand,916 Feders Hinweis auf idealistische, dogmatische und skeptizistische Elemente in Kants Philosophie,917 Tittels Vorwurf mangelnder Originalität in Kants Unterscheidung von synthetischen und analytischen Urteilen918 und Pistorius’ Kritik an der Idealismus-Widerlegung in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft.919 Dass auch nach einem Zeitraum von sieben Jahren es noch kein Philosoph vermocht habe, Kants neues System ernsthaft zu erschüttern, sieht Born als Beweis für dessen Unwiderlegbarkeit an.920 An seine Kollegen richtet er triumphierend den Appell, ihren Widerstand endlich aufzugeben: »Es ist Thorheit,
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Dufresne: Epistel, S. 25f. Vgl. ebd., S. 19–25. Vgl. ebd., S. 33–43. Vgl. ebd., S. 44f. AA X 547 (Brief an Kant vom 6. Oktober 1788). Vgl. Friedrich Gottlob Born: Versuch über die ersten Gründe der Sinnenlehre. Zur Prüfung verschiedner, vornämlich der Weishauptischen Zweifel über die Kantischen Begriffe von Raum und Zeit. Leipzig 1788, S. VIIf. Vgl. ebd., S. 21–55 (bes. S. 36f.), 70f., 80–83, 100–109. Vgl. ebd., S. 61–64. Vgl. ebd., S. 64–69. Vgl. ebd., S. 117–130, sowie dazu Sassen: Introduction, S. 27–29. Vgl. Born: Versuch, S. 139f. Vgl. ebd., S. 141–148, 150, sowie dazu Sassen: Introduction, S. 29f. Vgl. Born: Versuch, S. 148f.
191 den Strom aufhalten zu wollen, deßen Quelle man nicht zu verstopfen vermag.«921 Noch einmal ging Feder in die Offensive, indem er 1788 zusammen mit seinem Freund und Kollegen Meiners eine eigene Zeitschrift gründete: die Philosophische Bibliothek. Geboren wurde der Plan aus der Einsicht Feders, dass in der Auseinandersetzung mit den Kantischen Gegnern ein eigenes Periodikum »so nöthig, als bey den politischen Fehden eine stehende Armee« sei.922 Mit der Zeitschrift wollten sich die beiden Herausgeber Gelegenheit verschaffen, aktuelle philosophische Schriften ausführlicher zu besprechen, als dies in den Göttingischen Anzeigen möglich war.923 Rezensionen machen denn auch den Hauptanteil der Philosophischen Bibliothek aus; ergänzt werden sie durch einzelne philosophische Abhandlungen, die, ebenso wie die Besprechungen, durchgehend von den Herausgebern selbst verfasst sind. Zu den im ersten Band von Feder rezensierten Autoren gehören Abel, Jacobi, Herder, Reimarus, Rehberg, Kant und Tittel. Der Tenor der Besprechungen unterscheidet sich im allgemeinen nicht von den kürzeren Versionen in den Göttingischen Anzeigen. Die Zeitschriftengründung eines der prominentesten Philosophen der Epoche fand in den den Rezensionsorganen wenig Widerhall. Die Besprechungen in der ALZ und der Oberdeutschen Allgemeinen Litteraturzeitung konzentrieren sich auf die philosophische Abhandlung, die den Band eröffnet. Beide Rezensenten machen deutlich, dass ihrer Auffassung nach die zentrale Frage, die Feder darin behandelt – die Frage nach dem Verhältnis von subjektiver Erkenntnis und objektiver Wahrheit924 – von Kant auf eine befriedigendere Weise beantwortet wird. Der OALZ-Rezensent sieht Übereinstimmungen zwischen Kants transzendentalem Idealismus und Feders Empirismus, der ja ebenfalls eine Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität der Dinge anerkennt. Doch während Feder sich einer genaueren Verhältnisbestimmung entziehe, bemühe Kant sich konsequent um eine vollständige Auflösung des damit verbundenen erkenntnistheoretischen Problems.925 Der Rezensent der ALZ äußert sich noch kom921
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Ebd., S. 153. Den höhnisch-triumphierenden Tonfall Borns kritisiert der Rezensent der OALZ, welcher auch ein Eingehen auf Jacobis Idealismus-Kritik vermisst; insgesamt findet er Borns Erläuterung der transzendentalen Ästhetik aber »ganz brauchbar und zweckmäßig« (vgl. OALZ, 10. August 1789, Sp. 278–281). Uneingeschränkt positiv fällt die kurze Anzeige des Leipziger Rezensenten aus (vgl. Neue Leipziger gelehrte Anzeigen, 13. Februar 1789, S. 97). Feder: Leben, S. 123. Vgl. Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. IV (Vorrede Feders). Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Ueber subjective und objective Wahrheit, und die Uebereinstimmung aller Wahrheiten unter einander. In: Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. 1–42. Vgl. OALZ, Juli 1788, Sp. 1442f. Noch klarer wird dieser Punkt in der Besprechung des zweiten Bandes der Philosophischen Bibliothek formuliert; vgl. OALZ, 24. Juli 1789, Sp. 164.
192 promissloser. Seiner Meinung nach ist die von Feder thematisierte Frage durch Kants Erkenntnistheorie bereits »völlig ins Reine gebracht«; dem Göttinger wirft er durchgehend eine ungenaue und schwankende Argumentationsweise vor und stellt ihn am Ende der Besprechung als Relikt einer vergangenen Zeit dar.926 Uneingeschränkt solidarisch mit Feders Kampf gegen die Kantische Philosophie erklären sich lediglich die Greifswalder Neuesten Critischen Nachrichten.927 Die Resonanz auf Feders und Meiners’ philosophisches Magazin sollte sich in den nächsten Jahren nicht verbessern; wegen mangelnden Absatzes wurde es mit dem vierten Band eingestellt.928 Abschließend sei die veränderte philosophische Stimmungslage noch durch einen letzten Beleg dokumentiert – und zwar durch den Wandel der Bewertung, die Feders Philosophie in einem so durchschnittlichen, der kantianischen Meinungsführerschaft unverdächtigen Rezensionsorgan wie den Frankfurter gelehrten Anzeigen erfuhr. Die Rezension zur ersten Auflage von Feders Grundlehren zur Kenntniß des menschlichen Willens, die 1783 erschien, war noch voll des Lobes gewesen für das neue moralphilosophische Standardwerk eines Autors, über dessen »so beliebte Lehrbücher auf so vielen teutschen Akademien gelesen wird«.929 Sechs Jahre später wird bei der Besprechung der dritten Auflage des Buches ein ganz anderer Ton angeschlagen, wenn der Rezensent seine Ausführungen mit den Worten beschließt: Auch in der praktischen Philosophie bleibt Hr. F. seinem einmal adoptirten Systeme, welches auf empirische Gründe gebaut ist, immer treu, und nimmt hier so wenig, wie in seinen Lehrbüchern der theoretischen Philosophie, Etwas von Kants Reformen auf. Wir wollen ihm hierüber keinen Vorwurf machen. […] Wie lange sich aber noch die Erfahrungsphilosophie wider die Alles zermalmende kritische erhalten werde, getraut sich Rez. nicht zu bestimmen.930
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Vgl. ALZ, 22. Juli 1790, Sp. 217–224 (Zitat Sp. 218). Es handelt sich um eine Doppelrezension zum ersten und zweiten Band der Philosophischen Bibliothek. Vgl. Neueste Critische Nachrichten, 26. Stück (1788), S. 202–204. Der Würzburger Rezensent beschränkt sich auf eine Wiedergabe von Feders Vorrede. Vgl. Wirzburger gelehrte Anzeigen, 27. Mai 1789, S. 409f. Das Scheitern seines Zeitschriftenprojekts traf Feder schwer und stürzte ihn in eine Lebenskrise; vgl. Feder: Leben, S. 124–126. Frankfurter gelehrte Anzeigen, 28. Februar 1783, S. 130. Frankfurter gelehrte Anzeigen, 28. Juli 1789, S. 476f.
193
III. Die Rolle von Metaphern in der Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie 1. Vorbemerkung Wie die Darstellung in Kapitel II gezeigt hat, entwickelte sich die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie innerhalb weniger Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft von einem wenig beachteten Nebenschauplatz der philosophischen Diskussion zu einem zentralen Konflikt, der breitesten publizistischen Raum einnahm. Von den Hauptprotagonisten des Streits bis zum anonymen Chor der Rezensenten ist dabei das Bewusstsein verbreitet, dass es um eine grundlegende philosophische Richtungsentscheidung geht, die die Anteilnahme aller denkenden Zeitgenossen verdient. An der dichten Abfolge der zahlreichen Schriften, Zeitschriftenaufsätze und Rezensionen, in denen die neue Philosophie beworben und bekämpft wurde, erweist sich der fortgeschrittene Stand eines das 18. Jahrhundert allgemein kennzeichnenden Prozesses: der Transformation der Gelehrtenkommunikation zum Bestandteil einer Medienöffentlichkeit.1 Gerade für den Bereich der Philosophie ist diese Entwicklung von der Forschung schon frühzeitig hervorgehoben worden.2 Die Bedeutung eines solchen Prozesses für die Struktur von Kontroversen liegt darin, dass der Adressat in einem gelehrten Streit nicht mehr nur der Gegner ist, den es Punkt für Punkt zu widerlegen und sachlich zu überzeugen gilt. Adressat ist in zunehmendem Maße ein breites Publikum nicht-gelehrter Gebildeter, die für den eigenen Standpunkt gewonnen werden sollen3 – nicht zuletzt durch den Einsatz populärer, pointierter, auf Wirkung bedachter Schreibweisen, die von den Vorgaben eines rein philosophischen Diskurses abweichen.4
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Vgl. Ernst Fischer/Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Von Almanach bis Zeitung, hg. von Fischer u. a., S. 9–23, hier S. 15. Paul Feldkeller erklärt die Welle von Zeitschriftengründungen ab 1785 mit dem Hinweis auf die »tiefinnere Erregung der Zeit; die Fragen der Philosophie waren brennende öffentliche Angelegenheiten […], und etwas ganz Seltenes: eine öffentliche Meinung in philosophicis war in den achtziger Jahren in Deutschland wirklich vorhanden« (Feldkeller: Das philosophische Journal, S. 324). Vgl. dazu in systematischer Hinsicht Spoerhase: Kontroversen, S. 73f. Vgl. Goldenbaum: Die öffentliche Debatte, S. 97.
194 Zu den Abweichungen von den traditionellen Normen wissenschaftlichphilosophischer Diskursivierung gehört auch die Metapher.5 Dass Kant ihr kritisch gegenüberstand, ist bekannt (Herders metaphernreichen Stil lehnte er in der Besprechung der Ideen als gefährliche Vermischung von Philosophie und poetischer Beredsamkeit ab);6 dass er selber Metaphern verwendet, ebenfalls.7 In Arbeiten, die sich Kants Bildgebrauch widmen, wurde schon früh darauf hingewiesen, dass die zum Einsatz kommenden Metaphern nicht selten eine polemische Funktion erfüllen. In seinem Aufsatz Über Bilder und Gleichnisse bei Kant legt Rudolf Eucken Wert auf die Feststellung, Kants Schriften seien von einem kämpferischen Geist geprägt: »Das bekunden auch die Bilder. Die Darlegung des Eignen ist meistens eng verknüpft mit der entschiedenen Abweisung eines Fremden, das auf Grund scharf ausgeprägter eigner Ueberzeugung in festem, geschichtlich nicht immer zutreffenden [sic] Bilde vor Augen steht.«8 Hans Vaihinger geht noch weiter, wenn er den polemischen Rückgriff auf Kants Metaphern als einen Grundzug der durch ihn ausgelösten Debatte beschreibt. Aus der Art und Weise, wie in der Rezeption der Kritik der reinen Vernunft an Kants Lieblingsbilder angeknüpft wird, leitet Vaihinger die »literarische Regel« ab, dass »die Anhänger derartige Bilder übertreibend auszumalen pflegen, während die Gegner durch $φ die Spitze des Bildes gegen den Urheber desselben selbst zu wenden lieben.«9 In Anlehnung an eine Typologie Jürgen Links10 kann man Vaihingers »Regel« von den verschiedenen Formen des polemischen Metapherngebrauchs in einer Debatte zu folgendem Schema verfeinern: 1.) Identifikation: Eine Metapher der Gruppe A wird von einem anderen Mitglied dieser Gruppe in bestätigender und bekräftigender Absicht übernommen (Beispiel: Kants Rede von einer notwendigen ›Prüfung der Fundamente‹ der bisherigen Philosophie wird von einem seiner Anhänger übernommen). 2.) Inversion (Vaihingers ›Antistrophe‹): Eine Metapher der Gruppe A wird von einem Mitglied der gegnerischen Gruppe B aufgenommen und so gewendet, dass sie sich gegen die Gruppe A richtet (Beispiel: ein Geg5
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Zum konfliktbeladenen Verhältnis von metaphorischer Rede und Wissenschaft vgl. Klausnitzer: Literatur und Wissen, S. 267 (mit Literaturhinweisen). Vgl. Landau 235 (= WA VI 799f.) sowie dazu die differenzierenden Bemerkungen bei Konersmann: Figuratives Wissen, S. 9f. Vgl. zuletzt Ottfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. München 2003, S. 319–330 (Kap. 23: »Kants Metaphern«). Rudolf Eucken: Ueber Bilder und Gleichnisse bei Kant. Ein Beitrag zur Würdigung des Philosophen. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 83 (1883), S. 161–193 [in leicht veränderter Form wieder in: ders.: Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie. Leipzig 1906, S. 55–82], hier S. 166. Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. IX Anm. 1. Vgl. Link: Kollektivsymbolik, S. 15.
195 ner der kritischen Philosophie erklärt, das von Kant in Aussicht gestellte neue Fundament sei weniger stabil als das bisherige; Kants Prüfung führe zu mutwilliger Zerstörung der bestehenden philosophischen Gebäude o. ä.).11 3.) Adoption: Eine Metapher der Gruppe A wird von einem Mitglied der gegnerischen Gruppe B demonstrativ bestätigt und dadurch umgewertet (Beispiel: die Feststellung eines Gegners der kritischen Philosophie, dass Kant unter den bestehenden philosophischen Gebäuden furchtbare Zerstörungen anrichte, wird von einem Anhänger Kants emphatisch unterstrichen und als Zeichen einer notwendigen radikalen Reform begrüßt o. ä.). Ziel des folgenden Kapitels ist, die nach diesen Grundmustern sich entfaltenden ›Redekonsequenzen‹12 nachzuzeichnen, die Kants Metaphern im Kontext der Auseinandersetzung um seine Philosophie nach sich ziehen. Die Darstellung beschränkt sich dabei auf diejenigen Metaphern, bei denen sich im Durcharbeiten der Quellen ergab, dass sie in der Debatte eine besonders hohe Rekurrenz aufweisen und häufig mit besonderer Emphase verwendet werden. Sicher ließen sich weitere Metaphern hinzufügen; systematische Vollständigkeit kann und soll nicht beansprucht werden. Wenn man mit Kurt Flasch bereits den »Kampfplatz« als ganzen, wie er im ersten Teil der Untersuchung rekonstruiert wurde, als heuristische Text-Konstellation auffassen kann, die dazu dient, Beziehungen zwischen den Texten aufzufinden – so gilt dies erst recht für die einzelnen metaphorischen »Gemeinplätze«, die nun im zweiten Teil behandelt werden. Sie geben Ordnungsgesichtspunkte für die Konstellierung von Texten ab. Dabei gilt, dass die Texte (wie im ersten Teil herausgearbeitet wurde) sich zwar größtenteils auch objektiv nachweisbar aufeinander beziehen und einander zitieren, dass ihre Zusammenstellung unter den gewählten Gesichtspunkten aber durchaus ein hypothetisches, subjektives Moment aufweist – so dass »erst das Ergebnis zeigt«, ob andere die Konstellierung »als Erkenntniserweiterung anerkennen können«.13
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Das hier bezeichnete Phänomen entspricht dem Merkmal der ›Potentialität‹, das Lothar Bornscheuer als eines von vier Strukturmomenten eines allgemeinen Topos-Begriffes beschrieben hat: »Aus jedem einzelnen [Topos] lassen sich verschiedenartige und sogar völlig gegensätzliche Argumente gewinnen, derselbe Topos kann bei derselben Problemfrage beiden Kontrahenten nützlich sein (in utramque partem-Prinzip)« (Bornscheuer: Topik, S. 98). Den Begriff übernehme ich von Konersmann: Figuratives Wissen, S. 16. Vgl. Flasch: Plätze, S. 350–352 (Zitat S. 352).
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2. Die Verfassung der Metaphysik a)
Kampfplatz
Eine Basistopik des Kantischen Diskurses lässt sich mit der Formel »Vom Widerstreit zur Einheit« umschreiben. Hans Saner hat diese Prozesstopik bei Kant, die nicht nur seine metaphysischen, sondern auch seine naturwissenschaftlichen und politisch-rechtsphilosophischen Schriften durchzieht, in einer eigenen Monographie ausführlich behandelt.14 Dem implizierten Telos der Einheit, des Friedens u. ä. ist ein späteres Kapitel gewidmet.15 Hier geht es zunächst nur um die Diagnose des chaotischen Ausgangszustandes und die daraus abgeleiteten Maßnahmen und Konsequenzen. Dass die Vernunft in den großen metaphysischen Fragen (den Fragen nach dem Ursprung der Welt, der Existenz Gottes, der Seele und der menschlichen Freiheit) kein abschließendes Urteil zu fällen in der Lage ist, sondern stets zu widersprüchlichen und einander entgegengesetzten Resultaten kommt – diese ›skandalöse‹ Tatsache war es, die dem vernunftkritischen Projekt einen entscheidenden Ansatzpunkt lieferte. Kant hat das im Abstand von etlichen Jahren in einem Brief an Garve wie folgt formuliert: Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: »Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit«; dies war es welche mich […] zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.16
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Vgl. Saner: Widerstreit. Vgl. unten Kap. III.5.e). AA XII 257f. (Brief an Garve vom 21. September 1798). Entsprechend sieht Röttgers die transzendentale Dialektik als den »wichtigsten und brisantesten Teil« innerhalb der vernunftkritischen Theoriearchitektur an: »Die transzendentale Analytik dient dann als Hinweis zur Beilegung derjenigen Katastrophe, die die transzendentale Dialektik beschreibt. Damit ist die Kritik der reinen Vernunft primär Kritik der Metaphysik und erst sekundär, nämlich um diese Aufgabe zu erledigen, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie« (Röttgers: Kritik und Praxis, S. 36). Zu weiteren Selbstzeugnissen Kants, die auf die zentrale Bedeutung des Antinomienproblems in der Entwicklung der kritischen Philosophie hinweisen, vgl. Lothar Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769. Köln 1990, S. 9f. Zur Forschungsdiskussion vgl. ebd., S. 67–75, sowie die Hinweise bei Aloysius Winter: Transzendentale Theologie der Erkenntnis. Ansätze zur theologischen Rezeption der Kantschen Vernunftkritik. In: ders.: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim u. a. 2000 (Europaea Memoria, Reihe 1, Bd. 11), S. 389–424 [zuerst in: Auf der Suche nach dem verborgenen Gott. Zur theologischen Relevanz neuzeitlichen Denkens. Hg. von Alois Halder u. a. Düsseldorf 1987 (Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft: Experiment Religionsphilosophie, Bd. 1), S. 68–96], hier S. 402f.
197 Historisch manifestiert sich für Kant der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst in dem permanenten Streit der philosophischen Parteien, der die Geschichte der Metaphysik als einen »Kampfplatz nimmer beizulegender Fehden« und »endlose[r] Streitigkeiten« erscheinen lässt.17 Statt dass die Metaphysik auf der Grundlage eines Konsenses der Vernünftigen allmählich zu einer dauerhaften Ordnung gefunden hätte, so Kants Feststellung in der Vorrede zu ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, »artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus«. In neuerer Zeit schien es zwar, als sollte »allen diesen Streitigkeiten« durch die Locke’sche Philosophie »ein Ende gemacht« werden; doch die Hoffnung war trügerisch, die zentralen metaphysischen Probleme blieben nach wie vor ungelöst. Das Ergebnis der von Kant skizzierten Entwicklung ist verheerend: »Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften«.18 Der aus den fortwährenden Streitigkeiten der Philosophen resultierende Ansehensverlust der Metaphysik bleibt, wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage betont, in seinen Auswirkungen keineswegs auf die fachphilosophische Zunft beschränkt, sondern ist ein »Skandal«, der »über kurz oder lang selbst dem Volke […] aufstoßen muß« und schwärmerischen Tendenzen Auftrieb zu geben droht.19 Diesem Skandal durch eine Kritik der spekulativen Vernunft, d. h. durch eine gründliche Bestimmung ihrer Rechte und Grenzen ein für allemal vorzubeugen, ist deshalb nach Kants Ansicht das dringendste Ziel. Die Begründung der Notwendigkeit einer Vernunftkritik aus dem chaotischen Zustand der Metaphysik wird schon in den frühesten Auseinandersetzungen mit Kant aufgegriffen, um sein philosophisches Unternehmen zu charakterisieren. So bereits in Hamanns Rezension zu Kritik der reinen Vernunft, wo über die Transzendentalphilosophie ironisch festgestellt wird: »Unter diesem neuen Namen verwandelt sich die verjährte Metaphysik aus einem zweytausendjährigen Kampfplatz endloser Streitigkeiten auf Einmal in ein systematisch geordnetes Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft«.20 Auch Dietrich Tiedemann beginnt seinen frühen Beitrag zur Prüfung der kritischen Philosophie, indem er an Kants Rede vom Streit der Philosophen anknüpft:
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KrV A 776/B 804, KrV A VIII. Ein ähnlich negatives Bild der bisherigen Fortschritte in der Metaphysik zeichnet Johann Nikolaus Tetens in seinen Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind (1760). Vgl. Tetens: Kleinere Schriften, Teil 1, S. 14–16. KrV A IXf. KrV B XXXIV. N III 277. Die Zeitangabe entnimmt Hamann einer Stelle bei Hume. Vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 97 Anm. 12.
198 Seit Entstehung desjenigen Dinges, was man Metaphysik nennt, haben darin über die wichtigsten Aufgaben Streitigkeiten obgewaltet, welche bey der grossen Erweiterung aller Wissenschaften in neuern Zeiten von ihrer Beendigung nur noch weiter scheinen entfernt zu seyn. Dieß veranlaßte Hr. Prof. Kant, zu untersuchen, ob nicht der Grund davon in der Behandlung der Wissenschaft sich fände, und man diese bisher für ganz etwas anders genommen habe, als sie ihrer Natur nach seyn sollte?21
Tiedemann schließt sich Kants philosophiehistorischem Befund an, akzeptiert aber nicht die damit verbundene Behauptung, dass der Streit letztlich in der Vernunft selbst angesiedelt sei: »Steht es um die reine Vernunft so, dann ist zu einer Metaphysik aus Vernunftbegriffen keine Hofnung«.22 Statt dem transzendentalphilosophischen Ansatz zu folgen, bemüht er sich um eine konventionelle Lösung, indem er den von Kant aufgestellten Antinomien in herkömmlicher Weise, durch Parteinahme für eine der beiden Seiten, beizukommen versucht.23 Dagegen greifen Kants Anhänger die Schilderung vom chaotischen Zustand der Metaphysik auf, um den vernunftkritischen Ansatz als den dringend notwendigen und einzig möglichen Ausweg aus der Misere zu propagieren. So äußert sich Ludwig Heinrich Jakob in der »Vorrede« zur Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden über die bisherigen Versuche, Umfang und Grenzen der philosophischen Erkenntnis zu bestimmen, wie folgt: Die reinen und empirischen Kenntnisse lagen bisher so vermischt untereinander, daß so gar der Streitpunkt nicht einmal gehörig fest gesetzt werden konnte, und eben deshalb war eine befriedigende Entscheidung der Sache ganz unmöglich. Man verwickelte sich in ewige Mißverständnisse: und der Zänkerey und des Wortstreits war kein Ende. Erst durch Herrn Kant ist die Sache gehörig eingeleitet und zur Untersuchung geschickt gemacht worden.24
Und Gottfried August Bürger urteilt zu Beginn seiner Kant-Vorlesungen über den Hang der dogmatischen Philosophen, konkurrierende metaphysische Gebäude zu entwerfen: Das gab nun von je und je heillose Kriege über Kriege, die zwar endlich, wann die Streiter müde wurden, aufhörten, in welchen aber über die objective reelle Existenz und Beschaffenheit nicht das Mindeste ausgemacht wurde. Jeder Theil hielt seinen Bau für ganz unüberwindlich, schußsturm- und feuerfest. [/] Nachdem nun dieser Unfug auf dem Felde der Metaphysik lange genug getrieben worden war, und Metaphysik dadurch in den Augen der Vernünftigen und Unparteiischen ein 21 22 23
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Tiedemann: Ueber die Natur der Metaphysik, Hausius II 53. Hausius II 93. Vgl. Hausius II 93. Vgl. auch Waldin: Untersuchung der Weltreihen, S. 26; Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 109. Jakob: Prüfung, S. XIf. Vgl. auch ebd., S. 58: »Es war dem Scharfsinne eines Kants aufbehalten, […] der menschlichen Erkenntniß ihre feste Grenze anzuweisen, und dadurch gleichsam alle Streitigkeiten über das, was man wissen und nicht wissen kann, auf einmal zu enden. Es macht diese Entdeckung das Hauptmoment seiner Kritik aus […]«.
199 Gegenstand, wo nicht gar der Verachtung, doch wenigstens der Gleichgültigkeit geworden war, so übernahm der Professor Kant in Königsberg, ganz unstreitig einer der größten Denker, die die ganze philosophische Geschichte aufzuweisen hat, das wichtige Geschäft, nicht sowohl diese verschiedenen Städte, als vielmehr das ganze Bauwesen und das Anrecht der speculativen Vernunft dazu zu untersuchen und zu beleuchten.25
Besonders nachdrücklich wird das Skandalon gegensätzlicher philosophischer Lehren, vor dem sich dann die vernunftkritische Leistung Kants als umso bedeutender abzeichnet, von Samuel Heinicke vor Augen gestellt. In der Ankündigung seiner Zeitschrift Der Kritiker, die der Popularisierung der Kantischen Philosophie dienen sollte, heißt es: Gellerts Spott über die Philosophie, da er sie, wegen ihrer täglichen Veränderungen, mit dem Huthe verglich, wäre nun nicht mehr treffend. Sie ist endlich, nach Verlauf von etlichen Jahrtausenden, von einem wahren Philosophen, zur Beständigkeit gebracht […]. Dieser Philosoph ist Herr Kant, Professor in Königsberg, und sein Buch, das er über seine philosophischen Entdeckungen herausgegeben hat, heißt: Kritik der reinen Vernunft. […] Nun haben wir doch einmal etwas Bestimmtes und dürfen uns keine Vorwürfe mehr über die Philosophie machen lassen. In der That mußte das vorher, für jeden wohldenkenden Menschen kränkend seyn, sich immer spöttisch fragen zu lassen: Aristoteles hatte Vernunft, Bacon, Descartes, Leibnitz, Neuton, Wolf, Baumgarten, Reid, Beattie, Hume, Priestlei, Helvetius, Berkeley und noch eine Menge andre Männer, hatten Vernunft, welche war denn die rechte? Welches ist wohl die wahre Philosophie und die beste Metaphysik? u. d. gl. [/] Herr Kant hat uns nun von diesen Spöttereien befreyt, und wir können jetzt mit apodiktischer Gewißheit behaupten: Kants Philosophie ist die wahre, und eben so unumstößlich und sicher, als die Mathematik.26
Die Gegenüberstellung von sicherer Mathematik als Modell einer apodiktischen Wissenschaft und unsicherer Metaphysik übernimmt Heinicke von Kant.27 Auf sie bezieht sich auch ein Artikel mit dem dramatischen Titel Krieg um die Wahrheit, den Karl von Knoblauch 1787 im Grauen Ungeheur veröffentlichte und in dem es heißt: »Wirklich scheint Geometrie und Algebra, die Region der Evidenz, Metaphysik und Theologie, ein formloses Chaos zu seyn, zu welchem nie ein schöpferischer Geist sprach: es werde 25 26
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Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 2f. Vgl. auch ebd., S. 52, 54f. Heinicke: Kant, Landau 80. Die Stelle wird zitiert in Anonym: Neuste Sensationen, S. 60f. Vgl. auch Heinicke: Scheingötterei, S. 5f. Heinickes Anspielung auf Gellert bezieht sich auf dessen Gedicht Die Geschichte von dem Hute, in dem geschildert wird, wie ein Hut durch mehrere Generationen hindurch weitervererbt und dabei stets nach der aktuellen Mode verändert wird. Die letzten beiden Verse lauten: »Und, daß ichs kurz zusammen zieh,/Es ging dem Hute fast, wie der Philosophie« (Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Hg. von Ulrike Bardt/Bernd Witte. Berlin/ New York 2000, S. 63). Vgl. KrV A 4f./B 8f.; KrV B X–XVI, XXII. Zur Vorbildfunktion der Mathematik für Kants Projekt einer »künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« vgl. Norbert Hinske: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant. Stuttgart u. a. 1970, S. 115–118.
200 Licht!«28 Auf den chaotischen Streit der Philosophen beziehen sich Kants Anhänger an zahlreichen Stellen, wo immer es darum geht, ein Philosophieren zu kennzeichnen, das, unbelehrt durch Kants Vernunftkritik, im Bereich transzendenter Ideen wie denen von Gott, der Seele, dem Weltganzen oder der Freiheit etwas an positiver Erkenntnis meint erlangen zu können. Solche Erkenntnisansprüche entschieden zurückweisend, fragt zum Beispiel Jakob in den Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt: [W]o ist hier nur ein einziger Satz, dem nicht von eben so scharfsinnigen Köpfen sein Gegentheil entgegengestellt sey? Ein ewiges Gewirre herrscht unter den Meinungen der Philosophen. Alle glauben zu wissen, und könnten sich doch mit leichter Mühe überzeugen, daß keiner etwas weiß, wenn sie nur die Verschiedenheit der Meinungen in Erwägung zögen.29
Was für eine Verunsicherung das von Kant und seinen Anhängern herausgestellte Faktum des Streits der Philosophen gerade im Hinblick auf die Religion bedeuten konnte, hat Jacob Hermann Obereit in seinem Dramolett Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik der »Menschheit« in den Mund gelegt, die im Dialog mit der »Metaphysik« klagt: »Ach, ich werde von so viel und vielerley Partheyen für und wider den Glauben herumgeworfen, daß ich kaum mehr weiß, wo mich umsehen. Was Raths?«30
b)
Gerichtshof
Die Lösung, die Kant anrät, besteht in der Einsetzung eines Gerichtshofes. In struktureller Analogie zu einer bekannten Denkfigur aus Hobbes’ politischer Philosophie erklärt er, der gewalttätige Naturzustand der Vernunft, in dem sich jeder im Krieg mit jedem befinde, könne nur dann überwunden werden, wenn alle Parteien sich einer höheren gesetzgebenden Instanz unterwürfen – der Kritik der reinen Vernunft: Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren […] nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen. [/] Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen […] verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Prozeß. […] Auch nö28
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[Karl von Knoblauch:] Krieg um die Wahrheit. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 285–288, hier S. 286. Als Kritiker metaphysischer Spekulation wird Kant am Ende des Artikels explizit genannt; vgl. ebd., S. 288 Anm. Jakob: Brief an den Herausgeber, S. 229. Vgl. auch ders.: Prüfung, S. XXIIIf., 189, 191, 255; Schultz: Erläuterungen, S. 190; Reinhold: Erster Brief, S. 106; ders.: Fünfter Brief. In: TM, Mai 1787, S. 167–185, hier S. 177; ders.: Siebenter Brief. In: TM, August 1787, S. 142–165, hier S. 144; Jenisch: Vierter Versuch, S. 289. Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist, S. 13. Vgl. auch ebd., S. 38.
201 tigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgend einer Kritik dieser Vernunft selbst, und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit, und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwang zu unterwerfen […].31
Schon in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik spricht Kant von der »Auffoderung an die Vernunft«, einen »Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.«32 Aus dem Drohbild des Krieges und dem Versprechen der Friedenssicherung legitimiert sich die Selbstermächtigung der Transzendentalphilosophie als rechtsprechender und gesetzgebender Instanz.33 Der Einsatz juridischer Metaphorik im philosophischen Kontext, die Konzeption des Prozesses der Wahrheitsfindung als gerichtliches Verfahren hat eine lange vorkantische Tradition.34 Neu ist jedoch bei Kant die Konsequenz, mit der Formulierungen aus dem Bereich der Jurisprudenz die gesamte reflexive Struktur der Kritik der reinen Vernunft prägen. Entsprechend gehört die Gerichtsmetapher zu den in der Kant-Forschung am häufigsten diskutierten.35 David W. Tarbet nennt sie »the main structural metaphor of 31 32
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KrV A 751f./B 779f. KrV A XIf.; vgl. auch KrV A 740/B 768, A 787/B 815. Zur Mehrdeutigkeit des Gerichtshofmodells, die mit der Mehrdeutigkeit des Titels Kritik der reinen Vernunft (Genitivus obiectivus oder subiectivus) zusammenhängt, vgl. Toshihiro Hirata: Kants Modellwechsel im Hinblick auf die Kritik der reinen Vernunft. Vom Gerichtshofmodell zum Polizeimodell. In: Kant und die Berliner Aufklärung, hg. von Gerhardt u. a., Bd. 2, S. 748–757. Vgl. zu dieser Selbstermächtigung kritisch Röttgers: Kritik und Praxis, S. 35; ders.: Art. ›Kritik‹. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner u. a. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 651–675, hier S. 663f.; ders.: Texte und Menschen. Würzburg 1983, S. 79–81; ders.: J.G.H. Feder, S. 435; ders.: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg/München 1990, S. 510, 514–516. Vgl. die Beispiele bei Blumenberg: Paradigmen, S. 30, 35, sowie aus allgemeinerer metatheoretischer Sicht Günther Bien: Das Geschäft der Philosophie, am Modell des juristischen Prozesses erläutert. In: 9. Deutscher Kongreß für Philosophie, Düsseldorf 1969. Philosophie und Wissenschaft. Hg. von Ludwig Landgrebe. Meisenheim am Glan 1972, S. 55–77. Vgl. den Überblick bei Wilhelm van der Kuijlen: The Legal Metaphor in Kant’s Kritik der reinen Vernunft: Its Structure and Meaning. In: Kantovskij sbornik 21 (1999), S. 108–140, hier S. 109f., sowie außer der dort genannten Forschungliteratur Willi Goetschel: Constituting Critique. Kant’s Writing as Critical Praxis. Durham/London 1994, S. 120f., 123–125; Maria Chiara Pievatolo: The Tribunal of Reason: Kant and the Juridical Nature of Pure Reason. In: Ratio juris 13 (1999), S. 311–327; Ulrich Seeberg: Kants Vernunftkritik als Gerichtsprozeß. In: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Hg. von Brady Bowman. Paderborn 2007, S. 61–75; Marcus Twellmann: Der (Anti-)Juridismus der reinen Vernunft. Zur Rechtsmetaphorik bei Kant. In: Weimarer Beiträge 55 (2009), S. 413–429.
202 the Critique«,36 Peter L. Oesterreich schreibt ihr den Status einer »heuristischen Schlüsselmetapher« zu.37 In besonders auffälliger (und für ihre polemische Funktionalisierung relevanter) Weise tritt die Gerichtsmetapher in der transzendentalen Dialektik auf, deren Gedankengang sie durchgehend bestimmt: Im Streit der unversöhnlich sich gegenüberstehenden Parteien (des dogmatischen Rationalismus und skeptischen Empirismus) agiert die kritische Vernunft nach dem Vorbild eines weisen Richters und Gesetzgebers, bestellt Zeugen und Geschworene, vermeidet trügerische Advokatenbeweise, demonstriert die Nichtigkeit der konkurrierenden Besitzansprüche im Feld der Metaphysik, schafft (durch die Unterscheidung zwischen einem Reich der Dinge an sich und den empirischen Gesetzen der Erscheinung) die Voraussetzung für einen friedlichen Vergleich und deponiert die Akten des Prozesses im Archiv der menschlichen Vernunft.38 Kants juridische Metaphorik wird von seinen Anhängern mit Vorliebe aufgegriffen, wenn es darum geht, sein philosophisches Unternehmen in knapper Form zu umschreiben. So leitet Johann Schultz den Hauptteil seiner Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft mit den Worten ein, Zweck der Kantischen Vernunftkritik sei es, »die Gerechtsame zu untersuchen, auf welche sie [d. i. die Vernunft] den vermeinten Besiz ihrer metaphysischen Erkenntnisse gründet«.39 Und Matern Reuß erklärt in seiner Kampfschrift Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosophie erklären?, die Kantische Philosophie bringe die Vernunft dahin, unrechtmäßigen oder zu weit getriebenen Ansprüchen, so wie es sich für die oberste Richterin alles Rechts geziemt, freywillig zu entsagen. Hingegen sichert sie […] der Vernunft ihren kleinen rechtmäßigen, und für ihre nothwendigen Bedürfnisse völlig zureichenden Besitz gegen alle feindliche Angriffe […].40
Nicht nur als Mittel der Paraphrase greift Reinhold die Gerichtsmetapher auf, sondern zu dem polemischen Zweck, gleich zu Beginn seiner Briefe über die Kantische Philosophie die Instanzen, auf die sich das herkömm36
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David W. Tarbet: The Fabric of Metaphor in Kant’s Critique of Pure Reason. In: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), S. 257–270, hier S. 270. Auch Saner bemerkt, das Bild des Gerichtshofs tauche in der Kritik der reinen Vernunft »in Varianten so oft auf, daß man wohl sagen darf, es umfasse das ganze Werk« (Saner: Widerstreit, S. 279). Peter L. Oesterreich: Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht. Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel. In: Darstellung und Erkenntnis, hg. von Bowman, S. 45–59, hier S. 46, 48. Vgl. KrV A 423f./B 451f.; A 430/B 458; A 475f./B 503f.; A 501f./B 529f.; A 529f./ B 558f.; A 669/B 697; A 703f./B 731f. Eine systematische Kompilation der Stellen in Kants Werk (nicht nur in der Kritik), die für die Gerichtshofmetapher einschlägig sind, bietet Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 107–116. Schultz: Erläuterungen, S. 14. Die Stelle ist wörtlich zitiert bei Will: Vorlesungen, S. 94f. Vgl. auch Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 194. Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 70. Die Stelle wird in der Mainzer Rezension zitiert (vgl. Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen, 13. Mai 1789, S. 147).
203 liche Philosophieren üblicherweise beruft, für unzulässig zu erklären. Bei der Beschreibung des philosophischen Zeitgeists klagt er über die »immer lärmender und häufiger« vorgebrachten »Apellationen […] an Empfindung, an gesunden Menschenverstand, an Intuitionssinn, an Gottesgefühl u. s. w.« und denunziert sie sämtlich als »Winkeltribunale«, deren »Entscheidungen« mit den »vollgültigsten Ansprüche[n] der Vernunft« in Konflikt stünden.41 Angesichts des endlosen Streits der philosophischen Parteien in metaphysischen Fragen, vor allem in der Frage nach dem Dasein Gottes, ist nach Reinholds Ansicht eine »neue Antwort« vonnöten: Sie muß den vernünftigen Forderungen der bisherigen Partheyen Genüge leisten, ihre unrechtmäßigen Ansprüche auf immer niederschlagen, den Grund ihres Mißverständnisses, sowohl als den Vereinigungspunkt ihrer Meynungen angeben, und folglich allen ihren bisherigen Streitigkeiten auf immer ein Ende machen. […] Die Kantische Antwort erfüllt alle diese Bedingungen.42
Dass die Kantische Philosophie die Ansprüche des Gegners nicht schlechthin negiert, sondern ihnen berechtigte Momente zuerkennt, die in den Urteilsspruch Eingang finden, kann man als eine der transzendentalphilosophischen Machtstrategien ansehen, die es dem Gegner so schwer machen, kritisch an die Vernunftkritik anzuschließen.43 Die Vereinnahmung (und damit Entschärfung) der gegnerischen Position als eines notwendigen Elements im Prozess der vernunftkritischen Urteilsfindung lässt Reinhold besonders deutlich im Umgang mit Mendelssohn erkennen. Dessen Morgenstunden bezeichnet er als ein Werk, »welches die ganze Sache des dogmatischen Deismus mit jener lichtvollen Ordnung, Gründlichkeit und Präcision darstellt, die der Kritik der Vernunft ihr Amt so sehr erleichtern, und das Ende der Streitsache, die vor ihrem Gerichtshofe geführt wird, beschleunigen muß.«44
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Reinhold: Erster Brief, S. 101. Vgl. auch ebd., S. 120, sowie ders.: Vierter Brief, S. 141, wo Reinhold von den »Winkeltribunälen des Aberglaubens und Unglaubens« im Gegensatz zum »Richterstuhle der Vernunft« spricht. Reinhold: Zweyter Brief, S. 133f. Vgl. auch ebd., S. 135, wo es mit Bezug auf die streitenden Parteien der Deisten und Gläubigen heißt, dass durch die Kantische Philosophie »ihre vernünftigen Forderungen bestätiget, so wie im Gegentheile ihre unstatthaften Ansprüche abgewiesen« würden. Vgl. Röttgers: Spuren der Macht, S. 516. Reinhold: Zweyter Brief, S. 138. Vgl. auch ders.: Erster Brief, S. 117f., sowie Vierter Brief, S. 138, 141f., wo betont wird, dass der auf die Spitze getriebene Streit zwischen Pantheisten und Deisten bzw. zwischen Hyperphysikern und Metaphysikern der kritischen Auflösung schon ein gutes Stück vorgearbeitet habe. Vgl. auch Schütz’ Besprechung der Morgenstunden in der ALZ vom 7. Januar 1786, wo die mustergültige Art und Weise, in der Mendelssohn den Illusionen der dogmatischen Metaphysik Ausdruck verleihe, als die »herrlichste Veranlassung und zugleich Auffoderung zur vollständigen Kritik unsers reinen Vernunftvermögens« bezeichnet wird. Schütz zitiert hier Kants Brief von Ende November 1785. Vgl. Landau 260f. und AA X 428f.
204 Aus der Überlegenheit seines Standpunkts speist sich die gelassen-distanzierte Haltung, die der vernunftkritisch geschulte Philosoph als ein »unparteiische[r] Kampfrichter«45 im Streit der Systeme einnimmt, kann er doch gewiss sein, dass die in unkritischer Dogmatik befangenen Gegner niemals die Einsichten und Mittel haben, ihrer Sache einen endgültigen Sieg zu verschaffen: »Anstatt also mit dem Schwerte drein zu schlagen«, empfiehlt Kant, »sehet vielmehr von dem sicheren Sitze der Kritik diesem Streite geruhig zu, der für die Kämpfenden mühsam, für euch unterhaltend, und, bei einem gewiß unblutigen Ausgange, für eure Einsichten ersprießlich ausfallen muß.«46 Es handelt sich laut Kant bei dem dogmatischen Gezänk um bloße »Spielgefechte«,47 um einen Kampf von »Luftfechter[n], die sich mit ihrem Schatten herumbalgen«.48 An diese Rede knüpfen Kants Anhänger an, wenn sie den spekulativen Philosophen vorwerfen, dass sie im Bereich transzendentaler Ideen »nur immer vergebliche Luftstreiche tun«49 und »mit Windmühlen« fechten.50 Nach Kantischer Ansicht agieren die streitenden Parteien letztlich nur aus, was als Widerspruch in der Vernunft selbst angelegt ist: »Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. Denn spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauche ist an sich dialektisch. Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen in uns selbst.«51 Hier kommt, wie Kurt Röttgers betont hat, abermals ein machtstrategisches Element der Kantischen Philosophie zum Tragen, die den argumentativen Konflikt »internalisiert und überhöht zu logisch unanfechtbaren, d. h. aber auch mit traditionellen Mitteln nicht-korrigierbaren Positionen der einen Vernunft«.52 In der polemischen Zuspitzung eines Anhängers Kants: »Man streitet […] nicht wider Kants Vernunftkritik, sondern wider sich selbst wenn man dagegen ficht.«53 Häufiger wird die überlegene Position der Kantischen Philosophie in direkter emphatischer Identifikation mit der Gerichtshofmetapher zum Ausdruck gebracht. So stellt Karl Friedrich Bahrdt in seinem Kirchen- und Ketzer-Almanach von 1787 fest, Kant habe in der Kritik der reinen Vernunft »al45 46 47 48
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KrV A 423/B 451. KrV A 747/B 775. KrV B XV. KrV A 756/B 784; vgl. auch KrV A 743/B 771. Das Lächerlich-Antiquierte und Ritualhafte der dogmatischen Kämpfe unterstreicht Kant dadurch, dass er sie mit den Attributen mittelalterlicher Ritterturniere belegt (vgl. Goetschel: Constituting Critique, S. 125f.; zur Kampfplatz-Metaphorik in der Kritik der reinen Vernunft und anderen Schriften Kants vgl. auch die Belegsammlung bei Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 86–88). Schüren: Ueber die Kantische Kritik der reinen Vernunft, S. 163. Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 65. KrV A 777/B 805. Röttgers: Kritik und Praxis, S. 35. Heinicke: Scheingötterei, S. 10.
205 len Dogmatikern auf einmahl das letzte Urtheil gesprochen«.54 Und in einem Pamphlet vom gleichen Jahr leitet Samuel Heinicke seine »nach Kantischer Manier« erfolgende Prüfung Mendelssohnscher Axiome mit den Worten ein: [W]ir wollen nun doch die Mendelsohnische Philosophey einmal hervorlangen, und sie vor den Gerichtshof der reinen Vernunft treten lassen. Besonders aber wollen wir seine sogenannten Axiomen zur Probe bringen und sie dekomponiren; denn es sind nur nachgemachte und verdienen diesen Namen keinesweges: Nürnbergerwaare, womit man Wilde betrügt.55
Zur Vorstellung vom Gerichtshof gesellt sich hier die der Wareninspektion. Das gemeinsame Element, das beide Vorstellungen zu Metaphern der Vernunftkritik qualifiziert, ist der unnachgiebig prüfende Blick, der alles Trügerische entlarvt. Von diesem Blick spricht Kant zu Beginn der »Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs«: »Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen […]. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte.«56 Der inkriminierende Bezug zu Zollinspektion und Schmuggelware wird zuerst von Johann Schultz hergestellt. Seinem Fazit in den Erläuterungen zufolge »nimmt die Kantsche Critik alle metaphysischen Systeme, die bis jetzt vorhanden sind, ohne Ausnahme, als Contrebande in Beschlag«.57 An diesen in der Folge mehrmals zitierten Passus58 knüpft auch Heinicke an, wenn er den anonymen Rezensenten diverser gelehrter Zeitungen vorwirft, Mendelssohns Morgenstunden nicht gehörig nach Grundsätzen der Vernunftkritik abgeurteilt zu haben. In diesem Werk habe Mendelssohn versucht, sich vor der Vernunftkritik vorbei zu schleichen. Stopp! sollten nun freilich unsre maskirten Zollbedienten und Postbeamten gerufen haben. Coram! Es muß sich bei uns Alles visitiren und plombiren lassen. Die Taschen umgewandt! Haarbeutel hoch! Hat der Hund auch etwa ein doppeltes Fell? Keine Contrebande? Alles richtig? Aber unsre moral- und gewissenlose Mauthner, waren – bestochene After54 55 56 57
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Bahrdt: Immanuel Kant, S. 101. Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 36. KrV A 738/B 766. Schultz: Erläuterungen, S. 240. Schultzes Formulierung mag durch eine Stelle in der Vorrede der Kritik mit inspiriert worden sein, wo Kant sich über die formalen Grundsätze, die ihn beim Verfassen des Buches geleitet hätten, wie folgt erklärt: »Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen, und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht vor den geringsten Preis feil stehen darf, sondern, so bald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß« (KrV A XV). Vgl. Will: Vorlesungen, S. 115; Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 71 (zitiert in: Wirzburger gelehrte Anzeigen, 18. April 1789, S. 292). Zu weiteren Belegen vgl. Schwaiger: Matern Reuß, S. 231 Anm. 37.
206 richter, die sich den Henker um Kaufleute und Gesetze bekümmern! Nicht allein liessen sie unnütze schädliche Waare einführen, sondern posaunten sie […] auch selbst für inspirirt und unschätzbar aus […].59
Wie verhalten sich die Repräsentanten des herkömmlichen Philosophierens zu der Forderung Kants und seiner Anhänger, dass sie sich der »Sentenz der Kritik unterwürfen«?60 Die naheliegendste und häufigste Reaktion ist, Kants reine Vernunft als unzulässige und inkompetente Fehlbesetzung des philosophischen Richteramts zurückzuweisen. Bei seiner Verteidigung Herders im Teutschen Merkur, also vor der Bekehrung zur kritischen Philosophie, verwahrt Reinhold sich ganz entschieden dagegen, dass die Abstraktionen eines Kant »mit der Vernunft selbst verwechselt, für untrüglich anerkannt, und ihre Resultate für Aussprüche angenommen werden, gegen die keine weitere Appellation statt findet.«61 Kants reine Vernunft, so die hinter dieser Bemerkung stehende Ansicht, taugt nicht zur überparteilichen Richterin, da sie um die wesentliche Erkenntnisdimension der Erfahrung verkürzt ist. Verachtung gegenüber dem angemaßten Richteramt des in abstrakten Höhen schwebenden Kant spricht zur gleichen Zeit auch aus Herders Formulierung gegenüber Hamann: »Ich laße dem Hrn. Apollonius den metaphysischen kritischen Richterstuhl, auf dem er sich blähet: denn für mich ist dieser voller Dunst u. gacklichen Wolken.«62 Dass der philosophische »Gesetzgeber«63 Kant mit seinem vernunftkritischen Urteilsspruch den Ansprüchen der Erfahrung nicht ausreichend Rechnung trägt, betont auch Christian Gottlieb Selle. Gleich zu Beginn seiner Grundsätze der reinen Philosophie stellt er fest: Wenn Kant den Hader zwischen Vernunft und Erfahrung stillen will, so schließt er vielleicht einen Vertrag zwischen beiden, welcher der Erfahrung nachtheiliger ist, als alle A priori’s, die je aus der Schule der spitzfündigsten Dialecktiker gekommen sind. Wenn Kant die Gerechtsame des Räsonnements wiederum herstellt, so thut er es fast immer auf Unkosten der Erfahrung.64
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Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 33f. An späterer Stelle sind es dann die anonymen Rezensenten selbst, die als der Vernunftkritik bedürftig angesehen werden: »Man muß diese verkappten Sünder vor den Gerichtshof der reinen Vernunft citiren, nur den fürchten sie und entlaufen lieber, ehe sie davor erscheinen« (ebd., S. 64). So die mit Bezug auf Feder und Abel erhobene Forderung Kants im Brief an Schütz vom 25. Juni 1787 (AA X 490). Reinhold: Schreiben des Pfarrers zu ***, Landau 122. HB V 106 (Brief vom 14. Februar 1785). »Apollonius Philosophus« war ein Spitzname Hamanns für Kant (vgl. den Kommentar in HB XI 536). Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 2. Ebd., S. 3. Zitiert wird diese Aussage vom Frankfurter und vom Erfurter Rezensenten (vgl. Frankfurter gelehrte Anzeigen, 3. Juni 1788, S. 354f.; Erfurtische gelehrte Zeitung, 17. August 1788, S. 305f.). Der Rezensent der OALZ bekundet Sympathie für Selles Unternehmen, »die Erfahrung ganz in ihre ursprüngliche Rechte wieder einzusetzen« (OALZ, Juli 1788, Sp. 1381).
207 Selle beharrt darauf, dass die Evidenz der Sinnlichkeit und des Verstandes vor dem Richterstuhl der Vernunft gleichen Wert haben und dass die »Gesetze, nach welchen die Vernunft erkennt und richtet, […] durch nichts anders, als durch Erfahrung gegeben werden.«65 Gegen die unumschränkte Selbstherrlichkeit eines Gerichts der reinen Vernunft wehrt sich auch Feder, wenn er in seiner Schrift Ueber Raum und Caussalität betont, auf ihrem eigenen Gebiet seien Sinnlichkeit und Gefühl alleinige Richter über sich selbst.66 An anderer Stelle erklärt er den »Richterstuhl der gesunden Vernunft« zur maßgeblichen Instanz philosophischer Erkenntnis.67 Ist es für Feder, Selle, Herder und den frühen Reinhold vor allem die Erfahrungsabstinenz, die Kants reine Vernunft als oberste Richterin fragwürdig macht, so ist es für den anonymen Autor der Philosophischen Unterhaltungen hauptsächlich Kants (mit dem gemeinen Menschenverstand unverträglicher) Idealismus, der Zweifel an der Rechtmäßigkeit des vernunftkritischen Verfahrens weckt. Dass die spekulative Vernunft in Kants Antinomienlehre »laut und öffentlich […] des Hochverrathes gegen sich selbst« beschuldigt wird, dass man ihr den »Proces« macht und sie schließlich »verdamt«, kann nach der Darstellung des Verfassers nur deshalb geschehen, weil es der Idealismus ist, der sich in den Besitz des »erschlichenen Richteramtes« gebracht hat und als dessen »Sachführer« Kant agiert.68 Angezweifelt wird Kants Unparteilichkeit auch von Johann Peter Andreas Müller in seiner Rezension der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Müller sieht es als unerträglichen Widerspruch an, dass Kant behauptet, er wolle »nur Kampfrichter seyn, ob er wohl die Verfechter der guten Sache […] im Voraus verspottet« und in der Antinomie der reinen Vernunft die Thesis stets schlechter verteidige als die Antithesis.69 Insbesondere wird das Theatralische des vernunftkritischen Gerichtsprozesses, das Kant mit der Charakterisierung des Streits als eines unterhaltsamen Spektakels ja selbst unterstreicht,70 von Müller zum Anlass der Kritik genommen. Seiner Meinung nach ist die Antinomie der reinen Vernunft eine einzige Inszenierung, in der Kant in Wahrheit nicht als überparteilicher Richter, sondern als Puppenspieler fungiert: »Es versteht sich, daß, da die beyden Fechter von ihrem Kampfrichter wie Marionetten regiert werden, auch der Verfechter der Thesis keinen Streich thun könne, wozu er nicht durch den Faden von 65 66 67 68 69
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Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 67. Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 81*–83*. Ebd., S. 158. Vgl. Anonym: Der Idealist, widerlegt durch sich selbst, S. 136–141. Vgl. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 46f. Vgl. KrV A 747/B 775. Vgl. auch KrV A 853/B 881, wo Kant mit Blick auf die bisherige Geschichte der Metaphysik von einer »Bühne des Streits« spricht.
208 oben gezogen wird. Auf der einen Seite, wie auf der andern, erklingt Kantische Sprache, die ein Fremder kaum verstehen lernt.«71 Die radikalste Inversion der Kantischen Gerichtshofmetapher findet in Obereits Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik statt. Zwar wird hier die Kantische Vernunfkritik durchaus in ihrer Funktion als »Schiedsrichterin«72 bestätigt und dafür gelobt, den »unzählichen Schwierigkeiten und Streitigkeiten« in der jahrtausendealten Frage nach dem Stellenwert empirischer Erkenntnis »in grundgesetzlicher Begnügsamkeit« ein Ende bereitet zu haben.73 Doch wird sie als eine Richterin angesprochen, die selbst einem übergeordneten Gericht unterworfen bleibt: »Weil du die strengste, steifste, trockenste Maaßgeberin von allen bist, so mußt du auch selbst am strengsten geprüft, und allseitig versucht werden, eh du für allgemein vollgülltig in Gewicht, Maaß und Musterform paßiren kannst.«74 In der Frage, worin denn die bei der kritischen Rechtsprechung angewandten Maßstäbe ihrerseits fundiert sind, liegt laut Obereit der blinde Fleck der reinen Vernunft: »Die nackte Denk-Vernunft will nun ganz allein über alles herrschen und richten, sie kennt endlich ihren ganzen Umfang, aber nur ihren Realgrund nicht […].«75 Dass die Vernunftkritik selbst der Kritik bedürftig sein könnte, ist ein Gedanke, den Kant entschieden von sich weist: »[D]ieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten.« An der segensreichen Wirkung der »Regierung« dieses Gerichtshofs können laut Kant höchstens die spekulativen Philosophen selbst, als der »Pöbel der Vernünftler«, Zweifel haben.76 Der Begründungsdiskurs der kritischen Philosophie schließt aus, dass es eine Instanz gibt, die ihr gleichgestellt oder gar vorgeordnet wäre; die Gesetze, nach denen sie verfährt, können nur aus ihr selbst (anhand ihrer Bewährung als Friedensstifterin) gewonnen werden.77 Das wird auch von Kants Adepten von Anfang an betont. So mahnt Schultz im Schlussteil seiner Erläuterungen der Vernunftkritik (im »Versuch einiger Winke zur nähern Prüfung derselben«): Man abstrahire von allen bisherigen metaphysischen Systemen, und prüfe die Vernunftcritik bloß durch sie selbst, und nach ihrem eigenen Verfahren. […] Denn da die Vernunftcritik erst die Möglichkeit der Metaphysik untersucht; so könnte
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Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 47. Eingeführt wird die Theatermetapher ebd., S. 44, wo Müller die verschiedenen Abschnitte der Antinomie der reinen Vernunft als »Aufzüge« und »Auftritte« bezeichnet. Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist, S. 63. Ebd., S. 55f. Ebd., S. 55. Ebd., S. 106. KrV A 669/B 697. Vgl. Röttgers: Kritik und Praxis, S. 34f., 37, 39–41; Feger: Einleitung, S. LIII–LV.
209 wohl nichts widersinniger seyn, als wenn der Prüfer seine eigene Metaphysik, die eben von der Vernunftcritik bezweifelt wird, als ein Richtmaaß zur Beurtheilung der leztern gebrauchen wollte.78
Mit Blick auf die zahlreichen angesehenen Philosophen, die gegen Kant Stellung bezogen haben, fragt Joseph Maria von Dufresne: »[A]ber wer von ihnen konnte?, wer durfte das Richteramt übernehmen? Hr. Kant schrieb keine Kritik der Bücher und Systeme, sondern des Vernunft-Vermögens: er schrieb also über sie nicht für sie«.79 Eine solche Selbstimmunisierung gegenüber der Kritik von außen ermöglicht es den Kantianern, gegnerische Angriffe mitunter von vornherein als irrelevant abzutun, wie die Äußerung des Würzburger Philosophen Reuß gegenüber Benedikt Stattlers Anti-Kant zeigt: Der erste Gedanke, welchen der drey Bände starke Anti-Kant schon, als ich ihn in dem leipziger Meßcatalog angezeigt las, in mir erregte, war: Herr Stattler kann Kants Schriften gar nicht verstehn. Dieser Gedanke entstund aus folgendem Grunde: Wer Kants Schriften studiren und prüfen will, muß sie bloß durch sie selbst und nach ihrem eignen Verfahren prüfen, mithin von allen bisherigen Systemen abstrahiren. Diese Regel muß unausbleiblich beobachtet werden: denn Kants Critik der r. V. – von dieser muß man ja doch anfangen – untersucht erst die Möglichkeit der Metaphysik. Wie widersinnig wäre es also, wenn der Prüfer seine eigne Metaphysik, die von der Vernunftkritik bezweifelt wird, als ein Richtmaß zur Beurtheilung der letztern gebrauchen wollte. […] Nun war es mir aber gewiß, daß Herr Stattler, dessen Denkart ich aus seinen philosophischen und theologischen Schriften gar gut kenne, dieß thun werde.80
Angesichts des so selbstbewusst verkündeten Absolutheitsanspruchs der Vernunftkritik ist es erstaunlich, dass in der frühesten Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie Obereit der (soweit ich sehe) erste und einzige Autor ist, der die grundsätzliche Frage nach der Legitimation dieses Anspruchs stellt – sieht man von Hamann ab, dessen unveröffentlichte Metakritik ja schon in ihrem Titel die gleiche Frage impliziert. Herder knüpft erst über ein Jahrzehnt später daran an.81 78
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Schultz: Erläuterungen, S. 245. Vgl. auch Kants Feststellung in der Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft: »[R]eine Vernunft, wenn allererst dargetan worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält« (WA IV 120). Dufresne: Epistel, S. 28. Vgl. KrV A XII, B 27. Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 75f. Vgl. Herders Metakritik (1799): »Wenn aber Vernunft kritisirt werden soll; von wem kann sie es werden? Nicht anders als von ihr selbst; mithin ist sie Partei und Richter. Und wonach kann sie gerichtet werden? Nicht anders als nach sich selbst; mithin ist sie auch Gesetz und Zeuge. Sofort erblickt man die Schwierigkeit dieses Richteramtes« (Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan/Carl Redlich. 33 Bde. Berlin 1877–1913 [Repr. 1967/68] [im folgenden: SWS]. Bd. 21, S. 18). Zum selben Kritikpunkt vgl. in jüngerer Zeit Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 1995, S. 628.
210
c)
Königliche Herrschaft
Obereits Vorbehalte gegenüber der Kantischen Vernunftkritik als »höchste[r] Statthalterin der Vernunft«82 führen ihn zu der Äußerung: Solange die Frage der Legitimität der Vernunftkritik nicht ausgemacht sei, werde ihr »nur eine Oberhofmeisterschaft, noch ohne Thron, Krone und Scepter«, zuerkannt.83 Die Gerichtshofmetapher geht hier nahtlos in die Metaphorik politischer Herrschaft über. Im Hintergrund steht die traditionelle Vorstellung von der Metaphysik als ›Königin‹ der (natürlichen) Wissenschaften.84 Kant bezieht sich auf diese Vorstellung in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, wo er den Ansehensverlust beklagt, welcher der einstigen Königin Metaphysik in Zeiten der Locke’schen Philosophie dadurch entstanden sei, dass man ihre »Geburt« aus dem »Pöbel der gemeinen Erfahrung« ableitete. Kant macht deutlich, dass er es als seine Aufgabe empfindet, gegen diese ihr »fälschlich angedichtet[e]« Genealogie die ursprünglichen Rechte und Ansprüche der Metaphysik zu behaupten – mittels der Kritik der reinen Vernunft.85 Entsprechend stellen Kants Anhänger es als seine Leistung heraus, der Metaphysik wieder zu ihrer »monarchischen Würde« (wie Hamann in seiner Rezension ironisch formuliert)86 verholfen zu haben. So erklärt Heinicke, Kant beweise in der Kritik der reinen Vernunft »die Möglichkeit der Metaphysik, als Königin aller Wissenschaften, die wir bisher nur vergeblich gesucht und noch gar nicht gekannt haben«.87 Und Gottlieb Hufeland lobt Kant dafür, dass er die Grenzen der spekulativen Vernunft markiert habe, ohne doch (wie sonst die Gegner der Spekulation zu tun pflegten) »die wahre Philosophie von dem Thron, der ihr vermöge ihrer hohen Ankunft [sic] gebührt, zu stürzen«.88 Eine Inversion dieser Herrschaftsmetaphorik findet dagegen bei Feder statt, um Kants polemische Gegenüberstellung von erhabener Vernunftphilosophie und pöbelhafter Erfahrungsphilosophie89 zu unterlaufen. Feder weiß die allgemeinen Wahrheiten, die unmittelbar aus den Gesetzen unseres Erkenntnisvermögens entspringen, in ihrer Dignität durchaus zu würdigen und erkennt an, dass sie »auf ihre Erstgeburt und ihre nähere Verbindung 82 83 84
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Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist, S. 46. Ebd., S. 55. Zu Belegen bei Crusius, Leibniz, Mendelssohn, Kant u. a. vgl. Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 89f., 97. Vgl. auch Tetens: Kleinere Schriften, Teil 1, S. 14; Teil 2, S. 23. Vgl. KrV A IX–XI. Ähnlich stellt Kant in der transzendentalen Analytik in Abgrenzung von Locke fest, dass die reinen Begriffe a priori niemals auf erfahrungsphilosophischem Wege deduziert werden können und »einen ganz anderen Geburtsbrief, als den der Abstammung von Erfahrung, müssen aufzuzeigen haben« (KrV A 86/B 119). N III 277. Heinicke: Kant, Landau 80. Hufeland: Versuch, S. 229. Vgl. auch KrV A 316/B 373.
211 mit der Seele selbst immer einigen Vorzug, und höhern Rang im Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntniß, für sich und ihre unvermischte Descendenz behaupten mögen«. Doch sei es die Pflicht ihrer Verehrer, auch den »Nachgebornen«, d. h. den aus äußeren Anschauungen abgeleiteten Erkenntnissen, Respekt zu zollen und sie gleichfalls zur »Würde einer menschlichen Wissenschaft und Philosophie« gelangen zu lassen; zumal beide Erkenntnisarten in puncto Allgemeinheit und Notwendigkeit nur graduell verschieden seien.90 Die Nobilität der reinen Vernunft betont Kant auch und gerade auf moralphilosophischem Gebiet. In der Kritik der praktischen Vernunft münden die Ausführungen über das von sinnlichen Antrieben vollkommen unabhängige, als unbedingte Pflicht sich geltend machende Moralgesetz der reinen praktischen Vernunft in die Anrufung: »Pflicht! du erhabener großer Name […], welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt […]?«91 In dem Brief, den Johann Joachim Spalding nach der Lektüre des Buches an Kant schrieb, dankt er ihm ausdrücklich dafür, dass er das Glückseligkeitsprinzip aus der Moralphilosophie verbannt und stattdessen »die Tugend in ihrer wahren, nackten und desto ehrfurchtswürdigern Schönheit, als Recht und Gesetzmäßigkeit, auf den ihr gebührenden höchsten Thron fest gesetzt und jeden noch so liebkosenden Usurpator davon verdrängt« habe.92 Dagegen formuliert Gottlob August Tittel schon in bezug auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Vorwurf, die der reinen Vernunft zugesprochene Autorität bedeute für die sinnliche Natur des Menschen ein Zwangsregime: Herr Kant führet […] den Menschen aus seiner Natur und aus sich selbst heraus. Und wohin? In eine abgelegene, fremde, ungekannte Welt einer allgemeinen reinen Vernunft. Denkt sich diese reine Vernunft hier auf dem Thron, und lässet von diesem eingebildeten Thron, für alle ihr zugehörige Wesen – ohne einige Rüksicht auf die besondere Naturanlagen und Natureinrichtungen der verschiedenen Ordnungen dieser Wesen […] ein Allgebot ausgehen, von unbedingter und unbeschränkter Nothwendigkeit. Ist das Dichtung, oder Philosophie, oder was ist es? Kann in einem Vernunftreich ein so unerhörter Despotismus herrschen?93
Vom Vorwurf eines despotischen Vernunftkonzepts ist es nur ein kleiner Schritt zum Vorwurf eines despotischen Philosophiestils, wie er in der Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie immer wieder erhoben
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Vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 158. WA IV 209. AA X 528 (Brief an Kant vom 8. Februar 1788). Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 40f. Die Passage wird in Pistorius’ Rezension zitiert; vgl. AdB 86/1 (1789), S. 158. Hamann spricht in seiner Metakritik von einer Tendenz der reinen Vernunft zum »Katholizismo und Despotismo« (N III 284). Vgl. zu dieser Formel die Erläuterungen bei Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 258f., 263.
212 wurde – allerdings in beide Richtungen, gegenüber den Machtsprüchen Kants94 ebenso wie gegenüber der unkritischen Dogmatik der traditionellen Metaphysik.95 Beide Parteien argumentieren hier auf dem Boden des wissenschaftsmoralischen Modells der Gelehrtenrepublik, auf das an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird.96
2. Die Kantische Zäsur a)
Revolution
Die wissenschaftstheoretischen Implikationen, die mit Kants Einsetzung eines Gerichtshofs verbunden sind, hat Michel Serres zusammengefasst: »Sobald diese Instanz aufgerichtet ist, erscheinen eine Zeit und eine Wahrheit, eine Zeit des Wahren, ein Vorher und sein Nachher, eine Geschichte der Wissenschaften.«97 Der Gerichtshof der reinen Vernunft markiert nach Kantischem Selbstverständnis eine historische Zäsur, die die mangelhaften philosophischen Ansätze der Vergangenheit vom neuen, wissenschaftlich fundierten Philosophieren der Zukunft scheidet. Am radikalen Neubegründungsanspruch des Kritizismus lässt Kant keinen Zweifel, wenn er etwa zu Beginn der Prolegomena sein Publikum dazu auffordert, in der Metaphysik »alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen«.98 Von Johann Peter Andreas Müller wird Kant wegen dieses Anspruchs ironisch »der neue Philosoph« genannt.99 Die eklektische Popularphilosophie mit ihren »empirischskeptischen Erfahrungs- und Beharrungstendenzen« stand radikaler Veränderungsrhetorik eher misstrauisch gegenüber.100 »Die große Reform der Metaphysic«, so Garve 1785 in einem Brief an Nicolai, »die er [d. i. Kant] durch seine Critik vorbereiten will, wird nicht entstehen.«101 Die Überzeugung der Popularphilosophen, dass alles Philosophieren in einem Überliefe94
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Vgl. AdB 66/1 (1786), Landau 338 (Pistorius’ Rezension zu Schultzes Erläuterungen); Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XXXII; Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 3 (zitiert in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 3. Juni 1788, S. 354; Erfurtische gelehrte Zeitung, 17. August 1788, S. 305). Vgl. Jakob: Prüfung, S. 168; LB III 295f. (Lichtenberg über Meiners in einem Brief an Bürger); ALZ, 5. April 1787, Landau 535 (Kraus’ Rezension zu Meiners). Vgl. auch die Belege bei Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 93f. Vgl. unten Kap. III.5.e). Michel Serres: Vorwort. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Hg. von Michel Serres [frz. 1989]. Frankfurt a. M. 1994, S. 11–37, hier S. 27. WA III 113. Zu Kants Abwertung der philosophischen Tradition vgl. Saner: Widerstreit, S. 226f. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 5 (Rezension zur Kritik der reinen Vernunft). Schmidt-Biggemann: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen, S. 8. Brief vom 9. Januar 1785, zitiert nach Schulz: Christian Garves Briefwechsel, S. 264.
213 rungszusammenhang stehe, äußert sich in dem immer wieder bemühten und vielfältig variierten Nachweis, dass auch Kants System so neu gar nicht sei.102 Von den Anhängern Kants wird der Neubegründungsanspruch der Kritik der reinen Vernunft hingegen energisch bekräftigt. Kants Werk, verkündet Schultz in den Erläuterungen, zeige »mit apodictischer Gewißheit, nicht nur, daß alle bisherige Systeme lauter Sophisterey und leerer Dunst sind, sondern es entdeckt auch den Weg, auf welchem wir endlich einmal zu einer Metaphysik kommen können, die zuverläßig und für unsere Vernunft vollkommen befriedigend sey.«103 Reinhold erklärt im ersten seiner Briefe über die Kantische Philosophie alle bisherigen Anstrengungen in der Metaphysik für gescheitert, um im weiteren Verlauf der Abhandlung die Hoffnung auf eine »neue Metaphysik« in Form einer »neuen Wissenschaft« an Kant zu knüpfen.104 Rehberg stellt fest, durch Kants Vernunftkritik werde »zuerst bestimmt festgesetzt, was Metaphysik leisten könne und solle«;105 und Matern Reuß beginnt einem zeitgenössischen Bericht zufolge seine erste Kant-Vorlesung in Würzburg mit den Worten: »Was ich bisher gelehrt habe, das seht als nichtig an. Jetzt erst will ich euch wahre Philosophie lehren.«106 102
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Laut Meiners zeigt der Beifall für Kant »eine traurige Unwißenheit in der Geschichte der ältern, und neuern Sophisten und Zweyfler« (Meiners: Grundriß der Seelenlehre, S. XVI; vgl. auch ebd., S. XVIII). Auch Feder bestreitet die Neuheit des vernunftkritischen Ansatzes, indem er ihn der Tradition der Skepsis zuordnet (vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. XXIVf., sowie dazu zustimmend Flatts Rezension, Landau 655). Die Lehre von den apriorischen Formen des Anschauens und Denkens findet Feder bei Platon und Leibniz vorgebildet (vgl. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 17f., 21f.); Kants Freiheitsbegriff sieht er als weitgehend identisch mit dem der Stoiker an (vgl. Philosophische Bibliothek 1 [1788], S. 191). Ebenso kann Tittel in Kants Dualismus von freiem Vernunftwillen und sinnlichen Begierden »nichts neues« entdecken (Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 82). Die Kategorienlehre charakterisiert er als ein verstaubtes Stück Aristotelischer Philosophie, und mit Stellen aus Reusch und Baumgarten will er belegen, dass auch die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ein alter Hut sei (Tittel: Kantische Denkformen, S. 1, 8, 70). Gereizt fordert Flatt in seiner Rezension zu Wills Vorlesungen, es solle doch endlich einmal jemand deutlich zeigen, »was denn eigentlich Neues in der Kantischen Critik enthalten sei« (Tübingische gelehrte Anzeigen, 29. Mai 1788, S. 343). Schultz: Erläuterungen, Vorrede. Schütz beginnt seine Besprechung in der ALZ mit dem Zitat dieser Stelle (vgl. Landau 147). Nach der Lektüre der Rezension schreibt Reimarus an Mendelssohn: »So haben wir also umsonst gearbeitet und mögen uns nur mit der schadenfrohen Voraussehung schmeicheln, daß über 50 Jahre oder weniger wieder ein anderer Metaphysiker Herrn Kants Vorstellungen für leeren Dunst erklären werde« (Brief vom 2. Oktober 1785, JA XIII 302). Reinhold: Erster Brief, S. 109, 110. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 69. Vgl. auch Jakob: Prüfung, S. XLIIIf.; Born: Versuch, S. 124–126. Anonym: Apologie für Professor Berg wider die Beschuldigungen im Argus. In: AntiArgus 2 (1803), S. 1–86, hier S. 32. Verfasser des Aufsatzes ist vermutlich Berg selbst. Vgl. Schwab: Franz Berg, S. 35 Anm.; vgl. auch die Wiedergabe des Zitats (ohne Quellenangabe) ebd., S. 375.
214 Indem Kants Modell des Gerichtshofs in die Abfolge philosophischer Entwürfe das »Zeichen der Geschichtlichkeit« im Sinne eines Davor und Danach einträgt,107 zieht es eine weitere Metapher aus dem politisch-juridischen Bereich nach sich: Revolution.108 Anhänger wie Gegner Kants bedienen sich dieses Ausdrucks, um die Zäsur zu beschreiben, die die Vernunftkritik markiert. So bezeichnet Friedrich Gottlob Born in seinem ersten Brief an Kant dessen Schriften als Werke, »welche die wichtigsten Revolutionen im philosophischen Staate erwarten laßen«.109 Pistorius konstatiert, dass »das Reich der Philosophie schon seit einiger Zeit in eine traurige, verwirrende Anarchie gerathen [war], nachdem Wolf schon vorlängst, und etwas später Leibnitz selbst vom Throne gestoßen worden«. Für Kants Übernahme des »erledigten Thrones« benutzt auch er den Ausdruck »Revolution«.110 Reinhart Koselleck hat die neuzeitliche Entwicklung des Begriffs der Revolution skizziert: von einem transhistorischen Begriff, der den natürlichen Kreislauf der sich abwechselnden Verfassungsformen beschreibt, hin zu einem historischen Zielbegriff, der mit unterschiedlichsten Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen gegenüber einer als offen gedachten Zukunft imprägnierbar ist.111 Die frühere Bedeutung einer quasi-naturgesetzlichen zirkulären Bewegung (der Begriff entstammt ja der Astronomie und bezeichnet ursprünglich die Kreisbahn der Planeten) überwiegt in einem Brief Kants aus dem Jahr 1765, in dem er sich und seinen Briefpartner Lambert über die philosophische Seichtigkeit des gegenwärtigen Zeitalters mit der Hoffnung hinwegtröstet, dass sie bereits den Keim der Besserung in sich trage: 107
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Stephan Pabst: Vollständigkeit und Totalität. Die Allgemeine Literatur-Zeitung und die Ordnung des Wissens um 1800. In: Organisation der Kritik. Die Allgemeine LiteraturZeitung in Jena 1785–1803. Hg. von Stefan Matuschek. Heidelberg 2004, S. 55–76, hier S. 69. Zwar ist die Verwendung des Ausdrucks ›Revolution‹ zur Bezeichnung einschneidender Veränderungen in der Wissenschaft (die sich in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisen lässt) grundsätzlich nicht als bloße Übertragung aus dem politischen Bereich anzusehen; beide Verwendungstraditionen entwickeln sich zum Teil parallel. Häufig werden jedoch (wie auch die beiden folgenden Zitate zeigen) bei der Verwendung auf wissenschaftlichem Gebiet zugleich Vorstellungen aus der politischen Sphäre aktualisiert, zum Teil mit bedeutungsintensivierender Wirkung. Vgl. Franz Wilhelm Seidler: Die Geschichte des Wortes Revolution. München 1955 (zum Zusammenhang von wissenschaftlicher und politischer Verwendung bes. S. 154, 157). AA X 444 (Brief vom 7. Mai 1786). AdB 80/2 (1788), S. 463f. (Rezension zu Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre). Vgl. Reinhart Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 67–86 [u.d.T. »Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie« auch in: Revolution und Gesellschaft. Zur Entwicklung des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. Hg. von Helmut Reinalter. Innsbruck 1980 (Vergleichende gesellschaftspolitische und politische Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 1), S. 23–33], hier S. 69–76.
215 Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nöthig, daß die alte sich selbst zerstöhre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die iederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hofnung, daß die so längst gewünschte große revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet sey.112
In der Auseinandersetzung um die kritische Philosophie 20 Jahre später dominiert die dynamische Aufladung des Begriffs ›Revolution‹ zu einem Programmbegriff, der den Anspruch Kants, die Philosophie in Absetzung von allen bisherigen Systemen völlig neu zu begründen, verkündet und untermauert. Allerdings ist es nicht Kant selbst, der zuerst den Revolutionsbegriff in dieser Weise gebraucht – obgleich es nicht an Belegen dafür fehlt, dass er mit der Fertigstellung der Kritik der reinen Vernunft von Anfang an die Erwartung verband, die Philosophie auf einen ganz neuen Weg zu bringen. So zeigt er sich in einem Brief an Marcus Herz vom Mai 1781 überzeugt, dass seine Schrift »sie mag stehen oder fallen nicht anders als eine gänzliche Veränderung der Denkungsart« in der Metaphysik hervorbringen werde.113 Und in der Einleitung der Prolegomena erklärt er, sein Buch werde die Einsicht befördern helfen, »daß eine völlige Reform, oder vielmehr eine neue Geburt« der Metaphysik »nach einem bisher ganz unbekannten Plane, unausbleiblich bevorstehe«.114 Die Rede von Verfall und Wiedergeburt115 offenbart, dass Kants Denken auch jetzt noch von einem zyklischen Modell bestimmt ist, innerhalb dessen der Vernunftkritik eher die Rolle einer Geburtshelferin zugewiesen wird, als dass sie selbst mit dem erwarteten Aufschwung eigentlich identifiziert würde. Es ist der ALZ-Redakteur Christian Gottfried Schütz, der zum ersten Mal den Ausdruck »Revolution« auf Kants Philosophie anwendet, um seine Leser mit Nachdruck auf deren Innovationsgehalt aufmerksam zu machen. Im Februar 1785 teilt er Kant mit, demnächst werde in der ALZ anlässlich der Besprechung von Schultzes Erläuterungen eine »Darstellung der Revo112
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AA X 57 (Brief an Lambert vom 31. Dezember 1765). Vgl. Reinhard Brandt: Zum Streit der Fakultäten. In: Neue Autographen und Dokumente, hg. von Brandt/Stark, S. 31–78, hier S. 74f. Anm. 31. Auf einen zyklischen Revolutionsbegriff bezieht sich auch Mendelssohn im 21. Literaturbrief (1759), wo er im Zusammenhang mit dem Verfall der Metaphysik von der »Revolution in der Weltweisheit« spricht und damit auf die allgemeine Tatsache abhebt, dass »auf dem Flor einer jeden Wissenschaft […] gemeiniglich ihr naher Fall zu folgen pflegt« (JA V/1 13). Vgl. auch noch den Vorbericht zu den Morgenstunden, wo im Zusammenhang mit der anhaltenden Krise der Metaphysik Kant als derjenige Philosoph genannt wird, der möglicherweise in der Lage sei, »dem Rade einen Schwung zu geben, um dasjenige wieder empor zu bringen, was durch den Zirkellauf der Dinge zu lange ist unter die Füße gebracht worden« (JA III/2 5). AA X 269 (Brief vom 11. Mai 1781). WA III 115. Vgl. auch WA III 252. Vgl. WA III 244.
216 lution, die die Metaphysik Ihnen zu danken hat erscheinen«.116 Diese Ankündigung wird in der Anzeige der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wiederholt, welche Schütz im April 1785 in die ALZ einrücken ließ. Sie setzt mit einem Fanfarenstoß ein: Mit Hn. Kant’s Critik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erschien, ist eine neue Epoche der Philosophie angegangen. Wir wissen sehr wohl, daß das viel gesagt ist, behalten uns aber vor, es bey einer andern Gelegenheit zu beweisen. Noch wird dieses tiefsinnige Werk von den besten Köpfen der Nation studirt; noch ist es als neu zu betrachten; die Revolution, die es stiften wird, und stiften muß, ist nur erst im Anfangen begriffen.117
Am Schluss der Anzeige gedenkt Schütz mit Blick auf Kants Philosophie nochmals des »novi rerum ordinis, der sich in der Philosophie angefangen«, und bekräftigt erneut das Vorhaben, künftig eine »vollständige Geschichte« davon in der ALZ zu liefern.118 Auch die Rezension zu Platners Aphorismen, die kurz darauf erschien, wird von dem mutmaßlichen Autor Schütz dazu genutzt, für die Kritik der reinen Vernunft mit der Versicherung zu werben, dass dieses Buch »die heilsame Revolution, um derentwillen es geschrieben ist, befördern und zu Stande bringen werde«.119 In seiner Untersuchung der Gründe, die für den Erfolg der Kantischen Philosophie ausschlaggebend waren, zitiert Pistorius drei Jahre später Schütz’ Ausrufung eines novus ordo rerum als Beispiel für den übertrieben enthusiastischen Ton, mit dem manche Journale die Kantische Philosophie angepriesen hätten. »Wer wollte, wenn die Erwartung so hoch gespannt wird, sich nicht herbey drängen, um unter den Kennern und Bewunderern einer so erhabenen, so viel versprechenden Philosophie nicht der letzte zu seyn?«120 Die fanalartige Wirkung, die von Schütz’ Charakterisierung der Kantischen Philosophie in der ALZ ausging, betont der Kant-Gegner Johann Christoph Schwab noch 15 Jahre später, wenn er mit Bezug auf die oben zitierte Stelle aus der Anzeige der Grundlegung feststellt, sie sei damals ein »Signal für die besten Köpfe der Nation« gewesen, in den »Revolutions-Ton« einzustimmen.121 Dieser »Revolutions-Ton« machte sich im Anschluss an Schütz schnell unter den Anhängern Kants breit. Schon im Juni 1785 ist in den Gothaischen gelehrten Zeitungen von der »Revolution« die Rede, die die Philosophie 116 117 118 119 120 121
AA X 399 (Brief vom 18. Februar 1785). ALZ, 7. April 1785, Landau 135. Ebd., Landau 139. ALZ, 2. September 1785, Landau 199. AdB 80/2 (1788), S. 463 (Rezension zu Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre). Johann Christoph Schwab: Vergleichung des Kantischen Moralprincips mit dem Leibnitz-Wolffischen. Berlin/Stettin 1800, S. VIII. Den Hinweis auf die Stelle entnehme ich Schröpfer: Kants Weg, S. 400. Zur Polemik Schwabs gegen Kant und die ALZ vgl. ebd., S. 396–426.
217 »durch die Bemühungen eines treflichen Kants erfahren hat«.122 Anton Joseph Dorsch erklärt im Oktober desselben Jahres im Mainzer Magazin der Philosophie und schönen Literatur, er sehe, unter dem Vorbehalt einer genaueren Prüfung des Kantischen Systems, »mit Vergnügen […] der Revoluzion entgegen, die es, nach der Weissagung so vieler Rezensenten stiften wird«.123 Jakob bemerkt in der Vorrede zu seiner Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden: »Daß die Kritik der reinen Vernunft der ganzen Philosophie eine Revolution verkündige und ihr eine ganz andere Wendung geben müsse, ist leicht einzusehen«.124 Reinhold betrachtet die von ihm zu Beginn der Briefe über die Kantische Philosophie geschilderten Konflikte zwischen den verschiedenen philosophischen Parteien als »zuverlässige Vorbothen einer der weit aussehendsten und wohlthätigsten Revolutionen […], die sich je in der gelehrten und moralischen Welt zugleich zugetragen haben«125 – natürlich zielt die Formulierung, wie im weiteren Verlauf der Untersuchung klar wird, auf das Auftreten der Kantischen Vernunftkritik. Bürger jubelt in seinen Vorlesungen über die Kantische Philosophie, die Kritik der reinen Vernunft verursache »in dem Gange unserer ganzen Philosophie eine Revolution, die unstreitig die größte seit der ganzen Zeit ist, da philosophiert worden ist«.126 Zu den Autoren, die sich Schütz’ Rede von der Revolution anschlossen, gehört nicht zuletzt auch Kant selbst. Schütz’ emphatische Betonung des revolutionären Gehalts der Kantischen Philosophie war es vermutlich, welche Kant dazu bewog, in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft seinen innovativen Anspruch noch selbstbewusster als zuvor vorzutragen und sich dabei nun seinerseits des Begriffs der Revolution zu bedienen.127 Erst in der Vorrede zur zweiten Auflage nämlich findet sich die programmatische Formulierung Kants, dass er eine »Revolution der Denkart« analog derjenigen in den Naturwissenschaften anstrebe, um der Metaphysik zu gleicher apodiktischer Sicherheit zu verhelfen.128 Unter den Anhängern Kants wurde der »Revolutions-Ton« dadurch natürlich zusätzlich angeheizt. In der Diskussion des Jahres 1788 ist die Rede von der Kantischen ›Revolution‹ 122
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Gothaische gelehrte Zeitungen, 8. Juni 1785, Landau 144 (Rezension zu Ulrichs Institutiones). Magazin der Philosophie und schönen Literatur, 3. Heft (1785), Landau 226. Jakob: Prüfung, S. II. Vgl. auch ebd., S. XXIV, 4. Reinhold: Erster Brief, S. 105. Vgl. auch ebd., S. 125. In seinem ersten Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 spricht Reinhold von der durch die Begegnung mit der Kantischen Philosophie ausgelösten »heilsamen Revolution […], die seit zwei Jahren in meinem Gedankensysteme vorgegangen ist« (AA X 498). Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 3f. Vgl. auch ebd., S. 19f. Vgl. Schröpfer: Kants Weg, S. 272f.; dieselbe Vermutung formuliert zuvor schon Reinhard Brandt: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Klassische Werke der Philosophie. Von Aristoteles bis Habermas. Hg. von Reinhard Brandt/Thomas Sturm. Leipzig 2002, S. 132–160, hier S. 137. Vgl. KrV B X–XIX, XXII.
218 (manchmal abgeschwächt zu ›Reform‹) allgegenwärtig;129 alternativ wird Kant auch als der ›große Reformator‹ der Philosophie bezeichnet.130 Den zwei Varianten gemäß, in denen der historische Zielbegriff der Revolution im späten achtzehnten Jahrhundert gebraucht wird, einer positivbefreienden und einer negativ-perhorreszierten Version,131 bedienen sich nicht nur Kants Anhänger, sondern auch seine Gegner dieses Begriffs, um die durch die Vernunftkritik markierte philosophische Zäsur zu kennzeichnen. Abgehoben wird dann nicht auf den konstruktiven Aspekt einer Neuordnung der Dinge, sondern auf den bedrohlichen Aspekt einer aufgelösten Ordnung. In diesem Sinne äußert sich Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen, wenn er Ulrichs Institutiones als wohltuendes Korrektiv lobt in einem Zeitalter, »in dem die alles zermalmende Kantische Philosophie ihr Haupt empor zu heben beginnet, und […] eine allgemeine Revolution in der philosophischen Welt hervorzubringen droht«.132 In der negativen Inversion der Revolutionsmetapher wird die politische Bedeutungssphäre mit den Konnotationen von Chaos und Gewalt stärker aktualisiert.133 Einen Schritt weiter geht Christoph Meiners, wenn er in der Vorrede zum Grundriß der Seelen-Lehre nicht nur eine metaphorische, sondern eine reale Beziehung zwischen philosophischem und staatlichem Umsturz herstellt. Meiners beschließt seine Vorrede mit dem impliziten Vorwurf an die Adresse der Kantianer, dass ihr herrschsüchtiger, rücksichtsloser, nicht um die Folgen der eigenen Lehre bekümmerter Philosophiestil entsprechende Tendenzen im Schrifttum der Zeit befördere und damit der »allgemeinen Revolution« das Feld bereiten helfe, »womit Europa bedroht wird«.134 Die kausale Verknüpfung von Kantischer und politischer Revolution, die Meiners, soweit ich sehe, als erster vornimmt, bekommt erst mit dem Ausbruch der Französischen Revolution allgemeine Virulenz, also jenseits des
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Vgl. Biesters Brief an Kant vom 4. März 1788 (AA X 531); ALZ, 14. März 1788, Sp. 691 (Reinholds Rezension zu Tiedemanns Ueber die Natur der Metaphysik); Will: Vorlesungen, unpaginierte Vorrede (zitiert in den Besprechungen in: OALZ, August 1788, Sp. 1545; ALZ, 10. Januar 1789, Sp. 76); ALZ, Juli 1788, Sp. 169 (Rezension zu Spaldings Vertrauten Briefen); OALZ, September 1788, Sp. 1785 (Rezension zu Kants Kritik der praktischen Vernunft); OALZ, Dezember 1788, Sp. 3219; Dufresne: Epistel, S. 44. Vgl. Dorsch: Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit, S. 78; Nürnbergische gelehrte Zeitung, 1. April 1788, S. 233 (Rezension zu Wills Vorlesungen). Vgl. Winfried Schulze: Einführung in die Neuere Geschichte. 4., überarb. und aktual. Aufl. Stuttgart 2002, S. 73. Tübingische gelehrte Anzeigen, 24. April 1786, Landau 310. Als bedrohlich und gewalttätig wird die Kantische Revolution auch in Pistorius’ Rezension zu Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform charakterisiert (vgl. AdB 86/1 [1789], S. 153). Zur gemäßigten, überwiegend revolutionskritischen politischen Haltung der Popularphilosophen vgl. Batscha: Despotismus; Brandt: Feder und Kant, S. 256f.; Altmayer: Aufklärung, S. 411–556. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XXXV.
219 hier untersuchten Zeitraums.135 Soviel sei hier nur festgestellt, dass die Ereignisse in Frankreich zunächst nichts an der Ambivalenz des Revolutionsbegriffs, seiner gegensätzlichen polemischen Applizierbarkeit im philosophischen Kontext änderten. Von den Anhängern Kants wird der Ausdruck weiterhin, vielleicht noch entschiedener als zuvor dazu benutzt, das Fortschrittliche der Kantischen Philosophie herauszustellen. So wird Feders gegen Kant gerichtetes Plädoyer in der Philosophischen Bibliothek für ein maßvolles, am Bestehenden festhaltendes, sich auf übereinstimmende Erfahrung gründendes Philosophieren vom Rezensenten der OALZ – zehn Tage nach dem Sturm auf die Bastille – wie folgt zurückgewiesen: »Wo wären wir in der Philosophie, hätte jener Friedensgrundsatz immer entscheidend gegolten? Die Philosophie muß eben sowohl wie die Staaten und die Natur ihre erschütternden Revolutionen haben […].«136 Für die Gegenseite sei Christian Garve zitiert, bei dessen Parallelisierung von politischer und philosophischer Revolution das Moment der Zerstörung im Mittelpunkt steht. Im November 1789 schreibt Garve an Weiße, er sehe in dem, was in Frankreich vorgehe, »wie in unsrer wissenschaftlichen Revolution, bisher nur noch Zerstörung, nirgends etwas Aufgebautes. Zu dem erstern haben die Menschen Kraft und Verstand; dieses, scheint es, ist über ihr Vermögen«.137
b)
Krise und Heilung
Garve sieht die Revolution in Frankreich, wie er an gleicher Stelle erklärt, als Zeichen einer »allgemeinen Krisis […], in welcher sich Europa befindet«.138 Der enge Zusammenhang von Krise und Revolution im Denken des späten achtzehnten Jahrhunderts ist seit Reinhart Kosellecks einschlägiger Untersuchung bekannt.139 Dieser Zusammenhang gilt, wie die Diskussion um Kant zeigt, nicht nur auf politischem, sondern auch auf philosophischem Gebiet. Selle leitet seine Grundsätze der reinen Philosophie mit der Bemerkung ein: »Die Philosophie scheint sich jetzt in einer Krise zu befinden, von deren glücklichen Endigung der Flor und das Wachsthum dieser Wissenschaft abhängt«, um sodann über Kants Lösungsvorschlag festzustellen: »[S]o wichtig und heilsam die durch Kant erregte Revolution der Philoso135
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Vgl. dazu die allgemeinen Bemerkungen bei Beiser, der festhält, dass einerseits Abscheu über die Ereignisse in Frankreich die Feindseligkeit gegenüber der Kantischen Philosophie verstärkt habe, dass die Revolution andererseits aber auch gerade unter den jüngeren Leuten stark zur Popularität Kants beigetragen habe, wie das etwa für die Studenten des Tübinger Stifts dokumentiert ist (Beiser: Fate of Reason, S. 197f., 329f. Anm. 1). OALZ, 24. Juli 1789, Sp. 164. Garve: Briefe an Weiße, 1. Teil, S. 380f. (Brief vom 14. November 1789). Ebd., S. 380. Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 71992, zum Beispiel S. 105, 114f., 132–134.
220 phie seyn kann, so wenig positiver Werth ist bis jetzt der Philosophie daher erwachsen, und so wenig scheinen mir die dazu angewandten Mittel zum fortdauernden Wohl der Wissenschaft zu gehören.«140 Die Kantische Revolution markiert einen kritischen Punkt, an dem über Wohl und Wehe des Patienten Philosophie entschieden wird – deutlich schwingt beim Charité-Arzt Selle die medizinische Bedeutung des Begriffs der Krise mit.141 Mit der Rede von einer hinfälligen Metaphysik folgt Selle den Vorgaben Kants, der in der Kritik der reinen Vernunft konstatiert hatte, dass die die bisherige Philosophie kennzeichnende Alternative von skeptischer Resignation und dogmatischem Trotz den »Tod einer gesunden Philosophie« und die »Euthanasie der reinen Vernunft« bedeute.142 Eindringlich ruft er gegen Ende der Prolegomena seine Zeitgenossen zur Prüfung des transzendentalphilosophischen Lösungsansatzes auf, stünden doch inzwischen »die Sachen der ganzen spekulativen Philosophie so, daß sie auf dem Punkt sind, völlig zu erlöschen«.143 Die negative Diagnose wird nicht nur auf Metaphysik als ganze bezogen, konkret richtet sie sich vor allem gegen das philosophische Gebrechen der Schwärmerei. In den Vorarbeiten wie auch in den Prolegomena selbst bezieht Kant sich auf die Vernunftkritik als ein anti-dogmatisches ›Gegenmittel‹, welches die philosophischen Köpfe von Idealismus und Schwärmerei ›kuriert‹.144 Ähnlich hatte er schon zuvor die Vernunftkritik als ein »wahres Katarktikon« bezeichnet, welches »den Wahn, zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserei, glücklich abführen« werde.145 Die bei Kant angedeutete medizinische Metaphorik, die in der Philosophie durchaus Tradition hat,146 wird zum Teil von seinen Anhängern weiter 140
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Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 1, 3 (zitiert in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 3. Juni 1788, S. 353f.). Der OALZ-Rezensent empfiehlt Selles Buch jedem, »der sich mit der gegenwärtigen Krise der Philosophie bekannt machen will«, bei der er eine Zuschauerposition bevorzugt: »Das Beste dabey wird wohl seyn, die ganze Sache ihrem eigenen Gange zu überlassen, und ruhig abzuwarten, auf welcher Seite der philosophische Phönix aus seiner Asche hervortreten, und in welcher Gestalt er erscheinen werde« (OALZ, Juli 1788, Sp. 382, 381). Zur Begriffsgeschichte vgl. Koselleck: Kritik und Krise, S. 197f., 224f. KrV A 407/B 434. Die Stelle wird zitiert in Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. 130f. WA III 260. Vgl. AA XXIII 54, 58; WA III 156f. Zur Pathologisierung der Schwärmerei in der Aufklärung vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, zum Beispiel S. 197, 199f., 204, 206. KrV A 486/B 513 (die Akademie-Ausgabe emendiert: »Kathartikon«). Zum bis auf Cicero zurückreichenden Topos von der Philosophie als medicina mentis vgl. den Kommentar in: Ehrenfried Walther von Tschirnhaus: Medicina mentis sive artis inveniendi praecepta generalia [1695]. Übers. und kommentiert von Johannes Haußleiter. Leipzig 1963 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 1), S. 48 Anm. 6; sowie Jean-Paul Wurtz: Introduction. In: Ehrenfried Walther von Tschirnhaus: Médecine de l’esprit ou préceptes généraux de l’art de découvrir. Übers. und kommentiert von JeanPaul Wurtz. Paris 1980, S. 5–32, hier S. 19f. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor allem Arbeiten zur Logik und zur Vorurteilskritik als »medicina mentis« konzipiert (vgl. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, S. 9; Werner Schneiders: Aufklärung und Vor-
221 ausgefaltet. In der Vorrede der Prüfung pathologisiert Jakob den Anspruch der herkömmlichen Metaphysik, Erkenntnis von übersinnlichen Gegenständen zu haben, als eine Schwärmerei des Verstandes, für die es »keinen andern Arzt« gebe als den Verstand selbst, »indem er eine scharfe Kritik über seine Kräfte anstellt«.147 Für Dufresne ist die »kantische Heilart« die einzig adäquate Antwort auf die »Krankheiten der Metaphysiker und Idealisten«.148 Auch Born betrachtet alle Versuche anderer Ärzte, die Metaphysik zu heilen, als vergeblich: Bey der gefährlichen Krisis, in welcher sich die bisherige angebliche Metaphysik durch die Operation der Kritik der reinen Vernunft, der sie sich unterwerfen müssen, leider! befindet, hat es nicht an gutwilligen Aerzten gefehlt, die ihrer Schwachheit aufzuhelfen, und, Trotz dem bereits eingetretenen, ihr den nahen, unvermeidlichen Tod ankündigenden Hippokratischen Gesicht, dieselbe dennoch durch allerhand Mittel zu retten gesucht haben.149
Born scheint die Ironie zu entgehen, dass seiner Variation der medizinischen Metapher zufolge die Operation der Vernunftkritik zum Tod des Patienten führt. Eher ungewollt bricht in dieser Formulierung der destruktive Charakter der Kantischen Kritik gegenüber der herkömmlichen Metaphysik durch.150 In der Inversion der medizinischen Metapher wird die Kantische Philosophie von ihren Gegnern als ein untaugliches Heilmittel für die Gebrechen der Metaphysik bezeichnet – ein »Opiat, das den Schmerz stillt, ohne ihn eigentlich zu heben«, nennt Weishaupt Kants Auflösung der Antinomien der Vernunft151 – oder aber selbst zur Krankheit erklärt. Selle etwa erläutert im Anschluss an die oben zitierte Stelle die zweifelhaften Auswirkungen der Kantischen Revolution auf die Krise der Metaphysik wie folgt: »So kann ein Fieber veraltete Uebel heilen, aber das Fieber gehört deswegen nicht zur Gesundheit.«152 Schon zuvor hatte Johann August Heinrich Ulrich in seiner Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität dem ›Kantischen Fieber‹ die Ausmaße einer Epidemie zugeschrieben. Zu Beginn des Artikels charakterisiert er die momentan unter den jungen Leuten grassierende Begeisterung für Kant als eine »Periode der Convulsionen und eines ansteckenden Veits-Tanzes«, in der kühle Beurteilungen der Vernunftkritik wie diejenige Feders nur nützlich sein könnten. Ulrich schließt die Besprechung mit den Worten: »Wir
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urteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart/Bad Cannstatt 1983 [FMDA, Abt. 2, Bd. 2], S. 87). Vgl. auch beim vorkritischen Kant AA II 310 (Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/66), AA XVI 13 (Refl. 1573). Jakob: Prüfung, S. XXXIII. Dufresne: Epistel, S. 45 Anm. Born: Versuch, S. 131. Vgl. Röttgers: Kritik und Praxis, S. 71. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 91f. Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 3 (zitiert in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 3. Juni 1788, S. 354; Erfurtische gelehrte Zeitung, 17. August 1788, S. 305).
222 wollen nur febrem Kantianam […] erst austoben lassen, da es doch nicht tödlich ist. Dann schlägt die Kur bey unsern jungen Herren desto besser an.«153 Die Bedenken gegenüber den gesundheitlichen Auswirkungen der Kantischen Philosophie bleiben wiederum nicht auf die metaphorische Ebene beschränkt. Schon Garve machte sich laut dem Bericht eines Zeitgenossen nach der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft ernsthafte Sorgen um die eigene Konstitution wie um die des Verfassers.154 Wiederum ist es Meiners, der die Dramatisierung am weitesten treibt, um eindringlich vor den gefährlichen Folgen des Studiums der Kantischen Philosophie zu warnen. In der Vorrede zum Grundriß der Seelen-Lehre berichtet er, dass in seiner Göttinger Umgebung hoffnungsvolle Jünglinge waren, die Hrn. Kants Kritik von den nützlichen Wißenschaften, denen sie sich widmen sollten, eine Zeitlang ganz abzog, oder denen sie sogar die Ruhe ihres Gemüths, und wahrscheinlich noch mehr, als diese raubte. Einer dieser Jünglinge wurde durch die Dunkelheit, die in Hrn. Kants letzten Schriften herrscht, und durch die ihm unauflöslichen Zweyfel gegen Wahrheiten, auf welche er bisher Tugend und Glückseeligkeit gegründet hatte, so gefoltert, daß er selbst an der Wirklichkeit seiner Empfindungen zu zweyflen anfing, und zuletzt in eine förmliche Verrücktheit fiel.155
Die Mitteilung von dem verrückt gewordenen Göttinger Studenten hatte Sensationswert, sie wurde in der Diskussion um die Kantische Philosophie häufig aufgegriffen und zitiert.156 Insgesamt schadete Meiners damit aber weniger der Kantischen Sache als sich selbst. Denn die Autoren und Rezensenten, die sich auf die Anekdote bezogen, taten dies meist zu dem Zweck, 153
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Jenaische gelehrte Zeitungen, 30. April 1787, Landau 572, 576. Vgl. dazu auch Reinholds verärgerten Kommentar in seinem Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 (AA X 499). »Ich glaube gewiß, wenn ich diese Schrift geschrieben hätte, ich wäre von Sinnen gekommen, und ich begreife nicht, wie sie einer hat schreiben können, ohne von Sinnen zu kommen. Ich wünsche, ich hätte alle metaphysische Gedanken aus meinem Kopfe; denn es ist wirklich non operae pretium [eine Arbeit ohne hinlänglichen Lohn], wenn man so tief nachdenkt daß der Körper dadurch leiden muß« (zitiert nach J.E. Gruner: Adam Smith und Christian Garve. In: Neue Berlinische Monatsschrift, Juli 1801, S. 38–61, hier S. 53; eckige Klammern im Original). Vgl. auch Reimarus’ Kommentar zu Garves Rezension der Kritik der reinen Vernunft: »[D]en Kopf eines Garve hätte man damit verschonen sollen. […] ich würde kurz mit dem Spruche rezensirt haben – Du rasest: Deine große Kunst macht dich rasen!« (Brief an Mendelssohn vom 14. Juni 1784, JA XIII 197). Johann Bernhard Merian spricht in seinem Brief an Bonnet vom 3. April 1784 ironisch von Migräne, Kopfschmerz und Fieber, die ihm durch die Lektüre Kants bereitet worden seien (vgl. Müller/Pozzo: Bonnet critico di Kant, S. 133). Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. XX. Vgl. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2 (1787), Landau 669; Will: Vorlesungen, S. 24, 49f., sowie die in den beiden folgenden Anmerkungen genannten Stellen. Jean Paul nimmt auf die Anekdote in seiner Baierischen Kreuzerkomödie (1789) satirischen Bezug. Vgl. Jean Paul: Sämtliche Werke. Bd. II/2. München 1976, S. 563.
223 um sie als eine bösartige und unsachliche Polemik zurückzuweisen157 oder aber als Beleg dafür heranzuziehen, wie wichtig eine verantwortungsvolle Unterweisung der akademischen Jugend in kritischer Philosophie sei.158
c)
Zerstörung und Wiederaufbau
In den Ausführungen zur Revolutionsmetaphorik ist schon deutlich geworden, dass ihr der Gegensatz von alter Ordnung und Neuordnung bzw. Zerstörung der Ordnung als elementare Prozesstopik zugrunde liegt. Eine weitere Metapher, die auf dieser Topik aufruht, ist die vom Einreißen und Aufbauen des metaphysischen Gebäudes. Ähnlich wie die juridische Metaphorik vom Gerichtshof oder die medizinische Metaphorik von der Philosophie als medicina mentis gehört auch die Architekturmetaphorik zu den typischen Bildkomplexen, auf die Philosophen seit jeher zurückgegriffen haben, um Inhalte und Aufgaben ihrer Disziplin zu bestimmen.159 Kant macht da keine Ausnahme. Wiederum zeichnet sich sein Gebrauch der Metapher aber dadurch aus, dass er sie besonders konsequent und häufig an Angelpunkten seiner Argumentation verwendet.160 Mehrfach charakterisiert Kant die bisherigen metaphysischen Systementwürfe als verfallene Bauwerke. So auch im Schlussabschnitt der Kritik der reinen Vernunft, wo er die Geschichte der Metaphysik mit der Formulierung resümiert, dass sie dem Auge des Betrachters »zwar Gebäude, aber nur in Ruinen vorstellt«.161 Alternativ zur Metapher der Ruine kann auch die des Kartenhauses dazu dienen, die Fragilität der herkömmlichen Systeme zu un157
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161
Vgl. Philosophische Annalen, 1. Teil (1787), Bd. 1, Landau 526; Jakob: Sendschreiben, S. 222f., 239. Vgl. Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 80f., sowie die zustimmenden Rezensionen in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 8. Mai 1789, S. 292; ALZ, 1. August 1789, Sp. 272; Neue Leipziger gelehrte Anzeigen, 15. März 1790, S. 175. Ähnlich äußert sich sogar der Kant-Kritiker Pistorius in seiner Meiners-Rezension; vgl. AdB 80/2 (1788), S. 468f. Vgl. Bien: Das Geschäft der Philosophie, S. 64f. Zur Architekturmetaphorik bei Descartes vgl. Nathan Edelman: The Mixed Metaphor in Descartes. In: Romanic Review 41 (1950), S. 167–178, bes. S. 171–173; Karlheinz Stierle: Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal. In: Karlheinz Stierle/Rainer Warning: Das Gespräch. München 1984 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 11), S. 297–334, hier S. 326–328; zu Leibniz und Wolff vgl. die entsprechenden Abschnitte in Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001 (Epistemata, Reihe Philosophie, Bd. 306), S. 149–155, 205–211. Vgl. die Belegsammlungen bei Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 233–237; Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Bd. 4. Berlin/New York 1971, S. 647f. KrV A 852/880. Vgl. auch KrV A 835/B 863 sowie Kants Brief an Garve vom 7. August 1783 (AA X 341). Kant spricht dort von der Metaphysik als von einer »Sandwüste« und hofft auf eine Zeit, in der die »Materialien, die jetzt im Staube liegen, vielleicht zu einem herrlichen Baue verarbeitet werden.«
224 terstreichen.162 Den Grund für deren beklagenswerten Zustand gibt Kant in der Einleitung der Kritik an: Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Spekulation, ihr Gebäude so früh, wie möglich, fertig zu machen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei. Alsdenn aber werden allerlei Beschönigungen herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten, oder auch eine solche späte und gefährliche Prüfung lieber gar abzuweisen.163
Die kritische Diagnose, dass die spekulative Philosophie ihre bisherigen Gebäude vorschnell errichtet und sich einer genauen Inspektion der Grundlagen zumeist verweigert habe, impliziert das philosophische Programm, dem Kant sich verschreibt: Prüfung der Fundamente. In einem Brief an Mendelssohn vom August 1783 charakterisiert Kant die Vernunftkritik ganz allgemein als eine Unternehmung, »die nur damit umgeht, den Boden zu jenem Gebäude [der Metaphysik] zu untersuchen«.164 Entsprechende Formulierungen finden sich an mehreren Stellen in der Kritik.165 Als Variante zur Prüfung des Fundaments taucht dort auch die Rede von der ›Überschlagung des Bauzeugs‹ auf, ausführlich in der Einleitung zur transzendentalen Methodenlehre, wo Kant die im vorhergehenden Abschnitt geleistete Bestimmung der Elemente apriorischer Erkenntnis und ihrer Reichweite wie folgt zusammenfasst: Wenn ich den Inbegriff aller Erkenntnis der reinen und spekulativen Vernunft wie ein Gebäude ansehe, dazu wir wenigstens die Idee in uns haben, so kann ich sagen, wir haben in der transzendentalen Elementarlehre den Bauzeug überschlagen und bestimmt, zu welchem Gebäude, von welcher Höhe und Festigkeit er zulange. Freilich fand es sich, daß, ob wir zwar einen Turm im Sinne hatten, der bis an den Himmel reichen sollte, der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Wohnhause zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu übersehen; daß aber jene kühne Unternehmung aus Mangel an Stoff fehlschlagen mußte […].166
Die Funktion der Vernunftkritik, wie sie durch Kants Gebrauch der Architekturmetapher definiert wird, beschränkt sich aber keineswegs nur auf die Untersuchung des Fundaments und die Begrenzung der Höhe des metaphysischen Gebäudes. Ihre Aufgabe ist radikaler, ihr wohnt eine destruktive 162 163 164
165
166
Vgl. WA III 199. KrV A 5/B 9. Vgl. AA X 344 (Brief vom 16. August 1783). Vgl. auch Kants Brief an Marcus Herz nach dem 11. Mai 1781, wo er von der Notwendigkeit spricht, den »Grund aufzuräumen« (AA X 269). Vgl. KrV A XXI, A 3/B 7, A 319/B 375f., A 342/B 400. Vgl. auch die Kritik der praktischen Vernunft, WA IV 116. KrV A 707/B 735; vgl. auch KrV A 738/B 766. Zu Kants ›Bauzeug‹-Metapher vgl. auch die Stellenangaben bei Alois Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken. Zum Einfluß des späten Locke auf die Philosophie Kants. In: Aufklärung 1 (1986), Heft 1, S. 27–66, hier S. 61 Anm. 176.
225 Tendenz inne: Abtragung der bestehenden Bauwerke. Indirekt bekennt Kant sich dazu in der Einleitung der Prolegomena, wo er seine Forderung nach einer wissenschaftlichen Neubegründung der Metaphysik folgendermaßen rechtfertigt: Es ist aber eben nicht so was Unerhörtes, daß, nach langer Bearbeitung einer Wissenschaft, wenn man wunder denkt, wie weit man schon darin gekommen sei, endlich sich jemand die Frage einfallen läßt: ob und wie überhaupt eine solche Wissenschaft möglich sei. Denn die menschliche Vernunft ist so baulustig, daß sie mehrmalen schon den Turm aufgeführt, hernach aber wieder abgetragen hat, um zu sehen, wie das Fundament desselben wohl beschaffen sein möchte.167
Die destruktive Seite der Architekturmetapher, die in der Logik des Bildes von der Prüfung der Fundamente mit angelegt ist, wird von Kant nur angedeutet. In der Kritik der reinen Vernunft bemüht er sich darum, sie durch Betonung des konstruktiven Aspekts seiner Philosophie zu relativieren, zum Beispiel im Abschnitt »Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs«. Kant rät dazu, den Jüngling in der akademischen Unterweisung frühzeitig mit den Prinzipien der Vernunftkritik vertraut zu machen und ihn in die Lage zu versetzen, jeden dogmatischen Angriff abzuwehren. Er fährt fort: Ob nun zwar eben dieselbe Streiche, die das Gebäude des Feindes niederschlagen, auch seinem eigenen spekulativen Bauwerke, wenn er etwa dergleichen zu errichten gedächte, eben so verderblich sein müssen: so ist er darüber doch gänzlich unbekümmert, indem er es gar nicht bedarf, darinnen zu wohnen, sondern noch eine Aussicht in das praktische Feld vor sich hat, wo er mit Grunde einen festeren Boden hoffen kann, um darauf sein vernünftiges und heilsames System zu errichten.168
Was die Vernunftkritik im Bereich der theoretischen Philosophie zum Einsturz bringt, nämlich die rational begründete Überzeugung von der Existenz der Seele, der Freiheit und vom Dasein Gottes, das richtet sie im Bereich der praktischen Philosophie wieder auf – so die Argumentationsfigur Kants. Seine frühesten Kritiker können ihm darin nicht folgen. Für sie stehen die negativen Konsequenzen der Vernunftkritik im Vordergrund, und ihre Vorbehalte artikulieren sie bevorzugt in Anknüpfung an die destruktive Seite der Architekturmetaphorik. Dies geschieht zuerst in Christian Garves Besprechung der Kritik der reinen Vernunft für die Allgemeine deutsche Bibliothek. Im einleitenden Teil der Besprechung mahnt der Rezensent, es gehe nicht an, alle bestehenden metaphysischen Systeme schlichtweg für nichtig zu erklären, es gebe gewisse Grundsätze, auf die der Mensch nicht verzichten könne und die nach metaphysischer Fundierung verlangten: »[M]an muß ausdrück167
168
WA III 114. Die Stelle wird in der Anzeige der Prolegomena zitiert, welche 1786 in der von Hartwich Ludwig Christian Bacmeister herausgegebenen Russischen Bibliothek erschien; vgl. Landau 324. KrV A 756f./B 784f.
226 lich für sie ein neues Gebäude von Ideen aufführen, nachdem man alle die niedergerissen hat, worin sie bisher waren aufbewahrt worden.«169 Zu den Lesern der Besprechung gehörte auch Moses Mendelssohn.170 Von ihm stammt die wirkmächtigste Applikation der Kantischen Architekturmetaphorik, die die ›alleszermalmende‹ Gewalt der Vernunftkritik als deren philosophiehistorisches Signum bis heute im kollektiven Bewusstsein verankert hat. Es muss allerdings nicht Garves Rezension gewesen sein, die ihn zu seiner berühmten Formulierung anregte, wahrscheinlich war die eigene Kant-Lektüre ausschlaggebend. In einem Brief an die Geschwister Reimarus vom November 1783 beklagt Mendelssohn sich über die radikalisierenden Tendenzen neuerer Philosophen und illustriert diese Klage am Schluss des Briefes mit dem Zitat aus den Prolegomena von der baulustigen Metaphysik, die das Erbaute ab und zu wieder einreißt, um den Grund zu untersuchen.171 Zwei Jahre später greift er dann im Vorbericht der Morgenstunden erneut auf die Metapher zurück, indem er vom »alles zermalmenden« Kant spricht, von dem zu hoffen sei, dass er »mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat«.172 Der Ausdruck vom ›alles zermalmenden Kant‹ hat schnell Karriere gemacht, später vor allem in der substantivierten Form des ›Alleszermalmers‹. Norbert Hinske setzt den Beginn dieser Karriere im Jahr 1804 an, mit dem Erscheinen von Wasianskis (seitdem häufig nachgedruckter) Kant-Biographie, in welcher der Ausdruck auftaucht.173 In der gelehrten Diskussion um die Kantische Philosophie wird er aber schon unmittelbar nach seiner Einführung durch Mendelssohn zur gängigen Münze. Hamann greift ihn wenige Wochen nach Erscheinen der Morgenstunden in Briefen an Jacobi vom November 1785 und Februar 1786 auf.174 Im April 1786 verwenden ihn Jacobi und der Tübinger Rezensent Flatt in ihren Publikationen.175 Noch im selben 169
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172 173
174
175
AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 35. Die Formulierung gehört womöglich mit zu den Ergänzungen, die Johann Jakob Engel an Garves Rezension vornahm (vgl. Böhr: Philosophie für die Welt, S. 94). Vgl. JA XIII 169 (Brief an Elise Reimarus vom 5. Januar 1784). Schon hier verleiht Mendelssohn seinem Zweifel an dem Nutzen und der Solidität der Kantischen Abstraktionen durch Fortführung der Metapher Ausdruck: »Verlange ich aber Dach und Fach für mich und meine Familie, so danke ich der weisen Matrone für ihren baulustigen Vorwitz. Sie mag ihn an Kartenhäusern oder Lustschlössern versuchen!« (Brief an Elise und J.A.H. Reimarus vom 18. November 1783, JA XIII 160). JA III/2 3, 5. Vgl. Hinske: Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens, S. 2. Zum Nachwirken der Vorstellung vom ›Alleszermalmer‹ in der Kant-Diskussion des 20. Jahrhunderts vgl. Léo Freuler: Kant et la métaphysique spéculative. Paris 1992, S. 290–294 (§ 63: »L’évolution historique du mythe du ›Alleszermalmer‹«). Vgl. H VI 154, 259 (Briefe vom 30. November 1785 und vom 6. Februar 1786; die zweite Stelle entstammt einem Brief an Elisa von der Recke vom 5. Februar, den Hamann seinem Brief an Jacobi in Abschrift beifügte). Vgl. JW I/1 320 Anm. (Wider Mendelssohns Beschuldigungen); Tübingische gelehrte Anzeigen, 24. April 1786, Landau 310 (Rezension zu Ulrichs Institutiones).
227 Jahr wird er von Wizenmann, Pfenninger, Breyer, Reinhold und im Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie zur Charakterisierung der Kantischen Philosophie angeführt.176 Bereits im September 1786 kann Georg Forster konstatieren, dass die Formel vom Alleszermalmer allgemein geläufig geworden ist: »Daß Jacobi den Kant, ›den alles zermalmenden‹ nennt, ist nur Mendelssohnen nachgesprochen, der ohngefähr eben das mit andern Worten in der Vorrede zu den Morgenstunden sagt; und überhaupt ist es ein gewöhnliches Beiwort für ihn, wegen seiner Kritik der reinen Vernunft, wo er die bisherige Metaphysik und Psychologie ganz über den Haufen stößt.«177 Ein Grund für die schnelle Verbreitung des Ausdrucks liegt sicherlich in seinem Schweben zwischen Drohbild und Respektsbezeugung, eine Ambivalenz, die ihn für Feinde wie Freunde Kants verwendbar machte und die schon Mendelssohns Gebrauch bestimmt. Zwar dominiert bei dem Berliner Philosophen das Unbehagen gegenüber dem zerstörerischen Gehalt der Vernunftkritik, doch schwingt gleichzeitig eine gewisse Achtung vor der Leistung Kants mit, den er zu den »großen Männer[n]« der Metaphysik zählt.178 Reinhold betrachtet die Formel als Ausweis der allgemeinen »Ehrfurcht« vor Kant.179 Die Wendung vom ›Alleszermalmer‹ (wie schon die von der Kantischen ›Revolution‹) weist eine Affinität zum Diskurs des Erhabenen auf, sie rückt die kritische Philosophie in die Nähe der ebenso erschreckenden wie faszinierenden Gewalt einer Naturkatastrophe. So spricht Johann Heinrich Campe im Braunschweigischen Journal 1788 vom »alles zermalmende[n] Kant, der, wie ein metaphysischer Vulkan, ein allgemeines philosophisches Systembeben verursachte«.180 Doch bleibt die rein negative Auslegung weiterhin möglich: Breyer nennt die Bezeichnung aus Kantischer Sicht schlicht einen »verhaßten Namen«, den es abzuwenden gelte.181 Als Schreckbild wird die Formel in der bereits zitierten Rezension Flatts in den Tübingischen gelehrten Anzeigen verwendet, die mit der dramatischen 176
177
178 179 180
181
Vgl. Wizenmann: Resultate, S. 30; Pfenninger: Etwas zur Geschichte der demonstrativen Philosophie, S. 86; Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 3; Reinhold: Erster Brief, S. 124; ders.: Zweyter Brief, S. 138; anonym: Neuste Sensationen, S. 83. Hinzu kommen die Besprechungen der Morgenstunden, in denen der Ausdruck zitiert wird. Vgl. Schütz’ Rezension in der ALZ, 2. Januar 1786, Landau 250; Gemeinnützige Betrachtungen 11 (1786), S. 562. F XIV 549 (Brief an Soemmerring vom 10. September 1786). Zu weiteren Verweisen auf die von Mendelssohn geprägte Formel vgl.: Will: Vorlesungen, S. 22; Schübler: Versuch, S. 9 Anm.; Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 75; Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 16. Juni 1789, S. 224 (Rezension zu Reuß). JA III/2 3. Reinhold: Erster Brief, S. 124. Campe: Beantwortung, S. 27. Nach der Auskunft Daniel Jenischs studierte Campe die Kritik der reinen Vernunft seit Anfang 1787; vgl. Jenischs Brief an Kant vom 14. Mai 1787, AA X 485. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 4. Abteilung, S. 5.
228 Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche als eines Zeitalters einsetzt, »in dem die alles zermalmende Kantische Philosophie ihr Haupt empor zu heben beginnet, und […] eine allgemeine Revolution in der philosophischen Welt hervorzubringen droht«.182 Doch wird der Ausdruck von den Anhängern Kants zum Teil auch adoptiert. Ein Beispiel ist Samuel Heinicke, der in einer gegen Mendelssohn gerichteten Polemik triumphierend erklärt, Kant habe dessen Schriften »schon alle, alle zermalmt.«183 Eine gewisse Genugtuung über die Erschütterung, die die neue Philosophie unter den etablierten Systemen und deren Verwaltern verursachte, klingt in verschiedenen Diskussionsbeiträgen an, zum Beispiel bei Johann Friedrich Breyer: »Freylich richtet nun die Vernunft-Critik in unsern bisherigen metaphysischen Lehrgebäuden eine gewaltige Zerrüttung an, und macht dem Weltweisen, der sich im ruhigen Besitze seiner Lehrsäze schon gleichsam durch das Verjährungsrecht gesichert hielt, manche peinliche Stunde […].«184 Man glaubt, die Schadenfreude mitzuhören, wenn Kants Freund Johann Christoph Berens ihm im Dezember 1787 nach einer Reise, die ihn unter anderem durch Halle und Leipzig (die Wirkungsstätten Eberhards und Platners) geführt hatte, folgendes über die Wirkung der Kritik der reinen Vernunft berichtet: »Ich fand nirgends eigentliche Cabale dagegen, aber bey den Lehrern Verdrus, ihr altes Gebäude worin sie bisher, ihrer Eigenliebe so behaglich, gewohnet, ohne GrundMauern zu sehen.«185 Geradezu lustvoll wird von den Anhängern Kants mitunter das Bild der Zerstörung ausgespielt, zum Beispiel in der wiederholten Nennung dessen, was alles durch Kants Philosophie »über den Haufen« geworfen werde: Nicht nur die Leibnizsche Theorie von Raum und Zeit (Jakob), auch die »ganze rationale Psychologie« (Schütz), das »ganze theologische System« (Rehberg), ja die »bisherigen Systeme« überhaupt (Bürger).186 Es ist nicht abwegig zu unterstellen, dass gerade für die junge, nachrückende Philosophengeneration, wie Jakob sie repräsentiert, das ostentative Bekenntnis zu 182
183
184 185
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Tübingische gelehrte Anzeigen, 24. April 1786, Landau 310 (Rezension zu Ulrichs Institutiones). Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. 409. Vgl. auch ders.: Nach Kantischer Manier, S. 25, 33, 36, 38. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 13f. AA X 507 (Brief vom 5. Dezember 1787). Eine ähnliche Genugtuung äußert Wizenmann über Kants Demontage der Autoritäten der Aufklärungstheologie: »Er hat den falschen Scheingrund der Wolff ’schen Philosophie aufgedeckt, ihre Resultate verworfen, ihre Höhen gestürzt, und wollte Gott! daß er Glück damit machen möchte. [/] Wie werden die Steinbarte, Eberharde, Lessinge und Semler große Augen machen, wenn ihrer ganzen Theologie der Boden genommen wird, und sie arm, nackt und bloß vor der Welt dastehen, – die Buben!« (Brief an Friedrich Christian Hoffmann vom 8. März 1784, zitiert nach JB II/3 271). Jakob: Prüfung, S. 331; ALZ, 30. Juli 1785, Landau 176 (Rezension zu Schultzes Erläuterungen); Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 108; Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. IV.
229 Kants Zertrümmerung der bisherigen Metaphysik auch eine wichtige theoriestrategische, weil von der mühseligen Sichtung und Beurteilung vorhandener Wissensbestände entlastende Funktion erfüllte.187 Daneben wird von Kants Anhängern aber auch mit Nachdruck auf den konstruktiven Aspekt der Vernunftkritik verwiesen, um die Rede vom ›Alleszermalmer‹ als überzogene Polemik zu entlarven. Die Argumentationsfigur, Kant baue auf dem Gebiet der praktischen Philosophie wieder auf, was er zuvor auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie eingerissen habe, beherrscht zum Beispiel Breyers fünfteilige Abhandlung Sieg der Praktischen Vernunft über die Speculative. Im zweiten Teil dieser Schrift verteidigt Breyer den Königsberger Philosophen gegenüber denjenigen, »die ihn gerade mit einer Art von Wehmuth des übermässigen Niederreissens beschuldigen«, und verwahrt sich dagegen, ihm mit Mendelssohn »den Namen des alles zermalmenden aufzudrücken«.188 Im direkten Anschluss an Kants oben zitierte Formulierung aus der »Disziplin der reinen Vernunft« betont Breyer, dass selbst den skeptischsten Nachwuchsphilosophen »durch die VernunftCritik noch immer eine frohe Aussicht in das praktische Feld eröfnet wird, wo sie mit Grunde einen festern Boden hoffen sollen«.189 Was Breyer als Hoffnung in Aussicht stellt – den Aufbau eines metaphysischen Systems auf dem Fundament der praktischen Vernunft – das wird von Reinhold als Faktum verkündet. »Man würde die Kritik der Vernunft sehr misverstehen«, bemerkt er im dritten seiner Briefe über die Kantische Philosophie, »wenn man im Ernste glaubte, sie zermalme alles, sie reisse ohne Unterschied ein, was unsre großen Denker bisher gebaut haben, und erkläre unsre bisherige Metaphysik ohne Einschränkung für unbrauchbar. Sie thut gerade das Gegentheil […]«190 – indem sie nämlich, wie Reinhold ausführt, der Theologie mit dem moralischen Erkenntnisgrund einen ersten Grundsatz liefere, mit dem zusammen die an und für sich unbeweisbaren Begriffe von notwendigem Wesen, erster Ursache und höchster Vernunft »wohlgeordnete Theile eines einzigen und vollendeten Gebäudes aus[ma187
188 189 190
Ein Vertreter der alten Garde, der Hallenser Professor Eberhard, äußert diese Vermutung in der Einleitung zu seinem 1788 gegründeten Philosophischen Magazin. Zum Erfolg der Kritik der reinen Vernunft heißt es dort: »Einige, die eben im Errichten ihres Lehrgebäudes befangen waren, wozu sie die Materialien erst zusammentragen, prüfen und verbinden mußten, fanden hier den größten Theil derselben in Bausch und Bogen verworfen, und sahen sich einer großen Mühe überhoben […].« (Johann August Eberhard: Nachricht von dem Zweck und der Einrichtung dieses philosophischen Magazins, nebst einigen Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland. In: Philosophisches Magazin 1 [1788/89], S. 1–8, hier S. 4). Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 17f., 3. Ebd., S. 17. Reinhold: Dritter Brief. In: TM, Januar 1787, S. 3–39, hier S. 27. Die Stelle wird zitiert in Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 67, sowie in der Mainzer Rezension zu dieser Schrift (wo Reuß als Urheber des Zitats behandelt wird; vgl. Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen, 13. Mai 1789, S. 147).
230 chen], das von nun an auf seiner unerschütterlichen Grundfeste für die Ewigkeit dasteht.«191 Der konstruktive Aspekt in Kants Philosophie wird von seinen Kritikern entweder nicht gesehen (»[u]m die mendelsohnsche Hofnung, daß Kant eben so gut aufbauen werde als er niedergerissen, hat er sich gar nicht bekümmert«, befindet Jean Paul)192 oder aber als unzureichend zurückgewiesen. Schon 1784 nennt Wilhelm Anton Klewiz Kants Argument, nur die praktische Vernunft könne uns die Überzeugung von Gott und einem zukünftigen Leben verschaffen, eine »[i]n der That […] schwache Stütze des hinsinkenden Gebäudes«.193 Ähnlich urteilt Pistorius, wenn er gegen den Ersatz der spekulativen Theologie durch eine Moraltheologie einwendet, dass Kant sich »durch die Zerstörung, die er im Felde der Speculation anrichtet, den Anbau auf dem Grunde der Moral, wo nicht ganz unmöglich, doch ausnehmend schwer gemacht« habe.194 Wenn Kant, so der hinter dieser Formulierung stehende Gedanke, in seiner Erkenntnistheorie erwiesen hat, dass alle unsere Vorstellungen, Begriffe und Ideen nur subjektiven Status haben, so ist nicht einzusehen, auf welcher Grundlage man der Annahme vom Dasein Gottes, zu der uns die praktische Vernunft führt, irgendeinen objektiven Gehalt sollte zusprechen können. Entsprechend erklärt auch der Greifswalder Rezensent, dass bei Kants Philosophie, »wenn sie das in der Moral wieder aufbauen will, was sie in der Metaphysik niedergerissen hat, wohl schwerlich ein feststehendes Gebäude zu Stande kommen dürfte, wo vorher die ersten Gründe des menschlichen Wissens untergraben und schwankend gemacht sind«.195 191 192
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195
Reinhold: Dritter Brief, S. 29. Jean Paul: Sämtliche Werke, 3. Abt., Bd. 1, S. 215 (Brief an Johann Adam Lorenz von Oerthel vom 30. Juni 1786). Einige Zeit vorher hatte Jean Paul sich dagegen noch der Argumentation angeschlossen, dass Kant am Ende der Kritik der reinen Vernunft »den Säzen, deren schwache Stüzen er zerbrochen hatte, bessere unterstellet« (Brief an Oerthel vom 9. Februar 1785, vgl. ebd., S. 147). Klewiz: Ueber Idealismus, S. 413. AdB 82/2 (1788), Hausius II 230 (Rezension zu Jakobs Prüfung). Die Stelle wird zitiert in Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 5. Abteilung, S. 6. Bereits in seiner Besprechung der Prolegomena hatte Pistorius gezweifelt, ob Kants philosophisches Unternehmen wohl viele Anhänger finden werde, da sein Resultat überwiegend »negativ und zerstörend seyn dürfte« (AdB 59/2 [1784], Landau 107). Und in der Rezension zu Schmids Grundriss fragt er skeptisch: »[W]ird sich das Reich der Gnaden auch unter den Trümmern des Naturreichs erhalten?« (AdB 75/2 [1787], Landau 664). Pistorius lehnt sich hier möglicherweise an die ähnliche Formulierung in Garves Besprechung der Kritik der reinen Vernunft an. Garve hatte Zweifel an der Möglichkeit geäußert, »daß man in dem Reich der Gnaden wohnen und leben könne, nachdem vorher das Reich der Natur vor unsern Augen verschwunden ist« (AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. [1783], 2. Abt., Landau 49; vgl. KrV A 812/B 840). Neueste Critische Nachrichten, 26. Stück (1788), S. 204 (Rezension zum ersten Band der Philosophischen Bibliothek). Vgl. ähnlich auch Neueste Critische Nachrichten, 35. Stück (1788), S. 276f. (Rezension zu Jakobs Prüfung); Vogel: Glaubensbekenntniß, Hausius II 157f.
231 Für die Gegner Kants bleibt es deshalb dabei: Kant, der in der Philosophie »mehr niederzureissen, als aufzubauen gesucht« hat,196 repräsentiert nicht Stabilität, sondern deren Auflösung. Wenn Pistorius das Kantische System als eines bezeichnet, das »nur auf den Trümmern« aller übrigen Systeme erbaut werden kann, so ist das nicht, wie bei Reinhold,197 als positiver Ausweis seiner historischen Gipfelstellung gemeint, sondern als Kritik an dem totalitären Neubegründungsanspruch einer Philosophie, die alles Überkommene rigoros entwertet.198 Dem popularphilosophischen Denken entsprach es eher, sich in der Kontinuität eines Überlieferungszusammenhanges zu sehen und den Wert philosophischer Systeme nach ihrer Bewährung in der Zeit zu beurteilen.199 Vor diesem Hintergrund rät der Rezensent der Tübingischen gelehrten Anzeigen, abzuwarten, ob nicht »sein [d. i. Kants] Gebäude eben so viel und noch größere Blößen geben würde, als die bisher aufgeführten, die ungeachtet der schwachen Seiten, die sie haben mögen, doch der Zeit widerstanden haben.«200
d)
Schlummernde und arbeitsame Vernunft
Wenn es darum geht, die durch Kant markierte philosophiegeschichtliche Zäsur zu beschreiben, so wird in der zeitgenössischen Diskussion mit Vorliebe noch auf eine weitere Metapher zurückgegriffen: die von Schlafen und Erwachen. Wiederum knüpft man dabei an durch Kant vorgegebene Formulierungen an. An verschiedenen Stellen in der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena charakterisiert Kant die Wirkung der transzendentalen Dialektik, die die Vernunft dazu zwingt, eine sorgfältige Prüfung ihres Vermögens anzustellen, als Erweckung der Philosophie aus ihrem »dogmatischen Schlummer« bzw. aus ihrem »süßen dogmatischen Traume«.201 Besondere Berühmtheit aber hat die Stelle in der Einleitung der Prolegomena erlangt, wo Kant sich zu Humes Einfluss auf seine philosophische Entwicklung bekennt. Humes erkenntnisskeptisches Argument, dass metaphysische Begriffe wie derjenige der Kausalität nur die scheinbare Notwendigkeit er196
197 198 199
200
201
Frankfurter gelehrte Anzeigen, 30. Mai 1786, Landau 398 (Rezension zu Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform). Reinhold: Fünfter Brief, S. 174; vgl. auch ders: Erster Brief, S. 133f. AdB 66/1 (1786), Landau 338 (Rezension zu Schultzes Erläuterungen). Vgl. in bezug auf Feder Brandt: Feder und Kant, S. 262; in bezug auf Garve Kurt Wölfel: Nachwort. In: Christian Garve: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. von Kurt Wölfel. 2 Bde. Stuttgart 1974. Bd. 2, S. *23-*60, hier S. *58. Tübingische gelehrte Anzeigen, 5. Juni 1786, Landau 403 (Rezension zu Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform). Vgl. KrV A 407/B 434, A 757/B 785, WA III 210. Vgl. auch noch die Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (WA III 660f.) und den Brief an Garve vom 21. September 1798 (AA XII 258).
232 fahrungsbedingter Gewohnheit, aber keine echte Allgemeinheit und Notwendigkeit im streng philosophischen Sinn beanspruchen könnten,202 wird von Kant als ein entscheidender Anstoß für sein vernunftkritisches Projekt genannt. »Ich gestehe es frei«, erklärt er, »die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.«203 Dass der Skeptiker die Aufgabe hat, den Dogmatiker aus seiner Trägheit aufzuschrecken, gehört zu den »tradierten Schablonen« philosophischer Typologisierung.204 Konkret mag Kants Charakterisierung des Hume’schen Einflusses durch die Vorrede angeregt worden sein, die Johann Georg Sulzer 1755 der von ihm herausgegebenen (und in Kants Besitz befindlichen)205 Übersetzung der Philosophical Essays Concerning Human Understanding beigab.206 Sulzer verleiht hier seiner Hoffnung Ausdruck, die Hume-Übersetzung möge die deutschen Philosophen »aus ihrer müßigen Ruhe ein wenig aufwecken«.207 Kants Variation der Metapher in der Einleitung der Prolegomena wurde in zahlreichen Rezensionen und Schriften zitiert.208 Mit dem zunehmenden Erfolg der Kantischen Philosophie beschränkte sich die Anwendung des Bildes in der Diskussion bald nicht mehr nur darauf, die Beziehung Kants zu Hume zu beschreiben, sondern sie wurde auf das Verhältnis Kants zum deutschen Publikum übertragen: Kant war nun nicht mehr der Erweckte, sondern der Erwecker. So hebt zum Beispiel Georg Andreas Will als Leistung der kritischen Philosophie hervor, »daß sie die Deutschen aus dem Schlafe weckte, in 202
203
204 205 206
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208
Zur Rezeption von Humes Kritik am Kausalitätsbegriff in der deutschen Aufklärung (u. a. bei Mendelssohn und Tetens) vgl. Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 101–107. WA III 118. Zur umfangreichen und verwickelten Debatte um Art und Zeitpunkt des Hume’schen Einflusses auf Kant vgl. den Überblick bei Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 15–82 (Kap. II: »Zur Forschungslage«). Zur Kritik an Kreimendahls eigener Position vgl. Reinhard Brandt: [Rezension zu] Lothar Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, in: Kant-Studien 83 (1992), S. 100–111. Ebd., S. 101. Vgl. Warda: Immanuel Kants Bücher, S. 50. Vgl. Manfred Kuehn: Kant’s Conception of »Hume’s Problem«. In: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), S. 175–193, hier S. 179f. [Johann Georg Sulzer:] Vorrede des Herausgebers [unpaginiert]. In: Hume: Vermischte Schriften, zweyter Theil: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg/Leipzig 1755. Zu Sulzers Herausgeberschaft vgl. Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 20–22. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 25. Oktober 1783, Landau 56; Übersicht der neuesten Philosophischen Litteratur 1 (1784), Landau 65; AdB 59/2 (1784), Landau 89; Schultz: Erläuterungen, S. 201; Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 13; Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 686.
233 welchen sie durch Vernachläßigung der Gründlichkeit und Speculation und durch so viele seichte populäre Schriften verfallen waren«.209 Ähnlich spricht ein Rezensent der OALZ von dem »gemächliche[n] Schlummer, den die Philosophie so ziemlich in Deutschland zu schlafen schien, und aus dem Kant sie mächtig aufgeweckt hat«.210 Reinhold würdigt Tiedemann in der ALZ dafür, dass er mit seiner frühen Prüfung der Kantischen Philosophie »einer der Ersten war, welche den Geist der Untersuchung aus dem unrühmlichen Schlummer wecken halfen, der bekanntermaassen einige Jahre, auch nach der Erscheinung der Kritik der Vernunft, fortgedauert hatte«.211 Selbst ein Kritiker Kants wie der Medizinprofessor Johann Daniel Metzger beeilt sich, seinem Königsberger Kollegen Anerkennung dafür zu zollen, dass er »die Philosophen aus ihrem tiefen metaphysischen Schlummer weckte«.212 Ebenso rechnet Selle es Kant als Verdienst an, dass er Mittel fand, »die schlummernden Philosophen zu ermuntern«213 – auch wenn es seiner Meinung nach die falschen Mittel waren. Feder dagegen fühlt sich genötigt, im Hinblick auf seine Ablehnung der kritischen Philosophie die Schlummermetaphorik als Erklärungsmuster dezidiert von sich zu weisen: Nicht aber aus dem Grund, wie vielleicht den [sic] meisten andern, und wie der Verf. selbst in den Prolegomenis überhaupt zu vermuthen scheint, hat die Kritik der R. V. Unzufriedenheit in mir erregt. Nicht dadurch, daß sie mich aus einem behaglichen dogmatischen Schlummer, von dem ich kaum in meinen Jünglingsjahren etwas erfahren habe, geweckt hätte […].214
Feder schließt sich Kants Kritik am Dogmatismus an.215 Davon abzugrenzen ist seiner Meinung nach jedoch eine Philosophie, die von einem auf übereinstimmende Erfahrung gegründeten Kausalitätsbegriff ausgeht, dem objektive Notwendigkeit zukommt und der den erfahrungstranszendenten Schluss auf eine oberste Weltursache, d. h. Gott, zulässt. Eine solche Philosophie, so Feder, verdiene durchaus nicht Kants Verdikt einer ›faulen Vernunft‹, die voreilig auf übersinnliche Kräfte zurückgreift, um die Welt der Erscheinungen zu erklären.216
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Will: Vorlesungen, S. 11. OALZ, Mai 1788, Sp. 1035 (Rezension zu Weishaupts Zweifeln über die Kantischen Begriffe). ALZ, 14. März 1788, Sp. 691. Metzger: Noch ein Wort über Menschenracen, S. 508. Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 2; vgl. auch die Rezension in: Erfurtische gelehrte Zeitung, 17. August 1788, S. 305. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. VIIf. Pistorius und der Leipziger Rezensent zitieren die Passage, letzterer mit kritischem Akzent. Vgl. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 30. Oktober 1787, Landau 713f.; AdB 86/2 (1789), S. 356. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 233. Vgl. ebd., S. 204–208 (§ 39: »Was faule Vernunft sey?«).
234 Kants Rede von der ›faulen Vernunft‹ stellt wie die Metapher vom dogmatischen Schlummer kein Novum in der Philosophie der Aufklärung dar. Locke und Leibniz sprechen von Faulheit, wenn sie die Theorie der angeborenen Ideen als ein leichtfertiges Erklärungsmuster kritisieren, das ihren Verfechtern die Mühe genauerer erkenntnistheoretischer Untersuchungen erspart.217 Der vorkritische Kant greift die Formulierung auf, um damit generell das vorschnelle Rekurrieren auf unhintergehbare Letztursachen wie zum Beispiel das Wirken Gottes zu verurteilen.218 In der Kritik ist die »faule Vernunft« eine Vernunft, welche die transzendentalen Ideen von Gott, Seele usw. konstitutiv statt regulativ gebraucht, dadurch die Untersuchung der Reihe der Naturphänomene abschneidet und »sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäft völlig ausgerichtet habe«.219 Eine sorgfältige Kritik der Vernunft, betont Kant in der Vorrede zu seinem Hauptwerk, ist »das beschwerlichste aller […] Geschäfte«.220 Immer wieder mahnt er seine Zeitgenossen, dem »beschwerlichen Ruf der Vernunft« nach genauer Prüfung ihres Vermögens zu folgen221 und sich nicht auf dem »Polster« bequemer, aber unzulänglicher Positionen wie zum Beispiel des Skeptizismus oder der empirischen Morallehre auszuruhen.222 Getreu seinem Motto »nil actum reputans, si quid superesset agendum«223 erklärt Kant in einem Brief an Marcus Herz, er habe bei der Ausarbeitung der Vernunftkritik »lieber Jahre verstreichen lassen um zu einer vollenden Einsicht zu gelangen«, als irgendeinen ihrer Punkte im Unklaren zu lassen.224 Auch in den Prolegomena erwähnt Kant, dass ihn zuweilen die Begründung einzelner Sätze jahrelange Bemühung gekostet habe.225 Äußerungen wie diese, in denen Kant das Philosophieren als mühsames und entsagungsvolles Geschäft charakterisiert, prägen bis in unsere Epoche sein Bild als asketischer, pflichtbewusster, streng-wissenschaftlicher Arbeiter.226 217 218
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Vgl. die Belege bei Oberhausen: Das neue Apriori, S. 77. Vgl. ebd., S. 78–83; ergänzend auch die Belege bei Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken, S. 52 Anm. 120. In diesem Sinn wird zum Beispiel auch in Karl Friedrich Bahrdts Neuen Litteratur-Briefen Eberhards Philosophie als eine »Philosophie der Faulen« bezeichnet. Vgl. Anonym: Ueber Amyntor, S. 141. KrV A 689f./B 717f. Vgl. auch KrV A 773/B 801. KrV A XI. Im Brief an Garve vom 7. August 1783 bekennt Kant, die Mühe der Ausarbeitung der Kritik »um keinen Preis« noch einmal übernehmen zu wollen (AA X 317). WA III 261 (Prolegomena); vgl. auch WA III 135, 138. AA X 441 (Brief an Bering vom 7. April 1786), WA IV 57 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). KrV B XXIV (Übersetzung des Herausgebers: »nichts als getan anrechnend, wenn etwas zu tun übrig wäre«). AA X 269 (Brief an Marcus Herz nach dem 11. Mai 1781). WA III 261; vgl. auch WA III 138f. Vgl. Kurt Hildebrandt: Kant und Leibniz. Kritizismus und Metaphysik. Meisenheim 1955, S. 6f. Zu Kants ›bürgerlichem‹ philosophischen Arbeitsethos, das später vor allem auch in der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) zum Ausdruck kommt, und seinen Parallelen bei Locke vgl. Reinhard
235 Dieses Bild nahm schon unter den Zeitgenossen Gestalt an. Besonders wird von Kants Anhängern immer wieder der lange Zeitraum hervorgehoben, den die Ausarbeitung der Kritik in Anspruch nahm. Ausgangspunkt sind Schultzes (unter Mitwirkung Kants entstandene) Erläuterungen, in denen gleich zu Anfang betont wird, die Kritik sei nicht eine Probeschrift eines raschen Jünglings, oder ein Gewebe sinnreicher Extemporaleinfälle eines begeisterten Schwärmers, dem Systeme und Welten umschaffen, eben so leicht ist, als seine Frisur umwandeln, sondern ein […] Lehrgebäude, das bis auf die kleinsten Bruchstücke aufs tiefste durchgedacht ist, dessen Gründung und Aufführung der ruhige Forscher den größesten Theil seines Lebens gewidmet, über dessen Idee er schon vor neunzehn Jahren mit dem berühmten Lambert correspondirte […].227
Schultz bezieht sich hier auf einen (drei Jahre zuvor veröffentlichten) Brief Kants an Johann Heinrich Lambert von 1765, in dem der Königsberger Philosoph bereits von dem Plan zu einem Werk spricht, welches alle Unsicherheiten in der Metaphysik beheben soll.228 Im Anschluss an Schultz verweisen weitere Autoren auf die langjährige Genese der Vernunftkritik, um daran die imposante Leistung Kants festzumachen. Im »Vorbericht« zu seinem illegitimen Nachdruck von Schmids Wörterbuch bezeichnet Samuel Heinicke die kritische Grenzbestimmung der reinen Vernunft als eine »Herkulische Arbeit«, die, »wenn man sie übersehen kann, Jedem höchst beschwerlich, abschreckend, ja unmöglich vollendbar, vorkommen wird. Gleichwohl wurde sie von Herrn Kant angefangen, mit anhaltendem Fleisse in 20 Jahren zu Stande gebracht […]«.229 Ein »mehr als zwanzigjähriges strenges Forschen und Nachdenken des gewaltigsten Denkers« hat laut Bürger die Kritik hervorgebracht; eine »länger als zwanzigjährige Beschäftigung mit dem Baue und der Vervollkommnung dieses Systems, hat Ihn […] vor der Gefahr widerlegt zu werden ganz sicher gestellt«, bekräftigt Born.230 Die am häu-
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Brandt: Locke und Kant. In: John Locke und/and Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz. Hg. von Martyn P. Thompson. Berlin 1991 (Philosophische Schriften, Bd. 3), S. 87–108, hier S. 92f. Schultz: Erläuterungen, S. 3f. Vgl. AA X 55f. Zur Auswertung des Briefes für die Entstehungsgeschichte der kritischen Philosophie vgl. Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 128–130. Kants Briefwechsel mit Lambert wurde veröffentlicht unter dem Titel: Joh. Heinrich Lamberts […] deutscher gelehrter Briefwechsel. Hg. von Johann Bernoulli. Bd. 1. Berlin/Dessau 1781. Samuel Heinicke: Vorbericht. In: Wörterbuch zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philosophischen Schriften von Herrn Kant. Presburg 1788 [Repr. 1968], S. III– XXIII, hier S. Xf. Identisch damit ist ders.: Scheingötterei, S. 8f. Vgl. auch ders.: Ueber graue Vorurtheile, S. XIV, 8. Als einen »Herkules unter den Denkern« hatte Jacobi Kant schon 1786 in Wider Mendelssohns Beschuldigungen bezeichnet (vgl. JW I/1 322 Anm.; die Formulierung wird zitiert in: Neueste Critische Nachrichten, 15. Juli 1786, Landau 411). Vgl. auch Jacobis Brief an Hamann vom 3. März 1786 (JB I/5 85). Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 3; Born: Versuch, S. 148.
236 figsten kolportierte Entstehungszeit von circa zwanzig Jahren231 wird zum Teil noch überboten; 25 Jahre nennt ein Rezensent der Philosophischen Annalen, Bahrdt spricht sogar von dreißig Jahren.232 Der wiederholte Hinweis auf die von Kant aufgewendete Zeit und Mühe dient dazu, die Fundiertheit seines Unternehmens außer Zweifel zu setzen. Mitunter ist er den Anhängern der kritischen Philosophie Argument genug, um die Einwände der Gegner zurückzuweisen. Auf Meiners’ Vorrede zum Grundriß der Seelen-Lehre, wo die Philosophie Kants als ein Produkt sophistischer Zweifelsucht kritisiert wird, reagiert der Rezensent der Philosophischen Annalen mit der gereizten Bemerkung: [D]ieser Weise […] sollte fünf und zwanzig Jahre geforscht, gedacht und gebauet, und nach diesen langen mühseligen Bemühungen und Anstrengungen nichts als ein elendes Possenspiel zum Vorschein bringen, dessen Blöße Herr M. in einer Vorrede aufdecken könnte? – Nein warlich, wenn auch Kant seine geübte Kunst nur angewandt hätte, um Sophismata aufzubauen; so hätte es doch mehr, als eine Vorrede gefordert, seinen Bau zu zerstöhren.233
Der Stilisierung Kants zum heroisch-disziplinierten Geistesarbeiter einerseits entspricht die Karikierung derjenigen, die sich seiner Revolution nicht anschließen wollen, als bequem und verschlafen andererseits. Dass viele angesehene Philosophen Kants Kritik ablehnen, erklärt Jakob in der Vorrede seiner Prüfung dadurch, dass er sie mit Hausbewohnern vergleicht, die in ihrem Gebäude »alt und grau« geworden sind und sich der ungewohnten Ordnung eines neuen Hauses nicht mehr anpassen mögen.234 Ähnlich vermutet Johann Konrad Pfenninger in seinen Sokratischen Unterhaltungen, dass so mancher Philosoph vor dem Studium des Kantischen Systems wohl hauptsächlich deshalb zurückschrecke, weil ihm »das behagliche Wohnen im alten Gebäude allzuwol gefällt«.235 Noch blumiger führt Heinicke den Vergleich aus, wenn er sich über die Bequemlichkeit der Bewohner lustig macht: »Alte Gewohnheiten sind auch überhaupt schwer abzulegen und plötzliche Veränderungen verdrießlich! Da findet man seine Pantoffeln, Schlafmützen und Tabackspfeifen nun nicht mehr am Griffe […].«236 Was für elementarliterarische Strategien haben die Gegner der Kantischen Philosophie aufzubieten, um diesen stereotypen Charakterisierungen von fauler und energischer, bequemer und heroischer Vernunft zu entgehen?
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Vgl. auch Will: Vorlesungen, S. 16 (zitiert in: OALZ, August 1788, Sp. 1546). Vgl. Landau 528; Bahrdt: Immanuel Kant, S. 101. Landau 527f. Vgl. auch Franz Bergs Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität, in der Kants »Arbeit von dreyßig Jahren« allerdings als ein »Koloss […] auf irrdenen Füßen« kritisiert wird (Landau 699). Vgl. Jakob: Prüfung, S. IVf. Die Stelle wird zitiert in Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 71f. Pfenninger: Etwas zur Geschichte der demonstrativen Philosophie, S. 86. Heinicke: Scheingötterei, S. 12.
237 Während Hamann Kants Vorwurf der faulen Vernunft ironisch adoptiert,237 gibt es auch Ansätze, die propagierten Stereotype umzukehren. Forster kontrastiert in seinem Cook-Aufsatz den rastlosen Entdecker, der die Menschheit mit zahllosen neuen Beobachtungen und Kenntnissen bereichert, mit einer »Philosophie im Lehnstuhl«, die das empirische Material nur insoweit würdigt, als es in ihre vorgefertigten Systementwürfe passt.238 In einer noch grundsätzlicheren Weise kehrt Weishaupt den Vorwurf der Bequemlichkeit gegen die Kantische Philosophie. Der kritische Philosoph mache es sich sehr einfach, so Weishaupt, wenn er die objektiven Gesetze der Erscheinungen schlicht zu subjektiven Gesetzen des Erkenntnisvermögens umdeklariere und damit jedes tiefere Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten der Natur überflüssig mache. »Ein solches System kann einschläffern, allen Untersuchungsgeist aufhalten und hemmen; aber erklären, und durch seine Erklärung dem Geist Nahrung und Befriedigung geben – dies kann es nicht.«239 Indem die kritische Philosophie dem Trieb des Menschen nach Erweiterung seiner Erkenntnisse enge Grenzen setze, drohe sie seine Aufmerksamkeit von aller höheren Geistestätigkeit abzuziehen. »Bey dem Kantischen System hat also die Wahrheit nichts, und die Sinnlichkeit und Trägheit alles gewonnen«, lautet Weishaupts Fazit.240
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Vgl. H IV 290f., 292f. (Briefe an Hartknoch und Herder vom 7. bzw. 10. Mai 1781). Hamanns demonstratives Bekenntnis zur faulen und verkehrten Vernunft (die Begriffe hängen bei Kant eng zusammen und beziehen sich auf Verstöße gegen den regulativen Gebrauch der Vernunftideen, vgl. KrV A 689/B 717–A 694/B 722) ist hier Ausdruck seines Festhaltens an einer konstitutiven Gottesidee. Anders verwendet er die Begriffe am Ende seiner Rezension der Kritik. Vgl. Oswald Bayer: Die Geschichten der Vernunft sind die Kritik ihrer Reinheit. Hamanns Weg zur Metakritik Kants. In: Hamann – Kant – Herder, hg. von Gajek, S. 9–87, hier S. 40; Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 137–141. F V 235; vgl. auch F V 302f. Diese Rollenzuteilung hat auf der Seite des empirischen Reiseschriftstellertums der Zeit wiederum topischen Charakter. Das zeigt ein Blick in Bougainvilles Voyage autour du monde (1771), die von Forsters Vater 1772 ins Englische übersetzt wurde und im selben Jahr auch auf Deutsch erschien. In der Vorrede grenzt Bougainville sich als »Reisender und Seemann« entschieden von »jener Art von bequemen und stolzen Schriftstellern« ab, »welche im Schatten ihres Arbeitszimmers ins Blaue hinein über die Welt und ihre Bewohner philosophieren und sozusagen die Natur nach ihren eigensinnigen Einfällen bilden wollen« (Louis-Antoine de Bougainville: Reise um die Welt. Hg. von Klaus-Georg Popp. Berlin 41985, S. 21). Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 93. Vgl. auch ebd., S. 78f. Ebd., S. 97f.; vgl. ebd., S. 96. Vgl. die ähnliche Kritik Garves in einem Aufsatz von 1796: »[B]eynahe könnte uns, wenn wir die großen Denker die Gränzen der Philosophie, in Ansehung des Geistigen und Uebersinnlichen, immer mehr verengen sehen, für unsere Nachkommen bange werden, daß sie für ihr Nachdenken zu wenige Beschäftigung finden werden, und wenn sie Erfinder seyn wollen, nur die Körperwelt zum Gegenstande ihrer Untersuchung werden wählen können« (Christian Garve: Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken. In: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Zweyter Theil. Breslau 1796 [Repr. 1985], S. 245–430, hier S. 379).
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3. Diskurse der Grenzziehung a)
Grenzen und Grenzüberschreitung
Bei den bisher besprochenen Metaphern handelt es sich hauptsächlich um solche, die im Rahmen einer zeitlichen Prozesstopik (Revolution, Genesung, Wiederaufbau, Erweckung) den epochalen Stellenwert der Kantischen Philosophie im Verhältnis zur bisherigen Metaphysik charakterisieren. Im folgenden sollen nun diejenigen Metaphern im Mittelpunkt stehen, mit denen Kant im engeren Sinne seine vernunftkritischen Operationen beschreibt. Zwei Metaphern sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung: Grenze und Reinheit. Beiden Metaphern liegt eine ähnliche Situationstopik zugrunde, nämlich die Differenz von einem Inneren und einem (abzusondernden) Äußeren. Die Operationen der Begrenzung und Reinigung machen das negative Hauptgeschäft der Vernunftkritik aus, entsprechend Kants Feststellung in der Einleitung zur Kritik, dass die Leistung des vernunftkritischen Unternehmens »in Ansehung der Spekulation wirklich nur negativ sein« kann und »nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer Vernunft dienen« soll.241 Kants Rede über Grenzen, betont Manfred Kuehn zu Recht, »goes to the very heart of his philosophy«.242 Schon der vorkritische Kant definiert die Metaphysik als eine »Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft«;243 zur Vorgeschichte der Entstehung der Kritik gehört Kants Plan zu einem Werk mit dem Titel »Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft«.244 In seinen kritischen Schriften ist die Rede über Grenzen allgegenwärtig, ist doch das vernunftkritische Projekt im Kern das Projekt einer erkenntnistheoretischen Grenzziehung zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Reich der Dinge an sich. Kant demonstriert, dass sichere Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung beschränkt ist. Letzterer wird durch die 241
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KrV A 11/B 25; vgl. auch KrV A 12/B 26, A 640/B 668, A 795/B 823. In Anknüpfung an diese Stellen wird der negative, disziplinierende Charakter der kritischen Philosophie in der Diskussion immer wieder hervorgehoben. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 24. August 1782, Landau 18, 21; Schultz: Erläuterungen, S. 41, 110, 151f., 170; Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 63, 65, 258; Will: Vorlesungen, S. 78. Hinske hat die negative Selbstcharakterisierung der kritischen Philosophie als »Fazit« einer beim vorkritischen Kant schon lange bestehenden Tendenz bezeichnet (Hinske: Kants Weg, S. 115 Anm. 390). Kuehn: Kant, S. 261. WA I 983 (Träume eines Geistersehers); vgl. auch die wahrscheinlich aus den 1760er Jahren stammende Nachlass-Notiz: »Man könnte sagen die Metaphysik sey eine Wissenschaft von den Schranken der Menschlichen Vernunft« (AA XX 181). Vgl. Kants Briefe an Marcus Herz vom 7. Juni 1771 und 21. Februar 1772 (AA X 123, 129). Zu weiteren einschlägigen Stellen in Briefen und Schriften des vorkritischen Kant vgl. die Angaben bei Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken, S. 57 Anm. 156, 59f.
239 Prinzipien unseres Verstandes konstituiert, welche allein innerhalb dieses Bereichs Gültigkeit haben. Während die empirischen Einsichten im Feld der Erfahrung unendlich vermehrbar sind, sieht die Vernunft sich dabei zugleich immer wieder auf die Grenze zu einem Reich der Noumena verwiesen, das den empirischen Erscheinungen zugrunde liegt. Die Vernunft kann die Grenze nicht überspringen, ohne sich in Wahn und Schwärmerei zu verlieren. Diese Grenze ist in Kants Augen aber kein reines Negativum, indem sie auf die Realität eines Bereichs jenseits der Erfahrung notwendig hindeutet und damit einen Raum für den Glauben reserviert.245 Kant bezeichnet die Kritik der reinen Vernunft summarisch als ein »Werk, welches das reine Vernunftvermögen in seinem ganzen Umfange und Grenzen darstellt«.246 Auch seine Zeitgenossen bedienen sich mit Vorliebe der Metaphorik der Grenzziehung, um Inhalt und Leistung der kritischen Philosophie auf den Punkt zu bringen. Das trifft schon für die frühesten Prüfungen der Kritik zu. Gleich im ersten Absatz von Christian Garves Besprechung für die Allgemeine deutsche Bibliothek wird festgestellt: »Der eigentliche Zweck dieses Werkes ist, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen, und sein Inhalt, zu zeigen, daß die Vernunft allemal außer diesen Grenzen ausschweift, so oft sie etwas von der Wirklichkeit irgend eines Dinges behauptet.«247 Während in dieser Formulierung Vorbehalte gegenüber den skeptisch-idealistischen Tendenzen einer engen erkenntnistheoretischen Grenzziehung anklingen, hebt Johann Schultz deren disziplinierende Wirkung positiv hervor. Den Hauptteil seiner Erläuterungen leitet er mit der Bemerkung ein, Zweck der Kantischen Vernunftkritik sei es, »die wahren Grenzen abzustecken, über welche sie [d. i. die Vernunft] sich mit ihren Speculationen nicht hinauswagen darf, wofern sie sich nicht in ein leeres Feld von lauter Hirngespinsten verirren will«.248 Zahlreiche nachfolgende Würdigungen der kritischen Philosophie stellen den Aspekt der Grenzziehung in den Mittelpunkt. Breyer resümiert: »Alles zusammengenommen wäre also Vernunft-Critik: demonstrative Bestimmung der Grenzen unserer Vernunft […].«249 Heinicke betont: »[D]ie Kritik 245
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Vgl. KrV A 758/B 786-A 760/B 788; WA III 224–242 (Prolegomena, §§ 57–60: »Beschluss von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft«); sowie dazu Aloysius Winter: Transzendenz bei Kant. Über ein verborgenes Grundmotiv seines Denkens. In: ders.: Der andere Kant, S. 477–512 [zuerst in: Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik. Fs. Klaus Kremer. Hg. von Ludger Honnefelder/Werner Schüßler. Paderborn u. a. 1992, S. 193–221], hier S. 477–485; Kuehn: Kant, S. 261f.; Costantino Esposito: Die Schranken der Erfahrung und die Grenzen der Vernunft. Kants Moraltheologie. In: Aufklärung 21 (2009), S. 117–145, hier S. 127–130. WA III 120 (Prolegomena). AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 35. Die Formulierung geht womöglich auf das Konto Johann Jakob Engels, der zu Garves Rezension ein paar einleitende Bemerkungen beisteuerte (vgl. Böhr: Philosophie für die Welt, S. 94). Schultz: Erläuterungen, S. 14. Vgl. auch ebd., S. 154, 189. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abteilung, S. 12.
240 der reinen Vernunft von Herrn Kant lehrt uns […] die Gränzen kennen, wie und wie weit die Vernunft gehen kann«.250 Dorsch hält es für ein lohnendes Unterfangen, dem von Kant eingeschlagenen Weg zu folgen und »die wahren Grenzen zu bestimmen, über welche sich die Vernunft in ihren Spekulationen nicht hinauswagen darf«.251 Born rühmt an Kant, dass er »die wahre Grenzbestimmung der reinen Vernunft, und mithin auch den eigentlichen Umfang der Metaphysik, mit der pünktlichsten Genauigkeit abgesteckt« habe.252 Dufresne hält es für eine »Wohlthat, daß Hr. Kant einen Graben gezogen hat, über welchen das Wissen nicht hinaus gehen kann, und Gränzpfähle aufgestekt, von denen sich der Glaube nicht entfernen darf.«253 So oder so ähnlich lauten die typischen Paraphrasen.254 Wie eng der Diskurs der Grenzziehung im zeitgenössischen Bewusstsein mit der kritischen Philosophie verbunden war, zeigt eine Äußerung Schillers vom April 1788, in der anhand des Begriffs der Grenze der Bezug zu Kant (den Schiller zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingehender studiert hatte) hergestellt wird: »Ich müßte mich sehr irren«, schreibt Schiller seinem Freund Körner, »wenn das, was Du von trocknen Untersuchungen über menschliche Erkentniß und demüthigenden Gränzen des menschlichen Wissens fallen ließest, nicht eine entfernte Drohung – mit dem Kant in sich faßt.«255 Nun ist die Rede von der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis ein Gemeinplatz, der sehr viel älter ist als die Kantische Philosophie. In der Epoche der Aufklärung war es vor allem John Locke, der dem Topos seine spezifische philosophische Prägung gab, indem er ihm aus der Perspektive seines 250
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Heinicke: Metaphysik für Schulmeister, S. 328. Vgl. auch ders.: Ueber graue Vorurtheile, S. 109. Dorsch: Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit, S. 75. Born: Versuch, S. 126. Dufresne: Epistel, S. 21. Vgl. auch Jakob: Prüfung, S. 58; Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 65; Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 20; OALZ, Mai 1788, Sp. 867 (Doppelrezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität und Tittels Kantischen Denkformen); OALZ, Mai 1788, Sp. 1029 (Rezension zu Weishaupts Zweifeln); Heinicke: Vorbericht, S. Xf. (identisch mit ders.: Scheingötterei, S. 8f.); Jenisch: Skizze, S. 172, 176; Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 56f. NA XXV 40 (Brief vom 15. April 1788). Vorausgegangen war ein Brief Körners an Schiller vom 4. April, der die Philosophischen Briefe von 1786 fortsetzt. In der Rolle des Raphael kündigt Körner seinem Briefpartner Julius (= Schiller) eine »trockne Untersuchung über die Natur der menschlichen Erkenntniß« an, verschiebt sie jedoch auf eine Zeit, »da sie für Dich ein Bedürfniß seyn wird. Noch bist Du nicht in derjenigen Stimmung, wo die demüthigenden Wahrheiten von den Gränzen des menschlichen Wissens Dir interessant werden können« (NA XXI 158). Kants Name wird in dem Brief an keiner Stelle genannt. Schiller wusste allerdings über die Kantbegeisterung seines Freundes Bescheid. Dass dieser ihm schon seit längerem immer wieder »von Kanten vorgepredigt« hatte, geht zum Beispiel aus Körners Brief an Schiller vom 7. September 1787 hervor (NA XXXIII/1 143). Vgl. auch Körners Brief vom 19. August 1787, wo Herders Gott aus Kantischer Perspektive kritisiert wird (NA XXXIII/1 138–141).
241 erfahrungsorientierten Denkansatzes eine dezidiert antimetaphysische Stoßrichtung verlieh.256 In Deutschland wurde die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis hauptsächlich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Religion diskutiert, die das gesamte 18. Jahrhundert beherrschte.257 Auf seiten der Gegner eines ungehemmten Rationalismus berief man sich dabei schon frühzeitig auf erkenntnistheoretische Positionen Lockes – so etwa in dem Kampf, den die dem Pietismus nahestehenden Philosophen in der Nachfolge von Thomasius (Budde, Lange, Rüdiger, Hoffmann, Crusius) gegen einen Wolffschen Vernunftdogmatismus führten, welcher seine Ansprüche auch auf das Gebiet von Religion und Offenbarung ausdehnte.258 Aus den beiden miteinander konvergierenden Motiven philosophischer Selbstbeschränkung, dem theologischen Motiv der ThomasiusNachfolge und dem erkenntnistheoretischen Motiv Lockes, speist sich dann auch das Bekenntnis der Popularphilosophen zu einer bescheidenen Philosophie, die auf verstiegene metaphysische Begriffsbildungen verzichtet und sich mit dem begrenzten Wissen zufrieden gibt, das zuverlässig aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. In diesem Sinn betont zum Beispiel Feder in seinem weitverbreiteten Lehrbuch Logik und Metaphysik, die »rechte Art zu philosophiren« sei diejenige, »bey welcher man von nichts so bald und so nachdrücklich überzeuget wird, als von der Unvollkommenheit und den engen Schranken unserer natürlichen Erkenntniß«.259 Von daher hatten die Popularphilosophen kaum Schwierigkeiten, Kants vernunftkritischem Projekt in dessen negativer Zielsetzung, der Begrenzung dogmatischer Ansprüche, grundsätzlich zuzustimmen.260 Schon Garve betont in seiner ansonsten kritischen Rezension, die Kritik der reinen Vernunft verhelfe einem »zu deutlichern Einsichten von den Gränzen unsers Verstan-
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Vgl. Schmidt-Biggemann: In nullius verba iurare magistri, S. 209. Vgl. dazu den Abschnitt über »Religion als Hauptpunkt der Aufklärung« in: Goldenbaum: Die öffentliche Debatte, S. 32–79, bes. S. 47, 75. Vgl. ebd., S. 53–55; Giorgio Tonelli: The »Weakness« of Reason in the Age of Enlightenment. In: Scepticism in the Enlightenment. Hg. von Richard H. Popkin. Dordrecht u. a. 1997 (Archives internationales d’histoire des idées, Bd. 152), S. 35–50 [zuerst in: Diderot-Studies 14 (1971), S. 217–244], hier S. 39f. Zur ausführlicheren Charakterisierung der Thomasius-Schüler und ihrer Auseinandersetzung mit der Wolffschen Philosophie vgl. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, bes. S. 230–264; Beck: Early German Philosophy, S. 296–305, 394–402. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. 5., vermehrte Aufl. Göttingen 1778, S. 8f. Vgl. auch ebd., S. 247f. Zur allgemeinen Konjunktur der Frage nach den Grenzen menschlicher Vernunft in der europäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts vgl. Tonelli: The »Weakness« of Reason, sowie die reichhaltige Dokumentation in: ders.: La question des bornes de l’entendement humain au XVIIIe siècle et la genèse du criticisme kantien, particulièrement par rapport au problème de l’infini. In: Revue de métaphysique et de morale 64 (1959), S. 396–427, bes. S. 396–412, 425–427. Vgl. Erdmann: Entwicklung der deutschen Spekulation I, S. 251; Erdmann: Kants Kriticismus, S. 87.
242 des«, und räumt ein: »Von dieser Seite ist das Buch sehr wichtig.«261 Auch Ernst Platner konzediert in der Vorrede zu seinen Philosophischen Aphorismen, die Kritik der reinen Vernunft könne eine nützliche skeptische Haltung befördern helfen, welche »den eiteln Demonstrir- und Systemgeist in die Schranken des menschlichen Erkenntnisses zurückbringt«.262 Was allerdings die philosophischen Prinzipien betrifft, mit denen Kant die Widersprüche und Unsicherheiten der bisherigen Metaphysik zu beheben gedenkt – seine Theorie apriorischer Anschauungsformen und Begriffe, sein Maßstab apodiktischer Allgemeinheit und Notwendigkeit der Erkenntnis, sein transzendentaler Idealismus –, so können die Popularphilosophen hierin nichts anderes sehen als genau jene Art von dogmatischer Ausschweifung, die Kant doch sonst zu bekämpfen versprach.263 In diesem Zusammenhang kann der Vorwurf der Grenzüberschreitung zum Bestandteil anti-kantischer Polemik werden. Der angeblichen Neigung Kants, sich auf der Suche nach Letztbegründungen in Abstraktionen zu verlieren, die die Wahrheiten des gemeinen Menschenverstandes zu verdunkeln drohen, setzt Feder die Forderung entgegen: »Stille stehen müssen wir und uns bewußt werden, daß unsere Erkenntniß Grenzen hat«.264 Kants eigenes Projekt einer erkenntnistheoretischen Grenzbestimmung hat mit dem seiner Gegner gemeinsam, dass es in seinen vorkritischen Ursprüngen von Locke mit beeinflusst wurde.265 Allerdings verfuhr Locke nach Ansicht Kants nicht konsequent genug. Entgegen seinem Programm einer streng empirisch ausgerichteten Philosophie, so der Vorwurf in der Kritik der reinen Vernunft, gehe Locke doch faktisch »über die Grenze der Erfahrung hinaus«, wenn er seine aus der Erfahrung abgeleiteten Begriffe und Grundsätze dazu benutzt, erfahrungstranszendente Dinge wie das Dasein Gottes zu beweisen. Damit habe Locke der »Schwärmerei Tür und Tor« 261 262 263
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AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 51. Platner: Philosophische Aphorismen, 1. Teil, unpaginierte Vorrede. Im Brief an seinen Schwiegersohn Forster vom 16. August 1790 urteilt der Göttinger Philologe Heyne über die Kantische Philosophie: »[D]er demonstrativen Philosophie setzt sie einen herrlichen Damm entgegen; und das ist ihr gros Verdienst: wenn sie nur nicht selbst anfiengen Dogmatiker zu werden« (F XVIII 416). In dieselbe Richtung geht eine Äußerung Ernst Platners, von der Erhard in einem Brief an Reinhold vom 4. Mai 1791 berichtet (vgl. Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes Johann Benjamin Erhard. Hg. von Karl August Varnhagen von Ense. Stuttgart/Tübingen 1830, S. 302). Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 232. Vgl. auch Feders Anzeige des Buches in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 8. März 1787, Landau 510. Vgl. Brandt: Locke und Kant, S. 99f.; Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken, S. 57f. Norbert Hinske weist im Zusammenhang mit der Frage nach den »Grenzen« der Vernunft auf einen anderen möglichen Einfluss auf Kant hin, nämlich auf die Vernunftlehre (1756) von Hermann Samuel Reimarus. Vgl. Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Wolfgang Walter/Ludwig Borinski. Göttingen 1980 (Veröffentlichung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Nr. 38), S. 9–32, hier S. 22f.
243 geöffnet,266 welche von Kant an anderer Stelle als eine »nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft« definiert wird.267 Kants Vorwürfe treffen außer Locke die gesamte Gruppe der empiristischen Popularphilosophen, die von ihm abhängig waren. Lockes Auffassung, dass der aus der Erfahrung gewonnene Begriff der Kausalität dazu herangezogen werden könne, um auf das Dasein Gottes als notwendiger oberster Ursache zu schließen,268 machte einen Hauptpfeiler ihrer natürlichen Theologie aus.269 Im Vergleich zu der allgemeinen Rede von den Grenzen menschlicher Erkenntnis, die von den Popularphilosophen mit Berufung auf den gemeinen Menschenverstand immer dort gepflegt wird, wo philosophische Erklärungsversuche dunkel und unanschaulich werden, hat Kants Projekt einer erkenntnistheoretischen Grenzziehung einen präziseren Sinn. Angestrebt wird eine scharfe systematische Unterscheidung zwischen dem, was grundsätzlich den Status philosophischer Erkenntnis beanspruchen darf und was nicht.270 Überkommene metaphysische Ansätze, die sich der Grenzverletzung schuldig machen, können dieser Logik zufolge mit pauschaler Geste als wertlos verabschiedet werden. Eine solche Geste ist bei den Philosophen, die sich mit Kants Grenzziehung identifizieren, häufig zu beobachten. Schultz betont, »daß jeder Vernunftschluß, der auf Dinge geht, die außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegen, statt der Wahrheit nothwendig auf nichts, als Schein und Illusion hinauslaufen muß«.271 Heinicke formuliert in gleichem Zusammenhang noch drastischer: Wenn die Vernunft »in eine ihr noch unbekannte Welt, über die Bretter hinüber, klettert, dann assecurire ich keinen Heller auf sie«.272
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KrV A 854f./B 882f., KrV B 127. Dieses Urteil über Locke wird zitiert in Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, S. 153 (§ 320); Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 238–240. WA IV 208 (Kritik der praktischen Vernunft). Vgl. Tonelli: Die Anfänge von Kants Kritik der Kausalbeziehungen, S. 428. Tonelli verweist auf Lockes Essay, Buch IV, Kap. 10, § 4. Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975 [im folgenden zitiert unter Angabe von Buch, Kapitel und Paragraph], S. 620. Vgl. zum Beispiel Tittel: Kantische Denkformen, S. 35, 38f., 107f. Hinskes Charakterisierung des Unterschiedes zwischen H.S. Reimarus’ und Kants erkenntnistheoretischer Grenzziehung lässt sich auch für das Verhältnis von kritischer Philosophie und Popularphilosophie in Anspruch nehmen: Für letztere sind »die Grenzen der Vernunft, pointiert formuliert, die Grenzen der Analysis, für den Kant der Kritik dagegen sind sie die Grenzen der Synthesis« (Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant, S. 23). Schultz: Erläuterungen, S. 83. Samuel Heinicke: Vom Unterschiede der Verstandes- und Vernunftbegriffe. In: Dreßdnische Gelehrte Anzeigen, 10. Stück (1787), S. 79f., und 11. Stück (1787), S. 81–84. Zitiert nach Heinicke: Gesammelte Schriften, S. 641–643, hier S. 643. Vgl. auch ders.: Scheingötterei, S. 224.
244 Häufig wird der Vorwurf der Grenzübertretung ganz konkret gegen einzelne Gegner der kritischen Philosophie gerichtet. Anlässlich der Besprechung seines philosophischen Romans Amyntor wird Eberhard in Bahrdts Neuen Litteratur-Briefen ermahnt, sich gefühlvoller Frömmeleien zu enthalten, sofern er ihnen nicht »durch die Vernunft […] ihre Gränze, die sie nicht überschreiten dürfen, aufs deutlichste anweisen kan«.273 Ludwig Heinrich Jakob führt Jacobi als Beispiel dafür an, wie selbst scharfsinnige Köpfe »sich in ihren Ausschweifungen in dieses Feld [übersinnlicher Gegenstände] noch durch keine Kritik wollen zurückhalten lassen, indem sie sich noch immer einbilden, hier etwas zu erobern […]«.274 In seiner Rezension zu Abels Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen weist Born den darin geführten Beweis für die Substanzialität der Seele als »Trugschluß« zurück, denn: »So bald man reine Verstandesbegriffe auf Dinge, so außer dem Gebiete der Erfahrung liegen […], anwenden will, ist Illusion unvermeidlich.«275 Die apodiktischen Grenzziehungen der Kantianer werden von ihren Gegnern nicht widerspruchslos hingenommen. Johann Peter Andreas Müller dürfte einer weitverbreiteten Meinung Ausdruck verliehen haben, wenn er in seiner Rezension zur Kritik der reinen Vernunft erklärt, dass Kant »eigentlich aller Philosophie Hohn spricht, indem er sie an die wirkliche und mögliche Erfahrung so vest anbinden will, daß über dieselbe im Ernst nicht um einen Schritt hinaus gegangen werden soll«.276 Die Bemerkung ist auf denjenigen Abschnitt der Kritik bezogen, der für die Zeitgenossen das größte Skandalon darstellte: die Verabschiedung aller spekulativen Theologie am Ende der transzendentalen Dialektik.277 Konkret zitiert Müller Kants Äußerung, dass die herkömmlichen Gottesbeweise hinfällig seien, weil sie »eine Erweiterung unserer Erkenntnis über alle Grenzen der Erfahrung hinaus« verlangen.278 Die Überschreitung der Grenze zum Reich der Noumena wurde aber von den Popularphilosophen – bei allem grundsätzlichen Bekenntnis zu einem erfahrungsgeleiteten Philosophieren – vehement gegen Kant verteidigt, um einem erkenntnistheoretischen Subjektivismus zu entgehen und die rationale Theologie zu retten. »Des Uebergangs aus der Sinnenwelt in die Verstandeswelt können wir […] nicht entbehren«, betont zum Beispiel Reimarus in seiner Untersu273 274 275
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Anonym: Ueber Amyntor, S. 14. Jakob: Brief an den Herausgeber, S. 241. Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 2. Dezember 1786, Landau 476. Zu weiteren Bekräftigungen des Verbots der Grenzüberschreitung vgl. zum Beispiel Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, S. 99 (§ 229); Knoblauch: Ueber Wunder, S. 87, 89; Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 121, 192f.; Born: Versuch, S. 40, 42. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 319. Vgl. KrV A 631/B 659-A 642/B 670 (»Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft«). KrV A 637/B 665.
245 chung Ueber die Gründe der menschlichen Erkentniß und der natürlichen Religion.279 Reimarus wehrt sich dagegen, die Grenzen der Erfahrung mit denjenigen möglicher Erkenntnis gleichzusetzen: »Daß aber ein Gegenstand ausser den Grenzen der Erfahrung liegt, sezt ihn doch nicht ausser den Grenzen der Schlußfolgen.«280 Die Konsistenz der Erscheinungen erlaube den Schluss auf ihnen zugrundeliegende reale Dinge außer uns281 ebenso wie letztlich auf das Dasein Gottes als ihrer obersten Ursache.282 Auch nach Ansicht Abels ist der scheinbar »kühne Sprung« von der Erfahrung zur Erkenntnis ihrer unsichtbaren Quelle, die selbst »ausser den Gränzen aller Erfahrung« liegt, legitim.283 Ausführlich gerechtfertigt wird die transzendente Ausweitung des empirischen Grundsatzes von Ursache und Wirkung in Feders Abhandlung Ueber Raum und Caussalität. Die Frage, »ob es recht seyn könne«, den Gebrauch des Begriffs der Kausalität »über die Grenzen der Sinnlichkeit und aller unserer Erfahrung auszudehnen«,284 wird von Feder entschieden bejaht. Ein wesentliches Element seiner Argumentation ist der Verweis auf das Prinzip der Analogie. Analogisches Schließen, also das Schließen nach Ähnlichkeiten (zum Beispiel von ähnlichen Wirkungen auf ähnliche Ursachen oder umgekehrt), ist für Feder ein natürliches Grundgesetz unseres Verstandes.285 Wollte man es für unzulässig erklären und unsere Vernunfteinsichten streng auf dasjenige begrenzen, was unmittelbar in der Empfindung gegenwärtig ist, so bliebe von unserer Erkenntnis kaum etwas übrig.286 Unser Wissen (zum Beispiel in der Naturlehre) beruhe doch ganz wesentlich auf dem Verfahren, dass wir von dem, was wir in der Erfahrung einsehen, durch Vergleich ähnlicher Fälle auf bestimmte Ursachen schließen, auch wenn wir von diesen Ursachen selbst keine direkte Erfahrung haben können.287 Die Analogie ist Feder zufolge das Mittel, mit dessen Hilfe der menschliche Verstand seine Einsichten beständig vervollkommnet und erweitert288 – bis hinauf zur Erkenntnis Gottes als einer obersten intelligiblen Ursache.289 Als ein Schlussverfahren, das einerseits eng auf Beobachtung und Erfahrung bezogen bleibt und damit empirisch legitimiert ist, andererseits aber 279 280 281 282 283
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Reimarus: Ueber die Gründe, Inhaltsverzeichnis, § 29; vgl. auch ebd., S. 74, 90. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 69–73 Vgl. ebd., S. 91–94. Vgl. Abel: Plan, S. 4f.; vgl. auch ebd., S. 165. Als weitere Beispiele für diese Auffassung vgl. auch Tiedemann: Ueber die Natur der Metaphysik, Hausius II 70; Pistorius’ Rezension zu Schultzes Erläuterungen, AdB 66/1 (1786), Landau 347; Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 115–117, 154f., 160, 163f. Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 174. Vgl. ebd., S. 123f., 165, 180, 238. Vgl. ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 175, 177, 185f. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 195–200.
246 auch den Anspruch auf metaphysische Wesenserkenntnis einlösbar erscheinen lässt, ist die Analogie in der empiristischen Tradition von zentraler Bedeutung.290 Auch in der Popularphilosophie der Spätaufklärung kommt dem Common-Sense-Prinzip der Analogie eine Schlüsselrolle zu.291 Das wird gerade in der Auseinandersetzung mit Kant sichtbar.292 So führt zum Beispiel auch Weishaupt die Analogie als das entscheidende Prinzip an, welches uns den »Uebergang von einer sinnlichen zu einer uebersinnlichen Welt« bahnt,293 indem es den »Schluß von dem bekannten auf das unbekannte, von der Sinnenwelt und den Erscheinungen, auf das übersinnliche das keine Erscheinung ist« erlaubt294 und dadurch den Kantischen Subjektivismus widerlegt. Ist die Zulässigkeit dieser Schlussart nur an einem einzigen Beispiel erwiesen, so öffnet sich der Vermehrung menschlicher Vernunfteinsichten ein prinzipiell unbegrenzter Bereich: Lassen wir aber den Schluß von dem bekannten auf das unbekannte gelten, so ist der menschlichen Vernunft nichts unzugänglich. Durch ihre Hülfe können wir noch weiter gehen, als wir bisher gegangen sind. Und so wie Archimedes die Erde selbst würde bewegt haben, wenn er außer der Erde eine feste Stelle hätte finden können: eben so möglich muß es dem menschlichen Geist seyn, Dinge zu ergründen, die ganz außer der Sphäre aller Anschauungen liegen, sobald er einen einzigen Saz hat, auf welchen er vertrauen kann, sobald er nur zwey Gegenstände hat, die er mit und untereinander vergleichen kann.295
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Zur Analogie bei Bacon und Locke vgl. Katharine Park: Bacon’s »Enchanted Glass«. In: Isis 75 (1984), S. 290–302, bes. S. 294f., 298f.; David E. Soles: Locke’s Empiricism and the Postulation of Unobservables. In: Journal of the History of Philosophy 23 (1985), S. 339–369, hier S. 361–365. Vgl. Feder: Logik und Metaphysik, S. 246, 277, 293 (sowie dazu Brandt: Feder und Kant, S. 253); ders.: Untersuchungen über den menschlichen Willen. Erster Theil. Göttingen/Lemgo 1779, S. 14–16; Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. 174f.; Abel: Einleitung in die Seelenlehre, § 454; Schulze: Grundriß der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 248 Anm. 4. Als prominente Apologeten der Analogie werden von Meiners und Schulze unter anderem folgende Autoren angeführt: Locke (vgl. Locke: Essay, Buch IV, Kap. 16, § 12), der von Pistorius übersetzte David Hartley (vgl. Hartley: Betrachtungen über den Menschen, Bd. 2, S. 25–29), Reid (vgl. Reid: Untersuchung über den menschlichen Geist, S. 369–373) und Tetens (vgl. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [Repr. 1913 (nur Bd. 1), 1979]. Bd. 1, S. XIX–XXIV, 51f.). Vgl. Selle: Versuch eines Beweises, Hausius I 105 (vgl. auch die vorausgegangenen Aufsätze: Christian Gottlieb Selle: Von der analogischen Schlußart. In: Berlinische Monatsschrift, August 1784, S. 185–187; ders.: Nähere Bestimmung der analogischen Schlußart. In: Berlinische Monatsschrift, Oktober 1784, S. 334–337); ders.: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 54–56, 127; Waldin: Grundsätze der natürlichen Theologie, S. 78f.; Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 27, 70. Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 42. Ebd., S. 52. Ebd., S. 90.
247 Die Analogie wird so für Weishaupt zu einer »untrüglichen Wegweiserin in unbekannten Feldern unserer Erkenntnis«.296 Das Pathos der Entgrenzung, des Fortschreitens zu immer neuen Entdeckungen, das Weishaupts Äußerungen kennzeichnet,297 entspricht der emphatischen Hinwendung der Popularphilosophen zur Mannigfaltigkeit der Gegenstände, zur Erschließung verschiedenster Wissensbereiche unter der Anleitung von Beobachtung, Erfahrung und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Dieser Impuls und die damit verbundene Ablehnung vorgegebener Systemzwänge waren es, welche das Selbstverständnis der Popularphilosophen in Abgrenzung von der Schulphilosophie maßgeblich prägten und für die Aufbruchstimmung verantwortlich waren, die die Bewegung besonders in ihrer früheren Phase umgab. Ein Zeugnis dafür ist Garves Rezension zur dritten Sammlung von Herders Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (1767), in der Herder als Repräsentant eines neuen Philosophierens gewürdigt wird, das sich nicht mehr in einem vorgeschriebenen »Cirkel von Ideen« aufhält, sondern sich über alle möglichen Gegenstände erstreckt und dabei die »Schranken« hinter sich lässt, die ihm bisher durch den »Geist des Systems« gesetzt waren.298 »Die Absage an das System«, so kommentiert Kurt Wölfel Garves Rezension, – Leitthema der Philosophie des sensus communis – wird von der Aufforderung an das Räsonnement begleitet, sich nicht mehr in die alten Begriffe einschließen zu lassen, sondern in eine nicht beschränkte materiale Weite sich auszubreiten. Da drückt sich ein zukunftsfrohes, überlegenes Gefühl aus, als beginne ein neues Kapitel in der Erkundung und Entdeckung der Welt und des Menschen.299
Als Leitfiguren dieser philosophischen Neuorientierung fungierten die beiden großen Begründer der neuzeitlichen Erfahrungsphilosophie, Bacon und Locke.300 Die Polemik gegen apriorische Grenzziehungen zugunsten einer unbefangenen Sichtung des empirischen Materials und einer schrankenlosen Erkundung aller Wissensbereiche ist beiden gemein. »So lange die Wissenschaft in Aphorismen und Beobachtungen ausgestreuet ist«, lautet eine Be-
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Weishaupt: Zweifel, S. 74. Zur Analogie als Wegweiserin zu neuen Entdeckungen vgl. auch Tetens: Philosophische Versuche, Bd. 1, S. XXII; sowie Hans Dietrich Irmscher: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 64–97. Vgl. auch Reimarus: Ueber die Gründe, S. 84–87; Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 193. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 5 (1767), 2. Stück, S. 241f.; zitiert nach Kurt Wölfel: Nachwort, S. 43*. Ebd., S. 43*f. Vgl. zum Beispiel Dorsch: Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit, S. 72f., wo Bacon und Locke als die beiden »Schöpfer der neuern Philosophie« genannt werden. Gemeint ist damit die empirisch-analogische Philosophie im Unterschied zur demonstrativischen und zur neuesten kritischen Philosophie. Vgl. auch Dorschs Rezension zu Tittels Erläuterungen, Landau 226.
248 merkung aus Bacons De augmentis scientiarum (1623) in der Übersetzung Herders, »kann sie wachsen: von der Methode umzäunt und umschlossen, kann sie etwa erläutert, gefeilt, zum Gebrauch bequem gemacht werden, an Gehalt aber nimmt sie nicht mehr zu.«301 Und während Locke (wie oben erwähnt) einerseits betont, dass der menschlichen Vernunft gewisse unüberwindliche Grenzen gesetzt sind, so spricht er sich andererseits nachdrücklich für eine größtmögliche Erweiterung der Erkenntnis aus, die über die Beschränkungen eines voreingenommenen philosophischen Standpunkts hinausgeht.302 In seiner postum veröffentlichten Schrift Of the Conduct of the Understanding (1706) zum Beispiel warnt er vor einer einseitigen wissenschaftlichen Spezialisierung, die den Verstand »in enge Grenzen einschliesset und ihn hindert in andre Gegenden der Welt des Verstandes hinaus zu sehen, welche vielleicht schöner und fruchtbarer sind, als diejenige, in welcher er so lange gearbeitet hat«.303 Die Rhetorik der Entgrenzung, die sich gegen methodisch-systematische Beschränkungen richtet, ist in der empiristisch-popularphilosophischen Tradition also fest etabliert. Der transzendentalphilosophische Diskurs der Grenzziehung fordert aus dieser Perspektive zum Widerstand heraus. Steht die Grenzziehungsmetapher nach Kantischem Selbstverständnis für ein diszipliniertes, sich aller Schwärmerei enthaltendes Philosophieren, so wird sie in der Inversion durch Kants Gegner zum Ausweis von Borniertheit und Überheblichkeit des Systematikers, der glaubt, alle möglichen Formen von Erkenntnis in seine starre Ordnung zwingen zu können, und des Skeptizisten, der sich darin gefällt, die menschliche Vernunft in ihren Ansprüchen zu de301
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SWS X 402. Das Zitat steht am Ende des dritten Teils der Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1781, 21786). Die Passage bei Bacon lautet: »[S]cientia, quamdiu in aphorismos et observationes spargitur, crescere potest et exurgere; sed methodis semel circumscripta et conclusa, expoliri forsan et illustrari aut ad usus humanos edolari potest, non autem porro mole augeri« (The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding u. a. London 1857–1874 [Repr. 1961–1963 und 1989–1991] [im folgenden: BW]. Bd. 1, S. 460). Zur Bedeutung Bacons für Herder vgl. Hugh Barr Nisbet: Herder and Francis Bacon. In: The Modern Language Review 62 (1967), S. 267–283 (dort auch der Hinweis auf das Zitat, S. 270). Auch Garve führt in der oben erwähnten Herder-Rezension Bacon gegen das Systemdenken ins Feld; vgl. Wölfel: Nachwort, S. 43*f. Vgl. auch Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 253. Zu dieser doppelten Perspektive bei Locke vgl. Ivano Petrocchi: Die Rezeption von Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 18 (2006), S. 143–158, hier S. 146. John Locke: Anleitung des menschlichen Verstandes. Übers. von Georg David Kypke [Königsberg 1755]. Hg. von Terry Boswell u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1996, S. 83 (§ 50); vgl. auch ebd., S. 11 (§ 5). Zur Rezeption dieser Schrift in der deutschen Aufklärungsphilosophie vgl. die Einleitung der Herausgeber, ebd., S. IX–XXVIII, hier S. XIX–XXI, sowie Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken, S. 63–65; Ivano Petrocchi: Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding und ihr Einfluß auf Kant. Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Studien zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 9).
249 mütigen. Empört wendet Tittel sich gegen Kants Unternehmen, durch ein festes Inventar transzendentaler Verstandeskategorien »alle menschmögliche Einsichten […] völlig zu umzingeln und einzuklammern«.304 Adam Weishaupt stellt im selben Zusammenhang fest: »Wenn das Kantische System der Categorien wahr ist, zu welchem beschränkten, erbärmlichen, kleinfügigen Wesen wird unser Verstand, dieser Stolz unserer Natur?«305 Dass Kants System dem menschlichen Trieb nach Erkenntniserweiterung »unübersteigliche Schranken« setze, führt in Weishaupts Augen zu einer resignativen Haltung, die philosophisch kaum zu verantworten ist: »[W]ir bleiben stehen, wo wir noch weiter gehen sollten; wir dünken uns groß daß wir nichts wissen; und da wir das enge Gebiet unserer Erkenntniß so frühzeitig erschöpft zu haben glauben, so verfallen wir auf tausend Dinge die weniger werth sind; wir thun am Ende Verzicht auf alles weitere Forschen und Denken.«306 Ähnlich äußert sich ein Züricher Rezensent über Karl Spaziers Antiphädon: Spaziers Bekenntnis zu einem kritischen Idealismus, der auf sämtliche Erkenntnisansprüche »außer allem meinen Erfahrungsbezirk« verzichtet, da hier nichts als »leere Schattenreiche« zu finden seien,307 wird mit dem Einwand beantwortet, dass wir uns durch eine solche Selbstbeschränkung eines wichtigen und durchaus legitimen Bereichs metaphysischer Erkenntnis voreilig beraubten: »Wie aber wenn [der kritische Idealismus] nicht läre Schattenreiche zerstöhrte, sondern uns nur hinderte glücklich angefangene Entdeckungen in einem schwerzugänglichen, aber nicht unzugänglichen, noch weniger bloß eingebildeten Felde des Wissens fortzusetzen?«308
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Insel und Seereise
Die transzendentalphilosophische Vorstellung von einem streng abgrenzbaren Bezirk möglicher Erkenntnis, der von einem unzugänglichen Raum der Noumena umgeben ist,309 findet bei Kant ihren bildhaften Niederschlag in der Metapher der Insel. Das zeigt die berühmte Stelle in der Kritik der reinen Vernunft am Übergang von der transzendentalen Analytik zur transzendentalen Dialektik, wo das »Land des reinen Verstandes« beschrieben wird: Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des 304 305 306 307 308
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Tittel: Kantische Denkformen, S. 10. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 88. Ebd., S. 93, 96. Spazier: Antiphädon, S. 40, 41. Bibliothek der neusten theologischen, philosophischen, und schönen Litteratur 3 (1786), 2. Stück, Landau 438. Vgl. zum Beispiel auch Prolegomena, WA III 227 (die Stelle wird zitiert bei Schultz: Erläuterungen, S. 155, und in Pistorius’ Rezension, Landau 103); OALZ, Mai 1788, Sp. 1029 (Rezension zu Weishaupts Zweifeln); Born: Versuch, S. 122.
250 Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.310
Die Schilderung partizipiert an der topischen Vorstellung von der Metaphysik als einem gefährlichen Meer, in dem der Philosoph leicht scheitern kann. Der Topos war in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts geläufig.311 Auch beim vorkritischen Kant kommt er vor. In der Vorrede zum Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (1763) etwa wird die Metaphysik als ein »finsterer Ozean ohne Ufer und ohne Leuchttürme« bezeichnet, in welchem unbemerkte Strömungen den Lauf des Seefahrers stets zu verwirren drohen.312 In Übereinstimmung mit der topischen Tradition zielt Kants Bildgebrauch hier darauf ab, die Metaphysik als ein diffiziles Unternehmen zu kennzeichnen, bei dem der Philosoph größte Vorsicht walten lassen muss, wenn er nicht auf spekulative Abwege geraten will. Die Notwendigkeit der Seereise an sich wird dabei von Kant zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage gestellt: Um das Wesen der Dinge zu erforschen, sei es notwendig, sich vom Ufer der Naturerscheinungen weg auf die hohe See der Metaphysik zu begeben, heißt es in der Monadologia physica (1756).313 Anders in der Kritik der reinen Vernunft. Hier tendiert Kant dazu, der Vernunft jegliches Reiseabenteuer zu untersagen.314 Das wird im Fort310 311
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KrV A 235f./B 294f. Vgl. die Beispiele bei Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 40 Anm. 2, und bei Aloysius Winter: Seele als Problem in der Transzendentalphilosophie Kants unter besonderer Berücksichtigung des Paralogismus-Kapitels. In: ders.: Der andere Kant, S. 163–255 [zuerst in: Seele. Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person. Hg. von Klaus Kremer. Leiden/Köln 1984 (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie, Bd. 10), S. 100–168], hier S. 194 Anm. 132. In literarischer Form taucht das Bild zum Beispiel auch in Hallers Lehrgedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1729) auf (vgl. Albrecht von Haller: Gedichte. Hg. und eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld 1882 [Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, Bd. 3], S. 55, V. 269–280). Die Stelle wird teilweise in Tetens’ Schrift Ueber die allgemeine speculativische Philosophie (1775) zitiert; vgl. Tetens: Kleinere Schriften, Teil 2, S. 20. Zu maritimen Topoi bei Kant vgl. ferner Thorsten Feldbusch: Zwischen Land und Meer. Schreiben auf den Grenzen. Würzburg 2003 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 465), S. 169–180. WA I 621f. Vgl. WA I 516. Eine restriktivere Bildlogik herrscht auch bereits in Kants Dissertation De mundi sensibilis (1770) vor (vgl. WA III 80). Vgl. auch zwei vermutlich aus den späten 1770er Jahren stammende Notizen Kants, wo vom »continent« unserer Erkenntnis die Rede ist, der durch einen Ozean begrenzt wird (AA XVIII 38, Refl. 4949), bzw. wo die Vernunftkritik als Mittel gegen philosophisches Fernweh charakterisiert wird: »Die Critik der reinen Vernunft ist ein Präservativ vor eine Krankheit der Vernunft, welche ihren Keim in unserer Natur hat. Sie ist das Gegentheil von der Neigung, die uns an unser Vaterland fesselt (Heimweh). Eine Sehnsucht, uns ausser unserm Kreise zu verlieren und Andre Welten zu beziehen« (AA XVIII 79f., Refl. 5073).
251 gang des obigen Zitats von der ›Insel des reinen Verstandes‹ deutlich, die vom ›Meer des Scheins‹ umgeben ist: Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen, und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und […] zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten […].315
Kant blickt hier zurück auf das in der transzendentalen Analytik Geleistete, die Bestimmung des Umfangs und der Prinzipien der Verstandeserkenntnis, um sich gleichzeitig skeptisch über die Erkenntnisaussichten in demjenigen Bereich zu äußern, dem er sich nun in der transzendentalen Dialektik zuwenden will, dem Bereich der traditionellen metaphysischen Hauptfragen nach Gott, Seele und Freiheit. Einige Abschnitte später, am Ende des ersten Hauptstückes der transzendentalen Dialektik (in der ersten Auflage der Kritik), wird diese Skepsis mittels derselben Bildlichkeit bestätigt und bekräftigt. Angesichts der endlosen dogmatischen Streitereien über die Beschaffenheit der Seele und ihren Zusammenhang mit der Körperwelt unterstreicht Kant seine Forderung nach einer »nach sicheren Grundsätzen vollzogenen Grenzbestimmung« der Vernunft, welche ihr nihil ulterius mit größester Zuverlässigkeit an die herkulische Säulen heftet, die die Natur selbst aufgestellet hat, um die Fahrt unserer Vernunft nur so weit, als die stetig fortlaufenden Küsten der Erfahrung reichen, fortzusetzen, die wir nicht verlassen können, ohne uns auf einen uferlosen Ozean zu wagen, der uns, unter immer trüglichen Aussichten, am Ende nötigt, alle beschwerliche und langwierige Bemühung, als hoffnungslos aufzugeben.316
Wenn Kant hier die herkulischen Säulen, die in der antiken Mythologie den Weltrand markierten, als Sinnbild einer absoluten Grenze philosophischer Erkenntniserweiterung in ihr Recht setzt, so wirkt dies wie eine Replik auf jene ikonische Darstellung, in welcher der Aufbruchsgeist der neuzeitlichen Philosophie ihren berühmtesten Ausdruck fand: die Titelillustration zu Francis Bacons Novum Organum (1620). Das Bild zeigt im Vordergrund ein Säulenpaar, dahinter öffnet sich die Weite des Meeres. Ein Schiff ist gerade dabei, durch die Säulen hindurchzufahren, ein anderes befindet sich auf hoher See. Das Bild ist mit dem Motto versehen: »Multi pertransibunt & augebitur scientia«.317 Das in Tradition und Vorurteil befangene Denken, so das implizierte Programm Bacons, soll einem Philosophieren weichen, welches, gestützt auf Beobachtung und Induktion, eine »grenzenlose, progressive 315 316 317
KrV A 236/B 295. KrV A 395f. Vgl. die Reproduktion in: Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch – deutsch. Hg. von Wolfgang Krohn. 2 Bde. Hamburg 1990 (Philosophische Bibliothek, Bd. 400). Bd. 1, S. 1.
252 Dynamik des Wissens« freisetzt.318 Im Sinne dieses Programms wird der metaphorische Bezug zu den Säulen des Herkules und zur Fahrt aufs offene Meer im Text der Instauratio Magna (von der das Novum Organum die erste Teilveröffentlichung bildete) an mehreren Stellen aufgenommen.319 Auf Bacon und das Novum Organum bezieht sich bewundernd auch Locke in der (von Kant rezipierten) Anleitung des menschlichen Verstandes, wo er den »grossen Lord Verulamius« dafür lobt, dass er sich nicht mit demjenigen an Erkenntnis begnügte, »was da war«, sondern »sein Gemüthe biß auf dasjenige erweiterte, was da seyn konnte.«320 Auch Locke fasst sein Plädoyer für eine größtmögliche Extension philosophischer Einsichten in die Metaphern von Insel und Seereise: Er kritisiert diejenigen, die sich »in der Welt der Erkäntniß ein kleines Gosen« abzirkeln und sich nicht »in das grosse Meer der Erkäntniß heraus wagen«.321 Im Essay Concerning Human Understanding empfiehlt Locke den Philosophen, sich nicht in unfruchtbaren theoretischen Wortstreitigkeiten zu verzetteln, sondern sich ein Beispiel am praktischen Wagemut der Entdeckungsreisenden zu nehmen: »Had Men, in the discoveries of the material, done, as they have in those of the intellectual World, […] Ships built, and Fleets set out, would never have taught us the way beyond the Line; and the Antipodes would be still as much unknown, as when it was declared Heresy to hold there were any.«322 Obwohl die Erfahrungsphilosophie eher skeptisch gegenüber Fahrten auf dem Ozean der Metaphysik eingestellt ist,323 hat die Seereise-Metapher zur 318
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Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a. M. 1990, S. 78f.; vgl. auch Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 1973, S. 192–200. Ralf Konersmann weist darauf hin, dass die Schiffe auf Bacons Frontispiz ihren Bugspriet dem Betrachter zuwenden, und deutet ihre Bewegung entsprechend nicht als Ausfahrt, sondern als Heimkehr (vgl. Ralf Konersmann: Francis Bacon und die »große simple Linie«. Zur Vorgeschichte perspektivischer Metaphorik. In: Perspektiven des Perspektivismus. Hg. von Volker Gerhardt/Norbert Herold. Würzburg 1992, S. 33–57, hier S. 33 Anm. 1). Das ändert jedoch nichts daran, dass auch Konersmanns Interpretation den Aspekt des Aufbruchs und der Grenzüberschreitung in den Mittelpunkt stellt (vgl. zum Beispiel ebd., S. 46: Dargestellt werde der »Augenblick der Heimkunft, der zu weiteren Aufbrüchen ermutigt«). Vgl. Bacon: Neues Organon, Bd. 1, S. 12, 26, 40, sowie De augmentis scientiarum, BW I 485/IV 283, BW I 565/IV 360. Locke: Anleitung, S. 3 (§ 2). Ebd., S. 10 (§ 5). »Gosen« ist die biblische Bezeichnung für den Landstrich in Ägypten, der den Israeliten als Wohnsitz zugewiesen wurde. Die metaphorische Verwendung dieses Ausdrucks bei Kant (vgl. AA XXIV/1 94, 142) gilt als wichtiges Indiz dafür, dass er die von seinem Königsberger Kollegen Georg David Kypke ins Deutsche übersetzte Schrift Lockes kannte. Vgl. Winter: Selbstdenken – Antinomien – Schranken, S. 29–34, 40, 61f.; Boswell/Pozzo/Schwaiger: Einleitung, S. XXIf. Locke: Essay, Buch IV, Kap. 3, § 30. Vgl. auch Bacon: Neues Organon, Bd. 1, S. 180. So gebraucht Locke an anderen Stellen des Essay (vgl. Buch I, Kap. 1, §§ 6f.) die Metaphern von Ozean und Seereise im Sinne seiner Forderung nach einer erkenntnistheoretischen Grenzziehung.
253 Kennzeichnung eines progressiv-dynamischen Denkens also auch im Empirismus Tradition. Entsprechend ist das Bild auch im Diskurs der deutschen Popularphilosophen fest etabliert. Die Auffassung, dass Erfahrung und Empfindung den Ausgangspunkt allen Philosophierens bilden müssten, dass die Vernunft aber im Stande sei, mittels rationaler Bearbeitung der Eindrücke (zum Beispiel durch Induktion oder Analogieschlüsse) zu erfahrungstranszendenten Erkenntnissen zu gelangen, kleideten sie mit Vorliebe in die duale Metapher von den Küsten der Erfahrung und der Seereise der Vernunft. In seinem (zuerst 1769 erschienenen) Lehrbuch Logik und Metaphysik erklärt Feder: »Das Gefühl ist gleich einem Schiffer, der sich immer nahe an das Ufer hält; die Vernunft gleich einem Seefahrer, der den Ocean durchkreuzet. Ist mehr Gefahr beym letzteren; so ist auch mehr Hoffnung des Gewinnstes.«324 Ähnlich beschreibt Johann Nikolaus Tetens, den Kant während der Entstehungszeit der Kritik intensiv rezipierte, die Metaphysik als eine Reise über den Ozean, bei der man zur Orientierung auf die Ufer der Erfahrung angewiesen sei.325 In Kants Bild von der Insel des reinen Verstandes manifestiert sich ein Impuls seines vernunftkritischen Philosophierens, der der Popularphilosophie entgegengesetzt ist: apodiktische Selbstbeschränkung statt induktiver und analogischer Erweiterung der Erfahrungserkenntnis bis ins Reich des Noumenalen hinaus.326 Seine Inselmetapher steht in gewisser Hinsicht der Metaphorik nahe, die David Hume verwendet, wenn er am Schluss des ersten Buches des Treatise of Human Nature (1739) sein skeptizistisches Bekenntnis formuliert. Kant kannte die Passage möglicherweise in der Übersetzung Hamanns, die 1771 unter dem Titel »Nachtgedanken eines Zweiflers« in den Königsbergischen Zeitungen veröffentlicht wurde.327 324
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Feder: Logik und Metaphysik, S. 165 Anm. Vgl. auch die Erläuterungen dieser Stelle bei Palachy: J.G.H. Feders Erkenntnistheorie, S. 20; Kuehn: Scottish Common Sense, S. 77. Vgl. Tetens’ Schrift Ueber die allgemeine speculativische Philosophie, Kleinere Schriften, Teil 2, S. 20f.; ders.: Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 151. Vgl. ähnlich auch Herder in den Ideen, HW III/1 259; Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 151. Zu Kants Tetens-Rezeption vgl. Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Berlin 1912, S. 184–186; Hinske: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, S. 31; Winter: Seele als Problem, S. 193f. Zu Kants Skepsis gegenüber der Analogie, welcher er im Hinblick auf erfahrungstranszendente Gegenstände jede erkenntniserweiternde Funktion abspricht (ihre Schlüsse stehen unter dem strikten Vorbehalt des »als ob«), vgl. Winter: Transzendentale Theologie der Erkenntnis, S. 408–414; Annemarie Pieper: Kant und die Methode der Analogie. In: Kant in der Diskussion der Moderne, hg. von Schönrich/Kato, S. 92–112. Zur These, dass Hamanns Hume-Übersetzung Kant entscheidend beeinflusste, vgl. Kuehn: Kant’s Conception of »Hume’s Problem«, S. 185f.; Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 83–101; Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 119 Anm. 12, S. 160f. Bayer vermutet denn auch in Kants Inselmetapher ein Hume-Zitat (vgl. ebd., S. 163). Zur Inselmetapher als Replik auf Hume vgl. auch schon Kathleen Wright:
254 Hume vergleicht in diesem Text die menschliche Erkenntnisfähigkeit mit einem schadhaften Gefährt, das zu großen Seereisen kaum geeignet sei, und sieht sich als Philosoph genötigt, »lieber auf dem unfruchtbaren Fels, wo ich mich gegenwärtig befinde, umzukommen, als mich auf den gränzlosen Ocean zu wagen, der sich ins Unendliche erstreckt«.328 Bei aller Ähnlichkeit der Metaphern, was die ihnen zugrundeliegende räumliche Topik der Begrenzung angeht, weisen sie in ihrer jeweiligen Konkretisierung doch deutliche Unterschiede auf. Humes Insel ist ein öder Fels, auf dem »Schwermuth« und »Verzweiflung«329 herrschen angesichts der Unzulänglichkeit der Erkenntniskräfte, über ihn hinauszugelangen. Kant charakterisiert seine Insel dagegen als sicheren Besitz und kultivierbaren Boden, der genug enthält, um sich damit zufriedenzugeben. Als Sinnbild des zwar begrenzten, aber endgültig sicheren philosophischen Wissens, das von der Vernunftkritik gewährt wird,330 greifen Kants Anhänger wiederholt die Metapher der Insel (oder des heimatlichen, begrenzten Bodens) auf, um Leistung und Wert der kritischen Philosophie herauszustellen.331 In der Vorrede zur Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden stellt Jakob fest, die bisherigen »Reisen in das luftige Land der Spekulation« hätten der Menschheit keinen Nutzen gebracht, und folgert: »Es scheint daher wirklich besser zu seyn, daß sich die Menschen an das Land halten, in welchem sie gebohren sind«.332 Freilich raube Kant uns alle Beweise für das Dasein übersinnlicher Gegenstände, aber, so Jakob: »Eine kleine Besitzung, deren Inhalt und Gränze man kennt, ist immer mehr werth, als ein unermeßliches Reich, das in einem Lande liegt, wohin niemand kommen kann.«333 Ganz in
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Kant und der Kanon der Kritik. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hg. von Aleida Assmann/Jan Assmann.München 1987, S. 326–335, hier S. 330; Goetschel: Constituting Critique, S. 133–135. Einen ausführlichen Vergleich von Humes Skeptizismus und Kants transzendentalem Idealismus im Ausgang von der Inselmetaphorik bietet Peter Thielke: Hume, Kant, and the Sea of Illusion. In: Hume Studies 29 (2003), S. 63–85. Reinhard Brandt dagegen sieht in Kants metaphorischem Gegensatz von Festland und Ozean eine Anknüpfung an Locke. Vgl. Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007, S. 302f. N IV 364–370, hier 364; vgl. David Hume: The Philosophical Works. Hg. von Thomas Hill Green/Thomas Hodge Grose. 4 Bde. London 1882–1886 [Repr. 1964]. Bd. 1, S. 544 (Book I, Part 4, Section 7). N IV 364. Zur Tendenz schon des vorkritischen Kant, das gründliche Wissen einem umfangreichen Wissen vorzuziehen, vgl. die Nachweise bei Hinske: Kants Weg, S. 114f. Schon Hamann fasst im ersten Entwurf der Metakritik das Unternehmen der Vernunftkritik mit den Worten zusammen: »Ihren Entdeckungen zu folge giebt es also Land dießeits der Erfahrung, und jenseits nichts als Nebel« (zitiert nach Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 157; vgl. dazu auch Bayers Kommentar, ebd., S. 163–166). Jakob: Prüfung, S. XVIf. Ebd., S. XXV. Im Hauptteil des Buches, am Ende der Wiedergabe der transzendentalen Analytik, wird Kants Passage von der Insel des reinen Verstandes ausführlich referiert. Vgl. ebd., S. 126f.
255 diesem Sinne äußert sich Bürger, wenn er die vernunftkritische Philosophie in quietistisch anmutender Manier verteidigt: Man klagt sie freilich an, daß sie auf trostlose Resultate führe; allein ich frage: was ist besser, ein kleiner, gewisser und ruhiger Besitz, oder ein großer, eingebildeter, beständigen Anfechtungen unterworfen? Mir ist es wenigstens weit trostvoller, zu wissen, daß ich etwas nicht weiß, ja gar nicht wissen kann, mithin mein ermüdendes Bestreben darnach aufgeben muß, als auf einem Oceane des chimärischen Wissens, von unaufhörlichen Stürmen des Zweifels geängstigt, und hin und wieder geworfen zu werden.334
Auch für Georg Gustav Fülleborn liegt im Segen philosophischer Selbstbeschränkung die Quintessenz der Kantischen Philosophie, wie er in seinem Artikel für die Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt deutlich macht. Den Nutzen, den die Philosophie von der kritischen Begrenzung ihrer Erkenntnisansprüche zu erwarten habe, fasst er am Ende des Artikels in die moralische Fabel vom »Unglücklichen«, der zunächst »sein kümmerliches Erbe zu verlassen, und im Auslande Reichthum und Wohlleben aufzusuchen sich rüstet«, dann aber, weil ihn »ein scharfes Verboth daheim zurückhält, sich mit neuem Eifer und anhaltendem Fleiße auf den Anbau seiner Besitzungen legt, und so seinen Unterhalt aus einheimischem Boden sich verschafft«.335 Die Metapher der Seereise wird von den Anhängern der kritischen Philosophie auch direkt auf die philosophischen Gegner bezogen, um deren spekulative Erkenntnisansprüche als abenteuerlich und wahnwitzig zurückzuweisen. Im Anschluss an Kants Warnung, sich nicht von der Insel des reinen Verstandes aufs Meer der Spekulation hinauszubegeben, bezeichnet Jakob die Mendelssohnschen Morgenstunden als unzulässigen Versuch, »eine solche Fahrt in dem stürmischen Ocean zu thun«.336 Ähnlich beschließt er seine Verteidigung des transzendentalen Idealismus gegenüber Jacobis Angriffen mit dem Vorwurf, Jacobi wolle mit seinem spinozistischen Substanzbegriff »an jenes Land anlanden, welches über unsre Sinnenwelt hinausliegt« – eine Unternehmung, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, da »weder die Schiffe noch der Kompaß womit man fährt, uns an dieses Land bringen können«.337 Kategorisch verkündet Karl Friedrich Bahrdt in seinem Kir334
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Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 57. Die Stelle wird im Bericht eines Hörers von Bürgers Vorlesung, Karl Gotthold Lenz, ausdrücklich hervorgehoben: »Mit der größten wärme und einem schönen fluß der rede sprach er von den vorzügen eines kleinen, aber gewissen besitzes vor den größten chimärischen besitzungen, und wendete dieß auf die Kritik der reinen Vernunft an« (zitiert nach Kluckhohn: Beiträge, S. 84). Auch Reuß betont, dass die Kantische Philosophie der Vernunft »ihren kleinen rechtmäßigen, und für ihre nothwendigen Bedürfnisse völlig zureichenden Besitz« sichere (Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 71). Fülleborn: Ueber die Axiome, Hausius II 52. Jakob: Prüfung, S. 127. Jakob: Brief an den Herausgeber, S. 241.
256 chen- und Ketzer-Almanach, Kant habe sämtliche spekulative Philosophie, »in so fern sie, ohne sich an Erfahrung zu halten, in dem bodenlosen Oceane der Ideen herumschwärmet«, ein für allemal widerlegt.338 Die Vorstellung der Seereise steht auch im Hintergrund, wenn Reuß in seiner Kantischen Programmschrift spöttisch von jenen »Vielwissern« spricht, »die ihre metaphysischen Gläser so fleißig und vertieft nach jenen ausser den Gränzen des menschlichen Verstandes liegenden Gegenden richten« und sich dort mit »eingebildeten Entdeckungen« schmeicheln.339 Als Inbegriff wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts schlechthin war das Bild von der Entdeckung unbekannter Länder im neuzeitlichen Denken so fest etabliert,340 dass es vereinzelt auch auf Kant selbst angewendet wurde, um dessen philosophische Pionierleistung in allgemeiner Weise zu würdigen.341 Häufiger wird die Entdeckungsfahrt-Metapher in der philosophischen Diskussion des späten 18. Jahrhunderts aber in einem spezifischeren Sinn gebraucht, der sich mit Kants vernunftkritischem Programm nicht verträgt: als Veranschaulichung des Verfahrens, anhand empirischer Daten (qua Analogie) auf das der Erfahrung Unzugängliche zu schließen. In dieser Weise verwendet etwa der junge Schiller das Bild in seinen Philosophischen Briefen (1786), um die Erkenntnis des Übersinnlichen zu rechtfertigen: Auf die Unfehlbarkeit seines Kalkuls geht der Weltentdeker Kolumbus die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meere ein, die fehlende zwote Hälfte zu der bekannten Hemisphäre, die große Insel Atlantis zu suchen, welche die Lüke auf seiner geographischen Charte ausfüllen sollte. Er fand sie, diese Insel seines Papiers, und seine Rechnung war richtig. […] Einen ähnlichen Kalkul macht die menschliche Vernunft, wenn sie das Unsinnliche mit Hilfe des Sinnlichen ausmißt, und die Mathematik ihrer Schlüsse auf die verborgene Phisik des Uebermenschlichen anwendet.342 338 339 340
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Bahrdt: Immanuel Kant, S. 100. Reuß: Katholische Universitäten, Hausius I 56. Zur ›terra incognita als Metapher neuzeitlichen Weltverhaltens‹ vgl. Blumenberg: Paradigmen, S. 77–80. So wirbt Samuel Heinicke 1784 in seiner Zeitschrift Der Kritiker für die neue Philosophie mit der Behauptung, Kants Entdeckungen hätten uns »mit einer neuen Welt bekannt gemacht, welche die Kolumbische unendlich übertrift« (Anonym: Neuste Sensationen, S. 61; dass der anonyme Autor hier aus Heinickes Zeitschrift zitiert, von der heute keine Exemplare mehr auffindbar sind, geht aus Christian Ludwig Schüblers frühem Literaturbericht zur kritischen Philosophie hervor; vgl. Schübler: Versuch, S. 6). NA XX 127 (Schiller relativiert seine Bemerkung allerdings durch einen skeptischen Zusatz: »Aber noch fehlt die lezte Probe zu ihren Rechnungen, denn kein Reisender kam aus jenem Lande zurük, seine Entdekung zu erzählen«). Der Kommentar der Nationalausgabe (vgl. NA XXI 167) verweist auf eine Stelle in Hallers Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, wo ebenfalls Kolumbus das Beispiel abgibt für das antizipierende Kalkül der Vernunft, das der empirischen Bestätigung vorauszugreifen vermag (vgl. Haller: Gedichte, S. 45, V. 35f., 39–42). In diesem Sinne erklärt auch der vorkritische Kant im Entwurf zur Vorrede seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): »Ich habe wie Colon auf geringe Vermuthung die Unternehmung einer gefährlichen Reise gewagt und habe ein neues Land
257 Diese Art spekulativer Entdeckungsfahrt ist es, die der kritische Kant mit seiner Inselmetaphorik negiert;343 und sie ist es, die Adam Weishaupt im Zeichen seines empirisch-analogischen Philosophierens gegen Kant zu rechtfertigen versucht. In Weishaupts Augen ist der (von ihm unterstrichene) Kantische Satz, dass alles, was wir anschauen, bloße Erscheinung sei, bereits ein transzendenter Satz, da er nicht unmittelbar durch Anschauung belegt werden kann, sondern sich auf Schlüsse und Vergleiche gründet, die die Erfahrung übersteigen.344 Mit diesem Satz widerspreche Kant also schon im Ansatz seinem eigenen Programm einer strengen erkenntnistheoretischen Grenzziehung und bestätige ungewollt die Aussicht auf eine fortschreitende Inbesitznahme metaphysischer terra incognita: Der erste Schritt, in eine übersinnliche Welt, ist schon durch diesen sehr fruchtbaren Saz geschehen, dadurch haben wir Besiz von dieser fremden unbekannten Erde genommen, und nun breiten wir uns aus, um noch mehr zu erfahren. Das übersinnliche Amerika ist von nun an entdeckt, unsere Erscheinungen haben uns dahin geführt.345
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›Reine‹ Vernunft und ›ganzer‹ Mensch
Kants Rede von der Insel des reinen Verstandes dient nicht nur der Zurückweisung transzendenter Erkenntnisansprüche. Sie ist auch Ausdruck seines Bestrebens, im menschlichen Subjekt einen autonomen Bereich zu markieren, der der Kontingenz sinnlich-materieller Faktoren entzogen bleibt, einen Bereich des Apriorischen, der von allem Empirischen unabhängig und ihm vorgeordnet ist. Kant stellt sich damit gegen die die Anthropologie des 18. Jahrhunderts dominierende ›genetische Epistemologie‹ Condillac’scher Prägung, wonach die höheren Geistestätigkeiten des Menschen als Derivate sinnlicher Empfindung begriffen werden.346 Die kritische Philosophie dagegen zeichnet sich laut Kant vor allen anderen Wissenschaften dadurch aus,
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entdeckt« (AA XXIII 11; in der endgültigen Fassung ist die Formulierung abgeschwächt, vgl. WA I 227). Vgl. auch schon Bacon: Neues Organon, Bd. 1, S. 206 (Aphorismus Nr. 92). Vgl. im Anschluss an Kant auch Anton Kreils Aufsatz im Journal für Freymaurer, wo es über den »Ozean« übersinnlicher Erkenntnis heißt: »Selben zu durchschiffen haben wir noch keine berichtigte Magnetnadel und können auch keine haben; weil man nicht etwa aus einem Theile der sinnlichen Erkenntniß zum andern hinüberschifft. Man schifft fort um nimmermehr anzulegen. Das Senkbley der Erfahrung mißt nirgends Grund. Man schifft und verirret sich ins Unendliche« (Kreil: Ueber das Buch, S. 136). Vgl. Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 30–34, 38. Ebd., S. 91. Vgl. auch ebd., S. 46, wo Kolumbus’ Entdeckungsfahrt als Musterbeispiel für das analogische Schließen vom Bekannten aufs Unbekannte angeführt wird. Vgl. Wolfgang Proß: Nachwort, HW II 1134–1157. Manfred Kuehn zufolge war Kants Einsicht in die Diskontinuität von Sinnlichkeit und Vernunft der entscheidende Anstoß für die Entwicklung der kritischen Philosophie (neben dem Einfluss Humes). Vgl. Kuehn: Kant, S. 185f., 233.
258 dass sie ein »so völlig isoliertes, von andern unabhängiges und mit ihnen unvermengtes Erkenntnisvermögen betrifft«:347 die reine Vernunft. Reine Vernunft, erklärt Kant in der Einleitung zur Kritik, ist Vernunft, welche die Prinzipien reiner Erkenntnis enthält.348 Reine Erkenntnis wiederum ist als Erkenntnis definiert, »die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist.«349 In diesem Sinn der Unabhängigkeit von Erfahrung und Empfindung kann der Begriff der Reinheit auch auf verschiedene Teilkomponenten und -gebiete der Erkenntnis bezogen werden. So hat es die transzendentale Ästhetik mit ›reiner‹ Anschauung zu tun, die transzendentale Logik mit ›reinen‹ Begriffen.350 Im Paralogismen-Kapitel wird die Möglichkeit einer ›reinen‹ Seelenlehre (im Unterschied zur empirischen) erörtert;351 und für die transzendentale Theologie gilt, dass die ihr zugrundeliegende Idee eines höchsten Wesens von empirischen Anthropomorphismen ›rein‹ gehalten werden muss.352 Insgesamt wird eine Philosophie, die auf reine Vernunfterkenntnis gründet, von Kant ›reine‹ Philosophie genannt und der empirischen gegenübergestellt.353 Mit besonderer Emphase verwendet Kant den Begriff der Reinheit in seiner praktischen Philosophie, wo es ihm darum geht, die Moral auf eine autonome Gesetzgebung der Vernunft zu gründen. »Absonderung aller empirischen Bedingungen« ist die Voraussetzung, um zum »Begriff eines reinen Willens« zu gelangen,354 d. h. eines Willens, der von allen heteronomen Bestimmungen wie etwa gewissen Vorstellungen von Glückseligkeit oder Vollkommenheit unabhängig ist (und dessen formales Prinzip Kant im kategorischen Imperativ entdeckt). Triebfeder dieses Willens ist allein die »reine und mit keinem fremden Zusatze von empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht«.355 Von den sittlichen Begriffen erklärt Kant mit Nachdruck, dass in der »Reinigkeit ihres Ursprungs eben ihre Würde liege« und dass es für die praktische Philosophie von größter Wichtigkeit sei, diese Begriffe »aus reiner Vernunft zu schöpfen« und »rein und unvermengt vorzutragen«.356 Ziel ist eine »völlig isolierte Metaphysik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Phy-
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WA III 262 (Prolegomena). Vgl. KrV A 11/B 24. KrV A 11; vgl. KrV B 3. Vgl. KrV A 20f./B 34f., A 50f./B 74f. Vgl. KrV A 341/B 399-A 343/B 401. Vgl. KrV A 640/B 668-A 642/B 670. Vgl. KrVA 840/B 868. WA IV 139 (Kritik der praktischen Vernunft). WA IV 39 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). WA IV 40. Vgl. auch WA IV 57, 132, 212.
259 sik, oder Hyperphysik […] vermischt« und »von allem Empirischen sorgfältig gesäubert« ist.357 In der mangelhaften ›Säuberung‹ und Isolierung der reinen Vernunft liegt Kant zufolge das Hauptdefizit der bisherigen Philosophie. Bislang, so Kant, wurde die reine Vernunft immer nur »im Gemische mit anderen Erkentniskräften« thematisiert.358 Nicht »genugsam geläutert von allem Fremdartigen« (d. h. von empirischen Grundsätzen), habe die menschliche Vernunft es bisher nicht vermocht, die Philosophie als echte Wissenschaft zu konstituieren.359 Solange die Philosophie reine und empirische Prinzipien vermische, verdiene sie strenggenommen nicht einmal den Namen einer Philosophie.360 Besonders drastisch formuliert Kant seine Kritik an der mangelnden Reinhaltung der herkömmlichen Philosophie in moralphilosophischem Zusammenhang. Die zeitgenössische populäre Sittenlehre, die sich auf so unterschiedliche Prinzipien wie menschliche Natur, Glückseligkeit, Vollkommenheit u. a. beruft, bezeichnet er als einen »ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Prinzipien«.361 Ihrem Streben nach Reinheit entsprechend liegt ein Hauptimpuls der Vernunftkritik im sorgfältigen ›Absondern‹, ›Trennen‹ und ›Isolieren‹ der apriorischen Formen des Erkennens und Wollens von ihrer sinnlich gegebenen Materie.362 Dieses Merkmal der kritischen Philosophie ist es, welches Johann Friedrich Breyer dazu veranlasst, die denunzierende Rede vom ›alles zermalmenden‹ durch die vom »alles zergliedernde[n]« Kant zu ersetzen.363 Die Isolierung einer reinen Vernunft wird von den Zeitgenossen als ein zentrales Moment der Kantischen Philosophie gesehen. Für Georg Andreas Will ist es eine Tatsache, »daß die ganze Kritik der reinen Vernunft sich auf den Satz gründe: es giebt eine reine von aller Erfahrung und Empfindung freie Vernunft«.364 Carl Christian Erhard Schmid spricht konsequenterweise von einem Kantischen »Purismus«, den er dem Empirismus gegenüberstellt. Ersterer ist gekennzeichnet durch eine »gleichsam chemische Scheidung des 357
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WA IV 38, 12. Vgl. dazu Ewalds zustimmenden Kommentar in seiner Rezension der Grundlegung: »Was der Hr. Verf. von der Nothwendigkeit, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch seyn mag, und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre, in der Vorrede sagt, ist so überzeugend, als nur etwas seyn kann« (Gothaische gelehrte Zeitungen, 17. August 1785, Landau 184). AA X 340 (Brief an Garve vom 7. August 1783). KrV A 842f./B 870f. WA IV 14 (Vorrede der Grundlegung). WA IV 37. Vgl. zum Beispiel KrV B 1f., KrV A 22/B 36; WA IV 12 (Vorrede der Grundlegung); WA IV 139 (Kritik der praktischen Vernunft). In diesem Zusammenhang vergleicht Kant die Tätigkeit des Philosophen des öfteren mit der Scheidekunst des Chemikers; vgl. KrV A 842/B 870, WA IV 217, 301. Zu Kants »Isolations«-Verfahren vgl. Mohr: Kants Grundlegung, S. 97–111. Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abt., S. 3. Will: Vorlesungen, S. 79.
260 Reinen, was ursprünglich im Verstande ist, und des Empirischen, welches hinzukommt«; bei letzterem hingegen »fließt das Gesetz der Erkenntniß mit demjenigen der Dinge so in Eines zusammen, daß keine geistige Scheidekunst dieses Gemische in seine Bestandtheile zu zerlegen, und keine Critik jedem sein Eigenthum zu bestimmen vermag«.365 Kants genaue Unterscheidung zwischen dem, was im Erkenntnisvorgang apriorischer Beitrag des Vernunftsubjekts und was sinnlich vermittelte, kontingente ›Zutat‹ ist, wird von seinen Anhängern als eine epochale Leistung gefeiert, die endlich die Konsolidierung eines gesicherten philosophischen Wissens möglich mache. In seiner Rezension der Prolegomena erklärt Schack Hermann Ewald, Kant bereite den Weg zu einer »ganz neuen und wahren Metaphysik«, indem er zeige, wie eine »reine philosophische Erkenntniß a priori, von aller sinnlichen Erfahrung abgesondert, möglich sey«.366 In der »Vermischung der sinnlichen und intellectuellen Erkentniß« sieht auch Johann Schultz den Hauptgrund für die endlosen philosophischen Streitereien, die die Geschichte der Metaphysik bisher bestimmt hätten und die nun mit Kants präziser Unterscheidung ihr Ende fänden.367 Ganz ähnlich äußern sich Jakob und Reinhold in ihrem Werben für die kritische Philosophie.368 Auch Fülleborn hält gleich zu Beginn seines pro-kantischen Artikels für die Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt fest, dass es vor dem Königsberger Philosophen noch niemandem gelungen sei, die Metaphysik »ganz rein, das ist, mit allem Fremdartigen unvermischt, darzustellen«.369 Der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift Biester spricht Kant als »edle[n] Wiederhersteller des gründlichen und gereinigten Denkens« an.370 Und Samuel Heinicke resümiert die durch Kant eingeleitete Neuordnung der Philosophie mit den Worten: »[M]an darf nun nicht mehr fragen: wer hat die rechte Vernunft? denn es ist nur eine reine, so wie es reine Elemente giebt, und man darf sie nur kennen und richtigen Gebrauch davon machen lernen.«371 365 366 367 368
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Schmid: Wörterbuch, S. 637, 644. Gothaische gelehrte Zeitungen, 25. Oktober 1783, Landau 57f. Schultz: Erläuterungen, S. 190. Vgl. Jakob: Prüfung, S. XIf. (vgl. auch ebd., S. XXXIXf.); Reinhold: Siebenter Brief, S. 154f.; ders.: Achter Brief. In: TM, September 1787, S. 247–278, hier S. 263f. Durch den häufigen Gebrauch von Bildungen wie ›reine Religion‹, ›Religion des reinen Herzens‹, ›reine Theologie‹ u. ä. (vgl. zum Beispiel Reinhold: Dritter Brief, S. 11, 23, 26; Vierter Brief, S. 119, 121) trug Reinhold nach dem Urteil W.R. Beyers maßgeblich dazu bei, dass der Reinheitsbegriff »als Beiwort einem Verschleiß sondergleichen« ausgesetzt wurde. Vgl. Wilhelm Raimund Beyer: Der Reinheitsbegriff bei Kant. In: Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants. Hg. von Manfred Buhr/Teodor I. Ojzerman. Berlin 1976 (Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1), S. 135–161, hier S. 135; vgl. auch ebd., S. 154. Hausius II 41. AA X 433 (Brief an Kant vom 6. März 1786). Heinicke: Vorbericht, S. XIf.
261 Die Gegenüberstellung von positiver reiner und negativer vermischter Vernunft wird auch auf moralphilosophischem Gebiet von den Anhängern Kants übernommen. Gerade hier können althergebrachte, in der neuplatonischen und christlichen Tradition verwurzelte und in starkem Maße affektiv besetzte Wertungsschemata abgerufen werden, die das Sinnliche mit dem schlechthin ›Unreinen‹, d. h. Sündigen und Makelbehafteten gleichsetzen und es in Gegensatz stellen zur göttlichen ›Reinheit‹ des Geistigen.372 Deutlich wird das etwa in Jenischs Beiträgen über Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Deutschen Museum. Der zweite Artikel der Serie hebt wie folgt an: Es war ein Unglück für die Philosophie in allen ihren Perioden, daß seit Plato und Aristoteles in den philosophischen Systemen die Erfahrungsbegriffe und die Begriffe der reinen Vernunft verwirrt durch einander lagen; so verwirrt wie nur immer, um mit der Schrift zu reden, Fleisch und Geist oder Sinnlichkeit und Vernunft in der sittlichen Natur des Menschen sich mischen, bestreiten und im ewigen Kampf gegen einander liegen. Ich möchte diese Verwirrung der Begriffe die Erbsünde der Philosophie nennen: denn diese philosophische Erbsünde hat mit der theologischen einerley Quelle, die zusammengesetzte Natur des Menschen: und so wie es in der Theologie Irrlehrer gegeben, die den Menschen zu einem Thier zu demonstriren wagten, und ihm seine höhere Natur wegkaperten: eben so ist ein Theil unserer Philosophen leider so weit gekommen, daß sie der Vernunft alle reine Begriffe absprechen.373
Indem Kant die Sittlichkeit auf ein formales Prinzip zurückführt, das allein in der Vernunft beheimatet ist, indem er das moralische Wollen als ein autonomes Wollen definiert, das von empirischen Bestimmungsgründen wie dem Streben nach Glückseligkeit völlig frei ist, hat er dieser Logik zufolge die Moral von ihrer sinnlichen Befleckung erlöst und ihre erhabene Reinheit wiederhergestellt.374 Jenisch beschließt seine Artikelserie mit einer entsprechenden Lobeshymne auf Kant: Dieser habe das Ideal der Sittlichkeit »wie ein Gottesbild, welches von einigen sogar frevelhaft beschmuzt und mit Füßen getreten, von allen aber mit menschlichen Farben vermischt, mit unnöthigen Verzierungen überhangen oder vielmer verunstaltet war, aus dem Staube empor gehoben, und in seiner ursprünglichen vollkommenen Gottesreinheit den Menschen aufgestellt«.375 372
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Vgl. Dirk Mende: Art. ›Reinheit‹. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Konersmann, S. 292–300, hier S. 294f. Hausius III 73. Vgl. auch die Würzburger Rezension zur Kritik der praktischen Vernunft, die den Inhalt des Buches wie folgt zusammenfasst: »Das bisher so hoch gepriesene Princip der Glückseligkeit als höchster Zweck und Grundgesetz aller Moralität fällt, der Wille wird geläutert von allem, was man ihm irdisches beygefügt hat, indem er sich selbst aus eigener Kraft bestimmt; und das moralische Gesetz steht da als reine, aber doch unstreitige Thatsache, und gebiethet mit unwidersprechlicher Gewalt« (Wirzburger gelehrte Anzeigen, 19. September 1789, S. 737f.). Jenisch: Vierter Versuch, S. 293. Vgl. Will: Vorlesungen, S. 128: »Ihn, den guten Willen, oder die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts anders, als die
262 Ob in erkenntnis- oder in moralphilosophischem Zusammenhang: Für die Anhänger der Kantischen Philosophie gibt die ›reine‹ Vernunft den Maßstab ab, der es erlaubt, bisherige Formen des Philosophierens wegen unzulässiger Vermischungen apodiktisch zu verurteilen. Besonders unerbittlich zeigt sich in dieser Hinsicht Samuel Heinicke. In seinen diversen Kampfschriften gegen die zeitgenössischen Aufklärer beschimpft er dieselben als »Quaksalber«, die dauernd alles »wie Kraut und Rüben« durcheinandermengen.376 Ihre »Begrifmengerei« erweise sich darin, dass sie sinnliche mit intelligiblen Dingen, Verstandes- mit Vernunftbegriffen und »Ideen mit Berlinerblau vermischen«.377 Fatalismus, Atheismus, Spinozismus seien ein »Mischmasch«, sie beruhen, erklärt Heinicke, auf der »abscheuliche[n] Vermischung, Verwechslung und Verwirrung der Verstandes mit Vernunft, der moralischen mit physischen, der theologischen mit religiösen, und der wirklichen mit formellen Begriffen«.378 Zum Beispiel rühre die (den Fatalismus begünstigende) Annahme eines uneingeschränkten naturgesetzlichen Determinismus daher, dass man »aus der Sinnen- und Intelligiblenwelt eine Olla potrida zusammen juxt«,379 anstatt das Reich der Naturkausalität vom noumenalen Reich der Freiheit zu trennen. Angesichts all dieser dogmatischen Verirrungen fordert Heinicke, die Vernunft »lieber einmal waschen« zu lassen, »daß sie rein würde«.380 Nicht selten wird der Vorwurf eines ›vermischten‹ Vernunftgebrauchs konkret gegen einzelne Vertreter eines empirisch-anthropologischen Philosophierens gerichtet, um deren Werke zu disqualifizieren. Der Rezensent der Philosophischen Annalen kritisiert Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre mit den Worten, es sei dort »nichts zu finden, als Fragmente aus der Anthropologie und der empirischen Seelenlehre vermischt mit einigen reinen Vernunftgrundsätzen.« Er fordert dagegen eine strikte Trennung von empirischen Anschauungen und formalen Gesetzen des Denkens, die jeweils eine »eigene Wissenschaft« ausmachen sollen.381 Derselbe Standpunkt ist es,
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Sittlichkeit von aller Beimischung des Sinnlichen und allem unächten Schmuck des Lohns, oder der Selbstliebe, entkleidet, darzustellen.« Auch der Erlanger Rezensent der Kritik der praktischen Vernunft plädiert dafür, die Tugend vom eitlen »Schmuck« moralischer Empfindelei, die sich aus der »unreinen Quelle der Selbstliebe« speist, zu befreien. Allerdings hält er die Aussicht auf Glückseligkeit als Triebfeder moralischen Handelns für unverzichtbar (vgl. Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 30. September 1788, S. 325). Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. 14f. Vgl. auch ebd., S. X. Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 45f. Vgl. auch ebd., S. 77, sowie ders.: Von der Vernunftreligion. In: Dreßdnische Gelehrte Anzeigen, 21. Stück (1788), Sp. 177–184, hier Sp. 182. Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. 294, 401. Vgl. auch ebd., S. 286, 292. Samuel Heinicke: Ueber den Fatalismus. In: Apologien 1 (1787), S. 683–690, hier S. 684. Heinicke: Nach Kantischer Manier, S. 66. Philosophische Annalen, 1. Teil (1787), Bd. 1, Landau 525f.
263 welcher Friedrich Gottlob Born in seiner Rezension zu Abels Ueber die Quellen der menschlichen Vorstellungen ungeduldig ausrufen lässt: Wie lange wird man noch fortfahren, sinnliche und intellectuelle Erkenntnis zu vermischen, und Dingen, die ganz außer dem Gebiete der Sinnlichkeit liegen, Prädikate beyzulegen, die lediglich von den Gegenständen der Sinne gelten? Dies ist es eben, was der Metaphysik von jeher so viel Schaden verursacht, und so gerechte Verachtung zugezogen hat.382
Herders Hang zu großen, die Naturlehre mit der Metaphysik verbindenden Synthesen, der die Bewunderung vieler Zeitgenossen fand,383 musste den besonderen Unwillen der Anhänger Kants erregen. In seiner ALZ-Rezension zu Herders Gott spricht August Wilhelm Rehberg dieser Schrift jeden wissenschaftlichen Wert ab, indem er darauf hinweist, dass es dem Autor an einem für einen Metaphysiker grundlegenden Talent mangele: der Fähigkeit, die verschiedenen Quellen der Erkenntnis sorgfältig voneinander zu trennen.384 Er beschließt die Besprechung mit der Forderung, analogisch gewonnene Erfahrungsgesetze von den formalen Bedingungen der Naturerkenntnis »ganz abzusondern«, was sich nur mit Hilfe der kritischen Philosophie leisten lasse.385 Von der zeitgenössischen philosophischen Zunft wird der Kantische Reinigungseifer mit Befremden zur Kenntnis genommen. In Müllers Kritischen Beyträgen wundert sich ein Rezensent darüber, dass man neuerdings »von reiner Vernunft, als von solcher, die gar keine Empfindung oder Erfahrung voraussetze, bearbeite und daraus folgere, zu reden angefangen hat« und dass diese »angeblich reine Vernunft« bereits an mehreren Universitäten für soviel Aufruhr sorgt.386 Bislang – das wird von mehreren Kant-Kritikern unterstrichen – war es gängige Auffassung, dass es so etwas wie ›reine‹ Ver-
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Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 2. Dezember 1786, Landau 478. Vgl. auch Borns Rezension zu Abels Plan einer systematischen Metaphysik: »Welche Vermischung der Phänomenen mit den Noumenen!« (Neue Leipziger Gelehrte Zeitungen, 20. November 1787, Landau 754). Derselbe Vorwurf wird in einer Reihe weiterer Rezensionen zu Abels Werken erhoben. Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 5. September 1787, S. 582 (nicht bei Landau enthalten) und 12. September 1787, Landau 674; ALZ, 19. September 1788, Sp. 753, 759. Zum Vermischungsvorwurf gegenüber Tittel vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 30. Juli 1788, S. 502 (Rezension zu den Kantischen Denkformen). Vgl. zum Beispiel die Art und Weise, wie Herder von Reinhold in der Besprechung des ersten Teils der Ideen charakterisiert wird: »ein Beobachtungsgeist der Alles in Einem und Eines in Allem sieht; eine unumschränkte Gewalt über eine ganze Ideenwelt, in der kein isolirter Begriff statt findet […]« (Anzeiger des TM, Juni 1784, S. LXXXVI). Vgl. ALZ, 2. Januar 1788, Sp. 12. Ebd., Sp. 16. Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2 (1787), Landau 668, 665 (Rezension zu Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre).
264 nunft (intellectus purus) bzw. von der Sinnlichkeit völlig abgesonderte Begriffe wenn überhaupt, dann höchstens in der Mathematik geben könne.387 Eine ausführliche Invektive gegen die »sich rein rühmende Vernunft«388 liefert Tittel in seiner Abhandlung Ueber Herrn Kant’s Moralreform. Tittel fasst den Menschen als »Zusammensaz von mancherlei Potenzen« auf (wie Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand, Urteilskraft, Vernunft), welche aufs engste miteinander verbunden sind.389 Ausgehend von dem Grundsatz genetischer Epistemologie, dass »Vernunftbegriff […] nur erhöhter Empfindungsbegriff« sei,390 stellt er Kants säuberliche Trennung beider Komponenten polemisch in Frage: »Wo bleibt nun jene reine, isolirte, von allem, was nur empirisch heissen mag, völlig gesonderte; nirgends im Menschen aufgefundene, sondern von obenherein, wie aus den Wolken hervorgeführte Vernunft?« So gereinigt, fährt Tittel fort, wie Kant sie reinige, tauge diese reine Vernunft und das daraus abgeleitete reine Moralgesetz nicht einmal für Engelwesen, geschweige denn für Menschen.391 Den »Irrgängen einer reinvernunftscheinenden Phantasei«392 hält er eine an der gemischten Natur des Menschen orientierte Sittenlehre entgegen, die Glückseligkeit und Vernunft miteinander in Einklang bringt.393 Statt die Prinzipien moralischen Wollens zu zergliedern, zu sondern und zu trennen, plädiert Tittel für das Gegenteil: »Vereinige man doch, was immer sich vereinigen läßt!«394 387
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Vgl. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre, S. X, XVII, 176; die Rezension in den Kritischen Beyträgen, Landau 668; sowie Waldin: Grundsätze der natürlichen Theologie, S. 48, 54. Wolff hatte in seiner »Deutschen Metaphysik« die Unterscheidung zwischen einem »reinen«, d. h. von Sinnen und Einbildungskraft abgesonderten, und einem »unreinen« Verstand theoretisch gerechtfertigt und betont, dass sie keine leere Einbildung der Mathematiker sei; zugleich hatte er aber hinzugefügt, dass unser Verstand tatsächlich »niemahls gantz reine« sei (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. Hildesheim u. a. 1962ff. 1. Abt., Bd. 2, §§ 282–285; vgl. auch Psychologia empirica, ebd., 2. Abt., Bd. 5, §§ 313–315). Zur vorkantischen Verwendung des Begriffs des ›reinen Verstandes‹ oder der ›reinen Vernunft‹ (zum Beispiel bei Descartes, Malebranche, Leibniz, Wolff, Baumgarten und G.F. Meier) vgl. Martin Arndt: Art. ›Reinheit, Reinigung‹ (V. Neuzeit). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde. Hg. von Joachim Ritter u. a. Darmstadt 1971–2007. Bd. 8, Sp. 547–553, hier Sp. 548, 552; Riccardo Pozzo: Dall’ »intellectus purus« alla »reine Vernunft«. Note sul passaggio dal latino al tedesco prima e dopo Kant. In: Giornale critico della filosofia italiana 21 (2001), S. 231–245, hier S. 238–240. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 4. Ebd., S. 78; vgl. ebd., S. 18, 43. Ebd., S. 20. Ebd., S. 78f.; vgl. ebd., S. 19f., 26f., 46, 54, 79, 91. In den überwiegend anerkennenden Rezensionen zu Tittels Buch werden diese Stellen häufig zitiert. Vgl. Landau 379f., 399, 406, 408; AdB 86/1 (1789), S. 155. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 4. Vgl. ebd., S. 5f., 79. Ebd., S. 39 (vgl. auch ebd., S. 43). In seiner Rezension für die ALZ kann Christian Gottfried Schütz sich nicht enthalten, diese Stelle spöttisch zu kommentieren: »Vortreflich! […] So hübsch alles in eine Brühe geworfen, das ist das rechte philosophische Geköch, in populärem Geschmacke!« (ALZ, 8. November 1786, Landau 467).
265 Tittel geht in seiner Kritik an Kants Moralphilosophie nicht zuletzt deshalb so heftig gegen die Rede von der reinen Vernunft an, weil sie den ›ganzen‹ Menschen als Gegenstand der Anthropologie zu einem minderwertigen Objekt zu degradieren schien: »Will nun Hr. K. den Menschen selbst darum zum Bastard machen, weil er ein aus Empfinden und Erkennen gemischtes Wesen ist; weil die Natur ihn nicht zum reinen Engel schuf!«395 Für die wertenden Konnotationen des »glänzenden Titel[s] reiner Vernunft«396 waren Kants Zeitgenossen durchaus sensibel. Vorbehalte gegenüber diesem Titel sind es zum Beispiel, die den Empiriker Lichtenberg – der bei aller Sympathie für die Kantische Erkenntniskritik deren transzendentalen Grundgedanken nie konsequent mitvollzog – laut seinem Biographen Mautner dazu veranlassten, statt von ›reiner‹ lieber von ›unvermischter‹ Vernunft zu sprechen: »Er revoltiert gegen das Werturteil, das mit ›rein‹ verbunden ist«.397 Die Art und Weise, wie Hamann den Inhalt der Kritik der reinen Vernunft ironisch zusammenfasst, zeugt ebenfalls von einem klaren Bewusstsein von der wertenden Besetzung der durch Kant aufgebauten Oppositionen: »Erfahrung und Materie ist also das Gemeine, durch dessen Absonderung die gesuchte Reinigkeit gefunden werden soll, und die zum Eigenthum und Besitz des Vernunftvermögens übrig bleibende Form ist gleichsam die jungfräuliche Erde zum künftigen System der reinen (speculativen) Vernunft […].«398 Schon mit dem Titel seiner Antwort auf Kant, »Metakritik über den Purismum der Vernunft«, hebt Hamann den Reinheitsanspruch als dominierendes Merkmal der kritischen Philosophie hervor und ironisiert ihn zugleich, indem er ihn durch das Abstraktum »Purismus« als übertriebenen Reinigungseifer kennzeichnet.399 Entsprechend wird Kant auch als »Purist« be395
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Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 43 (zitiert in: Jenaische gelehrte Zeitungen, 12. Mai 1786, Landau 379f.). Ebd., S. 91. Mautner: Lichtenberg, S. 321. Mautner bezieht sich auf Lichtenbergs Brief an Georg Friedrich Werner vom 29. November 1788 (LB III 595). Lichtenbergs Widerstand gegen die Verabsolutierung einer kritisch geläuterten Philosophie kommt auch in der folgenden Bemerkung aus den 1790er Jahren zum Ausdruck: »Die reine Philosophie pflegt (und kann es nicht vermeiden) noch immer unvermerkt der Liebe mit der – unreinen. Und so wird es gehn bis an das Ende der Zeit« (zitiert nach Mautner: Lichtenberg, S. 444, Aphorismus L 35). – Irritation darüber, was der Begriff der ›reinen‹ Vernunft als sein Gegenteil impliziert, spricht auch aus Johann Friedrich Kleukers Wiedergabe von Reinholds Ausführungen über den angeblichen »Sieg der ›reinen kritischen‹ Vernunft über die – wie soll ich sagen, unreine, vermischte, oder besser willkührlich metaphysische?« (Kleuker: Neue Prüfung, Bd. 1, S. 39). N III 278 (Rezension zur Kritik der reinen Vernunft; vgl. dazu auch den Kommentar bei Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 108–111). In einem Entwurf zur Metakritik fragt Hamann: »Worin besteht denn das Geheimnis der reinen Vernunft? Worauf ihr gnostischer Eckel und Haß vor aller Materie und ihre mystische Neigung zu einer leeren Form?« (zitiert nach Bayer: Vernunft ist Sprache S. 158). Vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 209. Bayer verweist darauf, dass das Wort ›Purismus‹ vor Hamann allein im Sinne von ›Sprachpurismus‹ gebräuchlich gewesen sei, zur
266 zeichnet.400 »[N]ur keine geläuterte und abgezogene und leere Wörter« – die Forderung Hamanns ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass Erfahrung, Geschichte und Offenbarung die notwendige Grundlage jeder Vernunfterkenntnis sind.401 Kants strenge Dichotomie von Sinnlichkeit und Vernunft nennt er eine »gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat«.402 Vokabeln der Gewalt sind nicht selten, wenn der kritischen Philosophie vorgehalten wird, sie missachte die Einheit des Erkenntnisvermögens und die Ganzheit der leib-seelischen Doppelnatur des Menschen. Tittel etwa charakterisiert die Kantische Moral als eine »den Menschen selbst in seiner Natur zerreissende« Sittenlehre.403 Für Pistorius läuft die Vernunftkritik auf eine »Zerstückelung« des menschlichen Erkenntnisvermögens hinaus;404 in Kants Entgegensetzung von Vernunft und Sinnlichkeit sieht er eine nicht zu rechtfertigende »gewaltsame Trennung« beider.405 Dem Kantischen Nisus zur Isolierung einer reinen Vernunft halten seine Gegner immer wieder die Auffassung entgegen, dass die verschiedenen Seelenkräfte des Menschen nur Modifikationen des einen Erkenntnisvermögens sind und nahtlos ineinander übergehen.406
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Bezeichnung eines übertriebenen Eifers für die Reinheit der Sprache. Allerdings charakterisiert unabhängig von Hamann zum Beispiel auch der Kantianer Schmid die kritische Philosophie als ›Purismus‹, und zwar ganz ohne jeden ironischen oder negativen Beiklang. Bei Schmid scheint die Wortwahl allein durch die Absicht motiviert, dem Begriff des Empirismus eine analoge Bildung gegenüberzustellen. Vgl. seine »Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie« im Anhang zum Wörterbuch. H VI 396 (Brief an Jacobi vom 22. Mai 1786). Später bezeichnet Jacobi die Anhänger Kants als »Puritaner« (Brief an Johann Ludwig Ewald vom 21. Dezember 1790, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi’s Auserlesener Briefwechsel. [Hg. von Friedrich Roth.] 2 Bde. Leipzig 1825/27 [Repr. 1970]. Bd. 2, S. 44). H V 265f. (Brief an Jacobi vom 14. November 1784). N III 286 (Metakritik). Vgl. auch schon die Rezension zur Kritik der reinen Vernunft (N III 278) sowie die Briefe an Jacobi vom 24. August 1786 und vom 23., 27. und 30. April 1787 (H VI 534, H VII 158, 166, 174). Kants Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand bzw. ihre mangelhafte Begründung wird bis heute als Problem diskutiert. Vgl. die Literaturhinweise bei Dietmar Hermann Heidemann: Anschauung und Begriff. Ein Begründungsversuch des Stämme-Dualismus in Kants Erkenntnistheorie. In: Aufklärungen. Fs. Klaus Düsing. Hg. von Kristina Engelhard. Berlin 2002 (Philosophische Schriften, Bd. 47), S. 65–90, hier S. 66f. Anm. 3. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 44; vgl. auch ebd., S. 54. Hausius I 211 (Besprechung in der AdB zum Anhang von Schmids Wörterbuch). Bittner/Cramer 177 (AdB-Rezension zu Kants Kritik der praktischen Vernunft). Vgl. außer den oben genannten Stellen bei Tittel auch Klewiz: Ueber Idealismus, S. 413; Kritische Beyträge zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 3 (1788), S. 44f. (Müllers Rezension zur Kritik der reinen Vernunft); Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 26, 33, 46f., 95, 107, 165f. (sowie übereinstimmend Pistorius’ Rezension, AdB 88/1 [1789], S. 21, 22, 24, 29); Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 174f. Anm.; AdB, Anhang zum 53.–86. Bd. (1791), 4. Abt., S. 2001f. (Pistorius’ Besprechung zu Borns De scientia et coniectura).
267 Die Umdeutung der kritischen Scheidekunst zu einem illegitimen Akt des Auseinanderreißens wird bei Christian Gottlieb Selle durch den Versuch ergänzt, das Attribut der ›Reinheit‹ für die Sache der Erfahrungsphilosophie zu reklamieren. So lautet der Titel seiner gegen Kant gerichteten Programmschrift: »Grundsätze der reinen Philosophie«. Ganz im Gegensatz zu Kant will Selle ›reine‹ Philosophie als »ein blosses Abstracktum der angewandten« verstanden wissen; die logischen und metaphysischen Grundsätze, die sie formuliert, sind letztlich aus Erfahrung abgeleitet.407 ›Reine Vernunft‹ ist für Selle nichts anderes als die Fähigkeit, nach diesen empirisch gewonnenen Grundsätzen zu schließen.408 Ein solcher Begriffsgebrauch wird von den Anhängern Kants nicht unwidersprochen hingenommen. Born entgegnet scharf, eine »empirisch reine Philosophie« sei so paradox wie ein rundes Viereck.409 Das feinste Sensorium für die elementaren literarischen Strukturen der kritischen Philosophie beweist wieder einmal Hamann durch die Art und Weise, wie er die transzendentalphilosophische Logik der Reinheit kontert. Zum einen durch ironische Adoption: In einem Brief vom Oktober 1784 spricht er (allerdings in ganz unphilosophischem Zusammenhang) vom »Pech in meinem Gehirn, das ich mit keiner Philosophie und Kritik zu reinigen imstande bin«.410 Zum anderen durch Inversion: Der Vorwurf der Unreinheit wird implizit an die kritische Philosophie zurückgegeben, indem die reine Selbstbezüglichkeit einer Vernunft, die sich des Verkehrs mit äußerer Erfahrung ganz enthält, mit Onanie verglichen wird. Die kritische Beschränkung der Vernunft auf die Ermittlung dessen, was sie aus sich heraus vermag (»ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein«, wie Kant sich ausdrückt),411 charakterisiert Hamann in der Metakritik als »das Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst«.412 Die Anspielung gilt der aus der Antike überlieferten Geschichte von Baubo, einer alten Frau aus Eleusis, welche die um ihre entführte Tochter trauernde Demeter durch obszöne Gesten zu erheitern suchte.413 An Hamanns drastischen Vergleich knüpft Jahre später Herder an, wenn er 1798 in einem Brief an Jean Paul im Zusammenhang mit der Kantischen Philosophie vom »ecklen Spiel mit sich selbst, dem Onanismus der rein-unreinen Vernunft« spricht.414
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Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 12. Vgl. auch ebd., S. 24, 110, 165f., 178. Vgl. ebd., S. 51. Born: Versuch, S. 69, 82 Anm. H V 226 (Brief an Johann George Scheffner vom 7. Oktober 1784). KrV A 765/B 793. N III 287. Vgl. dazu Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 370f. HB VII 425 (Brief vom 24. November 1798).
268
d)
Abschließung des Subjekts und Zustrom der Sinnlichkeit
Das »Eigentümliche« der Metaphysik sei die »Beschäftigung der Vernunft bloß mit sich selbst«415 – die Bestimmung Kants ist Ausdruck seiner programmatischen Fixierung auf die reinen Formen der Erkenntnis, wie sie unabhängig von aller äußeren Erfahrung im Menschen a priori bereitliegen. Der menschliche Verstand ist ihm eine »vor sich selbst beständige, sich selbst gnugsame, und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu vermehrende Einheit«.416 Das kritische Unternehmen, die von sinnlich-empirischen Einflüssen umspülte Vernunft »einzudämmen und zur Königsburg des gepanzerten Subjekts zu machen«,417 treibt nicht erst bei Kants pointiert formulierenden Kritikern Hartmut und Gernot Böhme, sondern auch schon bei seinen zeitgenössischen Anhängern eine Metaphorik der Abschirmung des von außen Zuströmenden hervor. In dem enthusiastischen Brief, den der philosophische Autodidakt Johann Benjamin Erhard (1766–1827) im Mai 1786 aus Nürnberg an Kant schreibt, feiert er die kritische Philosophie als »Enthüllung ächter Weisheit« und bekundet begeisterte Anteilnahme an dem Projekt, »die Ströme der Sinnlichkeit zu dämmen die den Zutrit zu ihr den Sterblichen verweren«.418 Erhards Metapher markiert den Widerspruch zum zeitgenössischen anthropologischen Ansatz, der gerade darin bestand, den Menschen im Wirkungsfeld sinnlich-empirischer Einflüsse zu situieren.419 Statt im abgeschlossenen Raum der reinen Vernunft nach Weisheit zu forschen, bekannte man sich zu dem von Locke vorgegebenen Grundsatz, dass philosophische Erkenntnis vom Menschen nur durch Untersuchung des gesamten Komplexes seiner Seelenäußerungen in ihrem natürlichen Erfahrungszusammenhang zu gewinnen sei.420 Bereits Locke hatte es in diesem Kontext abgelehnt, die unterschiedlichen Seelenpotenzen als voneinander abgetrennte »Provinzen« zu betrachten,421 eine Haltung, die für die Anthropologie der Spätauf-
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WA III 197 (Prolegomena). Vgl. auch KrV A 680/B 708. KrV A 65/B 89f. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985, S. 85. Zur Einordung Kants in die Geschichte philosophischer Modellierungen des homo clausus vgl. auch Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a. M. 181993. Bd. 1, S. LV. AA X 448 (Brief vom 12. Mai 1786). Zu Erhards Kantrezeption vgl. den Bericht in Erhard: Denkwürdigkeiten, S. 18–21. Vgl. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, S. 275, 281; Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 25; Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 107–110; ders.: Kommentar, S. 430–433. Vgl. zu diesem Ansatz bei Locke Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung [ital. 1970]. München 1973, S. 25f. Vgl. Locke: Essay, Buch II, Kap. 21, § 6.
269 klärung bestimmend wird.422 In seiner populären Deutschen Chronik lobt Christian Friedrich Daniel Schubart 1774 das Verfahren der neueren Philosophen, »die Seele in ihren Wirkungen zu überraschen, und von da auf ihr Wesen zurück zu schließen«, und kontrastiert diese empirische Methode mit dem Verfahren der Wolffschen Philosophie, welche »die Facultäten der Seele wie Inseln hinzeichnete, ohne den Ocean zu kennen, worauf diese Inseln schwimmen«.423 Mit der Isolierung der reinen Vernunft machte Kant sich in den Augen seiner Gegner genau einer solchen Vernachlässigung des sie umgebenden ›Ozeans‹ empirischer Wirkungszusammenhänge schuldig. Sein philosophisches Programm wird von ihnen als solipsistisch zurückgewiesen. Tittel betont in Ueber Herrn Kant’s Moralreform, die Vernunft sei »keine isolirte, von der übrigen Menschennatur so abgeschnittene Provinz« wie Kant glauben machen wolle.424 In Jacobis David Hume wird das durch erfahrungsunabhängige Erkenntnisformen definierte Kantische Subjekt spöttisch mit einer Auster verglichen.425 Die Kritik an einem Idealismus, der die »Außenwelt so ganz von unsrer Erkenntniß abschneidet, daß sie auch eben so gut gar nicht da seyn könnte«,426 kulminiert in der zeitgenössischen Diskussion im Vorwurf eines erkenntnistheoretischen Egoismus; zuerst bei Jacobi und Feder, dann auch bei Pistorius und Weishaupt.427 422
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Bezogen auf das Verhältnis von ›unteren‹ (Sinnlichkeit, Witz, Einbildungskraft) und ›oberen‹ Seelenkräften (Urteilsvermögen, Verstand) betont zum Beispiel Herder in einer Schrift von 1779, die Kräfte der menschlichen Seele lägen »einander näher oder entfernter; abgerissen und inselhaft ist aber keine und zu allen ist Zugang« (Über den Einfluß der schönen in die höhern Wissenschaften, SWS IX 300, vgl. SWS IX 295). Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart: Weltweisheit. In: Deutsche Chronik auf das Jahr 1774 [Repr. 1975], vierte und fünfte Beylage, S. 49–53, hier S. 50. Als Vertreter der von ihm gerühmten neueren Philosophie nennt Schubart Mendelssohn, Garve, Sulzer, Herder, Meiners, Lossius, Feder, Platner – und Kant. Zur Einordnung des vorkritischen Kant in den zeitgenössischen philosophischen Kontext vgl. Kuehn: Kant, S. 183–186. Mit Feder war Schubart seit der gemeinsamen Studienzeit in Erlangen (1758–1760) auch persönlich bekannt; vgl. Feder: Leben, S. 42. Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 20. JW II/1 61. Der Vergleich wird in der Gothaer Rezension kritisch, in der Tübinger Rezension zustimmend zitiert; vgl. Landau 628, 730. AdB 82/1 (1788), S. 137 (Pistorius’ Besprechung zu Jakobs Brief […] des Hrn. Jacobi Idealismus und Realismus betreffend). Vgl. JW II/1 112; Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 144; Pistorius’ Rezension zu Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden, AdB 82/2 (1788), Hausius II 214; Weishaupt: Zweifel, S. 62f.; ders.: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 99, 104, 192. In der philosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts ist das Schlagwort vom ›Egoismus‹ fester Bestandteil anti-idealistischer Polemik und dient dazu, den Idealismus im Sinne einer reductio ad absurdum durch Offenlegung seiner Konsequenzen zu diskreditieren: Wer die Gegenstände der Erkenntnis als subjektive Repräsentationen auffasse, erkläre letztlich die gesamte Außenwelt zu bloßen Modifikationen seines Bewusstseins. In diesem Sinne sieht auch Jacobi den Egoismus als unausweichliche Folge von Kants transzendentalem Idealismus an, ein Urteil, dem sich Weishaupt anschließt (vgl. JW II/2 588f.). Weishaupts Egoismus-Vorwurf wird von Kants Anhängern ent-
270 Statt dem Kantischen Streben nach Eindämmung und Abschließung ist für die zeitgenössische Popularphilosophie die Tendenz kennzeichnend, das menschliche Subjekt als ein offenes, im Austausch mit seinem physischen Außen sich konstituierendes System zu betrachten.428 Diese Tendenz schlägt sich in einer Metaphorik des Fließens und Strömens nieder. Herder zum Beispiel betont in seiner anthropologischen Grundschrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778), dass die menschliche Seele »nichts aus sich« vermag, sondern erst durch das »Meer zuströmender Sinnlichkeit« in Aktivität versetzt wird.429 Tittel verteidigt eine solche Betrachtungsweise gegen den Kantischen Apriorismus, wenn er die Formierung von Erkenntnis und Bewusstsein beim Kind als einen Prozess beschreibt, in dem alles darauf ankommt, dass die Seele sich dem Influxus der Sinneseindrücke öffnet: »Schon webt sie nun ganz in sinnlichem Stoff, wird von Erscheinungen, Bildern und Gegenständen umströhmt, die durch alle Organe – so viel vorbereitete, geöffnete Kanäle, sich hindringen zu dem Hörsaal geistiger Wahrnehmung, ihr Daseyn anzukündigen, die leere und dürftige Seele zu füllen, zu beschäftigen und zu unterrichten.«430 Entschieden bekennt Tittel sich zu Lockes Auffassung, dass der Verstand nicht in der Lage sei, irgendeinen Begriff hervorzubringen, der nicht »durch den großen Kanal der Erfahrung ihm zugeleitet worden«.431
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schieden zurückgewiesen. Vgl. Nürnbergische gelehrte Zeitung, 4. März 1788, S. 150; ALZ, 2. Juli 1788, Sp. 12 (der Autor ist vermutlich Reinhold); Born: Versuch, S. 30. Zum Verhältnis von Idealismus und Egoismus im 18. Jahrhundert vgl. Wilhelm Halbfaß: Descartes’ Frage nach der Existenz der Welt. Untersuchungen über die cartesianische Denkpraxis und Metaphysik. Meisenheim 1968 (Monographien zur philosophischen Forschung, Bd. 51), S. 200–223 (»Anhang I: ›Egoismus‹ und ›Egoisten‹ in der philosophischen Literatur des 18. Jahrhunderts«), bes. S. 200, 218; Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 17–22. Zum Zusammenhang zwischen dem nervenphysiologischen Paradigma der Zeit, wonach seelische Vorgänge als energetische Austauschprozesse konzipiert werden, und Erfahrungen der Offenheit und Entgrenzung des Ich im 18. Jahrhundert vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 112–129 (Kap. II.4: »Der Umbau des Menschen. Vom humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus«), bes. S. 114–117, 125f. Im Rahmen von Koschorkes Darstellung des 18. Jahrhunderts, die weniger auf diskursiv-intertextuelle Vernetzung denn auf übergreifende historische Synthese aus ist und dabei ›Empfindsamkeit‹ als beherrschendes Paradigma voraussetzt, bleibt der Ort des Kantischen Vernunftsubjekts und seiner Abschließungs- und Abgrenzungsstrategien generell unklar. HW II 688, 689. In Herders Ausdrucksweise wirkt die traditionelle Vorstellung eines Ätherstroms nach, der zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen das verbindende Medium darstellt. Vgl. auch HW II 681f., 684f., 686f. sowie dazu Hugh Barr Nisbet: Herder and the Philosophy and History of Science. Cambridge 1970, S. 27. Tittel: Kantische Denkformen, S. 46. Die Stelle wird in der Rezension des Kant-Anhängers Ewald als überflüssige poetische Prosa kritisiert; vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen, 30. Juli 1788, S. 501. Tittel: Kantische Denkformen, S. 106.
271 Pierre Pénisson hat darauf aufmerksam gemacht, dass die bei Herder allgegenwärtige Metaphorik des Fließens und Strömens Grundzüge nicht nur seiner Anthropologie, sondern auch seines Wissenschaftsverständnisses hervortreten lässt. Was Herders Sichtweise zufolge für den Menschen allgemein gilt – dass seine Entwicklung der Kontingenz der ihn umströmenden äußeren Einflüsse unterworfen ist –, das gilt auch für die eigene wissenschaftlich-literarische Produktion: »Der Sog des Stromes setzt ständig das Eindringen eines Äußerlichen – in aller heterogenen Vielfalt – in die ursprüngliche Schöpfung voraus, ob es sich nun um das Auftreten neuer Tendenzen im Lauf der Niederschrift oder um äußere Umstände handelt, wie Zeitereignisse, das Erscheinen neuer Publikationen oder gar Wünsche von Verlegern …« Es gebe bei Herder »kein Anhalten, keine Bemeisterung des Augenblicks«, sondern stattdessen ein »Sich-Hingeben an den Strom« der Produktion, der durch fremde Ströme gespeist wird und der sich letztlich im allgemeineren Strom der Menschheitsgeschichte (dem »Strom der Vergessenheit«, wie Herder in der Vorrede zu den Ideen formuliert) auflöst.432 Ganz anders das Wissenschaftsprogramm, das Kant in den Prolegomena aus der »abgesonderte[n] […] Sphäre« reiner Vernunft ableitet.433 Da alle empirisch-lebensweltlichen Kontingenzfaktoren aus dieser Sphäre ausgeschlossen sind, unterliegen die hier formulierten Aussagen keiner nachträglichen Relativierung, sondern fügen sich zu einem statischen System von überzeitlicher Gültigkeit. So kann Kant um Mitarbeit an seinem philosophischen Projekt mit dem Hinweis werben, dass keine andere Wissenschaft »ein so bestimmtes und geschlossenes Wissen« biete wie die Vernunftkritik.434
4. Die Neuordnung der Philosophie a)
Geographische Vermessung
Nach den negativen Operationen der Grenzziehung, Reinigung und Abschließung sollen zum Schluss diejenigen Metaphern der Vernunftkritik thematisiert werden, die deren philosophischen Ertrag in positiver Weise ausdrücken. Drei Metaphernfelder sind es, die in dieser Hinsicht besonders auffallen: geographische Vermessung, Wegbestimmung und Friedensstiftung. Die Vermessungsmetapher ist zum Beispiel in der bereits mehrmals zitierten Brückenstelle zwischen transzendentaler Analytik und Dialektik 432
433 434
Vgl. HW III/1 16 sowie Pierre Pénisson: Nachwort. Die Palingenesie der Schriften: die Gestalt des Herderschen Werks. In: HW I 864–924, hier S. 871–874. WA III 122. WA III 244. Vgl. auch WA III 261 sowie schon die Bemerkung in der Vorarbeit zu den Prolegomena: »Es ist hier ein Ganzes möglich was einen besonderen Reitz hat weil die Erkentnis geschlossen ist und von anthropologie frey« (AA XXIII 59).
272 präsent, wo Kant von der Insel des reinen Verstandes spricht. Eingeleitet wird die Passage mit dem Rückblick auf die bisherige Untersuchung: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt.«435 Die Bemerkung bezieht sich auf die systematische Ableitung der apriorischen Verstandesprinzipien, die den Inhalt der transzendentalen Analytik ausmacht. Schon zu Beginn der Analytik hatte Kant erklärt, dass durch die Bestimmung der logischen Urteilsfunktionen des Verstandes und der damit korrespondierenden Kategorien das Verstandesvermögen »gänzlich ausgemessen« werde.436 Das Ergebnis der Ausmessung ist die Anordnung sämtlicher Formen und Begriffe des Denkens in Gestalt einer »Tafel«, die das »ganze Feld des reinen Verstandes« erfasst.437 Im Kontext des obigen Zitats apostrophiert Kant diese Tafel auch als eine Landkarte des Verstandes.438 Die Vermessungsmetaphorik bleibt nicht auf das Gebiet des reinen Verstandes beschränkt. Aus den bis zum Unbedingten erweiterten Kategorien lassen sich, wie Kant ausführt, die transzendentalen Ideen ableiten,439 durch die in ähnlicher Weise ein »Feld für die reine Vernunft abgesteckt« und in Form einer Tafel darstellbar gemacht wird440 wie durch die Kategorien das Feld des reinen Verstandes. So kann Kant in den Prolegomena bekräftigen, dass durch die kritische Philosophie nicht nur der Verstand, sondern auch »das Vernunftvermögen […] gänzlich ausgemessen« werde.441 Und in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik erklärt Kant es geradezu zum eigentümlichen Wesensmerkmal der reinen Vernunft, dass sie »ihr eigen Vermögen […] ausmessen« und auf diese Weise »den ganzen Vorriß zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soll«.442 ›System‹ wird von Kant definiert als die von der Vernunft geforderte »Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.«443 Wie eng diese Systemkonzeption der kritischen Philosophie am geographischen Modell orientiert ist, hat Fumiaysu Ishikawa in einem Aufsatz herausgearbeitet. Die physische Geographie stellt für Kant 435
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KrV A 235/B 294. Ähnlich ist in einer Reflexion aus den 1770er Jahren von einer »Geographie« des »Vernunftlandes« der Metaphysik die Rede, dessen »Umris« es zu zeichnen gelte (AA XVII 559, Refl. 4458). KrV A 79/B 105. KrV KrV A 64/B 89; vgl. KrV A 70/B 95, A 79f./B 105f., A 161/B 200. KrV A 236/B 295. Vgl. KrV A 321/B 377-A 323/B 379, A 335/B 392, A 409/B 436-A 411/B 438. KrV A 338/B 396; vgl. KrV A 344/B 402, A 415/B 442f. WA III 201. Vgl. WA III 141, 193; WA IV 41 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). KrV B XIII. KrV A 832/B 860.
273 den Musterfall einer systematischen Wissenschaft dar, weil in ihrem Gegenstand, der Erdkugel, die Idee eines Ganzen repräsentiert ist, welche der Beschreibung der einzelnen Teile vorausgeht und sie organisiert: »Alle Weltoder Erdbeschreibung, sofern sie System seyn soll, muß vom Globus, der Idee des Ganzen, anfangen, und darauf stets Beziehung haben«, heißt es in Vollmers Ausgabe der Physischen Geographie.444 Entsprechend hat Kant in seinen Logikvorlesungen seinen Begriff systematischer, d. h. nach einem übergreifenden Prinzip geordneter Erkenntnis wiederholt am Beispiel der Geographie erläutert.445 Wie die Geographie vom Ganzen der Erdkugel ausgehen muss, ehe sie sich der Beschreibung der Teile zuwendet, so besteht Kant zufolge auch für die Philosophie die vordringlichste Aufgabe darin, den Gesamtumfang des globus intellectualis zu bestimmen, ehe man die darin enthaltenen Gegenstände untersucht. Das wird am deutlichsten in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck gebracht.446 Kant vergleicht hier die Grenze möglicher Erkenntnis mit dem Horizont der uns umgebenden Erdoberfläche. Dieser Horizont, so Kant, kann im empirischen Erkunden der Fläche nie erreicht werden, da er mit unserer Bewegung jedesmal zurückweicht. Die Totalität der Erkenntnis kann nur aus der Bestimmung des Durchmessers der Erdkugel als ganzer a priori berechnet werden; dies leistet die Kritik der Vernunft. Der Skeptizismus Humes, dieses »Geographen der menschlichen Vernunft«,447 wird von Kant mit dem Argument zurückgewie444
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Immanuel Kants physische Geographie. Hg. von Johann Jakob Wilhelm Vollmer. Bd. 1. Mainz/Hamburg 1801, S. 9. Vgl. Rinks Ausgabe der Physischen Geographie, AA IX 158, sowie Fumiyasu Ishikawa: Kants Erwerbung der Systematologie der Vernunftkritik. In: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Memphis, 1995. Hg. von Hoke Robinson. Milwaukee 1995. Vol. I, Part 3: Sections 3M-5, S. 1137–1152, hier S. 1138f. Weitere (m. E. weniger stichhaltige) Versuche, Kants Äußerungen zur Geographie im philosophischen Zusammenhang auszuwerten, finden sich bei Olivier Dekens: D’un point de vue géographique sur la philosophie kantienne. In: Revue de Métaphysique et de Morale 103 (1998), S. 259–274; Stephan Günzel: Die philosophische Geographie Kants. In: Kant und die Berliner Aufklärung, hg. von Gerhardt u. a., Bd. 4, S. 529–537. Vgl. die Vorlesungsnachschriften von Philippi (1772) und Pölitz (1789), AA XXIV/1 374, 399, AA XXIV/2 531. Vgl. KrV A 759/B 787-A 762/B 790. Die Vorstellung des globus intellectualis war Kant von Bacon und Hume her vertraut. Vgl. Reinhard Brandt: Einführung. In: Reinhard Brandt/Heiner Klemme: David Hume in Deutschland. Literatur zur Hume-Rezeption in Marburger Bibliotheken. Marburg 1989, S. 5–18, hier S. 11. Zu Nachweisen bei Bacon vgl. Werner Kramer: Art. ›Globus intellectualis‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Ritter u. a., Bd. 3, Sp. 677f., sowie BW I 829/V 111, BW I 836/V 118. KrV A 760/B 788. Reinhard Brandt weist darauf hin, dass der Ausdruck vielleicht durch eine Stelle in Humes Philosophical Essays [ab 1758: An Enquiry] Concerning Human Understanding angeregt wurde, wo das Projekt, einen Abriss der verschiedenen Teile und Kräfte des Gemüts zu liefern, als »mental geography« bezeichnet wird (Hume: Philosophical Works, Bd. 4, S. 10). In der in Kants Besitz befindlichen deut-
274 sen, dass Humes Bestimmung der Grenzen menschlicher Erkenntnis sich eben nicht auf eine solche apriorische Berechnung des gesamten Globus gründen könne und daher willkürlich bleibe. In der Diskussion um die kritische Philosophie wird zum Zwecke der Würdigung von Kants Leistung kaum eine Formulierung ähnlich stereotyp reproduziert wie die, dass durch die Vernunftkritik das Gebiet des reinen Verstandes (der reinen Vernunft, des menschlichen Erkenntnisvermögens …) ›völlig ausgemessen‹ werde. Neben Schultz448 und Jakob449 bedienen sich zum Beispiel Heinicke,450 Jenisch,451 Obereit,452 Vogel453 und Bürger454 dieses Ausdrucks, in kritischer Paraphrase auch Weishaupt.455 In Bürgers Amplifikation der Metapher wird die propädeutische Funktion der kritischen Philosophie mit der mathematisch-geographischen Tätigkeit eines Kriegsbaumeisters verglichen: »Die Kritik thut gleichsam Ingenieursdienste; Sie recognosciert das Terrain; untersucht alle Umstände desselben; mißt es aus; beurtheilt dessen Beschaffenheit, was sich Alles darauf anlegen und ausrichten läßt; und steckt das Lager ab.«456 Mit skeptischer Distanz betrachten dagegen die Popularphilosophen den Anspruch der kritischen Philosophie, eine »absolute Mensur«457 des Erkenntnisvermögens liefern zu wollen. Ungläubig merkt Pistorius in seiner Rezension zu Schmids Wörterbuch an, dass die kritische Philosophie sich den menschlichen Verstand »sogar auszumessen getraut«.458 Auch bei dem anonymen Autor der Philosophischen Unterhaltungen ist das Befremden gegenüber dem Kantischen Vermessungseifer unüberhörbar: Kant »mist aus und theilt ab, hier durch Schranken dort durch Grenzen«, doch das eigentliche »Wie« der seelischen Vorgänge bleibe »auch ihm unerforschlich«.459 Das Misstrauen richtet sich gegen den Hang des philosophischen Vermessungskünstlers zu Einteilungen und Schematisierungen, die wegen ihres
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schen Ausgabe von 1755 wird der Ausdruck mit »geistliche[r] Erdbeschreibung« übersetzt (Hume: Vermischte Schriften, 2. Teil, S. 16; vgl. dazu Brandt: Einführung, S. 11; zur Streitfrage, ob Pistorius der Übersetzer war, vgl. Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung, S. 20f. Anm. 35). Vgl. Schultz: Erläuterungen, S. 208 (zitiert bei Will: Vorlesungen, S. 101); vgl. auch ebd., S. 18, 190. Vgl. Jakob: Prüfung, S. XXVII, 125, 128, 148, 159; vgl. auch ebd., S. 16, 50, 58. Vgl. Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. XIV, 8, 180, 295; ders.: Vorbericht, S. VII, X (identisch mit ders.: Scheingötterei, S. 4, 8). Vgl. Jenisch: Zweiter Versuch, Hausius III 74; ders.: Skizze, S. 176. Vgl. Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist, S. 55. Vgl. Vogel: Glaubensbekenntniß, Hausius II 160. Vgl. Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 19f., 199, 207, 337. Vgl. Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 47, 51, 88. Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 63. Tittel: Kantische Denkformen, S. 11. Hausius I 214. Anonym: Über Kants Prolegomena, S. 124.
275 hohen Abstraktionsgrades beliebig wirken und zu einer angemessenen Erfassung und Beschreibung der Wirklichkeit nichts beitragen. In für die neuzeitliche Erfahrungsphilosophie paradigmatischer Form war die traditionelle ›Wissen-als-Weltkarte‹-Topik460 bereits bei Bacon kritisch gegen den selbstgenügsamen Ordnungs- und Klassifikationsgeist der Metaphysik gewendet worden. Begriffe von hohem Allgemeinheitsgrad, warnt Bacon in De augmentis scientiarum, seien zum Zwecke praktischer Orientierung so unnütz wie Ortelius’ Weltkarte zu dem Zweck, den Weg von London nach York zu bestimmen.461 Die Nähe zu konkreter Erfahrung, die Hinwendung zur Lebenspraxis gehört auch für die deutsche Spätaufklärung zu den Grundvoraussetzungen produktiven Philosophierens; und auch sie illustriert ihre Kritik an metaphysischen Abstraktionen mitunter durch den Rekurs auf die Geographie. Johann Gottfried Herder äußert sich – möglicherweise beeinflusst durch ähnliche Äußerungen D’Alemberts462 – an verschiedenen Stellen skeptisch über das Unterfangen, nach dem Vorbild Wolffscher Systematik vollständige philosophische »Landcharten« liefern zu wollen.463 Der ehemalige Philosophieprofessor Christoph Martin Wieland bezeichnet 1775 die von der Philosophie gebildeten allgemeinen Begriffe als »Generalcharten«, die bei der lebensweltlichen Orientierung nur von geringem Nutzen seien, da sie die Topographie unseres Lebensweges nicht mit der erforderlichen Genauigkeit abzubilden vermöchten.464 Wielands Äußerung steht in einer in Dialogform gehaltenen poetologisch-philosophischen Abhandlung mit dem Titel Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***, die 1775 im Teutschen Merkur erschienen. 1785 findet die Maske des »Pfarrers zu ***« erneut in einem Artikel des Merkur Verwendung: in dem anonymen Schreiben des Pfarrers zu ***, mit 460
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Zur Verwendung des Topos bei Leibniz, Linné, Diderot und D’Alembert vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 19), S. 49f. Vgl. als weiteres Beispiel auch Mendelssohns 61. Literaturbrief (1759), JA V/1 91. Vgl. BW I 668/IV 454. Bacon bezieht sich auf den berühmten Kartographen Abraham Ortelius, den Herausgeber des Theatrum orbis terrarum (1570). Vgl. Jean le Rond D’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie [1751]. Hg. von Erich Köhler. Hamburg 1955 (Philosophische Bibliothek, Bd. 242), S. 84–88; sowie dazu Welsch: Vernunft, S. 643–645. Vgl. HW I 193 (Fragmente über die neuere deutsche Literatur, 2. Ausg. 1768), HW II 11 (Über Christian Wolfs Schriften, 1768). Christoph Martin Wieland: Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***. In: ders.: Werke. Hg. von Fritz Martini/Hans Werner Seiffert. Bd. 3. München 1967, S. 295–349, hier S. 330. Als Professor für Philosophie in Erfurt (1769–1772) hatte Wieland unter anderem auch über Bacons De augmentis scientiarum gelesen (vgl. Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis, Teil 4, S. 170–172). Zum Begriff der ›Generalkarte‹ und seinem Gebrauch in der Philosophie vgl. Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg 1999 (Kant-Forschungen, Bd. 10), S. 73f.
276 dem Reinhold Herders Erfahrungsphilosophie gegen Kants negative Rezension der Ideen verteidigt.465 Auch hier wird auf den Vergleich mit der Geographie zurückgegriffen, um den unfruchtbaren Abstraktionsgeist des Metaphysikers (in diesem Fall: Kants) zu charakterisieren. Der Metaphysiker, so Reinholds Vorwurf, sei immer nur darauf aus, das Konkrete unter dem Vorrat seiner allgemeinen Begriffe zu subsumieren. So könne es ihm nie fehlen, daß er nicht finde was er gesucht hat, und nicht selten Entdeckungen mache, die wenigstens so wahr, so neu, und so wichtig sind, als jene die mein kleiner Junge ehegestern in seinen Landcharten machte, die er mir sogleich mit der herzlichsten Freude ankündigte, und die ich Ihnen eben so wenig vorenthalten kann – daß nämlich Wandsbeck in Teutschland, in Europa, in der alten Welt läge.466
Reinholds Anknüpfung an traditionelle Metaphysikschelte lässt hier wenig Verständnis spüren für das Neuartige an Kants philosophischer Geographie: das Inszendieren der Vernunft in ihre eigenen ausmessbaren Bereiche, welches dem kritischen Bezug auf die äußeren Objekte des Philosophierens vorangehen muss und ihn erst ermöglicht.467 Keine zwei Jahre später, nach einem intensiven Studium der Kritik der reinen Vernunft, steht Reinhold nicht an, Kants philosophische Vermessungsleistung in diesem Sinne in den höchsten Tönen zu loben: Freylich kann ich mit der lebendigsten Überzeugung von der Welt behaupten: Die Kritik der Vernunft habe die bisher vermißte genaue und vollständige Charte des Vernunftvermögens geliefert, auf derselben die eigenthümlichen Gebiethe der Sinnlichkeit, des Verstandes, und der eigentlichen (: reinen :) theoretischen und praktischen Vernunft unterschieden und festgesetzt […].468
Entsprechend wird Reinhold auch in den Briefen über die Kantische Philosophie nicht müde zu betonen, dass durch Kants Kritik das »Gebieth« der Vernunft erstmals in seinem ganzen Umfang und seiner genauen Beschaffenheit vor Augen gestellt werde.469
b)
Bestimmung des Weges
Indem Reinhold sich mit der geographischen Metaphorik Kants identifiziert, bekennt er sich zu einem methodisch streng kontrollierten Denken, das sich in einem durchmessenen Raum entlang vorgegebener Achsen und 465
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In einer Anmerkung zu Reinholds Aufsatz stellt Wieland den Bezug zum zehn Jahre zuvor erschienenen Artikel ausdrücklich her (vgl. Reinhold: Schreiben des Pfarrers zu ***, Landau 119). Zu Unterschieden zwischen den von beiden Pfarrerfiguren vertretenen Positionen vgl. aber Klemmt: Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, S. 7. Reinhold: Schreiben des Pfarrers zu ***, Landau 123. Vgl. Saner: Widerstreit, S. 267. KA I 146 (Brief Reinholds an Voigt von Ende November 1786). Vgl. Reinhold: Erster Brief, S. 116; ders.: Zweyter Brief, S. 131; ders.: Dritter Brief, S. 20; ders.: Sechster Brief, S. 71.
277 Orientierungen bewegt. Er wendet sich damit von der Tendenz der Popularphilosophen ab, das Denken als eine offene Bewegung zu betrachten, die sich bei der Erkundung unbekannten Terrains dem Zufall überlässt. Im philosophischen Diskurs der Zeit wird die Dualität dieser beiden Bewegungsarten des Denkens metaphorisch als Gegensatz von zielgerichteter Reise und Spaziergang beschrieben. Ein musterhaftes Beispiel ist die Gegenüberstellung von Schulphilosophie und Popularphilosophie, die Johann Georg Sulzer, einer der wichtigsten Vordenker der Anthropologie der Spätaufklärung,470 in seinem Handbuch Kurzer Begriff aller Wißenschaften (2. Auflage 1759) vornimmt. Die »Philosophie der Schule« wird von Sulzer als »eine weite Reise über Wasser und Land« charakterisiert, »bey welcher man sich einen bestimmten Ort zum Zwek vorgesezt hat, der Weg muß genau getroffen werden, wenn man nicht des Zwecks ganz verfehlen will, man kann keinen Schrit thun, ohne Hülfe des Compasses und vieler andern Instrumente, durch welche man sich der Richtigkeit des Weges versichert […].« Die »Philosophie der Welt« dagegen gleiche »einem Spaziergang, bey welchem man sich keinen gewissen Weg vorgesezt hat; man betrachtet alles, was in dem Wege vorkommt, und überläßt dem Zufall den Weg und die Gegenstände der Betrachtung.«471 Sulzers Spaziergangsmetapher wird zum Beispiel auch von Herder übernommen, wenn der seine philosophierenden Zeitgenossen dazu auffordert, sich von starren Systemzwängen zu lösen und sich ganz der kontingenten Vielfalt empirischer Gegenstände hinzugeben. In den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (2. Ausgabe von 1768) ergeht an den Weltweisen der Appell: [E]r spaziere frei, in desto mehrern Orten kann er Früchte suchen, hie und da Minen eröffnen – hie und da die Wünschelrute versuchen. Er kommt zeitig gnug auf seine Landstraße, wenn er nur viel auf sie mitbringt – und wie viel läßt sich aus dem Gebiet der Erfahrungen […] mitbringen!472 470
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Vgl. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart/Weimar 1994 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, Bd. 15), S. 410–439, hier S. 411. [Johann Georg Sulzer:] Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. 2., veränderte und verm. Aufl. Leipzig 1759, S. 185f. HW I 190. Auf Sulzers »beliebten Inbegriff der Wissenschaften« bezieht Herder sich ausdrücklich in unmittelbarer Nähe des Zitats, vgl. HW I 195. Christian Garve wird noch gegen Ende des Jahrhunderts auf dieselbe Bildlichkeit zurückgreifen, um für ein populäres Philosophieren zu werben: »Der systematische Denker ist wie ein Reisender, der zu einem bestimmten Ziele eilt, und der den Weg in der kürzesten Zeit zu machen sucht. Er muß nicht bloß auf die Dinge, die vor seinen Füssen, oder nahe um ihn herumliegen, – er muß immer weit vor sich hinaus sehn; er muß sich weder durch angenehme Ruheplätze aufhalten, noch durch interessante Aussichten auf Nebenwege verleiten lassen. Der nicht systematische Denker ist einem Spatziergänger ähnlich, der Muße hat, jeden Gegenstand, nach dem Maße, als er ihn an sich zieht, oder ihm Belehrung verspricht, zu betrachten […]. Bey gleichen Fähigkeiten und bey gleicher Wißbe-
278 Die Tendenz der Popularphilosophie, eine größtmögliche Ausdifferenzierung des Erfahrungswissens dessen systematischer Integration vorzuziehen473 und sich dabei auf methodisch ungesicherte, exploratorische Denkbewegungen einzulassen – »hin und her zu treten, ob man veste gehet: freier hin und her zu spazieren, um Materialien des Denkens zu holen«474 –, diese Tendenz ist es, gegen die Kants Kritizismus sich in aller Schärfe wendet. Metaphernpolitisch geschieht dies, indem Kant dem Bild des herumschweifenden Spaziergangs das des zielgerichteten Fortschreitens entgegensetzt.475 Zentrales Motiv der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist die Klage, dass die Metaphysik bisher nur ein »bloßes Herumtappen« gewesen sei und noch nicht zu dem klar vorgezeichneten »sicheren Gang einer Wissenschaft« gefunden habe, den Logik, Mathematik und Naturwissenschaft schon erfolgreich beschritten hätten.476 Durch die Kritik soll laut Kant dem »leichtsinnigen Herumstreifen« der spekulativen Vernunft endlich ein Ende bereitet werden.477 Ähnlich beklagt Kant auf dem Gebiet der Sittenlehre das Defizit der »populären Philosophie«, beim bloßen »Tappen« anhand empirischer Beispiele zu verharren, statt durch apriorische Ausmessung des Vernunftvermögens die Voraussetzung für einen sicheren Erkenntnisfortschritt zu schaffen.478 Die Kritik der praktischen Vernunft beschließt er mit der Forderung, man möge sich auch in der Moralphilosophie die Maxime zu eigen machen, »alle Schritte vorher wohl zu überlegen, die die Vernunft zu tun vorhat, und sie nicht anders, als im Gleise einer vorher wohl überdachten Methode, ihren Gang machen zu lassen«.479
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gierde, wird der Reisende weit mehr Mühe haben, die Dinge richtig zu sehen, oder genau zu erforschen […]« (Garve: Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, S. 337f.). Wolfgang Proß hat für diesen Zug der Spätaufklärung Karl Mannheims wissenssoziologischen Begriff der ›Atomisierung‹ herangezogen (vgl. Wolfgang Proß: Herder und Vico: Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 9], S. 88–113, hier S. 88–95). HW I 191. Natürlich hat auch dieses Bild in der Philosophie Tradition. Zur Metapher des droit chemin (rectum iter) bei Descartes vgl. Theophil Spoerri: La puissance métaphorique de Descartes. In: Cahiers de Royaumont/Philosophie 2 (1957), S. 273–301, hier S. 279–281; Edelman: Mixed Metaphor, bes. S. 169f.; Stierle: Gespräch und Diskurs, S. 321–326. Zur Wegmetapher bei Kant vgl. die Nachweise bei Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 98. Vgl. KrV B VII–XXIV sowie dazu Brandt: Zum Streit der Fakultäten, S. 44. Bereits der vorkritische Kant stellt der unsicheren Metaphysik die sichere Mathematik gegenüber, die »auf einer wohlgebähnten Straße sicher fortschreitet« (Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, WA I 630). KrV B XXXf. WA IV 40f. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). WA IV 301. Auch auf dem Gebiet der Naturforschung lehnt Kant ein »bloßes empirisches Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip« ab (Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, WA V 141).
279 Dass es sich bei dem Weg des Fortschritts, den die kritische Philosophie einschlägt, um einen »dornichten Weg« handelt, der beim Leser leicht Unwillen und Verdruss hervorrufen kann – das hatte Kant schon in den Prolegomena betont.480 Von Kants Anhängern wird die Mühe, die einem der vernunftkritische Argumentationsgang abverlangt, offensiv als Qualitätszeichen der neuen Philosophie herausgestellt, indem sie mit der Bequemlichkeit bloßen Lustwandelns kontrastiert wird.481 Die Annehmlichkeit eines »schöne[n] Spaziergang[s]«, wie sie zum Beispiel noch der Rezensent des Teutschen Merkur lobend an Herders Gott hervorhebt (»Sein Gang hat mannichfaltige Abwechslung, und jeder kleine erstiegene Hügel bringt einen in ein neues angenehmes Gefilde«),482 wird in der negativen Inversion durch Kants Anhänger nun zum Ausweis mangelnder philosophischer Genauigkeit. Deutlich wird das etwa in der Besprechung der Kritik der praktischen Vernunft, die in der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung erschien. Der Rezensent erklärt: Kants Werk sind [sic] nicht Spaziergänge, oder allenfalls Reisen an der Seite eines belehrenden Freundes auf schön gebahntem Wege: es sind die Bemerkungen eines Mannes, der durch einen dichtverwachsenen und zum Theile noch durch Menschenfleiß unwegsamer gemachten Wald […] eine gerade Bahn zu brechen, überall Hindernisse aus dem Wege zu räumen, vor betrügenden Abwegen zu warnen, durch vor- und rückwärts Visiren immer die Geradheit seines Weges zu prüfen hat, bis er das gewünschte Ziel der hellen Durchsicht erreichet hat. Daß nicht jeder, Theilnehmer einer solchen Arbeit zu seyn, Lust oder Beruf, oder selbst Fähigkeit habe, versteht sich von selbst […].483
Strenge Geradlinigkeit und Konsequenz, die keine Mühen gedanklicher Anstrengung scheut, statt ästhetisch ansprechende Oberflächlichkeit und Beliebigkeit – so lautet das Credo, das im Zeichen von Kants neuer systemphilosophischer Esoterik wieder allenthalben propagiert und metaphorisch durch die Abwertung der Spaziergangsmetapher transportiert wird. Der Nürnberger Rezensent von Ulrichs Institutiones eröffnet seine Besprechung mit der polemischen Wendung gegen die »tändelnde und seichte Modephilosophie unserer Tage«, deren Vertreter »weder Berge ersteigen, noch sich in Tiefen 480
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WA III 245. Vgl. Jakob: Prüfung, S. X; KA I 151 (Brief Reinholds an Voigt von Ende November 1786); Tübingische gelehrte Anzeigen, 5. Juni 1786, Landau 403 (Rezension zu Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform); AdB 80/2 (1788), S. 463 (Pistorius’ Rezension zu Meiners’ Grundriß). Von den »dornichten Pfade[n] der Kritik« spricht Kant auch in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik; vgl. KrV B XLIII. Dieselbe Opposition liegt zugrunde, wenn Kant die auf analogische Vermutungen gestützten Ausführungen in seinem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786) als eine »bloße Lustreise« vom »ernsthafte[n] Geschäft« strenger Philosophie abgrenzt (AA VIII 109). Diese Äußerung ist wohl als direkte Spitze gegen Herders analogisches Philosophieren anzusehen; vgl. Zammito: Stealing Herder’s Thunder, S. 66. Anzeiger des TM, November 1787, S. CLXIII. OALZ, September 1788, Sp. 1793.
280 wagen, sondern nur immer in blumigten Thälern spazieren möchten«, wohingegen Ulrich auf den Spuren Kants »tiefdenkend seinen ernsten Gang« gehe.484 Goethe beschrieb noch im Abstand von etlichen Jahren die einschneidende Wirkung des Kantischen Systems als Disziplinierung des philosophischen Spaziergängers: Den Zeitgenossen Kants, so Goethe 1813 in seiner Gedächtnisrede auf Wieland, musste die kritische Philosophie als eine »Zwingfeste« erscheinen, »von woher ihre heitern Streifzüge durch das Feld der Erfahrung beschränkt werden sollten«.485
c)
Ruheplatz und Orientierung
Kants Forderung nach einem zielgerichteten Weg, der auf sicherer geographischer Kenntnis des philosophischen Terrains beruht, wird von ihm auch in nautischer Metaphorik ausgedrückt. In der Einleitung der Prolegomena, wo er Sinn und Zweck des vernunftkritischen Unternehmens in grundsätzlicher Weise erläutert, erklärt Kant, es komme ihm darauf an, dem Schiff der Philosophie »einen Piloten zu geben, der, nach sicheren Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt.«486 Die Pointe der Metapher liegt in der polemischen Kontrastierung der vernunftkritischen Steuermannskunst mit dem vorzeitig auf Grund gelaufenen Skeptizismus Humes. Zwar habe Hume, wie Kant an derselben Stelle lobend hervorhebt, durch seine Zweifel die Unzulänglichkeit der traditionellen Metaphysik aufgedeckt. Er habe es allerdings versäumt, der Metaphysik einen neuen Weg zu weisen, indem er
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Nürnbergische gelehrte Zeitung, 28. Juni 1785, Landau 145. Zu der Opposition von umherschweifendem Spazieren vs. zielgerichtetem Gang kommt hier die von Tal vs. Gebirge. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat darauf hingewiesen, dass der Ort der praktisch-eklektischen Popularphilosophie wissenschaftsmetaphorisch die »Topologie der Ebene« ist, deren Kenntnis nicht von erhöhten Orientierungspunkten aus gewonnen werden kann, sondern nur im Durchwandern der Fläche (Schmidt-Biggemann: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen, S. 31). (Freilich bekennt auch Kant sich ausdrücklich zur »Ebene der Erfahrung«, vgl. KrV A 707/B 735 und WA III 252 Anm.; allerdings beruht bei ihm die Kenntnis dieser Ebene, wie gezeigt, nicht auf empirischem Durchstreifen, sondern auf apriorischer Vermessung und Berechnung ihrer Ausdehnung.) In der Tradition eklektischen Philosophierens ist die Vorstellung vom Umherstreifen in blumigen Gefilden zum Teil verbunden mit der Metapher der Biene, die ihren Honig aus verschiedenen Blüten zusammenträgt. Vgl. Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit, Bd. 80), S. 356f. Johann Wolfgang Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814. Hg. von Christoph Siegrist u. a. München 1987, S. 945–965, hier S. 961f. WA III 121.
281 lediglich »sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag«.487 Der Skeptizismus, so der hinter dieser Formulierung steckende Gedanke Kants, kann für den Philosophen allenfalls eine Durchgangsstation sein, nützlich zu dem Zweck, sich von dogmatischen Vorurteilen zu befreien; als endgültiger Zielpunkt der philosophischen Denkbewegung kommt er nicht in Betracht, da er die Forderung der Vernunft nach Erkenntnisgewissheit nicht zu befriedigen vermag.488 Entsprechend heißt es in der transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft: So ist der Skeptizism ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte; denn dieser kann nur in einer völligen Gewißheit angetroffen werden, es sei nun der Erkenntnis der Gegenstände selbst, oder der Grenzen, innerhalb denen alle unsere Erkenntnis von Gegenständen eingeschlossen ist.489
Mit der Gegenüberstellung von skeptischer Besinnung über den rechten Weg und Aufsuchen eines dauerhaften Wohnsitzes variiert Kant ein topisches Schema, das in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts nur allzu geläufig war. Es handelt sich um die Metapher vom ›Meer des Skeptizismus‹, das von der Vernunft überwunden werden muss, bevor sie in den ›sicheren Hafen der Erkenntnis‹ einlaufen kann.490 Unter den Zeitgenossen des späten 487
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WA III 121. Kants Formulierung könnte durch die weiter oben erwähnte, von Hamann übersetzte Stelle aus dem Treatise angeregt worden sein (vgl. oben S. 253f.), in der Hume seinen skeptischen Standpunkt mit der Situation eines schiffbrüchigen Seefahrers vergleicht, der dazu verurteilt ist, auf dem unfruchtbaren Felsen, auf dem er sich befindet, umzukommen. Zur These einer direkten Bezugnahme Kants auf Hume vgl. Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 92f. Zurückhaltender äußert sich Brandt: [Rezension zu] Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 108 Anm. 16. Zu Kants Unterscheidung zwischen einem (negativ bewerteten) Skeptizismus, der jegliche Erkenntnisgewissheit verneint, und einer (positiv bewerteten) ›skeptischen Methode‹, die den Dogmatismus in die Schranken weist und dadurch der Vernunftkritik das Feld bereitet, vgl. KrV A 423f./B 451f., A 485f./B 513f., A 756f./B 784f., A 763f./ B 791f., A 769/B 797 sowie dazu Tonelli: Kant und die antiken Skeptiker, S. 96; Kuehn: Skepticism, S. 82–84. KrV A 761f./B 789f. In der Vorrede zu seinen Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit äußert sich Johann Christoph Gottsched über die Wirkung seiner Leibniz- und Wolff-Lektüre wie folgt: »Hier gieng mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft und nach vielem Wallen und Schweben, endlich auf ein festes Land zu stehen kommt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte« (Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit […]. Erster Theil. Leipzig 1733 [Repr. 1975], unpaginierte Vorrede). Vgl. auch Gottfried Wilhelm Leibniz: Système nouveau de la nature [1695]. In: ders.: Philosophische Schriften. Hg. und übers. von Hans Heinz Holz. Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt a. M. 21986, S. 200–226, hier S. 216; sowie das
282 18. Jahrhunderts hatte der Topos allerdings einiges an fragloser Gültigkeit verloren. Die skeptische Haltung der Popularphilosophen gegenüber metaphysischen Letztbegründungen, ihr Bewusstsein von der historischen Relativität der Erkenntnis ließ es ihnen fraglich erscheinen, ob der sichere Hafen der Wahrheit je gefunden werden könne und ob nicht vielmehr das Meer widerstreitender Auffassungen der eigentliche Ort der Philosophie sei, an dem man sich auf Dauer einzurichten habe. Eine solche Haltung wird zum Beispiel in Christoph Meiners’ Revision der Philosophie (1772) angedeutet, deren Autor sich für ein ›eklektisierendes‹, d. h. selbständiges Denken ausspricht, das sich nicht autoritätsgläubig einem bestimmten System anschließt, sondern die Vielzahl konkurrierender Systeme prüft und sichtet.491 Meiners zitiert dabei das topische Schema von gefährlicher See und sicherem Ruheplatz, wenn er auf die Verführungskraft hinweist, die der Widerspruch einer »berühmten Sekte« (gemeint ist die epikureische) gegen das Eklektisieren auszuüben vermag: Euch irrenden (ruft der sanfte Epikuräer) die ihr auf dem bodenlosen Meere von entgegengesetzten Meinungen herumtreibet, euch komme ich aus meinen stillen Gärten entgegen: laßt euch nicht länger von der heillosen Zweifelsucht bethören, wo ihr stets von verschiedenen Grundsätzen, wie von Wirbelwinden herumgejagt, zu ungewissen Zielen verschlagen werdet. Vertauscht die lächerliche Eitelkeit, niemandes Grundsätzen anzuhängen, die euch niemals eine bleibende Stätte verschafft, gegen die unwandelbare Ruhe, die unser Vater Epikur euch in seinem Schutzorte anbietet. […] Wer zweifelt daran, daß eine solche Declamation manchen verführet habe, und vielleicht noch viele verführen könne?492
Als ein »Reisende[r] quer durch die Systeme«493 zeigt sich der Eklektiker gegenüber den Verheißungen eines dauerhaften Ruheplatzes resistent, wie auch das Beispiel Gottlob Ernst Schulzes beweist. In seinem ganz in eklektischer Tradition stehenden Lehrbuch Grundriß der philosophischen Wis-
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Frontispiz von Samuel Grossers Pharus intellectus sive logica electiva (1697), wiedergegeben in Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 8. Das Bild von der philosophischen Suche nach dem Hafen der Wahrheit ist letztlich ein Spezialfall der allgemeineren Daseinsmetapher von der ›Schiffahrt des Lebens‹ u. ä. Zu deren reicher Tradition vgl. die weitgespannte Untersuchung von Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, sowie Christoph Hönig: Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Der Topos. Texte und Interpretationen. Würzburg 2000. Zur allgemeinen Charakterisierung von Meiners’ Revision im Kontext der eklektischen Popularphilosophie vgl. Petrus: »Beschrieene Dunkelheit«, S. 287–291. Zum (keineswegs uneingeschränkt positiven) Gebrauch des Begriffs ›Eklektik‹ in der Revision vgl. die Differenzierungen bei Albrecht: Eklektik, S. 594–597. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Erster Theil. Göttingen/Gotha 1772, S. 64–66. Meiners spielt hier wohl auf das epikureische Ideal der Ataraxie an, wofür Epikur die Metapher der ›Meeresstille des Gemüts‹ prägte (vgl.Wolfgang Schmid: Art. ›Epikur‹. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hg. von Theodor Klauser u. a. Band 5. Stuttgart 1962, Sp. 681–819, hier Sp. 722, 805f.), sowie auf den historischen Umstand, dass das Zentrum seiner Schule ein Garten in Athen war. So die Formulierung bei Riedel: Kommentar, S. 414.
283 senschaften494 wird das Umherkreuzen auf hoher See ohne endgültiges Ziel ausdrücklich zur idealen Form des Philosophierens erhoben: »Auch kenne ich eigentlich kein größeres Vergnügen«, betont Schulze in der Vorrede zum ersten Band, »als wenn mein Geist auf dem großen Meere der menschlichen Meynungen herumschiffen und auf den verschiedenen Höhen desselben sich an neuen Aussichten weiden kann.«495 Vor dem Hintergrund der Tendenz der Popularphilosophen, das alte topische Schema von Irrfahrt und Heimathafen programmatisch umzudeuten, gewinnt Kants Äußerung in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, wo er die Skeptiker als »eine Art Nomaden« charakterisiert, »die allen beständigen Boden verabscheuen«, durchaus einen polemischen Signalwert.496 Statt sich mit einem Philosophieren zu begnügen, das sich ohne eigenen festen Standpunkt ganz darin ergeht, die verschiedensten Systeme zu erkunden und zu prüfen, gibt der Königsberger Philosoph es nun wieder als oberstes Ziel aus, mittels der Vernunftkritik »zu einer beharrlichen philosophischen Ruhe zu gelangen«.497 Kants negative Bewertung einer unsteten Vernunft wird von seinen Anhängern übernommen und im Rückgriff auf den Topos der Irrfahrt metaphorisch amplifiziert. So warnt Samuel Heinicke in seinem Buch Über graue Vorurtheile und ihrer Schädlichkeit den nicht durch die Vernunftkritik belehrten Philosophen: »[E]ine kritiklose Vernunft ist rastloß und fällt von einem Extrem auf das andere; bald verleugnet sie Alles, bald glaubt sie wieder Alles, und wie ein Schif im Sturm, wird sie bald da bald dorthin verschlagen, bis sie entweder auf den Strand geräth, oder ganz ohne Rettung sinkt.«498 Ähnlich agitiert er in seiner Scheingötterei gegen die Vertreter einer »kritiklosen Vernunft«; diese müssten entweder einem naiven dogmatischen Glauben verfallen »oder auch, bis an ihr Ende, auf dem Meer des Zweifels, mit ihrer Fracht, herum treiben: beide Extreme aber kann die kritische Vernunft vermeiden […]«.499 Georg Gustav Fülleborn sieht in Kants kritischem System den notwendigen Anhaltspunkt, nach dem sich die spekulative Vernunft »immer als nach einem Pharus umsehen kann, damit sie nicht auf dem so oft täuschenden Meere der Untersuchungen bey ihrer Fahrt nach dem Lande der Wahrheit, ohne Kompaß, Grund, Ufer und Gestirne zu haben und zu entde494 495 496
497 498 499
Vgl. Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der »eklektischen Philosophie«, S. 292. Schulze: Grundriß der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, unpaginierte Vorrede. KrV A IX. Kurt Röttgers hat diese Formulierung zum Anlass genommen, um eine poststrukturalistisch inspirierte Kritik an Kant als Vertreter der Ordnung einer ›sesshaften‹, d. h. disziplinierenden und polizierenden Vernunft vorzutragen – in Abgrenzung von einer ›nomadischen‹ Vernunft, deren Konturen allerdings unscharf bleiben. Vgl. Kurt Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über Zigeuner. Heidelberg 1993, S. 34, 100. KrV A 757/B785; vgl. auch WA IV 33 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Heinicke: Ueber graue Vorurtheile, S. 286. Heinicke: Scheingötterei, S. 19.
284 cken, herumkreutzen darf«.500 Das von Fülleborn anvisierte ›Land der Wahrheit‹ glaubt Johann Benjamin Erhard mit Kants Hilfe bereits gefunden zu haben. In seinem enthusiastischen Brief spricht er den Königsberger Philosophen als einen von der Wahrheit erwählten Führer an, der ihn aus einem »stürmischen Lande« in eine »paradisische Gegend« geleitet habe.501 Der Anspruch Kants und seiner Anhänger, dass die Vernunftkritik die Voraussetzungen dafür schaffe, das Philosophieren an einen endgültigen Ruhepunkt gelangen zu lassen, wird von der Gegenseite nicht anerkannt. Angesichts der seiner Meinung nach offensichtlichen Tendenz der kritischen Philosophie, die objektiven Grundlagen menschlicher Erkenntnis zu negieren, fragt Adam Weishaupt: Wo ist nun das Beruhigende dieses Systems? Wenn dies Ruhe ist, so ist es die Ruhe eines durch die Labyrinthe des Zweifelns sich lang und vergeblich hindurch arbeitenden Wanderers, der aus Unkraft und Ermüdung sich auf den ersten besten Stein hinwirft, und das Drückende seines Nachtlagers weniger fühlt, weil seine Entkräftung zu groß ist, weil er des langen und ewigen Irrens müde ist […].502
Statt über alle skeptizistischen Anfechtungen hinweg den sicheren Weg zum Ruheplatz philosophischer Wahrheit zu weisen, erscheint die kritische Philosophie in Weishaupts Inversion der Metapher als ein Labyrinth, das denjenigen, der sich darin verirrt, in erschöpfter Resignation verharren lässt. Die Rede vom ›Labyrinthischen‹ der Metaphysik im allgemeinen503 wie des Kantischen Systems im besonderen504 hat unter den Popularphilosophen topischen Charakter. Was ihrer Auffassung nach die Philosophie davor bewahrt, sich zu weit in fruchtlose Spekulationen zu verirren, ist die Instanz des gemeinen Menschenverstandes. Indem dieser uns von bestimmten fundamentalen Wahrheiten intuitive Gewissheit verschafft (wie von der Realitätshaltigkeit der Erfahrung oder vom Grundsatz der Kausalität als Basis des kosmologischen Gottesbeweises), fungiert er als ein Korrektiv, das die Vernunft von allzu verstiegenen Sophistereien abhält; er ist der »Polarstern«, wie Selle formuliert, »nach welchem wir uns auf dem offenen Meere der Spekulation zu orientieren haben«.505 In der Auseinandersetzung um die kritische Philosophie ist es vor allem Moses Mendelssohn, der gegen die skeptischen und idealistischen Tendenzen mancher Metaphysiker die Orientierungsleistung des gemeinen Menschenverstandes hervorhebt. Wann immer die Vernunft, erklärt Mendelssohn in seinen Morgenstunden in impliziter 500 501 502 503 504
505
Fülleborn: Ueber die Axiome, Hausius II 42. AA X 447 (Brief an Kant nach dem 12. Mai 1786). Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 83; vgl. auch ebd., S. 150, 160f. Vgl. Feder: Logik und Metaphysik, S. 246. Vgl. AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 35 (Garves Rezension zur Kritik der reinen Vernunft); AdB 80/2 (1788), S. 465 (Pistorius’ Rezension zu Meiners’ Grundriß der Seelen-Lehre). Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 151.
285 Wendung gegen Kant, sich zu weit von der »Heerstraße des Gemeinsinns« zu entfernen und auf »Irrwege« zu geraten drohe, obliege es dem Philosophen, innezuhalten und sich »zu orientiren«, um möglichst schnell auf die »betretne Bahn« des gesunden Menschenverstandes zurückzufinden.506 Mendelssohns Orientierungsmetaphorik vermag Kant ohne Schwierigkeiten zu übernehmen, wie seine Antwortschrift von 1786 zeigt, die die Metapher schon im Titel trägt: Was heißt: sich im Denken orientieren? Kant gibt dem berühmten Berliner Aufklärungsphilosophen darin Recht, dass die menschliche Vernunft über ein Prinzip verfüge, von dem sie in ihrem spekulativen Gebrauch geleitet wird. Dieses Prinzip wird allerdings einem transzendentalen Standpunkt angepasst: Es handelt sich Kant zufolge nicht um ein objektives Wissen von etwas (etwa vom Dasein eines höchsten Wesens), sondern um ein subjektives Bedürfnis der Vernunft, im Bereich der Naturerkenntnis wie auch im Bereich der Moral ein Unbedingtes anzunehmen (dessen Existenz zwar notwendig vorausgesetzt werden muss, aber nicht objektiv bewiesen werden kann). Dieser »Vernunftglaube« sei es, der uns im spekulativen wie praktischen Vernunftgebrauch als »Wegweiser« und »Kompaß« diene und mit dem der Philosoph sich auf seinen »Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren« könne.507
d)
Position der Mitte
Mindestens ebenso wichtig wie die Topik zielgerichteter Bewegung ist für die elementarliterarische Verfasstheit der kritischen Philosophie die Situationstopik Mitte vs. Extreme. Das wird deutlich, wenn Kant in der Vorrede zur 506
507
JA III/2 79f., 82. Vgl. auch An die Freunde Lessings, JA III/2 198, 202f., 211. Der Gebrauch der Orientierungsmetapher in der Auseinandersetzung mit Kant ist möglicherweise inspiriert durch Garves Rezension der Kritik der reinen Vernunft, die Mendelssohns Wahrnehmung der kritischen Philosophie ja mitprägte (laut dem Brief an Elise Reimarus vom 5. Januar 1784, vgl. JA XIII 169) und in der ebenfalls auf die orientierende Funktion des gemeinen Menschenverstandes rekurriert wird. Vgl. AdB, Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., Landau 35, 49, sowie des weiteren AdB 68/2 (1786), Landau 446 (J.A. Eberhards Sammelrezension zu Mendelssohns und Jacobis Schriften im Pantheismusstreit); Reimarus: Ueber die Gründe, S. 33–37, 108, 114; Göttingische gelehrte Anzeigen, 8. März 1787, Landau 510 (Feders Selbstrezension zu Ueber Raum und Caussalität); Obereit: Der wiederkommende Lebensgeist, S. 70–72; Selle: Grundsätze der reinen Philosophie, S. 18; Spalding: Vertraute Briefe, S. 211f.; Weishaupt: Ueber die Kantischen Anschauungen, S. 256. Zum Vorwurf, dass Kants Lehre im Widerspruch zum gemeinen Menschenverstand stehe, vgl. auch Tittel: Ueber Herrn Kant’s Moralreform, S. 4, 9; Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. IX, 84, 79*; AdB 80/2 (1788), S. 463 (Pistorius’ Rezension zu Meiners’ Grundriß der SeelenLehre); Weishaupt: Zweifel, S. 64; ders.: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 67f. WA III 277. Zur Begriffsgeschichte des Sich-Orientierens in der Philosophie bei Mendelssohn, Kant, Wizenmann und Herder vgl. Werner Stegmaier: Philosophie der Orientierung. Berlin/New York 2008, S. 62–103.
286 ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Vernunftkritik als einzigen noch möglichen Weg zu einer wissenschaftlichen Metaphysik bezeichnet508 und entsprechend am Schluss des Buches erklärt: »Der kritische Weg ist allein noch offen.«509 Die Charakterisierung der Vernunftkritik als des einzig verbleibenden Weges wird an beiden Stellen in ein triadisches Schema eingebunden, wonach die bisherige Philosophie von den gegensätzlichen Positionen des Dogmatismus und des Skeptizismus bestimmt gewesen sei. Beide gelte es durch den Kritizismus abzulösen, dem eine vermittelnde Funktion zukommt: Zwischen Dogmatismus und Skeptizismus bezeichnet er, so Kant in den Prolegomena, »den wahren Mittelweg«.510 In der zweiten Auflage der Kritik stellt Kant die Schwärmerei Lockes (der Erfahrungsbegriffe in unzulässiger Weise auf das Feld jenseits der Erfahrung anwende) dem Skeptizismus Humes gegenüber und erklärt es zum Ziel seiner kritischen Philosophie, einen »Versuch zu machen, ob man nicht die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen glücklich durchbringen« könne.511 Wie sieht Kants Mittelweg aus? Der Kritizismus wird von ihm so konzipiert, dass er einerseits mit dem Skeptizismus (im Sinne eines konsequenten Empirismus) das Gebiet möglicher Erkenntnis auf Gegenstände der Erfahrung einschränkt, dass er andererseits aber in dogmatisch-rationalistischer Manier von apriorischen Verstandesbegriffen ausgeht, die die Erkenntnis als allgemein und notwendig konstituieren.512 In die Richtung eines dogmatischen Transzendierens der Welt der Erscheinungen geht zudem Kants Auffassung, dass die Vernunft uns notwendig zur Anerkennung eines Bereichs des Übersinnlichen und zur Idee Gottes führt; das skeptische Gegengewicht dazu bildet die Auffassung, dass wir in diesem Bereich allerdings niemals irgendein Wissen erlangen können. Die Verbindung der beiden Positionen wird durch Kants moraltheologischen Gottesbeweis hergestellt, der die Überzeugung vom Dasein Gottes in einem praktischen Vernunftglauben verankert.513 Wenn Kant seine Philosophie als die der Mitte zu profilieren sucht, so entspricht er damit zunächst ganz der Tendenz seines Zeitalters. Schon bei 508 509
510
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Vgl. KrV A X, XII. KrV A 856/B 884. Vgl. auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WA IV 76: »Die menschliche Vernunft hat […], so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen.« WA III 236. Vgl. auch die ungefähr zur selben Zeit entstandene Notiz: »Zwischen dem Dogmatism und Scepticism ist die mittlere und eintzig-gesetzmäßige Denkungsart der Criticism« (AA XVIII 293, Refl. 5654). Zum Dreierschema von Dogmatismus, Skeptizismus (bzw. Empirismus) und überlegenem Kritizismus vgl. auch KrV A 388f., A 761/B 789, WA III 134 (Prolegomena), AA XVIII 296f. (Refl. 5649; dort auch die Rede von den »drei Wege[n]« der Metaphysik). KrV B 128. Vgl. Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 32, 49f., 57f. Vgl. ebd., S. 51.
287 dem Begründer der eklektischen Bewegung der Frühaufklärung, bei Christian Thomasius, lässt sich die Trichotomie von Dogmatismus, Skeptizismus und einer anzustrebenden mittleren Position nachweisen (in Gestalt eines ›vernünftigen Zweifels‹, der Wahrheitsbehauptungen nicht schlechthin verwirft, sondern aus ihrer kritischen Prüfung und Sichtung vorsichtige Wahrheitsvermutungen ableitet). Diese Denkfigur bleibt für einen Großteil der deutschen Aufklärungsphilosophen in eklektischer Tradition bestimmend, bis hin zu den Popularphilosophen des späten 18. Jahrhunderts.514 Deutlich ausgeprägt ist die vermittelnde Tendenz zum Beispiel bei Johann Georg Heinrich Feder.515 In seiner Besprechung der Morgenstunden beklagt er mit Mendelssohn die Aufspaltung der zeitgenössischen Philosophie in die Extreme willkürlicher Scheindemonstration einerseits und Beschränkung auf das unmittelbar in der Erfahrung Gegebene andererseits; favorisiert wird von ihm dagegen ein »Mittelweg, auf welchem […] allein gründliche Erkenntniß entstehen kann, der Weg sorgfältiger Beobachtung der innern und äussern Natur, und vorsichtiger analogischer Vermuthung«.516 Mit seinem Programm einer auf Erfahrung und Analogie gegründeten Wahrscheinlichkeitsphilosophie sieht Feder sich in der Tradition einer »bescheidene[n] Sokratische[n] Philosophie«, die zwischen Skeptizismus und Dogmatismus von jeher »in der Mitte sich befand«.517 Ähnlich wie Feder stellt Christian Garve in einem Brief vom Frühjahr 1787 mit Blick auf atheistische Strömungen einerseits und Kants »superfeine Speculationen« 514
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Vgl. Schneiders: Vernünftiger Zweifel, S. 324–339; Carlos Spoerhase: Die »mittelstrasse« zwischen Skeptizismus und Dogmatismus: Konzeptionen hermeneutischer Wahrscheinlichkeit um 1750. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hg. von Carlos Spoerhase u. a. Berlin/New York 2009 (Historia Hermeneutica, Series Studia, Bd. 7), S. 269–300, hier bes. S. 299. Als Vorläufer der triadischen Denkfigur erwähnt Schneiders Bacon und Gassendi (vgl. Schneiders: Vernünftiger Zweifel, S. 338f.); Tonelli führt neben diesen beiden noch Bayle an (vgl. Tonelli: Kant und die antiken Skeptiker, S. 110); Reinhard Brandt verweist auf Platon, Descartes und Sextus Empiricus (vgl. Brandt: Einführung, S. 16 Anm. 17). Vgl. Marino: Praeceptores Germaniae, S. 170: »Das Bedürfnis nach einem ›Mittelweg‹ kann sicher als typisch für Feder gelten.« Göttingische gelehrte Anzeigen, 14. Januar 1786, Landau 262. Hier wie auch in der Rezension zu Wizenmanns Resultaten ist es der gemeine Menschenverstand, den Feder den »Abirrungen« des Dogmatismus und Skeptizismus entgegensetzt (Göttingische gelehrte Anzeigen, 16. September 1786, Landau 429; vgl. Landau 430). Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. 176 (Rezension zu Rehbergs Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion). Zur Abgrenzung von den Extremen des Dogmatismus und Skeptizismus vgl. auch Feder: Ueber Raum und Caussalität, S. 254. Der englische Rechtsphilosoph Manasseh Dawes gilt Feder als Musterbeispiel eines aufgeklärten Philosophen, weil er ein »von Zweifelsucht und Schwärmerey gleich weit entfernter« Mann sei (Feder: Untersuchungen, 3. Teil, S. XV). In einer Rezension hebt sogar die ALZ anerkennend hervor, Feder befinde sich »auf einen [sic] der gesunden Vernunft am meisten angemessenen Mittelwege« (ALZ, 28. März 1788, Sp. 817).
288 andererseits bedauernd fest, dass »in unsern Tagen die Extreme so häufig, und Menschen, welche den Mittelweg gehen, so selten sind.«518 Diskursstrategisch ist die Position der Mitte (wie aus der Politik bekannt) eine bevorzugte Position, weil sich von ihr aus die Positionen der Gegner als einseitig verurteilen lassen und sie als der natürliche Ort der Wahrheit und der Überwindung von Gegensätzen erscheint.519 In der Auseinandersetzung zwischen Kant und den Popularphilosophen ist sichtbar, wie beide Parteien diesen Ort für sich reklamieren und ihn der anderen Partei absprechen. Aus dem Kontext der Zitate Feders und Garves geht hervor, dass in beiden Fällen Kant die (mehr oder weniger verdeckte) Zielscheibe der Argumentation ist, dessen Denken einem extremistischen Pol zugeordnet wird. Ganz direkt wird Kants Anspruch auf eine Position der Mitte in der Göttinger Rezension zur Kritik der reinen Vernunft zurückgewiesen, in deren letztem Absatz es resümierend heißt: »Aber die Mittelstrasse zwischen ausschweifendem Skepticismus und Dogmatismus, den rechten Mittelweg, mit Beruhigung […] zur natürlichsten Denkart zurückzuführen, scheint uns der Verf. nicht gewählt zu haben.«520 Mitunter wird Kants philosophischer Entwurf von seinen Gegnern auch zum Anlass genommen, neue triadische Schemata zu konstruieren, die der kritischen Philosophie auf direktere Weise Rechnung tragen als im Rahmen der traditionellen Opposition von Dogmatismus und Skeptizismus. Dies ist etwa bei Jacob Friedrich Abel der Fall. In seinem Plan einer systematischen Metaphysik und deutlicher noch im Versuch über die Natur der speculativen Vernunft geht er von einem Dualismus aus, der durch die von Kant neu aufgeworfene Frage nach der Herkunft der Anschauungsformen und Verstandesbegriffe determiniert ist. Abel unterscheidet philosophische Ansätze, die die Formen der Anschauung und des Denkens a posteriori aus der Erfahrung ableiten (wie der zeitgenössische Empirismus), von solchen Ansätzen, die sie a priori im Subjekt verankern (Kant). Er sucht nach einer Lösung, die »auf einer Seite« die herkömmliche empiristische Auffassung nicht vollständig aufgibt, »auf der andern aber« dem Einwand, dass empirische Begriffe keine Notwendigkeit beanspruchen können, Rechnung trägt.521 Seinen eigenen Ansatz konzipiert er ausdrücklich als einen ›dritten Weg‹, als eine Art Kompromiss zwischen den beiden beschriebenen Möglichkeiten (in Gestalt der Theorie von erfahrungskonstitutiven Anschauungsformen und Ka-
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Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer. Breslau 1804 [Repr. 1999], S. 389. Die vorreflexive Gewissheit natürlicher »Empfindung« wird von Garve als diejenige Instanz namhaft gemacht, die dem Abschweifen vom Mittelweg entgegenwirkt. Vgl. Schneiders: Vernünftiger Zweifel, S. 342. Landau 16. Abel: Plan, S. 8.
289 tegorien, die letztlich aber ihrerseits durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen sind).522 Von den Rezensenten wird Abels philosophischer Ansatz ausdrücklich als ein »Mittelweg« zwischen Empirismus und Kritizismus charakterisiert523 und gelobt; Pistorius würdigt ihn in der Allgemeinen deutschen Bibliothek als »einen sehr gemäßigten und unserm Bedünken nach vortheilhaften Mittelweg« zwischen dem Kantischen Idealismus und der herkömmlichen Philosophie.524 Pistorius’ eigene Überlegungen zur Kantischen Philosophie sind ebenfalls durch das Streben nach Vermittlung gekennzeichnet. In seiner Rezension zu Schultzes Erläuterungen unterscheidet er ähnlich wie Abel diejenigen Philosophen, die die Gesetze des Denkens objektiv aus der Erfahrung ableiten, von Philosophen wie Kant, die sie als subjektive Axiome voraussetzen, um im folgenden einen Vorschlag zu machen, wie sich »beyde Meynungen vereinigen« lassen: nämlich durch die Annahme, dass die Gesetze, die die Operationen des Denkens bestimmen, und die Gesetze, nach denen die Sinneswelt organisiert ist, einander entsprechen.525 Es ist dieser »dritte Fall« einer vorausgesetzten Harmonie von objektiver Sinnes- und subjektiver Verstandeswelt,526 den Pistorius in weiteren Rezensionen als »Mittelweg« und »Mittelhypothese« zwischen Erfahrungsphilosophie und Kritizismus propagiert.527 522 523 524
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Vgl. Abel: Versuch, S. 9–11, 181. Vgl. OALZ, Januar 1788, Sp. 65. AdB 84/2 (1789), S. 455 (Rezension zu Abels Plan einer systematischen Metaphysik). Auch Flatt hebt an Abel positiv hervor, dass er »auf der einen Seite sich eben so weit von denen Philosophen, die das ganze System der Metaphysik auf Erfahrung im gewöhnlichen Sinn bauen, […] als auf der andern von denen entfernt, die nach der Kantischen Methode alles a priori suchen« (Tübingische gelehrte Anzeigen, 30. Juli 1787, Landau 639). Joseph Anton Dorsch dagegen kritisiert Abels vermeintlichen »mittlern Weg« als auf gewöhnliche Erfahrungsphilosophie hinauslaufend (Dorsch: Uiber den Unterschied der Geisteskräfte, S. 30f. Anm.). Kant selbst äußert sich in einem Brief an Schütz abfällig über Abels Theorie einer Erkenntnis, »die zwischen der empirischen und einer a priori das Mittel halten soll« (Brief vom 25. Juni 1787, AA X 490). Vgl. AdB 66/1 (1786), Landau 348. In einer Anmerkung verweist Pistorius auf den Kommentar zu seiner Hartley-Übersetzung von 1772, wo er diesen Gedanken bereits formuliert hatte. Vgl. Hartley: Betrachtungen über den Menschen, Bd. 1, S. 62. Landau 349. Vgl. die Rezensionen zu Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden, AdB 82/2 (1788), Hausius II 200–204, 207–211, zu Feders Ueber Raum und Caussalität, AdB 86/2 (1789), S. 359, und zu Schmids Wörterbuch, AdB 88/1 (1789), Hausius I 201f., sowie dazu Vaihinger: Kommentar, Bd. 2, S. 143–146; Gesang: Einleitung, S. XXIII–XXV. Wenn Kant sich in einem Abschnitt der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich gegen die »Mittelweg«-Hypothese einer präformierten Harmonie zwischen Denk- und Naturgesetzen wendet (KrV B 167f.), so scheint mir der Bezug zu Pistorius’ Schultz-Rezension näher zu liegen als eine Anspielung auf Feder, wie sie von Claude Piché unterstellt wird (vgl. Piché: Feder et Kant, S. 67f.). Vgl. aber auch schon § 36 der Prolegomena, wo Kant gegen einen ähnlichen »Mittelweg« bei Crusius polemisiert (WA III 188).
290 Den Versuchen der Popularphilosophen, Kants Kritizismus im Spektrum philosophischer Richtungen einen Ort am extremen Rand zuzuweisen bzw. seine Logik des Mittelweges durch eigene Trichotomien zu unterlaufen, war historisch keine große Wirkung beschieden – ganz im Gegensatz zur triadischen Argumentationsstruktur Kants, die schon von Zeitgenossen als Erklärung für den Erfolg der kritischen Philosophie herangezogen wird528 und die das Bild Kants als eines Vermittlers zwischen dogmatischem Rationalismus und skeptischem Empirismus bis ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich prägte.529 Aus diskursstrategischer Sicht sind es zwei Faktoren, die wesentlich zu dieser Wirkung beigetragen haben dürften. Der erste Faktor liegt in der Art und Weise, wie Kant die Positionen von Dogmatismus und Skeptizismus systematisch in der Dialektik der Vernunft verankert, die durch das Modell des Gerichtshofs strukturiert wird. Der Gegensatz der beiden Positionen wird als ewiger Streit zweier konkurrierender Parteien vorgestellt, der letztlich in der Vernunft selbst angesiedelt ist und die Auflösung durch eine überparteiliche Instanz (die Vernunftkritik) erfordert. In der »Antinomie der reinen Vernunft« stellt Kant in bezug auf die vier metaphysischen Hauptfragen nach dem Weltganzen, Seele, Freiheit und Gott jeweils eine behauptende These einer negierenden Antithese gegenüber. Die Thesen werden dem (auf Vernunftideen sich beziehenden) Dogmatismus, die Antithesen dem (auf Erfahrung sich beschränkenden) Empirismus zugeordnet.530 Da jede Seite, wie Kant zeigt, sich auf gleichermaßen einleuchtende Gründe stützen kann, bleibt als Ausweg nur der Rekurs auf eine dritte Position, die den Streit durch den Nachweis auflöst, dass er auf einer falschen Voraussetzung beruht.531 Dies leistet Kants transzendentalphilosophischer Ansatz mit seiner (von den streitenden Parteien vernachlässigten) Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung.532 528
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Franz Berg stellt schon 1787 fest, dass in Kants Philosophie »Leibnitzisch-Wolfischer Dogmatismus, und Humischer Skeptizismus, Priorität der Begriffe, und Einschränkung des Verstandes auf empirische Gegenstände, Feststellung metaphysischer Formen, und Umsturz des Stoffes aller Metaphysik auf die sonderbarste Weise sich paaren. Man urtheile nun, ob nicht die Vereinigung so großer Dissonanzen, interessant für Dogmatiker und Skeptiker, für Empiriker und Theoretiker, allen Kanten gewinnen mußte« (Wirzburger gelehrte Anzeigen, 17. Oktober 1787, Landau 685). Ähnlich erklärt auch Pistorius in seiner Meiners-Rezension den Erfolg der Kantischen Philosophie unter anderem damit, dass sie einerseits die Leibniz-Wolffsche Tradition kritisiert, andererseits aber auch Teile daraus übernimmt und so für alle philosophischen Parteien attraktiv erscheint (vgl. AdB 80/2 [1788], S. 464). Als Beispiel sei auf Hans Vaihingers Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft (1881/1892, 21922) verwiesen, dem eine »Specielle Einleitung« mit dem Titel »Dogmatismus, Skepticismus und Kriticismus« vorangestellt ist. Vgl. besonders §§ 10f.: »Der Kriticismus als Vermittlung zwischen Dogmatismus und Skepticismus« (Vaihinger: Kommentar, Bd. 1, S. 49–58). Vgl. KrV A 465f./B 493f. Vgl. KrV A 501/B 529. Vgl. zu Kants Argumentationsstrategie Lewis White Beck: Kant’s Strategy. In: Journal of the History of Ideas 28 (1967), S. 224–236, bes. S. 230f.; Röttgers: Kritik und Pra-
291 Neben dem systematischen Rückhalt, den der von Kant verkündete Mittelweg in der Gerichtshofstruktur der transzendentalen Dialektik findet,533 ist noch ein zweiter Faktor für die Schlagkraft seines triadischen Argumentationsschemas verantwortlich: die Umdeutung des typologischen Gegensatzes von dogmatischer und skeptischer Philosophie zu geschichtsphilosophischen Kategorien.534 Von Kants Zeitgenossen wurden die Begriffe ›dogmatisch‹ und ›skeptisch‹ in eher ahistorischer Weise dazu benutzt, zwei gegensätzliche philosophische Grundhaltungen zu kennzeichnen, die seit jeher in einem spannungsvollen Verbund existiert haben.535 In den Morgenstunden bezeichnet Mendelssohn es als eine weise Einrichtung der Vorse-
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xis, S. 35. Zum vorkritischen Kant vgl. Hinske: Kants Weg, S. 123–133 (§ 9: »Das irenische Modell der ›Auflösung‹ der Streitigkeiten«). Zum Zusammenhang mit dem Gerichtshofmodell vgl. Fumiyasu Ishikawa: Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshof-Modell und das unendliche Urteil in der Antinomienlehre. Frankfurt a. M. u. a. 1990 (Studien zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 2). Als »Taschenspielerkunst der Dialektik« wird Kants Argumentationsstrategie schon 1877 von Friedrich Paulsen wie folgt beschrieben: »A (z. B. Leibniz) behauptet dies, offenbar wahr und wohlbegründet; B (z. B. Hume) behauptet jenes, offenbar wahr und wohlbegründet. Dies und jenes sind contradictorische Gegensätze. Was thun? Die Weltgeschichte scheint zu Ende, dem Intellect ist nur übrig, sich in den Abgrund des Widerspruchs zu stürzen. Da, in dieser höchsten Spannung, tritt der Philosoph herzu. Er schlägt die Volte und präsentirt – voilà – eine höhere Ansicht, darin der Widerspruch aufgehoben. Bis man ihn wieder braucht, dann fängt die Vorstellung von vorne an« (zitiert nach Engfer: Empirismus versus Rationalismus, S. 432 Anm. 35). Kritik am unsystematischen Moderatismus seiner Zeitgenossen äußert Kant in den Prolegomena, wo er diejenigen Mittelwege verwirft, »die man gleichsam mechanisch (etwas von einem, und etwas von dem andern) sich selbst zu bestimmen anrät, und wodurch kein Mensch eines Besseren belehrt wird« (WA III 236). Vgl. Yeop Lee: Vom Typologie- zum Kampfbegriff. Zur Untersuchung des Begriffs ›dogmatisch‹ bei Kant. In: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Kurfürstliches Schloß zu Mainz 1990. Hg. von Gerhard Funke. Band II.2: Sektionsbeiträge. Sektionen G-P. Bonn/Berlin 1991, S. 481–487. Zur typologischen Verwendung der Begriffe ›dogmatisch‹ und ›skeptisch‹ vor Kant (zum Beispiel bei Wolff und Thomasius) vgl. Yeop Lee: Dogmatisch – skeptisch. Eine Voruntersuchung zu Kants Dreiergruppe ›dogmatisch, skeptisch, kritisch‹, dargestellt am Leitfaden der begriffs- und entwicklungsgeschichtlichen Methode. Trier 1989, S. 9–11. Lees Feststellung, die Begriffe seien vor Kant rein deskriptiv und »wertneutral« gebraucht worden (vgl. Lee: Dogmatisch – skeptisch, S. 14; ders.: Vom Typologie- zum Kampfbegriff, S. 483), gilt nicht für das Substantiv ›Skeptizismus‹, das in der Philosophie der Aufklärung (im Sinne einer radikalisierten Skepsis) meistens eine negative Wertung implizierte und das von den Gegnern Kants (zum Beispiel von Meiners und Weishaupt) von Anfang an dazu verwendet wurde, das Kantische System zu diskreditieren. Auch die Klassifizierung als ›Skeptiker‹ scheint häufig negativ belegt gewesen zu sein. In dem Gutachten, dass die Marburger Professoren 1786 auf landgräfliche Anordnung zu der Frage zu erstellen hatten, ob die Kantische Philosophie »zum Scepticismo Anlaß« gebe, wird erklärt, dass Kant »die gehässige Benennung eines Skeptikers« nicht verdiene (zitiert nach Hermelink/Kaehler: Die Philipps-Universität zu Marburg, S. 431). Vgl. auch schon Kants Äußerung laut einer Vorlesungsnachschrift von 1771: »Es wird also bey uns anjezt mehrentheils der Name eines Scepticers als etwas verhaßtes angesehen […]« (Logik Blomberg, AA XXIV/1 211).
292 hung, dass immer mal wieder einzelne Denker unsere elementaren philosophischen Gewissheiten in Frage stellen und dadurch den Geist des Zweifels rege halten, welcher der Tendenz zu Vorurteil und Schwärmerei entgegenwirkt.536 Dieselbe Auffassung von der Notwendigkeit eines anti-dogmatischen Korrektivs liegt zugrunde, wenn Ernst Platner die Kantische Vernunftkritik als ein Beispiel für »jenen wahren und heilsamen metaphysischen Zweifelgeist« begrüßt, der den »Demonstrir- und Systemgeist« im Zaum hält.537 In der Kritik der reinen Vernunft finden sich dagegen mehrere Stellen, an denen der überhistorische Gegensatz von dogmatischer und skeptischer Philosophie in eine zeitliche Abfolge überführt wird. Der kurzen historischen Skizze zufolge, die Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik liefert, wurde die Metaphysik ursprünglich von den Dogmatikern beherrscht; darauf folgte eine Phase, in der ihre Dominanz immer wieder durch die Skeptiker (und zuletzt durch die Erfahrungsphilosophie Lockes) erschüttert worden sei; diese Phase sei schließlich in den gegenwärtigen Zustand einer allgemeinen Gleichgültigkeit eingemündet, in welcher Kant die Vorstufe einer »nahen Umschaffung und Aufklärung« der Philosophie erblickt.538 Natürlich ist es die kritische Philosophie, die diese Aufklärung bewirken soll, wie Kant in seiner Präzisierung des Dreierschemas in der transzendentalen Methodenlehre ausführt: Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der […] zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt, [nämlich,] die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen; welches […] Kritik der Vernunft ist […].539
Die Postulierung einer diachronen Abfolge von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus unterstreicht die Gipfelstellung der Kantischen Philosophie, die dadurch nicht mehr nur systematisch, sondern auch historisch als endgültige Überwindung traditioneller philosophischer Antagonismen er536
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Vgl. JA III/2 71f. Ähnlich rechtfertigt schon dreißig Jahre zuvor Johann Georg Sulzer seine Herausgabe der Philosophischen Versuche Humes mit dem Hinweis, dass die »Zweifler« der Philosophie große Dienste leisten, indem sie die Weltweisen immer wieder zur Überprüfung ihrer als selbstverständlich angenommenen Wahrheiten anhalten (vgl. den Beginn von Sulzers unpaginierter »Vorrede des Herausgebers« in Hume: Vermischte Schriften, 2. Teil). In den Gemeinnützigen Betrachtungen wird vermutet, Mendelssohn habe bei der erwähnten Stelle Kant vor Augen gehabt (vgl. Gemeinnützige Betrachtungen 11 [1786], S. 574). Auf die Kantische Philosophie bezogen wird die Stelle auch bei Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 2. Abt., S. 17–19. Platner: Philosophische Aphorismen, 1. Teil, unpaginierte Vorrede. KrV A IXf. KrV A 761/B 789.
293 scheint. Indem Kant die kritische Philosophie den Abschluss einer irreversibel verlaufenden geschichtlichen Entwicklung bilden lässt, stilisiert er sie zu einem »quasi-absoluten Standpunkt«, von dessen Höhe aus die bisherigen Formen des Philosophierens nur als überholte, kaum noch einer ernsthaften Diskussion würdige Positionen wahrgenommen werden.540 Diese Argumentationsfigur, auf die Kant später auch in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik zurückgriff,541 gab für die Philosophiegeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ein wirkmächtiges Muster ab, wo die Trichotomie von Dogmatismus/Rationalismus, Skeptizismus/Empirismus und Kritizismus spätestens mit den Darstellungen Kuno Fischers und Friedrich Ueberwegs zum kanonischen Gliederungsprinzip avancierte.542 Kants Anhänger beziehen sich von Anfang an auf das Dreierschema, um die Überlegenheit des kritischen Standpunkts zu betonen. In seinen Erläuterungen beschließt Johann Schultz die Inhaltsangabe der Kritik der reinen Vernunft mit der Gegenüberstellung von Wolffs Dogmatismus und Humes Skeptizismus und bekräftigt: »Der einzige Weg, der noch offen war, ist der critische, den der Verfasser betreten hat.«543 In Anlehnung an die Vorrede der Kritik heißt es in Schmids Grundriss: »[D]ie ietzige Lage der Metaphysik beweist das Bedürfnis ihrer critischen Behandlung für unsre Zeiten. Anfangs war Dogmatism, dann Skepticism, nun Gleichgültigkeit; woher diese? was soll sie würken? Critik.«544 Gottfried August Bürger zitiert Kants Diktum von der kritischen Philosophie als einem Versuch, die Vernunft zwischen den »beiden Klippen« Locke’scher Schwärmerei und Hume’schen Skeptizismus’ »glücklich hindurch zu führen«.545 Auch ein Gegner der Kantischen Philosophie wie Adam Weishaupt bedient sich bei seiner Beschreibung des philosophischen Status quo der Mittelweg-Logik, wenn er schildert, wie das intellektualistische System der Platoniker in jüngerer Zeit 540
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Schneiders: Vernünftiger Zweifel, S. 337; vgl. Hinske: Kants Vernunftkritik, S. 5; Engfer: Empirismus versus Rationalismus, S. 356f. Vgl. WA III 592–595. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus, S. 27f. In Fischers Geschichte der neuern Philosophie (1860) werden die historischen Voraussetzungen der kritischen Philosophie anhand des Schemas Dogmatismus vs. Skeptizismus erläutert. Ab der dritten Auflage (1882) ist dann der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus bestimmend. Ueberweg richtet seine Darstellung der vorkantischen Epoche im Grundriss der Geschichte der Philosophie (1866) am Gegensatz von Empirismus und Dogmatismus aus, denen allerdings noch der Skeptizismus als eine dritte Kategorie an die Seite gestellt wird. Ab der fünften, von Max Heinze bearbeiteten Auflage (1880) wird alternativ das zweigliedrige Schema Empirismus vs. Rationalismus/Dogmatismus vorgeschlagen. Vgl. Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 3: Entstehung und Begründung der kritischen Philosophie. Die Kritik der reinen Vernunft. Mannheim 1860; Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Dritter Theil: Die Neuzeit. 5. Aufl. Bearb. und hg. von Max Heinze. Berlin 1880, S. 35f., 174. Schultz: Erläuterungen, S. 187. Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse, S. 6 (§ 12). Bürger: Hauptmomente der kritischen Philosophie, S. 240.
294 durch die Erfahrungsphilosophie Lockes verdrängt worden sei, um dann fortzufahren: »In diesem Zustand waren die Sachen bis auf das Jahr 1781, als der Herr Professor Kant in Königsberg auftrat, einen Mittelweg einschlug, und […] ein eigenes System aufstellte«.546 Schon 1787 resümiert Dorsch in seinen Ersten Linien einer Geschichte der Weltweisheit: »Wir können nun drei Arten von Philosophie in Deutschland unterscheiden; die synthetisch-dogmatische, die empyrische und die kantisch kritische.«547 Das durch Kant vorgegebene Verfahren, die philosophische Tradition in gegensätzliche Richtungen einzuteilen, um die kritische Philosophie als deren ideale Mitte oder Synthese darstellen zu können, wird von zwei Autoren zum strukturbestimmenden Moment ihrer Abhandlungen über die Kantische Philosophie erhoben: Karl Leonhard Reinhold und Daniel Jenisch. Ersterer lehnt sich deutlich an den Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi an, wenn er zu Beginn der Briefe über die Kantische Philosophie das Bild einer Epoche zeichnet, die in zwei Fraktionen gespalten ist: Auf der einen Seite die ›Naturalisten‹ oder ›Metaphysiker‹, die die Vernunft auch in Fragen der Religion zum höchsten Maßstab machen, auf der anderen Seite die ›Supernaturalisten‹ oder ›Hyperphysiker‹, die den Menschen stattdessen auf Glaube und Offenbarung verweisen. Da keine Partei es laut Reinhold vermag, die andere Seite von ihrem Standpunkt zu überzeugen, erscheint es umso dringlicher, sich der allgemeinen Frage zuzuwenden, die dem Konflikt zugrunde liegt: der Frage nach dem Vermögen der Vernunft.548 Es ist, so Reinhold, die kritische Philosophie, die eine befriedigende Antwort auf diese Frage liefert und mit ihrer Theorie vom moralischen Vernunftglauben »die glücklichste Vereinigung« zwischen beiden Parteien stiftet.549 In analoger Weise argumentiert Daniel Jenisch, wenn er in seiner Skizze einer Geschichte der Aufklärung im Gegensatz von Dogmatismus und Skep-
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Weishaupt: Ueber die Gründe und Gewisheit, S. 31 (zitiert in: Mainzer Anzeigen von gelehrten Sachen, 21. Mai 1788, S. 162). Dorsch: Erste Linien einer Geschichte der Weltweisheit, S. 72. Vgl. Reinhold: Erster Brief, S. 105, 115f., 119, 122. ders.: Zweyter Brief, S. 134; vgl. ebd., S. 131. Auch in den beiden nachfolgenden Briefen, in denen es um das Verhältnis von Religion und Moral geht, bleibt Reinhold dem Muster treu, die kritische Philosophie als Überwinderin des Gegensatzes von Metaphysik und Hyperphysik darzustellen (vgl. ders.: Dritter Brief, S. 14–17, 33f.; ders.: Vierter Brief, S. 141f.). Die Kontrastierung von Naturalismus und Supernaturalismus, von Metaphysik und Hyperphysik stellt eine begriffliche Variante des traditionellen Gegensatzes von Unglaube und Aberglaube dar (vgl. Reinhold: Erster Brief, S. 102; ders.: Vierter Brief, S. 141; Brief an Kant vom 12. Oktober 1787, AA X 498). Mit der Forderung nach einem ›Mittelweg‹ zwischen diesen beiden Polen steht Reinhold in der Kontinuität einer Diskussion, die schon das frühe 18. Jahrhundert beschäftigte. Vgl. dazu Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 119), S. 153–191 (Kap. III.3: »Atheismus und Aberglaube: Modell der Mittelstraße«).
295 tizismus ein bestimmendes Moment der bisherigen Philosophiegeschichte ausmacht. Angesichts des unversöhnlich scheinenden Konflikts der beiden Standpunkte ergibt sich laut Jenisch die Notwendigkeit, auf die Grundsätze aller menschlichen Erkenntnis überhaupt zurückzugehen, um hier die Ursachen des Streits aufzusuchen.550 Natürlich wird wiederum Kant als derjenige Philosoph genannt, der zuerst dieser Notwendigkeit gerecht geworden sei, indem er durch seine Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens die Anmaßungen beider Parteien überzeugend zurückgewiesen und dadurch die »lange gesuchte Vereinigung des Dogmatismus und des Sceptizismus« ermöglicht habe.551
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Befriedung der Gelehrtenrepublik Durch die Critik […] ist zuerst bestimmt festgesetzt, was Metaphysik leisten könne und solle; die Skeptiker und Dogmatiker sind zum erstenmale auf eine befriedigende Art in die Gränzen zurückgewiesen, die sie behaupten mögen, ohne den Krieg fortzusetzen, der sie immer beschäftigt hat, seitdem die Menschen über diese Gegenstände nachgedacht.552
Mit diesen Worten fasst August Wilhelm Rehberg die Leistung der Vernunftkritik zusammen. Seine Äußerung nimmt eine Kantische Metapher auf, die zu Beginn dieses Kapitels behandelt wurde: das Bild von der Metaphysik als anarchischem Kampfplatz, auf dem die verschiedenen Meinungen und Standpunkte in dauerndem Streit miteinander liegen. Kant war nicht der erste, der den Zustand der Philosophie auf diese Weise beschrieb. In den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (2. Ausg. 1768) spricht auch Herder von »unserer Zeit der Philosophischen Anarchie, da man – nicht über einige Wahrheiten – nicht über Beweise – kaum selbst über die Methode der Weltweisheit einig geworden«.553 Was Herder und Kant voneinander unterscheidet, ist die Konsequenz, die aus diesem Befund gezogen wird. Herder fährt fort: »Was ist bei dieser Verwirrung das beste? daß man sich jeden seinen Gang, seinen Gesichtspunkt, seine einzelne Materien, und einzelne Seiten wählen lasse.«554 Jeden seinen Gang wählen lassen – das ist das Gegenteil von dem, was Kant fordert. Im Gegensatz zu Herders radikalem Methodenpluralismus möchte er dem Streit der verschiedenen Parteien dadurch abhelfen, dass er die Philosophen auf den Weg der kritischen Philosophie – »den einzigen, der übrig gelassen war«555 – einschwört. Entsprechend endet die Kritik der rei550 551 552
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Jenisch: Skizze, S. 169–172. Ebd., S. 178. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 69 (zitiert in Schultzes Rezension in: ALZ, 19. Juni 1788, Sp. 619). HW I 191. Mendelssohn hatte schon 1759 den Zustand der Philosophie nach Wolff als »Anarchie« bezeichnet (20. Literaturbrief, JA V/1 11). Ebd. KrV A XII.
296 nen Vernunft mit dem Appell an die Zeitgenossen, Kant auf seinem neuen Weg zu folgen und »diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen«.556 Auf ähnliche Weise verwendet Kant die Wegmetapher in bezug auf die praktische Philosophie. Über deren Schicksal heißt es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: »Die menschliche Vernunft hat hier, […] so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen.«557 Kants methodischer Exklusivitätsanspruch wird von seinen Anhängern mittels der Wegmetapher unterstrichen. Im ersten von Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie wird der vernunftkritische Ansatz als der »einzig mögliche Weg« zur Auflösung der Frage nach dem Dasein Gottes angepriesen.558 Rehberg spricht im Zusammenhang mit Kants Bestimmung apriorischer Formen der Erkenntnis vom »rechten Weg […], den endlich Kant gefunden«.559 Fülleborn erklärt am Ende seines Aufsatzes Ueber die Axiome, Kant gehe »den einzig sichern Weg. Alle andre führen – zum Ziele? nein, wieder zurück.«560 Was für eine Provokation die Rhetorik des ›einzig wahren Weges‹ für die zeitgenössische philosophische Szene bedeutete, geht aus der polemisch überspitzten Paraphrase hervor, mit der das Taschenbuch für die neuste Literatur und Philosophie Kants resolutes Urteil über die bisherigen Bemühungen in der Metaphysik wiedergibt: »[D]ie bisher dazu eingeschlagene Wege taugen alle nichts; der den ich angebe, ist der einzig richtige, und, wer ihn nicht einschlägt, ist entweder ein D – Kopf, oder ein Betrüger, falls er mich anders nicht geradehin zu wiederlegen vermag!«561 Das kompromisslose Gebaren Kants, keinen anderen Weg neben dem seinen gelten zu lassen, steht im tiefen Widerspruch zum wissenschaftsmoralischen Selbstverständnis der Popularphilosophen, welches sich am egalitären Modell der Gelehrtenrepublik orientiert. Kurt Wölfel hat dieses Selbstverständnis am Beispiel Garves wie folgt formuliert: Als Idealbild stellt sich eine Gesellschaft von Selbstdenkern dar, die, ihrer Urteilsund Meinungsbildung nachgehend, zugleich ganz bei sich selber sind und mit allen anderen sich austauschen, die gemeinsam am allgemeinen Prozeß der Wahrheitssuche und -findung teilnehmen und diesen Prozeß um so eher zu befördern vermögen, als sie alle, jeder für sich, ihr »Selbstdenken« betreiben und befolgen. […] Es ist die […] Vorstellung einer total gewordenen »AufgeklärtenRepublik«, in der jeder denkend nur seinem eigenen Gedankentrieb und -weg »für sich« zu folgen braucht, um sich dann mit allen anderen auf dem gleichen Weg und bei der Wahrheit zusammenzufinden.562 556 557 558 559 560 561 562
KrV A 856/B 884. WA IV 76. Reinhold: Erster Brief, S. 116. Rehberg: Ueber das Verhältniß, S. 67f. Fülleborn: Ueber die Axiome, Hausius II 53 Anm. Anonym: Neuste Sensationen, S. 63f. Wölfel: Nachwort, S. 50*–52*.
297 Die Forderung, ›jeden seinen Gang gehen zu lassen‹ (wie Herder formuliert), weil sich gerade im Schnittpunkt der selbständig verfolgten Wege das allgemeine Wahre umso deutlicher abzeichnet, sowie der daraus erwachsende defensive und nachgiebige Umgang mit dem philosophischen Kontrahenten schlagen sich zum Beispiel in dem Brief nieder, den Christian Gottlieb Selle bei Erscheinen seiner Grundsätze der reinen Philosophie an Kant schrieb. Selle beteuert: »Ich suche Wahrheit u. schäme mich eines gehabten Irrthums nicht. Mir scheint für jetzt das Gegentheil meiner Gedancken unmöglich. Aber ich folgere daraus nicht, daß das Recht auch gewiß auf meiner Seite sei […]. Wenn wir beide ruhig u. unbefangen unsern Weg fortgehen, so begegnen wir uns vielleicht eher, als wir es vermuthen […].«563 Wenn Kant sich auch einerseits an zahlreichen Stellen seines Werks entschieden zu dem aufklärerischen Grundgedanken bekennt, dass die Ermittlung der Wahrheit ein kollektiver Prozess ist, in dem die unterschiedlichsten Stimmen mit dem gleichen Recht gehört zu werden verdienen,564 so steht doch andererseits die Erhebung des kritischen Weges zur einzig zulässigen Methode im unübersehbaren Widerspruch zu dieser Idee.565 Unter den Popularphilosophen wurde der Absolutheitsanspruch der Kantischen Philosophie denn auch als klarer Verstoß gegen die Regeln wissenschaftlicher Umgangsformen wahrgenommen. »Allerdings, wie mag die gelehrte Republik einen Diktator ertragen!« ruft der Rezensent der Erfurtischen gelehrten Zeitung aus, um Tittels deutliche Kritik an Kants Grundlegung zu rechtfertigen.566
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AA X 517. Zu dem von Kant in diesem Zusammenhang gebrauchten Begriff der ›allgemeinen Menschenvernunft‹ vgl. Norbert Hinske: Kant und die Aufklärung. Kants Theorie von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums. In: ders.: Kant als Herausforderung an die Gegenwart. Freiburg/München 1980, S. 31–66, hier S. 35–43. Hinske sieht diesen Begriff Kants als Ausdruck des genuin aufklärerischen Gedankens, dass grundsätzlich jeder Mensch mit Vernunft begabt ist und niemand für sich in Anspruch nehmen kann, allein im vollen Besitz der Wahrheit zu sein. Entsprechend führt er eine Reihe von Zitaten an, in denen Kant für Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber abweichenden philosophischen Positionen plädiert (vgl. ebd., S. 55–63). Was Hinske unterschätzt, sind die Ansätze zum autoritären Missbrauch, die die Rede von der einen, allgemeinen Vernunft schon bei Kant (und nicht erst im Idealismus, vgl. ebd., S. 64f.) mit sich führt, wenn nämlich diese allgemeine Vernunft mit dem eigenen philosophischen System identifiziert wird. In einem späteren Artikel hat Hinske die Frage nach der Stellung der Kantischen Philosophie zwischen ›toleranter‹ Aufklärung und ›unduldsamem‹ Idealismus wieder als offenes Problem formuliert. Vgl. Norbert Hinske: Kants Vernunftkritik – Frucht der Aufklärung und/oder Wurzel des Deutschen Idealismus? In: Aufklärung 7 (1992), Heft 1, S. 3–6. Dieser Widerspruch wird auch moniert von Arnulf Zweig: Reinhold’s Relation to Kant. In: Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds. Hg. von Martin Bondeli/Wolfgang H. Schrader. Amsterdam/New York 2003 (Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 16), S. 39–54, hier S. 51. Erfurtische gelehrte Zeitung, 24. Juni 1786, Landau 406 (Rezension zu Tittels Ueber Herrn Kant’s Moralreform).
298 Als normatives Modell für die Herrschaftsfreiheit wissenschaftlicher Kommunikation war die Metapher der Gelehrtenrepublik seit der frühen Neuzeit weit verbreitet.567 Dieses Modell steht im Hintergrund, wenn verschiedene Autoren sich besorgt über das diktatorische Auftreten Kants äußern. Franz Berg ruft 1787 in den Wirzburger gelehrten Anzeigen dazu auf, sich der »schmählichen Unterjochung der Vernunft« durch die Kantische Philosophie entgegenzustellen und »die Ketten des Systems und der Autorität [zu] zerbrechen, in den ein Theil der Nation gefangen liegt«; die Anhänger der kritischen Philosophie charakterisiert er als »Sklaven Kants, die neben dem Wagen des Eroberers einhertraben«.568 Daniel Metzger warnt 1788 mit Blick auf den um sich greifenden Kantianismus die zeitgenössischen Gelehrten: »Habt ihr nicht bemerkt, Freunde, welcher Despotismus sich in unsre Litteratur einschleicht?«569 Und Christian Garve schreibt zwei Jahre später seinem Freund Christian Felix Weiße: »Aber die Kantische Schule ist äußerst intolerant, und der Despotismus, den sie auszuüben sucht, würde dem Fortgange der Wissenschaft unter uns wirklich nachtheilig werden, wenn er sich befestigen sollte.«570 Seinem eigenen Selbstverständnis nach tritt Kant freilich nicht als Diktator, sondern als Friedensstifter auf. Zu den Implikationen seines Kritikbegriffs gehört, dass das Modell der Gelehrtenrepublik durch das Modell des Gerichtshofs abgelöst wird, wonach der Streit zwischen den verschiedenen Parteien durch Rekurs auf eine überlegene ›dritte Position‹ ein für allemal beendet werden soll.571 Aufgabe des Gerichtshofs der reinen Vernunft ist es laut Kant, eine endgültige »Sentenz« zu fällen, die die Quelle der philosophischen Streitigkeiten (durch Aufdeckung ihrer falschen Voraussetzungen) für immer verschließt und einen »ewigen Frieden« gewährt.572 Das in der Kritik der reinen Vernunft mehrfach wiederholte Ziel der Friedensstiftung573 wird ab der zweiten Auflage auch durch das Motto unterstrichen, das Kant seinem Buch voranstellt. Zitiert wird eine Äußerung Francis Bacons aus dem Vorwort zur Instauratio magna, wo Bacon den Anspruch formuliert, dass sein Werk nicht nur als ein weiterer Beitrag in einer endlosen Auseinander-
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Vgl. Herbert Jaumann: Respublica litteraria/Republic of Letters. Concept and Perspectives of Research. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. von Herbert Jaumann. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 96), S. 11–19, hier S. 13f. Wirzburger gelehrte Anzeigen, 24. Oktober 1787, Landau 699f. (Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität). Metzger: Noch ein Wort über Menschenracen, S. 509. Garve: Briefe an Weiße, 1. Teil, S. 439f. (Brief vom 17. Dezember 1790). Vgl. Röttgers: Die Kritik der reinen Vernunft und K.L. Reinhold, S. 801; ders.: Kritik und Praxis, S. 32–35; ders.: Art. ›Kritik‹, S. 663–665. KrV A 752/B 780. Vgl. KrV A 743/B 771, A 777/B 805.
299 setzung anzusehen sei, sondern als »infiniti erroris finis et terminus legitimus«.574 Unter den Anhängern Kants ist es vor allem Reinhold, der die Befriedungsleistung der kritischen Philosophie als Zeichen ihrer überragenden historischen Bedeutung hervorhebt. Im ersten seiner Briefe über die Kantische Philosophie liefert er zunächst eine düstere Beschreibung des in feindliche philosophische Fraktionen zersplitterten Zeitalters, um anschließend zu verkünden: Es sei nun eine Philosophie aufgetreten, die dem Jahrhundert dadurch die Krone aufsetzt, dass sie »im Reiche der Spekulation einen ewigen Frieden verspricht, von dem noch kein Saint-Pierre geträumt hat« – die Kantische Vernunftkritik.575 Christian Jacob Kraus äußert sich in seiner Meiners-Rezension verächtlich über den »falschen Frieden« der Popularphilosophen, der nicht auf einer sicheren Methode des Denkens, sondern auf einer kompromisslerischen Wahrscheinlichkeitsphilosophie beruht, die »durch Tergiversiren und Negotiiren mit allen Gegnern eine Art von Waffenstillstand […] zu stiften suchet«.576 Kants Rolle als Friedensbringer wird in Hamanns Metakritik ironisiert, wenn dort im Zusammenhang mit der reinen Vernunft vom »Zauberstabe ihres Mundes« die Rede ist.577 Durch die biblische Anspielung wird Kant, wie Oswald Bayer erläutert, mit dem in Jesaja 11 verheißenen messianischen Friedensreich in Zusammenhang gebracht.578 Was Hamann zu seiner Ironie provoziert, ist der chiliastisch anmutende Ton, den Kant zuweilen selbst anschlägt. In der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft verkündet er, dass sich die Metaphysik mit Hilfe der Vernunftkritik »in kurzer Zeit« zu ihrer »Vollendung« bringen lasse.579 Und er beschließt sein Buch mit der frohen Aussicht, dass durch die kritische Philosophie »dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich, die menschliche Vernunft […] zur völligen Befriedigung zu bringen.«580 Auch im Schlussabschnitt der Prolegomena verspricht Kant: Wer die kritische Philosophie einmal gefasst habe, der werde sich für immer von der »alten und sophistischen Scheinwissenschaft« ab574
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KrV B II (Übersetzung des Herausgebers: »eines endlosen Irrtums Ende und rechtmäßiger Schluß«). Vgl. Bacon: Neues Organon, Bd. 1, S. 34. Reinhold: Erster Brief, S. 123. (Die Anspielung gilt dem Abbé Charles Irénée Castel de Saint-Pierre [1658–1743], dem frühen Verfechter eines europäischen Staatenbundes.) Auch in Reinholds Brief an Voigt vom November 1786 heißt es, Kant habe »einen ewigen Frieden in allen Gegenden der spekulativen Philosophie möglich gemacht« (KA I 147). Zum Zusammenhang mit wissenschaftspolitischen Vorstellungen innerhalb des Illuminatenordens vgl. Bondeli: Einleitung, S XXXVIIf. ALZ, 7. April 1787, Landau 549. N III 284f. Vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 287. KrV A XX. KrV A 856/B 884.
300 kehren und »auf eine Metaphysik hinaussehen, die nunmehr […] zuerst der Vernunft daurende Befriedigung verschaffen kann«.581 Während Hamann den eschatologischen Anspruch Kants ironisch persifliert,582 kann bei anderen Autoren geradezu von einer quasireligiösen Rezeption der kritischen Philosophie gesprochen werden. Schilderungen, wonach die Begegnung mit Kants Ideengebäude in der Art eines religiösen Erweckungserlebnisses verlief, finden sich zum Beispiel bei Johann Benjamin Erhard,583 Gottfried August Bürger584 und Heinrich Jung-Stilling.585 Häufig wird die Kritik der reinen Vernunft als ein heiliges Buch bezeichnet oder mit der Bibel verglichen.586 Karl Leonhard Reinhold ist es, der die messianische Überhöhung Kants auf die Spitze treibt. In seinem ersten Brief an Kant dankt er dem Königsberger Philosophen für die »radikale Genesung« von Aberglauben und Unglauben, die die kritische Philosophie bei ihm bewirkt habe und die der Anlass für ihn gewesen sei, Kants Ideen mittels der Briefe über die Kantische Philosophie unter den Zeitgenossen zu verbreiten: 581 582 583
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WA III 243. Vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 97–101, 187, 256f., 349. Vgl. Erhards Brief an Kant vom 12. Mai 1786, wo Kant als ein »Führer« bezeichnet wird, durch dessen Kritik Erhard aus einem »stürmischen Lande« in eine »paradisische Gegend« geleitet worden sei, in welcher ein »immerwährender Früling« herrsche (AA X 447). Vgl. Bürgers Brief an Oesfeld vom 14. Mai 1787: »Ich danke Gott für diesen Mann [d. i. Kant], wie für einen Heiland, der die arme gefangene Vernunft endlich aus den unerträglichen Ketten dogmatischer Finsterniß glücklich erlöset hat« (Bürger: Briefe, Bd. 3, S. 185). In seinem Brief an Kant vom 1. März 1789 beschreibt der unter dem »schrecklichen philosophischen Wirrwarr und Unsinn, Pro und Contra Gerässonir« leidende JungStilling die Wirkung, die das Studium der Kantischen Philosophie auf ihn hatte, wie folgt: »[S]o wie ich laße, alles faste, alles begrif, so fiel mir die Hülle von den Augen, mein Hertz wurde erweitert, und es durchdrung mich ein Gefühl von Beruhigung das ich nie empfunden hatte. […] Gott seegne Sie! – Sie sind ein groses sehr groses Werckzeug in der Hand Gottes; ich schmeichle nicht – Ihre Philosophie wird eine weit grösere geseegnetere und allgemeinere Revolution bewürcken als Luthers Reformation« (AA XI 8f.). Bürger nennt die Kritik im oben zitierten Brief an Oesfeld »mein tagtägliches Erbauungsbuch«; im Brief an Born vom 5. Februar 1788 bezeichnet er es als das »heilige Buch« und das »Buch der Bücher«, welches sein »täglicher Abend- und Morgensegen« sei (Bürger: Briefe, Bd. 3, S. 185, 193). Die Wendung »Buch der Bücher« zitiert Born dann am Beginn der Vorrede zu seinem Versuch über die ersten Gründe der Sinnenlehre (vgl. Born: Versuch, S. VII). Christian Ludwig Lenz erklärt 1786 in den Ephemeriden der Menschheit, die von Kant in der Grundlegung entworfene Moral übertreffe »nach dem neuen Testamente alles« (Lenz: Ueber das Fürstliche Erziehungs-Institut, S. 488). Dieses Urteil wird von Joseph Maria von Dufresne zitiert und durch den Ausdruck »heiliges Buch« für die Kritik der reinen Vernunft ergänzt (Dufresne: Epistel, S. 26). Samuel Heinicke zufolge ist die Kritik »nach der Bibel unstreitig das vornehmste und nützlichste« aller Werke (Heinicke: Scheingötterei, S. XXIV). Vgl. auch die Erinnerung Georg Gustav Fülleborns: »Die Bibel und die Kritik – sagte mir der Dir. Heineke in Leipzig […] – weiter giebt es kein Buch in der Welt« (Fülleborn: Geschichte meines philosophischen Studiums, S. 182f.).
301 Er fühle sich »berufen«, so Reinhold in Anspielung auf Jes. 40,3 und 7,14, »eine der Stimmen in der Wüste abzugeben, welche die Wege des zweiten Immanuel bereiten sollen«.587 Die heilsgeschichtliche Stilisierung Kants sticht besonders im dritten der Briefe vom Januar 1787 hervor, den Reinhold selbst für zentral hielt.588 In ihm wird dargelegt, dass der Ausgleich, den Kants moraltheologischer Gottesbeweis zwischen religiöser Schwärmerei und abstrakter Vernunftdemonstration herstellt, die Voraussetzung bilde für die Wiedervereinigung von Religion und Moral und damit letztlich für die Wiederherstellung des wahren Christentums. Kants philosophisches System wird aus dieser Perspektive zum »Evangelium der reinen Vernunft«,589 seine historische Leistung wird explizit mit der von Jesus Christus verglichen.590 Reinholds Erhebung der kritischen Philosophie zur alleinseligmachenden »philosophia sacra«,591 die sämtliche philosophischen und religiösen Antagonismen der Zeit überwindet, stößt bei den Popularphilosophen auf Widerstand. In kaum verhohlener Anspielung auf Reinhold plädiert Flatt in den Tübingischen gelehrten Anzeigen dafür, das »angebetete Königsbergische Idol« wieder auf den Boden einer nüchternen und unparteiischen Prüfung zurückzuholen – »[s]o sehr es sich auch eine gewiße Parthey seit einiger Zeit zum Geschäft gemacht hat, die Kantische Philosophie mit lauter Stimme und in vollen Chören anzupreisen, als ob Kants Einsichten der einzige Maasstab von Wahrheiten und Kants Kritik das längsterwartete Heil wäre, das in die Welt hat kommen sollen«.592 Reinholds eschatologisch ge-
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AA X 498 (Brief vom 12. Oktober 1787). In Jes. 7,14 wird die Geburt eines Messias mit dem Namen Immanuel prophezeit. Im Brief an Kant vom 12. Oktober 1787 weist er ausdrücklich auf den dritten und den achten Brief hin (AA X 498f.). Zum Inhalt des dritten Briefes vgl. die Diskussion bei Timm: Spinozarenaissance, S. 411–421. Reinhold: Dritter Brief, S. 39. Dieselbe Wendung gebraucht Reinhold auch schon im Brief an Voigt vom November 1786 (vgl. KA I 153). Vgl. ebd., S. 11f., 20f. Johann Friedrich Breyer zeigt sich beeindruckt von der in den »fürtrefflichen Briefen über die Kantische Philosophie« angestellten »frappanten Parallele zwischen dem göttlichen Stifter des Christenthums und zwischen dem Königsbergischen Philosophen« (Breyer: Sieg der Praktischen Vernunft, 3. Abt., S. 11 Anm. 9). Vgl. auch Schillers Brief an Körner vom 29. August 1787, in dem er ihm von seinem Besuch bei Reinhold in Jena berichtet: »Gegen Reinhold bist Du ein Verächter Kants, denn er behauptet, daß dieser nach 100 Jahren die Reputation von Jesus Christus haben müsse« (NA XXIV 143). Timm: Spinozarenaissance, S. 412. Tübingische gelehrte Anzeigen, 30. August 1787, Landau 655 (Rezension zu Feders Ueber Raum und Caussalität). Flatt zitiert aus Jacobis David Hume, wo es über den Kantischen Idealismus heißt: »Und ein solches System darf mit lauter Stimme und in vollen Chören angepriesen werden, als wenn es das längst erwartete Heil wäre, das in die Welt hat kommen sollen« (JW II/1 61). Dass Jacobis Bemerkung gegen Reinhold zielt, geht aus seinem Brief an Hamann vom 21. November 1786 hervor, wo er in bezug auf die Briefe über die Kantische Philosophie die gleiche Formulierung verwendet (vgl. JB I/5 415). In Flatts Besprechung des David Hume, die kurz nach der Feder-Re-
302 färbte Vereinigungsrhetorik bleibt für Flatt auch später noch Stein des Anstoßes. Das zeigt seine Rezension zum Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789), einem Werk, in dem Reinhold in Anknüpfung an Kants vernunftkritischen Ansatz eine einheitliche Grundlegung der Philosophie anstrebt, die das Wahre aller bisherigen Systeme zu integrieren und ihre Gegensätze aufzulösen vermag. Flatt beschließt seine Besprechung des Buches mit einem ironischen Ausblick auf das »goldene Zeitalter der Philosophie«, in welchem alle Philosophen, egal ob Dogmatiker, Kritiker oder Skeptiker, »ganz unter sich einig, unter der Leitung allgemeingeltender Principien, und vielleicht auch – irgend eines philosophischen Hirten, zu einer Heerde vereint seyn werden!«593 Der Frieden im Reich der Philosophen als Eintracht einer Schafherde – Flatts Inversion der Metapher dient nicht nur dazu, durch Anspielung auf Joh. 10,16 die messianische Rolle zu karikieren, die Reinhold der kritischen Philosophie zuweist;594 sie ist auch Ausdruck einer Haltung, die in einer universellen philosophischen Harmonie unter Führung einer Leitfigur kein wünschenswertes Ideal erblicken kann. Die Gelehrtenrepublik, wie sie in der Epoche der Aufklärung zumeist konzipiert wurde, setzt den Pluralismus der Lehrmeinungen voraus; der permanente (wenn auch nicht regellos geführte)595 Meinungsstreit gilt demnach als das eigentliche Medium, in dem sich Erkenntnisfortschritt abspielt.596 Der französische Aufklärer Pierre Bayle, der diese Auffassung vom Modell der Gelehrtenrepublik maßgeblich mitprägte,597 spricht von einem ›unschuldigen Krieg‹ aller gegen alle.598
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zension erschien, wird die Stelle erneut (wenn auch verkürzt) zitiert (vgl. Tübingische gelehrte Anzeigen, 8. November 1787, Landau 730). Tübingische gelehrte Anzeigen, 17. Mai 1790, S. 312. Vgl. Wilhelm G. Jacobs: Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schellings. Stuttgart/Bad Cannstatt 1993 (Spekulation und Erfahrung, Abt. 2, Bd. 29), S. 170f. Dass das Modell der Gelehrtenrepublik dazu dient, Kritik und Konsens auszutarieren, betont Mark Napierala: Archive der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung und das Athenaeum. Heidelberg 2007 (Jenaer Germanistische Forschungen, N.F., Bd. 22), S. 74. Vgl. Röttgers: Art. ›Kritik‹, S. 663. Vgl. Hans-Dietrich Dahnke/Bernd Leistner: Von der »Gelehrtenrepublik« zur »Guerre ouverte«. Aspekte eines Dissoziationsprozesses. In: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke/Bernd Leistner. 2 Bde. Berlin/Weimar 1989. Bd. 1, S. 13–38, hier S. 14. Vgl. Pierre Bayle: Art. ›Catius‹. In: Dictionaire historique et critique [1697]. 5. Aufl. Hg. von Pierre DesMaizeaux. Bd. 2: C – I. Amsterdam u. a. 1740, S. 101–103, hier S. 102 (»on fait la guerre innocemment à qui que ce soit«). Vgl. die Übersetzung Gottscheds: In der Gelehrtenrepublik »führet man unschuldiger Weise Krieg wider einen jeden, wer es auch seyn mag« (Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch, Teil 2, S. 108). Zur allgemeinen Verbreitung des Dictionnaire, eines der »erfolgreichsten Bücher des 18. Jahrhunderts«, vgl. Gerhard Sauder: Bayle-Rezeption in der deutschen Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge-
303 Um anthropologische und geschichtsphilosophische Dimensionen erweitert, wird der Antagonismus der Kräfte in der deutschen Spätaufklärung als zentrales Prinzip des Kulturfortschritts begriffen, zum Beispiel bei Georg Forster.599 In dem Aufsatz Cook der Entdecker erklärt er: Wenn einige Philosophen die chaotische Dynamik von Natur- und Kulturprozessen dadurch stillzustellen suchten, dass sie ein »Mittel zwischen den Extremen« postulierten, so könne die daraus resultierende Ruhe nur eine »Ruhe des Todes« sein.600 Konkret auf die Konfrontation mit Kant bezogen, den er als »Denker vom ersten Rang« anerkennt, stellt Feder in der Philosophischen Bibliothek fest: »Zur Vollkommenheit der Welt gehört auch Mannichfaltigkeit und Contrarietät der Denkkräfte.«601 Die ›Contrarietät der Denkkräfte‹ in einen philosophischen Universalfrieden münden zu lassen, war der Anspruch, mit dem Kants Philosophie aufgetreten war und der vor allem von Reinhold propagiert wurde. Letzterer war es dann allerdings auch, der 1789 mit seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens zum ersten Mal der Notwendigkeit Ausdruck verlieh, dass das von Kant gelegte Fundament des Philosophierens ergänzt und verbessert werden müsse.602 Die Frage, auf welche Weise dies zu geschehen habe, war der Hauptstreitpunkt, der zu Beginn der neunziger Jahre zahlreiche neue Debatten und Parteibildungen hervorbrachte. 1793 muss Carl Christian Erhard Schmid in der Einleitung zum ersten Band des von ihm herausgegebenen Philosophischen Journals feststellen, dass »iene erwünschte Periode eines allgemeinen und ewigen Friedens auf dem Gebiete der Philosophie« noch immer in weiter Ferne sei.603 Mit der Ausdifferenzierung der Transzendentalphilosophie in neue, sich nun ihrerseits unversöhnlich gegenüberstehende Fraktionen ist jedoch bereits eine neue Phase in der Geschichte der Kantrezeption markiert.
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schichte 49 (1975), Sonderheft, S. 83*–104* (Zitat S. 86*). Zur Präsenz Bayles in der deutschen Diskussion um die Gelehrtenrepublik vgl. Johann Erhard Kapps Kommentar zur Übersetzung von Saavedra Fajardos República literaria: Die Gelehrte Republic durch Don Diego Saavedra […]. Mit einer Vorrede und einigen Anmerkungen Herrn Joh. Erhard Kappens, Professoris zu Leipzig. Leipzig 1748, S. 201–230: »Anmerkung von dem Titul Respublica literaria, gelehrte Republic, Scribenten davon, Auszüge aus ihren Schriften«, hier S. 202, 221. Vgl. Jörn Garber: Anthropologie und Geschichte. Spätaufklärerische Staats- und Geschichtsdeutung im Metaphernfeld von Mechanismus und Organismus. In: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, hg. von Klenke, S. 193–210, bes. S. 201f. F V 195. Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. 231 (Rezension zu Tittels Kantische Denkformen). Vgl. Timm: Spinozarenaissance, S. 420. Carl Christian Erhard Schmid: Einleitung. Für die Leser und Beurtheiler dieses Journals. In: Philosophisches Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl 1 (1793), S. 1–58, hier S. 44.
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IV. Schluss Kapitel III hat gezeigt, wie eng die Hauptinhalte der (in Kapitel II chronologisch entfalteten) Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie mit dem Gebrauch charakteristischer Metaphern verbunden sind. Zahlreiche Bilder Kants, die der Artikulation seines philosophischen Unternehmens dienen, werden in der Diskussion von Anhängern wie Gegnern aufgegriffen, um Punkte des Dissenses wirkungsvoll hervorzuheben und dadurch die Fronten zwischen den Parteien abzustecken. So etwa in der Frage, ob die Kantische Vernunftkritik qualifiziert sei, über die Wissensansprüche der Erfahrungsphilosophie zu Gericht zu sitzen; ob sie, was die rationalen Grundlagen der Religion betrifft, von aufbauender oder von zerstörender Wirkung sei; ob das Festhalten an objektiven Gesetzen der Natur oder umgekehrt ihre Verlagerung ins Subjekt von philosophischer Faulheit zeuge; ob die Grenzen der Erfahrung auf etwas Erfahrungstranszendentes hin überschritten werden könnten; ob sich in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie ein Bereich reiner, nicht mit empirischen Inhalten vermischter Vernunft isolieren lasse; ob die kritische Philosophie als ein Mittelweg den Extremen des Dogmatismus und Skeptizismus entgehe. Nicht selten sind es grundsätzliche Fragen nach der Methode des Philosophierens, die in enger Verbindung mit bestimmten Metaphern kontrovers verhandelt werden: Vollzieht wahres Philosophieren sich als geradliniger, methodisch streng kontrollierter Gang oder als exploratorische Bewegung auf ungesichertem Terrain? Ist ein universeller philosophischer Frieden das angestrebte Ziel, oder wird er mit autoritärer Herrschaft einer Partei und mit Stagnation gleichgesetzt? Fast alle der von Kant verwendeten Metaphern, das wurde im Gang der Untersuchung immer wieder herausgestellt, sind in der Philosophie der Aufklärung als Topoi geläufig. Damit ist die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im theoriesprachlichen Metapherngebrauch aufgeworfen. Die starke metaphernkreativistische These, wonach sich wissenschaftliche Paradigmenwechsel als ›metaphorische Revolutionen‹ vollziehen, findet im Fall des Siegeszugs der Kantischen Philosophie keine Bestätigung. Wenn Metaphern dennoch auch in der Perspektive dieser Studie als Leitdifferenzen angesehen werden, die historische Wissensformationen voneinander scheiden, so nicht aufgrund der (zu simplen) Vorstellung eines Austauschs paradigmatischer Basismetaphern, sondern aufgrund der Art von intertextueller Dynamik, die oben zu Beginn von Ka-
305 pitel III mit den Begriffen Identifikation, Inversion und Adoption beschrieben wurde. Mit diesen Begriffen lassen sich die Prozesse charakterisieren, die dazu führen, dass sich innerhalb ein und desselben Inventars kollektiver Metaphern, ›unter dem Dach‹ gemeinsamer metaphorischer Leitvorstellungen, symbolische Abgrenzungen zwischen verschiedenen Parteien herausbilden.1 Dass diese Prozesse eng auf Formen des Dissensaustrags in öffentlichen Debatten bezogen sind, ist nicht als Nachteil zu betrachten, der ihre Relevanz einschränkt. Denn abgesehen davon, dass vieles dafür spricht, intellektuelle Konflikte nicht bloß als krisenhafte Ausnahmezustände zu begreifen, sondern als den notwendigen dialogischen Kontext, innerhalb dessen Ideen und Theorien häufig erst mustergültig ausformuliert werden2 – die Rückbindung von Metaphernkonstellationen an wissensgeschichtliche Konfliktkonstellationen stellt zudem ein nützliches methodisches Korrektiv dar, das davor bewahrt, Metaphern von den sachlich-argumentativen Kontexten, in denen sie verwendet werden, abzulösen und zu enthistorisieren. Dieser Gefahr unterliegen, aufgrund ganz unterschiedlicher Voraussetzungen, sowohl eine auf die isolierte Betrachtung wiederkehrender metaphorischer Versatzstücke ausgerichtete Toposforschung à la Curtius3 als auch rationalitätskritische Ansätze, die Kants Metaphern auf ihre tiefenpsychologische oder ideologische Signifikanz hin auswerten und dabei ihren topisch-historischen Stellenwert vernachlässigen.4 Statt Metaphern als frei kombinierbare »Kontinui1
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Es soll nicht die Möglichkeit geleugnet werden, dass es im theoriesprachlichen Metapherngebrauch auch echte Innovationen geben kann. Nur scheint mir Donald A. Schon mit seiner Auffassung Recht zu haben, dass wirklich neue Metaphern äußerst selten sind und dass die abendländische Intellektualgeschichte insgesamt durch ein relativ schmales Korpus von Zentralmetaphern geprägt ist. Vgl. Donald A. Schon: Displacement of Concepts. London 1963, S. 193. Zur Kritik vgl. Debatin: Die Rationalität der Metapher, S. 180f.; Buntfuß: Tradition und Innovation, S. 66f., 70, 85. Vgl. Spoerhase: Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte, S. 21; ders.: Kontroversen, S. 78–80. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 (111993). Zur Kritik vgl. Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt a. M. 2003, S. 175f. Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966, S. 373–375 (Kants Inselmetaphorik als Symptom einer »eminent bürgerliche[n] Bejahung der eigenen Enge«); Böhme/Böhme: Das Andere der Vernunft, zum Beispiel S. 83–86 (Kants rationale Grenzziehung als Produkt zwanghafter Wunschverdrängung); Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit [engl. 1991]. Hamburg 1992, S. 35–42 (Kants Gerichts- und Herrschaftsmetaphorik als Zeichen philosophischer Wahlverwandtschaft mit der disziplinierenden Gewalt des Staates); Welsch: Vernunft, S. 399, 942 (Kants Territorialmetaphern als Ausweis eines auf Herrschaft ausgerichteten Denkens); Peter Sloterdijk: Sphären. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1999, S. 892f. (Kants Inselmetapher als Kennzeichen eines provinziellen, konservativ-physiokratischen Denkstils). Auf Kurt Röttgers’ Strapazierung des Kantischen Vergleichs von Skeptikern und Nomaden im Rahmen seiner Kritik an einer ›polizierenden‹ Vernunft wurde bereits hingewiesen (vgl. oben S. 283 Anm. 496).
306 tätsklötzchen«5 zu behandeln oder sie im Vokabular ideologischer Sprachen aufgehen zu lassen, wird hier dafür plädiert, durch die Rekonstruktion thematisch fokussierter Debatten den notwendigen diskursiven Zusammenhang herzustellen, innerhalb dessen es dann in einem zweiten Schritt überhaupt erst möglich und sinnvoll ist, verschiedene Metaphernereignisse subsumierend oder kontrastierend aufeinander zu beziehen. Die Metapherngeschichte unterstützt also nicht nur die historische Kontroversenforschung, indem sie es erlaubt, in der Nachzeichnung von Debatten komplexe Argumentationszusammenhänge auf ihre symbolisch kondensierten Hauptstreitpunkte hin zu perspektivieren; sondern die Kontroversengeschichte unterstützt umgekehrt auch die Metapherngeschichte, als ein plausibles Verfahren der Kontextlimitierung, das allzu großer Willkür bei der Auswahl und Zusammenstellung von Texten und Zitaten entgegensteuert. Auf der Grundlage einer solchen Zusammenführung von Kontroversenund Metapherngeschichte lassen sich dann weitergehende Überlegungen darüber anstellen, ob und wie die in einer Debatte verwendeten Metaphern etwas zur Durchsetzungskraft der siegreichen Position beitragen. Ist der Erfolg des »Diskursheroen«6 Kant auch seiner Metaphernpolitik zu verdanken?7 Die Untersuchung hat gezeigt, dass Kants Bildgebrauch von starker Identifikationskraft war und dass seine Anhänger vielfältig und frühzeitig daran anknüpften. Ein Grund dafür liegt sicher darin, dass Kant hauptsächlich auf solche Metapherntypes zurückgreift, deren inhärente Anschauungsschemata klare symbolische Gegensätze implizieren, und dass diese Gegensätze in Kants Aktualisierung besonders stark akzentuiert werden, um seinen Metaphern maximale polemische Schlagkraft zu verleihen. Finaler Richterspruch vs. endloses Parteiengezänk, neue Fundamente vs. ruinöse Gebäude, sicherer Binnenraum vs. chaotisches Außen, gerader Mittelweg vs. Abschweifung in Extreme: Die rigoristischen Entgegensetzungen lassen keinen Raum für Zwischenpositionen; wer nicht auf dem Kantischen Standpunkt steht, so die Suggestion, dessen Philosophie entbehrt jeder legitimen 5 6 7
Flasch: Historische Philosophie, S. 175. Lottes: »The State of the Art«, S. 43. Die Frage zielt natürlich nicht darauf ab, die Geltungsansprüche philosophischer Argumente grundsätzlich zu negieren und sie auf ›bloße Rhetorik‹ zu reduzieren. Wie Ulrich Charpa aus wissenschaftsphilosophischer Sicht hervorgehoben hat, kann die unleugbare Tatsache, dass wissenschaftlichen Texten immer auch rhetorische Momente innewohnen, nicht zur Begründung eines wissenschaftsgeschichtlichen Relativismus dienen. Rhetorische Strategien kommen Charpa zufolge vor allem in wissenschaftlichen Umbruchsituationen zum Tragen, in denen »eine Forschergemeinschaft erst rekrutiert oder zumindest umorganisiert werden muß«. Diese Beobachtung lasse aber »die Möglichkeit offen, daß Forschung sich nach den ersten Anfangswirren derjenigen rhetorischen Mittel bedient, die ihre argumentativen Ansprüche am besten stützen«. Vgl. Ulrich Charpa: Philosophische Wissenschaftshistorie. Grundsatzfragen/Verlaufsmodelle. Braunschweig/Wiesbaden 1995 (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie, Bd. 42), S. 211.
307 Grundlage. Entsprechend häufig sind (wie in der Untersuchung gezeigt) die pauschalen Verwerfungsgesten, mit denen Kant und seine Anhänger die herkömmliche Philosophie aburteilen. Die »diskursive Maschinerie kantischen Typs mit ihren scharfen prinzipiellen Oppositionen«, die Derrida für die »Autoritätseffekte« der kritischen Philosophie verantwortlich macht8 – sie wird also nicht zuletzt durch Kants Metapherngebrauch konstituiert. Die Popularphilosophen hatten dieser Maschinerie wenig entgegenzusetzen, widersprachen scharfe Polarisierungen doch ihrem eigenen eklektischen, auf Vermittlung und Pluralität ausgerichteten Philosophieverständnis.9 Abschließend soll noch ein Weg angedeutet werden, wie eine metaphorologisch orientierte Kontroversenforschung Anschluss an weiterführende kultur- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen gewinnen kann. Eine mögliche These lautet: Die symbolisch-metaphorischen Abbreviaturen und Zuspitzungen, die kontrovers verhandelte Positionen im Zuge öffentlicher Debatten erfahren, bilden nicht selten ein bevorzugtes Rohmaterial für imaginative (populärwissenschaftliche, literarische) Ausformungen, unter denen diese Positionen (bzw. ihre Vertreter) dann mitunter auch langfristigen Eingang ins kulturelle Gedächtnis finden.10 Um die These erhärten zu können, wären umfangreiche Studien zur Thematisierung Kants im populärwissenschaftlichen, publizistischen und literarischen Diskurs der nachkantischen Epoche erforderlich. Im Folgenden kann dieser Komplex nur mit ein paar einfachen, willkürlich ausgewählten Beispielen illustriert werden, die dem Bereich territorialer Metaphorik zugehörig sind. 1798 erschien im Deutschen Magazin ein Artikel mit dem Titel Allegorische Geschichte der Kantischen Philosophie. Der Verfasser schildert darin in literarischer Einkleidung das Schicksal der kritischen Philosophie von ihrer Begründung durch Kant über ihre Popularisierung bis hin zu den Auseinandersetzungen um ihre legitime Nachfolge. Die zentrale, den Text organisierende Metapher ist die des ›Gartens‹ der Philosophie, die als Variante Kantischer Grenzziehungs- und Reinheitsmetaphorik eingeführt wird: Um den Ertrag an Früchten zu sichern, habe es ein »weiser Mann« (gemeint ist 8
9
10
Jacques Derrida: Privileg. Vom Recht auf Philosophie I [frz. 1990]. Hg. von Peter Engelmann. Wien 2003, S. 102f., 98. Zum irenischen Moment der auf Erfahrung und Geschichte sich verwiesen sehenden eklektischen Tradition vgl. Holzhey: Philosophie als Eklektik, S. 26, 28; speziell zu Feder vgl. Röttgers: J.G.H. Feder, S. 432–436. Diese These ist durch Überlegungen aus Jürgen Links Interdiskurs-Theorie beeinflusst, wonach diskursintegrierende elementarliterarische Formen (Mythen, Charakterbilder, Narrationsschemata, Kollektivsymbole) das Halbfabrikat darstellen, das in institutionalisierten Interdiskursen (Literatur, Populärwissenschaft, Publizistik, Mediendiskurs) weiterverarbeitet wird. Vgl. Link: Kollektivsymbolik, S. 7; ders.: Elementare Literatur, S. 15, 21; Drews/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik, S. 271, 286; Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 286, 293, 300–303; Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77 (1990), S. 88–99, hier S. 93, 96f.; Becker/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik II, S. 73.
308 Kant) unternommen, mit einem Spaten einen tiefen Graben um den Garten herum zu graben, ihn mit einer Mauer zu umgeben und alles Unkraut auszujäten.11 Anlässlich von Kants Tod (1804) verfasste Ludwig Jedemin Rhesa (1777–1840) wenige Jahre später eine Elegie auf Immanuel Kant. Im Zentrum des Gedichts stehen vier Strophen, die die Essenz der Kantischen Lehre poetisch zu erfassen suchen. Dies geschieht mittels der Montage einer ganzen Reihe von Metaphern, die im Gespräch über die kritische Philosophie von Anfang an als wichtige Diskurselemente fungierten (geographische Vermessung, Grenzziehung, sicherer Boden vs. gefährliche Seereise): Er lehrte – rein’re Tugend den Sterblichen Und maaß das hohe Feld des Verstandes aus, Drang in der Seele unerforschte Tiefen und setzte den ew’gen Grenzstein, Der Land der Wahrheit scheidet von Träume Land, Das Denkgeheimnis öffnend: daß Raum und Zeit Nur Anschaun sei, daß Gott und Weltall Maaß und Gesetz durch’s Ich nur werde. Ein kühner Schiffer fährt er den Ozean, Wo nie des Seglers spähender Wimpel flog, Zu forschen an des fernsten Eiland’s Küst’ ob der Kunde des zweiten Daseins. Kein Fußsteig leitet. – Ein letzter Felsen zeigt Die hohen Worte: »Gott und Unserblichkeit. [sic] Nicht weiter dring’ o Mensch und glaube, Ringe durch Tugend zum höchsten Gute.»12
Das Bild des Grenzbefestigers, der im chaotischen Meer der Metaphysik dem Menschen seinen festumrissenen, sicheren Platz anweist, prägt auch die Art und Weise, wie man noch im 20. Jahrhundert in popularisierender Absicht über Kant spricht. In einem 1901 gedruckten öffentlichen Vortrag über »Immanuel Kant und die Erhabenheit seines Geistes« leitet der Verfasser Samuel Eck seine Ausführungen dadurch ein, dass er die äußeren Gegenstände der Erkenntnis dem Inneren des Subjekts gegenüberstellt: Jene ließen sich als ein »unendliches Meer« betrachten, »dessen Küsten kein Auge jemals sah noch sehen wird«, dieses als eine »Insel« mit einer charakteristischen Topographie, die allerdings ständig ins Meer zu zerfließen droht.13 Die 11
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13
Vgl. F. Sartorius: Allegorische Geschichte der Kantischen Philosophie. In: Deutsches Magazin, Juni 1798, S. 674–679, hier S. 674f. Ludwig Jedemin Rhesa: Elegie auf Immanuel Kant. 1804. In: ders.: Prutena, oder Preussische Volkslieder und andere vaterländische Dichtungen. Königsberg 1809, S. 108–112, hier S. 110. Samuel Eck: Immanuel Kant und die Erhabenheit seines Geistes. In: ders.: Aus den großen Tagen der deutschen Philosophie. Drei gemeinverständliche Vorträge. Tübingen/Leipzig 1901, S. 1–31, hier S. 3.
309 Polarität gibt vor, wie im weiteren Verlauf der Ausführungen Kants philosophische Leistung beschrieben wird: als erkenntnistheoretische Grenzziehung, die beide Seiten klar voneinander scheidet.14 Emphatisch wird gegen Ende des Vortrags die daraus resultierende Befestigung des moralischen Substrats des Menschen in Anknüpfung an dieselbe Bildlichkeit beschworen: Mag alles übrige aus dem Strom der Erscheinungen auftauchen und wieder darin verschwinden – »sich selbst setzt der gute Wille als einen Fels in diese Fluten hinein, der sich nicht schieben oder ziehen lassen […] soll«.15
14 15
Vgl. bes. S. 13, 18, 19, 24, 29. Ebd., S. 28.
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3. Rezensionsorgane (Aufgeführt werden alle Periodika, aus denen Rezensionen oder Meldungen zitiert werden, die nicht in Landau erfasst sind.) Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin/Stettin (ab 1792: Kiel) 1765–1794. Allgemeine Literatur-Zeitung. Jena (ab 1804: Halle)/Leipzig 1785–1849. Allgemeine Literatur-Zeitung/Intelligenzblatt. Jena (ab 1804: Halle)/Leipzig 1787– 1807 und 1829–1849. Allgemeine Literatur-Zeitung/Supplemente. Jena/Leipzig 1785–1787. Anzeiger des Teutschen Merkur. Weimar 1783–1788. Auserlesene Litteratur des katholischen Deutschlands. Coburg 1788–1790. Dreßdnische Gelehrte Anzeigen. Dresden 1749–1802. Erfurtische gelehrte Zeitung. Erfurt 1780–1796. Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten. Erlangen 1746–1789. Frankfurter gelehrte Anzeigen. Frankfurt a. M. 1772–1790. Freyburger Beyträge zur Beförderung des ältesten Christenthums und der neuesten Philosophie. Ulm 1788–1790. Gemeinnützige Betrachtungen der neuesten Schriften welche Religion, Sitten und Besserung des menschlichen Geschlechts betreffen. Erlangen 1776–1800. Gemeinnützige Betrachtungen der neuesten Schriften welche Religion, Sitten und Besserung des menschlichen Geschlechts betreffen/Beylage. Erlangen 1776–1800.
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316 Heinicke, Samuel: Kant. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 8. Stück, S. 862–864 [zitiert nach Landau 78–81]. – Protestation [gegen eine Rezension im Leipziger Verzeichnis neuer Bücher, Bd. 7, 9. St.]. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 3. Stück, S. 355f. [auch in: Gothaische gelehrte Zeitungen, 3. März 1784, Beilage, S. 151f.]. – Metaphysik für Schulmeister und Plusmacher. Leipzig 1785. – Ueber graue Vorurtheile und ihrer Schädlichkeit. Erwiesen, durch Grundsätze der Vernunftkritik. Copenhagen/Leipzig 1787. – Nach Kantischer Manier aufgelöste Axiomen von Moses Mendelssohn, nebst einem Gutachten von Herrn Friedrich Nicolai. Cöthen 1787. – Ueber den Fatalismus. In: Apologien 1 (1787), S. 683–690. – Vom Unterschiede der Verstandes- und Vernunftbegriffe. In: Dreßdnische Gelehrte Anzeigen, 10. Stück (1787), S. 79f., und 11. Stück (1787), S. 81–84 [zitiert nach ders.: Gesammelte Schriften, S. 641–643]. – Scheingötterei der Naturalisten, Deisten und Atheisten, ec. Nebst einer ganz neuen unfehlbaren Methode für Theologen, alle Irrgläubige, Zweifler und Ungläubige gründlich zu widerlegen und sie damit zu bekehren. Nach Grundsätzen der Bibel und Vernunftkritik. Cöthen 1788. – Von der Vernunftreligion. In: Dreßdnische Gelehrte Anzeigen, 21. Stück (1788), Sp. 177–184. – Vorbericht. In: Wörterbuch zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philosophischen Schriften von Herrn Kant. Presburg 1788 [Repr. 1968], S. III–XXIII. – Gesammelte Schriften. Hg. von Georg Schumann/Paul Schumann. Leipzig 1912. Herder, Caroline: Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder. Hg. von Johann Georg Müller. Dritter Theil. Stuttgart/Tübingen 1830. Herder, Johann Gottfried: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan/Carl Redlich. 33 Bde. Berlin 1877–1913 [Repr. 1967/68]. – Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hg. von Wilhelm Dobbek/Günter Arnold. Weimar 1977ff. – Werke. Hg. von Wolfgang Proß. 3 Bde. München/Wien 1984–2002. Heydenreich, Karl Heinrich: Ueber Mendelssohns Darstellung des Spinozismus. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 4 (1787), S. 239–300. Hufeland, Gottlieb: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange. Leipzig 1785. Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften. Bd. 14: Tagebücher. Hg. von Albert Leitzmann. Erster Band. 1788–1798. Berlin 1916 [Repr. 1968]. Hume, David: Vermischte Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die andern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staats. 4 Bde. Hamburg/ Leipzig 1754–1756. – Gespräche über natürliche Religion. Nach der zwoten Englischen Ausgabe [übersetzt von Carl Gottfried Schreiter]. Nebst einem Gespräch über den Atheismus von Ernst Platner. Leipzig 1781. – The Philosophical Works. Hg. von Thomas Hill Green/Thomas Hodge Grose. 4 Bde. London 1882–1886 [Repr. 1964]. Jacobi, Friedrich Heinrich: Friedrich Heinrich Jacobi’s Auserlesener Briefwechsel. [Hg. von Friedrich Roth.] 2 Bde. Leipzig 1825/27 [Repr. 1970]. – Aus F.H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Hg. von Rudolf Zoeppritz. Bd. 2. Leipzig 1869. – Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hg. von Michael Brüggen u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1981ff.
317 – Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Hamburg 1998ff. Jakob, Ludwig Heinrich: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes. Leipzig 1786. [-:] Sendschreiben an Herrn Professor Meiners in Göttingen, über dessen Angriff gegen Kants System der Philosophie. In: Neue Litteratur und Völkerkunde 1 (1787), S. 221–242. – Brief des Hrn. Prof. Jakob in Halle an den Herausgeber, des Hrn. Jacobi Idealismus und Realismus betreffend. In: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 5 (1787), S. 228–243. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abtheilung, Bd. 1: Briefe 1780–1793. Hg. von Eduard Berend. Berlin 1956. – Sämtliche Werke. Bd. II/2. München 1976. Jenisch, Daniel: Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten [1787]. In: ders.: Ausgewählte Texte. Hg. von Gerhard Sauder. St. Ingbert 1996 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 26), S. 7–16. [-:] Versuche über die Grundsäze der Metaphysik der Sitten des Herrn Prof. Kant. Erster Versuch. In: Deutsches Museum, August 1787, S. 104–118 [zitiert nach Hausius III 58–72]. [-:] Zweiter Versuch, über die Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten, des Hrn. Prof. Kant. In: Deutsches Museum, Juni 1788, S. 543–570 [zitiert nach Hausius III 73–104]. [-:] Der Versuche ueber die Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten. Dritter Versuch. In: Deutsches Museum, August 1788, S. 153–184 [zitiert nach Hausius III 105–136]. [-:] Vierter Versuch über die Kantsche Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten. In: Deutsches Museum, September 1788, S. 264–293. [-:] Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant; und wie weit wir in der Aufklärung kommen können, wenn wir diesem Philosophen folgen? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 1 (1788), S. 71–95, 160–182. Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Hg. von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 1976. Kant, Immanuel: Immanuel Kants physische Geographie. Hg. von Johann Jakob Wilhelm Vollmer. Bd. 1. Mainz/Hamburg 1801. – Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern]. Berlin 1900ff. – Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Sonderausgabe Darmstadt 1998. Kausch, Johann Joseph: Antwort auf den vorhergehenden Brief. In: Apologien 1 (1787), S. 48–53. – Fortsetzung des im ersten Heft der Apologien S. 53. abgebrochenen Aufsazes über Herrn P. Kants Schriften. In: Apologien 1 (1787), S. 329–351. Kleuker, Johann Friedrich: Neue Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt. Bd. 1. Riga 1787. Klewiz, Wilhelm Anton: Ueber Idealismus. An den Herrn Professor Kant in Königsberg. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1784), 4. Stück, S. 409–425. [Knoblauch, Karl von:] Noch etwas von Mirakeln: oder ein Paragraf aus der Kritik der reinen Vernunft. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 329–333. – Ueber Wunder. In: Der Teutsche Merkur, April 1787, S. 85–91.
318 – Etwas von Naturgesetzen [Fortsetzung]. In: Der Teutsche Merkur, Oktober 1787, S. 82–94. – Die Sinne. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 48–55. – Fragment eines Poems. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 122–124. – Krieg um die Wahrheit. In: ebd., S. 285–288. – Natur ist unser Gesezz. In: ebd., S. 294–296. – Boscowich’s Philosophie. 2ter §. Fortsetzung. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), 152–166. – Magnetismus. Schluß. In: ebd., S. 339–351. [Kreil, Anton:] Ueber das Buch: Des Erreurs & de la Verité. In: Journal für Freymaurer 1 (1784), 4. Vierteljahr, S. 55–164. Lambert, Johann Heinrich: Joh. Heinrich Lamberts […] deutscher gelehrter Briefwechsel. Hg. von Johann Bernoulli. 5 Bde. Berlin/Dessau 1781–1787. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Système nouveau de la nature [1695]. In: ders.: Philosophische Schriften. Hg. und übers. von Hans Heinz Holz. Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt a. M. 21986, S. 200–226. Lenz, Christian Ludwig: Ueber das Fürstliche Erziehungs-Institut zu Dessau und besonders den gegenwärtigen Zustand desselben. In: Ephemeriden der Menschheit, Jg. 1786, Bd. 2, S. 465–496. Lichtenberg, Georg Christoph: Fortsetzung der Betrachtungen über das Weltgebäude. Von Cometen. In: ders.: Vermischte Schriften. Hg. von Ludwig Christian Lichtenberg/Friedrich Kries. Bd. 6. Göttingen 1803, S. 347–416. – Briefwechsel. Hg. von Ulrich Joost/Albrecht Schöne. 5 Bde. München 1983– 2004. Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975. – Anleitung des menschlichen Verstandes. Übers. von Georg David Kypke [Königsberg 1755]. Hg. von Terry Boswell u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1996. Meiners, Christoph: Revision der Philosophie. Erster Theil. Göttingen/Gotha 1772. – Grundriß der Seelen-Lehre. Lemgo 1786. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1971ff. Merkel, Garlieb: Freimütiges aus den Schriften Garlieb Merkels. Hg. von Horst Adameck. Berlin 1959. Metzger, Johann Daniel: Ueber die sogenannten Menschenracen. In: Medicinischer Briefwechsel 2 (1786), S. 41–47. [-:] Skizze einer medizinischen Psychologie. O.O. 1787. – Noch ein Wort über Menschenracen. In: Neues Magazin für Aerzte 10 (1788), S. 508–512. [Müller, Johann Peter Andreas:] Nähere Notiz und Kritik der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. Aus den kritischen Beyträgen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit. Leipzig 1788. Nekrolog auf das Jahr […]. Gotha 1790–1800. Neuer Nekrolog der Deutschen. Ilmenau (ab 1835: Weimar) 1823–1852. Nicolai, Friedrich: Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s, eines deutschen Philosophen. Berlin/Stettin 1798 [Repr. 1987]. Obereit, Jacob Hermann: Die verzweifelte Metaphysik. O.O. 1787. – Der wiederkommende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik. Ein kritisches Drama zu neuer Grund-Critik vom Geist des Cebes. Berlin 1787. Peucker, Johann Gottlieb: Darstellung des Kantischen Systems nach seinen Hauptmomenten zufolge der Vernunftcritik und Beantwortung der dagegen gemachten Einwürfe. Grottkau/Leipzig 1790.
319 [Pfenninger, Johann Konrad:] Etwas zur Geschichte der demonstrativen Philosophie. In: ders.: Sokratische Unterhaltungen über das Aelteste und Neuste aus der christlichen Welt. Ein Versuch. Leipzig 1786, S. 83–93. – Vom guten Willen. In: ebd., S. 219–224. – Warum die Lehren der Tugend so wenig ausrichten? In: ebd., S. 225–230. Platner, Ernst: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe Leipzig 1784. Rehberg, August Wilhelm: Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion. Berlin 1787. – Sämmtliche Schriften. Bd. 1. Hannover 1828. Reid, Thomas: Untersuchung über den menschlichen Geist, nach den Grundsätzen des gemeinen Menschenverstandes [engl. 1764]. Leipzig 1782 [Repr. 2000]. Reimarus, Johann Albert Heinrich: Ueber die Gründe der menschlichen Erkentniß und der natürlichen Religion. Hamburg 1787. Reinhold, Ernst: Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken. Jena 1825. Reinhold, Karl Leonhard: Schreiben des Pfarrers zu *** an den H. des T.M. Über eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1785, S. 148–174 [zitiert nach Landau 119–132]. – Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Brief. In: Der Teutsche Merkur, August 1786, S. 99–127. Zweyter Brief. In: TM, August 1786, S. 127–141. Dritter Brief. In: TM, Januar 1787, S. 3–39. Vierter Brief. In: TM, Februar 1787, S. 117–142. Fünfter Brief. In: TM, Mai 1787, S. 167–185. Sechster Brief. In: TM, Juli 1787, S. 67–88. Siebenter Brief. In: TM, August 1787, S. 142–165; Achter Brief. In: TM, September 1787, S. 247–278. – Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/ Jena 1789 [Repr. 1963]. – Korrespondenzausgabe. Begr. von Reinhard Lauth u. a., hg. von Faustino Fabbianelli u. a. Suttgart/Bad Cannstatt 1983ff. – Gesammelte Schriften. Hg. von Martin Bondeli. Bd. 2/1: Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Band. Basel 2007. Reuß, Matern: Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosophie erklären? Würzburg 1789 [zitiert nach Hausius I 52–88]. Rhesa, Ludwig Jedemin: Elegie auf Immanuel Kant. 1804. In: ders.: Prutena, oder Preussische Volkslieder und andere vaterländische Dichtungen. Königsberg 1809, S. 108–112. Roustan, Antoine Jacques: Briefe zur Vertheidigung der christlichen Religion. Neue Uebersezung mit einigen Anmerkungen von D. Ernst Jakob Danovius. Halle 1783. Saavedra Fajardo, Diego de: Die Gelehrte Republic durch Don Diego Saavedra […]. Mit einer Vorrede und einigen Anmerkungen Herrn Joh. Erhard Kappens, Professoris zu Leipzig. Leipzig 1748. Sartorius, F.: Allegorische Geschichte der Kantischen Philosophie. In: Deutsches Magazin, Juni 1798, S. 674–679. Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. Begr. von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal u. a., hg. von Norbert Oellers. Weimar 1943ff. Schmid, Carl Christian Erhard: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Jena 1786. – Anhang. Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt
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321 [Sulzer, Johann Georg:] Vorrede des Herausgebers. In: David Hume: Vermischte Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die andern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staats. Zweyter Theil: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg/Leipzig 1755 [unpaginiert]. – Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. 2., veränderte und verm. Aufl. Leipzig 1759. Tetens, Johann Nikolaus: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777. [Repr. 1913 (nur Bd. 1), 1979]. [-:] Von der Abhängigkeit des Endlichen von dem Unendlichen. In: Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten 4 (1783), S. 97–168. [Repr. in: ders.: Kleinere Schriften. Hg. von Jürgen Engfer. Hildesheim u. a. 2005. Teil 2, S. 259–330]. – Kleinere Schriften. 2 Teile. Hg. von Jürgen Engfer. Hildesheim u. a. 2005. Tiedemann, Dietrich: Ueber die Natur der Metaphysik; zur Prüfung von Hrn Professor Kants Grundsätzen. In: Hessische Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst 1 (1785), S. 113–130, 233–248, 464–474 [zitiert nach Hausius II 53–103]. Tittel, Gottlob August: Ueber Herrn Kant’s Moralreform. Frankfurt/Leipzig 1786. – Kantische Denkformen oder Kategorien. Frankfurt a. M. 1787 [Repr. 1968]. – Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung. Metaphysik. Neue, verbesserte und vermehrte Aufl. Frankfurt a. M. 1788. – Etwas von meinem Leben und Schriften, statt Vorrede. In: ders.: Dreißig Aufsäze aus Litteratur Philosophie und Geschichte. Mannheim 1790, S. VII–XVI. Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von: Medicina mentis sive artis inveniendi praecepta generalia [1695]. Übers. und kommentiert von Johannes Haußleiter. Leipzig 1963 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 1). Ulrich, Johann August Heinrich: Institutiones logicae et metaphysicae. Jena 1785. – Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit. Jena 1788. [Vogel, Paul Joachim Siegmund:] Glaubensbekenntniß eines deutschen Dorfschulmeisters, die Gewißheit von dem Daseyn Gottes betreffend, gegen die Kantische Philosophie. In: Der Freund der aufgeklärten Vernunft und wahren Tugend 1 (1787), S. 30–65 [zitiert nach Hausius II 156–174]. Voigt, Johannes: Das Leben des Professor Christian Jacob Kraus […] aus den Mittheilungen seiner Freunde und seinen Briefen. Königsberg 1819 [Repr. 1970]. Waldin, Johann Gottlieb: Untersuchung der Weltreihen und des darauf gegründeten Beweises von der Existenz Gottes. Marburg 1785. – Die Grundsätze der natürlichen Theologie bewiesen, und aus dem Weltgebäude erläutert, nebst ihren neuesten und wichtigsten Streitigkeiten. Marburg 1786. Weishaupt, Adam: Ueber Materialismus und Idealismus. Ein philosophisches Fragment. Nürnberg 1786. – Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum. Nürnberg 1788. – Ueber die Gründe und Gewisheit der Menschlichen Erkenntniß. Zur Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft. Nürnberg 1788. – Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen. Nürnberg 1788. Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [und Nachfolgern]. 20 Bde. Berlin 1963–2007. – Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu *** [1775]. In: ders.: Werke. Hg. von Fritz Martini/Hans Werner Seiffert. Bd. 3. München 1967, S. 295–349. Will, Georg Andreas: Vorlesungen über die Kantische Philosophie. Altdorf 1788.
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345
Personenregister (Verfasser von Forschungsliteratur wurden nicht in das Register aufgenommen. Kursive Seitenzahlen verweisen auf den Anmerkungsapparat.) Abel, Jacob Friedrich 15, 44, 123–128, 137, 141f., 144, 148, 165, 166, 175, 176, 177, 178, 182, 190f., 206, 244f., 246, 263, 288f. Abicht, Johann Heinrich 166 Adelung, Johann Christoph 173 Alembert, Jean le Rond d’ 275 Archenholtz, Wilhelm von 155 Archimedes 246 Aristoteles 176, 199, 213, 261 Bacmeister, Hartwich Ludwig Christian 225 Bacon, Francis 51f., 199, 246, 247f., 251f., 257, 273, 275, 287, 298f. Baggesen, Jens Immanuel 105 Bahrdt, Karl Friedrich 77, 154, 158f., 204f., 234, 236, 244, 255f. Baldinger, Ernst Gottlieb 160 Bardili, Christoph Gottfried 106 Baumgarten, Alexander Gottlieb 74, 76, 199, 213, 264 Bayle, Pierre 84, 173, 287, 302, 303 Beattie, James 18, 175, 199 Beck, Jacob Sigismund 34, 132 Berens, Johann Christoph 228 Berg, Franz 159, 168, 170, 213, 236, 290, 298 Bering, Johann 39, 73f., 76, 80f., 92, 93, 96, 119, 122, 128, 134–136, 147, 234 Berkeley, George 30, 31, 34, 97, 121, 133, 138, 199 Bertuch, Friedrich Justin 53, 56f., 70, 98, 100 Biester, Johann Erich 27, 55, 84, 86, 94f., 115, 145, 155, 218, 260 Blau, Felix Anton 167 Boie, Heinrich Christian 145, 155, 163, 164
Bonnet, Charles 46, 222 Born, Friedrich Gottlob 39, 73, 93, 125, 147, 153, 163, 165f., 190f., 213, 214, 221, 235, 240, 244, 249, 263, 266, 267, 270, 300 Bougainville, Louis-Antoine de 237 Bouterwek, Friedrich 165 Brandes, Georg Friedrich 164 Breyer, Johann Friedrich 68, 73, 81–83, 93, 109, 117–119, 122, 153, 154f., 159f., 166, 227–229, 230, 232, 239, 259, 292, 301 Budde, Johann Franz 241 Bürger, Gottfried August 161, 163–165, 198f., 202, 212, 217, 228, 235, 238, 240, 243f., 255, 274, 293, 300 Büttner, Christian Wilhelm 162 Buhle, Johann Gottlieb 60, 165, 175 Burke, Edmund 15 Cäsar, Karl Adolph 43, 66, 93, 96, 132, 133, 165 Campe, Johann Heinrich 155, 227 Camper, Pieter 98 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 123 Cicero, Marcus Tullius 64, 220 Coing, Johann Franz 80 Condillac, Étienne Bonnot de 16, 257 Cook, James 99, 237 Crusius, Christian August 140, 174, 210, 241, 289 Danovius, Ernst Jakob 26, 50, 52 Daub, Carl 81 Dawes, Manasseh 90, 287 Descartes, René 137, 199, 223, 264, 278, 287 Diderot, Denis 275 Döderlein, Johann Christoph 51
346 Dorsch, Anton Joseph 167, 169, 173f., 178, 217, 218, 240, 247, 289, 294 Dufresne, Joseph Maria von 189f., 209, 218, 221, 240, 300 Eberhard, Johann August 14, 15, 18, 70, 76f., 102, 182, 228, 229, 234, 244, 285 Eck, Samuel 308 Engel, Johann Jakob 34, 41, 226, 239 Epikur 282 Erhard, Johann Benjamin 35, 93, 242, 268, 284, 300 Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg 183 Erthal, Friedrich Karl Joseph von 167 Erthal, Franz Ludwig von 167 Erxleben, Johann Christian Polycarp 162 Ewald, Johann Ludwig 266 Ewald, Schack Hermann 32f., 48, 65, 93, 183, 259, 260, 270 Feder, Johann Georg Heinrich 15, 17, 19, 29–31, 32f., 34, 37, 39, 66, 69, 70f., 73, 87f., 90–95, 97, 102, 110, 118–123, 125, 127f., 129, 131, 134, 137, 139, 144, 148f., 152, 153, 159, 162f., 165, 166, 168, 170f., 175, 177, 178, 182–184, 186–192, 198, 206, 207, 210f., 213, 219, 221, 231, 233, 240, 241f., 245, 246–248, 253, 269, 284f., 287f., 289, 298, 301, 303 Ferguson, Adam 15 Fichte, Johann Gottlieb 115, 131 Flatt, Johann Friedrich 19, 69, 70, 71, 73, 110, 122, 125, 128, 132, 140, 151, 152, 153, 166, 176, 182, 188f., 213, 218, 226f., 289, 301f. Forster, Georg 15, 29, 83, 96, 97–100, 156, 157, 162, 165, 182, 227, 237, 242, 303 Forster, Johann Reinhold 237 Friedrich II., König von Preußen 41 Fülleborn, Georg Gustav 61, 132f., 255, 260, 283f., 296, 300 Garve, Christian 15, 28, 29, 30f., 33f., 40, 42, 63–65, 70, 75, 77, 82, 87, 89, 102, 104f., 109, 176, 196, 212, 219, 222, 223, 225f., 230f., 234, 237, 239, 241, 247, 248, 259, 269, 277f., 284f., 287f., 296, 298 Gassendi, Pierre 287 Gebhard (Berliner Prediger) 175 Gedike, Friedrich 55, 86
Gellert, Christian Fürchtegott 199 Georg I., Herzog von Sachsen-Meiningen 113 Gerard, Alexander 15 Gerhards, Johann Heinrich 167 Goethe, Johann Wolfgang 83, 129, 280 Gottsched, Johann Christoph 84, 281, 302 Griesbach, Johann Jakob 50 Grosser, Samuel 282 Gruner, J.E. 222 Gurlitt, Johann Gottfried 173 Haller, Albrecht von 250, 256 Hamann, Johann Georg 20f., 25–27, 30, 31f., 38, 50, 54f., 56, 61, 63, 64, 70, 73, 76, 79, 80, 81, 87, 95f., 100, 111, 119, 127, 128, 129, 130, 135, 145, 151, 161, 179, 182, 197, 206, 209f., 211, 226, 235, 237, 253, 254, 265–267, 281, 299f., 301 Hartknoch, Johann Friedrich 25–27, 32, 38, 54, 63, 135, 161, 237 Hartley, David 15, 246, 289 Hausius, Karl Gottlob 21 Heinicke, Samuel 60–62, 72, 112f., 127, 157, 199, 204, 205f., 210, 220, 228, 235f., 239, 240, 243, 256, 260, 262, 274, 283, 300 Helvétius, Claude-Adrien 199 Herder, Caroline 31, 54 Herder, Johann Gottfried 9, 20, 25, 26f., 30, 31, 40, 50, 54–59, 61, 63, 79, 98–101, 104, 111, 116f., 129, 134, 150, 156, 168, 182, 191, 194, 206f., 209, 237, 240, 247f., 253, 263, 267, 269, 270f., 275–277, 279, 285, 295, 297 Herz, Marcus 27, 41f., 215, 224, 234, 238 Heydenreich, Karl Heinrich 117, 165 Heyne, Christian Gottlob 39, 98, 162f., 164f., 242 Heyne, Therese 99 Hippel, Theodor Gottlieb 79 Hissmann, Michael 29, 39, 70 Hobbes, Thomas 200f. Hoffmann, Adolf Friedrich 241 Hoffmann, Friedrich Christian 228 Home, Henry 15 Hübner, Lorenz 169 Hufeland, Gottlieb 68–72, 105f., 160, 210 Humboldt, Wilhelm von 74, 142, 144 Hume, David 15, 21, 47, 49, 84, 91f., 130, 137, 170, 172f., 197, 199, 231f., 253f., 257, 273f., 280f., 286, 290–292, 293 Hutcheson, Francis 18
347 Ith, Johannes 60, 85 Jacobi, Friedrich Heinrich 20f., 27, 55, 57, 73, 76, 78f., 80f., 83–88, 95f., 99, 102f., 108–112, 114f., 118, 119, 127–133, 135, 137, 140, 145, 151, 154f., 165, 173, 177, 178, 182, 184, 191, 226f., 235, 244, 255, 266, 269, 285, 294, 301 Jakob, Ludwig Heinrich 74–78, 79, 86, 89, 90, 93, 95, 96, 109, 118f., 132f., 134, 136, 149, 153, 155, 164f., 166, 186, 198, 200, 212f., 217, 221, 223, 228, 230, 236, 240, 244, 254f., 260, 269, 274, 279, 289 Jean Paul 47f., 222, 230, 267 Jenisch, Daniel 24, 66f., 105, 145f., 147, 149, 155f., 163, 172f., 200, 227, 240, 261, 274, 294f. Jung-Stilling, Heinrich 45f., 146f., 300 Kästner, Abraham Gotthelf 162, 163 Kant, Immanuel – Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) 256 – Monadologia physica (1756) 250 – Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) 250, 278 – Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre 1765–1766 (1765) 221 – Träume eines Geistersehers (1766) 238 – De mundi sensibilis (1770) 42, 250 – Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Aufl. 1787) 3f., 13–15, 25–29, 32–35, 37f., 40, 41, 42, 43, 44–47, 48, 49–53, 54, 56, 59f., 62, 63, 64–68, 70, 72, 75, 77f., 81f., 83, 85, 87, 92f., 96, 101–103, 104, 107, 111, 114, 118f., 133, 134, 135–141, 146–148, 150f., 157, 163, 164, 172, 175, 176, 177, 189f., 193f., 196f., 199–202, 204f., 207–210, 212, 213, 215–217, 220, 222–225, 227f., 229f., 231, 233–236, 237, 238–244, 249–251, 253, 255, 258f., 265, 266–268, 272f., 276, 278, 279, 281, 283, 284f., 286, 288, 289f., 292f., 295f., 298–300 – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) 12, 14, 27, 31f., 34–38, 42, 43, 44, 63, 65f., 72, 79, 97, 114, 119, 126, 136, 138f., 152, 167, 176, 212, 215, 220, 225f., 230, 231–234, 239, 249, 258, 260, 268, 271f., 279f., 286, 289, 291, 299
– Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) 55, 59 – Rezension zu Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785) 55–57, 59, 101, 116f., 194, 276 – Erinnerung des Rezensenten der Herderschen Ideen (1785) 58f. – Über die Vulkane im Monde (1785) 161 – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 14, 53, 62–67, 70, 72, 79, 94, 95, 118, 132, 138, 142, 146f., 148, 149, 151, 155, 211, 216, 234, 258f., 261, 272, 278, 283, 286, 296f., 300 – Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) 55, 97, 100 – Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) 55, 97, 279 – Rezension zu Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (1786) 71f. – Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) 14, 160–162 – Einige Bemerkungen von Herrn Professor Kant [aus Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden] (1786) 76, 86 – Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786) 86f., 95, 118, 128f., 155, 285 – Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) 156f., 278 – Kritik der praktischen Vernunft (1788) 14, 46, 65, 87, 95, 134, 147–151, 153, 154, 185, 209, 211, 218, 224, 243, 258f., 261f., 266, 278f. – Kritik der Urteilskraft (1790) 156 – Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) 234 – Die Metaphysik der Sitten (1797) 147 – Preisschrift Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff (1804) 231, 293 Kapp, Johann Erhard 303 Kausch, Johann Joseph 15, 31, 35, 43, 126f. Kiesewetter, Karl Christian 165, 166 Kleuker, Johann Friedrich 18, 111–113, 129, 265 Klewiz, Wilhelm Anton 35, 40f., 46, 77f., 89, 109, 230, 266
348 Knoblauch, Karl von 157, 160f., 199f., 244 König, Johann Christoph 158 Körner, Christian Gottfried 106, 240, 301 Kolumbus, Christoph 256, 257 Kosmann, Johann Wilhelm Andreas 43 Kraus, Christian Jacob 92, 96, 100, 101, 112, 134, 212, 299 Kreil, Anton 182, 257 Krug, Wilhelm Traugott 60 Kypke, Georg David 248, 252 Lambert, Johann Heinrich 214, 215, 235 Lange, Joachim 241 Lange, Johann Wilhelm 74 Lavater, Johann Caspar 84, 85, 129 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 47, 68, 69, 76, 89, 146, 171, 173, 199, 210, 213, 214, 223, 228, 234, 264, 275, 281, 290f. Lenz, Christian Ludwig 65f., 300 Lenz, Karl Gotthold 65, 165, 255 Lessing, Gotthold Ephraim 49, 78, 108, 228 Lichtenberg, Georg Christoph 161f., 164, 184, 212, 265 Lindner, Gottlob Immanuel 79 Linné, Carl von 275 Locke, John 16f., 19, 37, 41, 69, 171, 173–177, 185, 197, 210, 234, 240–243, 246, 247f., 252, 254, 268, 270, 286, 292–294 Lossius, Johann Christian 35f., 37, 71, 72, 166, 269 Luther, Martin 172, 300 Maimon, Salomon 131 Malebranche, Nicolas 264 Meier, Georg Friedrich 76, 264 Meiners, Christoph 15, 29, 39, 57, 91–97, 102, 119, 123, 134, 141, 155, 161–163, 171, 178, 182f., 191f., 212–214, 216, 218, 222, 223, 236, 246, 262, 263f., 269, 279, 282, 284f., 290f., 299 Mendelssohn, Moses 18, 28, 34, 39, 41, 43, 60, 70, 72, 74–76, 78f., 82f., 85–89, 103, 108f., 111f., 128f., 131, 159, 167, 173, 175, 203, 205, 210, 213, 215, 222, 224, 226–229, 230, 232, 255, 269, 275, 284f., 287, 291, 292, 294, 295 Merian, Johann Bernhard 46, 222 Merkel, Garlieb 106 Metzger, Johann Daniel 15, 100f., 233, 298 Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm 98, 99
Mieg, Johann Friedrich 147 Müller, Johann Peter Andreas 79, 96, 140f., 207f., 212, 244, 263, 266 Moritz, Karl Philipp 145, 156 Newton, Isaac 199 Nicolai, Friedrich 24, 28, 30, 34, 36, 53, 55, 61, 75, 86, 212 Niethammer, Friedrich Immanuel 106 Novalis 52 Obereit, Jacob Hermann 18, 113–115, 122, 200, 208–210, 274, 285 Oerthel, Johann Adam Lorenz von 47, 230 Oesfeld, Gotthelf Friedrich 163, 300 Ortelius, Abraham 275 Peucker, Johann Gottlieb 21, 127 Pezold, Christian Friedrich 73, 74 Pfenninger, Johann Konrad 84f., 227, 236 Pistorius, Hermann Andreas 12, 15, 24, 31, 34, 35f., 43f., 47, 67, 73f., 89, 95, 97, 109, 110, 122, 125, 131, 133, 139f., 142, 144, 149, 150f., 152, 171, 175, 176, 177, 180, 181, 188–190, 211f., 214, 216, 218, 223, 230f., 233, 245f., 249, 266, 269, 274, 279, 284f., 289, 290 Platon 26, 50, 213, 261, 287, 293 Platner, Ernst 15, 19, 29, 46–48, 51f., 58, 72, 76, 84, 102, 165, 168, 188, 190, 216, 228, 242, 269, 292 Plessing, Friedrich Victor Leberecht 96 Ploucquet, Gottfried 123, 166 Pope, Alexander 52 Priestley, Joseph 199 Pütter, Johann Stephan 40 Recke, Elisa von der 226 Rehberg, August Wilhelm 117, 132, 142–144, 145, 152, 154, 155, 191, 213, 228, 240, 263, 287, 295f. Reichardt, Johann Friedrich 182 Reiche, Carl Christoph 40 Reid, Thomas 18, 21, 49, 130, 199, 246 Reimarus, Elise 226, 285 Reimarus, Hermann Samuel 108, 242f. Reimarus, Johann Albert Heinrich 15, 34, 39, 43, 60, 108–111, 131, 139, 153, 165, 175, 188, 191, 213, 222, 226, 244f., 247, 285 Reinhard, Franz Volkmar 174 Reinhold, Karl Leonhard 3f., 14, 24, 32, 39f., 43, 48, 49, 57f., 60, 68f., 96, 101–109, 112, 115, 117, 129, 133f., 135,
349 144, 153, 155–157, 167, 173f., 184, 188, 190, 200, 202f., 206f., 213, 217, 218, 222, 227, 229–231, 233, 242, 260, 263, 265, 270, 276, 279, 294, 296, 299–303 Reusch, Johann Peter 213 Reuß, Matern 14, 166, 168f., 202, 205, 209, 213, 223, 227, 229, 236, 240, 255, 256 Rhesa, Ludwig Jedemin 308 Roustan, Antoine Jacques 50, 78 Rüdiger, Andreas 241 Ruef, Kaspar 109 Saavedra Fajardo, Diego de 303 Sailer, Johann Michael 169f. Saint-Pierre, Charles Irénée Castel de 299 Sartorius, F. 24, 308 Scheffner, Johann George 61, 267 Schelle, Augustin 169 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 115 Schiller, Friedrich 15, 52, 94, 106, 113, 123, 158, 240, 256, 301 Schlichtegroll, Friedrich 183 Schlosser, Johann Georg 155 Schmid, Carl Christian Erhard 52, 67, 72–74, 93, 107, 113, 118, 127, 180–182, 230, 235, 243f., 259f., 266, 274, 289, 293, 303 Schopenhauer, Arthur 174 Schreiter, Carl Gottfried 34, 84 Schubart, Christian Friedrich Daniel 269 Schubaur, Johann Lukas 189 Schübler, Christian Ludwig 172, 227, 256 Schüren, Elias van der 167, 204 Schütz, Christian Gottfried 30, 39, 43, 47, 49–55, 56, 57–61, 65, 66, 67, 69f., 72, 74, 75, 78, 81, 85f., 92, 93, 95f., 101, 103, 105, 106, 107, 112, 113, 115, 117, 129, 134, 137, 144f., 147, 148, 149, 151, 155, 159, 162, 165, 183, 203, 206, 213, 215–217, 227, 228, 264, 289 Schultz, Johann 21, 28, 32, 35, 42–46, 50, 59, 63, 69, 72, 74, 76, 78, 82, 97, 101, 112, 113, 118, 124f., 127, 132, 135, 137, 138, 144, 145, 147, 149, 152, 164, 167, 168, 186, 200, 202, 205, 208f., 212, 213, 215, 228, 231f., 235, 238, 239, 243, 245, 249, 260, 274, 289, 293 Schulze, Gottlob Ernst 131, 174f., 246, 282f. Schummel, Johann Gottlieb 3 Schwab, Johann Christoph 216 Seiler, Georg Friedrich 66f. Selle, Christian Gottlieb 15, 41, 46, 55, 70, 102, 153, 178–180, 181, 188, 190, 206f.,
212, 219–221, 233, 245f., 253, 266, 267, 284, 285, 297 Semler, Johann Salomo 50, 228 Sextus Empiricus 287 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 18 Smith, Adam 15 Soemmerring, Samuel Thomas 57, 83, 97–99, 227 Sokrates 51, 287 Spalding, Johann Joachim 41, 63, 153f., 211, 218, 285 Spazier, Karl 78f., 82, 88, 249 Spinoza, Baruch de 33, 85f., 115f., 117, 128, 142, 165 Sprengel, Kurt 160f. Sprenger, Placidus 169 Stapfer, Philipp Albert 85 Stattler, Benedikt 169, 209 Steinbart, Gotthilf Samuel 228 Suitnack 127 Sulzer, Johann Georg 232, 269, 277, 292 Tetens, Johann Nikolaus 37, 197, 210, 232, 246f., 250, 253 Thomasius, Christian 241, 287, 291 Tiedemann, Dietrich 15, 29, 38f., 40f., 46, 72, 74, 102, 109, 121, 168, 197f., 218, 233, 245 Tittel, Gottlob August 15, 29, 94f., 97, 141, 149, 151, 167, 168, 172, 175–178, 190f., 211, 213, 218, 231, 240, 243, 246f., 249, 263, 264–266, 269f., 274, 279, 285, 297, 303 Träger, Ludwig Martin 49 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 220 Ulrich, Johann August 51f., 68f., 70, 72, 74, 81, 102, 107, 113, 119, 126, 137, 152, 177, 178, 182, 217, 218, 221, 226, 228, 279f. Vogel, Paul Joachim Siegmund 158, 160, 230, 274 Voigt, Christian Gottlob 39, 48, 70, 102, 106, 276, 279, 299, 301 Voigt, Johannes 92 Voß, Johann Heinrich 164 Waldin, Johann Gottlieb 80, 81, 198, 246, 264 Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 226 Weber, August Gottlob 161
350 Weishaupt, Adam 14f., 29, 33, 177, 178, 182–190, 221, 233, 237, 240, 246f., 249, 257, 266, 269, 274, 284, 285, 291, 293f. Weiße, Christian Felix 105, 219, 298 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 155, 157 Werner, Georg Friedrich 265 Wieland, Christoph Martin 43, 49, 53, 56, 58, 104, 106, 112, 155–157, 275, 276, 280 Wilhelm IX., Landgraf von Hessen-Kassel 81 Will, Georg Andreas 21, 35, 43, 60, 68, 166, 169, 171f., 178, 202, 205, 213, 218, 222, 227, 232f., 236, 238, 259, 261, 274
Wittenberg, Albrecht 110 Wizenmann, Thomas 78, 83–88, 109, 111f., 114, 129, 150, 153, 227, 228, 285, 287 Wolff, Christian 3, 15, 18f., 20, 47, 69, 76, 78, 89, 144, 146, 152, 173, 199, 214, 223, 228, 241, 264, 269, 275, 281, 290f., 293, 295 Wolzogen, Caroline von 106 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm 98 Zimmermann, Johann Georg 113
351
Nachwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2008 von der Neuphilologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde. Danken möchte ich vor allem Prof. Dr. Georg Braungart (Tübingen) für die jahrelange Unterstützung und Betreuung der Arbeit. Mein Dank gilt sodann den Mitgutachtern im Promotionsverfahren, deren kritische Hinweise zum Teil in die Druckfassung eingingen: Prof. Dr. Ralph Häfner, Prof. Dr. Manfred Frank (beide Tübingen) und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (München). Letzterem bin ich auch für die Aufnahme der Studie in die Reihe Frühe Neuzeit verpflichtet. Lukasz Zywulski (Universitätsbibliothek Thorn) danke ich für Hilfe bei der Beschaffung von Quellenmaterial. Das Entstehen des Buches wurde in der Anfangsphase durch ein Promotionsstipendium des DFG-Graduiertenkollegs ›Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext‹ der Justus Liebig Universität Gießen gefördert. Den Mitgliedern des Kollegs danke ich für Hinweise und Anregungen, ebenso besonders auch den folgenden Personen: Stefan Deines, Stephan Hager, Axel Hof, Stefan Knödler, Julia Mansour, Wiard Raveling, Katrin Rosner, Stefan Schuch, Dietmar Till, den Teilnehmern von Friedrich Vollhardts Oberseminaren und vor allem Sandra Heinen. Tübingen, im Juli 2010
Lutz-Henning Pietsch