Anne LeClaire
Tür an Tür
scanned by AnyBody corrected by Yfffi
Die Würfel sind gefallen. Zumindest für die zwanzigjäh...
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Anne LeClaire
Tür an Tür
scanned by AnyBody corrected by Yfffi
Die Würfel sind gefallen. Zumindest für die zwanzigjährige Opal, die wild entschlossen ist, ihren Freund zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Und da die Würfel die Zahl Drei zeigen, steht fest, dass sie sich mit ihrem kleinen Sohn genau dort niederlassen wird, wohin drei Tankfüllungen sie bringen, ihr neues Zuhause ist ein kleiner Ort in Massachusetts. Doch Freundschaften zu schließen ist schwieriger als gedacht. Für Nachbarin Rose ist Opal entschieden zu jung, zu laut und zu verrückt. Erst in einer Notsituation bricht das Eis zwischen den beiden Frauen, und sie kommen sich Schritt für Schritt näher. Originalausgabe »Entering Normal« Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum 2002, Buchgemeinschaft Donauland Umschlag- und Einbandgestaltung: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung eines Fotos von Eye Wire/Getty Images
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext Als die junge Opal mit dem kleinen Zack ins Haus neben Rose einzieht, ist das ein schwarzer Tag für die ältere Nachbarin. Seit dem tödlichen Unfall ihres halbwüchsigen Sohnes hat sie sich von der Außenwelt abgekapselt und ist am liebsten mit ihrer Trauer allein. Tür an Tür mit dieser verrückten Person zu leben, die noch dazu ganz unverhohlen ihre Mutterfreuden genießt, ist für Rose eine Qual. So ignoriert sie die neuen Nachbarn und meidet jeglichen Kontakt. Opal kämpft unterdessen mit eigenen Problemen. Sie wird nicht nur von ihrem Ex-Freund angefeindet, sondern auch von ihrer dominanten Mutter. Als deren Versuche scheitern, Opal zur Rückkehr zu bewegen, setzen sie alles daran, ihr Zack wegzunehmen. Ausgerechnet in dieser Situation unterläuft Opal ein Missgeschick, das ihr zum Verhängnis zu werden droht wäre da nicht Rose, die ihr mit einer Notlüge aus der Patsche hilft. Ein gefühlvoller Roman über Liebe und Verlust, aber vor allem über das langsame Wachsen einer wunderbaren Freundschaft.
Autor Anne LeClaire arbeitete als Journalistin für den Rundfunk und Tageszeitungen bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Sie hat mehrere Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit unterrichtet sie Creative Writing. Sie lebt mit ihrer Familie in Cape Cod, Massachusetts.
In Erinnerung an Sandra Lee
Just give me one thing that I can hold on to To believe in This living is a hard way to go. »Angel from Montgomery« John Prine
PROLOG Die Sonne hat sich den ganzen Tag nicht richtig durchsetzen können. Jetzt bricht sie in dünnen Strahlen durch die Wolken – Gottes Finger hat Gran Gates das immer genannt. Opal freut sich über die Finger. Sie stellen eine himmlische Hand dar, die sie vorwärts winkt, und wenn Opal auch die Erste wäre, die einem versichern würde, dass sie nicht an Gott glaubt, schon gar nicht an den presbyterianischen Gott ihrer Großmutter, betrachtet sie die Finger doch gern als ein Zeichen, dass die Sterne auf ihrer Seite sind. Opal lebt nach Zeichen. Sie verlässt sich auf sie, so wie andere Menschen auf den Himmel oder die Wettervorhersage oder die Möglichkeit niemals endender Liebe vertrauen. Sie glaubt ohne jedes Wenn und Aber an sie und hält an ihrer Überzeugung fest, ganz gleich wie viele Leute die Meinung kundtun, es gebe keine Zeichen, die einem die Zukunft voraussagen können, keine Omen, die einen vor jenen Katastrophen warnen, die man sein Leben lang mit aller Gewalt zu vermeiden versucht – oder gerade eben sucht. Sie hat innerhalb von zwei Tagen sechs Staaten durchfahren und befindet sich jetzt auf dem mittleren Abschnitt des Massachusetts Tumpike, völlig überdreht von zu vielen Schokoriegeln und zu viel Drive-Through-Kaffee aus dünnen Pappbechern. Vom Schlafmangel brennen ihr die Augenlider. Sie hofft, dass sie direkt nach Norden fährt, wird allerdings -5
das Gefühl nicht los, dass sie irgendwo in New York falsch abgebogen ist. Wenn Billy dabei wäre, hätte er garantiert unterwegs eine Straßenkarte gekauft, aber Opal ist das zu blöd. In dieser Hinsicht entsprechen sie beide nicht ihren Geschlechtsrollen, Er is t ein Mann und begibt sich bereitwillig in Abhängigkeit; sie ist eine Frau und hasst das wie die Pest. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich geirrt hätte. Mit ihren zwanzig Jahren hat sie bereits verdammt oft die falsche Richtung eingeschlagen, aber letztlich hat sie es nie bereut. Schon gar nicht den Fehltritt, der ihr Zack eingebracht hat. Billy, okay, das war ein gigantischer Fehler. Aber Zack nicht. Auf gar keinen Fall. Und somit in gewissem Sinne auch Billy nicht. Sie wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, lässt die Augen länger als vernünftig auf ihrem fünfjährigen Sohn ruhen, der auf der Rückbank sitzt. Er ist zwischen den Kartons mit dem Material für ihre Puppen und den paar Habseligkeiten, die sie einzupacken gewagt hat, eingedöst, das Granatapfelmündchen leicht geöffnet, das Kinn schokoladenverschmiert. Selbst im Schlaf hält er seinen Plüschtiger fest umklammert. Bei seinem Anblick spürt sie ein vertrautes Ziehen im Magen – der scharfe, süße Schrecken des Mutterseins. Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu und sieht im Seitenspiegel ein Auto aufschließen. Sie nimmt den Fuß vom Gaspedal, wirft einen Blick auf den Tacho. Sie fährt langsamer als erlaubt, trotzdem atmet sie erst wieder ruhiger, als der Wagen näher gekommen ist und sie sehen kann, dass es weder ein Polizeiauto noch Billys schwarzer Pickup ist. Während sie abbremst und den Wagen überholen lässt, muss sie wieder daran denken, dass die Hölle los sein wird, wenn ihre Eltern erfahren, was sie getan hat. »Hast du ihnen gesagt, dass du wegfährst?«, hat Billy sie am Abend vor ihrer Abreise gefragt. »Ja.« »Und sie wissen auch, wo du hinfährst?« Wieder hat sie gelogen, Ja gesagt. Sie hat ihnen natürlich nichts von ihren -6
Plänen erzählt. Schon gar nicht ihrer Mama. Sie weiß mit deprimierender Gewissheit, wie Melva reagiert hätte, kann ihre abschätzige, selbstgerechte Tirade förmlich hören: Sie wären ja wieder mal so enttäuscht von ihr, sie sei ja dermaßen rücksichtslos und unverantwortlich, es sei doch immer das Gleiche mit ihr. Der dumpfe Nachhall von Melvas Stimme umkriecht sie wie kalter Nebel. Sie öffnet das Fenster einen Spaltbreit, um frische Luft hereinzulassen, durchzuatmen. Billy hat sie erzählt, dass sie ein bisschen Abstand braucht, Zeit zum Nachdenken. Sie werde mit Zack nach Ohio fahren, zu einer Tante, einer Schwester ihres Daddys. In Wirklichkeit hat sie keine Ahnung, wohin sie unterwegs ist. Wenn sie allein wäre und nicht an Zack denken müsste, dann wäre sie einfach so lange gefahren, bis ihr ein Zeichen gesagt hätte: Das hier ist der richtige Ort. Aber mit Zack, das war klar, brauchte sie einen konkreten Plan. Und deswegen hat sie am Abend vor ihrer Abreise mit einem der Würfel von Billys Monopoly-Spiel gewürfelt. Sie hat eine Drei geworfen. Ein gutes Zeichen. Sechs wäre für Zack zu viel gewesen, eins nicht mal ansatzweise genug für sie. Sie wird also fahren, bis sie drei Tankfüllungen aufgebraucht hat – exakt drei, nicht mehr und nicht weniger, selbst wenn sie schon nach zweieinhalb Tankfüllungen irgendwohin kommt, wo es viel versprechend aussieht. Sie hat den Würfel als Glücksbringer mitgenommen, er liegt auf dem Armaturenbrett, zwischen einem halben Dutzend Happy-Meal-Figürchen, einem leeren Kaffeebecher, einer gelben Plastikrose, die sie aus dem Blumenarrangeme nt im Flur ihrer Grandma geklaut hat, und einem pyramidenförmigen Amethyst, in dem angeblich ein Stückchen echter Opal eingeschlossen ist. Sie überprüft die Tankanzeige. Die Nadel nähert sich der Null, die letzten paar Liter der dritten Tankfüllung. Sie versucht ihre Gedanken darauf zu richten, eine Ausfahrt oder irgendein Zeichen zu entdecken, das ihr den nächsten Schritt weisen wird. Wenn ihr Glaube sich auszahlt, -7
dann wird sich bald eins zeigen. Billy nervt Opals Glaube an Zeichen. Er findet ihn dämlich und kann es nicht lassen, ihr seine Meinung aufzudrucken. »Raylee«, sagte er kurz vor Zacks Geburt zu ihr, damals, als sie ihren Namen noch nicht geändert hatte, »Raylee, du kannst nicht dein ganzes Leben damit verbringen, nach Zeichen Ausschau zu halten. So was Blödes hab ich echt selten gehört.« »Es ist überhaupt nicht blöd«, hat sie gesagt. »Kapier das doch mal, Billy Steele. Es ist überhaupt nicht blöd. Irgendwann wirst du’s schon sehen. Wart’s nur ab.« »Wie soll ich irgendwas sehen, wenn ich nicht an das glaube, was ich sehe?« »Genau das meine ich ja. Du wirst nicht darauf vorbereitet sein.« Sie will gar nicht daran denken, wie oft sie dieses Gespräch in den letzten sechs Jahren geführt haben. Zwar hat sie den Versuch aufgegeben, ihn davon zu überzeugen, dass es überall Zeichen gibt und man nur die Augen aufmachen und hinsehen muss, Zeichen, die wichtige Informationen enthalten, doch an ihrem eigenen Glauben ändert das nichts. Was gibt es denn letztlich auch für Alternativen? Die Wolken haben sich inzwischen verzogen, und die Sonne knallt auf die Motorhaube des Buick. Sie kurbelt das Fenster ein bisschen weiter herunter, wirft noch mal einen prüfenden Blick auf die Rückbank. Eigentlich brauchte sie jetzt Musik, etwas Beschwingtes, doch zugleich Entspanntes. Taj Mahal wäre zur Beruhigung ihrer koffeingeplagten Nerven genau das Richtige, doch sie zögert, denn sie befurchtet, die Musik könnte Zack aufwecken. Und dann, als die Nadel der Tankanzeige eben zitternd in den roten Bereich schwenkt und sie ein Stoßgebet gen Himmel schickt, sie möge doch bitte die nächste Ausfahrt erreichen, bevor der Tank leer ist, genau in diesem Moment sieht sie das Schild: NÄCHSTE AUSFAHRT: NORMAL. Sie lacht laut auf, und das -8
Klümpchen, das in ihrer Brust saß, seit sie Zack angeschnallt und New Zion verlassen hat, diese harte kleine Erbse verschwindet mit einem Mal. Als sie den Blinker betätigt und den Wagen nach rechts auf die Abbiegespur lenkt, verspürt sie den Adrenalinstoß des Spielers, diesen plötzlichen Schub, den man erlebt, wenn man alles auf eine Karte gesetzt hat und gewinnt. Zweieinhalb Tage lang hat sie über die Konsequenzen ihrer Handlungen nachgedacht, doch als jetzt ihr alter Buick die Autobahnausfahrt hinunter- und auf ein neues Leben in einer Stadt namens Normal zurollt, ist es ihr plötzlich egal, was Billy oder ihre Eltern sagen werden. »Ich hab’s getan«, sagt Opal laut. »Ich hab’s echt getan – scheiß auf die Konsequenzen.« Sie bewegt sich auf irgendetwas zu, und obwohl sie nicht genau weiß, auf was, vertraut sie darauf. Die Last der letzten sechs Jahre regt sich, hebt sich von ihren Schultern, und ohne sich auch nur erinnern zu können, wann sie diese Empfindung zum letzten Mal hatte, spürt Opal so ein Mittelding zwischen Seligkeit und Sodbrennen in der Brust, das womöglich echte Hoffnung ist.
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HERBST
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KAPITEL 1 ROSE Ned schnarcht, ein dumpfes Grollen aus der Tiefe seiner Brust. Sein Arm liegt quer über Roses Rippen, und sie atmet gegen das Gewicht an, gegen den Druck, der ihr in letzter Zeit stärker als früher vorkommt. Irgendwann im Sommer hat sie mal vorgeschlagen, zwei Einzelbetten anzuschaffen, doch er hat ziemlich scharf darauf reagiert. Typisch Ned. »Bist du verrückt geworden?« Sie hat ihm erklärt, dass sein Arm sie beim Atmen behindert, dass sie sich eingezwängt fühlt. »Wir schlafen seit fünfunddreißig Jahren in einem Bett, Rose«, sagte er und schaute sie mit festem Blick an. »Kannst du mir vielleicht sagen, wann mein Arm so schwer geworden sein soll?« Da sie diesem Thema nicht bis zur letzten Konsequenz nachgehen wollte, ließ sie es fallen. Er schnarcht wieder, ein langes kehliges Schnaufen mit einem kleinen Aussetzer zwischendurch, so als würde er seinen Atem verschlucken. Ein Wunder, dass nicht mehr Frauen ihre Männer umbringen. Im Halbschlaf stellt sie sich vo r, wie sie nach dem Kopfkissen greift und es ihm auf den offenen Mund presst. Was ist bloß los mit ihr, dass sie auf solche Gedanken kommt? Ned ist ein guter Mann. Sie will gar nicht daran denken, was sie ohne ihn täte. Sie stupst ihn in die Seite, nur leicht, damit er aufhört zu schnarchen, ohne aufzuwachen. Das fehlt ihr gerade noch, dass er jetzt aufwacht und sie fragt, ob irgendwas nicht stimmt. Stimmt irgendwas nicht? Diese Frage will sie von ihm nicht gestellt bekommen nicht wenn all das, was nicht stimmt, wie Rauchschwaden durchs Zimmer wabert und über ihr hängt. Die Digitalanzeige des Weckers auf dem Nachtschränkchen zeigt 1:40 an, leuchtende rote Ziffern, die sie an Augen erinnern, die wachsamen Augen -11
eines Nachttiers. Die Anzeige springt auf 1:41 um. Hätten sie doch bloß noch ihren alten Wecker mit den Zeigern, den man nicht jedes Mal neu stellen musste, wenn mal der Strom ausfiel. Ganz vorsichtig hebt sie Neds Arm von ihrem Brustkorb und kratzt sich heftig am Bauch. Es ist immer noch da. Es ist größer geworden. Vielleicht. Die juckende Stelle ist Ende September aufgetaucht, in der Woche, als Opal Gates und ihr Sohn nebenan einzogen. Zuerst dachte Rose, es sei ein Insektenstich oder einfach trockene Haut, wo sie jetzt abends doch immer die Heizung anstellen. Gestern hat sie sich die Stelle schließlich widerwillig angeschaut – sie sieht sich ihren Bauch nicht gern an und konnte selbst ohne ihre Lesebrille die kleine Erhebung direkt über dem Muttermal erkennen. Eine rötliche Schwellung am oberen Rand des braunen Mals. Eindeutig ein Stich, entschied sie und verdrängte die düstereren Alternativen, die ihr in den Sinn kamen, wenn sie an die Krebsvorsorgebroschüren in Doc Blessings Wartezimmer dachte, die in fetter Schrift die sieben Todsünden auflisteten. Sie glaubt nicht, dass es etwas Schlimmes ist. Wenn etwas Entscheidendes im eigenen Körper vorginge, wüsste man das doch. Nein, es ist bloß ein Insektenstich, ganz bestimmt. Es ist Oktober, ein bisschen spät für Stechmücken, aber der Herbst ist dieses Jahr sehr mild, erst Ende September hat es den ersten Frost gegeben. Sie liegt im Dunkeln und muss plötzlich an die Mückenstiche denken, die sie als Mädchen immer in den Sommern am Crystal Lake hatte, dicke Hubbel, die sich auf ihren Armen, Beinen und Knöcheln ausbreiteten, bis sie aussah, als hätte sie eine Tropenkrankheit. »Nicht kratzen«, sagte ihre Mutter jedes Mal, wenn sie ihr Galmei- Lotion auf die Stiche tupfte, »davon wird es nur schlimmer.« Sie kratzte, bis die Stiche bluteten. Und dann, in dem Sommer, als sie sechzehn war, verliebte sie sich in den Cousin ihrer besten Freundin und hörte mit einem Mal auf zu kratzen. Stattdessen drückte sie den Daumennagel direkt in die Schwellung und dann im rechten Winkel noch einmal, so -12
dass sich ein Kreuz darin abzeichnete, ihr Zaubermittel, viel besser als Galmei- Lotion. Gott, daran hat sie seit Jahren nicht mehr gedacht. Rachels Cousin. Dieser schmale, dunkle Bursche, der von auswärts kam und alle Mütter ganz nervös machte. Wie hieß er noch gleich? Randy? Roy? Vergeblich fischt sie in den Tiefen ihrer Erinnerung nach seinem Namen. Doch auch wenn sie den Namen nicht zu fassen kriegt, sein Bild steigt in ihr auf, als hätte sie ihn erst letzte Woche gesehen. Es war der Sommer von Elvis – noch so einer, der die Mütter nervös machte –, und genau wie der Sänger trug auch er sein Haar in einer Tolle. Er fuhr Motorrad und war immer ganz in Schwarz gekleidet, auch im Sommer. Rose erinnert sich noch an seine Lederjacke mit den Reißverschlüssen am Handgelenk. Was sie für den riskierte. Sie erinnert sich noch an den Abend, als sie ihre Mutter anlog – das erste Mal, wenn sie sich recht entsinnt, dass sie die Unwahrheit sagte; sie erzählte ihr, sie ginge zu Rachel, und radelte dann auf ihrem blauen Raleigh an den See, wo er sie erwartete. Als er sie küsste, schob sich seine Zunge fordernd zwischen ihre Lippen, was sie mit einer verwirrenden Mischung aus Angst und Verlangen – erschreckendem, heißem Verlangen, erfüllte, bis sie ihm schließlich ihren Mund öffnete. Als könnte Ned sogar im Schlaf ihre Gedanken lesen, senkt sich sein Arm wieder auf ihren Brustkorb nieder und umschließt ihn. An genau derselben Stelle am Crystal Lake, im Duft der Kiefern und ihres Parfüms, hat Ned um ihre Hand angehalten. Zwei Jahre nachdem sie den Jungen mit der Elvis-Frisur geküsst hatte, lag sie in Neds Armen, ließ sich von ihm streicheln, hörte, wie er ihr ewige Liebe schwor, und erwiderte dieses Versprechen von ganzem Herzen. Ewig. Was ist ewig? Wie lang ist es her, dass sie noch daran glaubte, man könne etwas oder jemanden bis in alle Ewigkeit festhalten? Wie hätte sie damals wissen können, dass Liebe nicht so widerstandsfähig ist, wie man meinen sollte? Dass Verluste und Schmerz, ja das Leben schlechthin einen -13
höheren Tribut fordern, als sie es je für möglich gehalten hätte? Dass Neds sehnige Arme, die sie an jenem Sommerabend am See so zärtlich hielten, im Laufe der Jahre zu einer Last werden würden? Crystal Lake. In ihrer Kindheit, lange bevor sie in Neds Armen lag oder einen gefährlichen dunkelhaarigen Jungen küsste, dessen Namen sie vergessen hat, Jahre bevor sie Todd im See das Schwimmen beibrachte, gingen Rachel und sie dort immer Schlittschuhlaufen. Einmal ließ sie beim Schnüren ihrer Schlittschuhe einen ihrer Handschuhe fallen, einen roten Fäustling, den ihre Großmutter gestrickt hatte, und einer der älteren Jungs schnappte ihn sich und lief damit fort. Als sie abends nach Hause ging, waren ihre Finger von der Kälte gefühllos geworden. Zuerst tat es nicht weh, nur ein leichtes Prickeln, so als wären sie eingeschlafen, doch als ihre Mutter ihre Finger dann zwischen die Hände nahm, sie warm rubbelte, die Taubheit aus dem kalten Fleisch rieb, da fingen sie richtig an zu schmerzen. Das Jucken ist stärker geworden. Sie hebt vorsichtig Neds Arm, schiebt sich aus dem Bett, ist fast draußen. »Was’n los?« »Muss aufs Klo. Schlaf weiter.« Sie bleibt stocksteif stehen, wünscht sich mit aller Kraft, dass sein Atem wieder in dieses tiefe gleichmäßige Schnaufen übergeht, und tastet sich dann, von der Nachtbeleuchtung am Treppenabsatz geleitet, zum Flur. Im Halbdunkel lockt der undeutliche Umriss von Todds Zimmertür, und sie ist kurz davor, schwach zu werden, sich in sein Zimmer zu setzen und zu warten. Sie hat es lang nicht mehr getan. Es ist Monate her, seit sie das letzte Mal dort saß und auf ein Zeichen von Todd hoffte. Darauf hoffte, nicht darum betete. Den Glauben an die Macht von Gebeten oder an Gott hat sie längst verloren; das Einzige, woran sie sich noch festhalten kann, ist die Hoffnung, und selbst die schwindet langsam dahin. Fünf Jahre. Wenn sie irgendein Zeichen von ihm empfangen, -14
irgendeine Verbindung spüren soll, wäre das dann nicht längst geschehen? Doch das Schwinden ihrer aktiven Hoffnung führt nicht etwa zu neuer Tatkraft oder innerem Frieden, wie es doch denkbar gewesen wäre, sondern nur zu noch tieferem Schmerz. Sie befürchtet, dass dieser Mangel an Hoffnung sie der Gefahr, ihn endgültig zu verlieren, um einen weiteren Schritt näher bringt. Nur die Erinnerung und ihre Trauer sind ihr geblieben, und selbst die Erinnerung schwindet nach einer Weile. Trotz ihrer Bemühungen, ihn im Gedächtnis zu behalten, beginnt er langsam zu verblassen. Im Bad erhascht sie einen Blick auf ihr Spiegelbild und sieht – ohne Brille – eine jüngere Ausgabe ihrer selbst, das Gesicht entschlossener, ohne Falten. Sie versucht derzeit zu lernen, sich mit korrigierter Wahrnehmung zu betrachten, ihr alterndes Gesicht bewusst als solches zu sehen, ein Gesicht, das mehr und mehr dem ihrer Mutter ähnelt. Sie öffnet das Medizinschränkchen, nimmt die kleine Flasche Jergens Lotion heraus und schmiert sich den Bauch ein, was für einen Moment das Jucken des Muttermals lindert. Sie stellt die Lotion wieder zurück und fährt automatisch mit der Hand über den Waschtisch. Das grüne Resopal ist von schwarzen Pünktchen übersät, das Muster ein Fehlgriff. Die dunklen Sprenkel erinnern sie an die Stoppel auf dem Waschbeckenrand, wenn Ned sich rasiert hat. Auf dem Rückweg ins Schlafzimmer wirft sie einen Blick auf die Straße hinaus. Nebenan im Haus der Montgomerys sind die Wohnzimmerfenster noch hell erleuchtet. Um diese Zeit. Es ist fast zwei Uhr. Wenn Louise Montgomery noch dort wohnen würde, wäre Rose jetzt versucht, anzurufen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei, aber sie hat nicht die geringste Absicht, sich mit diesem Mädchen einzulassen. Trotzdem was macht sie da bloß mitten in der Nacht? Wann schläft sie eigentlich? Im Prinzip, denkt Rose, sollte sie es wohl als tröstlich empfinden, dass Opal Gates noch wach ist, dass sie nicht die Einzige ist, die -15
nicht schlafen kann, aber sie spürt keinerlei nächtliche Verbundenheit mit ihrer Nachbarin, in den paar Wochen seit Opals Einzug ist hinlänglich klar geworden, dass dieses Mädchen das Unglück gepachtet hat. Ein Blick genügt, und man hat die ganze Geschichte vor sich. Es ist nicht zu übersehen. Mädchen wie Opal ziehen Probleme an wie ein Magnet. Sie wendet sich vom Fenster ab und geht zurück zum Bett. Ned schnarcht friedlich. Die Lotion hat ihr nur vorübergehend Erleichterung verschafft, und sie kratzt sich noch einmal kurz am Bauch. Vielleicht ist es eine Allergie. Oder Gürtelrose. Gürtelrose. Was für ein seltsamer Name für eine Krankheit. Wer entscheidet überhaupt, wie Krankheiten genannt werden? Eine entfernte Cousine von ihr in Athol hatte Gürtelrose. Sie war mit einem Farmer verheiratet, einem nervösen kleinen Mann, der sich ständig Sorgen machte. Wobei es die Frau war, die das große Jucken bekam. Sie versucht sich in Erinnerung zu rufen, was sie über Gürtelrose gehört hat – sobald die entzündete Haut den Oberkörper wie ein Ring umschließt, stirbt man, irgend so was. Stimmt das, oder ist es bloß eins dieser Ammenmärchen? Sie meint sich zu erinnern, dass ihre Cousine an einem Herzinfarkt gestorben ist, ohne das allerdings beschwören zu können. Sie zieht langsam ihr Nachthemd hoch und riskiert zwei oder drei kräftige Kniffe. Ned rührt sich nicht, Gott sei Dank. Sie will nicht, dass er sie fragt, warum sie sich so kratzt. Wenn er es wüsste, würde er garantiert sofort das Kommando übernehmen, und dann säße sie im Handumdrehen bei Doc. Sie schwankt. Vielleicht sollte sie ja doch hingehen? Aber das Jucken ist nachts stärker. Und wenn es wirklich etwas Ernstes wäre, hätte sie dann nicht auch tagsüber Probleme? Sie muss nur die Nacht überstehen, nur daran denken, dass der Morgen bald anbrechen wird, dann ist alles in Ordnung. Sie hat nicht die geringste Lust, zu Doc zu gehen. Nach dem Unfall, als sie nicht kochen und auch sonst kaum Hausarbeit tun, geschweige denn Neds Berührung ertragen -16
konnte, verschrieb Doc ihr für einige Zeit kleine gelbe Pillen. Rose wollte sie nicht nehmen, aber Ned beharrte darauf, und so gab sie schließlich klein bei. Es waren winzige, achteckige Pillen, die stärker waren, als ihre Größe es vermuten ließ, und die dazu führten, dass alles, was Rose sah, ihr fahl und gelblich erschien. Wabernd, stumpf. Nach einer Weile war das schlimmer als alles andere, und sie hörte auf, die Pillen zu nehmen. Außerdem sind all diese Medikamente pure Chemie, und sie traut der Chemie nicht. Wer weiß schon, was das Zeug in einem anrichtet? Nein, denkt sie, es ist besser, zu warten und Ned nichts von dem rot geränderten, juckenden Muttermal wissen zu lassen. Sie dreht den Kopf auf dem Kissen und betrachtet ihren Mann, studiert seine Gesichtszüge im fließenden Mondlicht. Selbst im Schlaf sieht er noch müde aus. Sie braucht keine Brille, um die tiefen Falten zu sehen, die sich in die Haut zwischen seinen Augen eingegraben haben, die Furchen zwischen Nase und Kinn. Er ist siebenundfünfzig. Wir werden alt, denkt sie. Fast wird ihr warm ums Herz. Manchmal fragt sie sich, warum für Ned alles so einfach ist. Ist er denn nicht wütend, weil ihnen so viel genommen worden ist. schlichte Dinge, auf die sie wirklich ein Anrecht gehabt hätten: dass Todd erwachsen wird, heiratet, selbst Kinder bekommt? Seit fünf Jahren registriert sie all die festlichen Anlässe, die doch nie stattgefunden haben, bittere Jahrestage, die ihren quälenden Schmerz am Leben halten, ohne dass sie sich an deren Wahrnehmung hätte hindern können: Todds Schulball. Seine Abschlussprüfung an der Highschool. Der Herbst, in dem er aufs College gegangen wäre. Denkt Ned denn nie an diese Dinge? Einmal, vor drei Jahren, als sie sich gerade stumpf irgendeine Fernsehsendung ansahen, platzte sie plötzlich heraus: »Jetzt wäre er auf dem College!« »Herrgott!«, rief Ned. Der grüne Liegesessel schnellte in die aufrechte Position, und Ned stampfte aus dem Zimmer. Für ihn war Todd ein abgeschlossenes Kapitel, aus und vorbei. Männer -17
sind einfach anders, sinniert sie. Obwohl, wenn sie an Claire Covington denkt – schon ein Jahr nachdem ihr Sohn ertrunken war, schwamm die im Sommer wieder im See, in demselben Wasser, das noch die Moleküle von Brian Covingtons letzten Atemzügen enthielt. Aber wer weiß, geht es ihr durch den Kopf, vielleicht war das Eintauchen in dieses Wasser ja Claires Art und Weise, die Nähe ihres Sohns zu suchen. Dafür hat Rose nun wahrlich Verständnis. Doch dann sieht sie vor sich, wie Claire lachend im Wasser herumtollt, in einem Badeanzug, der für eine Frau in ihrem Alter ungefähr einen Quadratmeter zu knapp war. Nein, als Claire Covington im See schwamm, ging es ihr nicht darum, sich mit dem zu vereinigen, was von ihrem Sohn womöglich geblieben war. Sie kann sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein, aber sie muss wohl etwas gedöst haben, denn als sie das nächste Mal auf den Wecker schaut, zeigt er 6:00 an. Sie spürt, wie Ned sich neben ihr bewegt. Bald wird er aufstehen und sie freilassen. Sie wird sich unter die Dusche stellen, kaltes Wasser über ihren Bauch laufen lassen, ihn kühlen. Ned stöhnt leise, dann ist er wach. So geht das jeden Morgen bei ihm. Im einen Moment schläft er noch, im nächsten redet er schon. »Zeit zum Aufstehen«, sagt er. »Ja.« Sie schiebt seinen schweren Arm von ihren Rippen und holt Luft, atmet den Tagesanbruch ein. Im Morgenlicht kann sie für einen Augenblick fast glauben, dass sie sich das Jucken nur eingebildet, dass sie ihr Maß an Schmerz und Trauer in diesem Leben schon durchlitten hat.
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KAPITEL 2 ROSE Das tägliche Frühstück überstehen sie dank der Today Show. Vor vier Jahren hat Ned einen 17-Zoll-Sony auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank aufgestellt. Der Fernseher und Neds Zeitung haben die Notwendigkeit, sich zu unterhalten, auf ein Mindestmaß reduziert, und wenn geredet wird, ist das meist ein einseitiges Unterfangen. An diesem Morgen schaltet Ned den Fernseher ein, kaum dass er die Küche betreten hat, und schlägt dann den Sportteil der Springfielder Tageszeitung auf. Verlässlich wie das Amen in der Kirche. Rose wartet darauf, dass er ihr erzählt, wer das Spiel am vorigen Abend gewonnen hat. Jeden Morgen erfüllt er die Stille mit den neusten Nachrichten über Ergebnisse und Neuzugänge, über Spielerverträge in Millionenhöhe, die Entlassung glückloser Trainer und sonstige tägliche Belange der je nach Saison – Patriots, Bruins oder Sox. Auch nach all den Jahren begreift sie beim besten Willen nicht, warum er glaubt, dass diese Dinge sie auch nur ansatzweise interessieren könnten. Andererseits, wenn er ihr die Ergebnisse oder seine Meinung zu Themen wie dem vorgesehenen Schlagmann oder dem neuen Baseball Commissioner nicht mitteilen würde, würden sie dann überhaupt noch miteinander reden? Heute Morgen ist Ned still. Die Sox hatten gestern wohl ihren spielfreien Tag. Oder ist die Saison vorbei? Rose hört nicht immer zu und bringt daher leicht mal etwas durcheinander. Sie brät Eier und schottet sich dabei innerlich gegen das Geplärr des Fernsehers ab. An manchen Tagen kommt es ihr vor, als würde sich dieses Geräusch in ihr Hirn bohren, sich dort festsetzen und dann endlos weiterdröhnen. Es ist verwunderlich, dass noch nie irgendjemand in Washington D.C. untersucht hat, was Fernsehwellen dem menschlichen Gehirn antun. Oder -19
vielleicht gibt es diese Untersuchung ja, und die Ergebnisse werden geheim gehalten, weil ihre Veröffentlichung der Wirtschaft schaden würde. Schließlich haben die ja auch so manche andere beunruhigende Information über Jahre hinweg für sich behalten. Die Forschungsergebnisse zum Zigarettenrauchen beispielsweise oder die üblen Nebenwirkungen dieses Zeugs, das sich manche Frauen in die Brüste spritzen lassen, um sie zu vergrößern. Silikon, genau. Der Begriff fällt Rose unvermittelt ein, da sie Neds Eier in einer silikonbeschichteten Pfanne brät. Wie kann eine Frau so was bloß in ihrem Körper haben wollen? An manchen Tagen würde sie den Fernseher am liebsten von der Arbeitsplatte stoßen, ihn hinter die Garage karren und dort mit der Axt bearbeiten. Sie würde auf ihn einschlagen, immer wieder, bis nichts mehr davon übrig wäre oder bis die Überreste bei aller Fantasie nicht mehr erkennen ließen, dass einen noch wenige Stunden zuvor Bryant Gumball vom Bildschirm herunter angelächelt hat. Den Ansager Bryant Gumball zu nennen statt Bryant Gumbel ist Neds morgendlicher Scherz. Er macht ihn jeden Morgen und lacht dann, als wäre es das erste Mal. Wenn er es heute wieder sagt, denkt sie, hau ich ihm die Pfanne über den Kopf, aber garantiert. Sie bleibt am Herd stehen, bis der Impuls verflogen ist. Eine Zwitscherstimme steigt aus dem Fernseher auf und bietet frohgemut verlässlichen Schutz bei Inkontinenz an. Beim Frühstück. Wie kommen die Werbeleute bloß auf die Idee, dass es jemanden geben könnte, der so was zu seinem Morgenkaffee hören will? Sie staunt immer wieder, über was die Leute im Fernsehen so frank und frei reden – Tampons zum Beispiel, über die hat man in ihrer Jugend nicht mal hinter vorgehaltener Hand gesprochen. »Und, was steht heute bei dir auf dem Programm?«, fragt Ned, als sie mit dem Rührei kommt. Seit sie zurückdenken kann, stellt er beim Frühstück diese Frage. Früher, vor vielen Jahren, hat sie immer Antworten erfunden. Oh, erst Lunch mit Rock Hudson, und dann gehe ich -20
mit Fred Astaire tanzen. Ein kleiner Abstecher nach Bali, aber zum Abendessen bin ich wieder zurück. »Rose, du bist vielleicht eine Nummer«, sagte er dann jedes Mal, als wäre sie der witzigste Mensch auf Erden. »Nichts Besonderes«, sagt sie und serviert ihm die Eier. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie du dich den ganzen Tag beschäftigst«, sagt er zwischen einer Gabel Rührei und einem Schluck Kaffee. Er hat die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, dass sie ihre Stelle bei Fosters wieder antritt. »Ach, das krieg ich schon hin«, sagt sie. Er gießt sich noch eine Tasse Kaffee zum Mitnehme n ein. Es ist seine dritte heute, und er ist gerade mal eine gute Stunde auf. Er sollte weniger Kaffee trinken. Aber er ist ein erwachsener Mann. Es ist seine Entscheidung. Nachdem er gegangen ist, schaltet sie den Fernseher aus und spült das Geschirr. Sie wischt die Arbeitsplatten ab und stülpt den wattierten Hahn wieder über den Toaster. Wie jeden Morgen leert sie den Mülleimer, obwohl das bei der Abfallmenge, die sie zu zweit produzieren, kaum gerechtfertigt ist dann geht sie nach oben, um das Bett frisch zu beziehen. Seit Wochen wechselt sie die Bettwäsche jeden Tag, in der Hoffnung, dadurch vielleicht die juckende Stelle auf ihrem Bauch loszuwerden. Bisher hat es nichts bewirkt. Aber es gefällt ihr, sich jeden Abend in ein frisch bezogenes Bett zu lege n, zwischen Laken zu schlüpfen, die noch etwas rau sind und nach Sonne riechen. Es ist wie ein allabendlicher Neubeginn. Einer Frau würde so etwas sofort auffallen, aber Ned hat natürlich keinen Ton gesagt. Er ist seit einer guten Stunde fort, und sie kommt gerade seitwärts, damit der Wäschekorb nicht stecken bleibt – die Kellertreppe hoch, als das Telefon klingelt. Sie lässt es ungefähr fünfmal klingeln, während sie überlegt, ob sie abnehmen soll. -21
Sie erkennt das Klingeln. Angeblich klingeln Telefone ja immer gleich, egal, wer anruft, aber das stimmt nicht. Sie haben einen ganz speziellen Klang, je nachdem, wer am anderen Ende ist und was der Grund des Anrufs ist. Wenn eine Freundin anruft, klingelt es völlig anders als bei diesen TelefonmarketingLeuten, die immer dann anrufen, wenn man gerade beim Essen sitzt. Und anders als bei einem Anruf, der eine schlechte Nachricht bringt. Seit Todds Tod achtet sie viel mehr auf solche Dinge. Es macht die Leute nervös, wenn sie so etwas wie »seit Todds Tod« sagt. Die meisten Leute, auch Neds Schwester Ethel zum Beispiel, benutzen lieber Formulierungen wie »seit er uns verlassen hat« oder »seit er nicht mehr bei uns ist«, so als wäre er bloß ausgezogen und könnte jeden Moment in seinen roten Basketballschuhen durch die Tür spaziert kommen und fragen, was es zum Abendessen gibt. In Wirklichkeit allerdings wäre es Ethel natürlich am liebsten, wenn sie seinen Namen überhaupt nicht mehr hören müsste, gerade so, als gingen irgendwelche gefährlichen Strahlen davon aus, vor denen sie ihre Söhne schützen müsste – wobei sie keinerlei Probleme damit hatte, dass ihre Jungs Todds Kleider bekamen. Tja, aber er ist eben nicht bloß ausgezogen. Er ist tot. »Tot« ist ein gutes Wort. Es klingt genau so, wie es ist. Diesmal erkennt sie am Klingeln, dass es Anderson Jeffrey ist. Schon seit einem Monat ruft er immer wieder an, er ist beharrlicher, als sie gedacht hätte, und die Vorstellung, er könnte anrufen, wenn Ned zu Hause ist, macht sie regelrecht krank. Wie sollte sie den Anruf eines Kursleiters erklären, von dem sie Ned erzählt hat, er habe wegen eines Notfalls die Stadt verlassen müssen und daher seinen Schreibkurs abgebrochen? Der Kurs ist Neds Idee gewesen. Als er das Kursprogramm des örtlichen College auf ihrer Kommode entdeckte, stürzte er sich darauf, klammerte sich mit derselben Hartnäckigkeit daran fest, mit der er auch am Hoffen festhält. Dorothy Barnes, die -22
Kassiererin im Stop and Shop, hatte ihr das Heft gegeben, es einfach mit den Sonderangeboten der Woche in ihre Einkaufstüte gesteckt. Hätte Ned es ihr in die Hand gedrückt oder Doc Blessing, dann hätte Rose es weggeworfen, ohne es eines weiteren Blickes zu würdigen, aber da es zufällig in ihre Hände gelangt war, behielt sie es, blätterte es sogar einmal durch und überflog die im Herbstsemester angebotenen Abendkurse. Als Ned das Heft entdeckte, erschien sofort dieser schreckliche hoffnungsvolle Ausdruck auf seinem Gesicht, so penetrant und unübersehbar, als wäre er mit Maschinenöl aufgemalt. Endlich wird sie wieder normal. Das ist die Formulierung, die er immer benutzt: »Normal werden.« Als ob sich ein Geisteszustand einfach so anknipsen ließe, als ob man dazu nur einen Schalter betätigen müsste. Aber so einfach, wie die Männer das gern hätten, ist das Leben nicht. »Also wirklich, Rosie«, sagte er und griff nach dem Heft, »du bist doch immer wieder für eine Überraschung gut.« Er blieb an die Kommode gelehnt im Schlafzimmer stehen und sah das Programm durch. Rund ein Dutzend Kurse wurden angeboten: Kleingeräte selbst reparieren, Möbel polstern, PC für Anfänger, Kreatives Schreiben, Französische Konversation, Erste Hilfe und Patchwork. Sie sah, was er dachte was er hoffte –, sah es glasklar. »Das hat nichts zu bedeuten«, sagte sie, »das liegt da bloß rum.« Wobei sie zugeben muss, dass der Patchworkkurs sie interessierte. Da hat sie so viel genäht in ihrem Leben, aber einen Quilt hat sie noch nie gemacht. Sie konnte sich fast vorstellen, den Kurs zu besuchen, sah sich aus sämtlichen Kleidern, die sie je getragen hatte, Stücke ausschne iden, kleine Dreiecke und Quadrate. Sie würde auch ein paar von Todds Kleidern verwenden, Sachen, die sie in einer Kiste vor Neds Zugriff hatte retten können, bevor er den Rest Ethel für ihre Jungs gab. Es tat Rose richtig weh, Todds Kleider an einem anderen Jungen zu sehen, aber Ned fand, sie stelle sich an, es sei -23
doch unsinnig, gute Kleider verkommen zu lassen. »Herrje, Rosie, es sind doch bloß Kleider«, sagte er. Wenn sie einen Quilt mit Stoffstücken aus Todds Kleidern nähen würde, überlegte sie sich, dann wäre das vielleicht ein bisschen so, als hätte sie etwas von Todd ganz für sich allein, etwas, von dem niemand sonst wusste und das ihr niemand wegnehmen konnte. Sie würde die Teile mit winzigen Stichen zusammenfügen, so kurz und gleichmäßig, als hätte sie ihre Nähmaschine benutzt, und vielleicht würde sie ja, während sie nähte, ein Stück ans andere setzte, ein Muster entstehen ließ, irgendwann einen Sinn in allem erkennen. Sie war kurz davor, Ned zu sagen, dass sie überlege, ob sie sich nicht zu dem Patchworkkurs anmelden solle, da kam er eines Tages mit einem selbstzufriedenen Grinsen – so hätte er es genannt – nach Hause und verkündete seine große Neuigkeit. Er habe sie für Kreatives Schreiben angemeldet, sogar die Kursgebühr habe er schon bezahlt- In dem Moment, als er das sagte, löste sich der nie genähte Quilt vor ihren Augen auf, entschwand wie die Kleidung, die Ned Ethel gegeben hatte. Ihr wurde ganz schwummrig, so schnell ging es. Aber was dachte sich Ned bloß? Sie hatte nicht die geringste Absic ht zu schreiben. Sie nahm sich vor, ein- oder zweimal hinzugehen und Ned dann zu erzählen, sie habe es probiert, wirklich, habe es mehrfach probiert, aber Schreiben sei einfach nicht ihr Ding. Doch der Kursleiter – er hieß Anderson Jeffrey, so als wären irgendwann einmal sein Vor- und Nachname durcheinander geraten –, ja, der ließ es gar nicht erst so weit kommen, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Endlich hört das Telefon auf zu klingeln. Könnte sie doch bloß diese ganze Geschichte mit Anderson Jeffrey vergessen, oder zumindest ein paar Einzelheiten revidieren. Sie hat schon öfter miterlebt, wie andere Leute ihre Vergangenheit veränderten, ihre Erinnerungen ummodelten, um sie ihren -24
Wunschvorstellungen anzupassen, aber Rose hat diese Kunst noch nie beherrscht. Ihre Vergangenheit ist völlig transparent, da sitzt jede Tatsache an ihrem Platz. Sie geht mit den Laken zur Wäscheleine hinaus. In einem Monat – laut dem Old Farmer’s Almanac sehr früh dieses Jahr – wird der erste Schnee fallen, Vorbote eines langen kalten Winters, aber heute ist es warm und sonnig, kein Wölkchen weit und breit, der Himmel dehnt sich in endlosem Blau, als stünde das Meer am Firmament. Es ist einer jener Altweibersommertage, die Rose immer mit Melancholie erfüllen. Als Ned gestern von der Autowerkstatt nach Hause kam, hat er den Rasen gemäht, und jetzt bleibt das abgeschnittene Gras an ihren Schuhen kleben und hinterlässt grüne Flecken darauf. Vorjahren, als sie neu hier eingezogen waren, rechte Ned nach dem Mähen das Gras immer zusammen. Und als Todd dann alt genug war, um zu helfen, wurde das Zusammenrechen seine Aufgabe. Sie kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann Ned das zum letzten Mal gemacht hat. Aber er hält das Grundstück in Schuss. Als sie gestern Abend vom Küchenfenster aus zusah, wie er auf dem Rasen hin und her ging und mit dem Rasenmäher trostlose Muster ins Gras schnitt, die Schultern gebeugt wie ein alter Mann, hat sie sich gefragt, warum er sich überhaupt die Mühe macht. Bis auf die Wäschespinne steht nichts auf dem Rasen. Kein Liegestuhl, kein Grill, keine Gartenbank, nichts. In der Einfahrt liegen keine Skateboards oder Fahrräder herum, die überrollt zu werden drohen. Den Basketballkorb hat Ned schon vor Jahren abmontiert. Wäre da nicht das schmale Beet mit den mehrjährigen Pflanzen hinter der Garage und an manchen Tagen die Wäsche an der Leine, würde Ned nicht den Rasen mähen und die Sträucher zurückschneiden, dann könnte man das Haus glatt für unbewohnt halten. Ein plötzliches Dröhnen aus dem Haus der Montgomerys reißt sie aus ihrer Träumerei. Sie schaut hinüber und sieht, wie diese Opal Gates auf die hintere Veranda herauskommt, in der -25
Hand einen schlanken schwarzen Kasten, in dem Rose sofort die Quelle des Dröhnens erkennt, dieses grässlichen Krachs, den die jungen Leute heutzutage für Musik halten. Dann geht die Tür abermals auf, und das Kind kommt aus dem Haus gepurzelt, lässt die Tür hinter sich zuknallen und hüpft die Treppe hinunter. Während der letzten Wochen hat Rose von ihrem Aussichtspunkt im ersten Stock das Kommen und Gehen der beiden verfolgt. Am Anfang, bevor Ned die Fakten in Erfahrung brachte, hielt sie das Mädchen für die ältere Schwester des Jungen. Sie kann unmöglich älter als sechzehn sein. Mager ist sie, dünn wie eine Spielkarte. Nic ht gerade das, was man hübsch nennen würde. Und dermaßen rote Haare, wie Rose sie noch bei keinem zivilisierten Wesen gesehen hat. »Sie ist die Mutter von dem Kleinen«, verkündete Ned eines Abends und berichtete, was er bei Trudy’s über einer Tasse Kaffee aufgeschnappt hatte: Sie heißt Opal Gates, kommt aus den Südstaaten – dem Nummernschild ihres Buick zufolge aus North Carolina – und hat das Haus der Montgomerys für ein Jahr gemietet; auf dem Mietvertrag steht nur ihr Name; der Mann ist noch nicht gesichtet worden. Rose hatte die ganze Geschichte sofort klar vor Augen. Das Mädchen hat sich erst ein Kind machen lassen und dann hopplahopp geheiratet. Hat wahrscheinlich die Schule abgebrochen. Na, wenigstens hat sie nicht abgetrieben. Das muss man ihr zugute halten. Der Mann hat sie entweder sitzen lassen, oder er ist zur Armee gegangen, da kann Rose sich nicht entscheiden. Das Interessanteste ist, dass Opal Gates Puppen bastelt. Maida Learned vom Yellow Balloon hat erzählt, dass das Mädchen nach Kinderfotos Puppen anfertigen kann, die dem jeweiligen Kind zum Verwechseln ähnlich sehen. Maida hat schon mehrere Puppen für ihren Laden bestellt, allerdings kann Rose sich nicht vorstellen, dass man von so was leben kann. Auch sonst hat schon so einiger Klatsch die Runde gemacht. Alle sind sich einig, dass sie mit ihrem Sohn zu nachlässig -26
umgeht. Gloria vom Cutting Edge hat erzählt, als die beiden zum Haareschneiden zu ihr gekommen seien, hätte der Junge wie ein Wilder herumtoben dürfen. »Der hat den Laden fast kurz und klein geschlagen, und sie sitzt daneben und sagt kein Wort.« Und Glorias Tochter Marcia ist den beiden auf dem Spielplatz begegnet. Als sie sie vor dem Klettergerüst warnte, an dem sich die Kleine der Levitts letzten Monat das Schlüsselbein gebrochen hat, lachte Opal Gates bloß und erlaubte ihrem Sohn ausdrücklich, daran hochzuklettern. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte sie zu Marcia. »Jungs sind stabil.« Jungs sind stabil. Wie kann sie es wagen. Wie kann sie so gedankenlos sein. Jungs sind nicht stabil. Jungs gehen kaputt. Rose war mit Herz und Seele Mutter, sie bestand damals darauf, Todd zu stillen, obwohl Doc ihr abriet, wobei sich ja heute, sieh einer an, die Experten einig sind, dass Stillen gut ist, dass es das Immunsystem des Kindes stärkt. Natürlich weiß Rose, dass nichts einen Menschen wirklich immun machen kann, nichts auf Gottes schöner Erde kann die Sicherheit eines Menschen garantieren, keine noch so große Menge an Geld oder Güte, Ruhm oder Liebe kann ihn letzten Ende schützen. Trotzdem. Jungs sind stabil. Es ist einfach ungerecht. Im Nachbargarten fummelt das Mädchen immer noch an dem Radio herum, wenn auch ohne hörbare Auswirkungen auf die Musik, während der Junge, die Arme wie Flügel ausgebreitet, im Kreis herumrennt und kreischt wie ein Besessener. Es wird ja wohl hoffentlich keiner von Rose erwarten, dass sie so einen Radau einfach hinnimmt. Wenn das nicht aufhört, muss Ned rübergehen und mal ein ernstes Wort mit dem Mädchen reden. Und dann hat doch wahrhaftig keiner der beiden Schuhe an, obwohl es schon Oktober ist. Dem Jungen kann man keinen Vorwurf machen, er ist noch zu klein, aber die Mutter sollte mal ihre grauen Zellen ein bisschen anstrengen. Barfuss im Oktober. Da hat ja ein Floh mehr Verstand. Rose ist nicht voreingenommen und urteilt auch nicht gern über andere -27
Menschen, aber dieses Mädchen scheint ihr die klassische Südstaatenschlampe zu sein. Rose hängt gerade das letzte Paar von Neds Socken an die Leine, als sie das Mädchen »Hallo« herüberrufen hört. Natürlich ignoriert sie das. Sie hat nicht das geringste Interesse an einer Kontaktaufnahme. Das gibt bloß Ärger. Es fuchst sie, dass dem Mädchen bestimmt schon jemand von Todd erzählt hat. »Das ist die arme Rose Nelson«, kriegen Neulinge hier immer zu hören, als wäre das ihr voller Name. Die arme Rose Nelson. Die Frau, die vor ein paar Jahren durch diesen grässlichen Unfall ihren einigen Sohn verloren hat. Vor jedem, der es hören will, werden ihre Privatangelegenheiten ausgebreitet. Die Leute hier könnten selbst dann den Mund nicht halten, wenn sie dafür bezahlt würden. Sie fragt sich wieder einmal, wie schon den ganzen Monat, was das Mädchen und ihren Kleinen wohl nach Normal geführt hat. Ihre Stadt heißt tatsächlich Normal, und es gibt natürlich jede Menge Witze darüber. Früher, als ihr solche Dinge noch etwas bedeuteten, gefiel es Rose, in einem Ort namens Normal zu wohnen, sie fand, dass der Name besser in die Südstaaten gepasst hätte. Die Südstaatler haben einfach einen Sinn für klangvolle Namen, wie er sich in diesem Land sonst nirgends bemerkbar macht. Als Ned, Todd und sie damals nach Virginia fuhren, um Neds Cousin Ben zu besuchen, kamen sie an Supermärkten mit Namen wie Piggly Wiggly, Harris Teeter oder Winn Dixie vorbei, Namen, die einfach einen besonderen Klang hatten. Rose macht ihre Einkäufe im Stop and Shop und ist davon überzeugt, dass man sich anders fühlen muss, wenn man in einem Laden namens Piggly Wiggly einkauft. Ihrer Meinung nach wäre Normal ein perfekter Name für eine Stadt in den Südstaaten. Normal ist nach einem hier geborenen Bürgerkriegshelden benannt, Colonel Percival Winfield Normal. Zwar spielte er im Bürgerkrieg keine herausragende Rolle, doch auf dem platz vor dem Rathaus steht trotzdem eine Statue von -28
ihm, und jedes Jahr an seinem Geburtstag veranstalten die Schulkinder eine kleine Parade zu seinen Ehren. Percival Winfield Normal, ein Südstaatenname par excellence. Wenn sie an dem Standbild vorbeigeht, schaut Rose oft zu dem Colonel hoch und fragt sich, wie er wohl im westlichen Massachusetts gelandet ist. Andererseits landet ja eigentlich niemand da, wo er ursprunglich mal hinwollte. Man denke nur an sie. Oder an Ned. Oder an Todd.
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KAPITEL 3 OPAL »Scheiße«, sagt Opal, als das Telefon klingelt. Es ist erst seit zwei Wochen angeschlossen, und Melva hat bereits achtmal angerufen. Acht Anrufe, achtmal Streit. Gespräche, von denen sie heute Morgen lieber keine Neuauflage will. Sosehr sie sich auch bemüht, sie kann ihrer Mama einfach nicht verständlich machen, warum sie aus New Zion wegmusste. Vier Klingelzeichen. Fünf. Eins steht fest, früher oder später wird sie ohnehin klein beigeben und abnehmen müssen; gegen Melvas Entschlossenheit ist kein Ankommen. Außerdem glaubt Opal, dass ihre Mama eine Art telepathische Verbindung zu ihr hat und genau weiß, dass sie hier in der Küche steht, keinen Meter vom Telefon entfernt. Lass dich bloß nicht ködern, beschwört sie sich, während sie den Hörer abnimmt, geh auf nichts ein. Bleib cool, egal, wie sehr sie dich provoziert. Cool bleiben gehört nicht zu Opals Stärken. Sie ist schon mit kurzer Zündschnur auf die Welt gekommen. »Raylee?« »Raylee ist nicht da.« Sie hört mit Stolz, dass ihre Stimme vollkommen ruhig klingt. Zweimal innerhalb der zwei Jahre seit ihrer Namensänderung hat Opal Melva Kopien der gerichtlichen Verfügung und der amtlichen Bekanntmachung im Lokalblatt geschickt, aber ihre Mama tut weiterhin so, als wäre das alles nie bei ihr angekommen. Melva ist davon überzeugt, dass die Geschichte mit der Namensänderung nur eine von Opals vielen schwierigen Phasen ist und dass Opal früher oder später Vernunft annehmen und sich wieder bei ihrem alten Namen nennen wird. »Raylee? Bist du das?« Es ist aussichtslos. »Ja.« »Na Gott sei Dank. Ich hab schon gedacht, ich hätte mich verwählt. Gerade wollte ich auflegen. Ist alles in Ordnung?« -30
»Bestens.« »Wie geht es Zack? Vermisst er seine Melvama?« Melvama lässt Melva sich von Zack nennen. Sie ist viel zu jung, um eine »Großmutter« zu sein. »Zack geht es gut, Mama. Uns geht’s beiden gut.« Aber Melva redet schon weiter. »Billy war gestern Abend zum Essen hier«, sagt sie. »Der Junge sieht wirklich gar nicht gut aus. Er vermisst euch beide schrecklich.« Wann hat Melva denn ihr Herz für Billy entdeckt? Und warum in aller Welt lädt sie ihn zum Essen ein? Opal kann sich nicht vorstellen, worüber die geredet haben könnten. Reden ist nicht gerade Billys Spezialität. Lässt man Basketball und Zack beiseite, dann ist ein Gespräch mit ihm so gut wie unmöglich. Na, wahrscheinlich reden sie jetzt über Opal. »Er liebt dich, Raylee. Ich hoffe, du weißt das.« Opal sollte es zumindest wissen, denn beim gestrigen Telefonat hat sie schon genau denselben Satz zu hören bekommen. »Er macht sich natürlich Sorgen wegen Zackery, und er ist krank vor Sehnsucht nach euch beiden. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen.« Wenn er tatsächlich so aufgewühlt wäre, würde er dann nicht längst vor der Tür stehen und ihr das direkt sagen, statt ihre Mama als Nachrichtenübermittlerin zu benutzen? Drei Tankfüllungen, das ist nun wirklich keine gewaltige Entfernung. »Es bricht mir das Herz zu sehen, wie sehr ihm sein Sohn fehlt«, wiederholt Melva. Derselbe Sohn, hätte Opal ihr am liebsten gesagt, dessen Abtreibung er von mir verlangte, sobald er auch nur eine vage Ahnung von seiner Existenz hatte, der Sohn, den er nicht mal besuchen kommt, um nach ihm zu sehen. Aber sie sagt nichts. Jede Unterhaltung mit ihrer Mama ist ein Minenfeld, jedes Wort, das sie sagt, wird irgendwann gegen sie verwendet. »Weißt du, Raylee, es gibt mehr als genug Mädchen in New Zion, die sofort zugreifen würden, wenn sie die Gelegenheit -31
hätten, es mal mit Billy zu probieren, aber sofort. Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er bis in alle Ewigkeit auf dich wartet. Hörst du, was ich sage?« Die Bandbreite an Gefühlen, die diese Aussage in ihr auslöst, kriegt Opal kaum auf die Reihe. »Warum tust du ihm das an, Raylee? Und deinem Daddy und mir? Wo hast du bloß deine Gedanken? Hast du denn gar kein Herz? Wann kommst du wieder nach Hause? Wann schlägst du dir endlich diese Flausen aus dem Kopf und bringst unser Enkelchen wieder dahin, wo es hingehört?« Opal geht alle Antworten durch, die sie darauf geben könnte, und entscheidet sich dann für die feige Variante. »Ich weiß nicht«, sagt sie, »Wenn es um ...« »Melva«, unterbricht Opal sie, »ich muss jetzt aufhören.« Sie sagt das Einzige, was sie zuverlässig aus Melvas Klauen befreien wird. »Zack braucht mich.« Zack braucht sie wirklich. Aber Billy braucht er ganz gewiss nicht, diesen Loser-Daddy, dessen Vorstellung vom Vatersein darin besteht, seinem Sohn beizubringen, wie man ruckzuck eine Dose Bud knackt. Sie hat keine Ahnung, warum Billy vor ihren Eltern Trübsal bläst. Er will Zack überhaupt nicht. Und sie will er auch nicht. Er will immer bloß das, was er nicht kriegen kann. Die alte Geschichte. Sie macht ihren Kaffee in der Mikrowelle heiß, dann geht sie ins Wohnzimmer, um nach Zack zu sehen. Vor drei Tagen hat er sich eine Art Zelt gebaut, aus einer Decke, die er über zwei hochlehnige Stuhle gehängt hat. Dort drin verschwindet er jetzt regelmäßig über längere Zeiträume. Ein Tipi? Eine Höhle? Eine Raumstation? Opal denkt nicht im Traum daran, es abzubauen, auch wenn Melva so was keinen Tag lang in ihrem Wohnzimmer geduldet hätte. Alle möglichen Gegenstände verschwinden darin. Kissen. Ein paar Spielze uglastwagen. Eine Taschenlampe. Plastikschüsseln. Essen. »Proviant«, hat er -32
gesagt. Proviant. Sie hat keinen blassen Schimmer, wo ein Fünfjähriger so ein Wort aufgabelt. Er ist so gescheit, dass es ihr Angst macht. Wie sie es je schaffen soll, ihn großzuziehen, ist ihr schleierhaft. Für so was sollte es Kurse geben. Sie liebt ihn. Das weiß sie sicher. Sie hofft, dass das reicht. Manchmal gibt sie sich der Vorstellung hin, dass sie sich gewissermaßen in die Mutterschaft verirrt hat, so wie eine dieser Filmfiguren, die durch einen Film driften, ab und zu auf der Leinwand erscheinen, aber kaum etwas zu sagen haben und keinerlei Verantwortung für den Ausgang der Story tragen. Mit dieser abgewandelten Version ihrer Geschichte lebt es sich gut, aber letztlich stellt sich das Ganze doch komplizierter dar. Wenn sie genau hinschaut und versucht, ehrlich zu sein, kommt sie um die Frage nicht herum, ob sie tief in ihrem Innern vielleicht schwanger werden wollte. Tatsache ist jedenfalls, dass Emily ihr genau diese Frage in der ersten Sitzung gestellt hat. Die Therapie war Teil der Abmachung, die ihre Mama mit ihr traf. Opal durfte das Kind behalten, aber sie musste eine Psychotherapie machen. Natürlich brachte dieser Kompromiss Melva schier um, und sie hat Opal bis heute nicht verziehen, dass sie den Ruf der Familie ruiniert hat. Opals Mutter hat eine ziemlich überzogene Vorstellung von dem gesellschaftlichen Ansehen, das die Familie in der Stadt genießt – nach ihrer Hochzeit mit Opals Daddy hat sie als Erstes für ihren Aufstieg von der Methodistin zur Episkopalen gesorgt. Soweit Opal es beurteilen kann, hat New Zion ihre Schwangerschaft einigermaßen unbeschadet überstanden. Emily Jacksons Namen hatte Melva von Madeline Horsley genannt bekommen, der Beratungslehrerin an der New Zion Highschool, die versprach, kein Sterbenswörtchen von der ganzen Angelegenheit zu verraten, eine derart dreiste Lüge, dass Opal sich fragt, warum der Frau nicht die Zunge im Mund verfault ist. Das Erste, was Opal an Emily auffiel, war, dass sie gut zuhören konnte. Ihre eigene Familie ist in dieser Hinsicht nicht -33
gerade begnadet, und ihr war nie klar, wie gut es tun kann, wenn jemand richtig zuhört, so zuhört, als wäre das, was man sagt, von Bedeutung. Opal rechnete damit, dass Emily versuchen wurde, sie zur Weggabe des Babys zu überreden, doch das tat sie nicht. Stattdessen brachte sie Opal dazu, über ihre Familie zu sprechen. Opal erfuhr von Emily, dass bei der »Mehrzahl der Teenagerschwangerschaften« die Mädchen aus Familien mit wenigstens einem dominanten Elternteil kamen, meistens der Mutter. Emily zufolge nutzten die Mädchen die Schwangerschaft oft als Möglichkeit, zu fliehen und sich unabhängig zu machen. Opal fand es furchtbar, ein statistischer Wert zu sein und mit den anderen Teenager-Müttern in einen Topf geworfen zu werden. Sie beharrte darauf, dass ihre Schwangerschaft eine Panne war. Jedenfalls hatte sie Billy ganz bestimmt nicht in die Falle gelockt, so wie Suzanne Jennings das mit Jitter Walton getan hatte. »Bewusst vielleicht nicht«, sagte Emily, »aber unbewusst.« »Nein«, antwortete sie und dachte daran, wie froh sie jedes Mal gewesen war, wenn ihre Periode pünktlich kam. »Warum habt ihr dann nicht verhütet?« Emily ließ nicht locker. »Haben wir doch. Manchmal.« »Manchmal verhüten ist Russisches Roulette. Das weißt du genau.« Doch selbst wenn Emily sie so direkt konfrontierte, verurteilte oder beschämte sie Opal nie. Und eines Tages, nachdem sie wieder mal gefragt hatte, ob Opal nicht womöglich hatte schwanger werden wollen, sagte sie etwas so Zutreffendes, dass Opal es sich aufschrieb, sobald sie zu Hause war. Was sie in Schwierigkeiten gebracht habe, meinte Emily, sei -34
nicht der Spaß am Sex, sondern die Einsamkeit. »Man sollte niemals unterschätzen, wozu einen die Sehnsucht nach Liebe treiben kann.« Wenn sie ehrlich ist, muss Opal zugeben, dass ihr die Vorstellung, ein Kind zu haben, immer gefallen hat. Selbst »Modernes Leben« hat diesem Wunsch nichts anhaben können. Modernes Leben – ein idiotischer Titel, der eher nach einer Zeitschrift klingt als nach einem Highschool-Kurs – war in New Zion in der Unterstufe Pflicht. Miss Grady, die Hauswirtschaftslehrerin, hielt ihnen Vorträge über Themen wie Die Beziehung oder Vernünftiges Wirtschaften. In der Mitte des Semesters mussten die Jungs und Mädchen eine Woche lang die Elternschaft erproben. Die Schüler des vorigen Jahrgangs hatten Eier bekommen, die sie als ihre Babys betrachten und überallhin mitnehmen mussten, selbst zum Footballtraining. Natürlich wusste die ganze Stadt, dass die Footballspieler ihre Eier hartgekocht hatten, auch wenn Miss Grady so tat, als ahnte sie nichts. In Opals Klasse wurden statt der Eier Puppen verteilt, Computerpuppen, die Denknochmalnach-Baby hießen und staatlich bezuschusst waren. Sie wogen vier Kilo und hatten eine eingebaute Computersteuerung, die so programmiert war, dass sie zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten plötzlich anfingen zu schreien und nur zum Verstummen gebracht werden konnten, indem man sie aufnahm, einen Schlüssel hineinsteckte und so herausfand, ob man sie füttern, ihre Windeln wechseln oder sie einfach nur ein bisschen in den Armen wiegen musste. Außerdem hatte man darüber Buch zu führen, wie man für seine Puppe sorgte, wann man sie fütterte, wie lange sie schlief. Die meisten Lehrer an der New Zion Highschool klagten, dass die Puppen ihren Unterricht störten, und die Hälfte der Klasse schob bereits nach zwei Tagen einen Hass auf die Puppen, aber Opal, die nie ein Geschwisterchen oder auch nur ein Haustier gehabt hatte, gewann ihre Puppe richt ig lieb. Es machte ihr nicht mal -35
etwas aus, mitten in der Nacht aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Nachdem Zack auf die Welt gekommen war, wurde ihr allerdings schnell klar, dass zwischen einer Puppe, selbst einer Computerpuppe, und einem echten Baby Welten liegen. Aber hat sie bloß deshalb, weil ihr Denknochmalnach-Baby Spaß gemacht hatte, schwanger werden wollen? Das glaubt sie nicht. Hätte sie es darauf angelegt, schwanger zu werden, dann hätte sie sich einen Typen ausgesucht, der besser zum Vater geeignet war als Billy Steele. Als Emily sie fragte, ob sie deswegen auf Billy abgefahren sei, weil er ein super Basketballspieler war, musste sie lachen. Opal und Sujette waren so ungefähr die Einzigen an der Schule, die die Sportcracks nicht für Götter hielten. Sie machten sich immer über sie lustig, ahmten ihr ultracooles Gehabe nach, wenn sie wie himmlische Sendboten durch die Cafeteria stolzierten, wobei man ihnen das nicht mal verübeln konnte, denn fast die komplette Schule war der Ansicht, dass die Athleten auf dem Wasser tanzen und mit Gott kommunizieren konnten. Opal war es unbegreiflich, wie man ernsthaft an jemandem interessiert sein konnte, dessen Lebensziel darin bestand, Verteidigungsspieler bei den Tar Heels zu werden. Ihrer Meinung nach war sie Billy aufgefallen, weil sie so ungefähr das einzige Mädchen in der ganzen Schule war, das nicht in Ohnmacht sank, wenn er vorbeispazierte. Er begann sich in den Mittagspausen an ihren Tisch zu setzen und erzählte überall herum, dass er hinter ihr her war. Damals, im Mittelpunkt dieser geballten Aufmerksamkeit, kostete sie das Gefühl aus, etwas Besonderes zu sein. Sie genoss die Macht, die ihr sein Interesse gab. Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, veränderten sich die Machtverhältnisse natürlich. Sex brachte sie immer aus dem Gleichgewicht. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Die Küsse. Die Berührungen. Der Geschmack. Mein Gott, dieser Geschmack. Wer hätte gedacht, dass man eine Vorliebe für den Geschmack eines anderen -36
Menschen, ja ein richtiges Bedürfnis danach entwickeln kann? Sie kann absolut nach vollziehen, warum Sex auf dieser Welt so viele Probleme verursacht. Mit Billy hatte sie das Gefühl, endlich das gefunden zu haben, wozu sie geboren war. Am Anfang gefiel ihm ihre Begeisterung, aber bald machte sie ihn nervös. Als wäre es irgendwie nicht normal, so viel Spaß daran zu haben. Aber vorläufig hat sie dem Sex erst mal abgeschworen. Sie kann echt darauf verzichten. Hat nicht das geringste Bedürfnis, sich noch mal auf so was einzulassen. Außerdem trägt sie jetzt die Verantwortung für Zack. In dieser Hinsicht macht es einen richtig alt, ein Kind zu haben – noch so was, worauf Denknochmalnach-Baby sie nicht vorbereitet hat, »Mama?« Zack kommt aus dem Deckenzelt hervor. Er rennt zu ihr und legt seine feuchten Ärmchen um ihren Hals. Sie würde ihn am liebsten von Kopf bis Fuß abküssen, die Süße in seiner Halsbeuge schmecken, an seiner zarten Haut knabbern, am liebsten sogar reinbeißen, aber sie hält sich im Zaum und gibt ihrer Stimme bewusst einen beiläufigen Klang, damit er nicht vor der Heftigkeit ihrer Gefühle erschrickt. Sie weiß, dass irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft der Tag kommen wird, an dem er sich nicht mehr durch seine Haare fahren lässt, der unvermeidliche Moment, wo er es kaum noch ertragen wird, überhaupt von ihr angefasst zu werden. Sie fürchtet die Zeit, wenn er erwachsen, ein Mann wird, zum Feind überläuft. Sie kann sich das überhaupt nicht vorstellen. Als sie Zack zum ersten Mal in den Armen hielt, wurde ihr schließlich und endlich klar, was Liebe ist, sie begriff es auf eine Weise, wie sie es bei Billy nie begriffen hatte. Was sie bei Billy erlebte, war Lust, Erotik, Verliebtheit, nichts im Vergleich zu der sorgenden, zärtlichen, intensiven Liebe, die sie für Zack empfindet. Sie würde sterben, wenn ihm je etwas zustieße. Sie würde den Tod suchen, ihn dankbar annehmen. »Ich hab Hunger«, verkündet er. »Aber unsere Vorräte sind -37
dahin.« Wie kommt er bloß auf solche Sätze? »Klingt, als müssten wir eine kleine Expedition zum Sup ermarkt machen.« »Genau«, sagt er. Eins steht fest, Zack und sie werden zurechtkommen. Sie brauchen keinen Mann. Und auch sonst niemanden. An der Kasse im Stop and Shop stapelt sie die Lebensmittel auf das Transportband und versucht gleichzeitig, Zack vom Süßigkeitenregal fern zu halten. Ohne Melvas Gemäkel bei jedem Griff ins Regal kann sie in ihren Wagen packen, wozu sie Lust hat. Während sie die Waren aufs Band legt – Fruit Loops, zwei Twinkies, ein Sechserpack kleiner Plastikflaschen mit buntem Zuckerwasser, ein Weißbrot, Hotdogs, eine Tüte MaisChips, ein Glas grellgelben Senf, ein Glas Traubengelee und ein Glas Marshmallow Fluff, zwei Packungen Makkaroni mit Käse –, fällt ihr auf, dass es aussieht, als hätte Zack den Einkaufswagen gefüllt. Sie sollte langsam mal anfangen, ihre Ernährung etwas ernster zu nehmen. »Lebensmittelgutscheine?« Die Augen der Kassiererin treffen ihre, dann wandern sie nach unten und erfassen ihre nackten Beine, ihre stumpfen, abgebrochenen Fingernägel, ihre zu langen Haare – Opal hat sie seit der fünften Klasse nicht mehr schneiden lassen. Die Missbilligung auf dem Gesicht von – ihr Blick fällt auf das grüne Plastikschildchen – Dorothy B. entgeht Opal nicht. Was hat sie bloß an sich, dass sie bei älteren Frauen immer diese verkniffene Missbilligung hervorruft? Sie registriert die fahle Gesichtsfarbe der Kassiererin, das schlecht gefärbte Haar, dem man die selbst gemachte Dauerwelle auf drei Kilometer ansieht. Die Schönheitskönigin vom Ehema ligentreffen der Normal Highschool hat sie da ganz bestimmt nicht vor sich. »Nein«, sagt sie, »keine Lebensmittelgutscheine.« »Keine Lebensmittelgutscheine«, plappert Zack nach, wie -38
eine kleine Melodie klingt es. Dorothy B. gibt die Preise der Twinkies und der Mais-Chips ein, dann hebt sie die Hotdogs hoch, dreht sie um und seufzt. »Wissen Sie, was die kosten?« Opal schüttelt den Kopf und sieht dabei erst Dorothy B. an, dann Zack, der nach den Twinkies greift. »Ich will eins haben«, quengelt er. Mit dem Mikro in der Hand intoniert Dorothy B.: »PreisCheck Lebensmittelabteilung!« Ihre monotone Stimme hallt durch den ganzen Supermarkt. »Nicht jetzt, Schatzpatz«, sagt Opal zu Zack. Der Junge, der fürs Auffüllen der Regale zuständig ist, ein Teenager mit einem Gesicht wie ein Streuselkuchen, lässt sich von Dorothy die Packung geben. Opal kann sich nicht vorstellen, warum die Supermarktleitung so jemanden beschäftigt. So ein Gesicht ist doch garantiert nicht gut fürs Geschäft. »Neu in der Stadt?«, fragt Dorothy. »Ja.« »Wusste doch, dass ich Sie noch nie gesehen habe. Auf Besuch hier?« »Nein. Wir sind hierher gezogen.« »Aus den Südstaaten, stimmt’s?« Opal nickt. »Hab ich mir doch gedacht. Ihr Dialekt hat sie verraten.« Sag bloß, Sherlock, denkt sich Opal. Vielleicht sollte sie die Hotdogs einfach Hotdogs sein lassen und verschwinden, nach Hause fahren und Zack zu einem Mittagsschläfchen überreden, damit sie selbst auch eins halten kann. Sie hat entschieden zu wenig geschlafen in den letzten Wochen. Erst die Fahrt von New Zion hierher, dann der Tag, an dem sie mit dem Makler die ganzen zu vermietenden Häuser abgeklappert hat, dann auspacken, sich einrichten, die Suche nach einem Kindergarten für Zack, der während all dieser Aktionen bei Laune gehalten, ernährt, umsorgt werden musste, die üblichen Mutterpflichten eben, die eine gewaltige emotionale Energie erfordern, und zu allem Überfluss dann auch noch Melvas ständige Anrufe. Es ist ein -39
ganz schöner Schlauch gewesen, und das nagende Gefühl, dass sie womöglich gerade einen gigantischen Fehler begeht, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Wie kann sie bloß etwas, das ihr in New Zion noch so richtig – so schicksalhaft – erschien, plötzlich als Fehler empfinden? Am letzten Samstag im August, dem Tag, an dem Melva, seit Opal denken kann, jedes Jahr ein Picknick veranstaltet, da hat sie beschlossen wegzufahren. Sie saß auf der Veranda, während ihr Daddy mit verschlossener Miene sein speziell zubereitetes Huhn grillte, Zack im Planschbecken herumwatete und Billy – der ihre Mama überhaupt nicht mochte mit Melva herumflirtete, als wäre sie seine Freundin oder so, und da plötzlich spürte sie, wie sich etwas Schweres, Drückendes auf ihren Brustkorb legte. Dann rief Billy ihr zu, sie solle ihm ein Bier bringen. Seine Alte, nannte er sie. Sie war zwanzig. Einen Augenblick lang hörte ihr Herz auf zu schlagen – sie spürte, wie ihr Puls aussetzte –, und in dieser eisigen Sekunde sah sie ihr restliches Leben vor ihrem inneren Auge ablaufen: ihr Leben, eine endlose Reihe von Picknicks. Das war der Moment, in dem diese unglaubliche Idee von ihr Besitz ergriff. Sie konnte gehen – sie konnte einfach zusammenpacken, Zack nehmen und wegfahren. Sie hielt den Gedanken fest, ganz fest. Hätte Melva rübergeschaut, ihre Mama hätte ihr diesen Plan garantiert vom Gesicht abgelesen. Aber ihre Mama war mit Billy beschäftigt. Als sie später zu ihrer Wohnung zurückfuhr, bog sie in die County Lane ein – es war der längere Weg, über die Kreuzung an der Jefferson Street. Sie schaute stur geradeaus, heftete den Blick auf die im Wind schaukelnde Ampel. Grün, fahren, flüsterte sie. Rot, bleiben. Grün, fahren. Rot, bleiben. Grüner hätte es nicht sein können, als sie unter der Ampel durchrollte. Und schließlich weiterrollte bis nach Massachusetts. »Ist das Ihr Sohn?« Die Frage der Kassiererin holt sie wieder zurück. Opal nickt. -40
»Dachte ich mir’s doch«, sagt Dorothy. »Die roten Haare.« Eine wahre Geistesgröße, die Frau. Opal hält den Mund, denn das ist genau die Sorte Kommentar, mit der man die Leute gegen sich aufbringt und die Billy mal zu der Behauptung veranlasst hat, Opal hätte statt einer Zunge eine Gillette Super Blue im Mund. »Meine Güte, Raylee, musst du denn so sarkastisch sein?«, sagte er jedes Mal, wenn sie glaubte, bloß eine Tatsache geäußert zu haben. Genau da liegt das Problem. Die meisten Leute wollen die Wahrheit nicht hören. »Sie sehen kaum alt genug aus, um Auto fahren zu dürfen, geschweige denn, um ein Kind zu haben«, sagt die Kassiererin. »Ich bin zweiundzwanzig.« Sie hängt automatisch zwei Jahre an ihr jeweiliges Alter dran, denn sie hasst es, wie die Leute sie ansehen, wenn sie zurückrechnen und feststellen, dass sie mit fünfzehn schwanger war – so als wären ihre Zähne abgebrochen, und ihre Augen stünden zu nah beieinander. »Ich will ein Twinkie«, sagt Zack. »Okay Schatzpatz«, sagt sie. »Du kriegst eins, sobald wir zu Hause sind.« Der picklige Junge kommt zurück und drückt Dorothy eine Packung Hotdogs mit Preisschild in die Hand. Sie gibt den Preis ein. »Wo wohnen Sie denn?« »In der Chestnut Street.« Innerlich bekniet sie die Kassiererin, zum Ende zu kommen, damit sie hier raus kann, bevor Zack wirklich anfängt, Terror zu machen. »Das große weiße Haus am Ende der Straße? Mit den grünen Läden?« »Mmhmm.« »Das ist das Haus der Montgomerys. Nebenan wohnt die arme Rose Nelson.« Na, wenn das mal nicht das erste interessante Wort aus dem Mund dieser Frau ist. Opal reißt die Verpackung eines der Twinkies auf und reicht es Zack. »Die arme Rose Nelson?« »Eine tragische Geschichte.« Die Frau lehnt sich zu Opal vor -41
und senkt die Stimme. »Tragisch. Wie sie ihren Sohn verloren hat. Noch dazu das einzige Kind. Rose und Ned hatten nur ihn.« Opal legt Zack die Hand auf die Schulter. »Er war sechzehn. Mal sehn. Das muss jetzt fünf Jahre her sein.« Dorothy hält inne, um nachzurechnen. »Ja, stimmt. Diesen Monat ist es genau fünf Jahre her. Die arme Rose. Wird seitdem ihres Lebens nicht mehr froh.« Na, sag bloß. Scheiße. Die Arme. Wie soll man jemals wieder »froh« sein können, nachdem man sein Kind verloren hat? Wie soll man weiter ein- und ausatmen? Als sie zu Hause die Lebensmittel aus dem Kofferraum holt, wirft sie einen kurzen Blick zum Nachbarhaus hinüber. Trotz des gepflegten Rasens sieht das Haus fast unbewohnt aus. Die Rollos sind runtergelassen, es steht kein Auto in der Einfahrt. Sie stellt sich ihre Nachbarin im Innern des Hauses vor, von Stille umgeben. Nach dem Unfall hätte sie wegziehen sollen. Opal hätte das jedenfalls gemacht. Geografische Heilmaßnahmen haben einiges für sich. Sie schleppt die Einkaufstüten zum Hintereingang und dann die paar Stufen in die Küche hoch. Der Raum nimmt die hintere Hälfte des Hauses ein und ist eine Studie in Avocadogrün und Gold, eine Raumgestaltung, die irgendwann vor Opals Geburt topmodern gewesen sein muss. Das ganze Haus ist nach der Schöner Wonnen-Rubrik einer Frauenzeitschrift aus einer früheren Epoche gestaltet, aber es ist geräumig, auf jeden Fall größer, als sie glaubte, es sich leisten zu können. Trotz Tante Mays großzügigem Scheck muss sie auf ihr Geld achten. »Es ist eine echte Gelegenheit«, drängte der Makler, als er ihr das Haus zeigte, ein zweistöckiges Gebäude im holländischen Kolonialstil mit einer schmalen Veranda vorn. Die Besitzer waren kürzlich in den Ruhestand gegangen und nach Florida gezogen, und sie hatten sich bereit erklärt, das Haus zu vermieten, bis sich ein Käufer gefunden hatte. Es liegt am Ende einer Sackgasse, und das, viel mehr als die Lobreden des -42
Maklers, hat sie letztlich dazu bewogen, es zu mieten. Hier wird Zack vor zu schnell fahrenden, rücksichtslosen Autofahrern sicher sein. Sie is t noch so unschuldig zu glauben, Wachsamkeit reiche aus, um ihren Sohn zu beschützen. Sie packt gerade die Lebensmittel aus, da sieht sie durch das Fenster über dem Spülbecken, dass jemand im Nachbargarten ist. Sie geht zur Essecke mit den Resopalmöbeln und stellt sich neben das größere Fenster, bewusst außerhalb des Blickfeldes ihrer Nachbarin, falls diese zufällig rüberschauen sollte. Den Mann hat sie zwar schon mehrmals gesehen – gestern Abend hat sie beobachtet, wie er bahnenweise den Rasen gemäht hat, so methodisch und gewissenhaft, dass sie an ihren Daddy denken musste –, aber die Frau sieht sie nach einer ganzen Woche heute zum ersten Mal so richtig. Die Worte der Kassiererin hallen in ihrem Kopf nach, als sie aus dem Fenster späht und ihre Nachbarin über den frisch gemähten Rasen zur Wäscheleine gehen sieht: die arme Rose Nelson. Es überrascht sie, wie normal die Frau aussieht, wie stämmig sie dasteht in Morgenrock und Pullover, ein geblümtes, unterm Kinn gebundenes Tuch um den Kopf. Opal hatte sich Rose schmal vorgestellt, eine Frau, die gebrochen wirkt, innerlich und äußerlich, die womöglich einen Stock braucht, um dem Gewicht ihres schrecklichen Verlusts standhalten zu können, doch die Rose aus Fleisch und Blut wirkt stämmig, um nicht zu sagen pummelig. Sie tut ihre Arbeit langsam, klammert sorgfältig ein Laken nach dem anderen fest, als handele es sich um eine Aufgabe, die größeres Nachdenken erfordert. »Alte Siedlerfamilie« schießt es Opal durch den Kopf. Während sie zusieht, wie Rose eine Bahn weißes Leinen an der Wäscheleine festklammert, muss sie an die breitschultrigen Pioniersfrauen und die Planwagen denken, von denen man ihnen in der achten Klasse erzählt hat, und dann erscheint eine geschnitzte Galionsfigur vor ihrem inneren Auge – dabei hat sie nie eine -43
echte gesehen –, am Bug eines Schiffes, das durch die Wellen pflügt, den Nebel teilt, andere durch den Sturm führt. Opal findet, dass Rose überhaupt nicht »arm« aussieht. Sie hat in diesem Moment das Gefühl, dass Rose etwas weiß, was auch sie wissen sollte, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hat, was das sein könnte.
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KAPITEL 4 ROSE »Mama?«, ruft der Junge im Nachbargarten. Bevor Rose sich dagegen wappnen kann, schlägt mit voller Kraft die Erinnerung zu, drückt ihr die Luft ab. Gegen die Erinnerung kann man sich nicht schützen. Das ist das Teuflische daran. Sie erwischt einen, bevor man es richtig merkt, verschließt einem die Kehle, lässt das Herz stocken. Bei Gott, wenn sie sich mit irgendetwas auskennt, dann mit der tückischen Macht der Erinnerung. Alles und nichts kann sie heraufbeschwören – das unerwartete Zusammentreffen eines Anblicks und eines Geräuschs, ein bestimmter Geruch, ein Lied. Alles und nichts. Und es ist absolut unmöglich, sich davor zu schützen. Die Sonne auf ihrem Rücken, der saubere Geruch der Wäsche, der sich mit der würzigen Herbstluft vermischt, die Stimme des Kindes von nebenan, das nach seiner Mutter ruft, während zugleich ein Transportflugzeug aus Westover über ihre Köpfe hinwegdonnert – all das verschmilzt und trägt sie fünf Jahre in die Vergangenheil zurück. Auch an jenem Tag hängte sie die Wäsche auf, erledigte Haushaltspflichten, ohne zu ahnen, dass ihr richtiges Leben demnächst zu Ende sein würde, dass sie gleich zum letzten Mal ihren Sohn sehen, seinen warmen Körper an sich drücken, zum letzten Mal seine Umarmung spüren würde, die zu beiläufig war, zu flüchtig, um zu überdauern. Die Hintertür knallt zu, und Todd kommt heraus. Er blinzelt in der plötzlichen Helligkeit. Seine Augen sind noch vom Schlaf verschleiert, und er hat diesen verwunderten Gesichtsausdruck, den er immer hat, wenn er gerade aufgewacht ist, eine kindliche Verletzlichkeit, die ihr schier das Herz zerreißt. Er nimmt zwei Stufen auf einmal: Seine Schnürsenkel sind offen, hängen lose herunter, jeden Moment wird er darüber stolpern, wird die Treppe hinunterfallen, sich etwas aufschürfen, etwas brechen. -45
Bind dir die Schuhe zu, du wirst noch hinfallen. Hast du gefrühstückt? Mehr als eine Scheibe Toast? Sie schluckt die Worte hinunter und klammert sorgfältig eins von Neds Unterhemden an der Leine fest. Mach langsam, möchte sie rufen. Seit er sechzehn geworden ist, macht er alles zu schnell, zu laut. Er lebt in Extremen. Schläft zwölf, dreizehn Stunden. Oder nur drei. Lässt das Essen ausfallen oder isst genug für eine siebenköpfige Familie. Ihr kommt es vor, als fordere er das Unheil heraus. Am See springt er zu dicht an der flachen Stelle, in der Nähe der versteckten Felsen, mit einem Kopfsprung ins Wasser, und ihre Warnungen verhallen ungehört. Ned macht sich keine Sorgen. Hat es nie getan. Sie ist diejenige, die seit Todds Geburt diese unendliche Hilflosigkeit in sich trägt. Vor der warnt einen keiner. Keiner sagt einem, dass ein Kind zu haben sich anfühlt, als tapse das eigene Herz außerhalb des Körpers herum und stoße immer wieder irgendwo an. Eine C-130 auf dem Weg zurück nach Westover verfinstert kurz die Sonne und verschwindet wieder. »Mom?« Sie betrachtet ihn, während er mit federndem Schritt durch den Garten läuft. Er scheint nur aus Armen und Beinen zu bestehen. Lang und schlaksig. Und doch haben selbst die Bewegungen dieses so plötzlich groß gewordenen Körpers eine Art hilflose Anmut. Aus dem wird mal ein anmutiger Mann, denkt sie, und eine Welle des Stolzes durchläuft sie. »Jimmy und ich fahren zum Quabbin Reservoir. Da sind neue Adler gesichtet worden.« »Und was ist mit deiner Arbeit?« Sie hasst es, wenn er zum Reservoir fährt. In den letzten paar Jahren sind mindestens zwei Menschen dort ertrunken. »Ich hab Dad schon gefragt. Er hat gesagt, ich darf fahren, wenn ich spätestens heute Mittag wieder da bin. « Dass Ned schon sein Okay gegeben hat, irritiert sie. »Ich weiß nicht ...«, setzt sie an. -46
»Wir sind doch nur ein paar Stunden weg.« Sie schüttelt ein weiteres Unterhemd aus, hängt es an die Leine. Es wäre ihr lieber, wenn er seine Zeit nicht mit Jimmy verbringen würde. »Könnte ich vielleicht das Auto haben? Dad hat gemeint, ich soll dich fragen.« Er hat also Ned zuerst gefragt. Warum konnte Ned nicht wenigstens dieses eine Mal Nein sagen? Sie schaut zur Einfahrt hinüber, wo der Pontiac parkt. Ned hat ihn als Überraschung auf ihren Namen angemeldet. Ihr Stolz darauf ist albern, das weiß sie, aber es ist das erste neue Auto, das sie je besessen hat. »Darf ich?« Sie zögert. Er fährt zwar schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr – damals sind Ned und er, ohne dass sie davon wissen durfte, zusammen losgezogen, um auf ungepflasterten alten Landstraßen das Fahren zu üben –, aber seinen Führerschein hat er erst seit drei Monaten. Wenn es nach ihr ginge, würde die Altersgrenze für den Führerschein auf achtzehn angehoben. Zwanzig. Je weiter weg, desto besser. »Warum nehmt ihr nicht den Pickup?« »Dad braucht ihn vielleicht in der Werkstatt. Ich bin ganz vorsichtig, das versprech ich dir!« Wenn er allein fahren würde, kurz zum Supermarkt, um etwas für sie zu besorgen, oder vielleicht zur Autowerkstatt rüber ... Wenn sie mitfahren könnte, ihn vom Beifahrersitz aus vor anderen Fahrern warnen könnte ... Aber die Vorstellung, dass er allein zum Reservoir fährt, fast eine Stunde von hier entfernt, mit all den Serpentinen, und das zusammen mit Jimmy, in ihrem neuen Auto, einem Auto, das noch keine Delle hat, keinen Kratzer. Nein. »Heute nicht«, sagt sie. »Ich hab noch ein paar Sachen zu erledigen.« Sie wendet den Kopf ab, damit er ihr die Lüge nicht -47
ansieht. Heute nicht. Zwei Worte. Schnell gesagt. Zwei Worte, die die Welt verändern. »Na gut«, sagt er. »Dann fahren wir halt mit Jimmys Transporter. Bis später.« Er umarmt sie. Kurz und beiläufig. Da sie mit der Wäsche beschäftigt und immer noch darüber verstimmt ist, dass er zum Reservoir fährt, erwidert sie die Umarmung nicht. »Pass auf dich auf«, sagt sie. Die dünne Stimme des Jungen im Nachbargarten holt Rose in die Gegenwart zurück. Ihr Puls geht unregelmäßig, ihr Herz flattert, wie so oft aus dem Takt durch die Schuldgefühle, die Trauer, von einem unerträglichen, schändlichen Geheimnis beschwert. Jungs sind stabil. Der Schmerz der Erinnerung kommt stoßweise, krampft ihr den Bauch zusammen wie Regelschmerzen. Dann lacht der Junge nebenan, und Rose wird von heftiger Sehnsucht erfasst, unwillkürlich wie von einem Schluckauf. Sie greift nach dem Wäschekorb und flüchtet sich ins Haus.
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KAPITEL 5 NED Nach dem Mittagessen wartet Ned das Getriebe des 89er Oldsmobile der Dowlings. Er nimmt die Ölwanne heraus und lässt das Öl ab, dann wechselt er den Filter aus. Als er die neue Dichtung einsetzt, spürt er wieder diesen Druck in den Schläfen. Die Kopfschmerzen kommen in letzter Zeit immer häufiger. Er setzt die Ölwanne wieder ein, schürft sich dabei einen Fingerknöchel auf, flucht. Der Vormittag war ein einziges Desaster. Tyrone Miller, der halbtags als Mechaniker bei ihm arbeitet, ist nicht aufgekreuzt, und Ned ist jetzt so weit im Rückstand, dass er mindestens zwei Aufträge auf morgen verschieben muss, womit ein weiterer Tag im Eimer wäre. Als Nächstes steht der Ölwechsel bei zwei Renaults an. Bei dem grünen 91er, der Dick Carrington gehört, und Bill Grauskis grauem 87er. Wenn er es sich leisten könnte, Aufträge abzulehnen, dann würde er sich weigern, Renaults zu warten. Er hasst sie. So wie diese Dinger gebaut sind, braucht man die Hände einer Sechsjährigen, um unter der Motorhaube irgendetwas ausrichten zu können. Es sollte Pflicht sein, amerikanische Produkte zu kaufen. Das is t das Problem in diesem Land. Die Handelsbilanz wäre überhaupt kein Thema mehr, wenn die Amerikaner ihre eigene Industrie unterstützen würden, statt die japanische und die deutsche. So ein Ford zum Beispiel – das ist mal ein Auto, an dem man arbeiten kann. Ned freut sich immer, wenn er einen Ford vorfahren sieht, besonders einen aus den Siebzigern. Bei diesen Schnuckelchen macht man die Kühlerhaube auf und hat einen Motorraum vor sich, in den man sich locker reinlegen könnte, anders als bei diesen elenden Renaults. Aber was kann man von einem Auto, das von Franzmännern gebaut wird, schon erwarten? Er lässt einen Schraubenschlüssel fallen und flucht wieder. -49
Als er sich hinunterbeugt, um ihn aufzuheben, dröhnt ihm der Schädel, ein rot glühendes Pochen, das eine besonders üble Attacke ankündigt. Es nistet sich hinter seinen Augen ein, hinter den Schläfen, kriecht unter die Schädeldecke. Der viele Kaffee, den er getrunken hat, macht die Sache nicht besser. Er sollte weniger Kaffee trinken. Das waren heute bestimmt schon zehn Tassen, und es ist gerade erst halb zwei. Außerdem hat er sich zu Mittag bei Trudy’s ein Jumbo-Sandwich geholt, und die Peperoni liegen ihm wie ein Stein im Magen. Er macht das Oldsmobile fertig und geht an die Theke, um einen Blick auf den Ta gesplan zu werfen. Die Kopfschmerzen haben ihn jetzt voll am Wickel, und er würde liebend gern früher Schluss machen. Er schaut zur zweiten Hebebühne hinüber, wo Bob Rivers’ Dodge wartet, bei dem die Bremsen eingestellt werden müssen. Den soll Ty morgen fertig machen. Falls er kommt. Und dann wollen noch zwei Stammkunden ihre Klimaanlagen neu auffüllen lassen. Er dachte eigentlich, das wäre für dieses Jahr abgehakt, aber es ist wider Erwarten noch mal richtig heiß geworden, und so hat er noch vier oder fünf zu machen. Vor fünf Jahren hat er für die ganze Aktion nur halb so lange gebraucht, und Papierkram war auch nur halb so viel zu erledigen. Früher hat er einfach eine Flasche Freon reingekippt, aber jetzt, Uncle Sam sei Dank, dauert das Ganze mindestens eine Stunde. Er muss das blöde Ding an die Aufbereitungsanlage anschließen; reinigen, filtern, wiegen, das Gas in die Klimaanlage zurückleiten und dann hinzufügen, was nötig ist. Noch dazu ist die Aufbereitungsanlage, die ihn 5000 Dollar gekostet hat, schon wieder veraltet. Für die neuen Modelle ist ein anderes Gerät erforderlich, und er hat bereits beschlossen, dass er das nicht kaufen wird. Es ist elend teuer, und er könnte von Glück sagen, wenn er den Anschaffungspreis nach einem Jahr wieder raushätte. Sollen die Leute doch die Fenster aufmachen. Herrgott, sie sind hier schließlich nicht in -50
Florida. Ihm persönlich könnte man Airconditioning ja eh nachschmeißen. Er arbeitet den Tagesplan weiter ab. Nach den Klimaanlagen ist der Vergaser eines Pontiac dran, außerdem hat er Stu Weston versprochen, sich mal das Auto anzusehen, das Stus Junge kaufen will, damit der sich keine Krücke andrehen lässt. Um halb drei, als die Kopfschmerzen so schlimm geworden sind, dass er nur mit Mühe die Augen offen halten kann, gibt er auf und macht sich auf den Heimweg. Er ist ganze drei Blocks weit gekommen, da fällt ihm ein, dass er für heute eigentlich geplant hatte, zum College rauszufahren und diesen Kuddelmuddel um Roses Kursgebühr aufzuklären. Zwei Wochen schiebt er das schon vor sich her. Er hasst solche Aktionen, und die Kopfschmerzen machen das Ganze nicht angenehmer, aber er will es endlich vom Tisch haben. Er ist davon ausgegangen, dass der Kurs ein ganzes Semester lang laufen würde, und er hat ordentlich was dafür hingeblättert, dass Rose teilnehmen kann. Es geht ihm nicht ums Geld. Das gibt er gern. Rose ist nicht wie viele andere Frauen, die von Joey Doherty zum Beispiel. Also diese Frau, die gibt Geld aus, als würde sie noch was dafür kriegen. Nein, in dieser Hinsicht kann er sich wirklich nicht über Rose beklagen. Es hat ihm nichts ausgemacht, die Kosten für den Schreibkurs zu übernehmen; wenn sie den machen will, zahlt er gern. Der Witz ist bloß, dass der Kurs eigentlich vier Monate dauern sollte, und wenn er vorzeitig abgebrochen wurde – warum auch immer –, dann findet Ned es nicht mehr als recht und billig, dass man ihnen einen Teil der Kursgebühr zurückerstattet. Die Nachmittagskurse sind gerade im Gange, und er muss drei Runden auf dem Parkplatz drehen, bevor er eine freie Lücke findet. Dazu die Kopfschmerzen – als er schließlich vor dem Sekretariat steht, hat er miserable Laune. Nur eine Person sitzt im Zimmer, und er weiß sofort, dass er mit der nichts zu -51
schaffen haben will. Ein Student oder eine Studentin, das kann er nicht erkennen. Der Bürstenschnitt und das karierte Holzfällerhemd lassen auf einen Jungen schließen, aber die Fingernägel – lang und gelb lackiert – weisen auf ein Mädchen hin. Gelb! »Kann ich Ihnen helfen?« Eine weibliche Stimme. Sie hat irgendwas in der Nase – er wendet diskret die Augen ab –, doch auf den zweiten Blick erkennt er, dass es ein goldener Knopf ist. Was denken sich deren Eltern bloß? In so einem Aufzug würde er seine Tochter niemals aus dem Haus lassen. Gepiercte Nase. Bürstenschnitt, Herrgott. Sein Kopfweh wird von alldem auch nicht besser. Er legt sich die Hand über die Augen, presst Daumen und Zeigefinger auf die Schläfen. »Ja bitte?« hilft das Mädchen nach. »Was kann ich für Sie tun?« Er lässt die Hand sinken und versucht gar nicht erst, nicht auf ihre Haare zu starren. Wer sich durch so was einen Kick verschafft, sollte es gewohnt sein, angestarrt zu werden. »Ich bin wegen einer Rückerstattung hier.« Ihre Stimme wird ausdruckslos. »Welcher Kurs?« Er gibt ihr die nötigen Informatio nen. »Ich erwarte natürlich nicht den kompletten Betrag«, sagt er. Nicht dass da Missverständnisse aufkommen. Während sie die Daten in den Computer hämmert, starrt er auf ihren kurz geschorenen Schädel. Er schüttelt den Kopf und muss an Tyrone denken. Der Mechaniker trägt einen Pferdeschwanz und einen Ohrring. Irgendwo ist den jungen Leuten da etwas durcheinander geraten, irgendwie haben sie die Rollenverteilung nicht mehr im Griff. Das Mädchen sieht vom Bildschirm auf. »Der Kurs ist noch im Programm.« »Was?« »Er ist noch im Programm. Er ist nicht gestrichen worden.« »Doch, er ist gestrichen worden«, bekräftigt er und denkt -52
dabei, meine Güte, hier weiß offenbar keiner Bescheid, was läuft. Wie sieht dann wohl erst der Unterricht aus? Geduldiger, als ihm eigentlich zumute ist, wiederholt er, was Rose ihm erzählt hat. »Meine Frau sollte es ja nun wirklich wissen. Sie hat an dem Kurs teilgenommen.« Er betont die Worte »meine Frau«, damit das Mädel merkt, dass sie es hier mit Erwachsenen zu tun hat. Sie runzelt die Stirn und tippt etwas anderes in den Computer ein. Die langen gelben Nägel klackern. »Nein«, sagt sie. »Professor Jeffrey gibt den Kurs nach wie vor. Sogar jetzt gerade, Zimmer 306 Dalton. Dalton Hall. Das Gebäude, wo die Geisteswissenschaften untergebracht sind. Wenn Sie auf Parkplatz A geparkt haben, dann sind Sie direkt daran vorbeigegangen.« Ned bleibt standhaft. Da muss ein Fehler vorliegen, eine Verwechslung. Vielleicht weiß das Mädel nicht, wie man einen Computer bedient. Mit diesen Fingernägeln ha t sie bestimmt die falschen Tasten getroffen. Er wird sich an ihren Vorgesetzten wenden müssen. »Wie heißt Ihre Frau?«, fragt sie, bevor er seinen Gedanken in die Tat umsetzen kann. «.Rose Nelson. Mrs. Rose Nelson.« Sie tippt wieder etwas ein, dann warten beide, bis die neuen Informationen auf dem Bildschirm erscheinen. »Ah, hier haben wir’s«, sagt sie mit ihrer ausdruckslosen Stimme. »Rose Nelson.« Sie hört auf zu lesen und sieht ihn mit einer eigenartigen Miene an. »Hier steht, dass Rose Nelson freiwillig von dem Kurs zurückgetreten ist. Und nach dem ersten Monat werden keine Gebühren mehr erstattet. Wäre sie eine Woche früher zurückgetreten hätte Ihnen noch die Erstattung einer Teilgebühr zugestanden. Tut mir Leid.« Sie entlässt ihn und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Er ist sich ziemlich sicher, ja er würde seine Autowerkstatt -53
darauf verwetten, dass Rose ihn noch nie angelogen hat. Warum sollte sie ihm erzählen, dass der Kursleiter wegen eines Notfalls die Stadt verlassen musste? Wenn sie diesen verdammten Schreibkurs nicht machen will, dann hätte sie ihm doch einfach sagen können, dass sie aufhört. Er könnte Rose umbringen. Nicht wegen des Geldes, zum Teufel mit dem Geld, sondern weil sie ihn vor dieser Witzfigur so in Verlegenheit gebracht hat. Auf dem Weg zum Parkplatz kommt er an der Dalton Hall vorbei, und plötzlich hat er das Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmt. Er spürt es. Er sieht sich um, und da niemand in Sicht ist, überquert er den Fußweg. Er hält einen Moment inne, atmet ein- oder zweimal tief durch, orientiert sich. Er hat noch seine Arbeitskleidung an: ölverschmierte grüne Hosen, die ihn als Eindringling entlarven. Er hat keinen Schimmer, was er sagen soll, wenn ihn jemand anspricht, ihn fragt, was er hier will. Zimmer 306 befindet sich im dritten Stock. Als er oben ankommt, nach den drei Treppen außer Atem, stellt er zu seiner Erleichterung fest, dass der Korridor leer ist. Er geht an geschlossenen Türen vorbei, überprüft die Zimmernummern, linst durch eigentlich nutzlose längliche Glasscheiben von der Größe einer Milchtüte. Der Raum liegt ungefähr auf halber Höhe des Flurs. Nur ein kurzer Blick, mehr ist nicht nötig. Der Kerl, der da vor den Kursteilnehmern steht, ist jünger, als Ned erwartet hat, und trägt ein Hemd ohne Krawatte. Und dazu Jeans, Herrgott noch mal. Ned sieht sofort, was für einer das ist. Der Typ Alleswisser, so einer, der über Filme redet, die man nie gesehen hat, und der bei Bürgerversammlungen allen auf den Wecker fällt. Er verwettet die Einnahmen einer ganzen Woche, dass der Kerl ein ausländisches Fabrikat fährt. Wahrscheinlich einen Volvo. -54
Kaum hat er den Kerl gesehen, weiß Ned auch schon, was mit Rose passiert ist, dass sie etwas geschrieben hat, was dieser Mistkerl dann nach Strich und Faden auseinander genommen hat. Und jetzt schämt sie sich natürlich zu sehr,. um wieder hinzugehen. Ned packt die Wut, dass dieser Kerl seiner Rose so etwas hat antun können, aber lang hält sein Ärger nicht an. Seine Konfliktbereitschaft, seine Fähigkeit zu anhaltendem Zorn ist seit langem erschöpft. Das Haus wirkt irgendwie leer. »Rose?«, ruft er, als er hineingeht. »Rosie?« Er sieht in der Küche nach, dann oben. Im Schlafzimmer ist sie nicht. Die Tür zu Todds Zimmer ist geschlossen, und während er darauf zugeht, hofft er, sie mö ge um Himmels willen nicht da drin sitzen. Er hat sie seit Monaten nicht mehr dort gesehen und klammert sich an der Vorstellung fest, dies sei ein Zeichen, dass es ihr langsam besser geht. Er öffnet die Tür, riecht abgestandene Luft. Die letzten Spuren von Todds Schweiß und Rasierwasser haben sich schon verjähren verflüchtigt, aber sonst ist alles noch wie früher. Auf der Kommode hat Rose ein paar von Todds Sachen arrangiert, hauptsächlich Plunder: einen tönernen Tiger, den er im Ferienlager gemacht hat und der mindestens schon zweimal kaputtgegangen und wieder geklebt worden ist – sogar von der Tür aus sieht Ned den feinen Klebstoffstreifen am Schwanz. Zwei gerahmte Fotos, die ihn als Sechs- und als Fünfzehnjährigen zeigen. Seine Uhr, eine billige, blutverklebte Timex› die man ihm in der Unfallstation vom Handgelenk gestreift hat. (Rose achtete monatelang darauf, dass sie richtig ging, bis schließlich die Batterie leer war.) Ein zerknitterter Zettel mit einer Nachricht von ihm, dass er nicht rechtzeitig zum Essen da sein wird. Vor ein paar Jahren hat Rose noch eine Votivkerze dazugestellt. Herrgott, wie ein Altar sieht das aus. Das ist doch krank. Wenn es nach Ned ginge, hätten sie aus Todds Zimmer ein -55
Arbeitszimmer gemacht, und zwar am besten schon vor Jahren. Einen Raum, wo er den Papierkram für die Werkstatt erledigen kann, statt in dem winzigen Kabuff, das er jetzt benutzt und in dem er nie findet, was er sucht. Ein wahrer Albtraum, wenn die Steuererklärung ansteht. Aber Rose will natürlich nichts davon wissen. Wo ist sie überhaupt? »Rose?«, ruft er wieder. Er wird immer nervös, wenn er nicht weiß, wo sie ist. Sie ist ihm schon zu sehr entglitten. Es kommt ihm vor, als wäre sie ein Ballon, der sich in den Wolken verloren hat und nur deshalb, weil er angebunden ist, nicht endgültig davonschwebt, auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Wenigstens die Schnur muss er festhalten, glaubt Ned, dann wird auch der Rest irgendwann wieder auftauchen. Er tritt in den Flur. Durchs Fenster sieht er die Wäsche an der Leine flauem, ein beruhigender Anblick. Drüben im Garten der Montgomerys macht er zwei Gestalten aus, dann hört er, sogar durch die Scheibe, das Wummern von Rockmusik. Schlimm genug, dass er Tys Gedudel in der Werkstatt ertragen muss. Jetzt hat er offenbar nicht mal mehr zu Hause seine Ruhe. Die junge Gates ist letzten Monat dort eingezogen. Kein Ehemann weit und breit, nur sie und das Kind, dabei ist sie in Neds Augen selbst fast noch ein Kind. Er persönlich hält sie für eine harmlose Spinnerin: nicht bösartig, einfach ohne Sinn und Verstand. Dünn wie ein Ölmessstab ist sie – sieht aus, als würde ein heftiger Windstoß sie wegpusten – und läuft immer barfuss durch die Gegend, in grellbunten Röcken, die ihr entweder um die Knöchel schlabbern oder kaum die Oberschenkel verdecken. Zwischendrin gibt’s bei der nichts. Vor ein, zwei Wochen ist sie in die Autowerkstatt gekommen, um das Münztelefon zu benutzen und ihren alten Buick aufzutanken, und es dauerte keine zwei Minuten, da hing Tyrone schon die Zunge aus dem Hals. Die nächste halbe Stunde war der Mechaniker zu nichts mehr zu gebrauchen. Es irritiert Ned, dass das Mädel nebenan wohnt, so nah bei Rose. -56
Bevor die kleine Gates dort eingezogen ist, setzte Ned große Hoffnungen auf das Haus der Montgomerys. Er malte sich aus, dass ein Ehepaar in Roses und seinem Alter dort einziehen würde. Ein nettes, kinderloses Ehepaar. Die Frau würde rüberkommen und sich mit Rose über Vorhänge und Schonbezüge und die Sonderangebote im Supermarkt unterhalten. Vielleicht würde Rose mit ihr zusammen ja wieder anfangen zu nähen. Ned kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal vom Surren der Nähmaschine empfangen wurde. Früher hat ihn dieses Geräusch schier in den Wahnsinn getrieben, doch inzwischen wäre ihm jeder noch so kleine Hinweis darauf, dass Rose wieder zu sich findet, willkommen. Doch statt der Nachbarin, die er sich vorgestellt hat, einer Frau, die Rose wieder zu sich gebracht hätte, ist nun dieses verrückte Huhn eingezogen, dieses spillerige Mädchen, das mit seinem Mundwerk sogar Ty in den Schatten stellt. Wieder muss er an den Tag denken, als sie zur Werkstatt kam, um das Münztelefon zu benutzen. Ihr Apparat hätte eigentlich am Tag davor angeschlossen werden sollen, und sie wollte bei der Telefongesellschaft auf den Putz hauen. »Bei dieser Scheißtelefongesellschaft«, so drückte sie sich aus. In dem Moment, als ihr dieses Wort über die Lippen kam – »Scheißtelefongesellschaft« –, zerplatzten Neds Hoffnungen für Rose mit einem Schlag. Der Junge scheint allerdings ein netter Kerl zu sein. Keine Temperamentsausbrüche, soweit Ned das bisher beurteilen kann. Entschuldigt sich, wenn sein Ball in ihren Garten rollt. Er kann ja nichts dafür, dass seine Mutter so ein Mundwerk hat. Als Ned gestern Abend den Rasen mähte, sah er den Jungen allein mit einem alten Wiffle Ball spielen, den er in die Luft warf, mit seinen ungeschickten Händen zu fangen versuchte und verfehlte, er warf und verfehlte, warf und verfehlte, immer wieder, bis Ned vom Zusehen ganz schwindlig wurde. Er musste -57
an die vielen Abende denken, als er Todd das Fangen beibrachte – dafür braucht es einen geduldigen Vater –, und an all die Baseballbälle, die er seinem Sohn im Laufe der Jahre gekauft hatte. In der Garage steht ein ganzer Kanon mit dem Zeug. Bälle, Handschuhe und Frisbees, die weitaus sinnvoller genutzt wären, wenn der Junge sie hätte. So aber fällt Ned der Pappkanon jedes Mal ins Auge, wenn er in die Garage geht, um den Rasenmäher herauszuholen, und erinnert ihn an den größten Schmerz, den ein Mann überhaup t erleben kann. Er wollte den ganzen Kram ja seiner Schwester Ethel geben, für ihre Jungs. Aber Rose war strikt dagegen, wobei ihm schleierhaft war, wofür sie die Sachen eigentlich aufhob. Er begriff es nicht. Begreift es immer noch nicht. Seiner Meinung nach bringt es überhaupt nichts, sich an Todds Sachen zu klammem. Aber das eine Mal, als er Ethel ein paar von Todds Kleidern gegeben hat, da hat Rose ihm wirklich die Hölle heiß gemacht. Wegen Kleidern, Herrgott. Er wollte eigentlich mehr als ein Kind haben, aber das hat nicht geklappt. Es blieb bei dem einen. Rose war dreiunddreißig, als sie Todd bekam, und da hatte sie die Hoffnung schon fast aufgegeben. Wenn man mehrere Kinder hat. dann sind wenigstens noch die anderen da, wenn man eins verliert. Nicht dass er Rose Vorwürfe machen würde. Manchmal, wenn er sich erlaubt, an Todd zu denken, durchfährt ihn ein richtiger Schmerz, ein körperlicher Schmerz in seinen Muskeln, Sehnen, Organen. Ihm fällt auf, dass die Badezimmertür zu ist. »Rose«, sagt er. »Rosie, bist du da drin?« »Lass mich in Ruhe.« Er dreht am Türknauf, doch es ist abgeschlossen. Er seufzt, halb verärgert, halb resigniert. »Rosie«, sagt er zur Tür hin. »Mach auf. Ich brauche ein paar Aspirin. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.« Nach einem kur zen Moment geht die Tür gerade so weit auf, dass ihr Arm durchpasst und sie ihm ein Fläschchen Excedrin reichen kann. Er sollte die Tür aufdrücken und Rose -58
überrumpeln, sie an den Schultern packen und schütteln und diesem Unsinn ein Ende bereiten. Er nimmt die Flasche entgegen und wartet – hilflos –, während sie den Arm wieder zurückzieht. Er hört das dumpfe Klicken, als sie den Schlüssel im Schloss dreht. Unten in der Küche stellt er sich ans Spülbecken, dreht das kalte Wasser auf und lässt es laufen, bis es eiskalt ist, dann fängt er es in seinen gewölbten Händen auf und taucht das Gesicht hinein. Immer wieder erfrischt er sich das Gesicht, aber die Spannung in seinen Schläfen, das Pochen hinter seinen Augen lassen nicht nach. Er nimmt von dem Excedrin, dann geht er durch den Flur zur Haustür, öffnet sie und schaut über die Einfahrt zum Nachbargrundstück hinüber. Der Junge ist reingegangen. Da drüben müsste mal der Rasen gemäht werden, und die alten Blätter und Zweige der Sträucher an der Grundmauer sind nicht ausgeschnitten worden. Wenn in einer Straße wie dieser auch nur ein Haus verkommt, wird gleich das ganze Viertel in Mitleidenschaft gezogen. Er fragt sich, welcher Makler wohl die Vermietung des Hauses übernommen hat, bei wem er sich beschweren sollte. Während er zum Nachbarhaus hinüberschaut, in dem jetzt eine Verrückte residiert, spürt Ned wieder diese vertraute, lähmende Hilflosigkeit. Er würde gern irgendjemanden wegen Rose um Rat fragen. Doc Blessing hat nicht helfen können. Gut, er hat ihr diese Pillen gegeben, aber die hat sie schon nach einer Woche nicht mehr genommen. Reverend Wills hat mit ihnen beiden gesprochen, aber das hat überhaupt nichts bewirkt. Da hat Ned eine Frau geheiratet, die eine treusorgende, liebende Ehefrau war, eine gute Mutter, aufgeschlossen und interessiert, und dann eines Tages passiert ein Unfall, ein gottverdammter blöder Unfall, und nichts ist mehr wie vorher. Rose hat sich verschlossen. Hat einfach dichtgemacht. Als Erstes hat sie das Autofahren aufgegeben. Hat sich schlichtweg geweigert zu fahren. Zunächst vermutete -59
er, aus Angst, selbst einen Unfall zu haben. Geduldig machte er ihr klar, dass das albern sei, man werde nicht zweimal vom Blitz getroffen, schließlich hätten auch die Covingtons nicht mit dem Schwimmen aufgehört, nachdem einer ihrer Söhne letztes Jahr im See ertrunken war. Herrgott. »Verkauf das Auto«, sagte sie. Das Auto verkaufen? Den Pontiac, den er ihr gerade erst vor einem Monat gekauft hatte? Das erste neue Auto, das sie je besessen hatten? Das Auto, von dem sie so begeistert war, dass sie es wie ein Teenager fast täglich putzte? Er zögerte es hinaus, schob dies und jenes vor, war überzeugt, dass sie sich umbesinnen würde, bis sie ihm eines Tages erklärte, wenn er das Auto nicht verkaufe, werde sie es tun. An ihrem Gesichtsausdruck sah er, dass sie es ernst meinte. Er wartet immer noch darauf, dass sie über ihre Trauer hinwegkommt. Er versucht sich vorzustellen, wie es früher war. Abends sitzt er in seinem Liegesessel vor dem Fernseher, starrt auf Wiederholungen von »MASH« und versucht sich an Rose zu erinnern. Seine Rose. Damals. Er geht ganz bis an den Anfang zurück, als er und Rose noch jung waren, lange vor Todd. Einmal hat ihn sein Gedächtnis in die Zeit vor ihrer Heirat zurückkatapultiert, das Bild stand so klar vor seinen Augen, als sähe er es im Fernsehen. Ein heißer Sommerabend. Er und Rose im Auto. Ein Chevy, der 63er, blau und cremefarben. Sie waren auf dem Weg zum See, zu dem alten Pavillon, in dem früher Samstagabends immer Tanzveranstaltungen stattfanden und den die Stadt noch heute an die Polen vermietet, für ihre Polkafeste. Er lag neben Rosie auf der alten Armeedecke, die er aus dem Kofferraum des Chevy geholt hatte, lag so still, dass er kaum zu atmen wagte, seine Hand auf ihren vollen Brüsten, spürte ihren Herzschlag, das Heben und Senken ihrer wunderbaren, perfekten Brust und das Leben, die Verheißung, die darin schlummerte... Er lag da, und plötzlich merkte er, wie seine Hand zu zittern begann, völlig unkontrolliert zu zittern begann. Und sie legte ihre Hand auf seine und beruhigte sie beide. -60
Damals liebte er sie so sehr, dass er ihr alles gegeben hätte, er hätte ihr die Sonne vom Himmel geholt, wenn sie ihn darum gebeten hätte, er liebte sie so sehr, dass es ihm Angst machte. Solche Erinnerungen tun nie gut. Sie verschlimmern den Schmerz bloß. Er hat nicht nur seinen Sohn verloren, er hat auch seine Frau verloren. Warum kann sie nicht zu ihm zurückkommen? Glaubt sie denn, dass Todd ihm nicht fehlt? Weiß sie denn nicht, dass etwas in einem Mann zerbricht, wenn er seinen Sohn begräbt? Weiß sie nicht, dass er mit seinem Sohn auch viele seiner Träume beerdigt hat? Er hat seinen Sohn weiß Gott geliebt. Und er liebt Rose, liebt sie wirklich. Er liebt Rose, aber sie stellt diese Liebe auf eine harte Probe. Solche Dinge geschehen nun einmal; Unfälle. Krankheiten. Aber das Leben geht weiter. Herrje, es ist einfach nicht richtig, nicht normal, sich zu verhalten, als wäre die Beerdigung gestern gewesen und nicht vor fünf Jahren. Roses Trauer, denkt Ned. Roses Trauer bringt irgendwann auch mich noch um.
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KAPITEL 6 ROSE »Rose?« Sie hört, wie Ned im Flur nach ihr ruft. »Rosie? Bist du da drin?« Das Badezimmer ist der einzige Raum im Haus, den man abschließen kann, doch auch das Schloss kann sie nicht vor seinen Fragen bewahren, die durch die Holztäfelung dringen. »Rosie?« Seine Stimme hat etwas Besorgtes und zugleich Gekränktes. Wie Rauch schiebt sie sich durch die Türritzen. Sie kann sich nicht zu einer Antwort durchringen. Sie sitzt auf der Toilette und wiegt sich vor und zurück, die Arme um den Bauch geschlungen. So eine Attacke hat sie schon lange nicht mehr erlebt. Wochen. Monate. Nach einer Weile hört sie draußen Gelächter, und sie tritt ans Fenster, um in den Nachbargarten hinunterzuschauen. Dieser Junge ist immer noch draußen. Kickt gerade einen Ball auf dem Rasen herum. Sie zieht mit einem Ruck das Rollo bis zum Fensterbrett herunter, so als wäre es möglich, diese Ungerechtigkeit auszuschließen. Wie kann es sein, dass Opal Gates mit einem Kind beschenkt, ja gesegnet wird, wo sie doch selbst fast noch ein Kind ist und nicht mal genug Verstand – oder Verantwortungsgefühl – besitzt, um ihrem Sohn Schuhe anzuziehen? Sie stöhnt, und der Laut krallt sich in ihren Lungen fest, zu fest, um zu entfliehen. Ned klopft wieder. »Rose, lass mich rein. Ich brauche ein Aspirin. Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.« Auch in der Küche liegt Aspirin, auf dem Regal neben dem Spülbecken, aber sie geht ans Medizinschränkchen, nimmt das Excedrin heraus, schließt die Badezimmertür auf. Sie erhascht einen Blick auf ihn, auf sein bleiches Gesicht, das ganz schlaff -62
ist vor Schmerz, und ein heftiges Schuldgefühl durchzuckt sie. Er hat in letzter Zeit oft diese Kopfschmerzen. Es tut ihr Leid, dass sie ihm nicht helfen, nicht herauskommen kann. Eigentlich weiß sie, was sie tun sollte, was sie in ferner Vergangenheit durchaus auch getan hat, was er sich jetzt wünscht. Sie sollte ihn ins Wohnzimmer führen, zu seinem grünen Liegesessel. Entspann dich, sollte sie sagen. Bleib einfach hier sitzen und ruh dich aus, ich mach dir solange ein bisschen Milch warm. Er würde die Augen schließen, und sie würde ihm über die gefurchte Stirn streichen, ihre Finger kühl auf seiner Haut. Zusammen mit der heißen Milch würde sie ihm einen Waschlappen bringen, den sie in Eiswasser getunkt und ausgewrungen hätte. Rosie, würde er sagen, du bist ein Engel. Was sollte ich bloß ohne dich tun? Er würde den Arm ausstrecken, die Augen nach wie vor geschlossen, und seine Hand auf ihre runde Hüfte legen, eine Berührung, die ihnen beiden gut tun würde, die beruhigender wäre als Worte. Sie erlaubt sich, dieses Bild einen Moment lang festzuhalten, doch die Frau mit der heißen Milch, die Frau, die das Gewicht einer schweren Hand auf ihrer Hüfte begrüßt, diese Frau ist eine andere – nicht sie. Sie verabschiedet sich von der Szene, der Möglichkeit schlechthin. Sie reicht ihm das Fläschchen, sperrt wieder ab, schließt den Anblick seines müden Gesichts aus. Für noch mehr Schmerz ist in ihrem Herzen kein Platz. Sie lauscht den Schritten auf der Treppe; dann wird es still im Haus. Ist er ins Wohnzimmer gegangen? Sitzt er in seinem Liegesessel? Sie hört gedämpftes Stimmengemurmel aus dem Fernseher. Das Medizinschränkchen steht noch offen. Sie sortiert seinen Inhalt, die kleinen alltäglichen Dinge ihres Lebens. Q-Tips, Zahncreme, Zahnseide, eine alte, halb volle Tube Hämorrhoidalsalbe, Rheumacreme, eine Pinzette, ein Handspiegel, eine Packung Pflaster. Ein Fläschchen Nelkenöl, fast leer. Neds Magentabletten, Tums und Pepto-Bismol. Jergens Lotion. -63
Unten läutet das Telefon, ein schriller Ton, der die Luft zerschneidet, Einen Moment lang fürchtet sie, es könne Anderson Jeffrey sein, obwohl er bisher immer nur vormittags angerufen hat. Der erste Abend des Schreibkurses. Der Raum roch nach Kreide und trockenen Büchern, nach ängstlicher Hoffnung und verstaubter Enttäuschung, so wie sämtliche Klassenzimmer ihrer Kindheit. An diesem ersten Abend kam er herein, adrett, frisch rasiert und – das allein war schon verdächtig – mit den saubersten Fingernägeln, die sie je an einem Mann gesehen hatte, Doc Blessing und Reverend Wills einmal ausgenommen, und bevor sie auch nur Piep sagen oder entscheiden konnten, ob sie ihn sympathisch fanden oder nicht, hatte Mr. Anderson Jeffrey sie bereits zum Schreiben gebracht. »Setzen Sie eine Liste von Dingen auf, die Ihnen wichtig sind«, sagte er. »Die Ihnen am Herzen liegen.« Um sich herum hörte Rose Füller und Bleistifte übers Papier kratzen, als wären auf einen Schlag vierzig Jahre ungeschehen gemacht. Sie fü hlte sich verschwitzt. Unwohl. Es war ein Fehler gewesen herzukommen, aber jetzt zu gehen wäre noch schlimmer. Sie riskierte einen Blick auf die anderen Kursteilnehmer. Hauptsächlich Frauen mittleren Alters, aber auch zwei ältere Männer – beide mit Bart – und eine junge Frau mit einer Schicht Makeup im Gesicht, die schon abends indiskutabel gewesen wäre, von tagsüber ganz zu schweigen. Rose konnte sich nicht vorstellen, was die anderen alle aufschrieben. Was war ihnen so wichtig, und woher wussten sie es so schnell, ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken? Sie ließ die Hände in den Schoß sinken, wischte die feuchten Handflächen an ihrem Rock ab. Da war sie nun über fünfzig, doch sie ließ sich vom Geräusch der ringsum geschäftig übers Papier kratzenden Stifte lahmen, als wäre sie erst zwölf. Sie -64
überlegte, ob es wohl schon zu spät war, noch in den Patchworkkurs überzuwechseln. Aber sie konnte die Zeit ja wenigstens für etwas Sinnvolles nutzen. Milch, malte sie sorgfältig auf ihr Blatt. Eier. Kaffee. Bisquick. Tums. Für Ned. Das Fläschchen am Spülbecken war fast leer. Thunfisch. Starkist-Thunfisch war diese Woche im Sonderangebot. Margarine. Ajax. Sie war fast fertig, da hörte sie Anderson Jeffrey sagen: »Okay, das war zum Aufwärmen. Jetzt schreiben wir richtig.« Impulsives Schreiben nannte er es. »Suchen Sie sich ein Wort aus Ihrer Liste aus«, sagte er. »Nehmen Sie ein Wort, das Sie besonders anspricht, und schreiben Sie auf, was immer Ihnen dazu einfällt.« Als wäre das so einfach. »Und wenn einem nichts einfällt?«, fragte die Frau mit der Kriegsbemalung. Er lächelte und sagte: »Schreiben Sie einfach drauflos, Hauptsache, der Stift ist in Bewegung. Sie können auch schreiben: ›Mir fällt nichts ein, ich kann nichts schreiben. Mir fällt nichts ein, ich kann nichts schreiben.‹ Und das schreiben Sie so lange, bis Ihnen irgendetwas einfällt.« Rose konnte sich das nicht vorstellen. Überhaupt, was war denn das für ein Lehrer? Hinten im Raum kicherte jemand. Anderson Jeffrey lächelte wieder. »Vertrauen Sie einfach auf den kreativen Prozess«, sagte er. »Wie lang?«, fragte einer der bärtigen Männer. »Bis Sie aufhören.« Rose starrte auf ihr Blatt. Milch. Eier. Bisquick. Thunfisch. Wenn sie sich getraut hätte, wäre sie zu diesem Zeitpunkt gegangen. Aber sie konnte auch eine Weile Mir fällt nichts ein schreiben, das war einfacher und unauffälliger, als zu gehen. Sie nahm ihren Stift und schrieb Ich kann nichts schreiben, mir fällt nichts ein, füllte fast eine halbe Seite damit. Sie wollte gerade eine neue Zeile anfangen, da fiel ihr Blick auf ihre Einkaufsliste und blieb an dem Wort Thunfisch hängen. Sie schrieb Thunfisch, -65
und plötzlich, ohne es darauf angelegt zu haben, war sie dabei, über die belegten Brote zu schreiben, die ihre Mutter früher immer für Picknicks zubereitet hatte, schilderte, wie ihre Mutter den Thunfisch aus der Büchse gehoben und mit der Gabel zerpflückt, dann fein gehackten Sellerie untergehoben und etwas Salatdressing dazugegeben hatte – nie Mayonnaise, immer Dressing, damit es ein kleines bisschen süß schmeckte –, und das alles unter fröhlichem Summen, so dass Rose Thunfisch jahrelang mit guter Laune und der verlockenden Aussicht auf einen Ausflug an den See verbunden hatte. Und dann war die Stunde vorbei. Sie dachte sich, dass Ned bestimmt stinksauer sein würde, wenn er erfuhr, dass er einen Haufen Geld aus dem Fenster geschmissen hatte, nur damit sie eine Einkaufsliste schreiben, eine halbe Seite mit dem Satz Ich kann nicht schreiben füllen und ein paar Zeilen über fünfzig Jahre alten Thunfisch zu Papier bringen konnte. Aber natürlich sollte sich das Geld, das Ned für den Kurs bezahlt hatte, bald als eine seiner geringeren Sorgen erweisen. Rose schiebt alle Gedanken an Anderson Jeffrey und den Schreibkurs beiseite. Sie könnte hinuntergehen und so tun, als wäre es ein ganz normaler Abend, als hätte sie sich nicht stundenlang im Badezimmer eingeschlossen. Bevor sie sich dazu aufraffen kann, steht Ned wieder vor der Tür. »Gibt es noch was zum Abendessen heute?« Der gekränkte Ton in seiner Stimme hat die Oberhand gewonnen. Erst war er besorgt, dann erschöpft, und nun ist er verärgert. Sie kann sich dem jetzt nicht stellen. Er verlangt einfach zu viel von ihr. Als sie nicht reagiert, gibt er auf und geht wieder hinunter. Küchengeräusche dringen nach oben, erreichen sie auch durch die verschlossene Tür. Das Schließen einer Schranktür. Eine Pfanne, die mit mehr Wucht als nötig auf den Herd geknallt wird. Harte Geräusche, die allesamt Neds Ärger zum Ausdruck bringen, gemorste Vorwürfe, Depeschen seiner Frustration. Der -66
Fernseher ist jetzt lauter gestellt. Die aufgeregte Stimme eines Sportreporters steigt nach oben. Sie kann nicht ewig hier oben bleiben. Irgendwann wird sie die Tür aufschließen und wieder ins Leben zurückkehren müssen. Sie zieht das Rollo hoch und sieht zu, wie sich der Himmel rosa verfärbt. »Abendrot – Schönwetterbot’.« Ihr ist das egal. Ein schöner oder ein scheußlicher Tag. Regen oder Sonne. Unten hört unvermittelt das Spiel auf. Sie hört von ferne Wasser rauschen, als im Badezimmer die Toilettenspülung betätigt wird. Er hat den Versuch aufgegeben, sie zu erreichen. Durch die Tür hört sie die vertrauten Geräusche seines allabendlichen Zubettgehrituals. Seine Schritte auf der Treppe. Das Geklimper der Münzen, die er aus der Hosentasche nimmt und auf die Kommode legt, das Rascheln seiner Kleider, als er sich auszieht. Das Öffnen der Schublade, in der sein Schlafanzug liegt. Das Klicken, als er die Nachttischlampe ausmacht. Der lange Seufzer, den er immer ausstößt, wenn er sich ins Bett legt, als ließe er eine Portion zusätzliche Luft ab, die er den ganzen Tag angehalten hat. Sie stellt sich vor, wie er zwischen die Laken schlüpft, ohne zu merken, dass sie frisch sind, wie er darauf achtet, auf seiner Bettseite zu bleiben, obwohl sie noch gar nic ht neben ihm liegt. Sie hat den Geruch in der Nase, den er immer mit ins Bett bringt, ein Geruch, der sich in letzter Zeit verändert hat. Unsere Körperausdünstungen verraten uns, denkt sie. Sie zeigen jede Veränderung an. Die Ärzte sollten viel mehr darauf achten. Sie ruft sich Gerüche in Erinnerung: den sauberen, milchigen Geruch von Todd als Säugling, diesen berauschenden Duft nach Babyschweiß, den sein kompakter kleiner Körper verströmte, gelegentlich auch die Säure von Erbrochenem; dann, später, als er das Kleinkindalter hinter sich hatte, der etwas schärfere Kinderschweiß, ein Geruch von Wind und Sonne, so wie der frisch abgehängter Wäsche. Und dann in seinen Teenagerjahren, wenn er vom Training nach Hause kam, dieser ernste, männliche Geruch. Intensiv, salzig, kraftvoll. Und dann Ned. Wie hat sie -67
seinen Geruch einmal geliebt. In seine Arme gekuschelt, saugte sie den Duft förmlich ein, der aus seinen Poren drang, trank ihn in tiefen Zügen, als könnte sie nie genug davon bekommen. In letzter Zeit hat sein Geruch etwas Säuerliches angenommen, das sie an ihren Vater erinnert und seinen Körper zu umhüllen scheint. Noch so etwas, das ihr unmissverständlich zeigt, dass Ned älter wird. Sie hebt ihren Unterarm an die Nase und atmet tief ein. Ihre Haut riecht trocken, wie etwas, das in Seidenpapier verwahrt wird. Sie schließt die Tür auf, tritt in den Flur, geht zu Todds Zimmer. Einen Augenblick lang bleibt sie auf der Schwelle stehen. Nach dem Unfall ist sie jeden Abend hierher gekommen. Sie war davon überzeugt, dass die Kraft ihrer Liebe, ihre Verbindung zu ihrem Sohn, nicht beeinträchtigt werden konnte, nicht einmal durch den Tod. Sie glaubte, Todd würde irgendwie zu ihr kommen. So etwas ist möglich, wenn man nur fest genug daran glaubt. Und so saß sie in seinem Zimmer und wartete, in den Händen irgendeinen Gegenstand von ihm – ein Kleidungsstück, ein Lieblingsspielzeug, einmal auch seine Zahnbürste, ein anderes Mal eine durchgeschwitzte Socke, die wegzuwerfen oder zu waschen sie nicht übers Herz brachte. Jetzt ge ht sie weiter, am Schlafzimmer vorbei. Neds Schnarchen dringt durch die Tür. Er hat die Nachtbeleuchtung am Treppenabsatz angelassen, und in ihrem schwachen Schein tastet sie sich hinunter. In der Küche schaltet sie die Deckenlampe ein. Es dauert einen Moment, bis ihre Augen sich an das grelle Licht gewöhnt haben. Ihr Wäschekorb steht an der Hintertür und erinnert sie daran, dass die Wäsche noch draußen auf der Leine hängt. Ned hat sein Geschirr ins Spülbecken gestellt, und sie kombiniert aus den Spuren seiner Mahlzeit, was er gegessen hat. Toast, eine Büchse Campbells HerzhafteGemüse-Rindfleischsuppe, ein Stück gedeckten Kirschkuchen. Ein Stück Kuchen ist noch übrig, und sie macht es sich in der -68
Mikrowelle warm – noch so ein Gerät, dem sie misstraut, diese unsichtbaren, machtvollen Wellen, die wer weiß was bewirken. Sie isst im Stehen an der Arbeitsplatte, lässt die angenehm säuerliche Kirschfüllung einen Moment lang im Mund ruhen. Als sie fertig ist, füllt sie Wasser ins Spülbecken, spritzt etwas Spülmittel hinein und taucht die Hände zur Erledigung ihrer Pflicht ein. Nachdem sie den letzten Teller abgespült hat, überprüft sie die Hintertür. Ned hat sie bereits abgeschlossen. Vor fünfunddreißig Jahren, als sie neu hier eingezogen waren, schlossen sie nie ab, doch Normal hat sich in den letzten dreißig Jahren ziemlich verändert. Jetzt haben sie an Hinter- und Vordertür zusätzlich zu dem Yale-Schloss einen Sicherheitsriegel. Sie lauscht den vertrauten Geräuschen des Hauses, in dem die Nacht Einzug hält. Das Summen des Kühlschranks, das tiefere Brummen der Heizungsanlage, das Kratzen eines Heckenrosenzweigs am Küchenfenster. Die sollten zurückgeschnitten werden, bevor der Frost einbricht. Noch eine Aufgabe für Ned. »Es ist doch unsinnig, dieses Haus zu behalten«, hat er gestern beim Abendessen zu ihr gesagt. »Es ist einfach zu groß für uns beide. Macht zu viel Arbeit.« Sie aßen Schweinebraten, und als er diesen Satz sagte, dass das Haus zu groß für sie beide sei, blieb ihr der Bissen Fleisch, den sie gerade herunterschluckte, in der Speiseröhre stecken, hinterm Brustbein, und dort saß er dann den restlichen Abend fest und schmerzte. Irgendwann nach Mittemacht stand sie schließlich auf und nahm zwei seiner Magentabletten. Er redet immer häufiger davon, in nicht allzu ferner Zukunft – so in drei bis fünf Jahren ungefähr – das Haus und die Autowerkstatt zu verkaufen und mit dem Gewinn in den Süden zu ziehen, ein Haus in Florida zu kaufen. Er malt es ihr aus. Keine Schneestürme mehr, keine Einkommenssteuer, nicht mehr Tag für Tag defekte Getriebe reparieren. Wenn er so redet, -69
überkommt Rose ein Gefühl, das an Hass grenzt und ihr Herz erstarren lässt. Genau wie damals vor drei Jahren, als sie die Küche renovierten und er einfach die Bleistiftstriche am Türrahmen überstreichen wollte, die Todds Wachstum vom Kleinkindalter bis zum Teenager markierten. Für Rose kam das nicht in Frage. Die Striche sind sichtbare Belege dafür, dass ihr Sohn existiert hat, dass er mit zwei Jahren 81 Zentimeter groß war und mit zwölf 1,30 Meter. Warum will Ned das vergessen? »Lass uns hier weggehen, solange wir noch jung genug sind, um das Leben zu genießen«, sagte er, den Mund voller Schweinebraten – als ob Rose jemals wieder das Leben genießen könnte. »Es ist doch nur vernünftig«, sagte er. Rose findet das nicht. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, aus diesem Haus auszuziehen. Allein die Vorstellung, dass jemand anders hier einziehen könnte, macht sie krank. Als Erstes würden die neuen Besitzer genau diese Markierungen am Türpfosten überstreichen und damit den Nachweis für Todds Wachstum vernichten. Begreift Ned das denn nicht? Dieses Haus ist Todds Haus. Wenn Ned sich die Werkstatt vom Hals schaffen will, ist das seine Sache, aber sie wird dieses Haus nicht verkaufen. Nicht dass sie nach Todds Tod noch die Illusion hätte, irgendetwas auf dieser Welt kontrollieren zu können, aber sie kann von der fast schon abergläubischen Überzeugung nicht lassen, dass Ned und sie weiterem Unglück entgehen werden, wenn sie nur alles einfrieren, die Dinge so lassen, wie sie waren, und dass sie dann ein Zeichen von Todd erhalten wird. Mag noch so viel dagegen sprechen, an diese letzte Überzeugung klammert sie sich. Doch trotz ihrer Bemühungen verändert sich in letzter Zeit etwas. Ihr inneres Gleichgewicht ist instabil geworden, so als fänden tief in ihrem Innern tektonische Verschiebungen jener Art statt, wie sie neulich in der naturwissenschaftlichen Sendung, die Ned sich immer ansieht, beschrieben Bürden. Als der Moderator erklärte, dass im Innern der Erdkruste minimale, unmerkliche -70
Bewegungen erfolgen und diese Veränderungen die Vorläufer von Erdbeben sind, kam ihr das erschreckend vertraut vor. Nach dem Unfall ist dieses Gefühl immer stärker geworden, und seit diesem Herbst spürt sie es besonders oft – als oszilliere ihre Innenwelt mit winzigen, gefährlichen Bewegungen. Gefahr hängt in der Luft. Bedrohung. Sie macht das Licht in der Küche aus und geht die Treppe hinauf, vom schwachen Schimmer der Nachtbeleuchtung geleitet. Draußen ist es still, nur der Collie der McDonalds bellt in der Ferne. Sie zieht sich im Dunkeln aus und schlüpft vorsichtig ins Bett, um Ned nicht aufzuwecken. Er ist ein guter Mann. Ehrlich und fleißig. Sie kann sich glücklich schätzen, ihn zu haben. Sie wiederholt diese Worte wie ein Gebet. Er stöhnt leise im Schlaf. Sie fragt sich, ob er krank ist – diese beunruhigenden Kopfwehattacken –, und wieder plagt sie das schlechte Gewissen, weil sie ihn vorhin abgewiesen hat. Vielleicht hat er ja einen Tumor? Oder eine Thrombose? Würde sie es verkraften, ihn zu verlieren? Würde sie es verkraften, ein weiteres Stück von sich zu verlieren? Nach Todds Tod gab Reverend Wills ihnen ein Buch, das für Ehepaare geschrieben war, die ein Kind verloren haben. »Man verliert ein Stück von sich«, schrieb der Autor. Das klang nach einem abgehackten Bein, fand Rose. Oder einem Arm. In dem Buch stand, dass der Tod eines Kindes das Elternpaar sowohl zusammenschweißen als auch auseinander treiben könne, dass Mann und Frau sich entweder trostsuchend einander zuwandten und versuchten, einen Sinn in der Tragödie zu entdecken, spirituellen Halt zu finden, oder dass sie sich scheiden ließen, weil der Tod des Kindes ein zu harter, nicht mehr verkraftbarer Schlag für ihre Ehe war. Bei Ned und ihr ist weder das eine noch das andere passiert. Sie treiben einfach dahin im Meer der Zeit und warten darauf, dass ein Rettungsfloß vorbeikommt.
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KAPITEL 7 OPAL Während ihrer ersten zwei Monate in Normal hatte Opal sich gegen einen Anruf von Billy gewappnet, aber die Wochen sind verstrichen, ohne dass er auch nur irgendetwas von sich hat hören lassen, mal abgesehen von den Botschaften, die er ihr durch ihre Mama zukommen lässt, Botschaften, denen Opal wohlweislich nicht traut. Melva kann noch so oft erzählen, wie sehr Billy sie und Zack vermisst, aber wenn er sie wirklich so furchtbar vermisst, warum ruft er dann nicht wenigstens mal an? Zuerst hat Opal das Fehlen jeglicher Kommunikation irritiert, aber inzwischen findet sie es beruhigend. Es bestärkt sie in dem Glauben, dass Billy froh ist, sie los zu sein, und dass er keinen Aufstand machen wird. Als er dann tatsächlich anruft, ist sie nicht im Geringsten darauf vorbereitet, und es versetzt ihr einen Stich in den Magen, als sie seine Stimme hört. »Hi Billy«, bringt sie – total cool – heraus und denkt dabei: Scheiße. Mit dem Rücken am Schrank lässt sie sich zu Boden gleiten, legt das Telefon in ihren Schoß und nimmt so unwillkürlich die gleiche Haltung ein wie damals im Herbst ihres ersten Jahres am College, als sie Abend für Abend im Wohnzimmer auf dem Teppich kauerte und sich den Hörer ans Ohr presste. Stundenlang flüsterten sie miteinander, die Stimme mal belegt, mal zärtlich, mal rauchig, mal gedämpft, je nachdem, in welcher Phase sie sich gerade befanden: von der gegenseitigen Anziehung zum Flirten, von der ersten Verabredung zum regelmäßigen gemeinsamen Ausgehen, vom Miteinandergehen zum Telefonsex. Auf den Telefonsex folgte der echte Sex – auf der Rückbank seines schwarzen Dodge Ram Pickups oder hinter einem der Grabsteine im hinteren Teil des Baptistenfriedhofs; wo immer sie eben mal fünf Minuten für -72
sich sein konnten. Wer hätte gedacht, dass etwas, das mit aufreizendem Geflüster und der erregenden Tenorstimme eines Jungen begonnen hatte, zu einer derartigen Misere führen könnte, dass es in ungläubigen Tränen und einer Krise enden würde, einer ganz gewaltigen Krise? »Mann, Opal, du fehlst mir.« Er hat die Stimme gesenkt. Sie reden zum ersten Mal miteinander, seit Opal aus New Zion weggegangen ist, aber er tut so, als hätten sie sich gerade erst letzte Woche unterhalten. Dem fehlt echt jede Verbindung zur Realität, »Wie geht’s Zack?«, fragt er gerade. Als ob ihn das auch nur ansatzweise interessieren würde. »Dem geht’s prima.« Sie lässt ihren Blick durch die Küche schweifen und heftet ihn schließlich auf den kleinen gelbblauen Fleck, der mitten auf einer der Schranktüren prangt. Der Aufkleber – er stammt von einer Banane – war schon da, als sie einzog, eine Hinterlassenschaft der Montgomerys. Er wirkte so gnadenlos fehl am Platz in dieser sterilen, avocadofarbenen Küche, dass Opal ihn sofort als Zeichen erkannt hat. Was sonst sollte er sein, da mitten auf der Schranktür? Seine Bedeutung hat sie allerdings noch nicht ergründet. Chiquita. Gab es nicht eine südamerikanische Sängerin, die so hieß? Oder bringt sie die mit der Frau aus der Bananenreklame durcheinander? »Opal? Bist du noch dran?« Sie reißt sich von dem Abziehbild los, »Ja.« »Du fehlst mir, Opal.« Sie sagt nichts, weiß, wie die vorgeschriebene Antwort lautet, die Antwort, auf die Billy jetzt wartet: Du mir auch. Ihr Schweigen summt in der Telefonleitung. »Wie geht’s dir, ist alles okay?«, fragt er – als hielte Melva ihn nicht auf dem Laufenden. »Mir geht’s hervorragend«, sagt sie mit ihrer CheerleaderZwitscherstimme. »Ganz hervorragend.« »Ja, na ja, das ist ja prima.« Seine Stimme ist plötzlich ausdruckslos geworden. -73
»Ich habe ein Haus gemietet«, erzählt sie, »ein zweistöckiges Haus mit drei Zimmern und einem Garten nach hinten. Es liegt in einer Sackgasse, was natürlich gut ist – für Zacks Sicherheit, meine ich –, und nebenan wohnt ein nettes älteres Ehepaar.« Sie weiß, dass sie brabbelt, aber sie kann nicht aufhören. »Ich habe Zack in einem Kindergarten angemeldet, außerdem gibt es hier einen Spielzeugladen, der sich für meine Puppen interessiert.« Sie bereut sofort, dass sie ihre Arbeit erwähnt hat. Obwohl es das Erste ist, worin sie je gut war – wirklich gut, überraschend gut –, findet Billy es unmöglich, dass sie Puppen bastelt. Wobei sie keinen blassen Schimmer hat, was ihn daran eigentlich so aufregt. »Tja, freut mich zu hören, dass bei dir alles so toll läuft, Opal, denn mir – ich weiß, du hast nicht danach gefragt also, mir geht’s nämlich nicht sonderlich gut.« Verdammt. Ihre erste Unterhaltung, seit sie aus New Zion weg ist, dauert noch keine fünf Minuten, und schon geht sie den Bach runter. Das waren die Puppen. Sie starrt auf den gelben Aufkleber, und wie aus heiterem Himmel fällt ihr der Name der Sängerin ein. Nicht Chiquita. Carmen. Carmen Miranda. Aber dadurch kommt sie der Bedeutung des Aufklebers auch nicht näher. »Diese Geschichte, die du mir da aufgetischt hast«, sagt Billy, »von wegen, du fährst zu Verwandten?« Widerwillig wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefonat zu. »Ja?« »Das war eine verdammte Lüge, Opal.« Na denn. »Eine Lüge?« »Dass du Verwandte besuchst.« Schnee von gestern, denkt Opal. »Dein Daddy hat mir erzählt, dass du überhaupt keine Verwandten in Ohio hast«, sagt er in verletztem Ton, als wäre das der wesentliche Teil der Lüge. »Ich weiß«, sagt sie. Manchmal ist er so was von beschränkt, dass sie sich fragt, ob er es auch nur schafft, seine Hose allein -74
zuzumachen. »Scheiße, Mann, Opal. Ich hab dir geglaubt.« »Tut mir Leid«, erwidert sie. Ein Zuckerchen, das sie ihm über die sichere Entfernung von sechs Staaten hinweg zuwirft. »›Tut mir Leid‹ sagt sich leicht.« »Komm, lass uns nicht streiten«, sagt sie. »Das ist doch witzlos.« »Das ist überhaupt nicht witzlos, Opal, der Witz ist nämlich, dass mir mein Sohn fehlt« Ach nee, er hat wohl auf einmal seine väterliche Ader entdeckt? Zwei Monate ist sie jetzt schon weg, und er schafft es mit Mühe und Not, sie heute anzurufen. Und da soll sie ihm plötzlich Vatergefühle abnehmen? Er hat sich nie großartig für Zack interessiert. Als sie noch in New Zion waren, war er ein beschissener Daddy, und Opal sieht nicht ein, warum ihre zweimonatige Abwesenheit daran irgendetwas geändert haben sollte. Als Zack ein Baby war, hat Billy ihn ja kaum mal auf den Arm genommen, und mit dem Füttern – oder gar dem Wickeln, mein Gott! – wollte er nichts zu tun haben. Und als Zack dann ein bisschen älter wurde, jammerte Billy herum: »Ich komme mit Kleinkindern nicht klar. Ich hab keine Ahnung, was ich mit denen anstellen soll.« Jetzt hat er es also plötzlich gelernt? Fixes Bürschchen. »Hör zu, Opal«, sagt er in so ernstem Ton, dass ein unerwarteter Angstschauer sie überläuft, »ich will, dass du zurückkommst. Ich will, dass wir heiraten und eine richtige Familie werden. Ich mein es ernst, mein Schatz.« Die Chancen stehen gleich null Junge, denkt sie. Bloß weil sie den Fehler gemacht hat, schwanger zu werden, wird sie nicht noch eins draufsetzen und ihn heiraten. Billy sollte mit Nachnamen »Willimmerhabenwasernichtkriegenkann« heißen. Der beliebteste Junge an der New Zion Highschool, aber für Opal hat er sich einzig und allein deshalb entschieden, weil sie ihn wochenlang hat zappeln lassen. Ist ihm immer nur -75
zentimeterweise entgegengekommen. Hatte noch andere Ideen im Kopf, andere Interessen als seinen knackigen Arsch. »Ich mein es ernst, Opal. Wir könnten sofort heiraten. Damit Zack ein richtiges Zuhause hat.« Das »richtige Zuhause« für Zack klingt stark nach Melva. »Wir müssen darüber reden, Opal. Wir müssen irgendeine Lösung finden. Du kannst nicht einfach wegbleiben.« »Dass ich hier bin, hat nichts mit dir zu tun, Billy.« »Aber Zack hat etwas mit mir zu tun. Er ist schließlich auch mein Sohn. Mein Fleisch und Blut.« »Du hast ihn doch nie gewollt.« Seine Antwort klingt gedämpft. Im Hintergrund hört sie eine Stimme, die eindeutig weiblich ist. Eifersucht durchzuckt sie, verwandelt sich aber rasch in Wut. Ruft der Kerl an und erzählt ihr was vom Heiraten, während die ganze Zeit irgendso ’ne Schnepfe bei ihm hockt. So eine wie Caryl Jackson wahrscheinlich, die im Junior Reserve Officers’ Training Corps ist und beim Vögeln garantiert ihre Uniform anlässt. Caryl Jackson, die ohne ihren ausgepolsterten Pushup-BH flach wie ein Brett ist. Na, soll er sich doch mit einem ganzem Bataillon von Frauen umgeben. Was kümmert sie das. Er legt die Hand über die Sprechmuschel und murmelt irgendetwas in den Raum, dann sagt er in den Hörer: »Deine Mama will auch noch ein paar Worte mit dir reden, wenn wir fertig sind.« »Du rufst von meiner Mama aus an?« »Ja.« »Was machst du denn bei der?« Diese Neuigkeit haut sie echt um. Wohnt er jetzt da, oder wie? »Ich bin zum Essen vorbeigekommen.« Vorbeigekommen? Das Haus ihrer Eltern liegt nicht gerade auf seinem Heimweg. »Opal, wir müssen uns mal richtig unterhalten. Du kannst mich nicht einfach so ausschließen.« Ein weiterer gedämpfter -76
Wortwechsel am anderen Ende, dann reicht er Melva den Hörer, »Du machst es uns allen wirklich nicht leicht«, beginnt ihre Mama. »Ich schäme mich, dass mein eigenes Kind so verantwortungslos handelt.« »Um dich geht es hier nicht, Mama«, unterbricht Opal sie – meine Güte, wie oft hat sie das alles schon gehört –, aber Melva ist nicht mehr zu bremsen. »Wenn du schon keine Rücksicht auf meine Gefühle nimmst und auf die von deinem Daddy und von Billy, dann denk wenigstens an deinen Sohn. Er braucht einen Vater.« Dieser Gedanke ist Opal nun keineswegs so fremd, wie ihre Mutter vielleicht meint, sie hat schon so manchen Abend darüber nachgegrübelt. Vom ersten Tag an hat sie sich Sorgen darüber gemacht, wie sich die Trennung auf Zack auswirken würde, und sie hat schon mehrmals überlegt, ob sie Zack nicht auf Billy ansprechen, ihn fragen sollte, ob er ihn vermisst. Doch dann denkt sie wieder, warum schlafende Hunde wecken? Aber sie wird einen Teufel tun und ihrer Mama diese Munition an die Hand geben. »Ich kann mir«, sagt Melva, »beim besten Willen nicht erklären, was du da tust. Manchmal glaube ich, dass du es bewusst darauf anlegst, andere Menschen ins Unglück zu stürzen und ihr Leben aus dem Lot zu bringen.« Verdammt. Weiß ihre Mama denn nicht, dass sie niemals bewusst andere Menschen verletzen oder gar ins Unglück stürzen würde? Wie kann sie Melva bloß begreiflich machen, dass sie sich nur auf die einzige ihr bekannte Weise davor zu schützen versucht, von den Hoffnungen, Plänen und Erwartungen anderer Menschen überrollt zu werden, sich zu einer Heirat überreden zu lassen, von der sie in ihrem tiefsten Herzen weiß, dass sie ein Fehler wäre? »Host du mir zu, Raylee?« »Mama«, sagt sie. »Ich kann das nicht mit dir.« »Was kannst du nicht mit mir?« Melva schaltet auf ihren -77
harten Tonfall um. »Über diese Dinge reden. Wir haben das alles schon tausendmal besprochen.« »Und genützt hat es rein gar nichts«, sagt Melva. »Jetzt hör mir mal gut zu –« Zuhören? Hört sie ihrer Mama nicht schon ihr Leben lang zu? Opal Vorträge zu halten ist Melvas ultimative Vorstellung von der Mutter-Tochter-Beziehung. »Du kannst nicht erwarten, dass so etwas widerstandslos hingenommen wird. Du kannst nicht das Leben anderer Menschen auf den Kopf stellen und erwarten, dass sie still dasitzen und nichts unternehmen.« »Was soll denn das schon wieder heißen?« Entgegen all ihren guten Vorsätzen wird Opal laut. Melva raubt ihr noch den letzten Nerv. »Es gibt keinen Grund, mich anzuschreien«, sagt ihre Mama. »Ich möchte nur, dass dir klar ist, dass jede Handlung Konsequenzen hat.« Jede Handlung hat Konsequenzen. Diese originelle philosophische Erkenntnis hat sie ungefähr schon dreihundertvierundzwanzigmillionenmal aus Melvas Mund vernommen. »Das hast du mir schon als Kind vorgebetet, Mama. Ich bin nicht mehr fünfzehn.« Fünfzehn. Sie steht im Wohnzimmer, außer Stande, ihrem Daddy in die Augen zu sehen, während Melva sich in einer langen Tirade über Enttäuschung und Schimpf und Schande ergeht und dass sie sich nicht mehr in der Stadt blicken lassen könne und dass Raylee ja noch ihr ganzes Leben vor sich habe, und dann kommt sie zur Sache. Wir kennen da einen Arzt ... in so einem frühen Stadium ... eine sichere Methode. Ihre Mama brachte das Wort Abtreibung nicht über die Lippen, doch es hing in der Luft wie ein säuerlicher Geruch. Auf ihre eigene Reaktion, nämlich umgehend in Lethargie zu verfallen – sollte ihre Mama doch das Kommando übernehmen –, folgte die Rationalisierung. Sie würde nicht die Erste in ihrer Klasse sein, sie könnte einfach weitermachen, als sei nichts geschehen, es -78
wäre ein einfacher Ausweg. Sie war selbst genauso überrascht wie ihre Mama und ihr Daddy, als sie sich Nein sagen hörte. So war es mit fünfzehn. »Na, dann hör auf, dich zu verhalten, als wärst du es«, fährt Melva fort. »Du bist dermaßen auf dich selbst fixiert, dass du überhaupt nicht merkst, wie todunglücklich wir hier alle sind. Todunglücklich sind wir, weil unser kleiner Goldjunge uns so fehlt.« Noch mal wird Opal nicht auf diese alte Leier eingehen. »Ich muss jetzt aufhören, Mama. Ich habe Zack gerade ins Bett gebracht, und ich glaube, ich höre ihn weinen.« »Natürlich weint er. Er vermisse seinen Daddy. Er vermisst uns alle. Was du ihm antust, ist mehr als unverantwortlich. Es ist kriminell. Jede Handlung hat Konsequenzen«, wiederholt sie. »Komm du nachher bloß nicht an und sag, ich hätte dich nicht gewarnt.« Als Opal aufgelegt hat, hallen die Worte ihrer Mama in ihr nach. Komm nachher bloß nicht an und sag, ich hätte dich nicht gewarnt. Sie schließt die Augen und konzentriert sich darauf, diese Botschaft aus ihrem Innern zu verbannen. Sie wird nicht zulassen, dass solche zerstörerischen Gedanken ihre eigenen Ängste nähren. Es ist nur wieder eine von Melvas leeren Drohungen, pure Manipulation, mit der sie die Kontrolle an sich reißen und Opal zur Rückkehr nach New Zion nötigen will. Sie starrt auf den Chiquita-Aufkleber, als hielte er eine Lösung für sie parat. Sie könnte jetzt wirklich ein Zeichen gebrauchen. Als sie das erste Mal mit Billy verabredet war, sah sie ein Zeichen. Er fuhr in dem Dodge Ram, auf den er so stolz war, bei ihnen vorm Haus vor, einem Pickup, dessen Fahrerkabine so weit vom Boden entfernt war, dass sie gleich wusste, da würde sie ohne seine Hilfe nicht raufkommen. Ihr fiel sofort das Surfbrett ins Auge, das von der Ladefläche empor ragte, und selbst aus einiger Entfernung konnte sie lesen, was in lila Buchstaben auf dem breiten Fiberglasbrett stand: Keine Angst. Viel später dann -79
fragte sie sich, wie sie eine Botschaft, die auf den ersten Blick doch so offensichtlich schien, hatte missverstehen können. Zeichen lesen ist wie Radiomusik hören. Beide sind immer da, man muss nur die richtige Frequenz finden. Sie starrt auf den Aufkleber. Mit dem klappt der Empfang noch nicht so richtig. Das Telefongespräch klingt immer noch in ihr nach. Es verletzt sie, dass ihre Mama offenbar denkt, sie würde durchs Leben marschieren und zielstrebig andere Menschen ins Unglück stürzen. Ist Billy unglücklich? Sie hat keine Ahnung. Aber sie wird ihn gewiss nicht heiraten, nur damit Zack einen Daddy hat und damit ihrer Mama gedient ist damit die sich noch in der Stadt blicken lassen kann. Sie liebt Billy einfach nicht genug, auch wenn seine Stimme das muss sie zugeben – nach wie vor Macht über sie hat. Auch wenn sie damals auf dem alten Friedhof hinter der Baptistenkirche Sachen mit Billy gemacht hat, die ihr heute noch die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die Macht des Sex. Und was kommt dabei raus? Echt, der hat sie mit seinen Berührungen angetörnt, wie sie das nie für möglich gehalten hätte. Es ging so weit, dass er nur den Fingernagel über die Innenseite ihres Arms ziehen musste, und schon wurde sie feucht. Selbst jetzt, bei der Erinnerung daran, breitet sich diese Wärme in ihrem Bauch aus. Scheiße, Mann. Es ist genau diese Lust auf Sex, die sie in ihre jetzige missliche Lage gebracht hat. Sie hat von diesem einen Baseballprofi gehört, der sexsüchtig ist, und glaubt, dass sie das bei Billy auch war. Außerhalb des Betts, um das mal klar zu sagen, hat er sie immer gelangweilt. Aber wenn sie nur fünf Minuten mit ihm im Bett war, verabschiedete sich ihr Verstand, und ihr Körper war wie ein Land, in das eine fremde Macht einmarschiert ist. Das ist mit das Schwierigste an der Trennung von Billy: Ihr fehlt der Sex. Na, scheiß auf den Sex. Sie wird einen Teufel tun und sich noch mal so reinreiten. Was also bedeutet der Bananenaufkleber? Soll sie nach Südamerika ziehen? Manchmal denkt sie, dass sie so weit weg -80
müsste, um Billy zu entfliehen – und Mama. So weit weg, um herauszufinden, wer sie ist und was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Sie geht die Treppe hoch, um nach Zack zu sehen. Im Halbdunkel steigt sie vorsichtig über die Schnur, die Zack kreuz und quer über den Fußboden gespannt hat, eine Art riesiges Fadenspiel, das die Beine von Kommode und Bett miteinander verbindet. Es ist eine neue Erfindung, eine Netzfalle zum Schutz vor dem Werwolf, der im Anschluss an die Halloweenparty im Kindergarten in Zacks Fantasie – und seinem Zimmer – Einzug gehalten hat. Er liegt im sanften Schein seines Batman-Nachtlichts und ist schon in seinen tiefen, ernsten Kinderschlaf gesunken. Selbst im Schlaf sieht er erstaunlich selbstbeherrscht aus, so als befände er sich an einem anderen, ihr unbekannten Ort. Manchmal macht ihr die Intensität seines Schlafes Angst. Sie legt ihm die Decke über die dünnen Arme, wischt ihm eine verschwitzte Locke aus der Stirn, spielt mit den feinen Härchen hinter seinen Ohren. Sie spürt ein kurzes Ziehen in der Brust und im Bauch ein fast erotisches Prickeln. Als er noch ein Baby war, tropfte ihr die Milch aus den Brüsten, sobald sie ihn nur auf den Arm nahm, und wenn sie ihn dann hielt, ihn roch, krampfte sich ihr Becken tief und wohlig zusammen. Es erstaunt sie, dass sie so heftige Gefühle haben kann, wenn es um etwas außerhalb ihrer selbst geht. Und doch ist Zack auch ein Teil von ihr, und zwar so sehr, dass man sie – das weiß sie sicher – mit verbundenen Augen in einen Raum mit dreihundert Fünfjährigen führen könnte und sie ihn auf Anhieb finden würde, völlig problemlos, wie ein Tier, das sein Junges aufspürt. So viel Liebe, durch eine schlichte Panne. Sie stopft die Decke um ihn fest, will noch nicht gehen. Sie könnte ihm stundenlang beim Schlafen zusehen. Oft verliert sie sich regelrecht in der Betrachtung, wie in einer Meditation , in der sich ihr Atem ganz unwillkürlich dem seinen anpasst, ihr -81
Brustkorb sich im Einklang mit seinem hebt und senkt. Er schläft genau wie Billy – auf dem Rücken, einen Arm ausgestreckt, die Handfläche nach oben. Aber Zack hat ohnehin viel von seinem Daddy. Seinen schlaksigen Körper, seine geraden Augenbrauen, sein störrisches Kinn, seine leicht abstehenden Ohren. Manchmal kommt es ihr vor, als hätte er von ihr bloß die roten Haare. Und den Namen. Während ihrer Schwangerschaft schrieb Opal endlose Namenslisten. Sie wusste fast von Anfang an, dass sie einen Sohn bekommen würde, einen Jungen, den ihre Mama nach ihrem eigenen Vater, Opals Großvater, nennen wollte, was völlig indiskutabel war, denn abgesehen davon, dass es ein hässlicher Name war, bedeutete Hackett »kleiner Hacker«. Niemals würde sie ihrem Sohn einen Namen mit einer solchen Bedeutung geben. Es war nicht leicht, einen Namen zu finden, der laut 1000 Namen für Ihr Baby für etwas wirklich Überzeugendes stand. Knut zum Beispiel bedeutete »frei und edel«. Schöne Idee, aber Knut? Spätestens ab dem zweiten Schultag würde ihn die ganze Klasse »Knutsch« nennen. »Warum können wir ihn eigentlich nicht William nennen?«, fragte Billy, als sie ihm ihre endgültige Auswahl in Frage kommender Namen zeigte. Sie war über den siebten Monat hinaus, und ihr Liebesleben lag mehr oder weniger darnieder, was sie völlig rappelig machte. »Das geht nicht.« Sie hatte viel über das Thema nachgedacht und versuchte, ihm einige ihrer Gedanken zu vermitteln. »Namen sind wichtig«, sagte sie. »Indem man etwas benennt, ihm einen Namen gibt, erschafft man es erst.« »Raylee«, sagte er, es war drei Jahre vor ihrer eigenen Namensänderung, »Raylee, was redest du da bloß für einen Quatsch?« Es war schwierig zu erklären, besonders ihm. Es war eine dieser Ideen, die ihr manchmal kamen – eine beiläufige -82
Erkenntnis, die sie festhielt, da sie ihre Wichtigkeit sofort erkannte und spürte, dass noch eine tiefere Bedeutung darin zu entdecken war. Wie hätte sie das Billy erklären sollen, der die Dinge gern konkret hatte, der alles exakt und unveränderlich vor sich haben wollte, so wie die Freiwurflinie in der Sporthalle, wo er so viele Stunden verbrachte? Manchmal wenn Opal etwas erklärt, kommen Sätze aus ihrem Mund, die sie nie bewusst gedacht hat. So war es auch, als sie Billy das mit den Namen erklären wollte. »Indem man etwas benennt, erschafft man es erst«, wiederholte sie. »Indem man einem Kind einen Namen gibt, nimmt man es gleichzeitig, in Besitz und gibt es fort.« »Raylee«, sagte er, »ich hasse es, wenn du so redest.« Während sie leise Zacks Zimmer verlässt, geht sie in Gedanken noch mal das ganze Telefongespräch durch und versucht herauszufinden, warum es ihr solches Unbehagen bereitet. Monate später wird sie sich bei der Erinnerung an diesen Abend fragen, wie sie die Warnungen ihrer Mama hat ignorieren können, wie sie die eiserne Entschlossenheit hat unterschätzen können, die Billy an den Tag legt, wenn er sich erst einmal zu etwas entschieden hat. Wie kann es angehen, dass es kein Zeichen gab?
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KAPITEL 8 OPAL Nach dem Telefongespräch ist Opal zu aufgewühlt, um zu schlafen, und so geht sie ins Wohnzimmer, wo die Puppe, an der sie derzeit arbeitet, auf dem Zuschneidetisch liegt. Der ausklappbare Ahornholztisch der Montgomerys ist zum Zuschneiden und Nähen bestens geeignet, und zum Bemalen hat Opal einen Klapptisch aufgestellt. In einer Ecke des Zimmers liegt bahnenweise Stoff – Tüll, verschiedene bedruckte Baumwollstoffe, Jeansstoff, Seide und Organza. Einige Tüten Kapok sind unter dem Tisch verstaut. An einer Wand stehen mehrere Plastikkästen mit kleinen Fächern, in denen Strassperlen, Metallstifte, Ziermünzen, Druckknöpfe sowie Haken und Ösen liegen. Sie nimmt das Bestellformular in die Hand und mustert das Mädchen auf dem beigehefteten Foto. Ein brauner Pagenkopf und ernste Augen, die durch eine runde Brille blicken. »Lassen Sie die Brille weg«, hat die Großmutter auf das Formular geschrieben. Sie will eine Ballerina, die meistgewählte Mädchenpuppe. Haben die Leute denn überhaupt keine Fantasie? Es ist so unübersehbar wie die Warzen auf einem Krötenrücken, dass das Mädchen – Ellen, liest sie auf dem Formular – nicht an dieser Entscheidung beteiligt war. Opal sieht Intelligenz in ihren Augen, Entschlossenheit um ihren Mund. Dieses Kind will auf dem Mond herumstapfen, nicht auf umgeknickten Zehen Pirouetten drehen. Richtig blind sind die Leute manchmal. In den letzten paar Wochen hat es sich herumgesprochen, dass sie Puppen näht. Opal hat ein halbes Dutzend Bestellungen von anderen Müttern aus Zacks Kindergarten erhalten, und der örtliche Spielzeugladen hat bereits nachbestellt. Die -84
Ladenbesitzerin hat ihr versprochen, sie in den nächsten Weihnachtsprospekt aufzunehmen – wenn Opal nächsten Dezember noch hier ist. Die Puppen waren ein unve rhoffter Nebeneffekt ihrer Schwangerschaft, und den verdankt sie der alten Horsley. Sobald in der Schule bekannt wurde, dass sie in anderen Umständen war, rief Miss Horsley sie zu einem Gespräch zu sich. An der New Zion Highschool sei es schwangeren Mädche n grundsätzlich nicht erlaubt, am Unterricht teilzunehmen – so als hätten sie eine ansteckende Krankheit –, aber Opal dürfe mit ihrer Klasse die Abschlussprüfung machen, wenn sie Privatunterricht nehme. Opal war das nur recht. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass Caryl Jackson und die anderen vom Junior ROTC auf ihren Bauch glotzten, in der Cafeteria über sie tuschelten und sich im Umkleideraum, wenn gerade kein Lehrer in der Nahe war, lautstark über sie lustig machten. Zu Hause abzuhängen schien ihr gar keine schlechte Alternative, aber dann kam alles ganz anders. Es fing schon damit an, dass ihre Mama sie auf Schritt und Tritt beobachtete, mit Argusaugen über sie wachte, so als wollte sich Opal bei der nächstbesten Gelegenheit gleich wieder ins Unglück stürzen. Hier gibt’s nichts geschenkt, junge Frau, dass das mal klar ist, sagte Melva, als würde Opal je auf die Idee kommen, dass sie von ihrer Mama irgendetwas geschenkt bekommen könnte. Wer alt genug ist, um ein Kind zu kriegen, ist auch alt genug, um im Haushalt zu helfen, erklärte Melva und machte sie praktisch zu ihrer Sklavin. Opal war es absolut schleierhaft, wie jemand gern Hausfrau sein konnte. Immer wieder dieselben Räume sauber machen. Dieselben Kleider waschen, dasselbe Geschirr spülen. Dasselbe Bett machen – eigentlich eine gigantische Zeitverschwendung. Sie sah die Freundinnen ihrer Mama und fragte sich, wie die das bloß aushielten. Mit Ausnahme von Sujette wollte aus ihrer -85
Klasse niemand mehr mit ihr zu tun haben, und auch die Frauen, deren Kinder sie früher immer gehütet hatte, riefen nicht mehr an, die waren genauso drauf wie Miss Horsley, so als wäre sie als Schwangere nicht mehr in der Lage, auf Kinder aufzupassen, obwohl sie das schon seit ihrem zwölften Lebensjahr machte. Eines Nachmittags, nach über vier Monaten Rückgrat krümmender Langeweile, stieß sie beim Durchblättern einer der Zeitschriften ihrer Mama auf ein Schnittmuster für eine Puppe. Sie merkte gleich, dass sie ein Händchen dafür hatte. Es war das erste Mal, dass sie etwas nähte, und es gelang gleich richtig gut, außerdem befriedigte diese Tätigkeit irgendein Bedürfnis in ihrem Innern. Jetzt verstand sie, wie Grandma Gates Stunden damit zubringen konnte, Muster auf Kissenbezüge zu sticken. Es war irgendwie wohltuend, etwas zu erschaffen. Innerhalb von einem Monat hatte sie vier weitere Puppen genäht. Und obwohl sie jedes Mal dasselbe Muster verwendete, hatte jede Puppe eine eigene Persönlichkeit. Melva hielt das alles natürlich für Mumpitz, aber Opal, die mittlerweile im sechsten Monat war, beruhigte es, und das war angesichts ihrer von Melva und Billy im Team strapazierten Nerven bitter nötig. Auf Drängen ihrer Tante May nahm Grandma Gates einige der Puppen mit zum Basar der presbyterianischen Kirche, und es dauerte keine Stunde, bis sie alle verkauft waren. Nach Zacks Geburt machte Opal mit dem Puppennähen weiter, und als er zwei Jahre alt war, kam sie auf die Idee, die Gesichter der Puppen nach Kindern zu gestalten, die sie kannte, und ihnen Kostüme anzuziehen. Miniaturausgaben von Matrosen und Piloten, Ärzten und Künstlern, Cowboys und Footballspielern, Filmstars und Tänzerinnen. Der Spielzeugladen in New Zion führte ihre Puppen, und ehe sie sich’s versah, kam sie den Bestellungen nicht mehr hinterher. Verdopple deine Preise, riet ihr Tante May. Alles dummes Zeug, sagte Mama. Glaubte man Melva, dann war Puppennähen keine Beschäftigung für Erwachsene. Ihre Mama führte Buch über Opals Klassenkameradinnen, -86
notierte, wer geheiratet, wer das College abgeschlossen hatte. Du bist und bleibst eine Enttäuschung, sagte ihre Mama. Ich verstehe einfach nicht, wie du dich mit so wenig zufrieden geben kannst. Na – wenn Opal sich Melvas Leben so anschaute, sah sie nun wirklich nichts, worauf es sich nächtelang zu warten gelohnt hätte. Sie langt über den Tisch nach einem weiteren Bestellformular. Das Kind auf dem Schnappschuss ist auf eine nichtssagende Art hübsch, ähnlich wie Suzanne Jennings, bevor sie sich mit Jitter Walton zusammentat und nur noch in seiner Collegejacke durch die Stadt stolzierte. Diese Puppe soll ein Golden-Twenties-Girl werden. Echt, Mann, wie kommen die Leute bloß immer auf solche Ideen? Am besten gelingen die Aufträge, bei denen die Eltern oder Großeltern die Kostümwahl ihr überlassen. Meistens braucht sie nur einen Blick auf das Foto des jeweiligen Kindes zu werfen, um zu wissen, was passt. Manchmal verbirgt sich hinter einem ernsten Gesicht das Temperament eines Clowns. Und hier – bei diesem hübschen Mädchen, das aussieht, als wäre es nicht gerade von brennendem Ehrgeiz erfüllt – erkennt Opal hinter den ausdruckslosen Augen ein Kind, das mehr will. Allerdings will ja irgendwie jeder mehr. Manchmal ist es eine ziellose, eine namenlose Sehnsucht, aber wenn man Glück hat, kann man sie benennen. Billy zum Beispiel wollte früher bei den Tat Heels Basketball spielen. Er wollte berühmt werden. Und jetzt – wenn sie ihm glauben soll – will er sie heiraten. Opals »mehr« ist eine richtige Familie. Keine Familie, die einfach aus Gewohnheit zusammenbleibt oder weil es nach außen hin besser aussieht, so wie bei ihren Eltern, oder die aus Pflichtbewusstein zusammenhält, so wie Billy es jetzt gern hätte. Sie will eine Familie, die zusammenbleibt, weil alle wissen, dass sie da hingehören, eine Familie, in der alle einander wichtig sind. So etwas will sie mit Zack haben. Sie weiß, dass sie eine bessere Mama sein wird als Melva. Sie legt die Puppe zur Seite und geht in die Küche. In vier Tagen kriegt sie ihre -87
Regel, und jetzt packt sie der Heißhunger. Außerdem ist sie geil. Obwohl sie sich fest vorgenommen hat, dass mit dem Sex endgültig Schluss ist, hat der Klang von Billys Stimme wieder so einiges in Bewegung gesetzt. Wie ist das nur möglich? Wie kann die Sexualität diese Sehnsucht in einem wecken, die so tief sitzt, dass sie sich fast anfühlt wie etwas, das in einem wächst und die ganze Haut spannen lässt? Sie gießt sich ein Glas Cola ein und durchstöbert die Schränke nach etwas Süßem. Sie verschmäht das Glas Apfelmus, schüttelt sich ein paar Fruitloops aus der Packung. Was gäbe sie jetzt für ein Brownie – sie kann das samtige Gewicht fast auf der Zunge spüren. Frühstücksflocken tun’s einfach nicht. Ihre Gier nach Schokolade erinnert sie an ihre Schwangerschaft. Damals war es Zitrone. Kuchen, Süßigkeiten, Eis, Pudding, ganz egal, Hauptsache, es war Zitrone drin. Die Küchenuhr zeigt 22.40 Uhr an. Der Stop and Shop hat noch zwanzig Minuten auf. Sie geht die Treppe hinauf zu Zacks Zimmer und lauscht auf seine gleichmäßigen, tiefen Atemzüge. Die Decke, die sie vorhin um ihn festgestopft hat, liegt immer noch über seinen Schultern. Sie überlegt, ob sie ihn wecken, einmummeln und auf einen kleinen Abstecher zum Supermarkt mitnehmen soll, aber dann denkt sie daran, wie mühsam es sein wird, ihn hinterher wieder zum Einschlafen zu bringen. Der Aufwand ist einfach zu groß. Vielleicht sollte sie das Ganze vergessen. Oder sie fährt schnell allein. Sie hat Zack in den fünf Jahren kein einziges Mal allein gelassen. Nicht mal für fünf Minuten. Sie wägt das Bedürfnis nach einem kurzen Moment der Freiheit – nach Schokolade – gegen das Risiko ab, ihn allein zu lassen. Die Fahrt zum Supermarkt wird nicht mehr als eine Viertelstunde dauern. Insgesamt. Hin und zurück. Was soll -88
schon passieren? Sie steigt vorsichtig über die gespannte Schnur zu seinem Bett. »Zack?«, flüstert sie, und dann noch mal eine Idee lauter; »Zack?« Er regt sich nicht. Sie rechnet noch mal nach, wie lange es dauern wird. Zwanzig Minuten allerhöchstens. Was kann ihm schon zustoßen, wenn er schläft und das Haus abgeschlossen ist? Sie hält nach einem Zeichen Ausschau und beschließt dann, dass sie seinen Namen fünfmal sagen wird – einmal für jedes Lebensjahr –, und wenn er nicht aufwacht, ist das ein Zeichen dafür, dass es okay ist, ihn allein zu lassen und schnell zum Stop and Shop zu fahren. »Zack?«, flüstert sie. »Schatzpatz? Zack?« Nicht die kleinste Regung. »Zack.« Diesmal lauter. Und dann noch zweimal, bevor sie sich durch das Gewirr von Schnüren ihren Weg nach draußen sucht. Simple Entscheidungen. Eine Gier auf Schokolade. Etwas völlig Normales. Wie hätte sie ahnen sollen, dass damit der ganze Kummer und die Verletzungen der nächsten Zeit ihren Anfang nahmen? Als sie die Main Street entlangfährt, kann sie – obwohl die Straßenbeleuchtung nicht so weit reicht – die Bücherei, das Rathaus, die Bank ausmachen. Der Makler hat ihr erzählt, dass die Gebäude alle aus Granit gebaut sind, der aus den Steinbrüchen außerhalb des Orts stammt, und dass diese Steinbruche Anfang des Jahrhunderts in Normal der wichtigste Arbeitgeber waren. Opal findet, dass die Stadt dadurch etwas Solides bekommt. Es ist ein Ort zum Wurzelnschlagen. Sie kommt an der ebenfalls aus Stein gebauten katholischen Kirche vorbei, dann an der Baptisten- und der Methodistenkirche, zwei geschindelten Holzbauten mit hoch in den Himmel aufragenden Türmen. Die Halloween-Dekorationen sind noch nicht entfernt -89
worden, und die Straßenlampen entlang der Main Street sind am Fuß mit Maisblättern verziert. Mitten auf dem großen Platz neben dem Denkmal eines uniformierten Reiters steht ein offener Lastwagen, auf dessen Fahrersitz eine Vogelscheuche sitzt. Auf der Ladefläche liegt ein Berg Kürbisse. Die einzige Ampel ist auf Gelb geschaltet, und Opal fährt langsamer, obwohl weit und breit kein Auto in Sicht ist. Irgendwie gefällt es ihr, allein auf der Straße zu sein. Es erinnert sie an ihre Kindheit, an die Nächte, als sie aufwachte und nach unten schlich, im Dunkeln von einem Raum zum l anderen ging und lauschte, so als wurden nachts die Geheimnisse des Hauses offenbart. Sie fährt weiter, passiert eine Reihe kleiner Läden im OrtsZentrum, die sich über zwei Blocks hinziehen, und große geschindelte Häuser, zu deren schmalen Veranden von Buchsbaumhecken gesäumte Klinkerwege führen. Einige dieser Gebäude werden gewerblich genutzt. Eines beherbergt ein Bestattungsinstitut, ein anderes eine Versicherungsgesellschaft, ein drittes den Kindergarten, den Zack besucht. Sie fährt an der Polizeistation und der Feuerwache vorbei in beiden brennt Licht –, an der Creamery, die geöffnet, und einem Imbiss, der zuhat. Auf dem Parkplatz vor der Eisdiele stehen ungefähr ein Dutzend Autos – Pärchen, so stellt sie sich vor, die nach dem Kino hier noch Halt gemacht haben. Ganz unvermittelt sehnt sie sich nach den einfachen Freuden eines Freitagabends zu zweit, nach der Sorglosigkeit der Jugend. Sie passiert Ned Nelsons Autowerkstatt an der Ecke und biegt in den Parkplatz des Supermarkts ein. Um diese Uhrzeit sind nur wenige Angestellte da, die fegen oder die Regale auffüllen. Bloß eine Kassiererin ist im Dienst, es ist Dorothy Barnes. Opal steuert direkt auf das Regal mit den Backwaren zu und schwankt noch, ob sie Brownies oder Eclairs nehmen soll, als eine Stimme sie aus ihren Überlegungen reißt. »Lust auf was -90
Süßes?« Das Erste, was sie registriert, ist die Narbe, die sich über seine Wange zieht und die so breit und erhaben ist, dass es aussieht, als wäre die Wunde nicht genäht worden. Das Zweite ist, dass er – Narbe hin oder her – so ungefähr der attraktivste Mann ist, den sie je gesehen hat. Sie spürt einen kleinen Ruck in ihrem Innern und ist einen Moment lang offen für Möglichkeiten. »Also«, sagt er, »ich würde ja die Brownies nehmen. Du bist bestimmt Opal.« Es gelingt ihr zu nicken. Heilige Mutter Gottes, sieht der gut aus. »Ty Miller«, sagt er und streckt ihr die Hand entgegen. »Ich arbeite bei Ned drüben in der Werkstatt.« In dem Moment, wo ihre Hände sich berühren, einfach nur so, spürt Opal, wie ihr Herz in seinem knöchernen Gehäuse anschwillt und ihr Puls zu rasen beginnt. Da funkt’s, keine Frage. Sie ahnt schon, wohin das führen wird, sieht es vor sich wie eine zehn Kilometer lange holprige Straße. »Ich hab dich neulich gesehen, als du in der Werkstatt warst«, sagt er mit einer tiefen Stimme, die etwas Singendes hat, eine von diesen Stimmen, bei denen es einen wohlig durchrieselt, wenn man nur an sie denkt. Sie weiß ganz sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hat. Das hätte sie mit Sicherheit nicht vergessen. Sie will eigentlich die Brownies, aber da das auch sein Vorschlag war, greift sie nach der Packung Eclairs. »Ich muss weg«, sagt sie. »Mach’s gut.« »Sie sind aber spät unterwegs«, sagt Dorothy. »Wo ist denn Ihr Sohn?« »Der schläft«, sagt Opal. »Hab einen Babysitter da.« Ihre Hand ist immer noch ganz zittrig von Ty Millers Berührung. »Seien Sie froh.« Dorothy nickt zu dem Zeitungsständer mit den Klatschblättern hinüber. »Die tut mir ja so was von Leid, das kann ich Ihnen sagen.« -91
»Wer?« fragt Opal. Ihr Herz hat immer noch nicht zu seinem normalen Rhythmus zurückgefunden. Er muss sie für die letzte Idiotin halten, so wie sie davon gestürmt ist. Ich muss weg. Meine Güte. »Na diese Frau – haben Sie nichts davon gehört? Seit anderthalb Tagen wird über nichts anderes mehr berichtet.« »Unser Fernseher ist noch nicht angeschlossen.« Opal blickt über ihre Schulter, aber Ty ist nirgends zu sehen. »Eine echte Tragödie. Man fragt sich wirklich, wo das alles noch enden soll.« Dorothy deutet auf die Schlagzeile über dem Foto einer jungen Frau: Mutter fleht: Bitte gebt mir meine Söhne zurück. »Auf dieser Welt stimmt es doch hinten und vom nicht mehr. Dass so was passieren kann.« Sie langt zum Zeitungsständer hinüber, nimmt die Zeitung herunter und schlägt sie in der Mitte auf. »Das sind ihre Söhne.« Opal möchte am liebsten wegschauen. Das ältere der beiden Kinder ist ein sonnig aussehender Junge mit riesigen braunen Augen. Er dürfte in Zacks Alter sein. Es sind noch andere Bilder abgedruckt: ein Kindergeburtstag, ein Farbfoto der Familie vor dem Weihnachtsbaum. Opal studiert die vier lächelnden Gesichter – Vater, Mutter, die beiden Söhne –, doch sie kann auf dem Foto auch nicht die Spur eines Omens entdecken, das auf das bevorstehende Unheil hingewiesen hätte. »Gekidnappt«, verkündet Dorothy, während sie die Schachtel Eclairs über den Scanner zieht. »In Texas. Von einem Mexikaner. Ist einfach zu ihr ins Auto gesprungen, als sie an einer roten Ampel stand.« »Mein Gott.« Zach. Hat sie die Tür abgeschlossen, als sie ging? Sie versucht sich den Vorgang des Abschließens in Erinnerung zu rufen. »Er hat sie mit vorgehaltener Pistole gezwungen auszusteigen«, fährt Dorothy fort. »Und dann ist er weggefahren, mit den beiden armen Kindern, die auf der Rückbank saßen und schliefen. Die Mutter war heute Morgen in den Nachrichten. Sie hat geweint und den Mann angefleht, ihr -92
ihre Söhne zurückzugeben.« Sie hält die Zeitung hoch. »Wollen Sie die mitnehmen?« »Nein.« Opal will nichts, aber auch gar nichts mit dieser Zeitung oder der darin enthaltenen Tragödie zu tun haben, so als könnte das Unheil irgendwie hinaussickern und sich auf sie übertragen. Dorothy nimmt einen Zehn-Dollar-Schein von Opal entgegen und gibt ihr raus. »Texas, da haben Sie’s. Ich will ja nicht sagen, dass so was hier nicht passieren könnte. Man kann nie wissen. Es stimmt doch wirklich hinten und vorn nicht mehr auf dieser Welt. Das liegt alles an den Drogen, wenn Sie mich fragen.« Würde Zack überhaupt aufwachen, wenn jemand einbräche? »Wir haben eine Sammlung gestartet.« Dorothy zeigt auf eine Kaffeebüchse neben der Kasse. In den Plastikdeckel ist ein Schlitz geschnitten. »Eine Sammlung?« »Für eine Belohnung. Die haben ein Konto eingerichtet. Ende nächster Woche senden wir einen Scheck hin.« Opal steckt ihr Wechselgeld in den Schlitz. Natürlich hat sie die Tür abgeschlossen. Sie sieht genau vor sich, wie sie es getan hat. Die Ampel an der Kreuzung Main und Maple Street blinkt gelb, und während Opal abbremst, stellt sie sich Zack auf der Rückbank vor, stellt sich vor, wie ein Mann auf das Auto zukommt, die Tür aufreißt, sie mit der Pistole bedroht, sich neben ihr auf den Sitz schiebt, ihr befiehlt loszufahren. Würde sie Ruhe bewahren? Würde sie sich trauen, irgendetwas Heldenhaftes zu tun? Im Kino funktioniert so was, aber im wahren Leben? Wäre es zu gefährlich? Wie könnte man sicher sein, dass dadurch nicht alle Menschen im Auto zu Tode kämen, inklusive dem Kind, das man doch retten wollte? Die Zeitungsbilder von den kleinen Jungs und ihrer verzweifelten Mutter schießen ihr durch den Kopf. Dann sieht sie plötzlich Zacks Gesicht vor sich. Wie weit würde sie gehen, um ihn zu beschützen? Was würde sie riskieren? Alles, das weiß -93
sie genau. Ihr eigenes Leben auf jeden Fall. Mindestens. Als sie in die Einfahrt einbiegt, zittern ihr die Hände. Sie müht sich mit dem Haustürschlüssel ab, hat die Tür sehr wohl abgeschlossen. Drinnen stört nur das Summen des Kühlschranks die Stille. Sie legt die Eclairs auf die Arbeitsfläche, schaut auf die Uhr. Es ist 23.15 Uhr. Sie ist nicht länger als eine halbe Stunde weg gewesen. Sie geht zur Treppe, und als sie halb oben ist, hört sie ihn. Er sitzt auf dem Treppenabsatz, das Gesicht vom Weinen verquollen. Sie nimmt die restlichen Stufen paarweise. Großer Gott. Sie wird ihn nie wieder allein lassen. Keine Minute. Keine Sekunde. Nie mehr. »Was ist denn passiert? Zack? Schatzpatz? Was ist passiert?« »Wo warst du?«, fragt er vorwurfsvoll. »Unten«, lügt sie ganz automatisch, und dann lässt sie sich neben ihn auf den Treppenabsatz sinken und nimmt ihn in den Arm. »Ich hab dich ganz lang gerufen.« Er atmet tief und bebend aus, in abgehackten Schlucksern. »Es tut mir so Leid, mein Schätzchen.« Sie wird ihn nie wieder allein lassen. Nie. »Ich bin hingefallen«, erklärt er. Die Schnur seiner Werwolffalle hängt ihm an den Füßen. »Alles ist gut, Zack. Jetzt bin ich ja bei dir.« Sie drückt ihn an sich, und er heult auf. Es ist das Schmerzensheulen, nicht das traurige Heulen. »Was hast du, Zack?« »Mein Arm«, sagt er. Tränen stehen ihm in den Augen. »Lass mal sehen.« In dem sanften Licht aus dem Erdgeschoss -94
sieht sein Arm völlig normal aus, aber als sie darüber streicht, schreit er auf. »Ist ja gut«, beruhigt sie ihn. »Ist ja gut, Schatz, ich fass ihn nicht mehr an.« Sie trägt Zack in ihr Zimmer, passt dabei auf, dass sie nicht an seinen Arm kommt, legt ihn in ihr Bett und gibt ihm ein halbes Aspirin. »Ich hab Durst«, wimmert er. »Ich will meinen Tigger.« Sie findet das Plüschtier auf dem Boden neben seinem Bett, bringt es in ihr Zimmer, steckt es zu ihm unter die Bettdecke, holt ihm ein Glas Cola. Später, als sie sicher ist, dass er nicht aufwachen wird, schaltet sie die Nachttischlampe ein. Sein Arm sieht wirklich normal aus. Sie kann keine Schramme, keinen blauen Fleck entdecken. Doch als sie mit dem Zeigefinger über seinen Unterarm fährt – ganz leicht, sie berührt kaum seine Haut ~, wimmert er im Schlaf. Monate später, als alles in die Brüche zu gehen beginnt, kommt sie zu der Überzeugung, dass es nicht ihr Weggang aus New Zion war, der den ganzen Albtraum in Gang gesetzt hat. Auch nicht die Lügen, die sie erzählt hat, ein Gespinst so wirr wie die Schnurverspannung, über die Zack an diesem Abend gestürzt ist. Ja nicht einmal Ty Miller. Das alles waren nur Komplikationen. Angefangen hat es mit diesem Abend. Mit dem einen, folgenschweren Fehler, dass sie Zack allein ließ, während sie loszog, um ihren Hunger zu stillen.
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KAPITEL 9 ROSE Sobald Ned weggefahren ist – früher als sonst, da er mit der Arbeit im Rückstand ist –, holt Rose den Staubsauger hervor und fängt an zu saugen, ein völlig überflüssiges Unterfangen, da das Haus kaum sauberer sein könnte. Schließlich tut sie den lieben langen Tag nichts anderes, als den Haushalt zu machen, immer wieder, ein Zimmer nach dem anderen, eine mechanische Tätigkeit, die das Haus in makellosem Zustand hält. In der vergangenen Woche hat sie den Herbstputz abgeschlossen: die Fliegengitter herausgenommen, abgespritzt und unter der Garagendecke verstaut; die Fenster geputzt; die Vorhänge gewaschen und gebügelt; die Sommersachen gewaschen und weggepackt; alle Holzteile im Haus geschrubbt; die Küchenschränke ausgeräumt und sauber gemacht. Früher hat ihr dieses Reinigungsritual Freude gemacht, doch jetzt vollzieht sie es teilnahmslos, ohne auch nur die Befriedigung zu verspüren, wenigstens etwas geleistet zu haben. Seit sie nur noch zu zweit sind, ist dieser Aufwand eigentlich nicht mehr angemessen. Sie kratzt die Stelle auf ihrem Bauch. Heute Morgen ist es eindeutig schlimmer. Vorhin hat sie sich das Muttermal mit dem Handspiegel angeschaut und gesehen, dass es von einem roten Ring umgeben ist. Irgendetwas ist da los, da braucht sie sich gar nichts vorzumachen, aber sie ist mehr denn je entschlossen, Ned nichts davon zu erzählen. Wenn er es wüsste, säße sie in Nullkommanichts bei Doc. Wir müssen an die Zukunft denken, Rosie, würde er sagen, und damit jene Zeit in Florida meinen, in der es nicht mehr nötig sein würde, Schnee zu schippen oder Einkommenssteuer zu zahlen. Rose ist die Zukunft egal. Was sie als ihre Zukunft betrachtete, ist zusammen mit Todd verloschen. Sie weiß, dass nach dem Tod eines geliebten Menschen oft Sätze fallen wie -96
»ein Teil von mir ist mitgestorben«, doch bei Todds Unfall ist tatsächlich ein Teil von ihr mitgestorben: der Teil, der auf morgen ausgerichtet ist. Das unsichtbare Band, das sich wie ein Strom durch die Zeit erstreckt, das eine Generation mit der nächsten verbindet. In diesem einen, kompakten Moment, als Jimmy Sommers mit seinem Pickup gegen die alte Ulme Ecke High und Church Street schleuderte, wurde ihre Zukunft gekappt. Und es ist die harte, bittere Wahrheit, dass es nicht die allergeringste Möglichkeit gibt, sie jemals zurückzugewinnenNatürlich ist das das Letzte, was Ned hören will. Du klammerst dich an deiner Trauer fest, hat er ihr letztes Jahr vorgeworfen. Ich habe doch nichts anderes, sagte sie. Du hast mich, Rosie, erwiderte er. Du hast uns. Das ist nicht genug. Sie trägt den Staubsauger ins Wohnzimmer und befestigt das Verlängerungsrohr am Schlauch. Als sie sich hinunterbeugt, um den Stecker in die Dose zu stecken, hämmert es laut gegen die Hintertür, und sie fährt zusammen. Sie ist sich ziemlich sicher, wer das ist. Wer sonst wü rde dermaßen wild an die Tür hämmern? Sie umfasst das Kabel fester und schließt die Augen, als könnte sie die Person da draußen so zum Verschwinden bringen. Vor zwei Tagen hat sie den Jungen neben dem Ahorn urinieren sehen. Urinieren. Es wird ja wohl keiner erwarten, dass sie das hinnimmt. Das drängende Klopfen an der Küchentür hört nicht auf. Sie steht völlig reglos da, aber sie spürt, wie der Boden unter ihren Füßen bebt. Eine tektonische Verschiebung. »Mrs. Nelson. Mrs. Nelson.« Wenn Rose von irgendeinem Zeichen wüsste, mit dem man Bedrängnisse abwenden kann, würde sie es jetzt schlagen. Opal Gates steht vor der Tür, das Gesicht fast zur Fratze verzerrt. Ihre Haare stehen in alle Richtungen ab. Sie hat den Jungen im Arm. Sie ist kreidebleich. Rose würde sich am liebsten auf dem Absatz umdrehen, die Tür schließen und sich in der Sicherheit ihres Hauses verkriechen. »Zack hat sich verletzt«, sagt das Mädchen. »Am Arm. Ich -97
hab Angst, dass er ihn vielleicht gebrochen hat.« Der Hund der McDonalds kläfft in der Ferne. Krähen picken im Rasen neben dem Gartenweg. Nach Larven, denkt sie, obwohl die Zeit dafür eigentlich vorbei ist. Draußen auf der Straße fährt ein schwarzer Sedan vorbei, verlangsamt das Tempo, wendet am Ende der Sackgasse und kommt abermals vorbei. »Ich muss ihn zur Unfallstation bringen. Könnten Sie uns hinfahren?« »Ich ...« Es ist fünf Jahre her, seit sie auch nur ein Lenkrad angerührt hat. »Ich habe kein Auto.« »Wir können meins nehmen.« Rose tritt einen Schritt zurück. »Bitte. Ich habe sonst niemanden, den ich fragen könnte.« Ned, denkt Rose. Ich brauche Ned. Am Morgen des Unfalls war Ned schneller zur Stelle, als sie es je für möglich gehalten hätte. John Denton war gekommen, um sie von dem Unfall zu unterrichten, und als er ihr Gesicht sah, rief er sofort in der Werkstatt an. Ned nahm die Sache in die Hand, er gab ihr Halt, fuhr sie beide zum Mercy Memorial Hospital, und zwar über die gesamte Strecke mit Vollgas, und doch konnte sie immer nur denken, fahr schneller, du musst schneller fahren. Und letztlich war die ganze halsbrecherische Eile umsonst gewesen. Ich kann nicht. »Ich fahre nicht Auto«, bringt sie heraus. »Dann fahre ich. Sie können Zack nehmen und mich dirigieren.« Das Mädchen lässt sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Den Jungen immer noch auf dem Arm, spurtet sie durch den Garten zu ihrem Wagen und scheucht dabei die Krähen auf. »Nicht rennen«, sagt Rose. »Das ist nicht gut für seinen Arm.« Im Auto herrscht Chaos, auf dem Boden türmen sich Coladosen, Fastfoodverpackungen und weiß Gott was alles. Rose schiebt das Zeug mit der Fußspitze beiseite. Sie wappnet sich, als Opal ihr den Jungen übergibt. Dennoch ist es ein Schock, das vertraute Gewicht eines kleinen Körpers an ihrem -98
Bauch zu spüren. Bevor sie sich dagegen wehren kann, durchfährt sie messerscharf ein Gefühl, das sehr an Freude erinnert. Sie presst die Lippen aufeinander, macht die Arme steif. Das Mädchen redet wie ein Wasserfall, sie plappert und plappert, und Rose muss sich auf die Zunge beißen, um ihr nicht zu sagen, dass sie still sein soll. »Nicht mehr lang, Schatzpatz«, wiederholt Opal immer wieder, »wir sind fast da.« Ihr Südstaatenakzent ist nicht zu überhören. Ein- oder zweimal nimmt sie eine Hand vom Steuer und packt Zack am Knie. »Es wird alles gut, Zack.« Sobald sie das Mercy Memorial erreicht haben, wird Rose ein Taxi rufen. Vor der Flügeltür am Eingang der Ambulanz hält Opal an, stellt den Motor ab, stürmt los und ruft dabei Rose zu, sie solle ihr folgen. Rose bleibt nichts anderes übrig, als den Jungen hineinzutragen. Die Krankenschwester an der Aufnahme notiert ihren Namen und schickt sie dann ins Wartezimmer. Das Wartezimmer. Das Zimmer, in dem man wartet. Das Zimmer, in dem Ned und sie gewartet haben. Alles sieht noch genauso aus wie damals, als wären nur ein paar Tage verstrichen, nicht Jahre. Strapazierfähiger grauer Teppichboden. Die ineinander gehängten Stühle mit den blauen Plastiksitzen und den Chromgestellen. Die runde Uhr. Der an der Wand befestigte Zeitungsständer. Der quadratische Tisch mit Resopalplatte, der schon jetzt – am frühen Morgen – von halb leeren Styroporbechern übersät ist, in den meisten noch ein Rest kalter Kaffee. Der Hinweis Rauchen verboten. Ein Anschlag, auf dem steht: Bitte halten Sie Ihren Versicherungsnachweis bereit. Linker Hand eine Nische mit Getränkeautomaten für Kaffee, heiße Schokolade und Erfrischungsgetränke. Fünf Jahre, und nicht die kleinste Kleinigkeit hat sich verändert. Rose wird von der Erinnerung überwältigt. Sie muss sich zwingen, nicht fortzulaufen. -99
Als man ihr sagte, dass Todd tot sei, wollte sie es nicht glauben. Sie wollte ihn sehen, sie bat darum, ihn sehen zu dürfen. Jetzt nicht, Rosie, sagte Ned. Ihr Mann hat Recht, stimmte der Arzt zu. Jetzt besser nicht. Sie hätte darauf bestehen sollen. Ned hätte darauf bestehen sollen. Sie wurde mitten in der Unfallstation ohnmächtig, die einzige Ohnmacht ihres Lebens. Man setzte sie in einen Rollstuhl, schaffte sie in Windeseile in ein kleines Zimmer, legte sie hin, zog die Vorhänge zu. Was für eine Geschäftigkeit. Was für ein Aufhebens. Und wozu das alles? Übertrieben fürsorgliche Krankenschwestern umschwirrten sie, brachten ihr Wasser, ein Pappbecherchen mit einer Pille. Als sie endlich allein war, setzte sie sich auf. Hinter dem Vorhang hörte sie Stimmen; Der Arzt sprach mit Ned, erklärte ihm, Todd habe einen so massiven Hirnschaden erlitten, dass er im Falle seines Überlebens nur noch dumpf vor sich hin vegetiert hätte. Vor sich hin vegetiert. Noch tagelang klangen diese Worte in ihr nach, ließen ihr keine Ruhe, summten ihr im Kopf herum wie eine Fliege, die zwischen Fliegengitter und Glasscheibe gefangen ist. Nach der Beerdigung legte ihr Neds Schwester Ethel den Arm um die Schultern und sagte; »Es ist schrecklich, Rose, aber bei diesen Kopfverletzungen ist es letztlich ein Segen, dass er nicht mehr ist. Glaub mir.« Als wäre das ein Trost. Sie hätte Todd auch genommen, wenn er nur noch vor sich hin gesabbert hätte. Wenn ihm nicht mehr Bewusstsein geblieben wäre als einer Gurke. Sie hätte ihn genommen und wäre dankbar gewesen. Wenigstens hätte sie ihn dann bei sich gehabt. Hätte ihn umsorgen, sich um ihn kümmern können. Ihn küssen. An seinem Haar riechen. Hätte gewusst, wohin mit ihrer Liebe. Denn wenn Rose irgendetwas weiß, dann ist es dies; Damit Liebe lebendig bleiben kann, muss sie ein Ziel haben. Ihnen gegenüber sitzt ein Arbeiter und hält seine in ein Handtuch gewickelte Hand. Das zusammengefaltete Frottee ist -100
schon blutgetränkt. Ein Kind mit geröteten Augenlidern und fieberroten Wangen schläft im Schoß seiner Mutter, Die Schuhe der Frau sind ungleichmäßig ausgetreten und plump. Billig. Es zahlt sich aus, etwas für seine Füße zu tun, denkt Rose. An Füßen und Zähnen sollte man nicht sparen. Die beiden Flügel der Schiebetür gleiten mit pneumatischem Zischen auseinander, und ein junger Mann in Laufshorts und einem Trikot der University of Massachusetts kommt auf Krücken hereingehumpelt; er nennt an der Aufnahme seinen Namen, gibt seine Versicherungskarte ab und wird zu den anderen ins Wartezimmer geschickt. Er macht Opal schöne Augen. Die Uhr zeigt 7.30 an. Unfassbar, dass Ned erst vor einer halbe Stunde zur Werkstatt gefahren ist. Es kommt ihr vor, als sei das Wochen her. Als sie vor fünf Jahren das Krankenhaus verließen – Todd verließen –, bat sie Ned, direkt zur Kreuzung High und Church Street zu fahren. Er sträubte sich, aber sie bestand darauf. Die Straße war noch nass vom Löschwasser. In der Nähe des Rinnsteins glitzerten Glassplitter in der Sonne wie Diamanten, dachte sie bitter. Eine Woche später zeugte nur noch die fr ische Verletzung am Stamm der Ulme – eine ungefähr tellergroße Stelle ohne Rinde – von dem, was hier geschehen war. Rose hatte die Plastikrosen und die primitiven Kreuze, die Todds Klassenkameraden am Baum befestigt hatten, abgerissen. Tag für Tag kehrte sie an diesen Platz zurück, von dem Bedürfnis getrieben, dort zu stehen, wo ihr Sohn zuletzt gelebt, zuletzt geatmet hatte. Als Ned ein Machtwort sprach und sich weigerte, sie weiter dorthin zu fahren, ging sie zu Fuß. Mehr als einmal ging sie abends, blieb, bis es dunkel wurde, und starrte wie ein Tier in den Sternenhimmel, so lange, bis sie sich im Stande fühlte, wieder nach Hause zu gehen. Die Beständigkeit ihrer Trauer überraschte sie nicht. Was sie überraschte, war vielmehr, dass es möglich sein sollte, über so etwas hinwegzukommen. Die Leute -101
glaubten, Trauer sei so etwas wie Grippe, etwas, wovon man genas. Aber das stimmte nicht. Gut, zwischendurch ließ sie mal nach, zog sich zurück wie das Meer bei Neumond, aber dann kam sie wieder und erfasste einen mit Haut und Haar. Was Rose überraschte, war, dass der Himmel noch blau sein konnte. Wochen nach seinem Tod ging sie in das Wäldchen am Ende der Sackgasse und weinte. Ein qualvolles Schluchzen, entsetzliche, klagende Laute, wie man sie von sich geben mag, wenn man körperlich verletzt, von einer Waffe durchbohrt worden ist. Hätte sie ein Messer dabeigehabt, sie hätte sich einen tiefen Schnitt zugefügt. Es sollte die Möglichkeit geben, sich einen Finger abzuhacken – irgendetwas, wodurch man seine Trauer zum Ausdruck bringen kann – doch das wird einem verwehrt. Es kommt Rose vor, als wären nur wenige Sekunden vergangen, doch als sie wieder aus ihren Erinnerungen auftaucht, ist es bereits 8.15 Uhr. Ohne dass sie es bemerkt hätte, sind sowohl der Mann mit der verletzten Hand als auch der fiebernde Junge mit seiner Mutter verschwunden. Endlich wird auch Zack abgeholt. Eine Krankenschwester, die pure Tüchtigkeit ausstrahlt, schiebt ihn in einem Rollstuhl davon. Opal begleitet die beiden und redet mit leiser Stimme beruhigend auf ihren Sohn ein. Rose sieht zu, wie sie hinter der Schwingtür verschwinden. Als sie das Krankenhaus schließlich verließen, händigte ihr eine Schwester eine Plastiktüte mit Todds Kleidern aus. Ned nahm an, dass sie sie wegwerfen würde, doch sie hob sie auf. Die Jeans und das karierte Hemd, das dunkelblaue T-Shirt, seine Jockeyshorts, alles zerrissen und voller Hecken, die man für Rost halten könnte, wenn man es nicht besser wüsste. Manchmal befühlte sie die Kleidungsstücke und wiederholte dabei im Geiste den Autopsiebericht, den sie auswendig kannte. Frakturen an Handgelenken, Armen und Rippen, Aortenruptur, Gehirnquetschung. Gehirnquetschung. In diesem einen Wort -102
war die ganze Gewalt enthalten, die seinem Körper angetan worden war. Zu Hause fand sie seine Windjacke, die er über eine Stuhllehne geworfen hatte. Sie roch nach ihm. Rose rollte sie fest zusammen und versiegelte sie in einem verschließbaren Gefrierbeutel. Doch als sie die Jacke Monate später herausnahm, war der Geruch verflogen. Ned hatte Todd einäschern lassen wollen, doch sie war davor zurückgeschreckt. Der Gedanke, seinen Körper noch mehr zu beschädigen, war ihr unerträglich. Später wünschte sie sich, sie hätte zugestimmt. Dann hätte sie jetzt seine Asche. Sie könnte sie durch die Finger rieseln lassen, sie schmecken. Sie zu sich nehmen. Ihn wieder in sich aufnehmen. »Mrs. Nelson?« Opal lässt sich neben ihr auf den Stuhl plumpsen. »Wie sieht es aus?«, fragt Rose. »Wer weiß das schon?« Opals Stimme hat einen harten Unterton. Sie ist an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt. »Sie vermuten, dass der Arm gebrochen ist, aber wissen tun sie es erst, wenn sie ihn geröntgt haben. Und bis dahin dürfen wir wieder in irgendeinem beschissenen Flur rumsitzen und warten.« Ein paar Patienten schauen herüber. Auch vom Aufnahmepersonal kommen kritische Blicke. Rose würde das Mädchen am liebsten bitten, die Stimme zu senken. Sie ist sich Opals zu kurzen Rocks bewusst, ihrer nackten Beine. Wenigstens trägt sie Schuhe. Dafür muss man wahrscheinlich scho n dankbar sein. »Mann«, schimpft Opal weiter. »Das ist echt der ineffektivste Laden, den ich je erlebt habe. Jeder Tierarzt würde das besser machen.« Rose erinnert sich daran, wie vorsichtig sie damals war. Still. Wie sie ihren eigenen Ärger heruntergeschluckt hat, fast an ihren Schreien erstickt ist. Sei vorsichtig, würde sie am liebsten -103
sagen. Bring sie nicht gegen dich auf. Die Stelle an ihrem Bauch fängt wieder an zu jucken. »Vielleicht sollten Sie irgendjemandem Bescheid sagen? Ihrem ... Ihrem Mann?« »Wem?« »Ihrem Mann.« Opal schaut sie unverwandt an. »Würde ich ja gern tun, aber leider existiert dieser Herr nicht. Ich bin nicht verheiratet.« Großer Gott, denkt Rose, worauf habe ich mich da bloß eingelassen. »Mrs. Gates?« Ein Arzt kommt auf sie zu und schaut von Rose zu Opal. »Miss Gates«, korrigiert ihn Opal »Wir haben uns die Röntgenbilder jetzt angesehen. Ihr Sohn hat eine Grünholzfraktur am rechten Unterarm.« »Oh Gott«, entfährt es Opal. »Kann ich ihn sehen?« »In ein paar Minuten. Wir legen ihm gerade einen Gips an. Normalerweise würden wir den Arm nur schienen, aber in seinem Alter ist ein Kunststoffgips besser.« Er hält inne, schaut in seine Klemmmappe. »Wir brauchten noch ein paar Informationen.« Er macht eine Handbewegung zu der Nische mit den Getränkeautomaten hin, Opal bleibt fest. »Ich möchte Zack sehen.« »Gleich.« So ist es recht, denkt Rose. Bleib hartnäckig. Lass dir nicht verbieten, zu deinem Sohn zu gehen. Jetzt besser nicht. »Im Moment bekommt er den Gips angelegt. Dann machen wir noch ein paar Röntgenaufnahmen. Und solange würde ich Ihnen gern einige Fragen stellen.« »Noch mehr Röntgenaufnahmen? Wieso denn das?« »Reine Routine.« Er weicht ihrem Blick aus. »Er hat was am Arm. Sonst nichts. Und den Arm haben Sie schon geröntgt. Wozu brauchen Sie noch mehr Röntgenaufnahmen?« Wieder die Handbewegung zur Nische hin. »Ich habe nur ein -104
paar Fragen.« »Dann fragen Sie doch.« »Wie ist das passiert?« Opals Blick schweift ab. »Was?« »Die Verletzung Ihres Sohns. Wie kam es dazu?« Ein leichtes Zögern. »Er ist ausgerutscht. In der Badewanne.« Rose kann den Gesichtsausdruck des Arztes nicht deuten, aber selbst ein Blinder mit Krückstock hätte gemerkt, dass das eine schamlose Lüge war. »In der Badewanne?« »Ja«, sagt Opal jetzt in etwas bestimmterem Ton. »Er hat einen Bluterguss am Oberschenkel. Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Eine Erklärung?« »Ja. Ein ziemlich großer Bluterguss am linken Oberschenkel. Wie ist das passiert?« Der Collegestudent mit den Krücken und ein älteres Ehepaar starren Opal jetzt unverhohlen an. »Woher soll ich denn das wissen, Mann? Er ist ein kleiner Junge. Er spielt auf dem Spielplatz. Und manchmal fällt er halt hin.« Jungs sind stabil. Wider Willen empfindet Rose einen Moment lang Genugtuung. »Warum fragen Sie mich eigentlich all diesen Scheiß?« »Reine Routine. Wir haben einige Formulare auszufüllen. In solchen Fällen ist ein Bericht des Notarztes vorgeschrieben.« »In solchen Fällen? Was soll denn das schon wieder heißen?« Rose sieht an der Miene des Arztes, dass Opals Aggressivität nicht gerade hilfreich ist. »Verdammte Scheiße«, sagt Opal, »Glauben Sie etwa, ich würde meinem Sohn wehtun? Glauben Sie, ich würde irgendetwas tun, was ihm schadet? Sind Sie denn völlig übergeschnappt? Sie haben sie wohl nicht mehr alle.« »Ganz ruhig, Mis s Gates.« »Er ist mein Sohn. Ich würde ihm niemals wehtun.« -105
»Beruhigen Sie sich.« Beruhigen Sie sich. Das hat die Krankenschwester auch zu Rose gesagt, als sie fragte, ob sie Todd noch einmal sehen dürfe. Beruhigen Sie sich. Die sitzen einfach am längeren Hebel. Man ist ihnen ausgeliefert. »Niemand beschuldigt Sie. Wir müssen diese Fragen stellen. Das ist Vorschrift in solchen Fällen.« »In welchen Fällen? Warum sagen Sie das immer wieder?« »Waren Sie allein mit Ihrem Sohn, als er stürzte?« »Allein?« »Ja. War bei Zacks Sturz sonst noch jemand anwesend?« Opal lässt sich in ihren Stuhl sinken. »Das ist doch absurd. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich Zack wehtun würde. Er ist mein Ein und Alles. Ich liebe ihn.« »Waren Sie allein?«, fragt er noch einmal. »Oder hat irgendjemand den Unfall mitbekommen?« Opal schweigt. »Sie müssen diese Fragen beantworten, Miss Gates.« Er kritzelt etwas auf den Rand seines Blatts. »Oder soll ich unsere Sozialarbeiterin kommen lassen? Also. Waren Sie allein, als der Unfall sich zutrug? Oder war sonst noch jemand dabei?« »Ja, ich.« Beide Gesichter wenden sich Rose zu. »Und Sie sind ...?« Nachdem sie diese zwei Worte gesagt hat – Worte, die noch in der Luft hängen, nachklingen –, ist Rose zu weiteren Äußerungen nicht im Stande. »Ihr Name?« Der Arzt wartet mit gezücktem Kuli. »Rose Nelson.« Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortet Opal für sie. »Mrs. Nelson ist meine Nachbarin.« Rose könnte sich die Zunge abbeißen. Welcher Teufel hat sie da bloß geritten? -106
»Und Sie waren dabei, als der Unfall passierte?« »Sie kam auf einen Kaffee vorbei«, fährt Opal fort. »Ich hatte Zack gerade gebadet, und während ich an die Tür ging, ist er wieder in die Wanne geklettert, um sein Boot herauszuholen. Er muss ausgerutscht sein, jedenfalls hat er plötzlich losgeheult.« Rose ist entsetzt darüber, mit welcher Leichtigkeit Opal lügt, wie unschuldig sie guckt, während ihr die Lügen nur so aus dem Mund purzeln. »Stimmt das?«, fragt er Rose. Was kann sie darauf sagen? Ich war nicht dabei. Sie weiß nicht, wie sie ihre Worte rückgängig machen soll. Sie nickt. Der Arzt macht sich noch ein paar Notizen, dann klappt er seine Mappe zu. »Ich will Zack jetzt sehen«, sagt Opal. »Ich will ihn sehen.« Rose starrt auf ihre Füße, außer Stande, irgendjemandem in die Augen zu blicken, so als wäre sie die Schuldige. Großer Gott, denkt sie wieder. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?
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KAPITEL 10 OPAL Die Notdienstgebühren und die Kosten für die Röntgenaufnahmen und den Arzt belaufen sich insgesamt auf fast vierhundert Dollar. Opal bezahlt mit der Visacard. Weiß der Himmel, wo sie das Geld hernehmen soll. Natürlich haben sie ihr die zusätzlichen Röntgenaufnahmen in Rechnung gestellt, Aufnahmen, die sie überhaupt nicht haben wollte und die keinerlei weitere Brüche oder Frakturen zutage gefördert haben, was Opal ihnen auch gleich hätte sagen können, aber sie ist natürlich nicht gefragt worden. Die hätten ihr ja sowieso nicht geglaubt. Das übliche Verfahren, haben sie gesagt. Scheiß auf das übliche Verfahren. Vorhin hat Zack vom Arzt etwas gegen die Schmerzen bekommen, und jetzt ist er matt. Verletzlich, Je schneller sie hier rauskommen, desto besser. Als sie ins Wartezimmer tritt, ist Rose nirgends zu sehen. Auf dem Klo, denkt Opal. Sie könnte Rose zur moralischen Unterstützung jetzt gut gebrauchen. Die Frau ist so aufregend wie eine Scheibe Brot, aber sie hat etwas Robustes, Verlässliches, das Opal jetzt sehr gut tun würde. »Mrs. Nelson hat sich ein Taxi gerufen«, teilt ihr die Schwester an der Aufnahme mit. Opal ist enttäuscht. Sie wollte sich bei Rose dafür bedanken, dass sie vor dem Arzt ihre Geschichte bestätigt hat. Da hätte man sie echt mit dem Strohhalm umpusten können, als Rose plötzlich erklärte, sie wäre bei Zacks Sturz dabei gewesen. Ihre eigene Mama hätte nie für sie gelogen, da ist sich Opal hundertprozentig sicher. Melva predigt Ehrlichkeit, als sei das ihre persönliche Religion. Sie will jetzt nicht an ihre Mama denken. Sie kann sich vorstellen, was Melva zu Zacks Arm sagen wird. Sie wird ihre -108
verkniffene Miene aufsetzen und so tun, als hätte sie genau so etwas erwartet. Als wäre es Opals Schuld, dass er hingefallen ist. Als könnte man Opal kein Kind anvertrauen. Noch so etwas, was sie nie richtig machen kann. Sie will gar nicht daran denken, was Melva sagen würde, wenn sie herausfände, dass Opal weg war, als Zack sich den Arm brach. Das würde sie Opal bis an ihr Lebensende vorhalten. So wie ihre Schwangerschaft. So wie ihre Weigerung, Billy zu heiraten. Noch so ein Thema, von dem Melva nicht lassen kann. Liebst du Billy denn nicht?, ist ihre Standardfrage, Wie kann Opal ihrer Mama klarmachen, dass sie einfach nur scharf auf Billy ist? Sieht ihre Mama denn nicht, dass Liebe etwas anderes sein sollte als das, was zwischen Billy und ihr läuft? Liebe kann doch nicht heißen, einander Vorwürfe zu machen, sich klein zu fühlen. Damit gibt Opal sich nicht zufrieden. An diesem Punkt – Zack und sie verlassen gerade das Krankenhaus – wird Opal klar, dass sie nicht nach New Zion zurückkann. Selbst wenn sie es wollte, was eindeutig nicht der Fall ist. Damals im September, als sie würfelte und sich dann Richtung Norden aufmachte, hat sie entschieden, dass sie für Zack und sich etwas anderes will, auch wenn sie nicht genau weiß, was. Und das hat alles verändert. Es gibt bestimmte Grenzen im Leben eines Menschen, hinter die man nicht mehr zurückkann, wenn man sie einmal überschritten hat. Dummerweise weiß man nicht immer, dass man gerade dabei ist, so eine Grenze zu überqueren, oder man merkt es erst, wenn man schon halb drüber ist. Deswegen ist es so wichtig, nach Zeichen Ausschau zu halten. Dann ist man wenigstens nicht völlig unvorbereitet. Sie hat nicht die geringste Vorstellung, was für ein Leben sie hier in Normal erwartet oder wo immer sie als Nächstes landen wird. Sie weiß bloß, dass sie nicht mehr so leben kann wie in New Zion. Es könnte deprimierend sein, kein klares Ziel vor Augen zu haben, aber Opal versucht es als Chance zu sehen. Selbst heute, wo Zack den Arm gebrochen hat, -109
ist sie davon überzeugt, dass alles möglich ist. Alles Erdenkliche kann geschehen. Die wunderbarsten Dinge. Das ist auch so was, wo Billy und sie sich nicht einig sind. Er rechnet immer mit dem Schlimmsten. Auf seinem Pickup hat er den Sticker Shit happens kleben. Nie im Leben würde sie sich so was auf ihr Auto pappen. Man muss das Schicksal ja nicht herausfordern. Opal weiß bloß eins, nämlich dass sie nach Normal geführt wurde. Für sie ist das Glaubenssache. Als sie über den Parkplatz zum Buick gehen, sehen sie, dass sich der Himmel zuzieht. »Sieht aus, als gäb’s bald ein Gewitter, Fröschlein«, sagt sie zu Zack. »Ich hab eine Kracktur am Arm«, verkündet er und nutzt das als Rechtfertigung, um die Rücksitzregel zu brechen und sich neben sie auf den Beifahrersitz zu setzen. Sie sind noch keinen Kilometer gefahren, da fängt seine Unterlippe an zu zittern. »Ich will keine Kracktur haben.« Jetzt könnte Opal wirklich Hilfe gebrauchen. Ungebeten meldet sich Melvas Stimme. Du hast dir deine Suppe eingebrockt, jetzt löffel sie auch aus. Noch so eine von Melvas unschätzbaren Weisheiten. Opal zieht Zack näher zu sich heran. »Weißt du, was das bedeutet, Fröschlein? Es bedeutet, dass der Knochen verletzt ist, mehr nicht. So wie damals, als ich mir bei Melvama die Hand an den Glasscherben verletzt habe.« Sie nimmt eine Hand vom Steuer und dreht die Handfläche nach oben, damit er die feine Narbe sehen kann. »Weißt du noch?« »Mhm.« »Na, und so hast du dir jetzt den Arm verletzt, aber das wird bald wieder gut, der wird genauso heilen wie meine Hand.« »Echt?« »Echt.« »Warum muss ich einen Gips haben?« »Ach, das ist doch nur so ’ne Art dicker Verband. Mehr ist das nicht.« -110
»Na gut«, sagt Zack. Er legt eine feuchte Hand auf ihren Oberschenkel und kuschelt sich an sie. Sie sind gerade mal zwei Straßen weiter, da beginnt es wie aus Kübeln zu schütten, hagelgleich prasselt der Regen auf die Windschutzscheibe. Opal fährt um die Bücherei herum und folgt dann der Main Street, halb auf die Straße, halb auf Zack konzentriert. Eine vertraute Ruhelosigkeit packt sie, ihre Hummeln im Arsch-Stimmung, wie Billy es nennt. Sie kann jetzt unmöglich einfach nach Hause fahren. Sie biegt in den Parkplatz der Creamery ein. »Magst du was essen, Fröschlein?« »Genau genommen hat der Arzt gesagt, mein Gips soll nicht nass werden.« Neuerdings fängt er jeden zweiten Satz mit diesem Ausdruck an: Genau genommen bin ich nicht müde. Genau genommen will ich jetzt ein Cola. Opal hat keine Ahnung, wo er das her hat, aber sie findet, er klingt richtig süß, wenn er das sagt. Wie ein kleiner Professor. Sie kramt auf dem Rücksitz herum, bis sie eine Plastiktüte gefunden hat. »Hier. Die wickeln wir um deinen Arm. Okay?« »Okay«, sagt er mit dünnem Stimmchen. Die Bedienung hat so ungefähr die scheußlichste braune Uniform an, die man sich vorstellen kann. Und auf dem Kopf hat sie ein Servierhäubchen, das Opal nicht mal unter Androhung von Prügel aufsetzen würde. Es sieht aus wie der Pappbecher, den einem die Zahnarzthelferin bei Dr. Wallace zum Mundausspülen reicht. Ihrem Namensschild zufolge heißt sie Tammy, was Opal schier nicht glauben kann. Tammy ist ihr eigener Taufname – Tammy Raylee Gates. Eins steht fest, diese Übereinstimmung muss ein Zeichen sein, aber nach diesem Morgen ist Opal zu ausgepowert, um gleich darüber nachzudenken. Sie weiß nur, dass sie keinen Namen auf dieser Welt so hasst wie Tammy. Später wird ihr klar sein, dass sie auf der Stelle hätte kehrtmachen sollen, als sie diesen Namen sah. Wie konnte sie ein so offensichtliches Zeichen nur ignorieren? Allein die Ironie -111
der Übereinstimmung hätte sie alarmieren sollen. »Warum musstest du mich denn nach der nennen?«, fragte sie Melva, als sie zehn war. »Tammy ist ein blöder Name.« Ihre Mama bekam diesen abwesenden Blick, wie immer, wenn sie etwas Unangenehmem aus dem Weg gehen wollte, und sagte: »Deine Tante Tammy ist eine gute Freundin von mir.« Als wäre das ein Grund, einem Kind so einen Namen aufzubürden. Noch dazu war Tammy Roscoe nicht mal ihre echte Tante. Aber das war typisch Melva, dass sie sich um etwas so Wichtiges wie die Auswahl eines Namens für ihre Tochter weniger Gedanken machte, als sie es bei einem Hund getan hätte. Für Opal ist es undenkbar, einem Kind einen so albernen Namen wie Tammy aufzudrücken. Aber wahrscheinlich hätte es noch schlimmer kommen können. Zum Beispiel, wenn ihre Mama gerade vorm Fernseher gesessen hätte, als ihre Wehen kamen, vor einer dieser Daily Soaps, nach denen sie süchtig ist, auch wenn sie das nie zugeben würde. Dann hätte sie später, als sie einen Namen für die Geburtsurkunde angeben musste, womöglich einen aus dieser Sendung genommen. Einen von diesen schmalzigen Soap-Namen. Opal hätte leicht Erica heißen können. Oder Tiffany. Opal war dreizehn, als ihr endgültig klar wurde, dass sie ihren Namen ändern musste. »Sind Sie so weit?« Opal steckt die Frühstückskarte wieder in den Serviettenhalter. Ein ordentlicher Zuckerstoß ist jetzt angesagt. »Könnten wir die Dessertkarte haben?« Die Bedienung schaut erst Opal, dann Zack an. »Sind wir nicht ein bisschen früh dran für ein Dessert?« Sie garniert diesen Kommentar mit einem absolut heuchlerischen Lächeln, das Opal keine Sekunde lang zum Narren hält. -112
»Nein, das sind wir nicht.« Ist ihr doch egal, was diese Bedienung von ihr denkt. Zumindest läuft Opal nicht mit einem Pappbecher auf dem Kopf herum. Sie bestellt den größten Eisbecher, den das Haus zu bieten hat, mit Schlagsahne und Pecannüssen. Zack bekommt einen Erdbeer-Milkshake. Das kann ja wohl kaum schaden, oder? Schließlich ist Milch drin, und Obst. »Weißt du was?«, sagt Zack zur Bedienung, als sie mit den Bestellungen kommt. »Was?« »Ich habe eine Kracktur am Arm.« »Na so was«, sagt die Bedienung. »Eine Kracktur.« Sie taut ein wenig auf und lächelt Opal zu, so nach dem Motto wie goldig »Eine Fraktur, Zack«, sagt Opal. »Du hast eine Fraktur, Schatzpatz.« Sie pult die Papierhülle von seinem Strohhalm und steckt den Halm in seinen Milkshake. »Wie ist denn das passiert?«, fragt Tammy. »Er ist hingefallen«, sagt Opal. Warum fragt diese Frau mit ihrem dämlichen Pappbecher sie eigentlich aus? Genau wie der Arzt in der Unfallstation. Reine Routine, hat er gesagt. Als wäre es auch nur im Entferntesten denkbar, dass sie Zack je wehtun würde. »Mama?« »Was ist, Schatzpatz?« »Mir ist ganz komisch.« »Hier. Trink einen Schluck von deinem Milkshake.« Stimmt, sie haben überhaupt nicht gefrühstückt heute. »Mir ist schlecht.« »Na komm, Fröschlein«, sagt sie. »Setz dich zu mir.« Sie rückt ein Stückchen und macht ihm Platz auf ihrer Bank. »Hier. Probier mal von meinem Eis.« Sie löffelt ihm etwas -113
Schlagsahne herunter. »Mir ist schlecht«, sagt er noch mal. »Ich will nach Hause.« Er ist wirklich blass. Opal winkt nach der Bedienung und lässt sich die Rechnung bringen. Sieben Dollar, zuzüglich Mehrwertsteuer. Junge Junge. Die Sahne stammt wohl von Platinkühen? »Mama«, jammert Zack. »Ist ja gut, Schatzpatz. Wir gehen sofort.« Sie wühlt in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. Oh verdammt. Das Fach für die Scheine ist leer. »Mir ist schlecht.« Sie weiß genau, dass sie einen Zehndollarschein hatte. Sie hat ihn gestern noch gesehen, als sie für Zacks Kindergarten bezahlt hat. »Mama?« Er muss doch da sein. Dann erinnert sie sich. Die Schachtel Eclairs, ihre spontane Spende für die junge Mutter. »Mama?« »Einen kleinen Moment, Zack.« Sie fischt in der Tiefe ihrer Handtasche nach Kleingeld und findet zwei Fünfundzwanzig-Cent-Stücke und ein Zehn-CentStück. Sie wühlt weiter zwischen Kaugummipapier, zusammengeknüllten Papiertaschentüchern, einer Haarbürste, Lippenstift und einer Rolle Pfefferminzdrops und findet ein zweites Zehn-Cent-Stück. »Gibt es irgendwelche Probleme?« Pappbecher steht am Tisch. Das fehlt ihr gerade noch. »Mein Geld reicht nicht ganz.« Die Bedienung wartet, ohne zu lächeln. »Nehmen Sie auch Kreditkarten?« »Nein. Bloß Bargeld. Oder Schecks von einer hiesigen Bank. Sie können mit Scheck bezahlen.« -114
Opal tut so, als würde sie nach ihrem Scheckheft suchen, obwohl sie ganz genau weiß, dass es hinten auf ihrer Frisierkommode liegt. »Bleiben Sie hier sitzen«, sagt Pappbecher, als wäre Opal im Aufbruch begriffen. »Ich hole den Geschäftsführer.« Opal merkt sofort, dass sie mit dem auch nicht besser fahren wird. Er kommt gleich zur Sache, bevor sie auch nur ein Wort sagen kann. »Hier gibt’s Probleme?« Sie weiß, wie Melva an die Sache herangehen würde. Ihre Mama würde ihr liebenswürdigstes Lächeln aufsetzen und den Mann einwickeln, bis er die Rechnung schließlich selbst bezahlen würde. Sie hat Melva diese Nummer zigtausendtfach abziehen sehen, aber in ihrer eigenen DNS fehlt dieses Verhaltensgen leider. »Mein Geld reicht nicht ganz«, sagt sie. »Ich war mir sic her, dass ich noch einen Zehn-Dollar-Schein habe.« »Mama?« Zack zieht an ihrem Ärmel. »Einen kleinen Moment, Schatzpatz.« »Sie können also nicht bezahlen?« Er sagt das wie: Sie haben also Ihren Mann ermordet? Meine Güte. Es geht um sieben Dollar. Nicht gerade eine Staatsschuld. »Doch. Ich habe bloß nicht genug Bargeld dabei. Ich wohne hier in der Gegend. In der Chestnut Street. Neben Rose und Ned Nelson.« Opal hat festgestellt, dass die Leute richtig entgegenkommend werden, wenn sie Roses Namen hören, aber falls der Geschäftsführer je von ihrer Nachbarin gehört hat, lässt er es sich nicht anmerken. »Wieviel fehlt Ihnen?« »Sieben Dollar.« »Mama?« »Sieben Dollar?« Er sagt das, als wären es siebenhundert. »Ja.« Scheiße. Echt, Mann, als wollte sie die Zeche prellen. »Ich bring das Geld später vorbei.« Sie versucht krampfhaft zu lächeln. »Versprochen.« -115
Der Mann sieht aus, als versuche er gerade zu entscheiden, ob er die Polizei rufen soll oder nicht. »Hi, Opal.« Vor ihr steht – überlebensgroß – Ty Miller. Voll rausgeputzt in engen Jeans, Wildlederjacke und Cowboystiefeln. »Kann ich dir irgendwie helfen?« fragt er. »Nein«, sagt sie. Ein beschissener Tag, und es wird immer schlimmer. »Diese Frau kann ihre Rechnung nicht bezahlen«, sagt der Geschäftsführer, damit es auch ja jeder erfährt. »Na so was aber auch«, sagt Ty. »Kein Problem. Hier. Ist erledigt.« Er legt einen Zehn-Dollar-Schein auf den Tisch. »Bitte«, protestiert Opal, doch bevor sie ein weiteres Wort sagen kann, schiebt sich Zack aus der Sitznische und erbricht sich auf Tys hochhackige Stiefel. Später wird Opal diesen Tag immer wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen. Zacks Unfall. Die Verdächtigungen des Arztes. Ihre Lüge über den Hergang des Unfalls. Die Fahrt zur Creamery. Kein Geld für die Rechnung. Zack, der auf Ty Miller kotzt. Jede einzelne Episode ein Schritt auf dem direkten, unvermeidlichen Weg zu einem Herzen in Not.
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KAPITEL 11 ROSE Rose hat das alles schon tausendmal gehört. Die Saison ist gerade mal zur Hälfte vorbei, und die Patriots haben schon vier Spiele verloren. »Es ist doch immer das Gleiche«, knurrt Ned. »Der Quarterback allein schafft das einfach nicht. Laufen müssen sie, laufen.« Als sie vom Kaffeeabmessen aufschaut, sieht sie Willard Scott, der seine Geburtstagsgrüße ins Land hinaus schickt. Ein Gesicht wird eingeblendet – ein verhutzeltes Apfelgesicht, ganz Runzeln, Nase und Kinn – ein Gesicht, das so alt ist, dass man nicht erkennen kann, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Im hohen Alter, so hat Rose festgestellt, werden die Menschen irgendwie geschlechtslos. Es ist ihr unbegreiflich, warum manche Leute hundert Jahre alt werden wollen, ein Alter in dem einem doch alles genommen ist, selbst das Geschlecht. Sie jedenfalls will das nicht. Ein Name – Katherine Waite, 103, Courtland, Kansas erscheint unter dem welken Gesicht. Ned legt die Zeitung beiseite. »Es ist besser, wenn du dich nicht mit der einlässt«, sagt er. Sie starrt ihn an. Warum in aller Welt sollte sie sich mit einer Fremden aus Kansas einlassen? »Mit der da drüben.« Er macht eine Kopfbewegung zum Nachbarhaus hinüber. »Der armen Irren. Ich mein bloß – es ist klüger, Abstand zu wahren.« »Ach so«, sagt sie und gießt Wasser in die Kaffeemaschine. Die Stelle an ihrem Bauch fängt wieder an zu jucken, und sie kratzt sich kurz. »Glaub mir, Rose«, fährt Ned fort. »Die Sorte kenn ich. Das ist eine von denen, die ihr Leben erst gründlich verkorksen und dann erwarten, dass andere Leute es wieder in Ordnung -117
bringen.« »Vermutlich«, sagt Rose. »Vermutlich? Ich sag doch, ic h hab gleich gesehen, dass die bloß Ärger machen wird. Wie die in die Werkstatt gerauscht kam, um zu fragen, ob sie mal telefonieren darf – eine Sprache hatte die drauf, da wäre jeder Trucker blass geworden. Eine arme Irre.« »Ja«, stimmt Rose ihm zu. Unter ihrem Kleid, Unterrock und Schlüpfer glüht die rote Stelle – so ein Mittelding zwischen Jucken und Brennen. Lymphknoten, denkt sie. Chemotherapie. Wäre das so schlimm? Was hat sie denn schon, wofür es sich zu leben lohnt? »Läuft in Sachen rum, die nicht mal für eine Zwölfjährige angebracht wären. Und Ty hat sie dermaßen den Kopf verdreht, dass er einen Schraubenschlüssel nicht mehr von einer Pinzette unterscheiden kann. « Von Tyrone Miller will Rose lieber gar nicht erst anfangen. Sie begreift nicht, warum Ned eine Schwäche für ihn hat, warum er ihn trotz seiner Geschichte in der Autowerkstatt angestellt und ihm eine Chance gegeben hat, als niemand anders dazu bereit war. »Mit ihr zum Krankenhaus zu fahren war ja okay«, fährt Ned fort, »aber dabei muss es auch bleiben. Lass sie gar nicht erst auf andere Ideen kommen. Nachher holt sie dich noch zum Babysitten. Am besten gehst du ihr aus dem Weg.« »Du hast Recht«, sagt sie. Er muss ihr gar nicht ins Gewissen reden. Auch wenn sie gestern zum Mercy Memorial mitgefahren ist, hat sie doch nicht die geringste Absicht, den Kontakt mit Opal Gates oder ihrem Sohn in irgendeiner Weise fortzusetzen. Wie leicht dem Mädchen die Lügen von der Zunge gegangen sind – der würde Rose alles zutrauen. Sie verquirlt die Eier für Neds Frühstück, gießt sie in die Pfanne und lässt sie ausgiebig stocken, so wie er es gern mag. Wie Gummi, findet sie. Sie mag -118
Rührei lieber locker und feucht, aber sie hat sich im Laufe der Jahre angepasst und isst es jetzt so wie Ned. Das ist einfacher, als zwei Portionen zuzubereiten. Sie schiebt ihm sein Frühstück auf den Teller »Der arme Kerl, der sie geheiratet hat, tut mir wirklich Leid.« Ned lupft das Rührei mit der Gabel auf eine Scheibe Toast und klappt diese dann zusammen, eine Angewohnheit, die Rose schier wahnsinnig macht. »Kein Wunder, dass er sie verlassen hat.« Wie kann er sich so sicher sein, dass nicht Opal diejenige ist, die aus der Beziehung rauswollte? Er würde bestimmt an die Decke gehen, wenn er erführe, dass sie überhaupt nicht verheiratet ist. Und Rose möchte sich gar nicht vorstellen, was er dazu sagen würde, dass sie im Krankenhaus für Opal gelogen hat. »Noch Kaffee?«, fragt sie. »Eine halbe Tasse«, sagt er und hält ihr seinen Becher hin, einen riesigen Plastikpott, dessen Innenseite nussbraun verfärbt ist. Ein Toastkrümel hängt ihm im Mundwinkel. Wenn er doch nur seine Serviette benutzen würde. Sechsunddreißig Jahre sind sie verheiratet, aber sie hat ihn immer noch nicht dazu bringen können, eine Serviette zu benutzen. »Ist alles okay, Rosie?« Seine Stimme klingt ungewöhnlich besorgt, und er sieht sie direkt an. Die Zeitung liegt unbeachtet auf dem Tisch. Rose gesteht sich einen Moment der Schwäche zu, ist versucht, ihm alles zu erzählen, was sie in ihrem Innern eingeschlossen hat. Nic ht nur das von gestern, als sie dem Arzt sagte, sie sei dabei gewesen, als der Junge sich verletzte, sondern auch das mit dem Muttermal auf ihrem Bauch und das, was im Schreibkurs passiert ist, vor allem aber, dass sie Todd nicht erlaubt hat, ihr Auto zu nehmen, sondern ihn mit Jimmy losgeschickt und so in den Tod getrieben hat. Zentnerschwer lastet das auf ihrer Seele, so schwer, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, wie es wäre, von dieser Last befreit zu sein. Fast breitet sie alles vor ihm aus, -119
lässt es raus, so wie Ned das alte Öl aus den Motoren, ablässt. Erzählt es ihm beinahe, damit er alles in Ordnung bringt. Doch es ist längst zu spät, um noch irgendetwas in Ordnung zu bringen, und so lässt sie den Moment verstreichen. »Ja, sicher.« »Und, was steht heute bei dir auf dem Programm?«, fragt er. Sie denkt an den Tag, der sich endlos vor ihr ausdehnt, doch bevor sie auch nur ein Wort sagen kann, hat er sich wieder dem Sportteil zugewandt. Den ganzen Vormittag wartet sie mehr oder weniger darauf, dass Opal sich meldet, und als schließlich das Telefon klingelt, nimmt sie ohne Zögern ab. Ned braucht sich keine Sorgen zu machen. Sie wird sich auf nichts einlassen. Sie will bloß hören, ob es dem Jungen gut geht. Als sie die Stimme am anderen Ende der Leitung hört, lässt sie fast den Hörer fallen. »Hallo Rose. Hier ist Anderson Jeffrey. Vom College.« Als könnte sie das vergessen haben. Als wäre sie mit so vielen Männern bekannt, dass er sich erst ausweisen müsste. Als hätte sie sich vor so vielen dieser Männer eine Blöße gegeben. »Legen Sie nicht auf, Rose. Bitte legen Sie nicht auf.« Er sagt das in einem einzigen langen Atemzug, so dass es klingt wie »vomcollegelegenSienichtaufrosebittelegenSienichtauf«. »Ja?« Sie ist überrascht, wie normal ihre Stimme klingt. »Hallo Rose«, sagt er, diesmal langsamer, da sie offensichtlich nicht gleich auflegen wird. »Hallo«, gibt sie zurück und fragt sich, wie oft sie diesen Gruß wohl noch wechseln werden. »Wie geht es Ihnen?« »Gut. Mir geht’s gut.« »Wirklich?« »Ja«, sagt sie mit fester Stimme. »Das freut mich.« Er wartet, bekommt aber kein Antwort. »Ich muss mit Ihnen reden, Rose«, sagt er schließlich. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?« -120
Eine Erinnerung – seine Lippen auf ihren – raubt ihr die Sprache. Ihr Bauch juckt wie verrückt, und sie legt die Fingerspitzen auf die Stelle und drückt zu. Am zweiten Kurstag setzte sie sich an denselben Tisch wie beim ersten Mal und legte sich Papier und Bleistift zurecht, um ihren Einkaufszettel zu schreiben. Die Eier waren ausgegangen, das wusste sie. Sie hatte vor, ihm nach der Stunde zu sagen, dass sie nicht mehr teilnehmen würde. »Wir bleiben beim Impulsiven Schreiben«, sagte er, »aber heute ist die Erinnerung unser Ausgangspunkt. Die Erinnerung – dieser alluviale Morast – ist das natürliche Revier der Schriftsteller.« Dieser alluviale Morast? Rose hatte keinen blassen Schimmer, wovon er redete, aber ein Schauer des Unbehagens überlief sie. »Beginnen Sie mit dem Satz ›Ich erinnere mich‹, und dann schreiben Sie eine Liste.« »Wie?« Sie war so erstaunt über seine Anweisung, dass ihr die Frage einfach herausrutschte. Anderson Jeffrey sah sie direkt an und lächelte.›»Ich erinnere mich‹«, wiederholte er. »Listen Sie alles auf, woran Sie sich erinnern.« Ein weiterer Angstschauer durchfuhr sie, trotzdem schrieb sie sorgfältig Ich erinnere mich. Während die anderen im Raum geräuschvoll kritzelten, dachte sie einen Moment lang nach und schrieb schließlich ans Erdbeerenpflücken mit Momma. Diese Erinnerung – die aus dem Nichts in ihr aufstieg – ermutigte sie. An Dads Arbeitsschuhe, schrieb sie als Nächstes und staunte, wie klar sie die vor Augen hatte. Die Falten über dem Spann, die hochgebogene Schuhspitze, die unterschiedlichen Schnürsenkel. Wie ulkig, sich nach so vielen Jahren wieder daran zu erinnern. Tootsie, schrieb sie, das Kattunkätzchen, das sie als Kind gehabt hatte. Eis am Stiel, mit Orangengeschmack. Und dann, bevor sie -121
auch nur begriffen hätte, was gerade geschah, geschweige denn auf ihre Hand hätte Einfluss nehmen können, schrieb sie Todd. Ich erinnere mich an Todd. Als dieser Satz erst einmal dastand, war kein Halten mehr. Ihr Stift sauste übers Papier, als hätte sie fünf Jahre lang nur darauf gewartet, das alles niederzuschreiben. Sie schrieb über Todd und dass er ihr fehlte und wie man einen Menschen in einem Moment noch in seinem Leben haben kann, einen Menschen, der einen anstrahlt, der lacht, der einen mit seinen Kindereien auf die Palme bringt, und im nächsten ist er ohne jede Vorwarnung verschwunden. Und all die Worte, die man nie gesagt hat, sind plötzlich in einem eingeschlossen. Was passiert wohl mit Worten, die in einem Angeschlossen sind? Wo kommen sie hin? Dann begann sie über Todds Freund Jimmy zu schreiben, der bei dem Unfall nicht mehr als einen Kratzer davongetragen hatte. Wirklich, nur einen Kratzer. Das sagte man oft einfach so daher, aber in diesem Fall stimmte es tatsächlich. Jimmy hatte einen kleinen roten Kratzer am rechten Arm, und Todd war tot. Inzwischen war Jimmy zweiundzwanzig und hatte selbst zwei Kinder. Und dann schrieb sie, dass sie Jimmy hasste und dass Reverend Wills gesagt hatte, Hass sei eine Sünde und sie müsse sich in Vergebung üben. Und dass sie dem Reverend und Ned zuliebe die Vergebung akzeptiert habe, den Hass jedoch immer noch in sich trage. Manchmal glaubte sie, dass nur dieser Hass sie am Leben hielt, und auch das schrieb sie auf. Sie schrieb, dass sie auf der Beerdigung jemanden hatte sagen hören, es sei ein Wunder, dass Jimmy in dem Unfall nicht auch umgekommen sei, aber für sie war das kein Wunder. An diesem Punkt wurde ihr klar, dass sie das Blatt und alles, was sie ihm anvertraut hatte, würde verbrennen müssen. Was sie hier machte, war nicht impulsives, sondern eruptives Schreiben – die Worte überschlugen sich förmlich, taumelten und hüpften wie die Einmachgläser oder damals nach der Stillzeit, Todds Milchfläschchen, die sie in kochendem Wasser sterilisierte. -122
Dann schrieb sie von Geheimnissen und von Reue. Schrecklichen Geheimnissen. Bitterer Reue. Sie schrieb davon, wie man sie nach dem Unfall ge tröstet hatte. Es ist doch nicht deine Schuld, Mach dir keine Vorwürfe. Aber das Schlimme war eben, dass es ihre Schuld war. Sie hätte Todd ihr Auto geben sollen, dann hätte er nicht bei Jimmy Sommers im Pickup gesessen. Diesen Schmerz, diese Schuldgefühle würde sie bis an ihr Lebensende ertragen müssen. Sie schrieb davon, wie sie im ersten Jahr nach seinem Tod an seinem Geburtstag den ganzen Tag darauf gewartet hatte, dass Ned etwas sagte, irgendeine Anmerkung machte, doch von Ned kam nichts. Er verhielt sich, als wäre es ein Tag wie jeder andere, und irgendwann begriff sie, dass er den Geburtstag vergessen hatte. Sie schrieb, dass sie eine Weile lang mit dem Gedanken gespielt hatte, Ned zu verlassen, obwohl ihr klar gewesen war, dass sie sich etwas vormachte. Um jemanden zu verlassen, braucht man etwas, das einen erwartet. Als sie an diesem Punkt angekommen war, merkte sie, dass Anderson Jeffrey neben ihr stand. Sie blickte auf und stellte fest, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Der Kursleiter hatte die anderen Blätter bereits eingesammelt und streckte nun die Hand nach ihrem aus. Sie war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass er die Texte würde mitnehmen wollen. Bevor sie etwas einwenden konnte, spürte sie, wie das Blatt aus ihrer Hand in seine glitt. Im Taxi auf dem Weg nach Hause überlegte sie, wie sie ihren Text zurückbekommen könnte. Noch eine Sitzung, schwor sie sich. Ein einziges Mal würde sie noch hingehen, damit sie ihren Text zurückbekam. In der darauf folgenden Woche nahm sie sich vor, ihn nach der Stunde anzusprechen. Während des Unterrichts wählte sie bewusst ungefährliche Themen, die Geschichte von Normal zum Beispiel, Themen, über die sie schreiben konnte, ohne das Blatt hinterher verbrennen zu müssen, die nicht aus irgendeinem alluvialen Morast kamen. Am Ende der Stunde fragte Anderson -123
Jeffrey, noch ehe sie selbst ein Wort sagen konnte, ob er kurz mit ihr sprechen könne. Er führte sie zu seinem Zimmer, einem kleinen Raum mit einem schlichten Schreibtisch aus Eichenholz, wie ihn auch Doc Blessing in seinem Sprechzimmer hatte, und einem Sofa, auf dem sich so viele Bücher und Manuskripte türmten, dass kein Zentimeter Platz mehr war, um sich hinzusetzen. Sie erkannte sofort, dass er einer von den Leuten war, die nicht auf die Idee kommen würden, einen zweiten Autoschlüssel in Reserve zu halten. Die automatisch davon ausgehen, dass sich andere Leute um Dinge wie eingeschlossene Autoschlüssel und schmutziges Geschirr kümmern. Sie fragte sich, was er von ihr wollte und wie lang sie wohl bleiben müsste, doch er ließ sich über ihre Texte und ihr, wie er es nannte, ungeschliffenes Talent aus. Einen Moment lang spürte sie so etwas wie Freude in sich aufflackern, und ihre Klassenlehrerin in der Zehnten fiel ihr ein, Mrs. Finney, die mal zu ihr gesagt hatte, sie sei ein »kluges Mädchen«. Doch dann verschwand dieses warme Gefühl. Sie ließ ihn reden, hörte nicht mehr auf seine Worte, sondern nur noch auf die fast hypnotische Stimme, die zu seinen sauberen Fingernägeln passte. »Also dann bis nächste Woche«, sagte er, als er ihr die Tür öffnete und dabei ihren Arm berührte. »Ja«, sagte sie, froh, endlich gehen zu können, dass sie ganz vergaß, nach ihrem Text zu fragen, ihm zu sagen, dass sie nicht mehr kommen würde, In der darauf folgenden Woche schenkte er ihr im Unterricht besondere Aufmerksamkeit, obwohl sie weder die Hübscheste noch die Schlankste, noch, weiß Gott, die Jüngste im Raum war. Und nach der Stunde bat er sie wieder, in sein Arbeitszimmer zu kommen, damit sie über ihre Texte sprechen könnten, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was es dazu wohl zu sagen gab. Als sie Mr. Anderson Jeffrey das zweite Mal in sein Arbeitszimmer folgte, fiel ihr sofort auf, dass sein Sofa abgeräumt war, so dass man den hässlichen karierten Stoffbezug -124
sah. Sie hätte auf der Stelle kehrtmachen sollen, doch stattdessen ließ sie sich von ihm zum Sofa führen. Sie war zu keinem Gedanken, zu keinem Wort, zu keiner Regung fähig. Wie gelähmt ließ sie einfach zu, dass er sie küsste. So müsste es sein zu ertrinken, in jenen letzten Momenten, wenn man den Kampf aufgegeben hatte. Rose reißt sich zusammen und schafft es, Anderson Jeffrey zu sagen, dass sie jetzt nicht mit ihm reden kann. »Rufen Sie mich zurück?« »Ja«, sagt sie, obwohl sie nicht im Traum daran denkt, das zu tun. »Versprechen Sie es mir«, drängt er. »Ja«, sagt sie wieder. »Haben Sie einen Stift greifbar? Ich gebe Ihnen meine Privatnummer.« Lieber würde sie sich mitten in der Stadt direkt vor Colonel Normals Denkmal nackt ausziehen, als sich seine Telefonnummer zu notieren. Dann ist sie ihn endlich los. Sie möchte gar nicht darüber nachdenken, warum er sich wohl mit ihr treffen will. Überleg dir gut, wen du in dein Leben einlässt, sagt sie sich. Überleg es dir gut, denn wenn du jemanden erst einmal in dein Leben eingelassen hast, ist es schwer, ihn wieder hinauszubekommen. Allerdings denkt sie dabei an Opal Gates, nicht an Anderson Jeffrey. Nachdem sie aufgelegt hat, blickt sie zum Haus der Montgomerys hinüber. Wider Willen fragt sie sich, was Opal wohl macht, wie es Zack geht. In diesem Moment sieht sie Ty Miller in die Einfahrt der Montgomerys einbiegen. Sie beobachtet, wie er den Vorgarten durchquert, die Stufen zur Haustür hinaufgeht. Tja, sieht so aus, als hätte Ned recht: Wo dieses Mädchen ist, lässt der Arger nicht lang auf sich warten. -125
KAPITEL 12 NED Ned taucht unter die Motorhaube von Chuck Winskis Nova. Irgendwas stimmt mit der Zündung nicht, und er hat den Verdacht, dass Chuck selbst daran herumgeschraubt hat, um sich die Fahrt zur Werkstatt zu sparen, Schon ein netter Kerl, dieser Chuck, aber ein Geizkragen, dass es kracht. »Hast du da selbst dran rumgebastelt?« »Eigentlich nicht.« »Herrje, Chuck. Ja oder nein.« »Na ja, nein, aber ...« Sein Zögern verrät ihn. »Also, mein Neffe, weißt du, Janices Sohn, der hat mal einen Blick reingeworfen.« Es war immer der Neffe. Die Leute versuchen ein paar Dollar zu sparen, und wenn die Sache in die Hose geht, ist immer der Neffe schuld. Verflucht noch mal, wenn für jedes vermurkste Auto in Normal, das irgendein Knauser auf dem Gewissen hat, ein Neffe verantwortlich wäre, dann müssten sämtliche Jugendliche in dieser Stadt mit einem Steckschlüssel in der Hosentasche durch die Gegend laufen. »Was hat er gemacht?« »Ach Gott, keine Ahnung. Nur mal einen Blick drauf geworfen. Vielleicht hier und da an einer Schraube gedreht.« »Stell ihn drüben zwischen den Abschleppwagen und den grünen Chrysler. Ich versuche ihn mir heute Nachmittag vorzunehmen.« Ned füllt das Auftragsformular aus. In der Reparaturhalle pfeift Ty vor sich hin, probiert an einem neuen Song herum, mit den Gedanken wie üblich mehr beim Musikmachen als beim Motorenreparieren. Ned hat ihm schon mehrfach geraten, die Musik sein zu lassen und sich ganz auf Autos zu verlegen. Ein rentableres Geschäft. Vor allem ein verlässlicheres. Er hat sogar -126
durchblicken lassen, dass Ty in der Werkstatt bald eine wichtigere Rolle spielen könnte, hat angedeutet, dass er den Laden ganz abgeben will, wenn er nach Florida zieht. Aber Ty ist nicht interessiert. Er hat ganz andere Träume, Vorstellungen, die in Neds Augen so realistisch sind wie die Idee, in einem Renault die Welt zu umrunden. Wenigstens trinkt er nicht. Ned kennt kaum einen Mechaniker ohne Alkoholproblem. Abgesehen davon, dass Ty ab und zu nicht zur Arbeit kommt, ist er kein schlechter Kerl. Versteht was von Motoren. Und trotz seiner Geschichte bleibt er sauber. Ned bereut nicht, dass er ihm eine Chance gegeben hat – keine Sekunde lang. Vom an den Zapfsäulen hält ein Wagen. Es ist Ned in Fleisch und Blut übergegangen, bei jedem vorfahrenden Wagen automatisch eine Ferndiagnose zu stellen. Selbst aus zehn Metern Entfernung und mit verbundenen Augen könnte er das Stottern eines Motors, das Kreischen eines Keilriemens zuordnen. Diesmal hört er, selbst von hier drinnen, ein verräterisches Brummen. Das ist leicht. Die Wasserpumpe macht’s nicht mehr lang. Erblickt auf und sieht den grauen Buick. Es ist seine Nachbarin, die arme Irre. Der Donut, den er sich vorhin bei Trudys geholt hat, liegt ihm schwer im Magen. Geistesabwesend streicht er sich über die Brust. Er sollte nicht so fett essen. Als wäre er mit Radar ausgerüstet, schiebt Ty das Rollbrett unter dem Escort hervor – der Auspuff hat irgendwo ein Leck – und kommt rüber zu Ned. Sie sehen zu, wie Opal aussteigt, ihre Beine nackt bis sonstwohin. »Schlag sie dir aus dem Kopf«, sagt Ned. Die ganze Stadt weiß inzwischen, dass Ty sie in der Creamery ausgelöst und dass der Kleine sich auf Tys Stiefel übergeben hat. Er hätte sich die Spucke sparen können. Ty ist schon aus der Tür. Ned greift nach dem Fläschchen Tums unter der Theke, nimmt zwei Tabletten. Bei Opals Anblick muss er an Rose denken. Gut, sie hat nur ausgeholfen, als sie den Kleinen zur Unfallstation begleitete, -127
aber trotzdem gefällt ihm die Sache nicht. Er kann sich nicht vorstellen, dass es mit Rose noch schlimmer kommen könnte, aber förderlich ist der Kontakt mit Opal Gates bestimmt nicht. Am liebsten würde er ihn ihr verbieten. Vom bei den Zapfsäulen verkünstelt sich Ty an dem Buick. Während das Benzin einläuft, putzt er die Windschutzscheibe, verwendet doppelt so viel Zeit darauf wie nötig. Mein Gott, warum sabbert er ihr nicht gleich auf die Scheibe? Ned schmeißt seinen Lappen auf die Theke und beschließt, heute früher Mittag zu machen. Er geht aufs Klo, langt in den Behälter mit der Handwaschpaste und rubbelt sich, so gut es geht, die Schmiere von den Fingern. Als er herauskommt, hängt Ty doch allen Ernstes immer noch über dem Buick. »Ich geh rüber zu Trudy’s«, ruft er ihm zu, wobei er das Mädchen demonstrativ ignoriert. Der Kleine sitzt hinten auf der Rückbank. Goldiges Kerlchen. Mit dem hat Ned keine Probleme. Er nickt ihm im Vorbeigehen zu. Im Imbiss ist es leer. Er ist dem großen Mittagsandrang zuvorgekommen. »Du bist aber früh dran«, sagt Trudy. Er setzt sich auf seinen üblichen Hocker, und sie bringt ihm einen Becher Premiunikaffee. Obwohl sie nicht viel älter ist als er, kann Ned sich nicht erinnern, dass sie irgendwann einmal nicht hinter dieser Theke gestanden hätte. Der Laden gehörte früher ihren Eltern, und als sie starben – dreißig Jahre muss das jetzt her sein – übernahm Trudy ihn. Ob sie wohl je daran denkt, sich zur Ruhe zu setzen, in den Süden zu ziehen? Was treibt sie an? »Einen Schinkentoast mit Tomate«, sagt er. »Pommes oder Krautsalat?« Er denkt an sein ständiges Sodbrennen. Ach, was soll’s. Er bestellt die Pommes. Er hat den Laden fast für sich, und obwohl CNN läuft, herrscht eine friedliche Stimmung, die ihm sehr angenehm ist. Durch die Öffnung in der Wand hinter der Theke sieht er Trudy am Grill hantieren. Sie bewegt sich sehr effizient, wie alle guten Arbeitskräfte. Keine überflüssige Bewegung. Sie -128
legt sechs Scheiben Schinkenspeck zurecht, steckt zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster, kippt eine Ladung Pommes in den Korb, senkt ihn ins Fett. Nicht zum ersten Mal fragt sich Ned, warum sie nach Jims Tod eigentlich nicht wieder geheiratet hat. Sein Blick fällt auf ihre Hüften, breite Hüften, wie er sie bei Frauen mag. Diese Twiggys sind nicht sein Ding. Er will was zwischen den Fingern haben. Er erlaubt sich kurz, sich vorzustellen, wie sie wohl im Bett wäre. In der Highschool hatte sie einen gewissen Ruf. Ned schüchterte das damals ein, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Allerdings muss er zugeben, dass es ihn zugleich erregt. Er wendet den Blick zum Fernseher noch, glotzt auf den Börsenreport, der ihn überhaupt nicht interessiert und sieht dann Dan Quayle bei einem weiteren Fauxpas zu. Der Mann tritt doch von einem Fettnäpfchen ins andere. Der Vizepräsident wird ausgeblendet, und dann nimmt die Großaufnahme eines Frauengesichts den ganzen Bildschirm ein. Ned erkennt sie sofort. Inzwischen weiß das ganze Land, wer sie ist. Die Frau, die ihre Kinder umgebracht hat. Eine geschlagene Woche lang ist sie in jeder Vormittags- Talkshow aufgetreten, hat geweint und die Kidnapper angefleht, ihr ihre Söhne zurückzugeben, dabei hatte sie sie selbst umgebracht. Es ist ihm unbegreiflich, wie jemand so lügen und alle zum Narren halten kann. Er ist richtig erleichtert, als der Beitrag zu Ende ist. Allein bei ihrem Anblick kriegt er das Gruseln. Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder umbringt – etwas Unnatürlicheres kann es doch gar nicht geben. Für solche Leute ist die Gaskammer noch zu gut. Als der wahre Sachverhalt in den Abendnachrichten aufgedeckt wurde, stand Rose auf, schaltete den Fernseher ab und ging hinaus. Er hörte sie im Badezimmer weinen. Er wusste nicht, ob er hingehen und etwas sagen oder lieber sitzen bleiben sollte. Das Leben mit Rose ist ein einziger Eiertanz. Er kippt seinen Kaffee herunter und denkt über sie nach. Er hat das Gefühl, dass sie sich immer weiter von ihm entfernt. Seit -129
Tagen versucht er zu begreifen, warum sie ihm diese Lüge über den Abendkurs erzählt hat. Wieso hat sie ihm nicht einfach die Wahrheit sagen können? In den letzten Jahren hat er viel hingenommen. Er hat es mit Anteilnahme probiert, mit Zärtlichkeit, mit Zorn. Es hilft alles nichts. Sie weigert sich, an Weihnachten zum Familientreffen bei Ethel zu gehen. Sie weigert sich, Auto zu fahren. Die Lüge über den Schreibkurs könnt e der letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Gestern Nacht ist er irgendwann nach zwölf aufgewacht und hat sie betrachtet, während sie schlief. Selbst im Schlaf wirkt sie anders, fern. Als er sie so im Dunkeln ansah, dachte er plötzlich: Ich weiß nicht, wie lange ich noch so weitermachen kann. Dieser Gedanke schwirrt ihm jetzt schon den ganzen Vormittag im Kopf herum. Kein einziges Mal in den vergangenen fünf Jahren, während all der harten Tage und Wochen und Monate seit Todds Tod, hat er je daran gedacht, Rose zu verlassen. Irgendwie werden wir das alles durchstehen, hat er sich immer gesagt. Irgendwann wird wieder Normalität einkehren. Gestern Nacht ist ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass die Zeit vielleicht doch nicht alle Wunden heilt. Vielleicht würde Rose so bleiben, in ihrer Trauer gefangen. Vielleicht würde es nie mehr so werden, wie es einmal war. Er lag wach, völlig unbeweglich, voller Angst, was er wohl sagen würde, wenn sie in diesem Moment aufwachte. Die Erinnerung daran wirkt nach wie ein schlechter Traum. Trudy bringt den Toast und die Pommes, zündet sich eine Zigarette an, gießt ihm ungefragt Kaffee nach und schenkt sich selbst auch eine Tasse ein. Sie schiebt sich auf den Hocker neben ihm. »Wie geht’s Rose?«, fragt sie. Einen Moment lang erwägt er, sie um Rat zu fragen, die Meinung einer Frau zu hören. Andererseits – wenn er auch nur ein Wort zu Trudy sagt, wird am Ende der Mittagspause die halbe Stadt über seine Probleme Bescheid wissen. Das Einzige -130
an Trudy, was noch größer ist als ihr Herz, ist ihr Mundwerk. »Gut«, sagt er. »Der geht’s gut.« Als er zur Werkstatt zurückkommt, ist Ty verschwunden. Der Escort steht noch in der Reparaturhalle. Dieser Tag entwickelt sich zu einer einzigen anhaltenden Enttäuschung. Ned spürt, dass er wieder Kopfschmerzen bekommt. Sein Leben gerät ins Schleudern, und er kann nichts dagegen tun.
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KAPITEL 13 OPAL Opal biegt in Ned Nelsons Autowerkstatt ein und hält vor den Zapfsäulen. Sie kommt direkt von der Bank, wo sie dreißig Dollar abge hoben hat. Das Geld von Tante May schmilzt nur so dahin. Es ist ihr längst sonnenklar, dass sie mit den Puppen nicht genug verdient, um sie beide über den Winter zu bringen. Sie hofft, dass Maida Leamed sie als Teilzeitkraft in ihrem Spielzeugladen einstellen wird, wenigstens bis nach Weihnachten. Sie hat kaum Zeit, den Motor abzustellen und auszusteigen, da kommt Ty Miller aus der Werkstatt geschossen, als hätte er auf sie gewartet. Er hat den geschmeidigen Gang eines langbeinigen, in den Hüften bewegliche n Mannes. Sie ist hier, um zu tanken und ihm das Geld für die Rechnung in der Creamery zu geben. Und irgendwas sollte sie wegen seiner Stiefeln sagen. Kann man Stiefel chemisch reinigen lassen? Sie hat keine Ahnung. Am besten vermeidet sie das Thema ganz. Ihre Mama würde diese Angelegenheit natürlich wie immer geschickt regeln, aber Opal ist nicht ihre Mama, was Melva nicht müde wird zu betonen. Geistesgegenwart ist das halbe Leben, belehrt Melva sie gern, aber diese Eigenschaft ist bei Opal genauso wenig ausgeprägt wie die Fähigkeit, Männer zu beschwatzen. »Hallo«, sagt er. »Hi«, bringt sie heraus. Wenn einer so geht, dann muss er auch tanzen können. Opal tanzt für ihr Leben gem. Billy hasst Tanzen. Selbst als sie ihn dazu gebracht hatte, sie zum Abschlussball zu begleiten, weigerte er sich, auf die schnellen Stücke zu tanzen, nur auf zwei oder drei langsame Sachen ließ er sich ein, wobei man das dann auch nicht unbedingt Tanzen nennen konnte. Er trat von einem Fuß auf den anderen und presste dabei sein Becken gegen ihres. Stehficken nannte er das. Romantik war für Billy echt ein -132
Fremdwort. Tyrone nimmt ihr die Zapfpistole ab. »Voll?« »Für zehn Dollar.« Selbst als sie wieder im Auto sitzt, hat sie noch richtige Puddingbeine. Sie fühlt sich, als wäre sie sechzehn. Tyrone beugt sich herunter und schaut zu Zack rein. »Wie geht’s, Kumpel? Dicken Arm, hm?« Zack strahlt ihn an, als wären sie alte Freunde. »Genau genommen«, sagt er, »hab ich eine Kracktur.« »Super?« fragt er Opal. »Normal.« Er spaziert zur Zapfsäule, als hätte er alle Zeit dieser Welt, und füllt den Tank. Sie würde am liebsten im Erdboden versinken, als er bemerkt, dass sie ihn im Seitenspiegel beobachtet, und ihr zuzwinkert. Und dann kommt er doch wahrhaftig nach vorn, fängt an, ihre Windschutzscheibe zu putzen, und schaut dabei mit seinen dunklen Augen zu ihr rein – fast schwarz sind sie, und so schön, dass man die Narbe beinahe vergisst. »Soll ich den Ölstand prüfen?« »Nein«, sagt sie. Selbst mit der Narbe sieht er super aus keine Frage. Aber von gutem Aussehen kann man sich nichts kaufen. Er ist immer noch mit der Windschutzscheibe beschäftigt, obwohl sie inzwischen so sauber ist, dass man ein Baby davon essen lassen könnte. Als Nächstes macht er die Scheibenwischer sauber, reibt sie mit einem orangen Lappen ab. Sie betrachtet seine Hände – markante, langgliedrige Hände, von denen sie nur fünfundzwanzig Zentimeter und eine Glasscheibe trennen – und macht die verwirrende Erfahrung, etwas im selben Atemzuge zu wollen und nicht zu wollen. Nachdem er die Scheibenwischer gesäubert hat, kontrolliert Ty doch noch den Ölstand. Als endgültig nichts mehr zu tun ist, nimmt er ihr Geld entgegen. Gerade klar genug im Kopf, um Erleichterung zu verspüren, dass sie noch einmal -133
davongekommen ist, fährt Opal los. Sie ist schon halb zu Hause, da fällt ihr ein, dass sie wieder vergessen hat, ihm seine zehn Dollar zurückzugeben. Na, noch mal zurückfahren wird sie auf keinen Fall. Das Telefon klingelt wie wild, als sie nach Hause kommt. Nicht schwer zu erraten, wer das ist. »Hallo Mama«, sagt sie. »Wo warst du denn? Seit zwei Tagen versuche ich dich zu erreichen!« Sechs Staaten und vier Monate liegen zwischen ihr und ihrer Mama, und immer noch ist sie ihr Rechenschaft schuldig. »Zack und ich waren unterwegs«, sagt sie. »Besorgungen machen.« Hoffentlich fragt Melva jetzt nicht, warum Zack nicht im Kindergarten ist. Sie wird einen Teufel tun und ihr von seinem gebrochenen Arm erzählen. Bei ihrer Mama gilt eindeutig; Was sie nicht weiß, wird Opal nicht schaden. »Ich rede von Dienstagabend.« Melvas Stimme ist ganz hart vor Misstrauen. »Wo warst du am Dienstagabend?« »Am Dienstagabend?« »Genau. So um elf rum?« »Ich habe es bestimmt zwanzigmal klingeln lassen«, sagt Melva. »Du wirst doch nicht so spät noch mit Zack unterwegs gewesen sein?« »Nein, Mama.« »Was hast du gemacht?« Opal schindet Zeit. Ihre Mama hat einen Riecher für Lügen. »Ich war zu Hause«, sagt sie. »Vielleicht hast du dich verwählt.« »Ich habe mich nicht verwählt. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht verwählt, und ich werde wohl kaum jetzt damit anfangen.« »Ich war zu Hause, Mama«, wiederholt Opal. Melva mag -134
misstrauisch sein, aber solange sie in New Zion sitzt, kann sie Opals Geschichte schlecht anfechten. Opal reißt eine Tüte Cheetos auf, kippt sie in eine Schüssel und stellt sie Zack hin. »Was willst du, Mama?« »Was ich will? Ich will wissen, wann wir mit deiner Rückkehr rechnen können.« »Ich weiß es nicht.« »Raylee«, sagt Melva, jetzt in ihrem herrischen Tonfall. »Ich hatte mir eigentlich geschworen, nichts zu sagen, aber dieser Unsinn muss einfach mal ein Ende haben. Es wird Zeit, dass du deine Siebensachen packst und dich wieder dahin aufmachst, wo du hingehörst.« »Das haben wir schon tausendmal durchgekaut, Mama.« »Nicht zu meiner Zufriedenheit.« »Oh Mama.« »Die Feiertage stehen vor der Tür.« Melva ist nicht zu bremsen. »Wir wollen, dass Zack über die Feiertage herkommt. Die Vorstellung, dass er Weihnachten allein da oben verbringt, ist einfach unerträglich.« »Er ist nicht allein, Mama. Er ist bei mir.« »Du weißt schon, was ich meine, Raylee. Er sollte bei der Verwandtschaft sein, nicht unter Fremden.« Opal starrt auf den Chiquita-Aufkleber. Südamerika erscheint ihr immer verlockender. »Falls es ums Geld geht, Raylee, falls du nicht genug Geld hast, dann kann dein Daddy dir welches schicken.« »Wie geht’s Daddy?«, fragt Opal. »Kann ich ihn mal sprechen?« »Er ist nicht da. Er ist mit Billy nach Raleigh gefahren.« »Nach Raleigh?« »Ed Bagley hatte zwei Dauerkarten zu vergeben, die er nicht -135
nutzen konnte.« Ihr Daddy und Billy bei einem Baseballspiel? Ihr Daddy mag Billy doch überhaupt nicht. Sie schiebt die Cornflakeschüsseln auf die Seite, damit Zack Platz für seine Filzstifte hat. »Raylee? Hörst du mir zu?« »Opal«, sagt sie. »Ich heiße Opal.« »Du kannst dich von mir aus sonst wie nennen, meine Liebe, aber unsere Geduld ist langsam am Ende. Es wird Zeit, dass du Zack nach Hause bringst.« Bevor ihr eine passende Antwort eingefallen ist, klingelt es an der Tür. »Mama«, sagt sie, »ich muss jetzt aufhören. Es hat geklingelt.« Auf der Treppe vor der Haustür steht Ty Miller. Lebensgroß und doppelt so aufregend. »Da«, sagt er und reicht ihr eine Schachtel Brownies. Nicht mal ein Hallo, gerade so, als wäre es ein völlig alltägliches Ereignis, dass sie die Tür aufmacht und er davorsteht. Zack kommt aus der Küche gerannt. »Hi«, sagt er ohne einen Anflug von Schüchternheit. »Hey, Spezi«, sagt Ty. Zack kichert. »Ich heiß nicht Spezi, ich heiße Zack.« »Na gut, Zack. Ich hab dir was mitgebracht.« Ty reicht ihm eine Tüte. Mit seinem gesunden Arm nimmt Zack sie entgegen. »Pack mal aus, Mama«, sagt er. Opal zieht ein Büschel Bananen aus der Tüte – ausgerechnet Bananen. »Warum bist du gekommen?«, fragt sie, wobei ihr völlig klar ist, warum er hier steht, aber sie hat nicht das geringste Interesse. Na ja, okay. Das ist natürlich eine blanke Lüge. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, keine Frage, aber sie wird sich auf nichts einlassen, nicht die Kontrolle aus der Hand geben. Sie muss schließlich an Zack denken. »Ich hab eine -136
Kracktur am Arm«, sagt Zack. »Echt?« Ty ignoriert Opals Frage. »Willst du was auf meinen Gips schreiben? Darf er, Mama? Darf er was draufschreiben?« Irgendwie kriegt Ty es hin, plötzlich in der Diele zu stehen, bevor sie sich auch nur eine Antwort zurechtgelegt hat. Na, wenn er meint, es brauchte bloß eine Schachtel Brownies und ein Büschel Bananen, um sich in ihr Leben einzuschleichen, ist er schiefgewickelt. »Ich habe vorhin vergessen, dir das Geld zurückzugeben«, sagt sie. »Moment, ich hol’s.« »Hat keine Eile«, sagt er, aber sie ist schon auf dem Weg in die Küche. Als sie wiederkommt, bemalt er gerade Zacks Gips. Er hat mit dem schwarzem Filzstift ein paar Noten daraufgeschrieben, neben die er jetzt mit dem feinen gelben Filzstift eine kleine Mundharmonika zeichnet. Zack lehnt mit einem so strahlenden Lächeln an seinen Knien, dass Opal vor Eifersucht platzen könnte. Als Ty den letzten Schnörkel vollendet hat, hält sie ihm den Zehndollarschein hin. Sie stellt sich auf eine Zurückweisung ein, hat schon die Antwort auf der Zunge, dass sie keine Geldzuwendungen von Fremden annimmt. Doch er sieht sie nur mit diesen unglaublichen Augen an und schiebt sich den Schein in die Hosentasche, so dass sie nun mit einem Mund voll giftiger Worte dasteht und sie nicht loswird. »Guck mal, Mama«, sagt Zack. »Guck mal, was Ty auf meinen Gips gemalt hat.« »Ah ja«, sagt sie bemüht höflich. »Was ist das?«, fragt Zack und deutet auf die winzige Zeichnung. »Eine Mundharmonika«, antwortet Ty. »Hast du schon mal ’ne echte gesehen?« »Nee.« »Willst du mal?« »Ja.« -137
»Dann warte einen Moment.« Zwei Minuten später ist er wieder da. Er ignoriert Opal, kniet sich neben Zack auf den Boden und fängt an zu spielen. Schon an den ersten paar Tönen – ein kurzes Riff die Tonleiter hoch, weich und sicher geblasen – erkennt Opal den guten Musiker. Er spielt ein paar Skalen rauf und runter und reicht das Instrument dann Zack. »Da. Probier mal.« Noch ehe Opal die Geistesgegenwart gefunden hat zu protestieren – sie will gar nicht daran denken, wo Ty Miller seinen Mund schon überall hatte –, bläst Zack in die Harmonika und produziert ein paar dünne, fiepsige Töne. »Spiel du«, sagt er und gibt Tyrone das Instrument zurück. Ty wölbt die Hände um die Mundharmonika und beginnt zu spielen. Bereits nach einem halben Takt erkennt Opal einen alten Bluessong, der sie schon ihr halbes Leben lang begleitet; »Train Whistle Blues«. Opal schließt unwillkürlich die Augen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, sie wäre wieder in New Zion, und draußen auf der Bank vor Clarks Haushaltswarengeschäft säße Mr. Moses und würde seinen Freitagabend-Kater zu lindern versuchen. Sie sieht ihn ganz genau vor sich, wie er, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die gewölbten Hände vor dem Mund, seine alte Mundharmonika jammern und stöhnen und Geschichten erzählen lässt. »Sehr schön«, sagt sie, als er fertig ist, und stellt fest, dass sie den gleichen kühlen, ausgesucht höflichen Ton draufhat, in dem Melva immer spricht, wenn sie jemanden nicht mag. »Danke.« »Das erinnert mich an jemanden zu Hause.« »Und wo ist zu Hause?« »North Carolina.« »Da war ich noch nie«, sagt er. »Aber irgendwann fahr ich mal hin. Eins meiner Idole kommt da her.« »Wer denn? Jesse Helms?« Er lacht. »Nein. Ein alter Mundharmonikaspieler. Brother Jones. Der Beste von allen.« -138
Zack zieht an seinem Arm. »Zeig mir, wie das geht«, sagt er. »Zeig mir, wie man Mundharmonika spielt.« »Ich hab eine Idee«, meint Ty. »Hättest du vielleicht gern eine eigene Mundharmonika?« »Zack«, sagt Opal, »bring die mal in die Küche.« Sie drückt ihm die Bananen in die Hand. Er fängt an zu quengeln. »Komm, Schatzpatz. Tu, was ich dir sage.« »Du solltest besser gehen«, sagt sie, sobald Zack verschwunden ist. »Hab ich irgendwas falsch gemacht?« »Ich mag es einfach nicht, wenn Leute meinem Sohn Versprechungen machen. Versprechungen, die sie nicht halten können.« Er sieht ihr in die Augen. »Was ich sage, Opal, das tue ich auch.« Ungeachtet all ihrer guten Vorsätze, ungeachtet ihres Schwurs, den Sex aus ihrem Leben zu streichen, zuckt ihr die Lust von der Kehle bis in den Bauch hinunter. »Ich bin kein Lügner«, sagt er. »Was immer ich auch sonst sein mag, ein Lügner bin ich nicht.« Mit einer reflexartigen Bewegung fährt er über die Narbe auf seiner Wange. »Ich finde, sein Wort muss man halten, egal, was es einen kostet.« Meine Güte, törnt der sie an. Wenn sie ihm jetzt ins Gesicht schaut, sieht er ihr das garantiert an. »Und du, Opal Gates? Woran glaubst du?« »Hör mal zu«, sagt sie. »Woran ich glaube, geht dich überhaupt nichts an.« Nur weil er mit einer Schachtel Brownies und einem Büschel Bananen hereinspaziert kommt und Mundharmonika spielen kann, dass kein Auge trocken bleibt, hat er noch lange kein Anrecht auf sie. Statt beleidigt zu sein, lacht er. »Magst du Blues? Ich spiele am Wochenende immer in Springfield. In einer Bluesband. Komm doch mal zu einem -139
unserer Gigs, wenn du magst. Und du auch«, sagt er zu Zack, der wieder aufgetaucht ist. »Au ja, Mama, machen wir das?«, fragt Zack. »Bitte!« »Mal sehn«, sagt Opal, eine Antwort, die sie ihr Leben lang von Melva zu hören bekommen hat und die sie, das hatte sie sich geschworen, ihrem eigenen Sohn niemals geben wollte. »Mal sehn.« »Ich geh jetzt wohl besser mal, wo ich gerade im Plus bin«, sagt Ty. »Wie kommst du darauf, dass du im Plus sein könntest?« Er lacht. »Ich ruf dich noch mal an wegen der Wegbeschreibung.« Als er fort ist, geht Opal in die Küche zurück. Und als Allererstes fällt ihr natürlich dieser dämliche ChiquitaAufkleber ins Auge. Verdammt noch mal. Deutlicher geht’s wirklich nicht mehr. Tyrone Miller hätte mit sonst was bei ihr vor der Tür stehen können, aber nein, es musste ein Büschel Bananen sein. Opal wird schlagartig klar, dass sie schwer in der Bredouille ist. »Ich krieg eine Mundharmonika«, sagt Zack. »Ty besorgt mir eine.« »Mal sehn«, sagt Opal, während sie ihm ein Glas Cola eingießt. Sie setzt ihn mit einem Brownie an den Tisch, und dann holt sie ihr 1000 Namen für Ihr Baby. Sie schlägt unter T nach. »Tyrone«, liest sie, »(keltisch), Bedeutung ungewiss. Verkleinerungsform Ty.« Sie knallt das Buch zu. Ungewissheit ist nun mit Sicherheit das Letzte, was sie in ihrem Leben gebrauchen kann. Sie marschiert geradewegs zurück in die Küche und pult den Aufkleber mit dem Daumennagel ab. Zack schaut ihr interessiert zu. Sie rollt den Aufkleber zu einem Kügelchen und wirft ihn in den Mülleimer. -140
Eins steht fest: Manche Zeichen müssen getilgt werden, bevor sie größeren Schaden anrichten können. Die lustvolle Wärme aus ihrem Bauch zu verbannen erfordert schon etwas mehr Konzentration.
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KAPITEL 14 ROSE Rose steht in der Erste-Hilfe-Abteilung des Drogeriemarktes und sucht nach einer medizinischen Salbe für ihre juckende Stelle – etwas Starkes sollte es sein. Mit zusammengekniffenen Augen versucht sie zu entziffern, was auf der Tube steht, die sie gerade in der Hand hält. Es ist ihr ein Rätsel, warum die Pharmafirmen die Beschriftung nicht in einer Größe aufdrucken können, mit der auch normale Menschen zurechtkommen. Wirksam wie ein verschreibungspflichtiges Mittel buchstabiert sie. Das klingt viel versprechend. Zu spät blickt sie auf und sieht Mary Winski auf sich zusteuern. Mary ist eine Tatscherin, und wenn Rose eins nicht leiden kann, dann sind es Leute, die an ihr herumgrabschen. Außerdem kann sie Mary nach wie vor nicht verzeihen, dass sie sich bei der Beerdigung so aufgeführt hat, geflennt hat sie in einer Lautstärke, dass die Leute sich nach ihr umdrehten – als wäre Todd ihr Sohn. Jetzt wappnet sich Rose schon mal gegen Marys anteilnehmende Umarmung. Während sie auf Rose zukommt, zerfließen ihre Gesichtszüge förmlich vor Mitgefühl. Da kann einem wirklich übel werden. Vor Todds Tod haben sie vielleicht zehn Worte pro Monat gewechselt, aber nach der Beerdigung rief Mary immer wieder an und lud Rose ein, doch mal zum Mittagessen oder auf ein paar Bahnen in ihrem Swimmingpool vorbeizukommen. Nichts läge Rose ferner. Als hätte sie auch nur die geringste Lust, in diesem lächerlichen Pool zu schwimmen oder gar zu einer von Marys Gartenpartys zu gehen, für die Mary alles, was sich nicht wehren kann, mit bunten Lichterketten behängt. Und dann noch diese scheußlichen Lampions. Als hätten die Winskis einen richtigen, in den Boden eingelassenen Swimmingpool und nicht eins dieser aufragenden Ungetüme, die einfach potthässlich sind, egal, mit wie viel Gebüsch man sie zu tarnen versucht. Wenn -142
Rose eines nicht ertragen kann, dann sind es Leute, die vornehm tun. Mary hat fuchsiafarbene Jogginghosen an, die ihr zwei Nummern zu klein sind, und Laufschuhe mit rosa Streifen und Klettverschlüssen. So weit ist es mit Rose zum Glück noch nicht. Als Mary jetzt wie der geölte Blitz auf sie zugeschossen kommt, erstarrt Rose angesichts der unumgänglichen Umarmung. »Wie ich höre, ist dieses Mädchen mit Tyrone Miller zugange.« Es ist typisch Mary, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Rose zuckt unverbindlich mit den Schultern. Sie hat keinen Zweifel, dass ganz Normal bestens darüber informiert ist, wie oft Ty bei Opal ist. Das Mädchen ist für die Leute ein gefundenes Fressen, und alles, was sie und ihren Sohn betrifft, wird gnadenlos durchgehechelt. Ned hat erzählt, dass bei Trudy’s zwei Tage lang über fast nichts anderes geredet wurde als über den gebrochenen Arm des Jungen, den Bluterguss an seinem Oberschenkel, die Verdächtigungen des Arztes und die Tatsache, dass Opal direkt nach dem Krankenhaus nichts Besseres zu tun hatte, als mit dem Jungen in die Creamery zu gehen und ihn mit Eis zu füttern, bis er sich auf Tys Stiefel erbrach. Ned will damit seinen Standpunkt untermauern, dass Rose sich auch weiterhin von Opal fern halten sollte. »Sie kriegen sicher mehr mit als wir anderen.« Marys Augen leuchten bei der Aussicht auf neue Nachrichten. »Wo Sie doch direkt nebenan wohnen, meine ich. Wie ist sie denn so?« »Ich weiß auch nicht mehr als Sie«, sagt Rose bestimmt. Mary beugt sich zu ihr herüber und fasst sie am Arm. »Aber Sie sind doch mit ins Mercy Memorial gefahren, als der Junge sich den Arm gebrochen hat, stimmt’s?« Rose nickt. Darüber will sie nun am allerwenigsten reden. Jedes Mal wenn sie daran denkt, wie sie den Arzt angelogen hat, wird ihr ganz mulmig. Sie lebt -143
in der ständigen Furcht, dass Ned irgendwie davon erfahren könnte. »Was zum Teufel hast du dir dabei bloß gedacht?«, würde er fragen, und bevor sie auch nur zu einer Erklärung ansetzen könnte, hätte er sie ins Krankenhaus geschickt, damit sie die ganze Sache aufklärt. Ned hasst Lügen. »Ich weiß auch nicht mehr als Sie«, wiederholt sie, während sie das Medikament zu den Magentabletten, dem Schmerzmittel und der Zahncreme in den Einkaufswagen wirft. »Außerdem kann ich Klatsch nicht leiden.« Bevor Mary noch irgendetwas sagen kann, schiebt Rose ihren Wagen davon. Eins hat Todds Tod ihr immerhin gebracht: Sie schert sich nicht mehr darum, was Leute wie Mary Winski von ihr denken. Ned hat sie auf dem Weg zur Werkstatt hier abgesetzt, und jetzt wartet wie vereinbart Willis Brown auf dem Parkplatz, um sie nach Hause zu fahren. Sobald er sie sieht, flitzt er um das Taxi herum, nimmt ihr ungeachtet ihrer Proteste das Paket aus der Hand und öffnet ihr die Beifahrertür. »Herrgott, Willis, ich bin doch keine Invalidin«, sagt sie. »Kalt war’s gestern Nacht«, sagt er, während er sich hinters Lenkrad schiebt. »Angeblich soll’s heute Nacht deutlich unter null Grad werden. Ich wette, es schneit bald.« »Vermutlich.« Rose ist es vollkommen schnurz, ob es schneit oder nicht. »Drüben bei Hudsons Farm fallen die Walnüsse kiloweise vorn Baum, wie eine Decke liegen sie auf der Straße. Mein Großvater hat immer gesagt, das wäre ein sicheres Zeichen, dass es einen harten Winter gibt.« Roses Vater hat vo n der Walnussmethode zur Vorhersage kalter Winter nie viel gehalten. Wie dicht der Pelz der Füchse ist. Wie fest die Hüllblätter den Maiskolben umschließen. Danach muss man schauen. Doch sie behält ihre Gedanken für sich. »Ich weiß noch, als ich klein war, da hat es immer spätestens zu Thanksgiving das erste Mal geschneit. Und jetzt -144
ist schon Dezember, aber es ist noch keine einzige Schneeflocke gefallen.« Willis ist keinen Tag älter als sie, aber er tut so, als wäre er im letzten Jahrhundert geboren. Die gleichen Reden, wann immer sie mit dem Taxi fährt. Er und Ned sind wie Plattenspieler, bei denen die Nadel hängen geblieben ist. Sie sagt nichts mehr, sieht aus dem Fenster, während das Taxi die Main Street entlang fährt. Normal verändert sich schleichend. Letztes Jahr haben drei neue Läden aufgemacht. Unter anderem ein Wein- und Käsegeschäft. Das muss man sich mal vorstellen. Ein ganzer Laden nur für Wein und Käse. Drüben in Hallway hat eine Bank ihre Kreditkartenzentrale eingerichtet, und am Stadtrand sind komplette Tabakfelder niedergewalzt worden, um Platz für hässliche Wohnsiedlungen zu schaffen. Selbst in der Isolation ihrer Trauer spürt Rose, dass sich etwas verändert, und es gefällt ihr nicht. Als Willis vor dem Haus anhält, hat sie die Hand schon auf dem Türgriff, damit sie die Tür öffnen kann, bevor er ihr zuvorkommt. Während er mit einem kurzen Hupen davonfährt, schaut sie rasch zum Nachbarhaus hinüber. Opal Gates ist nirgends zu sehen. Sie schließt die Haustür auf, nimmt die Post aus dem Briefkasten, stellt ihre Tasche auf den Küchentisch und legt die Post auf Neds Platz. Rechnungen und Werbung, etwas anderes kriegen sie kaum, und sie ist froh, dass er sich darum kümmert. Sie dreht sich eben weg, da fällt ihr der oberste Umschlag ins Auge. Eine hand geschriebene Adresse. Das sieht nicht wie eine Rechnung aus. Sie hält den Umschlag mit ausgestrecktem Arm von sich weg, kneift die Augen zusammen. Eine Bifokalbrille, das ist das Nächste, was ansteht. Raylee Gates, entziffert sie. Es dauert einen Moment, bis ihr klar wird, dass Bert Green einen Fehler gemacht und einen -145
Brief, der eigentlich nach nebenan hätte gehen sollen, bei ihnen eingeworfen hat. Wahrscheinlich passiert so was viel. häufiger, als die Postler behaupten. Sie wird ihn morgen auf seinen Irrtum hinweisen. Sie legt den Brief auf die Arbeitsplatte, abseits von den anderen, und bringt ihre Einkäufe nach oben. Die Salbe schiebt sie unter einen Schlüpfer in der mittleren Schublade ihrer Frisierkommode, wo Ned ihn nicht finden wird. Nicht dass er einen Grund hätte, an ihre Kommode zu gehen, aber sie lässt es lieber nicht darauf ankommen. Die übrigen Sachen verstaut sie im Medizinschränkchen. Es ist schon fast zwölf. Zeit fürs Mittagessen. Als sie herunterkommt, fällt ihr als Erstes wieder der Brief auf der Arbeitsplatte ins Auge. Bert sollte besser aufpassen. Der vertrauliche Umgang mit persönlicher Post sollte wirklich gesichert sein. Bloß gut, dass der Brief nicht bei irgendjemand anderem im Briefkasten gelandet ist. Mary Winski wäre wahrscheinlich schon dabei, Wasser zu erhitzen, um den Umschlag zu öffnen. Der Poststempel ist zu undeutlich, als dass sie ihn entziffern könnte; sie holt sich die Lupe von Neds Schreibtisch. New Ziem, North Carolina. New Zion. So muss ein Ort in den Südstaaten heißen. Wenn Rose es richtig erkennt, wurde der Brief vor zwei Tagen eingeworfen. Raylee Gates. Das Ray und das lee zusammengequetscht, als wäre es ein Wort. Der Vater des Jungen? Hat Opal nicht gesagt, sie wäre nicht verheiratet? Aber warum dann derselbe Nachname? Sei nicht so neugierig, hat ihre Mutter früher immer zu ihr gesagt. Sie muss dreimal klingeln, bis Opal an die Hintertür kommt. »Hier«, sagt Rose und streckt ihr den Umschlag entgegen. »Der ist unter unsere Post geraten.« Über die Schulter des Mädchens -146
sieht sie, dass in der Küche ein richtiger Saustall herrscht. Das Spülbecken steht voll dreckigem Geschirr, und der Boden müsste auch mal geputzt werden. Louise würde einen hysterischen Anfall kriegen, wenn sie ihre Küche so sehen würde. Am Kühlschrank ist mit zwei Magneten eine krakelige Zeichnung befestigt: zwei breit lächelnde Strichmännchen. Dem großen schießen rote Blitze aus dem Kopf, dem kleinen entsprechend kleinere. Kein Anzeichen von einem Vater. Kein Anzeichen von irgendeinem Raylee. »Rose«, sagt Opal erfreut. »Kommen Sie rein. Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Einen Muffin?« Rose erspäht einen Teller mit unförmigen Muffins. »Mit Heidelbeeren. Hab ich selbst gebacken.« Das ist unschwer zu erkennen. Wahrscheinlich eine Backmischung. »Ich glaube, dieser Brief ist für Sie.« Rose ignoriert die Einladung. »Der Nachname ist derselbe, allerdings ist der Brief an einen Mann adressiert, Raylee Gates.« »Oh«, sagt Opal mit strahlendem Lächeln, »das bin ich.« »Sie?« »Ja. Raylee hieß ich, bevor ich meinen Namen geändert habe.« »Sie haben Ihren Namen geändert?« Rose hat noch nie gehört, dass jemand seinen Namen geändert hätte, außer vielleicht Verbrecher. »Vor vier Jahren«, sagt Opal. »Raylee war mein zweiter Name, nach meinem Großvater väterlicherseits. Ich glaube, mein Vater wollte immer einen Jungen haben, aber er hat nun mal mich gekriegt.« »Nun, Opal ist doch ein schöner Name.« Wenn Rose ihren Namen ändern wollte, würde sie sich mit Sicherheit einen hübscheren raussuchen, nicht so was Altmodisches. »Er bedeutet Edelstein«, sagt Opal. »Und Opale sind meine Lieblingssteine. Die sehen so sanft und hübsch aus, aber innendrin brennt ein Feuer.« -147
»Ist das legal? Einfach seinen Namen zu ändern?« Sie kann sich nicht vorstellen, dass man das einfach so tun kann. »Na ja, ich musste vor Gericht. Mit Richter und allem Drum und Dran. Aber es ist wichtig, dass der eigene Name zu einem passt.« Sie lächelt Rose an. »Ich habe Ihren Namen in meinem Namenbuch nachgeschlagen. Er bedeutet genau das, was er sagt: Rose. Genau richtig für Sie.« »Na, ich weiß nicht«, sagt Rose und knetet verlegen die Hände. »Eins steht fest, Namen sind wichtig«, sagt Opal. »Ich hab bestimmt hundert Stunden damit verbracht, nach dem richtigen Namen für Zack zu suchen. Billy wollte ihn nach sich nennen. Ausgeschlossen. Zackery bedeutet ›Gottes Gedenkens‹.« Rose fällt auf, dass sie nicht die geringste Ahnung hat, was »Todd« bedeutet. Als Ned und sie sich für den Namen entschieden, hat sie keine Sekunde lang darüber nachgedacht, was er bedeuten könnte. Sie würde Opal gern bitten, mal in ihrem Buch nachzusehen. »Wie hat es Sie denn nach Normal verschlagen?«, fragt sie. »Bis hierhin bin ich mit drei Tankfüllungen gekommen«, antwortet Opal. »Hören Sie, stehen wir doch nicht hier rum. Kommen Sie rein.« Und ehe sie sich’s versieht, erfährt Rose alles über den Monopoly-Würfel, das Zeichen, das Opal anzeigte, wie weit sie fahren sollte. »Na so was. Drei Tankfüllungen«, sagt sie, als wäre Würfeln eine völlig normale Methode, ein Ziel zu bestimmen. Sie ist froh, dass Ned nicht zuhört. »Ich achte auf Zeichen«, sagt Opal. »Sie nicht?« »Nein«, sagt Rose. Sie wird sich hüten, auf solchen Mumpitz zu vertrauen. »Meine Tante May sagt immer, durch Zeichen lässt der Herr uns wissen, dass er Pläne für unser Leben hat, Pläne, von denen wir nicht die geringste Vorstellung haben. Also, das mit dem -148
Herrn, da bin ich mir nicht so sicher, aber ich glaube auf jeden Fall, dass es Zeichen gibt, die uns etwas mitteilen. Alles hat eine Bedeutung. Man braucht nur etwas Geduld, dann findet man die Zeichen schon.« Geduld. Dieses Mädchen hat doch keine Ahnung, was Geduld bedeutet. Tag für Tag dazusitzen – stundenlang –, ein Paar Socken seines toten Sohns in der Hand zu halten und auf einen Hinweis zu warten, dass man ihn nicht für immer verloren hat. Das ist Geduld. Äußerste Geduld. »Und Ereignisse«, sagt Opal gerade, »die völlig beliebig scheinen, rein zufällig – dass ich hier in Normal gelandet bin, zum Beispiel –, fügen sich letztlich immer zu einem Muster. Wenn man richtig hinsieht und die einzelnen Ereignisse miteinander in Verbindung bringt, ergeben sie irgendwann einen Sinn.« Rose denkt nach. »Wie bei einem Quilt«, sagt sie dann. »Genau«, ruft Opal, »genau wie bei einem Quilt.« »Mama.« Der Junge kommt ins Zimmer. Keine Schuhe. Ein dünnes Hemd. Rose fragt sich, ob er überhaupt Winterkleider besitzt. Bei diesen dünnchen Ärmchen sollte er an einem Tag wie heute einen langärmligen Pullover tragen. Der Gips sieht furchtbar aus. Irgendjemand hat den Jungen mit einer Packung Filzstifte darauf losgelassen, »Ich will einen Muffin«, sagt er. Er lächelt Rose schüchtern an. »Schon unterwegs«, sagt Opal. »Kann ich ihn in meinem Zelt essen?«, fragt er. »Na klar, Fröschlein.« Sie wendet sich zu Rose um. »Er hat im Wohnzimmer so ’ne Art Zelt aufgebaut. Da isst er gern drin.« »Ah ja«, sagt Rose. Auf diese Weise hat er mit Sicherheit bald das ganze Haus voll gekrümelt. Während Opal dem Jungen einen Muffin gibt, bemerkt Rose die Ballerinapuppe, die auf der Arbeitsplatte sitzt. »Ist das eine von den Puppen, die Sie selber machen?«, fragt sie, als der Junge gegangen ist. »Ja«, sagt Opal. Sie reicht Rose die Puppe. »Die sieht ja richtig echt aus.« -149
»Der Knackpunkt ist das Gesicht. Man muss die Gesichtszüge ziemlich weit unten aufmalen. Weiter unten, als man denken würde. Die meisten Leute setzen sie viel zu weit nach oben.« Rose befingert den Tüllrock, die schmalen Strassträger. »Machen Sie die Kostüme auch selbst?« »Klar.« Die Nähte sind alle doppelt genäht. Mit winzigen Stichen. »Von Hand?« »Bisher konnte ich mir keine Nähmaschine leisten.« Rose denkt an ihre Singer-Nähmaschine, die ungenutzt in einer Wohnzimmerecke steht. Natürlich sagt sie nichts. »Billy findet sie blöd.« »Billy?« »Zacks Daddy. Er findet, Puppen Nähen ist Zeitverschwendung.« Rose kann verstehen, warum Opal den Jungen nicht heiraten will. Wer nicht sieht, wie schön diese Puppen sind, ist es nicht wert, geheiratet zu werden. »Selbst wenn er der letzte Mann auf dieser Erde wäre, würde ich ihn nicht heiraten«, sagt Opal, als hätte sie Roses Gedanken gelesen. »Ich kapier echt nicht, warum meine Mutter plötzlich wieder so einen Druck macht. Sie hat Billy nie leiden können. Aber jetzt verhält sie sich, als hätte er höchstpersönlich den Mond an den Himmel gehängt.« Opal steht auf und holt ihre Umhängetasche von der Arbeitsplatte. Sie zieht ihr Portemonnaie heraus und entnimmt ihm ein Foto, das sie Rose gibt. »Das ist Billy.« Rose hält das Foto weit von sich weg, bis die Konturen scharf werden. Der Junge hat ein Basketballtrikot an, und auch wenn so ein Schnappschuss natürlich nicht verlässlich ist, ist Rose nicht sonderlich von ihm angetan. Sein Lächeln wirkt selbstgefällig. »Hübsches Gesicht«, sagt sie. »Von einem -150
hübschen Gesicht kann man sich nichts kaufen«, sagt Opal. Rose hat keine Ahnung, was sie damit sagen will. »Emily behauptet ja, ich würde mir immer die falschen Männer aussuchen«, fährt Opal fort. »Ungefähr so wie in diesem Lied, ›Looking for love in all the wrong places‹ – sie meint, dieses Lied wäre mir auf den Leib geschrieben –« Rose muss sofort an Tyrone Miller denken. »Wer ist Emily?«, fragt sie. »Meine Therapeutin.« Du lieber Himmel. Für ein junges Mädchen hat Opal eine ganz schön komplizierte Geschichte. Namensänderung, Therapie, Freund. Irgendjemand sollte sie über Tyrone aufklären, besonders wegen des Jungen. Rose beschließt, das selbst zu tun, und zwar jetzt gleich. »Rose«, sagt Opal, ehe die ein Wort sagen kann. »Rose, das mit Todd tut mir unheimlich Leid.« Die meisten Leute benehmen sich, als würden sie lieber eine Schlange essen oder ihre Zunge mit einer Gabel durchstechen, als seinen Namen auszusprechen. Opal sagt seinen Namen, als wäre das etwas völlig Normales. »Dorothy Barnes hat mir von dem Unfall erzählt. Echt, Mann. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss, sein Kind zu verlieren.« Ich kann mir gar nicht vorstellen ... Sei froh, dass du es nicht kannst. Heilfroh. Das Muttermal auf ihrem Bauch, die Stelle, die ihr hier bei Opal bislang keinerlei Probleme gemacht hat, beginnt jetzt nicht nur zu jucken, sondern höllisch zu brennen. Jeder Gedanke daran, Opal vor Tyrone zu warnen, verfliegt. Sie flüchtet, bevor Opal noch ein Wort sagen kann.
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KAPITEL 15 OPAL Die Sonne scheint ungewöhnlich warm für Dezember, und Ty hat seine Jacke ausgezogen. Von der Hintertreppe aus, wo Opal hockt, sieht sie, wie sich seine Arm- und Schultermuskeln unter dem Hemd bewegen. Ty Miller lässt sich nicht so leicht entmutigen, das ist offensichtlich. Heute hat er den Motor ihres Buick eingestellt, und sie spürt dieses harte, kratzige Gefühl in der Brust, das sie immer hat, wenn jemand etwas Nettes für sie tut. Er will kein Geld für die Arbeit, nur für die Ersatzteile. »Ich bin kein Sozialfall«, hat sie letzte Woche zu ihm gesagt, als er die Benzinpumpe austauschte, aber da sah er sie bloß mit seinem breiten Lä cheln an und sagte: »Auf die Idee würde bei dir auch keiner kommen, Opal. Du hast überhaupt nichts Bedürftiges an dir.« Er hat noch keinen eindeutigen Schritt unternommen. Er hat sie weder gefragt, ob sie mal zusammen weggehen wollen, noch hat er sie auch nur angefasst, aber es macht sie nervös, wie schnell er sich in ihrem Leben breit macht. Und es beunruhigt sie, wie sehr Zack ihn mag. Als Ty das zweite Mal vorbeikam, brachte er die versprochene Mundharmonika mit. Und zwar keine billige Plastikharmonika, sondern eine richtige aus Chrom. Opal will nicht, dass ihr Sohn diesen Mann ins Herz schließt, der – egal, was der Chiquita-Aufkleber nun bedeutet – todsicher keinen Platz in ihrem Leben haben wird. Eins steht fest, Opal muss nicht erst den Baumstamm auf dem Gleis sehen, um zu wissen, dass ein Zugunglück bevorsteht, und sie gedenkt nicht, wieder mit einem Mann zusammenzurasseln, egal, wie sehr er sie mag oder wie viele Mundharmonikas er ihrem Sohn kauft. Oder wie sehr er sie antörnt, sobald sie ihn nur sieht. Sie hat keinen Platz in ihrem Leben für einen Möchtegerncowboy, noch -152
dazu einen Yankee. »Der Schließwinkel stimmt nicht mehr«, erklärt Ty Zack. »Wir müssen den Zündzeitpunkt regeln, und dann stellen wir den Leerlauf neu ein.« »Dann stellen wir den Leerlauf neu ein«, wiederholt Zack. Er hat genau die gleiche Körperhaltung eingenommen wie Ty, der sich jetzt durch die Haare fährt, sich dann über den Kotflügel beugt und wieder unter der Motorhaube verschwindet. Seine engen Jeans und sein Knackarsch sind nicht gerade dazu angetan, ihre Nerven zu beruhigen, die derzeit unter Hochspannung stehen. Sie ist schon den ganzen Vormittag unruhig, und das liegt nur zum Teil an Ty. Es ist nämlich bereits fünf Tage her, dass Melva angerufen hat, was einerseits zwar eine Erleichterung ist, andererseits aber nichts Gutes ahnen lässt. Opal würde ja gern glauben, dass ihre Mama ihre Kampagne beendet hat, dass sie sie nicht mehr überreden will, über Weihnachten nach New Zion zu kommen, ja überhaupt zurückzukommen und mit Billy in New Zion ein geregeltes Familienleben zu führen, doch ihrer Erfahrung nach bedeutet Melvas Schweigen, dass sich da etwas zusammenbraut. Sie tröstet sich damit, dass zwischen ihr und ihrer Mama sechs Staaten liegen. Wie soll Melva von dort aus schon größeren Schaden anrichten? Was die Rückkehr nach New Zion angeht, da lässt Opal nicht mit sich reden. Sie hat zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, unabhängig zu sein, was beängstigend und spannend zugleich ist. Energetisierend, würde Emily es nennen. Unter anderem hat sie die Erkenntnis gewonnen, dass sie stärker ist, als sie dachte. Eine Bewegung drüben im Haus der Nelsons unterbricht ihre Gedanken. Im ersten Stock wird ein Vorhang zur Seite gezogen. Rose schaut aus dem Fenster. Ihre Nachbarin ist Opal ein Rätsel. Nachdem Rose im Krankenhaus für sie gelogen hatte, dachte Opal, sie könnten Freundinnen werden, aber es ist nicht zu übersehen, dass Rose ihr aus dem Weg geht. Als Opal ihr einen -153
Kuchen vorbeibringen wollte, um sich für ihre Hilfe bei Zacks Armb ruch zu bedanken – eine Geste, die ihre Mama gutgeheißen hätte –, kam Rose nicht mal an die Tür, blöde Kuh. Und dann letzte Woche, als Opal sich von dem Gedanken an eine Freundschaft zwischen ihnen endgültig verabschiedet hatte, kam Rose mit einem Brief vo n Tante May rüber und blieb doch tatsächlich zum Kaffee, auch wenn sie kaum ein Wort sagte. Opal ist es gewohnt, mit Frauen wie ihrer Mama zusammen zu sein, Frauen, die keine Gesprächspausen ertragen können und jede freie Sekunde mit einem derartigen Geschnatter füllen, dass Opal allein beim Gedanken daran Zahnweh bekommt. In Unterhaltungen kennt ihre Mama nur ein Tempo: Höchstgeschwindigkeit. Einigen Leuten würde es gar nicht schaden, ab und zu auch mal still zu sein. Roses Schweigen ist entspannend. Und es macht es leichter, ihr etwas zu erzählen. Rose hat weder gelacht noch sie aufgezogen, als Opal ihr erzählte, dass sie an Zeichen glaubt und dass man nach ihnen Ausschau halten muss. Sie sagte nicht: »Herrgott, Opal, wann wirst du endlich erwachsen?«, so wie Billy. Und als sie ihr von dem Monopoly-Würfel und den drei Tankfüllungen erzählte, die sie nach Normal gebracht hatten, sagte Rose bloß: »Tatsächlich. Drei Tankfüllungen«, und nickte dann, als wäre das die einzig vernünftige Methode, sein Ziel zu bestimmen. Wenn Opal mit ihrer Mama oder Billy über so was zu reden versucht, könnte sie genauso gut mit einem Laternenpfahl reden. »Brauchst du irgendwas?«, ruft sie Ty zu. »Eine Cola oder so?« »Wir sind bestens versorgt«, sagt er. »Stimmt’s, Kumpel?« »Genau«, sagt Zack. »Wir sind bestens versorgt.« Opal beschließt, die Zeit, während Zack beschäftigt ist, zu nutzen, um ihre Arbeit voranzutreiben. Der Geburtstag, für den die Astronautenpuppe bestellt wurde, ist schon bedenklich nahe gerückt. Und für die Weihnachtsbestellungen bleiben ihr keine -154
drei Wochen mehr. Außerdem arbeitet sie jetzt in Teilzeit bei Maida. Sie ist dankbar für den Job, auch wenn dafür fast die gesamte Zeit draufgeht, die Zack im Kindergarten verbringt. Eigentlich soll sie nur bis Januar bleiben, aber möglicherweise entwickelt sich die Sache noch weiter. Gestern hat Maida Opal nämlich gefragt, ob sie schon mal daran gedacht hat, zu den Puppen kleine Geschichten zu schreiben, in denen der Name des jeweiligen Kindes vorkommt. Sie meinte, Kindern würde so was gefallen. Dass jemand anders über sie nachdenkt, ihr Perspektiven aufzeigt, überrascht Opal, und es zeigt ihr, dass mehr möglich ist, als sie in New Zion je geglaubt hätte- Eine ganze Welt voller Möglichkeiten, Perspektiven, Verheißungen tut sich vor ihr auf – vor ihr und vor Zack. Sie näht seit etwa einer Stunde, als sie Tys Mundharmonika hört. Die Klänge schweben aus dem Garten zu ihr herein. Sie stichelt langsamer. Er kann wirklich verdammt gut spielen. Die Melodie ist sanft und getragen, und es schwingt genau die Portion Einsamkeit darin mit, die einen guten Blues ausmacht. Sie muss an zu Hause denken, an die Pfiffe der Lokomotiven, an den alten Mr. Moses auf seiner Bank, der seinen Kater zu lindern versucht. Es ist eine gefährliche Musik, eine Musik, die ihr Inneres erreichen und ihr Herz aufbrechen könnte, wenn sie es zuließe. »Bluesklage«, nennt ihre Tante May diese Musik. Sie weiß, wovon sie spricht. Mays erster und dritter Mann waren Gitarristen, und schon seit Opals dreizehntem Lebensjahr rät ihre Tante ihr, sich von Musikern fern zu halten. »Eh du dein Herz an einen Musiker verschenkst, kannst du dich auch gleich im Heartbreak Hotel einmieten. Musiker kommen mit einem Kribbeln in den Füßen zur Welt, die schlagen keine Wurzeln.« Nicht dass Opal scharf darauf wäre, dass jemand bei ihr Wurzeln schlägt. Schon gar nicht ein Teilzeitmechaniker, der in einer zweitklassigen Band spielt. Ganz bestimmt nicht. Sie hat Größeres für sich und Zack im Sinn. Draußen im Garten steigt die Bluesklage auf. -155
KAPITEL 16 ROSE Rose ist nach oben gegangen, um sich noch etwas Salbe auf den Bauch zu schmieren. Vor ein paar Tagen, als das Jucken sie schier verrückt machte, hielt sie schon den Hörer in der Hand, doch noch bevor sie die erste Taste gedrückt hatte, legte sie wieder auf. Die Vorstellung, in Docs Sprechstunde zu sitzen, das ganze Aufhebens über sich ergehen zu lassen, ist ihr unerträglich. Durch das Fenster hört sie Geräusche aus dem Nachbargarten. Tyrone Miller ist wieder da. Eine Hecke zwischen den beiden Grundstücken wäre nicht schlecht – Buchsbaum oder so was. Als Louise nebenan wohnte, war das nicht nötig, aber jetzt wäre eine Hecke ein Gewinn. Sie geht ans Fenster und zieht das Rollo herunter. Tyrones untere Hälfte ragt unter der Motorhaube von Opals Auto hervor. Der Kleine steht neben ihm. Das Mädchen hockt auf der Treppe und schaut ihnen zu. Was hatte Opals Therapeutin noch gleich gesagt? Dass sie sich immer die falschen Männer raussucht? Na, das Raussuchen kann sie sich diesmal sparen, das ist ja wohl offensichtlich. Die Probleme haben sich von selbst zu ihr begeben. Mit Tyrone Miller liegt sie so falsch, dass der Satz ihrer Therapeutin kaum richtiger sein könnte. Ned ist so ungefähr der Einzige in der Stadt, der Gutes über Ty zu sagen hat, ständig erzählt er den Leuten, was für ein guter Mechaniker Ty ist und wie sehr er sich gemacht hat, wenn man bedenkt, dass er sich allein hat durchschlagen müssen, seit er mit vierzehn von seinem Stiefvater vor die Tür gesetzt wurde. Ty behauptet ja, er wäre Musiker, aber die Mundharmonika kann man als Instrument natürlich nicht richtig ernst nehmen – jedenfalls denkt man nicht an eine Harmonika, wenn sich jemand als Musiker bezeichnet. Irgendjemand sollte das -156
Mädchen über Tys Geschichte aufklären. Nicht dass Rose sich dazu berufen fühlte. Sie versteht gar nicht, was letzte Woche in sie gefahren ist, als sie wegen des falsch eingeworfenen Briefes drüben war und fast etwas sagte. Es steht ihr nicht zu, sich einzumischen. Wie jung Opal Gates auch aussehen mag und wie unreif sie sich auch verhält, sie ist erwachsen. Sie ist alt genug, um vor Gericht zu gehen und ihren Namen zu ändern. Alt genug, um ein Kind zu bekommen und ihre Familie zu verlassen. Alt genug, um ihr eigenes Leben zu führen, trotz dieses albernen Geredes über Zeichen. Natürlich gibt es keine Zeichen, die einem den Weg durchs Leben weisen. Wenn es sie gäbe, dann hätte Rose doch an jenem Septembermorgen, als Todd mit Jimmy Sommers wegfuhr, ein Omen erhalten. Wenn jeder seine Zeichen zugeteilt bekäme, dann wäre sie doch darauf vorbereitet worden, dass binnen dieses einen Tages die ernsten Stimmen von Ärzten und Bestattungsunternehmen! an die Stelle seines Lachens treten würden, dass sein lächelndes Gesicht mit den Grubchen für immer verschwinden und durch die selbstgerechten Mienen der Gemeindemitglieder vom »Komitee für Seelentrost und tätige Hilfe« ersetzt werden würde, die ihre Zitronensahnetorten und Fleischklöpse, ihre angegammelten Salate und Bohneneintöpfe mit Dosenzwiebelkruste vorbeibrachten. Nein, an jenem sonnigen Septembertag, als sie Todd zum letzten Mal sah, gab es nicht den geringsten Hinweis auf die bevorstehende Katastrophe. Nichts. Da ist sie sich ganz sicher. Direkt nach seinem Tod hoffte sie allerdings tatsächlich auf ein Anzeichen, dass ein Teil von ihm noch da war. Einmal stieß im Garten ein Blauhäher herab und ließ sich auf dem Fensterbrett vor dem Spülbecken nieder. Den Kopf mit dem kleinen Schöpf auf die Seite gelegt, schaute er durch die Fensterscheibe zu ihr herein, schaute sie direkt an. In ihrer sehnlichen Hoffnung auf ein Zeichen dachte sie: Das ist Todd. Oder eine Nachricht von Todd. Doch der Vogel kam nie wieder, -157
und nach einer Weile schien ihr das Ganze doch etwas übertrieben. Warum ausgerechnet ein Blauhäher? Was sollte der mit Todd zu tun haben? Es ergab keinen Sinn. Todd ist tot, das ist eine nackte, kalte Tatsache, und weder die Suche nach einem Zeichen noch der verzweifelte Wunsch nach einer Botschaft werden ihn zurückbringen. Nein. Egal, was Opal oder Raylee gern glauben möchte, das Leben ist voll verwirrender, unerwarteter und schmerzhafter Ereignisse, und niemand bekommt einfach eine Landkarte in die Hand gedrückt, mit deren Hilfe er sich auf solche Ereignisse vorbereiten, ihnen aus dem Weg gehen oder danach leichter weitermachen könnte. Früher oder später wird das Mädchen das lernen. Opal schaut zum Fenster hoch. Rose tritt einen Schritt zurück. Sie ist ja schon fast so schlimm wie Mary Winski, spioniert herum wie eine alte Klatschbase. Es geht sie nichts an. Nichts, was da drüben geschieht, hat irgendetwas mit ihr zu tun. Und es ist ganz sicher nicht ihre Aufgabe, das Mädchen von seinem Glauben an Zeichen abzubringen oder ihr zu sagen, dass sie den Kiemen nehmen und nach Norm Carolina zurückfahren soll. Und auch nicht, sie über Tyrone aufzuklären. Während sie sich vom Fenster abwendet, lockert sie ihren Rock in der Taille und schiebt ihn ein bisschen herunter, damit sie das rot geränderte Muttermal inspizieren kann. Der entzündete Bereich kommt ihr größer vor, wobei das auch von dem ständigen Kratzen herrühren kann. Sie schraubt die Tube auf und tupft etwas Salbe auf die Stelle. Danach verstaut sie das Medikament wieder sicher in der Schublade ihrer Kommode. Eine bleierne Müdigkeit überfällt sie. Nur ein kleines Nickerchen, denkt sie, und obwohl es schon Monate her ist, seit sie zum letzten Mal nachmittags geschlafen hat, streckt sie sich jetzt auf dem Bett aus. Im ersten Jahr nach dem Unfall verbrachte sie einen großen Teil des Tages schlafend. Sie hatte keine Ahnung, dass man so viel schlafen kann. Wenn Ned abends nach Hause kam, fand er sie auf dem Sofa ausgestreckt. -158
Jetzt döst sie zum Klang eines Jungenlachens ein. Sie wacht verschwitzt und verstört auf. Die Reste eines Traums umwabern sie und zerfließen langsam: Sie sitzt auf einem Sofa mit kariertem Stoffbezug, nackt wie ein Baby. Eine schwarze Hundertblättrige Rose wächst ihr aus dem Bauch. Sie ist flach wie eine Tätowierung, hat jedoch dünne, dunkle Ranken, die sich um ihre Taille winden und über ihre Hüften bis zu den Leisten hinunterkriechen. Sie druckt sich mit der Handfläche auf den Unterleib, drückt den Traum fort. Die Vision der sich ausbreitenden schwarzen Ranken bleibt. Rose gehört nicht zu den Menschen, die sich Gedanken über die Bedeutung von Träumen machen – Träume sind einfach Träume –, aber dieser hier macht sie nervös. Diese Ranken, die sich immer weiter ausbreiten. Sie denkt an Krankheit. Chemotherapie. Strahlenbehandlung. Operation. Sie liegt ganz still da und konzentriert sich. Das Muttermal juckt jetzt. Wenn da unten etwas Schlimmes im Gange wäre, dann wäre doch wohl mehr als eine medizinische Salbe nötig, um das Jucken zu lindern? Aus der Ferne hört sie Musik. Eine aufsteigende und wieder abfallende Melodie, wie der Pfiff einer Lokomotive. Tyrone und seine Mundharmonika. Was für ein einsamer Klang, denkt sie. Sie wirft einen Blick auf den Wecker. 16 Uhr. Sie sollte aufstehen, sollte das Abendessen in Angriff nehmen. Ihre Gedanken schweifen ab und landen schließlich bei Opal. Nicht dass sie etwas auf das Mädchen geben würde, aber dafür, dass sie so ein schmales Ding ist, steckt sie voller Überraschungen, das muss man ihr zugestehen. Geht von zu Hause weg, zieht ihren Sohn allein auf, ändert ihren Namen. Ein Mensch, der bereit ist, Risiken einzugehen. Zum zweiten Mal seit Opals Einzug erinnert sich Rose an ihr sechzehntes Lebensjahr und an Rachels Cousin, den Jungen, mit dem sie sich heimlich traf. In jenem Sommer dachte sie nur an ihn, eine regelrechte -159
Besessenheit, die dazu führte, dass sie immer wieder Risiken einging, was selbst damals ungewöhnlich für sie war. Dieses risikofreudige Mädchen kommt ihr sehr weit entfernt vor, so als würde sie es gar nicht kennen. Eher so wie Opal. Tyrone Millers Mundharmonika klagt weiter, und etwas Schweres senkt sich auf Roses Brust nieder. Sie kann nicht sicher sagen, ob es Sehnsucht oder Trauer ist.
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KAPITEL 17 OPAL Ein Sturm liegt in der Luft, und es ist kalt genug für Schnee. Sie werden wärmere Kleider brauchen. Die Heizung bullert vor sich hin. Das Geld geht buchstäblich in Rauch auf. Solange sie mietfrei in einer der Wohnungen ihres Vaters wohnte, erschienen ihr die fünftausend Dollar von Tante May unermesslich viel. Jetzt ist sie überrascht, wie schnell das Geld verschwindet, es fließt ihr förmlich durch die Finger. Melva wird sie jedenfalls nicht um Hilfe bitten, so viel ist sicher. Opal weiß nicht, was zwischen ihr und ihrer Mama schief gelaufen ist. Sie hat eine vage Erinnerung an ihre Kindheit. Wie ihre Mama ihr die Haare kämmte und sich mehr Zeit nahm, als nötig schien, um ihr die Knoten in den Haaren zu lösen, damit es nicht ziepte. Sie erinnert sich an eine Zeit, als Melva Geduld mit ihr hatte. Eine Zeit, als ihre Mama mit ihr spielte. Eine Zeit, als ihre Mama sie mochte. Und dann eines Tages schien Melva nur noch verärgert zu sein, und alles, was Opal tat, war verkehrt. In Melvas Augen konnte sie nie das Richtige anziehen, nie das Richtige sagen, nie das Richtige tun. Was für Erwartungen Melva auch an eine Tochter haben mochte, es war klar, dass Opal sie nicht erfüllen konnte. Ihre Mama hätte es gern gesehen, wenn Opal an Schönheitswettbewerben teilgenommen hätte. Wenn sie sittsam gewesen wäre. »Wir wollten immer nur dein Bestes, Opal. Nichts als dein Bestes. Vom ersten Tag an«, pflegte ihre Mama zu sagen, wobei sie säuerlich die Lippen zusammenpresste und so tat, als sei Opal diejenige, die weniger als ihr Bestes wollte. Aber was war das Beste? Eine Majorette zu sein und den Kommandostab durch die Luft zu wirbeln? Ins Junior Reserve Officers’ Training Corps einzutreten? Sich durch die gezielte Auswahl eines Ehemannes gesellschaftlich aufzuwerten? »Du bist und bleibst -161
eine Enttäuschung«, verkündete Melva regelmäßig. Inwiefern ist sie eine Enttäuschung? Im Rückblick erkennt Opal, dass sie sich irgendwann einmal vor der Entscheidung sah, entweder den Wünschen ihrer Mutter oder ihren eigenen Wünschen zu entsprechen. Da fiel die Wahl nicht schwer. Sie hofft immer noch, dass ihre Mama sich ändern wird, dass sie eines Tages sagen wird: »Ich liebe dich, Opal, ich bin so stolz auf dich«, all die Dinge eben, die Mütter doch eigentlich sagen sollten, all die Dinge, die Opal zu Zack sagt. Sie möchte gern glauben, dass Melva das alles fühlt und bloß nicht weiß, wie sie es ausdrücken soll. Eins ist ihr jedenfalls von der ersten Minute an klar gewesen: einen Mundharmonika spielenden Möchtegerncowboy mit einer Narbe im Gesicht würde ihre Mama mit Sicherheit nicht in Opals Leben akzeptieren. Schon Billy war schwer genug durchzusetzen. »Wie konntest du bloß?«, bekam Opal während ihrer Schwangerschaft immer wieder von Melva zu hören. »Das ist ja so was von blamabel – ich trau mich kaum noch unter die Leute.« Sie ritt endlos darauf herum, bis die ganze Schmach schließlich nur noch ihre Mama betraf. Nein, Opal will nicht, dass Melva von Ty erfährt. Nicht dass es irgendwas zu erfahren gäbe. Als hätten ihre Gedanken ihn herbeigerufen, hört sie Ty in ihre Einfahrt einbiegen. Überrascht ist sie nicht gerade, denn er taucht mit schönster Regelmäßigkeit hier auf, aber heute kommt er zum ersten Mal, während Zack noch im Kindergarten ist. Sie presst die Handflächen gegen die Brust und versucht ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Hätte sie sich doch nur die Haare gewaschen, etwas anderes angezogen – gefährliche Gedanken, wie sie schnell erkennt. »Hi«, sagt sie. »Hi.« »Zack ist nicht da«, teilt sie ihm mit, als wäre Ty wegen ihm gekommen. -162
»Hab ich mir gedacht.« Nach kurzem Zögern tritt sie einen Schritt zurück und lässt ihn herein. Warum muss er auch so gut aussehen. Wäre doch nur Zack da, um die Situation zu entschärfen. Hätte sie sich doch bloß die Haare gewaschen. Hätte sie doch bloß die Wohnzimmertür zugemacht. Ihre Puppen liegen übers ganze Zimmer verstreut. Dass Melva und Billy sie für mehr oder weniger debil halten, weil sie ihre Zeit mit Puppen Nähen verbringt, ist sie gewohnt, aber sie will nicht, dass Ty so etwas denkt. Doch als hätte genau dieser Gedanke ihn erst dazu angeregt, schaut er natürlich über ihre Schulter direkt auf den Tisch. »Sind das die Puppen, von denen ich schon so viel gehört habe?« »Sieht so aus.« Mit wem hat er sich über sie unterhalten? Was hat er über sie wissen wollen? »Die du selber machst?« Mist. »Ja.« Er geht zum Tisch, will nach einer der Puppen greifen, hält dann inne und schaut auf seine Hände hinunter. »Bin gleich wieder da«, sagt er und verschwindet ins Bad. Sie hört Wasser ins Waschbecken laufen. Sie braucht einen Moment, um zu begreifen, dass er sich die Hände schrubbt. Er wäscht sich, bevor er ihre Puppen anfasse. Was Ty bisher auch getan hat oder noch zu tun gedenkt, diese einfache Tat – der Respekt den er damit zeigt – droht ihre sämtlichen Verteidigungsmechanismen, ihren festen Vorsatz, sich nicht mit ihm einzulassen, zu erschüttern. Was sie jetzt braucht, denkt sie, als er zurückkommt, ist Abstand, Nüchternheit, Entschlossenheit, Sie arbeitet immer noch an der Astronautenpuppe, der sie zuletzt einen kleinen NASA-Aufnäher auf den Raumanzug gestickt hat. »Die hast du selbst gemacht?«, fragt er. »Mhm.« Er lässt sich Zeit, betrachtet die Puppe mit einer Aufmerksamkeit, die nicht vorgetäuscht, nicht reine Höflichkeit ist. So etwas merkt man. »Super. Die ist echt toll.« -163
»Danke.« Sie gibt sich alle Mühe, es beiläufig klingen zu lassen. »Nee, echt. Ich mein das ernst. Das ist echt was Besonderes.« »Magst du eine Cola oder so was?« Abstand. Entschlossenheit. »Nee«, sagt er und legt die Puppe wieder auf den Tisch. »Ich wollte dir bloß die hier vorbeibringen.« »Was ist das?« Sie nimmt den Umschlag, den er ihr hinhält. »Eine Eintrittskarte. In Northampton findet in zwei Wochen eine Bluesnacht statt, und da spielt auch unsere Band.« Sie öffnet den Umschlag und zieht die Karte heraus. »Es ist eine Freikarte«, sagt er. »Kostet nix. Ich wollte sie dir jetzt schon geben, weil ich dann erst mal eine Weile weg bin. Wir haben einen Gig in Cambridge.« Der Preis ist auf dem Abriss aufgedruckt. Zwanzig Dollar. »Sieht mir nicht nach einer Freikarte aus. Sieht aus wie eine normale Eintrittskarte.« »Die hat nichts gekostet. Die Band kriegt immer ein paar Karten umsonst.« Sie hält sie ihm hin. »Ich hab dir schon mal gesagt, ich bin kein Sozialfall.« »Dafür hab ich dich auch nie gehalten.« Er ignoriert die Karte. »Na, dann hör auf, mich so zu behandeln. Ständig kommst du mit irgendwelchen Geschenken an oder tust mir irgendeinen Gefallen.« Sie muss an das Gemeindekränzchen ihrer Mama in New Zion denken, an die selbstgerechten Mienen, mit denen die Frauen den Armen Essenskörbe vorbeibrachten. Sie nimmt von niemandem Almosen an. Ty sieht sie unverwandt an. »Vielleicht gehe ich es falsch an«, sagt er. »Vielleicht macht man so was da, wo du herkommst, anders. Aber ich mag dich einfach. Und das versuche ich dir so zu zeigen, wie ich es eben kann. Vielleicht habe ich irgendwas falsch gemacht, aber das war bestimmt keine Absicht. Ich bin nämlich nicht dein Feind, weißt du, auch wenn -164
du mich dauernd so behandelst.« »Also, ich ...« Sie schluckt und versucht es dann noch mal. »Ich weiß das sehr wohl zu schätzen, was du alles für mich getan hast. Dass du mein Auto repariert hast und so.« Er fährt mit dem Finger über die Narbe auf seiner Wange. »Opal Gates«, sagt er und lacht. »Ich muss schon sagen, du bist echt anders als alle anderen Mädchen, die ich kenne.« Opal schnaubt. »Das hat Zacks Daddy auch immer gesagt. Hat mir erzählt, er würde mich lieben, weil ich anders wäre, und dann hat er bei der erstbesten Gelegenheit angefangen, mich zu bearbeiten, um all das, was anders an mir war, zu verändern.« »Klingt so, als hätte der Mann nicht gewusst, was er an dir hatte.« »Eins kann ich dir gleich sagen, Tyrone Miller: Mit Süßholzgeraspel kommst du bei mir nicht weiter.« »Hätte mich auch gewundert.« Er grinst. »Nimmst du jetzt die Karte oder nicht?« Er sieht so hoffnungsvoll aus, dass sie lächeln muss. »Na gut.« »Dann kommst du also?« »Vielleicht. Ich sage weder Ja noch Nein.« Sie hat überhaupt keinen Grund, sich so glücklich zu fühlen. Es ist einfach bloß eine Eintrittskarte. Sie gehen schließlich nicht zusammen weg oder so was. Sie verpflichtet sich zu nichts. »Ich wusste ja nicht, ob du schon was vorhast.« »Ich habe selten so langfristig was vor.« »Na ja, immerhin ist es Silvester.« »Silvester?« »Genau.« »Soll das heißen, das ist eine richtige Verabredung?« »Nur wenn du willst.« -165
»Ich weiß nicht. Ich müsste einen Babysitter für Zack organisieren.« »Du könntest die Nelsons fragen.« »Du hast ja alles voll im Griff.« »Wenn ich irgendwas nicht habe, dann alles voll im Griff. Du kommst also?« »Vielleicht.« »Da wird auch getanzt. Tanzt du gern?« »Früher schon.« Wie lang ist das her, dass sie das letzte Mal tanzen war? Mindestens hundert Jahre. »So was verlernt man nicht.« »Nee, wahrscheinlich nicht.« Er fängt an zu summen – ein Stück von James Taylor – und greift nach ihrer Hand. Wie ein elektrischer Schlag durchfährt es sie. Heiß und schwer breitet sich das Begehren in ihrem Bauch aus, zuckt bis in ihre Kehle hinauf, strahlt ab in ihre Schenkel. Abstand. Entschlossenheit. Sie zieht ihre Hand zurück. »Ich muss los, Zack abholen.« Sie sieht ihm nach, als er mit seinem hüftschwingenden Gang die Stufen hinuntergeht. Sie schließt die Augen und ruft sich die Wärme seiner Hand in Erinnerung. Sie weiß nicht, was ihr bevorsteht, doch sie spürt, dass so etwas wie Freude in der Luft liegt, so sicher wie der Nebel über den Bergen im Mai. Dieses frohe Gefühl begleitet sie den ganzen Weg bis zum Kindergarten, und nichts, nicht einmal der missbilligende Gesichtsausdruck der Erzieherin, kann es vertreiben. »Wir müssen uns darauf verlassen können, dass die Eltern unserer Kinder pünktlich sind«, sagt Mrs. Lloyd. »Ich weiß. Es tut mir Leid.« »Das ist jetzt schon das zweite Mal diese Woche, dass wir auf Sie warten mussten.« »Ich weiß.« Leck mich am Arsch, würde sie dieser Frau am liebsten sagen, aber sie braucht den Kindergarten für Zack. »Sie -166
kennen unsere Regeln. Die Kinder müssen pünktlich abgeholt werden.« »Es wird nicht noch einmal vorkommen.« »Ich hoffe nicht. Wir würden Zackery nur ungern enttäuschen.« »Die war sauer«, sagt Zack, als sie ins Auto steigen. »Tja, Pech auch.« »Die flüstert mit der anderen Tante über dich.« »Eine blöde Trutsche ist das.« Er hat sich die Hände gewaschen, bevor er ihre Puppe angefasst hat. Er fand sie super. Toll. Echt was Besonderes. »Komm, reden wir über was anderes.« »Aber wenn ich jetzt nicht mehr hin darf?« »Da mach dir mal keine Sorgen, Zack. Hey, weißt du was? In einer Woche ist Weihnachten, und wir haben noch nicht mal einen Baum. Wie war’s, wir kaufen einen, jetzt gleich?« »Einen richtig großen?« »Den größten, den wir finden können.« Scheiß aufs Geld. Schließlich ist Weihnachten. Ihr erstes Weihnachten allein. Da gehört ein Weihnachtsbaum einfach dazu. Und zwar nicht so ein künstlicher wie dieses silberne Ding, das ihre Mama immer aufstellt. Er mag sie. Das hat er selbst gesagt. Während sie durch die winterliche Dämmerung flitzt, von den Lichterketten verzaubert, die in den Bäumen vor den Häusern hängen, erlaubt sich Opal zu glauben, dass alles gut wird. Dass der schlimmste Teil ihres Lebens hinter ihr liegt.
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WINTER
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KAPITEL 18 OPAL Ein Schneesturm zum Jahresende hat den halben Staat lahm gelegt, und jetzt sitzt Opal mit Ty in Northampton fest. Da das Konzert abgesagt wurde, feiert die Band nun privat Silvester. Der Abend läuft völlig anders ab, als Opal es erwartet hat. »Bist du sicher, dass wir nicht nach Normal zurückkönnen?«, fragt sie. Sie stehen in der Küche des Hauses, das zwei der Bandmitglieder gemietet haben. »Nicht bei diesem Sturm.« Er wischt ihr das Haar aus der Stirn, streichelt ihr mit dem Finger über die Wange. »Ich hätte nicht mitkommen sollen. Zack hat bestimmt Angst.« »Zack geht’s bestimmt gut. Wahrscheinlich macht ihm Rose gerade eine heiße Schokolade.« Wie kann sie erwarten, dass er sie versteht? Eine der wenigen Ansichten, die sie mit ihrer Mama teilt, ist, dass man selbst ein Kind haben muss, um zu begreifen, wie das ist. »Ich rufe lieber mal an.« »Okay.« Er lächelt, fährt ihr mit der Fingerspitze über den Unterkiefer, den Hals. »Das Telefon«, kriegt sie nur mit Mühe heraus. »Wo steht das?« »Oben.« Wieder lächelt er. »Sag ihr, dass wir morgen Vormittag zurück sind.« Sie fühlt sich hin- und hergerissen, als sie die Treppe hinaufgeht. Natürlich macht sie sich schreckliche Sorgen um Zack Er hat noch nie eine Nacht ohne sie verbracht. Doch ein Teil von ihr – der Teil, der sie trotz all ihrer guten Vorsätze immer wieder in Schwierigkeiten bringt – spielt mit dem Risiko. Dieser Teil verspürt eine Art nervöse Begeisterung darüber, mit Ty eingeschneit zu sein, diesem Mann, der ihr schon mit einer -169
zarten Berührung ihres Halses den Atem rauben kann. Von unten hört sie das Lachen eines Mannes. Es muss Wesley sein, der Bassist. Die anderen beiden, Anthony und Ben, spielen Gitarre. Es sind Schwarze, was Ty offenbar nicht für erwähnenswert hielt. Ihre Freundinnen, ebenfalls schwarz, sind herausgeputzt wie zu einem Schulabschlussball, in leuchtend roter und violetter Seide. Total feindselig sind die. Werfen ihr Blicke zu, als wäre sie die klassische weiße Spießerin. Sollen sie doch. Sie kann sich vorstellen, was ihre Mama sagen würde, wenn sie Opal jetzt sehen könnte. »Ich habe überhaupt nichts gegen Schwarze«, sagt Melva immer, »aber man sollte sich an seinesgleichen halten.« Opal kichert, ob wegen der zwei Bier, die sie schon getrunken hat, oder weil sie Melvas Empörung so lebhaft vor Augen hat, das weiß sie nicht. Aber sie weiß sehr wohl, wie ihre Mama darauf reagieren würde, dass sie jetzt hier ist. Sie würde dafür sorgen, dass Opal sich wie der letzte Dreck fühlt. Ein Song von Janet Jackson driftet nach oben. Von dem Album Rhythm Nation. Was ist so verkehrt daran, einen Mann zu begehren? Warum ist das in den Augen ihrer Mama ein Verbrechen? Das wusste sie wirklich gem. Sie nimmt den Telefonhörer ab, hört die dumpfe Leere einer toten Leitung. »Alles in Ordnung?« Ty tritt von hinten zu ihr. Er hat zwei Dosen Miller mitgebracht, von denen er ihr eine reicht. »Die Leitung ist tot.« Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass der Schneesturm bald nachlässt und sie wieder nach Normal zurückfahren können. Sie geht zum Fenster hinüber. »Was meinst du, wann das aufhört?« »Wahrscheinlich im Laufe des Vormittags.« Ein Schneepflug fährt vorbei, dann ein Streufahrzeug. Die Bäume draußen verwandeln sich langsam in weiße Skulpturen. »Ist der Schnee immer so? So dicht?«, fragt sie. Ty stellt sich -170
hinter sie, legt ihr die Arme um die Schultern, zieht sie an sich. Sie vergisst fast weiterzuatmen. Irgendwie lässt dieser Sturm alles unwirklich erscheinen. Wie eine andere Welt. Eine Welt, in der die Regeln ihrer Mama nicht gelten. Sie ist sich des Betts bewusst, das hinter ihnen steht. Ein Doppelbett. Ungemacht. Der Schneepflug verschwindet, hinterlässt absolute Stille. »Was? Gibt’s denn bei euch in North Carolina keinen Schnee?« »Nur selten.« Trotz der Straßenlampen kann sie die Häuser gegenüber nicht erkennen. »Bist du ganz sicher, dass wir heute Nacht nicht mehr zurückkommen?« Sie weiß nicht, ob ihr ein Ja oder ein Nein lieber wäre. »Mach dir keine Sorgen. Zack geht’s bestimmt gut. Besser als bei Rose und Ned kann er’s gar nicht haben.« Das stimmt natürlich nicht. Am besten hat Zack es bei ihr. Unten hat jemand eine andere Kassette eingelegt. Bonnie Raitt. Draußen ist alles grau und weiß. Schatten und Licht. »Wie ein Märchenland«, sagt sie und trinkt dann, weil sie sich albern vorkommt, von ihrem Bier, obwohl sie längst genug hat. Er nimmt ihr die Dose aus der Hand und stellt sie auf den Boden, dann zieht er sie an sich, legt ihr die Hände über die Ohren, die Finger kalt vom Bier. »Gott, bist du klein«, sagt er. Bitte, denkt sie, lass ihn nicht gut küssen können. Doch genau das kann er. Er küsst sie lang und tief, mit genau dem richtigen Beharren hinter der Sanftheit. Sie öffnet ihm ihre Lippen, empfängt seine Zunge. »Junge Junge«, sagt er, als er sich schließlich von ihr löst. Außer ihnen beiden scheint es im Zimmer nur noch das riesige Bett zu geben. Er beugt sich vor, küsst sie auf die Stirn. »Komm«, sagt er dann zu ihrer Überraschung, »lass uns runtergehen und tanzen.« Unten haben sich die anderen Paare zusammengefunden. Anthony sitzt bei dem Mädchen, das Darlene heißt. Sylvia hängt an Wesleys Hals. Ben und das dritte Mädchen sind verschwunden. Es riecht nach Marihuana. »Purple Rain« von -171
Prince läuft. Wortlos zieht Ty sie an seine Brust. Er wartet einen Augenblick, hält sie einfach, seine Wange auf ihrem Kopf; dann fängt er an zu tanzen. Und das ist nun eindeutig kein Stehficken. Das ist Vorspiel, voll und ganz. Sie lässt sich von ihm führen, nimmt trotz ihrer Benommenheit alles genau wahr: seine Hand auf ihrem Rücken, seinen Atem auf ihrem Haar, seinen Oberschenkel an ihrer Hüfte, ihre Brüste an seinen Rippen, ihre Wange an seiner. Ihr Ba uch fühlt sich vor lauter Begehren ganz hohl an. Sie fragt sich, ob es wohl möglich ist, nur durch Tanzen zu kommen. Ob es möglich ist, dass ein Leben sich innerhalb so kurzer Zeit verändert. Die Kassette ist zu Ende, und nach einem kurzen Augenblick geht Wesley zum Recorder und legt ein anderes Band ein. Ty lässt sie nicht los. Er presst seine Schenkel gegen sie. Sie erwidert den Druck. Draußen kommt der Schneepflug zurück und schabt die andere Straßenseite frei. Sie würde am liebsten seine Narbe berühren, ihn fragen, woher er sie hat, doch sie tut es nicht. Bestimmt hat ihm jedes einzelne Mädchen, mit dem er je zusammen war, diese Frage gestellt. Du bist anders, hat er gesagt. Das will sie auch – sie will anders für ihn sein. Ein gefährlicher Wunsch, die Sache hat keine Zukunft. Irgendwo in der Tiefe ihres Bewusstseins hallt Tante Mays Warnung nach. Ohne sie loszulassen, bewegt Ty sich zum Sofa hinüber und zieht sie auf seinen Schoß. Sie spürt sein hartes Glied an ihren Beinen. Mein Gott, sie ist jetzt scho n feucht. Sein Kuss ist ihr willkommen. Seine Handfläche streift ihre linke Brust, kreist auf ihrer Brustwarze. Ein Stöhnen – tief und unwillkürlich – steigt aus ihrer Kehle auf. Er steht auf und trägt sie, als wäre sie nicht schwerer als Zack, die Treppe hinauf. »Alles klar?«, fragt er. »Ja.« Ihr ist schwindlig. Vom Bier und vor Begehren. »Frohes neues Jahr«, sagt er. »Dir auch«, sagt sie. Sie hat nicht viel in ihrem Leben richtig gemacht. Es ist wichtig, dass sie das hier richtig macht. »Bist du -172
sicher, dass das okay für dich ist?« »Ja.« Er trägt sie zum Bett.
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KAPITEL 19 ROSE Es schneit seit dem späten Nachmittag, und der Garten liegt unter einer unwirklich weißen Schneedecke. Im Licht der Verandalampe sieht Rose, dass der Schnee sich in der Gabelung des alten Ahorns türmt. In der Wettervorhersage war die Rede von zehn bis fünfzehn Zentimetern, aber so viel haben sie jetzt schon, mindestens. Es ist die Art von feinem, stetigem Schneefall, der zu richtig hohem Schnee führt. Mit einem halben bis dreiviertel Meter müssen sie auf jeden Fall rechnen. Ned und der Junge sehen fern. Rose steht in der Küche und arbeitet ihre Gefühle am Kuchenteig ab. Sie hat noch kein Wort von Opal gehört. Man sollte doch erwarten, dass sich das Mädchen Sorgen um Zack macht. Wegen des Schneesturms. Sie hat das auch schon zu Ned gesagt, doch der hat Opal sofort in Schutz genommen und gemeint, die Telefonleitungen seien wahrscheinlich unterbrochen. Wenn das so weitergeht, hat er gesagt, würde ich nicht vor morgen Vormittag mit den beiden rechnen. Schneesturm hin oder her, Rose findet es nicht in Ordnung, dass das Mädchen die Nacht mit Tyrone verbringt. Sie will gar nicht daran denken, was die zwei gerade treiben. Als Opal Anfang der Woche rüberkam und Rose fragte, ob sie auf Zack aufpassen könne, traf sie das völlig unvorbereitet. Bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen und irgendeine Ausflucht vorbringen konnte, hörte sie sich zusagen. Sie war sich sicher, dass Ned an die Decke gehen würde, wappnete sich gegen seine Missbilligung, doch er sagte kein Wort. Jetzt haben der Junge und er es sich in seinem Liegesessel bequem gemacht – der Junge sitzt auf Neds Schoß... Der Anblick von Ned mit dem Kleinen auf dem Schoß war zu viel für Rose. Sie hat sich in die Küche geflüchtet. Sie versteht -174
Ned nicht. Was immer er auch von Opal halten mag und dazu hat er sich ja schon ziemlich deutlich geäußert –, mit dem Jungen hat er keine Probleme. Schön und gut, aber man muss ja nicht gleich übertreiben. Es gibt wirklich keinen Grund, den Jungen auf den Schoß zu nehmen. Sie schüttet Mehl auf den Tisch, schneidet Schmalz hinein, gibt etwas Wasser dazu, knetet den Teig so lange, bis er geschmeidig ist, aber nicht zu lange. Zäh darf er nicht werden. Rose ist stolz auf ihre Kuchenböden. Früher, als es noch selbstverständlich für sie war, sich am Weihnachtsbasar der Gemeinde zu beteiligen, waren ihre Kuchen immer als Erste verkauft. Sie rollt den Teig aus, legt ihn in eine Kuchenform. Silvester hin oder her, es war ein Fehler zu sagen, dass sie den Jungen hüten würde. Bei diesem Sturm werden sie ihn wohl über Nacht dabehalten müssen. Vorhin ist Rose rübergegangen, um den Schlafanzug des Jungen zu holen. Ein einziges Chaos, wie nicht anders zu erwarten. Ungemachte Betten. Kleider über den ganzen Boden verstreut. Da sie nur einen dünnen Schlafanzug finden konnte, nahm sie noch eins von Zacks Sweatshirts und ein Paar Socken mit. Auf dem Bett lag ein Plüschtiger, und auch den packte sie ein. Todd hatte immer einen Pandabären mit im Bett gehabt. Ganz unwillkürlich hielt sie sich das Plüschtier an die Nase und atmete tief ein. Der Geruch, dieser süßlichverschwitzte Kindergeruch, weckte Erinnerungen, die ihr das Herz in der Brust zusammenschnürten. Im Wohnzimmer hat Ned auf den Wettersender umgeschaltet. »Die haben die Vorhersage abgeändert«, ruft er ihr zu. »Jetzt heißt es, zwischen 1,50 und 2 Meter. Vielleicht sogar mehr. Wir sollten sicherheitshalber ein paar Kerzen bereitlegen.« Sie öffnet eine Dose Heidelbeeren für die Füllung, kippt sie in die Kuchenform. Ned kommt herein. Er geht an die Kramschublade, zieht sie auf, wühlt in dem Krimskrams herum – Notizblöcke, Schraubenzieher, Gummis, Büroklammern –, -175
macht die Schublade wieder zu. »Da sind keine Kerzen drin«, sagt sie. »Ich suche auch gar keine Kerzen«, sagt er. Er geht ins Wohnzimmer zurück. Sie hört, wie er die Schreibtischschubladen öffnet und wieder schließt. Er macht sie noch wahnsinnig. Wahrscheinlich sucht er Batterien für das Transistorradio. Es macht ihm Spaß, sich für einen Sturm zu rüsten. »Rose?«, ruft er. Der würde doch ohne ihre Hilfe nicht mal die Hand an seinem Arm finden. Sie legt die Teigplatte auf den Kuchen. »Rose?« Er kommt wieder in die Küche. »Weißt du, wo die Spielkarten hin verschwunden sind? Ich kann nirgends welche finden.« Roses Hände erstarren mitten in der Bewegung. »Ich habe keine Ahnung«, sagt sie mit einer Stimme, aus der jeder Ausdruck gewichen ist. »Früher hatten wir doch mindestens ein halbes Dutzend Kartenspiele hier rumliegen.« In der untersten Schublade der Anrichte im Esszimmer liegen zwei Kartenspiele, aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als ihm das zu sagen. Er stöbert in einer weiteren Schublade herum. Sie schäumt vor Wut. Was ist nur los mit ihm? Was denkt er sich bloß? Sie drückt den Teigrand fest, schneidet Schlitze in den Deckel. Als sie den Kuchen gerade in den Ofen schiebt, hört sie ihn im Esszimmer eine Schublade aufziehen. »Hab sie«, ruft er. Dann kommt er mit dem Jungen in die Küche und macht sich direkt vor ihren Augen ans Werk. »Hast du schon mal gesehen, wie man aus Spielkarten ein Haus baut?«, fragt er den Jungen. Er nimmt zwei Karten und lehnt sie schräg gegeneinander, dann stellt er vier Karten senkrecht im Karree darum auf. Er kann das besser, als man meinen sollte. Todd und er haben mal ein Kartenhaus gebaut, das sieben Stockwerke hoch war, es nahm fast den ganzen Wohnzimmerboden ein und bestand aus sieben -176
Kartenspielen. Irgendwo in einem der Fotoalben oben auf dem Speicher gibt es noch ein Bild von dieser Konstruktion, Fotoalben, die anzuschauen Rose nicht über sich bringt. Sie kann es nicht fassen, dass er mit diesem Jungen ein Kartenhaus baut. Was ist nur los mit ihm? »Okay«, sagt er und reicht dem Jungen eine Karte. »Jetzt bist du dran. Lehn sie einfach gegen meine Karte.« Wutentbrannt wischt sie die Arbeitsfläche ab, ihr Rücken starr vor Empörung. Sie versucht, das Gelächter der beiden auszublenden. Wie kann er nur? »So«, sagt sie zu dem Jungen, als sie die Küche aufgeräumt hat. »Zeit zum Schlafengehen.« Ungeachtet seines Protests führt sie ihn ins Badezimmer, zieht ihn aus. Sie muss ihm helfen, in seinen Schlafanzug zu schlüpfen. »Genau genommen hab ich das im Bett nie an«, sagt er, als sie ihm das Sweatshirt überzieht. »Das wird dich heute Nacht warm halten.« Sie ist nicht in der Stimmung für Diskussionen. Sie hat vergessen, seine Zahnbürste mitzunehmen, falls er überhaupt eine besitzt. Na ja von einer Nacht wird er keine schlechten Zähne kriegen. »Wann kommt meine Mama zurück?« »Morgen Vormittag ist sie wieder da«, sagt Rose. Ned sieht zu, wie sie die Couch im Wohnzimmer herrichtet. »Meinst du nicht, dass er es oben bequemer hätte?« Was soll denn das heißen? Als wäre das Kartenhaus nicht schon schlimm genug gewesen. Nicht im Traum würde sie daran denken, den Jungen in Todds Bett schlafen zu lassen, Was ist bloß in ihn gefahren? Er sollte doch wissen, dass das völlig ausgeschlossen ist. Niemals würde sie ein anderes Kind im Bett ihres Sohnes schlafen lassen, unter gar keinen Umständen. »Das ist schon ganz in Ordnung hier«, sagt sie. Sie legt den -177
Jungen hin, dann schaltet sie den Fernseher ab und macht das Licht aus. Sie geht in die Küche, um nach dem Kuchen zu sehen. »Zack«, hört sie Ned fragen, »soll ich das Licht im Flur anlassen?« »Ja, bitte«, sagt der Junge. »Okay«, sagt Ned. »Liegst du gut?« »Ist meine Mama morgen wieder da?« »Ganz bestimmt.« »Nacht.« »Gute Nacht, mein Sohn.« Mein Sohn. Der Schmerz würgt ihr die Luft ab.
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KAPITEL 20 NED Ned wacht schon vor fünf Uhr auf.
»Bleib ruhig liegen«, sagt er zu Rose. »Ist ja nicht nötig, dass
wir beide aufstehen.« »Gehst du Schnee räumen?« »Ja. Früher oder später muss ich’s eh machen. Ich werde den ganzen Tag zu tun haben, da fang ich lieber jetzt gleich an.« »Ich mach dir Frühstück.« »Lass nur.« Er tätschelt ihr die Schulter. Gestern Abend hat sie es nicht geduldet, dass er sie anfasst. Als er ihr ein frohes neues Jahr wünschte, hätte sie ihm fast den Kopf abgerissen. Allerdings war sie schon den ganzen Abend wütend gewesen. Ließ es an ihm aus. Und an dem Jungen. Er kann es nicht fassen, dass Rose den Jungen die Nacht auf der Couch hat verbringen lassen. Hätte doch keinem geschadet, wenn er in Todds Zimmer geschlafen hätte. Vielleicht wäre es sogar gut gewesen. Dieses Zimmer ist wie eine Wunde, die nicht verheilt. Er hat das noch nie erlebt, dass sich jemand so an seine Trauer klammert wie Rose. »Ich werde einen Happen bei Trudy’s essen.« Er steht schon an der Tür, als Rose ihn aufhält. »Weck den Jungen nicht, wenn du runtergehst«, sagt sie. Er nickt, will jetzt nur noch Roses Trauer und Wut entkommen. Er kann es gar nicht erwarten, endlich draußen zu sein und mit dem Schneeräumen zu beginnen, etwas zu tun, was er unter Kontrolle hat. Er arbeitet gern frühmorgens. Schon immer. Ist gern auf, während alle anderen noch schlafen Wenn er gemütlich in der Führerkabine des Abschleppwagens sitzt und durch die menschenleeren Straßen fährt kommt es ihm vor, als hätte er die ganze Welt für sich. »Herrje.« Der Schreck fährt ihm durch alle Glieder, als er den Jungen sieht. »Hast du mich erschreckt.« -179
Zack sitzt in der dunklen Küche. Er ist bereits angezogen und hält seinen Schlafanzug und sein Plüschtier auf dem Schoß. »Ich dachte, du schläfst noch«, sagt Ned. »Kann ich jetzt nach Hause?« »Dafür ist es noch ein bisschen zu früh. Wir zwei sind wahrscheinlich die Einzigen, die schon wach sind.« Salzige Tränenspuren ziehen sich über die Wangen des Jungen. »Ich will nach Hause. Wann kommt meine Mama zurück?« »Ganz bald«, sagt Ned und hofft, dass er Recht hat. Er vertraut darauf, dass das Mädchen dem äußeren Anschein zum Trotz ein gewisses Verantwortungsgefühl besitzt. »Soll ich dir den Fernseher einschalten?« »Nein.« Die Lippen des Jungen fangen an zu zittern. »Ich will nach Hause.« »Rose wird bald aufstehen. Dann macht sie dir was zu essen.« Er bindet sich die Schuhe zu. »Ich muss jetzt an die Arbeit. Möchtest du ein Glas Saft oder Milch, bevor ich gehe?« Zack schüttelt den Kopf. »Bestimmt nicht?« »Ich will zu meiner Mama.« »Na komm schon, ich hab dir doch gesagt, es dauert nicht mehr lange.« Er schließt den Reißverschluss seines alten Parkas, geht auf die Haustür zu. »Wenn du irgendwas brauchst, gehst du hoch zu Rose und sagst ihr Bescheid, ja?« Er interpretiert Zacks Schweigen als Zustimmung. Im Osten zeigen sich erste blasse Streifen am blauschwarzen Himmel. Der Schnee knirscht unter seinen Stiefeln, sein Atem hängt in Wölkchen in der eisigen Luft. Es muss an die minus zehn Grad sein. Kein Wind. Wenigstens verweht es so den Schnee nicht. Er fängt an, einen Weg zu seinem Pickup freizuschaufeln. Gut fünfundvierzig Zentimeter dürfte es geschneit haben. Noch ehe er zwei Meter weit gekommen ist, keucht er schon. Er macht -180
eine Pause. Früher hat er die ganze Einfahrt freigeschaufelt, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Er braucht eine ganze Weile, um die Windschutzscheibe freizukratze n. Unter dem Schnee befindet sich eine Eisschicht, die er langsam und sorgfältig abschabt. Sein Atem geht stoßweise. Am Küchenfenster sieht er ein blasses Oval, das Gesicht des Jungen, der zu ihm hinausschaut. Er winkt lächelnd hoch, doch Zack erwidert das Lächeln nicht. Was für ein ernstes Kind. Er schwingt sich in die Fahrerkabine hinauf, schaltet den Allradantrieb ein, fährt rückwärts aus der Einfahrt. Als er noch einmal hochschaut, steht der Junge immer noch am Fenster »Herrje.« Er zögert, dann hält er den Wagen an und geht ohne den Motor auszuschalten – wieder hinein. »Bist du schon mal mit einem Schneepflug gefahren?« »Nein.« »Ich fahr jetzt gleich mit einem raus. Muss ein paar Zufahrten räumen. Hast du Lust mitzukommen?« Er schüttelt den Kopf. »Ich warte auf meine Mama.« »Weißt du, wie das geht, Schneeräumen?« »Nein.« »Es ist eine wichtige Arbeit. Man befestigt einen Schneepflug vom am Abschleppwagen, und damit räumt man dann den Schnee von den Zufahrtstraßen. Als mein Sohn Todd ungefähr so alt war wie du jetzt, ist er manchmal mitgekommen.« »Echt?« »Mhm. Und er hat mir immer geholfen, den Hebel runterzudrücken, mit dem man den Schneepflug hebt und senkt. Meinst du, das würdest du auch hinkriegen?« »Ich glaub schon.« »Ich könnte Hilfe gebrauchen.« »Na gut.« »Dann woll’n wir doch mal sehen, ob wir ein paar -181
Arbeitsklamotten für dich finden.« Er hilft dem Jungen, das Sweatshirt überzuziehen, kramt einen alten Wollpullover von sich hervor, dazu Roses Windjacke, schließlich ein Paar Handschuhe von ihm, in die Zacks Hände zweimal hineinpassen würden. »Das sollte reichen«, sagt er. »Hast du Hunger?« »Mhm.« »Wie wär’s, wenn wir zum Imbiss fahren und erst mal ordentlich frühstücken? Magst du Pancakes? Mein Sohn hat gern Pancakes gegessen. Mit ganz viel Ahornsirup und einem großen Glas Milch dazu.« »Genau genommen mag ich sie lieber mit Butter.« »Butter ist auch lecker.« »Und Zucker.« »Nach dem Frühstück fahren wir zur Werkstatt und holen den Schneepflug, und dann kannst du mir helfen, ein paar Zufahrten zu räumen. Das wär doch was, oder?« »Und ich drück den Hebel runter?« »Na klar.« Bevor sie gehen, denkt er noch daran, Rose eine Nachricht zu hinterlassen, damit sie weiß, dass er den Jungen mitgenommen hat. »Glaubst du, sie wird böse sein?« »Wer? Rose?« Zack nickt. »Nee. Warum sollte sie denn böse sein?« »Weil sie gestern Abend böse geworden ist, als du das Kartenhaus mit mir gebaut hast.« Dem Kleinen entgeht wirklich gar nichts. »Mach dir keine Gedanken wegen Rose. Die ist nicht böse auf dich, die ist böse aufs Leben.« »Warum?« -182
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Weil euer Sohn tot ist?«
»Du weißt das mit Todd?«
»Meine Mama hat es mir erzählt.«
Ned fragt sich, ob Rose sie oben hören kann. »Komm«, sagt
er. »Wir haben viel zu tun. Lass uns aufbrechen und vor dem Schneeräumen was frühstücken.« »Ned?«, fragt Zack, als Ned ihn anschnallt. »Ja?« »Todd war doch auch dein Sohn.« »Ja, das war er.« »Bist du auch böse aufs Leben?«
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KAPITEL 21 ROSE Ihr Aussehen lässt keinen Zweifel daran, was das Mädchen die ganze Nacht getrieben hat. Ringe unter den Augen. Das Gesicht von den kratzenden Bartstoppeln eines Mannes gerötet. Rose spitzt missbilligend die Lippen. »Vielen Dank, dass Sie sich um Zack gekümmert haben«, sagt Opal. »Die beiden sollten bald zurück sein.« Rose ignoriert Opals Dankeschön. Das Mädchen könnte wirklich genauso gut mit einem Plakat durch die Gegend laufen. Rose ist nicht prüde, aber es gibt einfach gewisse Maßstäbe. Sie hat nicht die ganze Nacht auf den Jungen aufgepasst, damit Tyrone mit Opal in die Kiste steigen kann. Sie macht sich am Wecker zu schaffen, der wegen des gestrigen Stromausfalls eine halbe Stunde nachgeht. »Ich hoffe, er hat Ihnen keine Umstände gemacht.« »Überhaupt nicht«, sagt Rose. Was nicht bedeutet, dass Opal den Jungen jederzeit hier vorbeibringen kann. Diese Idee wird sie gleich im Keim ersticken. »Wie lange dauert es wohl noch, bis sie kommen?« »Schwer zu sagen«, meint Rose. »Aber da Sie nun schon mal hier sind, können Sie auch eine Tasse Kaffee mittrinken.« »Danke.« Opal lässt sich auf den Stuhl plumpsen. »Wollen Sie was frühstücken?« Die Frage ist ihr herausgerutscht, bevor sie es verhindern kann. Was ist bloß in sie gefahren, sich das Chaos selbst ins Haus zu holen? »An kalten Tagen wie heute mache ich gern Pancakes zum Frühstück. War das recht?« »Wunderbar«, sagt Opal. Todd hat gern Pancakes gegessen. Hat sich nicht zu Waffeln überreden lassen, da konnte ich machen, was ich wollte. Rose ist so kurz davor, diesen Gedanken auszusprechen, dass sie die Worte förmlich in ihrem Mund spürt, hart und glatt wie Kiesel -184
auf ihrer Zunge. Sie spürt, wie in ihrem Innern etwas in Bewegung gerät, dunkel und gefährlich, schwarzes Wasser unter Eis. Sie holt die Backmischung hervor, rührt Wasser ein, prüft die Pfanne. Als sie sicher ist, dass sie gefahrlos sprechen kann, dass ihr keine verräterischen Worte über die Lippen kommen werden, sagt sie zu Opal: »In der Kühlschranktür steht Sirup. Die Teller stehen im Schrank über der Spülmaschine.« Sie zerlässt etwas Butter in der Pfanne, gibt Teig für einen Pancake hinein, dann für einen zweiten. Als Todd noch klein war, hat sie aus dem Teig Tiere für ihn geformt. Kaninchen, kleine Kätzchen, Schlangen. Der Kummer will nicht enden. »Rose?« »Mmm?« »Wie haben Sie und Ned sich kennen gelernt?« »Ach je. Es kommt mir vor, als würden wir uns. schon ewig kennen.« »Eine Sandkastenliebe?« »Nein. Es hat angefangen, als ich an der Highschool war. Mal sehen. Ich war sechzehn. Er war ein paar Klassen über mir.« »Woran haben Sie es gemerkt?« »Was?« »Dass er der Richtige war. Dass Sie den Rest Ihres Lebens mit ihm verbringen wollen.« »Ich weiß auch nicht. Ich habe es einfach gespürt.« Roses Gesichtszüge werden weich, als sie an den jungen Ned mit seinem schwarzen Haarschopf, seinem breiten Lächeln denkt. Wie schüchtern er damals war. Als er sie das erste Mal fragte, ob sie mit ihm ausgehen wollte, wagte er es nicht ihr in die Augen zu sehen. Sie erinnert sich noch, wie sie abends nach dem Kino oder dem Schlittschuhlaufen in seinem alten Auto saßen und um sie herum langsam die Scheiben beschlugen. Sie weiß noch, wie sehr sie einander begehrten, Sie konnten gar nicht früh genug heiraten. Aber das ist nichts, was sie Opal -185
erzählen würde. Wenn andere Leute in der Oprah Winfrey Show ihre Privatangelegenheiten in die Welt hinausposaunen wollen, ist das deren Sache. Es gibt Dinge, die man für sich behalten sollte. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragt Opal. »Fünfunddreißig Jahre.« Es war 1955. Eisenhower war Präsident. Hoffnung lag in der Luft. Sie brannten durch, heirateten heimlich, sparten das Geld, das sie für eine Hochzeitsfeier ausgegeben hätten, um ihr erstes Haus anzuzahlen, ein Vierzimmerhaus in der Easton Street. Jim und Nancy Powers waren ihre Trauzeugen, in einem alten Fotoalbum haben sie noch Bilder davon. Rose in einem marineblauen Kostüm, das sie selbst genäht hatte, dazu ein Hut aus dem gleichen Stoff. Rechtslinks-Nähte. Durchgehend gefüttert. Ned im grauen Anzug. Er hatte eine neue Frisur, die am Haaransatz einen weißen Hautstreifen sehen ließ. Dieses schmale Stück blasse Haut weckte die zärtlichsten Gefühle in Rose. Ließ ihr fast das Herz im Leib zerspringen. Aber das alles will sie Opal nicht erzählen. Sie verteilt die Pancakes auf zwei Teller. »Aber woher haben Sie gewusst, dass Sie ... Na ja, dass Sie ihm vertrauen konnten?« Mit konzentrierter Miene beugt sich Opal zu Rose vor. Tyrone, denkt Rose. Sie fragt mich eigentlich nach Tyrone. »Ich habe mich bei ihm sicher gefühlt.« Das ist die schlichte Wahrheit. Damals hatte sie das Gefühl, solange sie zusammen wären, könnte nichts Schlimmes passieren. Wie alt waren sie da noch gleich? Neunzehn und zweiundzwanzig. Woher hätten sie wissen sollen, dass nichts und niemand die Sicherheit eines Menschen garantieren kann? »So hab ich mich mit Billy nie gefühlt.« »Haben Sie ihn deshalb nicht geheiratet?« Das Gute an den Unterhaltungen mit Opal ist, dass man einfach sagen kann, was einem durch den Kopf geht. »Ich habe ihn nicht geliebt.« Du hüpfst also einfach mit einem ins Bett, den du nicht liebst, -186
denkt Rose. So was tun die jungen Le ute heutzutage ja, wie man hört. Wenn Opal nicht aufpasst, ist sie im Handumdrehen wieder schwanger. Und eh sie sich’s versieht, hockt sie in einer dieser Wohnwagensiedlungen. »Ich dachte, ich liebe ihn.« »Aber es hat nicht gestimmt?« »Scheiße, Mann, nee.« Rose presst die Lippen aufeinander. Wohnwagensiedlung, keine Frage. »Also, zuerst wohl schon. Emily – meine Therapeutin –« Rose nickt. Sie weiß von der Therapeutin. »Die hat gemeint, ich hätte einfach Liebe gesucht. Mein Herz wäre voller Sehnsucht gewesen.« Das ist nun etwas, was Rose verstehen kann. Sie kennt die Sehnsucht eines leeren Herzens. »Aber in erster Linie war es körperliche Anziehung.« Rose will kein Wort mehr hören. Sie gießt Sirup auf die beiden Pancakes, schneidet sie in Stücke. »Außerdem hat er mich gelangweilt. Bei Billy gab es keine Überraschungen.« In Roses Ohren klingt das gut. Ein Leben ohne Überraschungen. Wie zum Beispiel die, dass man seinen Sohn eines Tages losziehen lässt und ihn wie immer zurückerwartet, er jedoch nicht mehr wiederkommt. »Und wir haben uns ständig gestritten.« »Worüber?« Sie beißt ab, kaut. »Alles, was man sich vorstellen kann. Die BabyGeschenkparty, zum Beispiel. Sujette – das ist meine beste Freundin wollte eine für mich veranstalten. Meine Mama war dagegen. Sie war der Meinung, eine Baby-Geschenkparty könnte man erst veranstalten, wenn man eine HochzeitsGeschenkparty gefeiert hätte. Das wäre eine feste Regel. Meine Mama hat’s mit Regeln.« Rose verspürt ein gewisses Mitgefühl mit Opals Mutter. Ein -187
Mädchen wie Opal großzuziehen muss eine wahre Prüfung sein. »Billy hat sich natürlich auf ihre Seite gestellt. Außerdem macht er sich ständig darüber lustig, dass ich an Zeichen glaube. Er gibt nichts auf solche Sachen.« Rose leuchtet ein, dass Opal nur mit jemandem verheiratet sein könnte, der an Zeichen glaubt. Aber Billy hat Recht. Es gibt keine Zeichen, die vorhersagen, was geschehen wird. Und vielleicht ist es auch besser so. Mag Opal glauben, was sie will, aber vielleicht ist es wirklich das Beste, nicht zu wissen, was auf einen zukommt. Man meint womöglich, durch das Wissen besser vorbereitet zu sein, aber es gibt ein paar Dinge, auf die man nicht vorbereitet sein kann. Bei denen man allenfalls hoffen kann, dass man sie überstehen wird. Und manchmal will man nicht einmal das. »Und dann ist er wegen Zacks Namen total sauer gewesen. Er wollte ihn William nennen.« Todd hatten sie nach Neds Bruder genannt, der mit drei Jahren gestorben war. Sie hätten ihm einen anderen Namen geben sollen. Rose erkennt jetzt, dass es kein gutes Omen war, ihren Sohn nach einem Jungen zu nennen, der als Kleinkind gestorben ist. Wenn sie Todd anders genannt hätten, wäre er vielleicht noch am Leben. Sie würde gern Opals Meinung dazu hören, sie bitten, Todds Namen in ihrem Buch nachzuschlagen und ihr zu sagen, was er bedeutet. Sie sind gerade mit dem Essen fertig, da klingelt das Telefon. Sie starrt es ungläubig an, kann es nicht fassen, dass er an einem Feiertag anruft, an dem doch auch Ned abnehmen könnte. Sie stellt das Geschirr ins Spülbecken, dreht den Wasserhahn auf, ignoriert das Klingeln. »Soll ich rangehen?«, fragt Opal. Es führt kein Weg daran vorbei. Rose trocknet sich die Hände und nimmt den Hörer ab. Es kriecht ihr heiß den Hals hinauf, ihre Wangen glühen. »Hallo.« Sie bemüht sich um eine feste Stimme. »Hallo Rose«, sagt Anderson Jeffrey. »Frohes neues Jahr.« »Gutes neues Jahr«, antwortet Rose. »Rufe ich zu früh an?« »Nein«, sagt Rose. »Aber ich habe gerade Besuch.« Opal -188
macht eine Geste, die so viel besagt wie AchtenSiegarnichtaufmichtelefonierenSieruhig. Sie schenkt sich eine zweite Tasse Kaffee ein, setzt sich wieder. »Ich muss mit Ihnen reden, Rose.« »Ich rufe zurück«, sagt sie. »Morgen.« »Haben Sie meine Nummer?« »Ja«, sagt sie, obwohl das nicht stimmt. »Ich gebe sie Ihnen sicherheitshalber noch mal.« Sie findet einen Stift, schreibt die Nummer auf. Dieser Mann wird sich nicht abwimmeln lassen. wie ist bloß alles so kompliziert geworden? Warum können die Leute sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie schaut zu Opal hinüber, die Zucker in ihren Kaffee rührt und es sich dann bequem macht. Überleg dir gut, wen du in dein Leben einlässt, sagt sie sich. Überleg es dir gut, denn wen du erst einmal eingelassen hast, den bekommst du nur schwer wieder hinaus.
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KAPITEL 22 OPAL Opal kann nicht stillsitzen. »Ich melde mich«, hat Ty gesagt, als er sie zu Hause absetzte. Also hockt sie jetzt schon den ganzen Tag da, guckt auf die Uhr und wartet darauf, dass das Telefon klingelt. Nicht mal duschen kann sie, denn da würde sie das Telefon nicht hören. Scheiße. Wie zu Highschool-Zeiten. Sie ist hundemüde. Gestern Nacht haben sie, na ja, vielleicht zwei Stunden geschlafen. Insgesamt. Allein die Erinnerung daran bringt ihr Blut in Wallung. Und jetzt lässt er sie so in der Luft hängen. Sie könnte ein Mittagsschläfchen gebrauchen. Und eine Dusche. Und ein Lebenszeichen von Ty, verdammt noch mal. Sie spaziert in die Küche, um nach Zack zu sehen. Seit über einer Stunde malt er schon, und zwar immer das Gleiche. Einen Laster mit einem schwarzen Kasten vorn dran. Einen Schneepflug, so hat er ihr erklärt. Er schaut auf. »Jetzt?«, fragt er. »Können wir jetzt?« Opal wirft einen Blick auf die Uhr. Vier. Es ist noch etwa eine halbe Stunde hell. »Gleich«, sagt sie. »Du hast es mir versprochen«, erinnert er sie. »Ich weiß. Gleich.« Was hat Rose gesagt? Wenn einer der Richtige ist, spürt man das einfach, man fühlt sich sicher bei ihm. Fühlt sie sich bei Ty sicher? Gestern Nacht schon. Einmal war sie kurz weggedöst, und als sie wieder aufwachte, fuhr er ihr gerade mit der Fingerspitze über die Schulter, berührte sie, als könnte sie kaputtgehen oder Flecken bekommen. »Was bist du für eine schöne Frau, Opal Gates«, hat er gesagt. Ungeachtet all ihrer guten Vorsätze und ihrer Abneigung gegen Süßholzgeraspel nisteten sich diese Worte in ihrem Innern ein und verbreiteten eine wohlige Wärme. -190
Billy würde so etwas nicht mal bei vorgehaltener Pistole sagen. Und ihre Mama auch nicht. Melva macht keine Komplimente. Sie ist der Ansicht, dass Lob jeglicher Art einen bloß verdirbt. Warum ruft er nicht an? Sie kann ihn nicht anrufen. Auch wenn ihr Stolz es zuließe sie hat seine Telefonnummer gar nicht. Sie weiß nicht mal, wo er wohnt. Verdammt, eigentlich weiß sie überhaupt nichts von Tyrone Miller. Weiß nicht, ob irgendwo in seiner Vergange nheit – oder Gegenwart – eine feste Freundin herumschwirrt. Bei einem Mann, der so küssen kann, der Melodien spielen kann, die einem Mädchen schier das Herz zerfließen lassen – und alles andere noch dazu –, wäre es kaum verwunderlich, wenn sie nicht das einzige Mädchen in seinem Leben wäre. Die Vorstellung von Ty mit einer anderen Frau macht sie krank. Dummer Hund. Bringt Zack Geschenke mit. Repariert ihren Buick. Als würde er ihr damit einen Riesengefallen tun. Schmiert ihr Honig ums Maul, und dann, nach einer Nacht mit ihr, kriegt er es nicht mal hin anzurufen. Zieht den Schwanz ein. Wobei sie gerade den jetzt gern greifbar hätte. Früher hätte sie in so einem Fall zum Telefon gegriffen und Sujette angerufen, ihr alles bis ins kleinste Detail erzählt, aber sie haben schon seit Wochen nicht mehr miteinander geredet. Beim letzten Mal war es nicht zu überhören, dass Sujette nicht bei der Sache war. Sie hat das College abgeschlossen und arbeitet jetzt als Rechtsanwaltsgehilfin in irgendeiner Kanzlei. Ist mit einem Anwaltsassistenten zusammen. Ihr Leben verläuft in geordneten Bahnen – und weg von Opals Leben. Und selbst wenn sie mit Sujette reden könnte, wenn sie sich mit ihr zusammensetzen und ihr alles über Ty erzählen könnte, weiß sie genau, was sie zu hören bekäme. Sujette würde sie am Schlafittchen packen und sie ordentlich durchschütteln. Wach endlich auf- Hast du denn immer noch nicht dazugelernt? Wen gibt es sonst noch? Tante May. Bei der wäre es noch schlimmer. »Hab ich dich nicht gewarnt, Mädchen? Lass die -191
Finger von den Musikern. Die ziehen die Mädels an wie Marmelade die Wespen. Ein Kribbeln in den Füßen und Kummer, mehr haben die nicht zu bieten.« Nein, sie kann nicht behaupten, dass man sie nicht gewarnt hätte. Sie hätte nicht mit ihm wegfahren sollen. Und schon gar nicht hätte sie mit ihm schlafen sollen. Na ja, der Zug ist abgefahren. »Okay«, sagt sie zu Zack. »Gehen wir.« Sie hat noch nie im Leben einen Schneemann gebaut, aber so schwer kann das ja wohl nicht sein? Kann es sehr wohl, wie sich zeigt. Der Schnee ist trocken, und so fest sie ihn auch zu einem Ball zusammendrückt sobald sie die Hände öffnet, zerstäubt er wieder. »Schnee-Engel«, schlägt sie Zack schließlich vor. »Komm, wir machen ein paar Schnee-Engel.« Bis sie wieder hineingehen, ist es dunkel geworden, und ihnen ist beiden so kalt, dass sie ihre Zehen kaum mehr spüren. »Wie wär’s mit einer Tasse Kakao, Fröschlein?«, fragt sie, während sie Zack aus seinen nassen Kleidern pellt. »Mit Marshmallows?« »Na logo.« Seine Finger sind krebsrot, seine Backen rot mit kleinen weißen Flecken. Erfrierungen? Sie rubbelt ihn mit einem Frotteeruch ab, bis kein weißer Fleck mehr zu sehen ist »Komm«, sagt sie. »Wir machen uns was zu essen.« Sie und Zack kommen wunderbar zurecht. Sie brauchen niemand anders. Sie lässt Zack bis kurz vor zehn aufbleiben – diese Woche hat der Kindergarten zu –, ist froh über seine Gesellschaft. Die Stille zehrt an ihren Nerven. Sparen hin oder her, sie wird einen Kabelanschluss beantragen. An Lesestoff gibt es in diesem Haus bloß eine Handvoll gekürzter Romane, die Auswahlbücher von »Das Beste aus Reader’s Digest«, die im Wohnzimmer auf einem Regal stehen. Durch die arbeitet sich Opal systematisch durch. Bisher gefällt ihr The Snow Goose von Paul Gallico am -192
besten. Als sie es fertig gelesen hatte, fragte sie sich, was wohl herausgekürzt worden war. Irgendwann dieser Tage wird sie in die Stadtbücherei von Normal gehen und sich die ungekürzte Fassung ausleihen. Die ganze Geschichte lesen. Sie steht gerade in der Küche und gießt sich eine Cola ein, als sie draußen einen Pickup vorfahren hört. Natürlich macht ihr Herz diesen komischen kleinen Hüpfer, den es jetzt immer macht, wenn sie an Ty denkt. Sie hat ihren rosa Morgenmantel an. Nach gängiger Meinung nicht gerade die ideale Farbe für einen Rotschopf, aber sie hat ihn von Tante May geschenkt bekommen, als sie zu Zacks Geburt ins Krankenhaus musste, und er steht ihr gut. Sie hört, wie der Motor abgestellt, die Autotür geöffnet wird. Einen Moment lang ist sie versucht, nicht an die Tür zu gehen, so zu tun, als schliefe sie schon. Ihn spüren zu lassen, was es heißt zu warten. Sie schaut zu dem neuen Chiquita-Sticker rüber, den sie auf die Schranktür geklebt hat, denkt an die Bananen, die er Zack mitgebracht hat. Der Aufkleber – ein eindeutiges Zeichen – und die Erinnerung an gestern Nacht ersticken ihre Rebellion im Keim. Es ist schon spät. Nach zehn. Sie fragt sich, ob die Nelsons noch wach sind. Oder die Familie gegenüber. Kommt der mitten in der Nacht hier angefahren – warum hängt er nicht gleich eine öffentliche Bekanntmachung aus. Aber die Leute reden eh, egal, was man macht. Wenn sie während ihrer Schwangerschaft irgendetwas gelernt hat, dann, dass Klatsch ein menschliches Grundbedürfnis ist. Na denn, sollen sie sich doch das Maul zerreißen, sie scheißt auf die Folgen. Später wird sie natürlich lernen, dass die Folgen nie das sind, worauf man sich vorbereitet, was man vorhersagt, dass sie nie so aussehen, wie man sie sich in seinen fantasievollsten Momenten vorstellt, egal, wie viele Zeichen man eindeutig zu erkennen meint. Sie tappt mit ihren nackten Füßen über den kalten Fußboden -193
und hat eben die Haustür erreicht, als sie draußen auf den Stufen seine schweren Schritte hört. Sie reißt die Tür auf, bevor er klopfen kann. »Hey, Raylee«, sagt Billy. Das Lächeln erstirbt ihr auf den Lippen. »Hi, Billy«, sagt sie. Er hat sich fast nicht verändert. Sie braucht einen Moment, um zu erkennen, was anders ist. Seine Haare sind kürzer. Das gefällt ihrer Mama doch bestimmt. »Ich kann es nicht fassen, dass du so dumm warst, dir ein Kind machen zu lassen«, wiederholte ihre Mama in den Tagen nach Opals Eröffnung immer wieder. »Und das von einem Kerl, den sein eigener Frisör nicht auf der Straße erkennen würde.« »Magst du ihn deshalb nicht? Weil er zu lange Haare hat?« »Halt dein freches Mundwerk im Zaum. So redet keiner mit mir.« Opal kann nur raten, was ihre Mama zu Tys Pferdeschwanz sagen würde. Wahrscheinlich brauchte sie Riechsalz. »Was machst du denn hier?«, fragt sie. »Mann, Raylee.« »Opal.« Es ist klar wie dicke Tinte, dass er in letzter Zeit öfter mit Melva zu tun hatte. »Ich fahre einen ganzen Tag und eine halbe Nacht, und das ist alles, was du zu sagen hast? »Was machst du denn hier?‹« Sie zieht ihren Morgenmantel etwas fester um sich. »Willst du mich nicht wenigstens reinlassen?« Sie tritt zurück, schließt die Tür hinter ihm. Er sieht sich um. »Wo ist Zack?« »Der schläft.« Wo soll Zack um diese Tageszeit wohl sein, vielleicht im Kindergarten? Er lässt den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Im Esszimmer ist das Licht aus. Ihre Puppen kann er unmöglich sehen. Er schwenkt die Arme, reibt die Hände aneinander. »Arschkalt«, sagt er. »Wie hältst du das bloß aus?« »Man gewöhnt sich dran. Also, warum bist du gekommen?« Er lächelt, das gleiche Lächeln, mit dem er sich im Klassenzimmer oder im Training immer die Schwierigkeiten -194
vom Hals gehalten hat. Das gleiche Lächeln, mit dem er sie in Schwierigkeiten gebracht hat. Ein Lächeln, so stellt sie erstaunt fest, das ungefähr so viel Eindruck auf sie macht wie ein einzelner Floh auf einen Straßenköter. »Hab mir gedacht, wenn du nicht kommst, dann komm ich halt. Weil du das ja offenbar erwartest.« Als täte er ihr damit einen riesigen Gefallen. »Also, du hast gewonnen. Hier bin ich.« »Ums Gewinnen geht es nicht«, sagt sie. »Worum geht es denn dann, Raylee? Opal. Warum bist du abgehauen? Und erzähl mir keinen Scheiß von wegen Zeichen. Worum geht es, verdammt noch mal?« Ja, worum geht es eigentlich? Um nichts, was Billy verstehen könnte. Es geht um Wahlmöglichkeiten. Darum, dass das Leben mehr zu bieten hat als die Ehe mit einem Mann, der einen mit fünfzehn geschwängert hat. Es geht um das Leben und um den Mut, es selbst in die Hand zu nehmen. »Wenn du dein eigenes Leben versauen willst, ist das deine Sache, aber du musst auch an Zack denken.« Was sie da hört, ist Melvas Stimme. Bla bla bla. »Du hast kein Recht, ihn von mir und seiner Familie fern zu halten.« Und das von dem Mann, der nicht mal wollte, dass sie das Kind überhaupt bekam. »Seit wann bist du denn so scha rf darauf, Vater zu sein?« »Ich dachte, wir könnten das irgendwie regeln.« »Es gibt nichts zu regeln.« »Verdammt noch mal, Opal, natürlich gibt es das. Ich lass mich nicht von einer Frau aufs Abstellgleis schieben. Und schon gar nicht lass ich mir von einer Frau meinen Sohn wegnehmen.« »Und ich lass mir nicht von einem Mann Befehle geben. Geht es vielleicht darum? Um Mannesstolz?« »Du hältst dich wohl für superschlau. Meinst, du wüsstest alle Antworten. Aber da irrst du dich, Opal. Da irrst du dich ganz gewaltig.« -195
»Na und? Selbst wenn, dann geht dich das nichts an.« »Aber Zack geht mich was an. Du kannst nicht einfach verhindern, dass ein Junge seinen Daddy sieht.« »Du bist nicht sein Daddy. Ein Daddy engagiert sich.« Ein Daddy bringt Bananen mit. »Du bist nur ein Fehler, der an Zacks Entstehung beteiligt war.« »Ach ja? Na denn, dieser Fehler kommt morgen wieder. Ich bin zwei Tage lang gefahren, damit ich meinen Sohn sehen kann, und ich werde nicht heimfahren, bevor ich ihn nicht gesehen habe. Das wirst du nicht verhindern, Raylee. Hast du das kapiert? Und wenn du dich auf den Kopf stelltet.« Als er eine halbe Stunde weg ist, klingelt das Telefon. Das übliche Muster. Er ruft an, um weiterzustreiten. »Hör zu –«, setzt sie an. »Opal?« Sie verstummt. »Ist alles okay?«, fragt Ty. »Ja. Super.« »Echt? Du klingst irgendwie komisch.« »Ich hab doch gesagt, alles bestens.« »Mann«, haucht er, »tut das gut, deine Stimme zu hören. Ich war den ganzen Tag richtig daneben. Hab dauernd an dich gedacht. An gestern Nacht.« Du hast aber eine seltsame Art, das zu zeigen, hätte sie fast gesagt, aber dann überlegt sie es sich doch anders. »Und du?« fragt er in die Stille. »Wie war dein Tag?« »Perfekt«, sagt sie. Sie wird einen Teufel tun und ihm erzählen, dass sie fast durchgedreht ist. »Der gelungenste Tag meines ohnehin schon perfekten Lebens.« »Was hast du gemacht?« »Zack ist mit Ned Schneeräumen gefahren. Ich habe mit Rose gefrühstückt. Dann sind wir nach Hause gegangen. Ich habe ein bisschen gearbeitet. Zack hat geschlafen, ein paar Bilder gemalt.« »Klingt gut«, sagt er. Kein Wort darüber, wo er den ganzen -196
Tag gewesen ist, aber sie würde eher ihre Zunge verschlucken, als ihn danach zu fragen. Er wartet. Die Stille ist unbehaglich. »Ist bei dir echt alles in Ordnung?«, fragt er. »Du wirkst irgendwie anders.« Du Arschloch, denkt sie, in Kampfstimmung. Du Süßer, denkt sie, dass du dir Sorgen um mich machst. »Übrigens«, sagt er, »war ich vorhin da.« »Du warst hier?« »Ich wollte zu dir, aber in der Einfahrt stand ein Pickup. Ich hab mir gedacht, du hast wohl Besuch.« »Billy«, sagt sie. »Ah.« »Zacks Daddy.« »Ah«, sagt er wieder, jetzt in sehr förmlichem Ton. »Na, dann will ich dich nicht länger aufhalten.« »Er ist weg.« »Du bist allein?« Sie kuschelt sich in den Sessel, zieht unter dem Morgenmantel die Knie an. »Ja.« »Wolltest du gerade schlafen gehen?« »Mehr oder weniger.« »Wahrscheinlich –« »Was?« »Na ja, wahrscheinlich ist es zu spät, um noch vorbeizukommen, oder?« Sie rennt mit offenen Augen ins Unglück. »Nein«, sagt sie. »Es ist überha upt nicht zu spät. Genau genommen ist es höchste Zeit.«
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KAPITEL 23 ROSE Es ist aussichtslos. Anderson Jeffrey wird so lange anrufen, bis sie nachgibt und mit ihm redet. Und irgendwann ruft er womöglich noch an, wenn Ned zu Hause ist. Das wäre ... Ja, das wäre Scheiße, wie Opal sagen würde. Es schockiert sie, wie schnell ihr dieser Ausdruck in den Sinn kommt. Wie hat sie sich bloß in diesen Schlamassel hineinmanövriert? Sie wählt seine Nummer in der vagen Hoffnung, er möge nicht rangehen, doch er nimmt dir ekt nach dem ersten Klingeln ab, als hätte er neben dem Telefon gestanden und nur auf ihren Anruf gewartet. »Danke, dass Sie anrufen, Rose«, sagt er, als er ihre Stimme hört. »Keine Ursache«, erwidert sie ausgesprochen höflich. »Wir müssen uns unbedingt treffen.« Darauf hat sie keine Antwort. »Ich muss Ihnen etwas erzählen.« Es gibt nichts auf dieser Welt, was sie sich von Anderson Jeffrey erzählen lassen möchte. »Es geht um den Text, den Sie im Kurs geschrieben haben.« Der Text, von dem sie sich wünscht, sie hätte ihn nie geschrieben, diese Eruption von Wut, Verlust- und Schuldgefühlen. Wer hätte gedacht, dass man durch schlichtes Schreiben in solche Schwierigkeiten geraten kann? Und was hat sie überhaupt dazu getrieben, sich das alles von der Seele zu schreiben? Die Erleichterung, die es brachte, vermutlich. Nach all den Jahren, in denen sie niemanden hatte, mit dem sie über Todd hätte reden können. Niemanden, mit dem sie ihre Erinnerungen hätte teilen können. Niemanden, der ihr half, ihn am Leben zu erhalten. »Es ist wichtig«, sagt Anderson Jeffrey. Er schlägt vor, sich irgendwo in Normal zu treffen – das sei -198
doch einfacher für sie –, aber davon will sie nichts wissen. Sie einigen sich auf ein Cafe in der Nähe des College. Zumindest wird sie dort niemandem über den Weg laufen, den sie kennt. Scheiße, denkt sie, nachdem sie aufgelegt hat. Sie probiert das Wort noch einmal laut aus. Nachdem der Schock, es aus ihrem eigenen Munde zu hören, verflogen ist, nimmt sie überrascht wahr, wie gut es sich auf ihrer Zunge anfühlt. Scheiße. Mein Gott, Ned würde tot umfallen, wenn er sie hören könnte. Und wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, würde sie mindestens ein halbes Stück Seife darauf verwenden, ihr den Mund auszuspülen. Rose fährt mit dem Bus zum College. Als sie bezahlen will, trifft sie den Schlitz nicht, so dass die Busmarke auf den Boden fällt und durch den ganzen Wagen rollt. Der Fahrer seufzt ungeduldig. Sie fischt eine andere Marke aus dem Geldbeutel, findet einen Sitzplatz, starrt in die winterliche Landschaft hinaus. Was will er von ihr? Was immer es sein mag, ausgelöst wurde es durch das, was ihr in der zweiten Kurssitzung aus dem Stift floss. Durch ihr »impulsives Schreiben«. Durch all das, was sie über Todd und seinen Tod schrieb. Etwas wurde ausgelöst, und das kann sie jetzt nicht mehr rückgängig machen. Wäre das möglich, dann würde sie als Erstes den Verlauf ihres letzten Treffens mit Andersen Jeffrey ändern. Wenn es mit dem Kuss geendet hätte, wäre das schon peinlich genug gewesen. Sie errötet, als sie daran denkt Die Erinnerung an den Rest ist vage, unwirklich, wie ein Traum. Dieses eigenartige Unterwasser-Gefühl. Manchmal gelingt es Rose, sich glauben zu machen, es sei tatsächlich ein Traum gewesen, es könne gar nicht wirklich passiert sein. Vielleicht ist sie im Begriff, verrückt zu werden. So wie Bernie Feldman, die normal wie eine Feldmaus war, bis sie eines Tages anfing, nahezu alle männlichen Bewohner von Normal zu beschuldigen, sie vergewaltigt zu haben. Was zunächst nur wie ein Ulk wirkte, wurde unschön, als sie begann, -199
Anzeige zu erstatten. Dann behauptete sie, der KGB versuche sie anzuwerben, sie empfange verschlüsselte Botschaften übers Radio. Irgendwann wurde Bernie schließlich zur Elektroschockbehandlung weggebracht. Rose hält das, was zwische n Anderson Jeffrey und ihr geschehen ist, sehr wohl für eine Tatsache. Es kommt ihr bloß so vor, als sei es ein Traum gewesen – wobei ihr das weiß Gott lieber wäre. Nachdem er sie geküsst hatte, wäre sie am liebsten geflüchtet, doch stattdessen schloss sie die Augen und blieb aufrecht auf der hässlichen karierten Couch sitzen. Ihre Beine wollten sich nicht rühren. »Sie brechen mir das Herz, Rose«, sagte er. Wie gelähmt saß sie mit geschlossenen Augen da. während er ihr die Bluse aufknöpfte – eine Bluse, die sie inzwischen mit dem Müll verbrannt hat. Dieser Teil ist auf jeden Fall wahr. Sie weiß, dass sie die Bluse verbrannt hat. Sie hat die Asche gesehen, den Beweis. Würde man so weit gehen, eine Bluse, die noch völlig in Ordnung ist, zu verbrennen, nur weil man sich an einen Traum erinnert? Als er ihren Rock hochschob – im Traum? –, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Ihr alter Baumwollschlüpfer, ihr dicker Bauch, die drei Narben, die wie die faltigen Höhenzüge auf einer Landkarte ihren Unterleib dreiteilten: die Narbe von ihrer Blinddarmoperation mit zwölf, die von ihrem Kaiserschnitt mit dreiunddreißig (nachdem sie die Hoffnung auf ein Kind längst aufgegeben hatte), schließlich die von ihrer Gebärmutterentfernung mit zweiundvierzig. Er strich mit dem Finger über die Narben. Sie wollte ihn abwehren, doch er schob ihre Hand weg. »Lebensnarben«, sagte er. Sie erinnert sich noch an ihre Angst. Vor ihm und davor, dass jemand hereinkam. »Gelebte Narben«, fuhr er fort, »ehrenvolle Narben.« Selbst in ihrer Angst dachte sie, dieser Mann hat doch keine Ahnung. Ihre schlimmste Narbe ist unsichtbar. Wenn Todds Tod eine Narbe hinterlassen hätte, wäre es eine jener wüsten roten, die von der -200
Kehle bis zur Leiste reichen, wie von einer Radikaloperation am offenen Herzen. Langsam streifte er ihren Unterrock wieder herunter, dann ihren Rock. »Danke, Rose«, sagte er. »Danke, dass Sie mich Ihren Schmerz haben sehen lassen. Ihre Narben.« War es ein Traum? Oder wird sie langsam wahnsinnig? Trauer kann so etwas bewirken. Na, jedenfalls muss sie verrückt sein, sich mit ihm zu treffen. Wieder fällt ihr Bernie Feldman ein. Als Nächstes wird sie noch Botschaften auf dem alten Magnavox empfangen. Sie beschließt, einfach umzukehren und wieder nach Hause zu fahren. Und wenn er sie das nächste Mal anruft, wird sie ihm klipp und klar sagen, dass er sie endlich in Ruhe lassen soll. Das hätte sie gleich beim ersten Mal tun sollen. Doch als der Bus am Straßenrand anhält, steht er schon da und erwartet sie, so dass ihr jede Fluchtmöglichkeit verbaut ist. Sie schiebt sich an ihm vorbei, weicht seinem Blick aus, ignoriert seine Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt er. »Was halten Sie von einer Tasse Kaffee? Wäre Ihnen das recht?« Recht wäre es ihr, wenn sie Andersen Jeffrey nie kennen gelernt hätte, doch sie lässt sich von ihm zu einem Café führen. Er wählt einen kleinen runden Tisch direkt an der Fensterfront. Grauer Schnee und überfrorener Schneematsch, von den Schneepflügen zu Haufen zusammengeschoben, säumen Straße und Bürgersteige. Sie beide sind die einzigen Gäste. Er bestellt zwei Cappuccinos – ein Getränk, dessen Name fremd und unfreundlich klingt. »Normalerweise ist hier mehr los«, sagt er. »Es sind Semesterferien.« »Ah«, sagt sie. »Smalltalk ist nicht Ihre Sache, hm?« Er lacht, ein kurzes Wiehern, das ihr unangenehm ist. Scheißunangenehm. Mein Gott, hoffentlich sind das nicht die ersten Anzeichen dieser Krankheit, bei der man die größten Scheußlichkeiten von sich gibt. Sie hat davon gelesen. Irgendein -201
Syndrom. Man trompetet die fürchterlichsten Dinge hinaus. So redet sie doch nicht. Das ist jemand anders. Offenbar hat sich Opal in ihrem Kopf eingenistet. Man kann von dem Mädchen ja halten, was man will, aber man wird eindeutig mutiger, wenn man sie im Kopf sitzen hat. »Was wollen Sie von mir?«, fragt sie. »Warum rufen Sie mich immer wieder an?« Mit einem kurzen, nervösen Lachen sieht er sich um, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Zum ersten Mal denkt sie, dass dieser Mann trotz seiner Position als College-Dozent und seiner sauberen Fingernägel – die, wie Rose jetzt bemerkt, bis zum Nagelbett heruntergekaut sind keineswegs die Selbstsicherheit in Person ist. »Ich unterrichte jetzt seit fünfundzwanzig Jahren Kreatives Schreiben«, sagt er, »und selbst schreibe ich noch länger.« Er ist älter, als er aussieht. Die Bedienung bringt ihre Getränke, kleine Tassen, die von weißem Schaum gekrönt sind. Er bestellt noch Biscotti dazu. Schon wieder etwas Ausländisches. Rose nimmt einen Schluck. Unter dem Schaum schmeckt es bitter. »Noch nie hat mich jemand aus meinem Kurs so angerührt wie Sie, Rose«, sagt er. »Ihre Bereitschaft, sich einzulassen, aus diesem tiefen Schmerz heraus zu schreiben, ohne jede Befangenheit ... Deshalb habe ich damals auch ... na ja, also, ich wollte mich für das, was damals in meinem Arbeitszimmer passiert ist, bei Ihnen entschuldigen.« Was ist eigentlich passiert? Ein Kuss? Oder war da noch etwas anderes? Etwas, von dem sie immer noch hofft, es sei nur in der privaten Welt ihrer Träume geschehen? Sie wird jetzt den Kaffee austrinken und sich dann in den nächsten Bus zurück nach Normal setzen. »Dieser Text, den Sie über Ihren Sohn geschrieben haben«, sagt er, »über Todd. Das ist einer der ausdrucksstärksten Texte über Trauer, den ich je gelesen habe.« Ausdrucksstark? Was soll -202
an Trauer ausdrucksstark sein? Trauer lahmt einem die Zunge, blockiert den Verstand, macht einen stumm. »Ich habe schon vor ein paar Wochen am Telefon versucht, es Ihnen zu erzählen«, sagt er gerade. »Ich habe Ihren Text eingeschickt.« »Eingeschickt?« »An eine Zeitschrift, eine Literaturzeitschrift. The Sun.« Er sagt das, als spräche er von der Bibel. »Ihr Text ist angenommen worden.« Nach seinem strahlenden Lächeln zu urteilen, sollte sie sich darüber freuen. »Jetzt müssen Sie nur noch die Druckerlaubnis erteilen.« »Eine Zeitschrift, die von anderen Leuten gelesen wird?« Er lacht. »Das ist die Idee bei der Sache. Jedes Heft hat ein eigenes Thema. Ihr Text soll in einem Heft zum Thema Trauer erscheinen.« Rose ist zutiefst entsetzt. »Nein«, sagt sie. »Antworten Sie nicht gleich. Denken Sie noch mal darüber nach.« »Nein.« »Wenn Sie den Text erst noch mal lesen wollen – ich habe eine Kopie gemacht, die kann ich Ihnen gern schicken.« Sie braucht keine Kopie. Sie weiß ganz genau, was sie geschrieben hat. Jedes einzelne Wort. »Denken Sie noch mal darüber nach. Bitte versprechen Sie mir das.« Sie erwischt den Bus gerade noch, schiebt ihre Busmarke in den Schlitz, lässt sich auf einen Sitz sinken. Sie könnte ewig mit diesem Bus fahren, durch eine Stadt nach der anderen. Sie kann verstehen, warum Opal die ganze Strecke bis nach Normal hochgefahren ist. Manchmal muss man vor Menschen fliehen, die zu viel von einem wollen. Anderson Jeffrey will, dass sie Fremden erlaubt, ihr ins Herz zu blicken, zu lesen, was sie über Todd geschrieben hat, Dinge, die sie nicht einmal Ned erzählt -203
hat. Ned? Der will, dass sie Todd vergisst, wieder zu sich kommt, mit ihm nach Florida zieht, sich nicht mit Opal Gates abgibt. Und Opal will, dass sie ihre Freundin ist und auf ihren Sohn aufpasst. Merken die denn alle nicht, dass sie mehr von ihr erwarten, als sie geben kann?
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KAPITEL 24 NED Stu Westons Mercury ist drüben in Pellington liegen geblieben, was Ned in seinem Zeitplan deutlich zurückwirft. So wie Stu es beschreibt, klingt es, als wäre die Batterie leer. Wahrscheinlich ist mit einem Starthilfekabel alles erledigt. Wie ein Mann über fünfzig werden, ein eigenes Geschäft fuhren und es immer noch fertig bringen kann, ohne Starthilfekabel durch die Gegend zu fahren, ist Ned ein Rätsel. Derselbe Mann macht dann, um Geld zu sparen, seinen Ölwechsel selber, dreht dabei die Ölablassschraube falsch zu und erwartet, dass Ned alles wieder in Ordnung bringt. Und Ty hat sich natürlich wieder mal den Vormittag freigenommen. Wahrscheinlich ist er bei Opal drüben. Wie brünstige Tiere, die beiden. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als einen Zettel an die Tür zu hängen, die Werkstatt zu schließen und nach Pellington rüberzufahren. Er setzt mit dem Abschleppwagen auf die Straße zurück. Zu dieser Jahreszeit wird er ein halbes Dutzend Mal pro Woche gerufen. Wenn es nicht um eine leere Batterie geht, dann ist jemand in einer Schneewehe stecken geblieben. Ned hat den Winter nie besonders gemocht, aber in letzter Zeit schlägt er ihm wirklich aufs Gemüt. Er lastet auf ihm wie eine Krankheit, zieht ihn runter, macht ihn müde. Ned kann den Frühling kaum erwarten. Das ist auch so etwas, was ihm an Florida gefällt: kein Schnee. Er malt sich ein neues Leben dort unten aus, irgendwo an der Westküste unterhalb des Panhandle, am Golf. Fern vom Winter. Fern von diesem Haus, das von Trauer erfüllt ist. Die Sox haben da unten ein Frühjahrs-Trainingslager. Er könnte sich ab und zu ein Spiel ansehen, jeden Tag angeln gehen, sich vielleicht ein kleines Motorboot kaufen – so ein spritziges, flinkes. Ein Mercury mit zweihundert PS, das wär’s. Er kann dieses Leben geradezu schmecken. Die salzige Luft. Ein -205
kühles Bier. Ein Stück Speerfisch auf dem Grill. Träumen darf man ja wohl, oder? Irgendwann dieser Tage wird er mal Joe Montgomery anrufen. Auf ihrer Weihnachtskarte hat Louise sie beide eingeladen. Warum eigentlich nicht? Er könnte doch einfach die Tickets kaufen, Rose mit einer kleinen Reise in den Sunshine State überraschen. Wenn er die Tickets schon hätte, könnte sie nicht Nein sagen. Für eine Woche würden sie runterfahren. In der Sonne sitzen. Muscheln sammeln. Ein bisschen angeln. Ein paar Mal mit Joe und Louise essen gehen. In eins dieser Shrimps-Restaurants. Das Early-Bird-Special. All you can eat. Und Rose würde den Reiz dieser Gegend kennen lernen. Vielleicht würden sie sich ja sogar ein paar Häuser anschauen. Hoffen darf man doch wohl, oder? Stu besitzt nicht mal den Anstand, verlegen auszusehen, als Ned mit dem Abschleppwagen vorfährt. »Wo fehlt’s denn?« »Heute Morgen lief er noch.« »Ist er gleich angesprungen?« »Na ja, ein bisschen lahm war er schon. Hab’s ein paar Mal probieren müssen, aber dann lief er.« »Ich schau ihn mir mal an.« Ned schiebt sich hinters Lenkrad, dreht den Zündschlüssel im Schloss um. Nichts. Die Batterie ist leer, wie erwartet. »Wie lang hast du ihn schon hier stehen?« »Ein paar Stunden. Drei vielleicht. Ich hab heute Vormittag mehrere Besprechungen gehabt, und als ich rauskam, ist er nicht mehr angesprungen.« Ned wirft einen Blick aufs Armaturenbrett. Genauso wie er es sich gedacht hat. »Du hast das Licht angelassen«, sagt er. Stu brüllt vor Lachen, als wäre das der Witz der Woche. »Was -206
schulde ich dir, damit du Dottie nichts erzählst?«, fragt er. Es dauert keine zehn Minuten, bis der Mercury anspringt und Stu sich auf den Weg macht. Ned verstaut das Starthilfekabel hinter dem Führersitz und fährt los. Kaum Verkehr. Um diese Zeit ist in Pellington fast nichts los, die meisten Studenten sind über die Semesterferien nach Hause gefahren. Es is t längst zwölf vorbei, und er kann sich nicht entscheiden, ob er hier im Cafe eine Kleinigkeit essen oder lieber schnell nach Normal zurückfahren und bei Trudy’s Mittag machen soll. Trudy’s ist verlässlich – wer weiß, was er hier vorgesetzt bekommt –, aber er hat Hunger. Kurz vor dem Cafe fährt er langsamer und wirft einen Blick durch die Fensterfont, um zu sehen, wie voll es ist. Einen kurzen Blick. Und dann noch einen. Unmöglich. Die Frau, die da drin am Tisch sitzt, ist Rose wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich weiß er, dass sie zu Hause ist, aber er würde auf die Bibel schwören, dass sie es ist, die da sitzt. Wenn er wieder zu Hause ist, muss er ihr erzählen, dass sie einen Zwilling hat. Er tritt aufs Gaspedal und ist schon fast am Cafe vorbei, da erkennt er den Mantel. Roses Mantel. Den blauen, den er ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Er wendet und passiert das Cafe noch einmal. Es ist wirklich Rose. Sie sitzt neben einem Mann, der ihm irgendwie bekannt vorkommt. Den er kennt, aber nicht erkennt, weil die Umgebung nicht stimmt. Ein Kunde ist es nicht. Dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Kursleiter. Bevor Rose womöglich noch aus dem Fenster schaut und ihn hineinglotzen sieht, drückt er aufs Gaspedal und rast davon, als wäre er derjenige, der bei etwas Unrechtem ertappt worden ist. Wie ist sie bloß nach Pellington gekommen? Und was macht sie hier? Warum hockt sie mit diesem Dozenten zusammen? Ihm schmerzt der Kopf von all den Fragen. Nachdem er damals im Oktober wegen der Rückerstattung im College war, hat er Rose am nächsten Tag beim Abendessen darauf angesprochen. »Dieser Kursleiter am College«, sagte er, »der ist nicht mehr in -207
der Stadt, hast du erzählt?« Es folgte eine kurze Pause, während der Rose fertig kaute, dann sah sie ihn direkt an. »Ja«, sagte sie. »Er musste für länger weg.« Ihr Blick war unverwandt, arglos. Er hätte schwören mögen, dass sie die Wahrheit sagte. Obwohl er selbst mit dem Mädchen an der Anmeldung gesprochen hatte, obwohl er den Mann mit eigenen Augen hatte unterrichten sehen, war er einen Moment lang unsicher. Warum?, fragte sie. Nur so, meinte er. Er überlegte, ob er nachbohren sollte. Hatte sie auch früher schon solche Lügen erzählt? Er hätte das nie für möglich gehalten. Doch nicht seine Rose. Aber wie konnte er es wissen? Er ließ das Thema fallen. Nichts ist mehr gewiss. Alles, woran er geglaubt, worauf er sich verlassen hat, steht plötzlich in Frage. Am liebsten würde er kehrtmachen, ins Cafe hineinmarschieren und Rose zur Rede stellen, sie fragen, was eigentlich los ist. Aber das geht natürlich nicht. Er fährt direkt zur Werkstatt zurück. Der Appetit ist ihm vergangen. Er notiert in seinem Auftragsbuch, dass er Stu noch eine Rechnung schreiben muss, dann nimmt er sich ein defektes Betriebe vor. Er verdrängt bewusst jeden Gedanken an Rose. Aber er ist nicht bei der Sache. Zweimal muss er mit dem Schmieren von vom anfangen. Er macht die Werkstatt vorzeitig zu. Sitzt draußen in der Führerkabine seines Pickups. Er will noch nicht heimfahren, will Rose noch nicht sehen. Schließlich lässt er den Motor an. Wenige Minuten später hält er vor Trudy’s. Sie schließt gerade ab. »Ich wollte eben zumachen«, sagt sie. Er nickt und will wieder zu seinem Wagen zurückgehen. »Ach, was soll’s«, sagt sie. »Komm rein. Ich habe noch eine halbe Kanne Kaffee übrig. Wäre doch schade, den verkommen zu lassen.« Drinnen ist es still. Trudy schlüpft hinter die Theke. Sie trägt -208
Jeans, wie immer. Rose hat mal behauptet, Trudy würde sogar zur Amtseinführung des Präsidenten in Jeans erscheinen. »Möchtest du irgendwas dazu?«, fragt sie, während sie ihm den Kaffee eingießt. Er hat Kopfschmerzen – schließlich hat er nicht zu Mittag gegessen –, aber er möchte ihr keine Umstände machen. Unter der Plastikhaube liegt noch ein gezuckerter Donut. »Ich nehm den«, sagt er. Sie legt den Donut auf einen Teller. »Wenn du dich da drüben in die Sitznische setzt, wo ich die Beine hochlegen kann, leiste ich dir Gesellschaft.« Er trägt die beiden Becher rüber, schiebt sich auf die Bank. Sie lässt sich mit einem Seufzer nieder. »Wir werden auch nicht jünger«, sagt sie. Ihm fällt auf, wie müde sie aussieht. Sie macht morgens um fünf auf. Ist den ganzen Tag auf den Beinen. »Nicht dass ich das wollte«, fügt sie hinzu. »Was?« »Jünger werden.« »Wirklich nicht?« »Um Gottes willen, nein. Einmal genügt vollauf. Und du? Würdest du dein Leben gern um zwanzig Jahre zurückdrehen? Es noch einmal leben?« Wenn es anders verlaufen würde, will er sagen. Wenn Todd nicht sterben würde. Wenn Rose nicht zu einer Fremden würde. Am liebsten möchte er Trudy erzählen, dass er Rose in Pellington gesehen hat, dass sie ihn wegen dieses Kurses angelogen hat, doch wenn er es Trudy erzählt, kann er auch gleich eine Anzeige im Banner aufgeben. »Sein Leben noch einmal leben zu wollen bedeutet, dass man etwas bedauert. Aber ich bedaure nichts. Nur das mit Jim.« »Sonst nichts?« Er denkt an den Ruf, den sie an der Highschool hatte, daran, dass sie nie woanders als hier gearbeitet hat, nie die Chance hatte, sich für ein anderes Leben -209
zu entscheiden. »Ach«, sagt sie, »ich glaube, wenn wir unser Leben noch einmal leben könnten, würden wir wieder genau die gleichen Entscheidungen treffen. Die gleichen Fehler machen. Ich glaube nicht, dass wir klüger wären.« Stimmt das? Ist alles vorbestimmt? Oder könnte man doch einen anderen Weg gehen, jemand anders heiraten? Was wäre passiert, wenn er statt Rose jemand anders geheiratet hätte? Jemanden wie Trudy? »Weißt du«, sagt sie, »ich habe Rose immer ein bisschen beneidet.« »Rose?« »Aber ich glaube, wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte, wäre ich trotzdem nicht clever genug, mich mit einem soliden Mann zusammenzutun. Einem guten Mann. So einem wie dir.« Ned ist sprachlos.
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FRÜHLING
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KAPITEL 23 OPAL Opal macht die Küchentür auf. Nur ein Toter würde den Frühling nicht riechen. Aber vielleicht riechen ihn ja selbst die Toten in ihren Erdbetten. Am hinteren Ende des Grundstücks springt ein graues Eichhörnchen herum, segelt – alle viere von sich gestreckt – durch die Luft wie ein Kinderspielzeug. Sie schaut zu dem ovalen Beet hinüber, das Ty angelegt hat. Er behauptet, März wäre für die meisten Pflanzen zu früh. Vor Ende Mai könne man nicht mit dem letzten Frost rechnen. April sei daher allemal früh genug. Geduld gehört nicht zu Opals emotionaler Grundausstattung. Sie greift nach einem der Tütchen auf der Arbeitsplatte. Zuckererbsen. Die hätte sie schon allein wegen des Namens gekauft. So dunkle Erde wie hier in New England hat sie noch nie gesehen, dunkel wie starker Kaffee. Völlig anders als die rostrote Erde in New Zion. Es sieht aus, als würden die Pflanzen über Nacht daraus emporschießen. Ty hat von einem Bauern eine halbe Ladung Mist organisiert, den Opal gestern untergegraben hat. Obwohl er getrocknet ist, riecht man ihn noch aus zehn Metern Entfernung – ein erstaunlich angenehmer Geruch, dafür, dass es Scheiße ist. Sie liest die Anweisungen auf der Rückseite des Tütchens. Sätiefe: Zwei bis vier Zentimeter. Samenabstand: Zwei bis vier Zentimeter. Reihenabstand: 45 Zentimeter. Keimzeit: Sieben Tage. Ernte nach 55 Tagen. Klingt unproblematisch. Mit einem Stock zieht sie eine Furche in die Erde, dann reißt sie das Tütchen auf und kippt die Erbsen auf ihre Handfläche Sie sehen aus wie geschrumpfte Kiesel. Wie bleiche, verhutzelte alte Männer. Erstaunlich, dass etwas, das so tot aussieht neues Leben in sich trägt. Man könnte fast gläubig werden. Fast. Sie legt die einzelnen Erbsen in die Furche, misst mit der Hand den Abstand dazwischen ab. Wie genau man da wohl sein muss? Sie -212
bedeckt die Erbsen der Reihe nach mit Erde und drückt diese dann mit den Fingern fest, so als brächte sie die Erbsen zu Bett. Wie hat sie bis heute leben können, ohne etwas zu säen oder zu pflanzen? Ihre Mama interessiert sich nicht fürs Gärtnern, außer wenn es um Rosen geht – eine Blume, die na ch Opals Ansicht völlig überschätzt wird. Melva macht sich nicht gern die Finger schmutzig, bangt immer um ihre manikürten Hände. Nach dem Säen gießen, liest sie. In der Küche findet sie einen Krug. Sie muss dreimal gehen, bis sie die ganze Reihe gegossen hat. Einen Gartenschlauch sollte sie besorgen. Und einen Gartenstuhl – einen von diesen Holzstühlen, deren Armlehnen breit genug sind, um ein Glas Limo darauf abzustellen. »Hi.« Ty streckt ihr eine Tüte entgegen. »Schon zu Mittag gegessen?« Opal strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Sie braucht sich gar nichts vorzumachen. Ein Blick von ihm genügt, um ihre Hormone in Aufruhr zu bringen. Aber wie. Da ist kein Halten mehr. »Ich hab deinen Jeep gar nicht gehört.« »Ich bin auch nicht mit dem Jeep da. Vor dir steht ein Biker.« »Hab auch kein Motorrad gehört.« »Ein Mountainbiker«, sagt er und deutet zur Einfahrt rüber, wo ein ramponiertes Fahrrad wie betrunken auf seinem Ständer lehnt. »Du fährst Rad?« Bei der Vorstellung, wie Ty durch Normal radelt, muss sie kichern. »Was ist denn daran so witzig?«, fragt er mit gespielter Empörung, woraufhin sie noch mehr lachen muss. Er fasst sie um die Taille, rollt mit ihr auf dem Boden herum, kitzelt sie, bis sie kreischt. »Du findest das also witzig?« Er hält sie unter sich fest. »Nein«, bringt sie, immer noch lachend, heraus. Er sitzt mit gespreizten Beinen auf ihren Hüften, fixiert ihre Handgelenke auf dem Boden. -213
»Du findest hier also irgendwas witzig?«, sagt er wieder, diesmal mit einer rauchigen, tiefen Stimme. »Nein«, flüstert sie. Die Sonne steht über seiner Schulter, und sie schließt die Augen vor dem gleißenden Licht, vor Tys leuchtenden Augen. Sein Atem streift ihr Gesicht. Ihre Beine öffnen sich unter seinem Gewicht. »Ich finde gar nichts witzig.« Und jetzt, Gott sei ihr gnädig, drehen ihre Hormone endgültig durch. »Was ist das Mutigste, was du je getan hast?«, fragt Ty sie. Sie liebt das – hinterher in seinen Armen zu liegen, jeder Muskel gelockert, jede Sorge gebannt. Befriedigt bis in die letzte Faser. Pille palle aus gepowert. Dazuliegen und ziellos zu plaudern, einfach zu sagen, was einem gerade so einfällt. »Das Mutigste?« »Mhm.« »Ich weiß nicht.« Zack auf die Welt zu bringen? Sie denkt daran, was für eine Angst sie zum Schluss hatte, als ihr Bauch dick und hart war und sie wusste, dass sie in wenigen Wochen ein Kind bekommen würde, ein echtes Kind von mehr als sieben Pfund, ein Kind, das sie durch dieses winzige Loch zwischen ihren Beinen würde pressen müssen – wie winzig es war, wusste sie, weil sie den Fehler gemacht hatte, seine Größe erst mit dem Finger, dann mit Hilfe des Handspiegels nachzuprüfen –, weiß noch, dass sie damals an die Schmerzen, die vor ihr lagen, nicht einmal denken wollte. Doch an diesem Punkt hätte sie ja wohl kaum mehr umdrehen und es sich anders überlegen können, wie konnte das also ein Beispiel für Mut sein? Um wirklich mutig zu sein, muss man die Wahl haben. Man muss sich bewusst entschließen, das zu tun, wovor man Angst hat. »Ich bin mal in einem See geschwommen, wo ganz in der Nähe ein paar Mokassinschlangen im Wasser waren«, sagt sie und weiß zugleich, dass auch das eigentlich nicht zählt. Sie war damals acht und hatte schlichtweg nicht genug Verstand im Kopf, um Angst zu haben. »Und du? Was ist das Mutigste, was du je -214
gemacht hast?« »Das ist leicht«, sagt er. Er greift in die Tüte auf dem Nachttisch, holt einen Kartoffelchip heraus, steckt ihn ihr in den Mund und leckt ihr dann das Salz von den Lippen. Sie genießt es, wie er im Bett isst – als wäre es eine Party. »Mensch, Raylee«, hat Billy immer gesagt, wenn sie ein Sandwich mit ins Bett nahm. »Du krümelst alles voll.« Das Einzige, woran Billy im Bett knabbern wollte, war sie. »Na sag schon.« »Das Mutigste, was ich je gemacht habe, war, wiederzukommen, obwohl du so kühl zu mir warst.« »War ich überhaupt nicht.« »Und ob.« Er steckt ihr einen weiteren Kartoffelchip in den Mund. »Du warst eisig. Richtig fies warst du, meine Liebe.« »Gar nicht«, sagt sie vergnügt. Jetzt verteilt er mit dem Finger etwas Salz auf ihrer linken Brust und leckt es wieder weg. Sie spürt, dass sie feucht wird. Schon wieder. Stimmt bei ihr irgendwas nicht? Ist sie eine Nymphomanin? In New Zion ist das so ungefähr das Schlimmste, was man sein kann. Die meisten der Mädchen dort würden eher Lauge trinken, als zuzugeben, dass ihnen Sex Spaß macht. Für Opal ist Sex wie eine Droge – so als wäre sie zum Vögeln geboren, was Billy so nervös machte, dass er verkündete, es sei nicht normal, wenn ein Mädchen so sexbegeistert sei, Ty scheint damit keine Probleme zu haben. Aber wie kann man Liebe von Lust unterscheiden? Lust kann einem ja eine Menge Ärger einhandeln, aber die Liebe kann einen voll in die Scheiße reinreiten. Wenn man nicht aufpasst, ist man in Nullkommanichts verheiratet, ein Zustand, den Opal nicht gerade anstrebt. Man muss sich das mal vorstellen. Wenn sie Billy geheiratet hätte, dann hätte sie bereits eine Karriere als Ehefrau, Mutter und Geschiedene hinter sich! Im Winter hat Melva ihr erzählt, dass Suzanne und Jitter sich scheiden ließen. Na so was. Wer hätte das gedacht. Es war doch -215
vom ersten Tag an klar wie dicke Tinte, dass die beiden nicht das Traumpaar waren. Jitter heiratete Suzanne bloß, weil sie schwanger war, und die wiederum war bloß schwanger geworden, um ihrer durchgeknallten Familie zu entkommen. Da heiratet man eben irgendeinen einigermaßen verträglichen Typen. Man kann auch ein Zeichen setzen, ohne sich gleich die Kehle durchzuschneiden. Nein, nichts, was Opal in dieser Richtung bisher gesehen hat, weckt auch nur das geringste Verlangen in ihr ja zu sagen. Sie denkt gar nicht daran zu heiraten, solange sie nicht absolut sicher ist, dass sie den richtigen Mann gefunden hat. »Ich liebe dich, Opal.« »Mmmmm.« Sie kuschelt sich näher an ihn. Bevor sie diesen Satz noch einmal sagt, will sie ganz sicher sein. Da muss sie schon ein Zeichen sehen, das größer ist als eine Reklametafel, ehe sie diesen Sprung wagt. Er nimmt den Arm von ihrem Bauch, schaut auf die Uhr. »Wie spät ist es?« »Eins. Wann holst du Zack ab?« »Um halb drei.« »Soll ich ihn abholen?« »Was? Arbeitest du nicht mehr?« Er streichelt ihre – wenn sie diesem Süßholzraspler trauen darf – perfekte Brust. »Hab mir ein paar Tage freigenommen.« Sie wartet. »Ich fahr nach Cambridge runter.« Er wechselt zu ihrer anderen Brust über. »In einem der Kaffeehäuser dort gibt’s eine Offene Bühne. Ant kennt ein paar von den Leuten. Vielleicht können wir eine Aufnahme machen.« »Ach so«, sagt sie und rückt ein winziges Stückchen von ihm weg. Musiker kommen mit einem Kribbeln in den Füßen zur Welt. Er zieht sie wieder an sich. »Fahr doch mit.« »Geht nicht«, sagt sie. -216
»Zack könnte auch mitkommen«, sagt er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er muss in den Kindergarten.« »Ach, vergiss doch den Kindergarten. Geh mit ihm ins Naturwissenschaftliche Museum, ins Aquarium.« »Das geht nicht.« Außerdem ist da noch ihre Arbeit. Seit Weihnachten arbeitet sie nur noch zwei Tage die Woche, und sich diese zwei Tage freizunehmen, das kann sie sich nicht leisten. Ty schwimmt auch nicht gerade im Geld. »Hast du keine Lust?« »Doch.« »Dann komm doch mit. Es ist ganz einfach.« Nichts ist je so einfach, wie es aussieht. Ihre Unterhaltung wird von der Türklingel unterbrochen. Sie kann sich nicht vorstellen, wer bei ihr klingeln könnte. Rose? Sie steht auf, zieht ihre Shorts an, streift Tys Hemd über. Auf dem Weg die Treppe hinunter kommt ihr der Gedanke, dass es wieder Billy sein könnte. Würde er es wagen, sich noch mal hier blicken zu lassen? Bis auf die Schecks, die er seit Februar schickt, haben sie keinen Kontakt. Sie linst aus dem Fenster, um zu sehen, ob ein schwarzer Pickup vor der Tür steht. Was sie sieht, ist ein Streifenwagen, der am Straßenrand parkt. »Opal Gates?«, fragt der Beamte. »Ja.« Ihre Zunge fühlt sich an wie Watte. Er hält ihr einen Umschlag hin. »Ich habe Ihnen das hier zu übergeben«, sagt er. »Bitte.« Er drückt ihr den Umschlag in die Hand. »Was ist das?« »Eine gerichtliche Verfügung.« Er schaut auf das Blatt, das er in der Hand hat, und rasselt irgendwas von einer Ladung und einem Antrag herunter. Worte umschwirren sie, ohne sie wirklich zu erreichen. Familiensachen. Ordnungsgemäße Zustellung. »Würden Sie -217
bitte hier unterschreiben«, sagt er. Sie erstarrt. Sie hat nicht die Absicht, irgendetwas zu unterschreiben. »Hier unten«, sagt er und schiebt ihr einen Stift zwischen die steifen Finger. »Zur Bestätigung, dass Sie die Papiere erhalten haben.« »Ich verstehe überhaupt nichts.« »Schauen Sie her«, sagt er nicht unfreundlich. »Diese Papiere sind beim Bezirksgericht eingereicht worden, und ich stelle Ihnen hiermit die Abschriften zu. Es wird eine Anhörung geben. Sie haben vom heutigen Tag an zwanzig Tage Zeit, um eine Erwiderung bei Gericht einzureichen.« »Bei Gericht?« Er blättert in seinen Unterlagen. »Die Anhörung ist auf den 28. März angesetzt.« Opal versteht nur Bahnhof. »Haben Sie einen Anwalt?« »Einen Anwalt«, spricht sie nach. In ihrem Kopf schreit es. Einen Anwalt, einen Anwalt. »Ich würde Ihnen raten, sich einen zu besorgen. Für die Anhörung werden Sie einen brauchen.« Seine Stimme klingt hohl, so als hörte sie ihn unter Wasser. »Anhörung?« »Im Bezirksgericht. Wegen des Sorgerechts.« Sorgerecht. Das Wort durchzuckt Opal wie ein Schlangenbiss. Als sie fünf war, ist sie mal bei einem Sommerausflug in Virginia Beach von einer Welle umgerissen worden. Bevor sie aufstehen konnte, toste eine zweite Welle heran und schleuderte sie in die Brandung. Sie war nicht ernsthaft in Gefahr. Ihr Daddy war innerhalb von Sekunden bei ihr und hob sie auf, doch in dem kurzen Moment, bevor er kam, spürte sie, wie ihr Schreck in panische Angst umschlug. Genauso fühlt sie sich jetzt. Eisiges, ungläubiges Erschrecken, gefolgt von schierer, heißer Angst. »Verschwinden Sie!«, schreit sie. »Hauen Sie ab, Sie Wichser!« -218
»Opal«, ruft Ty von drinnen. »Stimmt was nicht?« »Es hat überhaupt keinen Sinn, sich so aufzuregen, Miss Gates«, sagt der Polizist. Er stellt nicht zum ersten Mal solche Papiere zu. »Ich tue nur meine Arbeit. Sobald Sie unterschrieben haben, gehe ich.« Opals Hand zittert, als sie ihren Namen schreibt. »Was ist denn los?« Ty steht neben ihr. »Das hab ich Billy zu verdanken. Dieses Arschloch lässt mir Gerichtspapiere zustellen. Gerichtspapiere.« Sie öffnet den Umschlag, doch die Buchstaben verschwimmen vor ihren Augen. »Er will mir Zack wegnehmen.« »Bist du sicher?« »Das hat der Bulle gesagt. Sorgerecht, hat er gesagt. Außerdem hab ich den ganzen Scheiß ja schließlich in der Hand, oder. Herrgott.« Sie kriegt einen richtigen Wutanfall. »Na, soll er doch sehen, was ich mit seinen dämlichen Unterlagen mache.« Sie zerreißt das erste Blatt. »Hey. Mach mal langsam.« »Mach selber langsam. Was geht dich das überhaupt an? Dir kann das alles doch egal sein.« »Ist es aber nicht.« »Und warum nicht? Zack bedeutet dir doch überhaupt nichts.« »Das stimmt nicht, Opal. Du weißt genau, was ich für Zack empfinde.« »Aber er ist nicht dein Sohn. Er ist mein Sohn. Er gehört zu mir, und niemand, schon gar nicht dieser Loser Billy Steele, wird ihn mir wegnehmen.« Er kniet sich hin und hebt die Blätter auf. »Beruhige dich.« »Verschwinde«, sagt sie. »Was?« »Verschwinde. Hau ab. Raus hier!« »Ich soll gehen?« »Ja.« -219
»Das machst du immer, weißt du das?« »Was?« »Du machst mich zu deinem Feind. Immer wenn du Angst hast, machst du mich zu deinem Feind. Aber das bin ich nicht. Ich liebe dich, Opal.« »Hau ab.« »Wirklich?« »Ja.« Er schaut sie traurig an, dann beugt er sich zu ihr herunter und küsst sie. Doch sie lenkt nicht ein. »Ich ruf dich später an«, sagt er. »Und du weißt, dass ich da bin, ja? Wenn du mich brauchst, ruf einfach an. Ich bin da.« Was eine verdammte Lüge ist. Er wird nicht da sein. Er wird in Cambridge sein und seine verdammte Aufnahme machen. Später, als sie Zack ins Bett gebracht hat, ruft er an. »Wie geht’s dir?«, fragt er. Wie soll es ihr wohl gehen, Mann! »Ich hab eine Adresse für dich. Eine Anwältin. Du wirst eine brauchen, und die hier ist gut.« Eine Anwältin. Geld. Scheiße. »Sie ist in Springfield. Arbeitet allein. Außerdem ist sie die Günstigste weit und breit.« Klasse. Wahrscheinlich kriegt sie demnächst die Zulassung entzogen. Er nennt ihr Namen und Tele fonnummer der Anwältin und sagt ihr, dass er sie liebt. Sagen kann man viel, denkt sie. Nachdem sie aufgelegt hat, zieht sie die Unterlagen hervor. Auf der ersten Seite steht, dass Billy die Vaterschaftsanerkennung beantragt. Das kapiert sie nicht. Sie hat nie bestritten, dass Billy Zacks Daddy ist. Es steht doch sogar auf der Geburtsurkunde, verdammt noch mal. Jeder weiß, dass er der Vater ist. Warum geht er vor Gericht, um etwas zu beweisen, was sowieso jeder weiß? Was ist in ihn gefahren? Sie liest weiter. Die zweite Seite ist ein Antrag auf gerichtliche -220
Bestellung eines amtlichen Vertreters für das Kind – einer Person, so liest sie, deren Aufgabe darin besteht, die Familiensituation zu begutachten und alle sorgerechtsrelevanten Belange zu untersuchen. Sorgerechtsrelevant. Das kann er nicht bringen, sagt sie sich. Billy wird Zack nicht kriegen, niemals. Kein Richter wird ein Kind seiner Mutter wegnehmen und es stattdessen einem Mann geben, mit dem sie nicht mal verheiratet ist, einem Mann, der das Kind überhaupt nicht haben wollte. Oder?
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KAPITEL 26 ROSE Opal ist draußen und arbeitet in ihrem Garten – nicht dass man dieses mickrige Beet wirklich einen Garten nennen könnte. Ihr magerer Körper ist in ein Männerhemd gehüllt, eins von Tyrone wahrscheinlich. Die beiden stecken ständig zusammen. Wahrscheinlich wird das Mädchen ihn demnächst fragen, ob er nicht einziehen will. Der traut Rose wirklich alles zu. Sie zieht das Rollo herunter und geht wieder in die Küche. Heute ist es so weit. Sie kann es nicht mehr lä nger hinauszögern. So gern sie das Muttermal ignorieren würde, keine von all den Salben, die sie mittlerweile gekauft hat, hat ihr wirklich Erleichterung verschafft. Sie muss zu einem Arzt. Doc Blessing kommt nicht in Frage. Er würde sich verpflichtet fühlen, Ned Bescheid zu sagen. Sie holt das Telefonbuch, schlägt das Branchenverzeichnis auf. Meine Güte, gibt es viele Ärzte. Sechs Seiten, das ist ja kaum zu glauben. Sie lässt den Finger über der Seite kreisen und tippt dann aufs Geratewohl auf einen Namen. Dr. Alan Magneson. Und klein gedruckt dahinter: Arzt für Allgemeinmedizin. Das klingt gut. Springfield ist weit genug weg, da dürfte sie niemandem begegnen, den sie kennt. Sie notiert sich die Nummer. Nach dem Mittagessen wird sie anrufen. Sie ist gerade dabei, die Eier für den Salat klein zu schneiden, als sie aus dem Nachbargarten Geschrei hört. Als sie ans Fenster geht, fällt ihr fast die Schüssel aus der Hand. Da sind sie, die beiden – seit sie das letzte Mal hinausgeschaut hat, ist Tyrone aufgetaucht –, und wälzen sich im Gras. Tyrone sitzt auf Opal, für jeden sichtbar, den es interessiert. Und jetzt küssen sie sich. Warum treiben sie es nicht gleich vor aller Augen miteinander? Wie Hunde bei der Paarung, die zwei. -222
Sie kehrt zu ihren Eiern zurück, stellt jedoch fest, dass sie keinen Appetit mehr hat. Sie verstaut den Salat im Kühlschrank, gießt sich ein Glas geeisten Kaffee ein. Schließlich wählt sie die Nummer des Arztes in Springfield. »Praxis Dr. Magneson«, sagt eine Stimme. »Ich hätte gern einen Termin, bitte.« »Sind Sie Patientin bei uns?« »Nein.« »Haben Sie eine Überweisung?« Die Frage bringt sie völlig aus dem Konzept. »Nein«; sagt sie endlich. »Tut mir Leid, Miss ...« »Mrs. Nelson.« »Tut mir Leid, Mrs. Nelson. Dr. Magneson nimmt zurzeit keine ne uen Patienten an. Ohne Überweisung können wir Ihnen leider keinen Termin geben.« »Ah.« Rose macht sich nicht die Mühe, sich zu verabschieden. Eine Überweisung? Das wird ja komplizierter, als sie dachte. Am Ende der Arzt-Einträge steht: Siehe auch Gesundheitszentren. Sie blättert vor und entdeckt dabei eine Anzeige für einen »Gesundheitsservice«, was nicht sehr medizinisch klingt. Frauengesundheitsdienst Springfield, lautet ein anderer Eintrag. Service. Kontakte. Sind das nun Ärzte oder Mechaniker. Sie wählt die Service-Nummer. »Frauengesundheitsdienst Springfield«, leiert eine gelangweilte Stimme. »Gesundheitsbetreuung für Frauen.« »Ja. Ich hätte gern einen Termin, bitte.« »Gynäkologie?« »Wie?« »Wollen Sie zu einem Gynäkologen?« -223
»Nein, zu einem ganz normalen Arzt.« Sie hat keine Lust, gegenüber einer Unbekannten ins Detail zu gehen. »Ist es dringend?« Dringend? Wohl eher nicht. Sie bekommt einen Termin in drei Wochen. Als sie das nächste Mal aus dem Fenster schaut, sind Tyrone und Opal hineingegangen. Sie ist dankbar dafür. Es ist zwei Uhr nachts. Rose sitzt in Neds Liegesessel und starrt auf den Fernseher. Bei dem vielen Geld, das diesen Leuten zur Verfügung steht, sollten sie doch eigentlich etwas Besseres auf die Beine stellen als diesen Mist, der ständig läuft. Sie drückt auf die Fernbedienung und sieht eine muskulöse Blondine in Badeanzug und Joggingschuhen ein Podest hoch und runter springen. Ihr Pferdeschwanz wippt mit jedem Hüpfer hin und her. Ihr Lächeln zeigt zwei Zahnreihen von so strahlendem Weiß, dass sie richtig unecht aussehen. Hinter ihr springen zwei Männer und zwei Frauen ebenfalls Podeste hoch und runter und klatschen dabei in die Hände, wahrscheinlich im Takt zu irgendeiner Musik, was Rose allerdings nicht beschwören könnte, da sie den Ton abgedreht hat. Sie hat kein Interesse daran, dass Ned aufwacht. Sie zappt zu einem anderen Programm. Noch eine Blondine diese führt einen Kamm vor, mit dessen Hilfe man sein Haar voller erscheinen lassen kann. Eine Zahl wird eingeblendet. Es ist möglich, per Kreditkarte zu bezahlen. 19.99 $. Für einen Kamm! Zap. Eine Schauspielerin, die ihr vage bekannt vorkommt blickt Rose an. Sie lächelt und entblößt dabei ein unglaublich weißes Gebiss. An solchen Frauen verdienen sich die Zahnärzte dumm und dämlich. »Vorher«- und »Nachher«-Bilder anderer Frauen flimmern über den Bildschirm. Die Schauspielerin wirbt für eine Kosmetik-Produktserie. Rose schaltet den Ton ein. Das -224
ganze Set – Grundierung, Rouge, Lippen- und Konturenstift, zwei Sorten Lidschatten, Eyeliner, Wimperntusche und so genannte Abdeckcreme kostet 119 $. Das muss man sich mal vorstellen. Sie stellt den Ton wieder ab. Zap. Ein Mann präsentiert Haarpflegemittel für Männer. Zap. Noch ein halb nackter Körper. Ein Mann mit übertrieben auftrainierten Muskeln, an denen die Venen hervortreten, spricht in die Kamera, während neben ihm ein mehr oder weniger unbekleidetes blondes Mädchen ein Gerät vorführt, mit dem man, sofern Rose die Gesten richtig interpretiert, seinen Bauch straffen kann. Ihr eigener Bauch ist nicht mehr zu retten: weich, teigig, vernarbt. Mit einem Muttermal, an dem irgendwas nicht stimmt, aber wahrscheinlich ist es nichts Schlimmes. Wahrscheinlich. Und wenn es doch etwas Schlimmes ist? Krebs. Da haben wir’s, denkt sie. Das große K. »Krebs«, sagt sie laut zu der Blondine, die gerade eine scheinbar unbegrenzte Anzahl von Situps absolviert. An ihrem Bauch kann man richtig die Muskeln sehen. Ein Bauch ohne Muttermale. Die Frau strotzt vor Gesundheit. Zap. Und wenn es nun Krebs ist? Sie zwingt sich, das Wort noch einmal auszusprechen. Ob sie sich irgendeiner Behandlung unterziehen muss? Einer Chemotherapie? Wo man mit Gift voll gepumpt wird und seine Haare verliert? Wird sie Ned davon erzählen? Nun, mit der Frage wird sie sich befassen, wenn es so weit ist. Sie drückt wieder auf die Programmtaste. Ein alter Schwarzweißfilm nimmt den Bildschirm ein. Soweit sie weiß, gab es auf ihrer Seite der Familie bisher keinen Krebs. Sie dachte immer, sie müsste mit dem Herz aufpassen. Ihr Vater mit sechzig. Ihre Mutter mit achtundfünfzig. Bügelt im einen Moment noch die Tischdecke für Thanksgiving – die große aus Damast –, und im nächsten Moment bricht sie zusammen. Tot, -225
bevor der Notdienst auch nur eingetroffen war. Frauengesundheitsdienst. Der Name behagt ihr nicht. Wahrscheinlich eine Einrichtung für Sozialhilfeempfänger. Für Schwarze. Ein grässlicher Gedanke durchzuckt sie. Hoffentlich ist sie nicht an eine von diesen Abtreibungskliniken geraten. Die Szene auf dem Bildschirm ist so dunkel, dass Rose die Augen zusammenkneift. Sie starrt auf den Schauspieler. Den konnte sie noch nie leiden, allerdings kommt sie beim besten Willen nicht auf seinen Namen. Ein breiter, bulliger Mann. Trägt eine Uniform. Ein Film über den Zweiten Weltkrieg. Nichts für Rose. Als sie ihn mit der Fernbedienung vom Bildschirm wischt, fällt ihr sein Name ein. Robert Mitchum. Zap. Der Werbesender. Es erstaunt Rose, was die Leute so alles kaufen. Labberige Jogginganzüge in Lavendel und Aquamarin. Pullover. Geschmacklosen Schmuck jeder Art. Alles ohne Qualitätsgarantie. Die Kamera zoomt auf eine Puppe. Ein Sammelstück, wie dem Laufband zu entnehmen ist. Limitierte Auflage. Da sind Opals Puppen aber schöner. Opal. Allein der Gedanke an das Mädchen ist Rose zu viel. Bis zum Abendessen wusste bereits die ganze Stadt, dass man ihr Gerichtspapiere zugestellt hatte. Solche Dinge sollten ja eigentlich vertraulich sein, aber in einer Stadt wie Normal ist das ein frommer Wunsch. Auch Rose hat den Streifenwagen vor der Tür gesehen. Zuerst dachte sie natürlich, die wären wegen Tyrone gekommen, und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie das Mädchen nie gewarnt hatte. Aber es ging gar nicht um Tyrone. Zacks Vater will ihr den Jungen wegnehmen. Opal ist sicher nicht die Charakterstärke in Person, aber sie ist Zacks Mutter. Rose weiß, dass sie den Jungen liebt. Nach dem Essen schlug Ned vor – ausgerechnet Ned! –, sie solle rübergehen und Opal sagen, dass sie da wären, falls sie Hilfe brauchte, aber das hat Rose nicht getan. Sie hätte Opal nicht ins Gesicht blicken können. Hätte nicht noch mehr Kummer auf sich nehmen können. Davon hat sie selbst mehr als -226
genug. Ein Geräusch von draußen weckt ihre Aufmerksamkeit, und als sie die Vorhänge ein Stückchen beiseite zieht, sieht sie Licht auf Metall glänzen. Ein Wagen hat zwischen ihrem und Opals Haus am Straßenrand geparkt. Sie kann nicht sehen, wer am Steuer sitzt, aber sie stellt sich vor, dass er zu ihr hinaufschaut. Sie spürt ein Flattern in der Herzgegend. Die Straßenlampe wirft Lichtpfützen auf das Autodach, auf die Motorhaube. Das Auto scheint schwarz zu sein, aber ganz sicher ist sie sich nicht. Es könnte auch dunkelblau sein, sogar grün. Wenn sie vor der Polizei aussagen müsste, wenn sie die Farbe angeben, den Wagentyp benennen, Auskunft darüber geben sollte, ob es sich um ein ausländisches oder ein amerikanisches Fabrikat handelte, sie könnte es nicht, auch wenn Ned da keine Sekunde zögern würde. Eine typisch männliche Fähigkeit, aus einem Kilometer Entfernung die Marke und das Baujahr eines Wagens bestimmen zu können, sie allein an der Form des Kühlergrills zu erkennen. Aber warum denkt sie an die Polizei? Als sie noch einmal nachsieht, ist das Auto weg, obwohl sie kein Motorengeräusch gehört hat. Als wäre es nie da gewesen, als hätte ihr schlechtes Gewissen es ihr nur vorgespiegelt. Sie starrt auf die Straße hinunter, wie um nach einem Beleg für seine Existenz zu suchen. Die Nacht ist still. In der Feme hört sie einen Hund heulen.
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KAPITEL 27 OPAL Opal überprüft noch einmal die Adresse auf ihrem Zettel, hofft auf einen Irrtum. Das Gebäude ist schäbig. Eine richtige Bruchbude. Die Anwaltskanzlei ist zwischen einem kleinen Steuerbüro und einer Schusterwerkstatt eingeklemmt. Einer Schusterwerkstatt. Kein gutes Zeichen. Man muss kein Einstein sein, um das zu erkennen. Sie fährt langsamer, hält nach einer Parklücke Ausschau. Am Straßenrand stehen Parkuhren, man muss längs einparken. Sie hasst das – wenn sie längs einparkt, ragt der hintere Teil des Buick immer auf die Fahrbahn hinaus. Mist. Eine Straße weiter entdeckt sie eine Parklücke, sie schlägt das Steuer scharf ein und fährt rückwärts hinein, landet jedoch einen Meter vom Bordstein entfernt. Sie fährt wieder raus und versucht es noch einmal. Schweißtropfen rollen ihr den Oberkörper hinunter. Sie ist ohnehin schon zu spät dran. Billy kann sich glücklich schätzen, dass er in New Zion ist, außer Reichweite. Wenn er hier wäre, könnte sie für nichts garantieren. Sie ist fuchsteufelswild. Kocht vor Wut. Ist reif für die Zwangsjacke. Wenn sie daran denkt, wie er im Januar bei ihr im Flur stand und ihr die Ohren voll gesäuselt hat von wegen Familie und Liebe – dabei hat er die ganze Zeit schon vorgehabt, ihr Zack wegzunehmen ... Wenn sie daran denkt, könnte sie echt Ziegelsteine kotzen. Aber das wird ihm nicht gelingen. Sie wird Zack nicht hergeben. Sie hat versucht ihn anzurufen, hat aber bloß seinen Anrufbeantworter erreicht, seine tiefe, verlogene Südstaatenstimme. »Hör zu, du blöder Wichser«, hat sie ihm aufs Band geschrien, »wenn du glaubst, du könntest mir meinen -228
Sohn wegnehmen, dann liegst du total daneben.« Eins ist jedenfalls klar, nach New Zion geht sie nicht zurück. Eher frisst sie Glassplitter. Je weiter sie und Zack von Billy entfernt sind, desto sicherer fühlt sie sich. Vielleicht wird sie ja ihn verklagen. Mal sehen, wie ihm das gefällt, Gerichtspapiere zugestellt zu bekommen, sich einen Anwalt besorgen zu müssen. In dem winzigen Eingangsbereich befindet sich eine Tür, auf der Vivian Cummings steht. Opal hat den Vornamen der Anwältin in ihrem Baby-Namensbuch nachgeschlagen. Er bedeutet »anmutig, voller Leben«. Ein gutes Omen, denkt sie, doch als sie die Tür öffnet, kommen ihr Zweifel. Drinnen stehen ein paar hochlehnige Stühle. Auf einem verschrammten Tisch liegt neben einem überquellenden Aschenbecher eine Bouleva rdzeitung. Ein Gefühl von Verzweiflung und Niederlage hängt in der Luft. Die gegenüberliegende Wand wird von einer weiteren Tür zweigeteilt. Dahinter hört sie das Klingeln eines Telefons, gedämpftes Murmeln. Schweigen. Sie stellt sich Vivian Cummings vor. Anmutig. Voller Leben. Blond. Vivian ist ein richtig blonder Name. Sie fragt sich, woher Ty sie kennt. Vielleicht war er mal mit ihr zusammen? Sie klopft ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Es ist ja nicht gerade so, als würden sich die Mandanten hier drängeln. Schließlich öffnet eine Frau die Tür. Sie ist übergewichtig, hat graue Haare und trägt ein Kostüm, das Melva nicht mal der Heilsarmee zumuten würde. Von anmutig kann bei dieser Frau keine Rede sein. Und als Ex-Freundin von Ty scheidet sie eindeutig aus. Opal erkennt eine Eigenbrödlerin, wenn sie eine vor sich hat. Mann. Sie könnte Billy echt umbringen. »Opal Gates? Ich bin Vivian Cummings.« Sag bloß. Sie geben sich die Hand, dann folgt sie der Anwältin in das hintere Zimmer, einen Raum, der nach Zigarettenrauch stinkt und nur unwesentlich größer ist als das Wartezimmer. Opal ist ja nicht gerade eine Gesundheitsfanatikerin, aber in diesem Zimmer reicht wirklich ein Atemzug, um lungenkrank zu werden. -229
Vivian lässt sich auf ihrem Bürostuhl nieder. »Sie haben am Telefon gesagt, dass Sie eine Vorladung erhalten haben?« »Ja.« »Haben Sie sie dabei?« Opal öffnet ihre Tasche, zieht die Papiere heraus, gibt sie ihr. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass Ty gesagt hat, diese Frau sei gut. Vivian greift nach einer Packung Winstons, schüttelt eine heraus, zündet sie an, nimmt einen tiefen Zug und behält den Rauch einen Moment lang in der Lunge, bevor sie ihn wieder ausbläst. Als wäre ihr Bedürfnis damit vorerst befriedigt, nimmt sie die Papiere, überfliegt sie, runzelt die Stirn, als sie fertig ist. »Nicht mehr viel Zeit bis zur Anhörung«, sagt sie. »Sie ist auf den 28. angesetzt.« Als könnte Opal nicht lesen. Sie hat keine Lust, weiß Gott wie viel pro Stunde dafür hinzublättern, dass diese nikotinfixierte Trutsche ihr Sachen erzählt, die jeder Idiot selbst lesen kann. »Ich brauche ein paar Hintergrundinformationen«, sagt Vivian und nimmt einen weiteren tiefen Zug. »Sie sind nicht mit diesem –« sie nimmt die Papiere zu Hilfe – »William Steele verheiratet, richtig?« Das ist nun ausnahmsweise mal ein Fehler, den Opal nicht begangen hat. »Ja.« »Und Sie waren auch nie mit ihm verheiratet?« Ty kann sagen, was er will, aber durch eine schnelle Auffassungsgabe zeichnet sich diese Frau nicht gerade aus. »Nein.« »Fangen wir mit der Vaterschaftsanerkennung an. Besteht irgendein Zweifel daran, dass William –« »Billy«, sagt Opal. »Dass Billy der Vater ist?« »Nein.« »Haben Sie irgendwelche Vereinbarungen getroffen?« »Vereinbarungen?« -230
»Was das Umgangsrecht angeht, diese Dinge.« »Nein.« »Hat er je etwas von einer gerichtlichen Regelung des Sorgerechts gesagt? Irgendwas in der Richtung?« »Nein.« »Und er hat auch nie bestritten, Zackerys Vater zu sein?« »Nein. Deshalb ergibt das ja alles keinen Sinn. Jeder weiß, dass er Zacks Daddy ist. Warum macht er plötzlich so ein Riesenaufhebens darum?« »Tja, zum einen sicher deshalb, weil die Vaterschaftsanerkennung der erste Schritt auf dem Weg zum Sorgerecht ist, und es sieht ja so aus, als wollte er das Sorgerecht erstreiten«, sagt Vivian. »Aber das kann er doch nicht machen? Ich meine, er kann mir Zack doch nicht wegnehmen, oder? Ich bin Zacks Mama. Wie kommt er überhaupt auf die Idee, er könnte das Sorgerecht kriegen?« Vivian nimmt noch einen Zug und nutzt die Zeit, um Opal zu betrachten. »Bevor wir uns mit dieser Frage befassen, ich gern ein paar Dinge klären. Zuerst mal die Hausregeln: Sie müssen mir alles erzählen. Keine Geheimnisse. Keine Lügen.« »Warum sollte ich lügen?« »Da könnte ich Ihnen auf Anhieb ein Dutzend Gründe aus dem Ärmel schü tteln, aber wir wollen keine Zeit verschwenden. Sind Sie einverstanden? Keine Lügen?« Opal nickt. »Gut. Beginnen wir mit Ihrem Umzug nach Massachusetts. Wann sind Sie hierher gezogen?« »Letzten September.« »Und warum haben Sie North Carolina verlassen?« Scheiße, Mann. Das ist ja wie in der Schule, oder wie bei Melva. »Wir leben in einem freien Land.« Die Anwältin lehnt sich in ihrem Drehstuhl zurück. »Ich gebe Ihnen zwei Ratschläge: Gewöhnen -231
Sie sich daran, Fragen zu beantworten, denn glauben Sie mir, das hier ist erst der Anfang. Und seien Sie nicht so patzig. Das hilft Ihnen hier nicht weiter, und vor Gericht schon gar nicht.« Seien Sie nicht so patzig. Ist die Frau Melvas Klon, oder was? »Haben Sie verstanden?«, fragt die Anwältin. »Okay.« »Also, warum sind Sie hergezogen? Haben Sie hier Freunde oder Verwandte? Oder war es wegen einer Arbeitsstelle?« »Nein. Nichts von alldem.« »Was hat Sie dann hergebracht?« Opal sagt nichts von den drei Tankfüllungen oder davon, wie wichtig Zeichen sind. Diese Frau hat so viel Fantasie wie ein Sack Sägespäne. »Ich wollte schon immer gern in Massachusetts leben«, sagt sie mit sanfter, liebenswürdiger Stimme. »Schon seit meiner Kindheit. Ich hab mir gedacht, dass Zack hier bessere Möglichkeiten haben würde. Auf lange Sicht. College und so. Ich plane gern langfristig.« Die Anwältin lehnt sich zurück und sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. Opal befürchtet, dass sie zu dick aufgetragen hat. Sie muss vorsichtig sein. »Die Tatsache, das Sie North Carolina verlassen haben, verkompliziert die Sache zweifellos. Unter normalen Umständen darf einem Vater das Umgangsrecht nicht verwehrt werden. Billy kann den Standpunkt vertreten, dass ihm dieses Recht durch Ihren Umzug verwehrt wird.« »Aber er wollte Zack doch nie haben. Er wollte, dass ich abtreibe.« »Tja, jetzt will er ihn.« Sie wirft wieder einen Blick auf die Papiere. »Es kommt Ihnen zugute, dass er erst nach sechs Monaten Klage eingereicht hat. Sonst müssten Sie nämlich nach North Carolina zurück und die ganze Sache dort abwickeln. Was mich etwas beunruhigt, ist, dass er das alleinige Sorgerecht fordert, nicht das gemeinsame. Das bedeutet, dass er es auf eine harte Konfrontation ankommen lassen wird.« -232
»Billy will immer das haben, was er nicht kriegen kann.« »Um das alleinige Sorgerecht zu erhalten, muss er beweisen, dass es Zack bei ihm besser gehen würde als bei Ihnen, dass er die Elternpflichten besser wahrnehmen kann. Gibt es irgendetwas, das einen Richter zu dem Schluss veranlassen könnte, Zack wäre bei Billy besser aufgehoben? Denn danach wird er – oder sie – Ausschau halten.« »Das ist absolut lachhaft.« Niemand kann so gut für Zack sorgen wie sie. Schon gar nicht Billy. Opal kann sich nicht mal vorstellen, wie er es versucht: Essen machen, Wäsche waschen, Zack zuhören, ihn jeden Abend ins Bett bringen. Meine Güte. »Es sieht folgendermaßen aus: Das Gericht muss entscheiden, was für das Kind das Beste ist. Unser Rechtssystem ist darauf angelegt, das Elternteil ohne Sorgerecht – in diesem Fall Billy – vor Veränderungen wie einem Umzug über die Staatsgrenzen hinaus zu schützen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, als Zacks leiblicher Vater hat Billy gewisse Rechte und das System ist auf die Verteidigung dieser Rechte ausgerichtet. Wobei damit keineswegs schon alles entschieden ist. Das Gericht wird auch Zacks derzeitige Beziehung zu Ihnen und zu Billy berücksichtigen. Die Beziehung zu dem Elternteil ohne Sorgerecht ist sicher nicht ausschlaggebend aber sie wird auf jeden Fall in Betracht gezogen. Hat Billy zurzeit eine nennenswerte Beziehung zu Zack?« »Er hat ihn in den letzten sechs Monaten genau einmal gesehen. Beziehung kann man das wohl kaum nennen.« Vivian kritzelt etwas auf ihren Block. »Und bevor Sie North Carolina verlassen haben? Haben Sie und Zack mit Billy zusammengewohnt?« »Um Gottes willen. Nein.« »Hatte er damals eine Beziehung zu Zack? Hat er ihn regelmäßig gesehen? Sich um ihn gekümmert? Hat Zack manchmal bei ihm übernachtet?« -233
»Ab und zu. Wenn es Billy in den Kram passte.« Sie ist die Fragen leid. Sie will von dieser Frau hören, dass sie Zack ganz bestimmt nicht verlieren wird, dass Billy ganz bestimmt nicht das Sorgerecht zugesprochen bekommt Dass das ein völlig absurder Gedanke ist. Sie will beruhig werden. »Und was ist mit Billys Eltern? War Zack ab und zu bei ihnen?« Vivian drückt ihre Zigarette aus und zündet sich eine neue an. »Nein, die wollten mit Zack und mir nichts zu tun haben.« Für Billys Eltern ist sie die Verkörperung des Bösen. »Was ist mit Unterhalt? Zahlt er Ihnen etwas für Zacks Versorgung?« »Erst seit zwei Monaten. Er hat ein paar Schecks geschickt Ich dachte, er hat ein schlechtes Gewissen.« Jetzt wird ihr so einiges klar. Wie hat sie nur glauben können, dass die Schecks ohne einen konkreten Grund kamen? Vivian notiert sich noch etwas auf ihrem Block. »Und im Moment bestehen keine Abmachungen bezüglich der Besuche des Vaters?« Sie haben immer noch eine falsche Vorstellung von der Sache. Billy wollte das nie. Ich habe Ihnen doch gesagt, er wollte nicht mal, dass ich Zack auf die Welt bringe.« »Hat er Sie je misshandelt? Hat er Sie oder Zack geschlagen?« »Nein.« »Trinkt er? Nimmt er Drogen?« »Nein.« Sie schreibt wieder ein paar Zeilen. »Möchten Sie noch etwas ergänzen? Fällt Ihnen noch irgendwas ein, was vielleicht nützlich sein könnte? Irgendetwas, das bisher nicht zur Sprache gekommen ist?« »Was wird bei der Anhörung passieren?« »Der Richter wird sich die Anträge anhören. Und er wird einen vorläufigen Vormund bestellen.« -234
»Einen vorläufigen Vormund.« Opals Herz setzt einen Schlag lang aus. »Für Zack?« »So nennt man das, aber stellen Sie sich diese Person eher als einen Fürsprecher für Zack vor. Er oder sie wird die Sachlage untersuchen, wird mit Ihnen, Zack und Billy reden, vielleicht auch mit ein paar Freunden und Mitarbeitern, wird versuchen, sich ein Bild von Zacks Leben zu machen, und die Ergebnisse dann mitsamt einer Empfehlung dem Gericht präsentieren. Augenblick, ich will mal kurz was nachsehen.« Sie blättert einen Kalender durch, fährt mit dem Finger dessen Nagel abgekaut ist, wie Opal feststellt – eine Seite hinunter. »Das ist allerdings erfreulich. In der betreffenden Woche hat Richterin Carlyle den Vorsitz.« »Und das ist gut?« Opal klammert sich an die erste positive Aussage dieser Frau wie an einen rettenden Strohhalm. »Sie ist fair. Hat keine vorgefasste Meinung. Sorgerechtsfälle erfordern salomonische Entscheidungen. Ich will nicht sagen, dass Mrs. Carlyle die weiseste Richterin im Lande ist aber sie versucht wirklich, fair zu sein.« Das ist das Beste, was Vivian Cummings bisher gesagt hat. Wer fair ist, wer wirklich Zacks Bestes will, der würde ihn Opal niemals wegnehmen. »Vor der Anhörung treffen wir uns noch einmal. Um alles durchzusprechen.« »Ach, und noch was«, sagt Vivian, als Opal aufbrechen will. »Gehen Sie ab jetzt davon aus, dass Sie beobachtet werden.« »Beobachtet?« »Billy hat vermutlich einen Detektiv auf Sie angesetzt. Das hätte ich ihm jedenfalls empfohlen, wenn er mein Mandant wäre. Sorgerechtsfälle können ziemlich hässlich werden. Wie sieht es bei Ihnen aus, trinken Sie?« »Nur ab und zu mal ein Bier.« »Nehmen Sie Drogen?« -235
»Nein.« »Das wären schon mal zwei Dinge, die uns nicht in die Quere kommen können, die die Richterin nicht gegen Sie einnehmen werden. Und Zack ist gesund? Keine Krankheiten? Keine Unfälle?« Opal lässt sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Was ist?«, fragt Vivian. »Einen Unfall hat er gehabt. Er hat sich den Arm gebrochen.« Sie notiert sich etwas auf ihrem Block. »Wann war das?« »Letzten Herbst.« »Wie ist es passiert?« Die Hausregeln: Keine Geheimnisse. Keine Lügen. »Er ist gestürzt«, sagt sie ohne das leiseste Zögern. »In der Badewanne.« »Wo waren Sie, als es passierte?« »Unten.« »Waren Sie mit ihm allein?« »Was wollen Sie denn damit sagen?« Das ist ja wie im Krankenhaus. »Ich will überhaupt nichts sagen. Ich informiere mich. Und das wird Billy genauso tun, darauf können Sie Gift nehmen. Waren Sie mit Zack allein, als er sich den Arm gebrochen hat?« »Nein. Meine Nachbarin war auch da. Rose Nelson.« »Das ist gut. So haben wir eine Zeugin, falls die versuchen, mit Vernachlässigung zu argumentieren.« Da sie damit beschäftigt ist, Roses Namen zu notieren, sieht Vivian die Angst in Opals Gesicht nicht. Auf dem Heimweg holt sie Zack ab. Pünktlich. Sie wird ab jetzt immer pünktlich sein. Jeden Tag. Sie wird alles vollkommen richtig machen. Sie wird eine ausgezeichnete Mutter sein. Eine perfekte Mutter. -236
»Guck mal«, sagt er. »Wir haben heute Handpuppen gebastelt.« Er hat eine braune Papiertüte über seine Faust gestülpt und lässt sie vor ihr auf und ab hüpfen. »Rat mal, was das ist?« Er lächelt sie mit seinem strahlendsten Lächeln an. Allein die Vorstellung, dass Billy ihr den Jungen wegnehmen könnte, drückt ihr die Luft ab. »Die ist ja toll, Zack.« »Du sollst raten, was das ist.« Sie wendet den Blick lang genug von der Straße ab, um die Papiertüte zu mustern, sieht die Zacken obendrauf, die roten und orangefarbenen Flammen neben dem Maul. »Ein Drache«, sagt sie. »Genau«, sagt Zack. »Erraten.« Billy hätte das nie rausgekriegt. Im Leben nicht. Er hätte keine Ahnung gehabt. Sie klammert sich an ihrem kleinen Sieg fest. »Mama? Ich bin’s, Opal.« Sie verstummt, wartet auf irgendein Anzeichen, dass ihre Mutter sie trösten wird. Sie könnte weiß Gott ein bisschen Trost gebrauchen. Durch die Leitung hört sie Melvas müdes Stöhnen, so klar und deutlich, als säßen sie im selben Zimmer, so klar und deutlich, wie man in der Werbung dieser einen Telefongesellschaft eine Stecknadel zu Boden fallen hört. »Wie geht’s euch?«, fragt sie, auf der Suche nach dem richtigen Einstieg, um Melva zu erzählen, was los ist. »Wie geht’s Daddy?« »Uns geht’s gut. Um uns musst du dir keine Sorgen machen.« Mist. Melvas Ton spricht Bände. »Weißt du Bescheid? Weißt du, was dieses Arschloch von Billy gebracht hat?« »Zügle deine Zunge, Raylee. Du weißt, dass ich diese Ausdrucksweise nicht billige.« »Aber ihr wisst, was er gemacht hat, oder?« »Wir wissen, dass er versucht, unseren Jungen wieder dahin -237
zurückbringen, wo er hingehört. Das wissen wir.« »Wo er hingehört? Er gehört zu mir. Da gehört Zack hin, Mama.« »Darüber kann man geteilter Meinung sein.« »Na, jedenfalls irrt sich Billy ganz gewaltig, wenn er glaubt, er könnte mich über das Sorgerecht erpressen und mich so wieder zurückholen.« »Ich glaube nicht, dass Billy irgendein Interesse daran hat, dich zurückzuholen, Raylee. In der Beziehung hast du seine Geduld wohl endgültig überstrapaziert. Wir alle sind mit unserer Geduld am Ende.« »Ich dachte, du wärst auf meiner Seite, Mama. Ich bin schließlich dein Fleisch und Blut.« »Auch Zack ist unser Fleisch und Blut. Wir stehen in dieser Sache voll hinter Billy. Solange du nicht Vernunft annimmst, habe ich nichts weiter dazu zu sagen.« »Ich lasse mir Zack von niemandem wegnehmen. Ich bin seine Mama.« »Du bist stur und uneinsichtig – das bist du. Das war schon immer dein Problem. Und jetzt steuerst du auf gewaltigen Ärger zu, aber ich kann dir versichern, dass ich keine Träne für dich vergießen werde. Wenn du so weitermachst, endest du noch genauso wie May.« »Warum bin immer ich schuld, Mama? Warum bin immer nur ich im Unrecht?« »Jetzt werd nicht auch noch frech. Wenn du meinst, wir würden mit den Händen im Schoß zusehen, wie du Zacks Leben ruinierst, dann liegst du falsch.« »Ich ruiniere niemandem das Leben. Zack und ich kommen sehr gut zurecht.« »Das sehe ich anders. Meiner Meinung nach weißt du nicht mehr, wo hinten und vom ist, geschweige denn, wo’s langgeht.« -238
»Das stimmt nicht, Mama. Uns geht’s gut hier, wir kommen prima zurecht. Warum kannst du die Wahrheit nicht akzeptieren?« »Die Wahrheit? Seit wann pflegst du wieder Umgang mit der Wahrheit?« »Wenn du so bist, kann ich nicht mit dir reden«, sagt Opal. »Ich leg jetzt auf, Mama.« Es hat keinen Sinn weiterzureden. Keinen Sinn, gegenüber ihrer Mama das letzte Wort behalten zu wollen. Das schafft keiner.
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KAPITEL 28 ROSE »Und«, fragt Ned, »was steht heute bei dir auf dem Programm?« »Zahnarzt«, erwidert Rose. Sie wartet, holt Luft und wagt es dann. »Und danach wollte ich mit dem Bus nach Springfield fahren.« »Nach Springfield?« Ned sieht sie scharf an. Wäre er ein misstrauischer Mensch, müsste Rose sich jetzt Sorgen machen. »Ich hab mir gedacht, ich schau mich mal ein bisschen im Einkaufszentrum um. Vielleicht kaufe ich uns eine neue Tagesdecke. Unsere ist richtig fadenscheinig. Außerdem könnten wir ein paar neue Handtücher gebrauchen.« Sie kann ihn kaum ansehen. Doch er lächelt jetzt wie ein Geistesgestörter. Er denkt schon weiter, sieht sie wieder bei Fosters arbeiten, Seersucker und Kattun abmessen, rosa Seide für Schulabschlussbälle verkaufen und ab und zu ein paar Restmeter Stoff mit nach Hause bringen, aus denen sie sich dann einen Rock näht. »Das ist schön, Rosie«, sagt er. Seine Freude, seine Hoffnung beschämen sie. »Brauchst du Geld?« Als sie beim Frauengesundheitsdienst anrief, hat sie nicht nach den Kosten gefragt. Sie hat nicht die geringste Vorstellung, wie viel sie wird bezahlen müssen, denn von den üblichen Arzthonoraren kann sie nicht ausgehen. Ärzte verlangen heutzutage ein Heidengeld. Über die Versicherung kann sie die Sache nicht abwickeln. Das würde bedeuten, dass Formulare zu ihnen nach Hause geschickt würden, Unterlagen, die Ned in die Finger bekommen könnte. Wenn es Komplikationen gibt – wenn es bösartig ist –, bleibt immer noch genug Zeit für die Versicherung. Er zieht seine Brieftasche hervor und besteht darauf, ihr einen Zwanzig- Dollar-Schein zu -240
geben. »Wann hast du deinen Termin?« »Termin?« »Beim Zahnarzt.« »Um zehn.« Einen schrecklichen Moment lang befürchtet sie, er könnte auf die Idee kommen, sie hinzufahren. Pfeifend bricht er auf, ist bester Laune, weil sie eine neue Tagesdecke kaufen gehen will, der erste Schritt auf dem Weg zu ihrem alten Selbst. Sie tut ausnahmsweise nur das Nötigste im Haushalt und nutzt die gewonnene Zeit, um zu duschen und sich eine Strumpfhose und ein Kleid anzuziehen. Sie ist früh dran, und so wartet sie vor dem Haus auf Willis, der sie mit dem Taxi abholen kommt. »Zur Federal Savings Bank«, weist sie ihn an. Vor Jahren, als sie mit Todd schwanger war, hat sie ein Konto eröffnet. Jede Woche zweigte sie ein bisschen was vom Haushaltsgeld ab und zahlte es ein. Wenn das Geld knapp war, nicht mehr als einen Dollar. Zu anderen Zeiten auch mal zehn. Auch die Umschläge von Ned zum Geburtstag und zu Weihnachten – ich weiß nie, was du gern hättest, Rosie, deswegen kauf dir lieber selbst, was du dir wünschst –, all die druckfrischen Zwanzig- und Fünfzig- Dollar-Scheine, wanderten direkt auf das Konto. Ihr Traum-Konto. Ein guter Start für Todd, das war ihr Traum. Geld fürs College, falls er nicht alles über Stipendien würde abdecken können. Und von dem Rest würden Ned und sie in Urlaub fahren. Das Land bereisen. Schon ihr Leben lang möchte sie den Grand Canyon sehen. Doch diese Träume liegen in fernster Vergangenheit, es sind die einer anderen Frau. Es ist fünf Jahre her, dass Rose etwas eingezahlt hat, und so dauert es ein paar Minuten, bis der Computer die Zinsen ausgerechnet und ausgedruckt hat. Zum Schluss ist das Sparbuch fast voll. Als die Bankangestellte es ihr wieder unter der Scheibe hindurchschiebt, traut Rose ihren Augen nicht: 10434,50 $. Zehntausend Dollar, Für Träume, die zunichte sind. Sie hebt hundert Dollar ab. Mehr wird es ja wohl kaum kosten, einen Arzt ihr Muttermal untersuchen zu lassen. Es wird -241
vielleicht eine Viertelstunde dauern. Was können sie dafür schon berechnen? Der Bus ist pünktlich. Sie erkennt den Fahrer, es ist derselbe wie auf der Strecke nach Pellington, und sie konzentriert sich, als sie die Busmarke in den Schlitz steckt. Der Bus ist fast leer, höchstens ein Dutzend Fahrgäste – zumeist Studenten oder Frauen mittleren Alters, so wie sie. Sie geht nach hinten durch, setzt sich und stellt ihre Handtasche auf den Nachbarsitz. Sie will nicht, dass sich irgendeine Quasselstrippe neben sie setzt und die ganze Fahrt bis nach Springfield Konversation macht. Haben Sie Kinder? Was soll sie darauf antworten? Nein. Und damit Todd auslöschen, als hätte es ihn nie gegeben. Ja. Und damit weiteren Fragen Tür und Tor öffnen. Eins. Einen Jungen. Er wäre jetzt einundzwanzig. Unfall. Mit sechzehn. Und dann das unvermeidliche, erstickende Mitleid ertragen. Es sollte eine eigene Bezeichnung für Menschen geben, die ein Kind verloren haben. Wer seinen Mann verliert, ist eine Witwe. Wer seine Eltern verliert, ist eine Waise. Aber es gibt kein Wort für jenen ungeorteten Zustand, wenn man ein Kind verloren hat. Vielleicht in einer anderen Sprache. Einer dieser Sprachen, die siebzig Wörter für Liebe und hundert Wörter für Schnee haben. Vielleicht haben die Eskimos einen Namen für Menschen, denen das Kind genommen worden ist. Sie sieht sofort, dass das Gesundheitszentrum eine schlechte Wahl war. Es befindet sich in einem Geschäftshaus in der Innenstadt. Der Boden ist mit diesem billigen, unverwüstlichen Material ausgelegt, das für innen und außen geeignet ist und keine Flecken bekommt. Potthässlich. Drinnen sitzen lauter schwangere Frauen und erkältete Kinder herum. Die meisten Kinder hocken auf dem schmutzigen Teppich und spielen mit Spielzeug aus einer Kiste. An der Wand hängt ein kleiner Anschlag, auf dem empfohlen wird, sich gegen Grippe impfen zu lassen, und ein anderer mit Informationen zu Aids. Mein Gott. -242
»Kann ich Ihnen helfen?« Die Frau an der Anmeldung hat Haare, deren gelbe Farbe direkt aus der Flasche kommt eine dieser billigen Tönungen, bei denen man eigentlich ein Päckchen Kaugummi kostenlos dazubekommen sollte. Ein Schild auf der Theke weist darauf hin, dass die Kosten der Behandlung umgehend beglichen werden müssen. »Ich habe einen Termin«, sagt Rose. »Ihr Name?« »Rose Nelson.« Sie wartet, während die Frau in ihrem Terminplaner nachschaut. »Sie waren noch nicht bei uns?« Sie reicht Rose eine Klemmmappe. »Nehmen Sie bitte Platz und füllen Sie das hier aus. Vorder- und Rückseite.« Rose überfliegt das Formular. Persönliche Krankengeschichte. Erkrankungen in der Familie. Was spielt es für eine Rolle, dass sie mit acht Windpocken, aber nie Mumps hatte? Geschlechtskrankheiten – Rose kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand das ankreuzen würde, selbst wenn es zuträfe. Bei Anlass des Arztbesuchs bleibt sie stecken. Entzündetes Muttermal? Hautleiden? Ausschlag? Sie entscheidet sich für »Hautreizung«. Sie bringt das Blatt an die Theke zurück. »Sind Sie versichert?« »Nein.« Die Frau tippt mit dem Radiergummi am Ende ihres Bleistifts auf das Schild. »Dann müssen Sie die Behandlungsgebühren direkt nach Ihrem Termin bezahlen.« Rose nickt. »Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz. Wir rufen Sie auf.« Eine der schwangeren Frauen macht ihr auf einer Holzbank Platz. Rose setzt sich, lässt aber etwas Abstand zwischen ihnen. Die Eingangstür geht auf, und eine magere Frau kommt herein. Sie hat den unentschlossenen, ziellos wirkenden Gang einer ehemaligen Trinkerin. Rose blickt starr geradeaus. Sie rührt die Zeitschriften nicht an. Die strotzen doch bestimmt von -243
Bakterien. Um viertel vor elf geht sie an die Theke. »Muss ich noch lange warten?« Die Frau schaut in ihren Terminkalender. »Mehr als zehn oder fünfzehn Minuten sollte es nicht mehr dauern.« »Mein Termin war um halb elf.« »Ich weiß. Wir sind spät dran.« Zwanzig Minuten später wird sie aufgerufen. Während ihr Name noch im Wartezimmer nachklingt, was ihr peinlich ist, erhebt sie sich und folgt der Arzthelferin durch einen Korridor zu einem kleinen Untersuchungszimmer. Sie setzt sich, und die Arzthelferin misst ihre Temperatur – exakt 37 Grad – und ihren Blutdruck. »Hundertsechsundvierzig zu neunzig. Ist das normal für Sie?« Rose hat keine Ahnung. »Ja.« Ihr ist schleierhaft, wozu die das alles wissen wollen. Sie ist doch wegen eines Muttermals an ihrem Bauch hier. »Wann war Ihre letzte ärztliche Untersuchung?« Das letzte Mal war sie kurz nach Todds Tod beim Arzt, damals, als Doc ihr die Pillen gab. Warum können die nicht einfach ihr juckendes Muttermal untersuchen und sie dann gehen lassen? »Letztes Jahr«, sagt sie. »Gehen Sie regelmäßig zur Mammographie?« Das hat sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Um ihre Brüste muss sie sich ja anscheinend keine Sorgen machen. »Ja.« »Würden Sie sagen, dass Ihr Gesundheitszustand insgesamt gut ist?« »Ja.« Sie ist kerngesund. Bis auf dieses Jucken. »Und Sie sind ...«, die Schwester wirft einen Blick auf das Formular, das Rose ausgefüllt hat, »wegen einer Hautreizung hier. Ist das richtig?« »Ja.« »Einer Hautreizung wo?« »Auf dem Bauch.« -244
Die Schwester reicht Rose einen Kittel. »Ziehen Sie den bitte an. Man kann ihn hinten zubinden. Dr. Nutt wird gleich da sein.« Rose faltet Kleid und Unterrock zusammen und legt sie auf einen Stuhl. Sie rollt ihre Strumpfhose herunter und schiebt sie unter das Kleid. Die Fliesen unter ihren nackten Füßen sind kalt. Ob sie wohl BH und Schlüpfer ausziehen soll? Sie lässt sie an und streift den Kittel über, dann setzt sie sich auf die Stuhlkante, ignoriert die mit Papier abgedeckte Untersuchungsliege. Sie muss noch mal ein paar Minuten warten, dann klopft es kurz an der Tür. Eine Frau kommt herein und reicht ihr die Hand. »Guten Tag«, sagt sie. »Ich bin Dr. Nutt. Mit Doppel-tt.« Eine Frau? Gott sei Dank hat sie den Schlüpfer angelassen. Die Ärztin schaut sich Roses Karte an. »Sie sind wegen einer juckenden Hautstelle hier?« »Ja. Auf dem Bauch.« »Na, dann wollen wir mal.« Dr. Nutt klopft sacht auf die Untersuchungsliege. »Setzen Sie sich bitte hier drauf.« Das Papier raschelt, als Rose sich setzt. Ihr Puls hämmert. Die Ärztin wäscht sich in dem kleinen Waschbecken gründlich die Hände. Dann trockne t sie sich die Hände ab und reibt sie rasch aneinander. »Gut«, sagt sie. »Legen Sie sich bitte hin, ich seh mir das mal an.« Ihre Finger sind warm. Rose muss daran denken, wie oft Docs kalte Hände sie haben zusammenfahren lassen. Dr. Nutt fährt mit der Fingerspitze über das Muttermal. »Wie lange macht Ihnen das schon Probleme?« Rose rechnet nach. Letzter Herbst. September. Sieben Monate. Es scheint kaum möglich. »Und es war die ganze Zeit entzündet?« »Rot, meinen Sie? Ja.« »Tut es manchmal weh?« -245
»Nein, es juckt bloß. Ich habe mir was aus der Apotheke geholt, aber wirklich geholfen hat das nicht.« »Ist der Durchmesser der entzündeten Stelle größer geworden?« »Vielleicht ein bisschen.« Dr. Nutt tastet die Stelle ab. »Ist das unangenehm?« »Nein.« Sie rückt Roses Kittel zurecht, kontrolliert ihren Unterleib und ihre Brust. »Gut. Sie können sich wieder aufsetzen.« Sie schiebt Rose einen Arm unter die Schultern und hilft ihr aut. »Ziehen Sie sich bitte an, und dann komme ich noch mal, und wir besprechen, wie es weitergeht.« »Es war klug herzukommen«, sagt Dr. Nutt, als sie wieder da ist. Sie schaut auf Roses Karte. »In Ihrer Familie sind bisher keine Melanome aufgetreten, das ist schon mal gut. Aber mit diesem Muttermal ist eindeutig etwas nicht in Ordnung. Es wäre das Beste, wenn Sie zu einem Dermatologen gingen und eine Biopsie vornehmen ließen. Einfach zur Sicherheit.« »Kennen Sie einen Hautarzt, zu dem Sie gern gehen würden? Oder sollen wir Ihnen einen empfehlen?« Rose ist ganz flau zumute. »Wenn Sie mir einen empfehlen könnten.« »Gehen Sie zu Dr. Murphy. Er ist der Beste im Umkreis. Wenn Sie möchten, kann die Sprechstundenhilfe gleich für Sie anrufen und einen Termin vereinbaren.« Rose wünscht sich Ned herbei. Er wüsste, was zu tun ist. Sie könnte sich bei ihm anlehnen. Es war ein Fehler, allein zu kommen.
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KAPITEL 29 OPAL Das Amtsgericht ist ein neues Gebäude. Ein Backsteinklotz mit der Ausstrahlung eines Schuhkartons. Opal ist spät dran und bereits so verschwitzt, dass ihr die Bluse am Leib klebt. Sie hat sich gemäß Vivians Weisungen angezogen. Versuchen Sie, reif und verantwortungsbewusst auszusehen, riet ihr die Anwältin Anfang der Woche am Telefon. Opal findet, dass sie aussieht, als hätte ihre Mama die Kleider für sie ausgesucht. Die weiße Bluse und der dunkelblaue Rock sind sterbenslangweilig, und die Nylonstrümpfe und Pumps machen die Sache nicht besser. Ihre Haare, ebenfalls im Sinne der Anwältin gezähmt, sind zu einem dicken Zopf zusammengefasst. Sie fühlt sich, als steckte sie in der Haut einer anderen. »Wie sehe ich aus?«, hat sie Ty gefragt, bevor sie losfuhr. »Super«, sagte er. »Du machst das ganz prima, du wirst schon sehen.« Als sie Zack einen letzten Kuss gab und ihn ermahnte, es Ty nicht so schwer zu machen, streckte er den Arm aus und streichelte ihr die Wange. »Hab keine Angst«, sagte er, was sie schier umbrachte. Er glaubt, dass sie zu einer Elternversammlung geht. Sie hat ihm nichts davon erzählt, dass Billy das Sorgerecht haben will, fragt sich allerdings, wie viel er mitbekommen hat. Sie bemüht sich nach Kräften, Billy nicht vor ihm schlecht zu machen. Sie schlängelt sich zwischen den Grüppchen von Rauchern hindurch, die am Eingang stehen. Die Korridore sind voller Menschen. Opal mustert ihre Gesichter, die belämmert und hilflos aussehen. Oder zornig. Anwälte und Mandanten stehen beisammen, um noch schnell ein paar letzte Details zu besprechen, und im Vorbeigehen schnappt Opal Gesprächsfetzen auf. Richterliches Verbot. -247
Betrunken. Sorgerecht. Mistkerl. Eidliche Aussage. In diesem einen Korridor steckt ein ganzes Nashville voller Lieder. Sie lässt sich den Weg zu dem Gerichtssaal erklären, wo die Anhörung stattfinden wird, und entdeckt dort Vivian. Die Anwältin – sie trägt einen Hosenanzug, der aussieht, als sei er von Haus aus zerknittert – billigt Opals Äußeres mit einem Kopfnicken. »Hallo«, sagt sie. »Wie fühlen Sie sich?« »Versprechen Sie mir einfach, dass dieser Scheißkerl Zack unmöglich kriegen kann«, meint Opal. »Dann fühle ich mich blendend.« Vivian fasst sie am Arm und führt sie in eine Ecke. »Wollen Sie diesen Fall gewinnen?« »Natürlich.« »Dann drücken Sie sich etwas gepflegter aus. Ihre vulgäre Ausdrucksweise macht Sie noch nicht zu einer schlechten Mutter, aber sie wird die Richterin gegen Sie einnehmen. Die nimmt es mit den Umgangsformen im Gerichtssaal nämlich sehr genau. Haben Sie mich verstanden?« »Ja.« »Gut.« Sie schaut auf die Uhr. »Sprechen wir alles noch ein letztes Mal durch, bevor wir reingehen. Das Reden übernehme in erster Linie ich. Wenn die Richterin eine Frage direkt an Sie richtet, antworten Sie, fassen sich aber kurz. Fangen Sie nicht an zu schwadronieren. Erzählen Sie nicht mehr als unbedingt erforderlich. Beschränken Sie sich auf die Frage. Das ist so ein Punkt, wo sich viele Leute in die Bredouille bringen. Wenn Sie sich nicht sicher sind, sagen Sie nichts. Und greifen Sie Billy nicht an. Sie sollten als die Partei dastehen, die rational an die Sache herangeht.« Das haben sie alles schon zehnmal durchgekaut. »Denken Sie daran, in dieser Anhörung geht es nur darum die Anträge zu stellen und zu begründen. Hier wird noch nichts entschieden. Es ist der erste Schritt.« »Er hat mich bedroht«, hört Opal eine Frau sagen. Sie dreht -248
sich nach der Sprecherin um, einer Frau in Jeans mit einem harten Gesicht. Eine andere Frau, eine ältere Ausgabe der Sprecherin, steigt in das Gespräch ein. »Dieser Mann hat die ganze Familie eingeschüchtert. Wir trauen uns kaum mehr zu atmen. Sie hätte ihn schon Vor Jahren verlassen sollen.« Die Anwältin – eine Frau mit Mondgesicht, die bereits jetzt müde aussieht – macht sich auf einem gelben Block Notizen. »Und noch was«, sagt Vivian gerade, »bleiben Sie ruhig, egal, was der gegnerische Anwalt sagt.« »Okay.« »Wir kommen zum Glück als Zweite dran. Die Warterei macht einen nur nervös.« Als wäre sie nicht eh schon fertig mit den Nerven. »Der erste Antrag – die Vaterschaftsanerkennung – ist eine klare Sache. Die fechten wir nicht an. Was das Sorgerecht angeht, so ist das heute nur der erste Schritt. Entschieden wird da noch gar nichts. Die Richterin wird sich die Anträge anhören, einen Termin für die Verhandlung festsetzen und einen vorläufigen Vormund bestellen.« »So eine Scheiße!«, ruft eine Frau. Einige Leute drehen sich nach ihr um. Die erschöpft aussehende Frau fängt an zu weinen. Vivian schaut wieder auf die Uhr. »Wollen Sie noch mal auf die Toilette, bevor wir reingehen?« »Oh Gott.« »Was ist denn? Stimmt was nicht?« Sie hätte natürlich darauf vorbereitet sein sollen, doch sie ist es nicht. Kein bisschen. »Da sind sie.« »Wie wollen Sie sich verhalten?«, fragt Vivian. »Es ist ganz Ihnen überlassen. Wollen Sie mit ihnen reden?« »Mit Billy nicht.« Mit ihm reden? Sie würde ihn am liebsten umbringen. Sie sind zu fünft: Billy, ihre Eltern und zwei anderere, ein Mann und eine Frau, beide gut angezogen. -249
Rechtsanwälte. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen kann, ist ihr Daddy bei ihr und nimmt sie in den Arm. »Hi Opal«, sagt er. »Hi Daddy.« Sie riecht sein Old Spiee, ein vertrauter, tröstlicher Geruch. »Raylee«, sagt Melva. Für Opal sagt dieses eine Wort schon alles. Billy und die Anwälte kommen nicht näher. »Wir sollten hineingehen«, sagt Melva. Der Gerichtssaal ist groß und kahl, mit einer hohen Decke und hellem Furnier an den Wänden. Eine Reihe schmaler Fenster geht auf eine Wiese und den dahinter liegenden Parkplatz hinaus. Der von zwei Flaggen flankierte Richtertisch befindet sich an der Stirnseite des Raums. Vor den Bänken aus Eichenholz – wie Kirchenbänke, denkt Opal stehen zwei lange Tische. Auf der einen Seite sieht sie zwei uniformierte Justizbeamte, die über irgendetwas lachen. Sie haben Piepser und Pistolentaschen am Gürtel hängen. Es sitzen bereits mehr als zwei Dutzend Leute im Raum. Ihr war nicht klar, dass die Anhörung öffentlich sein würde, dass Fremde dabei sein und zuhören würden. Bis jetzt ist ihr – trotz der amtlichen Papiere und der Treffen mit Vivian – die Tragweite des Geschehens nicht wirklich klar gewesen. Sie hat es als Privatangelegenheit zwischen Billy und ihr aufgefasst, als ein unmittelbares und bedauerliches Resultat von Billys Sturheit. Der zweite Protokollführer, ein Mann im abgetragenen grauen Anzug und mit Halbglatze, kommt herein und setzt sich auf seinen Platz an einem kleinen Tisch direkt unterhalb des Richtertischs. Bis auf das gedämpfte Murmeln der beiden Beamten ist es still im Saal. »Erheben Sie sich«, sagt einer der Beamten, als ein Mann in schwarzer Robe durch eine Tür hinter dem Richtertisch den Saal betritt. Er hat schwarze Haare und einen sauber gestutzten Bart und ist jünger, als Opal erwartet hätte. »Mist«, knurrt Vivian. -250
»Was ist?« »Warten Sie hier.« Sie schiebt sich aus der Bank, geht zu einem der Beamten, flüstert mit ihm und steht einen Moment später wieder neben Opal. »Was ist denn?« »Die Besetzung des Gerichts hat sich verändert. Bei Richterin Carlyle gab es einen Notfall in der Familie. Richter Bowles hat heute den Vorsitz.« »Ist das schlecht?« »Toll ist es nicht.« Opal schaut zu dem Richter hinüber, der sich mit dem Protokollführer bespricht. Er sieht ungeduldig aus, müde. Es ist so still im Saal geworden, dass sie hört, wie draußen auf dem Rasen die Leinen gegen die Fahnenmasten schlagen. Der erste Fall wird aufgerufen. Vierra gegen Vierra. Es geht um nicht geleistete Unterhaltszahlungen. Während die Anwälte sprechen, mustert Opal Richter Bowles. Er wirkt abwechselnd gelangweilt und ungeduldig. Sie fragt sich, ob er Kinder hat, was für ein Vater er ist, ob die Tatsache, dass er ein Mann ist, ihn automatisch für Billy einnimmt. Eigentlich sollen Richter ja unparteiisch sein, aber daran glaubt Opal nicht. Es sind schließlich auch nur Menschen. Eine Richterin wäre besser. Aber vielleicht auch wieder nicht. Die meisten Frauen sind ihr gegenüber unwillkürlich voreingenommen, und sie weiß nicht, ob eine Richterin anders reagieren wurde. Sie schaut verstohlen zu dem anderen Tisch hinüber. Opal hätte nicht gedacht, dass es ihr so wehtun würde, ihren Daddy dort zu sehen, auf Billys Seite. Ihr Daddy. Noch ein Mann, der gegen sie ist. Natürlich steckt ihre Mama dahinter. Für Opal ist es klar wie dicke Tinte, dass das auf Melvas Konto geht. Sie kann sich nur zu gut vorstellen, wie ihre Eltern über die ganze Sache gestritten haben. Und warum sollte sie sich wundern, dass o ihre Mama gesiegt hat? Melva hat in dieser Ehe die Fäden in der Hand. -251
Was wollen die bloß alle von ihr? Warum können sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Glauben die denn wirklich, sie würde wieder nach New Zion zurückgehen? Melva wird sich nicht zufrieden geben, bis Opal zurückgekommen ist und sich endlich ordentlich benimmt. Wahrscheinlich wird ihre Mama den Richter bitten, sie zu zwingen, ihren Namen wieder in Raylee Gates umzuändern. In Tammy Raylee Gates. Tammy Gates. Opal war zwölf, als sie beschloss, ihren Namen zu ändern. Sie war in der achten Klasse der New Zion Middle School, und Sujette Davis war ihre beste Freundin. Sie waren beide total in John David Elwood verknallt. Es war Ende Oktober, und irgendjemand – später stellte sich heraus, dass es Susanne Jennings älterer Bruder Willy gewesen war – hatte telefonisch eine Bombendrohung durchgegeben. Da sie nur noch eine Unterrichtsstunde vor sich hatten, schickte man sie alle nach Hause. Sujette wollte, dass Opal mit zu ihr kam, aber Opal, die mit dem Fahrrad da war, beschloss, zum Büro ihres Vaters zu radeln und ihn zu überraschen. Manchmal erlaubte er ihr, sich dort aufzuhalten, und wenn er sich freischaufeln konnte, lud er sie zu einem Eisbecher ein. So etwas schwebte ihr vor, als sie jetzt, ihre baumelnde Schultasche am Lenker, zu seinem Büro radelte, von dem prickelnden Gefühl unverhoffter Freiheit erfüllt. Sie lehnte das Fahrrad gegen eine Parkuhr vor dem Haus und ging hinein, doch das Büro war leer. Die Tür zum Zimmer ihres Vaters war geschlossen. Sie warf ihre Schultasche auf einen Stuhl und schlenderte zum Anschlagbrett hinüber. Es nahm den größten Teil der Wand ein und war mit den Fotos aller zu verkaufender Immobilien in New Zion und Umgebung bestückt. Schon seit sie denken konnte, schaute sie sich, wenn sie hier war, die Häuser an und versuchte, sich für eins zu entscheiden. Früher hatte sie geglaubt, die Häuser gehörten alle ihrem Daddy, und wenn sie eins haben wollte, müsste sie ihn bloß darum bitten, und schon würde sie es bekommen. -252
Würde sie ein Farmhaus nehmen, ein großes, weitläufiges Gebäude, zu dem eine Scheune gehörte, in der sie Pferde halten konnte? Oder einen Bungalow mit einem Swimmingpool im Garten? Oder eins dieser gepflegten, akkuraten Backsteinhäuser im Kolonialstil, mit hohen Fenstern vom raus? Jedes Haus suggerierte ein ganzes zugehöriges Leben. Sie betrachtete gerade ein kleines Holzhaus mit einer seitlichen Veranda, auf der die überhängenden Zweige einer Blutbuche genau das nötige Maß an Schatten spendeten, als sie hinter der Zimmertür ihres Daddys ein Geräusch hörte. »Tammy«, sagte ihr Daddy. Zuerst dachte sie, er hätte sie im Büro gehört und riefe nach ihr, doch seine Stimme klang belegt, halb erstickt, so als würde er etwas zu essen herunterschlucken und gleichzeitig versuchen, etwas zu sagen. Ein Klang, bei dem sich ihr die Härchen auf den Armen aufstellten. Er stöhnte. Womöglich hatte er einen Herzanfall. Melanie Scotts Daddy hatte einen gehabt, und der war erst vierzig zwei Jahre jünger als ihr Daddy. Sie würde ihn retten, sie würde eine Heldin werden, und ganz New Zion würde davon reden, was für ein Glück es sei, dass sie zum Büro ihres Daddys gefahren war, statt Sujette nach Hause zu begleiten, und wie tapfer sie gewesen sei, und dass sie ihrem Daddy das Leben gerettet habe. Sie ging schon auf die Tür zu, während ihr all diese Gedanken durch den Kopf jagten, da hörte sie eine andere Stimme: eine Frauenstimme, die den Namen ihres Daddys sagte. Dann kam wieder dieses Stöhnen, und die Frau stieß kleine Japser aus, wie ein Welpe. Mit glühendem Gesicht wich sie zurück. Seit Monaten redeten Sujette und sie über fast nichts anderes als Sex, und sie waren sich darüber einig, dass es richtig abartig war, sich vorzustellen, wie ihre Eltern es machten, aber dass sie es wahrscheinlich sowieso nicht mehr machten. Und jetzt machte es ihr Daddy mit Tammy Lee Roscoe, einer alten Freundin ihrer Mama, einer Frau, die so langweilig aussah, dass kein Mensch verstand, wie -253
sie mit dem attraktiven Vance Roscoe, dem Apotheker der Stadt, verheiratet sein konnte, auch wenn sie noch so reich war. Sie floh, trat so heftig in die Pedale, dass sie noch drei Tage lang Muskelkater in den Waden hatte. Sie sang einen alten ElvisSong – den mit dem »Hounddog«, den ihre Tante May so mochte –, sang ihn immer und immer wieder, schrie ihn heraus. Doch dadurch hörte das Geschnatter in ihrem Kopf nicht auf. Ihre Gedanken gaben keine Ruhe. Als ihr Daddy zum Abendessen nach Hause kam, brachte er ihre Schultasche mit. Sie starrte ihn an, doch er guckte genauso wie immer. Ihr gut aussehender Daddy, von dem es immer hieß, mit seinem Charme könne er Felsen versetzen beugte sich zu ihrer Mama herunter, küsste sie auf den Scheitel und setzte sich wie an jedem normalen Abend an den Tisch, um zu essen. Ihre Mama wich ein winziges bisschen zurück, und Opal begriff, dass sie über ihren Daddy und Tammy Roscoe Bescheid wusste. Am nächsten Tag verlangte sie, dass man sie ab jetzt Raylee nennen solle. Und sie begann eine Liste mit möglichen Namen für später zu führen, wenn sie alt genug sein würde, um ihren Namen ganz zu ändern. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Verhandlung zuwendet, befiehlt der Richter Mr. Vierra gerade, nachträglich fünftausend Dollar Unterhalt zu zahlen. »Das kann ich nicht, Euer Ehren«, sagt er. »Ich habe das Geld einfach nicht.« »Wenn Sie nicht zahlen, muss ich das als Missachtung des Gerichts betrachten. Und bei Missachtung des Gerichts werde ich Sie zu vierzehn Tagen Haft verurteilen. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, Euer Ehren. Aber wie soll ich zahlen, wenn ich nichts habe?« Der Richter verurteilt ihn vor seiner Ex-Frau und dem Publikum im Gerichtssaal zu vierzehn Tagen Haft im -254
Bezirksgefängnis. Der Mann wird in Handschellen abgeführt. Mit diesem Richter ist nicht zu spaßen. Der Protokollführer blättert seine Unterlagen durch. »Aktenzeichen 5Py54«, sagt er. »Steele und Gates gegen Gates. Erschienen sind?« Opal kann sich nicht rühren. »Kommen Sie«, sagt Vivian, nimmt sie an der Hand und führt sie zu dem Tisch, den Mrs. Vierra freigemacht hat. Sie legt ihre Aktentasche auf den Tisch und gibt Opal durch eine Geste zu verstehen, dass sie sich setzen soll. Anderthalb Meter weiter stehen ihre Eltern, Billy und die beiden Anwälte an dem anderen Tisch. Es gibt eine kurze Verzögerung, während einer der Beamten einen fünften Stuhl bereitstellt. Billy blickt starr geradeaus und ignoriert sie völlig. Für ihn könnte sie genauso gut auf dem Mars sein. »Vivian Cummings«, sagt Vivian. »Als Prozessbevollmächtigte von Opal May Gates. Miss Gates ist anwesend.« Am anderen Tisch spricht die Frau. »Erschienen sind William Steele, Melva Gates und Warren Gates und als ihre Prozessbevollmächtigten Steven Lodge und Carla Olsen.« Opal registriert die glatte Stimme, die glänzenden Schuhe, die perfekte blonde Prinz- Eisenherz-Frisur der Frau. Kein Kettenrauchen bei denen da drüben. Kein zerknitterter Hosenanzug. Und garantiert keine schäbige Kanzlei in einem verkommenen Mietshaus. Diese Leute sind Vollprofis. Ein kaltes Angstklümpchen setzt sich in ihrer Brust fest. Sie spürt, wie der Richter sie mustert, und ist erleichtert, als sein Blick zum anderen Tisch hinüberwandert und auf Billy verweilt. »Fangen wir an«, sagt er. Alle nicken. »Das ist die Mutter?«, fragt er, die Augen wieder auf Opal. »Ja, Euer Ehren«, sagt Vivian. »Und das der Vater? Und ..«, er konsultiert seine Unterlagen, »... die Großeltern?« »So ist es, Euer Ehren.« Wieder ist es die Frau, die spricht, Carla Olsen. -255
Die Seitentür geht auf und eine drahtige Frau im Hosenanzug tritt ein. Sie beginnt mit dem Justizwachtmeister zu plaudern. Der Richter beugt sich vor, nimmt die Brille ab. »Allen Beteiligten ist bekannt, dass dies keine Verhandlung ist«, sagt er »Es ist eine Anhörung. Eine gerichtliche Voruntersuchung. Wir sind hier, um ...«, wieder schaut er in seine Unterlagen »... die Vaterschaft festzustellen und einen vorläufigen Vormund für das betreffende Kind zu bestellen.« »Euer Ehren«, setzt Carla Olsen an, »Mr. Steele beantragt das alleinige Sorgerecht für seinen Sohn.« »Mir ist wohl bekannt, was Mr. Steele beantragt«, sagt er. »Aber eins nach dem anderen, wir wollen nicht den Wagen vor die Pferde spannen. Zunächst geht es um die Vaterschaftsanerkennung. Mr. Steele«, er wendet sich direkt an Billy, »Sie behaupten, der Vater von Zackery, Opal Gates’ Sohn, zu sein?« »Ja, Euer Ehren«, antwortet Billy. »Miss Cummings, bestreitet Ihre Mandantin Mr. Steeles Vaterschaft?« »Nein, Euer Ehren.« »Diesbezüglich herrscht also Einigkeit?« Natürlich ist Billy Zacks Vater, und trotzdem hat Opal das Gefühl, sie würde etwas Wichtiges aus der Hand geben. Bisher waren es immer nur sie und Zack. Jetzt wird Billy offiziell ein Teil ihres Lebens sein. Sie schaut kurz zu ihm rüber, doch er blickt weiterhin starr geradeaus. »Die Vaterschaft ist hiermit anerkannt«, sagt Richter Bowles. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist die Bestellung eines vorläufigen Vormunds. Mrs. Rogers?« Die drahtige Frau bricht ihr Gespräch mit dem Justizwachtmeister ab und geht zu einem Tisch in der Nähe des Protokollführers. »Ja, Euer Ehren?« »Sie haben sich bereit erklärt, diesen Fall zu übernehmen?« »Ja, Euer Ehren.« -256
»Miss Gates, Mr. Steele«, sagt der Richter zu ihr und Billy. »Mrs. Sarah Rogers wird in diesem Verfahren ihren Sohn vertreten. Sie wird seine Fürsprecherin sein. Sie selbst oder jemand aus ihrem Büro wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Man wird eine Untersuchung durchführen und die Ergebnisse dem Gericht zukommen lassen. Ist das so weit klar?« »Ja, Sir.« »Ja, Euer Ehren.« »Ich setze eine Anhörung für heute in neunzig Tagen an. Bis dahin wird Mrs. Rogers ihre Untersuchung abgeschlossen und dem Gericht ihre Empfehlung vorgelegt haben. Dann werde ich die beteiligten Parteien anhören und meine Entscheidung bekannt geben. Irgendwelche Fragen?« »Bezüglich der derzeitigen Sorgerechtsregelung, Euer Ehren«, sagt Carla Olsen. »Mr. Steele und Mr. und Mrs. Gates – die Großeltern mütterlicherseits – machen sich große Sorgen um das Wohlergehen des Kindes in der Zeit bis zur Entscheidung. Der Vater beantragt, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig das Sorgerecht zu übertragen. Solange der Junge sich in der Obhut seiner Mutter befindet, sind wir ernsthaft um sein Wohl besorgt.« »Wir treten dem entgegen«, sagt Vivian. Unter dem Tisch kneift sie Opal in den Arm. Nicht aufregen. »Wie nicht anders zu erwarten«, sagt der Richter. Opal ist aufgesprungen. »Das kann er nicht bringen. Er wollte Zack überhaupt nicht haben. Er wollte, dass ich abtreibe.« »Miss Cummings, würden Sie Ihre Mandantin bitte auffordern, sich zu setzen und still zu sein.« Opal sinkt wieder auf ihren Stuhl. »Euer Ehren, das ist ungeheuerlich«, sagt Vivian. »Mit welcher Begründung beantragen sie das vorläufige Sorgerecht?« »Eine gute Frage, Miss Cummings. Miss Olsen?« -257
»Im Interesse des Kindeswohls, Euer Ehren.« Er seufzt und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, »inwiefern meint Mr. Steele, Zacks Interessen sei damit am besten gedient?« »Mr. Steele hat bessere finanzielle Voraussetzungen, um für den Jungen zu sorgen. Zudem werden Zacks Großeltern ihn unterstützen und sich mit ihm zusammen um den Jungen kümmern.« Melva soll sich um Zack kümmern? Es macht Opal fertig, sich Zack in der engen, streng kontrollierten Welt ihrer Mama vorzustellen. Macht sie fix und fertig. Füße vom Sessel, Ellenbogen vom Tisch. Für alles eine Regel. Iss den Teller leer, sonst gibt es keinen Nachtisch. Alles hat seinen Platz. »Miss Cummings?« »Wir erheben Einspruch gegen den Antrag, Euer Ehren.« »Euer Ehren.« Das ist wieder Carla Olsen. Über das Gesicht des Richters huscht Verärgerung angesichts der neuerlichen Unterbrechung. Opal gestattet sich einen Moment der Hoffnung. »Es gilt außerdem sicherzustellen, dass sich der Junge in neunzig Tagen noch in Massachusetts befindet. Letzten September hat Miss Gates den Jungen ohne Vorwarnung seinem Zuhause, seinen Großeltern und seinem Vater entrissen, hat die Stadt verlassen und so Vater wie Großeltern die Möglichkeit genommen, ihre Rechte wahrzunehmen.« »Stimmt das?«, fragt er Vivian. »Nein, Euer Ehren. Es ist zwar richtig, dass Opal aus North Carolina weggezogen ist, doch sie hat weder den Vater noch die Großeltern in irgendeiner Weise davon abgehalten, den Jungen zu besuchen. In den verga ngenen sechs Monaten hat Mr. Steele es nur einmal für nötig befunden, nach Massachusetts zu reisen, und Zacks Großeltern sind kein einziges Mal gekommen, um ihren Enkel oder ihre Tochter zu besuchen.« »Mr. Steele?« Billy starrt auf den Tisch. »Mr. Steele, stimmt es, dass Sie Ihren Sohn nur einmal -258
besucht haben, seit Miss Gates nach Massachusetts gezogen ist?« »Ja«, brummelt Billy. »Mr. und Mrs. Gates? Sie haben ihn nie besucht?« »Euer Ehren«, setzt Carla Olsen an. »Das ist eine einfache Frage. Würden Ihre Mandanten bitte darauf antworten?« »So einfach ist das nicht«, sagt Melva. »Wir haben Raylee ...« »Raylee?« »Das ist Miss Gates’ Geburtsname«, sagt Carla Olsen. »Sie hat vor einigen Jahren ihren Namen geändert.« Der Richter macht sich eine Notiz. »Verstehe. Bitte sprechen Sie weiter, Mrs. Gates.« »Wir haben sie gebeten, über die Feiertage nach Hause zu kommen. Sie hat sich geweigert.« »Und haben Sie das Kind dann besucht?« Melva gibt keine Antwort. »Euer Ehren.« Der Anwalt ist jetzt aufgestanden. »Der entscheidende Punkt ist, dass es dem Jungen nach Ansicht unserer Mandanten bei seinem Vater und seinen Großeltern besser gehen wird.« »Warum?« »Miss Gates ist labil. Woher sollen wir wissen, ob sie nicht nächste Woche auf die Idee kommt, nach Kalifornien zu ziehen?« »Miss Gates, haben Sie vor, erneut umzuziehen?« »Nein, Sir.« »Miss Cummings, können Sie garantieren, dass Ihre Mandantin in den nächsten neunzig Tagen bleiben wird, wo sie ist?« »Ja, Euer Ehren.« -259
»Mr. Steeles Antrag ist hiermit abgelehnt. Wenn Zack seit letztem September bei Miss Gates gewohnt hat, ohne dass jemand von der anderen Partei einen Versuch unternommen hat, den Jungen zu besuchen oder sich um sein Wohlergehen zu kümmern, sehe ich keinen Grund, die Verhältnisse jetzt zu ändern. Sind im Moment irgendwelche amtlichen Besuchsregelungen in Kraft?« »Nein, Sir.« »Miss Cummings, wie sieht momentan die Betreuungssituation des Kindes aus?« »Er besucht an fünf Vormittagen in der Woche den Kindergarten, noch bis Juni.« »Unter Anerkennung der Tatsache, dass sich familiäre Beziehungen schlecht gesetzlich regeln lassen, gewähre ich Mr. Steele ein befristetes Umgangsrecht. Ich verfüge einen zweiwöchigen Besuch Zacks bei seinem Vater innerhalb der Zeitspanne bis zur Verhandlung.« »Danke, Euer Ehren«, sagt Carla Olsen. Sie lächelt übers ganze Gesicht, als hätte sie einen Sieg errungen. Opal kann sich nicht vorstellen, Zack zwei Wochen lang nicht zu sehen. Ihr ist ganz flau im Magen. »Ein Punkt noch«, sagt Carla Olsen. »Wir beantragen eine einstweilige Verfügung, die Mr. Tyrone Miller jeglichen Kontakt mit dem Jungen verbietet.« Opal fällt die Kinnlade herunter. Sie schaut zu Billy rüber. »Wer ist dieser Mr. Miller?« »Miss Gates’ derzeitiger Freund.« Opal kriegt weiche Knie. Was hat Ty mit alldem zu tun? Sie ist doch nicht mit Billy verheiratet. Sie ist eine allein stehende Frau. Warum kommen die damit? »Verfahrensrelevanz, Euer Ehren?«, fragt Vivian. »Miss Olsen?«, fragt der Richter. »Mit welcher Begründung beantragen Sie diese Verfügung?« -260
»Wir machen uns Sorgen, Euer Ehren. Mr. Miller wurde in der Vergangenheit wegen Drogendelikten angeklagt. Besitz von und Handel mit Drogen.« »Was? Wovon redet sie da?« Opal wendet sich Vivian zu, die aufgestanden ist. »Euer Ehren«, ruft Vivian. »Das ist ungeheuerlich. Ich bin persönlich mit Mr. Miller bekannt. Diese Anklagen sind längst Geschichte. Sie entbehren jeglicher Relevanz. Es handelt sich offensichtlich um einen Versuch, meine Mandantin zu diskreditieren und das Gericht zu ihren Ungunsten zu beeinflussen.« »Wollen Sie bit te herantreten.« Völlig niedergeschmettert sieht Opal zu, wie Vivian und die anderen Anwälte sich vorm Richtertisch versammeln. Auch Sarah Rogers, den vorläufigen Vormund, ruft der Richter herbei. Melva schaut mit selbstzufriedener Miene zu Opal herüber, wie eine Katze, die gerade eine Schüssel voll Sahne aufgeleckt hat. Draußen im Korridor fasst Vivian sie am Arm, doch Opal schüttelt ihre Hand ab. »Dass Richter Bowles dem Antrag auf eine einstweilige Verfügung nicht stattgegeben hat, ist ein gutes Zeichen. Er wird sich von nichts beeinflussen lassen, was sie nicht durch Fakten untermauern können.« Was Opal betrifft, hätte der Richter genauso gut gegen Ty entscheiden können. Sie wird ihn nicht mehr in Zacks Nähe kommen lassen. Sie darf kein Risiko eingehen. »Warum haben Sie mir das von Tyrone nicht gesagt, verdammt? Warum haben Sie mich nicht gewarnt? Scheiße, Mann, er passt im Moment auf Zack auf!« Vivian packt sie am Arm und schaut ihr ins Gesicht. »Erstens haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie mit ihm zusammen sind. -261
Zweitens tut diese Geschichte laut der Entscheidung des Richters nichts zur Sache. Aus Sicht des Gerichts ist er sauber.« »Na, ich kann Ihnen garantieren, dass meine Mama das anders sieht. ›Kein Rauch ohne Feuer‹, das ist ihr Motto. Wie haben die überhaupt von Ty erfahren?« »Wahrscheinlich haben sie einen Detektiv beauftragt. Sie sind eindeutig bereit, mit harten Bandagen zu kämpfen. Offensichtlich haben Sie vor, alles zu nutzen, wovon sie sich eine Beeinflussung des Richters versprechen. Mein Rat an Sie: Leben Sie in den nächsten drei Monaten wie eine Nonne. Verhalten Sie sich so, als würde alles, was sie tun, ans Gericht weitergeleitet. Und machen Sie sich ein paar Gedanken darüber, wen wir als Leumundszeugen berufen sollen. Wir brauchen ein Gege ngewicht zu Ihren Eltern dort drüben am anderen Tisch.« »Der Richter wird Billy doch nicht das Sorgerecht zusprechen, oder? Das kann er doch nicht machen. Ich bin schließlich Zacks Mama!« »Wir hoffen es.« Sie drückt Opal kurz an sich. »Vergessen Sie nicht: Wie eine Nonne. Die perfekte Mutter.« Als sie in die Chestnut Street einbiegt, traut sie ihren Augen kaum. Ty ist mit Zack auf der Straße – auf der Straße –, und sie spielen Hockey. »Zack«, sagt sie, noch während sie aus dem Auto aussteigt. »Rein, aber dalli.« Er schaut zu Ty auf, und sein Lächeln erstirbt. »Was guckst du Ty an!«, kreischt sie. »Rein, hab ich gesagt!« »Hey Opal. Beruhige dich.« »Bist du verrückt, auf der Straße mit ihm zu spielen? Er hätte überfahren werden können!« »Hey, Schatz. Hör auf, dich zu ärgern. Das ist eine Sackgasse hier. Wir sehen doch, wenn ein Auto kommt. Wir haben gut aufgepasst.« Außer Hörweite von Zack sagt er: »Schrei ihn nicht -262
so an. Es war meine Schuld. Wenn überhaupt, dann schrei mich an.« Sie wendet sich ab und geht aufs Haus zu. »Für dich verschwende ich meine Spucke nicht.« »Was ist eigentlich los? Bist du nicht ein bisschen heftig?« »Geh einfach nach Hause. Geh nach Hause, und lass Zack und mich in Ruhe.« »Was ist los, Opal? Was ist bei der Anhörung passiert?« »Was passiert ist? Scheiße. Ich kann dir sagen, was passiert ist. Billy und meine Eltern saßen mit besorgtem Blick da, während ihr Anwalt beim Richter eine einstweilige Verfügung beantragt hat. Eine einstweilige Verfügung, die dir jeden weiteren Kontakt mit Zack verbietet.« »Mir?« »Dir. Tyrone Miller. Dem Dealer« ... »Mein Gott. Und dann?« Opal ist am Ende ihrer Kräfte. »Geh einfach.« »Aber was hat der Richter gesagt? Was ist passiert?*« »Oh, er hat den Antrag abgelehnt.« »Aber dann gibt es doch kein Problem, oder?« »Doch. Du bist das Problem.« »Verdammt noch mal, Opal, jetzt nimm doch Vernunft an. Mach keinen Scheiß. Ich kann dir helfen.« »Ich brauche von niemandem Hilfe. Und schon gar nicht von dir.« »Diese ganze Drogengeschichte, das ist ewig her. Es war ein Fehler. Okay?« »Ich kann mir keine Fehler leisten. Verstehst du?« »Was willst du damit sagen?« »Geh endlich, das will ich damit sagen.« »Mensch Opal, ich versteh ja, dass du dich aufregst, aber du kannst echt nicht mehr klar denken.« Sie dreht sich zu ihm um, -263
und in ihrer Frage liegt die geballte Trauer ihrer müden Seele: »Warum hast du mir nicht erzählt, dass du festgenommen worden bist?« »Ich war jung. Es war ein Fehler. Hast du nie Fehler gemacht?« »Ich kann mir keinen Fehler leisten, Ty. Ich kann mir deine Fehler nicht leisten. Ich kann mir dich nicht leisten.« »Moment mal. Hör zu, Opal. Ich kann dir das erklären.« »Du brauchst mir nichts zu erklären. Auf dich kann ich verzichten. Aber auf Zack nicht.«
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SOMMER
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KAPITEL 30 NED Kurz nach vier lässt Ned die Hebebühne herunter. Am Schreibtisch notiert er in einem Auftragsbuch, das von eingelegten Blättern und Formularen überquillt, seine Arbeitszeit. Das Papier ist von fettigen Fingerabdrücken übersät. Tyrone findet ja schon lange, dass er sich einen Computer anschaffen sollte, aber ihm bereitet allein der Gedanke daran Kopfschmerzen. Warum sollte er dafür noch Geld ausgeben? Sobald er Rose dazu überreden kann, in den Süden zu ziehen, gehört dieser Laden der Vergangenheit an. Es ist nicht die Zeit, in neue Ausstattung zu investieren. Wozu ist es die Zeit? Ned hat nie groß über die Mechanismen in seinem Leben nachgedacht. Er ist immer davon ausgegangen, dass sein Leben in den gleichen vorhersagbaren Bahnen verlaufen wird wie das seines Vaters: Schule, Arbeit, Rente. Zeit zum Angeln. Vielleicht endlich diese Reise zum Grand Canyon machen, von der Rose früher immer geredet hat. Doch jetzt ist sein Leben aus dem Ruder gelaufen, und er hat keine Ahnung, wie er es wieder auf Kurs bringen soll. Er weiß nicht weiter und hat niemanden, den er um Rat fragen könnte. Der Einzige, mit dem er regelmäßig zu tun hat, abgesehen von Rose, ist Ty – nicht dass er sich dem anvertrauen würde. Der Mechaniker ist launisch und geistesabwesend, seit Opal ihm den Laufpass gegeben hat. Kein Verlust, findet Ned, aber er wird sich hüten, das laut zu sagen. Offiziell hat er erst in einer Stunde Feierabend, trotzdem geht er jetzt an die Tür, dreht das Schild auf Geschlossen und macht sich, wie nun schon seit drei Wochen jeden Tag, auf den Weg zu Trudy’s. Ohne sagen zu können, wie es dazu gekommen ist, hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, rüberzufahren und sich mit einer Tasse Kaffee an den Tresen zu setzen, während sie langsam schließt. Er empfindet es als beruhigend, ihr dabei -266
zuzusehen, wie sie die Theke abwischt, die Zuckerdosen und Ketchup-Flaschen auffüllt, den Grill sauber kratzt. Meistens ist der Fernseher über dem Tresen an. Die Oprah Winjrey Show mit heruntergedrehter Lautstärke, wobei Trudy den Ton ab und zu aufdreht und sich an der Diskussion beteiligt, als säße sie selbst im Studio. Obwohl sie offiziell um vier zumacht, setzt sie jedes Mal einen frischen Kaffee auf, wenn er hereinkommt. Er freut sich immer auf diese Zeit, auch wenn er das Gefühl nicht loswird, dass er etwas Unrechtes tut. Heute stellt sie ihm ein Stück Apfelkuchen hin. »Das Letzte. Putz ihn weg.« Sie sagt das, als täte er ihr damit einen Gefallen. Gestern war es Boston Cream. Sein Lieblingskuchen. Ihm ist klar, dass er dieses Zeug eigentlich nicht essen sollte. Er hat schon zugenommen. Und abends beim Essen hat er keinen Appetit. Nicht dass Rose das auffallen würde. »Möchtest du ein bisschen Vanilleeis dazu?« Ach, was soll’s – schließlich lebt er nicht ewig. Da kann er die Zeit, die ihm noch bleibt, doch wenigstens genießen. Er ist siebenundfünfzig. Und wird nicht jünger, so viel ist sicher. Lähmende Schwermut legt sich auf seine Brust. Die Zukunft mit all ihren Verheißungen zerschmilzt vor seinen Augen. »Ja, gern«, sagt er. Trudy gießt sich eine Tasse Kaffee ein und setzt sich zu ihm an die Theke. Heute ist ein Mann bei Oprah zu Gast, der erzählt, wie man wieder einen positiven Zugang zum Leben bekommt. Das Schlüsselwort, so erklärt er dem Publikum, sei Vergebung. Trudy schnaubt. »Vergebung«, sagt sie. »So ein Schwachsinn. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht vergeben.« Ihre Tochter Phyllis ist gerade zu ihrem Mann zurückgekehrt – die dritte oder vierte Versöhnung des Paars. Es ist Stadtgespräch, dass Jeff handgreiflich wird, wenn er getrunken hat. Trudy hätte gern, dass Phyllis sich scheiden lässt und die Sache ein für alle Mal abhakt. »Ich würde mir so was nicht bieten lassen«, hat sie Ned letzte Woche erklärt. Daran hat er keinen Zweifel. Trudy ist -267
nicht die Sorte Frau, die sich irgendetwas bieten ließe. »Hübsch ist das.« Er deutet auf ihr perlenbesticktes Armband und wird dann verlegen, weil er ihr ein Kompliment gemacht hat. »Danke«, sagt sie erfreut. »Das hat mir Lorraine geschickt.« Vor vier Jahren hat Trudy die Patenschaft für ein Kind in einem Lakota-Reservat in South Dakota übernommen. Seither stellt sie an Feiertagen immer einen Karton auf, in dem sie Spenden für dieses Volk sammelt: Kleider, Konserven, Spielzeug. Sie träumt davon, eines Tages das Reservat zu besuchen und das Mädchen persönlich kennen zu lernen. Ned fragt sich, ob man in South Dakota gut angeln kann. »Und was ist mit Leuten wie Hitler?«, fragt eine Frau Oprahs Gast. »Sollten wir solchen Leuten auch vergeben? Verdienen die Vergebung?« »Genug«, sagt Trudy und dreht den Ton ab. Sie mag es am liebsten, wenn ein Filmstar in der Show zu Gast ist. Julia Roberts zum Beispiel oder Cher. »Wie geht’s Rose?«, fragt sie. »Wie immer«, sagt Ned – die präziseste Auskunft über seine häusliche Misere, zu der er sich durchringen kann. Rose ist wieder in diese Unbestimmtheit, diese geistige Abwesenheit zurückgefallen, die er aus den ersten Jahren nach Todds Tod von ihr kennt. Die Hälfte dessen, was er sagt, erreicht sie gar nicht. Er könnte genauso gut allein leben. Das Grausame ist ja, dass er meinte, sie langsam zurückzugewinnen. Als sie neulich sagte, sie wolle zum Einkaufen nach Springfield fahren, betrachtete er das als ein Zeichen, dass sie allmählich wieder zu ihrem alten Selbst zurückfinden würde. Er wagte es, Hoffnung zu schöpfen. Er beschloss, sie abends zu überraschen und zum Essen auszuführen, in dieses italienische Restaurant, in das sie früher so gern gegangen war. Doch als er dann nach Hause kam und sie dasitzen und ins Leere starren sah, lösten sich all seine Pläne in Wohlgefallen auf. -268
Was ist eigentlich los?, hätte er am liebsten gefragt. Hätte gern alles aufs Tapet gebracht. Wann sie ihr Leben endlich wieder in die Hand nehmen wolle? Wie lange sie noch um Todd trauern wolle? Er erwartete ja gar nicht, dass sie ihn vergaß, aber du lieber Gott, irgendwann ist es einfach genug. Man muss doch nicht gleich selbst mit in den Sarg steigen. Und wenn er schon beim Thema wäre, würde er mit ihr auch über den Dozenten sprechen, mit dem er sie in Pellington gesehen hatte. Würde ihr erzählen, dass er den Brief geöffnet hat, den Anderson Jeffrey ihr geschickt hatte. Dass er den Text kennt, den sie letzten Herbst für den Kurs geschrieben hat. Es war keine leichte Lektüre, was sie da alles über Todds Tod geschrieben hatte und über ihre Schuldgefühle, weil sie ihn das Auto nicht hatte benutzen lassen. Über ihre Wut auf alle. Von der er nichts geahnt hatte. Er schämt sich, dass er ihre Post geöffnet hat. Er hat den Umschlag hinten in seinem Schreibtisch versteckt. Er wünscht sich eine Gelegenheit herbei, ihr zu erzählen, dass er den Text gelesen hat, dass er ihr keine Schuld an Todds Tod gibt und dass sie sich keine Vorwürfe machen soll. Vergebung ist das Schlüsselwort. Er würde ihr gern sagen, dass er sie liebt. Würde gern die Geheimniskrämerei beenden. Tja, und jetzt hat er seine Nachmittage mit Trudy. Sein eigenes Geheimnis. Und zwei Menschen, die ihr Leben lang fast alles geteilt haben, driften auseinander wie Pusteblumenschirmchen auf einer Wiese voller Geheimnisse. Ist das immer so mit Geheimnissen? Dass eins sich aus dem anderen ergibt? Und dann immer so weiter.
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KAPITEL 31 OPAL »Tante May? Ich bin’s, Opal.« »Opal, Liebes, wie geht es dir?« Opal unterdrückt die Tränen. »Ich bin völlig fertig, Tante May.« »Warte mal einen Augenblick, Liebes, ja?« Sie hört, wie May ihren derzeitigen Gitarrenspieler nach Hause schickt. Ein Männerlachen dringt durch die Leitung, dann das Geräusch eines langen, feuchten Kusses. Die Männer lieben May, und sie erwidert diese Zuneigung. Endlich greift Opals Tante wieder nach dem Hörer. »Was ist los, Kind? Erzähl deiner Tante May, was los ist.« Opal fühlt sich mit einem Schlag in ihre Kindheit zurückversetzt, denkt an die unzähligen Male, als sie zu May radelte, um bei ihr Trost und Anteilnahme zu finden. Erzähl deiner Tante May, was los ist. Gib mir einen Kuss. Zwei unterschiedlichere Frauen als May und Melva kann Opal sich nicht vorstellen. Melva hart und verkniffen, May stets zum Lachen aufgelegt und offen für die Liebe, wo immer sie ihr begegnete. Man würde nie darauf kommen, dass die beiden Schwestern sind. Auch Opal ist anders, wie May. Man würde sie nie für die Tochter ihrer Mama halten. »Hast du schon mit Melva geredet?«, fragt sie. »Hat sie dir erzählt, dass Billy versucht, das Sorgerecht für Zack zu kriegen?« »Ja, das hat sie. Ich habe bloß laut gelacht. Allein die Vorstellung, dass Billy Zack kriegt, ist doch lächerlich.«.»Also, ich finde das nicht witzig, Tante May. Ich bin fettig mit den Nerven. In einer Stunde kommt diese Frau vom Gericht. Die will mit mir reden, und das finde ich überhaupt kein bisschen witzig.« »Na ja, da würde wohl jeder ein bisschen nervös werden, -270
Kind, aber versuch das ganz entspannt anzugehen. Betrachte sie nicht als deine Feindin. Sie ist auch nur eine Frau, Schätzchen. Mehr nicht. Eine Frau, die ihre Arbeit tut. Du musst dir keine Sorgen machen. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass Zack zu dir gehört. Schau ihr direkt ins Gesicht, damit sie merkt, dass du nichts zu verbergen hast. Sei nett zu ihr.« Wie kann man nett zu jemandem sein, der einem im Leben herumschnüffelt, um danach zu entscheiden, ob man seinen Sohn behalten darf oder nicht? »Weißt du auch, dass Mama und Daddy auf Billys Seite stehen?« »Daran hat Melva keinen Zweifel gelassen. Was dieses Thema angeht, ist sie wirklich nicht mehr zu retten. Bei meiner Seele, manchmal weiß ich wirklich nicht, was mit ihr los ist.« Ja, was ist eigentlich mit ihrer Mama los? Was ist zwischen ihnen beiden so gnadenlos schief gegangen? »Warum hasst sie mich so, Tante May? Warum hasst mich meine Mama?« »Aber Herzblatt, sie hasst dich doch nicht.« »Doch. Sie mag mich überhaupt nicht.« »Sag doch nicht so was. Nicht mal denken solltest du das.« Opal lehnt sich zurück und starrt aus dem Fenster, folgt der Bewegung eines Eichhörnchens, das den Stamm des Ahorns in Roses Garten hinaufhuscht. Was sollte sie denn denken? »Weißt du noch, wie ich an der Highschool in diesem Theaterstück mitgespielt habe?« ›»Unsere kleine Stadt? Aber sicher.« Opal kann Mays Lächeln fast durchs Telefon hören. »Jesus Maria, was war ich stolz auf dich.« »Mama ist nicht mal hingegangen.« »Aber Kind, bestimmt ist sie das.« »Nein. Zu keiner einzigen Vorstellung. Sie hatte eine ihrer Migränen. Sie wollte mich nicht sehen.« Opal redet schnell -271
weiter, bevor ihre Tante etwas sagen kann. »Und sie war auch auf keiner einzigen von meinen Tanzaufführungen.« »Auf einer wird sie doch gewesen sein.« »Und als ich Zack auf die Welt gebracht habe, da ist Mama nicht mal ins Krankenhaus gekommen. Weißt du, wo sie war, Tante May? Weißt du, wo sie war? Sie war beim Frisör. Ich lag im Krankenhaus und habe ein Kind gekriegt, und sie hat sich die Haare färben lassen. Mann.« »Versuch, ein bisschen Verständnis für sie aufzubringen, Opal.« »Scheißverständnis. Ich bin es leid, für alles Verständnis haben zu müssen. Und warum verteidigst du sie überhaupt? Alle verteidigen sie. Ich weiß bloß eins, nämlich dass sie mich hasst.« »Sie hasst dich nicht, Opal.«
»Doch.«
»Sie ist neidisch auf dich.«
»Was?«
»Neidisch, mein Schätzchen. Deine Mama ist immer neidisch
auf dich gewesen.« »Auf mich? Wie kann man denn auf sein eigenes Kind neidisch sein?« Sie kann sich nicht vorstellen, auf Zack neidisch zu sein. Sie muss an Melvas ständiges »Wir wollen doch nur dein Bestes« denken. Wie kann man jemandem das Beste wünschen und dann neidisch sein, wenn dieser Wunsch in Erfüllung geht? »Opal, Melva hat Angst vor dir.« »Angst vor mir?« »Du erinnerst sie an zu viel. Sie erkennt sich selbst in dir.« »Aber ich bin doch völlig anders als Mama.« Draußen spielen zwei Eichhörnchen in der Krone des Ahorns Verstecken. -272
»Mama und ich haben nichts gemeinsam.« »Aber sie war mal wie du. Nicht so wie heute. Als sie in deinem Alter war, da hat sie unsere Mama ganz schön schwitzen lassen. Hat sie schier verrückt gemacht. Was haben die beiden gestritten.« »Mama und ihre Mutter?« »Aber wie. Wenn Papa die Gewehre nicht unter Verschluss gehalten hätte, dann hätten sie sich bestimmt umgebracht.« »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.« »Glaub mir, ich hab es ja selbst miterlebt. Opal, Liebes, sei nicht so hart gegen deine Mutter. Sie versucht bloß, die Fehler wieder gutzumachen, die sie in ihrem eigenen Leben begangen hat.« »Mama hat nie einen Fehler gemacht. Wusstest du das nicht? Sie ist unfehlbar.« »Deine Mama ist nicht anders als wir alle. Auch sie hat ein paar Dinge in ihrem Leben getan, die sie bereut. Deshalb ist sie so hart gegen dich.« »Klar.« »Opal, ich erzähl dir jetzt etwas, was ich dir eigentlich nicht erzählen dürfte, aber ich tu es trotzdem. Vielleicht hilft es dir, deine Mama besser zu verstehen, ihre Schuldgefühle und ihre Reue und warum sie so hart mit dir umspringt, und warum Zack ihr so wichtig ist.« Opal verdreht die Augen. Was May auch vorbringt, es wird sie gegenüber Melva nicht versöhnlicher stimmen. »Als Melva fünfzehn war und so ziemlich das hübscheste Mädchen in New Zion, da gab es einen Jungen, nach dem wir alle verrückt waren. Henry James, einer der Munford-Zwillinge. Gott im Himmel, sah der gut aus. Und gescheit war er außerdem. Besuchte eine Uni irgendwo im Norden In Rhode Island, glaube ich. Eine dieser Ivy-League-Unis. Na ja, jedenfalls kam er im Sommer -273
nach Hause und guckte sich gleich am Anfang deine Mama aus. Hielt sie von den anderen fern, verdrehte ihr den Kopf. Schenkte ihr Blumen und schrieb ihr Gedichte. Eines Abends kletterte er auf den alten Wasserturm unten beim Bahnhof und schrieb in zweieinhalb Meter hohen Buchstaben ihren Namen darauf. Sie haue keine Chance. Bis der September gekommen war, hatte sich deine Mama verliebt.« Opal ruft sich den alten Turm ins Gedächtnis. Was immer da mal draufgestanden haben mag, ist lange vor ihrer Geburt überstrichen worden. »Natürlich fuhr Henry James wieder in den Norden zurück. Deine Mama war nicht mehr vom Briefkasten wegzukriegen. Zwei Wochen nach seiner Abreise stellte sie fest, dass sie schwanger war.« »Mama war schwanger?« Opal fühlt sich ganz eigenartig, so als hörte sie eine Geschichte über jemanden, der ihr einerseits bekannt, andererseits aber völlig unbekannt ist. »Noch mal ein oder zwei Wochen später, als sie sich gar nicht mehr zu helfen wusste, erzählte sie mir davon. Unserer Mama konnte sie natürlich nichts sagen.« Opal muss an ihre eigene Schwangerschaft denken, während der ihre Mama sich endlos darüber ausließ, was für eine Schande Opal über die Familie gebracht habe. Sie denkt daran, wie oft ihre Mama über May hergezogen ist. »May stößt keinen von der Bettkante«, sagt sie immer. »Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch wie sie.« So eine Heuchlerin. »Eines Abends sind wir nach dem Essen zur Telefonzelle vor Calley’s Drugstore gegangen und haben Henry James angerufen. Haben ihm alles erzählt. Und dann kamen natürlich keine Blumen oder Gedichte mehr. Oh nein. Das Einzige, was der Junge noch schickte, war Geld. Um das Problem aus der Welt zu schaffen, wie er sagte.« May hält inne, um einmal tief durchzuatmen. »Er hat nicht mal ein paar Zeilen dazu geschrieben. Melva hat das schier das Herz gebrochen. Sie sagte -274
immer wieder, wenn sie eins aus dieser Geschichte gelernt hätte, dann sei das, dass man sich bloß unglücklich macht, wenn man alles glaubt, was einem versprochen wird.« Ja und? Soll sie jetzt etwa Mitleid mit ihrer Mutter empfinden? Verständnis haben? Fehlanzeige. Sie versteht weniger denn je, dass ihre Mama ihr Zack wegnehmen will. »Begreifst du denn nicht, Opal? Deine Mama hat ihr Baby nicht behalten dürfen, du dagegen konntest Zack behalten. Sie war immer verbittert, weil sie ihr Kind verloren hat, aber jetzt ist sie auch noch neidisch. Du bist stärker als sie, Kind. Du hast darum gekämpft, deinen Sohn zu behalten. Das kann sie dir nicht verzeihen.« Sarah Rogers kommt gleich zur Sache. »Wie der Richter schon erklärt hat, bin ich Zackerys Fürsprecherin. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er korrekt und umfassend vertreten wird.« Als brauchte Zack jemanden, der ihn vertritt. Opal kratzt sich an der Hüfte. Diese Frau gefällt ihr überhaupt nicht. »Ich trage alle relevanten Informationen zusammen und lege sie dem Richter vor, damit er eine fundierte Entscheidung treffen kann. Dazu gehört auch eine Empfehlung unseres Büros.« Sie schaut Opal mit einem breiten, unechten Lächeln an. »Wir wollen alle nur das Beste für Zackery.« Klar, denkt sie. Als wollte ich das Schlechteste für ihn. »Nachdem ich mich mit Ihnen unterhalten habe, werde ich mit seinen Erzieherinnen sprechen. Mit Ihren Nachbarn. Und natürlich auch mit Zackery selbst. Wahrscheinlich werde ich empfehlen, dass er von einem Psychologen untersucht wird.« »Zack. Ich nenne ihn Zack.« Eines von Sarah Rogers’ Augen ist ein winziges bisschen kleiner als das andere. Sarah setzt sich und zieht ein Notizheft hervor. »Zack besucht den Kindergarten, nicht wahr?« Opal nickt. »Vormittags.« -275
»Was ist mit der restlichen Zeit? Wer sind seine Freunde? Hat er einen Lieblingsspielkameraden?« »Eigentlich nicht. Er spielt mit den anderen Kindern aus dem Kindergarten.« »Übernachtet er manchmal woanders?« »Dafür ist er noch ein bisschen jung.« Opal pult an ihrem abgesplitterten Nagellack herum. Was hat das alles mit Billys Sorgerechtsklage zu tun? Sarah Rogers notiert sich etwas. »Wann hatte er seine letzte ärztliche Untersuchung?« »Untersuchung?« »Seine letzte Kontrolluntersuchung? Wann war er das letzte Mal beim Arzt?« Opal weicht der Frage aus. »Stellen Sie Billy auch Fragen? Er hat keinen blassen Schimmer von Kindererziehung. Statt mit mir zu reden, sollten Sie lieber mal ihn abchecken.« »Natürlich werden wir auch mit Zacks Vater sprechen«, sagt Sarah übertrieben liebenswürdig. »Aber im Moment gilt mein Interesse erst mal Ihnen. Also, wo waren wir gerade? Ach ja. Wann war Zack das letzte Mal beim Arzt? Wer ist sein Kinderarzt?« Ob sie lügen kann? Wie genau sind die wohl mit ihren Nachforschungen? »Bisher hat er keinen Arzt gebraucht«, sagt Opal schließlich. »Seit unserem Umzug ist er nicht krank gewesen.« Sarah schaut in ihre Unterlagen. »Ich sehe hier, dass er sich letzten Herbst den Arm gebrochen hat.« Opal fröstelt, schlägt die Arme um ihren Oberkörper. Mit wem hat die Frau gesprochen? »Da war er nicht krank. Das war ein Unfall.« »In der Krankenhausakte stand etwas von Blutergüssen. Wenn ich es recht verstehe, war der zuständige Arzt etwas beunruhigt. Hat es noch andere Unfälle gegeben?« -276
»Nein.« Alles Quatsch, was Tante May gesagt hat. Das ist nicht einfach nur eine Frau, die ihre Arbeit tut. Das ist eine miese Zicke, die sie in möglichst schlechtem Licht darstellen will. Opal hält nur mit Mühe ihre Wut im Zaum. »Wie disziplinieren Sie Ihren Sohn, Miss Gates?« Ich prügele ihn mit einem dicken Stock, denkt sie, sagt jedoch: »Auszeit. Wenn er wirklich ungezogen war.« »Wie würden Sie Zacks Beziehung zu seinem Vater beschreiben?« Das ist leicht. »Sie existiert nicht.« »Und bevor Sie aus New Zion weggezogen sind?« »Er hat ihn nur selten gesehen. Billy hatte nicht das geringste Interesse daran, mit Zack zusammen zu sein. Ich hab keine Ahnung, warum er ihn jetzt plötzlich haben will.« »Und Ihre Eltern? Wie war die Beziehung zwischen Billy und ihren Eltern?« »Okay, würde ich sagen.« »Und wie ist sie jetzt?« »Besser als meine.«
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KAPITEL 32 ROSE »Ganz ruhig, Mrs. Nelson«, sagt die Arzthelferin. Rose liegt bis zum Schlüpfer entblößt auf der Untersuchungsliege, allerdings hat ihr die Arzthelferin Gott sei Dank wenigstens ein Tuch über die Beine gelegt hat. Der Arzt ist ein richtiger Gnom. Bleich wie roher Flussbarsch, wahrscheinlich, weil er sich an seine eigenen Ratschläge hält. Im Wartezimmer liegen stapelweise Broschüren, in denen geraten wird, die Sonne zu meiden. Rose erinnert sich noch an Zeiten, als man sich unbesorgt sonnte. Sie selbst hat ganze Sommer auf dem Badetuch ausgestreckt verbracht, sich der Sonne dargeboten wie eine Opfergabe, die Haut mit einer Mischung aus Babyöl und Jod eingeschmiert. Ihr Vater hat sein Leben lang auf der Farm im Freien gearbeitet. Bis das Heu eingebracht wurde, war die Haut an seinen Armen immer so dick und dunkel geworden, dass Rose an eine Schildkröte denken musste, doch an Hautkrebs verschwendete er keinen Gedanken. Früher hörte man auch nicht so oft davon wie heute. Mindestens drei Leute aus ihrem und Neds Bekanntenkreis haben schon Hautkrebs gehabt. Wenn man glauben darf, was man so hört, hat das mit der immer dünner werdenden Ozonschicht zu tun. Sie traut den Aussagen der Wissenschaftler nicht. Woher soll man wissen, ob die das nicht alles erfinden? »Guten Morgen.« Der Arzt nickt ihr kurz zu und fängt dann sofort an, vor sich hin zu sprechen. »Vierundfünfzigjährige Patientin, klagt über Rötung und Jucken an Muttermal auf dem Unterleib.« Es dauert einen Moment, bis Rose merkt, dass er in ein Mikrofon spricht, das am Aufschlag seines Arztkittels befestigt ist. Er schiebt einen Hocker auf Rollen neben die Untersuchungsliege und setzt sich. »Dann wollen wir mal sehen.« Er drückt mit dem Finger auf das Muttermal. »Tut das -278
weh?« »Nein. Es juckt bloß.« Er wendet sich zur Arzthelferin um, die ihm ein kleines Instrument reicht. »Fraglich«, sagt er ins Mikrofon. »Unterschiedlich pigmentierte Makula, rechtsperiumbilikal, asymmetrisch, nullkommaacht Zentimeter.« Makula. Rechtsperiumbilikal. Seine Hände gleiten über ihren Bauch. »Ich denke, das sollten wir überprüfen«, sagt er zu ihr. »Wir machen eine Biopsie. Dann sehen wir weiter.« Rose – die nicht zu Ohnmächten neigt – wird schwummerig. »Jetzt gleich?«, fragt sie. »Es ist völlig unkompliziert«, sagt er. »Ich gebe Ihnen eine örtliche Narkose. Sie werden nur einen kleinen Pikser spüren.« Er fährt mit einem Tupfer über ihren Bauch. Sie riecht den Alkohol. Moment, will sie sagen. Lassen Sie mich erst darüber nachdenken. »Fünf ccm Lidocain«, sagt er zu der Arzthelferin. Rose beißt gegen den erwarteten Schmerz die Zähne zusammen, doch dann tut es weniger weh, als sie dachte. Wirklich nur ein Pikser. Er tätschelt ihren Arm. »Das lassen wir jetzt einwirken. Sollte nicht mehr als ein, zwei Minuten dauern.« Er rollt auf seinem Hocker weg, legt die Spritze auf ein Tablett und verlässt die Kabine. Ein paar Minuten später ist er wieder da. »Alles klar?« fragt er. Er wäscht sich die Hände, zieht einen Mundschutz an. Dann hört sie das Schnalzen und Schmatzen der Gummihandschuhe, die er sich überstreift. Sie starrt an die Decke, spürt eine Art fernen Druck auf ihrem Bauch. Ein Kitzeln. Er spricht in sein Diktafon, doch sie lässt die Worte nicht an sich herankommen. »Fertig«, sagt er einen Augenblick später. Er legt ihr ein Stück Gaze auf den Bauch und klebt es fest. Streift die Handschuhe wieder ab. »Irgendwelche Fragen?« -279
»Äh ...« »Die Arzthelferin wird Ihnen genau sagen, was Sie zu tun haben. Wir haben einen sterilen Wundverband angelegt. In den nächsten zehn Tagen müssen Sie ihn täglich wechseln und eine antibakterielle Salbe auftragen. Natürlich können Sie uns auch jederzeit anrufen, wenn Sie unsicher sind.« »Wann werden Sie wissen, ob es ...« »Die Ergebnisse sind in einer Woche da. Wir rufen Sie an.« »Und dann müssen Sie es vielleicht wegschneiden?« Er sieht sie an und lacht dann. »Das habe ich gerade gemacht.« »Was?« Sie hatte mit einer aufwendigen Aktion gerechnet. Krankenhaus. Schmerzen. »Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen«, sagt er. »So wie es im Moment aussieht, ist alles in Ordnung.« Draußen scheint die Sonne so hell, dass ihr die Augen wehtun. Sie sieht alles ungewöhnlich scharf, als hätte er sie an den Augen operiert. Zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass sie Hunger hat. Zu Hause ist der Kühlschrank voll, aber sie gönnt sich zur Feier des Tages ein Sandwich bei Friendly’s, obwohl sie ja nun wirklich nicht weiß, ob es irgendetwas zu feiern gibt. Nach dem Mittagessen kauft sie in einer Gärtnerei zwei kleine Blumentöpfe mit roten Geranien. Über die Ränder kriecht Efeu. Sie hält die Tüte während der gesamten Busfahrt nach Normal auf dem Schoß. Der Friedhof ist von kleinen weißen und roten Rechtecken übersät. Seit sie denken kann, verteilt der Veteranenverband der Armee am Memorial Day Fähnchen auf den Gräbern der toten Soldaten. Als sie auf Todds Grab zugeht, entdeckt sie einen blauen Farbfleck. Von nahem sieht sie, dass jemand ein -280
Fliedersträußchen vor den Grabstein gestellt hat. Verärgert presst sie die Lippen zusammen. Ab und zu findet sie noch etwas am Grab. Meistens Blumen. Direkt nach der Beerdigung legten die Mädchen aus seiner Klasse alles mögliche Zeug auf sein Grab. Briefe. Plastikblumen. Plüschtiere. Sie warf alles weg. Sie hat kein Interesse daran, die Mädchen – es sind natürlich Mädchen – kennen zu lernen, die diese Sachen anbringen, die gleichen Mädchen, die auf seiner Beerdigung so ein Theater veranstaltet haben, als wollten sie durch die Lautstärke ihrer Trauer Besitzansprüche auf Roses Sohn geltend machen. Sie nimmt den bereits verwelkten Strauß vom Grab, geht damit an den Rand des Friedhofs und wirft ihn fort. Vor vier Jahren hat sie am Fuß von Todds Grab eine Weide gepflanzt, in deren Schatten das Gras dicht und grün wächst. Es ist frisch gemäht. Ned schreibt der Friedhofsverwaltung jedes Jahr einen Scheck aus, damit das Grab gepflegt wird. Nicht weit von hier liegt das Grab eines zwölfjährigen Jungen. Es ist von Unkraut überwuchert. Wie man ein Grab so verkommen lassen kann, ist ihr schleierhaft. Rose versucht ihre Gedanken in versöhnlichere Bahnen zu lenken. Letzten Endes ist ein Grab nur ein Stück Erde. Vielleicht trauern diese Leute ja, indem sie sich davon abwenden. Vielleicht sind sie inzwischen selbst tot. Oder umgezogen. Wie konnten sie bloß umziehen? Aber vielleicht geht das ja. Das wahre Grab, denkt sie, trägt man in sich. Sie zieht ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischt etwas Vogelkot vom Grabstein; dann zieht sie die Töpfe mit den Geranien aus der Tüte und stellt sie neben den Stein. Nichts kann Todd zurückbringen, aber die Blumen geben ihr das Gefühl, mit ihm verbunden zu sein. Trauern heißt, nicht zu vergessen. Sie faltet die Tüte zusammen und legt sie auf den Boden, dann setzt sie sich. Die Wirkung des Lidocain lässt langsam nach, und sie spürt etwas – Schmerz kann man es nicht nennen – -281
an der Stelle, wo das Muttermal entfernt wurde. In einiger Entfernung sieht sie einen Mann mit einem Retriever spazieren gehen. Eigentlich darf er das nicht – Hunde sind auf dem Friedhof verboten –, aber sie hat keine Lust auf eine Auseinandersetzung. Sie hat dem Herausgeber, einem gewissen Bruce Constantine, immer noch nicht geantwortet. »Wir müssen es bald wissen«, hat er ihr letzte Woche gesagt. »Wir haben bald Redaktionsschluss für diese Nummer.« Er hat eine nette Stimme, ruhig und geduldig. Sie hatte eigentlich schon beschlossen, der Veröffentlichung ihres Textes nicht zuzustimmen. Trauer ist etwas Privates, ganz egal, was Mr. Constantine ihr alles Nettes gesagt hat. Aber jetzt überlegt sie sich die Sache doch noch einmal. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass niemand, den sie kennt, die Zeitschrift lesen wird. Wahrscheinlich hat kein Mensch in Normal je von The Sun gehört. Er war der Meinung, was sie geschrieben habe, könne anderen helfen. Sie weiß nicht, ob das stimmt. Sie glaubt nicht, dass ihr nach Todds Tod irgendeine Lektüre hätte helfen können. Doch die Komp limente des Herausgebers gehen ihr nicht aus dem Kopf. Sie möchte mehr davon, und gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen. »Ich weiß nicht«, sagt sie zu Todds Grabstein. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Als sie nach Hause kommt, steht ein Wagen in der Einfahrt. Eine Frau steigt aus. »Mrs. Nelson?« »Ja.« »Ich bin Sarah Rogers. Ich habe kürzlich bei Ihnen angerufen.« Ach Gott, den Termin hat sie völlig vergessen. »Ja.« Sie denkt ja gar nicht daran, sich für ihre Verspätung zu entschuldigen. Die Frau streckt ihr die Hand entgegen. »Es wird nicht lang dauern. Ich habe nur ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin.« Rose -282
schüttelt ihre Hand, bittet sie aber nicht herein. »Wie Sie wissen, bin ich vom Gericht beauftragt, die Familiensituation zu begutachten und eine Empfehlung abzugeben.« Begutachten. Steckt ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen. Die Frau folgt ihr ins Haus. »Sie sind mit Miss Gates befreundet? Mit Opal?« beginnt Sarah Rogers. Rose zögert. Eine Tretmine. Sie antwortet mit einem unverbindlichen »Hmmmm«. Sie will sich in nichts hineinziehen lassen, doch sie will auch nichts sagen, was Opal schaden könnte. Das Mädchen ist vielleicht nicht die beste Mutter auf Erden, aber sie liebt Zack, daran besteht kein Zweifel. Mehr als ein Vater, der sich nur ein einziges Mal hat blicken lassen. Sarah Rogers öffnet ihre Aktentasche und zieht ein paar Unterlagen heraus. »Was können Sie mir über Zack erzählen? Mich interessiert wie Sie seine Beziehung zu seiner Mutter einschätzen.« »Ich kenne die beiden eigentlich kaum«, sagt Rose. Sarah wirft einen Blick in ihre Unterlagen. »Opal zufolge hüten Sie Zack gelegentlich.« »Einmal«, sagt Rose. »An Silvester.« »Hat sie Ihnen vielleicht erzählt, wie es sie nach Normal verschlagen hat?« Das ist ein weniger gefährliches Thema. Rose erzählt, wie Opal gewürfelt und dann entsprechend viele Tankfüllungen verfahren hat. Sie berichtet, dass Opal an Zeichen glaubt. »Sie sagte auch, Sie seien dabei gewesen, als Zack sich den Arm gebrochen hat. Können Sie dazu ein bisschen was sagen?« Rose zögert. »Ich brauche ein Glas Wasser. Ich bin völlig ausgetrocknet. Möchten Sie auch eins?« Jetzt sitzt sie zwischen allen Stühlen. Lügen will sie nicht. Schinde Zeit, denkt sie. Was -283
wird mit Zack geschehen, wenn sie die Wahrheit sagt? Sie weiß, was Ned ihr raten würde. Aber was sagt ihr Herz? Wie ist sie da nur so tief hineingeraten? »Mrs. Nelson?«, hakt Sarah Rogers nach.
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KAPITEL 33 OPAL Opal wacht auf, räkelt sich, schaut auf den Wecker. Es ist schon nach zehn. Es ist Jahre her, dass sie mal den Luxus hatte auszuschlafen. Bloß empfindet sie es jetzt nicht als Luxus. Eher als Höllenqual. Zack ist seit einer Woche in New Zion, und eine zweite lange Woche steht bevor. Es war ein Fehler, den zwei Wochen am Stück zuzustimmen. Sie hätte für eine Woche jetzt und eine zweite Woche irgendwann später kämpfen sollen. Vielleicht hätte sich Billy mit einer Woche zufrieden gegeben. Vielleicht hätte er auch ganz aufgegeben. Sie lauscht auf das zu stille Haus. Sie spürt Zacks Fehlen körperlich, eine Leere im Mage n, in der Brust, in der Kehle. Im Herzen. Es würde ihr besser gehen, wenn sie seine Stimme hören könnte, aber sie zögert, ihn wieder anzurufen. Gestern Abend endete das Telefongespräch mit Tränen auf beiden Seiten. »Zufrieden?« fragte sie, als Billy wieder am Telefon war. »Bis du angerufen hast, ging’s ihm prima«, schoss er zurück. Stimmte das? Woher soll sie es wissen? Wie kann sie Billy irgendetwas glauben? Sie traut ihm keinen Zentimeter weit über den Weg. Sie hätte sich gegen den Besuch wehren sollen. Was hatte Vivian zu ihr gesagt? Es sei nur zu ihrem Vorteil, sich vernünftig zu zeigen? Sie will nicht vernünftig sein. Sie will Zack bei sich haben. Hat Billy zugehört, als sie ihm sagte, dass Zack seine Cornflakes lieber mit Orangensaft isst als mit Milch? Und dass er ohne seinen Tigger nicht einschlafen kann? Sie weiß, dass Billy findet, sie sei Zack gegenüber zu nachgiebig. Billy vertritt die Meinung, dass Zack ein Junge ist und deshalb etwas aushalten muss. Sich ihn bei Melva vorzustellen ist noch schlimmer. Die -285
Regeln ihrer Mama sind starr wie Zaunpfähle: Der Teller wird leer gegessen. (Selbst wenn es Kohl gibt. Oder Limabohnen, von denen einem kotzübel wird.) Um halb acht ist Schlafenszeit. (Auch wenn man hellwach ist und ganz zappelig wird, weil man im Bett liegen muss.) Kein Nachtlämpchen. (Auch wenn in den dunklen Zimmerecken Werwölfe sitzen.) Die Regeln ihrer Mama sind endlos, und herzlos sind sie außerdem. Wer wird Zack vor Melva beschützen? Ach verdammt. Sie greift nach dem Telefon und wählt Billys Nummer. Am anderen Ende klingelt es. Einmal. Zweimal. Viermal. Siebenmal. Keiner nimmt ab. Kein Anrufbeantworter. Wo sind sie, verdammt? Sie ist machtlos. Sie hat keine Möglichkeit, ihren Kleinen zu erreichen. Panik erfasst sie. Sie will Zack bei sich haben.
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KAPITEL 34 NED Sie haben ihren Kaffee ausgetrunken und einen Rest Zitronenkuchen mit Baiser gegessen. Während Trudy das Geschirr spült, schaltet Ned den Fernseher aus und öffnet die Kasse. Er zählt die Scheine, notiert die Summe auf einem Zettel, fasst das Bündel mit einem Gummiband zusammen und schiebt es in den Geldsack. Er hat sich angewöhnt, Trudy beim Schließen zu helfen. Das tägliche Ritual beruhigt seine Nerven. Als er fertig ist, kommt sie aus der Küche. »Könntest du mich nach Hause fahren?«, fragt sie. »Phyllis hat das Auto.« Ihre Tochter sucht eine Wohnung, der erste Schritt, um sich von ihrem Mann zu trennen – allerdings hat sie das schon mehr als einmal durchexerziert, so dass Trudy sich keine allzu großen Hoffnungen macht. »Klar.« Sie wartet, bis er den Beifahrersitz des Pickup freigeräumt hat. »Tut mir Leid«, sagt er, während er ein paar ölige Lumpen und einen Ersatzteilkatalog hinter dem Sitz verstaut. »Ich habe keine Luxuslimousine erwartet.« Im engen Raum der Fahrerkabine nimmt er ihren Geruch wahr, eine überraschend angenehme Mischung, in der er Spuren von Bratfett und den Duft eines warmen Frauenkörpers ausmacht. Sie zündet sich eine Zigarette an. »Darf ich?« »Nur zu«, sagt er, obwohl es ihm eigentlich nicht passt. Rose wird den Qualm in seinen Kleidern riechen. Obwohl er nichts Unrechtes tut, hat er ein schlechtes Gewissen. Gut, er hat schon so seine Fantasien gehabt – welcher Mann hätte das nicht? Trudy ist eine attraktive Frau. Aber Fantasien sind keine Taten. Sein Treueversprechen hat er bis heute gehalten. Rose zu betrügen kam ihm nie in den Sinn. Trudy bläst eine Lunge voll -287
Rauch aus. Er wirbelt durch die Fahrerkabine. Ned öffnet das Ausstellfenster so, dass der Luftstrom direkt auf ihn gerichtet ist. »Macht es dir auch wirklich nichts aus?« »Nein, nein. Ich hab früher selbst geraucht. Hab vor zehn Jahren aufgehört.« »Das hab ich auch schon mal versucht. Keinen Tag lang hab ich durchgehalten.« »Du solltest dir eins von diesen Pflastern besorgen.« »Wozu denn? Keiner lebt ewig. Ich finde, man sollte aus dem Vollen schöpfen. Wie heißt es noch gleich in dieser Werbung? ›Mit Lust durchs Leben‹.« Soweit er das beurteilen kann, ist es mit der Lust in ihrem Leben nicht sehr weit her. Er fragt sich, ob sie wohl mit irgendjemandem schläft. Es hat im Laufe der Jahre das eine oder andere Gerücht gegeben – unvermeidlich, wenn eine Frau wie Trudy allein lebt –, aber ein Name ist nie gefallen. In Normal haben Geheimnisse nicht lange Bestand. »Du bist so still«, sagt sie. »Ich bin einfach müde.« Das stimmt wirklich. Er ist froh, dass ihn nur noch ein Tag vom Wochenende trennt. In letzter Zeit fühlt er sich oft ganz unvermittelt erschöpft. Er könnte einen Urlaub gebrauchen. Einen richtigen Urlaub. Tapetenwechsel. Faulenzen. In der Hängematte liegen. Baseballspiele im Radio verfolgen. Er stößt einen langen, tiefen Seufzer aus. Die Chance, Rose zu einem Urlaub zu bewegen, ist ungefähr so groß wie die, mit vier platten Reifen ein Autorennen zu gewinnen. Er hält vor Trudys Haus an. Das Fliegengitter an ihrer Tür müsste repariert werden. Überhaupt könnte das ganze Haus einen neuen Anstrich vertragen. »Komm doch noch einen Augenblick mit rein.« »Ich sollte eigentlich fahren.« »Ach komm, nur ein paar Minuten. Ich beiße nicht.« -288
»Das hab ich auch nicht befürchtet.« »Für ein Bierchen wird’s doch reichen.« Sie ist einsam, denkt er. Lebt ja auch allein. Wobei man natürlich nicht allein leben muss, um sich einsam zu fühlen. Ach, was soll’s. Mit Lust durchs Leben. Oder wenigstens mit einem Bier. Ein Bierchen hat noch keinem geschadet. Er steigt aus und folgt ihr zur Haustür, nicht ohne zu überlegen, wie er Rose später seine Fahne erklären soll. Im Haus riecht es muffig, doch alles ist picobello sauber. Im Wohnzimmer hängt eine gewebte Decke wie ein Gemälde an der Wand. Die Farben sind so grell, dass er davon Kopfweh bekommt. »Ist ein Miller okay?«, ruft sie aus der Küche. »Bestens«, sagt er und hofft, dass es kein Miller Lite ist. Dieses Pseudobier – da könnte er genauso gut Kuhpisse trinken. Er sieht sich um. Einige gerahmte Fotos stehen nebeneinander auf dem Kaminsims. Er tritt näher, um sie besser betrachten zu können. Eins zeigt Phyllis, ein zweites Phyllis mit ihrer Tochter, Trudys einzigem Enkelkind. Auf dem dritten sieht man ein dunkelhaariges Indianermädchen. Bestimmt das Lakota-Kind, für das Trudy die Patenschaft übernommen hat. Er nimmt das Foto in die Hand. Gescheit sieht sie aus. Braune Augen, die einen direkt anblicken und um Zuneigung heischen. Eine gute Sache, diese Patenschaft. Er fragt sich, ob Rose auch an so etwas interessiert sein könnte. Vielleicht sollte er es mal ansprechen. Er stellt das Bild gerade aufs Kaminsims zurück, da kommt die erste Schmerzattacke. Draußen in der Küche ruft Trudy etwas, doch er kann nicht antworten. Es ist kein scharfer Schmerz, eher ein Druck, ein so bleischwerer Druck, dass er kaum atmen kann. Er strahlt nach unten in seinen Arm ab und nach oben in den Kiefer. Großer Gott, das ist ja wie Zahnschmerzen, die grauenhaftesten Zahnschmerzen, die er je hatte. »Aus der Dose oder aus dem Glas?«, fragt Trudy von der Tür aus. -289
Er sinkt in einen Sessel, ringt um Atem. Herrgott noch mal, sein Kiefer bringt ihn schier um. »Ned? Ist alles in Ordnung? Was ist denn los?« »Nichts«, sagt er, erleichtert, dass er sprechen kann. Es lässt schon nach, nur die Erinnerung bleibt zurück. Junge Junge. »Du bist ja schweißüberströmt. Ist wirklich alles okay?« »Alles in Ordnung. Ein Krampf oder so was. Blähungen.« Er versucht zu grinsen. »Zu viele Donuts, zu viel Kuchen.« Er legt die Hand auf die Brust, auf dieses Flattern. »Was ist passiert?« »Nichts.« Sie geht zu ihm rüber, nimmt seinen Arm, tatstet nach seinem Puls. »Was denn, bist du plötzlich Krankenschwester geworden?«, fragt er mit einem gequälten Lächeln. »Ich rufe den Notarzt.« »Nein, lass. Es ist nicht der Rede wert. Blähungen, wie gesagt.« »Jetzt hör mal zu. Ich habe meinen Vater an einem Herzanfall sterben sehen. Das will ich mit dir nicht noch mal erleben. Lieber zu vorsichtig als zu spät.« Herzanfall? Was redet sie denn da? Das Schlimmste war sein Kiefer. Wer hat schon einen Herzanfall im Kiefer? Er rafft genügend Kraft zusammen, um ihr zu widersprechen. »Ich hab dir doch gesagt, mir geht’s gut. Es ist schon vorbei. Wenn du unbedingt was tun willst, dann bring mir ein paar Magentabletten.« Aber sie ist schon weg. Peinlich berührt hört er, wie sie den Notarzt anruft. Was für ein Aufhebens wegen nichts und wieder nichts. Er merkt nicht, wie die Zeit vergeht. Im nächsten Moment kommt Bud Flynn zur Tür herein. Er hat einen grünen Matchbeutel dabei. »Ned, was gibt’s?« Ein junger Kerl ist bei ihm, der neue Sanitäter. Mein Gott, der -290
Junge sieht aus, als würde er noch zur Highschool gehen. Ned versucht einen Scherz zu machen, doch er hat nicht genügend Energie. »Nichts. Magenverstimmung. Zu viele Donuts.« Das Sprechen kostet ihn ungeheure Kraft. Bud fühlt ihm den Puls. Schaut ihm in die Augen. »Mag sein«, sagt er, »aber ich untersuche dich trotzdem lieber mal.« Er öffnet den Matchsack und zieht ein Sauerstoffgerät heraus. Trotz Neds Protest streift er ihm die Atemmaske über. Der Junge stellt ein anderes Gerät auf. Eine Art Computer. »Was ist denn das?«, stößt Ned mühsam hervor. »Ein EKGMonitor.« »Ich hab doch gesagt, mir geht’s gut«, sagt Ned durch die Atemmaske. Es ist ihm peinlich, dass so ein Aufhebens um ihn gemacht wird, und das auch noch hier bei Trudy. Er ist ja nun wirklich in aller Unschuld mit reingekommen, aber weiß der Himmel, was Bud denkt. Das fehlt ihm gerade noch, dass Gerüchte über Trudy und ihn in die Welt gesetzt werden. »Ich messe mal deinen Blutdruck«, sagt Bud. Ned hat es aufgegeben zu protestieren. Er will nur noch nach Hause. Hoffentlich erfährt Rose nichts von alldem. Es geht ihm schon besser »So, und jetzt machen wir ein EKG«, sagt Bud. »Wollen doch mal sehen, wie’s um dich steht.« »Es gibt überhaupt keinen Grund, so ein Aufhebens zu machen.« »Lass die beiden einfach ihre Arbeit tun«, sagt Trudy. »Wo wir schon hier sind«, sagt Bud, »kannst du uns wenigstens unser Geld verdienen lassen.« »Dauert das lange?« »Nur einen Augenblick.« Der Junge wickelt ihm die Manschette um den Arm und -291
schließt das Gerät an. Bud studiert den Ausdruck. »Eine leichte Arhythmie.« »Was zum Teufel heißt denn das?« »Das heißt, dass du einen kleinen Ausflug mit uns machen darfst.« »Wohin?« »Zum Mercy Memorial.« »Nein«, sagt er. »Ins Krankenhaus geh ich auf gar keinen Fall.« Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal krank war. Selbst eine Erkältung hat er schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Magenverstimmung. Zahnschmerzen. Das ist alles. »Hör zu, Ned«, sagt Bud. »Es ist in deinem eigenen Interesse. Uns wäre sehr viel wohler, wenn du mitkommst. Dich durchchecken lässt. Und dir wird auch wohler sein. Willst dir doch nicht die ganze Nacht Sorgen machen. Es wird dich beruhigen.« Schließlich willigt er ein. Er muss sich auf eine Trage legen. Die Beatmung wird aufrechterhalten. Der Junge – Dave – fährt den Notarztwagen. Bud steigt hinten ein. Sobald sie unterwegs sind, legt er Ned eine Infusion. »Was ist denn das?« »Eine Kochsalzlösung.« Sobald Ned am Tropf hängt, ruft Bud im Krankenhaus an. »Mann um die sechzig. Schmerzen in der Brust. Arhythmie. Hoher Blutdruck. Wird beatmet, hängt am Tropf.« Mann um die sechzig. Herrje, sie sind zusammen zur Schule gegangen. Ned repariert Buds Auto. »Schmerzen?«, fragt eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Lassen schon nach.« »Soll ich vielleicht Rose anrufen?«, schlägt Bud vor. »Ihr Bescheid sagen?« »Nein«, sagt Ned. Er sieht keinen Grund, sie zu beunruhigen. Er wird das Krankenhaus verlassen und nach Hause fahren, -292
bevor sie auc h nur merkt, dass er spät dran ist. Die übertreiben doch alle. Nicht mal mehr eine Magenverstimmung kann man in Ruhe haben. Er überlegt, ob Bud ihn wohl später zu Trudy fahren würde, damit er den Pickup abholen kann. »Wirklich nicht? Du wirst zu spät zum Essen kommen, und wenn sie in der Werkstatt anruft, geht keiner ran. Wenn sie wie Judy ist, dann wird sie sich die grässlichsten Dinge ausmalen. Lass mich doch anrufen. Ich werde sie nicht ängstigen.« Keiner von beiden erwähnt mit einem Wort, dass er bei Trudy war. Er kann sich nur zu gut vorstellen, wie das aussieht. Er muss unbedingt wieder auf die Beine kommen, den Pickup abholen und nach Hause fahren. Wie soll er das sonst bloß alles Rose erklären?
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KAPITEL 35 ROSE Opal arbeitet wieder im Garten. Sie ist schon den ganzen Tag draußen, gräbt und gießt und betütert jede Tomatenpflanze einzeln. Dem Mädchen geht es nicht gut, sie leidet unter der Trennung von Zack. Und dazu noch diese Frau vom Gericht, die in der ganzen Stadt ihre Fragen stellt. Wo es mehr als genug Leute gibt, die nur darauf warten, ihr ein paar Takte zu erzählen. Es ist schlichtweg kriminell, wie das Gericht sich in das Leben eines Menschen einmischen darf. Ausnahmsweise einmal hat das Mädchen den Kassettenrecorder nicht mit rausgenommen. Sie hätte es tun sollen. Vielleicht hätte er die Stille, die durch die Abwesenheit ihres Sohns entstanden ist, zumindest ansatzweise füllen können. Andererseits weiß Rose besser als jeder andere, dass kein Geräusch auf Erden diese Art von Leere ausfüllen kann. Sie überlegt, ob sie Opal ein Glas Eistee anbieten soll, doch bevor sie ihren Gedanken in die Tat umsetzen kann, klingelt das Telefon. Die Biopsie liegt mehr als eine Woche zurück. Die Arzthelferin hat gesagt, sie würden ihr das Ergebnis eine Woche später telefonisch mitteilen, und heute ist der neunte Tag. Werden sie es ihr direkt sagen, wenn sie schlechte Nachrichten haben, oder sie in die Praxis einbestellen? Die werden einem doch so was wie »Sie haben Krebs« bestimmt nicht telefonisch an den Kopf werfen. Sie versucht schon die ganze Zeit, sich auf diesen Moment vorzubereiten, aber es ist schlicht unmöglich. Sie nimmt ab. »Mrs. Nelson?« »Ja.« »Hier ist die Praxis Dr. Murphy.« »Ja.« »Dr. Murphy hat mich gebeten, Sie anzurufen.« Ihre Finger -294
schließen sich fester um den Hörer. »Ja.« »Wir haben den Laborbefund bekommen.« Dann sag ihn mir doch, hätte sie am liebsten geschrien. Sag ihn mir. Sie vergisst fast zu atmen. »Er ist negativ.« »Negativ?« »Ja. Voll und ganz. Das Thema können Sie abhaken.« Sie stößt einen langen lautlosen Seufzer aus, bedankt sich bei der Arzthelferin, legt auf. Sie spürt, wie die harte schwarze Faust in ihrer Brust sich öffnet und die Finger ausstreckt. Wenn Menschen eine gute Nachricht erhalten, sagen sie Sätze wie »Mir fällt ein Stein vom Herzen« oder »Mir ist eine Last von der Seele genommen« oder »Ich fühle mich wie neugeboren«. Rose merkt, dass diese alten Redensarten erstaunlich treffend sind. Möchte sie das, noch einmal neugeboren sein? Ja. Das Erstaunliche – das absolut Verblüffende ist, dass sie es möchte. Sie steigt die Treppe zu Todds Zimmer hinauf. Die Abendsonne fällt durchs Fenster herein, ergießt sich über die Kommode und den tönernen Tiger, den Todd im Ferienlager gemacht hat. Sie streichelt die Figur. Sie berührt seine Uhr. Zwischen den Gliedern des Armbandes klebt immer noch Blut, nach all den Jahren. Sie nimmt eins der Fotos in die Hand. Jahrelang hat sie sich die Erinnerung an den Tag, an dem es aufgenommen wurde, versagt, so als wären Erinnerungen im Stande, einen zu ... ja, was? Zu erdrücken? Zu überwältigen? Zu vernichten? Sie lässt sich auf die Matratze sinken und fährt mit der Fingerspitze Todds Gesicht nach. An jenem Tag veranstalteten sie eine Grillparty im Garten. Sie selbst war gerade mit einer Schüssel Kartoffe lsalat aus dem Haus gekommen. Ned grillte Huhn. Todd turnte draußen herum, er jonglierte mit Tennisbällen und wirkte dabei hoch konzentriert und anmutig zugleich. Er war damals fünfzehn. Größer als sie und Ned dicht auf den Fersen. Er wuchs, entwuchs ihnen. Neuerdings riefen ab -295
und zu Mädchen an und fragten kichernd nach ihm. Sie weiß nicht mehr, was sie dazu veranlasste, noch mal hineinzugehen und den Fotoapparat zu holen. Die große Fotografin ist sie nie gewesen. »Ach, Ma«, sagte Todd, als sie die Kamera auf ihn richtete. Doch er lächelte, und sie erwischte ihn genau in diesem Moment, im Licht der sommerlichen Abendsonne, die Hände mit den Handflächen nach oben, die Tennisbälle in der Luft, so als hingen sie an Fäden vom Himmel herab. Eine Sekunde einer Minute einer Stunde seines Lebens. Zeit genug, um ein Foto zu machen. Geronnene Zeit. Sie steht auf und stellt das Bild wieder auf die Kommode. Könnte sie doch bloß mit Ned reden. Sie würde ihn gern fragen, ob er sich an diese Grillparty erinnert. Ob er noch weiß, wie Todd fünf Tennisbälle gleichzeitig in der Luft hielt, sie von der linken Hand in die rechte und von der rechten in die Luft schnellen ließ, immer wieder im Kreis herum, bis einem schon vom Zusehen schwindlig wurde. Wo hatte er das gelernt? Was hat Ned von diesem Tag noch in Erinnerung? Warum können sie nie über die wirklich wichtigen Dinge sprechen? Hat sie es je versucht? Hat sie es intensiv genug versucht? Das Problem bei Geheimnissen ist, dass sie die Menschen voneinander trennen. Sie hat alles, was ihr in den vergangenen Monaten widerfahren ist, vor Ned geheim gehalten. Dass sie im Krankenhaus für Opal gelogen hat. Dass sie in dem Kurs all ihre Gefühle und Gedanken zu Todds Tod niedergeschrieben hat. Dass eine Zeitschrift ihren Text in einem Themenheft veröffentlichen wollte. Dass sie seit letztem Herbst ein juckendes Muttermal auf ihrem Bauch hatte und mit dem Bus nach Springfield gefahren ist, um eine Biopsie vornehmen zu lassen. Dass sie danach zu Todds Grab gegangen ist und beschlossen hat, die Zeitschrift ihren Text veröffentlichen zu lassen. Und jetzt der Anruf, dass die Biopsie einen negativen -296
Befund ergeben hat. Doch all diese Geheimnisse beruhen auf dem allergrößten Geheimnis: dass sie Todd am Tag seines Unfalls nicht erlaubt hat, ihr Auto zu nehmen, und er sonst wahrscheinlich noch am Leben wäre. Manche Fehler sind einfach und gewaltig zugleich. Jetzt wünscht sie sich, sie hätte Ned von der Biopsie erzählt, könnte sich nun mit ihm zusammen darüber freuen, dass das Muttermal gutartig war. Doch es ist zu spät. Er würde böse sein, dass sie es ihm nicht früher erzählt hat. Sie hat die Gelegenheit verpasst, ihm etwas Gutes zu tun. Na, zumindest wird sie ihm ein besonderes Abendessen zubereiten. Schmorbraten mit Kartoffelbrei. Es ist noch genug Zeit, um zum Supermarkt zu gehen und ein schönes Stück Fleisch zu besorgen. In letzter Zeit hat er nicht viel Appetit gehabt, wenn er von der Werkstatt nach Hause kam. Als das Telefon noch einmal klingelt, nimmt sie sofort ab, überzeugt, es müsse Ned sein, wo sie doch gerade so intensiv an ihn denkt. Opals Einfluss macht sich bemerkbar. »Mrs. Nelson?«, sagt eine unbekannte Stimme. »Ja«, sagt sie reserviert. Es sollte ein Gesetz gegen Telefonmarketing geben. »Mrs. Nelson, hier ist Helen Blake vom Mercy Memorial. Ihr Mann, Edward, ist in die Notaufnahme eingeliefert worden.« Ein Unfall, denkt Rose. Die Hebebühne. Dem Ding hat sie noch nie getraut. Nie. Sie stellt sich vor, wie Ned zermalmt darunter liegt. »Ist er schwer verletzt?« »Ich weiß nicht, Mrs. Nelson. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass er in der Aufnahme ist. Die Ärzte sind bei ihm. Sie können ihn sprechen, wenn Sie kommen. Lassen Sie sich von einer Freundin herfahren, ja?« Rose schnappt sich ihre Handtasche und geht zu Opal rüber. Während sie den Rasen überquert, beginnt sie mit Gott zu verhandeln. Sie fragt sich, ob es Ihm etwas ausmacht, dass sie nicht mehr an Ihn glaubt. Sie fragt sich, ob Gott ihr glauben wird, wenn sie sagt, dass sie ihre Lügen bereut. Opal nimmt sich nicht mal die Zeit, sich die Hände zu waschen. -297
»Ich habe dieser Hebebühne nie getraut«, erklärt Rose immer wieder, während sie zum Mercy fahren. »Nie.« »Mrs. Rose Nelson«, informiert sie die Frau an der Anmeldung. »Man hat mich angerufen. Mein Mann ist hier eingeliefert worden.« »Sein Name?« »Nelson. Ned Nelson.« »Wir haben einen Edward Nelson.« »Das ist er.« Seit seine Mutter tot ist, hat ihn kein Mensch mehr Edward genannt. »Er liegt in Nord 3. Auf der Kardiologischen Intensivstation.« Rose ist auf diese Antwort so wenig vorbereitet, dass die Frau genauso gut hätte Suaheli sprechen können. Kardiologische Intensivstation? Bei einem Unfall? »Da muss ein Irrtum vorliegen.« »Wie kommen wir da hin?«, fragt Opal. »Nehmen Sie den Fahrstuhl in den dritten Stock und folgen Sie den grünen Pfeilen.« Sie reicht ihnen eine Karte mit einer gedruckten Wegbeschreibung. »Im Schwesternzimmer dort wird man Ihnen weiterhelfen.« »Was hat sie gesagt?«, fragt Rose Opal. Opal wiederholt die Wegbeschreibung, dann nimmt sie Rose am Arm und führt sie zu den Fahrstühlen. »Er ist gerade erst gebracht worden«, sagt eine Krankenschwester, als sie auf der Station angelangt sind, und blockt damit Roses Fragen ab. »Geben Sie ihm noch fünf Minuten.« Sie deutet auf einen Raum am Ende des Flurs. »Nehmen Sie noch einen Moment im Aufenthaltsraum Platz, es wird gleich ein Arzt zu Ihnen kommen.« Der Aufenthaltsraum ist leer bis auf eine hohläugige Frau, die -298
auf einen Fernseher starrt. Der Ton ist abgedreht. Sie blickt nicht auf, als Rose und Opal eintreten. Rose ist dankbar, dass Opal bei ihr ist, dankbar für die erdverschmierten Finger, die sich in ihre verschränkt haben. »Das muss ein Irrtum sein«, sagt sie. Natürlich ist es ein Irrtum. Ein gewaltiger Irrtum. Von einer gelegentlichen Erkältung mal abgesehen, ist Ned sein Lebtag lang nicht krank gewesen. Im Krankenhaus war er noch nie. Nicht mal die Mandeln hat er herausgenommen gekriegt. Auch den Blinddarm nicht. Er ist doch erst siebenundfünfzig. Eine andere Krankenschwester kommt auf sie zu. »Kann ich ihn jetzt sehen? Was ist denn los? Warum liegt er auf der Kardiologischen Station?« »Eine kleine Herzgeschichte. Im Moment ist sein Zustand stabil. Der Arzt wird Ihnen alles erklären.« »Wann kann ich ihn sehen?« Eine Herzgeschichte. Das klingt ja nicht so dramatisch. Wie aus einem Kinderbuch. »Bald. In der Zwischenzeit würde ich Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen.« Sie hält den Stift über ihre Klemmmappe. »Wie alt ist Edward?« »Ned«, sagt sie. »Er heißt Ned.« »Wie alt ist Ned?« »Siebenundfünfzig.« »Sie sind seine Frau?« Natürlich ist sie seine Frau. Hören diese Leute denn überhaupt nicht zu? Das hat sie doch schon gesagt. »Ja.« »Haben Sie Kinder?« Sie schweigt. Opal springt ein. »Eins. Einen Sohn.« »Wo lebt er?« Rose starrt auf den Fernseher. Eine Nachrichtensendung. Ein Mann blickt sie vom Bildschirm an, bewegt die Lippen, nichts -299
ist zu hören. »In ihrem Herzen«, sagt Opal. »Er lebt in ihrem Herzen.« Die Krankenschwester ist fürs Erste zum Schweigen gebracht. In ihrem Herzen. Rose schließt ihre Finger fester um Opals Hand. »Wann kann sie ihren Mann sehen?«, fragt Opal. »Vorhin hieß es, in fünf Minuten, und das ist bereits eine Viertelstunde her. Was ist los?« »Sie sind?« »Ihre Nichte«, sagt Opal. Die Lüge kommt ihr ohne Zögern über die Lippen. »Mrs. Nelson?« Der Arzt sieht zu jung aus, um auch nur das College abgeschlossen zu haben, geschweige denn ein ganzes Medizinstudium. »Ja.« »Ich bin Dr. Richards.« Er hält ihr die Hand hin, doch Rose ignoriert sie. »Was ist mit meinem Mann?« »Er hatte einen Myokardinfarkt, aber sein Zustand ist jetzt stabil.« Myokardinfarkt. »Sie meinen, einen Herzinfarkt?« Großer Gott. Eine Herzgeschichte, hatte die Schwester gesagt. Ein Infarkt ist doch keine Herzgeschichte. »Wird er wieder gesund werden?« »Im Moment sieht es gut aus. Wir warten noch auf die Ergebnisse des Enzymtests. Möchten Sie zu ihm?« »Ja.« »Fünf Minuten. Fünf Minuten dürfen Sie rein.« Plötzlich hat sie Angst. »Das wird schon«, flüstert Opal ihr zu. Rose folgt dem Arzt zu Neds Zimmer. Er sitzt im Bett, hat Plastikschläuche in den Nasenlöchern. Er ist an einen Monitor angeschlossen. -300
Durch einen Infusionsschlauch tropft eine farblose Flüssigkeit in eine Vene seines rechten Arms. »Hallo Rose«, sagt er. »Oh Ned.« Sie fängt an zu weinen. Sie möchte ihn küssen, hat aber Angst, an die Plastikschläuche in seiner Nase zu stoßen. Sie drückt seine Hand. »Hey«, sagt er. »Hey, Rosie. Nicht weinen.« »Ich kann nicht anders.« »Mir geht’s prima«, sagt er. »Guck.« Er hebt den linken Arm, spannt den Bizeps an und streckt einen Finger aus, mimt den Bodybuilder. »Wo geht’s hier zum Strand?«, fragt er. Es ist ein alter Witz aus ihrer Anfangszeit. Der Monitor beginnt hektisch zu piepsen. »Großer Gott.« Rose sieht sich nach Hilfe um. Eine Krankenschwester eilt herein. Mit verlegener Miene senkt Ned den Arm. »Gehen Sie bitte raus«, sagt sie zu Rose. Erst nach einer Viertelstunde darf sie wieder hinein. Sie geht auf Zehenspitzen, als könnten allein ihre Schritte wieder den Alarm des Monitors auslösen. Sie hat sich fest vorgenommen, nicht zu weinen, doch die Träne n kommen ganz von selbst. »Rosie, Rosie«, flüstert er. Sie zieht ihren Stuhl neben sein Bett, legt den Kopf in seine Armbeuge. Er zuckt zusammen, und sie nimmt den Kopf schnell weg. Er zieht ihn wieder heran. »Das ist schön«, sagt er. Sie bleibt so sitzen, ganz still, horcht auf sein Herz, seinen wunderbaren gleichmäßigen Herzschlag. Mit dem anderen Ohr hört sie den Monitor. Stereosound. Sie kichert, und als er nachfragt, erklärt sie ihm, was so lustig ist. »Ich liebe dich«, sagt sie. »Ich dich auch, Rosie. Ich habe dich immer geliebt.« Als sie wieder in den Aufenthaltsraum zurückkehrt, hat Opal ihr ein Sandwich bestellt. Und Kaffee. Zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass sie Hunger hat, sieht, dass es schon nach acht ist. Die Schicht wechselt. Eine neue Krankenschwester kümmert sich um Ned. Eine andere Schwester sitzt am Tisch und überwacht die Monitore. Rose empfindet eine unwillkürliche -301
und unbegründete Abneigung gegen die Frau. »Gehen Sie nach Hause«, sagt sie zu Rose. »Wir rufen Sie an, wenn sich irgendetwas verändert.« »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagt Opal. »Lassen Sie sich nicht von denen herumkommandieren.« Sie beschließt zu bleiben. Warum sollte sie irgendwo anders sein wollen? Opal bleibt bei ihr. Gegen elf hat sie schließlich das Gefühl, Ned mit gutem Gewissen über Nacht allein lassen zu können. »Schläft er gerade?« Die Krankenschwester wirft einen Blick auf den Monitor. »Er ist eben aufgewacht.« »Kann ich rein und mich von ihm verabschieden?« »Fünf Minuten. Schlaf ist im Moment das Allerbeste für ihn.« »Ned? Liebster? Ich bin’s, Rose.« »Mensch Rosie, das weiß ich doch. Ich habe einen Herzinfarkt gehabt, keinen Gedächtnisschwund.« Sie küsst ihn auf die Wange, die rau und stoppelbärtig ist. Sie darf nicht vergessen, ihm morgen seinen Rasierer mitzubringen. »Ich fahr jetzt heim. Morgen früh bin ich wieder da.« »Ja. Gut.« »Ach Ned«, sagt sie. »Hast du Angst?« »Nein.« »Wirklich nicht?« Sie kann es nicht fassen. »Ich schon.« »Rosie«, sagt er, »es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest.« »Doch.« Sie zwingt sich, das Wort auszusprechen. »Vor dem Tod. Ich habe Angst, dass du stirbst.« »Der Tod ist nur das nächste große Abenteuer.« »Sag nicht so was«, bittet Rose. »Sag nicht so was. Das stimmt doch nicht.« Lass mich nicht allein, würde sie am -302
liebsten rufen. Sie ist laut geworden, und die Krankenschwester kommt und schickt sie hinaus. Draußen im Korridor entschuldigt sie sich. »Lassen Sie mich noch mal zu ihm. Ich werde mich nicht wieder aufregen.« »Sie sind müde. Fahren Sie nach Hause, und schlafen Sie ein bisschen. Es ist besser für ihn, wenn Sie erholt sind. Kommen Sie morgen früh wieder. Ich verspreche Ihnen, dass er noch da sein wird.« Als ob man so etwas versprechen könnte. Als sie durchs Foyer gehen, erhebt sich eine Frau von einem der Stühle im Halbdunkel. »Rose?«, fragt sie. Sie braucht einen Augenblick, um Trudy zu erkennen. »Ja.« Was macht die denn hier? »Wie geht es Ned? Sie haben mich nicht zu ihm hochgelassen. Nur Verwandtschaft.« »Er schläft. Er hatte einen Herzinfarkt.« »Ich weiß.« »Was?« »Er war bei mir. Er hat mich nach Hause gefahren.« Nach Hause gefahren? Ned hat Trudy nach Hause gefahren? »Es ging alles so schnell. Zuerst dachte er, er hätte sich am Kuchen den Magen verdorben. Er kommt doch nachmittags nach der Arbeit immer auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen vorbei, das weißt du ja.« Nein. Das weiß sie nicht. Jeden Nachmittag. Zu Trudy. Ohne dass sie etwas davon wusste. »Sem Pickup steht noch bei mir. Ich habe die Schlüssel eingesteckt. Ich kann den Wagen morgen Vormittag zur Werkstatt fahren.« Ned war bei Trudy? »Nicht nötig«, sagt Rose. »Ich hole ihn nachher. Opal kann mich hinfahren.« Der Pickup steht in Trudys Einfahrt. Rose hievt sich in die -303
Fahrerkabine hoch. Das Lenkrad fühlt sich schmierig an. In der Kabine riecht es leicht nach Rauch. Sie rammt den Zündschlüssel ins Schloss, lässt den Motor an. Sie hat vergessen, die Kupplung zu treten, so dass der Wagen einen Satz macht und dann stehen bleibt. Sie beugt den Kopf übers Steuer, kämpft gegen die Tränen an. Trudy schaut von der Veranda aus zu. Rose beißt die Zähne zusammen, tritt voll auf die Kupplung und probiert es noch einmal. Langsam rollt sie aus der Einfahrt hinaus. Es ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass sie Auto fährt. Sie spürt, wie sich unter den Rädern die Erde bewegt. Tektonische Verschiebungen.
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KAPITEL 36 OPAL Opal wird vom Telefon geweckt, und noch im Halbschlaf denkt sie sofort: Zack. Sie rollt sich auf die andere Seite und nimmt ab. »Opal?« Es ist Ty. Bevor ihr Verstand ganz erwacht ist, wird ihr Körper weich, öffnet sich dem Begehren. »Hi.« Sie setzt sich auf, wickelt sich die Decke um den nackten Körper. »Wie geht es dir? Wie geht’s Zack?« »Mir geht’s gut. Uns geht’s gut.« Sie erzählt ihm nicht, dass Zack bei Billy zu Besuch ist. Dass sie ihn so sehr vermisst, dass sie kaum essen kann, schon fünf Pfund abgenommen hat, ihre Rippen zählen kann, wenn sie in den Spiegel schaut. Wenn sie Zack verliert, ihn wirklich verliert – unmöglich, schreit es in ihrem Innern –, dann wird sie zusammenschrumpfen und sterben. »Ich denke oft an dich.« Sie hält den Atem an, stößt ihn ganz langsam aus. »Es gibt kaum einen Tag, an dem ich nicht an dich denke«, sagt er. Es hat gar keinen Zweck, in dieser Richtung weiterzureden. Das ist eine Sackgasse. Erledigt. Aus und vorbei. Ihr Verstand weiß das. Bloß ihr Körper hat es noch nicht mitgekriegt. »Wie sind die Aufnahmen in Cambridge gelaufen?« »Nicht schlecht.« Er holt tief Luft, macht eine kurze Pause. »Opal, ich würde dich gern sehen. Geht das? Können wir uns sehen?« Sie schließt die Augen. Wenn doch nur einmal – ein einziges Mal – etwas Wunderbares geschehen könnte, ohne dass es seinen Preis kostet. Etwas, das rundum stimmt, ohne dass sie dafür bezahlen muss. »Geht nicht.« »Warum nicht? Weil ich vor Jahren festgenommen worden -305
bin? Weil ich einen Fehler gemacht habe? Mann, Opal, nicht mal der Richter hat das ernst genommen. Schließlich hat er die einstweilige Verfügung doch abgelehnt, oder? Er hat nicht gesagt, dass ich mich nicht mit dir treffen darf. Frag Ned – er wird dir bestätigen, dass man sich auf mich verlassen kann.« Verdammt. Ned. Das Krankenhaus. »Weißt du das mit Ned?« »Mit Ned? Was ist mit ihm?«
»Er liegt im Krankenhaus. Herzinfarkt.«
»Mein Gott – wie geht es ihm?«
»Er liegt auf der Kardiologischen Station. Er ist ..« Wie
nennen die das? Stabil? »Er ist stabil.« »Und wie geht’s Rose?« »Rose ist okay.« So okay, wie man eben sein kann, denkt Opal. »Ist irgendjemand bei ihr?« »Ich fahre hin, sobald wir mit dem Telefonieren fertig sind.« »Und Ned liegt noch im Krankenha us? Kann man ihn besuchen?« »Ich glaube nicht. Nur Verwandtschaft.« »Sag Rose, dass ich nach ihm gefragt habe, ja? Sag ihr, dass sie anrufen soll, wenn ich irgendwas für sie tun kann. Und dass sie sich keine Gedanken wegen der Werkstatt machen soll. Ich geh morgen hin und erledige die restlichen Aufträge. Und sie soll Ned auch sagen, dass er sich wegen der Werkstatt keine Sorgen machen muss.« »Ich werd’s ihr sagen.«
»Opal?«
»Ja?«
»Rufst du mich mal an? Sagst mir, wie alles läuft?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil es mir wichtig ist, darum. Und vielleicht haben wir ja
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noch eine Chance, wenn das alles erst mal geregelt ist. Machst du das? Rufst du mich an?« Wird sie das tun? Kann sie es tun? »Ich weiß noch nicht. Vielleicht.« Rose ist noch nicht angezogen. Ihre Brille ist verschmiert. Sie sieht furchtbar aus, als hätte sie kaum ein Auge zugetan. »Bin ich zu früh?« »Nein, komm rein.« Rose schaut auf ihren Bademantel herunter, hebt an, etwas zu sagen, und sagt es dann doch nicht. »Kaffee?«, fragt sie. »Ich geh schon«, sagt Opal. Sie gießt sich eine Tasse ein, hält die Kanne mit fragendem Blick in Roses Richtung. »Danke. Milch ist im Kühlschrank.« »Ty hat angerufen.« Opal zieht sich einen Stuhl heran. Es stehen bloß zwei am Tisch. Vermutlich sitzt sie auf Neds Stuhl. »Er hat gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen, er wird sich um die Werkstatt kümmern. Und du sollst das auch Ned sagen, damit er sich keine Gedanken macht.« Rose hat den benommenen Blick eines Menschen, der gerade einen Unfall hatte. Opal ist sich nicht sicher, ob sie ihr zuhört. »Weißt du schon irgendwas Neues?« »Ich habe vor etwa einer Stunde im Krankenhaus angerufen. Sie haben gemeint, er sei beschwerdefrei. Die Besuchszeit beginnt um zehn.« »Ich fahr dich hin«, sagt Opal. »Das brauchst du nicht. Ich habe ja Neds Pickup.« »Ich möchte es aber gern.« »Du musst doch arbeiten.« »Ich fange erst um eins an. Bitte, lass mich fahren.« »Ich will keine Umstände machen.« »Machst du nicht. Es wird mich von Zack ablenken.« Rose -307
schaut auf, jetzt mit wacherem Blick. »Wie geht es ihm, denn?« »Wer weiß das schon?« Opal spürt Wut in sich aufsteigen. »Die meiste Zeit ist keiner da, wenn ich anrufe. Es macht mich schier wahnsinnig. Ich habe keine Ahnung, wie ich das noch eine Woche lang aushalten soll. Ständig frage ich mich, ob Billy wohl weiß, dass Zack gern Makkaroni zum Frühstück isst? Oder dass er ohne seinen Tigger nicht einschlafen kann? Oder dass man ihm abends vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorlesen muss? Oder dass ihn Fragen beschäftigen wie die, wo die Vögel hinkommen, wenn sie sterben? Oh Mann, tut mir Leid. Du hast wahrhaftig genug Sorgen, ohne dir auch noch meine Probleme anzuhören.« Draußen schlägt etwas dumpf auf der Veranda auf. »Die Zeitung«, sagt Rose. Sie geht an die Tür und holt die Daily News herein. »Ned ist richtig süchtig nach dem Sportteil. Er liest ihn jeden Morgen. Ein heiliges Ritual.« Sie bricht ab. »Glaubst du, ich darf ihm den Sportteil ins Krankenhaus mitbringen?« »Bestimmt«, sagt Opal. Von dem vielen Kaffee muss sie pinkeln. »Wo ist denn das Klo, bitte?« »Oben. Die zweite Tür auf der linken Seite.« Rose schlägt die Sportseiten auf. »Die Red Sox haben gewonnen«, meldet sie. »Das wird Ned freuen.« Von dem kleinen Fenster der Toilette aus schaut Opal auf ihr Haus hinunter. Einen guten Blick hat man von hier oben. Man sieht alles. Plötzlich fällt ihr der Tag wieder ein, als Ty und sie draußen auf dem Rasen herumknutschten. Als er mit gespreizten Beinen auf ihr saß. Rose hat sicher gut was zu sehen gekriegt an dem Tag. Sie wendet sich vom Fenster ab und wünscht sich, sie könnte mit genauso einer kleinen Bewegung auch die Erinnerung an Ty aus dem Gedächtnis tilgen. Sie pinkelt, wäscht sich die Hände, geht wieder in den Flur hinaus. Im Vorbeigehen wirft sie einen Blick durch eine offen stehende Tür. Das muss Todds Zimmer sein. Es sieht aus, als -308
würde er immer noch darin wohnen. Ein unbelebtes Gehäuse, das auf die Rückkehr eines Geistes wartet. So wäre es, wenn sie Zack verlöre. Ein leeres Zimmer, das auf ihn warten würde. Eine Leerstelle, die sich durch nichts füllen ließe. Irgendwo muss sie ein Zeichen übersehen haben. Oder sie hat es falsch verstanden. Wie sonst könnte Billy Anspruch auf ihren Sohn erheben? Wie sonst konnte ihr etwas so Katastrophales passieren? Nichts hat sie darauf vorbereitet. »Möchtest du einen Toast? Oder Eier?«, fragt Rose, als sie in die Küche zurückkommt. »Nein, gar nichts. Ich trinke nur schnell meinen Kaffee aus, und dann geh ich rüber und zieh mich um. Die Besuchszeit fängt um zehn an?« »Ja.« Sie ist schon am Gehen, zögert, greift dann nach Roses Hand und drückt sie kurz. Man hätte sie mit dem Strohhalm umpusten können, als Rose daraufhin den Arm um sie legt, sie an sich drückt, sie hält. Sie tritt gerade aus der Dusche, als sie das Telefon klingeln hört. Diesmal ist es Zack. »Wie geht’s dir, Schatzpatz?« Ihr tut der Magen weh. Sie presst den Hörer mit der gewölbten Hand ans Ohr, damit seine Stimme nicht verloren geht, damit sie so viel wie möglich von ihm einfangen kann. »Weißt du was?«, sagt er. »Was denn?« »Daddy fährt mit mir nach Disney World.« Daddy. »Was?« »Wir fahren nach Disney World. Morgen. Melvama kommt auch mit.« »Na, das ist aber eine Überraschung«, sagt sie. Warum ist sie dann nicht überrascht? »Hör mal, Fröschlein, ist Billy in der Nähe? Kannst du ihn mir mal geben?« »Hi Raylee.« Er hat seinen herausfordernden Siegerton drauf, -309
was sie endgültig in Rage bringt. »Was soll dieser ganze Scheiß? Was soll das geben?« »Genau das, was Zack gesagt hat. Wir verreisen.« »Das kannst du nicht bringen.« »Doch, das kann ich, Raylee. Frag deine Anwältin. Es ist mein gutes Recht, mit meinem Sohn in Urlaub zu fahren.« »Das werden wir noch sehen.« Sie kennt Billy doch. Wenn Zack seinen ersten Wutanfall hinlegt, wird Billy nichts Eiligeres zu tun haben, als ihn zurückzuschicken. Billy hat null Durchhaltevermögen. »Ich werde meine Anwältin gleich anrufen.« »Nur zu. Mach das ruhig. Ich kenne meine Rechte, Raylee. Die Sache ist absolut wasserdicht.« »Opal, du blöder Wichser. Ich heiße Opal.« Sie knallt den Hörer auf die Gabel, dreht sich um und sieht Rose in der Tür stehen. »Stimmt was nicht?«, fragt Rose. Ob was nicht stimmt? Gar nichts stimmt mehr. Opal steht in ihr Handtuch gehüllt da, tropft den Boden nass und fragt sich, wie dieses elende Kuddelmuddel hat entstehen können. »Das war Billy«, sagt sie. »Er fährt mit Zack nach Disney World. Fünf Jahre lang ist er voll der Loser-Daddy, die absolute Nullnummer, und jetzt macht er einen auf Vater des Jahres.« Was dann geschieht, überrascht Opal restlos. Rose kommt zu ihr rüber und nimmt ihre beiden Hände. »Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Er wird Zack nicht kriegen. Wir werden es nicht zulassen, dass er ihn dir wegnimmt.«
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KAPITEL 37 ROSE »Ich kann auch dableiben«, sagt Opal, als sie Rose am Krankenhaus absetzt. »Wenn du willst, komm ich mit rein.« »Nein. Fahr ruhig. Es bringt doch nichts, wenn wir beide hier rumsitzen.« »Sicher?« »Ja, aber vielen Dank.« »Rufst du mich später an? Sagst mir, wie es ihm geht? Und ob ich irgendwas tun kann?« »Mach ich«, verspricht Rose. Was soll man schon tun können? Und gar erst Opal? Auf der Station meldet sie sich bei einer der Schwestern aus der Vormittagsschicht, »Wie geht es ihm?« Die Schwester, eine stämmige Frau mit freundlichem Gesicht, ungefähr so alt wie Rose, konsultiert Neds Krankenblatt. »Er hat eine gute Nacht gehabt.« Sie lächelt. »Heute Vormittag hat er’s uns ganz schön schwer gemacht, er wollte uns beschwatzen, ihn eine Tasse Kaffee trinken zu lassen. Ein gutes Zeichen.« Rose blickt den Flur hinunter. Bis auf eine Hilfskraft, die Abfall in den Mülleimer neben dem Aufenthaltsraum kippt, ist niemand zu sehen. Sie hat kaum ein Auge zugetan. Sie muss mit irgendjemandem reden, der Erfahrung mit diesen Dingen hat. »Gestern Abend«, beginnt sie, »als ich bei ihm war, da hat er gesagt, er hätte keine Angst vor dem Sterben. Er hat gesagt, der Tod wäre das nächste große Abenteuer, so was in der Art.« Sie hält inne, sucht nach den passenden Worten, um ihre Angst vermitteln zu können. »Ist das normal? Heißt das ... Heißt das, dass er glaubt, dass er sterben wird?« Irgendwo hat sie gelesen, der Lebenswille eines Kranken sei ein entscheidender Faktor bei seiner Genesung. Ned muss diesen Willen haben. Er darf nicht -311
aufgeben. »Mrs. Nelson.« Die Krankenschwester lächelt, ihre Stimme klingt beruhigend. »Sie glauben ja nicht, was wir hier alles zu hören bekommen. Als ihr Mann gestern eingeliefert wurde, war er sehr ruhig, sehr sachlich, obwohl er gerade einen Herzinfarkt gehabt hatte. Das ist nicht ungewöhnlich. Es ist schlichte Leugnung. Wir erleben das oft, wenn Patienten die Tragweite dessen, was passiert ist, nicht akzeptieren wollen. Wenn sie nicht begreifen, dass sie wirklich einen Herzinfarkt hatten. Tatsache ist, dass jemand, der behauptet, den Tod zu akzeptieren, das meistens deshalb sagt, weil er nicht glaubt, dass er sterben wird.« Leugnung. Mit Leugnung kann sie umgehen. Was sie nicht ertragen kann, ist der Gedanke, Ned zu verlieren. »Das heißt, er wird wieder gesund?« »Alle Anzeichen weisen darauf hin. Die Ergebnisse des Enzymtests sehen gut aus. Ich würde mal sagen, diese Geschichte war eine Warnung. Aber Dr. Cassidy ist der Kardiologe hier. Er wird mit Ihnen darüber sprechen, wie Ihr Mann durch Ernährung, Bewegung und veränderte Lebensgewohnheiten die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas noch einmal passiert, verringern kann.« Sie tätschelt Roses Hand. »Gehen Sie doch jetzt zu ihm rein. Er hat schon ein paar Mal nach Ihnen gefragt.« »Hey Rosie«, sagt er, als sie sein Zimmer betritt. Er sieht gut aus, gar nicht so, als hätte er einen Herzinfarkt gehabt. »Hallo Ned.« Er hat eins dieser schrecklichen Nachthemden an, die hinten zugebunden werden. Sie nimmt sich vor, ihm das nächste Mal einen Schlafanzug mitzubringen. Grundlos schüchtern sucht sie nach einem Platz für ihre Handtasche, für die Sachen, die sie ihm mitgebracht hat. Es gibt keine Stühle im Zimmer. Man ermuntert die Besucher hier nicht zum Bleiben. Sie beugt sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen, streift mit den Lippen über seine Bartstoppeln. »Du müsstest mal rasiert werden«, sagt sie. Sie schaut sich um. Das Zimmer hat keine eigene Toilette, nur einen Toilettenstuhl am Bett. -312
Verlegen wendet sie den Blick ab und beschäftigt sich damit, das Laken glatt zu streichen. Das Geräusch des Monitors ist ihr schon nicht mehr fremd, sein gleichmäßiger Rhythmus beruhigend. »Die Sox haben gestern Abend gewonnen«, sagt sie. »Ich habe dir die Zeitung mitgebracht.« »Wie hoch?« Sie konzentriert sich, um nichts Falsches zu sagen. »Fünf zu vier. Elf Innings.« Sie geht nervös im Zimmer umher, sucht nach einer Beschäftigung für ihre Hände. »Wer hat geworfen?« »Clements.« Es freut sie, dass sie sich an den Namen erinnert. Sie zieht die Bettdecke gerade, langt hinter seinen Kopf, zupft ihm das Kissen zurecht. »Herrje, Rosie. Jetzt lass mal gut sein.« Gekränkt zieht sie die Hand zurück. Sie fühlt sich hilflos. Es macht ihr Angst, wie er da liegt, an all diese Geräte angeschlossen. »Rosie«, sagt er. Er wendet den Blick ab, und sie fragt sich, was jetzt wohl kommt. Sie wird es nicht ertragen, wenn er wieder mit diesem Unsinn über das »nächste große Abenteuer« anfängt. Als Todd starb, glaubte sie, sie hätte alles verloren, doch jetzt merkt sie, dass man immer noch mehr verlieren kann. »Der Pickup. Der steht bei Trudy.« Sie fällt ihm ins Wort. Will nichts von Trudy hören, »Ich weiß. Ich habe ihn gestern Abend geholt.« »Du hast ihn geholt?« »Ja. Opal hat mich dort abgesetzt.« »Du hast ihn nach Hause gefahren?« »Ja.« »Ganz allein?« »Natürlich«, sagt sie leicht verärgert. Er grinst. »Hätte ich gewusst, dass so was nötig ist, damit du -313
wieder Auto fährst, dann hätte ich schon vor Jahren einen Herzinfarkt bekommen.« »Bitte! Mit solchen Dingen scherzt man nicht.« Einmal fahren bedeutet noch lange nicht »wieder Auto fahren«. Einmal war die schlichte Notwendigkeit. Einmal bedeutet, seinen Pickup nicht vor Trudys Haus stehen zu lassen. »Mrs. Nelson?« Die Schwester macht ihr ein Zeichen. »Am ersten Tag sollten die Besuche nicht länger als eine Viertelstunde dauern. Setzen Sie sich doch ein bisschen in die Cafeteria, trinken Sie eine n Kaffee. Haben Sie überhaupt schon gefrühstückt?« Wer könnte denn jetzt essen? Sie schüttelt den Kopf. »Das Essen ist gar nicht schlecht.« »Ich habe keinen Hunger.« »Mrs. Nelson«, sagt die Schwester, als sie mit Rose durch den Flur geht. »Am besten können Sie für Ihren Mann sorgen, indem Sie für sich selbst sorgen. Ruhen Sie sich aus. Essen Sie ordentlich. Sie glauben gar nicht, wie oft Menschen, die die Pflege eines Kranken übernehmen, selbst krank werden, weil sie sich nicht ausreichend um sich kümmern. Ned ist darauf angewiesen, dass Sie bei Kräften sind.« Pflege. Die Frau redet, als würde Ned den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. In der Cafeteria nimmt sie ein Tablett und schiebt es an der Theke entlang. Eine Bedienung steht bereit, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. »Einen Bagel«, sagt sie schließlich. »Getoastet oder gegrillt?« »Getoastet.« Weniger Fett. Sie fängt schon an, in diesen Kategorien zu denken. Als sie auf die Station zurückkehrt, erwartet Dr. Cassidy sie. Er trägt ein kariertes Hemd und Baumwollhosen. Man würde ihn nie für einen Arzt halten. Es wäre ihr lieber, wenn er einen weißen Kittel anhätte, irgendetwas, das Vertrauen einflößt. -314
»Ihr Mann macht gute Fortschritte«, sagt er. »Er hat mir schon einiges zu seiner Krankengeschichte gesagt, aber ich würde Ihnen trotzdem gern noch ein paar Fragen stellen.« »Ja.« »Wie ist sein allgemeiner Gesundheitszustand?« »Gut. Er ist fast nie krank. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal beim Arzt war.« »Was ist mit Routine untersuchungen? Hat er in den letzten Jahren mal eine machen lassen?« Sie überlegt einen Augenblick. »Vor fünf Jahren. Als wir die Versicherung gewechselt haben.« Versicherung. Weiß der Himmel, was das alles kosten wird. Deckt die Versicherung das ab? Früher hat Ned ab und zu versucht, mit ihr über diese Dinge zu reden, doch er stieß auf taube Ohren. Nach Todds Tod wollte er, dass sie ihr Testament aufsetzten, aber Rose weigerte sich. Sie hat keine Ahnung, wie sie finanziell stehen und wie sie versichert sind. Sie hofft, dass es reichen wird, und schämt sich dann, dass sie jetzt an Geld denkt. Der Arzt fragt sie etwas. »Entschuldigen Sie bitte. Was haben Sie gerade gefragt?« »Hatte Ned in letzter Zeit irgendwelche Beschwerden?« »Er hat es ab und zu am Magen. Und manchmal hat er Kopfschmerzen. Aber das ist alles. Gegen die Magenbeschwerden nimmt er meistens Tums. Und bei Kopfweh Tylenol. Oder Excedrin.« »Wie steht es um seine psychische Verfassung? Würden Sie sagen, dass Ihrem Mann irgendetwas auf der Seele lag? Neigt er zu unterdrückter Wut?« »Nein.« Unterdrückte Wut. Wenn unterdrückte Wut zum Herzinfarkt führen würde, dann wäre sie diejenige, die mit Schläuchen in Armen und Nasenlöchern dort auf dem Bett läge, nicht Ned, In den ersten Jahren ihrer Ehe fand sie die Wut, die -315
Ned in sich hatte, beunruhigend. Sie glaubte, dass er zu Gewalttätigkeiten fähig sei und Vergeltung üben würde, wenn jemand ihr oder Todd etwas antäte. Nach dem Unfall fand sie diesen Gedanken tröstlich. Sie rechnete täglich mit der Nachricht, dass Jimmy Sommers zusammengeschlagen worden war, beide Beine gebrochen, die Rippen eingedrückt, das Gesicht blutig, und zog tiefe Befriedigung aus dieser Vorstellung. Manchmal fürchtete sie – hoffte sie? –, dass Ned Schlimmeres tun würde, als Knochen zu brechen. Jetzt fragt sie sich, wie sie ihn so verkennen konnte. Oder wohl eher, wie er sich so verändern konnte. Denn sie weiß genau, dass heute sie diejenige ist, die den Wunsch nach Vergeltung in sich trägt, nicht Ned. Letztes Jahr hat sie im Vorbeifahren gesehen, wie Ned sich in seiner Werkstatt über den Motor von Jimmys neuem Pickup beugte. Jimmy stand daneben und lachte über irgendetwas, und seine Frau hockte vorn auf dem Beifahrersitz. Ned half dem Mörder seines Sohnes, und dessen Frau sah zu und trank dabei eine Cola. Der Anblick schnürte ihr die Luft ab. Wie konnte Ned den Jungen auch nur in die Nähe der Werkstatt kommen lassen, geschweige denn an seinem Wagen arbeiten? Wie konnte er bloß? Später hatten sie einen furchtbaren Streit deswegen. Du musst lernen zu vergeben und wieder nach vorn schauen, sagte er zu ihr. Als ob das möglich wäre. Als ob man alles vergeben könnte. »Nein«, sagt sie zu dem Arzt. »Zu unterdrückter Wut neigt Ned nicht.« Er beendet seine Fragen. »Wann darf er nach Hause?«, fragt Rose. »Wir würden ihn gern noch ein, zwei Tage hier behalten. Wir werden ihn so bald wie möglich von der Kardiologischen Intensivstation in den Westflügel verlegen.« »Und wenn er nach Hause kommt? Kann er wieder arbeiten?« »Das hängt völlig von ihm ab. Vo n seiner Genesung. Im -316
Moment würde ich mal sagen, in vier oder fünf Wochen kann er ganz langsam wieder anfangen. Allerdings ohne Schweres zu heben. Und ohne Stress.« »Wie kann er einem weiteren Infarkt vorbeugen?« »Vorbeugen kann er am besten durch gezielte Vorbeugung«, sagt der Arzt und lächelt über seinen Scherz. »Wenig Fett, wenig Salz, viel Obst und Gemüse. Kein Nikotin.« »Ned raucht nicht.« Er redet weiter, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Möglichst kein Alkohol. Regelmäßige Bewegung. Er kann damit anfangen, jeden Tag einmal um den Block zu gehen. Nicht gegen den Wind oder bergauf. Und das dann bis auf vierzig Minuten täglich steigern.« »Ich sollte mir das alles aufschreiben«, sagt Rose. »Wir werden vor seiner Entlassung noch einmal alles besprechen. Mit dem ganzen Team – außer mir sind das noch der Reha-Berater und eine Ernährungswissenschaftlerin. Wichtig ist vor allem, dass Sie ihn nicht wie einen Invaliden behandeln. Er kann ein ganz normales Leben leben. In jeder Hinsicht«, fügt er mit viel sage ndem Blick hinzu. Sie sieht ihn verständnislos an. »Viele Leute machen sich nach einem Herzinfarkt Sorgen um ihr Sexualleben. Es gibt keinen Grund, warum er nicht wieder ein ganz normales Sexualleben haben sollte.« Das ist nun wirklich das Leute, was sie beschäftigt. Was würde er wohl denken, wenn er wüsste, dass Ned und sie seit fünf Jahren nicht mehr miteinander geschlafen haben? Sie legt keinen Wert auf Sex. Sie will bloß Ned wiederhaben. Ganz. Sie möchte eine zweite Chance.
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KAPITEL 38 NED Die Besuchszeit ist vorbei, zu Neds Erleichterung. Roses nervöses Gefummel geht ihm auf den Geist. Es ist sein dritter Tag in der Kardiologie, und eigentlich geht ihm alles hier auf den Geist. Er kann es nicht fassen, wie laut es auf der Station ist. Man sollte doch meinen, dass die versuchen würden, an so einem Ort für Ruhe zu sorgen. Sein Zimmer ist in der Nähe des Schwesternzimmers, und er hört fast alles, besonders nachts. In regelmäßigen Abständen wird der Verbandswagen durch den Flur geschoben. Dann dieses rhythmische Hämmern – vom Abstempeln der Krankenblätter, wie er inzwischen herausgefunden hat. Und vor einer Weile hat ein Mann vom Reinigungspersonal den Boden gewienert. Er möchte wieder in sein eigenes Leben zurück, in sein eigenes Bett. Endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen. Hier auf Station lassen sie Tag und Nacht die Flurbeleuchtung brennen, nonstop, wie Tyrone sagen würde. Und selbst wenn es einem gelingt einzuschlafen, wird man im nächsten Moment wieder durch irgendwas geweckt. In den letzten drei Tagen hat er so viel Blut abgezapft bekommen, dass es für eine Blutspende reichen würde. Wenn er wieder zu Hause ist, wird er als Allererstes eine Tasse richtigen Kaffee trinken. Nicht diese entkoffeinierte Brühe. Echter Kaffee ist hier nicht erlaubt, und Rose will ihm keinen reinschmuggeln, sosehr er sie auch darum bittet. Vor allem aber will er endlich mal wieder auf ein richtiges Klo gehen. Mit diesem Toilettenstuhl, das ist einfach nichts. Die haben ihm zwar was zum Abführen gegeben, aber er hat noch kein einziges Mal richtig geschissen, seit er hier ist. Heute ist sein letzter Tag in der Kardiologie, morgen wird er auf die Internistische Station im Westflügel verlegt, was schon mal eine Verbesserung ist. Dann ist er diesen dämlichen Tropf los und die -318
EKG-Kabel. Kann aufstehen und aufs Klo gehen, wo er für sich ist. Cassidy, der Kardiologe, hat gemeint, nach ein oder zwei Tagen im Westflügel könne er mit seiner Entlassung rechnen. Man hat ihm gesagt, er solle sich nicht sorgen, und keiner scheint ihm zu glauben, dass er das ohnehin nicht tut. Er hat gehört, dass er der jüngste Mann auf der Station ist, und findet das tröstlich. Morgen früh treffen er und Rose sich mit einer Ernährungsberaterin und einem weiteren Mitglied des kardiologischen Teams, dem soge nannten Reha-Berater. Es wäre ihm lieber, die würden nicht so ein Riesenaufhebens machen, sondern ihn einfach nach Hause gehen lassen. Und wenn er schon mit diesen Leuten reden muss, dann würde er das lieber allein tun, ohne Rose. Sie stellt endlos Fragen: Wird er wieder arbeiten können? Und wenn ja, wann? Wäre es sinnvoll, noch mehr Tests zu machen? Wie können sie verhindern, dass so etwas noch einmal passiert? Das Team will seine Ernährungsgewohnheiten überprüfen, herausfinden, was er verändern muss, seinen CholesterinSpiegel senken. Keine erfreuliche Aussicht. Donuts werden mit Sicherheit nicht mehr auf seinem Speiseplan stehen. Er hat in letzter Zeit nicht viel Hunger, was ganz praktisch ist, denn im Vergleich zu dem Essen hier würde ein T-Shirt köstlich schmecken. Kein Salz. Wenig Fett. Das heutige Abendessen – wenn man es denn so nennen kann – bestand aus gebackenem Huhn ohne Haut. Weißem Reis. Totgekochten grünen Bohnen. Götterspeise. Entkoffeiniertem Kaffee. Fettarmer Milch. Trudy würde pleite gehen, wenn sie solches Essen verkaufen würde. Er hat noch nicht mit Trudy gesprochen. Er möchte ihr gern dafür danken, dass sie sich um ihn gekümmert hat, dass sie den Notarzt gerufen hat, aber es gibt kein Telefon auf dem Zimmer. Ob sie wohl probiert hat, ihn zu besuchen? Die lassen nur Verwandtschaft hier auf diese Station. Rose kann er natürlich nicht bitten, sie anzurufen. Er hat versucht, ihr zu erklären, dass -319
er Trudy nur nach Hause gefahren hat, aber sie hat ihn nicht ausreden lassen. Was sie wohl denkt? Doch wohl nicht, dass er sie betrogen hat, oder? Warum können sie nicht einfach darüber reden? Klarheit schaffen. Er schaltet die Nachttischlampe an. Sofort steckt eine Krankenschwester – Nancy, die ältere mit den angegrauten roten Haaren – den Kopf durch die Tür. Sie ist die Beste von allen, wobei die Schwestern alle prima sind. »Alles in Ordnung?« »Ich kann nicht schlafen.« »Möchten Sie ein Schlafmittel? Der Arzt hat gesagt, es wäre okay.« »Nein.« Mit dem Zeug will er gar nicht erst anfangen. Er muss einfach nur in sein eigenes Bett. Wenn er zu Hause ist, wird er wieder gut schlafen. Sie wirft einen Blick auf sein Krankenblatt, dann auf den Monitor. »Haben Sie Beschwerden?« »Nein. Ich kann bloß nicht schlafen. Ich werde ein bisschen lesen.« Er greift nach dem Sportteil, den Rose ihm mitgebracht hat, und schaut hinein, bis die Schwester gegangen ist, dann lasst er ihn auf die Bettdecke sinken. Er richtet den Blick auf den Monitor und horcht auf das leise Piepen, seinen Herzschlag, der auf dem Bildschirm pulsiert. Er konzentriert sich auf sein Herz, zählt die Schläge mit. Er atmet tief ein, wartet auf Warnzeichen. Alles wird gut. Er drückt mit dem Daumen auf den Knopf am Bett und stellt das Kopfteil etwas höher Dann hebt er beide Arme über den Kopf, boxt mehrmals in die Luft. Eine Art Frühererkennungssystem. Keine alarmierende Beschleunigung auf dem Monitor. Er konzentriert sich auf seine Brust und wartet, ob dieser Druck sich wieder meldet. Der ist ihm am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Das erste Anzeichen: ein stumpfer, unbestimmter Schmerz – Schmerz ist fast zu viel gesagt –, gefolgt von heftigem, kaltem Schweiß. Dann dieser plötzliche, intensive Druck auf der Brust. Wie ein -320
Betonklotz. Ein wahnsinniger Druck. Dann die Schmerzen im Kiefer. Und ein Flattern in der Brust, als schlüge ein Vogel im Käfig mit den Flügeln gegen die Gitterstäbe. Im Rückblick war dieses Flattern fast das Erschreckendste. Fehlzündungen seines Herzens. Die sich leider nicht durch ein paar fachkundige Handgriffe mit dem Schraubenschlüssel beheben lassen. Er fragt sich, wie lange es wohl dauern wird, bis er das vergessen kann. Wie lang es dauern wird, bis er sich nicht mehr automatisch den Puls fühlt, wenn er aus einem seiner Tagträume erwacht. Wie lang es dauern wird, bevor er das Funktionieren seines Herzens wieder als selbstverständlich voraussetzt. Er hat Rose noch nichts davon gesagt, aber er überlegt sich im Moment ernsthaft, was mit der Werkstatt geschehen soll. Selbst wenn er von den Ärzten grünes Licht bekommt, weiß er gar nicht, ob er überhaupt wieder arbeiten will. Er erlaubt sich, dieser Vorstellung ein wenig nachzugehen. Nie mehr Brandblasen von glühend heißen Abgaskrümmern. Nie mehr kaputte Schrauben an Hinterachsen auswechseln. Sich zur Ruhe zu setzen ist keineswegs unmö glich. Rose weiß es noch nicht, aber eine der großen Ketten hat ihm ein Angebot gemacht. Die wollen die Werkstatt aufkaufen. Und warum eigentlich nicht? Sie sind vor allem am Standort interessiert und würden gut zahlen. Ned möchte das Leben, das noch vor ihm liegt, in vollen Zügen genießen, es bis ins Letzte auskosten. Vielleicht ist Rose jetzt ja bereit, nach Florida umzuziehen. Er fühlt sich etwas komisch bei diesem Gedanken – als wäre sein Herzinfarkt eine Waffe, mit deren Hilfe er Rose umstimmen könnte. Doch der Infarkt hat einiges verändert. Zum Beispiel, dass Rose nach all den Jahren wieder Auto fährt. Er wird mit kleinen Veränderungen beginnen, bevor er ihr mit Florida kommt. Vielleicht wird er im Herbst mal ein paar Wochen angeln gehen. Früher hat er ab und zu im Norden eine Hütte gemietet und dann ganze Tage lang bis zu den Hüften im kalten Fluss gestanden und Forellen gefischt. Ein -321
unvergessliches Gefühl, in diesen Watstiefeln zu stehen – als wäre man zugleich drinnen und draußen. Das Paradies auf Erden. Ob er Rose überreden könnte mitzufahren? Nur sie beide? Es wurde ihr gut tun, mal aus diesem Haus wegzukommen. Vielleicht wäre es ja ein erster Schritt. Es gibt so viel, was er ihr sagen möchte. Ihr sagen wird. Heute Morgen ist der Krankenhauspfarrer, ein selbstgefälliger Hänfling, bei ihm vorbeigekommen und hat doch wahrhaftig die Frechheit besessen, ihm zu verkünden, dass sein Herzinfarkt ein Geschenk gewesen sei. Ein Geschenk. »Ein Weckruf«, sagte er. »Wir müssen alle dann und wann an unsere Sterblichkeit erinnert werden.« Heiliger Strohsack, hat Ned gedacht. »Wir sollten nie etwas unerledigt in den nächsten Tag mitnehmen«, sagte er. »Haben Sie Ihren Lieben heute schon gesagt, dass Sie sie lieben?« Die Banalitäten, die dieser Mann von sich gab, machten ihn richtig wütend. Eine Anmaßung war das, eine Frechheit. »Lassen Sie diesen Mistkerl hier nicht noch mal rein«, sagte er zu einer der Schwestern. Doch jetzt, während er hier liegt, auf seinen Herzschlag horcht und an Rose denkt, klingen die Worte des Pfarrers in ihm nach. Was würde er Rose gern sagen? Was wurde ihn, wenn es ungesagt bliebe, bedrücken? Als Erstes würde er ihr gern sagen, dass er gelesen hat, was sie in diesem Kurs geschrieben hat. Er würde ihr erzählen, dass er den Brief von diesem Dozenten geöffnet und den Text gelesen hat, von vorn bis hinten. Würde ihr sagen, dass sie nicht für Todds Tod verantwortlich ist. Dass er ihr keine Schuld daran gibt. Unfälle passieren nun einmal. Er würde ihr gern sagen, dass er sie liebt und ihr immer treu gewesen ist. Er würde ihr sagen, dass er es als ein großes Glück empfindet, von ihr geliebt zu werden. Es gibt jede Menge Dinge, die er nie getan hat. Er weiß, dass im Zentrum seines Lebens eine tiefe Wunde klafft, aber sein Leben war nie ausschließlich von Todds Tod bestimmt. Es war voll kleiner Freuden. -322
Er lauscht seinem Herzschlag, staunt über den ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus. Selbst jetzt kann er sich noch auf sein Herz verlassen. Er liegt schon eine ganze Weile so da und sinniert über sein Leben – wie glücklich er sich schätzen kann, Rose gefunden zu haben, dass er nichts bereut und wie schön es doch ist, so etwas denken zu können –, da überkommt ihn plötzlich Panik. Wie eine böse Vorahnung. Sein Herz schlägt schneller. Die Krankenschwester, Nancy, kommt wieder herein. »Und, wie geht’s uns?« Er hat gelernt, den Krankenschwestern zu vertrauen. Nicht den Ärzten. Die Schwestern fassen ihn an, hören ihm zu, nehmen sich Zeit, erwidern seine Blicke. »Wenn mir etwas zustößt, würden Sie meiner Frau sagen, dass ich sie liebe?« Sie reagiert gelassen auf diese Äußerung. Sie nimmt die Zeitung und legt sie auf den Nachttisch, kontrolliert die Infusion. Dann schiebt sie ihre Hand in seine und lässt sie einen Augenblick dort liegen. Er empfindet das als ungemein beruhigend. Am zweiten Tag hat er mitbekommen, wie eine der Schwestern im Gespräch mit Rose sein Verhalten als Leugnung bezeichnete. Das stimmt nicht. Er weiß, dass er einen Herzinfarkt hatte – er ist ja nicht völlig bescheuert –, aber er hat keine Angst vor dem Tod. »Soll ich Ihnen mal was Witziges erzählen?«, sagt er zu der Schwester. »Als ich im Notarztwagen hierher gebracht wurde, da habe ich einen langen Tunnel gesehen.« Er lacht mühsam. »Also, es gibt doch Leute, die von dieser Erfahrung erzählen – Sie wissen schon –, dass sie sterben und dann wieder zurückkommen?« »Die Nahtod-Erfahrung?« »Genau. Die Nahtod-Erfahrung. Da heißt es doch immer, dass sie einen langen Tunnel sehen? Tja, so einen hab ich auch -323
gesehen.« Er lacht in sich hinein. »Bloß stellte sic h dann heraus, dass es ein echter war, nämlich der, durch den man fahren muss, um zum Eingang der Notaufnahme zu kommen.« Die Krankenschwester lächelt. »Man sollte die Leute vorwarnen.« »Glauben Sie an so was? An ein Leben nach dem Tod? An Tunnel? An Menschen, die nach dem klinischen Tod wieder ins Leben zurückkehren?« »Ja«, sagt sie. »Daran glaube ich.« »Ich hatte keine Angst.« Genau wie er es Rose gesagt hat. Ein neues Abenteuer. Nicht dass er auch nur ansatzweise an dem Punkt wäre, sich aus diesem Leben verabschieden zu wollen. »Ich möchte, dass Rose weiß, dass es nicht ihre Schuld war.« Sie missversteht ihn, lächelt, tätschelt ihm den Arm. Sie ist solche mitternächtlichen Unterhaltungen auf Station gewohnt. »Mein Sohn hatte nie die Gelegenheit, sich zu äußern«, erklärt Ned. »Er ist tot. Ein Unfall. Mit sechzehn.« »Das muss das Schlimmste sein, was einem passieren kann.« »Er war ein guter Junge. Liebenswürdig. Alle mochten ihn. Er hat selbst den größten Miesepeter zum Lachen gebracht.« »Wollen Sie wirklich nichts zum Einschlafen?« »Nein. Jetzt geht es mir besser.« Sie stellt das Bett wieder flach, rückt das Kissen zurecht, nicht so hektisch wie Rose, sondern mit einer Geschicklichkeit, die ihm das Gefühl gibt, in guten Händen zu sein. Er döst ein, wacht auf, döst wieder ein. Als er erneut aufwacht, sieht er jemanden im Halbdunkel sitzen. Einen Arzt? Er kneift die Augen zusammen. Die Gestalt erhebt sich und kommt näher. Das Licht und die verdammten Medikamente spielen ihm einen Streich, keine Frage. Der Junge müsste mal zum Frisör – wie üblich –, aber er ist gesund, unversehrt. Und nicht mehr der kleine Bub, als den Ned ihn vor sich sieht, sondern groß, schlank, fast schon -324
ein Mann. Trotz der hinderlichen Schläuche und Kabel setzt Ned sich auf. Tränen brennen ihm in den Augenwinkeln, und irgendwo zu seiner Linken registriert er einen lauten hellen Ton. Er öffnet die Lippen, um seinen Sohn zu begrüßen. »Todd«, sagt er und lacht auf. Todds schüchternes Lächeln wird breiter. Gott, was für ein hübscher Kerl; der wird den Mädels noch schlaflose Nächte bereiten. Was für ein wohltuender Anblick. Ganz, gesund und kräftig. So ist schließlich doch alles in Ordnung. Ned kann es gar nicht erwarten, Rose davon zu erzählen.
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KAPITEL 39 ROSE Rose hat etwas Eigenartiges getan. Sie hat zum Schlafen einen von Neds Pyjamas angezogen. Es war auf eine seltsame Weise tröstlich, trotzdem hat sie eine unruhige Nacht verbracht. Selbst wenn es ihr gelang einzudösen, wachte sie angespannt wieder auf, in dem atemlosen Wissen, dass irgendetwas nicht stimmte, bis schlagartig die Erinnerung kam: Ach ja – Ned hatte einen Herzinfarkt. Sie ist schon vor dem Morgengrauen aufgestanden, hat mit den Vorbereitungen für seine Heimkehr begonnen, die laut Dr. Cassidy innerhalb der nächsten zwei Tage zu erwarten ist. Als Erstes hat sie das Schlafzimmer in Angriff genommen, hat es gelüftet, die Matratze gesaugt, die Bettwäsche gewechselt, die Möbel gewachst, einen Klapptisch neben dem Bett aufgestellt, damit er genug Platz für all die Dinge hat, die er brauchen wird: Medikamente, eine Wasserkaraffe und ein Glas, Zeitungen. Sie erwägt, ihm ein Radio für die Baseballübertragungen hinzustellen, falls ihn das nicht zu sehr aufregt. Sosehr sie sich auch wünscht, dass Ned nach Hause kommt und sie sich um ihn kümmern kann – sie findet, dass er zu früh entlassen wird. Die sollten ihn noch eine Woche dabehalten, einfach zur Sicherheit. Behandeln Sie ihn nicht wie einen Invaliden, Für den Arzt ist das leicht gesagt. Sie fragt sich, ob er genauso entspannt wäre, wenn seine Frau auf der Herzstation läge. Heutzutage werden die Patienten regelrecht aus den Krankenhäusern rausgeschmissen. Vor die Tür gesetzt. Am einen Tag hängt man noch an Monitoren und Infusionen, und am nächsten liegt man schon zu Hause im eigenen Bett. Man kann von Glück reden, wenn man wenigstens bei vollem Bewusstsein zum Parkplatz hinausgeschoben wird. Gloria Smarts Tochter wurde einen Tag nach der Entbindung entlassen. -326
Einen Tag danach. Rose lag nach Todds Geburt noch fünf Tage im Krankenhaus und war froh darüber. Warum so eilig? Was soll die Hetzerei? Ist es nicht unvorsichtig, jemanden so kurz nach einem Herzanfall aus dem Krankenhaus zu entlassen? Ihrer Ansicht nach ist das den Versicherungsgesellschaften zuzuschreiben. Was sie daran erinnert, dass sie Ned immer noch nicht gefragt hat, wie sie versichert sind. Sie geht nach oben, um die Sachen zusammenzusuchen, um die er sie gebeten hat. Sie packt sein Rasierzeug ein und nimmt einen Schlafanzug aus dem Schrank. Neu ist er nicht, aber allemal besser als diese lächerlichen Bindehemden, in die sie einen im Krankenhaus stecken. Sie würde ihm gern etwas zu essen mitbringen – irgendeine kleine Schleckerei –, aber sie weiß nicht, was erlaubt ist. Heute Vormittag wird er auf die Internistische Station im Westflügel verlegt, aber auch da wird er eine Diät einhalten müssen. Na, sie wird ihm wieder den Sportteil mitbringen. Das wird ihn freuen. Gestern während der abendlichen Besuchszeit hat er sie gebeten, ihm ein bisschen Kaffee aufs Zimmer zu schmuggeln. Kaffee. Ja ist er denn verrückt geworden? Nachdem sie sich wieder abgeregt hatte, betrachtete sie es als Zeichen seiner Genesung. Wobei Dr. Cassidy da zurückhaltend ist. Der Kardiologe hat all ihre Fragen geduldig beantwortet sogar, dass Ned wieder Sex haben kann, hat er ihr gesagt, als ob ihr das nicht reichlich egal wäre –, aber auf die allerwichtigste Frage hat er ihr keine klare Antwort gegeben: Wird Ned wieder richtig gesund werden? Als Rose gestern Nacht noch einmal anrief, hat ihr die Schwester gesagt, Ned schliefe. Seine Werte sind gut, meinte sie und fügte dann irgendwas hinzu von wegen, sie hätten ihm noch mal Medikamente zur Stabilisierung gegeben. Stabilisierung? Angeblich war er doch schon längst stabil. Die Krankenschwester erklärte, dass der Monitor gegen Mitternacht unregelmäßige Herztätigkeit aufgezeichnet habe. Kammerflimmern. Das klingt wie der Titel eines -327
Groschenromans. Oder wie ein Defekt an einem Fernsehgerät. Herztätigkeit. Kammerflimmern. Ärzte. Eine richtige Fremdsprache sprechen die – das gibt ihnen Macht, so behalten sie das Kommando. Na ja, bald liegt Ned wieder in seinem eigenen Bett, und dann hat sie das Kommando. Plötzlich fällt ihr die Treppe ein. Wird er damit zurechtkommen? Sollte er es überhaupt probieren? Behandeln Sie ihn nicht wie einen Invaliden. Aber die werden ja wohl nicht erwarten, dass er gleich an seinem ersten Tag zu Hause Treppen steigt. Vielleicht muss sie eins dieser Krankenhausbetten mieten und es im Wohnzimmer aufstellen. Aber das zieht natürlich ein anderes Problem nach sich. Das Haus wurde zu einer Zeit gebaut, als die Leute noch nicht meinten, genauso viele Bäder wie Schlafzimmer zu benötigen. Sie haben nur ein Bad, oben im ersten Stock. Schon seit Jahren redet Ned davon, in den kleinen Raum neben der Küche, in dem sie Vorräte lagern, eine Toilette und eine Dusche einzubauen. Steigert die Verkaufschancen, sagte er – als wollte sie das Haus je verkaufen. Das könnte kompliziert werden. Sie fragt sich, ob sie eine Pflegerin wird einstellen müssen. Weitere Kosten. Ob die Versicherung das übernimmt? Einige dieser Fragen wird sie klären müssen, bevor es ihm wieder besser geht und er sich selbst darum kümmern kann. Ned hält seinen Schreibtisch in Ordnung. Das Scheckheft und die Sparbücher liegen in der obersten Schublade auf einem großen braunen Umschlag. Sie nimmt ihn heraus, öffnet die Lasche und zieht mehrere Kuverts hervor. Das erste enthält die Police einer Lebensversicherung. Von plötzlichem Aberglauben erfasst, schiebt sie es wieder in den Umschlag zurück, so als würde es Unglück bringen, die Police auch nur anzuschauen. Sie sieht die anderen Kuverts durch. Garantien von Haushaltsgeräten. Keine Krankenversicherung. In der nächsten Schublade findet sie die Grundstücksübertragungsurkunde für das Haus. Falls er nicht -328
mehr in der Werkstatt arbeiten kann, müssen sie zumindest nicht befürchten, ihr Haus zu verlieren. Sie erinnert sich noch an den Tag, als er die letzte Rate bezahlt hatte und das Haus voll und ganz ihnen gehörte. Sie gingen essen, in dieses italienische Restaurant, in das sie immer gingen, wenn es etwas zu feiern gab. Damals, als es in ihrem Leben noch Anlässe zum Feiern gab. Ned hatte eine dieser Korbflaschen mit Wein bestellt. Er schmeckte ihnen beiden nicht besonders, aber sie leerten ihn bis auf den letzten Tropfen, tranken auf sich selbst, auf das Haus, auf ihre Eltern, die so stolz auf sie wären, wenn sie noch lebten. Selbst auf die Bank stießen sie an. Sie faltet die Urkunde wieder zusammen und legt sie zurück in die Schublade. All diese Dinge, für die Ned so hart gearbeitet hat. All die Dinge, die sie für so wichtig hielten. Sie will die Schublade gerade zumachen, da fällt ihr ein länglicher weißer Umschlag ins Auge. Er liegt ganz hinten in der Schublade, halb versteckt unter einem Stapel Stromrechnungen. Sie zieht ihn hervor und stellt überrascht fest, dass ihr Name darauf steht. In der linken oberen Ecke liest sie Andersen Jeffreys Namen und Adresse. Er hat ihr also doch eine Kopie ihres Textes geschickt. Wann ist der Brief gekommen? Und Ned hat ihn aufgemacht. Bei dem Gedanken, dass er den Text gelesen hat, krampft sich ihr der Magen zusammen. Sie stellt sich vor, wie er den Umschlag öffnete, wie er las, was sie dem Papier anvertraut hatte, all die Dinge, die sie Ned nie erzählt hat. Ihre Bitterkeit und Wut wegen Todd. Ihre Trauer. Ihr Zorn auf ihn. Ihr »impulsives Schreiben«. Und er hat nie ein Wort gesagt. Sie schaut auf den Poststempel. Er ist vom letzten Februar, nachdem sie sich in Pellington mit Anderson Jeffrey getroffen hatte. Zu aufgewühlt, um weiter nach den Unterlagen der Krankenversicherung zu suchen, macht sie die Schublade zu und flüchtet sich auf die hintere Veranda. Ned weiß also alles. Großer Gott, er weiß sogar, dass sie Todd damals nicht erlaubt hat, das Auto zu nehmen. Er weiß, dass sie -329
am Tod ihres Sohnes schuld ist. Wie kann sie ihm je wieder unter die Augen treten? Er weiß es seit Februar und hat sich nie etwas anmerken lassen, hat sie nie zur Rede gestellt oder ihr Vorwürfe gemacht. All die Monate, Wochen, Tage hat er ganz normal weitergelebt, ihr am Tisch gegenübergesessen, sich mit ihr unterhalten, ist zur Arbeit gegangen. Es kommt ihr vor, als wäre er ein Fremder. Ein Fremder. Wie nach dem Herzinfarkt, als er etwas vom »nächsten großen Abenteuer« daherredete, so als wäre Sterben nicht mehr als ein kleiner Ausflug nach Disney World. Wie kam das? Bis dahin hätte sie geschworen, dass Ned mit Spiritualität nichts am Hut hat. Er ist auch nicht gläubig. Als sie selbst noch regelmäßig in die Kirche ging, war es immer ein richtiger Kampf, ihn zum Mitkommen zu bewegen. Er ging nur um des lieben Friedens willen mit. Einmal erklärte er ihr, seiner Ansicht nach sei Religion etwas für schwache Menschen. Es kam damals zu einem scharfen Wortwechsel, aber heute sieht sie das genauso. Religion, das sind nur leere Worte. Das Schrillen des Telefons reißt sie aus ihren Gedanken. Seit sich herumgesprochen hat, dass Ned einen Herzinfarkt hatte, steht das Telefon nicht mehr still, ständig rufen Kunden an, Freunde, Menschen, mit denen sie seit Jahren kein Wort mehr gewechselt hat. Bei manchen erinnert sie sich nicht mal mehr an den Namen. Und jetzt, der Tag ist kaum angebrochen, geht es schon wieder los. Sie lässt es klingeln. Sie kann mit niemandem mehr reden, kann keine einzige Frage mehr beantworten, kein einziges Mal mehr sagen: »Nein, Sie können gar nichts tun, aber trotzdem vielen Dank.« Es kann wirklich niemand etwas tun, das ist die nackte, unausweichliche Wahrheit. Sie schaut hinaus in die aufgehende Sonne. Es wird wieder ein heißer Tag. Schon jetzt spürt sie die Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Der Wetterbericht hat eine rekordverdächtige Hitzewelle vorausgesagt. Sie wird einen Ventilator für Neds Zimmer besorgen müssen. Vielleicht sogar eine dieser Klimaanlagen, die -330
man ins Fenster einbaut. Sie lehnt sich zurück und denkt weiter über Ned nach. Glaubt er tatsächlich, dass es jenseits dieses Lebens noch etwas anderes gibt? War es deshalb so einfach für ihn, so leicht, nach Todds Tod weiterzumachen? Glaubt er etwa wirklich, dass Todds Seele – sein Geist – weiterlebt? Sie möchte ihn das gern fragen. Sie spürt einen Anflug von Neid. Das nächste große Abenteuer. Sie weiß noch, wie er aussah, als er das sagte. Leugnung, hat die Krankenschwester es genannt. Aber Neds Gesicht war ruhig, so als wüsste er etwas, hätte einen Ort gesehen, den sie noch nicht kannte. Warum haben sie nie über diese Dinge gesprochen? Was hat er noch gleich über Opal und den Streit um das Sorgerecht gesagt? »Das Mädchen verdient eine zweite Chance.« Ist das etwa das Leben? Eine Aneinanderreihung verpasster Gelegenheiten? Eine Aneinanderreihung zweiter Chancen, weil wir es beim ersten Mal nie richtig hinkriegen? Im Licht der frühen Morgensonne spürt sie plötzlich, wie sich in ihrer Brust etwas regt. Ned hat seinen Infarkt überlebt. Sie hat keinen Krebs. Eine zweite Chance tut sich vor ihnen auf. Sie verankert diesen Gedanken in ihrem Gedächtnis, und dann bestellt sie das Taxi. Kaum ist sie durch die Schwingtür der Kardiologischen Intensivstation getreten, da sieht sie die Stationsschwester zusammenfahren, aufstehen und im Eilschritt auf sie zukommen. »Mrs. Nelson?« Sie weiß es sofort. Während sie noch weitergeht – ihre Füße bewegen sich ganz automatisch –, weiß sie es. Nein!, schreit ihr Verstand, ihr Herz. Nein. Die Schwester nimmt ihre Hand. »Mrs. Nelson«, sagt sie noch einmal. Sie lässt sich in den Aufenthaltsraum führen. »Es tut mir Leid«, sagt die Schwester. »Er ist tot?«, fragt Rose so ruhig, als erkundige sie sich nach -331
dem Preis eines Steaks. »Es tut mir Leid.« Die Schwester breitet sämtliche Einzelheiten vor ihr aus, da sie Roses Schweigen als ein Zeichen dafür interpretiert, dass sie alles wissen will. Ein schwerer Infarkt. Er hatte einen guten Abend. War etwas unruhig. Keine Schmerzen. Als würden diese Einzelheiten weiterhelfen. »War er allein?« »Ja. Anscheinend hat er versucht aufzustehen, vielleicht um den Toilettenstuhl zu benutzen.« »Wo ist er jetzt?« »In seinem Zimmer. Möchten Sie ihn sehen?« Die Worte der Schwester klingen hohl, so als spräche sie aus weiter Ferne. Rose streckt Halt suchend die Hand aus. »Hier«, sagt die Schwester. »Setzen Sie sich einen Moment. Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.« Sie haben alles entfernt. Keine Schläuche mehr. Kein Tropf. Keine Monitorkabel. Man könnte meinen, er schliefe. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, dass er schläft. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Wie ein Kind, das etwas Schönes träumt. Ja, man könnte meinen, er schliefe, und sie müsste ihn nur wecken. Bloß ist er zu still. Kein Schnarchen. Keine Atemzüge. Sie denkt – und erschrickt über sich selbst. Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen zu lächeln, so als wäre es völlig in Ordnung für dich, mich hier zurückzulassen, mutterseelenallein? Später wird sie die Nachtschwestern ausfindig machen, nach Einzelheiten fragen. Wird sich alles anhören, was sie über die vergangene Nacht zu berichten haben, jedes Wort, das er zu ihnen sagte, wird sogar darum bitten, den Ausdruck des EKG-Monitors sehen zu dürfen. Doch jetzt in diesem Moment denkt sie zuerst an sich selbst. Wie konnte Ned sie einfach so verlassen? Wie konnte er sie allein lassen?
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KAPITEL 40 ROSE Seltsam, Todds Beerdigung hat sie noch in allen Einzelheiten in Erinnerung. Selbst heute, fast sechs Jahre später, weiß sie noch, wer für den nach Todd benannten Stipendienfonds spendete und wer Blumen schickte, und dass es zu regnen drohte, aber gerade noch rechtzeitig für den Trauergottesdienst aufklarte. Sie sieht die Kleider vor sich, die sie in der Kirche anhatten – Neds schwarzgrauen Anzug, ihr marineblaues Kleid, ja selbst den lilafarbenen Hosenanzug, den Ethel trug –, und wie Louisa Henderson auf der Empore stand und mit ihrem dünnen Sopran »On the wings of love« sang, während die Sargträger den Sarg zwischen den Bankreihen hindurchmanövrierten, jedes Detail so klar und deutlich, als wäre das alles erst heute Morgen passiert. Sie kann die Augen schließen und Todds Beerdigung in – wie heißt das im Kino? – Technicolor Revue passieren lassen, aber von Neds Beerdigung kriegt sie nicht mal ein Schwarzweißbild hin, obwohl sie doch erst zwei Wochen zurückliegt. Ihre letzte klare Erinnerung – so wie sie das Wort begreift ist, wie sie im Krankenhaus war. Wie die Schwester ihr erklärte, dass »sein Herz explodiert ist«. »Das ist eine brutale, aber zutreffende Beschreibung«, sagte die Schwester. Was denken sich die Leute nur, wenn sie so etwas sagen? So ein Satz lässt einen doch nicht mehr los. Das ist das Letzte, woran sie sich erinnern kann: Sein Herz ist explodiert. Was für ein Bild soll sie da bloß im Kopf behalten? Einen Motor, der qualmend und unter ohrenbetäubendem Krachen den Geist aufgibt? Einen Feuerwerkskörper, der bunte Sternenkränze an den Himmel wirft? Die nächsten Tage sind ein einziges trübes Grau, ein Sichhinschleppen durch einen endlosen Korridor aus grauem Beton. Sie muss sich mit Ralph Evans vom Bestattungsinstitut getroffen haben, muss ihr Teil zu dem Gespräch über Sarg, -333
Trauergottesdienst, Todesanzeige und Begräbnis beigesteuert haben, muss all die Entscheidungen getroffen haben, die man in solchen Fällen eben treffen muss, die gleichen Entscheidungen, die Ned und sie – damals war es vor allem Ned – nach Todds Tod hatten treffen müssen, doch sie kann sich an nichts erinnern. Als wäre ihr Verstand abgestellt, ein Band gelöscht worden. Bis auf eine Ausnahme allerdings: Sie erinnert sich daran, wie sie nach dem Trauergottesdienst vom Friedhof nach Hause kamen. Ethel stand im Wohnzimmer, einen Arm um die Schultern ihres Ältesten gelegt und ein Glas Rotwein in der Hand, und erzählte jedem, der es hören wollte: »Er war ein Heiliger. Mein Bruder war ein Heiliger.« Sollte heißen, was der alles durchgestanden hat. Sollte heißen, wo er doch mit Rose zusammenlebte. »Nein«, sagte Rose und brachte damit nicht nur ihre Schwägerin zum Verstummen, sondern schockierte auch alle Anwesenden. »Ned war kein Heiliger.« Peinliches Schweigen. Die Leute wichen ihrem Blick aus. Wahrscheinlich dachten sie daran, wo er zurzeit seines Herzinfarktes gewesen war, auch wenn Trudy nach wie vor beteuert, er sei nur bei ihr gewesen, weil er sie nach Hause gefahren habe. Verrückt, dass sie sich an diesen einen Moment erinnert: an das schockierte Schweigen, als sie erklärte, Ned sei kein Heiliger gewesen. Tja, er war nun mal keiner. Und das hat gar nichts damit zu tun, dass er bei Trudy war. Ned war ein guter Mann, ein gütiger Mann – ja wie sich zeigte, war er gütiger, als sie gedacht hatte –, aber ein Heiliger war er nicht. Warum kann man ihn nicht einfach so in Erinnerung behalten, wie er war? Reicht es denn nicht, ein so guter Mensch zu sein, wie man es tatsächlich war? Warum dieses Bedürfnis, ihn zu erhöhen? Etwa als Entschädigung, als Abfindung dafür, dass er gestorben ist? Sie ist fest entschlossen, nicht zu einer dieser Frauen zu werden, die ihren verstorbenen Mann zu einem perfekten Wesen -334
machen, ein neues, idealisiertes Bild von ihm schaffen: ein Mann, der nicht schnarcht, nie einen fahren lässt, nie ein unfreundliches Wort sagt. Eine Art Kreuzung zwischen Gandhi und Jim Rockford, wenn man diesen Witwen glauben darf. »Witwe.« Sie hasst dieses Wort. »Seine Frau. Seine Witwe.« Beide werden dem Mann zugeordnet, und doch liegen Welten zwischen ihnen. Die eine Frau hat jemanden. Die andere ist allein. Sie ertappt sich dabei, wie sie den Sportteil liest, Baseballübertragungen anschaut, genau zuhört und sich die Ergebnisse merkt, wie um später Ned davon zu berichten. Es ist eine Art Selbsttäuschung, gibt ihr das Gefühl, mit Ned verbunden zu sein. Sie rechnet immer noch damit, dass er irgendwann durch die Hintertür hereinspaziert kommt. Die Nächte sind schlimm. Sie bringt es nicht über sich, im Ehebett zu schlafen. Stattdessen legt sie sich aufs Sofa und wartet auf den Morgen. Wenn Opal nicht wäre, würde sie nicht mal mehr essen. Das Mädchen hat das Heft in die Hand genommen, kümmert sich um alles, ist mehr oder weniger bei ihr eingezogen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Opal sich als so kompetent erweisen würde? Und wer hätte gedacht, dass Rose einmal solche Dankbarkeit empfinden würde? Wirklich, ohne Opal hätte sie die letzte Woche nicht überstanden. Sie hat das gebraucht – sich in jemandes Hände zu geben, sich führen zu lassen. Die Kleine hat ja nun wirklich ihre eigenen Probleme, hat diesen Streit ums Sorgerecht am Hals, aber sie hat alles beiseite geschoben. Sie besteht darauf zu helfen. Opal hat ein größeres Herz als dreihundert Ethels zusammen. Von der Couch aus kann Rose ein Blatt mit Opals Handschrift auf dem Schreibtisch liegen sehen: eine Liste der Leute, die Gestecke geschickt haben. Irgendwann, wenn Rose danach ist, meint Opal, werden sie zusammen Dankesbriefe schreiben. Oder Rose wird diktieren und Opal wird schreiben, was Rose eben am -335
leichtesten hinkriegt. »Für wen hält die sich eigentlich?«, fauchte Ethel eines Tages, als sie sah, wie Opal ans Telefon ging, Kaffee kochte, das Essen verstaute, das eine nicht enden wollende Karawane von Menschen meinte vorbeibringen zu müssen. »Die gehört doch nicht zur Familie.« »Sie versucht nur zu helfen«, antwortete Rose. Ethel schnaubte. »Die Sorte kenn ich. Das Mädchen will was. Du wirst noch an meine Worte denken!« Opal will tatsächlich etwas, und Rose weiß auch, was. Sie will das Gefühl haben, gebraucht zu werden, ein heilendes Gefühl, Balsam für die Seele, wie Rose aus eigener Erfahrung weiß. Wenn hier jemand ein Stück vom Kuchen abhaben will, dann ist es Ethel, die schon jetzt fragt, was denn eigentlich aus der Werkstatt werden soll. »Ursprünglich hat sie ja unserem Vater gehört, weißt du«, hat sie sich doch wahrhaft zu bemerken erdreistet. Rose hat ihr nie verziehen, dass sie sich Todds Kleidung für ihre Söhne hat geben lassen. Aber jetzt kann Ethel sich gern frei bedienen. Nichts hier ist Rose mehr wichtig. Soll sie doch nehmen, was sie will. All die Dinge, von denen Rose sich niemals glaubte trennen zu können, so wie das Haus zum Beispiel, all diese Dinge bedeuten ihr nichts mehr. Warum hat sie bloß nicht zugestimmt, als Ned vorschlug, das Haus zu verkaufen und nach Florida zu ziehen? Warum konnte sie ihm nicht entgegenkommen? Es hätte ihm so viel bedeutet. Was ist schon ein Haus? Ein Haus kann einen Menschen nicht am Leben halten. Es kann ihn nicht mal in der Erinnerung am Leben halten. Nur im Herzen bleibt er lebendig. Doch das hat sie zu spät gelernt. Die Lektion war für die Katz. Sie denkt an all das, was Ned und sie nie getan haben: an nie unternommene Reisen, nie gesagte Sätze. Und jetzt ist Ned tot. Leben, das ist keine Sache, kein – wie heißt es noch gleich? – kein Substantiv. Es ist eine Tätigkeit. Ein Verb. Etwas, das man tut. Oder nicht tut. »Kann ich dir irgendwas bringen?« Opal steht in der Tür. Sie -336
sieht müde aus. Der Junge klammert sich an ihre Beine. Seit er aus North Carolina zurück ist, sind die beiden unzertrennlich. »Nein danke«, sagt Rose. »Du musst auch nicht hier bleiben.« »Ich weiß.« Sie kommt herein, der Junge mit ihr. »Ich hab mir gedacht, ich bleib den Nachmittag über da. Leiste dir ein bisschen Gesellschaft. Ich hab was zum Arbeiten mitgenommen.« Rose ist es gewohnt, allein zu Hause zu sein, auch den ganzen Tag, als Ned noch in der Werkstatt arbeitete, aber jetzt, ohne ihn – für immer ohne ihn –, dehnt die Leere sich aus und hallt hohl wider. Irgendwann demnächst wird sie sich daran gewöhnen müssen, an dieses Alleinsein. Aber jetzt noch nicht. Sie sieht zu, wie Opal einen Faden einfädelt. Zack hat ein Malbuch und Buntstifte mitgebracht. Er streckt sich auf dem Boden aus und fängt an zu malen. »Soll ich den Fernseher anmachen?« »Wenn du möchtest.« Rose zappt herum, bis sie eine Sendung gefunden hat, die ihr für Zack geeignet scheint. Opal hebt eine Puppe aus dem Seidenpapier, in das sie eingewickelt war. »Was für eine Puppe wird das?«, fragt Rose. »Eine Pioniersfrau.« Opals Puppen sind wirklich erstaunlich. Diese Liebe zum Detail. Das Mädchen hat ihr erklärt, wie sie die Puppen bastelt. Das Geheimnis liegt in der Einfachheit, hat sie ihr gesagt und Rose gezeigt, wie sie durch einen dünnen Holzstift im Hals der Puppe verhindert, dass der Kopf herumschlackert, und wie sie mit einem feinen Pinsel aus Zobelschwanzhaar die Gesichter aufmalt. Und dann das viele Nähen – so sorgfältig macht sie das, und alles von Hand. Plötzlich hat Rose eine Idee. Sie wird Opal ihre Nähmaschine schenken. Das hätte sie schon vor Monaten -337
tun sollen. Zufrieden bettet sie den Kopf auf das Sofakissen und schließt die Augen. Sie lässt sich vom Geräusch des Fernsehers berieseln, hört den Jungen leise summen, hört, wie Opal ihn bittet, still zu sein. Ist schon gut, denkt sie. Lass ihn singen, er stört mich nicht, aber sie ist zu müde, um die Worte über die Lippen zu bringen. Schließlich schläft sie ein. Als sie aufwacht, ist es fast dunkel. Sie muss mehrere Stunden geschlafen haben. Einen Moment lang – einen herzerwärmenden Moment lang – denkt sie, Ned sei bei ihr. Doch es ist Zack. Der Junge hat sich auf der Couch an sie gekuschelt, hat seinen Körper an ihren geschmiegt. »Du hast ein Schläfchen gemacht«, sagt er. »Ja«, sagt sie. »Das hat sehr gut getan.« Er streicht ihr mit einer feuchten Hand über die Wange. »Fein.« Sie drückt ihn an sich. Irgendjemanden muss sie an sich drücken, irgendjemanden muss sie berühren. Wenn sie es nicht tut, wird ihr Herz vertrocknen und zu Staub zerfallen.
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KAPITEL 41 OPAL Opal wickelt den Wasserschlauch ab und zieht ihn hinter sich her in den Garten. Sie dreht den Hahn gerade so weit auf, dass ein dünnes Rinnsal in die Erde unter den Tomaten sickert. Eine langsame, gleichmäßige Bewässerung ist am besten, hat Rose ihr erklärt, und sie hat ihr auch gezeigt, wie man um die Tomatenpflanzen Kalk ausstreut und wie man eine Art Gerüst um sie errichtet, damit die Früchte – Tomaten sind Beeren, wie sie von Rose gelernt hat, man kocht also Gemüsesuppen auf der Basis von Beerensaft – die Pflanzen nicht herunterziehen. Jetzt reichen ihr die Pflanzen schon bis zu den Schultern. Als sie am Beet entlanggeht, streifen ihr die Blätter über die Haut und verbreiten ihren strengen Geruch. Die Tomaten beginnen sich langsam rot zu färben. Gieß sie ordentlich, hat Rose gesagt, dann gedeihen sie. Tomaten sind nicht sonderlich anspruchsvoll und man hat lange was von ihnen. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet, nicht mal ein kurzes Gewitter hat es gegeben, das für etwas Abkühlung gesorgt hätte. Alle klagen über die drückende Hitze, aber Opal hat keine Probleme damit. Es ist wie im Sommer in New Zion. Opal freut sich über die Hitze. Sie verlangsamt alles. Das gefä llt ihr. Auch sie selbst wird langsamer. »Macht dir dieses Wetter gar nichts aus?« hat Rose neulich gefragt. Sie saßen unter dem Ahorn und schlürften Eistee aus beschlagenen, schlüpfrigen Gläsern. Rose fächelte sich mit einer zusammengefalteten Zeitung Luft zu. »Also, mir schon. Ich werde richtig schlapp davon.« »Was mich fertig macht, ist die Kälte. Letzten Winter bin ich fast erfroren. Aber Hitze mag ich. Die fehlt mir hier oft richtig.« »Was fehlt dir denn sonst noch?« »Aus New Zion? Hm.« Sie überlegte einen Moment. »Die -339
Veranden«, sagte sie schließlich. »Die Veranden?« Rose sah sie an, als wäre sie übergeschnappt. »Aber die gibt es hier doch auch.« »Das hier« – Opals ausholende Bewegung schloss all die gepflegten Veranden des Viertels ein – »sind keine echten Veranden. Zu Hause haben wir richtige Veranden.« Sie versuchte zu erklären, was eine Südstaatenveranda ausmacht: Breit ist sie, mit Säulen und einer genuteten Holzdecke, und geräumig genug für einen Tisch und einen Schaukelstuhl oder auch drei, in die man sich nach dem Essen setzen kann. Und für eine Hängematte, um die die Kinder sich streiten können. Ein Ort, wo Erwachsene faulenzen und alte Omis nähen und ein bisschen dösen können. Wo man in heißen Nächten schlafen kann. Wo Liebespaare herumknutsche n können. »In den Nordstaaten benutzen die Leute ihre Veranden überhaupt nicht, sie bewohnen sie nicht.« »Das ist alles, was dir fehlt?«, fragt Rose. »Das Wetter und die Veranden?« »Und Tante May. Meine Tante May fehlt mir auch. Die würde dir gefallen.« Es stimmt. So verschieden May und Rose auch sind, sie würden gut miteinander auskommen. Opal hatte bis dahin noch nicht darüber nachgedacht, aber die beiden Frauen haben viel gemeinsam. Zum Beispiel unterscheiden sie sich von ihrer Mama wie Sterne von Strass. »Mehr nicht?«, fragt Rose. »Das ist alles.« Die Wärme, die Veranden und Tante May. Vor allem Tante May. Was ihr mit Sicherheit nicht fehlt, ist das strenge Regiment ihrer Mama. Seit sie in Normal ist, hat Opal sich verändert. Es ist nichts, was ein Blick in den Spiegel offenbaren würde, doch in ihrem Innern hat sich etwas bewegt. Wenn sie es in Worte fassen sollte, würde sie sagen, sie ist erwachsen geworden. Sie fühlt sich neuerdings wie eine richtige Mutter, nicht wie jemand, der mit einer atmenden Puppe Vater-340
Mutter-Kind spielt. In den letzten paar Monaten ist so viel passiert. Die Arbeit im Spielwarenladen, der Erfolg, den sie mit ihren Puppen hat, Ty – es kribbelt ihr immer noch im Bauch, wenn sie an ihn denkt –, Neds Tod, der Respekt, den Rose ihr entgegenbringt, indem sie sich ganz auf sie verlässt. All dieses Dinge haben sie verändert. Wenn sie nach New Zion zurückginge, würde ihre Mama sofort das Kommando übernehmen, sie wieder in ein kleines Kind verwandeln. Sie nicht aus den Augen lassen. Sie herumschubsen. Sie kritisieren. Sich über ihre Haltung beschweren. Die nämlich, Opals Haltung, war Melva zufolge immer das Problem. Doch was ihre Mama als Trotz bezeichnet, ist in Opals Augen Entschlossenheit. Es ist die richtige Sorte Willensstärke, anders als die von Billy: die Art von Entschlossenheit, die zur Unabhängigkeit führt, die sich aus dem Glauben speist, dass Träume wahr werden können. Warum begreift ihre Mama das nicht? Aber warum nach dem Warum fragen – Melva ist Melva, so wie das Sonntagsessen Huhn ist. Sie legt den Gartenschlauch um. Ihre Füße sinken in der nassen Erde ein, und das kühle Wasser erfrischt sie. Durch einen Schleier flirrender Hitze schaut sie zu Rose und Zack hinüber, die nebeneinander auf dem Rasen sitzen. Rose trägt die grüne Makkaroni- Halskette, die Zack im Kindergarten gebastelt hat. Sie hat sie noch kein einziges Mal ausgezogen, seit er sie ihr geschenkt hat. Man könnte meinen, es wäre eine Jadekette oder so was. Zack hat verkündet, dass Rose seine neue beste Freundin ist. Jeden Morgen fragt er als Allererstes: »Darf ich zu Rose-Nelson rübergehen?« So sagt er das immer, Rose-Nelson den kompletten Namen als ein Wort. Opal macht sich zwar Gedanken, ob Zack Rose nicht zu sehr ermüdet – sobald er aufwacht, fängt er an, eine Frage nach der anderen zu stellen –, doch zugleich glaubt sie, dass die Gesellschaft ihres Sohnes Rose gut tut. Seit Neds Tod sitzt ihre Nachbarin fast jeden Tag -341
unter dem Ahorn und starrt ins Leere, und nur in Opals oder Zacks Gesellschaft erwacht sie zum Leben. »Schick ihn heim, wenn er dir auf die Nerven geht«, sagt Opal täglich zu Rose. »Er geht mir nicht auf die Nerven«, erwidert Rose dann jedes Mal. »Er ist unterhaltsamer als jede Soap-Opera.« Neulich hat Opal ein paar Fetzen einer Unterhaltung zwischen Rose und Zack mitgehört. »Du bist ein gescheiter Junge«, sagte Rose. »Ich werde jeden Tag gescheiter«, antwortete Zack. »Sagt meine Mama immer.« Und da beugte sich Rose doch tatsächlich über ihn und legte die Wange auf seinen Scheitel. Auch Rose hat sich verändert. Als Opal und Zack hier einzogen, ignorierte Rose sie mehr oder weniger, benahm sich, als hätten sie eine ansteckende Krankheit, als könnte sie ihren Anblick kaum ertragen, aber jetzt ist sie ... Na ja, gütig wäre vielleicht das richtige Wort. Liebevoll. So wie neulich, als sie Opal aus heiterem Himmel ihre Nähmaschine schenkte. »Arme Rose«, seufzte diese grässliche Ethel nach der Beerdigung. »Ich mache mir ja solche Sorgen um sie. Erst Todd und jetzt auch noch Ned. Das muss ihr doch das Herz gebrochen haben.« Diese Frau ist echt dumm wie Bohnenstroh. Verdammt noch mal. Rose leidet, keine Frage. Aber irgendwie hat ihr das ganze Leid das Herz eher aufgebrochen als gebrochen. Sie legt den Schlauch wieder an seinen Platz, blickt auf und sieht Rose und Zack Hand in Hand zu Roses Haus rübergehen. Limo-Zeit. Rose bewegt sich bedächtig, nicht nur, um sich Zacks Tempo anzupassen, sondern auch, weil Hitze und Trauer ihren Schritt verlangsamen. Auch Opal lebt dieser Tage in Zeitlupe. Sie bewegt sich im Kriechtempo auf die Sorgerechtsverhandlung zu, schwankt zwischen Angst und dem Wunsch, alles hinter sich zu bringen. Sich endlich nicht mehr mit Billy herumschlagen zu müssen. Sie haben sich mittlerweile zweimal mit einer Mediatorin -342
getroffen. Die Treffen waren Sarah Rogers’ Idee, sie hoffte, dadurch eine Gerichtsverhandlung vermeiden zu können. Obwohl es Opal schier umbrachte, hat sie in fast jedem Punkt, den die Mediatorin ansprach, nachgegeben. Kompromissbereitschaft macht einen guten Eindruck, hatte Vivian gesagt. Während des zweiten Treffens stimmte sie einem Vorschlag zu, der Billy das Umgangsrecht für sämtliche Schulferien, weitere sechs Wochen im Sommer sowie, im Wechsel mit ihr, für die Feiertage einräumte. Billy kam ihr keinen Zentimeter entgegen. Was will er denn noch?, fragte sie Vivian. Wie sich zeigt, will er noch viel mehr. Er will alles. Er will das alleinige Sorgerecht für Zack. Tja, jetzt weiß sie es, klipp und klar. Billy hat Blut geleckt. Sein eigenes Blut. Hat er so nicht Zack irgendwann mal bezeichnet? Wie hat sie nur seine Beharrlichkeit vergessen können, die Beharrlichkeit eines Straßenköters – wie oft hat er nicht den Hausmeister beschwatzt, ihn morgens vor Schulbeginn hereinzulassen, damit er Freiwürfe und Korbleger trainieren konnte. Denn Billy Steele saß während der Spiele nicht auf der Reservebank. Billy Steele bekam, was er wollte, egal was es ihn kostete. Und als er diese Beharrlichkeit darauf verwandte, sie zu gewinnen, machte sie den gigantischen Fehler, das für Liebe zu halten. Bisher hat sie trotz ihres wachsamen Blicks und ihres geschärften Bewusstseins kein Zeichen entdeckt, nichts, das ihre Ängste gebannt und ihr den Weg gezeigt hätte. Sie kann sich nur auf Vivians Rat verlassen. Ihr letztes Treffen verlief nicht gut. »Versprechen Sie mir, dass ich Zack nicht verlieren werde«, verlangte sie. »Das kann ich Ihnen nicht versprechen.« »Scheiße, Mann. Es gibt Frauen, die im Gefängnis sitzen und trotzdem noch das Sorgerecht für ihre Kinder haben. Im -343
Gefängnis. Was soll denn an mir so schlimm sein?« Was sie wollte, war eine Garantie. Aber die bekam sie nicht. Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen, sagte Vivian. Das politische Klima hat sich verändert, sagte sie, und dann ließ sie sich über den Fall Green aus, die Mutter, die ihre beiden Kinder umgebracht hatte, was dem heiligen Stand der Mutterschaft einen schweren Schlag versetzt habe, und über die wachsende Gegenströmung, die nicht zuletzt auf die vielen Initiativen für die Rechte der Väter zurückzuführen sei. Bla bla bla. Vivian war immer noch sauer. Sie hatte Opal, gleich als sie kam, zur Rede gestellt. »Keine Lügen«, sagte sie. »Das war von Anfang an meine Grundregel.« »Was wollen Sie damit sagen?«, wich Opal aus. »Ich habe nicht gelogen.« »Schluss jetzt.« Vivian hob einen Stapel Unterlagen hoch. »Sarah Rogers’ Bericht. Da steht es drin. Alles.« »Was steht drin?« »Dass Sie in der Scheiße stecken.« Sie wartete, ob Opal etwas sagen würde, und half dann nach: »Zacks gebrochener Arm?« »Das habe ich Ihnen doch erzählt.« Sie konnte Vivian nicht in die Augen sehen. »Sie haben mir erzählt, dass Sie bei dem Unfall eine Zeugin hatten. Sie haben mir nicht erzählt, dass diese Zeugin gelogen hat.« »Ich hatte Angst, dass es schlecht aussehen würde. Weil ich Zack allein gelassen habe, meine ich.« Wie hatte Sarah Rogers das herausgefunden? Über Rose vermutlich. Rose hatte es sich wohl anders überlegt und ihr die Wahrheit gesagt. »Meinen Sie, eine Lüge sieht besser aus? Das tut sie nicht, glauben Sie mir. Sie lässt bloß den Eindruck entstehen, Sie hätten ein schlechtes Gewissen.« »Aber eine einzige Lüge? Glauben Sie, ich könnte Zack -344
wegen einer einzigen kleinen Lüge verlieren?« »Es ist nie nur eine Sache. Das summiert sich. Und alles zusammen könnte Ärger geben. Wir wissen nicht, wie Richter Bowles entsche iden wird. Ich möchte, dass Sie wissen, wie die Lage ist.« Opal spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Glauben Sie etwa, Billy könnte gewinnen?« Nun endlich lenkte Vivian ein. »Ich sag Ihnen mal was.« Sie drückte ihre Zigarette so heftig aus, dass der Filter aufplatzte. »Sie haben Fehler gemacht, aber eher lass ich mir die Hand abhacken, als mit anzusehen, wie Billy Steele das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekommt ...« Eher lass ich mir die Hand abhacken. Opal klammert sich an diesen Satz. Er kommt einer Garantie noch am nächsten. In Ermangelung eines echten Zeichens wird sie sich damit zufrieden geben müssen.
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KAPITEL 42 OPAL Opal kann nicht still sitzen. Und wenn sie noch weiter an den Nägeln kaut, wird sie bald auf dem rohen Fleisch herumbeißen. Was sie braucht, ist ein Zeichen. Es regnet, zum ersten Mal seit Wochen. Aber falls das ein Zeichen ist, wie soll sie es interpretieren? Sind die Regentropfen Tränen? Und was bedeuten sie? Kummer? Verlust? Oder steht der Regen für eine Reinigung? Spült er Billy aus ihrem Leben? Oder bedeutet er schlichtweg, dass sich die Wetterlage ändert? Ihr tut der Kopf schon weh vom vielen Nachdenken. Sie braucht etwas Großes, etwas, bei dem sie nicht Gefahr läuft, es falsch oder gar nicht zu verstehen. Etwas Gigantisches, deutlich wie Himmelsschrift. Sie hält die Augen offen. Im Moment wartet sie auf Vivian. Ihre Mama und ihr Daddy, Billy und die beiden Anwälte sind schon in den Gerichtssaal gegangen; Billy ist an ihr vorbeimarschiert, als säße sie gar nicht da, als hätte er sie noch nie gesehen, als wäre er ihr nie nachgelaufen, hätte sie nie gehalten, nie darum gebettelt, dass sie die Beine für ihn öffnet, ihr nie ein Kind gemacht. Ihr Daddy blieb bei ihr stehen, bevor er hineinging, nahm sie in den Arm und sagte ihr, dass er sie liebte, was ihr fast das Herz brach. Und ihre Mama? Nun, Melva hat sie mit einem Blick angesehen, der so viel besagte wie: Für dich hole ich keine Kastanien mehr aus dem Feuer, Mädchen, und ist dann durch die Flügeltür in den Gerichtssaal gegangen, wo ihrer aller Zukunft entschieden werden wird. Es fällt ihr schwer, sich in Erinnerung zu rufen, was Tante May ihr über Melvas Vergangenheit erzählt hat. Was ihre Mama betrifft, hat Opal größte Schwierigkeiten, ihr Herz nicht ganz zu verschließen. »Er ist schuld«, sagt eine dicke Frau zu ihrer Linken. »Ich habe alles getan. Alles. Ich habe gearbeitet und Geld rangeschafft, und er hat derweil rumgesessen und die -346
Jerry Springer Show angeguckt.« Soaps allenthalben. Endlich taucht Vivian auf. »Tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, sagt sie und schiebt Opal durch die Flügeltür. Ihr Fall wird als Erster verhandelt. Als ihr Aktenzeichen aufgerufen wird, steht Opal wie benommen auf; sie gehen nach vorn an den Tisch und nehmen ihre Plätze ein. Drüben an Billys Tisch zieht die blonde Anwältin, Carla Olsen, eine Flasche importiertes Tafelwasser aus ihrer Aktentasche und stellt sie auf den Tisch. Opal wünscht sich, sie hätte auch daran gedacht, Wasser einzustecken. Sie hat einen trockenen Mund, feuchtkalte Hände. Sie hätte einen Glücksbringer mitnehmen sollen. Etwas, woran sie sich jetzt festhalten könnte. Ihren Amethyst oder irgendwas von Zack. Sie schaut kurz zu Billy rüber. Er wirkt gelassen, zuversichtlich. Sie richtet sich auf ihrem Stuhl auf. Sie kann ja wenigstens so tun als ob. Der Protokollführer reicht Richter Bowles einen Stapel Blätter. Opal mustert sein Gesicht, während er liest, sucht nach Anzeichen von Güte, von Verständnis. Sie kann nichts entdecken. Sie schaut zu Sarah Rogers hinüber, der Frau, die hier ist, um Zacks Interessen zu vertreten. Als könnte irgendjemand außer seiner Mama seine Interessen vertreten. Opal traut weder dem Richter noch der Frau, die zu Zacks vorläufigem Vormund ernannt wurde. Wem kann sie vertrauen? Vivian? Mit ihrer schäbigen Kanzlei, ihrer Kettenräucherei, ihren billigen Klamotten? Sie wirft einen Seitenblick auf ihre Anwältin. Eher lass ich mir die Hand abhacken. Ja, Vivian auf jeden Fall. Während Richter Bewies liest, herrscht bis auf das Summen der Klimaanlage Stille im Saal. Er hebt mehrmals den Blick, schaut einmal zu Opal rüber, einmal in Billys Richtung. Schließlich lässt er die Unterlagen sinken. Er nimmt die Brille ab und reibt sich die Schläfen, dann setzt er sie wieder auf. Er holt tief Luft und schaut zu ihnen herunter. Opal weiß seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten. »Das Gericht möchte auf keinen Fall über Zackerys Schicksal entscheiden, bevor nicht -347
der Versuch gemacht worden ist, einen Kompromiss zu finden. Bin ich richtig informiert, dass die beiden Parteien nichts unversucht gelassen haben, um sich außergerichtlich zu einigen?« »Ja, Euer Ehren«, sagt Vivian. »Korrekt, Euer Ehren.« Wieder ist es Carla Olsen, die für die andere Seite spricht. Opal versucht sich vorzustellen, wie diese Frau sich für Billy die Hand abhacken lässt, doch es gelingt ihr nicht. Die nicht. Ein paar Kratzer, der eine oder andere abgebrochene Fingernagel vielleicht, aber die Hand lässt die sich niemals abhacken. Jetzt geht es Opal schon bedeutend besser. »Es liegt auf der Hand«, beginnt Carla Olsen, »dass Mr. Steele durch die geografische Trennung infolge von Miss Gates’ Umzug in diesen Bundesstaat an der Wahrnehmung seiner Elternrechte gehindert wird. Miss Gates hat sich zwar bereit erklärt, Mr. Steele ein eingeschränktes Umgangsrecht zu gewähren, doch Zackery nur ein paar Wochen im Jahr zu sehen ist für unseren Mandanten nicht akzeptabel.« Ein paar Wochen? Sie hat ihm sämtliche Schulferien, sechs Wochen im Sommer plus die Feiertage zugestanden. Das sollen nur ein paar Wochen sein? Sie stupst Vivian in die Seite, doch die Anwältin bedeutet ihr durch eine Handbewegung, ruhig zu sein. »Solange Miss Gates darauf besteht, in einem anderen Bundesstaat zu leben, bleibt Mr. Steele keine andere Wahl, als das alleinige Sorgerecht zu beantragen. Er möchte, dass sein Sohn wieder nach North Carolina zurückkommt und so nicht nur mit Mr. Steele, sondern auch mit der Verwandtschaft täglichen Kontakt haben kann. Mit beiden Großelternpaaren.« »Habe ich das so zu verstehen, dass Mr. Steele sich in der Frage des Sorgerechts flexibel zeigen würde, falls Miss Gates sich bereit erklärt umzuziehen, also wieder nach North Carolina zurückzukehren?« -348
Umziehen? Nach New Zion zurückkehren? Niemals. Echt, Mann, lieber frisst sie Sand, nein Fledermausscheiße, als dass sie nach New Zion zurückgeht. »Nicht unbedingt, Euer Ehren. Mein Mandant hat grundsätzliche Bedenken gegen den Verbleib seines Sohnes bei der Mutter. Man darf wohl so weit gehen zu sagen, dass Mr. Steele ernstlich um das Wohl seines Sohnes bangt, falls dieser in der Obhut seiner Mutter bleibt.« »So ein Schwachsinn.« Opal springt auf, schüttelt Vivians Hand ab. »Billy wollte ihn überhaupt nicht haben. Kapieren Sie das denn nicht? Er wollte, dass ich abtreibe.« Warum begreifen diese Leute das bloß nicht? »Miss Gates, setzen Sie sich bitte. Ihr Verhalten ist äußerst ungebührlich. Und es ist Ihren Interessen in keiner Weise dienlich. Miss Cummings, würden Sie Ihre Mandantin bitte auf die Verhaltensregeln im Gerichtssaal hinweisen.« »Es tut mir Leid, Euer Ehren«, sagt Opal. »Aber wie kann er behaupten, dass er Zack haben will, wo er ihn doch in Wirklichkeit nie wollte, und zwar vom ersten Tag an nicht?« Der Richter streicht sich über den Unterkiefer, als prüfe er, wann die nächste Rasur fällig sei, und schaut auf sie hinunter. »Miss Gates, das ist für diese Verhandlung irrelevant. Mr. Steele hat zur Zufriedenheit des Gerichts bewiesen, dass er derzeit – unabhängig davon, wie er früher gedacht haben mag – ein ausgeprägtes Interesse daran hat, eine wichtige Rolle im Leben seines Sohnes zu spielen. Genau aus diesem Grunde sind wir hier versammelt.« »Darf ich fortfahren, Euer Ehren?« Carla Olsen hält einen Stapel Unterlagen hoch. »Miss Gates stellt sich gern als liebende Mutter dar, aber wir haben diesbezüglich ernstha fte Bedenken. Unsere Dokumentation, die von Zeugenaussagen gestützt wird ...«, sie schwenkt die Unterlagen, »... lässt nämlich ein völlig anderes Bild entstehen.« Sie beginnt ihre Beschuldigungen -349
aufzuzählen und schnippt bei jedem einzelnen Punkt mit dem Fingernagel gegen die Blätter. »Eine gute Mutter kommt nicht wiederholt zu spät, wenn sie ihr Kind aus dem Kindergarten abholt. Eine gute Mutter geht regelmäßig mit ihrem Kind zur ärztlichen und zahnärztlichen Kontrolle. Eine gute Mutter hat die Versorgung ihres Kindes im Griff. Eine gute Mutter läuft nicht einfach fort, lebt nicht ohne jede finanzielle Absicherung.« Sie hält inne, trinkt einen Schluck Wasser. Es ist nicht nur eine Sache. Das summiert sich. Opal traut sich nicht, den Richter anzusehen. »Entschuldigen Sie bitte, Euer Ehren.« Vivian steht auf. »Es ist bedauerlich, aber wahr, dass das, was meine Kollegin hier beschreibt, nicht untypisch für rund siebzig Prozent der allein erziehenden Mütter in New England ist, Mütter, die nun mal einer besonderen Belastung ausgesetzt sind. Das ist noch kein Grund, jemandem das Kind wegzunehmen.« »Ich werde auf diesen Punkt gleich eingehen, Euer Ehren«, sagt Carla Olsen und nimmt ihre Litanei wieder auf. »Eine gute Mutter achtet auf die gesunde Ernährung ihres Sohns.« Sie senkt theatralisch die Stimme. »Euer Ehren, uns liegen Zeugenaussagen vor, denen zufolge Miss Gates mit ihrem Sohn um zehn Uhr morgens, keine halbe Stunde nachdem man seinen gebrochenen Arm gerichtet hatte, Eis essen gegangen ist, was dazu führte, dass Zackery sich übergab, und seitens der Mutter, gelinde gesagt, jeglichen gesunden Menschenverstand vermissen lässt. Und wo wir gerade beim Thema gesunder Menschenverstand sind: Was ist das für eine Mutter, die sich mit einem Rauschgifthändler einlässt und die Nacht mit ihm verbringt, während keine vier Meter entfernt im Nachbarzimmer ihr Sohn schläft? Was ist das für eine Mutter, die ihren fünfjährigen Sohn allein lässt? Unseres Erachtens ist Miss Gates als Mutter schlichtweg fahrlässig – um es milde auszudrücken.« Bevor Opal sich rühren kann, springt Vivian auf. »Euer Ehren ...« -350
Richter Bowles gebietet ihr mit einer Handbewegung Einhalt. »Sie werden noch Gelegenheit haben, sich zu äußern.« »Wir stimmen Miss Cummings zu, dass Miss Gates großen Belastungen ausgesetzt ist«, fährt Carla Olsen fort. Opal hasst sie. Hasst sie. Der sollte man die Hand abhacken. Und den Kopf gleich noch dazu. »Es ist offenkundig, dass die finanzielle und körperliche Belastung sie überfordert, von der emotionalen Belastung einma l ganz abgesehen. Wenn Mr. Steele das Sorgerecht für seinen Sohn erhält, ist er in jeder Hinsicht bestens vorbereitet. Er hat eine Arbeitsstelle. Er ist finanziell abgesichert.« Sie hält inne und legt Billy eine Hand auf die Schulter. »Mein Mandant wird nicht nur von seinen eigenen Eltern, sondern auch von den Großeltern mütterlicherseits, den Eltern von Miss Gates, rückhaltlos unterstützt. Das bedeutet, dass vier weitere Menschen an der Erziehung und täglichen Versorgung des Jungen teilhaben werden. Mr. Steele wird Zackery ein stabiles und sicheres Zuhause bieten, wozu Miss Gates ganz offensichtlich nicht in der Lage ist.« Sie macht eine Pause. Wozu? Wartet sie auf Applaus? Dann setzt sie sich. Die gehört doch ungespitzt in den Boden gerammt. Opal ballt die Fäuste. Sie wird nicht weinen. Diese Genugtuung gönnt sie ihnen nicht. »Mr. Steele? Möchten Sie dem Gericht irgendetwas sagen?« Billy erhebt sich, als wollte er eine Auszeichnung entgegennehmen. »Nein, Euer Ehren.« Arschloch. »Nun denn. Miss Cummings?« »Euer Ehren, bevor ich mich äußere, würde meine Mandantin gern das Wort an Sie richten.« Sie nickt Opal zu. »Sie sind dran«, flüstert sie. Opal schluckt, steht auf, druckt die Knie durch, was zwar hilft, das Zittern aber nicht ganz verhindert. »Sir.« Sie könnte jetzt wirklich ein Glas Wasser gebrauchen, irgendwas gegen ihre trockene Kehle. Vivian flüstert ihr zu, sie solle weitermachen. -351
»Sir, ich liebe Zack. Er ist mein Ein und Alles. Ich bin vielleicht keine perfekte Mutter. Schei – Scheibenkleister, Mann, ich bin ganz bestimmt keine perfekte Mutter. Ich weiß gar nicht, ob es so was überhaupt gibt. Manchmal bin ich vielleicht sogar nur eine mittelmäßige Mutter. Aber ich liebe Zack. Ich hätte nie gedacht, dass man jemanden so lieben kann, wie ich ihn liebe.« Sie schluckt. Niemand anders ist im Gerichtssaal. Nur sie und der Richter. Sie muss es ihm begreiflich machen. »Zack und ich sind ein Team. Schon seit seiner Geburt schlagen wir uns zu zweit durch. Wirklich, seit er auf die Welt gekommen ist. Es war nie jemand anders da. Meine Mutter und mein Vater nicht, und auch Billy nicht.« Sie bremst sich, um nicht wieder von der Abtreibung anzufangen. »Vom ersten Tag an habe ich allein für ihn gesorgt. Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe, aber Zack ist glücklich bei mir. Wir sind glücklich miteinander. Ich lese ihm vor. Er ist ein kluger Kerl. Es würde Zack umbringen, wenn er von mir getrennt würde. Und es würde mich umbringen, Euer Ehren. Echt, es würde mich umbringen.« Richter Bowles sieht sie mit unbewegter Miene an. Opal setzt sich. Einer der Justizbeamten hustet. Der Richter blättert die Unterlagen durch, zieht ein Blatt heraus, studiert es. »Damit ich das alles richtig verstehe«, sagt er. »Mrs. Rogers’ Bericht zufolge sind Sie nach Normal gezogen, weil Sie eine Drei gewürfelt haben?« Seine Stimme klingt ungläubig. »Stimmt das? Sie sind wegen drei Punkten auf einem Würfel von zu Hause weggegangen und nach Massachusetts gezogen?« »Es war ein Zeichen, Euer Ehren.« »Ein Zeichen?« Am anderen Tisch hört Opal jemanden schnauben. Ihre Mama. »Euer Ehren.« Vivian steht auf. »Manchmal tut ein Mensch in bester Absicht das Richtige aus den falschen Gründen. Drei Tankfüllungen Benzin mögen der falsche Grund für Opal -352
gewesen sein, von North Carolina nach Massachusetts zu ziehen, doch der Wunsch, sich aus einer überfürsorglichen, wenn nicht gar zum Übergriff neigenden Familie zu lösen, ist zweifellos sinnvoll, ein erster Schritt auf dem Weg zur Eigenständigkeit. Dr. Emily Jackman hat in ihrer Aussage klar zum Ausdruck gebracht, dass sie Opals Umzug für eine gesunde und vernünftige Entscheidung hält. Opal wollte neu beginnen – an einem Ort, wo niemand ihren Hintergrund kannte. Ihre Verwandten und Freunde wohnen alle in ihrer Heimatstadt, und Miss Gates hatte keinerlei Verbindungen zu irgendeinem anderen Ort. In so einer Situation kann Würfeln eine kreative, wenn auch sicher ungewöhnliche Strategie sein.« Opal könnte Vivian umarmen. Der Richter geht wieder den Stapel Unterlagen durch, nimmt ein anderes Blatt zur Hand. »Dem Dienst habenden Arzt zufolge hat Miss Gates ihren Sohn mit einem gebrochenen Arm und verdächtigen Blutergüssen in die Notaufnahme gebracht.« »Blutergüsse«, sagt Opal. »Es war ein einziger.« Mann, das klingt ja, als wäre Zack von blutigen Striemen bedeckt gewesen. »Euer Ehren, Zackery Gates ist ein lebhaftes, energiegeladenes Kind. Ich würde wetten, dass Sie bei jedem Einzelnen der fünfzehn Kinder aus seinem Kindergarten irgendwo einen blauen Fleck oder ein Pflaster finden könnten. In Zacks Fall kam der zuständige Arzt zu dem eindeutigen Schluss, dass keinerlei Misshandlung stattgefunden hatte. Das Jugendamt wurde nicht kontaktiert.« »Mrs. Rogers’ Bericht zufolge hat Miss Gates im Krankenhaus gelogen.« »Euer Ehren, wenn Sie gestatten. Miss Gates war durch den Unfall ihres Sohnes traumatisiert. Als der Junge sich verletzte – er stürzte in seinem Zimmer –, hatte Miss Gates ihn allein gelassen, um kurz zum Supermarkt zu fahren. Sie wusste natürlich, was für ein Eindruck entstehen würde, wenn sie das -353
dem Arzt gegenüber zugab. Man beschuldigte sie der Kindesmisshandlung. Sie hatte Angst. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich jetzt gern eine Zeugin aufrufen, die mit Miss Gates im Krankenhaus war.« »Bitte.« Einer der Justizwachtmeister öffnet die Seitentür. »Rose?«, wispert Opal. Rose geht langsam ans Kopfende des Saals. Ihr Gesicht strahlt Ruhe aus, Kraft. Opal fällt plötzlich der Tag ein, an dem sie Rose das erste Mal gesehen hat, jener Tag, an dem Dorothy Barnes ihr von Todds Tod erzählt hatte und sie dann später Rose beim Wäscheaufhängen sah. Damals erinnerte Rose sie an eine Galionsfigur. An eine breitschultrige Pioniersfrau. Jemand Robustes. Jemand, der ihr helfen konnte. »Ihr Name bitte?« »Rose Nelson.« Rose ist rot im Gesicht. Sie trägt die Makkaronikette. Ein grün verschmierter Schweißrand zieht sich um ihren Hals. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu Miss Gates?« »Ich bin Opals Nachbarin.« Sie errötet noch stärker, vom Kragen bis zum Haaransatz. »Ich möchte dem Gericht etwas mitteilen. Es war nicht Opal, die im Krankenhaus gelogen hat. Das war ich. Ich habe dem Arzt gesagt, ich wäre dabei gewesen, als Zack sich den Arm brach.« »Sie machen mich neugierig, Mrs. Nelson. Warum sollten Sie für Opal Gates lügen?« »Ich musste es tun.« »Sie mussten es tun? Ich kann Ihnen nicht folgen, Mrs. Nelson.« »Ich habe gemerkt, was er dachte. Jeder hätte das gemerkt. Man hörte es an seiner Stimme, an der Art, wie er mit ihr redete. Ich mache ihm das nicht zum Vorwurf. Er bekommt sicher so -354
einiges zu sehen. Aber in Bezug auf Opal hatte er einfach nicht Recht. Sie würde dem Jungen niemals wehtun.« »Danke für diese Klärung, Mrs. Nelson.« Rose ist noch nicht fertig. »Euer Ehren, ich weiß, was es bedeutet, den eigenen Sohn zu verlieren. Mein Todd ist ums Leben gekommen. Ich habe ihn verloren. Ich weiß, wie das ist. Es wäre nicht richtig, wenn Opal ihren Sohn verlieren würde. Sie liebt Zack. Wer auch nur ein Fünkchen Verstand besitzt, sieht das. Und der Junge liebt sie. Opal hat vielleicht nicht viel Geld, aber sie kann dem Jungen Liebe geben. Und das ist etwas, was man auch für alles Geld auf dieser Welt nicht kaufen kann.« Der Richter starrt Rose an. »Außerdem ist sie nicht allein, wie hier behauptet wird.« Rose wirft Billy und Melva einen bösen Blick zu. »Sie hat mich.« In der Pause wagt Opal nicht, den Be inen ihr Gewicht anzuvertrauen. Sie bleibt am Tisch sitzen und drückt Roses Hand. »Wo ist Zack?«, fragt sie, sobald sich der Richter zurückgezogen hat. »Er ist bei Maida im Laden. Sie passt auf ihn auf, bis du wiederkommst. Sie lässt dich grüßen.« »Maida?« »Eine Menge Leute stehen hinter dir, Opal.« Opal schluckt, umklammert Roses Hand noch fester. So bleiben sie sitzen, bis der Richter zurückkehrt. »Fälle wie dieser verlangen nach einem Kompromiss«, beginnt er. »Auch wenn dieser Kompromiss vielleicht keine m von Ihnen beiden gefallen wird. Was das Gericht anstrebt, ist eine Lösung, die den Bedürfnissen Ihres Sohnes gerecht wird – seinen körperlichen, geistigen und emotionalen Bedürfnissen. Wer kann Zacks Interessen am besten dienen? Miss Gates, Sie sind gedankenlos gewesen und haben Fehler gemacht. Sie haben gelogen. Als Sie Ihren Sohn allein ließen, haben Sie ihn gefährdet und sich somit fahrlässig verhalten. -355
Bei der Entscheidungsfindung musste ich berücksichtigen, dass nicht nur der Vater die Rückkehr des Jungen nach Norm Carolina wünscht, sondern auch die beiden Großelternpaare.« Sie muss gleich kotzen. Sie zieht sich in sich zurück, will nichts mehr hören, nicht mehr atmen. Rose hat ihr den Arm um die Taille gelegt. »Mrs. Rogers’ Bericht zufolge ist Zack ein ausgeglichenes Kind. Ein extrem ausgeglichenes Kind.« Opal erlaubt sich einen winzigen Hoffnungsschimmer. »Mrs. Rogers in ihrer Funktion als vorläufiger Vormund ist der Ansicht, dass die enge Bindung zwischen Mutter und Sohn, eine über Jahre gewachsene liebevolle Beziehung, zerstört werden würde, wenn Mr. Steele das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekäme.« Er hält inne und lächelt Rose Nelson an. »Ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, dass ich durchaus ein Fünkchen Verstand besitze. Ich sehe, dass Miss Gates ihren Sohn von ganzem Herzen liebt, und diese bedingungslose Liebe lässt manch anderen Aspekt in den Hintergrund treten. Ich stimme mit Mrs. Rogers überein. Miss Gates behält das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Zackery.« »Ja«, murmelt Vivian. Opal schaut verwirrt ihre Anwältin an. War es das? Ist es vorbei? Hat sie gewonnen? »Andererseits kann das Gericht – und Mrs. Rogers schließt sich diesem Standpunkt vorbehaltlos an – in keiner Weise gutheißen, dass Sie den Jungen seinem Vater entzogen haben. Sie verwehren nicht nur dem Vater die Wahrnehmung seiner Rechte, sondern Sie verwehren auch Ihrem Sohn die Beziehung zu seinem Vater, eine Beziehung, die Mr. Steele unbedingt leben möchte. Mr. Steele, Ihr Antrag auf alleiniges Sorgerecht ist abgelehnt.« »Euer Ehren.« Carla Olsen ist aufgesprungen. Der Richter hebt die Hand, bedeutet ihr, sich wieder zu setzen. »Das Aufenthaltsbestimmungsrecht bleibt bei Miss Gates, -356
doch Mr. Steele erhält uneingeschränktes Umgangsrecht.« Er schaut über seinen Brillenrand zu Opal hinunter. »Uneingeschränktes Umgangsrecht. Miss Gates, ich kann nicht verfügen, oder anders gesagt, ich kann Ihnen nicht befehlen, nach North Carolina zurückzukehren. Das steht nicht in meiner Macht. Was ich jedoch tun kann, ist, Sie ausdrücklich dazu zu ermutigen zurückzukehren – denken Sie daran, dass es zum Besten ihres Sohnes ist. Soweit ich es beurteilen kann, besteht keine zwingende Notwendigkeit für Sie, in Massachusetts zu bleiben. Zwar haben Sie sich hier ein eigenes Leben aufgebaut und Freunde gewonnen ...«, er hält inne und schaut zu Rose hinüber, »... doch meines Erachtens treten diese Erwägungen gegenüber anderen Faktoren, die das Kindeswohl betreffen, in den Hintergrund. Damit meine ich, dass einem Jungen der Kontakt zu seinem Vater möglich sein muss, einem Vater, der eindrücklich und überzeugend belegt hat, dass er ungeachtet seines früheren Verhaltens – am täglichen Leben seines Sohns teilhaben möchte. Und seien Sie gewarnt: Falls Sie sich entschließen sollten, Ihrer persönlichen Unabhängigkeit den Vorrang vor Zackerys Bedürfnissen zu geben und hier zu bleiben, würde ich bei einem Revisionsantrag seitens Mr. Steeles geneigt sein, ein anderes Urteil zu fällen.« Er schlägt mit dem Hammer auf den Tisch. »Nächster Fall«, sagt er zum Protokollführer. »Sie haben gewonnen«, sagt Vivian. Sie hat gewonnen. Sie hat Zack. Und sie hat verloren. Sie muss Normal verlassen. Und Rose.
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KAPITEL 43 ROSE Rose blickt wieder aus dem Fenster. Tyrone ist fort. Vor ein paar Minuten hat sie seinen Pickup vorfahr en hören – oder vielmehr Neds Pickup, den sie Ty geschenkt hat. Was soll sie schon damit anfangen? Sie hat sein Angebot, ihr etwas dafür zu bezahlen, abgelehnt. Wenn sie irgendetwas nicht braucht, dann ist es Geld. Der Erlös der Werkstatt und Neds überraschend hohe Lebensversicherung haben sie aller finanzieller Sorgen entledigt. Sie könnte bis an ihr Lebensende täglich zum Grand Canyon fliegen und hätte immer noch Geld übrig. Als sie vorhin hinausschaute, sah sie, wie Tyrone Zack durch die Luft schwang. Dann umarmte er Opal, so lange, dass es nicht recht gewesen wäre, länger zuzusehen. Gönn ihnen ein paar Minuten allein, dachte Rose und wandte sich ab, obwohl sie am liebsten am Fenster stehen geblieben wäre, bis der Buick losfuhr, bis sie wirklich fort waren. Als Letztes sah sie gerade noch, wie Tyrone Opal küsste. Die zwei sind noch nicht fertig miteinander, dachte sie. Opal hat diesen Mann nicht zum letzten Mal gesehen. So wie bei diesen Serien, die immer genau dann in die Sommerpause gehen, wenn es am spannendsten ist: Fortsetzung folgt. Die Kisten und Taschen, die sich seit dem frühen Morgen in der Einfahrt türmten, sind inzwischen fast alle verstaut. Rose hätte gern geholfen, aber Opal wollte es nicht. Sie will nicht mal, dass Rose herauskommt, um sich zu verabschieden. »Ich finde Abschiede schrecklich, Rose«, sagte Opal gestern, als sie zusammen zu Abend aßen. Pizza und Cola – Zacks Wahl. »Bitte komm morgen nicht rüber, ja? Versprich es mir.« Rose wandte sich ab, damit Opal die Enttäuschung nicht sah, die sich auf ihrem Gesicht breit machte. Eigentlich hätte es sie nicht überraschen sollen. Opal hat schon so manches hinter sich -358
gelassen: ihren Namen. Ihre Familie. Den Vater ihres Sohnes. Sie geht Bindungen ein und löst sie wieder. So ist sie nun mal, und Rose will nicht darüber urteilen. Gezwungen, von ferne Abschied zu nehmen, steht Rose am Fenster und wünscht sich, sie könnte die beiden festhalten. Opal wird schon zurechtkommen, sagt sie sich. Sie ist ja nicht ganz allein. Sie hat ihre Tante May. Wenn sie das doch nur glauben könnte. Der Junge schaut immer wieder herüber. Als er sie sieht, strahlt er über beide Backen und winkt ihr zu. Rose spürt einen Kloß im Hals. Er dreht sich zu seiner Mutter um, zeigt in Roses Richtung und sagt etwas. Opal nickt, und der Junge kommt herübergerannt. Sie empfängt ihn an der Tür und drückt ihn an sich. »Du zerquetschst mich ja«, sagt er. Sie befiehlt ihren Armen, ihn loszulassen. »Da«, sagt sie und reicht ihm eine braune Papiertüte. »Für die Reise. Die habe ich gestern Abend gebacken.« Gestern Abend, als sie beim besten Willen nicht schlafen konnte, ist sie in die Küche gegangen und hat gebacken wie eine Wilde. »Danke, RoseNelson«, sagt er. »Sei gut zu deiner Mama, hörst du? Sie ist schon groß, aber trotzdem muss auch jemand auf sie aufpassen. Und richte ihr aus, dass sie vorsichtig fahren soll.« Jetzt muss sie ihn wohl gehen lassen. Sie kann ihn nicht: hier festhalten. Draußen hört sie Opal nach dem Jungen rufen. »Deine Mama ruft dich«, sagt sie. »Mach dich auf die Socken.« »Okay«, sagt er. »Ich hab dich lieb, Zack«, sagt sie so leise, dass er es nicht hören kann. Doch er hat es gehört. »Ich hab dich auch lieb, RoseNelson.« Sie erträgt es nicht, sich wieder ans Fenster zu stellen. Wenn sie -359
wirklich fort sind, wird es einfacher sein. Die Puppe, die Opal ihr gestern Abend geschenkt hat – das Pioniermädchen –, sitzt auf dem Küchenschrank. Selbst dieser Anblick tut ihr weh. Was hat das Mädchen gesagt? Die erinnert mich an dich. Rose schaut weg. Sie gießt sich eine Tasse Kaffee ein, nimmt die Zeitung zur Hand, schlägt den Sportteil auf. Für Ned. Sie wird weitermachen. So ist das eben. Man macht weiter. Trotz alledem. Sie lässt sich am Tisch nieder. Ob die Red Sox wieder gewonnen haben? Sie sieht nach und dann – dann traut sie ihren Augen nicht. Sie liest die Überschrift zweimal. Ein drittes Mal. Na. Opal hat wohl schon auf sie abgefärbt? Doch dann lacht sie laut auf. Draußen in der Einfahrt wird der Buick angelassen. Sie stürzt an die Tür, die Zeitung in der Hand. »Opal!«, schreit sie. »Opal, warte!« Der Wagen rollt rückwärts aus der Einfahrt hinaus. »Warte, Opal!« Sie läuft hinter das Auto, so dass Opal keine andere Wahl hat, als anzuhalten. »Warte!« Opal bremst und kurbelt das Fenster herunter. »Rose«, sagt sie. »Ich hab dir doch gesagt, keinen Abschied.« Sie weint, die Tränen strömen ihr nur so über die Wangen. »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Es ist zu viel.« »Ich muss dir aber etwas sagen, etwas anderes.« »Was denn?« »Schalt den Motor aus. Ich muss dich was fragen. Hör zu.« »Ich hör doch zu.« Sie versucht sich zu beruhigen. »Hättest du gern Gesellschaft?« »Gesellschaft? Bei was?« »Auf der Fahrt.« Und dann kommt Rose eine weitere wundervolle Idee. »Und zwar in einem neuen Auto – einem richtigen Auto, das die Fahrt auch übersteht.« »Wie?« -360
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«
»Dass du mitkommst?«
»Mit dir. Und Zack.«
»Was?«
»Nach New Zion.«
»Mann, Rose, was redest du denn da?«
»Ich fahre mit. Ich kann dir helfen. Kann auf Zack aufpassen,
während du deine Puppen bastelst.« Opal ist so überrascht, dass sie aufhört zu weinen. »Ich meine es ernst«, sagt Rose. »Aber wie denn? Und warum?« »Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, dass es das Beste ist.«
»Das Beste?«
»Für dich. Und für mich.«
»Rose, so was Wunderbares hat noch nie jemand zu mir
gesagt. Das ist ein ganz ... ein ganz neues Gefühl.« Es wird höchste Zeit, dass dieses Mädchen mal etwas Wunderbares erlebt. »Danke, Rose. Danke, dass du überhaupt auf die Idee gekommen bist. Aber das kann ich nicht annehmen. Dass du das für mich tus t, meine ich.« »Ich tue es nicht für dich. Ich tue es für mich.« Opal sieht sie an. »Du meinst das wirklich ernst«, sagt sie. »So ist es. Ernster geht es gar nicht.« »Aber du kannst doch nicht hier weg.«
»Warum denn nicht? Was hält mich denn noch hier?«
»Das Haus. Ned. Und Todd ist auch hier.«
»Nein. Nein, Opal, die sind nicht hier.« Das ist die reine,
lautere Wahrheit. »Sie sind nicht hier. Ein Haus kann einen Menschen nicht halten, es kann nicht mal die Erinnerung an ihn bewahren. Und der Friedhof? Das ist nur ein Stück Erde. Da sind Ned und Todd nicht.« Eines Tages wird sie es Opal -361
erklären. Damit Ned und Todd lebendig bleiben, muss sie sie loslassen. Nicht die Erinnerung gibt uns die Kraft weiterzumachen. Das Gefühl, geliebt und gebraucht zu werden das ist es, was verhindert, dass wir innerlich absterben. »Ach Rose. Danke. Aber das kann ich nicht annehmen.« »Du musst aber.« Rose strahlt. »Du musst es annehmen, Opal, ich habe nämlich ein Zeichen bekommen.« »Ein Zeichen?« »Ein Zeichen, das zu deutlich ist, um es zu ignorieren.« Sie schlägt die Zeitung auf und hält Opal die Schlagzeile unter die Nase. »Lies vor«, sagt sie. »›LOVE ZEIGT AMERIKANISCHEM TEAM, WO’S LANGGEHT. Am ersten Tag des Ryder Cup hat Davis Love III seinem Team mit einer Glanzleistung die Richtung gewiesen.«« »Siehst du? Die Liebe zeigt, wo’s langgeht. Das ist ein Zeichen, dass ich euch begleiten soll – so sicher, wie ich hier stehe.« »Ein Zeichen?«, piepst Zack von der Rückbank. »Das sagt meine Mama auch immer. Die sagt auch immer, dass sie Zeichen sieht.« »Meinst du wirklich, Rose?«, fragt Opal. »Außerdem«, fällt Zack ihr ins Wort, »will meine Mama mir auf der Fahrt beibringen, die Verkehrszeichen zu lesen.« »Ja, Zack«, sagt Rose. »Wir werden alle die Zeichen lesen bis wir zu Hause sind.«
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DANKSAGUNG
Viele Leute haben mir beim Schreiben dieses Buchs geholfen, und ich möchte ihnen für ihre Unterstützung und Beratung danken. Mein besonderer Dank gilt: dem Virginia Center for Creative Arts, wo ich während mehrerer Aufenthalte die Zeit und den Raum gefunden habe, große Teile dieses Buchs zu schreiben; meiner Agentin Deborah Schneider, die nicht nur ein absolut integrer Mensch ist und mir eine große Hilfe war, sondern außerdem Zauberkräfte besitzt; Maureen O’Neal, Gina Centrello und Kim Hovey bei Ballantine; in bessere Hände als ihre kann eine Autorin nicht gelangen, ihr Enthusiasmus und Engagement haben mir sehr viel bedeutet; Jacquelyn Mitchard, die auf dem Buchtitel bestanden, mich in mutlosen Phasen bestärkt und nie den Glauben an mich verloren hat; Marilyn Kallet für ihre freundlichen Worte und ihren sachkundigen Blick; Margaret Moore dafür, dass sie die richtigen Fragen gestellt und mir Halt gegeben hat; Jebba Handley, Ginny Reiser, Ann Stevens und Lorraine Brown, die sich schon früh erste Auszüge angehört und in ihrer Begeisterung nie nachgelassen haben; Mauny Plum, die sich mir anvertraut hat, »damit auch alles stimmt«; Diane Bliss von Luscious Louie’s, die meine Plätzchenversorgung aufrechterhalten hat. Folgende Leute haben mich großzügig an ihrer Zeit und ihrem Fachwissen teilhaben lassen: Richter Robert A. Scandurra, die Anwältinnen Kathleen Snow und Pamela B. Marsh, Dr. James Kawalski, Gretchen Kolb vom Rocking Unicom, Captain Billy Flynn und Feuerwehrmann Joel Goucher von der Feuerwache in Harwich, Dave Coomber, Kyle Shiver, Rob Zapple, Pat Vreeland von der Chatham Highschool und Mimi Gukacsi vom Cape Cod Hospital. -363
Und wie immer gilt meine Liebe und mein Dank Hillary, Hope und Chris. Für alles.
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