Michael Holzner
TREIBJAGD Die Geschichte des Benjamin Holberg
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Michael Holzner
TREIBJAGD Die Geschichte des Benjamin Holberg
s&c by anybody Benjamin Holberg, zu Hause unerwünscht, wird ins Heim abgeschoben. Er lernt, sich zu wehren, um in der brutalen Anstaltswelt zu überleben. Seinen Freiheitsdrang gibt er nicht auf. Immer neue Fluchtversuche scheitern, und er gerät in einen kriminellen Teufelskreis. Sein Mißtrauen gegenüber der Gesellschaft, die so eine Entwicklung zuläßt, wächst mit den menschlichen und sozialen Enttäuschungen, die er erlebt. Der Fall Michael Holzner, der durch die Presse ging, beweist, daß dieser Roman Wirklichkeit ist. (Backcover) ISBN 3 49914622 3 27. -31. Tausend Januar 1984 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1980 Copyright © 1978 by Margit Holzner Die Originalausgabe erschien bei Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg Umschlagentwurf Dieter Wiesmüller Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1980
Buch Michael Holzner, Jahrgang 43, verbrachte fast 15 Jahre seines Lebens in staatlichen Institutionen wie Erziehungsheimen und Vollzugsanstalten. Nach einem Ausbruch wurde er 1970 zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Während der Haft machte er den Realschulabschluß und schrieb diesen autobiographischen Roman. Nach seiner Entlassung machte er das Fachabitur und begann das Studium der Sozialpädagogik. Da fiel der Justiz ein, daß versäumt worden war, ihn für acht Jahre zurückliegende Straftaten zu verurteilen. Er verbrachte einen Teil der Strafe im offenen Vollzug, damit er sein Studium wahrnehmen konnte. Heute ist Michael Holzner begnadigt, lebt in Hamburg und arbeitet als DiplomSozialpädagoge in der Alkoholtherapie. 1979 erschien ein zweites Buch «Alles anständige Menschen».
1 Der Hotelportier hatte ihr Bild in einer älteren deutschen Zeitung gesehen. Kein gutes Bild, aber doch so gut, daß der Mann eine gewisse Ähnlichkeit festgestellt hatte. So ein Portier hat nicht viel zu tun, und was er tut, ist in erster Linie für die Gäste. Für Holberg und Oskar Berkmann hatte er die Polizei angerufen. Sie kamen morgens gegen zehn ins Hotel zurück. Das Hotel lag ein gutes Stück von der Stadt entfernt in einer Siedlung. Die Straße führte genau daran vorbei. Auf der anderen Seite befand sich eine große Meeresbucht, welche die Stadt halb umschloß. »Im Sommer wird hier ein ganz schöner Betrieb sein«, sagte Holberg, »Motorboote, Strandbienen, Muskelmänner und blaues Wasser. Alles inklusiv vom Hotelfenster aus.« Berkmann nickte. »Und echt dänisches Sonnenöl zum Einführungspreis. Nur im Winter umsonst. Weil du's schneiden mußt. Bei diesem Wetter gehen selbst die Fische auf Grund.« Es nieselte. Über dem Wasser hing ein milchig-weißer Dunst, der bis zur Straße reichte. Das richtige Wetter für ein englisches Kaminfeuer, dachte Holberg, mit knackenden Holzscheiten und züngelnden Flammen und wohltuender Wärme. Der Hund liegt faul vor dem Kamin und man selbst im Sessel, die Beine bequem hochgelegt. Ein gutes Buch. Ein Bourbon. Dann soll es regnen. Holberg betätigte den Blinker und lenkte den schweren Wagen von der Straße, am Haupteingang vorbei, auf den Hotelparkplatz. »Oha! Wo kommen denn die ganzen Autos her?« Berkmann zuckte die Achseln. »Irgendeine Konferenz. Das gibt es ja hier so zum Wochenende. Tagung der Kaninchenzüchter, Pornokongreß, Konferenz der Rolladenverkäufer, ich weiß es auch nicht.« Er gähnte und stieg aus. Sie gingen an der Wagenreihe entlang zu der Holztreppe an der Rückseite des Hotels. Motorisierte Gäste brauchten nicht durchs Foyer, wenn sie den Zimmerschlüssel bei sich trugen. Über die breite Treppe gelangte man direkt auf den -3 -
ersten Hotelflur. An dessen Ende befanden sich ihre Zimmer. Sie hatten zwei nebeneinanderliegende Zimmer genommen, die durch eine Zwischentür verbunden waren. Sie benutzten nur die Tür des ersten Zimmers, sie hatten die andere Tür von innen verschlossen. Holberg fiel die Stille an diesem Morgen auf. Sie hatten noch keine Nacht im Hotel verbracht. Holberg schlief bei Marion. Berkmann hatte zwei Freundinnen. In der Regel wußte Holberg nicht, wo Berkmann sich gerade befand. In unserer Branche muß man immer genügend Ausweichmöglichkeiten haben, pflegte Oskar ironisch zu sagen. Jeden Morgen, wenn sie wieder im Hotel eintrafen, waren die üblichen Geräusche zu hören gewesen, Geräusche, an die man sich im Unterbewußtsein gewöhnt. Ein summender Staubsauger, Gemurmel aus dem Restaurant, Schritte eines vorbeilaufenden Zimmermädchens oder eine etwas zu laut klappende Tür. Hotelgeräusche. Heute war es still. Holberg merkte es auf dem Flur. In irgendeiner Tür drehte sich ein Schlüssel. Holberg fühlte es wieder, ein dummes Gefühl. Es war, als wenn sein Nacken schwitzte. Doch er schwitzte nicht. Es war nur das Gefühl. »Oskar. Hier stimmt was nicht.« Berkmann erwiderte nichts. Er griff in seinen offenen Mantelausschnitt nach der Pistole. Holberg dachte daran, daß seine Pistole mit Halfter sich im Zimmer befand, im verschlossenen Koffer. Wozu auch, überlegte er, wenn es hart auf hart geht, dann rennen wir sowieso. Bis jetzt war das immer die beste Lösung. Berkmann schien ähnlich zu denken, denn er zog schulterzuckend die Hand aus dem Mantel. Sie gingen weiter, fast bis an das Ende des Flures und blieben vor der vorletzten Tür stehen. Holbergs Blick fiel auf das Türschloß, auf das schmale Schildchen über dem Schlüsselloch. -4 -
Wenn es >weiß< anzeigte, dann war die Tür von außen verschlossen, zeigte es >rot< an, dann von innen. Wenn der Schlüssel von innen steckte, war das Schildchen ebenfalls >rot<, aufschließen konnte man trotzdem von der entgegengesetzten Seite. »Im Zimmer ist wer«, murmelte Holberg und drückte langsam den Griff nach unten. Abgeschlossen. Berkmann stutzte. »Es kann das Zimmermädchen sein«, erwiderte er leise, »vielleicht schnüffelt sie ein bißchen in unseren Sachen rum. Wenn wirklich etwas faul ist, dann ist es jetzt ohnehin zu spät.« Holberg grinste. »Dann sprich doch lauter. Was nuschelst du so.« Berkmann sperrte das Türschloß auf. Nichts. Sie gingen hintereinander durch den Vorraum. Holberg entdeckte im Vorbeigehen die offenstehende Badtür. Er erinnerte sich, daß er sie selbst aufgelassen hatte. Berkmann öffnete die Wohnraumtür, und er blieb starr stehen, blickte zur Seite. Holberg sah über Berkmanns Schulter hinweg das breite durchwühlte Bett, in dem noch keiner von ihnen geschlafen hatte, sah die wartenden Männer an der einen Zimmerseite. Die Anspannung in ihm löste sich in einer lautlosen Explosion. Er wirbelte herum. Zwei Sätze! Der Flur! Er raste über die Marmorfliesen zurück und schlidderte an der Außentreppe vorbei, die teppichbelegte Treppe zum Foyer hinunter, er riß auf der letzten Biegung einen Blumenkübel mit. Dann war er unten. Aus den Augenwinkeln sah er den Portier hinter der Rezeption verschwinden. Die Toilette! Holberg durchjagte die Halle, riß die Toilettentür auf. Es spulte sich ab wie eine geprobte Szene, schnell, keine Bewegung zuviel, obwohl er diese Toilette hier unten erst ein einziges Mal gesehen hatte. Er hakte das Fenster los, landete auf allen Vieren auf dem Parkplatzasphalt. Hinter ihm sprang ebenfalls jemand. Berkmann! »Hier lang, Oskar!« stieß er hervor und sah den Mann, der an der Parkplatzeinfahrt auftauchte, mit einer Maschinenpistole in der Armbeuge, er hörte, wie Leben in das Hotel kam. Füße -5 -
trappelten, Rufe ertönten. Holberg nahm alles in den zwei Sekunden des Aufrappeins in sich auf und spurtete zur anderen Seite weg. Er streifte im Laufen den Ledermantel ab und blickte sich kurz um. Auf dem Hof waren lauter Männer, die Hintertreppe kamen noch mehr herunter. Sie schrien auf dänisch durcheinander, vier, fünf Männer rannten hinter Holberg hinterher. Der Parkplatz war von beiden Seiten begrenzt. Rechts die Hotelgebäude, links eine lange Halle am Ende einer hohen dichten Hecke. Holberg lief darauf zu. Sackgasse, dachte er. Warum schießen sie nicht? Verdammt noch mal, warum knallen sie nicht einfach drauflos? Sie sehen, daß ich da vorne nicht mehr weiterkomme, daß sie mich so oder so erwischen... Seine Beine arbeiteten rhythmisch. Wie ein gut geöltes Werk. Die seiner Verfolger auch. Noch zehn Meter! Holberg streckte die Hände weit vor, zog den Kopf ein und hechtete in die Hecke. Sie war voller Dornen. Er brach hindurch, Haut- und Zeugfetzen zurücklassend, knallte auf der anderen Seite gegen die Wand einer Gartenlaube. Er kam wankend hoch und taumelte um sie herum. Dann konnte er wieder klar sehen, lief weiter, an einem Haus vorbei, durch einen anderen Garten. Die nasse Erde klebte an seinen Schuhen und machte sie zu dicken Klumpen, unförmig und schwer. Er zählte die Zäune nicht, die er überkletterte. Er bekam die Füße nicht mehr in die Maschen des Drahtes, weil die Füße zitterten, weil der Draht zitterte, er ließ sich einfach auf den Zaun fallen, rollte sich hinüber und fiel schwer auf die Erde. Sein Atem pfiff. Er lauschte, doch sein Atem verschluckte jedes Verfolgergeräusch. Er zog sich am Zaun hoch und lief weiter, langsamer. Von weitem war jetzt der auf- und abschwellende Ton eines Streifenwagens zu hören, der sich auf das Hotel zu bewegte. Scheißbullen, dachte Holberg. Hinter dem Wald begann eine Siedlung. Holberg kratzte den Lehm von seinen Schuhen und versuchte so gut es ging, seine -6 -
Sachen in Ordnung zu bringen. Sein Jackett war an mehreren Stellen aufgerissen, an seinen Fingerkuppen schürfte die Haut ab. Das war knapp, dachte er. Die sorgen dafür, daß man nicht aus dem Training kommt. Man wird leichtsinnig. Vor zwei Monaten wäre uns das nicht passiert. Wir hätten erst dreimal geprüft, ob auch wirklich alles in Ordnung ist, hätten einen Mittelsmann losgeschickt. Und dann hätten wir trotzdem ein anderes Quartier gesucht. An der Einfahrt stand ein Typ mit 'ner Mpi, für den Fall, daß wir den Wagen genommen hätten. Geschossen hat er nicht, er hatte uns genau vor dem Lauf. Jetzt blasen sie zum großen Halali. Treibjagd international. Stehen alle im Zimmer wie die Postboten und warten auf unser Eintreffen. In Deutschland hätten sie uns spätestens auf dem Parkplatz weggeputzt. Auf der Flucht bei Gegenwehr erschossen, heißt es dann. Ratata. Aus. Oder Pengpeng-peng. Auch aus. Unwesentlich, welches Geräusch. Holberg spuckte aus. Er benutzte nur die schmalen Fußgängerwege, die zwischen den Häusern entlangführten, auf denen kein Auto fahren konnte. Nirgends war eine Telefonzelle zu finden. Es war eine Frage der Zeit, bis sie das ganze Gebiet um das Hotel abgesperrt hatten. Diese Siedlung gehörte dazu. Holberg ging an eine Haustür und klingelte. Ein Hund begann aufgeregt zu bellen. Dem Tonfall nach war es ein kleiner Hund. In Holberg wurde alles steif, als ein Uniformierter öffnete. Dann sah er, daß es ein Soldat war. »Sorry. I want to call a taxi...? Der Soldat nickte und machte die Tür weit auf. »Come in.« Er bot Holberg in der kleinen Diele einen Platz an und ging zu einem Tischchen mit einem Telefon. Der Hund bellte nicht mehr. Er war ein weißgrauer Spitz, der jetzt eifrig mit dem buschigen Schwanz wedelte, da Holberg ihn kraulte. »Na, mein Freund, du bist ja sehr anhänglich. Dein dickes Fell mochte ich auch haben...«, Holberg schwieg, da der Mann zu telefonieren aufgehört hatte. »Sie sind Deutscher?« »Ja.« -7 -
»Ein herrliches Land. Ich spreche ein bißchen deutsch«, sagte der Mann, »wissen Sie, oft Manöver, so sagt man wohl, in der Lüneburger Heide.« Er lächelte. Holberg auch. »Ich vermute, Sie hatten ein Mißgeschick«, fuhr er fort, ohne Holberg genauer zu mustern, »bitte, wenn Sie etwas Ordnung schaffen wollen.« Er zeigte Holberg das Bad. Holberg beeilte sich, säuberte, so gut es ging, seine Sachen und klemmte einen Geldschein an den Spiegel, bevor er den Raum verließ. Das bestellte Taxi wartete bereits an der Straße. »Kopenhagen«, sagte er in so dänischem Tonfall wie möglich zu dem Fahrer. Einen Augenblick dachte er daran, den Fahrer am Hotel vorbeizudirigieren, um zu sehen, was dort los war, vielleicht konnte man Oskar irgendwo aufnehmen. Doch er ließ es sein. Oskar würde sich allein durchschlagen, genau wie er selbst. Das hatten sie bisher immer so gemacht. Es war einfacher. Außerdem hatten die Bullen jetzt alle Straßen abgesperrt. Sie machen Autokontrollen. Stichproben. Der Taxifahrer konnte den Polizeifunk hier sicher genauso mithören wie einer in Deutschland. Wenn er die Bullen sah, dann würde er ihn sofort einstellen, um mitzukriegen was los war. Aus Neugierde. Und Holberg verstand kein Dänisch. Der Fahrer fuhr mit normaler Geschwindigkeit. Mit jeder Minute entfernte Holberg sich weiter vom Hotel. Einmal kamen hintereinander zwei Streifenwagen entgegen. Ohne Blaulicht. Doch der Fahrer sah nicht einmal in den Rückspiegel des Wagens. Wenn er so weiterfährt, sind wir in einer dreiviertel Stunde in Kopenhagen. Ich werde mich am Bahnhof absetzen lassen. In der Nähe ist ein Herrenkonfektionsgeschäft, dort werde ich mich neu einkleiden, das alte Zeug kommt ins Schließfach. Um zwei soll ich Marion vom Friseur abholen. Ich werde es ihr sagen müssen. »... ist es der Politi gelungen, diese eine Mann... was sagt man in Deutsch? Zu erjagen?« Marion schaute Holberg fragend an.
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Er lächelte. »Fassen«, sagte er, »zu fassen, heißt es.« Er schloß die Augen und legte den Kopf zurück gegen die Sessellehne, während Marion weiter übersetzte. Der Bericht füllte fast die ganze erste Seite der Kopenhagener Abendausgabe. Oskar hat es also nicht geschafft, dachte er. Vielleicht bin ich deshalb durchgekommen. Der Portier also. Sein gutes Personengedächtnis. Sagt er jetzt. Dabei steht am Anfang des Berichts: er vermutete. Die Namen stehen in der Zeitung. Die falschen und die richtigen. Schade um die Papiere. Gute Fälscher sind selten. Wer weiß, ob ich den alten noch antreffe. Die Bullen sind in unsere Zimmer gegangen, nur mal so, um nachzusehen. Vielleicht haben sie dem Portier nicht richtig geglaubt. Na gut, dann sehen wir mal nach. Und dann hatten sie nachgesehen. Es gab nicht viel. Bis auf die verschlossenen Koffer. In einem der Koffer lag eine Pistole und Munition. Um einen Koffer zu öffnen, dazu bedurfte es keiner großen Geschicklichkeit. Auch das Verschließen war einfach. Aber die Bullen brauchten nichts mehr zu verschließen. Sie waren fündig geworden und warteten. Bei den Anmeldungen hatten sie nichts feststellen können, sie stimmten genau, obgleich sie falsch waren. Wenn sie die Pistole nicht gefunden hätten, hm, es gab immer >Wenn<, es gab zuviele. »... das ist nun alles.« Marion legte die Zeitung weg und sah Holberg an. »Du bleibst bei mir. Du bist keine schlechte Mensch, oh, ich weiß dieses sehr genau. Okay, please Clerk, give me the money, you had said, because I shoot. But you don't do it. Das ist doch sehr wichtig, meine ich. Ja. Und noch etwas... ich liebe dich.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Das ist korrekt in deutsch?« »Ja.« »Oh, das ist gut. Ich werde einiges zum Essen machen, dann sehen wir besser.« »Weiter. Werden wir weitersehen.« -9 -
»Egal«, Marion lachte und ging nach nebenan, »Hauptsache wir sehen.« Warum habe ich sie nicht schon früher kennengelernt, dachte Holberg. Sie ist eine Frau, für die sich alles lohnt. Wo soll ich jetzt anfangen? Es ist kein Ansatz mehr da. Ich kann hier nicht bleiben. Es dauert nicht lange, bis sie ihre Adresse ausfindig gemacht haben, sie wird Schwierigkeiten bekommen. All die Leute, die man kennengelernt hat, der Bekanntenkreis, man kann in niemanden hineinschauen, man kennt nur so einen Charaktergrundriß, nicht einmal den. Heute ist es die Zeitung und morgen das Fernsehen. Wenn sie erstmal bessere Bilder haben, dann wieder die Zeitung. Die Abendblätter sind überall gleich. Man würde sich erinnern, erinnern an seine Pflicht als Staatsbürger. Diese Pflicht entsprach weniger den Idealen als der zu erwartenden Belohnung, dem Geltungsbedürfnis, der Neugier. Das ist es, sinnierte Holberg: Der blasse Verkäufer träumt von einer aufregenden Jagd, er an der Spitze. Bisher hat er immer nur mit Maggiwürfeln zu tun gehabt, mit Schwarzbrot, mit Aufmerksamkeit den Kunden gegenüber. Und plötzlich wird ihm selbst Aufmerksamkeit gezollt. Er steht im Mittelpunkt für eine Sekundenzeitspanne. Oder der Büroangestellte, der, Salamioder Käsestullen essend, hinter seiner Zeitung Frühstückspause macht. Er sieht Bilder, und er fühlt schon die Hand des Abteilungsleiters wohlwollend auf seiner Schulter ruhen. >Wußte gar nicht, Meier, daß Sie so auf Draht sind. Gar nicht in Ihnen vermutet. Sollte Sie in Abteilung C versetzen. Da fehlt mir ein guter Mann.< Als wenn in Abteilung C Zeitungsfahnder sitzen würden! Der Taxifahrer, auf dessen Armaturenbrett immer der neueste Kriminalroman lag, fühlt den Detektiv in sich schlummern. Es mangelt ihm an Gelegenheiten, der Umwelt zu beweisen, daß er alles könnte. Holberg zündete sich eine Zigarette an. Jeder versucht, aus seinem Kreis herauszuspringen. Viele nur einmal. Andere immer wieder. Man zappelt, man strampelt wie eine Fliege im Spinnennetz. Das Netz ist das Leben. Niemand bemerkt die Fliege. Erst dann, wenn sie erregt brummend durch -1 0 -
den Raum schwirrt, dann blickt man vielleicht auf und sieht ihr nach, wie sie aus dem Fenster fliegt und so schnell kleiner wird, daß sie plötzlich verschwunden ist. Oder sie kann sich nicht befreien. Dann zappelt sie und strampelt sie solange, bis sie müde wird, kraftlos ist und stirbt. Wenn vorher nicht die Spinne kommt. Holberg beschloß, nach dem Essen aufzubrechen. Er mußte nach Deutschland zurück, bis sich die Aufregung hier gelegt hatte. Dänemark war ein ruhiges Land. Weihnachten würde er wieder zurück sein. Im Radio hatten sie Trost angesagt. Es war kalt. Aber es fror nicht. Holberg ging auf der linken Straßenseite. Falls ein Auto kam, konnte er hier am schnellsten untertauchen. Doch um diese Zeit kam keines. Seine Schritte waren das einzige Geräusch, manchmal zirpte es in den Telegraphendrähten, wenn der Wind etwas stärker aufkam. Die dänische Zollstation und der Grenzposten dahinter waren durch Bogenlampen hell erleuchtet. Danach verlief die Straße durch Niemandsland. Ungefähr dreihundert Meter. Dann kam der deutsche Posten und der deutsche Zoll. Mit dem Auto dauerten die Formalitäten höchstens fünf Minuten. Vielleicht auch mal zehn, wenn ein besonders korrekter Zöllner da war; der sah dann in den Kofferraum und unter die Kotflügel. Zu Fuß, ohne Formalitäten, über die Wiesen und unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßregeln, schaffte man es in einer Stunde. Unser Rekord liegt bei vierunddreißig Minuten, dachte Holberg. Diesmal ging er allein. Oskar saß seit zwei Tagen in Kopenhagen, im Faengsel, so hieß das ja wohl auf dänisch. Namen gab es viele, doch die Gitter waren alle aus dem gleichen Material. Holberg trat mit der Schuhspitze gegen einen Stein, er erschrak, als dieser laut über das Pflaster holperte. Verdammte Nerven, dachte er. Man reibt sich auf. Jetzt stand er hier. Hundert Meter von der Grenze entfernt. -1 1 -
Er zog Schuhe und Socken aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Die Wiesen und der Grenzgraben lagen noch vor ihm. Er stakste die Böschung runter und fluchte halblaut vor sich hin, weil er ein paarmal ins Rutschen kam. Er ging langsam über die Wiese. Seine Füße sanken bei jedem Schritt in den morastigen Boden ein. Manchmal schmatzte es laut. Die Lampen der dänischen Zollstation warfen ihren Schein ein ganzes Stück in die Dunkelheit, und Holberg machte einen größeren Bogen. Er trug die Tasche, die Marion ihm mitgegeben hatte, in der einen Hand und seine Schuhe in der anderen, er balancierte damit in der Luft herum, wenn ein Fuß zu tief eingesackt war. Dann gluckste es, und Holberg meinte, die ganze Nacht mit dieser Tätigkeit auszufüllen. Aber es war Morgen. Spätestens in einer Stunde würde die Dämmerung beginnen, dann mußte er alles hinter sich haben. Am Grenzgraben wartete er, um das Gelände zu sondieren. Der Graben war etwa zehn Meter breit, manchmal auch etwas mehr, doch nie weniger. Holberg ging am Weidezaun entlang, der sich unten an der Grabenböschung befand, stieß auf den verkrüppelten Zaunpfahl. Oskar hatte ihn noch zusätzlich mit einem Stück Silberpapier markiert, das zur Wiesenseite hin in einem Spalt steckte. Holberg überstieg den Zaun, er setzte sich einen Augenblick an die Böschung und lauschte. Nichts war zu hören. Die Grenzstation lag wie ausgestorben da. Wenn nur einer dort drüben etwas Verdächtiges hörte, etwas, was nicht in diese Nacht paßte, Wasserplätschern, das Knirschen eines Zaundrahtes, der sich unter dem Körpergewicht wie eine Bogensehne spannte oder ein unterdrücktes Husten. Dann wurden sie mobil. Scheinwerfer, die das Feld ableuchteten, Nachtferngläser, Hunde und Schnellfeuergewehre, »Haaaalt!« und »Stehnbleibääaän!« In kilometerweitem Umkreis war das Land
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so flach wie ein Teller, wie ein Kuchenteller. Selbst ein durchtrainiertes Karnickel hatte hier keine Chance. Holberg entkleidete sich und watete langsam in das schwarze Wasser. Es war so kalt, daß er es kaum fühlte. Bestimmt gab es noch seichtere Stellen, an denen das Wasser nicht bis unter die Achsel reichte, doch er kannte nur diese. Hier war Oskar mit einem kleinen Schlauchboot abgesackt. Sie hatten es in einem Kaufhaus gekauft, etwas für Kleinkinder, so eine Art Indianerkanu, sie hatten es erst beim Auseinanderfalten richtig gesehen. Doch Oskar hatte gemeint, wenn man sich ganz flach drauflegen würde, dann ginge das prima. Um das zu beweisen, würde er auch den Anfang machen: Oskar hatte sich bäuchlings auf das Dingi gelegt, wie bei einer Schlittenbauchfahrt, und Holberg gab der Fuhre einen kleinen Schubs. Das Boot trug tatsächlich, allerdings erst eine Handbreit unter der Wasserlinie und Oskar mußte wie auf einem Ei balancieren, paddelte schnell mit den Händen, um auf die andere Seite zu kommen. Etwa in der Mitte des Grabens legte sich das Dingi quer. Holberg empfahl Oskar einen Kompaß. Dann schlug das Boot um und Oskar hatte bis zur Brust im Wasser gestanden, war zu Fuß weitergegangen. Holberg hielt seine Sachen hoch über den Kopf. Das Wasser im Graben stand höher als damals. Vielleicht hing es mit der Flut zusammen. Er kletterte die Böschung hoch und zog sich auf deren anderer Seite wieder an. Er biß in sein Taschentuch, weil seine Zähne klapperten. Auf dieser Seite des Grabens war das Land trocken. Holberg ging in die Wiese hinein. Er befand sich in Höhe des deutschen Postens, als er plötzlich zur Linken einen Automotor hörte. Er stand ganz ruhig und horchte. Stille. Dann sah er weit hinten auf den Feldern Autoscheinwerfer aufflammen, es waren zwei, sie drehten sich ganz langsam. Holberg glaubte, eine Gestalt davor erkennen zu können, die mit den Armen herumfuchtelte. Er konzentrierte den Blick auf einen Punkt daneben, um die Bewegung besser wahrnehmen zu können, doch das Licht verlöschte wieder. Ein Motor blubberte schwach. Holberg begann zu laufen. -1 3 -
Bullen, dachte er. Wer hat morgens um halb fünf etwas auf den Feldern zu suchen? Um diese Jahreszeit werden sie nicht bestellt. Vieh ist auch nicht draußen. Bullen! Sie haben mich schon die ganze Zeit beobachtet. Vom Grenzgraben her haben sie mich gut gegen die hell erleuchtete Station ausmachen können! Wenn sie jetzt losfahren, dann dauert es Minuten. Sie rennen nicht über's Feld hinter mir hinterher. Sie warten, bis ich komme. Dann schießen sie. Einmal mit der Maschinenpistole hinhalten, einmal ziehen, schräg von unten nach oben. Das reicht. Der schlechteste Schütze wird so zum Schützenkönig. Holberg lief schneller. Er gelangte zu dem schmalen Feldweg, der zur Straße führte, er fiel erst in Schritt, als er den Asphalt unter den Füßen hatte. Hinter ihm blieb alles still. Glück gehabt, dachte er. Wie verschieden das Glück sein kann: Eine Gehaltserhöhung für den Angestellten, auf die er schon Monate wartet. Ein kleines Glück. Eine Hochzeit, die Geburt eines Kindes. Ein großes Glück. Ein genehmigtes Zweidrittelgesuch für den Gefangenen. Ein Lottogewinn. Ist das Glück? Für mich ist es ein großes Glück, wenn ich den Bullen entwische und für sie, wenn sie mich erwischen. Je weniger Erfolg sie trotz ihrer größeren Zahl haben, desto gefährlicher werden sie. Der Bullenpräsident schnauzt den Hauptkommissar an, der den Oberkommissar, der den Kommissar und immer so weiter, bis in die unteren Dienstgrade. Jedesmal wird auf die Wichtigkeit, auf die Gefährlichkeit der Sache hingewiesen. Bei Notwehr unbedingter Schußwaffengebrauch. Bis dann der Einsatz selbst einer Bedrohung gleichkommt. Jeder Bulle befindet sich in Not, weil er nicht weiß, wie und wann er sich wehren muß. Natürlich, so einfach durch die Gegend ballern, das darf niemand laut Gesetz. Die Ausnahmen sind in den Fußnoten vermerkt. Ist eine Schießerei spektakulär, dann wird eine Untersuchung eingeleitet. Man prüft und rekonstruiert und wenn dann amtlich bekanntgegeben wird, daß alles in Ordnung war, daß eine Notwehrsituation vorlag, dann interessiert es imgrunde niemanden mehr. Holberg steckte sich eine Zigarette an. Er machte das unter dem Mantel und ging dabei in die -1 4 -
Hocke. Oskar hatte immer gesagt, wenn sie uns erwischen, dann kriegen wir sowieso einen Fangschuß. Einen Notwehrfangschuß. Ob wir auf jemanden geschossen haben oder ob nicht. Hm. Aber es ist trotzdem ganz gut zu wissen, daß man niemanden aufs Korn genommen hat. Holberg griff nach der kleinen Pistole, die er in der Manteltasche trug, bei jedem Schritt schlug sie gegen seinen Oberschenkel. Er holte sie raus und schob sie unter den Mantel in die Hosentasche. Es war eine Damenpistole. Mit dem Ding konnte man ohnehin keinen großen Schaden anrichten, auf drei Schritte Entfernung traf man keinen Baum. Sie knallte böse und laut. Das war alles. Aber das ist es nicht, dachte Holberg. Man glaubt, man hätte eine gewisse Sicherheit durch eine Pistole, man glaubt, im geeigneten Augenblick Entscheidungsfreiheit zu haben. Eine Art Selbstsuggestion der Freiheit über sich selbst. Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, dann kann man sich den Lauf in den Mund halten und Finger krumm. Schmerzlose Sache. Die anschließenden Diskussionen über Mut und Feigheit, hm, wen interessierte das schon. In einer Verzweiflungssituation kann man sich sehr schnell entscheiden. Doch meist läuft alles anders, unvorbereiteter. >SÜDERLÜGUM - 3 km< zeigte ein Straßenschild an. Hier zweigte die Straße nach Flensburg ab. Aus dieser Richtung kam ein Auto. Holberg wartete im Schutz der Straßenböschung. Warum ein Risiko eingehen. Er trat die Zigarettenkippe aus. Das Auto fuhr langsam. Es stoppte an der Abzweigung, obwohl kein anderer Wagen in Sicht war, dann setzte es ein Stück zurück, fuhr rechts ran. Die Scheinwerfer gingen aus, dann der Motor. Holberg hatte ein untrügliches Gefühl, daß da etwas nicht stimmte. Schräg gegenüber befand sich ein alleinstehendes Haus. Vielleicht saß in dem Auto jemand, der einen Kollegen zur Arbeit mitnahm. Doch das Haus lag vollkommen dunkel da, außerdem hätte der Wagen dann direkt vor der Einfahrt halten können. Der da drüben hatte sich anscheinend auf eine längere Wartezeit -1 5 -
eingerichtet. Es gab keinen Grund, wieso der Fahrer ausgerechnet dort parkte. Also Bullen. Holberg ging dichter an das Fahrzeug heran. Es war ein VW mit Fließheck. Nur eine Person. Jetzt steckte sie sich eine Zigarette an. Bullen fuhren in der Regel nicht allein. Vielleicht hatte der andere im Wagen seinen Sitz flachgestellt, überlegte Holberg. Wenn es soweit ist, dann flitzen sie beide aus dem Wagen raus, vielleicht haben sie mich schon ausgemacht und warten. Noch eine halbe Stunde, dann wird es hell. Ich kann mich über die Felder davonmachen, hier komme ich noch weg. Ich bin überreizt. Ich sollte einfach weitergehen. Holberg ging gebückt ein Stück zurück, dann auf die Straße, so daß der Fahrer des Autos nicht feststellen konnte, woher er kam. Aus den Augenwinkeln beobachtete er im Vorbeigehen den Wagen, doch nichts rührte sich darin. Das Dorf Süderlügum war nicht mehr weit entfernt. Vereinzelte Bauerngehöfte tauchten auf. Kannen klapperten. Ein Hund bellte lange. Kurz vor dem Dorf überholte ihn ein Auto. VW mit Fließheck, Pinneberger Nummer, ein Mann. Holberg nahm das alles in den Sekunden des Vorbeifahrens in sich auf, dann noch einmal, denn kurz darauf kam der gleiche Wagen wieder zurück. Also doch Bullen, ein Beobachter. Er hat im Dorf Bescheid gesagt. Vielleicht wissen sie noch nicht, wer ich bin, aber sie wissen, daß ich aus Richtung Grenze komme. Sie werden dort nachgefragt haben. Wie? Ein Mann? Hier bei uns soll er durchgekommen sein? Das ist unmöglich. In den letzten drei Stunden ist hier niemand durchgekommen, und dann noch zu Fuß! Also eine verdächtige Person. Sie müssen die Telefone abgehört haben. Woher sollten sie wissen, daß ich ausgerechnet heute hier entlangkomme? Wenn ich mich jetzt in die Hofe schlage, dann habe ich noch genug Zeit. Im Dorf werden sie vergeblich warten, werden vielleicht sagen, der -1 6 -
Beobachter habe sich geirrt. Holberg wunderte sich, mit welcher Klarheit er die Dinge erkannte. Dennoch ging er weiter. Es war, als könne er gar nicht anders. Erschießen ist ein humaner Tod, hatte Oskar immer gesagt. Man ist schneller im Himmel als der Knall. Wie vermessen! Holberg grinste. Auch noch in den Himmel wollte er. Die Sache würde da oben sicher erst einmal genügend besprochen, ob nun Himmel oder Hölle. Eine Abstimmung würde sicher negativ ausfallen. Der Gedanke war zwar nicht tröstlich, doch besser, als im Bett zu sterben, so ein »Vorbereitungstod«. Er befand sich jetzt im Dorf. Leute fuhren zur Arbeit. Ein Traktor röhrte und blubberte. Kühe muhten. Aus einer Seitenstraße kam ein Mercedes. Er fuhr langsam. Das waren sie! Holberg hatte keine Ahnung, wieso er es so genau wußte. Es war eben da. Der Wagen unterschied sich in keiner Weise von einem anderen. Neutrale helle Farbe. Fahrer und Beifahrer. Beide blickten zu Holberg herüber, als der Wagen ihn überholte. Hinten im Heckfenster lag ein Maskottchen, ein Stofflöwe oder Stofftiger. Das Nummernschild war nicht beleuchtet. In einem Dorf konnte das schon mal vorkommen. Holbergs Nacken schwitzte. Der Mercedes verschwand weiter vorne um eine Straßenbiegung. Vielleicht war es ein Bauer, der mit seinem Knecht zum Melken fuhr, oder es waren zwei Arbeitskollegen auf dem Weg in die Stadt, würde ein anderer sagen. Aber es waren Bullen. Holberg wußte es. Warum mache ich nichts, dachte er. Ich latsche hier auf dem Sommerweg lang, als sei er eigens für mich angelegt. Ich kann nicht mehr laufen. Es ist ein ewiges >Räuber und Gendarm-Spiel<. Der Wagen mußte gewendet haben. Er kam auf der anderen Straßenseite zurück. Die beiden glotzten wieder rüber. Holberg -1 7 -
ging weiter. Neben ihm tauchte plötzlich ein heller Kotflügel auf, ohne Licht, ohne Geräusch. Sie ließen den Wagen rollen, hatten den Motor abgestellt. Er blieb stehen und wandte sich um. Der Beifahrer war bereits ausgestiegen. »Kriminalpolizei! Können Sie sich ausweisen?!« »Natürlich«, erwiderte Holberg und wunderte sich, wie ruhig seine Stimme klang. Er öffnete den oberen Mantelknopf und faßte in den Ausschnitt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, eben so, wie man normal die Brieftasche herauszieht. Gleichzeitig mit ihm faßte der Bulle in seinen Jackenausschnitt, er fummelte dort herum, als hätten sich seine Hosenträger verheddert. Als Holbergs Hand mit dem Paß zum Vorschein kam, saßen die Hosenträger wieder richtig. Der Bulle blickte nicht auf den Paß, sondern reichte ihn in das Wageninnere. Wie leichtsinnig sie sind, dachte Holberg. Genau jetzt könnte ich ihn außer Gefecht setzen. Drei, vier Sätze und ich wäre im Garten untergetaucht. Solange braucht der andere für seine Schrecksekunde. Aber ich hätte es vorher einfacher haben können. Ich sollte einen Psychologen befragen, warum ich mich so und nicht anders verhalte. »Steigen Sie ein!« forderte ihn der Hosenträgermann ohne Übergang auf und öffnete die hintere Wagentür. »Sehr aufmerksam von Ihnen«, erwiderte Holberg spöttisch und ließ sich auf den Rücksitz fallen, »vielleicht erklären Sie mir, was das alles soll. Sind Sie im Manöver?« »Weiter, weiter, weiter!« Der Hosenträgermann wedelte nervös mit der Hand. Holberg rutschte bis hinter den Fahrer, der sich mit dem Rücken zur Tür drehte. Der andere reichte den Paß herein. Der Fahrer nahm ihn mit der rechten Hand und gab mit der linken einen kurzläufigen Trommelrevolver nach draußen. Holberg sah den Hosenträgermann jetzt geduckt in der offenen Tür stehen. In der einen Hand hielt er eine automatische -1 8 -
Pistole, in der anderen den Trommelrevolver. Die Läufe zeigten auf Holbergs Brust. Zwischen den Sitzen, wo sich sonst eine Ablage befand, lagen zwei Maschinenpistolen auf dem Wagenboden. Der Fahrer blätterte in dem Paß, hielt ihn ab und zu gegen die Innenbeleuchtung, die hinter seinem Kopf an der Wagendecke war. Am Armaturenbrett klemmte ein kleiner unbeleuchteter Weihnachtsbaum. Daneben lag eine Schachtel Zigaretten. Wenn man sie nicht richtig hinlegte, würde sie beim Anfahren herunterfallen. »Tja, also der hier im Paß, der sind Sie nicht«, sagte der Fahrer. »Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben. Sehen Sie mich mal an!« Holberg legte seine verschränkten Arme auf die Vordersitzlehne und sah in die Wagenbeleuchtung. »Die Angelegenheit wird Folgen für Sie haben. Sie werden in nächster Zukunft Akten sortieren und Bleistifte anspitzen, weil Sie Ihre Befugnisse überschreiten...«. »Sind Sie nicht Berkmann?« fragte der Fahrer, ohne auf Holbergs Worte einzugehen. »Wie? Berkmann?« Holberg fragte sich, wieso sie ihn mit Oskar verwechselten. Sie sahen sich nicht ein Spur ähnlich. Außerdem hatte man Oskar doch schon vor zwei Tagen verhaftet. »Nein. Mein Name steht im Paß, Sie sollten die Angaben überprüfen und...« An der Tür knallte es! Es war ein trockener scharfer Knall, der für einen winzigen Moment das Trommelfeil der Ohren betäubte. Zugleich mit dem Knall fühlte Holberg den Schlag unter der rechten Achsel. Es war wie ein kurzer, sehr harter Fausthieb. Er fuhr hoch und versuchte sich an der Vorderlehne festzuhalten, doch er sackte einfach weg, rutschte an der Rücksitzlehne in die Wagenecke, er wollte etwas sagen, er konnte nicht, er kriegte keine Luft. »Was machst du denn, Mensch!? Bist du verrückt!!« hörte er die undeutliche Stimme des Fahrers, sie kam von ganz weit -1 9 -
her, dann konnte er ihn wieder sehen, wie er vorne am Armaturenbrett herumhantierte. Wie klar ich noch bin, dachte Holberg. So ist das also, der Notwehr ... der Notwehrfangschuß. Aber ich... ich habe... doch nichts... nichts gemacht... habe mich nicht... nicht bewegt... Der Schmerz kam wie eine Sturzwelle, er spülte, drängte, gurgelte. Schneller als der Knall... im Himmel: Er sieht Marion an der fleckigen Deckenbespannung des Wagens. Er täuscht sich nicht, sie ist wirklich da. »Oh, du mußt aufpassen auf dich, meine Mann, ich benötige dich so sehr«, sie wischt ihm den Schweiß ab, der über sein Gesicht strömt, doch er läuft weiter, und sie wischt weiter und lächelt. »Jeg elske dig, du weißt das...« »Bitte... meine Frau Marion... grüßen Sie... bitte«, Holberg rasselt. Luft! Ein kleines bißchen Luft! Er will erklären, es sind nur die Lippen, die sich bewegen. »Na, wenn er noch an Frauen denkt«, hört er den Fahrer. Die Stimme hallt nach. »Ja! Endlich! Hier Wagen fünf-zwo-eins, Standort...« Holberg sieht Marion noch einmal. Sie sagt etwas auf Dänisch zu ihm, er kann nicht antworten. Luft, Marion... Luft... warte... warte, es ist nur ein Augenblick... es ist nur... es ist die verdammte Luft... ALS HOLBERG ERWACHTE, WAR DER ZWEITE DEZEMBER. Er wußte es nicht; erst am Abend, als man es ihm sagte. Er lag auf dem Rücken. Sein Blick fiel zuerst auf die Flaschen, die schräg über ihm an einem blanken Stahlkreuz hingen. Von den Flaschen führten Schläuche abwärts zu seinem Arm. Holberg fühlte, wie seine Brust beim Atemholen schmerzte. Er atmete ein bißchen tiefer ein, und der Schmerz wurde so stark, daß Schatten vor seinen Augen tanzten, auch, als er sich auf die Seite drehen wollte.
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Holberg versuchte, seine Zehen zu bewegen. Mit Erfolg. Dann wieder den ganzen Körper, doch der Schmerz war sofort wieder da. Er probierte ein Räuspern und war zufrieden, als er sich selbst hörte. »Hallo, Herr Holberg! Wie geht es Ihnen?« Neben dem Bett stand eine Krankenschwester mit weißem Häubchen und hochgeschlossenem Kittel. Eine echte Krankenschwester! Holberg knurrte ein wenig, weil diese Antwort am wenigsten schmerzte. Demnach befand er sich noch draußen, in irgendeiner Klinik. Im Gefängnislazarett gab es keine Krankenschwester; höchstens eine alte vertrocknete Vettel, die in Gegenwart eines Aufsehers und mit Dracula-Gesten Blut abzapfte. »Kommen Sie, wir wollen es mal mit Abhusten versuchen«, sagte sie. Ein Pfleger war plötzlich auch da. Sie richteten Holberg vorsichtig hoch. Er stellte fest, daß aus seiner Nase ein Schlauch hing, »So, Herr Holberg, jetzt müssen Sie tüchtig husten! Probieren Sie's doch mal!« Er gab ein heiseres Krächzen von sich. »Das war ja schon sehr gut! Noch einmal!« Beim zweiten Versuch würgte er dickes Blut in den Zellstoff, den der Pfleger ihm vor den Mund hielt. »Na fein«, sagte die Schwester, »jetzt haben Sie sicher Schmerzen. Ich gebe Ihnen was dagegen.« Holberg fühlte sich erschöpft. Wie nach einer wilden Jagd, dachte er, wie nach einem Langstreckenlauf. Die Schwester kehrte mit einer Spritze zurück. Ihre Bewegungen hatten etwas Beruhigendes. »So, das war's. Soll ich Ihnen die Kopflehne verstellen? Etwas höher?« Er nickte. Sein Kopf wurde von der Lehne hochgehoben, sank jedoch wieder nach hinten. Er fand, daß die Lage die gleiche war wie zuvor. -2 1 -
»Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« »Der Schlauch... in der Nase. Und Durst.« Sie schüttelte ihren Kopf mit dem Häubchen. »Der muß drinbleiben! Das ist Sauerstoff, und den brauchen Sie- Zum Trinken darf ich Ihnen noch nichts geben, aber ich hole Ihnen etwas gegen Durst.« Sie kam mit einem watteumwickelten Stäbchen wieder. »Mund auf!« Sie beschmierte seine Lippen und das Mundinnere mit einer komisch schmeckenden Salbe. Da hatte er keinen Durst mehr. Auf der anderen Seite des Zimmers standen zwei weitere Betten, in denen welche lagen. Neben dem einen Bett stand eine Apparatur mit einer runden Mattscheibe, über die eine weiße, unregelmäßige Linie flimmerte. Mal nach oben, mal nach unten. Das andere Bett, das sich durch Vorhänge abteilen ließ, konnte Holberg nur zur Hälfte sehen. Sie waren halb zugezogen. Die Fenster des Zimmers waren groß und klar, sie hatten viereckige Scheiben. Holberg fand, daß es schöne Fenster waren. An der Tür und an der Fensterseite saßen je ein Pfleger. Einer von ihnen hatte einen Tisch vor sich, mit Tupfern und Flaschen und einem Buch; darin las er. Es war der Pfleger, welcher der Schwester zur Hand gegangen war. Der andere, der an der Tür auf einem Stuhl saß, blickte nur geradeaus. Er trug den gleichen lindgrünen Kittel wie sein Kollege. Doch er gehörte nicht dazu. Holberg brauchte nicht zu fragen, um zu wissen, daß es so war. Der Pfleger saß da mit Staatsbedienstetenmiene. Unkündbar. Mit Pensionsberechtigung. Ein zweiter mit dieser Berechtigung befand sich draußen auf dem Flur, wo er auf und ab ging. Holberg konnte ihn durch die Vorhänge der verglasten Wand erkennen. Unter dem Vorhangsaum war noch ein Stück bis zur Brüstung frei.
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Manchmal schaute der andere Mann flüchtig herein, so, wie wenn jemand seine Brille sucht, mit einem Blick alles überfliegend, verschwand dann wieder. Gegen Abend erschien eine andere Schwester mit einer Spritze Holberg überlegte, wie lange er bereits hier war und fragte danach. »Heute ist der zweite Dezember«, erwiderte sie. »In zweiundzwanzig Tagen haben wir Weihnachten und wenn Sie schön brav liegenbleiben, dann hat der Weihnachtsmann sicher etwas Hübsches für Sie.« Wir ist gut, dachte Holberg. Gestern morgen also war es passiert. Immer vor Weihnachten. Blödsinn. Ich hätte mich vorsichtiger bewegen sollen. Keine Reaktion. Zu müde. Fluchtmüde, nennt man das wohl. Im Grunde war es mir egal. Ich lasse die Dinge mit offenen Augen auf mich zukommen, ohne etwas dagegen zu tun. Es war so gekommen, weil sie Oskar erwischt haben. Zwei Tage vorher. In zweiundzwanzig Tagen haben wir Weihnachten. Marion wird vergeblich auf mich warten. Es wäre ohnehin nur ein Aufschub gewesen. Ich kann nicht mein ganzes Leben lang auf der Flucht sein. Vierter Dezember! An der Tür saß niemand mehr. Nur der Pfleger hinter dem Tisch an den Fenstern war noch da. Als er merkte, daß Holberg wach war, erhob er sich. »Nun«, wie geht's uns heute? Brauchen Sie etwas?« Holberg schüttelte den Kopf: »Sind die anderen weg?« »Nein«, der Pfleger lächelte leicht und drückte die Kissen zurecht, »auf dem Flur ist einer, und der andere sitzt im Frühstückszimmer. Die wissen schließlich auch, daß Sie sich nicht groß bewegen können. Die sehen nur hin und wieder mal rein. Es sind jetzt andere, von der Justiz, glaube ich. Aber denken Sie lieber an etwas Angenehmes. Sie wollen doch wieder gesund werden.« Justiz, dachte Holberg müde. Es ist alles das gleiche. Pensionsanspruch, Krankengeld vom ersten Tag an, Dienstwohnung und Kindergeld ab erstem Kind. Er versuchte sich zu drehen, doch es ging nicht. Mit den Erziehern -2 3 -
beginnt es, dachte er. Alle wollen nur das Beste. Nicht das Beste allgemein, sondern das Beste eines jeden einzelnen. Eigenartig. Wie müde ich bin, ich habe die ganze Zeit geschlafen, trotzdem bin ich so müde. Damals, sagt man jetzt, dabei sind es nur ein paar Jahre, eine Stunde, ein paar Jahre oder gestern. Gestern war es. DER MANN SASS MIR GEGENÜBER. Hier im Abteil hatte er seinen Hut abgenommen. Ich sah, daß die Haare auf seinem Kopf hinten sehr dünn und vorne gar nicht mehr vorhanden waren. Er saß in seine Ecke gelehnt und schlief. Aber er schlief nicht. Manchmal öffnete er kaum merklich ein Auge, stellte fest, ob ich noch da war, kniff es wieder zu. Unter seinen Augen hingen kleine faltige Hautsäcke. Seine Wangen waren Backen, rund und rosig. Das Kinn lag auf zwei Fleischringen, die bis an jedes Ohrläppchen reichten und vorne den Kragen und den Krawattenknoten verdeckten. Es sah aus, als sei der Kopf auf dem Rumpf festgebunden. Er hatte seine Jacke geöffnet. Sein Bauch hatte die Aufschläge zur Seite geschoben. Jedesmal, wenn der Waggon über eine Schienennaht fuhr, machte er einen kleinen Hupser, der Bauch, die Ringe zitterten unter dem Kinn, der Kopf auf den Ringen nickte, und die kleinen Säcke unter den Augen bebten. Er sah aus wie ein fetter Papst. Ein großer Ruck lief durch den Zug, ein großes Zittern durch den Mann. Er war sofort wach. »Na, da sind wir«, sagte er, klemmte seine Aktentasche unter den Arm und stemmte sich an der Fensterkante hoch. »Göttingen! Göttingen! Die planmäßigen Anschlußzüge...« Er drängelte sich durch das Gewühl, sein Kopf ging dauernd hin und her. Einmal blickte er nach vorne, ob Platz war und einmal nach hinten, ob ich noch folgte. Wie beim Karneval, dachte ich: die großen Figuren auf den buntgeschmückten Wagen, deren Köpfe immer hin- und hergehen. Doch bei denen war es mehr ein Pendeln, bei ihm war es ruckartig, wie bei einem Huhn. -2 4 -
Wenn ich mich jetzt seitwärts verdrücke, dachte ich, wenn ich mich zwischen die Menschen schiebe, bin ich weg. Oder einfach wegrennen. Er konnte das ruhig sehen. Haltet ihn, würde er sicher rufen oder Stehenbleiben! Doch ich renne einfach weiter, und er kann nicht hinterher, weil er zu dick ist. Aber wo soll ich hinlaufen? Es ist eine fremde Stadt. Wir gingen auf die wartenden Taxen zu, daran vorbei und kamen auf einen schwarzen Schlackeweg, seitlich an einem Pfosten befand sich ein Schild: Nur für Anlieger. Der Weg verpuffte bei jedem Schritt kleine Staubwolken. Es war heiß. Der Mann wischte sich dauernd mit einem großen Taschentuch das Gesicht und den Nacken ab. »Mistwetter«, sagte er dann jedesmal, und mir kam es so vor, als sei er wütend. Ich fand, daß das Wetter herrlich war. »Ist nicht mehr weit. Wir sind bald da. So ein Heim ist nicht schlecht. Da lernst du Ordnung, Kameradschaft und so«, er schnaufte, »hast'n Haufen Freunde da. Wirst fürs Leben geschult.« Was wußte der schon von Kameradschaft! Ich war der einzige aus der Clique, den sie erwischt hatten. Die anderen waren alle zu Hause. Nicht einen von ihnen hatte ich verraten. Nicht mal, als sie den Gummiknüppel holten. Aber geschlagen hatten sie nicht. »Da kannst'n Beruf ergreifen«, fuhr er fort, »jeder Mensch braucht'n Beruf. Damit er das Leben meistern kann. Und wenn er's nicht meistern kann, dann hat er auch keinen Beruf... na ja, so ist das eben.« Er schnaufte schneller. Das Reden hatte ihn angestrengt. Der Weg machte eine kleine Steigung. Das Erziehungsheim trug den Namen >Landesjugendheim<. Dieser Name war schwarz auf weiß auf einem großen Schild zu lesen. Und darunter, etwas kleiner >Verwaltung<. Und darunter, noch kleiner: >Niedersachsen<. Und darunter, wieder so groß wie Landesjugendheim: >Leitung: Dr. W.C. Müller.< »Was hast du denn ausgefressen?« fragte der Mann, der mich aus der Verwaltung abholte.
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»Ooch, so'n Einbruch«, erwiderte ich wortkarg. Er lachte. »Na, dann mach man nicht so'n Gesicht. Ist doch egal. Wirst dich hier schon gut einleben«, er musterte mich von oben bis unten, »hier lebt sich jeder schnell ein.« Wir gingen nebeneinander her, durch das Heimgelände, an einzelnen Häusern vorbei, »Das ist der Fuchsbau, hier rechts.« Er wies mit dem Kopf auf ein langgestrecktes, halbrund gebautes Haus. Hinter den vergitterten Fenstern standen Jungen und sahen zu uns herüber. »Ich heiße übrigens Baumann. Und das da drüben ist das Sprungbrett«, Baumann zeigte auf ein anderes Haus ohne Gitter. »Weißt du, die Häuser haben hier alle einen Namen. Hinten am Sportplatz gibt es noch den Wigwam, und das hier ist der Neubau.« Wir standen vor einem mehrstöckigen, weißgestrichenen Gebäude. Es sah aus wie eine Kaserne. »Hier kommt zuerst jeder Neue rein«, Baumann schloß die Tür auf, er machte sie von innen wieder zu. Wir befanden uns in einem Treppenhaus und stiegen die Treppen hoch. Es roch nach Bohnerwachs und Küche. Ganz oben war die Umkleidekammer. In diesem Haus gab es vier Gruppen. In der ersten Etage zwei, das waren die Schüler. In der zweiten Etage wieder zwei Gruppen, das waren keine Schüler. Zudem waren hier die Jungen etwas älter. Die eine Gruppe ging bis sechzehn Jahre, und die andere begann ab sechzehn, ging bis einundzwanzig. Baumann hatte mir gesagt, daß das eigentlich so sein sollte, aus diesen und jenen Gründen lasse es sich jedoch nicht einhalten. Dann hatte er mich angesehen und gesagt: »Tja, altersmäßig gehörst du nach rechts,« das war die Gruppe bis sechzehn, »aber größenmäßig gehörst du nach links.« Damit hatte er mich zur Gruppe der Älteren eingeteilt. Dort stand ich jetzt vor einem Kollegen Baumanns im Erzieherraum. Ich war in Landesjugendheimzeug eingekleidet und guckte auf -2 6 -
den breiten Erzieherschreibtisch, hinter dem der Kollege saß und mich schräg von unten anstarrte. Das tat er eine ganze Weile. Ich starrte ihn gleichfalls an. »Tja«, sagte er dann. Seine Augen bekamen einen erwartungsvollen Ausdruck. Aus dem Nebenraum drang Krach herein. Ich betrachtete das Bild über dem Kollegenkopf. »Und nun?« fragte er und erwartete eine Antwort. Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte. »Nun biste hier«, fuhr er fort. Aus dem Raum hinter ihm ertönte ein Geräusch, als kippe ein Möbelwagen seine Ladung ab. Etwas Putz rieselte von der Wand auf die Kante des Schreibtisches. »Und nun?« begann er wieder in fragendem Ton. Ich konnte ihm wieder keine Antwort geben. Er seufzte leicht und pustete mit spitzem Mund die Kalkkrümel vom Schreibtisch. »Nun bleibste hier«, sagte er. Nebenan wurde mit lautem Geschrei der Möbelwagen wieder beladen. Der Kollege pustete erneut und gab mir durch eine Handbewegung zu verstehen, daß ich rausgehen sollte. Ich ging auf den Flur und stand einen Augenblick unschlüssig, welche der Türen ich wählen sollte. Ich öffnete die, hinter der der Krach war. Es schien der Aufenthaltsraum zu sein. In der Mitte kniete ein Junge auf dem Fußboden und versuchte mit einer Hand vier übereinandergestapelte Stühle emporzustemmen. Etwa zwölf andere Jungen schauten zu. Als ich eintrat, war es still. Zwölf Augenpaare sahen mich an, eher abschätzend als neugierig. Sie wandten sich wieder den Stühlen zu. Ich setzte mich auf eine Bank. »Biste heute jekommen?« ein kleiner schwarzhaariger Junge schwang sich vor mir auf die Tischkante und baumelte mit den Beinen. -2 7 -
Ich nickte. »Ick war zuerst ooch imma saua, det vajeht«, sagte er tröstend. Und etwas später: »Det is nich alles Jold, wat jlänzt!« Er nickte bedächtig. »Hier! Rooch erst ma eine.« Er hielt mir eine selbstgedrehte Zigarette hin, die er aus einem Tabaksbeutel genommen hatte. »Ich mag gar nicht«, sagte ich vorsichtig und kam mir sehr unerfahren vor, weil sie hier alle rauchten. »Wat?« Er starrte mich ungläubig an. »Du roochst nich? Wie alt biste denn?« »Vierzehn.« »Viazehn! Und denn noch nich roochen? Is det möglich!?« Der Junge schüttelte den Kopf, dann hielt er mir die Zigarette wieder hin. »Det jibt et doch wohl nich. Hier, det ist jut for die Nerven!« Er gab mir Feuer. »Ick brauch imma wat zu roochen, sonst bin ick saua. Kannst mir Icke nennen!« Ich paffte drauflos und bemühte mich, einen Hustenreiz zu unterdrücken. Icke grinste mitfühlend, sagte aber nichts. Gegen Abend füllte sich die Gruppe auf. Ein Teil der Jungen war in der Schälküche beschäftigt und auf den Feldern, die zum Heim gehörten. Auf den Feldern arbeitete auch Bulle. In Wirklichkeit hieß er Karl-Heinz Smolitzki oder so ähnlich. Für die Jungen hieß er Bulle, auch für die Erzieher. Die meisten der Jungen hatten irgendeinen Spitznamen, Jonny, Charly, Pinnek und Atze, man konnte sich die Namen gar nicht alle am ersten Tag merken. Icke sagte Benjamin zu mir, nachdem er festgestellt hatte, daß er drei Jahre älter war als ich. Bulle war der Gruppenälteste. Das war ein Rang. Der Gruppenälteste bestimmte, wer saubermachte, wer nicht saubermachte, wer Essen holte und wer eine Zigarette drehen mußte. Wenn er >Ruhe< sagte, dann war Ruhe, und wenn er -2 8 -
Krach machte, dann machten alle anderen auch Krach, weil sie es durften. Die Erzieher richteten sich nach dem Ältesten, denn sie wußten, daß die Gruppe sich nach ihm richtete. Gruppenältester konnte man nicht einfach so werden, vielleicht weil man der Älteste an Jahren war oder am längsten in der Gruppe, auch wurde der Gruppenälteste nicht von den Erziehern bestimmt. Er wurde von der Gruppe gewählt, von den Jungen, in einer öffentlichen Wahl. Jeder Junge hob den Finger für den jeweiligen Kandidaten. Jeder hob ihn für den Stärksten, das war am vorteilhaftesten für die eigene Person. Zudem gab es keine Nebenkandidaten. Vielleicht im stillen, doch ihre Aufstellung wäre ohnehin zwecklos gewesen. Sie hätten sich in jedem Fall vor dem Stärksten behaupten müssen, denn der ließ sich von niemanden Vorschriften machen. Also wurde er gleich von vornherein gewählt, einstimmig, ganz demokratisch. Bulle kam in den Tagesraum, musterte mich kurz und ließ sich auf eine Bank fallen. »Vor dem mußte dir in acht nehmen, det is der King hia«, sagte Icke leise, »von dem habe ick dia heute nachmittag erzählt. Aba ick gloobe«, er sah mich abschätzend an, »wenn ick dia so bekieke, dann könnste eene Chance haben.« Er grinste. Zum Abendbrot gab es Käse, ein Stück Margarine, Brot und Kaffee aus Roggenkörnern. Bulle saß am Stirnende des langen Tisches, an dem auch Icke und ich unseren Platz hatten. »Du bist'n Neuer, was?« fragte Bulle mich. »Heeßt Benjamin!« »Mit dir redet doch keiner, du Filzlaus!« »Selbst eene«, tönte Icke zurück. Doch Bulle nahm ihn nicht für voll. »Wenn 'n Neuer da ist, dann macht er zuerst was sauber«, erklärte Bulle mir, »du machst ab heute abend Scheißhaus und Waschraum, klar?« Ich schüttelte den Kopf. Aus Unkenntnis. Auch meinte ich, daß das Sache des Erziehers sei, das Einteilen zum Reinemachen. -2 9 -
»Wie?« fragte Bulle. »Du willst nicht?« Er stand auf und blieb halb hinter mir stehen. »Warum?« Ich wandte mich zu ihm herum, wollte es tun. Auf meinem linken Auge explodierte was. »Darum!« hörte ich Bulles Stimme. Ich fiel von der Bank auf den Bohnerwachsboden und begriff, daß Bulle mich geschlagen hatte. Ich zog mich, etwas schwindlig, am Tisch hoch. Ich merkte richtig, wie mein Auge zuschwoll. Bulle grinste. Seine Augen waren klein und tückisch. Die Wut stieg in mir hoch, dieses Grinsen war es, was mich so reizte. Er stand dicht vor mir. Ich hieb ihm die Faust in den Magen. Er pfiff und rang nach Luft. Ich wich ein Stück zurück. Sollte er nur kommen. Boxen konnte ich von der Schule her, dort hatte mich niemand untergekriegt. »So ist das also«, knurrte er böse und kam geduckt näher. Als er fast in meiner Reichweite war, ließ er sich hintenüberfallen, seine Schuhspitze traf mich genau zwischen den Beinen, und der Schmerz war so stark, daß ich in den Knien einknickte. Etwas schlug gegen meinen Kopf, gegen mein Ohr, ich krümmte mich zusammen. Wieder gegen meinen Kopf, in den Nacken, ich nahm es nur noch halb wahr. Ich machte doch gar nichts mehr! Warum hörte er nicht auf! Ich machte doch gar nichts! Er trat in die Rippen, in den Bauch, ich sah nichts mehr und spürte nur, wie er mich wieder ins Gesicht und gegen den Hals schlug, wie er mich an den Haaren zerrte und über den Boden schleifte. Im Waschraum ließ er mich los. »Dir werd ich helfen«, er fluchte, »so einfach ist das nicht!«
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Ein nasser Wischlappen klatschte an meinen Kopf. »Los, mach sauber! Oder willste noch mehr! Du Mistsau!« Er begleitete seine Worte mit Fußtritten. Und plötzlich war die Angst da. Ich fühlte, wie sie über meinen Rücken kroch, in die Beine, in die Arme. Es war so, als würde ein Eimer Sirup über mir entleert, der Sirup verteilte sich langsam überall, ich fühlte die Schmerzen nicht mehr, ich konnte nichts dagegen tun. Ich tastete nach dem Putzlappen und begann ziellos auf dem Kachelboden umherzuwischen, ich verwischte das Blut, das mir aus Mund und Nase lief, ich wischte. Erst als ich die Tür zuschlagen hörte, hielt ich ein, der Krampf löste sich, ich heulte und begann sofort wieder zu wischen, als die Tür erneut klappte. »Nu halt ma inn. Ick bins, Icke. Scheeße!« sagte er. »Mit klassischen Stil kannste hia nich landen, det sieht zwar jut aus, aba det ist ooch alles. Hia wird jeschlagen und nich jeboxt. Aba det lernste, det bringe ich dia allet bei. Du hast doch ooch'n juten Körpabau!« Er befühlte mich. »Nu steh ma oof, oda willste hia übernachten. Für die nächsten Wochen ist der zufrieden!« Seitdem war über ein Monat vergangen. Jeden Nachmittag hielt ich mich mit Icke im Waschraum auf. Dort wurden wir am wenigsten gestört. Er zeigte mir, wie man einem die Finger in die Augen stoßen mußte, wie man nach einem mit den Füßen trat und daß es bedeutend besser war, wenn man mit der Handkante schlug, als mit der Faust. »Da sitzt mehr hinta, vastehste und deene Knochen, die schonste dia. Vor allem mußte dia det Denken abjewöhnen. Von wegen wat nich alles passiern kann, wenn de dem Jegner 'ne volle Breitseete jibst, det er sich vielleicht wat brechen könnte. Det soll er, sonst brichta dia wat. Vor allen wenn du nich weeßt wat er draafhat. Hinlangen, und er legt sich hin, und wenn nich, dann gleich noch'n Ding hintaher, trittste ihm 'n Elfmeter. Von wejen erst Ausjangsstellung und Fäuste antippen! Sowat jibt et nich!«
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Manchmal erzählte Icke auch von sich, von zu Hause. »Arbeetet deene Mutta ooch?« Ich nickte. »Wat macht se denn, wenn ick fragen darf?« »Angestellte in einer Verwaltung.« »Chott to chott! Wat Besseres! Meene ist Artistin.« »Zirkus? Hast du mir noch nie erzählt.« Im Zirkus arbeiten fand ich aufregend. Die Luft zu riechen war schon aufregend. »Nee, nee, eigenes Untanehmen. Tänzelt oof'm Strich.« Icke zuckte die Schultern. »Der Mensch muß eben leben. Det ist'n Familienunternehmen, sozusajen. Meene Schwesta hat ab zwölve die Horizontale probiert. Jetzt iss'et Mutta & Co., vastehste. Floriert jut, det Jeschäft, sehr jut. Ick sollte da ooch mit einsteigen. An so'n grauhaarigen Apollo hat se mia vamietet. Als ick noch jung und hübsch war, weeßte. Aba ick war saua, mit seene Falten am Bauch. Ick hab ihm mit'ta alten Bettfeder eens oof'n Penis jekloppt, Junge, det hättste mal sehn sollen! Der jing hoch wie'n Kanonenschlauch und hat um Hilfe geschrien. Hat Mutta einjesehen, det et mia vorbehalten is, Weiba zu bejlücken.« Icke schwieg. Vom Waschraumfenster aus konnte man die Stadt sehen und das Wäldchen, rechts vor der Ziegelei. Dort befand sich das Mädchenerziehungsheim, von dem man nur das Dach erkennen konnte. Alles andere wurde von Bäumen verdeckt. Früher war das mal irgendeine große Villa gewesen, hatte Icke erzählt, der Wald war der Park gewesen. Später hatte man einen Teil der Fenster vergittert und aus der Villa ein Heim für schwer erziehbare Mädchen gemacht. Der Park wurde nicht mehr bestellt, und heute war es ein verfilzter Wald, dessen Schleichpfade nur Eingeweihte kannten. Dann kam ein See, eine ehemalige Kiesgrube. Der See hieß Kiessee und war sehr groß, wir sahen nur die eine Hälfte, die andere Hälfte lag hinter dem Wald. Auf dem Wasser lagen zwei Boote wie zwei Steine. An der einen Seite, dicht vor dem Seeufer, arbeitete eine Kolonne Jungen. Ein Erzieher stand etwas abseits an einen Baum gelehnt und rauchte. -3 2 -
Zur Linken befand sich das Landeskrankenhaus. Es waren viele einzelne Häuser, die inmitten von Parkanlagen verteilt waren. Am Rand der Anlagen schlössen Felder an. Manchmal sahen wir eine Gruppe Landeskranker, die mit Schaufel und Spaten die Erde kaputtmachten. Hinter all dem befand sich die Stadt, sie lag im Tal, und ihre Ausläufer reichten bis an den Kiessee. Vielleicht war das schon ein Vorort. Gleich hinter dem See stand eine Reihe hoher Bäume, aus den Wipfeln lugten weiße Fahnenmasten, und als ich Icke fragte, was das sei, sagte er, es sei das Stadion. Es wäre insofern wichtig, weil an der einen Seite ein großer Parkplatz sei. Dort könne man sehr bequem ein Fahrrad oder ein Moped klauen, wenn man aus dem Heim türmte. Icke saß auf der Fensterbank und bemühte sich, mit den Zähnen, seine Fingernägel gleichmäßig zu kürzen. »Allet Scheeße, wat?« Er starrte trübsinnig durch die kleinen eckigen Scheiben nach draußen. »Wenn ick det Wäldchen da bekieke und an all die vielen Büsche da drinne«, er seufzte schwer. »Kennst du dich da drüben aus?« »Na, det kannste aba glooben! Bin jetzt det dritte Mal hia. Vor eenem Jahr habe ick noch oof'm Wigwam jelegen. Abends sind wa imma hoch zu den Miezen, een wegjesteckt, durch die Gitta. Meene Mieze lag oof'm jeschlossenen Schlafsaal, weeßte, da kannste nur durch die Gitta vögeln. Wat willste machen.« Er zuckte bedauernd die Schultern. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das ging, durch die Gitter. Er schien es zu ahnen und grinste etwas. »Det jeht jut. Not macht akrobatisch. Kiek mal!« Er kletterte auf die Fensterbank. »Sie stellt sich so hin, mit dem Rücken nach draußen und denn bückt se sich und drückt ihr Nagetier jegen det Gitta, ihre Maus, und mit'n Händen halt se sich am Gitta fest, so«, Icke veranschaulichte die Stellung und balancierte auf der schmalen Fensterbank herum, aber es waren keine Gitter da, an denen er sich festhalten konnte. Die Scheiben befanden sich in Eisenrahmen eingekittet, und wenn er an den Falz griff, um sich festzuhalten, dann rutschten seine Finger ab. Mir fiel auf, daß er fast richtig Hochdeutsch sprechen konnte. -3 3 -
»So, und du stehst außen auf die Fenstabank, so«, er drehte sich mit dem Bauch gegen das Fenster und schob die Arme durch die kleinen Luftklappen nach draußen, es sah aus, als habe man ihn dagegenge-klatscht. Da klebte er nun, »durch die Gitta faßt du um sie rum, damit se dir nich runterfällt, wenn du ihr begattest.« Er setzte sich wieder normal hin. »Und die anderen Mädchen, gucken die alle zu?« »Wenn's 'n juter Saal ist, denn gucken sie alle weg, denn biste janz allene mit ihr. Aba det is besser, wenn de mit ihr ans Klogitta jehst, dann kann dir keine verpfeifen. Det jibt ooch Schlafzimma ohne Gitta, na, det is natürlich wat reelles, da kannste dir in so'n Bett flegeln, bei sowat werde ick wieda richtig jung!« Icke schnalzte genießerisch und drehte zwei Zigaretten, eine für mich. Ich sog den Rauch tief ein und spürte wieder das Schwindelge-fühl, es machte irgendwie so unbeschwert. Ich konnte das genau regulieren. Wenig Rauch, leichter Schwindel, viel Rauch, starker Schwindel. Wenn ich ganz schnell mehrere Züge hintereinander machte, wurde ich so schwindelig, daß ich mich festhalten mußte. Doch ich probierte es selten. Der Erzieher, der mit bürgerlichem Namen Matthes hieß, und der von der Gruppe schlicht >Affe< genannt wurde, schaute zur Tür herein. >Affe< hieß er deshalb, weil er einen gebeugten Gang hatte und die Arme immer so komisch hängen ließ. »Holberg«, sagte Affe, »ab Montag Schälküche!« Und machte die Tür wieder zu. »Zieh Leine, Schieta!« rief Icke ihm hinterher. Doch Affe hörte nicht auf so was. »Aha, ich soll wohl in der Schälküche arbeiten.« »Du bist schön blöd, wenn de da runterjehst. Oogen aus die Kartoffeln pulen, Mensch! Det is Weibakram. Wir aba sind Männa, vastehste!« Er spuckte verächtlich gegen die Wand. »Mal sehen«, erwiderte ich und überlegte, ob ich mich zum Kartoffelschälen eignete. »Was ist, wenn ich nicht runtergehe?« -3 4 -
»Na, nichts! Wat soll sein? Damit demonschtrierst du denen, daß du keene Lust hast und nich willst. Und det jlooben se dir oofs Wort!« »Wieso?« »Na ja, weil du eben nich hinjehst, zu die Pulerei. Ist doch ganz klar!« »Aber können sie nichts gegen mich unternehmen?« »Untanehmen!« Icke sah mich mitleidig an. »Wat heeßt det eigentlich, untanehmen. Du machst'n Jeneralstreik off die janze Linie und det is alles. Wat wolln se denn? Ihre Ruhe wolln se, detis det! Und wir ooch. Kiek doch mal, die ganzen Kumpels auf dieGruppe, die ham ooch keene Lust zur Maloche. Also tun se nischt. Det is det beste Mittel gegen keene Lust. Mensch, mia is det sowieso allet ejal, ick tanz hia meene Jahre ab, bis ick einundzwanzig bin, und denn können se mia alle ma am Arsch lecken! Dann mach ick mia selbständig!« Icke schnippte lässig die Asche seiner Zigarette durch die Luft. An den Abenden wurde viel gepokert. Um die Wurstrationen, die es in der Woche gab oder um das Fleisch am Sonntag. Wenn das verloren war, so wurde das jeweilige Reinigungsamt als zusätzliches Zahlungsmittel eingesetzt. Jeder Mitspieler erhielt 50 Chips, sie waren aus Pappe zurechtgeschnitten. Fünf Chips entsprachen einer Zigarette, zehn Chips einem Stück Wurst, zwanzig Chips dem Stück Fleisch am Sonntag. Wenn nun jemand alle seine Chips verspielt hatte, so konnte er sich bereit erklären, bei nochmaligem Verlieren das Reinigungsamt des Gewinners zu übernehmen. Es gab viele Verlierer. Ein Junge putzte schon seit drei Wochen die Schuhe von drei anderen Jungen, eine Woche hatte er noch vor sich. Ein anderer machte seit vorgestern das Bett für einen Gewinner, der sich für die nächsten drei Monate nicht mehr darum zu kümmern brauchte. Spielschulden. -3 5 -
Auch ein besonders gemusterter Kamm oder ein Halskettchen, das durch seine Einmaligkeit zum Wertgegenstand wurde, galt als Einsatz. Spielschulden konnte man höchstens einlösen, wenn man ein Päckchen von zu Hause bekam, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Zwei Tafeln Schokolade gegen die Streichung zwei Wochen Bettenmachens. Doch Schokolade wurde meist selbst gerne gegessen. Oder man erhielt in dem Päckchen eine Pfeife oder ein Feuerzeug! Dafür wurden sämtliche Spielschulden gestrichen. Einige Jungen spielten auch Skat und Schach und >Mensch ärgere dich nicht<, doch letzteres selten, weil es immer in einer Prügelei endete. Mit Bulle hatte ich, seitdem er mich verprügelt hatte, nicht mehr geredet. Ich ging ihm aus dem Weg. Ich machte das möglichst unauffällig, denn das war genauso eine Herausforderung wie das Gegenteil. Ich fand, daß es gar nicht einfach war, sich so zu verhalten, daß der andere nicht gereizt, nicht herausgefordert wurde. An diesem Abend wurde Icke von ihm geschlagen. Ich wußte nicht einmal genau, wie es kam. Icke stand im Tagesraum an den Schrank gelehnt und hielt sich ein Auge und starrte Bulle haßerfüllt an. »An die Kleenen kannst de dir vergreifen, eenes Tages stech ick dir ab!« sagte er wütend. Bulle saß auf dem Tisch und lachte. »Frag doch mal deinen Kumpel, ob er dir hilft. Aber der hat sich letztesmal ja fast beschissen, was, Holberg?« Bei den Worten drehte er sich nach mir herum, als erwarte er eine Antwort. Ich merkte, daß er sich schlagen wollte. Wenn ich jetzt nichts erwiderte, dann war die Sache erledigt. Aber ich könnte etwas sagen, überlegte ich, etwas was ihn traf, etwas was ihn beleidigte. Für einen Moment war wieder dieses Angstgefühl in mir. »Idiot!« sagte ich schnell. Also wollte ich mich auch schlagen. »Wie?« Bulle glotzte mich an und rutschte vom Tisch. -3 6 -
Ich ging aus seiner Reichweite, an ihm vorbei auf die andere Seite des Tagesraumes. Bulle war wegen Unzucht mit Tieren hier. Jeder wußte das, und jeder bemühte sich, es nicht zu wissen. »Besser beschissen«, sagte ich, »als Ziegen zu ficken, sie mit den Hinterbeinen in die Gummistiefel zu stellen.« Die Jungen wieherten los, beeilten sich jedoch sofort, eine unbeteiligte Miene zu machen, als Bulle sich umsah. Er war dunkelrot angelaufen. »So is das also«, sagte er böse, »dann komm mal ran, du... du...« er fand anscheinend keinen passenden Ausdruck für mich und kam geduckt näher. Ich freute mich richtig über die Wirkung meiner Worte. Er sprang los, die Arme angewinkelt und die Augen zusammengekniffen. Ich wich seitlich nach unten aus und trat ihm mit der Ferse wuchtig die Beine weg, fühlte so etwas wie Triumph, weil ich so schnell geschaltet hatte. Bulle schlug schwer auf den Boden, dann mit dem Kopf gegen eine Bankkante. Die Jungen standen auf den Tischen. Dort stand man am besten. »Los, Benjamin! Polier ihm seene Fresse! Det braucht er!« Bulle kam scheinbar benommen wieder hoch, doch er schlug plötzlich mit der Faust nach meinem Gesicht. Ich konnte wieder ausweichen und merkte, wie langsam er eigentlich war. >Schnelligkeit is det Janze, wenn du dir schlägst<, hörte ich Ickes Worte in meinem Kopf. >Kraft is jut, aba ohne Schnelligkeit is se nischt.< Das Ganze kam mir plötzlich wie ein Spiel vor; zwei Spieler stehen auf einem Brett. Man setzt und schlägt, man wendet jeden Trick an, man versucht jede Situation auszunutzen, immer weiter, bis einer matt ist, schachmatt ist, bis er nicht mehr kann, in seiner Ecke, auf dem Boden liegt. Bis die Schnauze blutet, die Augen zuquellen, die Knochen brechen. Bulles Gesicht war rot und schweißig. Über dem rechten Auge hatte er einen langen Riß. Seine Lippen waren blutverschmiert und dick wie bei einem Neger, er atmete keuchend. Er bewegte -3 7 -
sich wie ein Landeskranker, der Musik hört und dazu im Kreis umhertorkelt und immer langsamer wird, weil die Musik zu schnell ist. »Du elendes Schwein«, er keuchte, »du verdammtes Schwein, du...« Er stand auf dem Fleck und glotzte mich an. Dann fiel sein Blick auf ein paar Schuhe, die vor ihm an der Schrankecke standen. Er bückte sich schnell und nahm einen auf, faßte ihn vorne an der Spitze. Ich wich bis an die Wand zurück. Es war ein solider Schuh, ein Landesjugendheimschuh, mit dicken Nägeln an der Sohle, am Absatz befand sich ein zusätzliches halbrundes Eisen - wie ein Hufeisen. Er sprang auf mich los und traf mich an der Schulter. Es war wie ein Hammerschlag. Für einen Augenblick meinte ich, mein Arm sei ab, ich konnte ihn nicht bewegen, ich rutschte auf den Boden und trat in Bulles linke Bauchpartie, mit voller Wucht, ich wälzte mich weg und kam wieder hoch. Ich konnte meinen Arm wieder bewegen, es tat aber so weh, daß mir das Wasser in die Augen schoß. Bulle war auf die Knie gefallen und hielt sich mit beiden Händen seinen Leib. Sein Mund war weit aufgerissen, und im Gesicht hatte er eine käsige Farbe. Ich schlug mit dem anderen Arm zu, meine Faust traf mitten auf seine Nase. Es gab ein Geräusch, das mich an einen Hund erinnerte, der in seiner Hütte einen Knochen zerbeißt, und man steht hinter der Hütte, hört zu. Bulle kippte nach hinten, er zappelte auf dem Boden herum wie ein Epileptiker. Plötzlich begann er zu kreischen. Ich wunderte mich, wie hoch seine Stimme klang, weil er sonst immer tief sprach. Die Jungen johlten begeistert. »Los, mach ihn fertig!« »Er rührt sich doch noch!« »Tritt ihm in die Schnauze! Tritt doch!!« »Oh, ist das geil! « »Los, den Westerwald!« -3 8 -
Sie begannen gleich mit >Ooooooo du schöhöhöner...<, weil das die Stelle war, die sich am lautesten brüllen ließ. Doch ich schlug nicht mehr. Ich stand mit hängenden Armen da, konnte mich nicht bewegen. Als die Tagesraumtür aufflog, verstummten sie. Nur Bulle kreischte weiter. »Hilfe! Hilfe! Hilfäääää!!« kreischte er. Dabei tat ihm keiner was. Der Affe schrie auch, »Smolitzki!« schrie er. »Schrei hier nicht so rum. Du bist nicht allein hier! Außerdem schmierst du den ganzen Boden voll, du Ferkel!« Dann knallte der Affe die Tür wieder zu und war weg. Icke holte einen Putzlappen aus dem Waschraum. »Wisch oof, du Schween! Und halt die Fresse, sonst wird se ganz Matsch!« Am anderen Morgen saß ich am Kopfende des Tisches. Es ergab sich so, weil Bulle sich woanders hingesetzt hatte. Er war ein normales Gruppenmitglied geworden. Zu meiner Rechten saß Icke. Die Schälküche war ein langer schmaler Raum. An einer Wandseite stand eine Bank, auf der wir in einer Reihe saßen. Vor uns zwei Küchenwagen, halb vollgefüllt mit Wasser und dahinter der Erzieher. In die Küchenwagen mußten wir die geschälten Kartoffeln werfen. Der Erzieher war ein älterer, grauhaariger Mann. Meistens las er in einer Zeitung. Manchmal sprang er auf und guckte in die Wagen, ob die Kartoffeln noch da waren. Wenn einer von uns einen Witz erzählte, einen schweinischen Witz erzählte, dann las der Erzieher nicht, er tat nur so und hörte zu und grinste mit uns zusammen. Neben mir saß Manfred. Er lag in der Gruppe gegenüber, und schon am ersten Tag in der Schälküche hatte ich festgestellt, daß uns gleiche technische Interessen verbanden.
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Manfred war der zweitbeste im Heim, so erzählte man, im Autoklauen. Der Beste sollte im Fuchsbau liegen. Autos waren ein unerschöpflicher Gesprächsstoff, fand ich. Zudem konnte Manfred auch alles sehr anschaulich erklären. Wie man zum Beispiel bei einer Vollbremsung die Gänge herunterschalten mußte oder wie man beim Schleudern gegensteuerte, welche Autotypen man kurzschließen konnte und welche nicht. Manfred nahm eine ungeschälte Kartoffel zu Hilfe und ritzte mit dem Schälmesser die Kabelanschlüsse in die braune Schale. Er zeigte auf diese Weise, worauf es ankam, wenn der Wagen etwa noch einen Starterknopf hatte. Die Fabrikate der Lenkradschlösser wußte er auswendig, ein Lenkradschloß konnte schon ein großes Hindernis darstellen. Vor allem, wenn es ein gutes Fabrikat war. Kardinalfrage war jedoch immer: Was tun, wenn die Bullen kommen? Darüber konnten wir uns stundenlang unterhalten. Ein wichtiger Punkt! Manfred hatte schon die verschiedensten Situationen mitgemacht. Warum sollte man ein Auto klauen, wenn man bei der ersten Kontrolle geschnappt wurde? Das leuchtet ein. »Glaub mir, Benjamin, das ist die beste Lösung. Wenn du gestoppt wirst, geschieht es in den seltensten Fällen deshalb, weil vielleicht am Wagen was nicht stimmt, weil er geklaut ist oder so. Meist sind das Routinekontrollen: Papiere, dann gehen Sie einmal um den Wagen rum, und du kannst weiterbrausen. Und diese Routinekontrolle mußt du eben ausnutzen. Du bist also in Vorhand, wenn du angefahren kommst. Manchmal hast du auch Glück, daß vorher noch 'ne Seitenstraße kommt, wenn du die Kontrolle siehst. Dann machst du eben einen Umweg, stellst den Wagen irgendwo hin.« »Dann würde ich doch sagen, es ist das beste, wenn du den Wagen hinstellst und abhaust!?« überlegte ich laut. »Na sicher! Aber die sind schließlich auch nicht blöd. Erstens machen sie ihre Kontrollen ausgerechnet da, wo man sie im letzten Moment sieht, und zum anderen ist das Türmen an den Ausfallstraßen gar nicht so einfach, kann ich dir sagen! Du siehst plötzlich die Kelle: STOP! Dann schaltest du runter, in -4 0 -
den zweiten oder ersten, je nachdem was für'n Zahn du drauf hast, immer den Gang nehmen, der am schnellsten übersetzt. Also, du bist dann im ersten, weil du ja im Schritt ranfährst...«. »Ja, schon, aber beim Ford zum Beispiel ist der erste Gang nur zum Anfahren, da zieht der zweite erst richtig durch...«. »Ja. Gut. Dann kommst du eben im zweiten angefahren. Aber wenn du einen großen Hirsch hast, dann bist du im ersten. Den kannst du bis sechzig, siebzig treten, wenn es brenzlig wird, und dann bist du schon aus der Gefahrenzone raus. Also noch mal: Runterschalten, Kupplung festhalten und das Gas schön laufen lassen, aber so, daß es nicht auffällt. Wenn du fast heran bist, Kupplung los und Gas bis zum Boden durch. Bis die geschaltet haben, dauert es zwei bis drei Minuten. An der nächsten Ecke läßt du die Mühle stehen und haust zu Fuß ab. In der Stadt ist das kein Problem. Die freuen sich erstmal, daß sie den Wagen haben.« »Aber wenn ich nun ein guter Fahrer bin und ein schnelles Auto habe! Dann kann ich ihnen doch wegfahren!?« Manfred winkte ab. »Ich fahre nur schnelle Hirsche! Die sind gut, um schnell von der Kontrolle wegzukommen, doch auf die Dauer kannst du denen nicht wegfahren. Über Funk riegeln sie alles ab, und dann machen sie Treibjagd. Die sind doch auch froh, wenn sie mal 'ne Abwechslung haben. Du mußt darauf achten, daß du den Wagen so abstellst, daß sie nicht gleich wissen, in welche Richtung du getürmt bist. Wenn du ihn an den Waldrand stellst, dann sperren sie das ganze Gebiet ab, tja, und dann kannst du dich mal als Waldläufer versuchen, wenn sie dich mit'm Hubschrauber scheuchen!« Manfred lachte. »Entscheidend ist eigentlich nur der Moment, wenn du Gas gibst, wenn du durchstartest. Die halten sich nämlich an keine Spielregeln.« »Wieso Regeln?« »Na ja, die knallen dir hinten welche rein, wenn du ihr Stoppzeichen überfährst! « »Warum hinten?«
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»Mensch! Meinetwegen auch vorne oder in die Seite! Aber wenn du abhaust, dann sehen sie dich ja in der Regel von hinten.« »Aber sie schießen doch nicht, wenn du auch nicht schießt!« »Logisch tun sie das!« »Das glaube ich nicht.« »Mensch, Ben, du bist noch ganz schon grün!« »Du wirst frech!« »Na ja, ist doch wahr.« Manfred schwieg eine Weile. »Weißt du«, fuhr er dann fort, »ich hatte im vergangenen Jahr einen Kapitän hochgezogen, den habe ich fast zwei Wochen lang gefahren. Mit andern Nummern natürlich. Und dann komme ich durch so'n blöden Zufall in eine Kontrolle, ich rausche mit einem Affenzahn an den Typen vorbei. Kaum daß ich vorbei war, da flog mir hinten ein Ding rein und vorne aus der Scheibe raus!« »Du hättest jemand überfahren können, wenn du da durchrauschst.« »Ach was! Fahre schließlich seit meinem zwölften Lebensjahr!« »Aber ich denke, wenn sie schießen, dann schießen sie nur auf die Reifen?« »Reifen! Meinst du, ich hatte 'n Reserverad unter'm Autodach hängen!« »Und dann? Haben sie dich erwischt?« »Nee. Mir ist erstmal die Scheibe beschlagen. Die ist dann ganz weiß, alles so kleine Stücke sind das, und wenn du mit der Nase dicht rangehst, dann kannst du noch ein bißchen sehen. Sonst nicht. Habe mit 'ner Taschenlampe dagegengehauen, fiel die ganze Scheibe zusammen, ist mir in den Wagen geweht.« »Du hättest was ins Auge kriegen können.« »Hab ich nicht! Bin dann ohne Scheibe durch ein paar Straßen gefegt, auf einen Fabrikhof, habe die Karre abgestellt und nichts wie weg.« »Sie haben dich nicht erwischt?« -4 2 -
»Nee! Aber eine Woche später, wegen 'ner anderen Sache. Ich war doch von hier abgehauen, hatte den Laden mal wieder bis zum Halse satt!« Wer hatte das wohl nicht, dachte ich, den ganzen Tag Kartoffeln schälen. »Du, sag mal, der Mann, der mich hergebracht hat, der sagte, ich könne hier einen Beruf erlernen oder so...«. »Lernen ist gut«, Manfred grinste. »Ich will dir was sagen: Gerede! Alles nur Gerede! Das haben sie zu mir auch gesagt, das erste Mal. Das ist jetzt fast vier Jahre her. Wäre ganz gern Autoschlosser geworden. Bin hier unten mal 'n paar Wochen in der Schlosserei gewesen, da kann man nix lernen, das ist so'n Laden für Reparaturen, die in der Anstalt anfallen, Dachrinnen löten, 'ne Tür ölen, 'n Fahrrad vom Erzieher flicken. Ein Gutes hat die Sache wenigstens gehabt, ich kann mir jetzt aus jedem Stückchen Draht oder Blech einen Dietrich machen. Den Alten da unten, den interessiert nichts. Hauptsache, er hat seine Ruhe. Nur wenn 'ne Besichtigung kommt, dann wacht er auf. Wird dann alles gefegt und gewischt, und das Werkzeug wird nach Schaufensterart auf der Werkbank verteilt. 'N paar Typen feilen dann wie verrückt U-Eisen, das wird anschließend wieder unter die Bank gelegt. Möchte wissen, wieviele Generationen an dem Eisen schon rumgefeilt haben.« Manfred warf eine Kartoffel auf den Wagenrand, sie sprang hoch und dem Erzieher in die aufgeschlagene Zeitung. Der schrak zusammen und musterte uns der Reihe nach, dann las er weiter. »Was ist sonst noch«, erzählte Manfred weiter, »in der Tischlerei, da spinnt der Loom den ganzen Tag rum. In der Schneiderei kannste Hosen flicken und Hemden nähen, zwischendurch spielen sie sich aufm Lokus am Dödel rum. Sind jetzt sechs Mann da, alles Ei-tei-teis. Wie'n eingetragener Verein. Prost Mahlzeit. Außerdem möchte ich nie ein Schneider sein.« »Was machen die denn, die in die Stadt gehen?« »Ist verschieden. Zu irgendeinem Erzieher, da helfen sie der Frau beim Saubermachen. Teppiche klopfen. Oder zu einer -4 3 -
Firma, als Tageshilfsarbeiter. Als Zögling stehst du drei Stufen unter einem normalen Hilfsarbeiter. Ist sowieso witzlos, sich darüber aufzuregen«, er machte eine Pause und fuhr dann leiser fort, »das ist so und bleibt so. Ich mache bei der nächsten Gelegenheit 'ne Fliege, gehe türmen. Kannst dir die Sache ja mal überlegen.« »Wieso soll ich mir das überlegen, wenn du türmen willst?« »Na ja, vielleicht willst du mit.« »Ich weiß nicht. Die holen mich doch sofort wieder von zu Hause ab. Außerdem habe ich auch keine Lust. Da ist der Vater von meinem zweiten Vater, der ruft sofort die Bullen an oder das Jugendamt.« »Der was... wieviele Väter hast du denn -?« »Gar keinen. Mein Vater ist gefallen, im Krieg, und der, den ich jetzt habe, das ist ein Ersatzvater. Hat man doch so. Was ist da schwer zu verstehen?« »Also dann ist es dein Großvater, dein Ersatzgroßvater, der die Bullen anruft?« »Hmhm.« »Mensch, wer geht auch schon nach Hause«, Manfred lachte verächtlich, »den Fehler habe ich früher auch gemacht. Da kommt man vom Regen in die Traufe. Selbst ist der Mann! Die ganze Welt steht uns offen!« Er warf die nächste Kartoffel genau in die Zeitung des Erziehers, der sofort aufsprang und Manfred anschrie. »Was soll der Idiotenkram! Du Idiot!« Er setzte sich wieder. »Es war ein Versehen«, sagte Manfred einschmeichelnd und zu uns: »Kennt ihr übrigens den Witz von den beiden Idioten? Nicht? Paßt auf. Da sind zwei Idioten zusammen in einem Raum eingesperrt, die gucken sich andauernd an, und hin und wieder sagt der eine zum anderen: Du Idiot!« Die Jungen lachten nach ein paar Sekunden. Der Erzieher tat so, als lese er um das Loch herum, das die Kartoffel in die Zeitung gerissen hatte, doch in Wirklichkeit linste er hindurch und war wütend. -4 4 -
»Wir können erstmal bei meiner Freundin untertauchen, Benjamin«, fuhr Manfred fort, »und dann sehen wir weiter.« Ich wußte zwar nicht, was von seiner Freundin aus zu sehen war, doch Kartoffel schälen brauchte ich dort nicht, das stand fest. »Und wenn sie uns verpfeift, deine Freundin?« »Die? Uns verpfeifen? Mit der habe ich zusammen Brüche gemacht, sie hat Schmiere gestanden! Die ist schon in Ordnung. Sie hat 'ne eigene Wohnung, dufter Turm, kann ich dir sagen. Hat fast drei Monate gedauert, bis wir alles eingerichtet hatten. Ich werde heute abend mal zu euch rüberkommen. Wir machen 'ne Schachpartie, dann können wir die Sache ja in Ruhe besprechen.« Manfreds Plan war nicht schlecht. Daß mir das noch nicht aufgefallen war! Vielleicht lag es daran, daß ich mich noch nie mit Abhaugedanken beschäftigt hatte, dachte ich, und ob die Freundin von Manfred wohl Pfannekuchen machen konnte. An der einen Seite des Schälküchenraums befand sich die Tür zur Hauptküche. Die Tür war zwar immer auf, doch ungesehen kamen wir nicht durch die Hauptküche nach draußen. Aber es gab eine bessere Möglichkeit. An jedem Tag ging der Erzieher zusammen mit zwei Jungen in den Keller runter, Kartoffeln holen. Die Jungen nahmen eine Holztrage und gingen auf den kleinen Flur, durch den wir immer hereinkamen. Rechts war die Außentür zum Hof, dort gelangte man zum Neubau. Geradeaus über den Flur befand sich die Toilette, und links war die Tür, durch die die Jungen mußten. Die Tür führte in das Treppenhaus der Küchengebäude. Oben wohnten Erzieher. Die Tür war immer abgeschlossen, doch wenn der Erzieher mit den Jungen in den Keller ging, dann ließ er sie unverschlossen, Kartoffeln holen dauerte nicht lange, und die Tür im Treppenhaus, die nach draußen führte, auf die andere Seite des Gebäudes, die war ebenfalls immer zu. Zu den Erzieherzimmern ging es eine Treppe hoch. Unter dieser Treppe ging es in den Keller hinunter. Das Kartoffelnholen erfolgte immer um die gleiche Zeit. -4 5 -
Heute morgen war es wieder soweit. »Wollen mal runter!« sagte der Alte. Er ging auf den Flur und schloß die Tür zum Treppenhaus auf. Manfred und ich konnten es beobachten, da wir vorne auf der Bank saßen. Die Jungen mit der Trage gingen am Erzieher vorbei durch die offene Tür, er kam hinterher, machte die Tür zu. Manfred stieß mich. »Alles klar«, flüsterte er, »ich gehe zuerst, mache die Tür zu, dann kommst du sofort nach. Vergiß nicht, diese Tür zuzumachen, damit die anderen nichts spitzkriegen.« Er ging. Ich wartete einen Augenblick, folgte ihm. Er hatte bereits die Treppenhaustür geöffnet und lauschte. »Sie sind unten. Los!« Er drückte die Tür leise zu. Wir huschten über die Treppe nach oben und warteten auf dem letzten Absatz. »Ich frage mich, was wir machen, wenn jetzt ein Erzieher kommt, in sein Zimmer will oder so...«. »Will keiner«, Manfred zuckte die Achseln. »Pssst!« Will keiner, dachte ich, so'n Quatsch. Vielleicht hat einer sein Frühstück vergessen. Aha, denkt er dann, ich laufe mal schnell rüber, es liegt auf dem Tisch! Und dann haben wir den Salat. Aus dem Keller erklang Rumoren. Wir hörten die Jungen die Kellertreppe hochkommen, manchmal stießen sie mit der Trage an die Holzverkleidung. Dann sahen wir sie und dahinter den Alten. Er ging schnell voran und machte die Tür zum Schälküchenflur auf, ließ die Jungen passieren, machte zu. Wir hörten, wie er von der anderen Seite abschloß. Mit ein paar Sätzen waren wir unten, hasteten die Steintreppe zum Keller runter in den Raum, wo die Kartoffeln lagerten. Wir kletterten den Kartoffelberg hoch zu dem Kellerloch, das fast unter der Decke war. »Warte! Ich gucke erstmal!« Manfred schob sich in den Schacht und hob die daraufliegenden Roste an, drückte sie zur Seite. »Alles klar. Wir gehen bis zum Tor normal, wir dürfen nicht auffallen.« -4 6 -
Wir kletterten nach draußen und schlenderten über eine Rasenfläche bis zum Haupttor. Auf dieser Seite war alles sehr gepflegt. Auf der Straße begannen wir zu laufen, bis zum Landeskranken-hausgelände, dort fielen wir in Schritt. »Der kriegt'n Schlaganfall wenn er merkt, daß ihm zwei Mann fehlen«, sagte Manfred keuchend. »Wir haben Glück gehabt, daß niemand vom Sprungbrett zu sehen war. Die rennen hinterher, weißt du ja. Aber die sind auch nur stark, wenn sie im Rudel sind. Dann haben sie alle... Oha... ich werd verrückt«, Manfred stockte. »Das ist Reimers! Der dicke Reimers! Mensch, hau ab! Los!« Manfred rannte einfach quer in die Gärten. Ich hatte den Mann auch gesehen. Er war aus einem Hauseingang gekommen, mit einer Tasche unter dem Arm und sah uns im gleichen Moment wie wir ihn. »Haaalt!« brüllte er. »Stehenbleibäään! Wollt ihr wohl stehenbleiben!!« Ich stand wie angewurzelt, wollte laufen, doch sofort brüllte der Dicke: »Halt!!« Ich blieb stehen, wußte nicht warum. Manfred war bereits in den Sträuchern verschwunden. »Sofort kommst du hierher!« Er zeigte mit dem Finger vor sich auf die Erde. Ich zögerte. Immerhin war noch ein kleiner Zaun zwischen uns. Außerdem war er ganz schön fett, der Erzieher, er würde mich wohl kaum einholen. »Du sollst hierher kommen, hab ich gesagt!!« schrie er und machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Und ich ging zu ihm hin, neben ihm her zum Heim zurück, ohne daß er mich festhielt. Ich fragte mich, warum ich nicht weggelaufen war, ich konnte es immer noch tun, warum tat ich es nicht? Donner ist nie gefährlich. Nur der Blitz. Jetzt ist es sowieso zwecklos, weil Manfred weg war. Woher sollte ich wissen, wo seine Freundin wohnte. Wir hätten das vorher besprechen müssen, für alle Fälle. Dann hätte man sich eben getrennt und -4 7 -
bei der Freundin getroffen. Manfred ist ein alter Fuchs. Der lacht sich jetzt bestimmt kaputt. Scheiße! Ich bleibe einfach stehen, nur weil der Fette »Haaalt!« schreit. Der dicke Erzieher brachte mich ohne Fragen in den Neubau. Die Kartoffelschäler waren bereits eingerückt. Das war meist so, wenn wer abhaute. Ich durfte sofort meine Sachen packen und in den Fuchsbau umziehen. Icke half mir. Ich hatte nicht viel zum packen. »Na det is'n Wort«, sagte er, »in' Fuchsbau! Da liegen wenigstens Männa und nich so'n Kroppzeug wie hia! Ick werde dir folgen, wart ma ab. Irjenwat werd ick anstellen, damit se mir ooch rübabringen. Und so wie ick det sehe, dauert det gar nich lange.«
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2 Im Fuchsbau lagen die Füchse, hatte Icke mir erzählt. Die, die im Heim etwas angestellt hatten oder die das zweite und dritte Mal hier eingeliefert wurden, die kamen meist auf den Fuchsbau. Wenn Platz war. Der Fuchsbau war immer voll belegt. Ob das Haus seinen Namen nun durch die »Füchse« bekommen hatte oder aufgrund der verwinkelten Bauweise, das wußte niemand genau. Man brauchte erst ein paar Tage, ehe man sich zurechtfand und alles sehr einfach und übersichtlich zu sein schien. Über allem lag ein Hauch von Altem, Abgenutztem, man glaubte, den Staub riechen zu können. Doch in Wirklichkeit roch es nach Bohnerwachs, nach Seife, nach Qualm und manchmal nach vergammeltem Essen. Irn Fuchsbau war alles größer und wuchtiger. Im Neubau maßen die Bänke und Tische drei Meter - im Fuchsbau sechs. Dickes, dunkelbraunes Holz, in dessen Flächen unzählige Worte und Zeichen eingeschnitzt waren. Namen, verschlungene Herzen, einzelne mit Pfeil durch die Mitte, stilisierte Mädchenspalten, hie und da ein Penis, der seiner Länge und seinem Umfang nach aus der Tierwelt stammen mußte. Die Scheiben der Fenster besaßen die Stärke eines Zeigefingers, man konnte es an denen sehen, die zersprungen waren. Die Flügel ließen sich hier im Gegensatz zum Neubau öffnen. In den Fensteröffnungen befanden sich solide Gitter in Karo-Form. Wenn die Sonne schien, entstand ein hübsches Muster auf dem Fußboden. Im Fuchsbau gab es alles doppelt. Zwei Tagesräume, zwei Toiletten, zwei Waschräume, einer zum Duschen und einer für Schlägereien, zwei große Schlafsäle und noch einen dritten, sehr viel kleineren, doch der zählte nicht mit. Selbst die Erzieher verrichteten hier in zweifacher Ausfertigung ihren Dienst. Ein langer Dünner hieß Schade und war zugleich der Hausvater des Fuchsbaus, und ein mittlerer Dünner, der hatte einen unaussprechlichen Namen und wurde deshalb Tünnes genannt. Da hörte er drauf. -4 9 -
Es gab auch noch andere Erzieher, die zum Fuchsbau gehörten und die mit den Jungen tagsüber aufs Feld gingen oder im Haus Vertretung machten, doch sie zählten nicht. Meistens waren Schade und Tünnes da. Für jeden Tagesraum gab es einen Gruppenältesten, Dieser saß mit jeweils vier Jungen an einem kleineren Tisch, dem Ältestentisch. Die vier waren jene Jungen, die nach ihm kamen, die ihn vertreten konnten, falls er mal abhaute. Das kam vor. Benno hieß der Älteste in dem Tagesraum, in dem ich mir einen Platz gesucht hatte. Benno war ein langer, blonder Junge. Wenn er lachte, bildeten sich an seinen Mundwinkeln kleine Grübchen, und er lachte oft. Als Gruppenältester hat man immer gut zu lachen. Ich fand ihn nett. »Aha, du bist also der Benjamin vom Neubau«, sagte er abends, als er von der Arbeit reinkam. »Hast du schon einen Job?« »Job? Ich bin doch heute morgen erst türmen gegangen, das heißt, ich wollte.« Er nickte. »Weiß ich. Habe euch vom Tischlereifenster aus gesehen, wie ihr die Straße entlanggefegt seid. Reimers hat dich am Arsch gekriegt.« »War so'n Dicker... kam aus einem Hauseingang, ich glaube, ich habe mich ein bißchen blöd angestellt....« Benno winkte ab. »Mach dir keine Gedanken darüber. Wenn du den Laden hier richtig kennst, dann passiert das nicht mehr.« Er stopfte sich eine Pfeife. Er machte das mit den gleichen geübten Bewegungen wie mein Onkel. Der hatte aber das Pfeifenrauchen erst mit vierundfünfzig angefangen. Ich war froh, daß Benno mich nicht weiter ausfragte, wegen des Türmens. »Ist Richter weggekommen?« »Richter?« »Na ja, bist du doch mit abgehauen. Manfred Richter.« »Ach so. Ich wußte nicht, wie er mit Nachnamen heißt. Ja, der ist weg.« -5 0 -
»Ja, der Reimers war früher mal ganz gut«, sagte Benno, »als Catcher weißt du. Nur Kreisklasse oder nicht mal das, aber er konnte sich zur Wehr setzen. Heute ist nichts mehr mit ihm los. Zu fett. Zu langsam. Oder hast du schon mal gesehen, daß ein fettes, dickes Landschwein catchen kann?« Wir lachten herzlich. Nee, das hatte ich noch nie gesehen. »Schälküche und so'n Quatsch gibt es für Fuchsbauleute nicht«, fuhr Benno fort. »Hier sind sie auf der Ziegelei, auf dem Feld, oder sie gehen in die Stadt in irgendein Werk. Ich bin drüben in der Tischlerei, kann überall rumlaufen. Werde mal mit Loom reden, das ist der Alte da. Oder hast du keine Lust?« »Was heißt Lust«, ich zuckte die Schultern, »Ahnung hab ich keine, das ist es. Und mit raus läßt mich der Alte sicher nicht, wegen des Türmens...«. »Laß man, das regel ich schon. Der Job ist nicht schlecht. Samstags kannst du in die Stadt als Freigänger, na ja, in den ersten Wochen noch nicht, aber dann ganz sicher. Die brauchen Leute, die malochen können. Und nebenbei kann man immer ein paar Mark machen«, er kniff ein Auge zu und grinste. »Ich rede morgen früh gleich mit Loom, vielleicht kommt er rüber und wi ll dich beäugen, er zieht immer so'ne Schau ab. Wenn er dich fragt, ob du Ahnung hast, dann erzählst du ihm irgendeine Story, schon als Kleinkind im Sagemehl der väterlichen Werkstatt gespielt und so.« »Ich habe keinen Vater... jedenfalls keinen richtigen. Und eine Tischlerei hatte der auch nicht...«. »Ist doch egal. Sag einfach, du bist im Sägemehl gemacht worden. Mein Alter war Maurer, der hat dann in eine Möbelfabrik eingeheiratet, hat sich dann scheiden lassen. Mein Gott, mir tränt das Auge! Gar nichts war er. Dem Erzählen nach soll es ein Landhilfsarbeiter gewesen sein, der dann in die Ostzone abgehauen ist. Was weiß ich. Ich lebe eben und fertig.« Benno klopfte die Pfeife aus. »Ich habe da einen Onkel in Bayern, der hat ein Sägewerk, ich kenne ihn zwar nicht, aber meine Mutter hat mir von ihm erzählt...«. -5 1 -
»Das reicht schon für Loom«, Benno winkte ab, »komm her, setz dich mit an meinen Tisch. Werde mich erstmal waschen, will nachher noch einen Streifzug durchs Gelände machen, oder kannst du Skat spielen?« »Sicher«, sagte ich, und dann etwas langsamer: »Seit vier Wochen.« »Na also! Das haut schon hin.« Er ging in den Waschraum. So nach und nach trafen die anderen Jungen von der Arbeit ein. Die von der Feldkolonne mit erdverkrusteten Schuhen und dunklen Staubrändern an den Augen wie die, die in den Kohlen arbeiteten; die hatten auch Ränder an den Augen, die erst nach dem zweiten oder dritten Waschen weggingen. In den meisten Gesichtern war das gleiche zu lesen: Mistarbeit! Keine Lust! Solltest unsere Maloche mal sehen. Scheiße! Morgen mache ich blau. Sagen tat niemand etwas. Auch sah niemand den Erzieher an, wenn er an diesem vorbeiging. Sie hatten nur Augen für die anderen Jungen, die den ganzen Tag aus dem Haus gewesen waren, von denen einige herbeiwieselten und die schmutzigen Schuhe in Empfang nahmen. Doch bevor sie damit abtraten zum Putzen, mußten sie die Blicke beachten: Ein bißchen Anerkennung heischte der eine Blick, tiefes Verstehen verriet der Antwortblick, der Schuhputzerblick. Einige Jungen kamen auch nur von draußen an ein Fenster, ließen sich etwas zum Rauchen herausgeben und strolchten dann noch in der Gegend herum, bevor sie nach dem Abendbrot endgültig ins Haus kamen. Beim Abendbrot saß ich mit am Ältestentisch. Benno hatte mich mit einem der dort sitzenden Jungen ausgewechselt. Der Junge sah mich verstohlen und recht wütend an, wenn ich zu ihm hinsah. Aus seinen Blicken konnte ich lesen, daß die Sache noch nicht zu Ende war, daß das noch geklärt werden würde mit dem Platzwechsel. Dabei wollte ich gar nichts von ihm. Schließlich hatte Benno das Plätzetauschen angeordnet. -5 2 -
Ich würgte mein Brot runter, auf das ich die Margarine gleichmäßig verkratzt hatte, ich fühlte mich unwohl. Es war so, als ginge ich zur Schule, wenn man keine Hausaufgaben gemacht hatte. Ich wusste dann ganz genau, daß ich das vor dem Lehrer nicht vertuschen konnte, weil der jedes Heft in der zweiten Stunde durchsah, danach abzählte und all die aufrief, die ihr Heft nicht abgegeben hatten. Das machte er immer streng nach dem Alphabet. Das fing bei mir an. >HoIberg<, sagte er dann, >erkläre mir in präzisen Sätzen, was dich veranlaßte, deine Hausaufgaben nicht zu machen.< Nach meiner Erklärung, die nie stichhaltig war und ein Nachspiel hatte, fuhr er dann fort. >Brümmer... Clausen...<. Auf dem Schulweg überlegte ich jedesmal nach einem besonders guten Entschuldigungsgrund, obwohl es selten vorkam, daß ich die Schulaufgaben nicht gemacht hatte. Ich beschloß, die Angelegenheit sofort nach dem Essen zu regeln. Wenn ich mich auf Benno berufen würde, dann sah das nach Drückeberger aus, als sei ich feige, und das war nicht gut. Der Junge stand zusammen mit einem anderen vor den kleinen viereckigen Wandschränken. Die Schränke waren halb in die Wand eingelassen und sahen aus wie Schließfächer. Etwa die Hälfte der Jungen besaß so ein Fach. Dort konnte man die persönlichen Dinge unterbringen und mit einem Vorhängeschloß sichern. Ich ging zu ihm rüber. Der andere Junge sah das und trat zur Seite. »Ist was?« fragte ich meinen ehemaligen Platzinhaber. Das war die kürzeste Einleitung und auch die gebräuchlichste, die einer Schlägerei vorausging. Ich hätte auch sagen können: »Was ist!?« Aber dann war die Betonung anders, heftiger, in der Regel sagte man das nach dem ersten Schlag oder nach den ersten Schlägen, wenn man die Oberhand behalten hatte. Der Junge guckte mich an.
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Er schien sich noch nicht ganz schlüssig zu sein, er wollte etwas sagen, doch ich schlug zu. Ich schlug einfach zu, in sein Gesicht. Er bumste mit dem Kopf gegen eine Schranktür, gegen ein Schloß und hielt sich mit blödem Gesichtsausdruck an der Wand fest. »Was ist!?« stieß ich hervor, ich stand geduckt vor ihm. »N-nein, nichts«, sagte er und knickte plötzlich in den Knien ein. Er saß in der Hocke, zusammengekrümmt und hielt sich mit beiden Händen Kopf und Nacken, als erwarte er noch mehr Schläge. Doch ich machte nichts. Er guckte vorsichtig hoch, und als er mich normal dastehen sah, nahm er die Hände weg. Sie waren blutig. Das Blut lief ihm seitlich am Hals runter. Ich hatte ein Würgen im Hals. >Du blutest, Mensch zeig mal, so habe ich das nun auch nicht gemeint<, wollte ich sagen. Doch ich sagte nichts. Ich würde weinen müssen, wenn ich jetzt etwas sagte. Ich drehte mich wortlos um und ging zu meinem Platz. Meister Loom war ein kleiner dicker Mann mit einer ganz nackten Glatze. Die Glatze war von einem alten Hut bedeckt, der ehemals braun gewesen sein mußte. Den Hut nahm Loom nur selten ab, nicht einmal beim Grüßen. Dann tippte er nur mit zwei Fingern an die Krempe. Es sei denn, Loom begegnete dem Abteilungsleiter. Dann flitzte eine Hand hoch, Daumen, Zeige- und Mittelfinger nahmen den Filz in einen Klemmgriff und zogen ihn mit einem großen Bogen bis in Bauchnabeltiefe. Der Abteilungsleiter konnte dann reingucken, in Looms Hut. Doch außer einem verschwitzten Schweißrand gab es da nichts zu sehen. Der Abteilungsleiter guckte auch nie rein, er nickte Loom nur flüchtig zu - worauf Looms hutbeschwerte Hand noch mal nachfederte, dann war er vorbei, und Loom drückte sich den Filz wieder auf die Glatze.
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Loom hätte auch Chruschtschow sein können, wenn er im schwarzen Anzug herumgelaufen wäre. Doch Loom lief den ganzen Tag in einem grauen Kittel durch die Gegend, unter dem alten Hut. War es mal im Sommer so heiß, daß der Filz vollkommen durchgeweicht war und Tropfen absonderte, dann konnte es vorkommen, daß Loom ihn abnahm und an einen Nagel hängte, dicht neben der Werkstattür. Das Hutband wies unzählige, durcheinanderlaufende Ränder auf, wellenförmige und gezackte, einige waren weißlich und hatten Ähnlichkeit mit der Skizze eines Miniaturgebirges. Jeder konnte sehen: Loom schwitzt oft. Auch wenn er gerade nicht schwitzte. Meister Loom trug eine Brille. Ein rotbraunes Horngestell mit dicken Glasern. Dahinter standen seine Augen vor, groß und glasig. Von der Seite gesehen waren die Augen nicht so groß, standen nur vor, sie drängten sich zwischen die Augenlider. Als ich am ersten Tag in der Tischlerei erschienen war, hatten mich die Loomschen Augen prüfend durch die Brille gemustert. »Du bist also der Holberg, was? Benno hat mir schon erzählt, du hast also Ahnung und so...«. »Ja, das ist so, mein Onkel hat ein Sägewerk und...«. Doch Loom hatte abgewunken. »Ja, ja, weiß ich. Solche Leute brauche ich.« Seitdem waren zwei Monate vergangen. Ich arbeitete mit Benno zusammen, und wir konnten überall herumlaufen. Wenn irgendwo im Heim eine Tür klemmte oder eine Scheibe kaputt war, dann schickte Loom uns los. »Benno! Schnapp dir den Kasten! In der Verwaltung ist ein Schrank im Eimer. Nimm Benjamin mit. Ich will euch aber noch vor Feierabend wiedersehen!« sagte Loom dann. Loom redete Benno und mich mit dem Vornamen an. Das lag daran, daß er uns bei gewöhnlichen Reparaturen alleine losschicken konnte. Benno hatte im Verlauf seiner Heimzeit so alles kennengelernt, was es zu reparieren gab. Loom brauchte nur »anzuordnen«. Das machte er im Sitzen, ohne uns dabei -5 5 -
anzusehen, und das verpflichtete ihn ein bißchen. Loom tat so seine Verpflichtung ab, und manchmal dazu noch mit ein paar vertrockneten Zigarren. Wir nahmen den Werkzeugkasten in die Mitte, und Loom schickte uns aus dem Werkstattgebäude. In der Verwaltung klemmte eine Tür an dem Schrank, der »im Eimer« war. Benno klemmte einen kleinen Holzkeil unter eine Schrankecke, und der Schrank war repariert. Das war alles. Danach schlenderten wir in die Gärtnerei und stellten den Werkzeugkasten im Gewächshaus ab, so daß es den Anschein hatte, als seien wir im Gärtnereigelände beschäftigt. Hinter dem Gewächshaus gab es eine hohe Hecke, die das Anstaltsgelände an dieser Seite begrenzte. In der Hecke waren Löcher und Lücken, wir schoben uns durch eine Lücke und befanden uns auf den Feldern, die hinter dem Heimgelände begannen. In der Ferne war die Autobahn, die das erste Etappenziel war, wenn einer nach dieser Seite türmen ging. Wenn er trotz Verfolgung bis zur Autobahn kam, dann hatte er es geschafft. Hinter der Autobahn waren Wälder, eine weitere Verfolgung wäre zwecklos gewesen. Zur Linken befanden sich eine Reihe Tongruben in einem unwegsamen Gelände. Es gehörte zu der Ziegelei, die unten am Bahndamm lag. Eine zweite Ziegelei gab es hinter dem Mädchenheim. In den Tongruben stand klares, kaltes Wasser, und wir kraulten und erfrischten uns darin. Nach einer guten Stunde trafen wir wieder bei Loom ein. »Alles in Ordnung?« fragte er. Wir nickten. »Ihr habt gebadet«, fuhr er dann fort, unsere Haare musternd. »Ich habe euch schon hundertmal gesagt: Baden ist verboten! Und das auch noch während der Arbeitszeit! Wo wir soviel zu tun haben! Wir wissen nicht aus noch ein! Wenn das der Chef mal sieht...« Es blieb immer unausgesprochen, was dann wohl wäre. Wir nickten nach jedem Satz einmal kurz, aus Routine. Wir hörten nicht hin. Loom sagte immer das Gleiche. In der Werkstatt arbeiteten noch drei Jungen. Und ein älterer Mann. Das war ein Tischler. Er wohnte in der Stadt und kam jeden Morgen und ging jeden Abend, er war bei der Anstalt -5 6 -
angestellt. Mal machte er neue Bänke, dann neue Tische oder einen Schrank, und bei der Arbeit gingen ihm zwei der Jungen zur Hand. Der dritte leimte beschädigte Stühle oder schlug sie ganz kaputt, wenn Loom es nicht sah. Er reparierte andere Sachen, die die Erzieher brachten. Kinderspielzeug, eine Gartenbank streichen oder ein Frühstücksbrett leimen. Zu diesen Reparaturen standen ihm sechs Hobelbänke zur Verfügung. Er brauchte doch nur eine, manchmal. Die Hobelbänke standen im Bankraum. Der andere Raum, in dem der Tischler arbeitete, das war der Maschinenraum. Dort standen eine kleine Kreissäge und eine Handhobelmaschine, die umgebaut war und als Tischhobel benutzt wurde. Der Tischler, er hieß Meier, hatte einen Schrank mit besonderem Werkzeug. In einer Ecke stand ein Teekocher auf einer Heizung, daneben befand sich ein braungerändertes Waschbecken. Unter einem der beiden Fenster war ein langer Tisch, vor dem Tisch ein dick gepolsterter Drehschemel, von dem aus Loom den größten Teil seiner Anordnungen traf. Hier war sein Hauptquartier. Auf den Tisch war eine glatte Hartfaserplatte genagelt. Sie mußte ständig frei sein, dort durfte nichts herumliegen. Jedesmal wenn Loom vor dem Tisch saß, strich seine Hand mehrmals über die Fläche, um sich von der Glätte und der Sauberkeit zu überzeugen, er machte das schon unbewußt. Auf diesem Tisch schnitt Loom Glasscheiben zu. Das tat er sehr oft. Glas war im Jungenheim wie im Mädchenheim sehr zerbrechlich, und es vergingen selten zwei Tage, an denen keine Scheibe zugeschnitten werden mußte. Loom wischte dann ein paarmal sorgfältig über die Tischfläche, krümmte sich ächzend zusammen und blickte, ein Auge an der Tischkante, über die Fläche hinweg. Doch das letztere war ohne Bedeutung, denn einen kleinen Nagel oder einen Stift übersah er. Vielleicht wischte er deshalb so sorgfältig, auch noch mal, nachdem er geguckt hatte, gewissermaßen ein Abschlußwischen. Er wollte vollkommen sicher gehen, bevor er die Scheibe auf den Tisch legte. -5 7 -
Nach dem letzten Wischen und dem Auflegen der Scheibe gelang es uns manchmal, einen dieser kleinen Nagelstifte auf den Tisch zu legen. Es dauerte eine Weile, bis Loom die jeweilige Größe der Scheibe vermessen hatte. Dann legte er ein Lineal an und drückte dieses fest auf das Glas, um mit dem Glasschneider daran entlangzufahren. »Knack« machte es, und Loom fluchte wie ein Holzknecht, weil die Scheibe gesprungen war. Er ahnte zwar, daß wir damit etwas zu tun hatten, doch er konnte keine Erklärung finden. Einmal hatten wir den Trick mit dem Nagel dreimal hintereinander ausprobiert. Loom war dreimal hintereinander reingefallen und so mißtrauisch geworden, daß er uns alle in den Bankraum für die Dauer des Glasschneidens geschickt hatte. Auch den Tischler Meier schickte er raus, der sich darüber mehr ärgerte als Loom über die kaputten Scheiben. Sonst lief Loom die meiste Zeit im Heim herum. Hier mal gucken und da mal gucken, ob was erneuert werden mußte, was nicht der Fall war. Er notierte alles gewissenhaft auf einem Notizblock. Abends riß er den Zettel ab und spießte ihn auf einen Nagel über dem Glasschneidetisch. Nach zwei Wochen war der Nagel voll, und Loom riß die Zettel ab, warf sie weg, weil er Platz für neue brauchte. Loom klönte viel mit anderen Erziehern und da er dieses Klönen mit weit ausholenden Gesten der Hände unterstrich, mit Schulterrollen und ruckartigen Kopfbewegungen, hatte es von weitem den Anschein, als hielte er eine besonders wichtige Rede, ein dringendes Gespräch, das sich nicht aufschieben ließ. Das alles dauerte seine Zeit. Manchmal reparierte er auch eine Schublade für den stellvertretenden Chef, oder beim Abteilungsleiter klemmte ein Fenster. Das war eine außergewöhnliche Reparatur, und Loom erledigte sie grundsätzlich selbst, wenn er uns nicht unbedingt brauchte. Der Abteilungsleiter war der Hausvater aller Hausväter. Er war der dritthöchste in der Anstalt, er teilte auch die -5 8 -
Freigängerarbeiten ein. Nach seinem Gang zu schließen, hatte er ganz schön was zu sagen. Bei ihm übernahm Loom eine Reparatur selbst und beim Küchenchef, obwohl dieser nur ein gewöhnlicher Erzieher war. Vielleicht kannte Loom ihn gut, denn sie waren gleich dick. Benno saß auf einer Hobelbank und baumelte mit den Beinen, er drehte sich eine Zigarette, während ich es mir in einem Sessel bequem gemacht hatte. Der Sessel stand schon drei Wochen in der Werkstatt und sollte repariert werden. Doch keiner wußte, wem er gehörte. »Heh! Ihr beiden!« Loom kam aus seinem Hauptquartier. »Verflixt noch mal! Ich habe euch schon hunderttausendmal gesagt: Hier wird nicht geraucht!« »Da hat er recht«, nickte Benno. »Los«, fuhr Loom fort und überhörte Bennos Feststellung, »schnappt euch den Kasten, Kitt und so weiter! Benjamin, du kommst mit runter in den Keller, Scheiben raufholen!« Loom verschwand auf der Kellertreppe nach unten. »Schätze, wir gehen zu den Miezen«, sagte Benno, »dann tut er immer unheimlich wichtig. Sag mal, Ben, du hast gar keine Mieze da oben, wie?« »Nö.« Ich erhob mich, um Loom in den Keller zu folgen. »Wir hätten schon längst mal abends hochgehen können, ich meine du auch. Nach Feierabend. Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen, sie spielen dann immer verrückt, sperren den Freigang.« »Von mir aus.« Unter dem Fußboden röhrte Looms Stimme. Er wollte etwas von mir. »Ich werde ihn mal anstoßen, damit wir samstags in die Stadt gehen können. Wenn wir Freigänger sind, dann haben wir Zeit genug«, Benno trat seine Kippe aus, »erinnere mich dran, daß ich noch schnell am Fuchsbau vorbeiflitze, Briefe mitnehmen.« Looms Stimme wurde lauter. Ich ging nach unten. -5 9 -
Der Weg zum Ascherberg, zum Mädchenheim, betrug nur einoder zweihundert Meter. Man ging aus dem Haupttor, dann rechts einen ausgetretenen Feldweg entlang, am Neubau vorbei; hinter dem Neubau fiel das Gelände zu den Tongruben ab, an der anderen Seite befanden sich kleine Schrebergärten. Dann kam eine Müllkippe mit einem großen Schild: Müll abladen verboten. Der Stadtdirektor. Doch der Direktor schien selten an diese Stelle zu kommen. Hinter der Müllkippe begann ein kleines Wäldchen mit Büschen, der Weg schlängelte sich hindurch und endete an einem Verkehrsschild: Wildwechsel. Hier war die Bundesstraße. Gegenüber befand sich der Wald, den ich schon von weitem kannte, in dem sich das Mädchenheim befand. Vielleicht hatte früher das alles mal zusammengehört, bevor die Bundesstraße gebaut worden war. Wir überquerten die Straße. Auf der anderen Seite ging es einen steilen Pfad hoch. Loom schnaufte in unserer Mitte. »Hast du auch alles mitgenommen?« fragte er Benno und schaute flüchtig auf den Werkzeugkasten, den dieser trug. Und, ohne eine Antwort abzuwarten, zu mir: »Mensch, paß doch auf! Die Scheiben!« Dabei war gar nichts los. Und zu sich selbst: »Mist, verdammter.« Er war sichtlich nervös, fand ich. Benno grinste verstohlen. Wir hielten vor einer braunen Holztür, und Loom drückte auf einen Klingelknopf aus Messing, nahm den Finger etwas hoch und drückte sofort wieder. »Eine Leitung haben die«, er fluchte, »als ob wir den ganzen Tag nichts zu tun hätten!« Selbst wenn der Pförtner nach dem ersten Klingelzeichen zum Tiefflug gestartet wäre, hätte er noch nicht da sein können. Loom klingelte wieder. »Und daß ihr mir nicht durch den Bau rennt! Wir setzen die Scheiben ein und dann nichts wie weg. Wir haben noch 'ne Menge Arbeit.« Ich überlegte, was das wohl für eine Arbeit sein könnte. Wir hatten den ganzen Vormittag rumgesessen und die Zeit damit verbracht, daß wir mit einem Wurfpfeil auf eine Schranktür geworfen hatten. An der anderen Türseite klirrten Schlüssel. -6 0 -
»Ah, sieh da! Die Herren Tischler. Das ist ja schön, wir hatten schon gar nicht mehr mit Ihrem Erscheinen gerechnet, Herr Loom.« »Ja, ja, ich weiß«, erwiderte Loom und machte zwei kleine Diener. Sein Gesicht versuchte zu lächeln. Die Erzieherin lächelte richtig. Das gefiel mir besser. Sie war eine junge Frau. Sie ließ uns in den Innenhof. »Und der Benno«, sagte sie, »lange nicht gesehen. Ich glaube, ich schließe unsere Mädchen irgendwo ein, was?« »Hö hö hö«, meinte Loom, als fühlte er sich angesprochen. Benno grinste und räusperte sich vornehm. Dann winkte er einigen Mädchen zu, die in den Fenstern lehnten und auf den Hof blickten. »Laß den Blödsinn«, sagte Loom ungehalten. »Ich mach doch gar nichts!« Wir gingen auf ein Portal zu. Das Gebäude hatte unzählige Erker und Türmchen und umschloß den Innenhof halbkreisförmig. Die unteren Fenster waren fast alle vergittert. Von einer kleine Diele kam man in eine große, von der eine Menge hoher Doppeltüren abzweigten. Die Wände waren mit Holztafeln versehen, hinter einer offenen Tür führte eine Treppe nach unten; am liebsten hätte ich mir alles angesehen, das ganze Haus von unten bis oben. Ich mochte alte Häuser und ihre Geschichte. Die Erzieherin brachte uns durch eine der hohen Türen in den Tagesraum. Das war eine große Halle, ein Saal. An den Wänden entlang standen Tische mit hübschen Tischdecken. An den Wänden hingen Bilder, und ein großer, gestickter Wandvorhang neben einem gemauerten Kamin. In der Kaminöffnung befanden sich zwei Bretter mit Büchern. An der einen Saalseite führte eine breite Treppe nach oben auf eine Galerie. Die Fensterfront war ein Erker, halbrund nach außen gebaut. In der Mitte waren zwei Scheiben kaputt. -6 1 -
»An die Arbeit, Leute«, sagte Loom forsch und schaute sich die Bilder an den Wänden an. Wir packten unser Werkzeug aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Loom die Bilder noch nicht kannte. »Mensch, hoffentlich zieht er bald Leine«, murmelte Benno, »ich muß die Briefe loswerden.« Die meisten der Jungen besaßen hier oben im Mädchenheim eine Freundin, mit der sie sich Briefe schrieben. Die Briefe wurden heimlich befördert. Die Jungen, die in der Stadt oder auf der Ziegelei arbeiteten, nahmen die Post mit, auch die Küchenjungen, oder die Briefe wurden von dem mitgenommen, der gerade hier zu tun hatte. Deshalb unterlag die Beförderung auch keinen genauen Zeiten. Man konnte abends um acht ebenso einen Brief erhalten, wie morgens um acht oder mittags oder gleich drei Briefe auf einmal. Die Mädchen waren sehr fleißig mit Schreiben und viele der Jungen auch. Es konnte natürlich auch mal vorkommen, daß ein Junge vergaß, einen Brief abzugeben, dann holte er es später nach. Das war schlimm. Doch schlimmer war es, wenn der Junge sich dann nicht mehr traute zuzugeben, daß er den Brief vergessen hatte, wenn er ihn zerriß und verschwinden ließ. In der Regel dauerte es nie länger als eine Woche, bis so etwas herauskam. Der Schreiber des Briefs ging dann jeder Spur nach. Vermutungen, Aussagen, Indizien, und schließlich hatte man denjenigen erwischt, der den Brief unterschlagen hatte. Die Hauerei, die dann fällig war, begann ohne jede Einleitung, und wenn der Empfänger nicht in der Lage war, es mit dem Schuldigen aufzunehmen, dann besorgte er sich einen Stärkeren, der die Sache für ein kleines Entgelt bereinigte. Ich blinzelte zu Loom rüber, der schon eine ganze Weile vor einem Bild stand und es anstarrte, manchmal drehte er seine Augen schräg nach oben. Er machte das ohne Kopfbewegung.
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Dort oben standen zwei Mädchen auf der Galerie. Sie schauten uns zu. Jetzt kam ein drittes Mädchen. Looms Augen drehten sich erneut nach oben. Er mußte das Brillenglas bis auf den letzten Millimeter ausgenutzt haben, weil er das Kommen des dritten Mädchens sofort festgestellt hatte. Ohne Brille sah Loom keine drei Meter weit. »Benno! Schatz!« rief sie und winkte. Loom zuckte leicht zusammen und wandte jetzt den Kopf mit den Augen, dann blickte er wieder auf das Bild. »Ist das deine Mieze, die Evi?« fragte ich überflüssigerweise, denn Benno hatte mir schon Fotos von ihr gezeigt. Evi glich ihnen aufs Haar. Benno nickte und machte nach oben hin Zeichen. Inzwischen waren es acht oder neun Mädchen geworden. Sie standen in einer Reihe an der Brüstung und lehnten sich übers Geländer, wie Matrosen über eine Reling. »Benno! Schick Papa Loom doch mal aufs Klo, dann komme ich schnell runter, ja!?« Loom hörte nicht hin. Ich sah, wie er rot anlief. Die Reihe der Mädchen lachte und kicherte, sie flüsterten durcheinander. Benno stöhnte gequält. »Papa Loom«, tönte eine andere Stimme, »was ist der Unterschied zwischen einer Mühle und einem Klo?« Herzliches Gelächter auf der Galerie. Loom schluckte etwas runter und drehte sich um. »Wenn ihr nicht gleeeiiich weg seid, da oben«, röhrte er, wobei er das >gleich< ganz langsam sprach und in die Länge zog, damit es unheilvoll klingen sollte. »Wird er denn hart, Dickerchen?« »Also das... das ist doch...!« Loom fehlten die Worte. Ich fand ihn gar nicht mehr so bieder, wie er immer tat, weil er alles so schnell begriff.
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»Ich werde... werde euch...«, er sprach nicht aus, was er wollte und machte empört zwei Schritte in Richtung Treppe. »Au ja, mach es doch!« »Aber schön langsam! « »Schwitzt du doll?« Loom machte zwei weitere Schritte. Wir fanden das sehr spaßig. Die Mädchen auch. Es mochten jetzt zwanzig sein. »Kinder! Hand aufs Höschen, Papa Loom will an unser Döschen!!« »Ahhhhrrrr«, machte Loom und stürmte auf die Treppe zu, keuchte bis zur halben Höhe, dort blieb er stehen. Ich fragte mich, was er da oben wollte. Schließlich konnte er keine übers Knie legen. Die Mädchen waren lachend und kreischend auseinandergestoben. »Frechheit«, schnaubte Loom. Er stand auf der Treppe und glotzte nach oben. Dann noch einmal: »Frechheit!« Er kehrte wieder um und stellte sich unten im Saal vor ein anderes Bild. Auf der Galerie blieb es still. Er linste ein paarmal hoch, doch niemand war zu sehen. »Eh, ich gehe mal eben 'n Schluck Wasser trinken«, sagte er zu uns, »daß ihr mir ja keinen Blödsinn macht! Benno! Benjamin!« »Aber Meister Loom!« erwiderten wir zweistimmig. Loom verschwand durch eine der Türen, er war kaum weg, als Evi die Treppe heruntergehuscht kam. »Mensch, Benno!« Sie umarmten und küßten sich ungeniert, und Benno faßte ihr von hinten unters Kleid. Ich sah aus dem Fenster. »Mmmmmhmmmm«, machte Evi, »nimm die Hand aus meinem Schritt. Ich muß wieder hoch.« Ich drehte mich um. Auf der Galerie war wieder alles voll, doch die Mädchen blieben still. Sie blickten nur runter. Ich dachte an den Hühnerstall von Lohbrinks. Das war ein Nachbar meiner Oma. Dort hatte ich mal beobachtet, wie ein fremder Hahn über den Zaun geflogen kam. Die Hühner gackerten wie verrückt und flatterten, doch der Hahn ließ sich gar nicht beeindrucken. Er rannte auf ein Huhn zu, hackte -6 4 -
drauflos und die anderen Hühner waren alle still, sie guckten nur blöde, manche hatten den Kopf auf die Seite gelegt. Als der Hahn fertig war, ging das Gegacker wieder los. Benno gab Evi die Briefe. »Du hast dich solange nicht sehen lassen«, sagte sie hastig, »kommt doch abends mal hoch«, sie sah mich genauso an wie ihn. »Die alte Geschkesche ist im Urlaub. Das ist die schlimmste Glucke! Tschüs erst mal. Und denk dran, was ich dir geschrieben habe!« Sie lief nach oben. Ein bißchen Zeit wäre noch gewesen, denn Loom kam später. Hinter ihm eine Erzieherin. Sie schaute zur Galerie hoch, wo niemand war, zuckte die Achseln und ging wieder weg. Eigentlich alles hübsche Mädchen, dachte ich. Kommt doch abends mal hoch, hatte Evi gesagt. Warum hatten wir das eigentlich noch nicht gemacht! Auf dem Rückweg gab Loom jedem von uns eine Zigarre. »Aber erst nach Feierabend rauchen«, sagte er und steckte sich seine an. »Meine Herren, ist das eine Bagage da oben«, er seufzte, »wer war das denn, Benno, die dich da einfach so angequatscht hat?« »Was weiß ich. Ich kenne die Weiber auch nicht. Die kennen einen eben, und dann machen sie ihren Blödsinn«, Benno machte eine Handbewegung, als wollte er sagen: Ach, die! Die interessieren mich nicht. Warum sagte Benno sowas? Die Evi war doch sehr nett. Und er redet von >die Weiber<, und >sie machen ihren Blödsinn.< Na ja, ich kenne sie ja nicht, nur so, vom Sehen, aber man kann nie sagen, daß alle nichts taugen, daß alle schlecht sind. Hm. »Schöner Blödsinn«, knurrte Loom, und es klang sofort wieder empört. »Mensch, da macht man eben mit, Meister Loom«, sagte Benno ungehalten, »oder meinen Sie wirklich, ich würde mich
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ernsthaft mit so einer einlassen! Habe schließlich 'ne Verlobte zu Hause! Sauberes Mädchen!« Ich glaubte mich verhört zu haben. Das hätte genauso gut von Loom sein können. Und das mit der Verlobten war mir ganz neu. Wie kann er überhaupt von zu Hause reden, wenn er nicht weiß, wer sein Vater ist. »Meine ich doch!« sagte Loom und ging mit kräftigen Schritten zwischen uns einher, die Hände tief in die Taschen seines Kittels vergraben, unter dem der Bauch hervortrat. Den Kopf aufrecht, mit dem etwas nach hinten geschobenen Hut obendrauf, und in dem vorstehenden Teil des Doppeldoppelkinns stank die qualmende Zigarre. »Die taugen alle nichts«, sagte er, »aus so einer Anstalt! Durch die Bank weg. Enden alle mal in der Gosse! Alles Abschaum in den Anstalten, gewissermaßen Landesabschaum, hö hö hö.« Benno nickte bestätigend und lachte ein Stückchen mit. Merkte der denn nichts!? Der war doch nicht blöd, der Benno! Der Loom meint uns genauso wie die Mädchen. Worin unterschieden wir uns von ihnen? Zöglinge waren wir alle. Landesabschaum! Über sich selbst lacht er, der Benno. Er muß doch merken, wie der Loom das meint, er muß das doch merken! Ich blickte Loom verstohlen von der Seite an und hatte plötzlich den Wunsch, ihm ins Gesicht zu schlagen, mitten hinein in dieses wohlwollende behäbige Zigarrengesicht, in diesen roten Ball, der mit Schweißtropfen besprenkelt schien, in diesen plumpen Rugbyball, den er mit einer Doktorenbrille schmückte. Es blieb Looms Kopf, mit dem labberigen Eingeborenenmund, aus dessen wulstiger Öffnung Worte kamen wie: >Ihr seid brauchbare Jungs< oder >Auf euch kann ich mich verlassen< und >Wenn ich euch nicht hätte!< Ich hatte wieder ein Gefühl, das weh tat. Ich wußte nicht wo. Ich würde losheulen, wenn mich jetzt einer ansprach. Ich wartete richtig darauf, daß Benno oder Loom mich ansprechen würde, daß mich einer von ihnen irgendwas fragen würde, auch wenn es ganz belanglos war. Doch bis zum Heim redete niemand mehr. Da war es vorbei. -6 6 -
Nach Feierabend ließen wir uns aus dem Fuchsbau schließen, bummelten auf Umwegen in die Gärtnerei und kletterten in einem günstigen Augenblick in die Kirschenbäume. Dort turnten schon andere Jungen herum, ohne daß man sie hörte. Es waren die Jungen, die auf freien Häusern lagen, oder die in der Stadt arbeiteten. Wenn man Freigänger war, spielte es keine Rolle auf welchem der Häuser man lag. Bei uns wußten die Erzieher, daß wir den ganzen Tag alleine herumliefen, und wenn wir abends sagten, daß wir noch mal schnell zum Sprungbrett müßten, dann ließen sie uns eben raus. Und wenn mal ein ganz genauer Erzieher im Fuchsbau Dienst machte, dann ging man zum Essen gar nicht erst rein, sondern blieb bis zum Dunkelwerden draußen. Das Essen hoben die anderen schon auf. Die Kirschen waren noch nicht richtig reif, doch was machte das. Ein Junge stand am Eingang des Gewächshauses und paßte auf den Gärtner auf. Der muddelte jeden Tag bis spät abends dort herum, er arbeitete mit einem Auge und bewachte mit dem anderen das Obst. Sowie er uns bemerkte, kam er wie ein Wilder angerannt. Der Aufpasser ließ ihn dann bis an die Tür kommen - das war der kürzeste Weg zu den Obstbäumen und schlug diese im letzten Moment vor der Gärtnernase zu, wobei er den schweren Riegel vorschob, an dem nachts ein Vorhängeschloß hing. Der Gärtner fiel immer wieder auf den Trick herein. Er mußte dann durch das ganze Gewächshaus zurücklaufen, bis zur entgegengesetzten Tür. In dieser Zeit waren wir weg. Einmal war er so wütend darüber gewesen und seitwärts durch eine Gewächshausscheibe geflogen. Danach mußte er eine Woche krank feiern, weil er sich die Hand aufgeschnitten hatte. Der Heimleiter W.C. Müller war gekommen, der Abteilungsleiter, der Wälzer hieß und noch zwei Inventarerzieher. Inventarerzieher waren gewöhnliche, die aber aufgrund 10- oder 15-jähriger Dienstzeit etwas mehr zu sagen hatten. Alle hatten sich die kaputte Scheibe angesehen, die dick verbundene Gärtnerhand, und alle hatten gesagt, daß sie nichts unversucht lassen würden, den Schuldigen zu ermitteln. -6 7 -
Dabei war der Gärnter selbst schuld gewesen. Warum war er nicht wie sonst auch durch die hintere Tür gelaufen? »Ben! Ich bin satt!« Benno turnte von seinem Baum herunter, er ließ sich das letzte Stück bis auf den Boden fallen. Er sah zu dem Jungen hin, der aufpaßte und gab ihm ein Zeichen, daß alles in Ordnung war. Wir durchquerten die Hecke und schlugen einen Weg unten an den Tongruben ein, um die Mädchen zu besuchen. »Sag mal, Benno, heute nachmittag, hast du nicht gemerkt, was der Loom meinte?« »Meinte? Was?« »Na! Mit seiner Ansicht, über die, die in einer Anstalt sind. Der hat nicht nur die Miezen gemeint, der meinte auch uns! Und du hast gelacht, Mensch! Er sagt, du bist ein Stück Dreck, und du nickst und du lachst und du sagst jawoll, Herr Loom, ich bin, Herr Loom...« »Hör mal zu, Ben...« »Nichts hör zu. Erst küßt du die Evi, und dann sagst du, sie taugt nichts und...« »Hör mal zu! Ich weiß, was du sagen willst, aber das wußte ich schon ein bißchen früher als du. Was sollte ich denn machen? Heh? Sollte ich Loom was in die Schnauze hauen? Ihm sagen, was für ein mieses Schwein er ist? Das ändert doch nichts, höchstens, daß er mich aus der Tischlerei rausschmeißt. Na gut, was macht es, dann arbeite ich eben auf der Ziegelei oder sonstwo. Aber Loom ändert sich doch nicht dadurch, oder meinst du das!? Ich sage eben zu allem ja, ich sage zu Loom, daß er der schärfste für mich ist, und ich habe meine Ruhe, schließlich muß ich ihn den ganzen Tag ertragen.« »Aber, das ist doch keine Einstellung...« »Was heißt Einstellung, Ben. Für diesen Scheißladen brauche ich nur eine Einstellung, mit der ich gut über die Runden komme. Was brauche ich zum Kohleschleppen für eine Einstellung? Zum Kartoffelbuddeln auch nicht. Ich muß die Zeit gut rumkriegen. Das ist alles, und alles andere ist mir egal, -6 8 -
verstehst du? Scheißegal.« Benno spuckte in hohem Bogen aus. »Aha. Aber wenn der Loom nun einen Spucknapf hätte, und er würde sagen, jedesmal wenn du abends seinen Spucknapf austrinkst oder immer dann, wenn der Napf voll ist, dann mußt du einen Monat weniger im Heim bleiben. Würdest du trinken?« »Ich!? Ich würde ihm den Spucknapf auf die Birne hauen!!« »Hm-hm!« »So was gibt es auch nicht. Weißt du, Benjamin, ob das Loom ist oder Wälzer oder Lokus-Müller. Die sehen auch nur zu, daß sie ihren Tag gut rumkriegen. Und ich auch. Wenn der Loom zu mir sagt, daß ich ein feiner Kerl bin, Mensch, dann weiß ich doch genau, daß das nicht sein Ernst ist. Dann will er irgendwas, er hängt eine Verpflichtung dran. Er kann ja schlecht sagen, ich verachte dich, du Lump, du bist ein Abschaum! Los, geh Scheiben einsetzen. Siehst du, ich verhalte mich genauso wie er.« »Du verhältst dich also diplomatisch.« »Ist das diplomatisch? Meinetwegen. Ich glaub auch, du machst dir zuviele Gedanken über den ganzen Quatsch. Ist die Sache doch nicht wert.« »Ich weiß nicht. Vielleicht muß ich bis einundzwanzig hierbleiben. Das ist noch sehr lange. Ich muß doch an irgendwas denken.« »Na klar. Das lernst du noch. Jetzt gehn wir erstmal zu den Miezen. Da hinten, ich glaube, das ist Fred. Ist er. Der kommt von oben, er sieht so geduscht aus.« Fred winkte uns zu. Vielleicht war das gar nicht diplomatisch, dachte ich. Es ist unaufrichtig, ein gegenseitiges Belügen. Keiner sagt dem anderen, was er wirklich denkt. Man lacht sich freundlich an, und wenn sich einer umdreht, dann haut der andere zu. Diplomaten, die schlagen sich nicht. Schreien tun sie auch nicht. Hm. Fred war herangekommen. »Hallo, Männer!« -6 9 -
»Siehst ja wieder wie geleckt aus. Warst'e bei den Miezen?« fragte Benno. »Ja. Wollt ihr auch hin?« »Hmhm.« »Ist nichts drin. Hab heute auch meinen Geschlechtstag«, er grinste, »aber da waren wieder so'n paar Idioten aus der Stadt oben, und die Vertretung von der Geschke hat die Bullen angerufen. Konnte mich gerade noch absetzen. Die Heinis kommen ja immer mit der bekannten Jagdmelodie. Dachte erst, auf der Ziegelei brennt es. Bin dann noch am Kiessee rumgestöbert, habe gebadet.« »Schätze, wir kehren um«, Benno sah mich an, »wir können ja noch 'ne Stunde bolzen.« »Och, macht man sich nur die Knochen kaputt. Das ist doch kein Sportplatz, das ist ein Schlackehaufen.« »Wieso Sportplatz! Wir nehmen den Rasen vor der Tischlerei!« Das Erzieherzimmer im Fuchsbau befand sich genau zwischen den beiden Tagesräumen. Wenn jemand von einem Tagesraum in den anderen wollte, mußte er das Erzieherzimmer durchqueren, dessen Türen den ganzen Tag offenstanden. Auf dem Fußboden war eine dunkle, ausgetretene Spur zu sehen, die auch durch heftiges Bohnern nicht zu beseitigen war. Die Spur rührte an der Wandseite entlang, an der sich die Türen befanden. In dem Raum stand eine alte Liege, ein runder Tisch mit vier Stühlen, ein Aktenschrank, in dem Putzlappen aufbewahrt wurden, dann ein Schreibtisch mit einem gepolsterten Sessel dahinter und einem Sperrholzstuhl davor. Der Schreibtisch hatte zwei Rolläden, zu der linken Rollade besaß Benno einen Zweitschlüssel. Im unteren Fach standen einige Bier-und Schnapsflaschen hinter einem quergestellten Aktenordner. Das war ein bombensicheres Versteck, weil die Erzieher es kannten und von nichts wußten. Die Getränke wurden beim abendlichen Skat mit Tünnes und Schade
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verbraucht. Gespielt wurde nur dann, wenn genügend Vorrat vorhanden war. Einmal hatte einer der Tageserzieher etwas in dem Schreibtisch gesucht, ihm war der Ordner unten aufgefallen, und er hatte die Flaschen gesehen. Doch er hatte nichts gesagt, weil er dachte, daß die Flaschen eben dem Schade gehörten. Gefragt hatte er ihn nicht. Im Dienst wurde nicht getrunken. Wir hätten auch Bennos oder mein Schließfach zur Aufbewahrung nehmen können, doch ein Vorhängeschloß konnte jederzeit geknackt werden. Tagsüber hielten sich viele Jungen im Haus auf. Man konnte nicht alle zur Rechenschaft ziehen. Das wußten die, die klauten, ebenso. Deshalb klauten sie auch. Bei uns hatte sich noch niemand getraut. Es mußte eine günstige Gelegenheit vorhanden sein. Aber wenn es bekannt geworden wäre, daß wir in unseren Fächern Schnaps aufbewahrten, dann wäre sicher eine günstige Gelegenheit geschaffen worden. Bei Schnaps war es sehr einfach, den Dieb festzustellen. Doch all das war umständlich, wirbelte Staub auf. Der Schreibtisch war einfacher. Wir spielten erst abends nach acht Uhr. Dann lagen fast alle anderen Jungen im Bett und die, die noch nicht drinlagen, wurden aufgefordert sich hinzulegen. Sie waren müde, ohne es zu wissen. Zurück blieb eine Gruppe von fünf oder auch sechs Mann. Die einen spielten am Schreibtisch, das waren Schade, Tünnes und Benno, und die andere Gruppe, zu der ich gehörte, spielte am runden Tisch. Ich machte nur ein paar Runden, hatte dann keine Lust mehr, und meine Mitspieler gingen in ihren Schlafsaal. Sie gingen sehr wichtigtuerisch, und wenn einer der anderen Jungen fragte, was denn so beim Skat geschoben würde, dann erklärten sie diesem erstmal, daß der abendliche Skat eine ganz reelle Sache wäre. Dann war der gemütliche Teil. Benno und ich spielten gegen Schade und Tünnes. Inzwischen war ich besser geworden, im Skatspielen, routinierter, doch wenn Benno mich unter dem Tisch gegen das Bein trat, dann zog ich oft die verkehrte Karte an, und er fluchte -7 1 -
ungeniert. Aber wenn wir einige Spiele gemacht hatten, dann war er ein bisschen besoffen und trat unter dem Tisch gegen Tünnes' Schienbein. Tünnes ächzte dann unterdrückt, weil er sich nichts anmerken lassen wollte. Oder Schade trat mich, dann wackelte manchmal der ganze Tisch, und jeder wußte, daß er Tünnes einen Tip gegeben hatte. Die Verlierer mußten die Vorräte auffüllen. Heute sah es so aus, als würden es die beiden Erzieher sein. »Zwanzig?« »Ja.« »Zwo? Null?« »Damit wollte ich anfangen.« »Dreißig?« fragte Benno. Zugleich bekam ich zwei Tritte auf die gleiche Stelle über dem Fußknöchel. Es tat verdammt weh. »Jaein, weg«, sagte ich schnell. Zwei Tritte, das hieß, er wollte das Spiel machen. »Tünnes! Dreißig!?« Der Erzieher kratzte sich ausgiebig hinterm Ohr. Dann nahm er einen langen Zug »Bock-Spezial« und machte ein Bäuerchen. »Etwas warm heute«, stellte er fest, »dreißig, dreißig«, er schielte nach den beiden Karten, die auf dem Tisch lagen, auf die gereizt wurde, und er gab sich einen Ruck: »Hab ich.« »Vierzig«, sagte Benno. »Auch!« »Und die vier?« Tünnes nickte. »Spiel.« Benno knurrte. »Mist! Kann einfach nicht höher.« Tünnes nahm die Karten auf, steckte sie zurecht und sah uns verstohlen an. Das war immer so, wenn einer das Spiel machte. Jeder versuchte in den Mienen der anderen zu lesen, wie deren Blatt wohl sein könnte.
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Tünnes überlegte diesmal ziemlich lange, steckte erneut hin und her und drückte zwei Karten. »Null-ouvert«, sagte er dann und legte die ganzen Karten auf den Tisch, »ich kann gleich hinlegen, alles dicht. Los, Benjamin, du kommst raus!« »Weiß ich.« Ich spielte Kreuz-acht aus, die einzige Karte, die ich von Kreuz besaß. Benno nickte befriedigt und schob Kreuzsieben unter meine Karte. Wenn wir richtig ausspielten, dann war der Null-ouvert mit Karo zu töten. Tünnes hatte ein ZweiFarben-Spiel, Karo und Herz. Tünnes kicherte und zupfte Karo-zehn aus seinem Blatt, dabei verschob er die zuvor gedrückten Karten. »Moment mal!« Normalerweise wäre es mir gar nicht aufgefallen, daß dort drei Karten lagen, doch das Skatblatt war schon sehr abgegriffen. Tünnes hatte die Kreuz-Dame mit gedrückt, drei Karten. »Ahaaaa!« »Das habe ich nicht gemerkt«, beteuerte Tünnes, »Mensch, sonst hätte ich doch keinen Nullo gespielt!« »Geschenkt.« Benno grinste. »Eine Mark!« Tünnes zahlte an jeden eine Mark aus und grunzte. »Ich setze erstmal aus«, sagte ich, »muß mal.« Ich ging zur Toilette, was beim Skat sehr oft geschah. Ich mochte keinen Schnaps und verdünnte ihn immer sehr stark mit Brause. Das schmeckte bedeutend besser, und außerdem dauerte es sehr lange, bis der Kreisel in meinem Kopf zu drehen begann. Tünnes und Benno spotteten zwar, doch das störte mich nicht. Dafür verloren sie ziemlich oft, das heißt, ein richtiges Verlieren war es nie. Wenn Benno verlor, dann gewann ich oder umgekehrt. Wir spielten zusammen. Tünnes und Schade auch. Wenn Tünnes verlor, stöhnte er immer und zahlte manchmal in Groschen und Pfennigen. Allzuviel schien so ein Erzieher auch nicht zu verdienen. Dabei brauchte er nie die Vorräte aufzufüllen, dachte ich und schlurfte auf Socken durch den -7 3 -
Tagesraum. Die Toilettentür befand sich am Ende des Raumes. Mir fiel ein, daß sie abgeschlossen war. Das war auf dieser Hausseite nachts immer so, weil die Toiletten zwei Türen hatten. Eine zum Tagesraum und eine andere zum Schlafsaal. Die Tagesraumtoilettentür wurde abends abgeschlossen und die zum Schlafsaal führende aufgemacht. Ich drehte um und wollte in den anderen Tagesraum, als jemand leise lachte. In der Toilette! Warum sollte da einer lachen, überlegte ich und blieb stehen. Es war fast ein Uhr. Was gibt es nachts um eins auf einem Klo zu lachen? Ich schlurfte an die Tür. Die obere Hälfte hatte vier kleine Scheiben, von denen die unteren durch Sperrholz ersetzt worden waren, weil sie dauernd zu Bruch gingen. »Schön so?« fragte eine Stimme hinter der Tür. »Hmhmmmm.« Aha, da waren welche auf dem Klo! Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und konnte gerade über die Sperrholzkante durch die oberen Scheiben sehen. An der Wand stand ein Junge, er hielt das hochgeschobene Nachthemd fest und hatte die Augen zugemacht, den Kopf etwas nach hinten gekippt. Er sah recht glücklich aus, so, als wolle er jeden Moment lächeln, als habe er ein Stück Schokolade auf der Zunge gehabt und koste den Geschmack noch einmal nach. So sah er aus. Vor ihm hockte ein anderer, umklammerte seine Beine und hatte den Stehenden des Stehenden im Mund. Ich stellte mich wieder normal hin, mir taten die Zehen weh. Nachts um eins, dachte ich, wenn alle im Bett liegen, dann machen sie so was. Na ja, dann haben sie ihre Ruhe. Wenn jemand aus dem Schlafsaal auf die Toilette ging, das hörten sie dann schon vorher. Im Haus lief fast jeder Junge in Holzschuhen herum, wegen des kalten Steinbodens. Und die, die Turnschuhe hatten, die schlüpften nur so rein, ohne diese richtig anzuziehen. Dann hörte man das Schlurfen. Ha. Aber mit mir haben sie nicht gerechnet. Sauerei! Hm, wieso Sauerei? Eigentlich ihre Sache. -7 4 -
Aber wenn das nun alle machen? Dann sterben die Mädchen aus. Ach, Spinner. Benno und ich bleiben auf jeden Fall über. Hinter der Tür war unterdrücktes Husten zu hören. Ich wippte auf die Zehenspitzen. Der, der in der Hocke gesessen hatte, der stand jetzt und tupfte sich geziert den Mund mit einem Taschentuch ab. Weiß der Teufel, wo er das her hatte. Oder es war Toilettenpapier. Im Haus wurde der Junge »Mutti« genannt, weil er immer so weibisch tat und wie ein Mädchen ging. Jetzt küßten sie sich! Wenn ich nicht gewußt hätte, daß Mutti keine »Mutti« war, hätte ich geglaubt, sie wäre eine. Sie hatte die Hände um den Nacken des anderen gelegt und streichelte dessen Rundschnitt, sie drängte und drückte sich gegen ihn, es sah aus, als steckten beide in einem Nachthemd. Mir wurde ganz komisch zumute. Aber als Mutti ihr Nachthemd hochhob, war es sofort wieder vorüber. »Komm!« sagte sie zu dem anderen und federte neckisch in den Knien, bückte sich unter das ziemlich hohe Waschbecken und stützte beide Hände auf das Abflußrohr. »Aber ganz lieb sein, hörst du?« ich konnte es kaum verstehen. Für ein Weib hatte sie einen ganz schön behaarten Hintern, fand ich. Ein roter Lampion müsste her. Der andere trat hinter Mutti und fummelte unter ihren Backen herum. »Brrriiee«, machte Mutti. Es hörte sich wie ein leises Quietschen an. Meine Zehen taten wieder weh. Ich machte eine Faust, hob sie gegen das Sperrholz. Soll ich, soll ich nicht; soll ich, soll ich nicht. Ich zählte es an meinen Hemdknöpfen ab, der untere fehlte, es ging nicht auf. Ich begann verkehrt rum. Soll ich nicht, soll ich; soll ich nicht, soll ich! Aha, ich soll! Ich schob den mittleren Knöchel vor und genoß einen Augenblick des Wartens. Dann schlug ich zweimal hart mit dem Knöchel gegen das Holz, ganz kurz! -7 5 -
Es dröhnte dumpf, weil Mutti mit dem Kopf gegen das eiserne Waschbecken stieß. Sie hatten sich sehr erschrocken. Wie ein Blitz waren die beiden auseinandergefahren. Ich grinste. Quatsch, sich so zu beeilen, dachte ich. Die können sich doch denken, daß der Klopfer schon länger hier steht und alles gesehen hat. Sie standen wie zwei große, weiße Kerzen da und glotzten zur Tür, zu mir. Doch sie konnten nur meine Stirn sehen und die Augen. Mehr nicht. Ich ging etwas tiefer, so daß ich noch eben über die Kante gucken konnte, ich linste, doch die beiden rührten sich nicht. Sie glotzten nur. Auf was die wohl warteten? Oder war etwas passiert? Vielleicht hatten sie einen Schock gekriegt. So was gab's ja heutzutage. Seelenschock. Oder Medusaschock, dann sind sie jetzt wie aus Stein. Ich kann nicht ewig auf den Zehenspitzen stehen, ich werde noch mal klopfen. Ich wippte durch und wieder hoch. Da waren die beiden schon an der Tür zum Schlafsaal und verschwanden mit wehenden Nachthemden. Ich setzte mich auf eine Bank und massierte mir die großen Zehen. Mir fiel ein, weshalb ich überhaupt hierher gekommen war. Und wie! Ich ging in den Waschraum und pinkelte in den Duschabfluß. Benno und Tünnes schienen mich gar nicht vermißt zu haben. Schade war schon halb weggetreten. Sie spielten. Schade reizte. »A... ach... a... arrrsch...«, sagte er. »Hab ich.« »Zwanzi... ig.« »Ich will ins Bett«, sagte ich zu Tünnes. Er nickte. »Ich komme mit.« Benno rülpste und warf seine Karten hin. »Du bist besoffen.« »Ich bin nicht besoffen«, erwiderte er schwer, »der billige Fusel schlägt mir auf den Magen, das ist es. In Zukunft wird nur noch Asbach getrunken. Klar!?« »Klar!« Tünnes nickte. Benno kam langsam hoch und ging mit ziemlich festen Schritten aus dem Zimmer. Ich stellte mit Genugtuung fest, daß -7 6 -
er bedeutend mehr vertragen konnte als Tünnes, der hinter uns her wankte. Ich schaute aufmerksam zu, wie er den Tagesraum schaffte, er brabbelte vor sich hin, und ich wartete darauf, daß er lang hinfallen würde, um zu sehen, wie lange er brauchte, bis er wieder stand. Aber er fiel nicht, er schloß die Schlafsaaltür bereits beim zweiten Versuch auf. SECHSTER DEZEMBER. Vor den Fenstern der Klinik wurde des dunkel. Holberg fühlte sich etwas besser. Die beiden letzten Tage hatte er fast nur geschlafen. Wenn er zwischendurch mal aufgewacht war, hatte ihm irgendeine Schwester eine Spritze gegeben. Ich fühle mich immer noch wie ein nasser Sack, so schlapp, dachte Holberg. Fünf Tage ist es jetzt her. Aber es kann mir egal sein. Warum bin ich ungeduldig? Er sah auf die Flaschen an dem Gestell. Eine davon tropfte Tropfen für Tropfen in den durchsichtigen Schlauch, in seine Armvene. Was ist, wenn ich den Schlauch heimlich abmache? Wenn sie es nicht rechtzeitig bemerken, kann mein Kreislauf zusammenbrechen. Vielleicht. Ich brauche nur die Nadel verbiegen oder einfach rausziehen, ich lege die Decke drüber. Aber ich weiß, daß ich es nicht tun werde, heute nicht, morgen nicht. Mir fehlt der Mut, ich weiß nicht, was nachher sein wird. Nichts. Holberg hob den Kopf ein wenig. Die Betten gegenüber waren jetzt leer, auch der Platz hinter dem Tisch war leer. Es befand sich niemand im Zimmer. Manchmal sah einer der Aufpasser herein, verschwand dann wieder. Die schienen sich hier schon eingelebt zu haben. Holberg versuchte, sich auf die Seite zu drehen, doch es ging immer noch nicht. Der willige Geist und das schwache Fleisch, dachte er. Ich weiß nicht, was werden wird. Aber ich habe ganz tief in mir eine Hoffnung, ich kann vielleicht noch einmal am Meer -7 7 -
entlanglaufen, im Herbst, we nn die Wellen ihre Zähne blecken, und der Wind einem den Atem nach innen drückt, oder ich sitze auf der Neckarbrücke und sehe, wie die Baumspitzen in der Abendsonne flüssig werden. Doch das ist nicht meine Hoffnung. Vielleicht ist es die Hoffnung auf ein normales Leben. Marion könnte es mir sicher sagen. Sie war so klar und verständlich, auch wenn sie vieles nicht in Deutsch erklären konnte. Dann half ich ihr, und ich verstand sie. Eigenartig. Wäre ich damals nicht geflüchtet, dann hätte ich sie nie kennengelernt. Vielleicht war alles richtig so, um diese Wochen mit Marion erleben zu können. Holberg spielte mit seinen Zehen und ließ seine Füße tasten. Es machte keine Schwierigkeiten. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer. »Hallo, guten Abend. Ausgeschlafen? Ich bin Schwester Elisabeth und in der nächsten Zeit für Sie verantwortlich.« Sie blieb am Bett stehen und lächelte, als warte sie auf eine Antwort. »Und ich bin der Kriminelle Holberg«, erwiderte er. Schwester Elisabeth krauste die Stirn, sie schien zu überlegen. Dann kontrollierte sie die Schläuche nach, sah auf die Tafel, die am Fußende des Bettes hing. Ein Pfleger betrat das Zimmer. Er trug einen gewaltigen Nietzsche-Bart, nickte Holberg zu und hing eine neue Flasche an das Gestell, nachdem er die alte abgenommen hatte. Er verließ den Raum. »Haben Sie einen Wunsch?« fragte Schwester Elisabeth. »Nein, danke.« »Sie wissen sicher, daß Sie bei uns nur von Medizinstudenten im fortgeschrittenen Semester betreut werden, an die Sie sich ebenso wenden können wie an mich. Doch ich bin ja immer da.« Sie schwieg. Holberg grinste leicht. Wie das Schild im Kaufmannsladen, dachte er. Sind Sie zufrieden, so sagen Sie es anderen; sind Sie es nicht, so sagen Sie es mir. »Es darf etwas mehr sein«, sagte er. »Ach Sie, Ihnen geht es noch gar nicht so gut.« -7 8 -
»Ich habe Durst.« »Ein Glas Saft?« »Hmhm.« »Ich hole es sofort.« Schwester Elisabeth nahm Holbergs Handgelenk und fühlte den Puls, sah auf ihre Armbanduhr. Er konnte nur ihre Stirn und die Nasenspitze ein bißchen sehen, da ihre langen Haare nach unten hingen. Sie trug als einzige Schwester kein Häubchen. Als sie rausging, kam ein Pensionsberechtigter ins Zimmer. Holberg erkannte ihn sofort, obwohl es ein neuer zu sein schien. Er nickte, ging einmal bis zu den Fenstern, dann wieder auf den Flur. Schwester Elisabeth kam mit dem Saft und einer Tüte zurück. Sie holte sich einen Sessel ans Bett. So einen Sessel, wie er auch in den Inspektorenzimmern zu finden war, mit einem grünen Polstersitz und hölzernen Armlehnen. »Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?« »Sicher. Es sind andere Leute da?« »Ja. Von der Justiz oder so. Ich habe mich nicht danach erkundigt. Wollen Sie es wissen?« »Nein. Es ist nicht wichtig.« Die hundertprozentige Sorte ist es nicht, dachte er. Dann würden sie links und rechts neben seinem Bett sitzen. Sie würden sitzen bis zur neuen Anweisung. Keine besonderen Vorkommnisse! Kopf und Rumpf haben sich nicht bewegt! Jawoll! Diener! Jawoll! Diener. Jawoll! »Sehen Sie doch mal, mögen Sie's leiden?« Schwester Elisabeth hatte Strickzeug aus der Tüte geholt, zwei winzige rote Handschuhe und eine angefangene Mütze. »Es ist für meine kleine Tochter, sie heißt Anja, es ist für ihre Puppe. Wissen Sie, Weihnachten wird nur durch Kinder geprägt, nicht durch den Verkauf der Geschäfte, sondern auch durch die Freude. Finden Sie nicht auch?« Holberg dachte an Marion. Sie hatten über Weihnachten und über Kinder gesprochen, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Zusammenhängen. Weihnachten wollte er -7 9 -
wieder in Dänemark sein, bei Marion. Sie wünschte es sich so sehr und er auch. »Ja«, er nickte. »Ich habe auch noch einen kleinen Sohn, er ist zwar erst vier, aber sie sollten mal sehen, wie fachmännisch er einen Bagger in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammenbaut. Oh, sind Sie müde?« »Nein, ich habe nur die Augen zugemacht, erzählen Sie ruhig weiter«, Holberg sah sie an, er blickte auf ihre Finger, die mit den Stricknadeln hantierten. »Sie haben vorhin gesagt, Sie seien der Kriminelle. Bitte sagen Sie so etwas nicht. Es gibt so viele Menschen, die Ihnen helfen wollen, und ich...« »Erzählen Sie doch wieder von Ihren Kindern«, Holberg schloß die Augen, »wie heißt Ihr Sohn?« Er fühlte sich schwach und müde. Die paar Worte strengten an, weil er sich konzentrieren mußte. »Ja«, er spürte, daß sie ihn ansah, ihre Nadeln waren auch nicht mehr zu hören, »er heißt Eilert«, fuhr sie zögernd fort. »Er ist zur Zeit etwas krank, er ist so ein süßes Kerlchen...« MEISTER LOOM WAR KRANK. Sagte er. Erkältung. Um seinen Hals hatte er einen dicken Schal geschlungen, der ihm das Aussehen eines erwachsenen Mainzelmännchens mit Kittel verlieh. Er begann den Morgen damit, daß er Kamillentee aufbrühte, der mit seinem Geruch die ganze Luft verpestete. Dann setzte er sich an den Glaszuschneidetisch und rechnete irgendwelchen Holzverbrauch aus. »Jungs«, sagte er zwischen kleinen Tee-schlückchen, »ich bin krank, ich bin ganz auf euch angewiesen. Ich weiß, daß ich mich auf euch verlassen kann. Drews! Du läßt Stühle Stühle sein und sorgst dafür, daß ich immer heißen Tee habe! Und genug davon! Wenn er alle ist, machst du neuen!« Drews nickte, ging in den Bankraum und klapperte dort laut mit Geschirr herum. Benno und ich folgten ihm und suchten uns ein ruhiges Plätzchen. »Und dann feg da drüben aus, Drews«, rief Loom herüber, »werden heute oder morgen 'ne Besichtigung kriegen!« »Ja,ja!« -8 0 -
»Dann bin ich weg«, sagte ich zu Benno. »Ich bin hier nicht im Zirkus.« »Ist mir doch egal, Ben, ich stell mich eben die paar Minuten an die Bank und basta.« Ich überlegte, daß es reichen würde, wenn ich in den Keller flitzte. Dort hinunter wurde keine Besichtigung geführt. Die Treppe war zu steil und der Keller zu klein. So ein Blödsinn! Die Werkstatt fegen! Wenn die Besichtigung im Heim war, kriegte Loom einen Anruf von vorne, und dann raste er durch die Bude, schloß alle Werkzeugschränke auf, verteilte Werkzeug auf den Bänken, während Drews aus einem Sack Hobelspäne und Sägemehl auf dem Boden und über die Hobelbänke verstreute. Letztes Mal hatte ich an einer Bank gestanden und vier Bretter zersägt, einmal quer und einmal lang. >Ich sage dir dann, was weiter zu machen ist<, hatte Loom gesagt. Ich sägte noch, als die Besichtigung wieder weg war, Drews kehrte die Hobelspäne in den Sack zurück, und Benno hängte, unter Looms Aufsicht, das Werkzeug weg. Als ich ihn dann fragte, was mit den Brettern passieren solle, hatte Loom gesagt: Schmeiß sie weg. »Benno! Ben! Mal rüberkommen!« Wir kamen. »Ihr geht jetzt erst mal in die Küche, ihr zwei, was!« Er klopfte mir auf die Schulter. »Da ist in der Brotkammer ein Regal kaputt. Die haben gestern schon angerufen. Und laßt euch 'n anständiges Frühstück geben, wenn ihr fertig seid. Anschließend geht ihr in die Gärtnerei und meldet euch da. Und - daß ich mir keine Klagen anhören muß!« Tischler Meier ließ uns nach draußen. »Richtig fürsorglich«, nörgelte ich und äffte Looms Stimme nach. »Laßt euch 'n richtiges Frühstück geben! Der weiß doch ganz genau, daß der Küchenbulle immer was rausrückt und immer das Gleiche.« »Laß ihn. Der meint echt, er ist schwerkrank. Dann redet er immer so. Vielleicht will er im Himmel damit Eindruck schinden. Aber der muß noch seine Zeit machen. Diese Sorte ist zäh, die hält bis zum letzten Tag aus, Der sollte man nicht so viele Schinkenbrote fressen, paar Zigarren und paar Körner weniger, -8 1 -
und er wird hundert Jahre alt. Er kann doch mit'm Arsch im Bett bleiben!« »Meinst du, er kommt in den Himmel?« »Sicher. Der Himmel ist nur für Looms und Konsorten da.« Benno lachte. »Aber er schwitzt ganz schön. Und rot ist er auch im Gesicht.« »Was'n Wunder! Wenn er den Tee literweise sauft. Irgendwo muß der ja wieder raus. Das soll uns auch nicht kümmern oder meinst du, der macht sich um uns Gedanken, wenn wir mal krank sind? Ist «och genug Material vorhanden, hat er mal gesagt. Der kommt höchstens um zu fragen, ob wir keine Lust haben!« »So kenne ich dich gar nicht«, sagte er staunend. »Scheiß!« Benno hob einen Stein auf und warf ihn gegen ein Aulafenster, hoch über der Verwaltung. Der Stein verfehlte die Scheiben nur knapp. »Laß das. Das kann man beobachten.« In der Küche reparierten wir das Brotregal, aus dessen unterem Boden zwei Schrauben herausragten. Sie faßten nicht mehr. Ich nahm neue und drehte sie fest. Benno schob zwei Weißbrote durch ein kleines, vergittertes Fenster des Brotraumes auf die außen liegende Fensterbank, er drückte den Flügel wieder zu. Die Weißbrote waren frisch und nur für Erzieher bestimmt. So ein Weißbrot, das konnte man so wegessen. Als wir die Küche verließen, musterte uns der Küchenbulle, dann unseren Kasten. Benno hob wortlos die Schürze hoch, die über dem Werkzeug lag. »Ja, ja, schon gut. Ich weiß ja, ihr macht keinen Mist. Bringt ja auch nichts ein.« Er gab uns einen Stapel Graubrot, ein Stück Margarine und einen Zipfel Wurst, auf den wir verzichteten. Er hatte eine komische Farbe. Ich lief um die Küche herum und holte die beiden Brote. Sie wurden im Kasten verstaut, unter der Schürze.
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In der Gärtnerei gab uns der Gärtner eine Hacke; die aufgestielt werden sollte und einen Kohlrabi, weil wir nicht weggehen wollten. »Wir könnten runtergehen zu den Tongruben«, überlegte Benno laut, »aber ist noch'n bißchen frisch, heute morgen. Gehn wir in' Fuchsbau, frühstücken.« »Meinetwegen.« Schade ließ uns rein. Wir blieben im ersten Tagesraum, Benno blickte aus dem Fenster. »Da kommt'n Zugang«, sagte er nach einer Weile. »Hm.« Ich drehte mich nicht um. Zugänge kamen oft. Alle mussten an den Fuchsbaufenstern vorbei, wenn sie hinten aus der Verwaltung kamen. »Ich glaub, das war der kleine Berliner, vom Neubau.« »Kam er von da?« Ich drehte mich doch um. »Schon vorbei. Kann ja sein, daß er zum Wigwam verlegt wird.« »Der nicht.« Im Vorraum klirrten Schlüssel, dann an der Tagesraumtür. Ein Neubauerzieher kam herein, hinter ihm Icke. Er trug sein Bettzeug und einen Margarinekarton und ließ alles fallen, als er mich sah. »Da bin ick also«, er setzte sich zu uns, »habt'a mal eene Weeßbrotstulle?« »Hier. Wie kommt's?« Der Neubauerzieher hatte Schade Bescheid gesagt und verließ das Haus. »Na, hab ick dir doch gesacht, det ick folge. Det hat zwar een bißchen jedauert, aba jetzt bin ick hier.« Icke mampfte. »Weshalb?« »Gruumpfs, hm, hab dem Affen 'ne Terrine übern Kopp gestülpt.« -8 3 -
»Voll?« fragte Benno. »Willste mir beleidigen?« fragte Icke empört zurück. »Janz voll war se! Jestern mittach. Erbsen. Det war vielleicht 'n Gemälde, kann ick sajen! Det lief ihm bis in seene Hosenuffschläge und jebrüllt hat'a, det es 'n Jenuß war zuzuhörn.« Ickes Augen leuchteten. »Und weiter?« »Nix und weita. Eene Woche Zelle, und ick muß oof in Fuchsbau bleiben. Schade kam. »Na, denn komm mal mit. Führ dich gut, dann brauchste nur eine Woche in Gedanken, ich lasse dich nach drei Tagen raus.« »Allet klar, Obersturmbann! Machts jut, Männa«, Icke nahm seine Sachen, »wat bleibt mir anders üba.« Er folgte Schade nach hinten, wo sich der Zellentrakt befand, wo auch der kleine Schlafsaal war. Im Zellentrakt gab es neun oder zehn Zellen. In den Zellen befand sich je ein am Boden festgeschraubtes Bett. Das war alles. »Zelle« bekam man, wenn man irgend etwas ausgefressen hatte, auch wenn man abgehauen war. In der Regel waren die Zellen immer belegt, weil viele der Jungen nicht in den großen Schlafsälen schlafen wollten. Sie wollten alleine sein, und Schade war es egal. Er wollte auch nur seine Ruhe haben. Also belegte er die Zellen bis auf zwei, die für »Brummen« vorbehalten waren. Doch zur Zeit schliefen auch in diesen beiden Zellen Jungen. Es war über eine Woche lang nichts Ernstes passiert, und Schade hatte sich überreden lassen. Jetzt mußte einer der beiden ausziehen, weil Icke einziehen mußte. Heute abend würde es deshalb Krach geben. Aber Schade ließ so was Tünnes machen. Und Tünnes sagte zu dem, der ausziehen mußte: »Mensch, scheiß dich nicht so ein. Was kann ich dafür, wenn Schade das anordnet. Du kannst morgen mit ihm reden. Hier, rauch erst mal eine!« Wenn Schade dann wieder auftauchte, war alles geklärt. -8 4 -
Gegen halb elf nahmen wir unseren Kasten und brachen auf. »Laß uns hintenrum gehen, wollen mal sehen, wo Icke liegt.« Benno nickte. Icke tauchte sofort am Fenster auf, als wir riefen. »Hast du genug zum Rauchen?« »Ick bedanke mir wejen der jütigen Nachfrage. Er hat mir keen bißchen jefilzt!« »Heute abend bringen wir dir Obst.« »Det is jut. Ick mach'n paar Obsttage und penn mir richtig aus!« Loom erwartete uns bereits. Schwitzend und nach Kamille riechend. Seinen Schal hatte er abgebunden, der hing gleichmäßig durchfeuchtet am Fenstergriff. »Das wird denn wohl auch langsam Zeit, denke ich«, sagte er und machte ein paar Teeschlucke, und dann: »Also setzt euch mal hin, Jungs.« Wenn er so anfing, dann wollte er was, etwas, das ihm am Herzen lag. Ich legte meine Füße auf seinen Glasschneidetisch. Er übersah es. Dann war was Besonderes los. Auf seine übliche Moralpredigt hatte er auch verzichtet. »Ihr seid doch zwei vernünftige Kerls, auf die ich mich verlassen kann, was!« Wir nickten mehrmals bedächtig. Einmal denkt er, er kann, dann kann er, denkt er, dann glaubt er, er denkt, dann weiß er, daß er glaubt, dachte ich. Und neulich, als ihm einer das Zigarrenetui aus der Kitteltasche klaute, da hatte er sofort gesagt, Benno oder ich seien es gewesen. Weil er uns manchmal so eine vertrocknete Stange gab und meinte, wir seien ganz wild darauf. Nachmittags hatte Loom dann den richtigen erwischt, den Drews, den Teeaufbrüher. Loom saß über seine Holzberechnungen gebeugt und Drews versuchte, ihm das leere Etui wieder in die Kitteltasche zu schieben. Das hatte Loom gemerkt, er hatte Drews vier saftige Ohrfeigen verabreicht. In dem Etui waren vier Zigarren gewesen. Damit -8 5 -
hatte sich herausgestellt, daß wir es nicht gewesen waren, doch Loom hatte das mit den Worten: »Ihr seid nicht besser! Auf euch muß man genauso aufpassen!« abgetan. Jetzt waren wir wieder seine Kerls, auf die er sich verlassen konnte. Loom nahm einen langen Schluck Kamille. »Also, ihr müßt heute nachmittag zum Ascherberg hoch«, sagte er, »wenn ich jetzt Zug kriege, dann ist es ganz aus. Ihr geht alleine. Ihr macht mir da keinen Blödsinn! Ist das klar!?« »Klar, Meister Loom!« »Gut. Nehmt'n Simshobel mit, da klemmt irgendwas. Benno, pack den Kasten ein, und du hilfst mir beim Scheiben schneiden.« Das »Kasten einpacken« sagte er immer, dabei wußte er genau, dass der Werkzeugkasten nie ausgepackt wurde. Ich holte Glas aus dem Keller. Loom schob seine Berechnungen zur Seite und wischte den Tisch ab. Dreimal. Einmal von rechts nach links, dann von links nach rechts und dann noch einmal ganz leicht mit der kreisenden Hand über die Fläche fahrend, ob sie auch wirklich sauber war. Er grunzte wohlwollend, als ich auch noch mal wischte. Wir gingen nach dem Mittagessen los. An der Verwaltung kam uns Wälzer, der Hausvater der Hausväter, entgegen, Er trug Akten unter einem Arm. Jeder Schritt war ein Abteilungsleiterschritt, er schritt aus mit der ganzen Schuhsohlenfläche. Als er uns sah, ging er langsamer, als sei ihm was eingefallen. Wir grüßten. Er nickte, blieb stehen und hob senkrecht einen Zeigefinger in die Luft. Durch abgezirkelte Krümmbewegungen deutete er mir an, dass ich zu ihm kommen sollte. »Holberg«, sagte er, er kannte immer den Namen, wenn er jemand ansprach. Wie er das machte, blieb ein Rätsel. »Holberg! Ich habe dich für Freigängerarbeit vorgemerkt, wahrscheinlich schon am Samstag. Ich hoffe, du wirst dich
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würdig erweisen. Freust du dich? Das ist schön«, sagte er, ohne meine Antwort abzuwarten, und wollte weitergehen. »Ich möchte mit Schirmer zusammen gehen«, sagte ich. Er stockte, sah zu Benno rüber. »Wir arbeiten immer zusammen.« »Ja gut, meinetwegen.« »Und dann möchte ich Sie noch was fragen, ich habe mich schon ein paarmal vorgemeldet, ich...«. »Mein lieber Holberg«, sagte Wälzer milde, »in der Geduld liegt die Würde des Menschen.« »Aber es sind seit der letzten Vormeldung schon wieder Wochen vergangen!« Seine Ruhe machte mich wütend. Als wenn ich nur Zigaretten haben wollte. »Eben. Ich sagte es gerade. Um - um was handelt es sich denn?« »Ich wollte mit Ihnen wegen meines Berufes sprechen. Der Mann vom Jugendamt hat gesagt, ich könnte hier was lernen und...«. »Sicher, sicher«, Wälzer betrachtete einen Augenblick die Spitzen seiner blankgewienerten Schuhe, »mein lieber Holberg, wir müssen zunächst erst mal sehen, ob du auch arbeitswillig bist. Ich denke, du verstehst das, du bist doch nicht dumm! Und auf diesen Arbeitswillen bauen wir unser gegenseitiges Vertrauen auf, ohne das es nun einmal nicht geht, und damit sind wir schon wieder bei der Geduld. Wer Geduld übt, erntet Nachsicht. Viele Dinge losen sich bekanntlich von selbst, durch die Zeit, unser großes Pflaster. Doch alles dient nur deinem Besten, Holberg, zu deiner Erziehung. Ich bin dein Hausvater! Du bist uns anvertraut worden...« »Eh, wir müssen zur Arbeit!« rief Benno ungeniert. »Dein Arbeitskollege ruft«, sagte Wälzer überflüssigerweise, »wo soll's denn hingehen?« »Ascherberg.« -8 7 -
»Na, denn mal zu. Ihr wollt sicher Scheiben einsetzen.« Er nickte freundlich, drückte die Akten an sich und ging weiter. »Sag mal, mußt du den Clown so lange aufhalten! Wir hätten schon lange bei den Miezen sein können!« »Der hat mich aufgehalten.« »Was wollte er denn?« »Och, wegen Freigänger. Am Samstag. Habe gesagt, daß ich mit dir zusammen gehen will.« »Das ist gut. Hat ja ganz schon lange gedauert. Hoffentlich schickt er uns in die Stadt und nicht zu so einem Wald- und Wiesenbauern. In der Stadt gibt's nämlich mehr Geld. Bei Kohle & Co. fünf Mark jeden Abend. Und wenn da die richtigen Leute zum Abholen kommen, dann haben wir in der nächsten Zeit wieder etwas Kapital.« »Wieso?« »Angenommen, es kommt ein Wagen, der hundert oder zweihundert Zentner abholen will, dann werfen wir zehn mehr drauf. Das machen wir vorher mit dem Fahrer aus, so ein Fahrer muß auch sehen, wie er zurecht kommt. Mit den meisten kann man dolle Geschäfte machen. Zum Bauern ist es jedenfalls großer Mist. Die können vor Geiz nicht gerade gehen und meinen, für so'n Stück Speck...« Hoffe du wirst dich würdig erweisen, hatte Wälzer gesagt. Möchte wissen, was es da zu würdigen gab. Würdig erweisen! Mit Würde Kohlen schleppen! Das sollte er mal vormachen. Mit Würde Kartoffeln ausbuddeln, mit Würde Kuhställe ausmisten! Humor hat er, der Wälzer, und keine blanken Schuhspitzen mehr, wenn er von morgens bis abends Säcke tragen muß. Und im Kuhstall färben sich seine grauen Socken grün. Kuhscheiße ist nun mal grün. Hellgrün, wenn sie frisch ist und dunkelgrün, wenn sie alt ist. Und weich. So weich, daß es ihm in die englischen Schuhe laufen würde. Kuhscheiße gleich weich gleich Spinat gleich Blattgrün gleich Duft gleich Stall gleich Wälzer!
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Da kann er sich würdig saubermachen, und je öfter er's macht, desto besser lernt er's, da kann er geduldig auf eine Lösung warten. Ist mir auch egal. »... auszunutzen und haben selbst alle fette Bäuche. Sag mal, du hörst mir ja gar nicht zu!« »Doch. Fette Bäuche hast du gesagt. Und auszunutzen.« »Und sonst?« »Was, und sonst?« »Was meinte Wälzer sonst noch?« »Würdig. Wir sollen uns würdig erweisen.« »Machen wir«, Benno grinste, »drück mal auf die Bimmel.« Wir standen vor der Holztür des Mädchenheimes. »Das neulich war übrigens Fräulein Britta. Wenn die Geschke nicht da ist, dann ist die Britta ganz in Ordnung. Mensch, ich kann dir sagen, wenn du die Geschke siehst, denkst du, sie ist ein Hahn. Titten hat sie keine, oder sie klemmen hinter'm Schürzenband, und'n Maul hat sie wie Winnetou.« Die Tür wurde aufgeschlossen. Es war Fräulein Britta. »Wir sind da-ha!« sagte Benno. »Guten Tag! Oh, mir schwant Böses«, sie sah um die Türecken, ob da noch jemand stand und seufzte, »wo habt ihr denn euren Loom?« »Unseren Loom! Ben, hast du das gehört? Unseren Loom, sagt sie. Ich werde ihm sagen, daß Sie dauernd nach ihm gefragt haben und daß Sie ganz traurig waren und was von markanter Männlichkeit gemurmelt haben.« »Untersteh dich«, die Erzieherin lachte, »ich habe einen etwas besseren Geschmack.« »Deshalb bin ich ja hier.« »Ihr seid hier wegen der kaputten Scheiben, mein Lieber! Rein jetzt!« Auf dem Hof hingen zwei Mädchen Wäsche auf. Das eine hielt nur die Klammern, und sein Leib war ziemlich vorgewölbt. Das Mädchen war hübsch und hatte lange schwarze Haare. -8 9 -
»Das ist Maria.« »Kennst du sie?« »Nee. Aber es muß Maria sein, und ihr Freund ist der Heilige Geist. Sie ist nämlich schon über ein Jahr hier, das weiß ich genau. Und Männer gibt es hier oben nicht. Was wird eigentlich in ihre Akte geschrieben, Fräulein Britta?« Fräulein Britta war zart errötet. Sie machte noch nicht sehr lange Dienst hier oben. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich glaube, du solltest dich was schämen.« »Wieso soll ich mich schämen, wenn Sie nicht wissen, wovon ich spreche. Das ist'n Ding.« Das Mädchen sah zu uns herüber. Seine Augen waren groß, es machte ein ernstes Gesicht. Die meisten Mädchen lachten und begrüßten die Jungen mit Hallo. Ich spürte das Verlangen, ihr Gesicht zu streicheln, als täte es mir leid, was Benno gesagt hatte. Aber sie hatte seine Worte nicht hören können, dazu waren wir zu weit entfernt. Im Tagesraum saßen lauter Mädchen, als hätten sie auf uns gewartet. »Heh Kinder! Macht 'nen Kaffee fertig, sonst gibt es keinen Handschlag. Oder ist Kaffee nicht drin, Fräulein Britta?« »Ja, ja, natürlich. Aber fangt erst mal an. Elke, mach den beiden eine Kanne Kaffee!« »Klar, Fräulein Britta. Und'n Stück Kuchen kriegen sie auch.« »Kommt mit nach oben!« Wir folgten der Erzieherin auf die Galerie. In zwei Schlafräumen waren die Scheiben kaputt. Benno sah sich fachmännisch die Doppelflügel an und teilte die Arbeit ein. »Also du bleibst hier«, sagte er zu mir, »und ich gehe nach drüben und fange da an.« »Das habt ihr euch so gedacht«, Fräulein Britta schüttelte den Kopf.
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»Ihr bleibt beide hier, und wenn ihr fertig seid, dann gehen wir zusammen nach drüben!« »Das geht auch«, Benno überlegte, »aber dann dauert es zwei Tage, Fräulein Britta. Es kann immer nur einer zur Zeit arbeiten, ich kann Ihnen das mal erklären, also...« »Gut, gut, gut! Aber bildet euch ja keine Schwachheiten ein. Ich komme alle paar Minuten und sehe nach. Wer bleibt hier?« »Ich«, sagte ich. »Gut. Los!« Sie verließ mit Benno das Zimmer. Ich hängte die Fensterflügel aus, lehnte sie an die Wand und setzte mich auf eines der Betten, drehte mir eine Zigarette. In dem Zimmer standen vier Betten, auf denen farbige Decken lagen, auch Kissen. Zwischen den Fenstern war an der Wand ein Bord angebracht, auf dem einige Bücher standen, ein Foto und eine Papierblume. Unter dem Bücherbord stand ein Tisch mit einer gestickten Decke, mit einem Glasaschenbecher in der Mitte und einer Gummi-Mickymaus. Ein anderes Regal war an der gegenüberliegenden Wand und ein Bastgitterwerk, an dem grüne Ranken hochwuchsen. Links in einer Bettecke klebte Elvis in groß, in klein, mit Gitarre und ohne, mit verknotetem Körper, dann gerade wie ein Ladestock, mit offenem Mund und die Augen zu, dann Augen auf und Mund zu..., es mußten mehrere Magazine gewesen sein, die da zerschnitten worden waren. Seit kurzem war Elvis wieder >in<. Neben mir, am Fußende des Bettes, lag ein Stofflöwe auf dem Bauch und ließ seine rote Samtzunge raushängen. Ich drückte die Kippe aus und klemmte sie hinter ein Löwenohr. Ich räumte den Tisch ab und schob ihn in die Zimmermitte, neben einen anderen. Die Tische hatten die gleiche Höhe, ich legte einen Fensterflügel auf sie und begann mit der Arbeit. Fräulein Britta erschien, blieb neben mir stehen und sah zu. Ich überlegte, ob Benno jetzt wohl auch an seinem Flügel herumhämmerte oder ob er was anderes machte. »Warum ist euer Meister nicht mitgekommen?« »Der stirbt.« -9 1 -
»Wie-?« »Ooch, der ist ein bißchen erkältet, und dann denkt er, er stirbt.« »Ach so«, sie lachte. Im Haus war plötzlich lautes Kreischen zu hören. »Werden bei euch eigentlich viele Fenster zerschlagen?« fragte Fräulein Britta. »Je nachdem. Wenn genug heile da sind.« Wieder kreischte es. Mehrstimmig! Fräulein Britta wurde unruhig. Ich merkte das, wie sie Luft holte. Ich hämmerte. Dann lachten Mädchen laut. Zu laut, fand ich. Irgendwo trappelten Füße auf dem Flur. Eine Tür rumste zu. Noch eine! Es bebte ordentlich. Vielleicht machte Benno doch etwas anderes? »Ich glaube, du bist wohl der Vernünftigere von euch, nicht wahr?« fragte sie. Doch es klang sehr fadenscheinig. »Wir sind alle gleich unvernünftig, bei uns im Heim ist das so.« Wieder knallte eine Tür. Sie knallte nicht, sie krachte! Ich konnte mir vorstellen, daß solche Geräusche nicht zum normalen Alltag gehörten, hier oben. Die Erzieherin lief hinaus. Vernünftig, sagte sie. Wie Loom. Die hatten wohl alle den gleichen Spruch drauf. Mußte eine Krankheit sein bei den Erziehern, so was Falsches! Heuchelei ist das. Vorsätzliche Heuchelei! Die wußte genau, daß sie gleich raus mußte, die Britta, wegen des Krachs. Sie wollte nachsehen, ob es Benno war. Also sagt sie schnell, daß sie mich für vernünftig hält, damit ich nicht auch irgendwas mache. Dabei kenn ich gar kein Mädchen. Lieber einen Sack Flöhe hüten, hat sie eben gemurmelt. Aber ich hab es noch gehört. Das sagt man so. Der Brummer in der Schule, der hatte nur einen gehabt, und den hatte er nicht gekriegt! »Meine Herren! Du siehst ja gar nicht hoch, wenn du arbeitest. Ist das immer so?« -9 2 -
In der Tür lehnte ein Mädchen, anscheinend schon eine Weile, ohne daß ich es bemerkt hatte. »Tja, habe ich so. Ist wie 'ne Krankheit.« Es lachte und kam ganz herein. »Hier, ich habe Briefe. Nimmst du sie mit?« »Natürlich.« Ich nahm einen Packen Briefe und schob ihn hinten in meine Hosentasche. »Vier davon sind für dich«, sie ging zu dem gegenüberliegenden Bett und ließ sich drauffallen, »scheinst 'n Schlag hier oben zu haben. Bist doch Benjamin, oder?« »Hmhm«, machte ich und wurde etwas verlegen. Mir war, als würde ich rot. Wie peinlich. »Ich heiße Karen. Bist du schon lange da drüben in der Anstalt?« »Ja«, ich zuckte die Schultern, »für mich ist es lange.« »Ich habe dich noch nie hier gesehen, ich meine hinten, an den Fenstern.« »Ich habe keine Freundin hier, wenn du das meinst. Neulich wollten wir mal hochkommen, Benno und ich, aber uns hat einer gewarnt, es waren Bullen hier.« »Ja, weiß ich. Es waren Bengels aus der Stadt da, schon am Nachmittag, sie waren betrunken und haben randaliert. Wenn von euch welche da sind, dann trauen sich die aus der Stadt nicht.« Das Mädchen wippte mit den Zehenspitzen. Ich konnte sein Höschen sehen. Es war blau, mit Blümchen und sehr eng. »Schläfst du hier?« fragte ich. Einer mußte ja schließlich etwas sagen. »Ja, ich sitze auf meinem Bett. Und da drüben schläft die Evi. Du kennst sie doch, ja?« »Ja.« »Sie hat die Scheiben eingeworfen, damit ihr wieder herkommen müßt. Gut, nicht!?« »Ja, prima. Was sagt die Erzieherin dazu?« -9 3 -
»Ach, was soll sie sagen. Das waren welche aus der Stadt. Ist doch nicht unsere Sache aufzupassen, wer so was macht. Wir haben einen Flügel aufgemacht und von der Außenseite mit'm Handfeger reingehauen, wegen der Scherben, damit sie im Zimmer liegen. Raffiniert, nicht!?« »Im anderen Zimmer auch?« »Ach, das ist anschließend passiert, da war die Scheibe hier schon kaputt. Da haben sich zwei geprügelt. Hysterisch, weißt du. Dann schmeißen sie sich alles an den Kopf, was sie in die Finger kriegen. Und dann ist da eine Obstschale reingeflogen. Hätten wir das vorher gewußt, dann hätten wir diese Scheibe für später aufheben können.« »Bist du auch hysterisch?« Karen zuckte die Schultern. Sie hatte kurze blonde Haare, die ihr gut zu Gesicht standen. Ich verglich sie mit Evi und fand Karen besser, irgendwie netter. Sie hatte auch nicht »besoffen« gesagt, sondern »betrunken«. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.« Auf dem Flur waren schnelle Schritte zu hören. Karen sprang auf. »Schnell! Unters Bett! Die Britta!« Sie schob sich unter das Bett neben der Tür, ich unter das andere. Mein Hemd knirschte mißtönend, weil es an einem Betthaken hängenblieb. Die Betten waren sehr flach und standen längsseits an der Wand, dazwischen war die Tür, durch die jetzt Fräulein Brittas Beine bis zum Knie hereinkamen, dann Bennos verbeulte Nietenhosen. Die vier Beine blieben stehen. Ich fragte mich, wieso ich auch unters Bett gekrochen war. Karen alleine hätte doch genügt. Außerdem war doch nichts dabei, wenn sich miteinander unterhielt. Jetzt lag ich hier.! »Ich halte das nicht aus«, hörte ich Fräulein Brittas Stimme über mir, »jetzt ist der auch noch weg!« Karen blinzelte mir zwischen Benno- und Brittabeinen hindurch zu und legte einen Finger an die Lippen. Ich fand es doch ganz gut, dass ich mich versteckt hatte.
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»Das hat mir noch gefehlt! Still!« Nichts war zu hören. Das Haus war ruhig. »Man hört auch gar nichts«, Fräulein Brittas Stimme klang ein bißchen verzweifelt, »das ist noch viel schlimmer als Krach!« »Vielleicht ist er nur mal eben raus, er muß mal austreten«, tröstete Benno sie. »Ja, das kann ich mir denken! Aber ohne >aus
Karen gab mir die Hand. An der Tür drehte sie sich noch mal um. »Ein Brief ist übrigens von mir.« Weg war sie. Ich hämmerte den letzten Kitt aus dem Fensterfalz und dachte nach.
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3 »Warum hast du denn unter dem Bett gelegen?« fragte Benno mich und schoß einen Stein vor sich her. »Weiß ich auch nicht. Das ging alles so schnell. Gegenüber lag eine Mieze, Karen heißt sie. Kennst du sie?« »Nee. Kann ja nicht alle kennen. Da sind sechzig Miezen oben. Und?« »Was und, und! Nichts und! Wir haben uns nur unterhalten. Sonst nichts.« »Von Bett zu Bett.« »Quatsch. Da war nichts.« »Hätte ja sein können. Mensch, die Britta hätte mich bald erwischt. Ich habe ein bißchen an Evi rumgefummelt, sie hatte sich vorher die Hose ausgezogen. Das ist ja das praktische an so einer Mieze, wenn sie ein Kleid anhat. Dann horten wir die Britta rumrennen. Zum Verrücktwerden! Aber Samstag gehen wir in die Stadt. Erinnere mich mal dran, daß ich noch zu Schade gehe, er soll meinen Pulli von der Kammer rausrücken.« Ich nickte. Im Fuchsbau hatte jeder Junge irgend etwas von seinen eigenen Sachen in Besitz. Ein Hemd, einen Pullover, eine Jeans oder mehrere Stücke zugleich. Wenn man am Sonntag in die Kirche ging, die oben in der Verwaltung in der Aula abgehalten wurde, dann bekam man sein eigenes Zeug von der Kammer ausgehändigt. Anschließend musste es wieder abgegeben werden. Doch es gab genügend Tricks, um ein Stück zu behalten. Man nahm zwei Hemden mit und faltete bei der Rückgabe ein Hemd so, daß es wie zwei aussah. Schade nahm das auch nicht so genau. Wenn man Freigänger war, dann konnte man auch ein paar Mark auf die Seite legen und sich ein T-Shirt kaufen oder mal eine billige Hose. Schließlich konnte man nicht wie ein Penner -9 7 -
in die Stadt laufen. Das sah selbst Wälzer ein und guckte nicht hin, wenn wir eigenes Zeug trugen. Allerdings kannte ich niemanden, der sich etwas kaufte. Man sagte gekauft und hatte geklaut. In einer Stadt von achtzigoder neunzigtausend Einwohnern gab es eine Unmenge Leinen, auf denen Wäsche hing. Sie waren einfach da. Was war schon dabei, wenn mal eine Hose oder ein Hemd abgeklammert wurde. Benno war in die Gärtnerei gegangen und pflückte Obst. Ich hatte die Briefe an die Empfänger verteilt und legte mich an die Sportplatzböschung, die nie fertig wurde. Ich sah mir die vier Briefe an und überlegte, welchen ich zuerst öffnen sollte. Ich schüttelte Looms zerquetschte Zigarre aus der Hemdtasche, das Zeug ließ sich nicht mal in der Pfeife rauchen. Für besondere Verdienste, hatte er gesagt. Der Spinner. Zwei Briefe waren rosa, einer war hellblau und einer weiß. Der hellblaue trug eine hübsche Handschrift. Ich wünschte, daß es der von Karen sei. Er war es. Die drei anderen Briefe fand ich reichlich blöd. Innige Liebe und der einzige, welcher, und Treue fürs ganze Leben. Das wollte die eine rosane. Die weiße hätte gerne ein Kind gehabt, ein ganz kleines süßes. Eine Vorstellung hatten die! Treue fürs ganze Leben. Wer wusste überhaupt, wie alt er wurde. So ein Leben ist ganz schön lange. Hm, der Zweitevatervater war immerhin achtundfünfzig. Er hatte immer gesagt, ich würde mal im Zuchthaus verrecken, wenn ich den Garten nicht umgraben würde. Also, die im Zuchthaus saßen, die hatten früher den Garten nicht umgegraben. Scheiß. Wie komme ich überhaupt drauf? Ah ja, achtundfünfzig war der Alte. Das kann schon ein ganzes Leben sein. Und kleine süße Kinder gibt es nicht von mir! Basta! Als ob ich den Samen im Brief verschicken könnte! -9 8 -
Die andere rosane schrieb nämlich mit >h<, wie kann man das nur mit >h< schreiben. Wer nämlich mit >h< schreibt, ist dämlich. Hm, so wild ist es nun auch wieder nicht. Ich schlitzte den hellblauen auf. »An Benjamin - Fuchsbau« stand drauf. Auf den anderen ebenfalls. Das reichte vollkommen aus. »Hallo Benjamin!« Hm, das klang normal, als wenn man jemandem guten Tag sagt. »Meine Zeilen an dich werden nicht sehr lang werden, denn was soll man sich groß schreiben, wenn der eine den anderen nicht kennt.« Da hat sie recht. Wie vernünftig! »Ich habe dich neulich zum ersten Mal gesehen, als ihr im Tagesraum die Fenster repariert habt. Ich würde mich ganz gerne mit dir schreiben, weil ich dich leiden mag (bilde dir bloß nichts darauf ein).« Olle Pute! »Wir könnten uns mal treffen, wenn du willst. Ich gehe jeden Dienstag und jeden Samstag in die Stadt zum Saubermachen und habe um Viertel vor fünf Feierabend. Anschließend gehe ich noch immer an den Kiessee und schwimme eine halbe Stunde. Hinter dem Wald zur Ziegelei hin, da ist eine kleine Bucht. Ich weiß zwar nicht, ob du Zeit hast oder überhaupt bei euch wegkannst...«. Natürlich kann ich. ».. aber dann weißt du Bescheid. Für alle Fälle. Du wirst dich sicher fragen, wie ich aussehe und so. Zu deiner Beruhigung: Ich habe kein Holzbein, keine Hängebrust, und ich wiege auch nicht zwei Zentner! Evi hat heute abend die Scheiben in unserem Schlafraum eingehauen, und es ist ziemlich sicher, daß ihr und euer fettes Spanferkel morgen hier erscheinen werdet. (Es zieht ganz schön!) Dann wirst du mich sehen. Bis dahin also, tschüs. Karen.« -9 9 -
Ich legte mich ins Gras zurück. Nett schreibt sie. Ein ganz normaler Brief. Sonst kriege ich nur Post von Mama. Aber die schreibt anders. Auch normal, aber eben doch anders. Ich solle mich gut führen, dann wird alles wieder gut, und ich komme bald wieder nach Hause. Hm, ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt will. Der Zweitevatervater nörgelt, und der Zweiteva-ter traut sich nichts zu sagen! Karen hätte mir alles heute nachmittag sagen können. Ein Brief ist übrigens von mir, und zack weg war sie. Samstag gehen wir in die Stadt, Mensch, das paßt ja wieder alles. Ich werde hingehen, an den Kiessee, und Benno geht zu Evi. Mochte wissen, wohin uns der Wälzer zum Arbeiten schickt. »Benno, mein Kreuz tut vielleicht weh, oha!« »Meins auch«, sagte er fluchend, »ist ungewohnt. Wir haben zu lange ausgesetzt. Mach dir nichts draus.« Er spuckte einen Strahl schwarzer Spucke in den Kohlenstaub und schaufelte unermüdlich weiter. Ich hielt den schmutzigen Sack auf. Über den Dächern der Stadt konnte ich eine Kirchturmuhr sehen, zu der ich andauernd hinblickte. Halb vier. Eine Stunde noch, dann hatten wir es geschafft. Wir mußten Eierkohlen abfüllen. Zu Zentnern. Jedesmal wenn ein Sack voll war, stellten wir ihn zur Seite. Hatte sich eine Anzahl angesammelt, nahm sich jeder einen Sack und schleppte ihn fünfzig weiter unter ein Überdach. Dort standen wer weiß wie viele Zentner Kohlen. Eierkohlen, Nußkohlen klein, Nußkohlen groß, Briketts, Steinkohlen klein und groß, Kokskohlen, Heizkohlen eins, zwei und drei. Es gab hier Kohlen wie Margarinesorten. Nur Kohlen waren schwer. Ab Mittag hatte ich ein Gefühl, als wenn ein Zentner das doppelte wiege. Ein paarmal waren LKWs gekommen, die wir zwischendurch unter dem Überdach beladen mußten. Den ersten beiden Fahrern hatten wir einige Zentner unter der Hand verkauft. Der letzte hatte auch was genommen. Drei Zentner, das war ein Kasten Bier. Ein Kasten Bier, das waren zehn Mark. -1 0 0 -
Der erste Fahrer hatte für fünf Kästen genommen und hatte sich sehr gefreut. Er kam noch nicht lange zu dieser Firma und kannte das nicht. Der zweite nahm für zwei Kästen. Aber der letzte kam kurz nach dem Mittagessen, er war ein Freund des ersten Fahrers und wollte fünfzig Sack abholen und nahm auch für fünf Kästen mit. »Jeder sieht zu, wie er klarkommt, Jungs«, hatte er gesagt. Da hatte er recht. Was weg war, war eben weg. Unter dem Dach standen achthundert oder gar tausend Zentner, dauernd kamen neue Säcke hinzu, wurden andere abgeholt. Da zählten unsere paar Säcke als Verschnitt. An der anderen Hofseite arbeiteten noch zwei Jungen aus der Anstalt. Sie luden einen Waggon ab. Sie machten das mit breiten Koksgabeln und brauchten nur den Koks auf ein tiefer liegendes Förderband zu schaufeln. Das war nicht besonders schwer, aber dort ließen sich keine Geschäfte machen. »Was ist die Uhr?« fragte Benno. »Viertel nach.« »Vier?« »'türlich. Dachtest du drei.« »Gut, machen wir Schluß. Duschen. Wenn ich bedenke, daß heute der gewerkschaftlich erkämpfte, arbeitsfreie Samstag ist, der Fami-lientag, dann kommen mir die Tränen.« Er schulterte seine Gabel. »Laß sie kommen, du brauchst dann weniger Wasser beim Duschen.« Nach dem Duschen gingen wir zum Büro des Platzmeisters, der unseren Arbeitsschein unterschrieb und jedem fünf Mark gab. Das bekam man bei Kohle & Co. immer, und das war ein guter Verdienst. In der Holzhandlung gab es nur drei. Die beiden anderen Jungen waren vom Sprungbrett und kamen rein, als wir gehen wollten. „Wartet, wir kommen mit euch.« »Gut. Aber beeilt euch.« Wir setzten uns auf ein Geländer an der Straße. Benno zählte das Geld ab und gab mir die Hälfte. »Hier. Drei Pfund für jeden. Die anderen brauchen nichts zu wissen, Ich steckte die Scheine in die Uhrtasche meiner Hose und überlegte, wann ich schon einmal sechzig Mark besessen hatte. Noch nie. Und damit konnte ich nun machen, was ich -1 0 1 -
wollte. Ich könnte für Karen etwas mitbringen, da freut sie sich. Aber das sieht so blöd aus, als wenn ich was von ihr wollte. Na, mal sehen. So schwer war die Arbeit bei Kohle & Co. nun auch wieder nicht. Ha, im Bergwerk, da müssen sie noch ganz anders ran. Oder früher auf den Galeeren, die Sklaven, nicht einen Pfennig hatten die bekommen. Die Sprungbrettjungen kamen um die Ecke. »So, Leute, jetzt gehn wir erstmal ein kühles Blondes trinken! Wir kennen 'ne dufte Kneipe.« »Nee, wir haben noch was vor.« »Ihr wollt zu den Miezen. Gehen wir auch noch hin, aber anschließend. Erst das Bier geht alles besser.« Das fand ich nicht. Bier, schmeckte bitter. Und es stank. Und die, die Bier tranken, die mußten alle Augenblicke pinkeln gehen. »Wir müssen die Zeit einhalten«, sagte ich. »Na gut, wir gehen bis zum Güterbahnhof mit«, erwiderte der kleinere der beiden. An der nächsten Kreuzung trafen wir noch zwei aus dem Heim, aber sie blieben auf der anderen Straßenseite. Vor einem Fotogeschäft, das ein paar Meter von der Straße entfernt lag, standen Jungen mit ihren Mopeds. Es waren welche aus der Stadt. Vier der Jungen standen neben ihren Maschinen, drei lehnten an einem Holzzaun, es waren wohl die Beifahrer. Sie trugen alle Lederjacken. Ich fand so eine Jacke nicht schlecht. Aber dann musste man auch ein Moped haben. Nicht so eines wie die hatten, mit dem ganzen Klimbim dran, sondern eine starke Maschine mit hochgezogenen Blechen, mit der man auch Rallye fahren konnte. Als wir auf gleicher Höhe waren, pöbelte uns einer der Jungen an. Ich hatte gar nicht mitgekriegt, was er gesagt hatte, aber Benno blieb stehen. »Mensch, geh doch weiter, du Anstaltshiwi«, sagte ein Lederbejack-ter kauend, »oder wartest du auf meinen Gummi? Hier!« -1 0 2 -
Er spuckte sein Kaugummi gegen Benno. Der war im gleichen Moment bei ihm und schlug eine Gerade. Der Stadtjunge wollte zurückschlagen, doch Benno wich aus und schlug wieder zu. Der Junge stolperte nach hinten und fiel auf die Betonplatten vor dem Geschäft. Das war alles sehr schnell gegangen. Im Nu waren seine Kameraden da, auch die von den Mopeds. Ich schlug um mich, ich trat mit dem Fuß zu, wenn ich konnte. Ein pfeifender Hieb traf meine Schulter, ich spürte wie das Hemd aufriß. Die Lederjacken schlugen mit Fahrradketten. Von der anderen Straßenseite kamen die zwei Mann von uns als Verstärkung. Ein Sprungbrettjunge hatte eine Zaunlatte abgerissen und ließ sie kreisen. Sie zerbrach beim ersten Schlag. Er riß eine neue ab. Ich bekam den Arm einer Lederjacke zu fassen und drehte mich um, ließ den Arm nicht los. Der Junge schrie, aber ich hielt ihn fest und schleuderte ihn im Kreis herum. Sein eigenes Gewicht zog ihn mit. Er schrie hoch und schrill. Wie ein Schwein. »Mamaaaaaa!« schrie er und übertönte alles. Da ließ ich ihn los. Er krachte mit baumelndem Arm in die Scheibe des Fotogeschäftes und fiel mit dem Glas in die Apparate. Ich griff seine Kette aus dem Dreck. Ich konnte die Lederjacken gar nicht verfehlen. Ich bekam wieder einen Schlag mit einer Kette und fühlte, wie meine Haut aufplatzte. Ich trat und ließ meine Kette pfeifen. Warum lassen sie uns nicht in Ruhe, diese Idioten! Warum lassen sie uns nicht in Ruhe! Ich trat in einen Bauch. »Mein Ohr! Mein Ohaaaaa! Mein Ohaaaa!« Eine Lederjacke kreischte und hielt mit beiden Händen die Ohren zu. »Mein Ohaaaa!« schrie er immer. Dann rannte er quer über die Fahrbahn. Autobremsen quietschten. Eine Hupe ertönte laut und anhaltend.
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Zwei andere Stadtjungen liefen durch den kaputten Zaun und verschwanden in dem Garten dahinter. Auf einmal waren wir nur noch alleine da und der, den ich getreten hatte. Er lag auf dem Boden, auf dem Rücken und hielt seinen Bauch fest. Er kotzte blubbernd und der Kotzbrei lief ihm über das Gesicht, verschmierte alles. Am Zaun lag einer. Er mußte k.o. sein, denn er lag an den Zaun gelehnt und ließ den Kopf nach vorn hängen. »Ein Schweinsohr«, keuchte Benno und hob ein Ohr auf. Es war ein Menschenohr. Ich schluckte. Um uns herum standen eine Menge Leute und drohten mit den Fäusten. Benno warf das Ohr in die Richtung. Ohne daß wir miteinander sprachen, hoben wir die Mopeds hoch und warfen sie auf die Betonplatten, wieder hoch, wieder auf die Platten, wieder hoch, wieder auf die Platten. Glas und Metall knirschten. Die Leute ringsherum schrien jetzt durcheinander und drohten mit Gehstöcken und Taschen in den erhobenen Händen, weil wir das taten. Doch es traute sich niemand an uns heran. Von irgendwo her tönte die Sirene eines Streifenwagens. »Bullen!!« Wir rannten in eine Toreinfahrt neben dem Fotogeschäft, an dem das Türgitter heruntergelassen worden war, wir kletterten über mehrere Mauern, hasteten durch Gärten und Hinterhöfe. Ein Hund kam kläffend angerannt und rannte jaulend wieder weg, weil er einen Tritt bekommen hatte. Erst als wir über das Güterbahnhofsge-lände hinaus waren, verschnauften wir. Auf dieser Seite floß ein Fluß, ein Flüßchen, denn er war nur fünfzehn oder zwanzig Meter breit. Wenn man dem Wasser entgegenging, gelangte man zum Landeskrankenhausgelände, dann an einer großen Schrebergartenkolonie vorbei bis zum Kiessee. Vor dem Kiessee bog der Fluß zum Stadion hin ab. Wir überquerten die Promenade und gingen in die tiefer liegenden Flußwiesen, um unsere Sachen am Wasser in Ordnung zu bringen. »Diese verdammte Saubande«, fluchte Benno laut. »Vielleicht haben sie gedacht, wir sind aus dem
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Nachbarort, mit. denen prügeln sich die Stadtjungen doch auch oft.« »Ach Quatsch! Der hat doch Anstaltshiwi zu mir gesagt! Da wart ihr noch auf der ändern Straßenseite. Die wußten genau, woher wir kamen! Mensch, das nächste Mal schlagen wir ihnen die Birne ein!« Das nächste Mal werden die vorsichtiger sein, dachte ich. »Aber ich hab dem einen sein Schweinsohr abgeschlagen«, Benno grinste schon wieder. »Wollte ich gar nicht, er kommt hoch und dreht die Birne und klatsch! Weg war es!« »Mit der Kette?« "Klar! Ein Schlag. Wie ein Rasiermesser.« »Vielleicht saß es schon ein bißchen locker. Zur Hälfte hat es gereicht.« »Mein Finger ist im Eimer«, sagte einer vom Sprungbrett. »Und meine Fresse.« »Zeig mal! Nicht loslassen, du mußt sie festhalten.« Der andere Junge vom Sprungbrett hielt seine Wange. Wenn er losließ, dann klappte sie wie ein Lappen runter, wie ein Stück rotgefütterter Stoff. »Hab eins mit'm Schlagring abgekriegt. Habe erst gar nichts gemerkt.« »Dann hau schon ab. Das kann noch geklammert werden, wenn es frisch ist. Geh zum Neubau, Müller hat Dienst.« Müller war der Erzieher im Neubau, der für den ambulanten Behandlungsraum zuständig war. Der Junge trabte los. Wenn er sich beeilte, war er in einer Viertelstunde da. »Dein Hemd ist auch im Arsch, Benjamin.« »Weiß ich. Pelle auch.« »Made in Fahrradkett!« »Am besten, wir trennen uns«, sagte der eine von der anderen Straßenseite, der Hans hieß. »Jeder denkt sich selbst 'ne Story aus, wenn er gefragt wird. Sonst verhaspelt sich einer.«
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»Das geht schon klar, Hans«, Benno nickte. »Ben und ich wollen sowieso noch zu den Miezen. Wir kriegen ohnehin kein Recht, und wenn die zehnmal angefangen haben.« »Bis dann also.« Benno und ich gingen auf die gegenüberliegende Promenade. Die anderen blieben im Gras zurück. Die Promenade war nicht mehr als ein breiter Spazierweg, auf dem keine Autos und keine Fahrräder fahren durften. Ich holte meine Armbanduhr aus der Tasche. Ich trug sie dort, weil sie keine Armriemchen besaß. Vier Minuten nach fünf, sah ich und dachte, wie schnell doch etwas passieren kann und wie langsam die Zeit dabei vergeht. Spaziergänger kamen uns entgegen, manche so langsam, als wollten sie genau dann zu Hause ankommen, wenn die Sonne untergegangen war. Viele musterten uns, und manchmal lächelten sie verächtlich, als wollten sie sagen: Ach ja, die Zöglinge aus dem Heim, da oben. Wie kann man nur so herumlaufen, zerrissen und dreckig. Als wenn sie in den Kohlen gearbeitet hätten. Aber solche arbeiten ja nicht! Müssen die denn ausgerechnet hier langgehen? Warum wird so was nicht von der Stadt verboten? Jetzt kam ein halbaltes Ehepaar mit einem Jungen, der etwa in unserem Alter sein mußte. Die Jacke trug er über einem Arm, an der anderen Hand baumelte ein Fotoapparat. Sein Oberhemd war makellos weiß. Er sah uns und fragte die Frau etwas. Ich konnte nicht verstehen, was es war, doch alle drei guckten uns jetzt an, Auch der Mann, der vorher ein Paddelboot beobachtet hatte. Ihre Mienen drückten alle das gleiche aus. Ich wartete, bis sie nur noch ein paar Schritte von uns entfernt waren und zog geräuschvoll Spucke hoch. Einmal, zweimal. Es hörte sich an, wie wenn ein Balken über eine Holzbohlenbrücke geschleift wird. Dann spuckte ich auf einen Baumast, neben dem Weg, und ich traf. Die Spucke war grauschwarz und tropfte, einen langen schleimigen Faden nachziehend, von dem Ast. »Aaaalso... das ist doch...!« hörte ich die Frau sagen. Aber es interessierte mich -1 0 6 -
nicht, was sie sagte. Mich interessierte nur die Spucke. Und die gehörte mir. Was ging die überhaupt meine Spucke an! Der Schleimfaden wurde immer dünner, und der Tropfen fiel schneller, ich ging in die Hocke, jetzt! Jetzt riß er ab und fiel auf einen Grashalm, der sich unter dem Gewicht durchbog. Wie ein kleiner Lappen hing die Spucke über dem Halm, dann rutschte sie nach einer Seite ab und verschwand in dem Grasdickicht. Der zweite Tropfen hing an der Rundung eines Astes, ich richtete mich wieder auf. Doch der Faden war nicht mehr so dick wie Paketschnüre, es war eher ein guter Zwirnsfaden, er riß ab, und das am Ast hängende Stück zog sich wieder hoch. Die Vater-Mutter-Sohn-Gruppe war stehengeblieben und guckte mich an wie einen Aussätzigen. Anscheinend hatten sie so was noch nie gesehen. Ich grinste und beförderte einen zweiten Schub Spucke nach oben. »Karrrl!« schrillte die Frau. »Kannst du nichts dagegen tun!?« »Polizei!« sagte der Mann. »Das können wir der Polizei melden!« Ich rotzte in Richtung Ast, aber ich verfehlte ihn. »Furchtbar!« stöhnte die Frau. Aber sie blieben stehen. Es grum-melte in meiner Kehle, ich zog hoch, und sie starrten mich an. Aber ich ging ganz plötzlich weiter. Angeschmiert! Die dachten wohl, ich spucke bis zum Dunkelwerden! Benno wartete etwas weiter. »Was war denn da los?« »Nichts. Ich habe gespuckt, und die haben mir zugesehen. Die so was noch nicht.« Ich drehte mich um. Die Gruppe stand da immer noch und redete. »Gleich ist es halb sechs. Ich denke, du willst deine Mieze noch am Kiessee treffen«, sagte Benno, »laß uns ein bißchen laufen. Ich verdrücke mich gleich vornean ins Wäldchen. Wer zuerst fertig ist, der wartet in den Tongruben.« »Aber ich weiß doch gar nicht, ob sie da ist. Kann ja was dazwischengekommen sein.« Ich dachte an Karens Brief.
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»Dann kommst du mir nach. Oder geh an der Ziegeleikantine vorbei und bring zwei Flaschen mit. Vielleicht ist auch dicke Luft da oben, dann brauchst du nicht lange warten.« Wir liefen gemächlichen Dauerlauf. Ich spürte jetzt meinen Rücken, er brannte, als sei ich in Brennesseln gefallen. Dort, wo der Fluß eine Biegung machte, war die Gartenkolonie zu Ende. Wir gingen über eine schmale Asphaltstraße, dann befanden wir uns am Kiesseeufer. An dieser Seite war es mit Büschen und Schilf bewachsen. Von der Straße zweigte ein schwarzer Schlackeweg ab. Er führte zwischen Kiesseeufer und Mädchenheimwald entlang, dann um die Ziegelei herum und mündete wieder an der Bundesstraße. Das war ein Privatweg der Ziegelei, der von jedermann benutzt wurde. Vor dem Wald kam noch ein Stück Acker. Das war das Feld, das man vom Neubau aus sehen konnte. Ich versuchte festzustellen, von welchem Fenster aus Icke und ich rausgeguckt hatten, doch die Fenster sahen alle gleich aus. Das Jungenheim lag auf dem höchsten Punkt. Den Neubau und die Verwaltung konnte man sofort erkennen. »So, machs gut.« Benno lief über eine schmale Wiese, dann war er im Wald untergetaucht. Es war ein richtiger kleiner Wald und kein Wäldchen. Aber wo lag da der Unterschied, fragte ich mich. Direkt an den Wald schloß sich das Gelände von Heise & Sohn an; das war der Name der Ziegelei. Der Kiessee verästelte sich hier. Ich bog vom Weg ab und verdrückte mich in die Büsche. Ein Stück Wiese, dann ein Wasserarm, den ich umgehen mußte, wieder Büsche. Vielleicht wartete sie gar nicht mehr auf mich. Sechs Uhr. Um fünf hat sie Feierabend, nein, früher, aber um fünf ist sie dann erst hier Wenn die Rocker nicht gewesen wären, dann hätte ich um halb sechs hier sein können. Wenn, wenn! Ein dämliches Wort! Ein neuer Wasserarm tauchte auf, es war mehr eine Beule im Seeufer, und ich entdeckte Karen. -1 0 8 -
Sie trug einen verblichenen Badeanzug und drehte sich auf die Seite, als sie mich hörte, sah mir entgegen. »Hallo.« »Schön, daß du kommst, ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet.« »Prügelei gehabt.« Ich setzte mich zu ihr auf das Badetuch. »Prügelst du dich gerne?« »Quatsch, Soll ich stillhalten und aua aua sagen?« »So war es doch nicht gemeint.« Ich zog meine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Tasche. »Magst du?« »Ja, danke. Ich habe aber auch welche.« Karen legte sich wieder zurück und blies den Rauch in die Luft. Sie war sehr schlank. Unter dem Stoff zeichneten sich ein Paar kleine runde Brüste ab, sie hoben und senkten sich, wenn sie atmete oder den Rauch ausstieß. »Wie alt bist du eigentlich, Ben?« »Ich? Warum?« »Ach, nur so.« Sie lachte. »Ist auch unwichtig.« »Werde siebzehn«, sagte ich und stellte fest, daß das nicht einmal gelogen war, auch wenn es noch gut zwei Jahre dauerte. »Bin ich im Mai geworden.« »Dann bist du eine Maikatze.« »Hmhm.« Die Beinöffnungen ihres Badeanzuges hatten sich etwas verschoben und gaben einen Streifen weißer Haut frei, wo die Sonne sonst nicht hinkam, an der Haut waren ein paar winzige Härchen eingeklemmt. »Warum bist du hier oben?« »Warum. Auf den Strich bin ich nicht gegangen!« »Das habe ich auch nicht gefragt.« »Ich bin eine blöde Ziege, nicht?« Karen drehte sich zu mir und stützte den Kopf auf die Hand.
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Ich erwiderte nichts. Mir fiel nichts ein, was nett genug gewesen wäre, um es ihr zu sagen. »Weil ich schwer erziehbar bin«, sagte sie. Sie kramte in einer kleinen Tasche, die neben ihr auf den Badetuch lag. »Laß uns meine Zigaretten rauchen, Ben. Ich bekomme öfter welche als du. Hier.« Sie steckte mir eine in den Mund. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, fuhr sie fort, »ich sollte Verkäuferin werden, weißt du Mein Vater hatte ein Geschäft, es war das einzige im Ort. Als ich lernte, mußte ich immer dreißig Kilometer bis in den Nachbarort fahren, dort war ein großer Laden. Und der Einfachheit halber wohnte ich da, im Haus des Kaufmanns. Da wohnten noch zwei Verkäuferinnen. Mein Vater hatte noch eine Filiale, er war immer unterwegs, eines Tages ist er mit dem Auto verunglückt. Er war sofort tot, haben sie gesagt. Er hat auch Öfter was getrunken. Da war nur noch meine Oma zu Hause...« »Und deine Mutter?« »Die ist gestorben. Ein Jahr, bevor ich aus der Schule entlassen wurde. Das Geschäft ist verkauft worden. Mein Vater hatte eine Menge Verpflichtungen zu erfüllen, er wollte sich immer mehr vergrößern, weißt du. Und dann muß man Darlehen aufnehmen. Na ja, der Kaufmann, bei dem ich war, mit dem hatte ich schon in den ersten Wochen Krach gehabt. Ich stand mal im Lager auf der Leiter, und plötzlich steht der Typ unter mir und faßt mir zwischen die Beine, und kaum war ich unten, da habe ich ihm ein Ding geknallt. Da war noch ein Mädchen, die war im zweiten Lehrjahr, mit der hatte ich ein hübsches Zimmer. Die hat sich halb kaputtgelacht, als ich ihr das erzählte. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagte sie, und was denn dabei wäre. Mit ihr hätte er schon ganz andere Dinge gemacht, und man hätte nur Vorteile dadurch. »Phh«, Karen lachte verächtlich, »die stellte sich schon breitbeinig hin, wenn sie seine Stimme auf dem Flur horte, Dann hatte sie Geburtstag, und es wurde eine richtige Feier gemacht, und wir waren alle ganz schön betrunken, na ja, das ist keine Entschuldigung, jedenfalls hat er mich soweit gehabt. Die -1 1 0 -
andere und seine Frau waren auch dabei. Und da dachten die, das ginge jetzt jede Woche so. Ich habe ihnen was gepfiffen. Er hat mich schikaniert, das wurde immer doller, und da bin ich einfach abgehauen, habe die Tageskasse mitgenommen. Ich hatte ja nichts, und ich mußte doch leben. Dann haben sie mich auf St. Pauli erwischt.« »Wo wolltest du denn hin?« »Nach Samen, in der Schweiz. Da habe ich eine Tante. Sie hat mir schon einige Male geschrieben. Da hätten sie mich lange suchen können, in der Nähe ist der Vierwaldstättersee. Kennst du den?« »Ja, aber nur dem Namen nach. Wieso bist du über Hamburg gefahren, wenn du in die Schweiz wolltest?« »Ach, das ist alles so blöd gekommen. Bin doch nur Anhalter gefahren. Wie's gerade kam. Jetzt bin ich hier.« Karen zündete neue Zigaretten an, gab mir eine. Zwischendurch hat man probiert, ob ich leichter zu erziehen sei, so nach einem Jahr. Arbeitsurlaub nennen sie so was in der Akte, und zu dir sagen sie Entlassung auf Widerruf und daß du jetzt deine riesengroße Chance hättest. Als Mädchen für alles war ich in einer Großhandlung. Saubermachen. Und breitmachen, gleich am zweiten Tag. Du weißt doch, ein Anruf, und du bist wieder in der Anstalt!« Karen äffte mit dem letzten Satz jemanden nach. »Hat nur vier Wochen gedauert, dann war ich wieder hier«, sagte sie nach einer Weile. Ich steckte ein Streichholz an, ließ es abbrennen. Trotz der Abendstunde war es drückend warm und so windstill, daß die Flamme nicht ein einziges Mal flackerte. Ich legte mich auf den Bauch und guckte über den See. Auf der anderen Seite war ein Anleger, an dem Boote festgebunden waren. »Hast du gebadet?« »Ja, das Wasser ist herrlich. Dein Hemd ist kaputt.« »Weiß ich.« »Oh, zeig mal, was ist... denn das?« Sie zog vorsichtig den Stoff auseinander. Ich fühlte ihre Finger auf meinem Rücken, der überhaupt nicht mehr weh tat. -1 1 1 -
»Menschenskind«, sagte sie und nahm ein kleines Handtuch, sie lief zum Wasser und machte es naß, kam zurück. »Zieh das Hemd aus!« Ich tat es und riß es noch mehr entzwei. Karen kniete sich neben mich und hantierte auf meinem Rücken herum. Das kalte Handtuch tat gut auf meiner Haut, ihre Hände taten gut, ihre Knie, die ich in der Seite fühlte, taten gut, ihre Nähe tat gut. Es war herrlich, so im Gras zu liegen und über den See zu gucken, die Finger zu spüren, die behutsam weich mit mir in Berührung kamen. »Wie ist das passiert?« »Hab ich doch gesagt. Prügelei. Bengels aus der Stadt. Sie hatten Ketten.« »Damit kann man ja einen totschlagen!« »Nicht auf dem Rücken.« Sie war fertig und legte sich neben mich auf den Bauch. »Es tut mir leid, von vorhin«, sagte sie nach einer Weile. »Was?« »Als ich dich fragte, ob du dich gerne prügelst.« »Das ist nicht schlimm.« Ich zog meinen Hemdfetzen wieder an. »Ich werde mich auch anziehen«, Karen stand auf, »um sieben gibt es bei uns Abendbrot und die in der Stadt arbeiten, die sind dann alle da. Es würde auffallen, wenn ich fehle.« Sie schob die Träger des Badeanzuges runter. »Drehst du dich um?« »Aha, du schämst dich.« Ich rollte mich auf die andere Seite. »Ach, du.« Ich hörte, wie sie mit ihrem Zeug raschelte und fragte mich, ob sie wieder ein Blumenhöschen anhatte. »Ich kann dir eine Hemdbluse von mir geben«, sagte sie hinter mir, »so kannst du doch nicht ins Heim zurück.« »Och, das geht schon.« »Das geht nicht! Stell dich nicht so an. So eine Hemdbluse kann von Männern und von Frauen getragen werden. Du mußt hinten ans Fenster kommen, ich werfe sie dann raus. Fertig?-« -1 1 2 -
Karen hatte Rock und Bluse an. Sie verstaute Badetuch und Handtuch in ihrer Tasche und schlüpfte in ihre Sandalen. »Wollen wir unten um die Ziegelei gehen?« »Lieber nicht«, erwiderte sie, »da braucht nur mal ein Erzieher vorbeizukommen, wir gehen durch den Wald, erst immer am Rand lang, da ist ein Weg und dann so ein Pfad, ich kenne mich da aus. Wir kommen direkt bis an die Pforte. Ist Benno auch hier?« »Klar. Warte, ich helfe dir.« Ich gab Karen die Hand, damit sie über einen Graben springen konnte, wir gingen weiter, ohne einander loszulassen. »Warum ist die Evi hier?« »Du, genau weiß ich's nicht. Ich glaube Betrug oder Unterschlagung oder so, jedenfalls kein Strich. Aber sonst die meisten. Ist ja auch keine Kunst, die Beine breitzumachen, nur hinterher kriegt man sie so schlecht wieder zusammen, weißt du.« Ich wußte nicht. »Wenn man einmal damit angefangen hat, viel Geld verdient, dann will man's immer, das Verdienen. Die schaffen hier noch durchs Gitter an, daß sie 'n Profil am Hintern haben!« Ich grinste und mußte an Icke denken. »Ist doch wahr!« sagte Karen. Wir waren an der anderen Seite angekommen. Durch die Büsche war das Holztor zu sehen, der Haupteingang, den wir auch mit benutzt hatten. Wir blieben stehen. »Vielleicht dauert es ein bißchen«, sagte sie, »mit dem Hemd. Ich glaube, ich kann erst nach dem Essen in den Schlafraum, kannst du solange warten?« »Sicher.« Wir sahen uns an. Ich spürte, wie das Verlangen in mir drängte, sie einfach zu umarmen, sie zu küssen. Aber außer ein paar Schulzeit-küßchen hatte ich keinerlei Erfahrung. Das betrübte mich. »Ich werde am Dienstag auf dich warten, unten am See.« -1 1 3 -
»Ja, das ist gut.« Ihre Augen sind grau oder grün. Blödes Waldlicht, nicht mal die Augenfarbe kann ich sehen. Wenn ich richtig mit der Zunge in ihrem Mund umherschlug, dann müßte es doch ein guter Kuß werden. Ich faßte um Karens Hüfte und sie legte ihre Arme um meinen Hals. Das Mädchenheim war an einen Abhang gebaut worden. Die Fenster an der Vorderseite in Brusthöhe, waren an der Rückseite doppelt so hoch, und die Schlafraumfenster lagen unerreichbar hoch, es mochten zehn oder zwölf Meter sein. Dann kam das Dach, ein Flachdach, mit eckigen hohen Kaminen und Entlüftungsrohren. Es war ein sehr altes Gebäude. An den Hausecken waren große Bruchsteine vermauert, von denen jeder zweite Stein etwas vorsprang - als Verzierung. Den breiten Parkweg, der ehemals hier entlanggeführt hatte, konnte man trotz der Grasnarbe noch erkennen, weil in regelmäßigen Zeitabständen Büsche und Farnkraut in einem breiten Streifen vom Gebäude her abgeholzt wurden. Dicht an der Hauswand standen noch Sträucher, doch das war ein toter Winkel, der ohnehin nicht einzusehen war, höchstens von einem seitlichen Vorbau aus, doch das geschah selten, weil dort kein Erzieherinnenzimmer lag. An zwei Hausecken hatte man sehr hoch Scheinwerfer angebracht, damit auch nachts die Schneise zu übersehen war. Scheinwerfer im eigentlichen Sinne waren es nicht, es waren große, gewölbte Blechschirme an einer Eisenstange, die an der Hauswand befestigt war. Die Innenseiten der Schirme waren weiß emailliert. In der Mitte steckte eine Fünfhundert-WattBirne. Das war alles, doch der Schein reichte aus, um die unmittelbare Umgebung sehr hell zu machen. Jetzt war es noch Tag, und die Lampen waren aus. Auf der Fensterbank eines der oberen Fenster saß Benno. Er hatte einen Arm hinter die Gitterstäbe gehakt und ließ die Beine runterbaumeln. Er unterhielt sich mit zwei Mädchen, das eine Mädchen war Evi.
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Schräg unter Benno saß ein anderer Junge, der seine Freundin durch die Stäbe küßte. Als er sich nach mir umwandte, erkannte ich Fred von der Ziegelei. Er winkte lässig, so, als säße er in einem Cafe, an dem ich gerade vorbeikäme. »Moment«, rief Benno mir zu und verabschiedete sich von Evi. Das dauerte eine Weile. Ich sah ihm zu, wie er nach unten turnte. Die Fenster lagen so weit auseinander, daß man die nächste Fensterbank mit dem Fuß erreichen konnte, wenn man sich gehörig streckte. Benno machte das, er stieß sich ab und faßte schnell um die nächste Mauerkante in das Gitter, so daß er nicht mehr runterfallen konnte. Vom letzten Fenster aus verlief ein schmales Sims bis zur Hausecke. Benno stellte sich bäuchlings zur Wand auf das Sims, schob sich immer weiter auf die schmale Leiste und hielt sich am Fenstergitter fest. Jetzt war sein Arm ganz ausgestreckt, er ließ los, machte schnell ein paar seitliche Trippelschritte und bekam in dem Augenblick, als er nach hinten Übergewicht bekam, den eisernen Scheinwerferarm mit der anderen ausgestreckten Hand zu fassen. Dann kletterte er an den vorstehenden Bruchsteinen nach unten. Es war ganz einfach, man mußte nur auf dem Sims ein paar schnelle Schritte machen oder umgekehrt, wenn man vom Scheinwerfer aus zu den Fenstern wollte. »Hallo, Ben, wie geht's?« fragte Evi von oben herunter. »Sehr gut«, sagte ich und dachte es auch. Benno ließ sich den letzten Meter nach unten fallen. »Gut, daß du hier vorbeikommst, ich dachte schon, du wärst weg. Dann können wir noch 'ne Weile bleiben. Wenn wir zusammen eintrudeln, dann ist das nicht so wild.« »Aber ich habe doch gesagt, daß ich komme. Wenn ich nicht kommen wollte, dann hätte ich das auch gesagt!« »Ja, gut. Die Miezen essen jetzt. Wir verdrücken uns etwas in den Wald. Hast du sie getroffen?« »Natürlich. Sie schmeißt mir nach dem Essen ein neues Hemd runter, dann glotzen sie nicht so dumm im Heim.«
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»Kann sie machen. Die haben genug Hemden.« Benno grinste. Fred hatte seinen Fensterplatz ebenfalls verlassen. »Wollt ihr schon weg?« »Nee, noch nicht.« »Na prima, ich bleibe auch noch hier.« Wir gingen ein Stück ins Unterholz und legten uns hin. »Wenn die alte Glucke nicht da ist, dann läuft das hier oben. Die Britta und die Anni, die sind nicht so link. Aber die Geschke, die linst nur heimlich raus und ruft dann oben bei uns an.« »Und dann?« fragte ich. Fred sah mich mitleidig an. »Tja, wenn wir Glück haben, und das haben wir sehr oft, warnt uns eine Mieze, dann können wir noch einen Endspurt bis zum Heim einlegen. Wenn wir kein Glück haben, dann sperren sie erst mal die Freigängerarbeit.« »Wieso wissen die denn, daß wir hier waren?« »Och, das machen sie ganz einfach. Der Wälzer ruft auf den Häusern an und dann wird durchgezählt, das geht ganz flott. Und wer nicht da ist, der ist eben hier bei den Miezen. Fertig.« »Und wenn man nun gar nicht hier ist, wenn man woanders ist?« »Wo? Du sollst nach der Arbeit sofort wieder ins Heim zurückgehen. Wenn du mal Baden gehst oder mal in der Sonne liegst und länger wegbleibst, dann ist das zwar auch verboten, doch niemand sagt was. Aber wenn die Alte anruft, dann sagen sie was. Es bleibt gehopst wie gesprungen. Wir dürfen uns eben nicht schnappen lassen. Aber die ganzen Zimmer hier an der Rückseite, da können die Miezen auch rein. Wenn also 'ne Glucke kommt und will nachsehen, was hier hinten vor sich geht, dann werden wir vorgewarnt.« »Da kommt wer«, Benno richtete sich auf. »Wo?« »Von der Seeseite her.« »Ruhig doch mal!« Von der Seeseite her hörten wir Äste brechen. Dann Stimmen. »Er hat recht. Leise.« -1 1 6 -
Wir lauschten. »Die kommen angelatscht wie Elefanten. Unsere sind nicht so laut.« Die Stimmen und das Knacken waren jetzt sehr nahe. In dem grünen Dickicht konnte man zwei Schritte voneinander entfernt sein, ohne sich zu sehen. Wir erhoben uns lautlos. Plötzlich waren zwei Kerle vor uns. Sie erschraken mächtig. Wir nicht. »Ihr habt uns aber einen ganz schönen Schreck eingejagt!« sagte der Jüngere von ihnen. Ich schätzte ihn auf etwas älter als Benno. Der andere mochte so an die vierzig sein. Er hatte schon Haare gelassen »Wo wollt ihr denn drauflos, wie?« »Oh, wir, nur so quer durch den Wald und...« »Gänseblümchen pflücken und Waldluft atmen, ich weiß«, unterbrach Benno den Älteren. »Aber das zieht nicht. Wir stoßen unsere Hühner selbst, kapiert!?« Fred sah sich den Jüngeren an. »Mensch, dich kenn' ich doch! Du warst doch schon öfter hier oben, Wollt 'ne Nummer machen, was?« »Meine Verlobte... äh... die wohnt nämlich hier oben...«, der Ältere druckste. »Uhuhuuuuu!« Fred heulte vor Vergnügen. »Ich halt' das nicht aus, habt ihr das gehört? Seine Verlobte wohnt hier. Wenn er die Verwandten besucht, muß er erst 'ne Waldläuferausbildung haben, das is'n Ding. Egal, ob Verlobte oder nicht, macht'n Fünfer!« Fred strecke die offene Hand aus, nach dem Jüngeren hin, weil der ihm am nächsten stand... Dieser wand sich einen Moment. Dann zog er sein Portemonnaie heraus und suchte Kleingeld zusammen. »Für jeden natürlich. Aber das brauche ich ja wohl nicht zu betonen!« Der Jüngere wollte protestieren, doch der Ältere griff ein. »Laß nur, ich mache das schon.« Er nahm einen Zwanziger aus seiner Brieftasche und gab ihn Fred. »Okay, sind fünf mehr, aber lassen wir so, verrechnen wir das nächste Mal, nicht!?« -1 1 7 -
»Ja ja, schon gut.« »Na, dann setzt euch mal, Jungs«, Benno machte eine einladende Handbewegung. »Im Augenblick könnt ihr sowieso nichts machen, sind alle beim Essen. Wir warten selbst.« Die beiden setzten sich ins Gras. Fred hielt ihnen seine Zigarettenpackung hin. Der Ältere wollte nicht. »Los Opa, nimm eine! Das regt den Kreislauf an!« Opa nahm. Er schien nicht viel zu rauchen, denn er sah nach den ersten Zügen ganz käsig aus, er hustete andauernd. Eigentlich sind sie ja aus der Stadt, dachte ich, was haben die hier oben überhaupt verloren. Wie Rocker sahen sie nicht aus. Na gut bezahlt hatten sie, immerhin zeigten sie guten Willen. An den Fenstern waren wieder Mädchen zu sehen, eine pfiff. »Die sind fertig.« »Gehn wir.« Die beiden aus der Stadt blieben gleich vorne, sie schoben sich durch die Sträucher in den Gebäudewinkel des ersten Vorbaus. Wir gingen weiter, auf die andere Seite, die zwischen den Vorbauten zurückwich. »Wann wollen wir denn überhaupt wieder zurück, ist gleich acht.« »Evi gibt mir noch Post mit, na, ich werde noch'n Augenblick klönen, dann können wir ja abhauen. Habe mir vorhin wieder die Beckenknochen an dem Scheißgitter demoliert!« Benno fluchte. »Und du, Fred?« »Bei mir kommt es nicht so drauf an. Ich kann immer sagen, ich habe Überstunden gekloppt. Wenn das mal der Fall ist, dann dauert das bis zehn, halb elf.« »Solange dauert das!« »Klar! Wenn neu eingefahren wird. Dann läuft dir der Saft am Arsch runter, aber dafür habe ich freitags meine dreißig Mark.« Dreißig, dachte ich. Das sind pro Tag fünf Mark, samstags mußte er ja auch arbeiten. »Hm, und wenn du Überstunden machst? Was gibt es dann?« -1 1 8 -
»Na, sage ich doch. Dreißig Mark, da sind die Überstunden mit drin.« »Viel ist das nicht.« »Was heißt viel. In der Tischlerei kriegst du nichts, da mußt du froh sein, daß du sonnabends 'n Job kriegst, wo es ein paar Mark gibt. So schlecht ist die Ziegelei nun auch wieder nicht.« »Ben!« Karen winkte aus einem der Fenster. »Geh unter den Schlafsaal!« Ich nickte, ging, wartete, bis oben das Fenster aufging. Es war ein Fenster ohne Gitter, es war das, in dem ich die Scheiben eingesetzt hatte. Ich guckte mir die Wand an, die Zwischenräume von Dachrinne zur Fensterbank, doch ohne Leiter war in diesem Fall überhaupt nichts zu machen. »Paß auf.« Sie warf mir ein grünes Hemd herunter. »Sind auch Taschen dran, vorne.« »Das ist gut.« Ich zog es gleich an Ort und Stelle an und warf das alte in die Büsche. Das Hemd war an den Schultern etwas eng, und die oberen Knöpfe gingen nicht zu, doch was machte das schon. Dem Stoff haftete ein leichter Eau de Cologne-Duft an; den gab es in keinem Laden und erst recht nicht von einer Wäscheleine. »Wie angegossen, prima«, sagte Karen. »Dankeschön.« »Brauchst dich nicht zu bedanken. Willst du jetzt weg?« »Ja, ich glaube schon. Der Benno hat wieder eine Leitung, dabei ist er jetzt den ganzen Abend hier.« Sie lachte. »Bis Dienstag?« »Sicher, Dienstag sehen wir uns.« Und wenn ich mit dem Kopf durch die Wand muß, dachte ich, im Moment war ich nur über Wandstärken völlig im unklaren. »Schön, ich freu mich schon.« Ich ging zu Benno zurück, ging ein Stück weiter bis zur nächsten Ecke, weil er dauernd »Moment« und »gleich« sagte und blieb stehen. Der Jüngere aus der Stadt stand auf einer Fensterbank und bearbeitete rhythmisch die Wand. Es sah aus, als seien seine Arme bis zu den Schultern in die Wand -1 1 9 -
eingemauert und die Kniespitzen seiner Beine, die in einem Hosenwust endeten. Der Opa stand unten im Farnkraut und feuerte den oben an. »Jaaa, gib's ihr, gib's ihr!« Er keuchte und war krebsrot im Gesicht, »Ja so, gib ihr, was sie braucht, gib's ihr, Feuer! Feuer! Gib ihr Feuer!« Er schlug im Halbkreis mit einem Arm durch die Luft, jedesmal, wie ein weit hergeholter Aufwärtshaken sah das aus. Ich ging etwas weiter, ohne daß er mich bemerkte, und ich sah das Mädchen auf der Fensterbankinnenseite. Ich konnte nur seine Beine sehen und ein bißchen Haut, bis zum hochgeschobenen Kleid. Das Mädchen stand nach vorne gebückt und hielt sich mit beiden Händen rückwärts an den Gitterstäben fest. Der Junge hatte durch die Stäbe hindurch um ihre Hüfte gefaßt, hatte den Kopf zurückgelegt, sein Gesicht war fast bis zu den Wangenknochen gegen das Gitter gepreßt. Weiter kam er wohl nicht. »Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei«, kommandierte der Opa unten. Und dann wieder: »Jaaa, Feuer! Feuer! Gib's ihr doch! Eins-zwei...« Bei »Feuer« landete er wieder zwei kurze Aufwärtshaken in der Luft. Er schwitzte ordentlich dabei, stand nicht eine Sekunde still. Aber der Jüngere kam andauernd aus dem Takt, so wie sein Beutel taktlos baumelte. Ich fand das sehr lustig, zumal der Opa sich solche Mühe mit dem Kommandieren gab. Benno stieß mich in die Seite. »Dachte, du wärst schon weg. Komm her, laß sie, bezahlt haben sie ja.« Wir gingen durch die Tongruben zum Heim zurück. »Hast du's vorhin auch so gemacht?« »Was gemacht?« »Na, so durchs Gitter.« »Logisch. Kriegt man immer blaue Flecken, merkt man erst hinterher.« »Hätte ich keine Lust zu, so, ich will ein Mädchen anfassen. Immer das blöde Eisen dazwischen, jeden Augenblick kann jemand kom-men, nee, ich weiß nicht.« »Wenn's nicht gerade ein Erzieher ist oder eine Glucke.« -1 2 0 -
»Trotzdem. Wenn wir auf einem freien Haus liegen würden, Sprungbrett oder Wigwam, dann könnten wir nachts mal hoch, mit 'ner Leiter. Karen und Evi liegen doch auf einem offenen Schlafsaal.« »Sicher, das ginge schon. Wenn die Evi nicht dauernd Mist bauen würde, da oben, dann wäre sie schon lange auf Freigang und könnte in die Stadt gehen, wie Karen.« »Was macht sie denn?« »Machen tut sie eigentlich nichts. Sie läßt sich nur nichts gefallen, von den Glucken. Was meinst du, was da für blöde Weiber Erzieherinnen sein wollen. Die Britta ist die einzige, die was taugt. Aber mit der Zeit wird sie von den anderen versaut. Da liegen noch zwei Miezen mit im Schlafzimmer. Meinst du, die lutschen am Daumen?« »Och, wenn die in Ordnung sind, dann gehen wir eben mit vier Mann hoch. Solange wir auf dem Fuchsbau liegen, können wir ohnehin nichts machen.« Ich hatte Kopfschmerzen und saß im Bankraum auf einem vollen Sägemehlsack. Ich schaute Icke zu, der sich ein Schmuckkästchen baute. Icke war jetzt fast zwei Monate in der Tischlerei und hatte in dieser Zeit schon einige Kästchen angefertigt. Sie ließen sich gut verschachern. Man konnte darin Bilder aufbewahren oder besondere Briefe oder auch Zigaretten, und dann hatte man das Gefühl, diese Dinge seien besonders gut verwahrt. Schmuck besaß niemand. Und wenn, dann nützte so ein kleines Kästchen auch nicht viel, weil es mitsamt Schloß und Inhalt geklaut worden wäre. Allein das Vorhandensein eines solchen Kästchens wies schon auf was Wertvolles hin, dachte ich. Loom kam rein, hängte seinen Hut an den dafür vorgesehenen Nagel. In der Werkstatt war es warm. Wir hatten eingeheizt. »Du verdammte Berliner Wanze sollst Stühle reparieren und keine Schatullen bauen«, sagte er zu Icke. Dabei hatte er selbst einen Kasten mitgenommen, nach Hause. Ich überlegte, ob Loom Schmuck besaß oder seine Frau. -1 2 1 -
Vielleicht Talmi, das lag dann vor dem Frisierspiegel, zwischen Flakons Cremes und Haarbürsten seiner Frau. Er selbst brauchte ja keine Haarbürsten. Oder sie hatte auch 'ne Glatze. Aber Frauen haben selten eine Glatze. Und wenn, dann hangen sie sich eine Perücke drüber. Sind auch Haare. Vielleicht hatte die Loomsche Frau ein paar Erbstücke, Broschen, Spangen und so, von der Mutter, und die wieder von der Mutter, die wieder von der Mutter, die auch von der Mutter, die auch von der Mutter... hm, das wäre dann für Looms Kinder die Ur, die Ur-hoch-drei-Oma, die Kubik-Oma. Hatte der Loom überhaupt Kinder? »Benjamin! Flegel dich da nicht so hin! Ihr müßt heute Nachmittag zum Neubau, 'ne Tür abholen!« »Warum soll ich um zehn aufstehen, wenn um drei 'ne Tür geholt wird.« »Da hat er recht«, pflichtete Benno mir bei. »Halt den Mund! Wir haben soviel zu tun, wissen nicht ein noch aus!« Loom schnaubte, ließ uns sitzen und ging nach nebenan. Der mit seinem »soviel tun«! Jetzt geht er zu Meier, guckt mal hierhin und mal dorthin, dann rennt er wieder raus, klönen, in die Verwaltung oder in die Gärtnerei oder zu einer in der Nähe liegenden Erzieherwohnung. Das nannte er »soviel zu tun«. Er fand immer eine Ecke. Na ja, wir auch. Benno meinte, zu Looms Zeit konnte man die Meisterprüfung noch mit'm Schinken unter'm Arm bestehen, anders hätte der Loom das nicht geschafft. Ich nahm eine Handvoll Sägemehl, hängte den Loomschen Hut ab, hängte ihn wieder an den Nagel und nahm meinen alten Platz ein. »Ick lach mir'n Ast«, sagte Icke. »Wir sind imma für 'ne kleene Überraschung jut.« Benno grinste. Loom brauchte nicht lange, bis er zurückkam. Er ging zur Tür und griff im Vorbeigehen, ohne hinzusehen, mit drei Fingern nach seinem Filz. Er machte das immer mit drei Fingern, mit -1 2 2 -
Daumen und zwei Fingern. Daumen und Mittelfinger legte er seitlich an den Kniff und den Zeigefinger oben drauf. Ein kurzer Schwung! Loom blieb stehen, drehte sich langsam nach uns um und lüftete den Hut etwas, wobei er die Augen nach oben kippte und sofort zukniff, weil ein Rutsch Sägemehl hervorkam. Er ließ den Filz los. Das Sägemehl staute sich an seinen Brauen zu kleinen Häufchen, rieselte, lagerte sich seitlich der Nase und auf der Oberlippe ab. Wie blöd, dachte ich, warum nimmt er nicht sofort den Hut ab und macht ihn sauber, anstatt mit dem Mehl auf dem Kopf dazustehen. »Wer...«, eine unheilvolle Pause, »... war das?« Schweigen. Das Sägemehl rieselte noch etwas, doch das war nicht zu hören. Ich fühlte einen Lachkrampf in mir aufsteigen, aber als ich daran dachte, daß Loom sofort auf mich losstürzen würde, ging es wieder. Er beugte sich vorsichtig nach vorne, nahm erst die Brille ab, dann mit einem Ruck den Hut und schüttelte sich, er prustete wie ein Pferd. Dann nieste er zweimal kräftig. »Jesundheit«, sagte Icke freundlich. »Wer... das... war?« Loom putzte seine Brille und starrte mit zusammengekniffenen Augen umher, als könne er den Feind entdecken. Auf seinem Kopf war eine dünne Kruste Sägemehl verblieben, die durch bloßes Schütteln nicht wegging. Das war die untere loomschweißdurchfeuchtete Schicht, wie eine Landkarte sah es aus. Er wischte den Rest mit seinem karierten Taschentuch ab und schlug das Tuch aus. Wir grinsten alle drei, dann nur noch Benno und ich, weil Benno sagte: »Icke, nun sag schon, daß du's warst. Ist doch nichts dabei, Meister Loom macht schon mal ein kleines Späßchen mit.« »Ickeee!?« brüllte Icke. Loom starrte Icke durchdringend an, wie eine fette Schlange eine Maus. Dann kam Leben in ihn. Er griff seitwärts in die Holzlatten, die an der Wand lehnten. -1 2 3 -
Icke rannte um die Hobelbänke herum. Loom hinterher. »Du verdammte Blase«, röhrte er und schlug mit der Latte zu, »du verdammte Blase! « Wenn er traf, jaulte Icke auf wie ein Hund. »Ick war det nich, Meesta! Ich war det nich!« schrie er. »Ick bin doch viel zu kleen für den Nagel! Ick war det nich! « Loom ließ sich auf nichts ein. Icke kroch und flitzte durch die Werkstatt. »Der Ast«, wieherte Benno, »lach dir einen und dann schnell drauf setzen!« Jetzt standen sie jeder an einer Bankstirnseite, Loom mit erhobenem, lattenbewehrtem Arm. Es war die zweite Latte, eine dickere da die erste sofort zerbrochen war. Icke stand geduckt gegenüber und pendelte mit dem Oberkörper hin und her, um Loom zu irritieren. Loom versuchte mitzupendeln, er schlug wieder zu. Icke heulte langgezogen und versuchte, angeschlagen eine Hobelbank zu unterqueren. Wir sahen interessiert zu, ob er es wohl schaffte. Beinahe. Loom traf ihn quer auf die Beine, wollte schnell noch mal zuschlagen, doch Icke zog sie weg, er brüllte wie am Spieß. Loom warf die Latte nach ihm, weil er nicht mehr konnte, er war knallrot und außer Atem. Er fischte mit einem Fuß seinen verbeulten Hut unter einer Bank hervor, drückte ihn zurecht und sah uns eisig an. »Wir sprechen uns noch«, sagte er keuchend. »Man wird doch wohl noch lachen dürfen«, maulte Benno. Loom stülpte den Filz auf und knallte die Tür von außen zu. Icke kroch aus seiner Deckung. »Det Rübenschwein hätte mir ja bald erschlagen«, schimpfte er, »det laß ick mir nich bieten!« »Nun Jammer hier nicht rum, ich denke, du bist'n Mann.« Benno lachte. »Hättest dir auch ein Stück Holz nehmen sollen und dann rein in seine Fresse.« »Wie kann ick det, wenn er mir keene Zeit läßt.« »Nächstesmal. Hier, rauch erst mal eine.« Benno gab ihm eine Zigarette. »Ick geh lieba oofs Klo damit, wenn er mir jetzt ooch noch beim Roochen erwischt, dann macht er mir kalt!«
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4 Wälzer saß hinter seinem Schreibtisch, seinem AbteilungsleiterSchreibtisch. Auf der blanken Platte stand ein Kalender mit kleinen Kunststoffscheiben, die man jeden Tag umklappen mußte. Daneben ein Tintenlöscher, rechtwinklig zu einer Federschale. In der Federschale lagen auf der einen Seite ausgerichtet nebeneinander sechs Büroklammern, auf der anderen Seite ein Radiergummi mit der Aufschrift »Speckgummi«, in der Mitte ein Bleistift, der mit der Spitze genau auf die Speckgummimitte zielte. Dann folgten eine Zigarettendose, ein Aschenbecher mit einer zerdrückten Zigarette am Rand und ein goldenes Feuerzeug. Alles stand in einer Linie in gleichem Abstand. Vor Wälzer lag eine Glasplatte, auf dieser ein roter Aktenhefter, Ober- und Seitenkante mit der Glaskante abschneidend. »Komm näher, mein lieber Holberg«, sagte Wälzer freundlich, steckte das Feuerzeug ein, verrückte die Federschale um eine Winzigkeit und schaffte ein bißchen Ordnung auf der Schreibtischfläche. »Ich habe dich nicht von ungefähr zu mir bestellen lassen«, er entfernte etwas für mich nicht Sichtbares von seinem Ärmel, »du weißt, Ursache gleich Wirkung.« Er schlug den roten Aktenhefter auf, auf dessen Vorderseite mein Name stand und nahm ein Blatt heraus. Es waren nicht viele Blätter in dem Hefter. Ich versuchte, die Schrift zu lesen, doch ich war zu weit entfernt. Hinter Wälzer stand ein Schrank, voll mit Büchern, ich konnte sie alle durch die Türscheiben sehen. Viele waren mit Goldschrift und verschnörkelten Zahlen versehen. Über dem Schrank hing der Bundespräsident und guckte auf die Tapetenleiste neben dem Fenster. Neben dem Präsidenten hing ein gleich großes Bild eines Mannes, den ich nicht kannte. Er hatte einen Spitzbart und sah mich mit erfreuten Augen an, oder er blickte zur Tür, die genau hinter mir war.
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Ein toter Präsident konnte es nicht sein. Die wurden ja sofort ausgewechselt. Es mußte ein wichtiger Mann sein. Bei Wälzer hingen keine unwichtigen Männer an der Wand. Zum Fenster hin folgten kleinere Bilder, jedes ein Stück tiefer aufgehängt in Form einer Treppe. Es waren alles Brustaufnahmen, manchmal eine ganze Gruppe. Von weitem waren sie nicht zu erkennen. »Also«, Wälzer hatte das Blatt durchgelesen, »ich habe hier ein Schreiben deiner verehrten Frau Mutter...« Blödsinn! Der kannte Mama doch gar nicht. »...welches Beachtung bei der Anstaltsleitung findet, Beachtung insofern, da du ja schon einige Zeit bei uns bist, Zeit, die dazu beigetragen hat, dich Dinge lernen zu lassen, die ein jeder Mensch braucht, die er für sein späteres Leben braucht, die er verwenden kann, ja nicht nur kann - manchmal muß er es sogar, muß er darauf zurückgreifen!« Wälzer machte eine Pause und schaute in eine nicht sichtbare Ferne, dann ganz kurz in meine Augen, dann an mir vorbei zur Tür. »Du bist reifer geworden«, sagte er, und seine Stimme hatte eine beschwörenden Klang, »ein Mensch reift durch die Zeit, und die Zeit reift durch ihn...« Was war das denn für'n Quatsch? Zeit reift nicht. Zeit ist Zeit. »Du bist - abgesehen von einigen Kleinigkeiten - in den Grenzen der Heimordnung geblieben, Herr Tischlermeister Loom beurteilt dich, nun ja, als verwendungsfähig. All das sind Dinge, die erkennen lassen, daß eine innere Wandlung in dir vorgegangen ist, etwas ist in dir passiert, verstehst du? Diese Wandlung wird dir nun helfen, dein Leben, dein, ach so junges Leben neu zu gestalten«, Wälzer musterte versonnen die Tür hinter mir, »mit Tatkraft und immer aufrecht...« Das Telefon klingelte. Wälzer hob sofort den Hörer ab. Ich fragte mich, was er überhaupt von mir wollte. »Wälzer! Abtei... jawoll! Wie sie meinen!« Er straffte sich merklich. »Selbstverständlich! Nein, nein, ganz Ihrer Meinung! Morgen früh um zehn Uhr. Jawoll! Jawoll!« Zeitzeichen. »Jawoll!« Wälzer hängte auf. »Äh, wo war ich stehngeblieben?« »Tatkraft.« -1 2 6 -
»Ah so, also, mit Tatkraft und immer aufrecht das Leben zu meistern, denn auch das Leben...«, Pause. »Auch das Leben ist eine Aufgabe, eine recht schwierige, und um sie zu losen, hat man dich...«, er blätterte in den paar Seiten der Akte, »... vor gut einem Jahr zu uns gebracht, damit wir es dich lehren.« »Was lehren?« »Na, das Lösen, Mensch! Also deine verehrte Frau Mutter teilt uns in ihrem Schreiben mit, daß sie für dich eine Schlosserlehrstelle ausfindig gemacht hat, die du sofort antreten kannst. Somit wirst du im Laufe des Monats entlassen, entlassen, das heißt, daß wir, die Anstaltsleitung, die Entlassung jederzeit widerrufen können, wenn du den draußen an dich gestellten Anforderungen nicht ensprichst!« Wälzer hatte immer schneller gesprochen. Er klappte den roten Hefter zu und spulte weiter: »Das, mein lieber Holberg, war es tu heute. Wir sehen uns dann noch am Entlassungstag. Bis dahin Adieu!« Er nickte in Richtung Tür. Ich ging raus. Ich ging zum Sportplatz und legte mich an die Böschung. Entlassen, dachte ich. Einfach so. Entlassen. Was wird Karen dazu sagen? Hm, Karen. Wie zärtlich sie sein konnte. Was war zu Hause schon los? Nichts. Aber wenn wir zusammen am Seeufer lagen, wenn wir über alles Mögliche redeten, wenn wir uns liebten, das war was. Wieso Schlosser? Ich habe nun mal keine Lust als Schlosser! Mama hat sich wieder bereden lassen. Und Benno! Na, der wird Augen machen. Oder auch nicht. Er sollte ja selbst vor einem Monat raus, zu einem Bauern, bei dem er früher schon mal gewesen war. Und er wollte nicht. Er hat zu Wälzer gesagt, er macht sofort einen Einbruch. Das habe ich gehört. Sofort antreten, sagte Wälzer. Dann können sie mich auch doch sofort entlassen, und nicht erst im Laufe des Monats. Vielleicht bekommt inzwischen jemand anders die Stelle. Na ja, auch nicht schlimm. Freue ich mich eigentlich? Nee, ich glaube nicht, jedenfalls nicht richtig. Dabei dachte ich immer, auf so eine Entlassung, da freut man sich riesig. Ist gar nicht so. Im Laufe des Monats, dann kann ich ja noch alles regeln. Ich kann Karen ja schreiben von draußen. -1 2 7 -
Zöglinge dürfen von Zöglingen keine Post erhalten, aber ich nehme einfach einen anderen Namen. Ist überhaupt ein Blödsinn. Nicht mal Benno darf ich schreiben. Da arbeitet man fortwährend zusammen, und nicht mal 'ne Karte darf man schicken, wie's einem draußen geht und so. Aber Loom, dem darf man schreiben. An der Wand über dem Glasschneidetisch hängt eine Karte von einem ehemaligen Zögling. Aus Spanien. Mit weißem Sandstrand und viel Wasser. Aber die Karte war schon zehn Jahre alt, sagte Benno. Er hatte mal den Poststempel gelesen und Loom damit geärgert. Loom hatte die Karte daraufhin an die Wand geleimt. HOLBERG MUSTERTE DIE ÄRZTE, die sein Bett umstanden. Einer nahm die Tafel, die am Fußende hing und las die täglichen Eintragungen auf dem Millimeterpapier. Die anderen guckten zu. »Das Fieber«, sagte er zu der neben ihm stehenden Krankenschwester, »wir erhöhen die Einheiten Penicillin forte.« »Jawohl, Herr Doktor.« Die Schwester notierte etwas auf einem Block. »Und wie geht es Ihnen, Herr Holberg?« Der Arzt sah ihn an. »Ich denke, ganz gut.« Er lachte. »Meine ich doch auch. Wollen mal sehen, was unsere Wunden machen. Können Sie sich schon etwas drehen? Na, fein.« Die Schwester löste mit wenigen Griffen die Verbände, unter Holbergs Arm und auf seinem Bauch. Der Arzt nickte und betastete die Haut. »Prächtig«, sagte er. Die Gruppe ging zu dem gegenüberliegenden Bett. Eine andere Schwester und ein Pfleger legten Holberg neue Verbände an. Es ist makaber, dachte er. Sie jagen und hasten und fluchen und rennen, dann knallt es. Und das Ganze geht umgekehrt. Ambulanz, Krankenwagen, Hubschrauber. Elisabeth sagt, sie haben mich mit dem Hubschrauber gebracht, weil es schnell gehen mußte, mit dem Operieren, weil man eine solche Operation nur in dieser Klinik machen konnte. Und die Ärzte warten bebrillt und bekittelt. Auf dem OP-Tisch liegt ein weißes -1 2 8 -
Laken, weiß wie Unschuld, wie die Kittel der Ärzte, wenn sie nicht grün sind. Warum hat er bloß geschossen? Vielleicht sollte es tatsächlich ein Fangschuß sein. Einmal nur. Zweimal würde auffallen. Um die Gesellschaft zu schützen. Ein tolles Wort, Ge-sell-schaft. To sell, verkaufen; Bruderschaft, Lanzenschaft, Sippschaft. Und jetzt werde ich wieder repariert. Weil es das Gesellschaftssystem vorschreibt. Wenn ich verreckt wäre, hätte es wenigstens einen Nutzen für die Gesellschaft gehabt. Zugunsten der Steuerzahler. Ach was, vielleicht bei genügender Anzahl, dann würde es sich bemerkbar machen, aber im Grunde will das niemand. Die Gesellschaft sieht es ganz gerne, wenn es eine Gruppe gibt, die schlecht ist, die wegen ihrer Schlechtigkeit isoliert wird. Es beruhigt das eigene schlechte Gewissen. Die Gesellschaft wird durch die Diäten der Politiker mitbestimmt. Je einfacher eine Lösung, desto besser wird sie von der Gesellschaft verstanden. Also werden weitere Häuser gebaut, kleine Forts mit niedlichen, noch kleineren Klosetts, in denen man auch essen und schlafen kann. Wie einfach. Man ist ein Bläschen, ein Abschaumbläschen. Jedes Bläschen trocknet einmal aus, es platzt. Und wenn jemand pustet, kräftig pustet, dann platzt es um so eher. Das stärkt die weiße Brust, die bürgerstolzgeschwellte. Was soll's. Das Leben ist eine Vorbereitung auf den Tod. Schopenhauer. Was ist überhaupt noch wesentlich? Die Visite hatte das Zimmer verlassen. Wachsein ermüdet, dachte Holberg. Nachmittags brachte eine Schwester fünf rote Rosen, an denen eine Karte hing. »Für Sie«, sagte sie zu Holberg, »und das nur ausnahmsweise. Auf der Intensivstation dürfen keine Blumen sein, aber ich werde sie zwischen die Doppelfenster stellen, das ist halb Station und halb Park, und sehen können Sie sie auch.« Sie lächelte. Einer der Pensionsberechtigten war hereingekommen und wollte die Karte lesen.
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Marion, dachte Holberg. Ich möchte wetten, daß sie von Marion sind. Sie hat solange herumtelefoniert, bis sie wußte, wohin man mich gebracht hat. Sie wird dann nervös, raucht viel, obwohl sie gar kein richtiges Verlangen nach einer Zigarette hat, sie drückt sie jedesmal zur Hälfte aus, zieht ihre Nase kraus, um dann ein paar Minuten später eine neue Zigarette anzuzünden. Sie hat es in der Zeitung gelesen. Kurze Notiz nur, das übliche. >Nach Gegenwehr angeschossen<. Und dann kam nichts mehr. Sie hatte angefangen zu telefonieren. Erst die zuständigen Stellen. >Tut uns leid, gnädige Frau, wir sind nicht informiert, wir könnten ihnen auch keinerlei Auskunft geben<. Ein Standardsatz. Dann hat sie die Krankenhäuser in Deutschland nahe der Grenze angerufen, dort wo es mich erwischt hat. Irgendwie hat sie dann erfahren, wo ich bin. Und hier war sie vorsichtiger geworden, hat vielleicht den Pförtner am Apparat gehabt oder eine unwissende Schwester in der Anmeldung. >Ach sagen Sie, darf Herr Holberg schon Besuch empfangen?< Sicher hatte sie diesen deutschen Satz auswendig gelernt. >Einen Moment bitte!< Man hat in einem Buch nachgeblättert. >HaIlo? Nein, Herr Holberg liegt zur Zeit auf der Intensivstation, dort dürfen keine Besuche stattfinden!< Solche Antworten wurden jeden Tag gegeben, das ging in Fleisch und Blut über. Hinterher hatte man vielleicht festgestellt, daß keinerlei Auskunft gegeben werden durfte. Holberg zog die Karte aus dem Umschlag. Marions Schrift. Er hätte sie unter tausend Schriften erkannt, diese eigenwilligen, nach links fallenden Schnörkel. Wie sie die fertigbrachte, es hatte ihn immer wieder verwundert. »Liebe Grüße von mir.« Holberg wendete die Karte. Das war alles. Schön, genügte ja auch. Er legte den Umschlag auf die Bettdecke und schloß die Augen. Es gibt so viele Dinge, die der Vergangenheit angehören, aber manchmal erinnert man sich. Wie ein Film. Zuerst ist alles dunkel, dann konzentriert man sich, und weiße Bilder flackern über die Leinwand, der Vorspann. Ein Stummfilm, doch die Gedanken werden laut. Manchmal reißen die Bilder ab oder flackern. Es darf gelach. werden. Dann läuft die Spule richtig. Dann ist es auch kein -1 3 0 -
Stummfilm mehr. Die Stimmen hallen in den Ohren wider, wenn die Rolle richtig läuft. ICH SCHOB MEIN FAHRRAD durch die Toreinfahrt, stellte es an die Garage und ging ins Haus. Mama war schon aus dem Büro da, und in der Küche war ein Duft, der das nahe Essen ankündigte, er erinnerte einen sofort daran, daß man Hunger hatte. Auch dann, wenn man erst vor zwei Stunden etwas gegessen hatte. Bei mir war es so. Oft guckte ich in die Töpfe, dann zog sich mein Gaumen zusammen, dann war ich besonders hungrig. Heute war mir nicht nach Topfgucken zumute. »Bist du früher gekommen?« fragte ich. »Ja, ich habe doch mittwochs frei, jedenfalls den Nachmittag. Und du?« »Oh, ich auch.« »Wie, auch?« »Na ja, mittwochs und die anderen Wochentage auch. Sonntags ist ja sowieso Feiertag.« Mama ließ das Rühren sein. Ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie ahnte, was los war. Für schlechte Neuigkeiten hatte sie immer eine Ahnung. »Bin rausgeflogen.« »Ich werd' nicht mehr«, sagte sie. »Ach, was ist schon dabei. Deine Sauce brennt gleich an.« Sie stellte den Herd ab und setzte sich. »Wie ist das denn passiert? Wir haben doch alles mit dem Chef besprochen, wo du gewesen bist, damit von Anfang alles klar ist. Vier Wochen bist du jetzt da und schon Ende.« »So was geht schnell. Von den vier Wochen habe ich eine Woche Rost geklopft, eine Woche Kellerräume gekalkt, vier Tage Apfelbäume zu Feuerholz zersägt, drei Tage einen Hühnerstall mit Teerpappe vernagelt, zwischendurch mußte ich Autos waschen, ach ja, fünfzehn Minuten lang habe ich ein Eisengitter festgehalten, das war meine Schlossertätigkeit. -1 3 1 -
Möchte mal wissen, was ich in mein Werkstattwochenheft schreiben soll.« »Aber«, Mama seufzte, »ich verstehe das nicht.« »Das ist ganz einfach. Heute Nachmittag sollte ich Teppiche klopfen. Ausgerechnet Teppiche klopfen! Das kenne ich, das wollte ich nicht. Ich hatte keinen Willen zu haben, sagte der Alte, ich wäre ein junger unerfahrener Schnösel. Hm, ein Wort gab das andere. Er meinte, er wäre schon mit ganz anderen Ganoven fertiggeworden und ich hab gesagt, er war so blöd, daß ich ihn am liebsten in Hintern treten würde. Da ist er rot angelaufen, und als er wieder Luft kriegte, brüllte er dauernd, ich solle gehen.« »Vielleicht läßt sich das ja wieder einrenken.« »Glaube ich nicht. Der war so sauer, weil die anderen alle mitgehört haben. Ich habe auch keine Lust mehr. Am besten, ich geh gleich wieder ins Heim zurück.« »Aber Junge, Junge, du bist doch hier zu Hause, ich...«, ihre Augen füllten sich mit Tranen. »Ja, Mama, weiß ich.« Daß sie jetzt auch noch weinen mußte. Ich kann sie so schlecht weinen sehen. Mama. Wenn ich nicht wär, dann hätte sie sicher nicht soviele Sorgen. Ich ging raus in den Garten. Ich setzte mich hinter die Garage. Von hier aus konnte man das ganze Grundstück übersehen, ohne dass man selbst zu sehen war. Der Vater meines zweiten Vaters fütterte die Hühner. Dann ging er mit einer Schere zu den jungen Apfelbäumen, er schnitt hier und da kleine Zweige heraus. Konnte er auch. Schließlich waren es seine Bäume. Räudiger Verbrecher, sagte er. Dabei dachte ich immer, ein Hund sei räudig. Hunderäude gibt es, Menschenräude, weiß nicht. Der kann mir den Buckel runterrutschen. Ich fasse sowieso keinen Spaten mehr an. Es ist sein Garten, also soll er ihn auch umgraben. Mama kaufte ihre Kartoffeln jetzt beim Kaufmann.
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Ich ging erst zum Essen ins Haus. Vor der Garage stand der alte Volkswagen, jetzt war der zweite Vater ebenfalls von der Arbeit gekommen. Mama hatte ihn ein paar Jahre nach dem Krieg geheiratet, weil mein erster Vater gefallen war. Seitdem hieß sie Geliert. Ich nicht. Ich wollte auch gar nicht so heißen. Der Name meines ersten Vaters gefiel mir viel besser. Ich kannte nur Fotos von ihm. Er mußte ein guter Mann gewesen sein. Gefallen! Das ist auch so ein Wort. Als wenn er mal eben hingefallen wäre. Ermordet, na das hört sich gleich nach Rache an. Ein Mord wird gesühnt. Im Krieg nicht, beschweren. Gefallen, das verkleidet fast alles. Ob er ist gefallen. Endgültig ist dieses »Gefallen«, dagegen kann man sich nicht beschweren. Gefallen, das verkleidet fast alles. Ob er von einer Granate zerrissen worden ist, ob er die Beine verloren hat und stundenlang schrie, oder ob er einen Kopfschuß bekam. Aber ermordet, da malt man sich die schrecklichsten Dinge aus, da will man, daß der Täter bestraft wird. Heimelig, das Heim, das häusliche Heim, das gemütliche, warm und weich. Heim, das ist Ruhe und Verständnis und Geborgenheit Erziehungsheim, das ist schon schlechter. Die Erziehung ist streng, hart und kalt, aber das warme Heim dahinter, das macht die >Erziehung< wieder nett, verstehend, es macht eine gute Sache daraus. Aber Anstalt, Erziehungsanstalt, da gibt es nichts, das heißt zugeschlossen, abgesondert, kalt, Zwang. Ein böses Wort. Anstalt sagt man auch heute gar nicht mehr, und wenn, dann mit einem aufweichenden Zusatzwort. >Christliche Anstalt< oder Gemeinnützige Anstalt<. Heim. Landesjugendheim. >Jugend< klingt nach Unschuld. Die Unschuld aus dem ganzen Land. Auf dem Flur hörte ich Mamas Stimme aus der Küche. »... auch mal mit Vater reden, daß er den Jungen in Ruhe läßt!« »Warum ich?« fragte der zweite Vater, »meinst du, ich habe Lust, mich damit nach Feierabend rumzuärgern? Warum sagst du's ihm denn nicht!«
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»Ich! Du weißt ganz genau, ob ich etwas sage oder...«. Sie redete nicht weiter und ihre Stimme klang zittrig, als müsse sie wieder weinen. »Siehst du, bei mir ist es auch so. Vater meint das im Grunde gar nicht so, wir müssen ihn nur verstehen...«. Ich ging ins Bad, um meine Hände zu waschen. Das Gespräch interessierte mich nicht. Ich hatte es schon zu oft gehört, zwar mit anderen Worten, doch der Sinn blieb der gleiche. Viele Menschen sollten einen alten Mann verstehen und immer das machen, was er wollte, und keiner mochte ihm sagen, daß ihn niemand verstand. Ich versuchte mich zurückzuerinnern, wann ich zum erstenmal so ein ähnliches Gespräch bewußt wahrgenommen hatte. Vor zwei Jahren? Vor drei? In drei Jahren würde es genau das gleiche sein. Wie die alte Dachrinne am Stall, die dauernd repariert werden sollte, schon damals, als ich noch zur Schule ging. Das Wasser pladderte heute noch genauso runter wie damals, wenn es regnete. Der Onkel, der Bruder Mamas, wohnte in dem Vorort einer Kleinstadt, die keine war. Eine Großstadt war es auch nicht. Sie lag so dazwischen. In dem Haus wohnten auch Mamas Eltern, ihnen gehörte das Haus. Der Onkel reparierte viel an dem Haus, weil er sich ausrechnete, daß er es später mal erben würde. Dann hatte er nicht mehr soviel zu tun. Der Onkel hatte einen Handwerksberuf erlernt und stellte erst nach seiner Heirat mit Herta Lappewasch fest, daß er durchaus in der Lage sei, eine verantwortungsvollere Tätigkeit auszuüben als die eines Handwerkers. Denn der Bekanntenkreis der Lappewasch bestand aus Leuten in gehobenen Stellungen- So sagte sie immer. Einer dieser Leute war Schreiber in einem der städtischen Kulturhäuser und dank Hertas Bemühungen hämmerte der Onkel mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine herum, beschäftigte sich mit anderen bürokratischen Dingen und fluchte auch mal kräftig, wenn Herta nicht in der Nähe war. Er bewarb sich dann im selben Kulturhaus, in dem Hertas Bekannter arbeitete und das sich >Staatsarchiv< nannte.
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Der Onkel hockte dort in einem der vielen Räume, als einer der vielen Schreiber, sortierte, numerierte und notierte Kulturtatsachen und hatte sich an diesen Zustand gewöhnt, so wie sich der Mensch an alle - zuerst unangenehmen - Dinge gewöhnt und mit ihnen lebt. Für Herta Lappewasch war die Gewöhnung an den Gattenar-beitswechsel bedeutend schneller erfolgt, was sich schon nach ein paar Tagen beim Kaufmann bemerkbar machte, indem sie sagte: >Ach geben Sie mir doch noch zwei von den Rollmöpsen, wissen sie, wenn mein Mann abends aus dem Staatsarchiv kommt, dann mag er so gerne etwas Saures<, oder: >Haben Sie noch die Salami von neulich? Mein Mann nimmt sie so gerne mit ins Archiv.< Ihr Ton und ihre Haltung ließen keinen Zweifel daran, daß der Onkel in eine leitende, wenn nicht noch höhere Stellung aufgestiegen war. Sie veranlaßten die Kaufmannshände wie von selbst mal größere Rollmöpse in die Schale zu tun. Und wenn die Salami ausverkauft war, dann fiel ihm ein, daß in seiner privaten Speisekammer ja noch eine frisch angeschnittene hing, und er rannte los. Schließlich wußte man, was man der Kundschaft schuldig war. Herta blühte richtig auf, sie legte besonderen Wert auf ihr Äußeres, was niemand feststellte, und trug den Kopf dementsprechend hoch. Sie war glücklich, und da der Onkel davon profitierte und dunkel ahnte, daß seine neue Tätigkeit ausschlaggebend für das seelische Wohlbefinden seiner Frau geworden war, wurde die Gewohnheit zur Lust. Lust an der Arbeit. Zwei Jahre später kam ein Junge zur Welt, ein Jahr darauf ein Mädchen, dann wieder ein Junge. Die bösen Zungen, die vorher behauptet hatten, Herta habe den Onkel nur geheiratet, damit sie ihren Namen ändern könne, die tuschelten nun vom körperlichen Ausgleich, der ja irgendwie getätigt werden müsse, besonders bei >Staatsbediensteten<. Doch das waren nur Gerüchte. Der Onkel und Herta Lappewasch, die jetzt Herta Krüger hieß, liebten einander wirklich innig und tief, was ja auch die drei Staatsarchivkinder bewiesen. Der Onkel hatte mir eine neue Lehrstelle besorgt. In einer Zimmerei. Er kannte den Chef von früher her. Der hieß Dettmer -1 3 5 -
und die Firma auch. >Zimmerei und Bautischlerei Karl Dettmer<. »Tja, Holberg, ich habe mit deinem Onkel geredet«, hatte Dettmer mir am Morgen des ersten Tages gesagt, »und da du unbedingt den Beruf eines Zimmermanns ergreifen willst und auch Lust dazu hast, steht dem nichts mehr im Wege.« Von der unbedingten Lust wußte ich zwar nichts, aber der schnelle Antritt einer neuen Lehre bewahrte mich davor, wieder ins Heim eingeliefert zu werden. »Du wirst mit Herrn Melzer zusammenarbeiten, und ich hoffe, ich brauche es nicht zu bereuen. Herr Melzer ist fast zwanzig Jahre bei uns. Daß du in einer Anstalt warst, das weiß außer mir keiner und die es wissen, das sind alles vertrauenswürdige Leute«, hatte Dettmer gesagt. Das war vor einem Vierteljahr gewesen. Melzer war das Betriebsfaktotum und schlechthin für alle Dinge zuständig, die von den Gesellen nicht verrichtet wurden, die Dettmer jedoch gerne erledigt haben wollte. Ich verstand mich nicht besonders mit Melzer. Er wollte mir immer etwas erklären, was ohnehin klar war, wobei es nichts zu erklären gab. Wenn zum Beispiel ein Lkw gewaschen wurde, von Melzer und von mir, dann sagte er andauernd, ich solle nicht die Beschriftung >Zimmerei und Bautischlerei Karl Dettmer< vergessen, weil das die Leute immer sehen müßten. So ein Quatsch. Die Beschriftung war an den Türaußenseiten, und diese wurden sowieso gewaschen, die konnte man gar nicht vergessen. Melzer wohnte auf dem Betriebsgelände in einem kleinen Häuschen, das zu einer Wohnung ausgebaut worden war. Er war verheiratet, und seine kleine, pummelige Frau kam jeden Freitagabend um punkt acht Uhr an die Maschinenraumtür, um ihn zum Essen zu holen. Sonst sah man sie kaum. Außer mir waren noch drei Lehrlinge in der Firma. Zusammen mit Melzer machten wir freitag abends den Betrieb sauber, den ich dadurch kennenlernte, Der Sonnabend war arbeitsfrei, das heißt, die Lehrlinge und Melzer mußten saubermachen. Doch sonnabends extra noch mal zur Firma kommen, dazu hatte niemand Lust, deshalb erledigten wir das freitags. Das Saubermachen dauerte bis zehn oder elf Uhr abends, dann -1 3 6 -
waren wir fertig. Inzwischen war ich zweimal mit auf einem Richtfest gewesen, und ich hoffte, meine Zusammenarbeit mit Melzer würde nicht mehr lange dauern. In der letzten Zeit stritten wir uns immer häufiger, wobei er nie zu erwähnen vergaß, daß er schon zwanzig Jahre, einen Monat und achtzehn Tage - das war der gegenwärtige Stand - im Betrieb arbeitete. Angefangen hatte er mit neunzehn Jahren und... Bei jeden Streit teilte er mir dann den neuen Stand der Firmentreue mit. Er tat das sehr stolz, mit verantwortungsvollem Herabziehen der Unterlippe und sehr laut. Stolz über sich selbst, Verachtung mir gegenüber. Er sprach laut, damit es zu hören war, falls jemand in der Nähe zu tun hatte. Anscheinend führte Melzer Buch über seine Tage. Er sammelte sie, wie andere Bierdeckel sammelten oder Streichholzschachteln, und er brauchte sich nie um neue Exemplare zu bemühen. Ein neuer Tag kam ganz sicher. Heute war wieder Freitag. Ich mußte nachmittags ins Büro zum Alten. »Mensch, Holberg«, sagte er, »ich sehe mir gerade dein Werkstattwochenbuch an und muß sagen: sauber, sehr sauber. Die anderen sollten sich ein Beispiel daran nehmen.« Er blätterte. Ich stellte mich gerade hin. »Aber«, fuhr er fort, »so was kannst du natürlich nicht abgeben. Du schreibst hier zwei Seiten über Unkraut jäten, dann hier, Wege planieren, Obstbäume roden. Seid ihr übrigens damit fertig geworden?« Er sah mich an. »Nein, am Zaun steht noch 'ne Reihe.« »Na ja, gut. Aber schließlich lernst du Zimmermann. Ich gebe dir ein neues Heft mit, die Berichte vom Holz stapeln, die kannst du ja übertragen, das muß ein Zimmermann schon mal machen. Will mal sehen, ob ich dich dem Wendt mitgebe. Der braucht noch'n kräftigen Mann zum Fenstereinsetzen. Also.« Ich ging wieder raus, nach hinten in Dettmers Garten. Der Wendt ist gar nicht schlecht, dachte ich. Zimmermeister ist der. Die anderen sagen, daß man mit ihm gut auskommen kann. Der Meckert auch nicht rum, wenn man mal eine raucht.
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Melzer wühlte an einer Baumwurzel herum, die fast freigegraben war. »Wird auch langsam Zeit«, knurrte er, »mich alleine hier abquälen lassen. Der Herr Lehrling macht Spaziergänge!« »Ich war beim Alten bis jetzt.« »Und dann noch schnell auf'm Klo, eine geraucht, was!« »Nee, da sind Sie ja dauernd drauf.« »Ich? Ich! Wenn ich hingehe, dann muß ich auch, du, du Lehrling, du!« Lehrling war für Melzer ein Schimpfwort. »Dann haben Sie sicher jeden Tag Durchfall, Sie Armer.« Er erwiderte nichts mehr. Ich stieg mit in die Grube, und wir versuchten gemeinsam den Stumpf hochzuwuchten. »Der hängt noch zu fest«, Melzer fluchte, »geh mal ins Magazin, da hängt links 'ne große Axt.« Ich ging los. Die Axt war nicht da. Ich sah vorsichtshalber im ganzen Magazin nach, obwohl das überflüssig war. Wenn Werkzeug gebraucht wurde, dann kam es immer wieder an den dafür vorgesehenen Platz zurück. »Nicht da«, sagte ich, wieder bei Melzer angekommen. »Nicht da, nicht da! Nicht richtig nachgesehen hast du! Alles muß man selbst machen!« Er war aus der Grube gestiegen und eilte in Richtung Magazin. Ich fand Zeit, die halbe Zigarette zu rauchen, die ich noch in der Hemdtasche hatte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Melzer zurück kam, im Paradeschritt, auf der Schulter die Axt. »Ich sage ja, zu nichts zu gebrauchen! Aber Weiber und Beatmusik!« Er schnaufte. Ich überlegte, wieso er einfach so was daherredete. Er hatte mich noch nie mit einem Mädchen gesehen, er wusste auch nicht, welche Musik ich mochte. »Vielleicht hat sie jemand vom Zimmereihof gebraucht, hat sie wieder zurückgebracht, als ich weg war.« Melzer lachte höhnisch. »Um Ausreden ist er nie verlegen, der Herr Lehrling! Gerade nötig hast du's! Hätte beinahe was
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gesagt!« Er machte eine Pause. »Ich bin jetzt zwanzig Jahre hier! Zwanzig Jahre und..!« Ich bemühte mich, nicht hinzuhören. Das dritte Mal heute. Melzer drosch mit der Axt auf die Baumwurzel ein und ließ Dampf ab. Er hatte einen Paragraphen. Er hatte im Krieg einen Splitter in den Kopf bekommen, und der sollte noch drin sein. Das wußte jeder im Betrieb. Die Lehrlinge erzählten ihm oft zweideutige Witze, die sich auf ihn selbst bezogen, was er aber nicht merkte. Doch wenn beim Saubermachen sein Handfeger versteckt wurde, dann schimpfte er noch eine halbe Stunde später darüber... Ich zog es vor zu schweigen, da er mit der Axt immer wilder auf die Wurzel eindrosch. Und manchmal in die Erde, wo die Axt bis an den Schaft verschwand. Dann guckte ich schnell weg, weil er sofort zu mir hersah, ob ich grinste. Das abendliche Saubermachen begann mit Späneschleppen. Die hatten sich im Laufe der Woche in einer Ecke des Maschinenraumes angesammelt und wurden von dort in einem großen Sack in den Spänebunker geschleppt. Das machten zwei Mann, während die anderen beiden zusammen mit Melzer die Werkstatt ausfegten. Danach ging es gemeinsam an den Maschinenraum. Der älteste Lehrling räumte das Magazin auf, in dem es nichts zum Aufräumen gab. Die anderen fegten, wischten und putzten. Melzer kroch unter der Fräse herum, putzte und wunderte sich, wieso immer wieder neue Späne da waren. Die streute ihm Müller, der zweite Lehrling, oben in die Maschine. Melzer fluchte dann unter der Verkleidung und zog seinen Oberkörper raus, warf einen mißtrauischen Blick in die Runde. Aber die Lehrlinge waren im ganzen Raum verteilt, keiner stand dichter bei ihm als zehn Meter, und Melzer kroch wieder in seine Verkleidung. Ich fragte mich, wie man es zwanzig Jahre so bei einer einzigen Firma aushalten konnte. Zwanzig Jahre lang jeden Freitagabend unter die Fräse kriechen, Holz stapeln, Hof fegen, Bäume zersägen. Vielleicht hatte er sogar damals Obstbäume gepflanzt, die er heute wieder ausgrub. Manchmal -1 3 9 -
wurde er auch zu einem Richtfest mitgenommen und kam am anderen Morgen noch halb blau zur Arbeit. Dann redete er in einem fort von >Ich und der Chef<. Ich hatte den Alten im Verdacht, daß er genau darüber bestimmte, wie oft und an welchen Tagen im Jahr Melzer zu einem Richtfest durfte. Damit er sich mal richtig besaufen konnte, was Melzer auch tat. Melzer war mit der Maschine fertig und legte Handfeger und Blasebalg auf die nächste Maschine. »Na, Herr Melzer, schon fertig? Erst mal eine pusten, was?« Müller grinste. Wir auch. "Was ich mach, das geht euch gar nichts an!« Melzer ging zur Tür und knallte sie von außen zu. »Wenn er zum Rauchen geht, zu seiner Tusnelda oder zum Alten, dann hat er immer einen Schritt am Leib, wie ein Sprinter.« »Wir plomben ihn heute mal«, sagte Müller, »seine Alte kommt doch um acht. Wir sagen ihm um Viertel vor acht Bescheid, er soll zum Essen kommen, dann rennt er prompt los.« »Dann können wir ihn auch um halb losschicken«, Jupp, der älteste Lehrling, war mit dem Magazin fertig. »Nachher ist sie tatsächlich fertig mit'm Essen.« »Fällt er doch nicht drauf rein.« »Mal sehen. Stellt eure Uhren 'ne halbe Stunde vor. Wer sagt ihm denn Bescheid?« Schweigen. »Was ist schon dabei«, sagte ich. »Ich hatte es auch getan«, versicherte Jupp, »aber einer kann ja nur damit es nicht auffällt.« Das leuchtete ein. Melzer kam zurück und begann die Abrichtmaschine zu putzen. Es war genau drei Minuten vor halb acht, auf unseren Uhren drei Minuten vor acht. Ich steckte mir eine Zigarette an und überlegte ob ich noch eine Spätvorstellung geben sollte. Wenn wir um zehn mit dem Saubermachen fertig waren, dann konnte ich es noch schaffen. Ich trat die Zigarette aus, machte die Tür -1 4 0 -
auf und brüllte »Ja, in Ordnung. Zum Essen kommen. Ich sage ihm Bescheid.« Das war im ganzen Maschinenraum zu hören, und als ich eintrat hatte Melzer seine Taschenuhr schon aus der Hose geangelt und sah drauf. »Ihre Frau, Sie sollen zum Essen kommen.« »Ja, aber wieso denn, ist doch gerade halb, willst du mich auf den Arm nehmen, was?« »Acht ist es«, mischte sich der älteste Lehrling ein, »Sie müssen sich mal 'ne neue Zeitmaschine kaufen. Hier!« Er hielt Melzer seine Armbanduhr unter die Nase. »Acht!« sagte der erstaunt und wollte meine Uhr sehen. »Das erste Mal seit vierzehn Jahren!« Melzer stellte seine Uhr ein, dann eilte er los. »Der kriegt sicher 'n Schreikrampf, wenn er ankommt, und die Erbsen sind noch nicht fertig!« Melzers Wohnung lag am Ende des Firmengrundstücks, bis dorthin waren es etwa zweihundert Meter. »Vielleicht gibt es Nudeln, er hat doch mal gesagt, die mag er.« Jupp schüttelte den Kopf. »Erbsen gibt es. Ihr müßt mal drauf achten, wie der rumfurzt, wenn er wieder da ist.« Melzer kam früher zurück, als wir erwartet hatten. Er stieß die Tür so heftig auf, daß sie gegen die Wand schlug, er war ganz weiß im Gesicht, vor Wut oder vom Laufen. »Du verdammtes Schwein!« schrie er unbeherrscht, als er mich sah. Er blickte suchend um sich und griff ein Nageleisen, das an der Wand lehnte, kam angerannt. Das Eisen war fast so lang wie ein Arm, an einem Ende war eine Kralle, mit der die Nägel herausgezogen wurden. Ich lief aus dem Maschinenraum auf den dunklen Hof, auf dem die Lampen ausgeschaltet waren, da niemand mehr draußen zu tun hatte. Melzer kam hinterher. Ich lief um Bohlenstapel und Bauholz herum, dann vorne wieder in den Maschinenraum hinein. »Schnell! Ins Magazin!« Müller hielt mir die Tür auf. Von draußen tönte Melzers Stimme. -1 4 1 -
Das Magazin war ein Gebäudeschlauch, der durch eine Bretterwand abgeteilt war, die Wand reichte nicht bis unter die Decke. In dem Magazin standen grob zusammengezimmerte Regale, in denen die Handmaschinen lagen, die tagsüber mit auf die Baustellen genommen wurden. Ich kletterte gleich auf das erste Regal, legte mich auf die oberste Ablage zwischen Teerpapperollen, in eine fingerdicke Staubschicht. Von dort aus konnte ich den ganzen Maschinenraum überblicken, ich sah Melzer gerade wieder hereinkommen. »Dieser Lump!« kreischte er. »Wenn ich den erwische!« Er sah überall im Raum nach, in Winkeln und Ecken, dann wurde unter mir die Magazintür aufgerissen, ich hörte ihn rumoren und lag ganz still. Es ist unwahrscheinlich, daß er auf die Regale klettert, dachte ich. Seine Wut muß sich erst mal legen, dann gibt er die Suche auf. Ganz schön sauer ist er ja. Ursache gleich Wirkung, würde Wälzer sagen. Melzer verließ das Magazin und ging an die Maschine, die er zuvor hatte putzen wollen. Ich sah, daß er das Nageleisen immer mitschleppte und in Griffnähe abstellte. Das sah nicht gut aus. Schließlich konnte ich nicht den ganzen Abend hier oben bleiben. »Was gab es denn Schönes zum Essen, Herr Melzer?« fragte Müller. »Bestimmt nichts besonderes«, ließ sich Jupp vernehmen, »sonst wär' er doch nicht so schnell wieder hier gewesen.« Sie lachten. Laut und lange. Melzer wurde sofort wieder wild. Ich fand das überhaupt nicht zum Lachen. »Ihr habt es gerade nötig! Ihr Lehrlinge!« schrie er. »Vielleicht hat Holberg 'nen kleinen dicken Geist gesehen und dachte das wär' Ihre Frau. Kann doch mal vorkommen. Und der Geist haihm dann zugeflüstert: Komm ganz schnell zum Essen!« »Hahahahaha!«
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Ich verspürte Lust, Jupp in seinen Hintern zu treten. Wenn der doch bloß das blöde Gequatsche sein ließe. »Geist! Geist!« Melzers Stimme war wieder kurz vor'm Kreischen »Ihr wißt ja gar nicht, was das für einer ist! Einer aus der Anstalt ist das! Ein Ganove ist das, wie er im Buche steht!« schrie er vertrauenswürdig und laut. »So was kennt man! Der Alte säuft wie ein Loch, und die Mutter hurt rum, und die Kinder haben nichts zum Fressen, gehen klauen! Solche sitzen in einer Anstalt!« Er lachte höhnisch und sah in die Runde. Die Lehrlinge sagten nichts, putzten an ihren Maschinen. Mein Vater säuft, dachte ich. Der war doch schon jahrelang tot, der kennt meinen Vater doch gar nicht! Der hat nie gesoffen! Ich versuchte, mir das Gesicht mit dem netten Lächeln rot aufgedunsen vorzustellen, statt einer leicht gebogenen Nase eine Knolle und lauter Runzeln, die kriegte man ja vom Alkohol. Es ging nicht. Der sollte ihn mal sehen, meinen Vater! Mein Vater ein Säufer! Und Mama eine Hure! Huren sind auch Mütter, aber ausgerechnet Mama, die jeden Tag kaputt aus dem Büro kam, die bei ein bißchen Kummer gleich heulte, weil sie nicht damit fertig wurde. So ein verdammtes Schwein! Ich kletterte nach unten, gab mir gar keine Mühe, leise zu sein. Und zum Essen habe ich auch immer genug gehabt! Melzer sah mich und griff sofort nach dem Eisen, kam auf mich zu. »Du verdammter Bastard, du!« Ich griff ein Tischbein aus einem Stapel, der noch zugerichtet werden mußte. »Wehe, wenn Sie zuschlagen«, sagte ich böse. »Ach! Ach nein! Der Herr Lehrling will mich niederschlagen! Wie? Niederschlagen will er mich?« Seine Stimme kippte über. »Aber mit so einem werde ich noch alle Tage fertig! Das sind Anstaltsmanie-ren, ja!?« Er warf das Eisen zu Boden und schlug mir ins Gesicht. Einmal, zweimal, ich streckte einen Arm aus, er schlug dagegen, streifte mich. »Hör'n Sie auf! Hör'n Sie auf!!«
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»Was soll ich?! Aufhören! ? Ich werd's dir zeigen...« Ich schlug zurück, traf mitten auf seine Nase, er stolperte nach hinten und wäre hingefallen, wenn er sich nicht an der Maschine festgehalten hätte. Blut lief aus seiner Nase. Er ließ mich sofort in Ruhe. »So was!« sagte er erstaunt. »Der schlägt mich! Der dreckige Ganove schlägt mich! Er hat mich geschlagen! Das werden wir ja sehen! Er hat mich geschlagen!« Melzer lief aus der entgegengesetzten Tür des Maschinenraums und brüllte. »Mensch, du hättest ihm noch eins in die Fresse hauen sollen«, sagte Jupp. »Der ist ja wie verrückt. Ich würde hinterhergehen, der rennt jetzt zum Alten.« »Hat doch angefangen.« »Na, laß den Alten mal kommen, dem werden wir schon sagen, wie's war. Der ist ja lebensgefährlich, der Heini!« Ich putzte an meiner Maschine herum. Immerhin brauchte ich jetzt nicht mehr mit Melzer zusammenarbeiten, dachte ich, das stand fest. So ein Splitter im Kopf ist tatsächlich eine gefährliche Sache. Ich hörte Dettmer schon, als er noch auf dem Hof war. »Holberg!!« brüllte er, »Hooolberg!« Dann stand er in der Tür. »Holberg! Sachen packen! Sofort Sachen packen! In zehn Minuten bist du vom Firmengelände verschwunden!« Hinter ihm stand Melzer, sein Gesicht war blutverschmiert. Er sah aus, als sei er mit dem Kopf unter einen Panzer geraten. »Aber ich habe...«. »Zehn Minuten habe ich gesagt! Aber dalli, sonst hole ich die Polizei!« »Herr Dettmer, darf ich vielleicht...«, Jupp schwieg, weil Dettmer ihn nicht ausreden ließ. »Du darfst mitgehen, mit deinen Sachen, wenn du noch ein Wort sagst! Verstanden! Hast du mich verstanden!!« Ich hörte nicht mehr, was er noch weiter sagte. Es war mir egal. -1 4 4 -
Ich ging in den Frühstücksraum, zog mich um, stopfte das Arbeitszeug in meine Aktentasche und holte mein Fahrrad von hinten, ich schob es vom Hof. Ich versuchte, an etwas Schönes zu denken. Aber an was? Mir fiel nichts ein. Man müßte an gar nichts denken können oder wenn es einem ganz dreckig ging, dann an etwas Gutes, dachte ich. Umgekehrt war das bedeutend einfacher. >Lehrjahre sind keine Herrenjahre<, wird der Onkel sagen.> Ich werde mich natürlich genau erkundigen, der Dettmer kann dich ja nicht einfach so rauswerfen, weil du mit einem Streit hattest! Wie oft habe ich dir schon gesagt, laß diese Leute doch in Ruhe!< So ähnlich wird der Onkel reden. Alles bekannte Sachen. Und die Lappewasch wird zum Onkel sagen: >Hoffentlich bekommst du keine Schwierigkeiten, Ernie, im Archiv, Ernie, wenn sich das rumspricht. Die Leute sind heutzutage ja so spießbürgerlich, nein! Und morgen hast du sowieso keine Zeit, wir sind doch bei Suderbuschs eingeladen! Wir können da nicht einfach so absagen, schließlich ist der Suderbusch Inspektor!< Die Lappewasch war eine besorgte Frau. Was änderte das. Ich schob mein Fahrrad kreuz und quer durch die Stadt. Menschen kamen aus einem Kino. Sie lachten und redeten miteinander. Der Film mußte lustig gewesen sein. Ich blieb vor den Plakaten stehen. »Frauenarzt Dr. Waldstätter«. So was Beknacktes! Was daran wohl lustig war? Oder sie haben über mich gelacht? Aber sie wissen ja nichts. Und ich weiß nicht, warum sie gelacht haben. Sie lachen eben. Am Markt gab ich mein Rad und meine Tasche an der Fahrradwache ab, schob die Hände in die Hosentaschen und bummelte weiter, an den erleuchteten Schaufenstern vorbei. Was sollte ich zu Hause. Die dumme Fragerei hängt mir jetzt schon zum Hals heraus. Wenn du doch, hättest du, kannst du nicht und wäre nicht. Zuhause ist gut. Ich bin ein Untermieter mit Verwandtschaftsgrad. >Ach setz dich doch bitte woanders hin, da sitzt Bernd immer! Nein, da nicht, da sitzt doch immer Dora-Eleonore, das weißt
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du doch!< War ja schließlich egal, wo man saß. Hauptsache, die Staatsarchivkinder hatten ihren Platz. >Ernie, möchtest du noch etwas von dieser delikaten Wurst? Nicht. Oh, ich habe sie doch extra für dich gekauft. Und ihr, Kinder? Auch nicht? Na, dann aber du!< »Du« war ich. >Nee, ich esse Marmelade, die schmeckt wenigstens süß!< »Hach, daß der Junge immer Marmelade essen muß. Wenn die das mal hören, dann denken sie, du bekommst bei uns nicht genug!< >So laut esse ich ja nicht.< Melzer wird jetzt sein Gesicht gewaschen haben, seiner pummeligen Frau erzählen, wie er's dem Lehrling gegeben hat. Und die Lehrlinge sagen zu Hause: Bei uns ist heute einer rausgeflogen. Soll in 'ner Anstalt gewesen sein. Was gibt es denn zum Essen? Ich war am Bahnhof angekommen. Über einer Straße hing ein großes Transparent. »Willkommen im Teutoburger Wald« stand dauf. Ich schlenderte in die Vorhalle. Einfach in den Zug setzen, überlegte ich, zu' Mama fahren. Was sollte ich aber da? Mit so was kann ich ihr auch nicht kommen, dann heulte sie. Ich kann die ganze Nacht Spazierengehen, zum Schloßpark, zu der neuen Minigolfbahn, zu den Tennisplätzen, aber die ganze Nacht? Das war ganz schön lange. Und dann? Ich kann ja nicht immer Spazierengehen. Ich studierte genau die Fahrpläne, wann ein Zug abfuhr und wann einer ankam, doch ich wußte, daß ich nicht fahren würde. In fünfzehn Minuten, den konnte ich nehmen, und dann noch einen um kurz nach zwölf. Achtundzwanzig Mark habe ich noch. Das reicht für die Fahrt. >Du hast wieder mal versagt<, wird der zweite Vater sagen, >einfach versagt.< Aber der hatte sowieso keine Ahnung. Der hatte von nichts Ahnung. Ich kann mir morgen früh eine große Torte kaufen. Davon hatte ich was. Ein Gepäckträger schob auf einer Karre zwei große Koffer vorbei. »Vorsicht bitte! Vorsicht!« Leute strebten zur Sperre. Durch die Halle knackte es. Dann tönte eine Fließbandstimme blechern aus den Lautsprechern den einlaufenden Zug an, -1 4 6 -
teilte zerhackt Anschlußzüge mit, noch mal, knackte aus. An einem Kaugummiautomaten standen zwei Mädchen und schlenkerten mit ihren Handtaschen. »Süßer, was hältst du von einem scharfen Quintett? Du bist genau richtig, hm? Kriegst es auch besonders billig.« Ich schüttelte den Kopf und zog mir einen Kaugummi. »Warum willst du denn nicht, du gefällst mir«, sagte die eine wieder. Ich hielt ihr den Kaugummi hin. ))Pnhh, den will ich nicht!« Sie war eingeschnappt. Ich ging weiter, fragte mich, was ich hier überhaupt wollte. Gut. Laufe ich hier drinnen rum und dann draußen. An einer Waage, die halb hinter einer Säule stand, lehnte ein Wermutmann. Er trug einen zerknautschten Mantel, der vorne viel tiefer runter hing als hinten. Er hatte die Hände in die Taschen des Mantels geschoben und beulte sie aus. Seine Füße steckten in Sandalen, die eine war ohne Schnalle und mit einem Bindfaden geflickt. Er hatte den Mantelkragen hochgestellt, doch der Stoff hielt nicht mehr, war heruntergeklappt und gab die graustoppeligen Wangen frei. Ich ging ein Stück weiter, blieb stehen, mußte erneut zu ihm hinsehen. Er hatte den Kopf etwas nach vorn gesenkt, das verwitterte Gesicht war auf meinen Bauch gerichtet, aber er sah mich nicht. Er schlief im Stehen. Seine Nase war, wie auf den Karikatur blättern, rund und rot, wie die von Charly Rivel. Die Haare auf dem Kopf waren strähnig und nur noch im hinteren Halbkreis da. Mir war plötzlich, als würde ich dort stehend die Nacht verbringen in meinem Hals war ein Gefühl, wie nach dem Genuß von fettem Fleisch, man mag es nicht, man würgt und schüttelt sich, und dann kam das Gefühl. Ich ging schnell weiter, warf meinen Kopf hin und her und spürte meine Haare, die mir in die Stirn fielen. An der gegenüberliegenden Hallenseite wartete ich wieder, sah noch einmal zu ihm hin, Dauernd gingen Leute an ihm vorbei, doch niemand sah ihn, beachtete ihn, er stand auch so da, als müsse er die Waage stützen oder die Waage ihn.
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Durch einen der Nebeneingänge kam ein Bahnbediensteter. Er sah nach wenigen Schritten die Waage und schlug einen großen Bogen darauf zu. »Heh! Sie! Hier wird nicht gepennt! Heh, du Penner, du! Raus mit dir!« Er wollte dem Mann auf die Schulter klopfen, doch der war sofort wach und setzte sich auf einmal in Bewegung, er schlurfte in der gleichen Haltung, in der er an der Waage gelehnt hatte, auf den Ausgang zu, an mir vorbei. Der Bahnbeamte sah ihm nach. »Aber ganz schnell!« rief er dem Mann nach, drehte sich um und ging mit strammen Schritten weiter, in den Bahnhof hinein. Und ich ging hinaus, als habe er auch mich angesprochen. Ich ging immer schneller, blieb erst draußen vor dem Seitenportal stehen. Mich fröstelte. Der Wind, den ich vorher gar nicht gespürt hatte, drang durch meinen Pullover, durch mein Hemd und zog mir eine zweite Haut über. Der Mann war nirgends mehr zu sehen. Ich blickte die breite Straße hinunter, die schnurgerade vom Bahnhof wegführte, mit den immer enger werdenden Lampen und Lichtern, die sich zusammendrängten. Schließlich verwandelten sie sich in einen hellen Ball, dort, wo die Straßenseiten eins wurden. Ich glaubte dort zu stehen, vom Licht eingezwängt. Auf dem Vorplatz patroullierten Handtaschenmädchen auf und ab. Eine Gruppe Ausländer saß auf den Stufen des Denkmals und redete laut durcheinander. Die wartende Reihe der Taxen kroch manchmal ein Stück weiter, wenn vorne ein Fahrgast einstieg. »Na, hättest du nicht Lust?« fragte mich eine Stimme. Im Schatten des Portals stand ein Mädchen, ich hatte es nicht bemerkt, oder eine Frau. Ich sah nur den hellen Mantel, der vorne offenstand. Sie machte ein paar Schritte und stand vor mir. »Überlegst du immer so lange?« Sie lachte ein bißchen. Ich fand, daß sie hübsch war, doch der Gedanke, mit heruntergelassener Hose in den Parkanlagen zu stehen, ließ mich noch mehr frösteln. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »ist mir zu -1 4 8 -
kalt.« Und damit sie nicht glaubte, daß mich ein bißchen Kälte abschrecken würde, fügte ich schnell hinzu: »Außerdem hab ich nicht genug Geld.« »Ach du, wir werden uns schon einig. Wir können zu mir nach Hause gehen, willst du? Ich wohne nicht weit von hier.« Nach Hause. Das klang gut. Das klang nach Wärme, nach Gemütlichkeit. »Nun komm schon!« Sie hakte mich einfach unter. »Hier müssen wir lang, durch die Anlagen.« Ich nestelte mit einer Hand den Zwanzigmarkschein aus meiner Hosentasche. Ich trug ihn schon seit Wochen mit mir herum und hatte das Wechseln immer wieder verschoben, es war ein ganz neuer Schein, jetzt war er weg. Das Mädchen lachte. »Woher weißt du denn, wieviel ich nehme?« »Och, weiß ich nicht! Ich habe nicht mehr.« »Ist ja schon gut.« Wir gingen dicht nebeneinander durch die Anlagen. Ich spürte ihre Wärme an meiner Seite. An dem Weg standen alte Gaslaternen, sie waren in gleichem Abstand eingepflanzt. Ihr Schein reichte nicht sehr weit, er ließ nach ein paar Metern nur noch die Steinchen auf dem Weg glitzern, bis die nächste kam. Zwischen den Laternen befanden sich Sitzbänke, die tagsüber besetzt waren und nachts nur im Sommer. Jetzt war kein Sommer, und sie standen leer, bis auf eine, die etwas vom Weg zurückstand, zwischen Büschen. Über der Lehne hing eine Frau, sie hatte die Hände auf die Sitzfläche der gestützt und deckte sich mit einem Mann zu. »Ha-Io, In-grid«, sagte sie, »ma-chst du scho-hon Fei-er-hahabend?« »Ja«, erwiderte das Mädchen neben mir. Dann waren wir vorbei. »Ingrid heißt du.« »Ja. Und du?« »Benjamin. Kanntest du die?« -1 4 9 -
»Eine Bekannte. Du frierst.« »Ein bißchen.« »Komm, häng dir meinen Mantel um.« »Nein nein, laß.« »Na gut, wir sind ja gleich da!« Wir verließen dieAnlagen und bogen in eineNebenstraße ein. Auf dem Gehsteig klapperten Ingrids Absätze. Sie wohnte mitten in der Stadt, ganz oben in einem Mietshaus. Dort hatte sie eine kleine Wohnung. In dem Wohnzimmer war es mollig warm. In einer Ecke stand eine große Bettcouch. Ingrid machte sie fertig, ging nach nebenan. Am liebsten wäre ich einfach so sitzengeblieben, hätte geschlafen. Aber ich konnte nicht schlafen. Ingrid kam zurück. Sie hatte ein durchsichtiges kurzes Hemd an, unter dem sie ganz nackt war, und ihre Nacktheit erregte mich. Doch als ich mich zur ihr legte, war die Lust plötzlich weg. Ich spürte ihren warmen Körper an mir, mein Kopf lag an ihrer Schulter. Meine Nase kribbelte, als müsse ich heulen. Ich lag ganz still, versuchte an irgend etwas zu denken, aber es ging nicht. Meine Augen wurden glasig, ich konnte nichts dagegen tun, ich konnte nicht mal im stillen fluchen. Ingrid sagte nichts, sie zog die Decke etwas höher und hüllte sie um meinen Rücken. Ich konnte es nicht mehr aufhalten, ich heulte vor mich hin und schämte mich, daß es so war. »Du weinst«, sagte sie ruhig, und ihre Hand strich über meine Haare, und es wurde nur noch schlimmer. »Wein dich ruhig aus, Tränen erleichtern.« Ihre Hand strich immer weiter, sie berührte mich kaum. Doch ich spürte es sehr genau, und langsam wurde es besser. »Du hast Kummer, du brauchst es mir nicht zu sagen.« Sie langte über mich hinweg, zündete sich eine Zigarette an und schob sie hin und wieder zwischen meine Lippen, damit ich auch ziehen konnte. >Das geht vorbei«, sagte sie, und ihr Finger kreiste auf meinem Kopf, »wenn man jung ist kann man Kummer noch schnell vergessen.« Ihre Stimme ließ ihre Haut vibrieren, an der mein -1 5 0 -
Ohr lag »nur wenn man älter ist, dann kann man daran zerbrechen.« Eine Weile sagte niemand was. Ich bewegte mich, drängte mich an sie, lag wieder still. Es war ein wunderbares Gefühl. »Ingrid?« »Ja.« »Ich möchte einfach nur so liegenbleiben, bis morgen früh. Ich hab keine Lust, ich finde es so gut, weißt du...«. »Sicher kannst du bei mir bleiben«, sie lächelte, ich konnte es merken, »solange du willst. Das andere läuft uns ja nicht weg.« »Ich habe aber nur noch acht Mark...« Sie lachte leise. »Du bist dumm. Schlaf lieber.« Ich küßte ihre Haut, roch ihren Duft. »Es ist schön, neben dir zu liegen.« »Ach du, morgen scheint die Sonne.« Sie schob einen Arm unter meinen Hals. Am anderen Morgen schien die Sonne. Sie schien durch die offenen Fenster, durch die das Hupen der Autos, das Quietschen der Straßenbahn hereinklang, sie schien durch die gebauschten Gardinen und warf ein verzerrtes Lichtschachteldreieck auf den Boden, hängte es über die Bettdecke und schob es unter einen Sessel. Ich mußte mich einen Moment besinnen, wo ich war. Dann fiel mir der brüllende Dettmer ein, Ingrid und daß ich allein auf der Couch lag. Sie mußte aufgestanden sein, ich hatte es nicht gemerkt. Ich sah zur Uhr und machte mich richtig breit, streckte die Beine, drehte mich auf die Seite, auf den Bauch, wieder auf den Rücken, ich schob die Arme unter den Kopf und genoß es, um halb elf noch im Bett zu liegen. Durch die geschlossene Tür war Tellerklappern zu hören. Ich dachte an ein Brötchen, dünn mit Butter und dick mit Erdbeermar-melade bestrichen, an schwarzen heißen Kaffee und überlegte, ob dem Onkel und Herta Lappewasch das Frühstück geschmeckt hatte.
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Warum eigentlich nicht? Und wenn nicht, dann lag es daran, daß die Lappewasch an die staatsarchivliche Onkelbeschäftigung dachte, auf die sich mein Nichtnachhausekommen auswirken könnte, daß sie das dem Onkel mitteilte, der dann ebenfalls seinen Appetit verlor weil sie nichts aß. Der Gedanke stimmte mich froh. Ich nahm mir vor, morgen auch nicht nach Hause zu gehen. »Hallo, du Langschläfer!« Ingrid war hereingekommen. Sie hatte die Haare mit einem blauen Band hochgebunden und trug eine schneeweiße Schürze über dem kurzen Kleid. So eine Schürze band Mama höchstens an außergewöhnlichen Feiertagen um, Geburtstagen und so. Sie besaß sehr viele weiße Schürzen, doch weiß wäre unpraktisch, meinte sie immer. »Was hältst du vom Aufstehen, hm?« »Nicht viel.« Sie lachte. »Du hast geschlafen wie ein Murmeltier. Ich habe schon saubergemacht, war zum Einkaufen, habe meine Haare gewaschen und eigentlich hätte ich jetzt Lust zum Frühstücken. Du nicht?« »Was gibt es denn? Brötchen?« »Na klar.« »Und Erdbeermarmelade? Hast du die auch?« »Habe ich auch.« »Ah, das ist gut, dann komme ich.« »Das Bad ist links. Ich gieße Kaffee auf. Wie lange brauchst du?« »Ich fliege!« Ich hörte, wie sie vor sich hinträllerte, und ich überlegte, wer wohl das blöde Wort »Nutte« erfunden haben könnte. Melzer käme dafür in Frage. Die Lappewasch auch. Sie hatte mal in irgendeinem Zusammenhang einen Zeitungsartikel vorgelesen, über käufliche Mädchen. >Nein, diese Prostitution, das ist ja schrecklich<, hatte sie gesagt, so hoch durch die Nase. Und der Onkel hatte gegrinst. >Aber Ernie!' hatte sie sofort empört gerufen, mit Betonung auf der ersten Silbe, >Errrrnie!< Der Onkel hatte sein Grinsen -1 5 2 -
eingestellt... »Hätte ich gewußt, daß du so gerne Erdbeermarmelade magst, hätte ich welche mitgebracht«, sagte Ingrid, »das ist nämlich gemischte, Erdbeer und Apfel. Aber ich habe noch Honig und Aufschnitt geholt.« »Macht nichts. Kann man auch essen.« »Ich muß heute nachmittag sowieso noch mal einkaufen.« Ich biß in ein Brötchen, das knackend krümelte, und sah Ingrid an. »Schmeckt es?« »Wie alt bist du eigentlich?« »Ich?« Sie strich sich etwas verlegen eine Haarsträhne aus der Stirn. »Warum?« »Och, nur so.« „Fünfundzwanzig. Willst du noch Kaffee?« »Ja.« Wenn das die Lappewasch wüßte, sie würde vom Stuhl fallen, dachte ich vergnügt und nahm mir ein drittes Brötchen. »Du siehst sehr hübsch aus.« »So, meinst du.« Ingrid lächelte. »Ja, bestimmt. Außerdem finde ich es gut hier, bei dir, gemütlich, weißt du.« »Das ist schön.« Ich kaute und nahm zwischendurch einen Schluck Kaffee. »Ich habe dir Zigaretten mitgebracht und zwei Flaschen Bier.« »Ich mag kein Bier.« »Ach, trinkst du keinen Alkohol?« »Nein. Man wird blöd davon. Aber Eierlikör, den mag ich, der ist wenigstens süß.« Sie lachte. »Ich werden heute nachmittag welchen mitbringen, und heute abend gehen wir ins Kino, ja?« »Hmhm, wenn du bezahlst. Kannst du eigentlich schwimmen?« »Natürlich.« »Dann gehen wir morgen früh ins Hallenbad.« »Prima, da wollte ich immer schon mal hin. Ich bin bis jetzt nie dazugekommen. Und wenn wir heute abend aus dem Kino -1 5 3 -
kommen, dann machen wir es uns richtig gemütlich, ich kaufe noch etwas Schönes ein.« »Hmhm, aber mußt du nicht, ich meine, mußt du nicht zum Bahnhof?« »Ach was.« Sie schüttelte den Kopf. »Und Freunde, hast du keinen Freund?« Sie lachte etwas spöttisch. »Freunde. Nein, ich habe keinen Freund, ich brauche keinen«, sie malte mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf den Tisch. »Was bin ich denn?« »Du«, sagte sie und lächelte wieder, »du bist natürlich etwas anderes!« Sie gab mir einen Kuß auf die Nase. »Und jetzt hilfst du mir beim Abräumen, ja?« »Klar. Für den Kuß.«
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5 Die Fläche des Schreibtisches vor dem Abteilungsleiter Wälzer hatte sich nicht verändert. Er selbst auch nicht. Der Präsident guckte immer noch in Richtung Fenster, sein Nachbar zur Tür, auf mich, als ich hineinkam. Auf dem Schreibtisch lag der rote Aktenhefter, mit der Glasscheibenkante abschneidend, und Wälzers Stimme wehte über all dem. »Du«, sagte er, »hast versagt! Nicht einmal versagt, sondern zweimal! Wie, so frage ich mich, konnte das passieren. Passieren, nachdem wir nichts unversucht gelassen haben, dir den Weg in ein geordnetes Leben zu ebnen.« Das »Wie« konnte ich ihm auch nicht erklären. Also schwieg ich. Bei Wälzer war es am besten, wenn man schwieg, damit er reden konnte. »Du«, sagte Wälzer, »du hast Menschen beleidigt«, er schlug den roten Hefter auf, »die dir - mit uns - diesen Weg weiter ebnen wollten, ja, du hast sie nicht nur beleidigt, sondern obendrein brutal zusammengeschlagen!« Er machte eine Pause, blätterte in der Akte. Ich fand, daß es ebensogut vor einem halben Jahr sein könnte. Nur die Rede war anders. »Dann«, fuhr Wälzer fort, »hast du dich eine Woche lang herumgetrieben, du hast nicht einmal gesagt, wo du dich herumgetrieben hast, und ich habe lange mit mir gerungen...«, er seufzte und blätterte wieder. Ich dachte an Ingrid, daß ich nur mal eben zum Onkel gewollt hatte, um meine Sachen abzuholen. An dem Tag hatte er gerade frei gehabt, was ich nicht wußte, und nun war ich wieder hier, was Ingrid nicht wußte. »... Ob ich dich wieder auf den Fuchsbau stecken soll«, sagte Wälzer. Ich verspürte den Wunsch, ihm die Hand zu drücken. »Doch die Tatsache, daß du dich selbst bei deinem Onkel gestellt hast, hält mich davon ab.« Ich hatte den Wunsch nicht mehr. -1 5 5 -
»Du kommst also auf den Wigwam und«, er schaute auf seine Uhr, sprach schneller, »ab morgen bist du wieder Herrn Tischlermeister Loom zugeteilt. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß der Herr Direktor über dein Verhalten sehr erschüttert ist. Er kann sich, wie auch ich, dein Versagen nicht erklären.« Wälzer betrachtete die Fingernägel seiner rechten Hand. Ich versuchte, mir einen erschütterten Direktor vorzustellen, was mir nicht gelang. Ich kannte ihn nicht. »Tja, Holberg, dann mit frischem Mut, wie immer. Mahlzeit!« Im Wigwam gab es zwei Gruppen mit je zwanzig Mann. Eine Gruppe lag unten im Haus, die andere oben. Ich gehörte zu der oberen Gruppe, in der sich auch Icke schon seit einiger Zeit befand, und Manfred, Auto-Manfred, den man kurz nach meiner Entlassung erwischt hatte, der vor einer Woche nach hierher verlegt worden war. Benno dagegen befand sich auf dem Sprungbrett. Er war der erste, der mich begrüßte. Wenn ein Zugang kam, dann sprach sich das sehr schnell im Heim herum, schneller als die Aufnahme vor sich ging. Da das Weiterleiten der Nachricht ohne Telefon erfolgte, war es schon eine kleine Leistung, die aber jeder als selbstverständlich ansah. Benno kam sofort aus der Tischlerei herüber. »Prächtig«, grinste er. »Sind wir ja alle wieder zusammen. Habe schon die Tage angestrichen und mich gefragt, wie lange es noch dauert, bis du wieder einläufst. Scheiße, was?« Ich zuckte die Schultern. »Wieso kannst du wissen, daß ich wiederkomme?« »Wußte ich nicht, Ben, habe nur mal dran gedacht. Mensch, ich habe es nur zwei Monate ausgehalten. Tröste dich mit mir.« »So was ist kein Trost. Du bist auch entlassen gewesen?« »Klar. Ich bin einen Monat nach dir gegangen. Zum Bauern. Was sonst. Nicht zu dem, bei dem ich schon mal war. Diesmal war's ein anderer, Samstags arbeiten, sonntags arbeiten, abends langer machen, alles für ein paar lumpige Kröten. Fünf Mark Taschengeld die Woche. Wenn ich nicht zwischendurch
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Automaten repariert hätte, wär ich nicht mal mit'm Rauchen ausgekommen.« »Und da haben sie dich erwischt.« »Ach wo, ich habe mich mit dem Hacho dauernd in der Wolle gehabt. Im Nachbardorf war so'ne Magd, die habe ich immer gestoßen, das hat mich noch 'ne Weile gehalten. Bis ich die Schnauze endgültig voll hatte. Bin ich freiwillig nach hier zurück, aber vorher habe ich noch 'ne Kuh von ihm verkloppt.« »Eine ganze Kuh?« »Na klar. Halb läßt sich so ein Vieh nicht verkaufen.« »Hat er das nicht gemerkt?« »Gemerkt schon, aber da war es zu spät. Er hat hier angerufen, aber die haben ja gesehen, daß ich ohne Kuh angekommen bin. Dann war er selbst hier, ich mußte vorne zu Wälzer kommen, und sie haben mir ein Loch in den Bauch gefragt, wo ich das Rindvieh hätte, ich solle es rausgeben. Ich habe gesagt, was weiß ich, so'n Vieh kann sich doch ebensogut verlaufen. Sie haben es dann aufgegeben. Wir quatschen heute abend noch, du kommst doch wieder in die Tischlerei oder?« Ich nickte. »Hat Wälzer schon gesagt.« »Alles klar. Bis dann.« »Ach du, was ich noch fragen wollte, ist Karen eigentlich noch oben?« »Ist. Sie hat ein paarmal nach dir gefragt, aber ich wußte ja auch nicht, wo du warst.« »Ja, ja, ich wollte immer mal schreiben, aber du kennst das ja.« »Kenn ich«, Benno winkte ab, »draußen ist alles anders, und meist ist man schneller wieder hier als ein Brief.« »Hat sie, ich meine, schreibt sie sich mit einem ändern?« »Weiß ich nicht. Evi sagt nein, aber trau den Weibern. Heute abend machen wir 'nen gemütlichen Umtrunk, ich renne noch mal zur Ziegeleikantine, bringe Jägermeister mit! Rede nicht, den kannst du ruhig trinken, da ist so gut wie kein Alkohol drin,
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reiner Saft ist das! Und bei den Miezen fege ich auch vorbei. Ich muß noch zur Gärtnerei, das kann ich bis vier hinziehen.« »Gehst du immer alleine los, jetzt?« »Manchmal kommt Icke mit, aber sonst ja. Morgen ziehen wir wieder zusammen los, bis nachher.« Der Hausvater vom Wigwam hieß Böger, ein dünner, mickriger Mann mit einer Nickelbrille, der Gruppenabende liebte und pflegte, zu denen alle herzlich eingeladen waren. Die Gruppenabende wurden im Clubraum des Wigwams abgehalten. Die Clubmitglieder, die den Raum jederzeit benutzen durften, nannten sich Apachen. Der Häuptling war Böger. Die Apachen zählten etwa zwanzig Mann, aus beiden Gruppen im Haus zusammengewürfelt, doch wenn Böger seine Gruppenabende machte, dann wurden auch Nichtapachen geduldet. Böger saß dann im Kreise seiner Krieger auf dem Teppichboden des Clubraums, in dem die Wände mit Totemmasken ausstaffiert waren, mit Speeren und sonstigem Indianerkram, er las vor. Sein Kopf wurde von der Häuptlingswürde geziert, einem Federschmuck, dessen Schwänze wie tote Vögel über seinem Rücken herabbaumelten, und der ihm dauernd ins Gesicht rutschte. Bögers Kopf war klein. Er las hustend und mit tränenden Augen aus »Narziß und Goldmund« vor und versuchte, durch Heben und Senken der Stimme eine spannungsgeladene Atmosphäre zu schaffen, die ohnehin vorhanden war, weil jeder wettete, wie lange Böger das Vorlesen diesmal durchhielt. Böger war Nichtraucher, während seine Krieger Pfeifen und Zigaretten nicht ausgehen ließen. Verbieten konnte Böger das nicht, denn bei den USA-Apachen wurde ja schließlich auch geraucht. Zum anderen wären seine zuhörenden Indianer, meist so zehn bis zwölf, bis auf zwei oder drei Mann zusammengeschrumpft. Da der Clubraum ein ehemaliger Abstellraum gewesen war und nur hoch unter der Decke zwei kleine Luftklappen besaß, vermittelte er einem jeden richtige Tipi-Luft, und mit etwas Phantasie glaubte man, sich in einem Zelt zwischen indianischen Breitengraden zu befinden. -1 5 8 -
Nach etwa einer Stunde des Vorlesens, von Rauch-, Schweiß-, Fuß-und anderen Schwaden umnebelt, klappte Böger dann in der Regel das Buch zu und schaute liebevoll in die schwitzenden Gesichter und fragte: »Nun, meine Krieger, hat es euch gefallen?« Worauf jeder nickte und Äußerungen wie »Klasse!« oder »Der Narziß ist ja 'n ganz Doller« und »Och, schon Schluß« laut wurden. Letzteres ließ sich ohne Bedenken sagen, denn wenn Böger das Buch von selbst zuklappte, dann war er am Ende. Ein Neumitglied wollte dann vielleicht noch wissen, ob Narziß auch ein Apache gewesen sei, doch solche Fragen gingen im Lärm der aufbrechenden Krieger unter. Sie faßten sich an den Händen, hoben sie in Schulterhöhe und sangen »Der Mond ist aufgegangen«, was der Häuptling mit lieblichem Sopran ansummte. Böger trällerte wie eine Primaballerina. Anschließend entließ er jeden Krieger mit nassem Händedruck und zünftigem »Hugh«. Manche Hand hielt er etwas länger, weil sich der eine oder andere besonders für den herrlichen Abend bedanken wollte. Die meisten Jungen interessierte der Abend nur, weil Böger Friedensrauchwaren verteilte, mit dem Wunsch, diese möglichst erst nach der Vorlesung zu rauchen. Aber - was sehr viel wichtiger war -, Böger schrieb die Führungsbogen. Als Benno und ich noch auf dem Fuchsbau lagen, hatten wir so einen Abend mal mitgemacht, bis auf die Mondsummerei. Studien halber, meinte Benno. Danach waren wir noch einmal dagewesen an einem anderen Abend, hatten ein paar Minuten zugehört und dabei zwei kleine Glaskugeln auf dem Teppich zertreten. Das beste, was es an Stinkbomben gab. Wir hatten den Raum verlassen und zur Uhr gesehen. Nach drei Minuten kam ein Schub von fünf Kriegern aus der Clubraumtür gestolpert. Sie fluchten nach Stammesart, daß es drin stinke. Nach weiteren zwei Minuten kam der Rest, als letzter der Häuptling, aufrecht, gleich einem Kapitän verließ er das stinkende Schiff. Der Abend war vertagt worden. Der nächste auch. Böger kannte mich wie die meisten der Erzieher durch
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die Tischlerei. In Looms Auftrag hatten wir überall zu tun gehabt. »Heute ist Dienstag, Holberg«, sagte Böger, »der erste Tag, an dem du wieder bei uns bist und wie du weißt, bin ich nicht nur Hausvater, sondern in erster Linie Apachenhäuptling.« Das schien mir auch so. Ich sah ihn erwartungsvoll an und er mich. »Na, du weißt doch, heute abend ist unser Gruppenabend«, fuhr er fort, »ich glaube, dort könntest du dich von den Anstrengungen, die ein solcher Tag mit sich bringt, entspannen, es wäre gewissermaßen ein gelungener Abschluß.« Wieso gelungener Abschluß blieb mir unklar, doch auch wenn ich es gewußt hätte: Keinen Gruppenabend! Das stand fest. »Nee«, erwiderte ich und baute mein Bett weiter, »ich gehe zum Sprungbrett, Skat kloppen.« Böger sah betrübt aus. »Ich könnte dir das verbieten«, sagte er, »die Jungen sollen sich auf den Häusern beschäftigen, auf denen sie liegen oder im Freien davor.« Ich gab keine Antwort. »Normalerweise natürlich«, sagte Böger. »Im Freien wird es jetzt zu kalt sein. Aber du bist ja noch länger bei uns. Du würdest einen guten Apachen abgeben.« Er verließ den Raum. Wenn der wüßte, was man alles im Freien machen konnte, wenn es kalt war. Das Gewächshaus der Gärtnerei war im Winter nach Feierabend unbesetzt. Im Winter gab es für den Gärtner in der Anstalt nicht viel Arbeit. Es gab auch kein Obst. Wir hatten an der Rückseite eine Scheibe entkittet und es uns im Innern des Gewächshauses gemütlich gemacht. Im Wassertank schwammen drei Jägermeisterflaschen, eine waagerecht und senkrecht, die mußten wir noch trinken. Wir tranken den Saft aus Pappbechern, und Benno schlug vor, ein Lied zu singen. Wir konnten uns nicht einigen, welches Lied. Außer Benno waren noch Manfred, Icke und Fred anwesend. Nach gegenseitigem Ausquatschen und andauernden Saftschlückchen war jedem von uns bedeutend leichter geworden, und draußen war es schon seit geraumer Zeit dunkel. -1 6 0 -
Manfred hatte von seiner Flucht erzählt, Benno von seinem Kuhhandel und von den Schamlippen der Magd, die wie aus Fensterleder gewesen waren, Fred hatte eine Allgemeinbetrachtung Über Erzieher abgegeben und über Miezen, und Icke hatte von einem einzelnen Erzieher erzählt, der ihn immer hatte auf den Schoß nehmen wollen. Und ich von Karl Dettmer, Zimmerei und Bautischlerei. Von Ingrid hatte ich nichts gesagt. Ich meinte, dass alles verblassen würde, wenn ich davon etwas erzählte. Ich würde es ganz allein für mich behalten. Auch Benno schien mir als Zuhörer nicht geeignet. Das war schade, fand ich. Icke hatte das Wort. Er machte Verbesserungsvorschläge für die Anstalt. »Also... wenn ick wat zu sajen hätte, Männa«, sagte er mit schwerer Zunge, »dann würde der ganze Scheeßladen in 'ne Luft jesprengt!« Beifall. »Aber Tünnes und Schade, die lassen wir vorher raus, die sind verwendungsfähig.« »Jut, det is jenehmigt.« »Und Müller vom Sprungbrett.« »Nee nee, det reicht, Männa, sonst bauen se alles wieda oof, wenn det so viele sind.« »Die sollen uns mit die Miezen zusammenlegen«, sagte Fred, »die müssen alle gleichberechtigt sein, jawoll.« »Sprengen ist besser«, unterstützte Manfred Icke. »Benno!?« »Sprengen!« Benno nickte. »Und vorher alle festbinden, hick, Ben! Den Loom klemmen wir in 'ne Hobelbank, und der LokusMüller wird einmal vorgesprengt...«. »Und der Wälzer ooch, det is der erste Offizier!« Icke pinkelte ausdauernd in die Blumenkästen. »Ich bin dafür, daß wir dem vor die Tür kacken!« Fred gluckste. »Ich muß nämlich.« »Det wär Punkt zwei von die Tajesordnung. Ein juter Vorschlach.« -1 6 1 -
Ickes Umfrage ergab, daß vier Mann konnten, bis auf Manfred, der erst hatte, der aber versprach, trotzdem einen Versuch zu unternehmen. Wir versteckten die noch volle Flasche, kletterten nach draußen und setzten mit einiger Mühe die Scheibe in den Falz, lehnten einen Pfahl dagegen. Hinter dem Gewächshaus lag allerlei Gerumpel herum. Ich stolperte ein paarmal. Die Luft machte mich noch schwindliger, ich mußte mich einen Augenblick an der Wand festhalten, dann wurde es besser, und ich folgte den anderen. »Wir müssen aufpassen, die vom Fuchsbau, daß die uns nicht sehen.« »Die haben doch die Fenster zu.« »Wenn schon. Dann kriegen se wat oof die Hörna, wenn wa se sehen.« »In der Aula ist 'ne Konferenz«, sagte Manfred. »Du spinnst. Hast die Hosen wohl jetzt schon voll, was.« »Quatsch. Von mir aus kann der Wälzer im Zimmer sitzen, ich scheiß ihm vor die Tür! Ich sage das nur, damit ihr Bescheid wißt.« »Na und? Das ist doch oben. Gekackt wird unten, da ist Wälzers Zimmer.« »Weita, Männa, weita. Wir sitzen ja nich solange, wie oof die Arbeit.« Die Hintertür der Verwaltung war bis neun Uhr abends unverschlossen. Es ging sechs oder acht Stufen hoch, bis auf einen Flur, den wir ganz überqueren mußten. Wälzers Zimmer war das letzte, dicht an der Vordertreppe oder das erste, wenn man die Verwaltung durch den Vordereingang betrat. Doch die Vordertür wurde schon um sechs Uhr abgeschlossen, jetzt kam von dort niemand mehr. Wenn man die Vordertreppe hinunterging, gelangte man in den Verwaltungskeller. Vom Flur aus führte eine andere, breite Treppe nach oben in die Aula und dorthin, wo W.C. Müller sein Zimmer hatte. Treppenhaus und Flur wurden von zwei Lampen erleuchtet, doch sehr hell war es nicht. Manfred machte den Anfang und -1 6 2 -
pinkelte in die Abteilungsleitertürritze, da er nicht in der Lage war, einen größeren Beitrag zu leisten. Dann hockten wir uns nacheinander vor Wälzers Tür und setzten einen Haufen hin, wir bemühten uns, eine gerade Linie einzuhalten. Ich war der letzte, bei mir dauerte es etwas länger, und die anderen gingen schon nach draußen. Ich hockte da und stellte trübsinnige Betrachtungen über einen Tag an, was an dem alles passieren konnte, plötzlich hörte ich Geräusche auf dem oberen Flur, ich hörte Stimmen, jemand kam die Treppe herunter. Ich verhaspelte mich mit der Hose, ich wußte, daß ich es nicht mehr bis zur Hintertür schaffte, ohne gesehen zu werden, weil ich über den ganzen Flur laufen mußte. Was war denn bloß mit dieser verfluchten Hose... Ich humpelte die Vordertreppe runter, dann die halbe Kellertreppe und zog mich richtig an, ich war mit einem Schlag nüchtern, als ich die Stimme des dicken Reimers vernahm. Dann die eines anderen Erziehers. Sie kamen jetzt über mir die Treppe herunter und redeten laut. Meine Knie zitterten. Der Keller war zu. Der Vordereingang auch, sie mußten also hinten durch. Den vorderen Schlüssel hatte keiner, der hing in der Verwaltung. »Mensch! Was is'n das?« hörte ich Reimers verblüfft fragen. Die Schritte auf dem Flur verstummten. Stille. »Das ist doch...«, wieder waren Schritte zu hören, ganz langsam. Ich guckte durch das Gestänge des Treppengeländers, sah Reimers auftauchen, sah, wie er vor der Abteilungsleitertür stehenblieb und sich vorbeugte. »Kacke!!« stellte er ganz richtig fest. Und dann wesentlich empörter: »Die dampft ja noch!!« Obwohl das ein ganz natürlicher Vorgang war, fand ich. »Ja, nun komm schon«, sagte der andere Erzieher, den ich nicht sehen konnte, »oder willst du warten, bis sie kalt ist?« »Mensch, das muß gemeldet werden!« »Aber nicht von mir. Meinst du, ich habe Lust, über Scheiße einen Bericht zu schreiben! Willst du nun mit oder willst du nicht?« -1 6 3 -
»Was heißt wollen«, Reimers schnaufte, »wir können doch nicht einfach dran vorbeigehen!« »Ich kann. Ich habe morgen meinen freien Tag. Tschüs denn.« Ich hörte den anderen zum Hinterausgang gehen. »Ich auch! Ich habe auch meinen freien Tag. Aber Pflicht ist Pflicht!« röhrte Reimers hinter dem Kollegen her, und dann in echter Catchermanier: »Feigling! Feigling!« Er blickte noch mal auf die vier Hügel, polterte die Treppe wieder noch. Ich flitzte zum Ausgang. Draußen war niemand zu sehen. Ich lief zum Wigwam. Icke und Manfred waren bereits dort. »Ick dachte schon, dir ham se erwischt. Wir sind vaduftet, da kam eener aus der Tür.« Ickes Stimme war noch immer schwer vom Saft. »Beinahe«, erwiderte ich. Und dann: »Mensch, reiß dich mal 'n bißchen zusammen! Oder kannst du nichts vertragen!« Loom hatte sich auch nicht verändert, sofern sich ein Mann wie Loom überhaupt verändern konnte. Er war noch da, ich war wieder da. Er trug meinen Namen in die vom vielen Radieren graue Papierliste, die auf ein Stück Sperrholz geklebt war, und sagte: »Na, 'n halbes Jahr hast du's ja ausgehalten, 'n halbes Jahr ist Schnitt. Hier!« Er gab mir eine seiner vertrockneten Zigarren. »Aber mit Benno teilen.« »Wieso nur eine?« fragte Benno, der hinzukam. »Die anderen sind noch zu frisch.« »Red nicht so'n Quatsch«, sagte Loom zu mir, »die kostet dreißig Pfennige. Ich habe die anderen nicht hier, sie sind drüben in meiner Tasche.« Ich gab Benno die Zigarre. Er zeigte mir einen Vogel und gab sie Icke. »Det is aba anständig.« Etwas später sah ich Icke, wie er die Zigarre einem der Jungen gab, die mit Tischler Meier zusammenarbeiteten. »Aba teelen, mit dein Kumpel!« Das Telefon klingelte. Loom flitzte an uns vorbei auf den Flur. Dort befand sich in einem abschließbaren Kasten das Telefon. -1 6 4 -
Es gehörte zur Tischlerei und zur Schneiderei, in beiden Betrieben war eine Klingel angebracht. Loom hatte den kürzeren Weg. Er rannte auch immer als erster los, wenn es klingelte. Wenn es für die Schneiderei war, dann sagte er dort Bescheid. »Ihr müßt sofort in die Verwaltung«, sagte er, als er wieder hereinkam, »nehmt euch 'n paar Latten mit, hier, die reichen schon«, er zeigte auf einige Holzabschnitte, die in der Ecke standen, »meldet euch gleich da!« Wir gingen los, Benno nahm den Kasten und ich die Latten. »Der sah eben aus, als sei seine Frau gestorben, hast du's gesehen?« »Nach seinem Gesichtsausdruck kannst du nicht immer gehen, das weißt du doch.« In der Verwaltung standen auf dem Flur: Abteilungsleiter Wälzer, zwei Erzieher, ein Mann aus der Geschäftsstelle, eine Frau aus der Geschäftsstelle, der dicke Reimers und ein Fotograf, mit umgehängter Blitzlichttasche, er baute gerade ein Stativ auf. »Das«, sagte Wälzer, »ist eine Ungeheuerlichkeit, die ihresgleichen sucht! Das wird untersucht!« Und zu uns: »Ihr müßt einen Augenblick warten, der Fotograf, steht nicht im Weg!« Wir stellten uns in eine Ecke. »Kollege Reimers! Ich darf Sie noch einmal an einen ausführlichen Bericht erinnern, ja ich verlange Ausführlichkeit! Uhrzeit, vermutlicher Tathergang, Hinweise, na ja, Sie wissen Bescheid!« »Gar nichts weiß ich«, erwiderte Reimers brummig. »Ja... aber, schließlich waren Sie es doch, der diese Schweinerei...«, Wälzer brach ab und schaute den Dicken erstaunt an. »Vorsicht, gehen Sie doch ein Stück zur Seite, ja? So, ja so, das genügt schon. Danke.« Die erziehungsberechtigten Personen teilten sich in zwei Gruppen, damit der Fotograf freies Feld hatte. »Ich bin die Treppe runtergekommen«, sagte Reimers, »mehr nicht. Und dann habe ich die Dinger, die Dinger da gesehen.« »Und!?« Wälzers Ton war militärisch kurz. -1 6 5 -
»Ja, also, ganz warm waren sie, ich meine Dampf, der kam noch hoch...« »Aber! Kollege Reimers, ich muß doch sehr bitten!« Die Frau aus der Geschäftsstelle kicherte ungeniert. »Mir scheint, Sie haben nichts zu tun!« sagte Wälzer scharf, worauf sie wegging. Der Fotograf machte zwei Aufnahmen. »Unsere Wachtmeister«, flüsterte Benno stolz. »Doll, nicht?« Ich bemühte mich an Melzer und an den brüllenden Dettmer zu denken und blieb ganz ernst. »Einzelaufnahmen auch?« fragte der Fotograf Wälzer. »Wie? Ja, natürlich. Und dann noch einmal schräg von vorn, vom Eingang aus«, antwortete der und wandte sich wieder Reimers zu. »Sie müssen doch etwas bemerkt haben?« »Nichts!« sagte der Dicke grollend. »Gar nichts. Ich kam runter, da waren die Dinger da, bin wieder hochgegangen und habe Ihrem Stellvertreter Bescheid gesagt, der die Sitzung leiten tut.« »Der die Sitzung leitete oder geleitet hat«, verbesserte Wälzer, »ausgerechnet gestern abend, als ich nicht im Haus war! Das ist von langer Hand vorbereitet worden, eiskalt wurde das geplant!« Der Verwaltungsdiener tauchte mit Kehrblech und Besen auf. »Haaalt!« griff Wälzer rechtzeitig ein. »Unterstehen Sie sich, Mann! Sie wollten heute morgen schon einmal fahrlässig handeln, was wollen Sie denn!?« »Aber«, der Diener sah sich verstört um, »der Fotograf ist doch fertig, und wegmachen muß ich es.« »Lieber Mann«, sagte Wälzer belehrend, »Sie sind hier, um ermittelnde Verwaltungsdienste zu verrichten, nicht jedoch, um verwaltungsdienliche Ermittlungen zu verdunkeln! Dieses sind welche, verstehen Sie das?« »Nein«, sagte der Diener. »Gut. Sie werden unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt, wann Sie gebraucht werden, und zwar dann, wenn der Herr Direktor eingetroffen ist und weitere Instruktionen erteilt.« Der Verwaltungsdiener zuckte die Achseln und ging wieder weg. -1 6 6 -
Der Fotograf klinkte seinen Apparat ab und schob das Stativ zusammen. »Farbaufnahmen?« fragte er Wälzer. »Ich habe nämlich nur einen Schwarzweißfilm drin.« »Wie? Ach was, Mann! Aber drei, nein, Moment... vier«, Wälzer überlegte kurz, »ja, machen Sie jeweils vier Abzüge!« Und zu uns: »Hier, ihr beiden! Zäunt das mal ein!« Sein Zeigefinger zeigte auf die vier Haufen. Ich nagelte drei Latten zusammen, Benno hielt die Eckstützen. Wir sperrten Wälzers Tür in einem Zwei-Meter-Umkreis ab. »Wenn der Alte heute nicht kommt, muß Wälzer immer rüberhüpfen oder untendurch«, murmelte Benno. W.C. Müller erschien in dem Augenblick, als wir fertig waren und unser Werkzeug einpacken wollten. »Moment warten«, sagte Wälzer. Ich sah W.C. Müller zum ersten Mal. Es war der Mann, der über Wälzers Bücherschrank neben dem Bundespräsidenten hing. Er antwortete mit einem Nicken auf die vielen Morgengrüße, und er blieb stehen, um sich die Abteilungsleitereinleitungsrede anzuhören. Sein Spitzbart war rund gestutzt und im Gegensatz zum Kopfhaar von satter, dunkler Farbe. Wälzer hatte aufgehört zu reden. W.C. Müller ging dicht an die Absperrung heran, Wälzer folgte mit einem halben Schritt Abstand, die Erzieher folgten mit einem halben Schritt Abstand. Müller nickte mehrmals vor sich hin, drehte sich um, sah Reimers an, der sofort auf gleiche Höhe rückte. »Sie«, Pause, »haben das gestern abend festgestellt.« »Jawoll, Herr Direktor!« »So wie es jetzt ist?« Der Dicke zögerte, trat ganz dicht an die Absperrung heran und beugte sich drüber, guckte abschätzend. »Na ja, sie waren etwas größer, gestern noch, die Dinger, Herr Direktor...« »Ja ja, verstehe, verstehe.« »Und die Latten, die war'n hier noch nicht!« trompetete der Dicke.
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W.C. Müller winkte ab und ging wieder zur Flurmitte. Die Gruppe schloß sich an. »Irgendwelche Täterhinweise?« fragte er Wälzer. Der wiegte den Kopf. »Ich möchte sagen, Herr Direktor, anhand der unterschiedlichen Große der Exkremente läßt sich der Schluß ziehen, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um mehrere Täter gehandelt haben muß, wenigstens aber um zwei...« »Wieso zwei?« fragte W.C. Müller konsterniert, »meinen Sie, dass zwei Personen in der Lage sind, solches zu leisten?« Wälzer schwankte. »Täuschungsmanöver, Herr Direktor, davon ausgehend, daß die Sache eiskalt geplant worden ist.« »Ist sie das?« »Absolute Gewißheit wird eine Laboruntersuchung verschaffen.« »Gut! Proben nehmen!« W.C. Müller nickte. »Ich erwarte einen ausführlichen Bericht von Ihnen!« Wälzer verbeugte sich knapp. »Habe bereits Aufnahmen machen lassen und werde nichts unversucht lassen, die Täter auf schnellstem Wege zu ermitteln!« Der Landesjugendheimdirektor nickte wieder und ging die Treppe hoch nach oben. »Sie besorgen sich sofort vier Gläser oder sowas und einen Löffel«, sagte Wälzer zu dem Verwaltungsdiener, der wieder mit Schaufel und Besen erschienen war, und zu uns: »Absperrung einreißen!« und zu dem dicken Reimers: »Vergessen Sie nicht, Ihren Bericht bei mir abzugeben, Herr Kollege, und zwar bis Punkt vier Uhr!« Der Schnee fiel in großen, taumelnden Flocken aus der Luft. Ich saß im Wigwamwaschraum auf dem Fensterbrett und las in dem Gedichtband, den mir Hagen aus der Stadt mitgebracht hatte. Ich mochte Gedichte. Hagen arbeitete in der Stadt in einer Wäscherei und fuhr mit einem Wäschereifahrrad umher, Wäsche austeilen, Wäsche abholen. -1 6 8 -
Abends bekam er dafür zwei Mark, und mit dem Rad durfte er ins Heim fahren. Und morgens zur Arbeit, damit er pünktlich sein konnte. Hagens Eltern waren bei einem Autounfall verunglückt, er auch aber nicht richtig. An der rechten Brustseite und am Arm hatte er lange Reißverschlußnarben zurückbehalten. Er sprach selten über sich selbst. Sein Gesicht hatte immer einen etwas spöttischen Ausdruck. Er war aber nicht spöttisch, wenn ich mich mit ihm unterhielt. Er machte auch jeden Blödsinn mit und - was ich besonders gut an ihm fand - er konnte Klavier spielen. Hagen war eines Tages zu mir gekommen und hatte gesagt: »Sag, Ben, kannst du mir eine Kiste bauen?« »Kiste? Was für eine Kiste?« »Eine ganz normale Kiste, eine große natürlich, die ich unters Bett schieben kann, und sie muß zum Abschließen sein.« »Hm, hm, das kann ich. Was willst du anlegen?« »Eine Stange Zigaretten.« Ich überlegte. »Eine Stange Zigaretten war gut, doch zum Rauchen bekam man immer etwas. Von Karens Zwanziger hatte ich noch acht Mark, Benno hatte noch etwas Kleingeld, und bis das verraucht war, gab es schon eine neue Quelle. »Zehn Schachteln sind zwanzig Mark«, sagte ich, »dafür bringst du mir aus der Stadt zwei Gedichtbände mit.« »Geld ist im Moment bei mir knapp«, erwiderte Hagen, »die Zigaretten habe ich auf Lager. Aber ich bringe dir die Bücher trotzdem mit. Willst du etwas Bestimmtes haben?« »Nein. Ich mag Gedichte, weißt du.« Hagen brachte mir zwei Tage später zwei Gedichtbände und vier andere Bücher mit. »Oha, jetzt muß ich in einer Tour Kisten bauen für dich!« sagte ich verblüfft. Er lachte. »Nein. Geklaut. Aber sie lassen sich trotzdem lesen. Eine Kiste reicht. Wenn du Interesse an Büchern hast, will ich dir gerne behilflich sein. Ob es immer mit den Titeln klappt, das -1 6 9 -
weiß ich nicht, ich muß sehen, wie die Gelegenheit ist.« Seitdem waren wir näher befreundet. Hagen war zum Gymnasium gegangen, bis siebzehn. Dann war das mit dem Unfall dazwischengekommen, und er hatte nur die mittlere Reife abgelegt. Er wollte Kaufmann im Großhandel werden und war wegen irgendeiner Sache rausgeflogen. Dann war die Tante gestorben, bei der er gewohnt hatte oder auch schon vorher. Er erzählte das nur am Rande, weil es nicht weiter wichtig war, wie er sagte. Jetzt war er hier im Landesjugendheim. Hagens Wäschereibeschäftigung war erträglich. Er kam in der ganzen Stadt herum, in viele Geschäfte. Er mußte immer durch die Lieferanteneingänge, und wenn er die mehrmals benutzt hatte, dann wußte er genau, wann er kommen mußte, um das eigene Dasein zu erleichtern. Hagen tat das. Nicht lange darauf baute ich ihm eine noch größere Kiste, mit einem Blechkühlfach und zwei Schlössern, zu denen er und ich die Schlüssel besaßen. Im Schlafsaal brachten wir ein Bücherbord an der Wand an. Es gab Krach mit Böger. Das Bord sollte ab. Wenn wir jedoch bei den Apachen eintreten würden, nun ja, dann könne man darüber reden, ob das Bord hängenbleiben könnte. Also blieb das Bord hängen. Nur zum Gruppenabend wollte niemand von uns. Wenigstens einer, verlangte Böger. Hagen erklärte sich bereit, da ich ein zweites Bücherbord in Arbeit hatte. Aber nur einmal im Monat, sagte er zu Böger; der setzte nach einigem Hin und Her zweimal durch. Das war immer noch ein gutes Ergebnis, denn oft hielt Böger fünf Gruppenabende pro Monat ab. Am ersten Abend gab Hagen jedem Krieger drei Knoblauchzehen und fünf Zigaretten. Die Knoblauchzehen zum Essen und die Zigaretten für das Essen. Böger tropfte der Schweiß vom Adamsapfel, und der Rand seines Federschmucks löst sich auf, doch sonst war ihm nichts anzumerken. Er ließ an diesem Abend sogar noch ein zweites Lied summen. »Ich bin ein wilder Apachenkrieger, und keine Squaw wird mich zwingen nieder...« Es gehörte mit zu Bögers -1 7 0 -
Lieblingsliedern und hatte zwölf Strophen, die alle durchgesummt wurden, was zur Folge hatte, daß seine indianischen Krieger hinterher hemmungslos fluchten. In Deutsch. Einige erklärten sogar ihren sofortigen Gruppenaustritt, aber nur von Krieger zu Krieger und bis zum nächsten Gruppenabend. Hagen war sauübel. »Dieses Dreckschwein«, sagte er, »mir wird etwas einfallen, oder wir reißen die Borde wieder ab.« Wir beratschlagten im Schlafsaal, was zu tun sei. Wir konnten hier unbesorgt reden, denn wir hatten die rechtsgerichteten Jungen, die Arschkriecher, rausgeekelt. Dafür waren drei andere gekommen. Der zweite Gruppenabend war ein Erfolg. Für uns. Mittags hatte es Linseneintopf gegeben, und da Hagen erst am Abend aus der Stadt kam, bewahrte ich eine Terrine voll Suppe für ihn auf. »Lieber eine Radikalkur als dauernd halbe Sachen«, sagte er abends und schaufelte mit spöttischem Gesicht die Linsen in sich hinein. Eine Terrine waren acht normale Teller voll. Hagen schaffte sie, hockte anschließend regungslos in einer Ecke des Tagesraums und wartete darauf, daß Bögers Abend anfing. Dann hielt er noch ganze zehn Minuten durch. Er kotzte über den Häuptlingsschoß, über Narziß und Goldmund, über Kriegerbeine, er kotzte den echt indianischen Teppich voll, und ein Teller löste den anderen aus. Von zwei linsenbekleckerten Kriegern gestützt wankte er zum Bett. Ein Erzieher vom Neubau kam herüber, der mit Sanitätsausbildung, ließ Hagen drei Stuhlgangwürfel schlucken und verordnete Bettruhe. Hagen blieb am anderen Tag liegen, und Böger glaubte ihm, als er sagte, daß er keine Gruppenabende vertragen könne. Er wurde von Böger zum passiven Mitglied ernannt, wie ich. Der Schnee fiel dicht. Ich starrte aus dem Fenster und dachte daran, daß in drei Tagen Weihnachten war. Einige Jungen bekamen Urlaub und durften für eine Woche nach Hause fahren. Es waren die, die ohnehin in Kürze entlassen werden mußten, weil sie volljährig wurden. Vielleicht hätte ich auch Urlaub bekommen, wenn Mama sich eingeschaltet hätte, dachte ich, Doch was machte es schon. Weihnachten war überall. Mama wurde ein Paket -1 7 1 -
schicken, wie zum Geburtstag, und wenn das alle war, dann war Weihnachten vorbei. Scheißweihnachten! Zu Hause gehen sie dann in die Kirche. Der Pfarrer sagt »Liebe Brüder, liebe Schwestern. Wieder einmal ist Weihnachten, das Fest des Herrn, und ich sehe die, die ich das ganze Jahr über nicht gesehen habe, all die vielen Gesichter...« Das sagte er immer am Anfang. Mama guckte dann angestrengt ins Gesangbuch. Wenn der Pfarrer kein Geld für seine Reden bekäme, sicher gäbe es dann nicht so viele. Wie lautlos der Schnee fällt. Frau Holle. Daran glaubt man als Kind. Wenn ich damals schon richtig hätte denken können, dann hätte ich mir den Blödsinn gar nicht angehört. Bei so einem Schnee braucht sie tausend Federbetten. Mit Ingrid müßte ich Weihnachten feiern. Das wäre gut. Ich müßte einfach abhauen, zu ihr hin. Ich habe auch gar keine richtige Lust mehr, hier zu sein. Hagen kam herein. »Ich habe dich schon gesucht«, sagte er, »ich gehe rüber in die Aula, willst du mit?« »Sicher«, sagte ich. »Hast du den Schlüssel?« »Nein. Der Hausdiener schließt auf. Böger hat angerufen.« Wir stapften durch den Schnee zur Verwaltung. In der Aula stand ein Flügel, auf dem Hagen spielte, wenn die Weihnachtsfeier war. In den letzten Wochen vor Weihnachten durfte er üben. Er müßte üben, sagte er zu Wälzer. Doch er brauchte das nicht. Er spielte auch keine Weihnachtslieder, er schrieb Noten und probierte sie dann aus, oder er spielte Melodien aus dem Kopf. Manchmal durfte er auch mal hoch und spielen. Böger war stolz, einen klavierspielenden Apachen in seiner Gruppe zu haben. [n der Aula lagen Tannenzweigehaufen herum, nach denen es roch. Am Montag sollten Benno und ich hinter der Bühne eine Rampe bauen, denn am zweiten Weihnachtsfeiertag kam eine Laienspielgruppe aus der Stadt, die zeigen sollte, wie das damals mit Maria und Josef vor sich gegangen war, die Flucht, die Königsbesuche und all die Aufregungen. Die Laienspielgruppe kam jedes Jahr ins Heim, und diesmal brachte sie einen richtigen Esel mit. Damit der gut -1 7 2 -
auf die Bühne konnte, mußten wir eine Rampe bauen. Zum Laienspiel erschienen auch alle Mädchen vom Ascherberg, fünfzig bis sechzig an der Zahl. Das war die zweite Attraktion. Zum Gottesdienst kamen zwar auch welche, doch es waren immer nur zehn oder auch mal fünfzehn. Die wollten die Jungen sehen und die Jungen, die kamen, die Mädchen. So ließ sich der Gottesdienst das ganze Jahr über aufrechterhalten. Ich hatte mir einen Tannenhaufen an den Flügel geschoben und machte es mir bequem. Ich schaute Hagen zu, wie er spielte. Ich fand, daß er wunderbar spielen konnte. Oft sah er gar nicht auf die Tasten, sondern auf einen Punkt, irgendwo im Raum, als könne er dort die Noten des Stücks lesen, das er gerade spielte. »Tschaikowski eins«, sagte er dann mal oder »Chopin«. Ich steckte zwei Zigaretten an und gab ihm eine. Nach dem Abendbrot, der Margarine und dem Griesbrei kam Benno vom Sprungbrett herüber. »Weihnachten gehen wir zu den Miezen hoch«, sagte er. »Wieso Weihnachten?« "Wieso nicht? Ist doch schließlich ein festliches Ereignis, wenn wir da einlaufen. Hagen, du kommst doch mit? Oder hast du keine Lust?« Hagen grinste. »Von mir aus. Nur ist es so, daß ich kein Mädchen von dort kenne.« »Das macht nichts, lernst du kennen. Dann sind wir mit Icke vier Mann, und alles ist klar.« »Hast du ihn schon gefragt?« »Nee, aber der kommt mit. Der würde am hellen Tag mitkommen. Die anderen beiden Miezen sind okay. Evi hat geschrieben. Fred würde auch mitmachen, aber sein Huhn liegt im anderen Zimmer, das ist zu gefährlich.« »Wollen wir denn die ganze Nacht da oben bleiben?« »Warum denn nicht! Es muß sich wenigstens lohnen. Wir gehen am zweiten Feiertag, dann ist draußen auch überall Vergnügen. Ich werde mal in die Gärtnerei stelzen, wegen 'ner Leiter. Komm mit, Ben.« -1 7 3 -
»Na, wie kann ich denn. Ich muß in die Turnhalle, ein Tau besorgen. Wir kommen hier oben zwar runter, aber wie sollen wir wieder raufkommen?« »Liebe Jungen! Liebe Mädchen!« W.C. Müller machte eine lange Pause. »Kollegen und Kolleginnen!« tönte eine Stimme aus den Zuschauern in breitem Sächsisch. Gedämpftes Lachen. W.C. Müller überhörte beides. Er stand vor der vollen Aula auf der erleuchteten Bühne wie ein Varieteansager, der dem Publikum eine besondere Attraktion ankündigen wollte. Wollte er aber nicht. Er wollte nur seine Weihnachtsfeierrede loswerden, die er jedes Jahr hielt, siebzehn Uhr fünfzehn. Weihnachtsfeierbeginnuhrzeit. Hagen hatte »O du fröhliche...« gespielt, und alle hatten mitgesungen. Beim letzten Vers war W.C. Müller aufgestanden, zur Bühne, auf die Bühne, zur Bühnenmitte gegangen, wie der Pfarrer, wenn die letzte Choralstrophe einsetzte. Nur daß jener langsam schlurfte, bedächtig und leicht nach vorn gebeugt. W.C. Müller dagegen ging aufrecht, mit strammen Schritten, froh nach allen Seiten lächelnd. Was kein Wunder war, wie ich fand. Er brauchte nur einmal im Jahr eine Rede zu halten. Der Pfarrer mußte jeden Sonntag rauf. Da stand er nun, der Direktor. »Wir«, trompetete W.C. Müller, »die wir hier versammelt sind«, Pause, »die wir eine große Familie sind«, Pause, und ein sächsischer Zwischenruf: »Aba nich mit dia als Vata!« Gelächter. Einige Erzieher gingen durch die breite Reihe zwischen den Stühlen, obwohl sie genau wußten, daß sie den Rufer in der Menge nicht ausmachen konnten, »feiern nun wieder einmal«, Pause, »das größte aller Feste«, Pause, »das Weihnachtsfest!« W.C. Müller machte »Ächem, ächem« und fuhr fort. -1 7 4 -
»Für jeden von euch«, Pause, »kommt einmal die Zeit«, Pause und Zwischenruf von anderer Seite: »Mit einundzwanzig u.v. b.!« U. v. b. hieß unverbesserlich und wurde unter dieser Abkürzung in die Akte eingetragen, wenn man die Anstalt mit einundzwanzig Jahren verließ oder auch früher, wenn man ins Jugendgefängnis kam. »... besonders schwer«, Pause, »da sie von den lieben Angehörigen getrennt sind«, Pause, »sie gar nicht mehr haben«, Pause, »und nun ganz allein in der Welt stehen!« Pause. W.C. Müller betupfte kurz seine Stirn, mit einem weißen Taschentuch. »Aber wir«, Pause, »die wir euch diesen Verlust ersetzen wollen«, Pause, »wir fühlen mit euch!« Pause. Hausvater Böger sagte laut: »Bravo! Bravo!« und klatschte in die Hände, hörte auf, weil niemand mitklatschte. W.C. Müller redete sehr lange in das linke Ohr der meisten Jungen, die nach rechts guckten, dort saßen die Mädchen hinter der ersten Erzieherreihe, vor drei leeren Stuhlreihen, die jedes Jahr für Gäste von draußen reserviert wurden. Benno sagte, daß dort noch nie jemand von draußen gesessen habe, und die leeren Reihen wären nur Gaukelei. »... sich gerne zurückerinnern«, Pause, »daß er hier zum Menschen heranreifte«, -1 7 5 -
Pause; Blödsinn, dachte ich, als ob man bei der Einlieferung kein Mensch war, »zum Mann«, Pause, Zwischenruf: »Zum Vata!« »Zur Frau«, sagte W.C. Müller wesentlich lauter und fast ebenso laut ein anderer Zwischenruf er: »Zur Mutta!« Der Direktor mußte eine längere Pause einlegen, bis sich die Aula beruhigt hatte. Er stand da mit eingefrorenem Lächeln, seine Finger neben den Hosennähten streckten und schlössen sich krampfhaft. Abteilungsleiter Wälzer erhob sich in der ersten Reihe, drehte sich um und blickte empört über die Köpfe der Weihnachtsfeiermenge hinweg. Man wird doch wohl mal lachen dürfen! War ja schließlich ein fröhliches Fest, sagte Lokusmüller doch selbst. Die, die nicht lachten, die rechtsgerichteten, die »Ruhe« und »Schweinerei« brüllten, die hörte man gar nicht richtig. Vielleicht brüllten sie auch nur so laut, daß es die am nächsten stehenden Erzieher mitkriegten. Reichte ja auch. »Zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft wurde«, fuhr W. C. Müller fort. »Und in diesem Sinne«, Pause, »liebe Jungen, liebe Mädchen«, Pause, »wünsche ich euch allen«, Pause, »ein frohes«, Pause, »ein gesegnetes«, Pause, »und ein glückliches Weihnachstfest!« W.C. Müller verließ unter Beifall die Bühne. Abteilungsleiter Wälzer stand auf, drehte sich um. »Auch ich«, sagte er, »darf mich im Namen aller Kollegen den Wünschen des Herrn Direktors anschließen!« Setzte sich. Kurzer Routinebeifall. Ein Mädchen ging auf die Bühne und las die Weihnachtsgeschichte vor. Es bekam den längsten Beifall. -1 7 6 -
Hagen spielte »Stille Nacht, heilige Nacht...«, und jeder sang mit. Einige Mädchen heulten und Benno, der neben mir saß, flüsterte: »Mensch, Ben, alles Scheiße, was?« Ich nickte, »Scheißweihnachten.« Das Laienspiel am zweiten Weihnachtsfeiertag begann um sechzehn Uhr. Die Aula war gerammelt voll. An den Fenstern waren die schwarzen Rollos heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen, und alle Blicke waren auf den Bühnenvorhang gerichtet, der noch geschlossen war. Benno, Icke, ich und andere alte Füchse saßen auf der rechten Seite in der dritten Reihe und in der vierten und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Diese Platzordnung war seit langem erprobt. Wir konnten alles auf der Bühne sehen, saßen auf gleicher Höhe mit den Mädchen und wurden nicht gesehen, wenn wir Bemerkungen machten, die den Organisationsablauf störten. Auf der anderen Seite saßen in der ersten Reihe W.C. Müller in der Mitte, daneben Wälzer, zur Linken Hausvater Böger, der älteste aller Hausväter, dann der vom Sprungbrett. Neben Wälzer saß Schade vom Fuchsbau und dann der Hausvater vom Neubau. Der Rest der Reihe war mit gewöhnlichen Erziehern aufgefüllt. Die ganz gewöhnlichen waren in der ganzen Aula verteilt und mußten aufpassen, daß kein Blödsinn gemacht wurde. Hinter dem Vorhang rumpelte es. Dann fiel ein Stuhl um. Durch den Saal ging ein erwartungsvolles »Ahhhhhh!« »Ruhe!« schrie jemand. »Halt's Maul, du Esel!« Lachen. Das Licht ging aus, der Vorhang auf. Ein Mädchen saß mitten in der Wüste - die Kulisse des ersten Aktes - auf einem Stuhl und begann die Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Es war ein anderes Mädchen, aber die Geschichte war haargenau die gleiche wie bei jeder Weihnachtsfeier. Trotzdem hörten alle zu, als sei es etwas ganz Neues. Vorhang zu. Beifall. Hagen spielte »Vom Himmel hoch, da komm ich her...«, und die ganze Aula sang. Wälzers Tenor war deutlich herauszuhören. Er hatte eine schöne, klare Stimme. Der Vorhang öffnete sich wieder. Nichts war zu sehen. Hinter -1 7 7 -
der Wüstenkulisse polterte es laut. Zischelnde Stimmen. Dann wieder Poltern. Ein dumpfes Klatschen. Scharren. Der Vorhang schloß sich. Starker Beifall. Pfiffe. »Zugabe! Zugabe!« W.C. Müller lächelte milde. Abteilungsleiter Wälzer lächelte milde, die ganze erste Reihe lächelte milde. »Vielleicht will der Esel nicht auf die Bühne«, sagte ich leise zu Benno. »Was heißt wollen. Ist Laienspiel, da muß er. Außerdem haben wir nur für den die Rampe gebaut!« Ein Erzieher ging geduckt zu Hagen und tuschelte. Hagen nickte und spielte »Es ist für uns eine Zeit angekommen...« Nach dem ersten Vers ging der Vorhang wieder auf. Ganz rechts auf der Bühne stand ein richtiger Esel und kaute in Ruhe vor sich hin. Auf seinem Rücken ein in ein weißes Gewand gehülltes Mädchen im Damensitz, es hatte ein Bündel im Arm. Vor dem Esel ein Junge, der ein Gewand nach Bethlehemer Art trug, er hielt das Halfterende des Grauen. »Das sind Josef und Maria«, sagte jemand halblaut. »Ach Maria«, sagte der junge Josef, »wir werden es schon schaffen, der Herr wird uns nicht im Stich lassen.« Er guckte nach oben. »Ja, Josef, wenn wir auf den Herrn vertrauen, so kann uns nichts passieren, und wenn der Häscher noch so viele sind«, erwiderte Maria. »Und doch«, Josef lauschte, »mich deucht, sie sind gar nahe, wir müssen eilen!« Er zog kaum merklich an der Leine, die sich straffte und den Eselskopf etwas anhob. Doch der Esel blieb stehen, er guckte gleichgültig auf den Boden. Josef blickte dauernd in die Richtung, aus der die Verfolger kommen mußten, stand jetzt dicht neben dem Eselskopf und zog. Das Tier machte einen zögernden Schritt, blieb stehen. Maria hatte sofort zu sprechen begonnen. »Nicht allzu schnell, mein Lieber«, sprach sie, und der Esel stand, »damit unser Kind nicht erwache und sein Weinen uns verrate.« Alles lachte. »Ich weiß, ich weiß. Dort steht ein Dornenstrauch, er könnte uns verbergen.« Josef wies mit der Hand auf eine Tanne, die an der anderen Bühnenseite stand, doch so wie es aussah, war
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das nicht zu schaffen. Der Esel schien befangen. Vielleicht hatte er zum ersten Mal Bühnenbretter unter sich. »O Josef«, seufzte Maria. Ihre Stimme klang echt verzweifelt. Eine Kulisse wackelte etwas, und eine Mohrrübe kullerte und hoppelte fast bis zur Bühnenmitte. Der Esel guckte erstaunt und setzte sich in Bewegung, unter dem Gelächter der vorderen Reihen, die das mitbekommen hatten. »Nur Mut, Maria«, sagte Josef zuversichtlich. Der Esel roch und nahm gemessen die Wurzel, ließ sich kauend hinter die Tanne ziehen, wo er mit Kopf und Hinterteil hervorschaute. Hinter der Bühne ertönte Geschrei und Getrappel, eine Horde buntgekleideter Gestalten tauchte auf. Sie sahen sich nach allen Seiten um, nur nicht nach der Tanne und dem halben Esel. »Sie können noch nicht allzuweit sein«, rief einer. Wir müssen sie fassen!« Die Gruppe rannte wieder hinter die Kulissen. »Das war um Haaresbreite«, sagte Josef, »mir graut vor den Schergen.« Er zerrte an dem Halfter, doch dem Esel graute auch. Er traute sich nicht mehr hervor. Eine zweite Mohrrübe kam ungenau gezielt. Der Esel guckte um die Tanne, dann machte er drei Schritte rückwärts, zwei vorwärts und nahm die Rübe auf. Das war der kürzeste Weg. Er fraß sie im Stehen, Josefs Zugversuche gar nicht beachtend. »Den Busch hat uns der Herr geschickt«, sagte Maria. »Ja. Mir ist, als sähe ich dort ein Haus, ein Obdach in der Ferne!« Josef legte eine Hand über die Augen und sah zu der Bühnenseite, an der es die Rampe hinunterging. »Mich deucht, dort können wir bleiben!« Die nächste Rübe kam genau aus dieser Richtung und blieb zwischen den Hinterbeinen des Esels liegen. Der drehte sich freudig um und kehrte dem voraussichtlichen Obdach das Hinterteil zu. »Man wird uns dort zu essen geben und Milch für unser Kind«, vermutete Maria. »Gewißlich.« Das klang recht mutlos. Hagen spielte als leise Untermalung »Ihr Kinderlein kommet...« Icke holte seinen Gummi aus der Tasche und legte eine -1 7 9 -
Krampe ein. Es war eine Drahtkrampe mittleren Formats, wie sie normalerweise zum Befestigen von Zaundraht verwandt wird. »Willst du jetzt schon?« flüsterte Fred. »Ja, det is Zucka, so wie er steht.« »Du mußt aber gleich beim ersten Mal treffen«, sagte ich, »sonst wissen sie, woher das kommt.« »Und ob ick treff. Det Vieh hat'n Hintan wie'n Flußjaul.« Icke zielte zwischen den Jungenköpfen hindurch. Die Krampe schwirrte ab! Der Esel machte erschrocken einen Satz, Maria ließ einen spitzen Schrei ertönen und ihr Kind fallen, weil sie sich festhalten wollte, doch sie rutschte vom Eselsrücken und stand auf der Bühne, sanft errötet. Die Aula brüllte vor Begeisterung, Wälzer und die anderen Erziehungsberechtigten riefen Ruhe, und sogar W.C. Müller hatte sich erhoben, blickte drohend in die Runde. Maria hob ihr Kind auf, das den Sturz schlafend überstanden hatte und versuchte, mit Josefs Hilfe wieder auf den Esel zu kommen Aber der wollte nicht mehr. Er guckte sich ganz verstört um und ging mit dem Hinterteil immer im Kreis herum. Der Vorhang schloß sich. Der Beifall wollte gar nicht aufhören. Die ganz gewöhnlichen Erzieher huschten umher. »Wer war das?« »Ich habe genau gesehen, daß es von hier kam! « »Ihr seid es gewesen!« »Hau ab, du Weihnachtsmann!« »Sagt doch, wer es war!« Ruhe kehrte im Saal ein. Wälzer erhob sich wieder. »Das«, sagte er tönend, »wird ein Nachspiel haben!« »Den zweiten Akt!« rief jemand. »Ihr habt«, sagte Wälzer, »nicht ein bißchen Ehrfurcht! Ihr solltet euch was schämen!« Stille. Es lag nicht am Schämen, sondern am Vorhang, der sich heftig bewegte, jedoch geschlossen blieb. Irgend jemand hatte Verdauungsstörungen und teilte dies der Umgebung durch zwei laute Geräusche mit. -1 8 0 -
»Nimm'n Stück Brot, dann ist er nicht so trocken.« »Sauerei!« Wälzer beugte sich zu W.C. Müller runter, der ihm etwas sagte. »Also alle mal herhören! Der Herr Direktor sagt mir eben, weil Weihnachten ist, wird derjenige straffrei ausgehen, der geschossen hat. Also, wer war es?« Schweigen. Jeder drehte sich nach dem anderen um, und die Erzieher paßten genau auf, ob irgendwo einer aufstand. Straffrei ausgehen. Ein alter Hut war das. Wenn es sowieso keine Strafe gab, warum wollten sie dann wissen, wer es war? Da fiel niemand mehr drauf rein. Das kriegte man andersrum zu spüren. Wenn man das Maul hielt, dann ging man auch straffrei aus. »Ich wiederhole«, sagte Wälzer, »wenn sich der Schießer jetzt meldet, passiert ihm nichts!« Ha, da haben wir's! Jetzt war es schon ein Schießer. In die Akte schreibt er dann mutwillige Körperverletzung. »Soll ick mir vielleicht doch melden?« wisperte Icke, und schielte zu den Mädchen hin. »Blödmann!« »Bist du beschissen! ?« »Du kriegst gleich was in die Zähne«, zischte Fred, »stellst dich an, als wärst du den ersten Tag hier!« »Meen Jott, ick hab ja nua jefracht, wenn det jestattet is.« »Na gut«, sagte Wälzer, »das wußte ich vorher. Ihr schlagt die Güte des Herrn Direktors einfach in den Wind. Wie ihr wollt!« Er setzte sich. Das Licht verlöschte. Der zweite Akt begann. Auf der Bühne ein Stall ohne Vorderwand, darin eine Krippe, auf der das Baby lag und immer noch schlief. Links stand Josef, rechts saß Maria, und dahinter fraß der Esel aus einer anderen Krippe, die nicht für kleine Kinder bestimmt war, sie hatte eine Vertiefung, damit das Futter nicht runterfiel. Josef hörte wieder was.
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»Mir ist, als hörte ich Geräusche, Frau?« Er legte eine Hand hinter sein Ohr und lauschte auf das Stimmengewirr, auf das Poltern, das bis in den hintersten Winkel der Aula drang. Drei Gestalten, davon eine ein Neger, kamen auf die Bühne. Josef ging ihnen einen Schritt entgegen. Man begrüßte sich höflich, unterhielt sich über den Stern, der da die ganze Zeit geleuchtet hatte und daß man einige Tage unterwegs gewesen wäre, bis man endlich Stall und Kind gefunden hatte. Ein strammer Bursch sei das ja und ob er vielleicht einen Weihrauchkanister gebrauchen könnte und so. Im Gegensatz zum ersten Akt war der zweite sehr langweilig, doch zum Schluß wurde mächtig geklatscht und um Zugabe gebrüllt. W.C. Müller verließ als erster die Aula und ging durch die freie Reihe zur Tür. Hinter ihm folgten Wälzer, die Hausväter, hinter denen die gewöhnlichen Erzieher, dann die Geschke, eine ältere Frau mit einem Haarknoten. Sie leitete das Mädchenheim und hatte die gleiche Stellung wie Wälzer. Hinter der Geschke eine andere Erzieherin, und dann kamen im Gänsemarsch die Mädchen. So ein Laienspiel war schon eine dolle Sache. Karen und Evi befanden sich unter den letzten, dicht vor der Erzieherin, die den Schluß bildete. Ich zeigte mit dem Daumen unter die Decke. Sie nickten und lachten beide. Dann war also alles in Ordnung. Ich hatte einem Küchenjungen gestern Briefe mitgegeben, in denen wir unser Kommen ankündigten. Falls die beiden anderen Mädchen im Schlafsaal nicht mitmachen wollten, sollten Evi oder Karen den Kopf schütteln. Aber sie hatten genickt. Alle beide. »Was ist los, Ben?« »Alles klar.« »Gut. Holt mich so gegen zwölf ab. Schmeiß'n kleinen Stein gegen das Lokusfenster, falls ich da einschlafen sollte. Ich setz mich um elf drauf und gehe nicht mehr runter.« »Wir haben noch eine Flasche Cognak in der Kiste, Ben.« »Und?« »Ich meine, wir könnten einen kleinen Schluck vertragen.« Hagen lachte. -1 8 2 -
»Ich weiß nicht. Das Zeug schmeckt wie Seife. Ich mag keine Seife.« »Ach was, ein Schluck weckt die Lebensgeister. Ich werde mal ein Glas holen.« »Laß man, ich gehe.« Als ich wiederkam, hatte Hagen die Flasche aufgemacht. »Riecht gut«, sagte er. Wir tranken jeder zwei Fingerbreit. »Acht ist es gleich. Wenn wir unten liegen würden, dann brauchten wir nur aus dem Fenster zu hüpfen.« »Hier oben ist es besser«, erwiderte Hagen, »wir gehen ja nicht jede Nacht auf Tour. Außerdem schläft Böger unten im Erzieherzimmer.« »Nee, das ist nur ein gewöhnlicher, wenn der sich einmal eingeschlossen hat, dann steht er nicht wieder auf.« Die Schlafsaaltür flog auf! Hagen hatte eben noch Zeit, die Flasche unter's Bett zu schubsen. »Ick möcht ma wissen, wie det mit meine Zahnbürste is, wenn ick se ma brauch, isse weg, brauch ick se nich, isse da, und jetzt isse wieda weg, weil ick se brauch...« Er sah uns an. »Und deshalb kommst du hier reingeknallt wie ein Nervenkranker! Seit wann hast du denn eine Zahnbürste?« »Icke? Ick hab noch ganz wat anderes! Wat macht ihr denn hia? Prüwatbesprechung? Denn zisch ick wieda ab.« »Quatsch. Komm her, nimm auch 'n Schluck.« Hagen angelte die Flasche hervor und kippte Icke das Glas halbvoll. »Jerne, Männa, jerne! Da sach ick nich nein.« Icke nahm das Glas und kippte es in einem Zug runter. Mein Gaumen zog sich zusammen. »Oha, lecker, sach ick, det is aba 'n juter Tropfen!« »Setz dich hin. Wir kloppen noch eine Runde Skat.« »Nee. Ich habe noch zu tun. Wat wollt ick denn? Meene Zahnbürste. Hat sie eener von euch jesehen? Nee!« Er ging wieder raus. »Warum hast du eigentlich keine Freundin da oben?« -1 8 3 -
Hagen zuckte die Schultern. »Hatte ich auch schon mal. Aber mehr oder weniger sind es doch Stoßfreundinnen, meinst du nicht auch? Wenn ich mal eine brauche, dann gehe ich in die Altstadt, da ist ein inoffizieller Puff, den kennt aber jeder. Ist ganz nett dort.« »Hm«, machte ich und dachte über Karen nach. Was heißt Stoßfreundin. Wir liebten uns, sagte sie jedenfalls immer. Zu Weihnachten hatte sie mir eine Schallplatte geschenkt, die zweite schon. Ich mochte den blöden Sänger nicht, aber was machte das schon. Und überhaupt. »Hm, meine ist aber anders, meine ich.« »Na ja, sicher«, Hagen überlegte, »das ist nicht so einfach zu erklären, ich will dich auch nicht beleidigen, das ist so eine Sache mit der Liebe. Ich kenne das ja, was man sich dann alles erzählt. Liebe laßt sich dehnen. Hörst du überhaupt zu?« »Aber ja, erzähl nur weiter.« »Gern haben ist auch Liebe, ein noch weiterer Begriff ist Sympathie. Ihr liebt euch in erster Linie, weil ihr beide in einer beschissenen Situation seid, ihr seid in der Anstalt. Ihr fühlt euch zueinander hingezogen und dann - Gelegenheit macht auch Liebe. Du hast mir mal gesagt, Ben, daß du früher auch schon mit Karen zusammen warst. Ihr habt euch immer getroffen, habt euch geliebt und geschrieben, und das verbindet natürlich.« »Ist ja auch so.« »Sicher. Aber überleg mal, als du entlassen warst, da hast du nicht einmal geschrieben oder doch?« »Hm, nein.« Ich dachte nach. »Aber das ging ja auch nicht. Zöglinge dürfen sich nicht schreiben, das weißt du doch.« »Weiß ich. Ich weiß aber auch, daß man immer einen Weg findet, wenn man will. Versuch dich mal zu erinnern, wie oft du an das Mädchen gedacht hast, ich will es gar nicht wissen. Ich meine nur, wenn deine inneren Bindungen an das Mädchen so stark sind, wie du sagst oder wie du von dir selbst annimmst, dann hättest du eine Möglichkeit gefunden, ihr zu schreiben. Du kennst doch die Tricks. Oder du wärst mal auf einen -1 8 4 -
Nachmittag nach hierher gefahren, sie arbeitet in der Stadt, und du weißt, wann sie Feierabend hat, welchen Weg sie nimmt. Trink noch einen Schluck. Du machst ein Gesicht, wie Regenwetter.« »Och.« Hagen gab mir das nachgefüllte Glas. Ich kippte es weg, wie ich es bei Icke gesehen hatte. Das Wasser schoß mir in die Augen. Ich kriegte keine Luft mehr, hustete. »Verdammter Mist! « »Bist du sauer?« »Och, was heißt sauer. Fröhlich bin ich nicht.« »Na ja«, Hagen fuhr fort, »und jetzt bist du wieder hier, und alles ist beim alten. Ihr schreibt und liebt euch wieder, du bist in der Tischlerei, du hast gewisse Freiheiten, das gehört alles dazu Scheiße. Das ist eben Anstalt oder Heim, genauso wie geklaut wird wie Bögers Scheißabende, wie das Weihnachtsfeiergequatsche von Lokusmüller.« Hagen nahm einen Schluck. »Vielleicht kann man das mit den Erziehern vergleichen. Ob das Wälzer oder irgendein anderer ist, sie haben ihren Job, und alles läuft, alles ist ihnen egal geworden. Ihr Geld kriegen sie so oder so und später ihre Altersversorgung auch. Sie schließen Türen auf und zu und sagen, sie erziehen. Aber erziehen ist etwas ganz anderes, man muß ein feeling dafür haben, Gefühl, weißt du, man muß sich mit den Interessen des einzelnen auseinandersetzen, dann kann man ihm auch helfen. Aber nicht, wenn man ihn zum Bauern schickt und ihm sagt, daß man dadurch hilft.« Hagen grinste spöttisch. »Hier arbeiten sie mit viel auf die Schulter klopfen, damit du nicht die Lust verlierst. Aber ich wollte etwas ganz anderes sagen, Ben, diese Liebe im Heim, die ist genauso oberflächlich wie die Erziehung. Das ist jedenfalls meine Meinung. Liebe ist nicht nur auf den Rücken legen und die Beine breit machen, es muß eine gewisse geistige Harmonie vorhanden sein, das Verstehen für irgendwelche kleinen Dinge, für die Schwierigkeiten des anderen. Ich kann mir vorstellen, daß deine Karen sich zwar gefreut hat, dich wiederzusehen, -1 8 5 -
aber das genaue Warum und Weshalb wird sie weniger interessiert haben.« Hagen schwieg. Komisch, er hat fast recht, dachte ich. Sonderlich interessiert hatte es Karen nicht, weshalb ich wieder im Heim war. >Du bist rausgeflogen, Schatz, mach dir nichts draus. Auf jeden Fall bist du wieder da<, hatte sie gesagt. >Liebst du mich noch? Ja? Ich dich auch. Sehn wir uns am Samstag wieder? Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht, als du weg warst. Hast du keine andere gehabt? Nein? Ich auch nicht, keinen anderen. Du, ich habe jetzt einen ganz tollen Platz, wo wir's machen können, ich habe eine Freundin in der Stadt, sie wohnt gleich hinter dem Stadion.< Wie sie das gesagt hatte. Als hätte sie's dort die ganze Zeit gemacht. Warum ich nicht einmal geschrieben hatte, danach hatte sie auch nicht gefragt. Ist das ein blödes Weihnachtsfest, verdammt. »Gib mir auch noch'n Schluck, die Luft hier macht mich ganz alle«, sagte ich zu Hagen. Er ist gar nicht dumm, der Hagen. Brrr, wie Feuer brennt das Zeugs. Aber er ist schon zwanzig. Das ist sehr alt für einen Jungen. Jetzt müßte er Klavier spielen, dabei läßt es sich viel einfacher überlegen... »Das muß natürlich nicht alles so sein«, sagte Hagen, »aber ich meine, daß es so ist.« »Mensch, ich verlier richtig die Lust, im Heim zu sein.« »Lust ist gut. In einer unnormalen Situation hat man unnormale Gedanken. Das ist hier keine Gaukelei sondern Ersatzgaukelei. Man muß das nur nüchtern betrachten. Ich bin jetzt über anderthalb Jahre hier, Ben, erst Schälküche, dann nach hierher verlegt, mit zum Bauern gefahren, Kohlen geschleppt, und jetzt bin ich in der Wäscherei. Vor einem halben Jahr habe ich Wälzer mal gefragt, ob ich nicht mein Abi nachmachen könnte. Mein lieber Röhmer, hat er gesagt, das ist hier ein Erziehungsheim und keine Penne. Beweise doch erst einmal, was in dir steckt. Siehst du, und jetzt bin ich qualifizierter Wäschereihilfsarbeiter. Ich weiß genau, wie viele Bettbezüge und Tischdecken die Alte -1 8 6 -
vom Zigarrenladen im Monat braucht, wie der Anhänger vollgepackt werden muß. Und für den Fall, daß eine andere Wäscherei, bei der ich nach meiner Entlassung mal anfangen werde, ein anderes Wäscheverteilungssystem hat, dann hat die Anstaltsleitung, vorausblickend wie eine Anstaltsleitung nun mal sein muß, mich im Kartoffelschälen ausgebildet. Oder wie lade ich einen Ackerwagen voll? Oder wie wird ein Kuhstall gesäubert und was ist bei der Säuberung als erstes zu beachten? Daß alle Kühe raus sind, weil sie sonst nämlich im Weg stehen. Wir sind in erster Linie billige Arbeitskräfte, Ben, das ist alles, eingesperrte Arbeitskräfte. Wir verrichten unsere Arbeit unter Zwang, unsere Arbeitsleistung entspricht der ausgewachsener Män-ner, und diese Arbeitsleistung wird von der Anstalt verkauft, vermietet. Das andere Wort für uns ist Sklaven, aber es ist verpönt, in unserem Zeitalter noch von Sklaven zu sprechen. Der Bauer oder der Kohlenhändler muß an die Anstalt den vollen Lohn bezahlen, und was bekommst du? Du bekommst pro Tag eine Mark davon auf dein Anstaltskonto. Damit du später etwas bei deiner Entlassung hast. Gut, nicht? Diese Anstalt ist eine staatliche Einrichtung, es ist eine staatliche Sklavenhalterei. So einfach ist das. Und was viel schlimmer ist - so selbstverständlich ist das. Man ist sogar noch dankbar, wenn die Leute hin und wieder 'ne Mark geben, Geld, das dir sowieso zusteht. Sie geben es dir nur, um dich bei Laune zu halten, damit sie für den Lohn, den sie an die Anstalt entrichten müssen, möglichst viel Arbeitsleistung bekommen. Verstehst du das ist ein ewiger Kreislauf.« »Ja, das verstehe ich.« Ich fand, daß er noch nie so lange und ausführlich über eine Sache geredet hatte. Zwei Jungen kamen im Nachthemd herein und wollten ins Bett. Hagen schloß die Flasche weg. Wir gingen in den Waschraum und lehnten uns aus dem Fenster. Der Schnee war schon wieder weggetaut, nur dort, wo Verwehungen waren, lagen noch schmutzige Reste. »Da fällt mir ein, einen Plattenspieler könnte ich gebrauchen.« -1 8 7 -
»Für die Scheiben von deinem Mädchen?« »Ja.« »Die sind doch nichts. Ich werde mal ein paar vernünftige Platten mitbringen. Plattenspieler ist nicht so einfach wegzuschleppen, mal sehen, vielleicht gibt es einen, der mit Batterien lauft, wo man vorne die Platten reinschiebt. Der tut's ja auch.« »Aber ja. Wollen wir die halbe Flasche mit hochnehmen? Jeder einen Schluck und die ist alle.« Hagen nickte. »In der Ziegeleikantine haben sie wieder eingebrochen, fallt mir ein. Sind durch's Oberlicht gekrochen.« »Habe ich auch schon gehört. Ist ein Witz. Erst sind sie durch das Kellerfenster, die haben dann Gitter angebracht, dann durch's Oberlicht. Und früher sind mal welche dringeblieben, haben sich einschließen lassen. Als der Kantinenwirt morgens kam, da war die Bude leer.« »Das Klofenster ist übrigens nicht vergittert.« »Weiß ich doch. Aber vom Klo aus kommt man erst auf den Flur, und zur Kantine hin sind Eisentüren, Brandtüren, die haben sie erst vor kurzem eingebaut. Wenn die einer aufknacken will, dann muß er schweißen oder bohren, weil's sonst zu lange dauert. Aber das lohnt sich nicht. Was ist schon groß drin, in so einer Kantine.« Hagen nickte. »Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte er, »einfach durch die Wand. Das ist ein uralter Bau, die Wände sind aus Lehm, das wissen die wenigsten, sie sind immer wieder übergeputzt und gestrichen worden. Die Kantinenräume liegen im ersten Stock und wenn du auf dem ersten Ziegeleiboden bist, genau über dem Ofen links, da mußt du durch die Wand gehen, dann stehst du mitten im Kantinenraum.« »Woher weißt du das denn?« »Ach, ich war schon mal da, habe mir das angesehen. Ein paarmal mit'm Vorschlaghammer gegen die Wand, und sie fällt ein.«
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»Oha, wenn das mal einer macht, dann wird der ganze Laden sicher abgerissen. Wegen Einbruchsgefahr.« »Mensch, du Mistkäfer! Du machst einen Krach, der das ganze Haus aufweckt!« »Is mia aus die Hand jerutscht, die Tüa, weil det Fensta oof is.« Ich verknotete das Tau an der Heizung unter dem Fenster. Das Tau war aus der Turnhalle. Die Turnhalle war eine lange Baracke, die von der Tischlerei bis zur Böschung des Sportplatzes reichte. Eine Hälfte war Turnhalle, und die andere Hälfte war das Holzlager der Tischlerei. Manchmal ging eine Gruppe vom Neubau mit einem Erzieher in die Turnhalle. Der scheuchte die Gruppe dann zehnmal im Kreis und ließ sie über Holzkästen springen und brüllte: »Locker vom Hocker, Jungs!« Weglaufen konnte niemand, weil die Fenster vergittert waren. Aber man konnte von der Rückseite des Holzlagers durch ein loses Brett erst ins Lager und von dort in die Turnhalle kommen. Es hatte eine ganze Zeit gedauert, bis wir in der Trennwand zur Halle ein loses Brett gefunden hatten. Mit einem Hebel hatten wir es soweit abgebogen, daß sich Icke hindurch schieben konnte. »Hält det ooch? Ick meine, so wie det festjebunden is.« »Klar, ich gehe als erster runter. Wenn das Tau abreißt, dann siehst du's ja. Mußt es eben neu festmachen. Wir müssen noch ein paar Klamotten auf die Heizung legen und die Flügel randrücken, das macht der letzte.« »Ich mach das schon«, sagte Hagen. Nach mir folgte Icke, sehr schnell, und kaum war er unten, klemmte er sich die Hände unter die Achseln und tanzte herum. »Meen Jott, meen Jott, is det aba heiß an die Knochen«, ächzte er. »Mußt du denn wie ein Affe runterrutschen? Tröste dich mit'm hochklettern, da kann dir das nicht passieren.« Hagen kam.
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»Hoffentlich schleicht hier niemand durch's Gelände. Wir müssen das Tau hängenlassen.« »Ach wo. Die Hauswand ist genauso dunkel, wie das Tau. Dann muß schon jemand dicht vorbeigehen, der Weg ist aber an der anderen Seite. Ein Erzieher schleicht hier jedenfalls nicht rum, und ein anderer hat sicher allen Grund das Maul zu halten.« Wir gingen zur Gärtnerei und hakten die lange Leiter hinter dem Gewächshaus ab. Dort hingen ein halbes Dutzend Leitern. Wir hatten tagsüber die richtige nach vorne gehängt. Das Klofenster im ersten Stock des Sprungbretts war auf. Ich warf kleine Steinchen hoch, beim dritten Mal traf ich ins Fenster. Benno tauchte augenblicklich auf. Wir legten die Leiter an und Benno kam runter, im Schlafanzug. »Mensch, spinnst du. Willst du so mit?« »Wieso denn nicht. Ist doch ein hübsches Stück. Ich muß mich doch gleich wieder ausziehen, warum soll ich mich dann erst anziehen. Außerdem hängen unsere Klamotten im Flur, und der ist abgeschlossen.« »Ick lach mir'n Ast, wenn wa plötzlich loofen müssen. Dia könn'se ja nich vafehlen in deen hellen Frack, un wenn det noch so dunkel is!« Benno winkte ab. »Los, wir gehen durch das Haupttor. In den Tongruben ist jetzt ein ganz schöner Matsch. Kann gar nichts passieren, die pennen doch alle.« Eigentlich gut, daß so vieles verboten ist, dachte ich. Sonst wäre es ganz schön langweilig hier. »Bajuwaren ziehen auf Brautschau«, Hagen lachte leise. »Ja, die Bayjan machen det ooch so, mit 'ner Leita in die Fensta, det habe ick ma jelesen.« »Mensch Icke«, sagte Benno mitleidig, »wenn du schon unter der Leiter herlatschst, dann tret mir nicht dauernd auf die Hacken! « »Kiek! Ick denk, det sind Steene, ick kann det nich sehen. Wenn ick mia det ma richtig überlege, dann machen wa heute Nacht staatlich jeprüfte Christkinda, wat!« »Halt mal ein bißchen deine Klappe jetzt. Hoffentlich reicht die Leiter?« -1 9 0 -
»Zehn Meter. Ich habe sie mit dem Zollstock gemessen.« Wir hatten die Straße erreicht und gingen an der linken Seite bis zur Ziegelei, über den Werkshof und von dort aus in den Wald. Von dieser Seite aus ließ es sich am besten durch den Wald gehen, an die Rückseite des Mädchenheimes. Im Schutz der Büsche beobachteten wir die hell erleuchtete abgeholzte Fläche. »Die pennen bestimmt. Wollen wir die Birnen losdrehen?« »Nein, nicht. Das fällt nur auf.« Ich suchte nach ein paar Fichtenzapfen, die durch die Nässe schwer geworden waren und trat in den Lichtschein. Es gab ein dumpfes Geräusch, als ich das Fenster von Karens Schlafsaal traf, dann noch einmal. Oben ging das Fenster auf. Es quietschte ein bißchen. Ein Kopf tauchte auf. »Ben?« hörte ich sehr leise. »Ja, alles klar?« Das Mädchen winkte mit der Hand. Die anderen kamen mit der Leiter. Sie reichte genau bis an die Unterkante der Fensterbank. »Wir dachten schon, daß ihr nicht mehr kommt.« »Ja doch, laß mich erst mal rein.« Ich kletterte ins Zimmer. Die anderen folgten. Die Hauswand selbst lag im Schatten, doch das untere Stück der Leiter war zu sehen, da sie schräg an der Wand lehnte. Ich zog sie zusammen mit Benno näher heran. »Nicht weiter, sonst kippt sie um. Wir können nicht von hier oben runterspringen.« Die Mädchen hatten Kerzen angezündet. Es roch nach Parfümerie und nach verbrannter Schonung. Unter der Türklinke stand ein Stuhl mit der Lehne. Die Wände waren mit Tannenzweigen geschmückt, immer dort, wo ein Bild hing. »Kinder, wir nehmen erst mal einen Schluck, das stärkt die Glieder«, sagte Benno. Niemand nahm an seinem Schlafanzug Anstoß. Hagen wollte nicht mehr. Ich auch nicht. »Soll ick die Flasche aus dem Fensta schmeeßen?« »Du spinnst wohl«, flüsterte Evi, »gib her, die können wir gut für eine Kerze gebrauchen.« »Wie?« fragte Benno. »Ja, da kommt oben eine Kerze drauf, das sieht toll aus, wenn das Wachs an den Seiten runtergelaufen ist.« -1 9 1 -
»Wir dürfen nicht zu laut sein«, sagte eines der Mädchen, »wenn draußen mal eine zur Toilette geht, die ist genau gegenüber. Im Saal nebenan sind sie manchmal bis zwei Uhr wach.« »Du hast recht, was sollen wir uns erst lange bei der Vorrede aufhalten«, Benno zog seine Pyjamahose aus, »an die Arbeit, Jungs.« Er stieg zu Evi ins Bett. »Du Schwein«, sagte eines der Mädchen und blies mit einem gezielten Puster die letzte Kerze aus. Hagen saß auf dem Bettrand. Sie flüsterten zusammen. Ich überlegte, ob er sie fragte, welche Bücher sie las und welche Platten sie am liebsten hörte. Anscheinend die gleichen. Als ich wieder hinsah, war er weg. »Schön, daß du da bist«, flüsterte Karen, »woran denkst du jetzt?« »An die Leiter unter'm Fenster. Sie ist gut sichtbar.« »Huh, ist der kalt«, teilte Evi jedem mit. »Soll ich vielleicht 'ne Lötlampe mitbringen? Hauch ihn an.« Das war Benno. Kichern. »Au au, daaa doch nicht.« »Meen Jott, det is aba ooch dunkel hia. Naaa, wat sachste nu. Berlin hat ooch als Reitastadt 'n Namen.« Kichern. »We-henn jetzt die Gesch-ke-sche rein-ko-hommen würde, kriegkrieg-kriegte sie 'nen Schla-hag-anfall.« Das war Evi. Wie sie das wohl machte, jetzt an die Geschke zu denken. »Wie heißt du überhaupt?« »Franz«, murmelte Hagen. »Weeßte wat in Berlin een jemütlicher Jalopp is?« »Liebst du mich noch, Ben?« »Ja.« »Genauso wie zuerst?« »Ja.« -1 9 2 -
»Woran denkst du?« »Wann die endlich mit dem doofen Gequatsche aufhören.« »Du sollst aber an mich denken«, Karens Stimme klang enttäuscht, »so kenne ich dich gar nicht. Was hast du denn?« Was hast du denn, fragt sie auch noch. Hagen hat vielleicht doch recht, mit der Gewohnheitsliebe. Wenn die Evi an die Geschke denkt, dann ist es Gewohnheitsliebe. »Ben?« »Ich kann nicht, wenn dauernd so'n blöder Kommentar dazwischen kommt.« »Ach, da gewöhnst du dich dran«, flüsterte Karen tröstend, »das ist nur zuerst, wir haben ja noch Zeit, bis fünf könnt ihr auf jeden Fall hierbleiben oder nicht?« Ich habe gar keine Lust mehr. Gewöhnst du dich dran, sagte sie selbst. Einem Huhn ist es egal, welchen Hahn es trifft. Scheißweihnachten!
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6 Loom schnitt Glas. Für eine Erzieherwohnungsküchenfensterscheibe. Sagte er. Dafür war sie ziemlich groß. Aber wenn Loom das sagte, dann mußte es ja stimmen. Ein Doppelfenster, denn er schnitt zwei Scheiben zu. Ich half ihm dabei. Einsetzen wollte er sie alleine, nach Feierabend, da die Wohnung auf seinem Nachhauseweg lag. Pas mußte mindestens eine Hausvaterwohnung sein, überlegte ich, oder er wollte die Scheiben nur verscheuern. Mit Ickes Schmuckkästchen machte er das, denn er nahm pro Woche ein Kästchen mit. Erst hatte seine Frau Geburtstag. Danach die Schwiegermutter, dann die Frau Hochzeitstag, dann die Tante in der DDR, dann die Schwägerin in der Ostzone, je mehr Kästchen Loom mitnahm, desto größer wurde seine Verwandtschaft. Dabei hatte er mal gesagt, daß man in der Ostzone überhaupt keinen persönlichen Besitz haben dürfte, keinen Schmuck und überhaupt. Die Kommunisten sammelten alles ein, weil das eben so wäre, beim Kommunismus. Und für den Schmuck würden dann Waffen gekauft, und mit diesen Waffen würden sie eines Tages alle Westdeutschen killen. Und daß Kommunismus das Schlimmste sei, was es in der Welt gäbe. »Das ist Quatsch«, hatte ich daraufhin laut gesagt, »dann kann er nämlich keine Schmuckkästchen mehr mitnehmen nach Hause, und Tee braucht dann auch niemand mehr für ihn aufbrühen.« Alle hatten gegrinst, und Loom war langsam auf mich zugegangen, ich dachte, er wollte mich schlagen, doch er blieb nur dicht vor mir stehen. »Wenn du so weitermachst, dann wird das noch ein schlimmes Ende mit dir geben!« hatte er gesagt und war ganz weiß vor Wut. »Aha, also gewissermaßen ein kommunistisches Ende, Herr Loom?« hatte Benno gefragt. »Und mit dir auch!« hatte Loom plötzlich losgebrüllt. »Wartet nur ab. Zeiten können sich sehr schnell ändern!« Dann war er an seinen Glasschneidetisch zurückgegangen und hatte den ganzen Vormittag nicht mehr mit uns geredet. -1 9 4 -
Gegen Mittag kam ein Erzieher vom Neubau mit zwei Jungen. »Guten Morgen, Herr Loom. Wir wollen den Tisch abholen, ist er fertig?« »Morjen«, sagte Loom, ohne sich umzudrehen. Er schnitt in aller Ruhe eine Glaskante nach, weil er sich mit dem Maß verguckt hatte. »So so, den Tisch«, sagte er dann. Der Erzieher wartete. Was sollte er auch sonst machen. Er hatte an der Stirn eine lange Narbe, für treue Pflichterfüllung hatte er die bekommen, er war mal hinter einem Jungen hinterhergelaufen, der türmte, bis der Junge nicht mehr konnte und sich mit einern handlichen Stein zur Wehr gesetzt hatte. Seitdem ließ der Erzieher andere hinterherlaufen, wenn einer türmte. War das der Fall, dann liefen auch Jungen vom Sprungbrett oder vom Wigwam hinterher. Manchmal erwischten sie den Flüchtling und brachten ihn wieder mit zurück und manchmal nicht Letzteres dann, wenn der, der türmte, der Stärkere war. Einmal waren zwei Unwissende hinter so einem hinterher gelaufen. Abends kamen sie zurück, leicht angeschlagen. Einer hatte beide Augen zu und einen Arm gebrochen, und dem anderen fehlten vorne alle Zähne. Es war immer so eine Sache. »Tja, der Tisch«, sagte Loom und zu mir: »Ist der überhaupt fertig?« »Ja. Steht nebenan im Bankraum.« »Aha. Wie ihr euch das immer so denkt«, redete er wieder mit dem Erzieher, »wir können vor Arbeit kaum aus den Augen gucken, und ihr kommt einfach so daher, den Tisch bringen, den Tisch abholen.« Er schob das Lineal um eine Winzigkeit hin und her, schnitt eine andere Kante nach. Der Erzieher erwiderte nichts. »Tja, also der Tisch«, ließ sich Loom nach einer Weile wieder vernehmen und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, »der steht nebenan im Bankraum, ist fertig, nehmt ihn mit.«
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»Gut, Herr Loom, vielen Dank!« Und zu den beiden Jungen: »Der Tisch steht nebenan. Schnappt euch das Ding und dann nichts wie rüber!« Sie verließen die Werkstatt. Ich sah sie vorne rausgehen, die Jungen zuerst, während der Erzieher die Tür abschloß. Plötzlich ließen sie den Tisch fallen und rannten quer über den Rasen zum Sportplatz hinüber. »Halt! Haaalt!« schrie der Neubauerzieher. »Haaalt! Verflucht noch mal! Loom schreckte hoch. »Was is'n da los?« »Wo?« fragte ich. »Draußen?« »Ja, ist doch draußen?« Türen knallten. Loom stand auf. Der Erzieher kam wieder in die Werkstatt gestürmt. »Schnell, Herr Loom! Die hauen mir ab!« »Wo? Wer?« »Na die beiden, die ich mit hatte zum Tisch tragen!« »Los Benjamin. Hinterher!« schrie Loom mich an. »Wo ist Benno? Wo ist der Schirmer!?« Benno hatte auf dem Klo gesessen und geraucht, er kam mit brennender Zigarette in die Werkstatt. »Was is'n los?« »Da hauen welche ab! Los los, schnell!« Loom eilte voraus, um die Tür aufzuschließen. »Komm Ben!« Wir liefen aus der offenen Werkstattür, an Loom vorbei die Treppe runter. »Bringt sie zurück!« brüllte Loom uns hinterher. Wir hatten die Böschung zum Sportplatz erreicht und sahen die beiden Jungen, wie sie gerade durch ein Loch in der Hecke krochen, auf der anderen Seite des Sportplatzes. Wir nahmen dasselbe Loch. Die beiden liefen etwa hundert Meter vor uns einen Feldweg entlang. »Kennst du die?« »Nee«, sagte Benno, »wir lassen sie sowieso laufen.« »Was hast du denn gedacht. Der Loom schickt uns los wie zwei Hunde, faß, Pluto, faß.« Wir fielen in Schritt.
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»Vom Heim aus sind wir nicht mehr zu sehen. Was machen wir denn jetzt mit dem angebrochenen Tag? Wir können ins Kino gehen.« Die Jungen vor uns sahen sich mehrmals um und gingen auch langsamer. Vielleicht ahnten sie, daß wir nichts von ihnen wollten, oder sie teilten ihre Kräfte ein. »Laß uns wieder ein Stück laufen«, Benno setzte sich in Trab. »Wieso denn?« »Na ja, kennst du sie? Nein. Wenn sie später mal geschnappt werden und sagen, daß wir ganz gemütlich hinter ihnen hergebum-ßielt sind, dann stehen wir dumm da. Sie werden dann ein bißchen ausgefragt, und schon verplappern sie sich. Uns wird die Freigängerarbeit gestrichen, und wir wissen nicht mal, warum.« »Sehr witzig.« Die Jungen vor uns liefen auch wieder. »Mal angenommen, wir bringen sie zurück? Was ist dann?« »Nichts. Loom verteilt ein paar trockene Zigarren. Und Wälzer sagt dir vielleicht, daß er dich sowieso auf Arbeitsurlaub schicken wollte. Kommt bei uns nicht in Frage. Außerdem ist das nur Spruch. Wir können wieder langsam gehen, die sind jetzt an der Mauer zum Südfriedhof. Der ist so groß, daß sie eine ganze Kompanie Bullen einsetzen können. Die findet auch nichts.« »Guck an, dann sagt der Wälzer, du sollst entlassen werden! So ein Schwein. Das spricht sich rum. Und wenn einer abhaut, dann laufen von ganz alleine welche hinterher, weil sie entlassen werden wollen.« »Ist alles Scheiße, Ben. Bin ja zweimal entlassen gewesen, immer zu so einem Bauern.« »Wann sie mich wohl wieder entlassen wollen?« »Bei dir ist das etwas anderes, du hast Eltern.« »Ich habe eine Mutter!« »Mensch, ob du nun einen Stiefvater hast oder einen echten, das spielt keine Rolle, du hast eben Eltern. Und dann traut sich die Anstalt nicht, dich einfach irgendwo hinzuschicken, Ich habe -1 9 7 -
nur noch zwei Schwestern. Die eine hat 'ne Kneipe, aber ich komme mit ihrem Mann nicht klar. Der meint, ich könnte seine Kinder versauen. Wie ich das wohl machen soll. Ich möchte ja auch mal aus diesem Laden raus.« »Und die andere?« »Die ist in Ordnung, ihr Mann auch, aber da kann ich nicht hin. Das ist ein Beschluß vom Jugendamt. Sie hätte 'ne zu kleine Wohnung, und das ist sozial nicht zulässig. Sie hat ein Kind, weiß du, aber da ist trotzdem genug Platz.« »Wie groß ist die Wohnung?« »Na, so fünf Zimmer, genaugenommen fünfeinhalb, da ist noch ein kleiner Abstellraum bei.« »Das ist aber komisch.« »Was willst du machen«, Benno zuckte die Achseln, »laß uns hier links runtergehen, da kommen wir zum »Gloria«, da haben sie immer heiße Filme.« Wir bogen auf die Hauptstraße ein, die in Richtung Stadt führte. Arbeitsurlaub, wie blöd, dachte ich. Die beiden machen jetzt Türmurlaub, ist das gleiche. Wenn ich daran denke, daß ich hier erst mit einundzwanzig rauskomme, das ist noch sehr lange. In den letzten Wochen waren eine ganze Reihe Jungen abgehauen. Dabei haben wir erst März. Bißchen früh noch. Normal geht es erst Ende April Anfang Mai los. Vielleicht sind es jetzt so viele, weil die Sonne schön so warm schien, aber nachts friert es noch. Na ja, die hatten ja beide einen Pullover an. Wir waren am Kino angelangt und blieben vor den Schaukästen stehen. »Der fängt um vier Uhr an, das ist zu spät.« Ich sah mir die Bilder an. »Die letzte Karte spielt der Tod«, horte sich ja spannend an. Hm, der Tod kommt immer zuletzt. Ist ja ein flotter Typ, der Kommissar. Da schießt er, da auch. Ob das eine Smith & Wesson ist? Aha, Kinnhaken verteilt er auch. Als Kommissar muß er das auch.
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»Komm her, wollen mal sehn, ob es hier irgendwo einen Bratwurststand gibt. Und dann zockeln wir wieder hoch. Die anderen Kinos haben die gleichen Anfangszeiten.« Als wir wieder im Heim eintrafen, war es später Nachmittag. Loom fluchte. »Fünf Stunden unterwegs und dann noch ohne die Burschen zurückkommen! Möchte bloß mal wissen, wann auf euch Verlaß ist! Man blamiert sich ja!« »Die sind auf dem Friedhof untergetaucht, sie wissen doch selbst, wie groß der ist, da haben wir gesucht wie die Irren! Mehr können wir ja schließlich nicht tun!« »Nicht tun! Nicht tun!« schnaubte Loom. Am gleichen Abend kam Hagen aus der Stadt nicht zurück. Als er um zehn noch nicht da war, machte Böger eine Verlustmeldung. Es war ihm einer abhanden gekommen. Ich zog Hagens Bett ab und überlegte, warum er mir nichts gesagt hatte. Haute einfach so ab. Manfred hatte auch nichts gesagt. Das war vor zwei Wochen gewesen. Aber Hagen, hm, das war doch etwas anderes. Gesprochen hatten wir öfter mal, auch mit Jürgen-sen, der auf dem Sprungbrett lag. Jürgensen war schon auf >Großer Fahrt< gewesen, er war in Schweden auf einen Pott gegangen. Seine Mutter wohnte dort und sein Vater hier, und sie hatte einen anderen Mann dort, und er hatte eine andere Frau hier, trotzdem waren sie noch miteinander verheiratet, hatten aber schon wieder neue Kinder. Verzwickte Sache. Hatte zwei Eltern, der Jürgensen, zweifache Geschwister, zwei Zuhause. Mal war er hier, und mal war er dort. Und dort war er dann von zu Hause abgehauen und hatte auf einem Panamesen angeheuert. Das waren die besten, sagte er, weil man nur einen Ausweis brauchte und kein Seefahrtsbuch. Der Jürgensen würde bestimmt wieder abhauen. Der wußte, wo man Ausweise kaufen konnte. Trotzdem hätte mir Hagen was sagen können. Oder nicht? Schließlich war es seine Sache. Vielleicht hätte er was gesagt, wenn er gewußt hatte, daß ich mitgekommen wäre. Ich müßte auch versuchen, auf ein Schiff zu kommen. Zu Hause holten sie mich gleich wieder ab. Und die Lappewasch, -1 9 9 -
die kriegte bestimmt einen Schlaganfall, wenn ich da plötzlich auftauchen würde, ihr ganzer Staatsarchivhaushalt käme durcheinander. Aber zu Ingrid, zu der könnte ich hin. Die würde sich freuen. Fast ein halbes Jahr ist es her. Warum bin ich eigentlich noch nicht abgehauen? Ingrid. Das merke ich, wenn ich an sie denke. Hm, am liebsten würde ich sofort losgehen, einfach so. Es ist alles so verdammt blöde, so beschissen hier. In der Werkstatt war nichts zu tun. Loom war in die Verwaltung gegangen, und wir waren vom Neubau zurückgekommen, wo wir zu zweit ein Türscharnier geölt hatten. »Wenn das Wetter so bleibt, Benno, dann können wir es schon mal mit Baden versuchen, was meinst du?« »Von mir aus.« Loom kam rein. In dem üblichen Tempo, als gelte es, eine Akkordarbeitsnorm zu brechen, zu überbieten. Doch er rannte dann nur bis zu seinem Platz am Glasschneidetisch, ließ sich ächzend auf den Stuhl fallen und saß rum, rechnete ein bißchen mit seinem Bleistift, dessen Spitze dauernd abbrach, weil sie zu spitz war. »Ihr müßt mal... verdammt und zugenäht!« Er hatte sich mit einem Fuß im Stromkabel verfangen, das von der Wand zur Kreissäge führte und stolperte auf uns zu. Das war ein Grund, herzhaft zu grinsen, was Loom sofort auf achtzig brachte. »Warum hat das noch keiner festgenagelt?« brüllte er. »Den Hals bricht man sich, und das Gesindel lacht auch noch drüber!« Er knallte seinen Hut auf den Tisch und setzte ihn wieder auf. »Ihr müßt mal zur Verwaltung rüber«, sagte er nach einer Weile wesentlich ruhiger, »holt aus der Geschäftsstelle einen Schreibtisch, muß repariert werden. Aber erst bringt mir einer das Kabel in Ordnung!« Ich nahm mir Nägel und eine Axt, die gerade an der Wand lehnte, die geschärft werden sollte und kniete mich auf den Boden. Das Stromkabel lief normalerweise in einer Rinne entlang^ die in den Fußboden verlegt worden war, damit man nicht immer drauftrat. Die Rinne war mit einem Sperrholzstreifen zugenagelt. Dieser Streifen hatte sich
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irgendwann mal gelöst, und das kringelte sich über den Boden. Wenn Loom jetzt nicht wäre, hätte sich nichts daran geändert. Looms Hals, dachte ich und nagelte den Holzstreifen mit der flachen Axtseite fest, der hat gar keinen Hals. Müßte ganz schön rumsen, wenn der mal hinfällt, und seine Zigarren wären im Eimer, weil er sie oben in der Kitteltasche hat. »So, fertig.« Loom nickte wohlwollend und ließ uns raus. »Ben, in vier Tagen haben wir den ersten April, da müssen wir uns noch was Gutes ausdenken.« »Wir können die Werkstattür von außen zunageln und dann den Feuerknopf drücken und schreien. Der Loom flitzt dann wie eine Maus in in der Bude rum und kann nicht raus, weil die Fenster ja alle vergittert sind. Du, der geht senkrecht an der Wand hoch.« »Hm, und wir fliegen raus, auch senkrecht. Das läßt er sich nicht bieten. Hast du eigentlich noch Stinkbomben!« »Drei, warum?« »Opfere eine. Das Fenster ist auf, in der Geschäftsstelle, das letzte.« »Ah, da. Ich holte die Schachtel aus der Hosentasche und fischte eine der kleinen Glasampullen aus dem Sägemehl, in dem sie lagen, ging bis dicht unter das Fenster. Benno sah sich um und gab mir ein Zeichen. Ich holte aus, warf und rannte zurück. Wir gingen zur Tischlerei, setzten uns auf die Treppe und rauchten eine Zigarette, machten uns wieder auf den Weg zur Verwaltung. »Ob die wissen, daß das von draußen kam?« »Weiß nicht. Wenn das Ding genau auf einen Tisch geflogen ist, dann ja. Aber sonst hört man das kaum, ist doch nur so groß wie 'ne Erbse, plitsch, dann ist vielleicht ein kleiner Fleck an der Wand oder auf dem Boden, und das ist alles.« Die vier Fenster der Geschäftsstelle waren jetzt alle sperrangelweit geöffnet. Die drei Schreiber und die Frau, die -2 0 1 -
die Buchhaltung machte, hielten sich auf dem Verwaltungsflur auf. Sie machten keine freundlichen Gesichter. »Was ist denn hier los? Wir sollen 'nen Schreibtisch abholen.« »Da hat uns so'n Schwein was ins Fenster geworfen«, sagte einer der Schreiber. »Und der Schreibtisch?« »Na, den sollt ihr mitnehmen. Aber das stinkt da erbärmlich! Pfui Teufel!« »Hier stinkt es überall. Komm her, Benno!« Wir gingen den Flur runter in die Geschäftsstelle. »Mensch, Beeilung, sonst muß ich kotzen.« »Guck mal, die lassen alles stehn und liegen und den Tresorschlüssel stecken«, sagte Benno, »man braucht nur 'ne Stinkbombe werfen.« »]a, nützt aber nichts. Die wissen sofort, wer's war, wenn was fehlt.« Der Schreibtisch stand fertig ausgeräumt an der Wand. Wir wuchteten ihn hoch und trugen ihn in die Werkstatt. Die Rolläden waren kaputt. »Kleben«, sagte Loom und peilte über die Kante seines Glasschneidelineals, »Ihr wißt ja Bescheid. Unten das Schlußstück raus und dann Leinen hinter die Lamellen. Aber Kaltleim nehmen und kein Pattex!« Er ging an die Abrichtmaschine und schaltete sie ein. »Mist! 'n Kurzer. Benno geh mal raus und drück die Sicherung wieder rein. Einer der Züge klemmt auch, Benjamin, nimm Seife, das reicht. Und wenn nicht, dann stoß mal leicht mit'm Hobel über die Kante.« Benno kam zurück. »Springt dauernd wieder raus«, sagte er. »Himmelherrgottarschundzwirn!« Loom ging selbst. Wir hörten ihn auf dem Flur schimpfen. »Wer hat denn an der Maschine rumgespielt?« er kam zurück. »Ich habe eben noch abgerichtet, und jetzt geht sie nicht mehr!« Er sah uns an und bekam keine Antwort. Ihm schien einzufallen, daß wir gerade aus der Verwaltung -2 0 2 -
zurückgekommen waren. Er probierte an der Säge herum. Sie lief auch nicht, weil die beiden Maschinen an einem Stromnetz hingen. »Det hätt ick Ihnen ooch vorher sajen können.« »Halt die Klappe, du Filzlaus! Ich glaube, du hast da wieder deine Finger im Spiel! « »Glooben heeßt nich wissen!« »Du sollst die Klappe halten!« Loom stemmte die Fäuste in die Seiten und sah Icke eisig an. Dann suchte er wieder an den Maschinen herum und wurde immer wütender, weil er den Fehler nicht fand und wir alle zusahen. Er rief den Elektriker an. Das war der Mann, der die Heizung in der Anstalt betreute. Er kam genau wie Tischler Meier aus der Stadt und tat immer so, als sei er auch ein Erzieher. Er war aber keiner. In der Heizung arbeiteten zwei Jungen. Koks schippen. Die schickte der Mann immer zuerst los, mit einer großen Werkzeugtasche. Doch die Jungen wußten vom Strom nur soviel, daß sie gehörig einen gewischt kriegten, wenn sie an beide Pole zugleich faßten. Sie guckten überall dort nach, wo Loom auch schon nachgesehen hatte. Dann warteten sie auf ihren Meister. Der Heizungsmann kam eine halbe Stunde später, und Loom kochte. »Na, Leute, wo fehlt's denn? Das werden wir gleich haben!« Nach einer Stunde hatte der Mann aus der Heizung immer noch nichts und sich mit Loom in der Wolle. Loom meinte, er, der Heizungsmann, hätte wohl Ahnung, wieviel ein Zentner Koks wiege, aber von Elektrizität sollte er die Finger man lassen, eine Kuh wäre da schon schlauer. Die wüßte wenigstens, daß sie nicht auf'n Weidezaun kacken durfte, der unter Strom stand. Wir lachten. Lachen entspannt. Der Mann aus der Heizung schrie Loom an, daß er schon Stromleitungen verlegt hätte, als Loom noch in die Windeln geschissen hatte! Das entspannte noch mehr. Loom in Windeln! Das konnte sich niemand vorstellen. Und er selbst auch nicht. Er brüllte, ob er, der alte Kokssack, -2 0 3 -
überhaupt wüßte, wer er, der Loom, sei! An den Kurzschluß dachte niemand mehr. »Vielleicht sollten wir die Rinne wieder aufmachen, die der Benjamin zugenagelt hat, vielleicht hat er danebengenagelt.« »Quatsch hat er!« brüllte Loom. »Ich habe danach schon wieder gesägt!« »Nein, das war vorher.« »Das war nachher!« »Vorher.« »Nachheeer!« Loom konnte lauter schreien. Meier ging weg. »Rinne auf!« brüllte Loom. Niemand rührte sich. »Rinne auf!« Er sah mich an. »Ich?« »Jaaaa!« »Kann ich das riechen!« Ich nahm eine Zange und riß den Sperrholzstreifen wieder los. Die Nagel rutschten alle durch und blieben im Fußboden stecken. Ein Nagel war an einem Ast abgeglitten und durch das Stromkabel gedrungen. »So was habe ich mir schon gedacht«, sagte Meier, »das kann schon mal passieren.« »Also das ist doch... das ist Sabotage!« schrie Loom. »Das ist glatte Sabotage! Das ist Sabotage!« Ich zuckte die Schultern und wollte den Nagel rausziehen. »Haaalt! Drinlassen! Das muß ich melden, Mensch! Wo kommen wir da hin, wenn hier jeder durch die Gegend nagelt!« »Was kann ich dafür!« Ich schrie jetzt auch. »Was du dafür kannst! Du bist wohl verrückt, einfach so ins Kabel kloppen!« »Das kann ich doch nicht sehen!« Ich ging weg und zeigte ihm einen Vogel. »Das ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht passiert!« brüllte Loom. »Sabotage hinter'm eigenen Rücken!« Er ging auf den Flur und telefonierte. Durch die offene Tür sah ich, wie er seine Worte mit den Händen unterstrich, er fuchtelte dauernd in der Luft herum. -2 0 4 -
Die Elektriker gingen wieder. »Der spinnt doch«, sagte Benno, »morgen hat er sich wieder beruhigt. Du mußt dir da nichts draus machen.« »Ich habe die Schnauze voll. Ich gehe raus aus der Tischlerei. Mir wird schon was einfallen.« »Quatsch. Hätte mir doch genausogut passieren können. Dann hätte er mich angebrüllt.« Loom war wieder in der Werkstatt, flitzte plötzlich an uns vorbei auf den Flur, wir hörten ihn schließen. Abteilungsleiter Wälzer kam herein. Gemessenen Schrittes. Gefolgt von Loom. Sie gingen zusammen zu der Rinne, guckten. Loom zeigte auf das Kabel. Wälzer schüttelte den Kopf. Wälzer zeigte nach oben. Loom schüttelte den Kopf. Dann redeten sie beide, nickten, redeten wieder. Wir konnten nicht verstehen, was es war. Wälzer nickte. Loom auch. Sie kamen zurück. »Holberg«, sagte Wälzer, »ich bin über dein Verhalten erschüttert!« Ich erwiderte nichts. Was hätte ich sagen sollen. »Es hätte«, sprach Wälzer, »ja sonst was passieren können...« Er redete immer weiter, ohne daß ich hörte, was er sagte. Ich sah in seine blassen Augen, in einem Auge war ein Äderchen kaputt. Aus dem rechten Loch seiner Nase schauten zwei Haare hervor, das hatte er sicher noch nicht bemerkt. In seinen Mundwinkeln sammelte sich Nässe, vom Reden, die er regelmäßig mit der Zungenspitze wegschlabberte, ohne das Reden zu unterbrechen. »... ganz abgesehen von der tödlichen Gefahr, in der du geschwebt hast! Stell dir nur einmal vor, dein Meister hätte den tödlichen Schlag bekommen!« Wälzer machte eine Pause. Den tödlichen Schlag, dachte ich, er hat vom Strom keine Ahnung, der Wälzer. Niemand hat einen Schlag erhalten! Hat Loom genagelt? Ich habe genagelt! Ich wollte die Rinne zunageln! Mehr nicht! Und außerdem habe ich den Holzgriff der Axt in der Hand gehabt! Das ist alles eine Scheiße! -2 0 5 -
»Ihr«, fuhr Wälzer im gebräuchlichen Plural fort, »bringt unseren Herrn Direktor noch ins Grab! Nicht ein kleines bißchen Verständnis habt ihr!« Er schüttelte seinen wohlfrisierten Kopf. Loom seine Glatze. Dann gingen beide nach draußen, weil Wälzer in die Verwaltung und Loom ihm die Tür aufschließen wollte. »Junge, Junge«, sagte er zurückkommend, »du machst aber auch Sachen.« Sein Ton war freundschaftlich vorwurfsvoll. »Nun nagel den Streifen mal wieder fest. Aber vernünftig!« Ich rührte mich nicht. »Heh, hast du nicht gehört!?« »Ich nagel gar nichts!« Loom glotzte mich an. »Na gut«, sagte er, »Benno, mach du das!« »Nee, ich hab schon als kleiner Junge Angst vor'm Strom gehabt.« Loom glotzte wieder. Sein Blick blieb auf Icke hängen. »Was kann denn dabei passieren!?« brüllte er plötzlich los und rannte nach nebenan. »Meier! Nägel! Hammer!« Er hielt sich an der Säge fest, ging in die Hocke und ließ sich auf die Knie fallen. »Bumms!« machte es. Tischler Meier gab ihm die Sachen. Loom nagelte. Bei jedem Schlag hüpfte der Dreck aus den Fußbodenritzen. Er rutschte von einem Nagel ab und streifte seinen Daumen. »Ein Irrenhaus ist das hier!« brüllte er wieder und lutschte seinen Daumenknöchel. »Jetzt müßt'a een jefunkt kriegen, det er bis unta die Decke jeht!« »Idiot! Wie kann er einen gefunkt kriegen!« »Weeß ick, aba det wär so schön.« Es war Feierabend. Wir saßen an der Rückseite der Turnhalle und ließen uns von der untergehenden Sonne bescheinen. »Ich werde morgen abhauen«, sagte ich zu Benno. »Ist aber noch kalt, nachts. Warum?« »Ist mir egal, ob es kalt ist oder nicht. Ich haue ab. So ein Affenladen. Wenn ich daran denke, wie lange ich noch hierbleiben, wie lange das immer so weiter geht, dann wird mir ganz schlecht.« Benno zuckte die Schultern. »Eigentlich habe ich hier alles...« -2 0 6 -
»Habe ich hier alles! Wenn ich das höre, wird mir noch schlechter verstehst du! Dein Fressen hast du, deine Gammelarbeit, manchmal ein paar Mark, und manchmal kannst du eine Nummer machen wenn du das alles nennst, dann hast du es hier natürlich!« »Ich habe noch anderhalb Jahre, dann bin ich volljährig, da werd' ich mich nicht mehr groß anstrengen, dann müssen sie mich ja sowieso entlassen.« »Wird sicher ein bitterer Tag für dich werden.« »Du bist sauer, wegen Loom heute. Was nützt das, du kannst es nicht ändern. Es ist besser, wenn du >Ja< und >Amen< sagst.« »Ich haue ab!« »Gut.« Benno dachte nach. »Wo willst du hin? Nee, laß, will es nicht wissen. Ich gebe dir einen Brief mit, für meine Schwester, die mit der kleinen Wohnung, die hilft dir weiter. Oder willst du ein Ding drehen?« »Nee. Warum sollte ich. Ich komme auch so da hin, wo ich hin will. Wäre natürlich gut, deine Schwester. Ich habe nur noch zwei Mark.« »Und ich drei, sind fünf. Ist auch mein Rest. Wir können ja noch mal schnell zu den Miezen hoch, die haben genug Taler.« »Nein. Aber ich gebe dir für Karen einen Brief mit.« »Wie willst du denn weiterkommen? Du kannst Anhalter fahren, dann reichen die paar Mark zum Rauchen. Meine Schwester wohnt in Misburg, Hannover-Misburg ist das. Erklär ich dir genau. Mußt dich immer am Kanal halten. Na ja, sie wird dir Geld geben, und dann fährst du mit dem Zug weiter. Wenn du so weiterkommst, ich meine, wenn du einen triffst, der gerade in deine Richtung fährt, dann zerreiß aber den Brief.« »Sicher, mache ich.« »Deiner Mieze würde ich nichts schreiben. Meinst du, sie täte das, wenn sie trällern ginge?« »Glaube ich, bestimmt.« -2 0 7 -
»Na gut, Evi wäre das egal. Die würde absegeln wie ein Schwan.« Sechs Uhr, dachte ich. Gestern abend um diese Zeit haben wir noch an der Turnhalle gesessen. Im Heim werden sie noch nichts gemerkt haben. Vielleicht merken sie es erst um acht oder um neun, und dann ist es zu spät. Ist es jetzt auch schon. Woher sollten sie wissen, welche Richtung ich genommen habe. Anhalter, sagte Benno. Das ist mir viel zu gefährlich. Gerade hier in der Gegend. Brauchte nur ein Erzieher im Auto vorbeizufahren, einer der außerhalb wohnte. Ich fahre mit dem Zug. Wenn ich nicht so oft nach Kohle & Co. gegangen wäre, dann wüßte ich nicht mal davon. Ich ging immer noch am Fluß entlang. Der breite Spaziergängerweg hatte längst aufgehört, und der Trampelpfad, auf dem ich ging, war an vielen Stellen vom Gras überwachsen. An den Schuppen des Güterbahnhofs war ich vorbei, jetzt kamen Fabrikanlagen, dann die Rückseite von Kohle & Co., etwas weiter war die Holzhandlung. Dahinter liefen die Bahngeleise zusammen, waren nur noch zweispurig, sie führten an der Kläranlage entlang und verloren sich in den Feldern. Vor der Kläranlage stand ein Signalmast. Fast alle Züge, die aus der Stadt kamen, verlangsamten hier ihre Fahrt, weil das Signal immer im letzten Moment auf Grün umsprang. Oft mußten die Züge auch halten, doch das war selten. Bei den Schnellzügen merkte man das Abstoppen gar nicht, die hatten sofort wieder ihre volle Fahrt drauf. Die Güterzüge nicht. Die kamen langsamer und brauchten länger, um wieder auf volle Fahrt zu kommen. Ich bog vom Fluß ab und ging durch ein Kornfeld auf den Bahndamm zu. Der Damm war ziemlich hoch, und etwas weiter führte ein Feldweg unter ihm hindurch. Die Dammböschungen waren mit Buschwerk, Gras und meterhohem Unkraut bewachsen. Zwei Personenzüge und ein Güterzug fuhren vorbei. Verdammt schnell, fand ich. Ich könnte auch immer an
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den Schienen entlanggehen. Aber das dauerte zu lange. Ich mußte mit so einem Zug mit. Ich legte mich an die Bahnböschung und steckte mir eine Zigarette an. Herrlich, so zu liegen. Wenn ich will, kann ich in jede Richtung gehen. Rechts, links, geradeaus. Nach links nicht, dann komme ich zum Heim zurück, Aber halblinks, vorwärts, rückwärts. Ich sage jetzt: ich gehe baden, und dann gehe ich. Ich gehe einfach zum Fluß runter und bade. Oder ich bleibe so lange liegen, bis der Mond aufgeht. Hm, dann verpasse ich sicher meinen Zug. Im Dunkeln sehe ich nichts. Ich muß es versuchen, wenn es noch hell ist. Brennessel gibt es hier auch! Ich kletterte auf die Dammkrone. Auf der anderen Seite waren ebenfalls Felder, die bis an die entfernte Bundesstraße reichten, an der sich die Ausläufer der Stadt bis zum nächsten Dorf hinzogen. Wenn ich jetzt in einem weichen Autositz sitzen würde. Wäre nicht schlecht. Hm, lieber nicht. Die Bullenautos haben auch weiche Sitze. Das wäre eine richtige Blamage, wenn sie mich am gleichen Tag erwischen. Ich fühlte Bennos Brief hinten in meiner Tasche. Ich setzte mich auf den schmalen Weg, der neben dem Schotter entlangführte und wartete. Bis zum nächsten Zug dauerte es nicht lange. Es war ein Güterzug! Ich rutschte etwas in die Büsche. Ich muß so lange nebenherrennen, bis ich die Haltestange fassen kann, dachte ich. Eigentlich ganz einfach. Die Stangen sind an jeder Waggonecke. Schnurgerade muß ich laufen, sonst hauen mir die Zweige ins Gesicht oder eine Haltestange haut mir. ins Kreuz. Möchte wissen, warum die den Weg nicht breiter gemacht haben. Wie soll man da spurten können. Die Lokomotive und die ersten Wagen waren vorbei. Jetzt! Ich erhob mich und taumelte etwas. Einen Meter vor mir rasselten die Güterwagen vorbei. Der Fahrtwind preßte mir das Zeug an den Leib. Ich rannte. -2 0 9 -
»Schschtt! Schschtt!« machte es bei jeder Zuglücke, dort wo die Waggons zusammengekoppelt waren. Mit jedem »Schschtt« huschten zwei Haltestangen an mir vorbei, überholten mich. Schneller! Die Stangen auch. Das muß doch zu schaffen sein! Das muß! »Schschtt!« Die Puffer des letzten Waggons hatten mich überholt. Meine Beine wurden langsamer, ich blieb stehen. Meine Knie zitterten. Ich ließ mich einfach auf den Weg fallen und rang keuchend nach Luft. So ein... verdammter... Mist! Ich schlug mit der Faust auf den Boden. Nochmal. Ich muß es nochmal versuchen. Ich versuche es so lange, bis es klappt. Weiter zurückgehen muß ich, dann ist er noch langsamer, der Zug, dann gleich hinter der Lok hoch und laufen, dann ist die Wagenreihe noch voll hinter mir. Ich bin zu spät losgelaufen, das ist es. Ein halber Zug ist schnell vorbei. Dieser Idiot von Lokführer! Sonst fahren die Züge auch langsamer. Aber wenn der sieht, daß hinten einer aufspringen will, dann gibt er sicher mehr Gas. Von weitem sieht so ein Zug immer langsam aus. Ich stand auf und ging die Strecke, die ich gelaufen war, zurück. Ich stieß jeden Stein aus dem Weg, damit ich nicht stolperte und dachte, daß ich bedeutend schneller rennen könnte, wenn die Schlacke fest wäre und nicht so weich, wie diese hier. Ein richtiger Schlackenmüll war das. Dann wartete ich wieder, drei Personenzüge lang. Der vierte war ein Güterzug. Ich ließ die Lok vorbei, sprang auf und rannte. Aus den Augenwinkeln sah ich die Haltestangen auftauchen, wie sich ein Paar nach dem anderen langsam an mir vorbeischob. Zufassen! Ich muß zufassen! Noch zwei Züge, und ich habe nicht mal mehr die Kraft auf einen stehenden aufzuspringen! Die Beine anziehen! Nicht loslassen! Bloß nicht loslassen! Eine Stange! Vorbei. Die nächste! Vorbei. Jetzt! Jetzt! Ich griff mit der rechten Hand zu, faßte ganz schnell mit der Linken nach. Der Ruck riß meine Füße vom Boden, schneller, als ich sie hatte anziehen wollen. Jetzt zog ich sie an. Ich hatte ein Gefühl, als hinge die ganze Wagenreihe an meinen Armen, -2 1 0 -
doch ich ließ nicht los, ich konnte gar nicht loslassen, ich guckte in den Himmel und baumelte an der Haltestange. Ich tastete mit einem Fuß nach dem kleinen Trittbrett. Es befand sich nur wenige Handbreit unter meinem Knie. Ich kniete mich auf das Trittbrett, zog mich an der Stange hoch und stand, ich faßte mit einer Hand nach einer Querstrebe an der Stirnseite des Waggons, schob ein Bein über einen Puffer, zog und stieß, bis ich rittlings auf ihm saß, verschnaufte. Am liebsten hatte ich laut losgebrüllt. So ähnlich mußte einem Gladiatoren zumute gewesen sein, wenn er den Löwen besiegt hatte, dachte ich. Weicher Autositz war Quatsch. Ein Autositz ließ sich überhaupt nicht mit so einem Puffer vergleichen! Ich richtete mich vorsichtig auf. Das Schlingern hatte zugenommen. Der Zug schien seine volle Geschwindigkeit erreicht zu haben. Ich stellte mich auf die Zehen und kam mit den Händen eben an den oberen Waggonrand, ich zog mich hoch und half mit den Füßen nach, wälzte mich auf die andere Seite, auf Schottersteine. Der ganze Zug hatte Schottersteine geladen. Vor mir, hinter mir. Ich kroch bis zur vorderen Wagenwand und kauerte mich in eine Ecke. Dort lag der Schotter so tief, daß ich dem Fahrtwind nicht so sehr ausgesetzt war. Aber es zog trotzdem. Ich fror. Aber was machte das schon. Ich fuhr! Ich überlegte, wohin der Zug wohl fahren könnte. Einmal mußte er ja halten. Hauptsache, ich kam weg, von der Stadt, von der Anstalt. Es war ein schönes Gefühl. Als ich aufwachte, war es dunkel. Der Zug stand. Vielleicht war ich deshalb aufgewacht. Meine Beine waren eingeschlafen. Ich bewegte und rieb sie und fror. Ich kniete mich hin und linste über den Waggonrand. Der Zug stand auf einem Güterbahnhof. Etwas weiter standen weitere Güterzüge, dann einzelne Wagen, Geleise, eine dampfende Lok vor einem Güterzug. Manchmal stieß sie einen kurzen Pfiff aus. Ich schwang mich über den Waggonrand, ließ mich einen Moment hängen, dann auf den Boden fallen. Ich suchte die -2 1 1 -
kleine Tafel, die an jedem Güterwagen angebracht war, auf der der Bestimmungsort zu lesen war, fand sie und riß ein Streichholz an. »Kiel« las ich, »Hamburg«, »Ratzeburg«, ich schritt die ganze Zugreihe ab. Ein Eisenbahner tauchte auf und leuchtete die Kupplungen mit einer Lampe ab. Ich kroch unter dem Zug hindurch. Der andere mit der dampfenden Lok stand da immer noch. Ich brauchte einen Kurswagen, das war bequem, dann brauchte ich nicht umzusteigen. Ich vergewisserte mich, ob die Luft rein war und huschte über die Geleise. »Bremen«, »Bremen«, »Hannover« las ich. Das war genau richtig. Diese Waggons gingen in meine Richtung. Noch mal »Hannover«. Den nehme ich, der hat Bretter geladen. Die Bretter waren an der vorderen und an der hinteren Seite des Waggons bündig gestapelt und mit einer Plane abgedeckt, die ringsherum an der niedrigen Wagenwand festgezurrt war. Doch zwischen Plane und Wand war ein Stück frei. Es reichte aus, damit ich in der Mitte in den Hohlraum zwischen den Bretterstapeln klettern konnte. Ich zwängte und quetschte mich durch die Lücke und kletterte aur den unregelmäßig vorstehenden Holzschichten hoch, blieb dicht unter der Plane liegen. Im gleichen Moment ging ein Ruck durch den Zug. Noch einmal. Er begann zu rollen. Gerade noch geschafft, dachte ich zufrieden. Züge warten nicht. Ich war müde, nickte manchmal ein. Aber zum Schlafen war es zu kalt, trotz der schützenden Plane. Von Zeit zu Zeit turnte ich nach unten auf den Wagenboden und machte Freiübungen. Ingrid wird Augen machen! Ich werde sie richtig überraschen. Wenn ich bloß schon da wäre. Hunger habe ich. Und wie! In Südamerika kauen sie Colablätter oder so, die Indios, dann haben sie keinen Hunger mehr. Hm. Bin ich eine Kuh? Aber die haben nicht nur Hunger, wenn sie mit dem Güterzug fahren, die haben immer Hunger.
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In den Schnellzügen gibt es wenigstens einen Speisewagen. Drei Mark habe ich noch. Vielleicht reicht das für Kartoffelsalat mit Würstchen. Nee, ein Würstchen mit Kartoffelsalat. Oder nur Kartoffelsalat. Oder nur Würstchen. Ein paar Brötchen, das wäre auch schon sehr gut. Wenn ich mir keine Zigaretten gekauft hätte, dann würde es sicher für meinen ganzen Bauch reichen. Wenn ich nur so eine Ecke ausfülle, dann habe ich bald wieder Kohldampf. Und eine Limo konnte ich auch vertragen. Durst. Wenn ich jetzt irgendwo zu Fuß unterwegs wäre, könnte ich eine Scheibe einschlagen, in einer Bäckerei oder so. Da liegt genug zum Essen rum. Ach, Quatsch. Ein Mensch kann das dreißig Tage ohne Verpflegung aushalten. In Amerika fahren auch viele mit'm Güterzug mit. Tramps. Die nehmen sich immer genug mit, die sind oft tausend Kilometer unterwegs. Berufsgüterzugmitfahrer sind das. Der Mann hinter dem Schalter nickte, nahm eine Fahrkarte und stempelte sie an der Maschine ab. »Sieben Mark achtzig!« Ich legte den Zehnmarkschein, den mir Bennos Schwester gegeben hatte, auf den Zahlteller und nahm das Wechselgeld und die Karte in Empfang. »Welcher Bahnsteig ist das?« »Bahnsteig sechs. Vierzehn fünfunddreißig!« Zehn Minuten noch, dachte ich, ging zur Sperre. Bennos Schwester war in Ordnung. Ich sollte ja auf die Bullen aufpassen, hatte sie gesagt, die liefen hier auf dem Bahnhof rum wie Ameisen. Und alle in Zivil. Das war gar nicht so einfach, wenn die in Zivil herumliefen. Einen Schlapphut setzten die Bullen nicht auf, und einen Regenmantel zogen sie sich auch nicht an. In Zivil sehen sie aus wie richtige Menschen. Den Güterzug hatte ich schon in Hildesheim verlassen, dort hatte er so lange gehalten, und ich hatte gedacht, daß ich schon in Hannover sei. Es war so ein großer Bahnhof gewesen und nirgends ein Schild. Ich war im Dunkeln quer über die Gleisanlagen gelaufen, über einige Zäune und hatte mich auf einer Straße befunden. Da es morgens um fünf Uhr gewesen war, gingen bereits Leute zur Arbeit, ich hatte einen Mann nach dem Listerplatz gefragt. Diesen Platz hatte mir Benno als -2 1 3 -
Orientierungspunkt gegeben, von dort kannte ich den beschriebenen Weg zu Bennos Schwester fast auswendig. »Listerplatz?« hatte der Mann erstaunt gefragt. »Der ist doch in Hannover!« Und auf mein dummes Gesicht hin: »Zu Fuß noch einundvierzig Kilometer! Morjen!« An den Verkehrsrichtungsschildern hatte ich gesehen, daß ich tatsächlich erst in Hildesheim war. Ich war durch die Stadt gelaufen, bis die Geschäfte öffneten, hatte mir für mein letztes Geld Brötchen und Kakao gekauft. Ein Auto hatte mich mitgenommen, bis zum Messeschnellweg. Von dort, so meinte der Fahrer, käme ich am schnellsten nach Hannover. Nicht lange darauf hatte mich ein anderer Fahrer mitgenommen, als ich ihm sagte, daß ich nach Misburg wollte, hatte er einen Umweg gemacht und mich an der Misburger Kanalbrücke abgesetzt. An der ersten Straßenbahnhaltestelle hinter der Brücke wohnte Bennos Schwester. Sie hatte den Brief gelesen, ich hatte mich gewaschen, gegessen und war nach dem Mittagessen wieder los. Zehn Mark hatte sie mir gegeben, weil ich dachte, das würde als Fahrgeld bis nach Detmold reichen. Doch es fehlten ein paar Mark, ich hatte nur eine Fahrkarte bis nach Gütersloh gelöst. Dort hätte ich sowieso umsteigen müssen, von dort kam ich schon irgendwie weiter. Dreißig Kilometer waren es dann noch. »Achtung! Gleis sechs! Der Schnellzug Bremerhaven-Köln über Hannover, Gütersloh, Bielefeld, Dortmund läuft in wenigen Minuten ein. Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!« Aha, das ist er. In wenigen Minuten. Noch zwei genau. Oder die Uhr geht falsch. Aber Bahnhofsuhren gehen immer nach dem Fahrplan der Züge. Ich kaufte mir eine Schachtel Zigaretten und ein Pfund Bananen. Ich war zwar satt, doch man konnte nie wissen. Dann saß ich im Zug, am Fenster, aß die Bananen, rauchte eine Zigarette und fand, daß Zugfahren eine schöne Sache war. Ich erwachte, als mich jemand an der Schulter rüttelte. »Ihren Fahrschein bitte!« Ich holte meine Karte raus und gab sie dem Schaffner. -2 1 4 -
»Die geht aber nur bis Gütersloh«, sagte er. »Weiter will ich auch nicht.« »Wir sind in zehn Minuten in Bielefeld«, er klappte sein Buch zu, ein anderes auf und fuhr mit dem Finger eine Seite runter, stoppte, »das macht drei Mark fünfzig Nachzahlung«, sagte er. Nicht ein Wort mehr und nicht ein Wort weniger, als würde bei ihm während der Sprechdauer auf einen Knopf gedrückt. Ich dachte an die vierzig Pfennige, die ich noch in der Tasche hatte. Aber der Schaffner guckte mich mit einem Dreimarkfünfzigblick an. ACHTER DEZEMBER! Es schneite. Es war kein richtiger Schnee, es war halb Schnee und halb Regen. Schwester Elisabeth hängte eine neue Flasche an das Gestell. »Ich habe geschlafen.« Holberg hörte selbst, wie heiser seine Stimme klang.« »Ja, du mußt weiterschlafen«, sagte sie. Er fühlte ihre Hand an seinem Puls. Er öffnete wieder die Augen. »Ich habe Durst, warum gibst du mir nichts zu trinken...?« »Ich hole dir gleich etwas, aber du mußt die Augen zumachen«, sie drückte sein Kissen zurecht, »ich werde dir ein ganz großes Glas Saft holen, aber du mußt mir versprechen zu schlafen, du mußt deine Augen schließen, ja, so.« Sie wischte sein nasses Gesicht mit einem Tuch ab. Er spürte es und versuchte zu überlegen, wieso es kam, daß sie sich mit >du< anredeten. ABTEILUNGSLEITER WÄLZER saß hinter seinem Abteilungsleiterschreibtisch, auf dem die Dinge immer noch nach Abteilungsleiterart, nach seiner Art, ausgerichtet lagen, und ich meinte, in genau dem gleichen Abstand vor dem Schreibtisch zu stehen, wie die beiden Male davor. -2 1 5 -
Die Bullen hatten mich eine Nacht in der Polizeizelle behalten, mich wieder hierher gebracht und vor ein paar Minuten abgeliefert. Wälzer betrachtete mich eine ganze Weile schweigend, räusperte sich. »Ich«, sagte er, »kann mich des dummen Gefühls nicht erwehren, Holberg, daß du mir und dem Herrn Direktor noch eine Menge Ärger bereiten wirst.« Er schwieg und verrückte den Aschenbecher. Ich sah an ihm vorbei auf den Bücherschrank. Hinter der Glastür konnte ich zwei Bücher entdecken, die eine dicke Goldschrift auf dem Rücken hatten, ich legte den Kopf etwas schräg, doch die Schrift war durch das Glas nicht lesbar, ich gab es auf. »Ich«, fuhr Wälzer fort, »bestrafe dich hiermit mit einer Woche Arrest, und du weißt auch, warum ich dich bestrafe?« Er sah mich fragend an. Ich antwortete nicht. Dumme Frage. Weil ich abgehauen war, deshalb. Der Aschenbecher stand noch nicht richtig. Jetzt. Er mußte mit der Zigarettendose und der Federschale im rechten Winkel flüchten. »Ich«, sagte Wälzer, »frage mich, was aus dir überhaupt noch mal werden soll. Unsere Bemühungen, dir den Weg in ein geordnetes Leben zu ebnen, ignorierst du, ja, du ignorierst sie nicht nur, du trittst sie sogar mit den Füßen!« Er straffte sich in seinem Ledersessel. »Du flüchtest einfach so aus deiner Umgebung, ohne Skrupel, du machst dir nicht einen Augenblick Gedanken darüber, daß wir seit der Feststellung deiner Flucht in großer Sorge um dich waren! Du verläßt deine Arbeit, du läßt einfach alles im Stich! Wo, so frage ich dich, ist dein Verantwortungsbewußtsein!« Er sagte das ohne Fragezeichen und schwieg erschöpft, obwohl er ganz langsam gesprochen hatte. An der Tür klopfte es. Wälzer hörte nicht hin. Es klopfte erneut. »Hereiiin!« sagte er tönend. Ich dachte an die Weihnachtsfeier und daran, daß er eine schöne Stimme hatte. Es wäre toll, wenn er mir das alles singen würde. In der Oper war das auch so. Es würde hier -2 1 6 -
unten im Zimmer nicht klingen, wir müßten nach oben gehen, in die Aula. Schade vom Fuchsbau kam herein, blieb an der Tür stehen. »Warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich fertig!« Schade nickte und ging wieder raus. »Du«, sagte Wälzer, »hast in den anderthalb Tagen deiner Flucht Straftaten begangen...« Ich guckte ihn verblüfft an. »... die uns zwar noch nicht gemeldet worden sind, vielleicht auch nie gemeldet werden, sei es, weil du äußerst geschickt zu Werke gegangen bist oder auch aus anderen Gründen. Aber es wird schwer sein, dieses auf Dauer mit deinem Gewissen in Einklang zu bringen!« Er schwieg wieder, fuhr sich mit dem Mittelfinger der linken Hand leicht über einen Leberfleck seitlich der Stirn. Ich überlegte, wieso er einfach sagen konnte, ich hätte etwas gemacht, wo ich nichts gemacht hatte. Die drei Mark fünfzig hatte ich nicht bezahlen können, das war alles, aber die Bullen hatten gesagt, das sei nicht weiter wild. Wälzer war verrückt. Das mußte es sein. Er war aus dem Landeskrankenhaus abgehauen und hatte es hier irgendwie zum Abteilungsleiter gebracht. Wenn der Lokusmüller keinen Spitzbart hätte, vielleicht war er Napoleon? Wälzer war blöd. Wälzer war verrückt. Ich merkte, wie ich wütend wurde, so wie bei Loom, wenn der etwas sagte, wogegen man nichts tun konnte, obwohl man genau wußte, daß es falsch war. >Ja< und >Amen< sagen, das war alles. Es war eine stille Wut, die unsichtbar kam und unsichtbar nachließ. Ich beschloß, überhaupt nichts mehr zu sagen, gar nicht mehr hinzuhören, was er noch redete. »Jetzt«, fuhr Wälzer fort, »ist natürlich noch Zeit, mein lieber Holberg, du kannst mir sagen, was dich bedrückt. So ein paar Diebstähle oder ein Einbruch, es läßt sich alles wieder ins richtige Gleis bringen, wichtig ist nur, daß man sich dazu bekennt und dafür Sühne tragen will. Du mußt dich erleichtern!« Er machte eine Pause. »Na?« -2 1 7 -
»Wie?« »Na, erleichtern sollst du dich!« Er wedelte mit einer Hand, als locke er einen Hund. Ich schwieg. »Ich vermute, du willst nicht.« Ich schwieg. »Genauso«, sagte Wälzer, »habe ich es erwartet«, und nach einer neuen kleinen Pause: »Du leugnest! Dem Herrn Direktor standen Tränen in den Augen, als er von deiner Flucht erfuhr. Und jetzt Werde ich ihm sagen müssen, daß du leugnest! Nein... nein...« Wälzer schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, daß dann irgendwas passieren würde. Entweder kriegte der Lokusmüller einen Herzanfall, oder Wälzer brachte es nicht fertig, ihm das zu sagen. Was überhaupt? Der Herr Direktor! Der Herr Direktor! Dann mußte er ab Frühjahr und den ganzen Sommer über tränenschwere Augen haben, der Lokusmüller. In dieser Zeit hauten die meisten ab. Außerdem kenne ich ihn gar nicht, den Direktor! Den Direktor! Will ihn auch gar nicht kennenlernen! Wälzer blickte gedankenschwer an mir vorbei auf die Tür, als habe er soeben die Nachricht vom Tod eines nahen Verwandten erhalten. »Ich habe dich«, sagte er, »wieder auf den Fuchsbau verlegt. DU wolltest es ja nicht besser haben. Nach Rücksprache mit Herrn Tischlermeister Loom, der sich bereiterklärt hat, dich wieder in seine Gemeinschaft aufzunehmen, wirst du wieder in der Tischlerei arbeiten. Du magst daran erkennen, daß alle nur dein Bestes wollen.« Ich werde mich im Arrest richtig ausschlafen. »Herr Hausvater Schade!« Die Tür ging auf. Wälzer stieß mit dem Zeigefinger in meine Richtung. »Sie können ihn mitnehmen.« Ich ging neben Schade zum Fuchsbau rüber. »Na, wie war's?« »Das Abhauen?« »Ja?« -2 1 8 -
»Och, konnte nicht bezahlen, im Zug, habe verschlafen. Der Schaffner hat mich dann den Bullen gegeben, Der Benno soll mir was ans Fenster bringen, zum Rauchen.« Schade nickte. »Werde ihm Bescheid sagen.« Er schloß die Tür auf. »Sind ja nur vier Tage, bei guter Führung, und die hast du doch, oder?« Er grinste. »Sicher.« Was sollte ich auch in so einer Zelle anders machen, als mich gut führen. Ein Monat war seitdem vergangen. Jürgensen war abgehauen, doch nach ein paar Tagen hatte man ihn wieder zurückgebracht. Er war eine Nacht in der Arrestzelle gewesen, am anderen Tag hatte man ihn mit dem Anstalts-VW weggebracht. Jetzt käme er endlich nach Schweden, zu seiner Mutter, hatte er gesagt. Er würde bis zum Flughafen gebracht, damit er keinen Mist mehr bauen könnte. Benno hatte einem das Nasenbein zerdeppert, weil der einen Brief von Evi an Benno geöffnet hatte, gelesen und dann wieder zugeklebt hatte. Aber Benno hatte es sofort bemerkt. Evi machte immer ein bestimmtes Zeichen an ihre Briefe. Im Neubau auf der Schülergruppe war Fräulein Motz, die Praktikantin, geflogen, weil sie sich immer von den Schülern hatte unter den Rock fassen lassen. Vor Weihnachten hatte es deswegen schon mal Krach gegeben. Zwei jungen hatten mit ihrem Zeigefinger geprahlt. Zehn Minuten später war Wälzer im Neubau eingetroffen, hatte eine Geruchsuntersuchung bei beiden vorgenommen. Das Ergebnis war negativ gewesen. Die beiden hatten wirklich nur geprahlt, oder sie hatten sich schnell die Zeigefinger gewaschen. Letzteres war wahrscheinlicher, denn zwei Tage später hatten sie fürchterliche Prügel gekriegt. Der eine, weil er nachts immer so laut schnarchte, und der andere, weil er beim Mittagessen gerülpst hatte. Doch diesmal hatte Fräulein Motz Pech gehabt. Ein Erzieher hatte sie belauscht, wie sie mit hochgeschobenem Rock und -2 1 9 -
ohne Hose einem Schüler Nachhilfeunterricht erteilte. Thema: Der menschliche Haarwuchs. Das Schamhaar zum Beispiel, so Fräulein Motz, sei bedeutend härter und halte größere Belastungen aus als das Kopfhaar. Und da war alles rausgekommen. Ein Spitzel von Wälzer sei es gewesen, so sagten die Schüler, denn an dem Nachmittag hatte nur Fräulein Motz Dienst gehabt. Er nicht. Er wollte angeblich nur ein Buch holen, das er vormittags vergessen hatte. Und weil Mittagsruhe war, hatte er ganz leise die Tür aufgeschlossen und war auf Zehenspitzen über den Flur geschlichen, damit er die Jungen nicht störte. Die machten im Tagesraum Reiterkämpfe. Wälzer hatte alle Beteiligten richtig verhört, bis auf Fräulein Motz und den Schüler. Die hatten nichts gesagt. Der Erzieher hatte immer dasselbe gesagt, er hatte das alles aufgeschrieben. Wälzer war für den Rest des Tages zwischen Verwaltung und Neubau hin- und hergependelt, hatte immer neue, etwaige Zeugen vernommen. Armes Fräulein Motz! Jetzt war eine neue Praktikantin da. Eine mit Nickelbrille und Haarknoten, und ziemlich fett war sie auch. Die hatte am ersten Tag jeden Schüler mit >Sie< angeredet, auch die, die erst zehn waren. Aber mögen tat sie keiner. Für Anfang Mai war es schon sehr warm. Das Wäldchen war zu einer undurchdringlichen Wand geworden, grün, hellgrün, dunkelgrün, mit braunen Tupfern und Strichen. Der Kiessee war klar und kalt, und ich meinte, dieses Klare, dieses Saubere und Frische riechen zu können. Das Gras stand zwei Fuß hoch, es war weich und duftete. Alles kam mir so vor, als würde es jeden Morgen von Handwerkern erneuert, die die Bäume grün anmalten, das Gras kämmten, frisches Wasser in den See ließen. Ich hatte meinen Kopf auf Karens Bauch gelegt und beobachtete einen Bussard, der über dem Wald, über dem Wasser, über dem Stadion kreiste. Genau ließ sich der Ort nicht bestimmen. Aber der Vogel wußte schon, was er im Auge hatte. Bussarde haben ebenso gute Augen wie Adler. Ein Vogel -2 2 0 -
müßte man sein. Fliegen. Wohin man wollte. Aus der Höhe konnte man alles überblicken. So ein Vogel überfliegt schlechte Gegenden, in einer guten landet er. Aber für einen Vogel war jede Gegend gut. Mäuse gab es überall. Würmer auch. Fliegen, das möchte jeder Mensch. Früher hatte das mal einer versucht, aber dann nie wieder. Wo war das denn noch gewesen? Er hatte sich vorher mit Federn beklebt, an die Arme große Schwingen, das ganze Volk hatte ihm zugesehen. Und ab ging die Post. Hurra hatten sie alle gebrüllt, er fliegt, er fliegt. Senkrecht war er geflogen. Von oben nach unten. Klatsch! Und dann hatten sie ihn vom Straßenpflaster gekratzt und gesagt, daß er ganz schön tapfer gewesen wäre. Wie schön das Wetter ist. Ein richtiges Wetter zum Abhauen ist das. Eigentlich hatte ich sofort nach den vier Tagen Arrest wieder loswollen. Arrest war gar nicht schlecht, da konnte man in Ruhe nachdenken, was man falsch gemacht hatte. Ich hätte dem Schaffner im Zug einfach weglaufen sollen, die Notbremse ziehen und raus aus dem Zug. Ich wäre einfach so lange den Gang entlanggerannt, bis die Fahrt zum Abspringen gereicht hätte. Ich hätte ihm auch einen Kinnhaken geben können, daran hatte ich nicht gedacht. Aber was kann er dafür, der Schaffner. Nichts. Die Tage nach dem Arrest war ich abends immer später auf den Fuchsbau gekommen, und Schade hatte jedesmal gegrinst, hatte gesagt, er hätte gedacht, ich sei schon wieder auf Achse. Na ja, Schade, wer so viel Alkohol trinkt, bei dem degeneriert das Hirn. Es wird immer weniger, und eines Tages ist es ganz weg, der Kopf ist hohl. Schade um Schade, mit dem konnte man wenigstens reden. Aber eigentlich brauchte er auch kein Hirn. In der Anstalt wurden nur Türen aufgeschlossen und zugeschlossen, da konnte niemand was verkehrt machen. Wenn der Schlüssel sich nicht nach rechts drehen ließ, na, dann wurde er eben nach links gedreht. Was gab's da zum Überlegen. Karens Bauch knurrte. »Was denkst du, Ben?« »Dein Bauch knurrt.« »Das hast du nicht gedacht.« -2 2 1 -
»Doch, gerade eben. Und davor habe ich ans Türmen gedacht und an Schade, der säuft so, weißt du.« »Und?« »Na ja, eines Tages hat er kein Gehirn mehr.« »Ach was, ich meine das Türmen.« »Hm, wenn ich an morgen denke, an den bekloppten Loom, überhaupt so an alles. Ich habe einfach keine Lust mehr, weißt du.« »Ich komme mit.« »Im Ernst? Willst du auch?« »Ja. Aber erst im Juni oder im Juli, dann ist es wärmer, und dann haben wir tausend Mark zusammen.« »Bitte was? Was haben wir?« »Ja.« »Sag noch mal.« »Tausend Mark. Mein Gott, was ist schon dabei, du kannst dir ja denken wie. Der Alte ist eben ein bißchen geil, da wo ich arbeite. Laß ihn doch. Ich erinnere ihn immer an seine verunglückte Tochter, hat er gesagt, so hat es angefangen, und dann hat er mal ein bißchen so gefummelt, hat mir Geld dafür gegeben. Nicht sofort, zwischendurch, weißt du. Mensch, ich müßte doch schön blöd sein, wenn ich das nicht nähme. Laß ihm doch die kleine Freude.« »Der arme Alte. Nein, so ein herziger Kerl! « »Mensch, Ben!« »Ich dachte immer, du liebst mich richtig, wenn du so was sagst, daß du es dann auch so meinst.« »Meine ich doch auch, Benni, das hat doch nichts mit Liebe zu tun, was ich mit dem mache...« »Wieso du mit dem, ich denke er mit dir?« »Ist doch egal, wie. Ich empfinde nichts dabei, gar nichts...« »Das sagst du.«
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»Nein, das ist auch so! Das ist ein Geschäft, er bezahlt und ich liefere. Mensch Ben, der ist verheiratet, ein Geschäftsmann ist das, er ist Vorsitzender in zig Vereinen, ein ganz seriöser Mann! So was kann man doch gar nicht lieben, verstehst du?« »Stör mich nicht, muß nachdenken.« Mit Liebe nichts zu tun. Das is'n Ding! Nur mal gefummelt. So hat es angefangen, sagt sie. Ich bin ahnungsloser Teilhaber von irgend so einem Mops wie Loom. »Ben?« »Ist er dick?« »Na ja, ich glaub schon. So wie Reimers...« »Der ist nicht dick. Der ist saufett. Dachte ich's mir doch.« Ich schwieg. Heute erst sagt sie mir das. Vielleicht hat er heute nachmittag wieder gefummelt. Und sie liebt mich. Tja, mich liebt sie. Scheiße. Hm, Ingrid, die verdiente ihr Geld ja auch so. Aber Ingrid, das war etwas ganz anderes, das war ihr Job, ich wußte das von Anfang an. Ich glaube auch, Ingrid würde das nicht mehr machen, wenn ich ihr das sagen würde. Karen hat immer so getan, als würde sie entjungfert. Erst haut sie wegen so was von den Lehrstellen ab und jetzt? Ist das eigentlich schlimm? Was ist schlimm. Da hat sie recht. Es gibt schlimmere Sachen. »Ich weiß noch ganz genau, was du damals gesagt hast, weshalb du von zu Hause abgehauen bist.« »Ja, Ben, das weiß ich«, Karens Stimme war nicht mehr so sicher und bestimmt wie am Anfang, »aber man wird doch älter und reifer...« »Hast du mal mit Wälzer gesprochen?« »Nein, warum?« »Hm, nur so.« »Weißt du, ich sehe das heute mit ganz anderen Augen. Es ist wirklich so, wie ich's sage. Sieh mal, ich hätte dir das gar nicht sagen brauchen, du hättest es vielleicht nie erfahren. Aber ich wollte dir das sagen, schon viel früher, ich hab mich nicht getraut, weil ich dachte, daß du dann sauer bist.«
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»Aha, du meinst, ich brülle jetzt Hurra und freue mich fürchterlich?« Karen erwiderte nichts. »Bist du jetzt sehr sauer?« fragte sie dann. »Ach, ich weiß es auch nicht genau.« »Du, wir könnten zu meiner Tante nach Sarnen gehen. Da finden sie uns nie.« »In der Schweiz?« »Ja, habe ich dir doch mal erzählt. Die ist in Ordnung, die Tante.« »Aber ich warte nicht bis Juli oder so. Ich haue heute ab. Heute abend. Ich halte das nicht mehr aus.« Karen überlegte. »Würdest du mich denn abholen? Nicht erst im Juli, nächsten Monat schon. Ben, wir brauchen das Geld, ich kann nicht unterwegs auf den Strich gehen.« »Nein, das geht nicht, ich mag das auch nicht, wenn du auf den Strich gehst. Ich hole dich ab.« »Aber du darfst dich nicht vorher erwischen lassen.« »Diesmal bin ich schlauer.« »Wo willst du denn so lange bleiben?« »Irgendwo. Ich habe einfach die Schnauze voll, es ist alles so verlogen hier, es ist dreckig, es ist... ich weiß auch nicht, was es ist.« »Aber Ben. Du kannst nichts dagegen tun.« Karen streichelte meine Schulter. »Doch, du sagst es doch selbst. Abhauen. Je eher, desto besser. Deshalb gehe ich schon heute.« »Ich gebe dir Geld mit.« »Das brauchst du nicht, dann dauert es wieder länger mit den tausend Mark.« »Ach wo, so genau kommt es nun auch nicht darauf an.« »Tausend Mark, das ist viel Geld.« »Wie man's nimmt. Sag mal, hast du mich denn noch lieb, ein bißchen?« »Ich glaub schon.« -2 2 4 -
»Du liegst auf meinem Schlüpfer.« »Brauchst du ihn jetzt?« »Nein.« Im Wäldchen traf ich Fred, gerade als ich wieder weg wollte. »Eh, Ben. Schon lange hier oben?« »Nee, nur was geholt. War bis eben mit Karen am See.« »Ah so, habe jetzt auch Feierabend. Mal sehen, ob ich am Fenster noch was losmachen kann.« »Na denn, tschüs.« »Willst du jetzt noch mal runter, zum Baden?« »Nee, türmen.« »Wie? Jetzt? Sofort?« »Und?« »Moment, warte mal«, Fred dachte nach, sehr kurz. »Ich komme mit«, sagte er dann. »Ich werd mich nur von meiner Mieze verabschieden, damit sie sich keine Sorgen macht.« »Beeil dich, ist gleich sieben. Um acht wird es dunkel.« Ich setzte in die Büsche und rauchte eine Zigarette. Dann kam er. »Habe noch gut dreißig Mark, wir fahren mit dem Zug.« »Sicher. Aber mit'm Güterzug, das kostet nichts. Ich kenne da eine Stelle, wo man aufspringen kann.« »Auf'n Zug? Aufspringen?« »Ja. Ist doch nichts dabei, du kannst fast nebenhergehen, läufst eben ein bißchen flott und jupp! bist du drauf. Immer noch besser, als dass uns auf dem Bahnhof ein Bulle erwischt. Hier in der Stadt haben sie einen Riecher dafür, weißt du ja selbst.« »Wo ist das?« »Hinter Kohle & Co.« »Mensch, da müssen wir ja durch die ganze Stadt latschen!« »Wir gehen am Fluß lang, das ist kürzer.« »Wir könnten doch ein Taxi nehmen, hinterm Stadion stehen immer welche. Ich habe den ganzen Tag malocht, ich habe keine Lust mehr zum Laufen.« -2 2 5 -
»Dann kannst du nicht abhauen.« »Na gut«, Fred hatte eine Weile geschwiegen, »im Ernstfall geht es wohl noch. Ich meine, ich bezahle das Taxi. Der braucht uns ja nicht bis an den Zug zu bringen, wir lassen uns an einer Straße absetzen.« Kurze Zeit später setzte uns ein Taxi an der Bundesstraße ab, an dem Stück, das ich damals hatte vom Bahndamm aus sehen können. Bis zum Feldweg, der zum Bahndamm führte, waren es noch gut zweihundert Meter. »Na siehst du, so geht das viel einfacher«, sagte Fred. »Schon möglich.« Ein Streifenwagen überholte uns. Einer der Bullen guckte herüber, doch der Wagen fuhr weiter. »Ist es da drüben?« »Ja. Wir können aber nicht quer über den Acker, wir nehmen den Feldweg da vorne, und wenn wir unter der Unterführung durch sind, dann gehen wir auf der anderen Bahndammseite wieder ein Stück in Richtung Stadt, da ist eine gute Stelle zum Aufspringen. Hast du eben die Bullen gesehen?« »Logisch. Aber die wollen nichts von uns.« »Noch nicht. Jetzt biegen sie dort hinten rechts ein.« »Das ist ihre Route, Stadtgrenze, sie fahren im Bogen wieder zurück.« »Ich weiß nicht«, ich hatte so ein komisches Gefühl, »vielleicht warten sie, bis wir dort vorbeikommen.« »Nee. Du siehst Gespenster. Komm, wir müssen hier sowieso abbiegen.« Wir überquerten die Bundesstraße und bogen in den Feldweg ein. Wenn sie jetzt dort hinten stehen und auf uns warten, dann sehen sie uns, dachte ich, bis zum Bahndamm sind es gut dreihundert Meter, wenn sie schlau sind, dann warten sie, bis wir den halben Weg zurückgelegt haben, und dann kommen
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sie, dann sind wir mitten im Feld, wie auf einem Teller. »Mensch, Ben, ich bin noch nie auf'n Zug aufgesprungen.« »Du lernst es.« Wir legten fast die Hälfte des Weges zurück, als ich mich vergewissernd umschaute. Der Streifenwagen blinkte und bog in den Feldweg ein. »Fred! Sie kommen! Hau ab!!« Ich ließ ihn einfach stehen, sprang über einen Graben und rannte über das Feld, durch fast kniehohen Roggen. Ich hörte das Auto, wie es bremste, wie Türen schlugen. »Halt! Haaalt! Stehenbleiben! Stehenbleibaään!« Den Teufel werde ich tun! Ich werde solange rennen, bis ich umfalle! »Stehenbleibaään!« Es knallte. Kurz und hell. Dann noch einmal. Etwas zupfte an meinem Hemd. Schießen tun die! Die schießen tatsächlich! Ich blickte mich um. Fred stand ein ganzes Stück hinter mir im Feld und hielt die Arme in den Himmel. Wie eine jauchzende Vogelscheuche. Ein Bulle lief auf ihn zu. Ein anderer kniete neben dem Wagen, hatte einen Arm quer vor dem Gesicht. »Peng!... Peng! Peng!« Schlecht. Ich merke nichts. Hauptsache, er trifft nicht meine Beine, ich werde dann sicher nicht mehr laufen können. Nicht mal die Kugeln höre ich. Ich lief langsamer. Der Streifenwagen war jetzt weit hinter mir. Fred mußte einsteigen. Hätte ich bloß nicht auf ihn gehört. Warum rennt er noch auf dem Weg lang, warum guckt er erst, ob sie auch wirklich kommen. Da hinten kommt noch ein Bullenauto. Und andere. Das können Zivilisten sein, die sehen das von der Straße aus und sind neugierig. Dabei geht es niemanden etwas an. Ich hatte den Bahndamm erreicht und kletterte durch das Gestrüpp nach oben. Wenn jetzt ein Zug kommen würde! An dieser Stelle ist er schon wieder schneller, egal, ich werde es trotzdem versuchen,
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wenn ich den Willen habe, dann klappt es auch. Sie dürfen mich nicht schnappen! Ich war auf dem Damm und stolperte über die Geleise. Auf der anderen Seite standen auch zwei Streifenwagen. Drei Bullen kamen über das Feld. Ich werde es nicht schaffen. ACHTER DEZEMBER, ABENDS. Am Bett standen zwei Ärzte. Holberg sah ihre weißen Umrisse verschwommen, dann klar. Es waren ein Arzt und eine Schwester, Elisabeth. Er fühlte, wie sie seinen Arm zurechtrückte, wie der Arzt ihm eine Spritze gab. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt. Holberg brauchte einen Moment, ehe er antworten konnte. »Es geht mir gut«, sagte er langsam. »Sie werden es schon schaffen«, der Arzt wischte seinen Arm ab, legte ihn quer auf die Decke. Holberg sah auf die Flaschen an dem Gestell. Tropfen um Tropfen fiel in einen kleinen Trichter, füllte den durchsichtigen Schlauch, der bis zu seinem anderen Arm reichte. Er atmete, es schmerzte. Er merkte, daß man den Schlauch aus der Nase entfernt hatte. »Versuch wieder zu schlafen«, Schwester Elisabeth stand an der anderen Seite des Bettes, »es ist nur eine kleine Krise.« »Ich kann nicht immer schlafen... ich verschlafe mein ganzes Leben«, Holberg mußte eine Pause machen. Schwester Elisabeth trug ein goldenes Kettchen über dem Kittel, an dessen Ende ein kleines Kreuz hing. »Was ist das für ein Kreuz?« »Dies? Ein Kreuz. Ein ganz normales Kreuz. Ich habe es irgendwann einmal geschenkt bekommen... warum fragst du?« »Ich weiß nicht... glaubst du an das Kreuz.«
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»Ich glaube daran«, erwiderte sie, »nicht so, wie es sein müßte, aber ich glaube daran. Mach die Augen zu. Wir reden morgen über das, nicht heute.« Sie legte einfach ihre Hand über seine Augen. Sie glaubt daran, dachte Holberg. Jeder glaubt an etwas. Ich weiß nicht, woran ich glaube. Alle sind Schäfchen. Es ist so billig, wenn die Vorhänge zur Seite gezogen werden. Es ist wie Make-up, es halt eine ganze Zeit, dann färbt es ab, man muß nur wischen, der Vaterunserverein, damals, der Vater, der für alle seine Schäfchen Verwendung hatte, Elisabeth soll das Kreuz abmachen, einfach an den Spiegel hängen - abmachen.
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7 HEILIGENSTATT LAG IM MOOR. Es war bedeutend größer als das Landesjugendheim, Heiligenstatt war eine ganze Gegend, rechts von der Bundesstraße oder links, je nach dem von welcher Seite man kam, lag ein hübsches Gebäude, eingebettet in grüne Rasenflächen unter hohen Bäumen. Es sah wie ein herrschaftlicher Gutshof aus. Ein breiter asphaltierter Weg führte von der Bundesstraße dorthin. Am Anfang des Weges befand sich eine große Tafel, ähnlich wie bei Wohnungsbauprojekten, auf der man die ausführenden Firmen nachlesen konnte. Doch soviele Namen waren auf dieser Tafel nicht verzeichnet. Statt dessen befand sich auf der linken Seite ein Kreuz, ein Christenkreuz, und rechts stand: »Vereinigte Christliche Heimstätten - Angeschlossen dem ChristlichPädagogischen Landesverband - Leitung: Pastor Heinrich Ballhausen«. Das war alles. Hinter dem Gutshof, wo die Verwaltung war, begann das Moor, eine weite, mit niedrigen Birken und Büschen bewachsene Landschaft, in die ein mit Schlaglöchern übersäter Weg hineinführte. An einer Seite des Wegs verliefen die Schienen einer Feldbahn. Manchmal zweigte ein anderer Weg ab, zusammen mit einem Schienenstrang, und an jeder Abzweigung konnte man ein Schild lesen wie: »Glaube«, »Hoffnung« oder »Himmelstür«. So waren die Häuser benannt, die weitverstreut im Moor lagen, zu denen der jeweilige Weg hinführte. Nachdem die Bullen mich gestern am Bahndamm geschnappt hatten, war ich die Nacht über in einer Fuchsbauzelle gewesen. Gleich heute morgen waren zwei Erzieher im anstaltseigenen VW mit mir losgefahren. Auf dem Gutshof hatten sie kurz angehalten, einer war reingegangen und einen Augenblick später wieder rausge-kommen. Wir waren weitergefahren, ins Moor hinein. Das Auto schaukelte von Schlagloch zu Schlagloch, war an vielen -2 3 0 -
Abzweigungen vorbeigefahren, der Weg machte jetzt einen scharfen Knick und war zu Ende. Ich las ein Schild: »Nächstenliebe«. Der Beifahrer grinste. Geradeaus liefen die Feldbahnschienen in eine große Baracke. Das Tor war offen. Ich sah einige Loren darin stehen. Das Auto hoppelte über eine Weiche und bog rechts ein. Hier stand eine andere Baracke. Die Fenster waren vergittert. Gegenüber war eine kleinere, bunt angemalt. Auf dem Teerdach stand eine lange Fernsehantenne, die Fenster waren ohne Gitter. In dem Garten vor der bunten Baracke arbeiteten mehrere Jungen. Sie trugen einen grünen Haarschutz auf dem Kopf, ähnlich wie sie früher von Fußballspielern getragen wurden, damit die Haare nicht ins Gesicht fielen. Es war ein gestrickter Rand, durch dessen Mitte sich ebenfalls zwei gestrickte Streifen zogen, einmal von vorne nach hinten und dann von einem Ohr zum anderen. Die Jungen guckten neugierig zu uns herüber. Das Auto fuhr langsam um die große Baracke herum und hielt vor einem Vorbau. Über der Tür war ein sauber gemaltes Schild: »Nächstenliebe«. Wir stiegen aus. Ein Mann kam heraus. »Na, ihr beiden Pißnelken«, sagte er zu den beiden Erziehern, die mich brachten, »wenn ihr kommt, dann gibt's Arbeit, das kenne ich nun schon langsam.« »Tag Schulze! Arbeit macht das Leben süß.« »Aber nicht wenn ich mein Mittagspennerchen mache. Scheiße!« Er warf einen Blick auf mich. »Der Herr segne deinen Eingang«, sagte er. »Wie?« fragte ich. Doch der Mann hatte sich schon wieder abgewandt. »Los, gehn wir rein.« Wir betraten zusammen die Baracke, dann einen -2 3 1 -
Raum, der das Erzieherzimmer sein mußte. Ein großer Schreibtisch, ein Schrank, zwei Stühle und in einer Ecke eine Liege. Der Mann, der Schulze hieß, setzte sich hinter den Schreibtisch, holte unten aus einem Fach eine Thermoskanne heraus, schraubte sie auf und nahm einen langen Schluck. »Ahhh«, er wischte sich den Mund, »wenn man hier nicht hin und wieder 'n vernünftigen Schluck Tee hat, dann geht man vor die Hunde. Mistklima. Wollt ihr auch?« »Nee, laß man«, sagte der eine der Erzieher, »wir müssen noch fahren.« „Auch gut«, Schulze nahm noch einen langen Zug, stellte die Flasche wieder weg. »Dann mal los. Wo ist der Lieferschein? Damit wir das Schriftliche erledigen.« Er holte einen Füllfederhalter aus seiner Jackentasche, schraubte ihn auf, stieß einen Arm in die Luft und peilte über die Feder. Dann sank er in sich zusammen und beugte sich über den Schreibtisch, malte seine Unterschrift auf drei verschiedene Blätter. Ohne meinen Kopf zu drehen, konnte ich deutlich lesen: E. Schulze. »Ich... sage ja, nichts... als... Arbeit«, murrte er während des Unterschreibens und schob die Blätter von sich, wollte einen vierten Bogen unterschreiben. »Den nicht, den behältst du doch selbst.« »Macht nichts. Nun bin ich einmal dabei.« Der Beifahrer faltete die Papiere und steckte sie ein. Sie verabschiedeten sich von Schulze. Ich hörte den Automotor anspringen, wie sie abfuhren. Schulze sah auf seinen Bauch und rieb sein Ohrläppchen. »Rrrroth!« schrie er dann. Ein Junge stürzte ins Zimmer. »Gott zum Gruß!« Schulze deutete mit dem Zeigefinger in meine Richtung, sagte: »Sachen fassen.« Der Junge winkte mit dem Kopf, ich solle ihm folgen. Wir gingen über einen Gang zur Bekleidungskammer.
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»Draußen warten«, sagte er und klappte ein Querbrett in die offene Türfüllung. Ich zog meine eigenen Sachen, die ich während der Fahrt angehabt hatte, aus und nahm das verwaschene Zeug entgegen, daß er mir über die Klappe reichte. Komischer Verein hier, dachte ich, wie ein weihrauchbenebelter Meßdiener glotzt der mich an. Kurze Hosen tragen sie hier. Und bis zum Knie geht die! Viel zu groß, das ist eine für Loom! »Gib mir mal 'ne andere. Die ist zu groß.« »Du kriegst einen Gürtel, und dann paßt sie.« »Wie?« Der Junge erwiderte nichts und warf mir einen Gürtel über die Klappe. Ich warf die Hose zurück. »Eine andere!« »Sind keine da. Du mußt schon nehmen, was ich dir gebe.« »Du brauchst was auf die Fresse, wir werden sehen!« Ich tauchte unter der Klappe hindurch, er wich bis an die Wand zurück. »Bleib draußen, bleib draußen«, sagte er schnell und wütend, griff in ein Regal und warf mir eine andere Hose zu, »hier hast du eine.« »Feigling!« »Wer hier wem was auf die Fresse haut, das merkst du schon noch.« »Du auf keinen Fall, du Blödmann! Paß auf, daß ich nicht noch mal reinkomme, bist wohl 'n Reserveerzieher, was?« Schulze kam. Ich nahm meine Bettwäsche, folgte ihm durch einen Tagesraum, durch einen Waschraum, durch ein Klo in einen Schlafsaal, der wie ein Lagerraum für Betten aussah. Übereinander, nebeneinander, lang, quer, es gab nur Betten. Die Bezüge und die Decken lagen wie gemeißelt auf den Gestellen. Schulze ging suchend durch die schmalen Gassen und kratzte sich den Hinterkopf. »Rrrroth!« Als dieser angewieselt kam: »Ein Bett!« Der Junge brachte ein Feldbett, ein aufklappbares Holzgestell, dazwischen eine Segeltuchplane. Er schob es in eine Lücke zwischen anderen Betten. -2 3 3 -
»Ausziehen«, sagte Schulze zu mir, »und Nachthemd an.« Er untersuchte die eine Tasche meiner Hose, nahm meine angebrochene Zigarettenpackung und mein Feuerzeug heraus. »Geraucht wird bei uns nicht im Schlafsaal. Wie alt bist du?« »Ich werde sechzehn«, erwiderte ich und dachte daran, daß ich Hunger hatte. »Dann wird bei uns gar nicht geraucht«, klärte er mich auf, steckte sich eine Zigarette aus meiner Packung an, hustete, »und schon gar nicht so ein Kraut. Halte dir unseren Herrn Heiland vor Augen, der hat sein ganzes Leben lang nicht geraucht. Deine Sachen, komm mit, die werden hier in den Waschraum gehängt. Vor jedem Zubettgehen. Heute und morgen bleibst du im Bett. Übermorgen geht es raus zur Arbeit. Gute Nacht in Jesu!« Er wollte gehen. »Ich habe Hunger, Herr Schulze!« »Waas?« fragte er verblüfft. »Dir ham'se wohl ins Gehirn geschissen, was!?« Ich fragte mich, was daran so ungewöhnlich war. Ich hatte kein Mittagessen gehabt, jetzt war es Nachmittag. »Ich bin Bruder Schulze, verstehste! Herren gibt's bei uns nicht! Ich bin dein Bruder, Kerl! Alle Menschen sind Brüder vor dem Herrn, merk dir das! Wenn du mich noch einmal mit >Herr< anquatschst, entziehe ich dir für einen Tag das Rauchen«, er stockte, »du darfst ja noch nicht rauchen«, überlegte er laut, »na, ich werde schon was finden! Und zu Essen kriegst du heute abend was. Bei uns ist noch keiner verhungert! Gute Nacht in Jesu!« Er schlurfte durch die Bettgassen davon. Ich hörte, wie die Tür abgeschlossen wurde. Mein Bruder ist das, dachte ich. Wo bin ich hier bloß? Jesus läßt grüßen, Gott läßt grüßen. Es wird mir hier sicher nicht gefallen. Ich baute mein Feldbett. Dann ging ich zu der offenen Fensterreihe, sah nach draußen. Ich sah gegenüber den Lorenschuppen ein Stück der bunten Baracke und den Weg, der vor dem Schuppen abbog.
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Die Gitter vor den Fenstern waren nicht sehr dick, sie waren von außen angeschraubt, doch mit bloßen Händen konnte man da nichts machen. Ich ging zu der anderen Fensterfront. Hier war ein festgestampfter Platz, er zog sich an der ganzen Barackenseite entlang, an dieser Seite war auch der Eingang, wo das Auto gehalten hatte. Hinter dem Platz war eine Wiese, die langsam von einer Ziege aufgefressen wurde. Hinter der Wiese war eine mannshohe Wand von Buschwerk, dort begann das Moor, das das ganze Anwesen wie eine Insel erscheinen ließ. Es war heiß. Die Luft flimmerte. Ich fragte mich, wie es die Ziege mit ihrem Fell überhaupt aushallen konnte. Sie war mit einer langen Leine an einen Pflock angebunden und fraß. Wie eine Maschine. Linker Vorderfuß... ein paarmal rupfen... rechtes Hinterbein... ein paarmal rupfen... rechter Vorderfuß... rupfen ... linkes Hinterbein... rupfen, sie nahm anscheinend zuerst immer das Beste vom Gras, immer um den Pflock herum, beim nächsten Rundgang wieder das Beste, beim nächsten auch und immer so weiter. Bis alles kahl war. Oder sie fraß zuerst das schlechte Gras und sparte sich das beste bis zum Schluß auf. Kenn sich einer mit Ziegen aus. Ich suchte die Toilette. Sie befand sich an der rückwärtigen Wand des.Schlafsaals. Es war ein kleiner Raum, eine Kabine. In einer Ecke war ein Eisenbecken zum Sitzen auf den Boden geschraubt, daneben eins zum Stehen an der Holzwand, daneben eins zum Trinken. Das Wasser aus dem Hahn war braun. Es schmeckte nicht wie Wasser. Die Fensterflügel waren hier ausgehängt, aber es stank dennoch wie in einem Klo, wie in einem schlechten. Mein Bett stand mit dem Kopfende an einer Bretterwand, die sich freistehend in einer Höhe von zwei Metern durch den ganzen Saal zog. Ich sprang an den oberen Rand und zog mich so weit hoch, dass ich hinübersehen konnte, doch die Betten standen dort genauso, wie an dieser Seite. Warum gucke ich rüber, wenn ich weiß, wie es aussieht. Die andere Seite war die Ziegenfensterfrontseite, die kannte ich. -2 3 5 -
Ich legte mich ins Bett, starrte an die gelbe Bretterdecke und dachte daran, daß ich hier weg wollte. Dabei war ich erst zwei Stunden hier. Oder drei Stunden? Ich wußte es nicht. Ich hatte keine Uhr. »... im Stiiillen, hallihallo, heiße Tränen weiiiinen, wenn ich aaan die Aaaabschiedsstunde denk!« »Großer Vater!« »Großer Va-ha-ta, der du bist dort droooben, laß mein Fle-hehen, niiicht vergeeebens sein...« Da sangen tatsächlich welche. Ich träumte gar nicht. Ich rieb mir die Augen und sprang aus dem Bett. Vom Lorenschuppen her kam eine Kolonne Jungen, in Dreierreihen, im Gleichschritt, ihre Füße stampften dumpfen Takt. Ich lief zur anderen Fensterseite, doch ich konnte sie nicht sehen, der Eingang lag vorne und der Schlafsaal hinten. Ich hörte sie nur singen und stampfen. Dann eine Stimme: »Abteiluuuuung... Halt!« Ein Knall ertönte. Stille. Dann Stimmen. Ich hörte die Jungen einrücken. Ich legte mich wieder hin. Wenn die abends noch zum Singen aufgelegt Waren, dann schien das hier doch nicht so schlecht zu sein. Aber >Bruder< sagen, zu einem Erzieher! Ekelhaft! Der Schulze rief einen ja auch nur beim Nachnamen. Sonst hätte er vorhin >Bruder Roth< rufen müssen. Oder >Bruder Holberg<. Im Vorderteil der Baracke rumorte es. Etwas später wurde die Schlafsaaltür aufgeschlossen. Schulze kam. Hinter ihm ein Junge mit einem Tablett, auf dem bestrichene Brote lagen, ein Apfel und ein Becher Kaffee stand. Der Junge stellte das Tablett auf den Boden, es gab im Schlafsaal keinen Stuhl. »Möge es dir munden«, knurrte Schulze. Ich war wieder allein. Eine Scheibe mit Honig, eine mit harter Mettwurst und zwei mit grauer Streichwurst. Ich strich sie an einem Gitterstab ab und klappte die Brotscheiben zusammen, dachte, daß das Essen -2 3 6 -
ganz gut war, dafür daß ich im Bett liegen konnte, daß Schulze eine kleine Meise haben mußte, vielleicht hatte er auch eine Kopfverletzung aus dem Krieg. Nicht mal eine Zigarette habe ich jetzt. Die Tür wurde wieder aufgeschlossen. Ein anderer Erzieher tauchte zwischen den Betten auf, er kam ganz langsam. Ich sah, daß er Breeches trug, Reitstiefel und in der Hand eine Reitpeitsche. Sieh an! Pferde haben sie hier auch. Er blieb am Bettfußende stehen. »Gott segne deinen Eingang«, sagte er, »ich hoffe, es hat dir geschmecket.« »Es geht«, erwiderte ich und dachte: Der redet wie einer aus dem Mittelalter. »Ich«, fuhr der Reitstiefelmann fort, »bin Elias, Oberbruder Elias. Du darfst mich schlicht Oberbruder nennen. Und wer bist du?« »Bruder Holberg«, sagte ich, »aus Göttingen.« Er legte die Stirn in Falten. »Nun ja, wir werden uns noch näher kennenlernen. Ich bin für die Nächstenliebe verantwortlich, und ich hoffe, es wird dir hier ebensogut gefallen, wie all den anderen, die bei uns sind. Die Menschen sollen sich lieben, so spricht der Herr, und hier lieben sich alle, verstehst du das, mein Sohn?« Ich zuckte die Schultern und sah ihn mißtrauisch an. Die Breeches spannten sich stramm um seinen Bauch, obwohl er nicht dick war. Sein Hals im offenen Hemdausschnitt war faltig, wenn er schluckte, rollte sein Adamsapfel unter der Haut auf und ab. Die Nase über dem schmalen Mund stach etwas vor, sie hatte oben zwei rote Druckstellen. Er mußte eine Brille tragen, vielleicht eine Sonnenbrille. Die Haare auf seinem Kopf waren von einem Ohr quer zum anderen gekämmt, wie Fäden, durch die man die Kopfhaut sehen konnte. Ich fand, daß der Oberbruderkopf etwas klein sei im Vergleich mit der massigen Gestalt. »Nun, du wirst dich in unsere Gemeinschaft einleben, du wirst mich lieben lernen, nur so können sich die Menschen gegenseitig verstehen, denn diese gegenseitige Liebe ist mit Freude verbunden, Freude, die man sich bereiten soll, die den -2 3 7 -
grauen Alltag nicht als solchen erscheinen läßt, sondern einen freuddurchwebten Sonntag aus ihm macht, dessen Gestaltung wir dir als deine Brüder am besten zu vermitteln vermögen, du kannst mir folgen, ja?« Ich nickte schwach, wußte vor lauter »Liebe« und »Freude« gar nicht, was er eigentlich von mir wollte. »Wunderbar«, sagte der Oberbruder, »ich liebe intelligente Menschen.« Er starrte versonnen aus den Fenstern, wobei er auf den Reitstiefelspitzen wippte und fortwährend mit der Ledergerte gegen einen Schaft schlug. »Morgen sei dir noch ein Tage der Ruhe, der geistigen Sammlung gegeben, und übermorgen wirst du dann frisch, fromm, fröhlich, frei dein Tagwerk beginnen.« Der Junge holte das leere Tablett ab. Der Oberbruder sah mich eine Weile lang an und ich ihn. »Der Herr segne deine Ruhe«, wünschte er mir und ging. Es war etwa neun Uhr, als sich der Schlafsaal füllte. Ich zählte die auf nackten Beinen hereinspazierenden Nachthemden, die Bruder Schulze an der Tür vorzählte. Zweiundsechzig Stück. Das einundsechzigste erkannte ich sofort. »Mensch, Jürgensen«, sagte ich überrascht. »Heh, Ben! Wie kommst du denn hierher? Wann haben sie dich gebracht?« »Na, so kurz nach Mittag.« »Bist du getürmt? Ich meine, ist es deshalb?« Ich überlegte. »Ich glaube schon. Sie haben mich erwischt und gleich am anderen Tag, also heute, hierher gebracht. Ich dachte, du wärst in Schweden bei deiner Mutter?« »Dachte ich auch. Siehst ja, wo ich gelandet bin.« Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. »Das ist der letzte Laden hier, Ben. Wenn ich das nächste Mal rauskomme, dann werde ich erstmal eine Kirche anzünden oder so, als kleine Entschädigung. Für die Freude, die sie mir hier bereitet haben.« Jürgensen blickte sich unauffällig um. Die Jungen in den nebenanliegenden Betten redeten ebenfalls leise miteinander. »Abhauen liegt hier überhaupt nicht drin«, flüsterte Jürgensen, »das Scheißmoor, weißt du. Der einzig sichere Weg ist der -2 3 8 -
Hauptweg, auf dem sie einen herbringen. Aber bis du an der Straße bist, haben sie dich wieder, ich glaube, das sind bald zehn Kilometer. Du hast doch diese Binden gesehen, die sie auf dem Kopf tragen...«. »Ich habe eine rote gekriegt. Das soll ein Haarschutz sein.« »Ach Quatsch, die müssen wir aufsetzen, damit sie uns unterscheiden können. Jeder Neue kriegt eine rote Binde oder die, denen sie nicht über'n Weg trauen. Die grünen Binden, das sind die, die hier den Laden saubermachen, die bei Elias im Garten arbeiten, draußen in der Kolonne sind natürlich auch welche. Die passen mit auf die Roten auf. Und die Weißbinden, das sind die schlimmsten, das sind die Vertrauensleute, die Geläuterten, weißt du, die passen auf die Grünen auf, daß die richtig auf die Roten aufpassen. Aber wenn wirklich mal einer von den Roten türmt, dann rennen beide hinterher, die Grünen und die Weißen. Aber nicht so, wie wir das kennen. Die kommen tatsächlich hinterher. Weil sie einen Tag nicht rauchen dürfen, wenn einer abhaut, wenn der das schafft. Und die Drecksau von Oberbruder leitet die ganze Aktion...« »Hab ich mir gedacht. Mit'm Pferd.« »Wieso mit'm Pferd?« »Na ja, hat er keins?« »Nee. Du meinst, weil er immer in der Kluft rumläuft. Die trägt er nur zur Schau. Der hat noch nie im Leben geritten, höchstens auf seiner Alten, aber nicht aufm Pferd. Die Breeches sind ganz neu, ich meine, sie sind nicht ein bißchen abgewetzt. Ich weiß, wie die Hosen dann aussehen. Und ein richtiger Reiter hat immer ein bißchen O-Beine und nicht solche Kackstelzen wie der, bei dem gehen die Knie ja nach innen. Einen alten VW hat er, so ein Nachkriegsmodell, mit der Sprosse im Heckfenster. Die Mühle muß von den Weißbinden angeschoben werden, wenn er mal wegfährt, weil die Batterien alle sind.« »Ich werde hier trotzdem abhauen«, sagte ich leise. »Du wirst dich wundern. Wenn sie den wieder schnappen, den, der abgehauen ist, dann gibt's einen Arschvoll. Dann beugen sie -2 3 9 -
vor, damit er's nicht nochmal versucht, weil sie doch dann nicht rauchen dürfen. Und wenn er von den Bullen geschnappt wird und die bringen ihn zurück, dann gibt's auch was auf die Schnauze. Dann durften sie ja nicht rauchen...« »Wer haut denn?« »Nicht der Oberbruder. Das ist nur das Vorspiel, was der macht. Die Weißbinden kommen abends mit zwanzig Mann hoch, da kannst du nichts machen. Kannst dir ja vorstellen, wie sauer die sind. Die haben den ganzen Tag malocht, und nur weil irgendeiner türmt, dürfen sie nicht rauchen. Rauchen ist sowieso erst ab Mittag erlaubt, wird alles eingeschlossen, Tabak und so, Feuer hat niemand, das gibt dann ein Bruder.« Draußen begann eine Glocke zu bimmeln. Die Töne waren dünn und hoch. »Jetzt muß absolute Ruhe herrschen, das Läuten soll zur Besinnung rufen, zur inneren Sammlung. Morgens scheuchen sie dich mit dem Mistding aus dem Bett. Ich haue mich hin. Ist jedenfalls gut, daß du hier bist, jetzt kann ich wenigstens mal quatschen. Tschüs.« Jürgensen verschwand zwischen den Betten. Es war totenstill im Schlafsaal. Die Glocke bimmelte. Sie fing gerade an. Die Jungen sprangen aus den Betten. Heute sprang ich mit. Der Oberbruder hatte mir gestern noch mal Bescheid geben lassen, dass mein Tagwerk heute zu beginnen hätte. Als das Geschepper aufhörte, war jeder mit Bettenbauen fertig. Einige zupften noch hier und da ein Fältchen weg. Das Läuten schien genau nach dem Bettenbauen berechnet oder das Bauen nach dem Läuten. Ich war der Letzte. Wie gestern wurde mit dem Verstummen der Glocke die Tür aufgeschlossen. »Guten Morgen, Bruder Matthes!« sagten ein paar Eifrige im Chor. »Ich wünsche einen gesegneten Tagesanfang«, sagte der Bruder, ein langer, hagerer Mann. Er kam mit einer Latte in den Saal, ging durch die Bettreihen und stieß die Latte bei jedem Schritt auf den Holzfußboden, als wolle er was verkünden. -2 4 0 -
Manchmal blieb er stehen, legte die Latte prüfend auf einen Bettbezug, nickte, ging weiter. Jetzt war er an meinem Bett, legte die Latte auf den Bezug. »Dein Bett, Sündiger«, sagte er, »ist nicht sachgemäß gerichtet!« Er faßte ein Lakenende und stülpte alles über. »Es mag zu deiner Entschuldigung dienen, daß du erst vor Stunden zu unserer Gemeinschaft gestoßen bist. Du siehst diese Striche auf meinem Stab?« Er hielt mir die Latte unter die Nase. Ich nickte. »Nun, so merke, ein Strich gleich zwei Doppelkaros, zwei Strich gleich vier Doppelkaros, und so weiter. Dieser rote Strich hier auf der unteren Hälfte ist gleich vierzig Doppelkaros quer zum Bett, und dieser hier am Ende ist gleich hundertundvierzig Doppelkaros lang zum Bett. Schon diese meine erste Messung hat ergeben, daß du mit ca. einhundertzwanzig Doppelkaros nicht genügend Sorgfalt verwandt hast!« Er sah mich betrübt an und ging weiter. »Dein Bett, Lehmann«, hörte ich ihn etwas entfernt sagen, »ist miserabel. Der rechte Winkel deiner Decken ist heute schlecht!« Ich drehte mich um und sah, wie der Bruder ein anderes Bett aufriß. Ich begann von vorn, da ich mich bei den Doppelkaros verzählt hatte. »Du mußt dir 'n Faden oder ein anderes Zeichen ans Laken machen«, mein Nebenmann gab mir einen Tip, »aber so, daß er's nicht merkt.« Ich nickte und begann erneut zu zählen. Bei den Endmaßen biß ich ein Stückchen Stoff aus dem Bezug, die anderen waren bereits im Waschraum. Mist, dachte ich, Mist, alles Mist. Wenn ich jeden Monat einen anderen Bezug bekam, hm, über den Daumen wären das dann bei sechzig Mann sechzig Monate, gleich fünf Jahre, für jedes Bett zwei Bezüge, in zehn Jahren habe ich dann jeden Bezug angebissen. Wenn ich immer einen anderen kriege. Oder nicht? Ist mir auch egal. Ich bleibe keine zehn Jahre hier, das steht fest. Ich ging in den Waschraum, in dem Bruder Schulze in einer Ecke stand, in der Hand eine Tube Zahnpasta. Die letzten -2 4 1 -
Jungen gingen an ihm vorbei und hielten ihm die Zahnbürsten hin. Schulze drückte auf jede ein erbsengroßes Stück Pasta. »Das reicht nicht«, sagte ich. »Nimm und putz!« erwiderte er. »Wie soll ich mir mit so einem kleinen Stück die Zähne putzen, wo es doch nur Kalk ist!« »Mein lieber Holberg«, sagte Schulze ein wenig schärfer, »wenn du mal bedenken würdest, wieviele indische Kinder sich nicht die Zähne putzen können und daß unser Herr Jesu ohne Zahnpasta dennoch ein strahlendes Gebiß hatte, wenn du weiter bedenkst, daß ich auch keine Zahnpasta benötige, dann wirst du mit der dir zugeteilten Menge zufrieden sein.« Ich blickte ihn ohnmächtig an. »Sie«, erwiderte ich, »Sie haben auch nur noch zwei Zähne!« Das stimmte. Wenn er den Mund aufmachte, dann konnte man die Zähne sehen, zwei kleine braune Pfeiler, unten links. »Du bist wohl ganz und gar von Gott verlassen, was!? Noch eine solche Äußerung und ich melde dich dem Oberbruder zur Bestrafung!« Seine Stimme tönte durch den Waschraum. Außer Wasserplätschern war es still. Ich drehte mich um und ging weg. Nach dem Frühstück, das aus zwei Scheiben Brot mit Marmelade bestand, wurde sofort zur Arbeit ausgerückt. Ich zog meine Botten an. Das waren Holzschuhe, an deren Rand ein zerknautschter Lederschaft genagelt worden war, von weitem sahen die Botten wie Knobelbecher aus, wie sie die Soldaten trugen. Ich suchte in dem Gedränge meine Jacke, fand sie, zog sie an. Wir mochten etwa fünfzig Mann sein, rückten auf den Hof aus und stellten uns in Dreierreihe auf. Ich stand in der mittleren Reihe, ich meinte, dort am besten zu stehen. Von der bunten Baracke her näherte sich Oberbruder Elias mit elastischen Schritten, mit Gerte und Stiefeln. Er ging die erste Reihe ab, wieder zurück und blieb in der Mitte stehen. »Morgen Jungs«, sagte er dann, ganz normal und ohne Segen. »Guten Morgen Oberbruder Elias!!« schallte es im Chor. -2 4 2 -
»Gut geschlafen?« »Jawoll!!« »Gut gefrühstückt?« »Jawoll!!« »Zufrieden?« »Jawoll!!« Während Elias fragte, wippte er andauernd auf den Stiefelspitzen und klopfte mit der Gerte auf einen Stiefelschaft. Da ich in der mittleren Reihe stand, hatte ich mich des Jawolls enthalten. Gut geschlafen hatte ich nicht. Die Plane meines Feldbettes war ausgeleiert, sie hing über der Mittelstrebe des Gestells. Die Mittelstrebe drückte in meinen Rücken. Ich hatte mich auf die Seite gedreht, so konnte man länger liegen, doch es reichte nicht zum Einschlafen. Ich hatte mich nach oben geschoben und zusammengekrümmt, damit mein Kopf nicht über die Kante hing, doch das war auch keine Lösung gewesen. Ich war erst gegen Morgen eingeschlafen. Die anderen Feldbetten im Saal waren nicht besser. Man konnte richtig die Strebe und die beiden Kuhlen erkennen, unter den Bezügen. Zwei Scheiben Brot könnte ich auch noch vertragen. Wie sollte man da zufrieden sein! Und überhaupt. Blöde Fragerei. »Ist unser Holberg denn heute auch dabei?« »Ja«, sagte ein anderer. »Wo?« »Hier.«, sagte mein Nebenmann. »Ah, dort in der Mitte.« Elias ging um die Reihen herum, die sich mit ihm drehten. Er stand jetzt auf der anderen Seite und sah mich durch eine Lücke hindurch an. »Ich hoffe, du hast dich für den täglichen Lebenskampf gesammelt, mein lieber Holberg. Nicht jedem ist es gegeben, in freier Natur so zu schaffen, wie wir es tun, nicht wahr, Jungs?« »Jawoll!« erwiderte der Chor.
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Oberbruder Elias nickte, wohlwollend lächelnd, ging wieder auf die andere Seite. Der Haufen schwenkte um hundertachtzig Grad. »Können wir singen?« »Jawoll!!« »Gut, Anreiten.« »Abteiluuung... rechts um!« Das war eine Weißbinde, die da kommandierte. »Im Gleichschtriiiitt... marrrsch!« Ich wandte mich fluchend um, weil mir der Hintermann auf den Holzschuhrand trat. »Letztes Glied... ein Lied!« »Die blauen Dragoooner, sie reiteeen..., drei, vier!« Die Kolonne stampfte singend zur Barackenecke, schwenkte abgezirkelt nach rechts zum Lorenschuppen hin. Bis nach dort waren es etwa fünfzig Meter. Das erste Glied blieb vor den Geleisen stehen, stampfte auf der Stelle weiter, bis alle aufgerückt waren, das gleiche taten. Der dritte Vers begann, während zwei Jungen die Loren aus dem Schuppen holten. »Wunderbar«, sagte Oberbruder Elias laut, als das Lied zu Ende war und wir weiter mit den Füßen auf den Boden stampften, »Singen macht froh, ich seh's euch an, Jungs, ihr wollt natürlich noch eins singen. Ja, ja, singe, wem Gesang gegeben!« Ich sah in die verdrossenen Gesichter ringsum. »Na ja, meinetwegen, Jungs!« tönte Elias. Prompt war aus der letzten Reihe zu hören: »Das Liiiieben bringt gro-hoß Freud... drei, vier!« Mein Nebenmann sang mit knirschenden Zähnen, es wunderte mich, wie er das konnte. Ich sang nicht. Ich kannte die Verse nicht, ich hatte auch keine Lust zum Singen. Oberbruder Elias stand an der ersten Lore, und ihm war anzusehen, daß ihm unser Singen Freude bereitete. »Abteiluuuung... Halt!« Es krachte. Stille. Irgendwo in den Büschen trillerte ein Vogel. »Holberg«, sagte Oberbruder Elias, »erinnere mich heute abend daran, daß ich dir die Liedertexte gebe, ich kann dein
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betrübtes Gesicht nur allzugut verstehen. Solche Lieder möchte man mitsingen! Anreiten!« Die Jungen verteilten sich gleichmäßig auf die drei Loren. Die Loren hatten rings um die Plattform ein Holzgeländer. In der Mitte des Lorenbodens befand sich ein Gestell, mit einem Eisenarm an beiden Seiten. Der Arm hatte eine Querstange, wie ein >T<, an dieser Querstange konnten vier Mann mit einer Hand anfassen und pumpen. Unter dem Lorenboden befand sich ein Gestänge, über das ein Schwungrad in Bewe gung gesetzt wurde, das an einer Achse angebracht war. Wie eine Draisine aus dem Wilden Westen. »Mir nach!« brüllte der Oberbruder und machte mit dem Arm eine weitausholende Handbewegung. »Abstände einhalten!« Blöd, dachte ich, er tut so, als ob die Loren woanders hinfahren könnten. Ich pumpte in einem Viermannglied. Die Fahrt ging ein ganzes Stück den Hauptweg entlang, dann kam eine Abzweigung. Die erste Lore, auf der der Oberbruder stand verlangsamte ihre Fahrt. Ein Junge sprang ab und legte eine Weiche um. Die Fahrt ging weiter. An einem großen Torffeld wurde angehalten. Ganz normal und ohne Gesang gingen wir quer über den weichen Boden zu einem Förderband, das am Anfang des Feldes stand. Es war ein riesiges Band, es reichte über die ganze Breite des Feldes und lief auf Bohlenketten, damit es nicht im Boden einsackte. Ein Mann in einer Monteursjacke stand oben auf dem Band, auf einer Plattform. »Und nun frisch, fromm, fröhlich, frei!« rief Oberbruder Elias und kletterte eine eiserne Steigleiter hoch, zu dem Monteur. »Holberg auf die linke Seite vor die Kette!« Die Jungen verteilten sich vor dem Band, das langsam anruckte. Auf dem Feld standen Torfstapel, soweit man sehen konnte, immer zu zehn Stück. Die mußte man aufheben und auf das Förderband werfen. Wenn man es geschickt machte, mit beiden Händen unter den Stapel faßte und aus den Knie Schwung mitnahm, dann schaffte man alle zehn Stücke auf einmal. -2 4 5 -
Bücken, anheben, Seitenschwung, umdrehen, werfen. Die Raupenketten standen ein ganzes Stück vor dem Band, wer vor der Kette arbeitete, befand sich drei bis vier Schritte vor den anderen Jungen und mußte bedeutend weiter werfen. Jürgensen arbeitete neben mir vor der Kette, als zweiter Mann. Ich schaute ihm zu, wie er das machte, wie er unter den Torfstapel faßte, die Arme zusammendrückte und somit die Torfstücke einklemmte, wie er sie dann mit einer Körperdrehung auf das Laufband warf. Vor der Raupenkette war es schwieriger, alle zehn Stücke auf einmal zu werfen, meist fielen ein oder zwei Stücke auf die Kette, die man dann schnell hinterherwarf. Die Raupenkette rollte immer dicht hinter unseren Hacken. Ich sah mich dauernd nach ihr um, weil ich das Gefühl hatte, als würde sie jeden Moment drauffahren. Doch das war nur Einbildung. Jürgensen war auf gleicher Hohe wie ich. Manchmal grinste er, wenn ich mich beim Bücken nach der Kette umsah. Trotz des frühen Morgens brannte die Sonne. Es war heiß. Der Schweiß durchfeuchtete das Hemd und zog den feinen Torfstaub an, der sich überall festsetzte und juckte. »Der könnte ruhig mal ein bißchen langsamer fahren.« »Wenn das so weitergehen würde, dann ließe sich das noch aushalten«, erwiderte Jürgensen, »aber der legt immer etwas mehr zu, du merkst das noch, das ist Oberbruderakkord hier. Es fällt deshalb nicht so auf, weil wir langsam anfangen, und dann stellt er die Bandgeschwindigkeit langsam höher, und du bewegst dich automatisch schneller.« »Ich glaube, ich werde hier nicht sehr alt, warum macht niemand was dagegen, das...« »Holberg! Konversation beeinträchtigt deine Freude an der Arbeit, das ist nicht erfreulich für mich, wenn ich weiß, daß es dir keinen Spaß macht!« rief Elias von der Plattform des Förderbandes herunter. Er saß dort oben breitbeinig auf einem Sitz, die Hände auf die Knie gestützt, auf der Nase hatte er eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern. Immer wenn ich mich umdrehte, den Torf nach -2 4 6 -
hinten warf, dann schielte ich nach oben, dorthin, wo er saß. Es geschah wie von selbst, als gehörte dieses Nachobengucken ebenso dazu, wie das Bücken. Und je öfter ich guckte, desto mehr glaubte ich an einen großen Vogel, der da oben saß und mit blanken Augen alles beobachtete, wo sich etwas bewegte, wo jemand sprach, bereit, jeden Augenblick loszufliegen. »Diekmann!« rief er jetzt, »Diekmann, es ist ein Jammer, wenn ich sehe, wieviel Torf du heute morgen daneben wirfst. Guten, braunen Torf. Aromatisches Brennmaterial. Ich glaube, ich werde dir für heute das Rauchen streichen müssen!« Bei den Worten sah er mich an, obwohl ich genau wußte, dass derjenige, der Diekmann hieß, ein ganzes Stück weiter links in der Reihe arbeitete. Doch es war nur die Brille, die mich ansah. Die Augen dahinter hatte er sicher zu Diekmann gedreht. Was war schon dabei, wenn mal ein Stück Torf liegenblieb. Es blieb immer was liegen oder wurde zu weit geworfen, so daß es hinter das Förderband fiel. Hinter dem Band gingen extra drei Weißbinden, um die einzelnen Stücke aufzulesen. Was daran wohl aromatisch war? Torf! Aromatisches Brennmaterial! Braunes Brennmaterial! Möchte wissen, wer heute noch mit Torf heizt! Die Bauern vielleicht, die Waschküche oder so. Machen sie auch nicht. Als Dünger benutzt man ihn vielleicht. Die Stücke werden zermahlen, und der Müll wird in die Stalle gestreut, unters Vieh. Aroma! Jedenfalls nicht vom Torf. Rauchen entziehen! Ha, mir kann er gar nix entziehen. Der Diekmann ist jetzt bestimmt sauer, weil er nicht weiß, ob er nun rauchen darf oder ob nicht, weil der Elias gesagt hat, er glaubt, daß er muß... ganz unverbindlich. »Früüüühstück!« Das Förderband hielt mit einem Ruck. Die Kolonne ging an den Feldrand. Eine Weißbinde gab jedem aus einer mitgenommenen Kiste eine Doppelscheibe Brot mit harter Wurst und einen Blechbecher voll Tee. Zwei Scheiben! Drei Happen waren das, fand ich. Die hätte ich schon heute morgen gebraucht. »Ich wünsche einen gesegneten Appetit!« sagte Oberbruder Elias, dem gar nicht -2 4 7 -
auffiel, daß die meisten schon die letzten Krümel runterspülten. »Esset mäßig, Jungs, es erleichtert die Verdauung, und wie ihr wißt, ist die geregelte Verdauung für das Wohlbefinden des Körpers ausschlaggebend.« Elias nagte geziert an seiner Brotscheibe herum, die er aus einer Butterbrotdose genommen hatte. Ich versuchte ganz nüchtern zu überlegen, ob er verrückt war. Manchmal wurde so was nur durch Zufall festgestellt. Aber dann mußten Schulze und die anderen Brüder auch verrückt sein. Soviel Verrückte auf einem Haufen gab es selten. Das wäre auch sicher aufgefallen, wenn man sie eingestellt hätte. Bei einem oder bei zweien konnte das schon mal passieren oder der Anstaltsleiter -, das mußte es sein! Der war verrückt! Daß ich nicht gleich darauf gekommen bin. Und ein Verrückter stellt nur Verrückte ein, weil er einen Normalen für verrückt hält. Verrückte handeln instinktiv. Wie Tiere. »Hinrichs, du bist ein großes Arschloch«, hatte Bruder Schulze heute morgen zu einem Jungen gesagt, »du sollst meine Thermos-kanne abspülen und nicht ausspülen! Kerl! Was soll ich denn heute trinken! Wenn du das bei unserem Herrn Jesus gemacht hättest, wärst du in' Steinbruch gegangen!« Gesagt? Gebrüllt hatte er, der Schulze. Er tat immer so, als wenn der Jesus hier irgendwo rumschwebte. Ob der Schulze wohl die Bibel kennt? Die Schulzesche Thermosflasche interessiert Jesus sicher nicht. Der Hinrichs arbeitet auch vor der Kette, vor der anderen, obwohl er eine Weißbinde ist. Das hatte er nun davon. Zum Mittagessen rückte die Kolonne ein. Singend und stampfend. Es gab Nudeln mit Backobst, das hieß »Hawaii-Gulasch«. Nach dem Essen verteilte Bruder Schulze mit einem Weißbindenvertrauensmann Tüten, in denen die Rauchwaren eines jeden aufbewahrt wurden. Die Tüten waren im Bruderzimmerschrank eingeschlossen. Die Jungen drehten sich Zigaretten, einige stopften ihre Pfeifen. Schulze stand in der Tages raummitte, in der Hand eine Streichholzschachtel.
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»Na, alles fertig?« fragte er. Er riß ein Streichholz an und hielt es mit angewinkeltem Arm von sich, wie ein Musiklehrer, der einen Ton angibt, er sah auf das brennende Hölzchen. Niemand rührte sich. »Feuer frei!« sagte Schulze. Eine Weißbinde flitzte zu ihm hin, zündete die Zigarette an, ein zweiter die Pfeife, dann ließ Schulze das fast abgebrannte Streichholz fallen und ging in sein Bruderzimmer. Von der Glut der Pfeife und der Zigarette erhielten die nächsten Feuer, dann wieder die nächsten, bis jeder rauchen konnte. Jürgen-sen schob mir eine halbe Zigarette zu. »Paß aber auf, daß es keiner sieht«, flüsterte er. Ich ging auf die Toilette. Als ich wieder herauskam, war ich wie besoffen. Schulze sammelte die Tüten ein, er schaute gar nicht nach, ob auch alles drin war. Es nahm ohnehin niemand etwas heraus. Was sollte man mit Tabak, wenn kein Feuer vorhanden war. Dann ging es wieder raus ins Moor. Der Nachmittag verging schneller als der Vormittag. Als wir wieder ins Lager einrückten, war es kurz vor fünf Uhr. Ich konnte es auf der Oberbruderarmbanduhr sehen, weil ich diesmal auf seiner Lore pumpte. Das Singen klang lauter als am Morgen. Die Kolonne schwenkte nicht nach links, sondern nach rechts um, auf die bunte Baracke zu. An einer Seite waren mehrere Holzbänke und Holztische in den Boden eingegraben. Ich setzte mich so breit wie möglich hin, um das Sitzen voll auszukosten. Es gab Roggenkörnerkaffee, zwei Scheiben Brot mit Marmelade und hundert oder zweihundert Wespen. Vielleicht waren es auch fünfhundert. Niemand wollte sie. Sie wurden von einem zum anderen geschlagen und gepustet. Oberbruder Elias wußte Rat. »Jungs, ihr müßt ganz still sitzen«, rief er aus dem Barackenfenster, »dann tun die Tierchen niemandem was!« Frau Oberbruder Elias kam ein paarmal mit einer großen Kanne heraus und fragte, ob noch jemand Kaffee wolle, ob auch alle richtig satt geworden wären.
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Satt waren alle. Einer rülpste sogar bekräftigend. Kaffee wollte niemand mehr. Frau Oberbruder war eine hagere Frau mit langen Haaren. Die trug sie offen um den Kopf herum, und es sah so aus, als wäre sie gerade dabei gestört worden, sich die Haare zu frisieren. Doch das war nicht so. Sie trug ihre Haare immer so, Ihr Kleid war bunt, es wurde in der Taille mit einem dünnen Ledergürtel zusammengehalten, auf dem lagen ihre Brüste wie zwei runtergerutschte Herbstäpfel. Einer der Jungen, die schon länger hier waren, sagte, daß Frau Oberbruder früher mal sehr fett gewesen war. Frau Oberbruder ging wieder in die Baracke, und Elias fragte uns, ob wir denn noch ein Liedchen singen wollten. Wir sangen im Sitzen »Das Lieben bringt groß Freud«, weil das der Oberbruder so gerne hörte. Und für Frau Oberbruder »Ich bin ein freier Wildbretschütz«. Und für Bruder Schulze, der in der anderen Baracke war, »Im schönsten Wiesengrunde«. Der andere Bruder war in die Verwaltung gefahren. Schulze kam sofort heraus, als er sein Lied hörte. Wir sangen es noch mal, weil er so gerne mitsang. Am Sonntag war Kirchgang. Für jeden. Freiwillig. Außer für zwei Jungen, die Frau Oberbruder in der Küche helfen mußten. Jeder machte sich fertig. Ich blieb im Tagesraum sitzen. Schulze kam rein. »Mensch, zieh dich an, der Heiland wartet«, gab er mir Bescheid. »Ich gehe nicht in die Kirche. Bin ich noch nie gegangen. Außerdem glaube ich nicht an so was.« »Was?« fragte Schulze. »Na ja, was soll ich da?« Er musterte mich. »Abtrünniger!« sagte er dann verächtlich und ließ mich sitzen. Was sollte ich auch in der Kirche. Der Gottesdienst fand zwar in der Verwaltung statt, vorne an der Straße, doch abhauen konnte man nicht. Wenn man zum Klo mußte, ging ein Bruder mit und blieb solange vor der Tür stehen, bis man fertig war. -2 5 0 -
Aus dem Klofenster kam man nicht heraus, es war zu klein und obendrein vergittert. Zur Kirche kamen auch die anderen Häuser aus dem Moor und eine Menge Brüder. Jeder paßte auf jeden auf, hatte Jürgensen gesagt. Also blieb ich hier. Oberbruder Elias kam in den Tagesraum. Er war ganz in Schwarz gekleidet und drückte ein Gesangbuch an seine Brust. »Mein Sohn«, sprach er mich an, »du dauerst mich.« Er blickte mir tief in die Augen, und ich sah jetzt, daß seine gar keine richtige Farbe hatten, sie waren grau oder blau oder grün, wässerig verschwommen, und die Wimpern standen so vereinzelt, daß ich sie zahlen konnte. Als ich bei acht war, guckte er weg. »Aber«, sagte er, »die Erleuchtung kommt nicht immer sofort. Sie kommt bei jedem Menschen, früh oder spät. Dennoch verzeiht der Herr allen seinen Sündern.« Er nickte trübe. Hinter ihm feixten zwei Jungen, machten sofort Kirchengesichter, als er sich umwandte und hinausging. Ich hörte, wie draußen abgezählt wurde, sah vom Fenster aus zu, wie die Kolonne zum Lorenschuppen marschierte. »Das Leben ist ein Würfelspiel«, sangen sie. Ich grinste froh vor mich hin und überlegte, ob ich es schaffte, die Gitter mit Hilfe einer Bank rauszuwuchten. Sie mußten draußen erst mal weg sein. Schulze war mit den beiden Küchenhelfern zur anderen Baracke hinübergegangen. Quer durchs Moor werde ich türmen, weil er sofort in der Verwaltung anruft. Dort legen sie sich dann auf die Lauer. Ich werde den Teufel tun! Sollte der Elias sich mal erleuchten lassen, welche Richtung ich genommen hatte. Die Loren fuhren ab. Ich hörte Schlüssel. Bruder Schulze kam zurück. »So, mein Sohn, dann wolln wir mal! Stell schon die Bänke hoch, ich hole Eimer und Schrubber!« Er ging ins Bruderzimmer, wo die Hausreinigungssachen standen.
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Ich schrubbte den Tagesraum dreimal mit dem Schrubber ohne Stiel. Schulze konnte den Stiel nicht finden. Danach begann ich beim Waschraum. Auf dem Klo beschloß ich, am nächsten Sonntag auch in die Kirche zu gehen. In der folgenden Woche arbeiteten wir auf einem Feld in der Nähe der Bundesstraße. Ich besprach mit Jürgensen die Gelegenheit. Denn daß es eine war das stand fest. In der Frühstückspause, als das Band still stand hörten wir die Autos, die auf der nahen Straße vorbeifuhren. Außer Jürgensen und mir wollten noch zwei Mann türmen. Und vier Mann auf einmal, das war gut. Dann mußten die Weißbinden alle hinterher, weil es sonst schlecht für sie aussehen würde. Einer, der abhaut, ist sowieso immer stärker als einer, der hinterherkommt, dachte ich. Der, der abhaut, will weg, er muß weg, weil es sonst bitter für ihn wird, wenn sie ihn schnappen. Aber der, der hinterherkommt, kann immer sagen, er hat niemanden gesehen. Als wir am nächsten Abend einrückten, an den Holztischen saßen und unser Brot aßen, kam Oberbruder Elias aus seiner bunten Baracke. Das tat er sonst nicht. In einer Hand hielt er einen langen dünnen Rohrstock, in der anderen einen Zettel. Jürgensen sah zu mir herüber, ich hatte gerade noch Zeit, ein Auge zuzukneifen. »Ich rufe Jürgensen!« tönte Elias. Jürgensen erhob sich und ging hin. »Nun, hast du mir was zu sagen?« fragte der Oberbruder milde. »Nein. Was sollte ich sagen?« »Schön, schön, dann bück dich doch bitte, ja? Ja so, richtig tief und achte auf deine Fingerspitzen, daß sie deine Fußspitzen nicht loslassen«, Elias zog die Jürgensensche Hose richtig stramm, so dass sie zwischen dessen Backen klemmte, holte weit mit dem Rohrstock aus und stand einen Augenblick auf den Stiefelspitzen. »Ganz ruhig stehen, du mußt dich vollkommen entspannen.« -2 5 2 -
Der Rohrstock pfiff durch die Luft. Jürgensen schnellte aufstöhnend hoch. »Ts, ts, ts, ächem«, machte der Oberbruder, »wer wird denn gleich. Zweimal noch, dann sei dir eine kleine Verschnaufpause bewilligt-« Jürgensen nahm die folgenden Schläge hin, er mußte abseits stehenbleiben. »Dirks!« rief Elias. Dirks wollte auch mit abhauen. »Hast du mir was zu sagen?« Dirks schüttelte den Kopf und bückte sich wortlos. Elias zog und zupfte fast liebevoll dessen Hose zurecht, auf die er ebenfalls drei Schläge niedersausen ließ. Frau Oberbruder lehnte im offenen Barackenfenster. »Ach Jungs«, sagte sie klagend, »warum könnt ihr denn nicht vernünftig sein, ihr habt es so gut bei uns, nun müßt ihr wieder die Schmerzen ertragen. Neiiin, neiiin, neiiin«, stöhnte sie bei jedem Schlag, als Diekmann seine Schläge erhielt. Er war der dritte von uns. »Das kann man ja nicht mit ansehen, ohhhh, das kann man ja nicht mit ansehen!« Dumme Ziege, dachte ich, warum geht sie nicht weg. Glotzziege! Wenn Elias von den anderen weiß, dann weiß er auch von mir. Schöner Mist. Dirks hat sich gleich gebückt. Feiner Kerl. Hätte ja auch sagen können, wer noch alles dabei war. So oder so. Ich erhob mich und ging nach vorne. »Hooolberg!« sagte Elias, in einem Ton, der mich an Karen erinnerte, wenn sie »Jeeeetzt!« gesagt hatte. »Du auch!?« Er tat so, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht mit mir. »Holberg, Holberg! Ich liebe die Aufrichtigkeit!« Ich verspürte unbändige Lust, in seinen großen Reithosenhintern zu treten, da er sich umgedreht hatte und den anderen erklärte, was Aufrichtigkeit sei. -2 5 3 -
»Nun bück dich, mein Sohn«, er fummelte an meiner Hose herum, »schön tief, wunderbar, Aufrichtigkeit muß belohnt werden.« Ich sah zwischen meinen Beinen hindurch an seinem linken Bein vorbei Frau Oberbruder im Barackenfenster, wie sie die Augen zumachte, machte meine auch zu. Der Schlag trieb mir das Wasser in die Augen. Frau Oberbruder schwamm im Tränenwasser. »Du bekommst deshalb nur drei Besinnungsschläge, nimm sie mit Würde«, fuhr Elias fort. Ich setzte mich vorsichtig. »Und ihr, Jungs«, wandte er sich bedauernd an die anderen drei, »leider, leider, damit ihr für die Zukunft wißt, daß ich immer eine aufrichtige Antwort erwarte, komm du zuerst, mein Junge.« Dirks bückte sich erneut. »Nur Geduld und dulden machen den Menschen erhaben über die schnöden Dinge der Welt, und ihrer gibt es viele. Ich fühle mit Euch«, Elias schlug zu. Hinter mir stöhnte Frau Oberbruder auf. »Mein Gott, du armer Junge!« Elias sprach weiter, zupfte hier und da an Dirks' Hose herum. Wenn man nicht gewußt hätte, um was es ging, hatte man denken können, Elias hielte einen Vortrag über weiche, schwingende Gymnastikübungen. Mittendrin schlug er plötzlich zu, Dirks schoß hoch, wurde erneut mit sanften Worten zum dritten Schlag eingeschläfert. Ich kniff die Augen etwas zu und versuchte mir vorzustellen, daß es Elias sei, der sich da bückte, und Jürgensen, der jetzt zuschlug. Mein Hintern brannte fast gar nicht mehr. Anschließend wurden die üblichen Lieder gesungen. Jeder sang laut mit. Wir vier, weil wir alles überstanden hatten. Die anderen, weil sie nichts damit zu tun gehabt hatten, und der Oberbruder, weil er nicht noch mehr hatte schlagen müssen. Nach dem Einrücken, dem Waschen und dem Abendbrot hockte ich im Tagesraum in einer Ecke. An der Wand hing ein fast mannsgroßer Jesus an einem Kreuz. -2 5 4 -
Jesus sagt, behauptet Elias, alle Menschen sind Brüder. Das war so'n Oberbruder. Dirks meinte, in Wirklichkeit hieße er Lehmann, Elias sei sein Künstlername. Ob Lehmann oder Elias. Petrus war auch so ein Oberbruder gewesen. Vorarbeiter. Wenn der Elias mich noch mal schlägt, dann schlage ich zurück. Mistkerl. Ich rollte das Stückchen Papier, auf dem ich die ganze Zeit herumkaute, zu einer kleinen Kippe zusammen und schlenderte zu dem Heiligen hinüber, daran vorbei, wieder zurück. In einem unbeobachteten Moment klebte ich die Kippe in das Holzgesicht. Der Oberbruder hatte ihn extra so in den Tagesraum hängen lassen, damit er mitten unter uns war, der Jesus. Ich fand, daß sich der Leidensausdruck durch die Kippe im Mundwinkel beträchtlich erhöht hatte. Ein in der Nähe sitzender Junge wurde aufmerksam, stutzte, dann sah er sich vorsichtig nach allen Seiten um und setzte sich auf einen entfernteren Platz. Ich grinste. Schulze erklärte: »Feuerfrei!« Die Jungen pumpten sich mit Rauch voll. Einige spielten »Mensch ärgere dich nicht«, andere blätterten in vier Jahre alten Zeitungen. Zwei Jungen spielten mit Bruder Bolm Billard. Tagsüber war der Billardtisch mit einer Platte zugedeckt, von der gegessen wurde. Abends schob man die Bänke zur Seite, deckte die Platte ab und spielte. Bruder Bolm machte Verrenkungen wie ein Akrobat, wenn er die Kugel über das grüne Tuch trieb, er stieß einen heiligen Fluch aus, wenn er fehlte. Traf er überhaupt keine der anderen beiden Kugeln, was sehr schlecht war, dann geschah es, daß der nachfolgende Spieler mit dem Queu so heftig zustieß, daß die Kugel aus dem Feld flog und auf den Boden fiel. Das war noch schlechter. Es war schwer, gegen Bruder Bolm zu gewinnen. In Jesus' Nähe saß niemand mehr. Die Kippe schien in dem dunklen Holzgesicht zu leuchten. Ich war ein bißchen enttäuscht, weil gar nichts passierte.
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Als wir in den Schlafsaal gingen, stand Bruder Bolm in der Tür und zählte die an ihm vorbeimarschierenden Nachthemden. Ich war Nummer zweiundzwanzig. Gezählt wurde immer. Abends und morgens. Ob nicht einer weniger reinging oder einer mehr rauskam. Schäfchen würden immer durchgezählt, sagte der Oberhirte Elias. Wenn Schulze an der Reihe war, dann verzählte er sich oft, und der ganze Schlafsaal rückte wieder aus, Schulze begann von vorne. Morgens befand ich mich immer unter den Fünfzigern. Ich nutzte die Minuten des Liegenbleibens aus, bis der jeweilige Bruder um die Ecke der Bretterwand bog. Jeder begann die Runde auf der rechten Seite, und ich lag links. Das verzögerte Aufstehen hatte den Vorteil, daß ich noch beim Bettenbauen war, wenn der Bruder auftauchte. Und wo noch nichts fertig war, konnte er nichts einreißen. Ich zupfte und strich am Bezug herum, und der Bruder ging mit christlichem Nicken weiter. Die Jungen lagen in den Betten. Gedämpftes Murmeln war zu hören. Draußen war es noch taghell. Die Schlafsaaltür wurde aufgeschlossen, die Tür flog mit einem Krach auf. »Anreiteeeen!!« Anreiten hieß alles. Wenn dieses Wort ertönte, tat man immer das, was aufgrund der jeweiligen Situation sowieso getan werden mußte, was von einem erwartet wurde. Wenn morgens die Tür aufgeschlossen wurde und der Bruder »Anreiten!« rief, dann hieß das: alle aus dem Schlafsaal raus. Standen wir vor den Loren, so hieß es: auf die Loren steigen. Kamen wir abends von der Arbeit, so stiegen wir von den Loren herunter. Jetzt rief Bruder Bolm in den Schlafsaal und hielt die Tür ganz weit auf, das hieß: aufstehen und wieder raus aus dem Schlafsaal. Wir trotteten in den Tagesraum, in dessen Mitte Oberbruder Elias wartete. Die Gruppe bildete einen großen Halbkreis um ihn. Er musterte uns eine Weile lang schweigend und wir ihn. Er machte das mit ernster Miene, er räusperte sich, als wolle er etwas sagen, aber er sagte nichts, wir auch nicht, es war klar, daß er was sagen wollte, sonst hätte er uns nicht aus dem Bett geholt. Wir hatten nichts zu sagen. -2 5 6 -
Als mir die Beine weh taten, fing er an. »Ich habe euch wieder aus dem Schlafsaal holen lassen«, sagte der Oberbruder, »weil ich zutiefst erschüttert bin!« Es folgte eine lange Pause, Jeder dachte darüber nach, was es sein könnte, was ihn zutiefst erschüttert hatte. Verletzt war er nicht, abgehauen war auch keiner. Vielleicht war Frau Oberbruder von einer Schlange gebissen worden. Schlangen gab es hier genug. Aber wer wußte das schon, Frau Oberbruder machte einen zähen Eindruck, und eine Schlange hatte sicher genaue Vorstellungen vom Zubeißen. Oder Bruder Schulze war ins Moor gefallen, weil er zu viel Tee gesoffen hatte. Und man hatte ihn erst jetzt gefunden. Mir fiel auf, daß ich Schulze heute noch nicht gesehen hatte. »Ich bin nicht nur erschüttert«, teilte Elias weiter mit, »ich bin auch traurig, sehr traurig, Jungs. Könnt ihr euch denken, warum?« Niemand konnte es. Ich auch nicht. Das Schweigen dauerte endlos lange. Mein Blick fiel auf den rauchenden Jesus, der schräg hinter Elias hing. Ich ahnte etwas. »Das Schändliche einer Tat kann nur dadurch vergeben werden, daß man sich dazu bekennt...« Aha, da haben wir's schon! »... ihr wißt, Jungs, der Herr vergibt jedem.« Der Herr vielleicht. »Darum frage ich euch in aller Offenheit, wer«, er machte einen Schritt zur Seite, und sein Gesicht nahm fast den gleichen Ausdruck an wie das des Holzmannes an der Wand, »war das!?« Er deutete mit dem kleinen, abgespreizten Finger auf die Kippe, ohne sie zu berühren. Ein Ächzen ging durch die Gruppe. In der hinteren Reihe gluckste jemand unterdrückt. Dann schwiegen alle wieder. Ich wunderte mich, wie still ein so großer Haufen Menschen sein konnte. Wie wenn niemand im Raum wäre. Bruder Bolm stand etwas abseits und bemühte sich, ebenso wie der Oberbruder zu gucken. »Jungs«, sagte Elias, »ich erinnere euch an eure heilige Christenpflicht. Habt ihr denn so wenig Vertrauen zu mir?« Das
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klang, als wollte er sagen: »Nehmt doch noch ein Stückchen Kuchen. Soll das letzte Stück denn liegenbleiben?« Was der sich wohl einbildete! Vertrauen! Den ganzen Tag lang spielt er den wilden Mann, und jetzt lechzt er nach Vertrauen. Der Reitstiefeloberbrudervertrauensmann. Nach Sühne lechzt er, nach christlicher Sühne. Papperlapapp. Im Mittelalter hatten sie auch solche Sprüche drauf. Da warfen sie ein hübsches Mädchen in den Fluß und sagten, wenn sie schwimmt, ist es keine Hexe, und wenn sie untergeht, ist es eine. Was gab es da für eine Lösung? Mist! Und ich dachte schon, der Schulze sei tatsächlich ins Moor gefallen. Man soll sich nicht zu früh freuen. »Straht!!« brüllte Elias plötzlich los. Ein Nachthemd spritzte aus der Menge. »Entferne den unwürdigen Gegenstand!« Straht nahm Jesus die Kippe weg, wollte ihn Elias geben, doch der streckte abwehrend beide Hände aus: »Hinweg! Hinweg! Bruder Bolm!« Bolm trat vor, nahm den Stummel und guckte ziemlich blöd drauf. »Bruder Bolm, schreiben Sie eine entsprechende Meldung, Sie waren es ja, gottlob, der diese Sache ans Tageslicht gebracht hat. Und ihr, meine Lieben«, Elias wandte sich wieder an uns, »ihr werdet drei Tage nicht rauchen!« Ein kaum hörbares Stöhnen ging durch die Gruppe. »Bei dieser Hitze schlafft das Rauchen ohnehin den Kreislauf ab. Ihr möget daran erkennen, daß es mir trotz einer kleinen Rüge in erster Linie um euer Wohlergehen geht. Eine saubere Lunge empfindet die Frische eines jungen Tages bedeutend besser als eine verschmutzte.« Elias musterte uns wieder eine Weile, er lächelte sein mildes Lächeln. »So, und nun laßt uns noch schnell ein Gutenachtlied singen und uns in Frieden auseinandergehen.« Wir sangen »Guten Abend, gute Nacht«, danach »Der Mond ist aufgegangen«, danach »Weißt du, wieviel Sternlein stehen«, danach »Abendstille«, danach »Nun schlafen alle Blümelein«, -2 5 8 -
danach das Lied von den reitenden Dragonern, weil wir keine Abendlieder mehr kannten, daß das Lieben Freude macht, dann das Lied vom jagenden Tiroler und dem freien Wildbretschützen, daß märkischer Sand die Freude eines jeden Märkers sei, wir sangen vom Wasser, das von den Bergen rauscht, von der Heimat, zu der wir alle gerne wollten, und vom Kurpfalzjäger..., wir sangen. Ich döste im Stehen vor mich hin. Elias dirigierte mit beiden Armen. Ich dachte wieder an einen Vogel, an einen häßlichen grauen Vogel, mit spitzem Schnabel, der nach mir hackte, er schlug mit den Flügeln, um mich zu erreichen, er würde es schaffen, jeden Augenblick konnte er vom Boden abheben... »So Jungs, jetzt müßt ihr aber ins Bett«, sagte Elias tadelnd, »morgen früh, dann singen wir wieder. Solange werdet ihr's ja wohl aushaken können, was?« Er tat so, als hätten wir unbedingt singen wollen, als könnten wir nicht genug kriegen. Dabei hatte er nach jedem Lied in Befehlsform gefragt, ob wir nicht noch eins singen wollten. Und jedesmal hatte eine Weißbinde neu angestimmt. Es war zum Kotzen! »Der Herr segne euren Schlaf.« »Anreiten!« brüllte Bruder Bolm. Wir wankten in den Schlafsaal. Ich war Nummer drei. »Wenn wir das Schwein erwischen«, fluchten einige Weißbinden. Ich fluchte mit. Die beiden Jungen, die neben mir in dem einen doppelstöckigen Bett lagen, unterhielten sich leise darüber, wieviel Gefängnis es wohl geben würde, wenn sie den Oberbruder ins Moor schubsen täten. »Vielleicht lebenslänglich«, sagte der untere. »Quatsch«, entgegnete der, der oben lag, »wir sind doch noch jugendlich. Mehr als zehn Jahre können sie uns nicht aufbrummen. Das ist die Höchststrafe. Drei oder vier Jahre kriegen wir dafür, wenn es rauskommt. Erinnere dich mal an die beiden, die vor zwei Jahren aus der »Seligkeit« abgehauen sind, die hat ein Bruder überrascht, da haben sie ihm eins mit'm Stuhlbein über'n Tünnes gehauen...« -2 5 9 -
»Der tote Bruder?« »Na ja, als er sie überraschte, da hat er noch gelebt, aber als er sie festhalten wollte, ist er von einer Seligkeit in die andere Welt marschiert. Der eine hat später dreieinhalb und der andere vier Jahre gekriegt.« »Trotzdem noch ganz schön viel, wenn man bedenkt, wieviele Brüder die hier haben«, der untere schwieg. »Es müßte wie ein Unfall aussehen«, sagte er dann, »wir kriegen nichts dafür.« »So schlau bin ich auch«, flüsterte der oben Liegende unwillig. »Wir können es nur machen, wenn wir Torf stechen, weil er dann zwischen uns rumrennt. Wo wir jetzt arbeiten, da ist es sowieso trocken. Wenn wir ihn so reinschubsen, dann brüllt er, und die Weißbinden ziehen ihn wieder raus. Überall versackt man ja auch nicht. Am besten, er kriegt vorher einen kleinen Tupfer mit'm Torfspaten ins Genick, damit er still bleibt, bis er versackt ist.« »Die Agenten machen das mit der Handkante, zack - und er kippt um wie ein Sack Wurzeln.« »Ach, dann mußt du schon genau treffen. So'n Torfspaten tut's besser, würden die Agenten auch nehmen, aber sie können so'n Ding ja schlecht mit sich rumschleppen. Deshalb behelfen sie sich mit der Handkante.« »Was auch noch ginge, wären Kreuzottern. Ich gehe doch samstags immer in die Küche, dann lasse ich sie in die Oberbruderwohnung. Die können genauso gut von draußen reingekommen sein, und bis der Arzt hier ist, das dauert seine Zeit. »Die beißen nicht, die hauen durch die nächste offene Tür wieder ab.« Die Jungen schwiegen. Ich drehte mich auf die andere Seite. Die Kirche in Heiligenstatt war ein Anbau neben der Verwaltung. Heute war Sonntag, und der Anbau war bis auf den letzten Platz besetzt.
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Der Heimleiter und Pastor stand oben auf der Kanzel und erzählte uns im großen, was uns Oberbruder Elias täglich im kleinen erzählte. Manchmal stand einer der Jungen auf, weil er austreten mußte. An der Tür saßen mehrere Brüder, von denen sich einer erhob und als Begleitung mitging. Auch dann, wenn es eine Weißbinde war. Die Weißbinden bekamen ihr Vertrauen erst nach dem Gottesdienst wieder zu spüren. Je tiefer wir ins Moor zurückkehrten, desto tiefer wurde ihnen vertraut. Und wenn wir in der Nächstenliebe angekommen waren, dann war es wieder richtiges Vertrauen. Ich mußte auch. Fünfzig Meter entfernt verlief die Bundesstraße. Daran dachte ich. Auf der anderen Seite befand sich eine Wiese, dann kam Wald. So dicht an die Freiheit gelangte man nur beim Kirchgang. Das wußte der Oberbruder auch. Auf der Kanzel wurde jetzt von Liebe, von Hoffnung, von Glauben und von Gottvertrauen gepredigt. In jedem Satz kamen diese Wörter mehrmals vor, mal laut, mal leise, mal predigte der Pfarrer mit erhobenen Händen, mal mit seitlich ausgestreckten, so daß die schwarzen Ärmel wehten. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß die Predigt gleich zu Ende war. Dann wurde noch gesungen, Segen verteilt, und wir fuhren zurück ins Moor. Ich erhob mich und ging zwischen den Reihen entlang zur Tür, an Elias vorbei, der mich mit verklärtem Gesicht ansah. »Ich muß«, sagte ich zu dem Bruder, der direkt an der Tür stand. »Ist doch gleich Schluß!« »Ich muß trotzdem.« Er ging hinter mir her auf den Flur, der wie ein langer Schlauch war. Auf der linken Seite endete er vor einem großen Fenster. Vorher zweigten zwei oder drei Türen ab, die verschlossen waren. Ich wußte das von Dirks. Ein Junge hatte schon mal versucht, in eines der Zimmer zu flitzen, um dann aus dem Fenster zu springen. Doch eine verschlossene Tür war zu. Der Klobegleitbruder hatte den Jungen sofort festgehalten und um
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Hilfe gebrüllt. Rechts, ein paar Schritte weiter, führte die Treppe nach unten, die unteren Türen waren auch abgeschlossen. Gegenüber befand sich die Toilette. »Beeil dich«, sagte der Bruder und stellte sich breitbeinig an den Treppenabsatz. Die Kirche lag im ersten Stock. Ich ging in die Toilette und pinkelte. Es kamen aber nur ein paar Tropfen. Wenn ich dem Bruder einen Haken gebe, dann kullert er die Treppe runter. Aber ich komme unten sowieso nicht raus. Aber ich muß raus, ich muß weg! Ich springe durch das Fenster! Einfach durch die Scheibe, da traut er sich nicht hinterher. Jetzt singen sie, da hört man den Krach nicht so. Ich muß weg! Ich streifte die schweren Holzbotten ab, zog die Socken aus, damit ich nicht ausrutschte. Ich legte eine Hand auf den Türgriff und zögerte einen Augenblick. In mir kribbelte alles. Wenn ich es nun nicht schaffte? Quatsch, ich muß nur denken, daß ich es schaffe, dann schaffe ich's auch. Ich riß die Tür auf. Ein Ruck! Sie knallte gegen die Wand. Ich sah für einen Augenblick das überraschte Gesicht des Bruders, als ich an ihm vorbeiflitzte, den Flur runter. Vielleicht dachte er, ich wollte ganz schnell wieder in die Kirche, um den Segen mitzubekommen, denn er schrie erst, als ich an der Kirchentür vorbei war. »Haaalt! Haaaaaalt!!« Das Fenster! Ich sprang aus vollem Lauf auf die niedrige Fensterbank, riß meine Arme hoch. Glas splitterte. Ich fiel nach unten, auf einen Rasen, überschlug mich und krachte in ein Sonnenblumenbeet. Einen Augenblick war mir, als könne ich mich nicht mehr bewegen, dann funktionierte wieder alles. Ich rappelte mich auf und rannte über den Rasen zur Straße. Ich konnte sie sehen. Bloß nicht umdrehen! Ich sprang über einen Graben, überquerte den heißen Asphalt, wieder ein Graben, wälzte mich unter einem Weidezaun durch und lief auf die Wiese. Im Laufen riß ich mir den roten Haarschutz vom Kopf. Als ich die Wiese zur Hälfte hinter mir hatte, drehte ich mich um. Aus dem Verwaltungsgebäude -2 6 2 -
quollen die Jungen wie ein dicker Brei, der sich nach allen Seiten verteilte. Das erste Rudel hatte die Straße fast erreicht. Ich lief jetzt langsamer, gleichmäßiger. Die würden auch noch langsamer werden, dachte ich. Ich könnte auf einen Baum klettern, aber Elias würde auch die Bäume absuchen lassen. Fluchen wird er, heilige Flüche wird er ausstoßen. Hatte ja selbst Schuld. Warum schickt er mich in die Kirche. Ich wollte von Anfang an nicht hin. In vier Tagen wäre ich einen Monat hier gewesen. Mir kommt das wie ein Jahr vor. Ich hatte den Wald erreicht, lief geradeaus in das Unterholz, bog dann seitlich ab, Ich lief so, daß ich den Waldrand noch sehen konnte. Wütend werden sie sein. Heute war Sonntag und dann nichts zum Rauchen! Oha, sie dürfen mich nicht erwischen. Halb habe ich es schon geschafft. Ich darf nur nicht stehenbleiben. Wie die Indianer das wohl machten? Indianertrab. Hatte ich doch mal irgendwo gelesen: Wo war das denn? Da hatte so ein Bandit einen Häuptling erschossen und war mit dem Pferd abgehauen. Der Sohn vom Häuptling hinterher. Der Bandit hatte sich auf die Lauer gelegt und das Häuptlingssohnpferd abgeschossen. Aber der Sohn war zu Fuß weitergelaufen, damit hatte der Bandit nicht gerechnet. Indianertrab. Hundert Yards Spurt, dann hundert Yards im Schritt, dann wieder spurten, dann wieder gehen, und immer so weiter. Beim Gehen ruhte der Sohn sich vom Spurten aus und sammelte gleichzeitig Kraft für den nächsten. So was ließ sich verdammt lange durchhalten. Der Sohn hatte den Banditen erwischt und die Rechnung mit dem Beil beglichen. Die hatten gut reden, die Indianer. Wenn ich jetzt langsam gehe, komme ich nicht wieder in Gang. Die Straße hatte einen großen Bogen gemacht und führte jetzt durch den Wald. Ich wechselte auf die andere Seite über und bemerkte, daß meine linke Hand mit Blut besudelt war. Am Gelenk klaffte ein Schnitt. Ich wickelte mein Taschentuch darum.
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Ein Stoppelfeld kam. Ich schlurfte im Trab über die angeschnittenen Halme, damit sie nicht so zwischen meine Zehen stießen. Doch die ganz kurzen ließen sich nicht umtreten, sie fühlten sich an wie ein Nagelbrett. Ich versuchte nicht daran zu denken. Ich dachte an Ingrid. Zu ihr konnte ich hin. Dort suchten sie mich nicht, sie würde auch verstehen, wie blöd der Verein hier war. Was Benno jetzt wohl machte? Der hätte dem Elias schon lange eine geknallt, ganz brüderlich, wäre ihm egal gewesen. Ich stellte mir Elias mit einem blauen Auge vor und vergaß die schmerzenden Füße. So einen sauren Sonntag hatte er lange nicht gehabt. Der Herr konnte ihm da auch nicht viel helfen, beim Suchen. Na ja, dann hatten die Jungen mal richtigen Auslauf. Vielleicht hauten dabei noch ein paar ab. Aber es paßte einer auf den anderen auf, das war gar nicht so einfach. Das Feld lag hinter mir. Ich befand mich wieder in einem Föhrenwald. Meine Fußsohlen brannten. Ich fühlte jede einzelne Kiefernadel, wie sie sich eindrückte. Bis zum Abend konnte ich laufen. Ich sah nirgends Bohrtürme. Dirks hatte gesagt, ganz in der Nähe seien Bohrtürme. Wenn es dunkel ist, werde ich auf einen Lastwagen aufspringen, auf einen Hänger. In den Dörfern sind die Kreuzungen nicht so gut beleuchtet. Es gibt bestimmt eine, an der die Autos halten mußten. Oder an einem Bahnübergang. Dann konnte ich schnell zwischen Maschinenwagen und Hänger auf die Deichsel springen. Irgendwie kam ich schon weiter. Ich mußte einen alten Lastzug nehmen. Bei den modernen ließen sich die Planen sehr schlecht öffnen. Bis nach Hause sind es hundert Kilometer oder so. Ich werde dort vorbeigehen, meine Sachen anziehen und dann weiter. Mama würde schon begreifen, daß ich nicht mehr in die Anstalt zurück will. Und was Mama begriff, begriff auch der zweite Vater.
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Aber sicher würden sie wieder reden, daß es nicht für immer sei, in der Anstalt, daß ich wenigstens eine Zeit lang durchhalten solle. Wenn man sich gut führt, wird man auch schnell entlassen, >mach uns doch keinen Kummer, >denk doch auch mal an uns<, das sagten sie so. Vielleicht war es ihnen auch egal, sie sagten es, weil sie Eltern sind. Eltern müssen so was sagen. Es ist ihre Rolle. Eltern glauben immer, was so ein Lokusmüller erzählt oder ein Wälzer. Das ist richtig. Staatlich ausgebildete Psychologen sind das, sagte Mama. Und der Elias ist noch ein christlicher dazu. Ich bin nur ein Sohn. Wenn ich damals nichts ausgefressen hätte. - Wenn, dummes Wort. Bei >wenn< war es meistens zu spät. Jetzt bin ich drin. Lernen, sagte der zweite Vater, einen Beruf ergreifen, so was gäbe es nur in deutschen Anstalten, und ich solle froh sein, daß ich nicht in einer kommunistischen Anstalt wäre. Was hatte das für einen Sinn! So herrlich duftender Torf. Aromatischer Torf! Eine wunderbare braune Farbe! So ein würziger Duft! Scheißtorf! Ganz gewöhnlicher Scheißtorf! Und Jesus oben drüber, meinte Elias. Von der Erde kommt alles, zur Erde geht alles, sagt Jesus, sagt Elias. Elias wird für das Sprüchekloppen bezahlt. Schulze auch. Alle Brüder! Und der Anstaltsleiterpastor - Ich hasse Elias! Elias, das Torfschwein! >So, liebe Kinder, sagt der Lehrer in der Schule, >heute wollen wir mal über das Moor sprechen, über die verschiedenen Tierarten, die es dort gibt, nun, was meint ihr?< >Torfschweine, Herr Lehrer, Torfschweine!< >Ja, richtig. Könnt ihr mir denn auch andere Tiere nennen?< >Jaaaa! Große Torfschweine, große, Herr Lehrer!< >Na fein! Fassen wir also zusammen: Es gibt große Torfschweine und normale Torfschweine. Sie leben vorwiegend im Moor, an sogenannten heiligen Stätten. Könnt ihr mir denn auch die besondere Bezeichnung der verschiedenen Arten sagen...?< >Jaaaa! Elias heißen die -2 6 5 -
großen Torfschweine, und Schulze und Bolm und Matthes sind normale Torfschweine!!< >Na wunderbar! Und jetzt sagt mir noch eine spezielle Eigenart...< >Alle sind heilig, Herr Lehrer, alle sind heilig!<
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8 Das Auto schaukelte von Schlagloch zu Schlagloch wie vor ein paar Wochen der Landesjugendheimvolkswagen. Es war abends halb sieben und ich fragte mich, warum ich überhaupt abgehauen war, wenn ich jetzt - einen Tag später freiwillig wieder zurückkehrte. »Ist ja ein furchtbarer Weg hier!« Der zweite Vater sah mich an. Als wenn das mein Weg wäre. Ich war so prima weggekommen. Von einer Wäscheleine hatte ich mir ein Hemd und eine Hose abgehakt und war nachmittags unbemerkt auf einen Lastwagen geklettert. Es war einer ohne Hänger gewesen, an dem hinten die Plane hochgerollt war. Der Lastwagen war in einem Dorf aus einer Einfahrt gekommen, hatte erst den Verkehr vorbeigelassen, und ich war in aller Ruhe hinten aufgestiegen, hatte mich zwischen Fässer und Kisten gesetzt. Der Lkw war durch mehrere Orte gefahren, und ich konnte erst absteigen, als er gegen Abend auf einem Fabrikhof hielt. Der Fahrer hatte mich bemerkt und kam sofort hinterhergerannt, doch ihm fiel wohl ein, daß er mich nicht mit aufgeladen hatte, er gab die Verfolgung nach einem kurzen Stück auf. Dann hatte mich ein Motorradfahrer mitgenommen. Ich war noch am selben Tag zu Hause angekommen. Für Sonntag war das eine Leistung, dann klappte der Anschluß nur mit viel Glück. Richtig aufgeregt waren sie zu Hause gewesen. Dabei war gar nichts passiert. Mama hatte geredet. Gerade in diesem Heim, wenn ich mich da gut führte, dann würde ich schon nach kurzer Zeit entlassen. Höchstens ein halbes Jahr brauchte ich dann dort bleiben, sie wüßte das ganz genau, sie hätte mit dem Heimleiter telefoniert, der sei Pastor und hätte so eine vernünftige Stimme gehabt. Was'n Wunder! Als Pastor!
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Und wenn ich jetzt freiwillig zurückginge, gerade dann würde ich denen ja beweisen, daß ich Einsicht zeigte und so. Der zweite Vater hatte zwischendurch »jawoll« und »stimmt« und »ich weiß das auch« gesagt, und »werde selbst mit dem Heimleiter sprechen«. Und zuletzt glaubte ich selbst, daß es das beste sei, wenn ich zurückginge. »Ich bringe dich morgen mit dem Wagen zurück«, hatte der zweite Vater gesagt. Jetzt hatte er es fast getan. Das Auto bog an dem Schild »Nächstenliebe« ein. Ich machte noch schnell ein paar Züge aus der Zigarette und drückte sie aus. Bis zur nächsten würde es wieder eine ganze Zeit dauern. Oberbruder Elias stelzte in seinem Gemüsegarten herum und kam heran, als der zweite Vater hielt. »Nein«, sagte Elias, »der Benjamin! Wie schön, mein Junge, daß du wieder da bist!« Er sagte nicht »Benjamin«, sondern »Beeenjamin!«, nicht »schön«, sondern »schööön!«, mit viel Wärme, Freude und Erstaunen. Ich fragte mich, woher er wohl so schnell meinen Rufnamen kannte. »Na siehste«, murmelte der zweite Vater. Elias quetschte erst meine, dann seine Hand. »Junge, du glaubst ja gar nicht, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe! Und deine Kameraden haben dauernd nach dir gefragt, wann du wohl zurückkommen würdest! Nun bist du schon da!« Elias schaute mich ergriffen an. Meine Kameraden! Die hatten Sonntag nicht rauchen dürfen. Kein Wunder, daß sie nach mir gefragt hatten. »Nun geh mal ins Haus, du wirst bestimmt hungrig sein. Und sag deinem Vater - Sie sind doch der Vater?« fragte Elias. Der nickte einfach, obwohl er es gar nicht war. »Sag deinem Vater auf Wiedersehen.« »Tschüs. Grüß Mama«, sagte ich zu dem, dreht mich um und ging an Schulze vorbei in die Baracke. Schulze schloß hinter mir ab. »Hat ja nicht lange gedauert, mit dir«, stieß er zusammen mit einer Teefahne aus, »Mensch, am siebenten -2 6 8 -
Tage sollst du ruhn, und du haust einfach ab! Und dann noch während der Predigt! Gottlosigkeit!« Er setzte sich hinter seinen Bruderschreibtisch, nahm ein paar lange Züge aus der Thermosflasche, scheuerte seine Hüfte und rülpste nach Fuhrknechtart. Draußen fuhr das Auto weg. Elias kam herein. »Holberg, Holberg«, sagte er, »wie kann man nur, wie kann man nur! Der Kelch war bitter, den ich trank, desgleichen auch du feststellen wirst, denn ich reiche ihn dir weiter, auf daß er bis zur Neige geleeret werde.« Er betrachtete mich ziemlich lange, als sähe er mich zum ersten Mal. Er betrachtete mich mit mildem Bruderblick, der aus dem gleichen Kopf kam wie die Worte. Als ich in den Schlafsaal kam, empfing mich eisiges Schweigen, Jeder sah mich an, sah mir nach. Ich fühlte das. Ich legte mich in mein Feldbett, das noch bezogen war, fühlte wieder die Querstrebe im Rücken und überlegte, daß sich nichts verändert hatte, daß ich mir die Prügel umsonst aufgeladen hatte. Gegen die Prügel konnte ich nichts unternehmen. Ganz sicher gab es sie. Ich merkte es an der Stille im Saal. Sonst war es zwar auch still, doch die übliche Stille war anders, nicht so anklagend. Ich bemühte mich, wach zu bleiben. Wenn ich den ersten und den zweiten richtig erwischte, dann hatten die anderen vielleicht keine Lust mehr. Ich ließ mich doch nicht einfach so verprügeln! Nicht mal so ein billiger Hocker war im Saal, mit bloßen Fäusten ließ sich gegen eine ganze Horde wenig ausrichten. Mir war richtig unwohl. Ich schlief ein. Sie kamen erst am anderen Abend. Ich hatte am Tage von einigen, die nicht mitmachten, einen Tip bekommen. Es war wie eine Bestätigung, Elias hatte mir den ganzen Tag lang christliche Ermunterungen hoch oben vom Förderband aus zugerufen. Ich solle ihm ja zeigen, wie ich arbeiten könne, weil ich die Arbeit liebe, was er liebe, und deshalb könne ich frisch den Tag bewältigen.
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Das Band fuhr an diesem Tage besonders schnell, es trieb uns schon nach den ersten zwanzig Metern den Schweiß aus den Poren. Manchmal begleitete Elias meine Arbeit mit Zurufen. Wenn ich Schwung holte und den Torf auf das Band warf, brüllte er »Hau ruck!« Machte ich langsamer, dann zog er das »Hau« in die Länge, und das »Ruck« kam immer in dem Moment, wenn der Torf flog. »Geht es so besser, Holberg?« fragte er dann. Ich erwiderte nichts und arbeitete verbissen weiter. Und Elias rief der ganzen Kolonne zu, daß sie auf sein »Hau ruck« achten sollten, weil ich meinte, dann ginge die Arbeit besser, und wenn einer nicht auf das »Hau ruck« achten würde, dann müßte er leider das Rauchen für den Tag sperren. Die Kolonne warf genau im Takt. Wie im Zirkus, dachte ich, wenn im Musiktakt die Manege geharkt wird, ich glaubte, daß es falsch von mir gewesen war, nach Hause zu gehen. Ich lag im Bett und überlegte, wie schön es sein müßte, wenn die ganze Sache erst mal vorbei war. Ich lauschte in das Dunkel. Dauernd tappte einer auf nackten Füßen an meinem Bettfußende vorbei zum Klo. Vielleicht wollten sie nur nachsehen, ob ich schon schlief. Aber ich schlief nicht. Ich hob jedesmal den Kopf, damit sie es sehen konnten. Aber die ganze Nacht konnte ich nicht wachbleiben. Ich war müde von der Arbeit. Mein Körper war schwer wie ein großes Gewicht aus Blei. Manchmal knipsten meine Augen zu, waren jedoch sofort wieder offen, wenn ich ein Geräusch hörte. Ich merkte, daß es schon eine ganze Weile still war. Niemand ging mehr zum Klo. In einem Grab mußte es auch so still sein. Oder in einer leeren Kirche. Plötzlich quollen sie aus den Gassen zwischen den Betten, die weißen Nachthemden.
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Ich schoß so schnell und heftig hoch, daß das Feldbett umkippte, ich trat in ein Nachthemd, jemand schrie unterdrückt auf, ich kam hoch und schlug voll in ein Gesicht, wurde wieder zu Boden gerissen, ich konnte mich nicht mehr bewegen, sie saßen auf mir, hielten mich überall fest. Sie schleiften und zerrten mich zum Klo, in dem die ganze Nacht ein Notlicht brannte und zwangen mich auf die Knie. Ich kniete wie ein Mekkabeter, den Kopf auf dem Boden, der in eine Beinschere festgeklemmt war. Meine Arme waren seitwärts ausgestreckt, als wolle ich jeden Augenblick losfliegen. Sie konnten mich so besser festhalten, nur mein Hintern war frei. Sie schoben das Hemd hoch, und beim ersten Schlag drückte die Beinschere meinen Hals zu. Ich konnte nur stöhnen. Sie schlugen mit ihren Pantoffeln, deren Sohlen aus alten Fahrradmänteln waren, und je fester sie schlugen, desto geringer wurde der Schmerz. Ich hörte die Geräusche verschwommen, wie von ganz weit her. Als ich wieder denken konnte, kniete ich allein im Klo. Es stank nach Urin. Ich stand auf. Meine Beine zitterten, ich hielt mich an der Wand fest. Ich faßte an meinen Hintern, ich fühlte gar nichts. Dann merkte ich, wie es an meinen Beinen runterlief, ich sah, daß meine Finger blutig waren. Ich stützte mich auf den Waschbeckenrand und starrte auf die braunrissige Emaille. Luft brauchte ich! Luft! Ich ließ das Becken los und stakste zum offenen Fenster und stockte. Draußen stand Elias! Ich machte die Augen zu, wieder auf. Er stand immer noch da. Ich ging ganz dicht an das Fenster, umklammerte mit den Händen die Gitterstäbe und glotzte. Er stand nur einen Schritt entfernt, milde lächelnd. »Denke daran, auch in der Not bist du nicht allein«, sagte er. Ich schloß erneut die Augen, öffnete sie wieder, glotzte. Das war tatsächlich Elias! Geister reden nicht. Geister lächeln nicht. Er trug ein gestreiftes Hemd, es sah wie eine Pyjamajacke aus. Geister trugen weiß, schlicht und einfach weiß. Die hatten auch nicht so eine Nase. »Du mußt ins Bett, mein Sohn, du wirst dich sonst erkälten, und«, sein Kopf beugte sich etwas vor, »vergiß nicht, dein Nachtgebet zu sprechen.« -2 7 1 -
Nachtgebet sprechen... Nachtgebet sprechen... Nachtgebet sprechen. Seine Worte hallten wider, obwohl er ganz normal gesprochen hatte, fast leise. In mir löste sich etwas. Als kleiner Junge hatte ich nach langem Regen große Pfützen abgedämmt, mit Erde und mit Grasplacken. Das Wasser sammelte sich dann zu einem richtigen kleinen See. Wenn es dicht unter der Dammkrone stand, bohrte ich mit einem Stock ein Loch in den Damm, durch das das Wasser hervorschoß. Das Loch wurde sehr schnell größer, bröckelte auseinander, Erde und Grasplacken wurden gelockert, bis plötzlich der ganze Damm brach und alles wegspülte und mitriß, was vorher im Wege gewesen war. Ich fühlte meinen Hintern gar nicht mehr. Es war so, als sei ich nur mal eben aufgestanden, zur Toilette gegangen, als hätte ich den Oberbruder getroffen, der draußen vor dem Fenster stand und der mir nach dem Pinkeln ein nettes Wort sagen wollte. Und ich ihm. »Du Schwein«, sagte ich. Und als er nichts erwiderte, nur milde lächelte, sagte ich es noch einmal. »Ts, ts, ts«, machte er und schüttelte tadelnd den Kopf. Ich schrie. »Du Schwein! Du Dreckschwein! Du Torfschwein! Du elendes Torfschwein!!« Er schüttelte immer nur den Kopf. Ich rüttelte an den Gitterstäben und begann noch lauter zu schreien. Da ging er schnell weg, in die Dunkelheit hinein. Ich schrie hinter ihm her, bis ich keine Luft mehr bekam, nur da stand und in die Dunkelheit starrte. Ich wußte nicht wie lange. Als ich in den Schlafsaal schlurfte, war es totenstill. Mir fiel auf, daß niemand nachgesehen hatte, aus welchem Grund ich so geschrien hatte. Ich legte mich bäuchlings auf die Querstrebe. anderen Morgen blieb ich liegen. Bruder Schulze ging mit der nicht lügenden Latte an meinem Bett vorbei, er blieb erst beim dritten Mal stehen und sah mich an, nickte mehrmals. »Du hast Fieber, mein Sohn«, sagte er schlicht, »aber mit unserer und Gottes Hilfe wird das bald überwunden sein.« Das war alles. Ich dachte daran, wie er neulich rumgebrüllt hatte, als einer morgens liegengeblieben war, wegen eines verstauchten Fußes. »Deshalb wird trotzdem aufgestanden«, hatte Schulze -2 7 2 -
gebrüllt, »wir sind doch hier kein Sanatorium für verstauchte Füße nicht!« Nach einer Weile kam er wieder, hinter ihm eine Weißbinde mit dem Frühstücksbrot. Er schob mir ein Fieberthermometer unter den Arm. »Mein Gott, Kranke dauern mich«, sagte er und zog es wieder raus. »Neununddreißig. Bis auf weiteres Bettruhe.« Er kramte in seiner Jackentasche und fischte erst eine, dann noch eine Tablette heraus, pustete einige Krümel ab und ließ sie in meinen Kaffee plumpsen. »Du kriegst gleich noch 'ne Schüssel mit essigsaurer Tonerde, damit machst du Umschläge an deinen Fieberstellen. In drei Tagen bist du wieder gesund. Länger als drei Tage hat bei uns noch nie einer Fieber gehabt.« Dann war ich allein im Schlafsaal, mit einer Schüssel essigsaurer Tonerde. Das Nachthemd war an meinem Hintern festgeklebt, und es dauerte lange, bis ich Stück um Stück gelöst hatte. Ich kippte die Schüssel durch das Fenster aus. Die Morgensonne schien herein. Ich trug mein Bett dorthin und legte mich auf den Bauch, ließ meinen Hintern bescheinen. Sonne heilte. Nach dem Mittagessen erschien Oberbruder Elias. Ich hatte mich gerade wieder auf den Bauch gedreht und blieb so liegen. »Nun, mein lieber Holberg, von Bruder Schulze habe ich erfahren, daß es dir heute nicht vorbehalten ist, zu schaffen. Du hast Fieber?« Er wollte nach meinem Handgelenk greifen, doch ich riß es weg. »Wenn Sie mich anfassen...«, sagte ich böse und ließ offen, was dann passieren könnte. Er zuckte zurück. Dann wiegte er bedächtig den Kopf. »Im Sommer sind die Grippen am gefährlichsten«, sagte er und starrte konzentriert auf den Boden. »Ich habe kein Fieber«, sagte ich. »Ich weiß, ich weiß. Du willst es nicht zugeben, das ist bei allen Kranken so, das ist auch verständlich, bei dem wunderbaren Wette das uns der Herr schickt. Da will man raus in die Natur, da will man schaffen, voller Kraft und Lebensfreude werken! Aber ein paar Tage mußt du ruhen, mein Lieber, auch wenn es dir schwerfällt. D, brauchst dir keine Sorgen um deinen Arbeitsplatz zu machen selbstverständlich -2 7 3 -
kommst du wieder vor deine Kette.« Ich sah ihn schräg von unten her an und verspürte plötzlich den fast unbändigen Wunsch, ihn anzuspringen, einfach so, wie ein Tier. Er konnte sich gegen mich nicht wehren, seine Peitsche würde nicht viel helfen, ich würde in seine Kehle beißen, in diese faltige adamsapfeltragende Oberbruderkehle, und er würde vor Angst schreien. In Jesu, meine Kehle, meine Kehle, würde er schreien. Mal sehen ob der ihm dann helfen würde. Elias ging ein paar Schritte zurück, als wollte er ohnehin gehen. Er blieb am Fenster stehen und sah nach draußen, da ich ihn immer noch anstarrte. »Ich werde für dich beten«, sagte er, ohne sich nach mir umzudrehen. »Möge es dir bald besser gehen, mein Sohn.« Er wippte auf den Stiefelspitzen und ging schnell aus dem Saal. »Abzählen!« »Eins!« »Zwei!« »Drei!« »Vier!« »Fünf!« Pause. »Sechs«, sagte ich. »Von vorne, Jungs!« Elias stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der Gruppe. »Eins!« »Zwei!« »Drei!« »Vier!« »Fünf!« Pause. »Sechs.« Das war ich wieder. Abgezählt wurde an jedem Morgen. Bis sechzehn. Mal drei waren das achtundvierzig Mann. Heute war der vierte Tag nach der Prügelaktion und der erste, an dem ich wieder mit rausging, zur Arbeit. Durch einen dummen Zufall stand ich in der ersten Reihe, die immer abzählte. -2 7 4 -
Immer, wenn ich »Sechs« sagte, stoppte Elias und verlangte das Abzählen von vorne, und jedesmal sagte ich langsamer »Se-c-h-s«. »Zähl doch'n bißchen schneller, Mensch!« zischte mein Hintermann. »Ich schlag dir gleich das andere Auge auch noch zu!« sagte ich laut und drehte mich zu ihm um. Er schwieg. Sein rechtes Auge war gelb-grün und vollkommen zu. Es war der, den ich in jener Nacht Gesicht getroffen hatte, hatte mir Jürgensen erzählt. Aber Holberg, warum bist du so aggressiv?« fragte Elias. »Von vorne, Jungs!« Als ich zum wer weiß wievielten Male »Sechs« sagte, ließ Elias weiterzählen. »Reeeechts um!« brüllte eine Weißbinde. »Im Gleichschriiiiitt... marrrrsch!« Wir stampften zum Lorenschuppen. »Ein Lied!« »Das Leben ist ein Würfelspiel... drei... vier!« »Das Le-ben ist ein Wür-fel-spiiiel, wir wür-feln al-le Tage, dem einen bringt das Schick-sal viel, dem an-dern Müh und Plage...« Elias marschierte im Gleichschritt neben uns und schlug im Takt mit der Gerte an seinen Stiefel. Sein Gesicht glänzte in der Morgensonne. Wir rückten am Lorenschuppen auf, stampften auf der Stelle weiter und sangen »Märkische Heide«, »Wohlauf in Gottes schöne Welt« und »Ein Tiroler«. Beim »Tiroler« bekam ich einen Lachkrampf, weil ich mir Elias in Lederhosen und Reitstiefeln vorstellte. Je mehr ich den Krampf zu unterdrücken versuchte, desto lauter brüllte ich los. Ich schüttelte mich richtig vor Lachen, weil sich jeder nach mir umwandte und mich blöde singend ansah. Elias schrie mich an, er war ganz rot im Gesicht. »Holberg! Ich entziehe dir für drei Tage das Rauchen!!« Er zitterte. »Äh... du schälst jeden Abend einen Eimer Kartoffeln! Zwei Eimääär!! Dreiiii!!« Das brachte mich wieder zur Besinnung. Ich gluckste vor mich hin. »Was, so frage ich dich, veranlaßte dich so zu lachen!?« -2 7 5 -
Alles war still, begierig zu hören, was der Grund gewesen war. »Ich hab' mir vorgestellt, Sie in Lederhosen und Stiefeln.« Die Kolonne kicherte, dann nur noch ein paar Nichtraucher in den hinteren Reihen. Elias' Stirn legte sich in Falten, als dachte er nach. »Wie spaßig«, er lächelte schief, »ich mag humorvolle Menschen.« Und die, die vorher aufgehört hatten, lachten mit. »Und nun, Jungs, möchte ich noch ein schönes Lied hören. Ihr dürft auch heute abend etwas länger machen.« »Das Lieben bringt groß Freud..., drei, vier!« stimmte eine Weißbinde an. Ich stand wieder an der Lorenpumpe, pumpte und bewegte die Zehen in den neuen Holzbotten hin und her. Die Botten waren mindestens zwei Nummern zu groß, ich hatte sie mir extra geben lassen, damit ich schneller herausschlüpfen konnte, wenn es drauf ankam. Ich konnte die Füße rausziehen, ohne daß sich die Holzschuhe vom Boden hoben. Ehe die anderen etwas bemerken würden, konnte ich einfach losrennen. Merken würden sie es schon, doch dann hatte ich schon einen kleinen Vorsprung, weil sie die eigenen Botten erst ausziehen mußten. Die mußten richtig abgezerrt werden, weil jeder Fußlappen tragen mußte. Ich trug keine Lappen. Daß ich wieder abhauen würde, das stand fest. Und diesmal ging ich nicht nach Hause. Heute waren es fünf Wochen in Heiligenstatt, sie kamen mir wie fünf Jahre vor. Niemandem würde ich etwas sagen. Auch Jürgensen nicht. Ich mußte es schaffen. Ich werde dann losrennen, wenn keiner damit rechnet. Mama. Die hatte gut reden. Und der zweite Vater erst! Der hatte mich einfach wieder abgeliefert und damit basta. Damit hatte sich's. Mit dem Leiter sprechen, sagte er. Dabei sprach er nicht mal mit dem eigenen Vater, wenn es um etwas ging. Vor diese verdammte Kette muß ich wieder. Wenn sie mir auf die Hacken rollt, dann bin ich ein Torfbild. Ob Elias dann anhalten läßt? Sicher, das muß er. Aber er kann warten, bis ich auf der Rückseite wieder zum Vorschein komme.
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Am Abend rückten wir eine halbe Stunde später ein, und den meisten war anzusehen, daß sie gerne geflucht hätten, doch jeder sang. Es hörte sich an, als sei ein Gesangsverein von einer Wanderung zurückgekommen. Ein bißchen Blaubeeren suchen, ein bißchen Blindekuh spielen, in einem Gasthaus einkehren, eine lustige Gesellschaft, es war ein schöner Tag gewesen, stramm, forsch. Der Abend nahte. Doch als »Abteilung halt!« ertönte, war das Stramme und Forsche weg. Es war wie eine Gruppe Bergarbeiter, die von der Spätschicht kam, schlurfend, verdreckt, mit Mienen, in denen man »Scheiße«, »Mist«, »Dreck«, »Alles egal«, »Ich mache das nicht mehr mit« und »Bloß weg hier« lesen konnte. Nach dem Essen änderten sich die Mienen. »Junge, war das heiß heute«, »Wenn man wenigstens mal baden könnte«, »Jetzt 'ne Zigarette« und »Ich bin müde«. Dann gab es »Feuer frei«. Jeder, fast jeder rauchte, und die Gesichter drückten Zufriedenheit aus. Es wurde gelacht, wenn Bruder Bolm einen Witz machte, der gar keiner war. Ich saß in einer Ecke und dachte Bergarbeitergedanken. Der Oberbruder hatte mir ein Liederbuch gegeben, weil ich nie mitsang. Das Buch war wie neu, vor zweiunddreißig Jahren in Leipzig gedruckt worden. »Nimm und lerne«, hatte er gesagt, »böse Menschen kennen keine Lieder.« Dem Singen nach müßten schon alle entlassen sein, dachte ich. Die einzigen, die noch mehr sangen, das waren die Engel, meinte Bruder Bolm, Bei dem gab es die noch. Bei Schulze auch. Wenn er zuviel Tee gesoffen hatte. »Hinrichs!!« Das war er, der Schulze. Einer der Vertrauensleute flitzte ins Bruderzimmer, kam einen Augenblick später mit der Schulzeschen Thermosflasche zurück. Damit ging er in den Waschraum, stellte sie unter laufendes Wasser, dort stand sie zehn Minuten oder auch eine halbe Stunde, bis Schulze rief. Normalerweise sollte Hinrichs bei der Flasche stehenbleiben, warum wußte er selbst nicht. Schulze wollte es eben so. Doch im Waschraum war das -2 7 7 -
Rauchen bei Strafe untersagt. Strafe hieß eine Woche Rauchverbot. Im Augenblick war gerade »Feuer frei«, und wenn Schulze seine Flasche länger kühlen ließ, dann konnte Hinrichs wieder mal nicht rauchen. Es kam vor, daß der Tabak vor Beendigung des Kühlvorgangs wieder eingesammelt wurde. Deshalb kam Hinrichs sofort wieder aus dem Waschraum heraus und setzte sich gleich neben die Tür auf eine Bank, rauchte hastig und lauschte mit einem Ohr zum Bruderzimmer hin, damit er mitbekam, wenn Schulze aufstand oder mit einem Schrei den Kühlvorgang beendete. Warum gekühlt wurde, wußte nur Schulze. Vielleicht war es eine besondere Thermosflasche, dachte ich, so eine, die man dauernd kühlen mußte. Aber dann müßte sie auch in der gleichen Zeit wieder warm sein. Was geht mich die Schulzesche Flasche an. Ich dachte plötzlich an Wälzer, an dessen englische Schuhe und an die Haufen, wie wir ihm vor die Tür gepflanzt hatten. Ich erhob mich und ging in den Waschraum. Schulzes Flasche stand unter dem ersten Wasserhahn. Es war eine aus Plastik mit einem abschraubbaren Becher. Den machte ich mit zwei Umdrehungen ab, zog den Korken raus und roch. »Gebrannter« Tee! Unverdünnt, wie mir schien. Die Flasche war dreiviertel-voll, ich kippte einen gehörigen Schuß ins Waschbecken, dachte nicht einen Moment daran, was passieren würde, wenn Schulze jetzt reinkäme oder irgendein Junge. Ich zog ein Hosenbein hoch und hängte mein Ende in den Thermosflaschenhals, verdünnte mit langem Strahl bis eine ordentliche Schaumkrone rauskam. Sehen konnte ich nichts, aber das Gewicht stimmte in etwa. Ich preßte den Korken in den Flaschenhals, drehte den Becher fest und stellte die Flasche wieder unter das laufende Wasser. Das ganze hatte höchstens ein oder zwei Minuten gedauert. Als ich rausging, kam ein anderer Junge herein. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, sah in das neue Liederbuch und fragte mich, ob Schulze jedesmal in die Flasche reinguckte, bevor er trank. Beobachtet hatte ich das noch nicht. Aber der Schaum würde -2 7 8 -
dann sicher weg sein. Das war beim Bier genauso. Es folgten noch zwei Mann in den Waschraum. Der erste kam wieder. Das war gut. Jetzt ließ sich nicht mehr feststellen, wer es gewesen war. Ich dachte einen Augenblick daran, daß ein anderer die gleiche Idee haben könnte. Das wäre blöd. Dann würde die Flasche überlaufen, der Schulze bekäme eine ganz volle zurück. Hatte er gar nicht verdient. Und die Mischung würde ihn bestimmt mißtrauisch machen. Ich lernte auswendig. Bei der vierten Strophe von »Nach der Heimat« schrie Schulze. Hinrichs sprang sofort hoch, verschwand im Waschraum, kam mit der Flasche raus, eilte durch den Tagesraum ins Bruderzimmer, kam wieder und setzte sich woanders hin, drehte sich jetzt in aller Ruhe eine Zigarette. Ich setzte mich bequemer hin und wartete. Es passierte nichts. Schulze würde einen Schrei ausstoßen. Nach Hinrichs. Nichts. Das betrübte mich ein bißchen, doch eigentlich sollte der Schulze ja auch nichts merken. Er hatte was gemerkt! Ohne Schrei stand er plötzlich in der Bruderzimmertürfüllung, in einer Hand seine Thermosflasche, er machte ein paar Schritte in den Tagesraum. Sein Blick wanderte suchend über die Jungenköpfe. Hinrichs ging sofort zu ihm hin. »Sag mal, du Rübenschwein, was hast du mit meinem Tee gemacht?« fragte Schulze grollend. Nicht besonders laut, doch da alles still war, konnte man seine Worte bis in den letzten Winkel des Raumes hören. Jeder ahnte, daß hier etwas nicht stimmte und daß die Klärung mitten im Tagesraum erfolgen sollte. »Ich?« fragte Hinrichs. »Jaaaa! Du! Oder heißt hier noch einer Hinrichs?« bölkte Schulze los. »Ich habe nichts gemacht, ich habe nichts mit Ihrem Tee gemacht. Gekühlt habe ich ihn, sonst nichts. Ich habe die ganze Zeit dabeigestanden.«
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Das mußte er sagen, denn wenn Schulze erfuhr, daß Hinrichs nicht dabeigestanden hatte, daß er im Tagesraum gesessen und geraucht hatte, dann war es aus mit dem Rauchen. Jedenfalls für die nächsten acht Tage. »Willst du mich einen Idioten stempeln, in Christi!?« Der Junge wand sich, suchte nach einem passenden Wort und machte ein ganz ehrliches Gesicht. Verstellen brauchte er sich ja auch nicht. Bruder Schulze glotzte ihn durchbohrend an. Dann roch er mißtrauisch an der offenen Flasche, nahm einen kurzen Schluck und schmeckte prüfend mit der Zunge nach. »Schmatz, schmatz, schmatz«, machte es, wobei der Mund auf und zu ging. Ich fragte mich, ob er es wohl merken würde, wenn man ihm einen kleinen Haufen in den Eintopf setzen würde. Bevor Schulze zu essen begann, zerdrückte und verrührte er alles, was in der Suppe war, mit einer Gabel. Wegen seiner zwei Zähne, mit denen konnte er nicht mehr viel machen. »Das ist doch nicht mein Tee!« brüllte er. »Was ist das!?« Er hielt Hinrichs die Thermosflasche unter die Nase, die er kraus zog, damit Schulze auch sehen konnte, wie er schnüffelte. »Das ist Tee«, sagte er vorsichtig. Was sollte er sonst sagen. Wäre es Teer gewesen, so hätte er ebenfalls sagen müssen, es sei Tee. Schließlich hatte er die ganze Zeit danebengestanden. Schnaps durfte er auch nicht sagen. Das wäre eine Beleidigung gewesen und eine Lüge auch. Schulze trank nur Tee. Ostfriesischen. »Schweinerei!« grollte Schulze. Er schien zu merken, daß seine Ermittlungen in eine Sackgasse gerieten. Er nahm wieder einen langen prüfenden Schluck. »Na gut, heute abend Rauchverbot«, sagte er zu Hinrichs, »damit du lernst, wie in Zukunft Tee zu kühlen ist. Und morgen abend auch! Feuer einstellen!« rief er in den Tagesraum. »Material einsammeln!« Er dachte nach. »Und du wirst das Vaterunser zwanzigmal aufschreiben«, weitete er die Bestrafung aus. »Ich fange sofort an«, sagte Hinrichs schnell.
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»Vierzigmal«, sagte Schulze und schlurfte ins Bruderzimmer. Ich überlegte. Vierzigmal das Vaterunser, dafür hätte ich lieber eine Woche nicht geraucht. Hinrichs brauchte für das Schreiben zwei Abende. Er hatte nur einen kleinen Bleistiftstummel zur Verfügung. Am dritten Abend bekam er seine Rauchwaren wieder ausgehändigt. Ich schälte immer noch an dem ersten Eimer Kartoffeln. In drei Tagen achtundzwanzig Stück. Der Eimer kam abends ins Bruderzimmer. Ich sollte jetzt schon morgens nach dem Frühstück mit dem Schälen beginnen, hatte Elias gesagt, die Kartoffeln würden gebraucht. Morgen werde ich türmen. Egal wie. Ich werde das Schälmesser heute abend nicht in den Eimer legen, überlegte ich. Bolm hatte Dienst, der achtete nicht so drauf. Das Messer ist nicht sehr lang, doch ich werde mich damit wehren können. Am anderen Tag fuhren wir mit den Loren zu einem neuen Feld. Es lag auf der anderen Seite wie das alte Feld, weit im Moor. Dort stand ein gleiches Förderband, das von demselben Monteur bedient wurde; die gleiche Arbeit, der gleiche Torf. Ich hatte das Schälmesser unterm Hemd im Hosenbund stecken. Als wir vor dem Band Aufstellung nahmen, schob ich es unauffällig nach hinten, weil es beim Bücken hinderlich war. Das Förderband ruckte an. Ich überlegte fieberhaft. Je eher, desto besser. Wir befanden uns hier in einer ganz anderen Gegend. Zu beiden Seiten des Feldes verlief ein breiter Wassergraben. Ich müßte jetzt sofort losrennen, nach hinten weg, doch hinter dem Band gingen die Weißbinden, das würde ich nicht schaffen. Ich könnte es am Feldende versuchen, aber bis wir dort waren, das konnte zwei Tage dauern. Der Schweiß lief mir über den Rücken. Das Messer scheuerte. Wenn ich mich ein paarmal gebückt hatte, mußte ich es wieder hochschieben, damit es mir nicht durch die Hose rutschte. »Holberg!« rief Elias von oben. »Komm doch mal rauf!« -2 8 1 -
Das Band stoppte. Hatte er was gemerkt? Aber er konnte doch nichts gemerkt haben. Nur ich wußte, was los war. Ich kletterte über die Raupenkette über eine schmale Eisenleiter auf die Plattform. »Deine Kartoffelausbeute, die geschälte, mein Lieber, ist mäßig, sehr mäßig«, sagte Elias, »sie ist saumäßig. So saumäßig, wie meine Freude ist. Und das willst du doch nicht, oder? Wahre Freude ist..-« Ich stand da und sah an ihm vorbei auf die Reihe der Jungen, die sich ein ganzes Stück vorarbeitete, da das Band nicht fuhr. Mein Streifen blieb wie eine schmale Straße liegen. Ich sah über den einen Wassergraben auf die dahinter befindliche Böschung, hinter der mannshohe Birken standen und Buschwerk, so weit ich sehen konnte. Unten vom Feld aus konnte man nur die Spitzen der Birken erkennen. Wenn ich erst dort drüben in dem Busch war. Nur einen ganz kleinen Vorsprung brauchte ich. »... und deshalb schaffe mit Liebe und mit Freude, mein Sohn!« Ich stieg wieder nach unten. Die Jungenreihe hatte sich gut zehn Meter vorgearbeitet und wartete, während ich mich bückte. Das Förderband rollte an. Ich schob die Hände unter einen Torfstapel, hob ihn an, drehte mich halb herum und warf den Stapel mit Schwung auf das Band. Ich bückte mich, schob die Hände unter einen Torfstapel, hob ihn an, drehte mich halb herum und warf den Stapel mit Schwung auf das Band; ich bückte mich, schob die Hände unter einen Stapel, hob ihn an, drehte mich halb um und warf den Stapel mit Schwung auf das Band; ich bückte mich, Hände drunterschie-ben, Schwung holen, werfen; bücken, heben, drehen, werfen, bücken, heben, drehen, werfen. Jedesmal beim Umdrehen sah ich den großen Vogel auf der Plattform, der mit spiegelnden Augen alles beobachtete. Bis zum Mittag mußte ich noch sechsmal auf die Plattform klettern, weil Elias mir dauernd etwas zu sagen hatte. Ich mußte an die beiden im Schlafsaal neben mir denken, die Elias ins Moor schubsen wollten. -2 8 2 -
Am Nachmittag mußte ich austreten. Ich ging in einen Graben, neben dem Feld. Vielleicht konnte ich geduckt in ihm entlanglaufen. Doch Bruder Schulze, der unten zwischen den Jungen stand, folgte mir sofort. »Du sollst kacken, in Christi«, sagte er, »und nicht Pause machen!« Er blieb stehen und guckte zu. Da konnte ich nicht mehr. Ich arbeitete von der linken Kette des Bandes. Bei jeder Drehung, wenn ich den Torf nach hinten warf, linste ich zu dem an dieser Seite liegenden Graben. Er war drei oder vier Meter breit, mit senkrechten Torfwänden. Der Graben war voll Wasser, ich hatte es am Vormittag vom Band aus gesehen. An der gegenüberliegenden Torfwand verlief eine schmale Torfleiste, so breit, wie ein Schuh lang war, dann stieg die Böschung schräg empor. Es war die Erde, die früher von dem Feld abgetragen worden war. Im Laufe der Zeit war diese Erde mit Gras und kleinen Sträuchern bewachsen. Ich müßte mich ein Stück vorarbeiten, dachte ich, dann kann niemand sehen, wenn ich aus den Botten schlüpfe, die Torfstapel reichen bis zu den Knien, und dann renne ich los, springe über den Graben auf die andere Seite, auf die Torfleiste, ich fasse gleich in das Gras, am besten in einen Strauch, die Leiste wird unter mir abbrechen, wenn ich in den Graben falle, ist es aus, da komme ich nicht wieder raus, bloß nicht dran denken. Mein Hintern tat ein bißchen weh, obwohl er gut verheilt war. Ich begann schneller zu arbeiten, ich warf die Stapel schneller auf das Band. »Was ist denn mit dir los?« zischte Jürgensen neben mir. »Ist dir die Hitze in die Birne gestiegen?« Ich grinste schwach. »Oder meinst du, jetzt bist'n Pferd?« »Wieso Pferd? Freuen soll er sich, der Elias, er sagt doch, wenn man zügig schafft, dann freut er sich. Und lieben tut er uns dann auch.« -2 8 3 -
»Du bist verrückt! Du bist tatsächlich verrückt geworden!« »Aber Jungs«, rief Elias von oben, »ich sehe mich gezwungen, eine letzte Verwarnung auszusprechen! Arbeiten macht glücklich, Schwatzen betrübt! Und ihr wollt doch nicht betrübt sein! « »Nun hör dir das Vieh an!« knirschte Jürgensen. »Wunderbar, Holberg«, ließ Elias' Stimme wieder vernehmen, »ich mag solche Menschen wie dich. Du arbeitest prächtig! Jürgensen! Nimm dir mal an Holberg ein Beispiel!« Ich hatte mich gut zwei Meter vorgearbeitet, ich schaffte es noch eben, den Torf bis auf das Band zu schmeißen. Ich wartete einen Moment, arbeitete weiter und streifte meine Botten ab, machte zwei Schritte auf Socken. Jetzt mußte ich loslaufen. So oder so. Wenn Elias merkte, daß ich auf Socken lief, dann wußte er, was los war. Und die Botten konnte ich auch nicht wieder anziehen, weil ich dann zurückgehen mußte Einen Strauch gab es hier an der Böschung nicht, doch das Gras war dicht und hoch: Ich renne ein Stück geradeaus und dann im rechten Winkel auf den Graben zu, ich muß richtig Schwung haben... Das Denken dauerte nur wenige Sekunden, Ich rannte los. Zwischen den Stapeln entlang. Fünf Schritte... zehn... zwanzig... »Haaalt! Haaalt! Haaaaaaltü« Es hörte sich an wie ein Tier, das unter ein Auto gekommen ist. Es war der Oberbruder, der da schrie. »Daaa! Daaaa! Festhalten sage ich! Festhalten! Hinterher!« Ich rannte mit angewinkelten Armen, weit nach vorne gebeugt. Sie ziehen jetzt ihre Botten aus, denken wohl, ich will bis ans Feldende laufen. Ich schlug einen Haken, riß eine Reihe Torfstapel um, raste auf den Graben zu. Beine unter den Bauch, Brust vor, dann Hände und Beine vor, es ist nur eine Weitsprungübung, Elias hat gesagt: Jungs, wer -2 8 4 -
von euch als erster über den Graben springt, der darf nach Hause... Und ich versuche es eben als erster. Ein ganz normaler Sprung, so ein Grabensprung - da war der Rand! Ich flog richtig über den Graben, über das Wasser, kam mit den Füßen auf die Torfleiste an der anderen Seite, meine vorgestreckten Hände krallten sich in die Grassoden, unter meinen Füßen brach der Torf weg, ich trat wie ein Rasender nach, griff mit einer Hand höher, fand ein wenig Halt, griff wieder nach, trat und stemmte mich mit den Knien höher, dann ging es besser. Meine Ohren waren wie taub gewesen. Jetzt hörte ich das Geschrei hinter mir und über allem Elias' grölende Stimme. Ich erreichte den oberen Rand der Böschung, hörte, wie unter mir die ersten Jungen in den Graben plumpsten und wild durcheinander schrien. Ich drehte mich kurz um. Noch hatte es niemand geschafft. Ich rannte die Böschung runter in die niedrigen Birken. Sie würden es vielleicht an einer anderen Stelle versuchen. Elias würde nicht locker lassen. Sollte er es doch selbst versuchen, mit seinem Herrn. Ich keuchte durch das hohe Gras. Manchmal quatschte der Boden feucht unter mir, und ich dachte, daß es gut sei, wo der Boden unsicher war, dort würden sie nicht so suchen. Ich könnte mich verstecken, doch sie würden an jeder Stelle nachsehen. Laufen war besser. Sie würden trotzdem alles absuchen, ob ich lief oder ob ich mich versteckte. Ich lief aber, und sie verloren durch das Suchen Zeit. Mein Atem wurde immer knapper. Ich blieb stehen und lauschte nach hinten, ich konnte jedoch nichts hören, weil meine Ohren zu sehr rauschten. Vielleicht war es gar nicht hinten? Vielleicht war es vorne oder rechts oder links? Ich würde es merken, wenn ich im Kreis lief, sie verständigten sich durch Zurufe beim Suchen, ich hatte es beim ersten Abhauen gehört: Ich gehe einfach immer weiter ins Moor, einmal mußte es ja zu Ende sein, ich würde irgendwo rauskommen. Hier gibt es -2 8 5 -
Schlangen. Aber sie sind meistens dort, wo es trocken ist. Außerdem tue ich ihnen ja nichts. Tiere merken so was. Ohne Grund beißt kein Hund. Wieso dann eine Schlange? Die Socken hatte ich unterwegs verloren. Ich sackte immer öfter bis über die Knöchel in den nassen Boden ein, und es strengte an, die Füße herauszuziehen. Dann schmatzte es. Ich ruhte mich erst aus, als ein dunkler Streifen am Horizont die Dämmerung ankündigte. In dieser Richtung mußte auch der Hauptweg sein, so meinte ich, nach dort mußte ich zurück. Ich legte mich hin, mit den Füßen nach Westen, ich starrte in den Himmel, der zusehends dunkler wurde. Im Dunkeln findet mich hier nicht mal eine Armee, dachte ich. Jetzt müßte ich eine Zigarette haben, das wäre gut. Ich schob die Hände unter den Kopf und dachte an Ingrid. Dort konnte ich mich ausruhen und essen und rauchen. Brötchen mit ganz dick Erdbeermarmelade. Und schwarzen Kaffee. Ich esse eine ganze Tüte voller Brötchen, na ja, und wenn ich Lust habe, dann esse ich eben noch eine. Eigentlich habe ich Hunger. Über mir schob sich eine Wolke langsam vorbei. Wie eine Brust mit einer langen Warze. Ingrid hatte auch lange Warzen. Ein bißchen lang waren sie, so wie ein Radiergummi an einem Schulbleistift. Ganz hart wurden sie, wenn sie zärtlich war. Oder waren sie doch etwas kürzer? Schöne Brüste hatte sie, ihre Haut war so glatt... Als ich erwachte, war es Nacht. Irgendwo zirpte eine Grille, dann eine andere. Sonst war nichts zu hören. Ich hopste mich warm. Ich überlegte, wie spät es wohl sein konnte und merkte mir ein paar große Birken, nach dort mußte ich gehen, dort hatten meine Füße gelegen. Es war windig. Der Mond tauchte manchmal zwischen Wolkenbänken auf und leuchtete bleich. Oft versackte ich bis zu den Knien, ich machte immer größere Umwege. Auf einmal waren mehrere Birken da, rechts und links, ich wußte nicht mehr, welche nun die richtigen waren.
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Dabei hätte ich schwören können, daß die, die ich gesehen hatte, die einzigen seien. So schnell wuchsen die doch gar nicht. Ich suchte festere Stellen, auf denen ich besser vorankam. Hin und wieder blieb ich stehen und lauschte. Dann raschelte es nicht mehr. Nur dort, wo ich gegangen war, gluckste es leise. Dem Laufen nach müßte ich schon lange auf festem Boden sein, dachte ich. Eine Wiese. Wiesen sind gefährlich im Moor, weil es keine richtigen Wiesen sind, heißt es. Bis jetzt hatte ich immer einen großen Bogen um die Grasflächen gemacht. Ich kann ja vorsichtig sein. Wie naß hier alles ist. Die ganze Woche knallt die Sonne runter, aber hier ist es naß. Ich probierte ein paar vorsichtige Schritte. Es war eine ganz normale Wiese, tiefer als bis zu den Knöcheln versackte ich nicht. Das Suchen werden sie jetzt aufgegeben haben. Kalte Füße habe ich nicht. Das Wasser ist richtig warm. Aha, noch eine Wiese. Ich fand, daß der Boden fester geworden war, ich stakste schneller vorwärts. Auf der anderen Seite standen niedrige Krüppelkiefern und Gräser. Die Wiesen lagen wie Teppiche dazwischen. Plötzlich gab der Boden unter mir nach. Fast am Rand der Wiese. Es geschah so unvermittelt, so schnell. Ich wollte mich nach vorne schmeißen, doch ich war bereits bis an den Bauch versackt und bekam nur noch einen Grasbüschel zu fassen. Nur Ruhe, ganz ruhig mußte ich sein. Ich drehte meinen Körper etwas, um mit der anderen Hand ebenfalls zufassen zu können. Ganz langsam mußte ich mich herausziehen. Gaaaanz langsam, ein bißchen nur, dann kann ich mit der anderen Hand zufassen. Das Gras knackte, dann nochmal, dann riß das Büschel mit einem Ruck aus dem Boden. Ich fühlte richtig, wie ich ein ganzes Stück tiefer versackte. Ich versuchte erneut an das Gras heranzukommen, doch es waren nur die Spitzen, die ich erreichte. Jedesmal rissen sie ab, es wurden immer weniger. Verdammt! Ich kann doch hier nicht einfach absaufen! So ein blödsinniges Moor! -2 8 7 -
Ich versuchte es immer wieder. Bis an die Brust reichte mir jetzt der Schlamm. Wie ein zu enges Hemd. Ich muß doch raus hier! Ich kann doch nicht einfach so versaufen! Nicht mal'n vernünftiges Ertrinken ist das! Sumpf! Ersticken tut man da. Mensch, Ingrid, Inge. Was wird die sagen? Sie sagt nichts, sie weiß nicht mal, daß ich verreckt bin. Vielleicht werde ich erst in zehn Jahren gefunden? Oder in hundert? Jürgensen hatte gesagt, dann hätten sie sicher das ganze Moor trockengelegt. Vielleicht sucht Elias noch? Ich muß schreien. Der läßt mich bestimmt versacken. Aber die Jungen, die ziehen mich raus, wenn sie mich hören. Ich krieg 'n Arschvoll. Aber dann kann ich weiterleben, dann kann ich wieder abhauen. Ich muß laut schreien.. »Hiiilfe!« Das war zu leise. »Hiiiiiilfeeeee!« Ich lauschte. Nichts. Ich sinke nur tiefer, wenn ich schreie. Die hören extra nicht hin, da kann ich lange brüllen. Rote Haare werde ich haben, später, wenn sie mich mal rausziehen. Wie die Moorköppe im Museum. Ekelhaft. Die haben sie auch irgendwo gefunden. Sommersprossen haben sie. Jetzt ist es fast unter meinen Arm, nein, es ist höher. Ich hob die Arme in die Luft und starrte in den nachtdunklen Himmel. Was würde Elias jetzt machen? Beten? Ich kann nicht beten. Beten nützt nichts, verrecken tue ich doch. Wenn der Herr tagsüber nie zu erreichen ist, dann erst recht nicht in der Nacht. Ich kann nicht mal heulen. Mama. Ob die heulen wird? Sie weiß auch nicht, was los ist, sie denkt, ich bin abgehauen und treibe mich irgendwo rum. Heulen tut sie trotzdem. Was soll sie machen? Ich sacke gar nicht mehr... Oder bin ich schon tot und weiß es nicht, nein, ich lebe. Ich fühle unter den Füßen was Hartes, eine Wurzel? Oder ein Ast? Es gibt nicht nach. Ich sehe den Mond. Jetzt eine Wolke. Wie eine Lokomotivwolke. Der Zug ist weg und sie -2 8 8 -
hängt noch in der Luft. Es muß ein Ast sein, ich kann drauf stehen. Daneben ist es weich, ich kann es mit dem anderen Fuß fühlen. Ich schob erst den einen Fuß vor, ganz langsam, der Halt blieb. Es ging so schwer, daß mir der Schweiß über die Stirn lief, daß ich meinte, ich würde es nie schaffen. Ich holte den anderen Fuß nach, arbeitete mit den Zehen wie eine Raupe, die Graskante der Wiese kam immer näher. Dann konnte ich in das Gras fassen, ruhte mich aus, machte weiter. Ich bohrte die gespreizten Finger durch das Gras in den Boden. Das half. Ich konnte mich dichter an den Rand ziehen, das Loch, in dem ich steckte, war ein richtiges Loch, mit fast senkrechten Wänden, die weich und astig waren. Ich fand Halt mit den Zehen, griff mit den Händen nach und hatte schon die Brust frei, ich arbeitete mich bis zum Bauch raus und lag keuchend auf dem Rand, zerrte, schob und zog mich weiter. Als ich ein Bein rauszog, schmatzte es laut und gluckerte nach, wie bei einem leeren Blechtopf, in den durch ein Loch im Boden Wasser eindringt. Ich zog das andere Bein hinterher, blieb liegen und fühlte mein Herz gegen den Boden pochen, ich roch das Gras und den leichten Modergeruch in der Luft. Ich wälzte mich auf den Rücken, lag eine ganze Zeit so und dachte an gar nichts. Ich sah nur auf die Wolken, die über mir vorbeizogen. Dort, wo ich im Sumpf gesteckt hatte, war nichts zu sehen. Nur eine gleichmäßig gestutzte Wiese. Ich kratzte einen Klumpen Dreck vom Hemd, warf ihn weg. Durch den Grasteppich lief ein Zittern. Ich nahm einen großen Klumpen Erde. Es klatschte. Die Grasnarbe riß auf, ein dunkler Fleck wurde sichtbar, dann schloß es sich wieder. Scheißmoor. Ich stand auf, ging vorsichtig weiter. Vielleicht komme ich hier überhaupt nicht mehr raus. So was gab es ja. Man rannte immer im Kreis herum. Entweder versackte man oder man verhungerte. -2 8 9 -
Weit vor mir war ein undeutliches Licht zu sehen. Ich machte die Augen zu. Im Moor hat ein Licht nichts zu sagen, dachte ich, Irrlicht ist das. Doch als ich wieder hinsah, war es an der gleichen Stelle. Ich ging schneller. Vielleicht ist es ein Bohrturm? Die Türme stehen am Rand des Moors, das weiß ich. Ich habe es gesehen, als mich der zweite Vater zurückgebracht hat. Oder ist es ein Hof? Ein Bauernhof? Plötzlich versackte ich mit einem Bein wie in einer gelöschten Kalkschicht, ich ließ mich zur Seite fallen, kroch zurück, tastete mich weiter, da der Mond von Wolken verborgen war. Ich fand das Licht nicht mehr, nicht die Richtung, in der ich es gesehen hatte, ich ging immer der Nase nach, ohne zu wissen wohin. Ich meinte, der Boden sei fester geworden. Es gluckerte auch nicht mehr hinter meinen Schritten. Der Mond kam wieder durch. Ich sah schräg vor mir einen aufragenden Schatten, zwei waren es, ich erkannte die hohen Masten eines Förderbandes, von denen die Stahlseile zu den Auslegern Hefen, wie ein Trapez, sah es aus. Ich kam an den Rand eines Torffeldes. Ich ging an den Stapeln entlang und pfiff ein bißchen vor mich hin, als hätte ich Angst, Band und Feld könnten zusammen mit dem Mond wieder verschwinden. Doch das Feld blieb und das Band auch. Ich brauchte nur das Feld hinuntergehen, dann kam ich an den Weg. An jedem Feld war ein Weg. Und Lorenschienen. Ich kam heraus, aus dem Moor. Es war das Torffeld, auf dem wir gearbeitet hatten. Das Förderband stand fast an der Stelle, an der ich über den Graben gesprungen war. Wo, konnte ich nicht mehr sehen, überall waren die Torfleiste und der Grabenrand weggebrochen. Sie sind also auch rübergekommen, aber zu spät. Ich kletterte auf eine Raupenkette, über die Eisenleiter nach oben auf die Plattform, auf deren einer Hälfte die Fahrerkabine war, ein Überdach, vorne und hinten eine Blechwand, an den Seiten stand sie offen. Vielleicht hatte der Fahrer sein Frühstücksbrot nicht aufgegessen, und es lag noch -2 9 0 -
irgendwo was rum. Aber der hatte dicke Backen gehabt, der aß sicher alles auf. Ich fand nichts. Auf der Plattform befand sich ein drehbarer Eisensitz, wie auf einem Heumäher. Hier saß er immer, der Elias. Und ein Kissen legte er sich auch noch unter seinen Pferdehintern. Ich setzte mich. »So ist s richtig! Nur dem ist Glück gegeben, der mit Freude schafft! Nur weiter so, den duftenden aromatischen Torf gewinnen!« Wie er schwitzt, der Elias. Ganz rot ist er im Gesicht. Und seine Stiefel, so staubig sind die. Jetzt guckt er zu mir hoch, immer wenn er sich umdreht. »Wunderbar Elias! So gefällst du mir! Die anderen sollten sich ein Beispiel an dir nehmen!« Er macht weiter. Er ist langsamer geworden. Den Torf schmeißt er auch dauernd daneben. Was ist das denn!? Jetzt quatscht er doch mit seinem Nebenmann Schulze! Das ist doch... »Du sollst arbeiten, Elias! Keine Konversation, Elias! Ich werde dir für heute abend das Rauchen streichen müssen! Du hast mir doch gesagt, du willst mit Freude schaffen, weil du mein Bruder bist! Und du auch, Schulze. Ab sofort säufst du keinen Tee mehr. Du kriegst eine Woche lang Petroleum, dann kannst du auch schneller arbeiten, in Christi!« Elias arbeitet jetzt schneller. Schulze auch. Sie gucken nur ganz kurz zu mir hoch, wenn sie den Torf aufs Band schmeißen. Wie der Schweiß über ihr Gesicht läuft, hahaha, jetzt kommt er sogar aus den Stiefeln. »Brav, Elias! So mag ich dich! So bereitest du mir Freude, und ich habe Grund dich zu lieben!« Hört er gar nicht zu, der Elias? Er tut so, als hörte er nicht zu! Wie ein Roboter bewegt er sich. »Heh, Elias, hörst du!? Freude sollst du mir bereiten! Und Liebe! Verstehst du!? Diesen wunderbaren braunen Torf muß man einfach mit Freude gewinnen! Und mit Liebe! Und jetzt sehe ich, daß du deine Arbeit liebst!! Ich liebe dich also auch!! Es ist ein Tag voller Liebe und Freude heute!! Hörst du!!? -2 9 1 -
Freuuuuude!! Elias! Und Liiiiiebe!! Du sollst hören, verdammt noch mal!! Komm doch ma hoch, mein Junge!« Elias kletterte stumm auf die Kette. Plötzlich war er weg. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder. Er war weg! Dabei hatte er eben noch unten gearbeitet, hatte sich gebückt, die Stapel angehoben, sich halb gedreht und den Torf auf das Band geworfen, den braunen aromatischen Torf. Mein Hals tat weh. Morgen früh würde er wieder hier sitzen, mit seiner Spiegelbrille. Wie ein großer, heiliger Vogel. Und zu dem Monteur würde er sagen, mit einem Daumenzeichen: das Band etwas schneller. Nach einer Weile wieder das Daumenzeichen und wieder und wieder, und er würde milde lächelnd von oben herabblicken. Ich erhob mich von dem Sitz. Morgen nicht. Morgen würde ihm das milde Lächeln vergehen. Unter dem Überdach waren die Bedienungshebel, die Manometer, die Schalter. Ich umfaßte einen Hebel und bog ihn solange hin und her, bis er abbrach, bis ich die Eisenstange in der Hand hatte. Sie entglitt meiner Hand und rutschte in das Gestänge des Bandes, ich fand sie nicht im Dunkeln. Ich nahm einen anderen Hebel, es ging schwer, hin, her, hin, her, hin, her, dann brach er auch ab. Ich schlug mit dem abgebrochenen Ende die kleinen Scheiben ein, stieß die Manometer kaputt, die Schalter, und keuchte, weil es anstrengte. Jetzt kann er erstmal auf Freude warten, auf Liebe auch! Jetzt war arbeitsfrei auf der ganzen Linie. Ich ordne hiermit an: Morgen ist Sonntag! Ein Sonntag, an dem ihr nicht in die Kirche latschen müßt! Und übermorgen auch, und überübermorgen auch! Ich hielt erschöpft inne. Ich warf den Hebel fort in das Feld und kletterte nach unten, ging weg, das Feld hinunter, dort wo die Torfstapel schon weggeräumt worden waren. Ich konnte die Richtung zum Weg nicht verfehlen. Dort hatten wir morgens angefangen. Auf dem Weg lief ich. Langsamer Dauerlauf. Der ließ sich am längsten durchhalten. -2 9 2 -
Ich erreichte den Hauptweg, lief hart an der rechten Seite. Dort war der Boden neben den Lorenschienen festgetreten, ich freute mich über das leichte Klatschen meiner Füße. Die Verwaltung lag dunkel und wie ausgestorben da. Ich nahm diesmal die entgegengesetzte Straßenrichtung. Manchmal kam ein Auto und ich rutschte in den Straßengraben, wartete, bis es vorbei war. Eine Brücke tauchte auf. Die Straße führte über einen Wassergraben. Ich zog mich nackt aus und watete im Schutz der Brücke in dem Graben. Das Wasser reichte mir nur bis an den Bauch, es war warm und roch nach Moor. Ich tauchte unter und bewegte die Arme und fühlte, wie es mich überall weich umschloß. Ich wusch mir den Dreck ab, ich spülte Hemd und Hose aus. Als ich die Sachen wieder anzog, fröstelte ich. Auf der Straße hüpfte ich von einem Bein auf das andere, ich schlenkerte mit den Armen, ich überlegte, wann ich das letztemal so gehüpft war. Die Straße machte jetzt einen Bogen nach dem anderen, führte durch Kiefernwäldchen, an einer Weide vorbei, auf der verstreut Kuhblöcke lagen. Hinter einem Waldstück sah ich Lichtschein. Ich blieb stehen und dachte an meinen Hunger, den ich plötzlich fühlen konnte. Das Licht gehörte gewiß zu einem Bauernhof. Wo ein Hof war, da gab es auch was zu essen. Ein Sandweg zweigte ab. Ich ging zwischen den Bäumen entlang, immer in Höhe des Weges. Der Lichtschein wurde größer. Metall klirrte. Ich hörte eine Männerstimme rufen. Es war eine Bohrstelle. Sie befand sich neben dem Wald auf einer Weide, wo inmitten von Holzbaracken das Gitterwerk eines Bohrturms aufragte. An so einer Bohrstelle wurde rund um die Uhr gearbeitet. Eine Schicht loste die andere ab. Ich überlegte, daß die Gegend ziemlich abgelegen war, daß ich ein Moped mitnehmen könnte. Ich ging das kurze Stück Weg bis an das Camp. Unter einem Unterstand parkten zwei Autos und drei Motorräder. Überall steckte der Zündschlüssel. Ich bockte eine Maschine ab und schob sie in den Wald. Ich kehrte -2 9 3 -
zurück und sah in den Autos nach, ob ich vielleicht etwas Eßbares fand. Nichts. Aber hier mußte irgendwo eine Frühstücksbude sein, dort war niemand drin, wenn gearbeitet wurde. Ich schlich an der Rückseite der Baracken entlang, doch nirgends fand ich eine Lücke, die breit genug war, um mich hindurch zu lassen. Der Platz inmitten der Baracken war hell erleuchtet, man würde mich sofort sehen an der Haupteinfahrt. Ich umrundete das ganze Camp, kam an einen Bohlenstapel zwischen den Schuppen. Die untere Schicht lag nicht auf der Erde, sie war auf kurzen Zementsockeln gelagert, gerade so hoch, daß ich mich auf dem Bauch darunter entlangschieben konnte. Es ging schlecht, weil ich die Ellbogen nicht richtig benutzen konnte, es war zu niedrig. Dann lag ich am vorderen Rand des Stapels und übersah den Platz. Das Bohrgerüst war ein Stück entfernt, Männer standen auf einer Plattform und unten auf der Erde. Ich schob den Kopf heraus und zog ihn sofort wieder ein, da die Männer in meine Richtung kamen, die anderen stiegen von der Plattform, folgten. Sie gingen seitwärts in eine Baracke, und ich fluchte still, weil ich ahnte, daß sie eine Pause machten. So lange konnte ich hier nicht liegenbleiben. Jetzt kam einer der Männer wieder heraus. Ich konnte nur die Füße und die Beine bis zu den Knien sehen. Er kam genau auf den Stapel zu, blieb vor meinem Gesicht stehen. Einen Moment lang dachte ich, er habe mich entdeckt. Die Füße drehten sich, ich horte, wie er sich ächzend setzte. Eine Hasche wurde geöffnet, es schmatzte hohl und dumpf. Eine Blechdose klapperte, Papier raschelte. Ich schluckte mehrmals. Ein zweiter Mann kam aus der Bude. Seine Beine blieben an der Stapelecke stehen. »Mensch«, sagte der über mir, »kannst'e nicht'n Stück weiter gehn!«
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»Wieso?« Vor den Füßen an der Ecke schäumte ein Strahl die Erde auf. »Wegen dem Viertelliter lauf ich doch nicht extra in die Wallachei.« Der Strahl brach ab. Die Füße gingen weiter. Ich konnte jetzt den zweiten Mann sehen, wie er sich ein Stück weiter entfernt auf ein Rohr setzte. »Ach, hinsetzen tust'e dich da, aber hinpissen hier, was!« Mein Übermann fluchte mit vollem Mund. Ich fragte mich, was er wohl gerade aß. Schwarzbrot mit Kalbsleberwurst. Oder Mortadella. »Hab dich nicht so, alles der Reihe nach«, erwiderte der Pisser auf dem Rohr. Er öffnete seine Tasche, begann zu essen und sah zum Bohrturm hin. Über mir klirrte ein Flaschenverschluß. Die Füße vor meiner Nase schurrten. Der Mann stand auf und ging zur Bude hin. Der Pisser sah kurz herüber und rief: »Bring mir auch eine mit!« Ich schob mich ein Stückchen vor, faßte das Holz an. Der Mann hatte auf einem Vorsprung der unteren Bohlenschicht gesessen. Ich tastete schnell dort herum, sah zum Pisser hin, doch der guckte zum Turm. Ich fühlte die Butterdose. Das Papier knisterte etwas. Ich bekam mit einem Griff zwei Doppelscheiben und eine Gurke zwischen die Finger, zog mich wieder unter den Stapel zurück. Ich schlang die Gurke hinunter, biß in eine Doppelscheibe. Was drin ist, ist drin. Mein Übermann kam wieder, er hatte in einer Hand zwei Flaschen. Ich stopfte meinen Mund voll, schob die zweite Scheibe vorne ins Hemd und kroch Stück für Stück rückwärts. Mein Übermann setzte sich. »Was is'n das?« hörte ich ihn verblüfft fragen. Und dann: »Mensch, mach doch nich so'n Scheiß! Gib das Brot her!« »Spinnst du?« fragte der Pisser. »Mensch, gib her!« -2 9 5 -
»Tatsächlich, du hast'n Stich«, der Pisser lachte, »hoffentlich geht das auf Krankenkasse!« Ich hatte den Bohlenstapel unterquert, erhob mich und lief quer über die Weide zum Wald, wo das Motorrad an einem Baum lehnte. Im Laufen holte ich den Doppelscheibenbrei aus meinem Hemd und schluckte ihn runter. Schmeckte nach Jagdwurst. Ich schob das Motorrad im Laufschritt bis zur Straße und auf dieser bis zur nächsten Biegung. Es sprang sofort an. Zu Hause war alles dunkel. Ich hatte tagsüber in einer Schonung geschlafen. Kurz nachdem ich mit dem Motorrad losgefahren war, war es hell geworden. Abends hatte ich die Maschine aus dem Dickicht geholt. Mitten in der Stadt war mir der Sprit ausgegangen. Ich hatte das Krad vor einem Geschäft aufgebockt und war auf Umwegen zu Fuß weitergegangen, bis zum anderen Stadtende, wo wir wohnten. Jetzt stand ich hinter dem Haus im Garten und überlegte, wie ich unbemerkt hineinkam. Überall waren die Rolläden heruntergelassen. Ich aß ein paar halbreife Augustäpfel und sah zum Balkon hoch. Oben wohnte der Vater des zweiten Vaters. Mir fiel ein, daß dort die Stubentür im Sommer nie geschlossen wurde. Der Zweitevatervater lehnte die Tür nur an und ließ die Rolläden runter, aber die Sperre legte er nie um. Das wußte ich. Ich holte die Leiter aus dem Gartenschuppen, ging zum Haus und stieg auf den Balkon. Der Rolladen quietschte etwas, ich schob ihn ganz langsam hoch und faßte erstmal mit einer Hand hindurch. Die Tür dahinter war offen. Ich schob den Laden höher und stellte einen Balkonstuhl drunter, machte Licht im Zimmer. Nebenan befand sich die Küche. Auf dem Schrank stand eine Schüssel mit Tomatensalat. Ich aß. Dann schlich ich auf den Flur und lauschte. Alles blieb still. Die Schlafzimmer lagen nach vorne, und ich konnte mich erinnern, daß nachts selten jemand aufstand. Ich ging dicht am Geländer der Treppe nach unten, -2 9 6 -
nahm immer vier Stufen auf einmal, weil ich wußte, daß irgendeine Stufe knarrte. Die Tür zu meinem Zimmer war unverschlossen, Es befand sich alles noch am gleichen Platz, als sei ich nur mal kurz weggewesen und komme jetzt etwas später nach Hause. Ich zog mich um, nahm ein Paar leichte Schuhe, in denen ich gut laufen konnte, klemmte das alte Zeug unter den Arm und schlich wieder nach oben. Als ich das Licht ausknipsen wollte, fiel mein Blick auf die Hose des Zweitenvatervaters, die über einem Stuhl hing. Er hängte sie immer in der Stube über einen Stuhl, ging dann in seinem Hemd und seinen schlabberigen Unterhosen über den Flur. Die Unterhosen waren an den Knien sehr ausgebeult, als mache er den ganzen Tag Kniebeugen. In der Gesäßtasche befand sich sein Portemonnaie. Ich nahm einen Fünfziger heraus, steckte es wieder weg, ich knotete seine Hosenträger an der unseren Stuhlquerstrebe fest, bis keine Knoten mehr reingingen und hängte die Hosenbeine darüber. Morgen früh würde er wie gewohnt die Hose mit einem Ruck vom Stuhl nehmen wollen. Ich verließ das Zimmer, brachte die Leiter an ihren Platz zurück und pflückte mir noch einige Äpfel ab. Dann bummelte ich durch die Randgebiete der Stadt zur Weser. Unterwegs steckte ich das alte Zeug in eine Mülltonne. In der Nähe des Stadions machte ich es mir im hohen Ufergras bequem. Wenn ich zu Ingrid wollte, dann war der kürzeste Weg über Minden, und die Bundesstraße nach Minden verlief auf der anderen Stadionseite. Irgendein Auto würde mich schon mitnehmen, wenn es hell war. Ein Kiosk war vor dem Stadion, dort konnte ich Zigaretten und Brötchen kriegen. Ich mußte an Karen denken. Juni oder Juli hatte sie vor ein paar Wochen gesagt. Dann sollte ich sie abholen. Juli hatte gerade angefangen. Wenn ich noch frei bin, dann hole ich dich ganz bestimmt ab, hatte ich zur ihr gesagt. Hm, jetzt bin ich wieder frei. Benno wird ihr gesagt haben, daß sie mich nach Heiligenstatt gebracht haben. Vielleicht ist sie inzwischen alleine abgehauen? Und wenn nicht? Sie wird nicht alleine -2 9 7 -
abgehauen sein, ich habe ihr gesagt, daß ich sie holen werde und nun wartet sie, weil ich's gesagt habe. Ich kann sie nicht einfach hängenlassen, sie weiß zwar nicht, daß ich wieder frei bin, aber das spielt keine Rolle. Ich muß mich erst um Karen kümmern. Wenn sie schon alleine abgehauen ist, dann kann ich nichts machen, ist sie es nicht, helfe ich ihr. Zu ihrer Tante brauche ich ja nicht mitgehen. Gemütlich ist es hier im Gras. Ich stand an der Straße und kaute Brötchen. Jedesmal wenn ein Auto vorbeikam, winkte ich. Keines hielt. Es war bald Mittag. Ich hatte im Fluß gebadet, hatte mir Zigaretten, einen Kamm und etwas zum Essen gekauft und überlegte, ob es nicht besser sein würde, wenn ich mit dem Zug führe. Aber mit unbezahlten Fahrten hatte ich schlechte Erfahrungen gemacht. Aus der Gegenrichtung kam ein Lastzug, dann ein Opel-Kombi älteren Baujahrs. Ich sah, wie er die Fahrt verlangsamte und schräg gegenüber vor dem Haus hielt. Der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür, er nahm einen Packen Lesemappen heraus und verschwand damit im Vorgarten des Hauses. Das Auto stand ganz alleine da. Der Motor lief. Ich dachte sehr schnell. Wenn ich jetzt einfach über die Straße laufe und mich reinsetze, dann kann ich losfahren. Der Opel hat Lenkradschaltung. Ganz einfach. Erster Gang unten, zweiter oben, der dritte wieder unten. Ich war beim Wagen, Öffnete die Fahrertür und ließ mich in den Sitz fallen. Wenn der jetzt kommt, oha, bloß nicht abwürgen, Kupplung ganz langsam kommen lassen, hat Manfred gesagt, wenig Gas geben. Ich trat die Kupplung durch, gab Gas, zog den Ganghebel an und drückte ihn nach unten. Jetzt die Kupplung kommen lassen, Gas geben, nicht so viel! Der Motor heulte auf, das Auto setzte sich langsam in Bewegung. Verdammt! Die Handbremse! Ich löste sie. Sie knallte zurück. Ich sah aus den Augenwinkeln seitlich eine Bewegung, ließ die Kupplung los. Das Auto machte plötzlich einen Satz. Ich kurvte hart am Gehweg entlang, blieb auf dem Asphalt und fuhr. Im -2 9 8 -
Rückspiegel sah ich den Fahrer hinter mir mitten auf der Straße stehen, die Arme in die Seiten gestemmt. Der war sicher sauer. Bloß schnell weg von hier. Hoffentlich geht er von der Straße runter, wenn von hinten ein Auto kommt, dann wird er plattgefahren. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, bog in eine Nebenstraße ein, fuhr immer noch im ersten Gang, fummelte den zweiten rein, bog wieder ab und blinkte vorher vorschriftsmäßig. Autofahren war schon eine dolle Sache. Ich kam auf die Bundesstraße nach Hannover, das war gut, ab Hannover würde ich dann die Autobahn benutzen. Vor Neustadt bog ich in einen Waldweg ein und übte mit der Schaltung, setzte das Auto vor und zurück. Als ich weiterfuhr, war das anfangs ungewohnte Gefühl des Autofahrens weg. Kurz vor Hannover wurde die Straße vierspurig, links und rechts standen Häuser. Aus einer Nebenstraße tauchte plötzlich ein Peterwagen auf, er ordnete sich genau hinter mir in den Verkehr ein. Ich sah andauernd mit einem Auge in den Rückspiegel, schwitzte und fragte mich, ob sie was von mir wollten. Zwei Bullen saßen drin. Manchmal waren sie so dicht hinter mir, daß ich ihre Gesichter sehen konnte. Sie redeten miteinander. Ich verpaßte die erste Autobahneinfahrt, nahm die nächste und blinkte schon ein ganzes Stück davor. Sie fuhren geradeaus weiter, in Richtung Stadt. Durch die Bullen hatte ich die richtige Einfahrt genommen, die erste wäre falsch gewesen. Ich sah ein Richtungsschild. Bis nach Göttingen waren es noch hundertzehn Kilometer. Autobahn war gut. Auf einer normalen Straße mußte man andauernd aufpassen, und wenn man gerade den richtigen Zahn drauf-hatte, dann mußte man schon wieder abbremsen, weil irgendein Bummler den ganzen Verkehr aufhielt. Hinter dem Autobahnkreuz stand ein Anhalter, mit Vollbart, und winkte. Ich bremste. Er kam angelaufen und stieg ein, »Nach Freiburg?« »Nee, nach Göttingen. Bis dort kannst du mitfahren.«
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»Gut.« Er warf seinen Beutel auf den Rücksitz. Ich freute mich, daß ich ihn mitnehmen konnte. Ich freute mich auch, wenn mich einer mitnahm. Der Mann erzählte mir von einer Tante, daß die schwerkrank war, doch ich hörte nur halb hin, beobachtete in den Rückspiegeln, was um mich herum passierte. Bullen ließen sich schon von weitem an den weißen Kotflügeln erkennen. Eine Raststätte kam. Ich lenkte das Auto auf den Parkplatz und stellte den Motor ab. »Ich werde mal Zigaretten holen und Cola«, sagte ich zu dem Bärtigen, der aus meiner Schachtel mitgeraucht hatte, »soll ich dir eine Cola mitbringen?« »Gerne, wenn ich so frei sein darf.« Ich ging in die Vorhalle des Restaurants an einen Kiosk, wurde sofort bedient. Als ich wieder durch die Glastür nach draußen trat, rutschten mir beinahe die Flaschen aus der Hand. Ein paar Meter vor mir fuhr der Opel-Kombi vorbei! Der Bärtige steuerte, sah nicht nach rechts und nicht nach links! Ich raste die Treppenstufen runter, hinter dem Auto her, blieb stehen. Warum lief ich hinterher? Mein Auto war es ja auch nicht, Einige Leute guckten mich an, waren stehengeblieben. Ich hopste etwas auf der Stelle und rannte plötzlich genauso schnell wieder zur Treppe zurück, ich setzte mich auf die untere Stufe. Die Leute gingen weiter. Meine Zigaretten liegen auch noch im Auto. So eine Schweinerei! Ich trank die Cola aus und warf die Flaschen in einen Papierkorb. Ich hätte den Schlüssel abziehen sollen! Nicht mal'n Auto kann man fünf Minuten stehenlassen. Wenn die Bullen vorbeikommen, dann kontrollieren sie mich bestimmt. So was machen sie gerne. Abwechslung ist das für sie. Ich stand auf und schlenderte zum Parkplatz. Zwei Männer kamen in kurzen Abständen aus der Raststätte, gingen zu ihren Autos. Ich fragte sie, doch sie wollten nicht. Dann kam wieder einer, er ging zu einem Sportwagen, der -3 0 0 -
nahm sicher niemanden mit. Aber fragen kostet nichts. »Mitnehmen?« fragte er zurück. »Ja«, ich nickte, »ich brauch nur bis Göttingen, zu meiner Schwester.« »Na gut, steig ein. Wo wohnt sie denn?« Mir fiel ein, daß das Nummernschild des Autos aus Göttingen war. »Hardenbergstraße«, sagte ich schnell. »Aha, da am Stadion. Ich fahre nach Geismar, dann kannst du ja genau dort aussteigen.« Er stoppte kurz an der Ausfahrt, dann röhrte der Motor auf. Ich sah, wie die Tachonadel kletterte, immer weiter, jetzt hatte sie die Hundertsiebzig-Marke erreicht. »Ein tolles Auto. Es fährt bestimmt über Zweihundert, ja?« Der Fahrer lachte. »Na ja, ganz so schnell ist er nicht. Zweihundert fährt er schon. Aber bei dem Verkehr kann man ihn doch nie ausfahren.« Ich blinzelte hin und wieder zu der Tachoscheibe, in der stillen Hoffnung, er würde vielleicht ein bißchen schneller fahren. Doch die Nadel blieb stehen, sie zitterte nur etwas. Ich wurde ein bißchen schläfrig, machte aber sofort die Augen auf, als mein Nebenmann halblaut »Trottel« sagte. Doch er meinte nicht mich, sondern den Fahrer des Autos vor uns, der, ohne Zeichen zu geben, hinter einem Lastwagen ausgeschert war und diesen jetzt Überholte. Es war ein Opel-Kombi! Ich erkannte den Wagen gleich. Er hatte an der rückwärtigen Tür ein Reklameschild. »Der fährt wie ein Kannibale«, sagte mein Nebenmann und blinkte mit der Lichthupe, fuhr ganz links, damit es der Vordermann sehen konnte. Doch der ließ ihn nicht vorbei, überholte langsam den Lkw, schwenkte erst ein ganzes Stück vor diesem wieder nach rechts. »Soll ich ihm 'n Vogel zeigen?« Ich setzte mich aufrecht hin. »Nee, dann kann er uns anzeigen, wir sind ja gleich vorbei.« Der Sportwagen war fast auf gleicher Höhe mit dem Opel. Der Bärtige saß bequem zurückgelehnt, lenkte mit einer Hand, hatte -3 0 1 -
den anderen Arm auf die Lehne des Beifahrersitzes gelegt und eine meiner Zigaretten im Mundwinkel. Er wandte nur leicht den Kopf, dann mit einem Ruck! Er sah mich! Ich glotzte ihn böse durch zwei Scheiben hindurch an, drehte mich zu dem Sportwagenfahrer um und sagte schnell: »Er trägt'n Bart.« Dann drehte ich wieder schnell den Kopf. Der Bärtige faßte mit beiden Händen ans Lenkrad und bremste abrupt. Ich sah, wie sein Kopf nach vorne ruckte, wie der Opel-Kombi zurückfiel und auf die seitliche Standspur gelenkt wurde. »Was ist'n mit dem los?« Mein Nebenmann sah in den Spiegel, ich drehte mich um, doch wir konnten den Opel nicht mehr sehen, weil sich der Lastwagen dazwischengeschoben hatte. »Ein Sonntagsfahrer«, sagte ich und schluckte. »Ja, was die heutzutage alles auf die Straße lassen, das müßte glatt verboten werden!« In Göttingen stieg ich an der Leinebrücke aus, ging am Stadion vorbei das letzte Stück zu Fuß, bis zum Kiessee, setzte mich ins Gras, um eine Zigarette zu rauchen. Gerade ein paar Wochen ist es her, daß ich mit Karen hier gelegen habe, dachte ich. Eben ist es fünf gewesen. Bis es dunkel wird, das dauert zu lange. Ich werde bis um sechs warten, die Turmuhr kann ich hier gut hören, dann gehe ich hoch. Vielleicht war sie tatsächlich abgehauen, die Karen. Die brachte das fertig. Ich bin hier, und sie ist schon lange in Sarne oder Sarno oder wie das heißt, bei ihrer Tante. Was das wohl für eine Tante war? Von weitem sind sie alle in Ordnung. Karen hatte die Tante ja schon zig Jahre nicht mehr gesehen. Na ja, eine Lappewasch kann es auf keinen Fall sein, so eine, die gibt's nur einmal. Und dann ist sie ausgerechnet meine Tante. Als es sechs schlug erhob ich mich, überquerte den schwarzen Schlackenweg, die Wiese, dann war ich im Unterholz des Wäldchens. Ich bewegte mich vorsichtig, es brauchte mich nicht unbedingt jemand zu hören. Ich war an der Rückseite des Mädchenheimes angekommen. Niemand war zu sehen. Ich legte mich in die Büsche. Ich hatte ja Zeit. -3 0 2 -
Hinter dem ersten Vorbau hörte ich plötzlich Stimmen. Ich schlich im Schutz der Büsche dorthin und sah einen Jungen, der sich vom letzten Fenster löste, schnelle Trippelschritte über das Sims machte und den Arm des Scheinwerfers zu fassen bekam. Er kletterte an den Bruchsteinen nach unten. Ich kannte ihn. Wir nannten ihn Charly. Er lag auf dem Sprungbrett. Als er an mir vorbeikam, zischte ich ihn an. Er schrak zusammen und linste in die Büsche, sah mich. »Heh, Ben! Wo kommst du denn her? Ich denke, dich haben sie nach Heiligenstatt gebracht?« »Hatten sie. Ich bin abgehauen.« »Na Mensch, prima!« Wir schüttelten uns die Hände. Charly freute sich. »Ist meine Mieze noch oben?« fragte ich ihn. »Wer is'n das?« »Na, die Karen.« »Karen, Karen«, er dachte nach, »weiß nicht, wo ich die im Augenblick hinstecken soll. Die sind jetzt beim Essen, bleibst du hier?« »Ein bißchen, willst du ins Heim, jetzt?« »Ja, aber ich komme nachher noch mal wieder.« »Ich kann mich doch auf dich verlassen...?« »Mensch, Ben! Das ist doch klar!« »Gut. Sag Benno Bescheid, daß ich wieder hier bin. Sonst niemandem. Du weißt ja, der eine erzählt's dem anderen, und schon weiß es Wälzer und der ganze Verein, dann spielen sie verrückt.« »Weiß ich«, Charly winkte ab, »wir haben erst neulich von dir gesprochen, und von Fred, mit dem du damals getürmt bist.« »Was macht der?« »Was soll er schon machen. Ist wieder auf der Ziegelei, aber auf der unten am Bahndamm. Da bin ich auch seit einer Woche. Ich gehe erstmal. Ich bringe Benno mit. Wo treffen wir uns?« »Kiessee. Ich bin da irgendwo.« -3 0 3 -
»Gut, bis dann.« »Bis dann.« Ich wartete weiter. An einem Fenster waren kurz zwei Mädchen zu sehen. Ich kannte sie nicht. Dann tauchte Evi auf, lehnte sich in eines der oberen Fenster. In ihrem Mund hing eine Zigarette. »Heh, du Ziege!« »Du Bock... Mensch, Ben, tatsächlich«, sagte sie überrascht, »wo kommst du, ich meine, komm hoch.« »Wollte ich sowieso. Andere Seite.« Sie nickte und verschwand. An der anderen Seite des Vorbaus konnte man nicht von den umliegenden Fenstern gesehen werden. Ich kletterte an den Mauervorsprüngen hoch, balancierte über das Sims, bekam das Gitter zu fassen. Evi war schon da. »Wo ist denn Karen?« »Unten, ich hol sie gleich. Die fällt vom Stuhl. Erzähl doch mal.« »Was soll ich erzählen. Weißt du doch, ich bin aus Heiligenstatt abgehauen. Da haben sie mich damals hingebracht.« »Ist das wirklich so ein irrsinniger Verein?« »Kann man wohl sagen. Zu denen mußt du Bruder sagen.« »Ja, weiß ich. Und zu den Erzieherinnen sagen sie Schwester, und prügeln tun sie da auch. Letztes Jahr, die Uschi, kennst du sie nicht? Nein. Die ist doch an der Weihnachtsfeier abgehauen?« »Kenne ich trotzdem nicht.« »Ist ja auch egal. Jedenfalls ist die früher mal da gewesen, bevor sie nach hier kam. Sie hat 'ne Erzieherin in die Titten gebissen, aber richtig, und da haben sie sie nach hierher gebracht, war da nicht mehr tragbar.« »Na, Mädchen habe ich da nirgends gesehen.« »Die sind auch woanders untergebracht. Die haben doch überall Filialen, die Schweine. Hier hast du Zigaretten.« Evi steckte mir eine angebrochene Schachtel ins Hemd. »Ich hab doch welche.« »Na wenn schon.« -3 0 4 -
»Bist du noch mit Benno zusammen?« »Klar, der wollte übrigens heute abend kommen, der Schuft, eigentlich schon heute nachmittag. Bei mir juckt es schon.« »Kratz mal. Vielleicht treffe ich ihn nachher, hol Karen, ich kann nicht lange hier bleiben.« »Mach ich, sie wollte übrigens vor zwei Wochen abhauen, hatte irgendein Techtelmechtel in der Stadt, sie haben sie abgelöst, war ein Spitzel auf sie angesetzt gewesen. Jetzt schreibt sie sich mit einem vom Wigwam. Ist aber nur so, sagte sie.« »Karen?« fragte ich überflüssigerweise. »Ja. Seit einer Woche. Werde mal sehen, wo sie ist.« Evi verschwand. Schreibt sich mit einem vom Wigwam, dachte ich. Kurze Zeit später kam Karen. »Heh, Ben! Ist das eine Überraschung...« Ich ließ ihre Begrüßung über mich ergehen und dachte: Sie hat sich verändert, seit damals, sie ist so oberflächlich geworden, dabei sind es doch nur ein paar Wochen. »... immer gewußt, daß du wiederkommst, Ben.« »Ach, immer gewußt. Sagst du. Schreiben tust du dich mit einem anderen. Das widerspricht sich, nicht?« »Mein Gott, Ben, das ist doch nichts, das ist so ein Zeitvertreib.« »Hm. Du wolltest türmen?« »Ja, beinahe hätte es auch geklappt. Aber die haben mich auf's Kreuz gelegt, die Geschkesche. Die hat was spitzgekriegt, daß ich so nebenbei ein paar Mark angeschafft habe.« »Aber wenn du alleine türmen wolltest, wieso hast du dann immer gewußt, daß ich wiederkommen würde. Vor nicht langer Zeit hast du von dem Chef geredet, der nur mal so, der 'ne Tochter in dir sieht. Und jetzt redest du schon vom Anschaffen.« »Mein Gott, Geld stinkt doch nicht.« »Geld nicht.« »Evi hat dich aufgehetzt!« »Gar nichts hat sie.« -3 0 5 -
»Mensch, Ben, meinst du, mir macht das Spaß, wenn mich wildfremde Kerle vögeln? Wenn wir abhauen wollen, dann brauchen wir Geld, wir müssen doch von was leben. So ein Griff in die Ladenkasse, das sind nur Pfennige, und bestraft wird man auch dafür. Daß ich abhauen wollte, das lag daran, daß sie mich in der Stadt abgelöst haben. Weißt doch, wie das ist.« Ich wußte nicht. »Ich glaube, das ist purer Neid von der Geschkeschen, weil sie nichts mehr vor die Hose kriegt. Die kann sich nackend ins Fußballstadion stellen, da steht sie in zwei Jahren noch.« »Nee, wenn gespielt wird, fliegt sie raus.« »Mich hat eine von hier oben verpfiffen, auch eine Freigängerin. Dabei geht das Luder selbst auf den Strich! Na ja, zwei Tage später quatscht mich da so ein Freier an, ganz junger Kerl noch. Von vorne, von hinten, mal anfassen, mal probieren, der war ganz verrückt. Und als ich mich anziehen will, ist er plötzlich weg! Nicht mal bezahlt hatte er!« »Warum bist du nicht hinterhergerannt!« »Ohne Kleid und die Hose auf den Knien?« »Du hättest dir das Geld vorher geben lassen sollen.« »Mach ich sonst auch. Aber der sah ganz vertrauenerweckend aus, wie so ein biederer Verkäufer. Meine Blödheit. Aber was soll ich dir sagen, am anderen Morgen, ich bin schon fix und fertig angezogen und will los in die Stadt, da kommt die Geschkesche an und sagt, ich soll drinbleiben, es müßte noch was geregelt werden. Du, und ich ahnte schon, daß irgendwas faul war, ich wußte nur nicht was. Ich habe mein Geld eingesteckt, wollte mich von einer anderen Erzieherin rausschließen lassen, die noch nicht Bescheid wußte, wir waren schon am Tor! Da sieht uns die Geschke vom Fenster aus und brüllt über den Hof! Über'n Zaun konnte ich auch nicht so schnell. Gegen zehn haben sie mich dann aus der Zelle geholt, nach unten ins Büro. Die Geschke drin, zwei andere Erzieherinnen, Lokusmüller, Wälzer und rate mal, wer noch?« »Du. Hast doch gerade gesagt, bist runtergeholt worden.« -3 0 6 -
»Ich! Der Freier vom Vorabend, der stand da!« »Freier, Freier! Sag Mann!« »Guuuut! Der Mann! Am liebsten hätte ich ihm die Visage zerkratzt, dem Mann! Sagt der Lokusmüller zu mir: Meine Hebe Heitmann, dir wurde ein Freigängerposten zur Verfügung gestellt, damit du dich in einem späteren Leben behaupten kannst, als vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft, pi-pa-po, und so weiter. Als Putzfrau! Ich könnte mich immer übergeben, wenn ich ihre Sprüche höre! Und dann kam er damit raus, daß ich nach Feierabend auf'n Strich gehen würde. Der Freier am Vorabend, das war ein neuer Erzieher aus eurem Heim, der sollte mich unauffällig überprüfen und gleich mitnehmen! Herr Sowieso, ich hab den Namen vergessen, Herr Sowieso, sagte Lokusmüller, hat gestern abend im Auftrag der Anstaltsleitung den Sachverhalt überprüft, er konnte beobachten, daß du dich in den städtischen Anlagen vor einem Manne entblößt hast. Als Herr Sowieso dich zur Rede stellen wollte, warst du jedoch urplötzlich verschwunden. Mithin ist also festgestellt worden, daß du dich der gewerbsmäßigen Prostitution hingegeben hast, und das ohne einen Gewerbeschein. Hinzu kommt dein recht sonderbares Verhalten Herrn Sowieso gegenüber. Mensch, Ben, das mußt du dir mal vorstellen! Dies Schwein prüft mich bis an die Gebärmutter, und dann so was Abgebrühtes! Ich hab vor Wut geheult!« Karen schwieg. »Warum hast du das denen nicht gesagt?« »Ach, hab ich doch! Und wie! Der hat mich abgeschlabbert wie ein altdeutscher Schäferhund, hab ich gesagt...« »Wieso altdeutsch?« »Weiß ich doch auch nicht, sagt man eben so. Aber die haben mich angestarrt wie auf 'ner Beerdigung! Alles, was die erzählen, ist richtig, und alles was wir erzählen, ist erlogen, ist verdorben. Beweis erst mal das Gegenteil.« »Wenn er an einer Stelle einen Leberfleck gehabt hätte, oder so.« »Mensch, Ben!« -3 0 7 -
»Nein, nein, ich mein das wirklich. Das wäre ein Beweis gewesen. Du hättest dann sagen können, daß er am Hintern einen Leberfleck hatte.« »Und wenn der zehn Leberflecke gehabt hätte, meinst du, der hätte sich die Hose runterziehen müssen, nur weil ein Zögling was sagt?« »Und weiter?« »Eine Woche Zelle habe ich gekriegt. Für Beleidigung und falsche Anschuldigung. Sonst wäre es nur beim Ablösen geblieben. Aber ich lach' nur drüber, mein Geld habe ich noch, das hätten sie auch nie gefunden. Du mußt mich hier rausholen, Ben.« »Ja, Karen, das mache ich.« »Am besten mit einer Säge. Du mußt mir eine Säge besorgen, ich kann einen Stab durchsägen, und du holst mich nachts ab.« »Hm, ich werde darüber nachdenken. Du darfst nicht darüber reden, mit niemandem, auch mit Evi nicht!« »Nein, ganz bestimmt nicht.« Evi kam in den Raum. »Ben, ich habe dir ein paar Sachen besorgt. Die wissen doch, mit welchem Zeug du abgehauen bist.« »Das habe ich von zu Hause, und dort haben sie nichts gemerkt.« »Aber sie können es noch merken, und dann sagt deine Alte es vielleicht den Bullen.« Meine Alte sagt sie! Dabei ist Mama erst sechsunddreißig. Und sie weiß auch nicht, was ich mitgenommen habe, hm, vielleicht doch. Aber den Bullen sagt sie das auf keinen Fall. Höchstens der zweite Vater. Jawoll, mein Sohn hat das und das mitgenommen! Mein Sohn! Frechheit! Aber der wußte nie, was für Sachen ich hatte. »Die Bluse ist von mir. Brauchst sie ja am Hals nicht zumachen«, sagte Evi, »hoffentlich paßt die Hose?« -3 0 8 -
»Ein bißchen eng sieht sie aus. Da ist ja kein Schlitz dran!« »Na und? Stell dich nicht so an, was macht das?« »Nein!« Ich weigerte mich. »Hast du denn Geld?« fragte Karen. »Fast dreißig Mark.« »Warte«, sie lief hinaus. »Na, alles in Ordnung?« Evi blickte mich fragend an. »Wieso? Was soll nicht in Ordnung sein?« Ich sah mich um, sah von oben in das Buschwerk des Waldes. »Ach, nur so. Ist das eine Luft. Wenn ich jetzt raus könnte, dann würde ich sofort mitkommen. Wo gehst du jetzt hin?« »Och, mal sehen. Ich werde noch baden.« »Badest du nackt?« »Hmhm.« Karen kam zurück und gab mir einen klein zusammengefalteten Geldschein. »Steck ihn gut weg, verlier ihn nicht.« »Ja ja.« Als ich wieder nach unten turnte, kam Charly. »Wir kommen morgen Abend. Benno ist mit noch ein paar anderen in die Heilagärten, da finde ich ihn nicht. Wollte dir nur Bescheid sagen, damit du nicht umsonst wartest.« »Gut, bis morgen.« Ich bummelte um das Stadiongelände herum, über Schrebergarten-wege und überlegte, wo ich schlafen sollte. Ich habe Zeit, ich kann ins Kino gehen, in die Spätvorstellung. Dann ist die halbe Nacht schon vorbei. Und danach muß ich mir eine Scheune suchen. Bis zum nächsten Dorf ist es nicht weit. Aber das Heu ist immer so staubig. Mir fiel der Güterbahnhof ein. Dort standen auf den Abstellgeleisen immer Schnellzugwagen herum. In so einem Wagen war es bedeutend bequemer. Man konnte sich lang auf die Sitze legen, die Polster sind wie eine -3 0 9 -
Couch. Nachts wurden die Wagen so gut wie nie eingesetzt. Als ich noch mit Benno nach Kohle & Co. gegangen war, hatte ein Wagen mal vier Tage dort gestanden. Ich schlug den Weg zum Güterbahnhof ein. An der einen Seite waren die Flußwiesen, an der anderen Seite befanden sich Schrebergärten bis an die dicht bewachsene Bahnböschung. Ich konnte also in aller Ruhe oben auf das Bahngelände gelangen.
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9 Ich hatte mir für zwanzig Mark eine Uhr gekauft. Eine Uhr muß jeder Mensch haben, dachte ich, und guckte drauf. Halb acht. Gut eine Stunde saß ich jetzt schon hier auf dem Baum. Von hier oben aus konnte ich den ganzen Kiessee sehen und den Waldrand vom Mädchenheimgelände. Benno ließ sich ja ganz schön Zeit. Vielleicht war irgendwas schiefgelaufen? Dann war es gut, daß ich in den Baum gestiegen war. Wenn sie aus dem Wald kommen, habe ich noch genug Zeit zu türmen, Aha, da kommen zwei, noch einer, noch einer. Vier Jungen kamen aus dem Unterholz des Waldes, über die Wiese. Ich erkannte Benno, Charly, dann Icke und Fred. Sie kamen jetzt über den Schlackenweg und gingen ins Schilfdickicht. Ich sah sie nicht mehr, hörte sie manchmal pfeifen. Ich antwortete, kletterte nach unten. »Mensch, kiek dir den Vogel an, der looft erst von die Bäume und fliecht von unten los!« Icke hatte mich gesehen. Händedruck, Händedruck, Händedruck, Händedruck. Setzen. »Oben wissen sie schon Bescheid«, klärte Benno mich auf, »frag mich nicht, wie das gekommen ist. Ist eben so. War heute vorne bei Wälzer, fragte mich, ob ich was gehört hätte, daß du wieder da bist, ob ich dich gesehen hätte. Ich wußte natürlich nichts. Woher auch. Ich sollte mal 'n bißchen meine Augen offen halten, sagte er. Arschloch!« »Sie werden euch sicher losschicken, mich einfangen.« »Für so blöd hältst du uns doch wohl nicht, wie?« Benno grinste. »Logisch wird gesucht, jede Nacht, wenn's sein muß, aber kannst du dir vorstellen, daß wir dich finden?« »Nee«. »Na also. Wie ist es denn da in Heiligenstatt? Erzähl mal.« -3 1 1 -
»Ah, da gibt es nicht viel zu erzählen. Da mußt du zu jedem Bruder sagen, zu den Erziehern.« »Waaaas?« »Ja. Loom hieße zum Beispiel Bruder Loom, und Wälzer wäre Oberbruder Wälzer...« Benno bekam einen Lachkrampf. Icke meckerte wie eine Ziege. Ich fand es nicht lustig. »Mit mir würden sie das jedenfalls nicht machen«, sagte Charly, »die würden einen Tanz mitmachen, ich kann euch sagen!« Fred nickte bestätigend. »Gleich was auf die Birne. Peng!« Ich grinste und schwieg. In der folgenden Nacht stieg ich durch ein Fenster in die Ziegeleischmiede, besorgte für Karen eine Eisensäge, die ich ihr am anderen Abend brachte. »Dicke Luft ist, Ben«, begrüßte sie mich. Es war schon dunkel. »Gestern abend waren der dicke Reimers und ein anderer Erzieher und ein Haufen Jungs hier, schnüffelten überall rum.« »Kann ich mir denken. Sie wissen Bescheid, Benno hat es mir schon gesagt. Aber mich hält niemand fest, sie sind froh, wenn sie nachts hier rumlaufen können.« »Benno war aber nicht dabei, ich habe auch keinen gesehen, mit dem du früher mal zusammen warst.« »Möglich. Die nehmen sie auch nicht zum Suchen. Sieh zu, daß du mit der Säge klarkommst, ich habe so ein komisches Gefühl, ich werde jetzt gehen.« »Mensch, laß dich bloß nicht erwischen. Ich säge soweit, daß der Stab gerade noch hält und kitte es mit Brot zu. Über das Sims kann ich aber nicht, Ben, du mußt eine Leiter mitbringen oder einen Strick oder so was.« »Na sicher, springen brauchst du nicht. Vielleicht schaffst du's nicht an einem Tag, laß dir Zeit, besser, als wenn du verpfiffen wirst, Tschüs.« »Ja, ist gut.« Ich schlich durch die Büsche zum Kiessee zurück. Es war stockdunkel im Wald, doch ich kannte die Wege fast auswendig, ich wußte, wo und wie man am besten durch das -3 1 2 -
Dickicht kam. Ich erreichte den Tennisplatz. Früher war es mal ein Tennisplatz gewesen, heute war es eine Lichtung mit kniehohem, wilden Gras, durch das man tagsüber an vielen Stellen rote Asche sehen konnte. Hinter der Lichtung kam noch ein schmales Stück Wald, dann die Wiese, der Weg, das Schilfufer, das Seegelände. Ich blieb an einem Baum stehen und lauschte. Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört. Nichts. Manchmal knackte es irgendwo, raschelte kurz. Normale Waldge-rausche, so was hörte man heraus. Nicht auszudenken, wenn sie mich erwischten, mich wieder nach Heiligenstatt zurückbrachten. Ich faßte in die Hosentasche, fühlte das Messer, das ich in der Altstadt gekauft hatte. Ein Rocker hatte es ganz billig angeboten. Es war ein langes Heft, sah wie ein Etui aus. An einer Seite befand sich eine eingelassene Feder, wenn man mit dem Finger draufdrückte, schnellte eine handlange Klinge aus dem Heft. Ich fuhr mit dem Zeigefinger über die Feder und überlegte, ob ich auch damit zustechen würde. Der Junge, der es mir verkauft hatte, hatte mir genau erklärt, wie man mit dem Messer umgehen mußte. Das Heft in die Hand, so daß die Klinge vor Daumen und Zeigefinger lag, so konnte man sie in alle Richtungen führen. Nicht etwa, wie es oft auf Indianerabbildungen zu sehen war, wo das Messer in der hoch erhobenen Faust gehalten wurde und die Klinge guckte unten zwischen Handballen und kleinem Finger raus. Das war Quatsch. So konnte man nur von oben nach unten stechen, vielleicht auch mal ein bißchen schräg. Lag die Klinge jedoch zwischen Daumen und Zeigefinger, dann konnte man sie nach allen Seiten bewegen, brauchte nicht erst auszuholen, die Spitze war immer vorn, in Bauchhöhe. Alles Blödsinn. Ich verließ meinen Platz, trat raus auf die Lichtung und ging an dem mannshohen gemauerten Podest vorbei, auf dem früher mal ein Sitz gewesen war.
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Komisch, daß man nachts immer Gespenster sieht, dachte ich, und blieb erneut stehen, lauschte. Dicht vor mir hatte ein Ast geknackt. Gleich darauf sagte eine Stimme: »Geplombt!« Aus den Büschen lösten sich zwei Gestalten! Links und rechts kamen auch welche, ich machte ein paar Schritte rückwärts, befand mich wieder an der Steinsäule. Von hinten kamen auch zwei Mann, zwei Jungen. Sie kamen ganz langsam. »Ja, so ein Pech« sagte der Sprecher, und ich wußte, daß er dabei grinste, obwohl ich sein Gesicht nur als hellen Fleck ausmachen konnte. »Das ist die beste Stelle hier, weißt du, wir haben dich schon reingehen sehen, aber im Unterholz findet man nicht mal'n Büffel, deshalb haben wir gewartet. Und wenn einer zum See zurück will, dann nimmt er den leichtesten Weg, der führt hier über den Platz. Einen Bogen machen, das ist zu umständlich. Und man muß sich sicher fühlen, einfach, was?« »Der erste, der kommt, kriegt ein Ding«, knurrte ich. Die Überraschung hatte sich gelegt, und die Wut machte meine Stimme heiser. »Wir wissen ja, daß du das kannst.« Sie umstanden mich im Halbkreis, »aber wir sind Mehrzahl und du bist Einzahl, verstehst du?« Ein Erzieher war nicht dabei. Sieben waren es. Einer stand etwas weiter zurück. Sie würden mich alle machen, ich kam nicht gegen so viele an. »Und wenn du's genau wissen willst, wir haben jetzt eine Stange Zigaretten verdient. Geteilt durch sieben, bei einem Nichtraucher, das sind runde dreiunddreißig Stengel für jeden.« Er schwieg, weil ich in meine Hosentasche faßte, es war die erste Bewegung, die ich machte. Für dreiunddreißig Zigaretten verpfiffen sie einen. Es konnten höchstens ein paar Minuten vergangen sein.
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»Laß doch endlich die Quatscherei«, mischte sich ein anderer ein, »entweder wir fangen jetzt an, oder wir lassen ihn laufen!« Schweigen. Ich zog die Hand aus der Tasche, hielt den Arm etwas angewinkelt vor, Schsssstklack! machte es, als der Stahl aus dem Heft schnellte. Es war ein kaltes, hartes Geräusch. »Du kleines Schwein«, sagte ich zu dem Wortführer und duckte mich nach vorn. Mir war, als sei das Ganze nur ein Spiel, eine Theaterszene, eine Laienspielgruppe bei der Generalprobe. »Dich erwisch ich zuerst, mit deiner großen Fresse«, ich machte einen Schritt auf ihn zu, »und wenn du nicht krepierst, dann nimmt dich Schirmer vor!« Es fiel mir im letzten Moment ein, Benno zu erwähnen. So etwas zog immer. Jeder im Heim hatte Freunde, die für einen eintraten, es würde sich herumsprechen, und Benno würde sicher ein paar Zähne ausschlagen, aber was machte das. Ich war wieder drin, in Heiligenstatt bücken, heben, drehen, Torf werfen. »Damit, damit stichst du sowieso nicht zu...« Sehr überzeugend klangen die Worte nicht. Ich machte einen zweiten Schritt. Meine Angst war plötzlich weg, ich setzte einen Fuß vor den anderen, die Jungen, die neben dem Sprecher standen, wichen unmerklich zurück. Er war genau so groß wie ich, aber dünner, er wirkte lang und dürr. »So'n Quatsch aber auch«, murmelte einer, »das hast'e nun davon.« Niemand schien mehr daran zu denken, daß sie mich einfangen wollten. Ich stieß plötzlich den messerbewehrten Arm vor, ich konnte den Langen noch gar nicht erreichen, doch der machte so schnell einen Schritt zurück, daß er gegen seinen Hintermann prallte. »Mensch, paß doch auf!« sagte der und schubste den Langen wieder vor. »Willst du... ich meine... du kannst doch nicht... einfach so...«, er stotterte ein wenig. »Du wolltest ihn doch fangen!« sagte einer der anderen. »Jetzt hast du ihn!« Die Jungen standen seitlich und guckten. »Ich
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kenne den Ben von früher her, der ist schwer in Ordnung«, flüsterte einer. Ich hörte es. Die Worte waren wie Balsam. »Ich habe... ich meine, ich habe das doch gar nicht so gemeint...« Ich hakte mit der Klinge über seinem Gürtel in das Hemd. Der Lange bewegte sich nicht, er stand wie ein Stock. Was die wohl dachten? Ob ich den hier einfach so abstechen soll? Sie stehen da und glotzen! Als wenn sie Eintritt bezahlt hätten! Ich hielt das Messer etwas schräg und schlitzte plötzlich mit einem Ruck sein Hemd auf, von unten nach oben, der Stoff knirschte mißtönend. »Schwein!« sagte ich. Er erwiderte nichts. Ich ließ ihn stehen, ließ die Klinge zurückschnappen und steckte das Messer ein. Die Jungen redeten durcheinander. »Ich habe ja gleich gesagt, es ist Blödsinn, hinter dir hinterherzurennen«, sagte der, der mich von früher kannte. »Und solange du nicht erwischt wirst, solange können wir hier rumlaufen, durch die Gegend rennen. Außerdem ist es eine Sauerei!« Wir setzten uns hin. Ich verteilte die Zigaretten, die ich noch bei mir hatte. »Du weißt ja, wie das ist! Sie hetzen einen richtig auf und sparen sich damit die Arbeit!« »Ja, das ist so! Der Wälzer kraucht hier nicht im Unkraut rum«, sagte einer, »und wenn zehn Mann abgehauen sind!« Die Runde nickte, auch der Lange, der ebenfalls rauchte. »Das mußt du mir nicht übelnehmen«, sagte er nach einer Weile, »ich bin noch nicht lange hier, ich werde in Zukunft oben bleiben.« »Wieso denn das? Such ruhig weiter mit, wir kennen uns jetzt ja. Ist doch ein guter Job. Ich werde euch morgen wieder Zigaretten mitbringen, vielleicht auch erst übermorgen, aber ganz sicher. Wie lange bist du denn schon oben?« fragte ich den Langen. »Ich?« »Ja.«
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»Na, so vier Wochen. Bin gleich aufs Sprungbrett gekommen, habe mich selbst gestellt.« »Aha. Soll ich euch noch sonst irgendwas mitbringen?« »Vielleicht ein Halstuch? Der Harry hat so'n dolles aus der Stadt besorgt, da stehen die Namen der ganzen Bandleader drauf. Bei Karstadt liegen die Dinger so rum, sagt er.« »Kannst du nicht so ein Messer besorgen? Ist große Klasse, das Ding!« »Nee, das habe ich auch unter der Hand gekauft.« »Bring doch noch 'n paar Romane mit, Krimis oder so.« Wir trafen uns am anderen Nachmittag. Sie lagen zwischen Wald und Weg auf der Wiese und genossen die Sonne auf den bloßen Oberkörpern. Einer machte den Aufpasser. Ich hatte für jeden das besorgt, was er haben wollte. Und für alle Zigaretten aus einem Automaten. Der hatte an der Bundesstraße gehangen. Dauernd waren Lastwagen vorbeigerollt. Benno hatte mal gemeint, solche Stellen seien todsicher, wegen des Krachs, den die Laster machten. Er hatte recht. Immer wenn ein Lkw vorbeigefahren war, hatte ich mit einem kurzen Nageleisen einen Öffnungsversuch gemacht. Beim dritten Versuch war die Vorderseite des Automaten aufgeflogen. Geld war nicht viel drin gewesen, aber Zigaretten. »Ich werde mal zu meiner Mieze hochgehen«, sagte ich, »wenn irgendwas faul sein sollte, dann muß mir einer Bescheid sagen. Sie werden sicher bald dahinterkommen, daß ihr mich absichtlich nicht finden könnt.« »Vielleicht sind sie das schon. Heute morgen kurvte hier eine ganze Zeit ein Bullenwagen rum, und der dicke Reimers tauchte auch mal für kurze Zeit auf, mit noch so'm Clown. Ist ein neuer Praktikant, sagen sie. Mußt aufpassen, an den Tongruben strolcht noch eine Gruppe von uns rum, aber da ist Fred dabei, sie sind alle okay.« »Wenn was ist, pfeifen. Kurz - lang!« Ich schlich durch das Wäldchen zum Heim hoch. Bullenwagen! Das wird langsam -3 1 7 -
gefährlich hier. Von den Erziehern hat mich noch keiner gesehen. Sie kennen mich nur vom Erzählen. Vielleicht glauben sie's gar nicht richtig. Bullen haben Funk, es ging damals am Bahndamm verdammt schnell. Aber da war alles freies Gelände, hier sieht das anders aus. Hoffentlich ist Karen mit der Sägerei fertig. Kann sie schließlich nicht einfach so sitzenlassen. Ich beobachtete die Rückseite. An einem Fenster waren drei Mädchen, ich lief hinüber. Eine sagte Karen Bescheid, während ich um den Vorbau herum ging und am Haus hochkletterte. Sie wartete bereits. »Ben, paß auf! Nicht an den Stab fassen, der in der Ecke«, sagte sie leise. »Ich bin damit fertig. Puh, ich dachte schon, dich haben sie wieder erwischt!« »Wieso denn. Wenn ich sage, ich komme, dann komme ich auch.« »Wenn du kannst. Du mußt sofort wieder abhauen. Vor einer Stunde ist hier noch'n Bulle durch's Gelände gekrochen, er dachte wohl, ihn sieht niemand, weil keine von uns am Fenster war. Aber wir haben ihn durch die Luftklappen beobachtet. Er hat da 'ne ganze Zeit gestanden und rübergeglotzt, kam sich wohl wie Sherlock Holmes vor. Dann ist er aus den Büschen raus und hat hier unten rumgeschnüffelt und als er genau unter'm Fenster war, haben wir einen Eimer Wasser runtergekippt. Der hat vielleicht 'n flotten Sprung gemacht«, Karen kicherte, »und dann hat er gebrüllt, das ganze Nest müßte niedergebrannt werden. Na, dann haben wir ihm aber Bescheid gegeben!« »Ich gehe. Ich hole dich heute nacht ab.« »Heute nacht schon?« »Was dachtest du denn. Wir können nicht warten, bis das mit dem Stab entdeckt wird. Je eher, desto besser. Leiter bringe ich mit. Kannst du nachts überhaupt rein, in diesen Raum?« »Ja, natürlich. Der ist immer auf. Hier sind die Bohnerbesen drin, Eimer, Schrubber und so. Ich glaube, ich bin schon ganz -3 1 8 -
nervös. Du, Ben, wenn wir erst mal ein Stück weg sind, an einer ruhigen Stelle, dann machen wir es aber, ja?« »Oha, ich halt das nicht aus. Wir müssen erst mal weg sein. Zieh dir 'ne Nietenhose an, daß ist praktischer, beim Laufen müssen wir über Zäune und so.« »Ja, ist gut.« Die Jungen lagen an einer anderen Stelle, als ich zurückkam. Ich legte mich zu ihnen, rauchte eine Zigarette. »Sag mal, Ben, hast du da oben was vor? Weil du immer hier in der Gegend bist.« »Was soll ich vorhaben, bin nun mal hier«, ich zuckte die Schultern. »Laß ihn doch, ist doch seine Sache.« »Na, wenn ich er wäre, würde ich mich hier erst mal 'ne Zeitlang verpissen.« »Da kommt ein Bullenwagen!« »Wo!?« Ich richtete mich auf. »Bleib doch liegen, Mensch! Sie kennen dich doch gar nicht, meinst sie wissen, ob hier sieben oder acht oder zehn Mann suchen sollen? Wenn du jetzt losrennst, dann machst du sie erst richtig heiß!« Ich blieb liegen und dachte, daß es tatsächlich das beste war. Nur keine Aufmerksamkeit erregen, ganz unauffällig sein. Der Peterwagen kam langsam näher und hielt auf gleicher Höhe. Der Bulle am Steuer sah uns an, dann zum Waldrand hin. »Na, alles klar?« fragte er den Langen, der ganz vorne lag. »Logisch«, erwiderte der, »was soll nicht klar sein?« Der Bulle nickte vor sich hin, redete was mit seinem Beifahrer. Wir konnten nichts verstehen. Das Auto setzte sich langsam wieder in Bewegung. »Na also.« »Ich werde mich verdrücken.« Ich stand auf, zog mein Hemd wieder an, »kann auch mal ein Erzieher aufkreuzen. Dann gibt es nur Ärger.«
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»Na, Ben, wenn sie dich wirklich mal schnappen sollten, dann gehst du eben wieder türmen. Haben sie da eigentlich Zellen, bei dem heiligen Verein?« »Nein, haben sie nicht.« »Scheint ja gar nicht so verkehrt zu sein, der Laden.« Ich nickte. »Vielleicht küßt mich der Oberbruder vor Liebe und Freude, wenn ich wieder da bin.« »Ist der schwul?« »Weiß ich nicht. Der erzieht eben mit Liebe und mit Freude und so.« Was sollte ich sonst dazu sagen. SCHWESTER ELISABETH STAND AM FENSTER und sah hinaus. Holberg betrachtete ihren Rücken. Es war still im Zimmer. Er fühlte sich bedeutend besser. »Wie spät ist es?« »Oh, du bist wach«, sie drehte sich um und kam an sein Bett. »Halb eins, gerade Mittag vorbei. Warum willst du wissen, wie spät es ist?« Sie setzte sich in den Stuhlsessel, neben dem Bett, auf dem eine Handarbeit gelegen hatte, die sie jetzt auf den Schoß nahm. »Ach, nur so. Werde ich noch lange hierbleiben?« »Das entscheidet der Arzt. Du bist nicht transportfähig, das heißt, du mußt hierbleiben, ob es die Bewacher wollen oder nicht. Du hast eine schwere Krise gehabt, wie fühlst du dich jetzt?« »Ich weiß nicht, es wird mir schon gut gehen«, er schwieg und sah auf ihre Hände, die mit der Wolle hantierten. »Es hat jemand angerufen, gestern, ob du Besuch empfangen darfst«, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Besuch. Für mich.« Holberg stellte es mehr fest. Er blickte zum Fenster. Man wird sie nicht reinlassen, dachte er, man hat Angst, sie konnte mich befreien. Blödsinn. Man kennt das. »Ich war gerade vorne in der Anmeldung, als der Anruf kam«, fuhr -3 2 0 -
Elisabeth fort, »eine Freundin machte dort Dienst und gab mir das Gespräch, weil ich dich ja unmittelbar betreue...« »Schwester Elisabeth, haben Sie einen Moment Zeit?« Eine andere Schwester kam ins Zimmer, hatte ein Buch oder ein Krankenblatt in der Hand. »Ja«, Elisabeth erhob sich und ging zu ihr. Sie redeten leise miteinander. Schwester Elisabeth setzte sich wieder. »Es war eine Sehwesteranwärterin«, sagte sie, »dann muß ich manchmal etwas erklären.« Sie nahm die Handarbeit nicht wieder auf, malte mit dem Mittelfinger einer Hand kleine Kreise auf die Stuhllehne. »Ich habe in der Anmeldung nur ganz kurz gesprochen, habe gesagt, daß du keinerlei Besuch empfangen darfst, und ich habe ihr meine Nummer gegeben, ihr gesagt, sie soll mich zu Hause anrufen«, sie sah Holberg an, als erwarte sie eine Antwort, »sie hat gestern abend gegen zehn angerufen, aus Kopenhagen, wir haben sehr lange miteinander gesprochen.« Holberg fühlte plötzlich einen Druck auf der Brust, es war wie ein Eisenring, der stramm den ganzen Brustkorb eng umspannte, der das Atmen erschwerte; es war wie ein Schmerz, kein wilder Schmerz, sondern ein sanfter Schmerz, der in Intervallen kam, immer dann, wenn die Gedanken einsetzten, die Gedanken an Marion. »Marion«, sagte er. »Wärest du sehr glücklich, wenn sie dich besuchen würde?« »Ja, ich wäre es«, er dachte etwas nach, »weißt du, wenn ich mein Leben in Kapitel einteile, dann ist die Zeit mit Marion das Wunderbarste, was ich erlebt habe. Das hört sich trivial an, aber es ist so; manchmal gibt es Dinge, die sich einfach nicht anders sagen lassen. Nach so einem Kapitel wäre ich gerne abgetreten.« »Sag so etwas nicht, du bist viel zu jung, um so etwas zu sagen.« »An Jahren vielleicht.« -3 2 1 -
»Es ist auch egoistisch, so zu denken. Was ist mit den Menschen, die an dich glauben? Was ist zum Beispiel mit Marion?« fragte sie. Er schwieg. »Warum sagst du nichts? Habe ich... ich meine, bin ich dir zu nahe getreten?« »Nein, nein, Elisabeth. Es ist nur... du weißt nicht, wie das ist«, Holberg sprach normal, eher leise, doch es strengte ihn an, »ich werde zehn Jahre oder noch mehr hinter Gittern bleiben müssen. Du weißt nicht einmal, was ein Monat ist, was ein einziges Jahr ist, was es bedeutet. In zehn Jahren wird alles, aber auch alles zerstört; woran man glaubt, was man erhofft«, er schwieg erneut. Elisabeth sah ihn an. »Strengt es dich an? Wir haben noch Zeit, miteinander zu sprechen...« »Nein, nein«, er bewegte den Kopf. »Es ist nur schwer, alles zu erklären. Weißt du, es ist wie ein dreckiges, verseuchtes Meer, du hast dich zu dicht an den Rand gewagt, er bröckelt ab, und dann fällst du rein, aber du kannst nicht schwimmen, du wirst in der Brühe untergetaucht, wirst festgehalten, du bekommst keine Luft, du zappelst wie verrückt, du schreist, doch niemand hört dein Schreien. Du wirst bewegungsunfähig. Und dann läßt man dich los, nach sieben oder acht Jahren oder nach zehn Jahren. Du schnellst nach oben wie ein Korken, schaukelst auf den Wellen und wirst hin und her geworfen, und man sagt dir: Nun atme doch! Nun schwimm doch! Nun hast du deine Chance! Aber du weißt gar nicht mehr, wo das Ufer ist, du bist erstmal dankbar für ein bißchen Luft, saugst es in die Lungen; dann versuchst du ans Ufer zu kommen, du strengst dich an, kommst naher und siehst all die Menschen, die dort stehen und auf dich warten, und wenn du in Wurfweite bist, dann werfen sie mit Steinen nach dir oder mit Vorurteilen. Du könntest ihr Ufer beschmutzen. Ich habe Durst.« Schwester Elisabeth holte ein Glas Orangensaft. »Trink langsam«, sagte sie und half ihm, den Kopf zu heben. -3 2 2 -
»Was hat sie gesagt?« fragte er. »Wir wollten Weihnachten zusammen feiern, eigenartig, ich habe mir noch nie etwas aus Weihnachten gemacht, aber diesmal.« »Wir haben viel gesagt. Sie ist sehr stark. Ruh dich erst ein bisschen aus, dann sprechen wir weiter. Ich habe ab morgen Nachtdienst.« »Es schneit.« Vor den Fenstern wirbelten Schneewolken vorbei. »Ja, aber er bleibt nicht liegen, der Schnee.« DIE LEITER WAR ZIEMLICH LANG. Ich legte sie oben auf die Büsche. Es knackte und raschelte, bis sich die Zweige so weit niedergebogen hatten, daß sie die Leiter trugen. An der Straße hatte ich einen Jungen vom Suchtrupp getroffen. Er saß im Schatten eines Baumes und zählte die vorbeifahrenden Autos, ich bemerkte ihn erst, als ich dicht vor ihm war. »Der fette Reimers und 'n paar Erzieher sind noch im Gelände«, hatte er gesagt, »wo willst du denn mit dem Ding hin?« »Fensterln, das ist bequemer.« »Ich glaub, ich spinne!« Ich lauschte in den Wald. Nichts war zu hören. Ich stemmte die Leiter wieder hoch über den Kopf, legte das letzte Stück bis zu der Lichtung an der Rückfront zurück und wartete. Einige Fenster waren noch erleuchtet, doch sie gehörten zu den Fluren, das wußte ich. Die Schlafsäle waren dunkel. Wenn die Scheinwerfer nicht wären, überlegte ich, das wäre eine gute Sache. Oder auch nicht. So kann ich zwar gesehen werden, aber ich sehe die anderen auch. Im Dunkeln weiß niemand, wer wer ist, dann könnten sie mich in alter Ruhe überraschen.
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Das Fenster, das Karen angesägt hatte, lag über den Lampen. Von unten war es nicht zu sehen, weil die Lampen blendeten. Viertel nach zehn war es! Diese Zeit hatten wir abgemacht. Normalerweise mußte Karen schon eine ganze Weile da oben warten. Ich zündete dreimal hintereinander ein Streichholz an, ließ die Hölzchen nur aufflammen und pustete sie sofort wieder aus. Oben am Haus blitzte ein Feuerzeug auf. Dreimal. »Na also«, sagte ich leise. Ich nahm die Leiter, schob mich mit ihr ins Freie und keuchte zum Vorbau hinüber. In der Ecke angekommen stemmte ich das eine Ende unten gegen die Wand und drückte die Leiter Sprosse um Sprosse hoch, bis sie senkrecht stand. Ich zog das untere Ende etwas weiter von der Wand als normal, damit ich schneller hochsteigen konnte. »Mein Gott, ich glaub, ich habe mich vor lauter Aufregung naß gemacht«, wisperte Karen, »gerade eben noch sind hier unten Erzieher vorbeigegangen.« »Kann doch nicht sein, ich hocke mindestens schon zehn Minuten da drüben in den Büschen, ich hätte sie doch sehen müssen.« Ich stand auf der letzten Leitersprosse, die Knie gegen den Rand der Fensterbank gedrückt, hielt mich mit einer Hand fest und bog mit der anderen den angesägten Gitterstab hin und her. Er brach ab. Ich warf das Stück nach unten. »Los!« »Du mußt mit helfen, damit ich nicht runterfalle...« »Ja doch, komm doch erst mal durch, das mußt du alleine machen.« Karen schob ihren Oberkörper durch die Öffnung, drehte sich dabei auf den Rücken und hielt sich von außen an den Stäben fest. »Aua, ich hätte den Stab etwas höher absägen sollen, zieh doch mal.«
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»'n Mann hat wenigstens keine Brust, nun siehst du mal, wozu das gut ist.« Ich war auf die Fensterbank geklettert und faßte unter Karens Arm, hob und zog sie durch das Loch, bis sie mit den Füßen Halt fand. »Du Ekel!« »Warte, ich steige zuerst runter, nicht daß du mir runterfliegst, laß mich mal auf die andere Seite.« Ich umfaßte Karen und zog mich rüber. »Guck mal! Da steht 'ne Leiter!« sagte eine Stimme unter uns. Ich fühlte, wie sich alles in mir sträubte. Karen maunzte nur leise, weil ich noch rechtzeitig meinen Arm gegen ihren Mund drückte. Hinter der Ecke des Vorbaus waren zwei Männer aufgetaucht, standen da und guckten auf die Leiter, dann zu uns hoch. Sie blinzelten mir genau ins Gesicht, doch sie konnten nichts sehen. Schräg links befand sich der Scheinwerfer, und das obere Ende der Leiter reichte über diesen hinaus. »Die geht nach oben«, sagte der eine. »Wäre ich nicht drauf gekommen. Wo ist denn...«, der andere drehte sich um, sah um die Hausecke, »Hans, komm doch mal her, hier steht 'ne Leiter!« >Hans< kam mir bekannt vor. »'ne Leiter!?« hörte ich Reimers Organ. Ein paar Sekunden verstrichen. Dann tauchte er hinter der Ecke auf, breit und massig. Er sah von oben aus wie eine aufrecht gehende Wildsau, in der einen Pfote eine lange Stablampe. Karen hielt sich mit einer Hand am Gitter fest, mit der anderen an mir; wir standen wie zwei Steinfiguren nebeneinander auf der schmalen Fensterbank. »'ne richtige Leiter!« Reimers glotzte die Leiter an. Ich ging mit der Fußspitze etwas tiefer, hakte hinter die obere Sprosse. Wenn wir schon nicht runter konnten, dann sollten sie erst recht nicht hoch. -3 2 5 -
Reimers blickte hoch, blinzelte ebenfalls. Ich beugte mich mit dem Kopf vor und ließ genau über ihm einen Schub Spucke fallen, traf ihn mitten ins Gesicht. »Ahhhh! Ahhhhrrrr!« schrie er. Dabei war gar nichts passiert. Ich gab der Leiter einen Schubs. »Vorsicht! Hans!« rief einer der beiden anderen. Der Dicke flitzte zur Seite, die anderen auch. Die Leiter schlug auf den Boden, sprang federnd hoch, blieb liegen. Der Strahl von Reimers Lampe erfaßte uns. »Kopf weg«, sagte ich leise zu Karen und linste durch einen Spalt zwischen Körper und Arm. »Dachte ich mir's doch!« röhrte er triumphierend. »Und auch noch zwei Mann! Sofort runterkommen! Aber dalli!« Wie blöd er ist, dachte ich, sollen wir vielleicht springen? »Runterkommen! Hab ich gesagt!!« »Ich hab Angst«, wisperte Karen, »ich habe schon den ganzen Tag so ein komisches Gefühl gehabt, jetzt haben sie uns erwischt; hätten wir doch lieber gewartet, morgen hätte es sicher besser geklappt, Ben, hör doch...« »Wenn du nicht sofort ruhig bist, ich schubs dich runter!« »Man müßte dem Dicken genau auf den Buckel springen«, sagte sie. »Ach, spring man, wenn es klappt, dann komme ich auch. Aber sie haben uns noch nicht, sie müssen uns erstmal haben.« »... dann komme ich hoch, darauf könnt ihr euch verlassen!« Der Dicke funzelte, doch unsere Gesichter konnte er nicht sehen. »Los, Leiter anstellen!« Die beiden anderen Erzieher richteten die Leiter wieder auf, an die Wand. »Einer festhalten und einer hoch!« befahl Reimers. »Oder kommt ihr jetzt freiwillig runter?« Wir schwiegen. -3 2 6 -
Ein Erzieher kam auf die Leiter, eine Sprosse, zwei, drei...! Ich schob einen Fuß runter. Zack! Die Leiter kippte über. Der Erzieher sprang fluchend ab. Das Festhalten des anderen nützte gar nichts, er sprang auch weg. Die Leiter krachte jetzt seitlich gegen die Hauswand und rutschte auf den Boden. »Verdammte Blase!!« Reimers schnaubte und leuchtete unnötig in der Luft herum. »Alarrrm!« brüllte er dann. »Alarrrrm!« Eine Weile passierte gar nichts. Alle drei sahen zu uns hoch, hatten die Augen zusammengekniffen. Dann schob sich ein Junge aus den Büschen gegenüber. »Wer bölkt denn hier so erbärmlich?« fragte er. Ein zweiter tauchte auf. »Da! Da oben! Da sind zwei! Holt sie runter!« »Wie soll'n wir das denn machen? Soll'n wir da hochfliegen?« »Da liegt 'ne Leiter. Angestellt und dann nichts wie hoch. Stellt euch nicht so dämlich an!« »Nee, bin ich bekloppt. Wenn ich halb oben bin, dann kippen die die Leiter um, und ich brech mir die Gräten, was?« Im Haus wurden jetzt überall die Fenster hell. Von irgendwo her ertönte die Konservendosendeckelstimme der Geschke: »Haben Sie den Burschen dingfest gemacht, Herr Reimers?« »Gleich!« grölte der Dicke zurück. Unten tauchten immer mehr Jungen auf. Ihr Hauptinteresse galt Reimers, was der jetzt unternehmen würde. »Oh, Ben, ich muß so nötig«, wisperte Karen. »Von mir aus.« Da war wieder die Geschke: »Soll ich die Polizei anrufen, Herr Reimers?« »Jawoll!« trompetete der. »Polizei! Rufen Sie sofort die Polizei an!
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Einen Bereitschaftswagen! Und dann gehen Sie sofort in das Zimmer, wo die beiden stehen!« »Wo ist das denn? Sind es zwei? O Gott!« Reimers erklärte es laut. »Karen, wir gehen übers Dach.« »Ben, das schaffe ich nicht.« »Man schafft alles, wenn man will. Wir können hier nicht stehenbleiben, die Alte kommt gleich, dann kommen die Bullen, wir müssen weg.« Wo die Gitter und die Fensterhöhlung zu Ende waren, kam ein halber Meter Mauerwerk, dann die Dachrinne. Es war eine alte, viereckige Dachrinne, mit Schnörkeln, ich hatte sie oft bei Tage gesehen. Ich kletterte am Gitter hoch, stand zusammengekrümmt auf der letzten Querstange, hielt mich mit einer Hand fest und faßte mit der anderen hoch, ich kam genau an den Rand der Dachrinne, richtete mich auf und griff mit beiden Händen zu, stieß mich mit den Füßen ab und lag mit Brust und Bauch auf der Rinne, auf dem Rand des flachen Teerdachs, krabbelte ganz drauf. »Los, komm rauf«, zischte ich Karen zu, sah auf dem Bauch liegend über den Rand. »Ben, das schaffe ich nicht, wenn ich runterfalle«, Karens Stimme klang weinerlich. »Du! Ich sage dir, wenn du nicht sofort hochkommst, dann ist was los! Versuch es!« Ich ließ einen Arm runterbaumeln. Sie kletterte am Gitter hoch, ihr Gesicht kam näher. Reimers runzelte wieder. »Was... daaaaa! Daaaaa!« Er hatte uns im Strahl seiner Lampe. »Gib deinen Arm! « »Aber...« »Verdammt noch mal, dein Arm!« Sie streckte zögernd eine Hand nach oben, ich bekam ihr Gelenk zu fassen. »Laß das Gitter los!« Ich zog, sie half mit den Beinen nach, hing auf der Rinne, ich zog sie aufs Dach, hörte erst jetzt, wie Reimers unten herumbrüllte, wie er Anweisungen gab. Der Taschenlampenstrahl flitzte in den -3 2 8 -
Bäumen herum. »Na, siehst du, ist doch ganz einfach. Komm, wir müssen uns beeilen, die kommen vorne rum, von der anderen Seite.« Ich faßte Karen an der Hand und lief mit ihr über das Dach, um die Schornsteine herum. Jetzt wird dem Dicken eingefallen sein, daß das Dach zur Hälfte flach ist, daß man vorne runterspringen kann, wen die Gebäude an einem Abhang stehen. Wir kletterten auf einen tiefer liegenden Erker, liefen wieder ein Stück. Hier oben wuchs Gras. Wir sprangen wieder auf ein anderes Dach, dann auf einen Schuppen und von dort in den Innenhof. »Ich kann nicht mehr«, Karen stolperte neben mir her, auf den Zaun zu. Auf der anderen Seite war der Wald, begann das Unterholz. »Die Geschke hat die Bullen angerufen, wir müssen erst durch den Wald, sie sperren alles ab.« »Ben, ich kann doch nicht mehr, da komm ich nicht mehr rüber.« Sie hielt sich an dem Maschendraht des Zaunes fest und rang nach Luft. »Klar, komm her, ich helfe dir. Im Grunde kann uns ja nichts mehr passieren. Komm, ich heb' dich hoch, und dann faßt du oben an«, ich bückte mich und schob meinen Kopf durch ihre Beine, hob sie mit den Schultern hoch, »hast du? Laß dir Zeit, da oben ist Stacheldraht. Nachher hole ich uns erstmal 'ne Cola, oder hast du keinen Durst?« »Ben, ich habe gar keine Kraft mehr in den Beinen.« »Doch, festhalten, wenn du 'ne Cola trinkst, dann kommt sie wieder.« »Oh, der piekt aber, aua.« »Deswegen heißt er Stacheldraht.« Ich schob sie mit den Händen hoch. »Gut, laß los, ich springe, ich kann mich hier oben nicht umdrehen, das wackelt alles.« Sie sprang. »Au! Mein Fuß!« »Nicht so laut, warte, ich komme!« Gut, daß es der einzige Zaun hier ist, dachte ich, wäre ein ganz schönes Stück Arbeit. An so einem Zaun kletterte man immer
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nur an einer Seite hoch und an der anderen sprang man runter. Ich sprang. »Mein Fuß, mein Fuß«, Karen wimmerte leise, »ich kann nicht auftreten.« Sie hatte sich am Zaun hochgezogen und stand auf einem Bein. »Nicht so laut, sie sind am Vordereingang«, ich sah, wie die Geschke über den erleuchteten Hof zur Pforte lief, »zeig mal.« Ich konnte im Dunkeln nichts sehen. »Ich glaub, der ist gebrochen«, sie wollte auftreten und knickte mit einem Wehlaut wieder um. »Leg deinen Arm um meinen Hals, ja so«, ich faßte um ihre Hüfte, wir humpelten in das Unterholz. Es brach und knackte. Karen stöhnte immer mehr. »Ich halt es nicht aus, Ben, hau doch ab, ich leg mich hierhin, unters Farnkraut, vielleicht finden sie mich gar nicht.« »Red nicht so'n Quatsch, Ich trage dich, Huckepack, faß um meinen Hals, häng dich einfach auf meinen Rücken.« Ich ging in die Knie, faßte nach hinten unter Karens Beine und stolperte weiter. »Das geht nicht, das geht nicht! So ist es noch viel schlimmer. Ben!« Hinter uns schrie eine Stimme. Ich konnte nicht verstehen, was es war. Ich ließ Karen auf den Boden rutschen. »Laß mich liegen, hau doch endlich ab. Was nützt es, wenn sie uns beide schnappen, die bringen dich sofort wieder zu dem Verein, du hast mir doch gesagt, wie schwer es ist, dort abzuhauen. Ben, wir versuchen es wieder, wenn mein Fuß in Ordnung ist, deshalb musst du jetzt weg.« Der Wald schien zum Leben erwacht. Überall brach Holz, rief jemand, Lampen leuchteten. Doch sie wußten ja nicht, wo wir uns befanden. »Ben, geh. Ich weiß, daß du mich nicht im Stich läßt. Du kommst doch wieder, ja?« »Kette machen! Wir müssen ausschwärmen!« -3 3 0 -
Das war Reimers, der da brüllte. »Wir gehen weiter nach links«, brüllte jemand anders. »Hans! Heh, Hans, da ist eine von den Nutten mitgetürmt! Die haben den Gitterstab regelrecht rausgefidelt!« »Weiß ich doch alles!« orgelte der dicke Reimers. »Fangen wir alles wieder ein.« Ich hörte ihn schräg vor uns durchs Unterholz brechen. »Ben.« »Ja, ich komme zurück, bestimmt.« Ich gab Karen einen schnellen Kuß, dann kroch ich auf allen Vieren ins Farnkraut, wo es zu Ende war, begann ich zu laufen, übersprang niedrige Büsche. Sie würden bei dem eigenen Krach den meinen nicht hören. Ich nahm die Richtung zum See, lauschte ab und zu und hörte, wie sie suchten. Der fette Reimers kam sich jetzt sicher wie ein Feldwebel vor. Wie ein Hauptmann. Feldwebel ist nicht viel mehr als Unteroffizier. Aber wie kann eine Wildsau Offizier sein! Vielleicht haben sie Karen jetzt schon entdeckt. Jawoll, Herr Direktor<, würde er später sagen, >sie hat da gesessen und war unten ganz dick.< >Wieso unten? Wieso dick?< würde Lokusmüller fragen. Der Dicke hob dann den Fuß und sagte: >Da!< Und Lokusmüller wußte immer noch nicht, was eigentlich los war, würde gucken, würde sagen: >Vermerken Sie in Ihrem Bericht eine kleine Skizze, Herr Kollege,< Ich hatte den Rand des Wäldchens erreicht. Rechts, wo die Ziegelei begann, standen einige Gestalten auf dem Schlackenweg. Ich konnte sie nur undeutlich sehen. Nach links laufen, das war nicht gut, dort zweigte von der Bundesstraße eine andere ab, sie führte zum Stadion, und man konnte mit dem Wagen auf diesen Weg einbiegen. Jetzt fuhr ein Auto dort vorbei. Vielleicht waren das schon Bullen? Vielleicht waren sie an dem Weg vorbeigefahren, drehten und stellten sich im Dunkeln dort -3 3 1 -
hin. Ich lief über die Wiese, ließ mich am Weg auf die Hände nieder und überquerte ihn auf allen Vieren, verschnaufte auf der anderen Seite und rieb mir die Gelenke. In der Gegend liefen genug Hunde herum. Die Gestalten drüben an der Ziegelei schienen nichts bemerkt zu haben, sie hätten auch sicher sofort mit Lampen geleuchtet. Ein Wagen kam in den Weg, ganz langsam. Als er fast in Höhe des Waldes war, flammte an der vorderen Windschutzscheibe ein Scheinwerfer auf, es war ein greller Strahl, der wie ein weißer Finger den Waldrand abtastete, über die Büsche glitt und manchmal oben in das Laub der Bäume. Der Wagen fuhr an mir vorbei. Ich sah die hellen Kotflügel, drei Mann saßen drin. An der Ziegelei wendete er und blieb so stehen, daß die Autoscheinwerfer fast die ganze Wiese und den Waldrand ausleuchteten. Ich schlich weiter, bis zum Schilfufer, suchte eine freie Stelle. Ich zog Hemd und Pulli aus, die Hose, bis ich nackt war. Ich wickelte mir die Sachen wie einen Turban um den Kopf, stopfte alles rein, was ich in den Hosentaschen gehabt hatte und watete in das Wasser. Es war herrlich warm, ich schwamm ganz langsam. Am anderen Ufer zog ich mich wieder an, legte mich ins Gras und rauchte eine Zigarette, sah hinüber zum Wäldchen. Doch das andere Ufer, die Büsche und das Schilf verdeckten die Sicht. Ich überlegte, ob Karens Fuß vielleicht doch gebrochen war. Konnte auch nur verstaucht sein. Sowas tat auch ganz schön weh. Beinahe hätte es ja geklappt. Jetzt werden sie doppelt aufpassen. Die Geschke wird am Tag schlafen und nachts aus dem Fenster linsen. Von mir aus. Ob sie wirklich Mottenkugeln in ihrem Haarknoten hat? Karen wird für eine Woche auf Zelle gehen, weil sie mich nicht verpfeift. Heute war sie wieder so wie früher. Benno hatte mal gemeint, Weiber wechseln sich wie Chamäleons. Na ja, jeder hat seine Meinung. -3 3 2 -
Halb zwölf ist es. Ich werde ins Bett gehen. Ich machte mich zum Güterbahnhof auf, benutzte den Weg neben dem Fluß, bis ich an die erste Brücke kam. Ich überquerte sie und bog in eine schmale Straße ein. Die Straße endete am Bahnhofsgelände, dort führte ein Fußgängerweg weiter, man brauchte nur über zwei Zäune zu klettern und befand sich dann zwischen den Bahnschuppen. In der ersten Hälfte der Straße war eine Kneipe. Vielleicht konnte ich dort noch schnell eine Cola und Kekse kaufen. Vorne in der Kneipe war ein kleiner Verkaufsladen, das wußte ich, der Laden verkaufte ab sechs Uhr nichts mehr, doch weil man den Schankraum meist durch den Laden betrat, konnte man doch kaufen. Wenn man wollte. Die Jungen, die als Freigänger in der Stadt arbeiteten, setzten hier das erhaltene Taschengeld um. Der Besitzer feilschte um jeden Pfennig, doch sie gingen immer wieder hin, weil die Kneipe nun mal am Wege lag. Wenn Benno hier ein Bier getrunken hatte, dann hatte er sich immer Flaschenbier geben lassen. »Dann kann er mich nicht bescheißen.« Die Reklamebeleuchtung über der Tür brannte schwach, das war ein Zeichen dafür, daß schon geschlossen war. Aber ich konnte es ja trotzdem versuchen. Neben der Kneipe befand sich noch eine Tür in einer Hofeinfahrt -als Ausgang für die ganz Besoffenen. Jetzt erlosch die Beleuchtung ganz. Eine Stimme brüllte. Dann war wieder Stille. Ich blieb stehen, stellte mich in einen Hauseingang und wartete. Warten war das Beste, was man tun konnte, wenn man nicht wußte, was los war. Sonst machte die Kneipe erst um eins oder halb zwei zu. Zwei Männer kamen heraus, in meine Richtung. Sie schwankten. Der eine erzählte laut eine Schweinerei. »Du... Sch... Sch... Schwein«, sagte der andere. »Nun geh doch grade«, erwiderte der, der die Schweinerei erzählt hatte, »wir sind gleich da. Gut, daß du hier um die Ecke wohnst und mein
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Stammgast bist, sonst würde ich dich hier in der Gosse sitzen lassen.« »Bin... ich, Ernst... deine Kneipe sauf ich leer, wenns sein muß...« »Andermal. Du säufst den ganzen Tag, und ich muß schwer arbeiten, damit du saufen kannst, klar!« Sie bogen in eine Fußgängerpassage ein. Der Ernst hatte gar nichts mitgehabt, dachte ich, eine Tasche oder so, hat man doch als Kneipenwirt. Aber ein Unternehmer hat selten Tasche mit. Ein Wirt ist ein Unternehmer. Hm. Ich werde mal sehen, vielleicht kann ich so ein paar Cola mitnehmen. Ich kam an die Wirtschaft. Die Vordertür war verschlossen. Ich ging in die Toreinfahrt. Es war dunkel dort. Der Seiteneingang war ebenfalls verschlossen, doch die beiden Fenster dahinten waren sperrangelweit geöffnet. Ich sprang über die niedrige Fensterbank in den Schankraum. Die Stühle waren alle hochgestellt, über dem Tresen brannte eine Neonzigarette. Die Kasse war unverschlossen und leer. Am Garderobenständer hing eine Jacke, auf dem Boden stand eine Aktentasche, ich sah nach. In der Tasche befand sich eine dunkelgrüne Kassette. Ich verbrannte mir die Finger am abgebrannten Streichholz. Der ist nur mal eben weg, kommt gleich wieder und schließt alles ab, und dann will er seine Kassette haben. Ich lief nach vorne in den Laden, packte ein paar Schachteln Zigaretten ein, zwei Flaschen Cola und einen Stapel Schokolade. Meine Hände zitterten, als ich die Tasche schließen wollte. Es ging nicht, ich klemmte sie unter den Arm. Auf der Straße war niemand zu sehen. Ich hielt die Tasche mit beiden Händen fest und rannte, bis ich am Güterbahnhof war. Ich saß mit Erwin in einer Ecke des Lokals. Seitdem Karens Fuß kaputt war, war eine Woche vergangen. Gestern nacht war ich zum erstenmal wieder oben im -3 3 4 -
Wäldchen gewesen. Der Fuß war verstaucht. Evi sagte, daß man Karen am Morgen im anstaltseigenen VW mit einer Erzieherin weggebracht hätte, wohin wußte sie nicht. Aber sie würde das noch rauskriegen, hatte sie gesagt, es sei bestimmt ein anderes Heim, in das sie Karen gebracht hätten, und bei der nächsten Gelegenheit würde sie auch türmen gehen, weil die Geschkesche, diese Sau, sie getreten hätte, und als sie die Geschkesche wiedertreten wollte, da hatte die geschrien, worauf zwei Erzieherinnen Evis Arme festgehalten hatten, damit die Geschkesche Evi ohrfeigen konnte. Und sie hatte noch zwei Tage Bunker gekriegt, wegen Widerstand und Untergrabung der Heimordnung. Nun hatte sie, die Evi, endgültig die Schnauze voll. Ich war über das Ziegeleigelände zur Bundesstraße zurückgeschlichen. Dort, wo der Schlackenweg abzweigte, hatte Erwin mit seinem Auto gewartet. Erwi n wohnte irgendwo in der Stadt. Ich hatte ihn am Tage nach der Sache mit der Kassette in einem Lokal in der Altstadt kennengelernt. Er hatte ein Auto. Ich fand diese Bekanntschaft nicht unangenehm. Ein Auto war eine dolle Sache. In der Kassette waren achthundert Mark gewesen. Ich hatte mir neues Zeug gekauft und bezahlte das Auftanken von Erwins Auto. Er ließ mich manchmal fahren. Ich war öfters mit ihm am See und um das Wäldchen herumgefahren, und er hatte mich gefragt, ob ich mal oben im Heim gewesen wäre, er hätte schon oft Freunde da gehabt, und die seien alle in Ordnung gewesen. Doch ich hatte verneint. Ich hatte erwidert, daß ich bei einer Tante in den Ferien wäre und daß im Mädchenheim eine Cousine von mir sei. Erwin erzählte immer, die Weiber taugten alle nichts, und es ginge nichts über eine ehrliche Freundschaft unter Männern. Dabei sah er mich so merkwürdig an. Die Mutti damals, die ich mit einem anderen in der Toilette beobachtet hatte, die hatte auch immer so ein Zeugs gequatscht, wenn ein Neuer kam. Dann kriegte sie von einem -3 3 5 -
Alten ein paar kräftige Ohrfeigen, und sie redete wieder ganz normal. Gestern abend nach dem Besuch bei Evi, waren Erwin und ich noch in einer Spätvorstellung gewesen. Sonst hatte er mich immer irgendwo in der Stadt abgesetzt, und ich war alleine nach Hause gegangen. Seit zwei Tagen wohnte ich in einem Eisenbahnwagen Zweiter Klasse, weil der der Ersten Klasse abgeholt worden war. Aber diesmal wollte mich Erwin unbedingt nach Hause bringen. Ich hatte einfach den Mühlenweg angegeben, er fiel mir ein, weil er in der Nähe des Güterbahnhofs lag. Erwin fuhr ganz langsam und redete andauernd von der milden Luft, die die Brust so weit und frei macht, von geheimen Wünschen, von innerem Fühlen und Drängen, daß das nur so klang und sang und ob ich denn gar nichts merkte. Ich merkte nichts. Ich bemerkte nur, daß er während des Erzählens seine Hose rieb und glättete, und seine Stimme hatte einen wehmütigen Klang, der mich an einen Lehrer erinnerte, wenn der uns ein Gedicht von der Steiermark vortrug. In der Betonung, im Heben und Senken der Stimme liegt das Gefühl, das was man ahnen soll. Wir könnten ja noch einen Bummel durch die Wallanlagen machen, Erwin dann, solche milden Sommerabende könnten unvergeßlich sein. Ich wollte nicht. Wir waren im Mühlenweg angekommen, ich ließ ihn vor einem Haus halten und stieg aus. Er wollte mich bis an die Haustür bringen. Das wollte ich auch nicht. Ich sagte ihm, daß mein Onkel Schlachter sei und so nervös, daß er immer durch die Gardinen gucke. Ich war durch den Garten des fremden Hauses gegangen, auf die Rückseite und hatte dort gewartet, bis Erwins Auto abfuhr. Dann war ich wie gewohnt zum Güterbahnhof gegangen. »Was machen wir heute abend?« Erwin sah mich fragend an. Ich zuckte die Schultern und beschloß im stillen, allein zum Mädchenheim zu gehen. Vielleicht hatte Evi jetzt erfahren, was mit Karen los war. »Ich geh gleich nach Hause«, sagte ich.
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»Wir können mal nach Hamburg fahren«, fuhr Erwin fort, »da ist immer was los. Reeperbahn und so, 'n dollen Puff haben sie da auch, ich kann dir sagen!« »Hamburg ist weit.« »Macht doch nichts. Wir bleiben eine Nacht da und fahren am anderen Tag wieder zurück. Wo du doch sowieso Ferien hast. Von mir aus können wir morgen los.« »Na ja, von mir aus«, ich nickte. Mir fiel ein, daß er vom Puff redete. Er meinte doch wohl keinen Männerpuff? Aber den gab es doch gar nicht!? »Warst du schon mal in Hamburg? Ich meine im Puff?« vergewisserte ich mich. »Klar, bin schon oft dagewesen, 'n Freund hat mir gesagt, sie haben jetzt einen Haufen Negerinnen...« »Tiger und Löwen auch?« »Wieso? Ist das ein Witz?« »Weiß nicht.« »Ich sage dir, da ist Stimmung. Sag mal, bist du noch nie im Puff gewesen?« Ich verneinte zögernd. Es tröstete mich, kurz darauf zu erfahren, daß er dafür nicht wußte, wieso Ebbe und Flut zustande kam. Am anderen Morgen erwachte ich durch ein Geräusch. Ich blinzelte verschlafen an die Decke des ErsteKlasse-Abteils. Der Wagen war erst in der Nacht hier abgestellt worden, und ich hatte mich sofort für ihn entschieden. Die Polster waren hier bedeutend weicher und mit Stoff bespannt. Wenn man die Augen zumachte, hatte man das Gefühl, in einem Hotel zu sein, auf dem Flur draußen eilte der Zimmerkellner von Tür zu Tür und fragte, was er als besonderen Wunsch zum Frühstück notieren dürfe, machte dann diskret die Tür zu. Da schob tatsächlich jemand die Türen auf und zu! Ich setzte mich aufrecht und lauschte. Jetzt wieder! Ich kleidete mich in fliegender Hast an, hängte mich mit den Händen an den Fenstergriff, um nach draußen zu kommen. Ich zog und zerrte, doch das Fenster ließ sich nicht öffnen. -3 3 7 -
Es sind Bullen! Sie haben herausgekriegt, daß ich hier schlafe! Ich sitze wie in einer Mausefalle. Sie sehen in jedem Abteil nach, ich höre es. Und draußen werden sie auch stehen um zu kontrollieren, ob ich vielleicht aus dem Fenster springe. Ich setzte mich wieder hin. Der auf dem Gang war jetzt ganz nahe. >Mein Junge, wie schön, daß du wieder da bist, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht<, säuselte es in meinem Kopf, >und die Jungen haben andauernd nach dir gefragt.< Jetzt wurde die Tür des Nebenabteils aufgeschoben - wieder zu. Meine Tür ging auf! Ich starrte auf den Boden, sah seitlich blaue Uniformhosenbeine. »Nanu?« fragte eine Männerstimme verblüfft. In der Tür stand ein Eisenbahner, in einer Hand hatte er einen Eimer, unter dem Arm einen Packen Papierhandtücher. Er sah mich wortlos an. Ich bekam vor lauter Glück ganz trübe Augen. »Wie kommen Sie denn hier rein?« fragte er. >Sie< sagte er! Netter Mensch! Ich dachte an den Besoffenen, den Ernst nach Hause gebracht hatte. »Ich... hicks... will zu meiner Tante, da will ich... hicks... hin«, sagte ich. Mein Schluckauf klang echt, das hörte ich selbst. Ich nahm einen Geldschein aus der Tasche und hielt ihn hin. »Ich werd verrückt«, sagte der Bahner, »wenn ich das am Stammtisch erzähle, halten sie mich für bekloppt.« Er sagte das mehr zu sich selbst als zu mir. »Ich frage mich nur, wie du mit deinem besoffenen Kopp hier über die Geleise gekommen bist, ausgerechnet in diesen Wagen? Das ist der falsche Zug, verstehste!? Der Wagen wird in einer halben Stunde eingesetzt, und du mußt hier raus!« Ich erhob mich und schlingerte ein bißchen zur Tür. »Wo willste denn überhaupt hin?« »Lei... Leipzig!« »Da wird der Hund in der Pfanne verrückt! Und noch so jung!« Ich ging an ihm vorbei und stützte mich an der Wand, ging weiter. -3 3 8 -
»Dolle Fahne hast'e ja nicht mehr«, er schnupperte hörbar hinter mir her, »bleib da vorne stehen, bin sofort fertig, sonst hängst'e mir noch unterm Zug!« Er schob die Abteiltüren schneller auf und zu. Ich war an der Außentür, sprang auf den Boden und unterquerte zwei andere Eisenbahnwagen, dann noch einen Güterwagen, lief um einen Schuppen herum und war an der Böschung, die hinunter zum Fluß führte. Das war ja nochmal gut gegangen. Er ist mißtrauisch gewesen, ich habe es gemerkt. Jetzt wird er überall gucken, wo ich geblieben bin. Ich werde mir eine andere Unterkunft suchen müssen. Erwin hatte sich einen knallroten Schlips umgebunden und roch nach einem widerlich süßen Eau-de-Cologne. Wir waren kurz nach Mittag losgefahren. Jetzt war es Abend. Ein Hamburger Abend. Ich war in Hochstimmung. Karen hatten sie zurückgebracht, am selben Tag, als man sie morgens weggebracht hatte. Man hatte sie aufs Krankenzimmer gelegt, was Evi nicht wußte. Karens Fuß war im Krankenhaus geröntgt worden, und man hatte festgestellt, daß er doch gebrochen war. Er war wieder richtig hingebogen und eingegipst worden. Evi meinte, das könne einige Wochen dauern, bis Karen den Fuß gebrauchen könnte. Aber das machte ja nichts. Wir schlenderten auf der Reeperbahn entlang. Ich war hier noch nie gewesen. Es war wie eine große Kirmes, nur waren es hier feste Häuser und keine Zelte. Erwin hatte in einem kleinen Hotel ein Doppelzimmer genommen. Ich hatte meinen Ausweis »vergessen«. »Das macht gar nichts«, hatte Erwin gesagt, »wir nehmen ein Doppelzimmer, da braucht nur eine Person das Formular ausfüllen.« Ausgefüllt hatte er nichts. Bezahlen mußte er sofort, und er hatte einen Schlüssel mit einem großen Holzklotz dran erhalten. Nummer vierzehn stand auf dem Holz. Erwin hatte -3 3 9 -
Holz und Schlüssel in das Handschuhfach des Autos gelegt. »Sehen alle gleich aus, die Zimmer«, hatte er gemeint. An der Davidswache blieb ich stehen. Im Heim hatten sie erzählt, daß die Bullen hier Lederjacken trugen und an der Seite einen Colt. Das wollte ich erstmal sehen. »Was guckste? Ist doch nur die Wache hier«, sagte Erwin, »der Puff ist gleich um die Ecke.« Er bummelte weiter, blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich brauchte nicht lange zu warten. Zwei Bullen kamen aus der Wache, dann ein dritter. Alle trugen Lederjacken und hatten eine Pistole an der Hüfte. Es war eine Pistolentasche, die an zwei Riemchen baumelte. Sie stiegen in einen Streifenwagen ein und fuhren weg. Fast im gleichen Moment kam ein anderer Streifenwagen und hielt dort, wo der andere weggefahren war. Ein weißes Rechteck war dort auf das Pflaster gemalt. In der Mitte stand das Wort: POLIZEI. Aus dem Wagen stiegen auch drei Bullen aus, mit Lederjacke und Pistole. Zwei von ihnen zogen aus der Hintertür einen vierten heraus, der nicht aussteigen wollte. Er war in Zivil. Sie faßten unter seine Arme und trugen ihn halb, halb zogen sie ihn. Das wollte der Mann auch nicht. Er zappelte, sein Kopf hing nach vorne, und die Beine schleiften manchmal über das Pflaster. Die Menschen auf dem Bürgersteig blieben stehen, sie bildeten eine dicht geschlossene Gasse vom Auto bis zum Eingang der Wache. Alle guckten zu. In der Mitte der Gasse zappelte der Widerwillige erneut, und ein Bulle bog seinen Arm hinten hoch auf den Rücken. Der Zappler brüllte auf. »Ihr elenden Scheißbullen«, sagte einer aus der Menge. »Halt die Fresse!« rief der Bulle zurück. »Drecksau!« -3 4 0 -
»Scheißbullen!« »Schweine! Ihr Bullenschweine!« Die Menge rief durcheinander. Aus der Wache kamen andere Bullen, sie schrien zurück und drohten mit Knüppeln, und die Menge brüllte lauter. Dann waren die aus dem Streifenwagen in der Wache. Ich überlegte, ob der, den sie reingetragen hatten, auch irgendwo abgehauen war. Sicher nicht aus einem Heim, er hatte schon eine Glatze gehabt. Erwin stand etwas weiter auf der anderen Seite der Straße, die neben der Wache einmündete. Er guckte durch die vergitterte Scheibe eines Uhrengeschäftes. Ich guckte auch, sah nur ein Reklameschild, auf dem stand, daß eine Uhr Auskunft über abgelaufene Zeit gäbe. »Was guckste denn hier?« »Hier kann man Uhren kaufen«, Erwin sah mich an. »Na und? Jetzt aber nicht.« »Nee, aber am Tage.« »Willst du denn eine Uhr kaufen?« »Nein«, erwiderte er, »ich hab doch eine.« »Wie spät ist es denn?« »Gleich zehn. Wir schaffen es noch ins Kino.« »Wieso Kino? Ich denke, wir wollen in den Puff?« »Können wir doch anschließend. Das Kino ist um zwölf aus, dann essen wir 'ne Bratwurst, und dann gehen wir.« »Ich hasse Bratwürste!« Um halb eins kamen wir wieder an der Wache vorbei. Erwin hatte während des Films wahnsinnige Migräne bekommen, er hätte den Bordellbesuch gerne auf den nächsten Abend verschoben. Ich nicht. Und er ging mit. Vor einem Lokal stand ein Portier in einem himmelblauen Uniformmantel, mit Riesentalergoldknöpfen. Er sagte den -3 4 1 -
Vorbeigehenden, daß sie in seinem Lokal das sehen könnten, was sie noch nie gesehen hätten. »Meine Herrschaften«, er ging neben einem Paar her, als gehörte er dazu. »Meine Dame, Sie werden staunen, zu was sich ein Mann verwenden läßt und Sie, mein Herr, Sie werden feststellen, daß Sie bisher neben einem Vulkan lebten und...« Er blieb stehen. Das Paar ging weiter, unterhielt sich, sie hatten ihn wohl gar nicht bemerkt. Jetzt kam er auf uns zu. Ich wechselte auf die andere Straßenseite und sah, daß er Erwin am Ärmel festhielt, beschwörend auf ihn einredete. Erwin schüttelte immer nur den Kopf. »Na, dann nächstes Mal!« rief der Portier herzlich und schlug Erwin freundschaftlich auf den Rücken, so daß der vorwärtsstolperte, sich fing und weiterlief, als hatte er sowieso laufen wollen. Ich wechselte wieder die Seite. »Was wollte er denn von dir?« »Ach, er hatte mich nur gebeten, wegen seinem Lokal, aber ich habe mich entschuldigt, meine Migräne.« Die zweite Straße war der Puff. Aber die Mädchen standen hier überall herum, man konnte die Straße gar nicht verfehlen, die Mädchen standen immer dichter, und dort war sie. »Am liebsten würde ich ins Bett gehen«, Erwin gähnte auf offener Straße, stöhnte dabei, »bist du nicht auch müde? Du mußt doch müde sein nach der Fahrt, nach dem ganzen Tag!« Seine Stimme hatte wieder den Steiermarkgedichtstonfall. »Nee. Ich bin überhaupt nicht müde.« Nach zehn Metern etwa wurde die Straße über die ganze Breite durch ein Eisentor versperrt, an einer Seite mußte man um eine Ecke gehen, dann um noch eine Ecke, und man konnte weitergehen. In der ersten Ecke blieben die meisten Besucher stehen und pinkelten an das Eisentor. Es stank nach Urin. Ich überlegte, ob das so sein mußte, stellte mich dazu, bevor ich weiterging, malte eine Acht an das Tor. In der Straße herrschte ein dichtes Gedränge. Alles Männer. Sie schoben sich wie ein hin und her schwappender Brei -3 4 2 -
zwischen den Häusern entlang. An einer Ecke stand eine Gruppe. Eine Frau hielt da irgendeinen Vortrag. Sehr lustig. Die Männer grölten auf einmal los. Ich blieb stehen, doch die Frau schien fertig zu sein. »Na«, sagte sie, »wer will's denn nun probieren!?« Einer wollte. Dann noch einer. Die Frau sagte zu dem zweiten, er solle sich einen Moment gedulden und ging mit dem ersten ins Haus. Der Wartende setzte sich auf die Treppe. Die Gruppe drängte weiter. Auf der linken Straßenseite befand sich eine Passage, sie führte auf einen Hof. Die Frauen guckten aus den Fenstern, standen an den Türen, und wenn sie angesprochen wurden, sagten sie meist: »Fünfzig nackt.« Oder sie sagten es von ganz alleine, man brauchte nur scharf zu gucken. So richtig gefiel mir keine. Erwin trottete immer neben mir her. »Willst du nicht reinkommen, Süßer? Bei mir hast du's fast umsonst.« Die mich ansprach, lehnte in einem Fenster, hatte ihre Ellbogen auf die Fensterbank gestützt und ihre Brüste dazwischen gelegt. Sie lächelte. Oder meinte sie Erwin? Der guckte zur anderen Seite. Ich sagte nichts, dachte daran, ob tagsüber Topfblumen in dem Fenster stünden, ich hatte keine Lust und ging weiter. Wieder in der Straße, fast an deren Ende, stand ein Mädchen im Minirock. Die gefiel mir. Die sagte auch nichts. Ich fragte sie, ob sie viel Geld nehmen würde. Sie lachte und sagte nein. »Ich warte hier solange«, meinte Erwin. »Komm doch mit rein, kannst ja zugucken«, sagte das Mädchen. »Nein, nein, ich bleibe hier stehen, ich steh hier ganz gut«, erwiderte er. Das fand ich auch. Als ich wieder rauskam, war er weg. Ich ging in dem Menschenstrom mit und überlegte, bei welchem Job sich genauso schnell dreißig Mark verdienen ließen. Dreißig hatte -3 4 3 -
sie genommen. Bei zehn Mann waren das dreihundert am Tag oder in der Nacht. Machte Tausendachthundert die Woche, den arbeitsfreien Tag schon abgezogen. Den hatten die sicher auch. Bei den Erziehern nannten sie das »Beamtensonntag«. Aber die kriegten ihn bezahlt. Machte im Monat Siebentausendzweihundert. Miete, Gummis, Kerzen, Wellensittichfutter, was so alles dazukam. Sie hatte gesagt, einer käme immer mit'm Vogelbauer, rm't'm Wellensittich drin. Den ließ er dann fliegen, und sie mußte nackt hinterherspringen, den Sittich wieder einfangen. Und wenn sie damit fertig war, war er auch fertig. Der Mann und der Sittich. Damit es nicht so lange dauerte, lockte sie ihn mit Futter, das kleine Vieh fiel jedesmal drauf rein, und sie konnte es dann überlisten. Zuerst hätte der Sittich zwanzig Runden und mehr gedreht, hatte sie gesagt, und er wäre ganz verrückt gewesen, der Mann. Bis sie den Trick mit dem Futter machte. Sachen gab es! Na ja, Abzüge runter, dann blieben noch Sechstausendvierhundertachtzig im Monat. Damit konnte man auskommen. Aber für das Sittichfangen gab es hundert Mark. Sie fände das ganz schön spaßig, hatte sie gesagt. Hätte ich auch Spaß dran. Hundert Mark. Was der Sittich sich wohl bei der ganzen Sache dachte? Ich merkte plötzlich, daß ich gegen den Menschenstrom anging. »Bullen!« sagte jemand. Ich drehte um und ging genauso schnell wie die Masse in die entgegengesetzte Richtung. Doch die Masse kam ins Stocken, von dieser Seite kamen ebenfalls Bullen. Ich sah Lampen aufblitzen, Uniformen und Lederjacken, vier, fünf Stück. Sie kamen gemächlich über die ganze Breite der Straße und trugen Handscheinwerfer. Sie verlangten den Ausweis zu sehen, leuchteten mit der Lampe drauf, dann dem Betreffenden ins Gesicht, gingen zum nächsten. Die Bullen kamen gut voran, es waren nur wenige Kunden stehengeblieben, die anderen drängten sich in der Mitte.
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»Keine Aufregung, Herrschaften!« rief ein Bulle. »Holen Sie ihn schon vorher raus, Ihren Ausweis, damit Sie nicht unnötig den Verkehr aufhalten! Wir tun nur unsere Pflicht, ganz einfach unsere Pflicht! Meeeensch... ich werd verrückt! Ernst... BarrenErnst! Ich denke, du sitzt noch!?« Der Bulle leuchtete nicht weit von mir entfernt einem Mann ins Gesicht, an ihm runter, wieder hoch. »Nee, ich stehe, wie du siehst«, erwiderte der. »Nun werde man nicht gleich unverschämt! Haben wir schon mal zusammen Schweine gehütet!?« »Ach, laß mich doch in Ruhe!« Er gab seinen Ausweis. Das Brodeln in der Straße, das Lachen, Witze, Musikfetzen, das Schimpfen war etwas leiser geworden, vielleicht bildete ich mir es auch nur ein. Je näher die Bullen kamen, desto mehr nahm die mittlere Menschentraube ab, weil die Kontrollierten sich wieder in der Straße verteilten, weil viele in den Türen verschwanden. Ich sah, wie gegenüber gleich sechs Mann hintereinander durch eine Tür ins Haus drängten, ich wandte mich um; hinter mir sah eine Frau aus dem Fenster, ich sah sie an, wollte sie fragen, doch sie merkte es schon vorher. »Bist ganz schon in Druck, was?« Ich nickte. Sie deutete mit dem Kopf zur Seite und verschwand vom Fenster. Gleich darauf öffnete sich die Tür daneben. »Los! Komm schon!« »Mensch, das ist in Ordnung von dir.« »Schon gut«, sie riegelte hinter mir ab, schloß das Fenster und zog einen Vorhang vor, »nun setz dich doch hin oder willste da stehenbleiben? Brauchst ja nicht, wartest eben nur, bis die Bullen wieder weg sind. Wirst gesucht, was?« »Ein bißchen, ich habe keinen Ausweis, weißt du. Die sind hier ja ganz schön scharf.« »Scharf ist gut. Rauchst du?« -3 4 5 -
»Ja.« Ich nahm mir eine Zigarette. Sie setzte sich mir gegenüber und musterte mich. »Routinekontrolle nennen sie so was«, sagte sie dann, »in Wirklichkeit treiben sie uns Nummerngeld zu.« »Nummerngeld?« »Na ja, dafür können sie umsonst stoßen, verstehst du? Bei denen, die nachts hier rumlaufen, sind ein Haufen bei, die haben Dreck am Stecken, oder es sind die Ehrbaren, die nicht erkannt werden wollen, denen der Pflichtritt in der Ehe zum Halse raushängt. Und plötzlich heißt es Razzia, und alle suchen sich ein Loch, wie die Ratten. Scheiß auf die fünfzig Mark, besser als geschnappt werden, so denken die einen, und die anderen, die tagsüber irgendwo im Büro hocken oder was weiß ich, die haben Angst vor einer Blamage, sie könnten ja gesehen werden, das spricht sich dann rum. Siehst du, und dann haben wir hier Stoßzeit, schlimmer als im Feierabendverkehr. Es kostet dann automatisch das Doppelte, das bezahlt auch jeder ohne Murren. Schließlich gibt es auch woanders Aufpreise. Ist manchmal drei- bis viermal Razzia im Monat, und wenn ein Bulle kommt, dann darf er so.« Die Frau zündete sich eine zweite Zigarette an. Sie rauchte schnell und flach, sie sog den Rauch nur kurz ein und stieß ihn dann in einer großen Wolke wieder aus. »Aha, wenn also einer kommt und sagt, er ist ein Bulle, dann darf er!« »So nun auch wieder nicht, die haben ja schließlich 'nen Dienstausweis.« »Weiß ich, in der Straßenbahn oder im Bus müssen sie den auch vorzeigen, sie bezahlen dann nichts.« »Wenn man eine Zeitlang hier ist, dann kennt man natürlich seine Pappenheimer. Die haben in der Regel ihre Stammlöcher. Einmal wollte die Puffmutter Vorschriften machen! Uns! Aber da...« »Eine Mutter!« »Na ja, Wirtschafterin ist das gleiche. Aber da haben wir zusammengehalten, sonst herrscht Neid um jeden Zentimeter,
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aber da war Einigkeit. Bei mir kommt sowieso keiner von der Sippe rein, habe die Schnauze gestrichen voll von denen.« »Du bist mir richtig sympathisch.« Sie lachte, stand auf und guckte am Fenster durch einen Vorhangspalt und ich geradeaus, auf ihre Beine, die in schwarzen Nylonstrümpfen steckten, auf ihren runden Hintern, der halb mit einein Korsett verschalt war, die Strumpfbänder trugen Schleifchen. Der obere Rand der schwarzen Röhren schnitt ein wenig in die Haut, die wie eine Zierleiste überstand. »Sie sind noch in der Straße«, sie kam zurück und ließ sich auf die Liege fallen, »zehn Minuten, dann wird der ganze Zauber vorbei sein.« »Was... was nimmst du denn so?« fragte ich. »Vierzig, Schatz. Man muß ja schließlich leben.« Da hatte sie recht. Von nichts kommt nichts. »Nackt?« »Sicher.« »Sag mal, dieses >Nackt<, was heißt das eigentlich, so oft war ich noch nicht hier.« »Glaube ich dir. Nackt heißt eigentlich, daß sich beide ausziehen, der Mann und die Frau. Normalerweise behält man ja immer etwas an, Hemd und BH und so, und wenn man den Preis sagt, dann ist das mit Klamotten an. Will er nackt, muß er einen kleinen Aufpreis bezahlen, hautnahes Gefühl, weißt du. Aber es hat sich inzwischen so eingebürgert, daß wir den Preis sagen und gleich >nackt< dazu, als Anreiz gewissermaßen. Die meisten denken dann, das ist ein Sonderangebot, so was kennen sie ja vom Supermarkt her.« »Also muß ich dir jetzt vierzig Mark geben?« »Ah, Schatz!« sagte sie erstaunt. »Aber ich will dich nicht ausnutzen, du bist das erste Mal bei mir, sagen wir die Hälfte als Einführungspreis.« Sie hatte die Strumpfbänder abgehakt, löste an der Seite zwei, drei Ösen, das Korsett fiel auf den Boden. »Ist eine gute Idee von dir, dann brauchen wir nicht so rumsitzen.« -3 4 7 -
Ich fand jetzt, daß ich eigentlich noch ganz gut herumsitzen konnte, so richtige Lust hatte ich gar nicht mehr. »Was ist denn los? Komm!« Sie hatte es sich auf der Liege bequem gemacht und wartete. Ich stand da ohne Hose, ohne Hemd. »Ich weiß nicht, eben ging es noch«, erwiderte ich. »Ach, das haben wir gleich, das ist die Aufregung.« Sie holte aus einer Schublade ein Gerät, mit dem man auch andere Haut massieren konnte. »Komm hier rüber, setz dich auf den Stuhl. Die Schnur ist nicht lang genug, ich vergesse jedesmal, beim Einkaufen eine Verlängerungsschnur mitzubringen.« Ich setzte mich neben der Steckdose auf einen Stuhl. »Mit zweihundertzwanzig Volt und Gottes Hilfe habe ich schon ganz andere Dinger geschaukelt«, sie lachte. Ich mußte an Elias denken, der auch immer alles mit Gottes Hilfe machte, ganz ernst. Da ging es gar nicht mehr. »Meine Herren! Hast du vielleicht was Falsches gegessen? Oder getrunken?« fragte sie. »Nein. Weiß nicht. Cola habe ich getrunken, sonst nichts.« »Das wird es sein. Cola ist nicht gut.« Draußen schrillte eine Trillerpfeife. Blödsinn. Vier Flaschen waren es nur gewesen. Mit Karen hatte ich schon mal zehn an einem Abend getrunken, und es ging prima. Ich guckte auf ihren Kopf. Schuppen hat sie. Und Brüste wie zwei Keulen. Frau Oberbruder trug sie auch immer dicht über der Kittelschleife. Teufel aber auch. »Das kommt von der Cola«, sie stellte das Gerät ab und erhob sich von den Knien. »Wenn du das nächste Mal kommst, dann trinkst du vorher keine. Ts, ts, ts, jetzt haben wir das Geld eben für den Strom verbraucht.« Sie seufzte und schnallte sich das Korsett wieder um, zog die runtergerutschten Strümpfe hoch und machte sie fest.
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Es klopfte von draußen an das Fenster. Ich erschrak. Einmal kurz, zweimal lang. »Keine Angst, ist ein Bekannter von mir, ein Doktor. Beeil dich, er wartet nicht gerne.« Sie fuhr sich ein paarmal mit den Fingern durchs Haar. Es klopfte wieder. »Momentchen, Herr Doktor«, trillerte sie und öffnete die Tür, während ich meine Hose schloß. Draußen vor der Tür stand einer mit Hut und dunklem Mantel und einer goldgeränderten Brille. »Idiot«, sagte ich halblaut, doch er verstand nicht. »Wie bitte?« fragte er. Ich ging in Richtung Davidswache, dann rechts runter, geradeaus, wieder rechts, als es dämmerte, hatte ich das Hotel gefunden. Es lag nur hundert Meter vom Bordell entfernt. Ich fluchte. Auf mein Nachtglockenklingeln kam nach einiger Zeit eine mit Lockenwicklern bestückte Frau und ließ mich ohne ein Wort zu sagen ein. Ich knarrte die ausgeleierte Treppe hoch, fand nach einigem Suchen die Zimmernummer. Die Tür war unverschlossen. Erwin war sofort wach. Er lag auf der einen Seite des Doppelbettes. Er nörgelte, warum ich jetzt erst käme, er hätte die ganze Nacht gewartet. Ich fand das reichlich blöd, fragte mich, warum er gewartet hatte, und als er immer weiter nörgelte, sagte ich: »Halt endlich dein Maul, du Blödmann, du!« Und legte mich ins Bett. Mein Kopf brummte. Ich schlief ein, ich träumte. Dann merkte ich, daß es der Apparat war. Die Frau schwitzte und sagte: »Nur vom Colatrinken kommt das.« In der Ecke stand Barren-Ernst mit einer Schubkarre voll Colaflaschen, und als ich ihn fragte, ob er mir nicht eine geben könnte, sagte er: »Ach laß mich doch in Ruhe! Ich bin ein Doktor!« „Arn besten, du legst dich gleich auf die Liege, das haben wir gleich, gleich, gleich, das ist normal«, sagte die Frau. Ich lag auf der Liege, sie kam, ich sah, wie der Stecker aus der Steckdose rutschte, wie eich die Schnur zu einer Schlange zusammenringelte, zischte, und der Apparat brummte weiter. -3 4 9 -
Sie hatte Schuppen und einen Heiligenschein auf dem Kopf und summte »Wohlauf in Gottes schöne Welt, das wissen alle Leut.« »Los, sing doch mit, du kannst es doch, sing! Sing! Sing! Du frißt bis an dein Lebensende Kartoffeln, das sage ich dir!« Ich sang. Barren-Ernst auch, er schob die Schubkarre im Zimmer umher. Ich konnte meine Stimme nicht mehr heraushören. Ich sang nicht weiter. Niemand sang mehr. Doch draußen wurde gesungen. Eine Kolonne stampfte. »Das Geweeeeehr legt an! Feuer!! Frei!« Es roch nach Rauch. Ich bekam keine Luft mehr. Eine laute Jungenstimme schrie, ich verstand nicht, was es war. Dann konnte ich es verstehen. »Das Liiiiieben bringt gro-hoß Freud... drei, vier!« Der ganze Chor sang, und das Stampfen kam immer näher, immer näher, ich wollte aufstehen, aufspringen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah, wie Barren-Ernst in die Schubkarre griff, zwischen den Colaflaschen wühlte. Ich sagte ihm, er solle mir eine geben, aber er schrie: »Für dich bin ich immer noch Bruder Barren-Ernst!« Und um seinen Kopf war ein lichter Schein. Er zog eine Thermosflasche aus der Karre und nahm einen langen Zug. Draußen war das Stampfen vieler Füße zu hören, immer auf der Stelle. >Lie-be, Freu-de, Lie-be, Freu-de, Lie-be, Freu-de<, stampften sie, und eine Stimme rief: »Platz da! Ihr Leute, Platz da! Macht Platz für den erhabenen Elias! Platz da!« »Abteiluuuuuung... Halt!« Wieder versuchte ich aufzustehen. »Liegenbleiben«, sagte Bruder Barren-Ernst, »länger als drei Tage bleibt bei uns keiner liegen.« Die Frau malte hastig ihre Lippen nach. »Mein Gott, warum könnt ihr denn nicht vernünftig sein«, sagte sie klagend. Die Tür flog mit einem lauten Krach auf. Bruder Barren-Ernst trank schneller aus seiner Flasche, es gluckerte, und je mehr er trank, desto kleiner wurde er. Auf einmal war er weg. Ein Junge kam gebückt ins Zimmer, rollte einen roten Teppich vor sich her, bis zu der Liege, auf der ich -3 5 0 -
lag. Er richtete sich auf, er hatte eine weiße Binde um den Kopf. Von draußen kamen andere Weißbinden herein, es wurden immer mehr, sie stellten sich zu beiden Seiten des Teppichs auf, und die Frau wich bis an die Wand zurück und sagte: »Ich kann doch nichts dafür, daß ich dauernd die Verlängerungsschnur vergesse.« Ich hob den Kopf, starrte auf das dunkle Rechteck der Tür, das immer heller wurde, bis es in gleißendem Licht erstrahlte. »Platz da! Macht Platz für den erhabenen Elias«, murmelte einer. »Platz da! Macht Platz für den erhabenen Elias«, murmelte der Chor. Ich sah den Oberbruder hereinkommen. Ganz langsam kam er, auf dem Kopf Stacheldraht und ein Heiligenschein, seine Stiefel funkelten. Ich wollte schreien, doch er legte einen Finger auf den Mund und lächelte gütig, fächelte sich mit einem Birkenzweig frische Luft zu. Er blieb vor der Liege stehen, sah auf mich herab und nickte verstehend. »Er trinkt zuviel Cola«, kicherte die Frau. »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, summten die Jungen. Der Oberbruder streckte die Hand nach mir aus, wie eine riesige Vogelkralle gekrümmt, die Krallen nach oben, ich sah, wie eine Weißbinde einen Pantoffel in die Kralle legte, alle Weißbinden hatten einen Riesenpantoffel wie ein Gewehr geschultert. Ich würgte und keuchte, doch kein Ton war zu hören, der Schweiß lief mir in die Augen und brannte, und als ich wieder sehen konnte, hatte Elias die Spiegelbrille auf und schlug mit dem Pantoffel mehrmals prüfend durch die Luft. Es pfiff. Er gab mit dem Daumen ein Zeichen, lächelte sanft und schaute zu, wie eine Weißbinde an mein Ding faßte, es hin und her zog, nach oben, immer länger. Elias nickte bedächtig, ich sah wie er mit dem Pantoffelarm weit ausholte, wie er dabei auf den Stiefelspitzen wippte, wie die Weißbinde sich duckte. Nein, wollte ich schreien. Nein! Nein! Und auf einmal hörte ich mich... konnte mich bewegen... fuhr hoch! »Mein Gott, hast du mich erschreckt«, sagte Erwin und ließ mein Ding los. Ich glotzte ihn an, versuchte zu denken und merkte, wie ich schwitzte.
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»Du hattest dich ganz bloß gestrampelt, und du hast so'n hübschen, magst du das? Soll ich weitermachen?« Seine Steiermarkstimme drang in mein Bewußtsein. »Wenn du mich noch einmal anfaßt, dann knall ich dir was aufs Auge«, sagte ich, »verlaß dich drauf! Schwuler Bock!« »Ist doch nichts dabei...« »Ach, du meinst wohl, ich schaffe dich nicht, wie!?« »Ich haue mich grundsätzlich nicht«, er kroch auf seine Bettseite. Ich legte mich wieder zurück und versuchte, noch etwas zu schlafen. Ich hatte mich unter einen Schuppen der zweiten Ziegelei gesetzt, die unten am Bahndamm lag, zu der die Tongruben gehörten. Ich wartete. Ich war mit Erwin mittags aus Hamburg abgefahren. Unterwegs hatte er gesagt, er hätte das nicht so gemeint und wir wollten uns wieder vertragen, aber wir hatten uns ja gar nicht gestritten, meinte ich, außerdem seien meine Ferien zu Ende. Sein Auto gefiel mir auch nicht mehr. Diese alte Kiste! Mein Geld war bis auf neun Mark und siebzig Pfennige zusammengeschrumpft. Nicht ein einziges Mal hatte er bezahlt, der Erwin. Was der sich überhaupt dabei dachte! Als wir wieder in der Stadt waren, hatte er an einer Ampel halten müssen, an einer Kreuzung. Ich war ausgestiegen, hatte »Tschüs« gesagt und war weggegangen. So ließen sich lange Worte ersparen. Er hatte weiterfahren müssen, weil die Ampel auf Grün sprang. An einem Kiosk hatte ich mir für fünf Mark Kuchen gekauft und war anschließend ins Bett gegangen, in die Feldscheune vom Landeskrankenhaus. Die befand sich weit draußen in den Feldern und wurde zwar oft als Unterschlupf benutzt, doch für eine Nacht war es fast ungefährlich. Ich hatte mich ins Stroh gebuddelt, die Nacht und den halben Tag verschlafen. Reisen strengte an. Jetzt war es halb sechs. Ich wartete unter dem Ziegeleischuppen auf Fred. Er sollte mir ein paar Mark leihen. Nicht lange später kam er. »Heh! Fred!« -3 5 2 -
»Hallo, Ben.« Er wunderte sich nicht. »Hab dich schon ein paar Tage vermißt, hörte so'n Munkeln, sie hatten dich wieder erwischt.« »Nee. Suchen sie denn noch?« »Vorgestern war ein Rudel unterwegs. Alles ausgesuchte Leute und immer ein Erzieher dabei. Aber die Bullen kurven hier dauernd rum. Ist auch für uns beschissen, wenn wir zu den Miezen wollen. Du hast deine rausgeholt und sie hat sich'n Bein gebrochen, nicht?« »Hmhm, da hatten wir's schon geschafft.« Fred nickte verständnisvoll. »Ich brauche mal zehn Mark, Fred, kriegst du bei nächster Gelegenheit wieder.« Ich habe noch einsfünfzig, mußt bis morgen warten, da ist Freitag, und dann kriege ich was. Vielleicht komme ich mit.« »Wie? Türmen?« »Na sicher. Steht mir mal wieder alles bis zum Hals. Ganzen Tag hänge ich im Ofen, einfahren, ausfahren, einfahren, ausfahren, Und abends bist'e kaputt, ich penne sofort ein. Am anderen Morgen das gleiche von vorn, da kriegst'e 'ne Meise. Für wen maloche ich eigentlich? Für mich nicht. Ich glaube, sie geben extra dreißig Mark Taschengeld, damit man durchhält.« Wir waren ein Stück am Bahndamm entlanggegangen, der zwischen den Feldern in einem Hohlweg lag. Wir konnten vom Heim aus nicht gesehen werden. »Wo bist du denn gewesen, die Tage?« »Och, mal so nach Hamburg, Puff angesehen. Nette Stadt.« »Mensch, Hamburg! Wie das klingt. Der Duft der großen weiten Welt, Hafen, Schiffe, sag mal, konntest du nicht auf einen Pott kommen? Die Panamesen nehmen jeden, auch wenn du keinen Ausweis hast.« »Nee, brauchst du auch nicht, aber ein Seefahrtsbuch. Das ist auch ein Ausweis.« »Kann man das nicht irgendwo kaufen, so unter der Hand?« -3 5 3 -
»Weiß nicht.« »Ich biege hier ab. Wir treffen uns morgen abend an der gleichen Stelle, ich habe schon um halb fünf Feierabend.« »Hm, an der gleichen Stelle...«, ich sah ihn an. »Mensch, glaubst du mir nicht!? Du kannst auch irgendwoanders warten, du kennst ja den Weg, wo ich immer langgehe...« »Ich werde dich schon treffen. Kann ja auch sein, daß uns jemand beobachtet hat, bis dann.« Wir trennten uns. Hinter dem Friedhof fiel das Gelände ab, und der Bahndamm lag wieder zu ebener Erde. Ich bog ab, fand in einer kleinen Straße eine Bäckerei. Sie hatte noch auf. Ich kaufte mir ein paar Hefestücke, aß sie und bummelte weiter. Ich schaute mir die Siedlungshäuser an, die sauber angelegten Gärten. Manchmal war ein kleiner Springbrunnen zu sehen und Gartenzwerge. Es mußte eine schöne Sache sein, so an einem Fleck zu wohnen. Nach einigem Überlegen beschloß ich, die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen. Die Scheune vom Landeskrankenhaus war zu bekannt, sie lag auch mitten in den Feldern, und wenn es ernst wurde, dann kam man dort nicht weg. Vielleicht hatte ausgerechnet heute der fette Reimers seinen Suchtag. Dem fielen die dollsten Dinge ein. Oder der Wälzer ordnete an: Heute nacht wird die Scheune gefilzt. Der wußte auch von der Scheune. Oder einer der Jungen sagte, in der Heilascheune, da kann er auch sein, der Holberg. Das war alles zu riskant. Reimers würde dann seinen Stoßtrupp rings um die Scheune verteilen, und ein paar Mann stellten drinnen alles auf den Kopf. Wenn das Stroh schon alles eingefahren wäre, ja dann! Dann war es schwieriger für sie, mit dem Suchen. Aber jetzt war nicht viel drin, das ließ sich von einer Seite auf die andere packen. Fred hatte ich auch gesagt, daß ich in der vergangenen Nacht in der Scheune war. Vielleicht hatten sie ihn beobachtet, vielleicht quetschten sie ihn jetzt richtig aus? Natürlich sagt er nichts! Aber wenn er was sagt? -3 5 4 -
Da war der Friedhof bedeutend besser, da hatte man wenigstens seine Ruhe. Ich kann mir ja ein paar alte Kränze vom Abfallhaufen holen, kann mich irgendwo unter die Sträucher legen. Das ist genauso weich wie Stroh. Besser noch. In freier Luft kann ich besser atmen und besser schlafen. Warm ist es auch. Ich kletterte über die Friedhofsmauer. Mama hat mal erzählt, sie wäre als junges Mädchen über einen Friedhof gegangen, das war eine Abkürzung, weil sie zu spät nach Hause kam, und plötzlich hatte aus einem Grab ein Arm geguckt und andauernd gewunken. Hah! Und sie war wie eine Wilde gerannt! So ein Quatsch. Wenn da einer gewunken hat, dann hätte er auch sicher was gesagt, vielleicht daß er Hilfe braucht. Sonst winkt man doch nicht. Es ist schon vorgekommen, daß sie jemand begraben haben, der noch gelebt hat. Die ganze Beerdigung umsonst. Aber wenn ein Arm rausguckt, dann schafft man's auch mit dem ganzen Körper. Vielleicht ist es auch ein Fuß gewesen? Aber nein, dann behauptet sie steif und fest, es sei ein Arm gewesen. Und in Wirklichkeit war es vielleicht eine Tulpe. Hm, Tulpe. Tulper sind doch rot? Und gelb! Es war eben eine gelbe Tulpe. Oder was anderes, etwas Helles, Weißes. Karens Bein ist jetzt auch weiß. Gips. Eigentlich dauert so ein Beinbruch doch nicht lange. Evi hat gesagt, Karen hat gesagt, Evi soll mir sagen, ich soll mich nicht schnappen lassen. Wenn sie mich schnappen, dann komme ich sicher in ein Gefängnis. Und nicht nach Heiligenstatt zurück, wenigstens etwas. Aber so sicher ist das gar nicht. Fred hat auch schon ein paar Einbrüche gemacht, der Karl vom Wigwam auch, und jedesmal kamen sie ins Heim zurück. Ich werde zu Ingrid gehen. Es kommt immer wieder was dazwischen. Oh, ich hab richtige Sehnsucht nach Ingrid. Mochte mal wissen, wohin der Fred will. Vielleicht hat er auch nur gesagt, daß er abhauen will. So ein Friedhof ist sehr still. Fred kam um viertel nach vier.
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Er trug eine saubere Nietenhose, hohe Turnschuhe, das rote Hemd bis zum Bauch offen, und um den Hals hatte er ein buntes Seitentuch geknotet. Seine Tolle glänzte, und ohne zu riechen wußte ich, daß es Rosenöl war, die kleine Flasche zu fünfundvierzig Pfennige. »So, da bist du ja. Wir können«, sagte er ganz selbstverständlich. »Ich habe genau dreißig Mark; wir werden noch mal schnell bei den Miezen vorbeigehen, ich will mich verabschieden.« »Mach man nicht so ein Aufheben, wir sind noch nicht weg.« »Wir sind unterwegs... Wieviel Geld hast du denn noch?« »Ach, zwei Mark oder so.« »Bis nach Hamburg kommen wir damit nicht, wir werden 'nen Bruch machen müssen.« »Bruch?« »Einbruch! Hamburg ist ein teures Pflaster, weißt du ja selbst. Wir müssen einen Wagen klauen, aber Taler brauchen wir trotzdem.« »Und dann?« »Na, ist doch klar. Wir besorgen uns Ausweise und gehen auf Große Fahrt. Südamerika. Da können wir noch was werden. Arbeit gibt's überall, und die gucken auch nicht, wenn man aus dem Heim kommt. Eines Tages kommen wir wieder zurück, und dann sind wir volljährig, dann können sie uns am Arsch lecken. Ich glaube, wenn man sich da drüben eingelebt hat, dann will man auch nicht wieder weg.« »Meinst du, das schaffen wir?« »Klar, Ben! Du sprichst Englisch und ich Deutsch, damit kommen wir überall hin.« »Mensch, das ist deutsches Englisch, was wir in der Schule gelernt haben, das versteht niemand. Außerdem sprechen sie in Südamerika spanisch und portugiesisch und Inkasprachen!« »Ah so, na ja, das lernen wir. Das lernen wir automatisch, wenn wir da sind. Oder hast du keine Lust?« »Zum Lernen?« -3 5 6 -
»Nee, auf Große Fahrt.« »Sicher habe ich Lust.« »Ich weiß auch, wo wir Geld herkriegen!« »Woher?« »Tja, wir müßten nur einen Weg finden, wie wir da reinkommen, dann haben wir es. Ziegeleikantine!« »Warum sagst du, du weißt wo wir was kriegen, wenn wir nicht reinkommen?« »Vielleicht können wir ja ein Gitter durchsägen. Ich bin früher schon mal drin gewesen. Vierhundert Mark. Aber jetzt lassen sie erst recht das Geld da, weil sie alles abgesichert haben. Gitter überall, Spezialschlösser, wie'n Erziehungsheim!« Ich dachte an Hagen. Mit dem hatte ich mal über die Kantine gesprochen. »Vielleicht ist das ganz einfach, Fred. Aber dann können wir nicht zu den Miezen. Wenn wir da auftauchen und in der Ziegelei wird eingebrochen, dann wissen sie sofort, wer dafür in Frage kommt.« »Gut. Dann gehen wir nicht zu den Miezen. Wie hast du dir das denn gedacht?« »Ach, das ist ganz einfach«, ich erzählte es ihm.
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10 Heise & Co. war eine sehr alte Ziegelei. Das größte Gebäude stand etwa in der Mitte des Fabrikgeländes, wie eine mehrstöckige Lagerhalle, rechteckig, massiv und wuchtig. An einer Stirnseite befand sich ein Anbau, der ebenso breit wie das Hauptgebäude war, doch nur halb so hoch. Wenn man das Ganze von weitem aus betrachtete, wenn man die Augen etwas zusammenkniff, dann sah es aus wie ein riesiger Omnibus ohne Räder. Zu ebener Erde war alle zwanzig oder dreißig Meter ein türartiger, runder Durchbruch. Durch diese Öffnungen gelangte man auf einen breiten Gang, der sich innerhalb des Gebäudes um den ganzen Ofen zog, Lorenschienen führten da entlang, und Karren standen herum. Um das Hauptgebäude herum gruppierten sich die anderen Gebäude, die Trockenschuppen, die Schlosserei und die Schmiede, Lastwagengaragen und zwei Wohnhäuser, die aber weiter vorne an der Straße standen. Auf dem Gelände befanden sich unzählige Stapel von fertig gebrannten Steinen. Es gab zwei Tore, eins vorne an der Bundesstraße, das immer offen war und ein zweites hinten an der Kiesseeseite. Dieses zweite Tor war nur symbolisch, es bestand aus zwei Pfosten. In der Mitte führten die Lorenschienen entlang zu der weit entfernten Tongrube. Früher war alles mal von einem Stacheldrahtzaun umzäunt gewesen, doch der Draht war niedergetreten oder abgerissen worden, und die Grenze des Fabrikgeländes ließ sich am leichtesten erkennen, wenn man das Unkraut betrachtete, das überall auf dem Hof wuchs. Dort wo das Unkraut aufhörte, war das Fabrikgelände zu Ende. An der einen Seite grenzte die Ziegelei an das Mädchenheimwäldchen. Wenn man dort gesehen wurde, war der Rückzugsweg über die Ziegelei der beste. Man schlug einen Bogen, wechselte die Bundesstraße und kam in einer ganz anderen Richtung zum Heim zurück. Außerdem gab es auf der Ziegelei unzählige Verstecke. Auf -3 5 8 -
dem Fabrikhof brannten die ganze Nacht ein paar trübe Lampen. Gestern hatten sie Steine eingefahren. Fred wußte das. Der Heizer war der einzige, der die ganze Nacht arbeitete. Wir gingen quer über den Hof zum Ofenhaus hinüber. »Stell dir vor, wir finden da ein paar tausend Mark«, überlegte Fred laut, »damit kämen wir schon 'ne Ecke weiter.« »Tausend Mark! Das ist doch kein Nachtklub! Ich glaube nicht mal, daß die das in der ganzen Woche zusammen bekommen, das kann man doch so ungefähr ausrechnen.« Ich legte die Spitzhacke auf die andere Schulter, weil sie dauernd gegen die Brechstange schlug, wobei ein metallenes Geräusch ertönte. Fred hatte einen Vorschlaghammer und verschiedene Sorten Meißel bei sich. Das Werkzeug hatten wir aus der Schmiede geholt, dort konnte man überall reinkommen, nur nicht durch die Tür, Die war verschlossen und zusätzlich mit einem großen Vorhängeschloß gesichert. In dem dunklen Gang fiel Fred über eine Karre, die mitten auf den Schienen stand. Die Meißel schepperten auf dem Eisen, und Fred fluchte laut, wieso man so eine Karre mitten auf den Schienen stehenlassen konnte. In jeder Ecke, wo der Gang einen Knick machte, führte eine Treppe und daneben ein Schwerlastzug in die oberen Stockwerke. Mit dem Lastenzug wurden die nicht gebrannten Steine nach oben befördert, wo sie vortrockneten. Nach ganz oben wurde der Koks transportiert. Dort wurden die Öfen beheizt, und dort hielt sich auch der Heizer auf. Über den ganzen Boden waren Kokshaufen verteilt, zwischen denen die kopfdurchmessergroßen Röhren hervorschauten. Sie hatten einen Deckel mit einem Scharnier, der Deckel wurde aufgeklappt, Koks in die Röhre, Deckel zu und immer reihum. Der Deckel war aus Eisen und lag lose auf der Röhre, und wenn im Ofen die richtige Hitze war, dann klapperten alle Deckel. Der Heizer konnte an den Geräuschen genau feststellen, wie gut die Hitze war, ob vielleicht noch Koks fehlte oder ob ein Zug nicht genug Luft bekam. Wir stiegen die Treppe hoch auf den ersten Boden. An den Längsseiten waren -3 5 9 -
ebenfalls Schienen, jedoch sehr viel breitere, auf denen ein Plattformwagen fuhr. Der Wagen wurde durch einen Elektromotor betrieben und nannte sich Fahrbühne. Mit dieser Fahrbühne brachten die Arbeiter die jeweiligen Steinbretter zum richtigen Abschnitt. In den Frühstücks- und Mittagspausen konnte man prächtig mit so einer Fahrbühne herumgondeln. Als besondere Fähigkeit galt das Bremsen im letzten Moment, das machte man durch Zurückkurbeln des Handrades und durch ein Fußpedal. Zudem gab es am Schienenende, dicht vor der Stirnwand, eine Eisenlasche und an der Wand selbst eine dicke Holzbohle. Aber es hatte sich herausgestellt, daß all diese Dinge nicht bremsend wirkten, wenn die Fahrbühne in Fahrt war. Benno und ich hatten hier auch schon mal gearbeitet, als Freigänger, wenn es in der Stadt nichts zu tun gab. An einem Samstag war so eine Fahrbühne in der Frühstückspause mitsamt Eisenlasche und Holzbohle durch die Stirnwand des dritten Bodens gesaust. Der Fahrer konnte das Handrad nicht schnell genug zurückkurbeln, hatte sich im letzten Augenblick mit einem Sprung seitwärts in die Regale in Sicherheit bringen können. Die Fahrbühne fiel auf die Ladefläche eines Lastwagens; der stand unten und wollte Steine abholen und hätte gleich weiterfahren können, zu einer Stelle, an der das Müllabladen verboten war. Aber die Fahrbühne wog eine halbe Tonne, sie war durch die Ladefläche gebrochen und hatte das Chassis des Lkws in die Erde gedrückt. Bullen waren gekommen, hatten untersucht und ermittelt, hatten gefragt, ob das der erste Sabotageakt wäre oder ob es früher auch schon welche gegeben hätte. Die Untersuchung hatte nichts ergeben, und Wälzer hatte jeden verdächtigt, auch solche Leute, die noch nie auf der Ziegelei gearbeitet hatten und dann den Fall als unerledigt zu den Akten gelegt. Wir standen auf dem ersten Boden zwischen den Regalen, vor der Wand, hinter der sich der Ziegeleianbau befand. An dieser Stelle befand sich der Verkaufsraum. Etwas weiter vorn brannte -3 6 0 -
eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke baumelte. »Die Regale müssen von der Wand weg.« Wir schoben einige Regale weg, sie waren leer, doch wir begannen sofort zu schwitzen. Auf den Böden war es sehr warm. Das ganze Gebäude war wie von einem unterirdischen Summen und Fauchen erfüllt, ähnlich wie eine Lötlampenflamme faucht, wenn die Flamme blau und kaum zu sehen ist. Das gleiche Geräusch war auch hier, nur viel stärker. «Ich werde erst mal ein kühles Helles trinken, wenn wir drin sind«, sagte Fred, »das haben wir uns dann wohl verdient.« Ich stieß mit der Hacke gegen die Wand. Putz bröckelte ab. »Nun hau mal richtig zu, der kann oben nichts hören. Vielleicht macht er auch gerade ein Nickerchen, der hat da 'ne alte Liege stehen.« »Und wenn er mal zum Klo muß?« »Ach was«, Fred winkte ab, »der kackt doch in den Koks. Macht unser Heizer im Heim auch. Damit er nicht die ganzen Treppen runter und rauf muß. Das macht dem Feuer nichts aus. Im Orient heizen sie auch mit Kameldung. Laß mich mal.« Fred löste mich ab. Er brach mit der Hacke einen Stein raus, dann noch einen, dahinter war ein Hohlraum. Mit der Spitzhacke ließ es sich schlecht weiterarbeiten. »Nimm einen Meißel, warte«, ich nahm den Vorschlaghammer. »Hau mir nicht auf die Knochen!« »Mußt du aufpassen.« »Nee, du mußt aufpassen! Wie kann ich wissen, wohin du schlägst?« Ich schlug zweimal zu, und der Meißel faßte, Fred ließ ihn los. »Geh weg!« Ich holte aus und schlug zu, und der Meißel war weg. »Das war 'ne Fuge, Mist. Der einzige lange, den wir mithaben. Versuchs mal so, nur mit dem Hammer.« »Pst! Ruhig mal. War da eben was?« Wir lauschten, horten nur das dumpfe Bullern der Öfen. -3 6 1 -
»Nichts. Weiter.« Ich schlug weit ausholend zu. Beim dritten Schlag fiel die halbe Wand nach innen, in die Kantine und kühlere Luft strömte uns entgegen. Wir stolperten durch das Loch und husteten, weil der Raum voller Staub war. Ich setzte mich auf einen Stuhl. »Hat ganz schön gerumst, was?« »Der hört oben nichts.« Fred ging hinter den Tresen und klirrte mit Flaschen. »Was darf's denn sein? Dortmunder oder Gilde Spezial? Kann Ihnen leider nur Flaschenbier anbieten, mein Herr.« »Nein. Ich will einen Apfelsaft. Sind Vitamine drin. Aber nicht jetzt, wir müssen uns beeilen, halb vier ist es. Um vier wird es hell, ich glaube, da kommen auch schon die ersten Arbeiter, so um vier rum.« Die Kassenschublade war unverschlossen und leer. Wir schauten überall nach, doch wir fanden kein Geld. Dann fand Fred in einer Schrankecke ein Glas voller Groschen, zählte sie flüchtig durch. »Sechsunddreißig«, sagte er, »wenigstens was.« »Laß doch stehen, was sollen wir damit. Wir können doch nicht wegen ein paar Groschen den halben Bau abreißen, wie sieht denn das aus.« Fred zuckte die Schultern und stellte das leere Glas weg. Hinter dem Tresen führte eine Tür in den Lagerraum, an dessen Ende eine weitere Tür war, aus Eisenblech, abgeschlossen, der Schlüssel steckte von innen. Ich schloß auf, sah auf den Flur, gegenüber eine Tür mit »00«, schloß wieder zu. Im Lager standen alle möglichen Vorräte, da man in der Kantine nicht nur Getränke kaufen konnte. »Fred! Wir machen ein paar Eimer voll, Zigaretten und Schokolade und so, die stellen wir in die Tongruben, Morgen früh flitzen wir bei den Miezen vorbei, ich sage Evi, sie soll Benno Bescheid sagen, wo dass Zeug steht. Freut er sich.« »Klar, machen wir. Ich mach sie voll, trag sie zum Loch.« Fred zog sich aus einem Stapel mehrere Eimer heraus und stellte sie -3 6 2 -
in einer Reihe hin, füllte die ersten beiden mit Keks und Schokolade. Ich trug sie über den Schutthaufen durch das Loch und stellte sie auf dem Ziegeleiboden ab. Dann die nächsten. Auf dem Boden sah ich jedesmal in die Runde, ob alles klar war. Ich meinte halbrechts, in der Nähe der Glühbirne, da stände jemand, etwas weiter zwischen den Regalen noch jemand, doch das waren Balken. Bei dem schummerigen Licht täuschte man sich leicht. Die vielen Regale und die Stützbalken. Ich holte die nächsten Eimer, stellte sie zu den anderen und sah wie von selbst wieder zu der Stelle hin. Wenn da nun tatsächlich jemand stand? Wenn es gar kein Balken war? Ich kletterte wieder durchs Loch über den Schutt, kehrte um und linste vorsichtig um die Ecke. Da! Was war das!? Jetzt hatte es sich bewegt! Ich schloß die Augen, machte sie wieder auf. Das muß doch ein Balken sein, jetzt steht er wieder ganz ruhig. Mist, dieses verdammte Halbdunkel. Wenn man eine Taschenlampe hätte, dann könnte ich mal rüberfunzeln. Ich guckte angestrengt, doch der Balken stand wie ein Balken. »Wo bleibst du denn so lange? Ich bin fertig«, Fred nahm selbst zwei Eimer, ich die letzten. »Fred, ich glaube auf dem Boden steht einer.« »Waaas? Wo?« »Na, hier nicht, drüben auf dem Boden zwischen den Regalen.« »Wann hast du das gesehen?« Er flüsterte. »Schon als ich die ersten Eimer hingestellt habe.« Er lachte. »Meinst du, der wartet solange, bis wir fertig sind! Der guckt doch nicht zu, der hätte schon längst Krach geschlagen. Was wollte ich denn eben noch... ach ja, 'ne Kiste Zigarren. Rauche ich hin und wieder mal ganz gerne, weißt du.« Fred steckte sich zwei Kisten ins Hemd, nahm die Eimer wieder hoch, die er vorher abgesetzt hatte. Wir stiegen durch das Loch auf den Boden. »Wo meinst du denn, steht einer?« -3 6 3 -
»Da! Etwas rechts neben der Birne«, sagte ich und fand, daß es ein bißchen weiter rechts war, als beim letzten Mal. Wir guckten schweigend in die Richtung. Fred hob einen Steinbrocken auf und warf ihn in die Richtung. Er traf nicht, der Brocken klapperte in ein Regal. »Ach was, wenn da einer stünde, dann hätte er sich jetzt bestimmt bewegt. Oder meinst du, der läßt sich 'ne Klamotte an den Kopf schmeißen?« »Warte mal, verdammt, jetzt will ich's genau wissen.« Ich stellte die Eimer ab und ging in die Richtung und dachte: warum eigentlich? Wenn wir nach unten wollen, dann brauchen wir nicht an der Birne und an dem komischen Balken vorbei. Eigenartig, jetzt müßte ich schon das obere Stück sehen können, das bis unter die Decke geht, ein Stützbalken hört nicht mitten in der Luft auf! Ich ging ganz langsam, und je mehr ich mich der Glühbirne näherte, desto mehr nahm der Schatten daneben Form an. Das war kein Balken. Da stand einer! Ich blieb stehen und glotzte den Balken an, ich sah einen hellen Fleck oben, an seinem Ende. Ich machte noch ein, zwei zögernde Schritte. Das dumpfe Brodeln der Öfen dehnte meine Ohren zu Riesenlöchern. Ich sah die dunklen Punkte in dem hellen Fleck, Augen waren das! Augen, die mich anstarrten! Ich drehte mich um, ich flog richtig herum und raste zurück, auf das Loch zu. »Fred! Fred!« »Halt! Haaaalt! Haaaaltü« Trappeln. Links! Rechts! Überall! Fred ließ seine Eimer fallen. Ich schoß an ihm vorbei. »Weg! Hau ab!« Durch den Kantinenraum, durch das Lager, eine Schlüsseldrehung. Ich riß die Eisenblechtür auf und raste auf den Flur. Gegenüber war das Klo! Ich stieß die Tür auf, sprang auf das Becken, auf die Heizung, ich hielt mich an Leitungsrohren unter der Decke fest, schob meine Beine und Körper durch das kleine Fenster nach draußen, ließ die Rohre los, schob und drückte mich mit den Händen weiter, ich hing einen Augenblick am Fenstersims. Dann ließ ich mich fallen.
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Meine Schulter tat weh, als ich wieder aufstand, aber nur ein bißchen. Hoffentlich schaffte es Fred auch! Ich lief zwischen Steinstapeln entlang, durch einen Trockenschuppen, Auf dem Hof hupte eine Autohupe, ein Auto, laut und lange. Es war das einzige Fenster gewesen, das nicht vergittert war. Gut, daß ich es mir gemerkt hatte. Wer weiß, was da schiefgelaufen war. Vielleicht hatte er doch was gehört, der Heizer, hatte die Bullen angerufen. Aber die Bullen hätten nicht gewartet, die hätten einfach geballert. Ist schon richtig hell, hier draußen, hat man drin gar nicht gemerkt. Vielleicht sind es Arbeiter gewesen, sie haben sich auf dem Boden verteilt und gewartet. Wir mußten ja wieder durch das Loch kommen, weil ich die Eimer alle auf den Boden gestellt hatte. Die wußten auch, daß die ganze Kantine vergittert ist, daß wir die Treppe durch's Ofenhaus nehmen mußten. Hätten wir auch normalerweise genommen. Aber das kleine Klofenster, das kannten sie nicht. Oder sie wußten nicht, daß in der Lagerhalle der Schlüssel von innen steckte, sonst hätten sie auch unter dem Fenster gestanden. Ich hatte die Grenze des Fabrikgeländes erreicht, ich wartete einen Augenblick, bis sich meine Lungen etwas beruhigt hatten. Bis zum nächsten Dorf erstreckte sich ein großes Rübenfeld. Weiterlaufen war besser, als sich zu verstecken. Sie würden die ganze Ziegelei auf den Kopf stellen. Ich verließ das schützende Unkraut und lief über den Schlackenweg in das Rübenfeld. Vielleicht sieht mich jetzt jemand auf dem Feld, oder sie lassen das Suchen in der Ziegelei, weil es zwecklos ist. Sie können mich oben von einem der Böden aus sehen. Aber die Fenster sind blind, sie werden nicht erst die Fenster putzen. Wenn sie Fred geschnappt haben, dann sind sie nicht mehr so wild auf mich. Einen haben sie dann ja. Der Fred hat aber auch ein Pech. Jetzt werden sie ihn sicher nach Heiligenstatt bringen. Da wird sich der Oberbruder aber freuen. Fred hat schon zweimal bei einem Dorfpfarrer eingebrochen.
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Ich hatte die Hälfte des Feldes hinter mir, ich drehte mich um und sah auf dem Schlackenweg ein Auto anhalten. Ich lief schneller, wandte mich wieder um. Das Auto bog in einen Feldweg ein, ich hatte den Weg eben erst überquert. Sie fahren mit dem Auto so weit sie kommen, dann steigen sie aus und laufen zu Fuß hinter mir her. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen. Atmen ist das A und O bei jeder Körperbeanspruchung, hatte der Trainer in der Boxschule gesagt. Ihr werdet nie Klasseboxer, wenn ihr nicht von Anfang an richtiges Atmen lernt. Dabei hatte ihm niemand was von Klasseboxer gesagt. Wegen der Mädchen war es gewesen, so was stärkte das Rückgrat. »Das ist der und der aus 8a«, und dann: »Der ist im Boxverein!« »Ah, so.« Dieses >Ah, so< klang dann, als wüßte man genau über den Betreffenden Bescheid. Da vorne ist das Dorf, der erste Hof. Wenn ich dort über die Hecke bin. Lange halte ich nicht mehr durch. Die Rüben hinderten beim Laufen. Ich hörte hinter mir Autotüren schlagen. Bloß nicht umgucken. Ich wandte mich doch um, sah drei Männer, die mich verfolgten, die Oberkörper weit vorgebeugt, die Arme angewinkelt, ich hörte das Klatschen der Rübenblätter, durch die sie liefen. Die konnten auch laufen! Ich stolperte, fing mich wieder. Hinter der Hecke bellten Hunde. Hunde sind gut, die tun nichts. Tiere merken das, wenn man nichts von ihnen will. Sicher, wenn so ein Hund nervös ist, dann schnappt er mal zu und beißt, aber er meint das nicht so. Ich hatte die Hecke erreicht, ich fand nicht sofort ein Loch, eine Lücke, ich griff und trat mich durch die dichten Zweige auf die andere Seite. Die Hunde bellten wie rasend. Zwei große Doggen waren es, in einem Zwinger an der Scheunenwand. Sie sprangen gegen den Draht und standen auf den Hinterbeinen. Neben dem Zwinger -3 6 6 -
lag ein flacher Haufen gemähtes Gras. Ich kümmerte mich nicht um die Hunde, ich wühlte mich unter den Haufen und blieb liegen. Meine Beine zitterten, ich versuchte sie ruhig zu halten, doch sie zitterten weiter. Die Hunde verstummten, sie schnüffelten dicht vor meinem Gesicht und knurrten tief. Ich konnte sie nicht sehen, weil Gras davor war. Jetzt bellten sie wieder und gebärdeten sich wie toll. Ich hörte den Draht quietschen, weil sie mit den Pfoten dagegen sprangen. Die Automänner kamen durch die Hecke. »Einer läuft links lang!« rief jemand. »Mensch, sind das 'n paar Viecher!« Einer lief dicht am Zwinger vorbei, ich merkte, wie der Boden vibrierte. Das Bellen überschlug sich fast. Dann war alles ruhig. Ich lag ganz still. Manchmal kam einer der Hunde oder auch beide, schnüffelten, knurrten ein bißchen, ich fand es ganz freundlich. Das Gras war an der Unterseite glitschig und feucht. Andauernd krabbelte mir etwas über den Nacken oder über das Gesicht. Ich ließ es krabbeln. Zwischendurch hörte ich, wie jemand die Hunde fütterte und mit ihnen sprach. Als ich nach geraumer Zeit auf die Uhr sah, waren fast zwei Stunden vergangen. Ich schob das Gras vor meinem Kopf zur Seite und guckte in vier Augen. Die Hunde waren nur ein paar Handbreit von mir entfernt. Der Maschendraht trennte uns. Sie guckten mich schweigend an und ich sie. Sie waren übergroß, fand ich. Nachdem wir uns eine Weile angesehen hatten, schob ich das ganze Gras zur Seite und erhob mich. Die Sonne schien bereits. Mein Zeug war feucht und klamm, ich fröstelte. Die Hunde guckten hinter mir her, als ich an der Hecke entlanggjng, die einen Knick machte. Dann kam das nächste Grundstück. lch umrundete fast das halbe Dorf, ich kannte es. Wir hatten hier schon oft beim Bauern gearbeitet. Dann ging ich quer in die Felder. In der klaren Morgenluft konnte ich die »beiden Gleichen« sehen. Das waren zwei Berge, sie sollten schon in der DDR liegen, aber dicht an der Grenze. Wenn einer der Bauern aus Duderstadt einen Anhänger voller Jungen aus -3 6 7 -
dem Heim zur Arbeit holte, dann fuhr man gar nicht weit entfernt an den Bergen vorbei. Gegen Mittag befand ich mich auf der anderen Talseite oben im Wald. Der Wald zog sich hier an der ganzen Stadtseite entlang, am höchsten Punkt stand ein Aussichtsturm. Man konnte ihn vom Heim aus sehen. Ich wußte, ganz in der Nähe war ein Bach, dort konnte ich meine Sachen in Ordnung bringen und was trinken. Zwei Mark hatte ich noch. Das waren Zigaretten und eine Tüte Brötchen. Oder eine Tafel Schokolade. Schokolade war gut, nahrhaft. Brötchen sind nur zum Auffüllen. Die schönen Eimer! Jetzt stehen sie auf dem Ziegeleiboden rum, der Kantinenwirt kann sie alle wieder leermachen, Die Wand wird er sicher auch vergittern lassen. Dann bleibt nur noch das Dach, daran denkt er nicht. Früher haben sie noch nicht mit Beton gebaut. Nur Balkenlage, Bretter drin und dann Lehm drauf oder Schlacke oder so was. Bei den Miezen kann ich mich auch nicht mehr sehen lassen. Ich werde immer im Wald bleiben, bis in Höhe der Kläranlage werde ich im Wald gehen. Und heute abend im Dunkeln werde ich auf einen Güterzug aufspringen. So ein Güterzug ist schon eine dolle Einrichtung. Ich werde zu Ingrid fahren. Mensch, wenn ich bloß schon da wäre. Ich humpelte durch die Anlagen neben dem Bahnhof. Immer wenn eine Gaslaterne kam, machte ich einen Bogen und ging im Schatten der Büsche. Ich war barfuß. Einmal fiel ich fast über ein Pärchen, es ruhte sich hinter einer Buschreihe aus. Der Mann sagte: »Du Idiot! Ist hier vielleicht 'n Weg!?« Eine Nacht, einen Tag und eine halbe Nacht war ich unterwegs gewesen, war eben angekommen, halb zwölf war es. Es hatte nicht so richtig mit den Anschlüssen geklappt. Beim Aufspringen in Göttingen war es schon dunkel gewesen. Ich hatte einen Schuh verloren und den anderen weggeworfen. Mit einem Schuh ließ sich nichts anfangen und wegen eines -3 6 8 -
Schuhs noch mal abspringen, das lohnte nicht. Im Dunkeln konnte man überhaupt froh sein, wenn man drauf war, auf so einem Zug. Der Zug war bis Bremen gefahren. Dort hatte ich den ganzen Tag auf einem Waggon unter der Plane eines Mähdreschers gelegen. Gegen Abend hatten sie mich hin und her rangiert, doch es hatte mich nicht weiter gestört. Bevor ich unter die Plane gekrochen war, hatte ich mich vom Bestimmungsort des Waggons überzeugt. Brake stand auf dem Zettel. Brake lag hinter Detmold, das wußte ich genau, der Waggon war richtig. Der andere, auf dem ich gekommen war, der sollte nach Husum, ich konnte das erst in Bremen feststellen, dort hatte der Zug gehalten und ich war nach einigem Suchen unter die Mähmaschine umgestiegen. In Minden hatte der Zug endlos lange gehalten, er stand in der Dunkelheit auf einem Nebengleis, und ich hatte schon befürchtet, er würde die ganze Nacht dort stehen. Ich war unter der Plane hervorgekrochen, vom Waggon gesprungen, mit dem Fuß in einen Nagel. Der steckte mit der Spitze nach oben in einem Brett. Es war so schnell passiert, daß der Nagel oben hinter den Zehen wieder rausguckte. Ich hatte das Brett genommen und versucht, den Nagel ebenso schnell wieder rauszuziehen und war wieder auf den Waggon geklettert, da der Zug anruckte. In Detmold hatte der Zug nicht gehalten. Ich bemerkte es schon vorher, da er die Fahrt verlangsamte, wenn er über Weichen rumpelte, dann fuhr er wieder etwas schneller, wieder langsamer, weil erneute Weichen kamen. Ein Personenzugfahrer hätte das sicher nicht gemerkt, weil der ohne Gefühl mitfuhr. Ich war vorsichtshalber abgesprungen. Wenn so ein Zug langsam fuhr, dann ging das sehr gut. Ich hatte eine Weile auf dem Schotter gehockt, bis der Zug vorbei war. Mein Fuß hatte so verdammt weh getan, ich konnte nicht mehr richtig auftreten, ich benutzte nur den Hacken, aber es half nicht viel. Ich war vom Bahngelände herunter, durch die Anlagen zum Bahnhof gehumpelt, und die Leute, denen ich begegnete, die hatten hinter mir hergeguckt, als hätten sie noch nie einen humpeln sehen. -3 6 9 -
Ich ging vom Weg weg, jetzt stand ich im Schatten eines Strauches und beobachtete den Bahnhofsvorplatz. Vielleicht konnte ich Ingrid irgendwo entdecken. Halb zwölf war noch nicht spät. Ich fühlte, wie der Hunger in meinem Bauch grummelte. Ich hatte nichts gegessen, nur immer geraucht, doch meine Zigaretten waren schon in Bremen zu Ende gewesen. Mein Hemd war am Rücken aufgerissen, an einer Mähmaschinenschraube war das passiert. Ich überlegte, was ich machen sollte, wenn Ingrid nicht da war, wenn sie dort nicht mehr wohnte. Vielleicht war sie irgendwo anders hingezogen? Sie hatte früher mal gesagt, immer wollte sie hier nicht wohnen. In meinem Fuß stach und wühlte es, ich hatte das Bein angezogen. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen eine Menge Leute herum, doch ich traute mich nicht dichter heran. Es brauchte nur mal ein Bahnbulle Langeweile zu haben und mich näher ansehen wollen. Schon mein kaputtes Hemd würde ihn stören, barfuß war ich auch. Ich hatte noch nie einen Bullen barfuß gesehen. So ein Hund der hatte wenigstens vier Beine. Wenn eins ausfällt, dann zieht er's hoch und läuft auf dreien weiter, ist es wieder in Ordnung, läßt er's wieder runter. Aber ich habe nur zwei, wie soll ich da ein Bein hochziehen und weiterlaufen. Quatsch. Seit damals ist ein Dreivierteljahr vergangen. Bis zu Ingrids Wohnung ist es ja nicht weit, wenn mein Fuß in Ordnung wäre, dann wäre ich schnell dort. Aber ich muß hin zu ihr. Ich drehte um und humpelte quer durch die Anlagen. Ich mußte an Heiligenstatt denken, an Elias und daß sie jetzt dort alle in den Betten lagen, zwar eine Querstrebe im Kreuz, aber sie lagen und konnten sich zudecken, sie konnten sich ausstrecken. Und das Essen reichte zum Einschlafen auch. Nein. Lieber schiebe ich ein Woche lang Kohldampf. Nein. Ich werde verhungern. So schlimm war es mit dem Fuß nun auch wieder nicht. Andere haben gar keine Füße. Ingrid ist bestimmt zu Hause. Mamas Mutter hatte mal gesagt, wenn man auf etwas hofft, dann muß man ganz fest daran glauben, dann erfüllt sich die Hoffnung. Oma ist schon eine liebe Frau. So einfach ist das nun auch nicht. Wenn in der Wohnung jemand -3 7 0 -
anders wohnt, dann wird er sich jetzt nicht in Luft auflösen, und Ingrid ist wieder da. Ich überquerte die Hauptstraße an der Allee, ich bemühte mich schneller zu humpeln, ich fand, daß es besser ging, weil ich nur ganz kurz den Hacken benutzte. Was die Leute gleich blöd gucken! Nach'm Hund dreht sich niemand um! Jetzt links und dann die nächste rechts, der dritte Eingang, der muß es sein. Die Tür steht die ganze Nacht auf, hatte Ingrid damals gesagt, würde nie abgeschlossen. Ich nahm die paar Stufen zum Eingang, faßte an den Griff, die Tür war unverschlossen, sie hatte oben einen automatischen Schließer, von dem sie wieder zugezogen wurde. Ich drückte kein Flurlicht an und stieg die Treppen im Dunkeln hoch. Die ausgetretenen Holzstufen kamen mir richtig vertraut vor. Ingrids Wohnung lag ganz oben. Auf dem obersten Absatz wartete ich einen Moment, ich lauschte an der Tür. Nichts war zu hören. Ich klingelte, nur ganz kurz, als hätte ich Angst sie zu wecken, dann noch einmal. Es meldete sich niemand. Ich klingelte erneut, lange, und wartete. Wenn sie zu Hause wäre, hätte sie das Klingeln schon beim ersten Mal gehört. Ich drückte auf die Flurbeleuchtung. Da stand es! Dicht unter dem Klingelknopf war das Schildchen. I Punkt und P Punkt. Mehr nicht. Ingrid Pahlmer hieß das. Sie wohnte also doch noch hier, sie war nicht zu Hause, aber sie würde kommen, ganz bestimmt. Mir war besser zumute. An der anderen Seite des Treppenabsatzes ging es noch ein paar Stufen höher bis zur Bodentür. Ich setzte mich auf die obere Stufe und lehnte mich an die Tür, ich saß im Dunkeln, weil das Licht klackend verlöscht war. Einmal wachte ich auf. Unten klappte eine Tür. Dann eine andere. Stille. Manchmal fuhr auf der Straße laut ein Auto vorbei. Das war zu hören. Ich nickte wieder ein. Als ich erneut erwachte, sah ich auf meine Uhr. Es war kurz nach drei. Ich meinte, unten hätte eine Tür geklappt. Ich lauschte. Da! Jetzt aber! Das mußte die Haustür sein. Die Flurbeleuchtung ging an, ich hörte, wie jemand die Treppe -3 7 1 -
heraufkam. Jetzt die zweite Treppe. Das war eine Frau, ich konnte es an den Schritten hören, wenn sie über einen Absatz ging. Das mußte sie sein, Ingrid. Wenn ich in den Treppenschacht gucke, kann ich sie vielleicht sehen. Aber es kann auch jemand anders sein. Ich guckte nicht, ich saß da und wartete. Jetzt kamen die Schritte auf die letzte Treppe, sie war es doch! Ich saß ganz still in meiner Ecke, sah ihren Kopf auftauchen, ihre blonden Haare, sie öffnete auf der letzten Stufe ihre Tasche und stand vor der Tür. »Klack!« machte es. »Verdammt!« sagte sie halblaut, drückte die Flurbeleuchtung wieder an und kramte in ihrer Tasche. »Ingrid.« »Huchch!« Sie fuhr erschrocken herum. »Ben! Ben, wo...«, sie wußte gar nicht, was sie sagen wollte. Ich erhob mich und versuchte, trotz meines Fußes elegant auf den Absatz zu kommen, ich ächzte, weil es nicht gelang. »Ben, was hast du denn? Was ist mit deinem Bein? Mensch, wo kommst du denn jetzt her, hm?« Sie zog das »du« in die Länge, und in der Länge war alles enthalten, Überraschung, Freude, Sorge, Neugier, es tat sehr gut, dieses »du« zu hören, am liebsten hätte ich losgeheult. »Och«, ich schluckte, »ich war grade mal hier in der Gegend, wollte mal sehen, was du machst.« Ich stellte mich gerade hin, da ich mindestens drei Zentimeter größer war als sie, ich stützte meinen Fuß nur ganz leicht auf. »Was ist denn mit dem Bein, hach? Wo habe ich denn nur den verdammten Schlüssel? Hier ist er.« Ich drückte erneut das Licht an, und sie schloß auf. Ich humpelte hinter ihr her, gleich über den kleinen Flur in ihr Wohnzimmer und ließ mich in einen Sessel fallen. Ich machte mich richtig breit und fühlte, wie bequem doch so ein Sessel war. Mir war zumute, als hätte ich jetzt alles geschafft, als konnte mir nichts mehr passieren, Der Oberbruder, Fred, die Ziegelei, Karen, die Angst, alles war in weite Ferne gerückt. Ich war zu Hause. Ich streckte die schmutzverkrusteten Füße auf -3 7 2 -
dem Teppich aus. Hunger hatte ich! Und geraucht hätte ich auch ganz gerne. »Mensch, Ben, wenn ich das gewußt hätte«, Ingrid hatte die Jacke ausgezogen und kam ins Zimmer, »ich wäre doch schon viel früher nach Hause gekommen, wie lange wartest du denn?« »Ach, so zwölf.« »Da sitzt du drei Stunden auf der Treppe. Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?« Wie sie das sagte. Als wäre ich nur mal eben weggewesen. »Hast du eine Zigarette da?« »Sicher, sag doch was! Wo habe ich...« Sie lief nach draußen und kam mit einer angebrochenen Schachtel zurück. Ich rauchte. »Ich habe mich erst am Bahnhof umgesehen, ich dachte, vielleicht sehe ich dich da, na ja, und dann bin ich nach hier. Hab schon Angst gehabt, daß du hier nicht mehr wohnst.« »Ach du, so schnell zieht man nicht um. Ich fahre woanders hin, nicht zum Bahnhof. Ich habe mir ein Auto gekauft, bloß einen VW, aber der genügt mir. Bist ganz schön müde, ja?« »Jetzt nicht mehr, aber Hunger habe ich.« »Ja sicher«, sie stand auf, »ich bin richtig ein bißchen durcheinander. Mensch, Ben.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, doch ich konnte mich auch verhört haben. »Mit allem hätte ich gerechnet, aber daß du heute hier sitzt und wartest, daran hätte ich nicht gedacht. Komm mit rüber, dann können wir uns unterhalten. Was... was ist denn nun mit deinem Fuß?« »Weiß auch nicht, da war so'n blöder Nagel, ich bin reingetreten. Zuerst war gar nix, und jetzt kann ich nicht mehr auftreten.« »Zeig mal her, hoffentlich ist das keine Blutvergiftung.« Sie ging in die Hocke und sah sich meinen Fuß an, betastete ihn, und ihre Finger waren angenehm. »Ach wo, das geht schon wieder weg.« -3 7 3 -
»Sag nicht, ach wo! Nach dem Essen badest du erst mal, und dann werden Fußbäder gemacht, mit Schmierseife und Kamille, immer abwechselnd. Wollen mal sehen, ob das hilft.« Ingrid machte den Tisch fertig. Ich rauchte die zweite Zigarette. »Sieh mal hier«, sie stellte ein Glas Erdbeermarmelade auf den Tisch, »noch nicht angebrochen, hoffentlich ist sie noch gut. Und eine halbe Flasche Eierlikör habe ich auch noch. So, der Kaffee ist sofort fertig. Du wolltest damals nur ein paar Sachen holen, hast du gesagt. Hat ja ganz schön lange gedauert, nicht?« Ingrid lachte. »Das ist alles so verzwickt, ich wollte schon viel eher kommen, ich werde dir alles sagen, wie das war«, ich nahm mir schon mal eine Scheibe trockenes Brot. Es dauerte immer eine Weile, bis so ein Kaffee fertig war. »Natürlich, wir haben jetzt ja Zeit. Und ich habe gewartet, habe mir Gedanken gemacht, was passiert sein könnte. Ich wußte ja auch nicht, an wen ich mich wenden konnte. Du, wenn das mit dem Fuß nicht besser wird, dann fahren wir zu einem Arzt. Ich muß nachher erst mal Schmierseife kaufen, habe gar keine da. Aber warte mal... ich habe da doch noch irgendwo Salbe«, Ingrid stand auf und sah in einigen Schubladen nach. Jetzt haben wir ja Zeit, hatte sie gesagt, dachte ich. Ja, Zeit. Ich bin abgehauen, ich bin weg, und niemand weiß, wo ich bin. Also habe ich Zeit. Und wenn sie mich nie erwischen, dann habe ich immer Zeit. Das ist ja doll. »Ha, das Kaffeewasser!« Sie lief zum Herd. Ingrid hatte gar keinen richtigen Hunger, und weil sie sagte, sie müßte gleich in der Frühe einkaufen, aß ich das halbe Brot auf, was noch da war. Nachdem ich satt und gebadet, in einer sauberen Hose von mir, die noch bei ihr gehangen hatte und einem Hemd von ihr, das auch Männer tragen konnten, wieder im Sessel saß, war ich richtig zufrieden. Mein Fuß lag hochgelegt auf einem Kissen. Ingrid hatte mir einen Verband gemacht und vorher Salbe auf den Fuß geschmiert. An der Tube war die Schrift schon abgeblättert, -3 7 4 -
doch man hatte noch lesen können »Hilft auch in den hartnäckigsten Fällen«, das würde sich jetzt ja zeigen. Ingrid meinte, schaden würde die Salbe auf keinen Fall, und gegen Schwellungen wäre sie gut, das wisse sie ganz genau. Jetzt war sie im Bad. Es geht ganz schnell, Ben, hatte sie gesagt. Möchte mal wissen, was sie solange da macht. Mußte wohl so sein, bei Frauen. Na, Mama erst, die brauchte noch länger. Na ja, das lag wohl mit am zweiten Vater. Einmal war sie mit dem irgendwo eingeladen, um acht fing das an, und um sechs stand sie schon in der Wanne, kurz vor sieben trug sie das Make-up wieder auf, das sie beim Baden abgewaschen hatte. Dabei war sie noch gar nicht alt. Vorher, um sechs, stellte sie erst mal meine Kaulquappen auf den Flur, obwohl die ganz still in ihrem Glas zwischen Wand und Badewanne standen. >Nein! Wenn ich bade, dann will ich die Viecher nicht im Raum haben!< Als wären die von allein in die Wanne gehüpft, wenn sie drin saß. Und wenn schon, so eine Kaulquappe, die tat niemandem was. Nach dem Schminken und schon zwischendurch kämmte sie sich, drehte Löckchen, toupierte ihr Haar. Und der zweite Vater pendelte die ganze Zeit zwischen dem Schlafzimmer unten und dem oberen Bad hin und her. Das Bad oben gehörte zur Wohnung des Zweitenvatervaters. Unten konnte der zweite Vater ja nicht rein, weil Mama drin war. Oben gab es erst mal Krach. Wegen der Tomatenkästen, die der Zweitevatervater in der Badewanne stehen hatte. Er badete nie. Die Frau des Zweitenvatervaters badete ganz selten. Die Zeit dazwischen reichte aus, um Tomatenpflanzen hochzuziehen. Die Kästen mußten also raus, damit der zweite Vater rein konnte, in die Wanne. Vorher gab es dann eine laute Diskussion, warum Baden und warum nicht und warum Tomaten und warum doch. -3 7 5 -
Dann endlich saß er in der Wanne, der Sohn vom Zweitenvatervater. Und dann immer das Gefrage. >Anne? Wo sind meine Manschettenknöpfe!?< Mama: >Woher soll ich wissen, wo deine Manschettenknöpfe sind!' Und der zweite Vater suchte, fand sie endlich im Zieraschenbecher, der in der Küche auf der Fensterbank stand. >Ahhhh, habe sie schon!< Als wenn Mama mitgesucht hätte! Dann war er wieder oben: >Anne!? Leg mir doch mal den Schlips raus!< Das konnte Mama sowieso nicht, weil sie halbnackt im Bad stand, und wenn ich sie mal im Schlüpfer sah, dann machte ich >Ha-ha-ha<. Das wußte sie, und sie genierte sich. Nach einer Weile kam er runter, der zweite Vater, Rasierschaum im Gesicht, ging ins Schlafzimmer, Schubladen auf, Schubladen zu, Poltern, weil ein Stuhl umgefallen war. >Hier findet man aber auch gar nichts! Er brüllte: >Anneeee! Hast du meinen silbernen Schlips gesehen?< Im Bad Wasserrauschen. Keine Antwort. >Anneeeee!?< >Jahaaa?< >Mein Schlips!< >Was ist damit!< >Was ist damit! Wo der ist!?< >Wo der ist! Trage ich Schlipse!?< Das für einen Moment verstummte Wasserrauschen setzte wieder ein. Der zweite Vater suchte seinen Schlips weiter, überall, der Rasierschaum trocknete, er brauchte ihn eigentlich noch gar nicht, den Schlips. In der Küche am Handtuchhalter und in der Kellertreppe hinterm Arbeitszeug hatte er nachgesehen, da kam die Frage aus dem Bad: >Welcher denn?< >Der silberne.< >Schlafzimmerschrank, zweite Tür links, Innenseite, da wo er hingehört!< Er: >Na also, wußte ich doch!< Holt den silbernen Schlips, hängt ihn über die Schulter und geht wieder nach oben, kommt wieder runter: >Anneeee! Hast du meine schwarzen Schuhe...< Zehn vor acht trappelten sie beide auf den Hof, er noch mal zurück, hat den Autoschlüssel vergessen, der ist in der Arbeitshose, rennt durch Bad, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, findet die Arbeitshose hinter der Kellertreppe, wo -3 7 6 -
sie hingehört, findet die Schlüssel nicht. >Anneeee! Wo sind die Schlüssel...< >Nun mach doch, die hab ich doch schon mitgenommen!< Draußen sprang der Automotor an. >Laß mich lieber fahren, ich kenne den Weg.< Und ab ging die Post. »So, ich habe mich extra beeilt«, Ingrid setzte sich neben mich, »sag mal, bist du denn gar nicht müde?« »Ein kleines bißchen.« Sie lachte. »Schlaf dich erst mal richtig aus, es wird draußen schon hell. Morgen erzählst du mir alles, ach, wir haben ja schon heute.« »Schläfst du nicht?« »Ich bleibe mal auf, dann kann ich gleich alles erledigen, wenn die Geschäfte öffnen. Was macht denn dein Fuß?« »Och, ich glaube, das geht schon wieder«, ich stand auf und wollte auftreten, doch es tat genauso weh wie vorher. Ich stöhnte etwas und hielt mich am Tisch fest. »Siehste! Geht schon wieder!« Ingrid sprang auf und stützte mich. Das tat gut. Ich stöhnte noch mal. Ich konnte wieder laufen. Eine Woche hatte es gedauert, mit dem Fuß. Ingrid hatte aus der Apotheke was mitgebracht, zum Baden, zum Einreiben, zum Einnehmen, es war von Tag zu Tag besser geworden. Wenn ich zwischendurch mal ein bißchen geächzt hatte, dann nur deshalb, weil Ingrid sofort angerannt kam, den Fuß vorsichtig massierte und sagte, ich solle ja liegenblieben, ich müsse mich noch schonen. Richtig besorgt war sie. Jetzt bummelte ich gemütlich am Schloßgraben entlang und fütterte die Schwane mit Kuchenbröckchen. Sie kamen mir nachgeschwommen. Ich wartete auf Ingrid. Sie saß drüben beim Friseur. Was willst du beim Friseur, hatte ich gesagt, ich finde dich so sehr hübsch, außerdem werde ich heute abend deine Haare alle durchwuscheln, kein Friseur wird sie jemals wiedererkennen. Ingrid hatte gelacht. Macht nichts, hatte sie gesagt, ich lasse nur unten die Spitzen einlegen, das dauert -3 7 7 -
doch nicht lange. Dauert nicht lange! Die Schwäne werden Magenerweiterung kriegen. Gleich ist es eins. Fast zwei Stunden schon dauerte es nicht lange. Ingrid hatte gesagt, ich sollte solange bei Steffens ein Eis essen. Steffens war eine Konditorei, ein paar Häuser vom Friseur entfernt. Das hatte ich getan, hatte mir noch Kuchen gekauft und war über die Promenade zum Schloßgraben gegangen. Zweifünfzig hatten sie jetzt verfressen, die Schwäne. Bienenstich mochten sie, bekamen sie wohl selten. Ich sollte noch ein Eis essen, Eis ist gesund. Ich schlenderte zu Steffens rüber, mir fiel ein, daß Ingrid dort vorhin eine Torte bestellt hatte und noch einiges, für morgen, es war mir nicht besonders aufgefallen, aber jetzt fiel es mir ein. Warum bestellt sie eine Torte? Ich hatte ihr alles erzählt, daß ich aus dem Heim abgehauen war, daß ich schon einmal zu ihr gewollt hatte, sie wußte jetzt, was Heiligenstatt war, sie wußte, daß der Vater vom zweiten Vater schon immer gesagt hatte, ich würde mal in 'ner Anstalt oder im Zuchthaus verrecken, sie wußte, daß ich damals aus der Lehre geflogen war, als ich sie getroffen hatte, an jenem Abend und daß ich in Wirklichkeit gar nicht Ben hieß. Ingrid hatte gemeint, was schon so ein Name bedeute. Für sie wäre ich Ben und der bliebe ich auch. Von Karen hatte ich ihr auch erzählt, daß das ein Mädchen im Nachbarheim sei, daß ich es mit ihr öfters gemacht hatte und daß ich sie hatte rausholen wollen, daß es nicht geklappt hatte. Ist sie hübsch? hatte Ingrid mich gefragt. Ich hatte mit den Schultern gezuckt. Wie so'n Mädchen eben aussieht, aber dich mag ich lieber. Ach Ben, hatte sie gesagt und gelächelt. Ich hatte ihr erklärt, daß ich Karen versprochen hatte, sie dort rauszuholen und wenn ich so was verspreche, dann muß ich es halten. Das hätte sie auch getan, hatte Ingrid gemeint. Und der zweite Vater sagte, daß man nur acht Schuljahre brauchte, um Schlosser zu werden. Ich hatte aber gar keine Lust, Schlosser zu werden. Ich haßte das Schlossern! Was ich denn werden wolle, hatte Ingrid mich gefragt. Na, was wohl! Architekt wollte ich werden! Häuser bauen und Brücken und Staudämme und -3 7 8 -
so. Das war schon was. Besser jedenfalls als Schlosser oder Torf auf ein Förderband schmeißen. Vielleicht hatten sie den Ellas schon reingeschubst, ins Moor? Dann war Bolm jetzt sicher Oberbruder, weil der den treuesten Blick hatte. Du hirnverbranntes Arschloch, du, sagte er und guckte dabei wie ein, ein Bernhardiner. Ingrid wußte jetzt, wer Benno war, von Hagen hatte ich ihr erzählt und sie hatte sich gefreut, weil der so schwer in Ordnung gewesen war. Als ich mit Eis in der einen und Kuchen in der anderen Hand bei Steffens rauskam und wieder zu den Schwänen wollte, kam Ingrid aus dem Friseurladen heraus. »Hallo, Be-hen!« Sie winkte. Ich wartete leckend. »Hat ganz schön lange gedauert, ja?« »Och, jetzt nicht mehr.« »Oh du, es war so voll da, ich hatte mich nicht angemeldet, ich dachte, es ginge mal so. Magst du mich?« Sie lächelte. »Hmhm, sehr.« Ingrid sah aus, wie auf einem Titelfoto, sie roch von allen Seiten nach Friseur. Ich warf das Stück Bienenstich über Bord, die Schwäne warteten schon. Wir gingen ein Stück am Wasser entlang, bogen dann in Richtung Markt ab, wo Ingrid das Auto geparkt hatte. »Du, Inge... was ist morgen eigentlich los?« »Morgen?« Sie tat erstaunt. »Ja. Morgen. Zum Friseur gehst du, eingekauft hast du wie eine Wilde, bei Steffens hast du Kuchen bestellt, nur sagen, sagen tust du mir nichts!« »Du meinst also, das kommt dir verdächtig vor?« »Hm, hm.« Sie lächelte versteckt. »Ich dachte, wir könnten morgen ein bisschen feiern.« »Feiern? Ich finde, jeder Tag ist ein Feiertag.« -3 7 9 -
»Das ist schön, Ben. Aber morgen... ich habe morgen Geburtstag, weißt du, und die ganzen Jahre war das für mich ein Tag wie jeder andere auch. Einmal habe ich mich betrunken, aber der Kater anschließend, der war noch schlimmer. Und jetzt, wo du da bist, da dachte ich. Oder meinst du, man könnte mit zweien nicht feiern?« »Doooch!« Wenn das mit mehreren ging, dann erst recht mit zweien. Geburtstag hat sie. Und ich wußte es nicht, ich habe nicht mal ein Geschenk. Vorhin habe ich noch fünf Mark gehabt. Verfressene Schwäne! Ich auch! Bis jetzt habe ich nie Geld gebraucht, sie hat immer alles bezahlt, sie brachte auch immer alles mit Wenn du mal Geld brauchst, Ben, sagte sie mir oft, wenn du dir mal etwas kaufen möchtest, dann mußt du es sagen. Nein, wozu, hatte ich geantwortet. Und jetzt brauchte ich was, und ich konnte es ihr nicht sagen, weil sie dann genau weiß, wofür. Das geht nicht. Rosen hole ich ihr heute abend, in der Parkstraße ist eine große Villa mit einem Garten, da wachsen sie wild auf den Beeten, die Rosen. Und nachher werde ich ins Kaufhaus gehen, da liegt immer eine Menge herum. Detektive haben sie da, muß ich mir meine Turnschuhe anziehen. »Ben, du sagst ja gar nichts mehr?« »Nachgedacht habe ich.« »Und worüber?« »Na, dein Geburtstag, daß das ganz schön wird, wenn wir den alleine feiern. Die Geburtstage, die ich kenne, da kamen immer ein Haufen Leute, die quasselten über die, die nicht da waren, und sie betatschten alles und stopften sich mit Schlagsahne voll, und wenn sie lachten, dann kreischten sie...« »Leute? Komm, wir setzen uns ein bißchen auf die Bank hier.« »Na ja, Verwandtschaft und so, kenne ich auch nicht alle. Bist du schon mal drüben im Schloß gewesen?« »Besichtigt?« -3 8 0 -
»Ja?« »Nein, noch nie. Ich bin sicher schon hundertmal hier vorbeigegangen, ohne daran zu denken, wie es da drinnen aussieht. Wir werden es nächste Woche besichtigen, hast du Lust?« »Ja, das wird gut.« Wir rauchten. »Sag mal, Inge, hast du mich eigentlich sehr lieb?« »Oh ja, sehr.« »Oder liebst du mich sehr?« »Sehr. Aber wo liegt da der Unterschied?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat man sich lieb, wenn man noch jung ist, und wenn man erwachsen ist, dann liebt man sich. Peng, fertig.« »Ach du, wann ist man jung und wann ist man erwachsen. Die Jahre sind nicht immer ausschlaggebend.« »Morgen bist du zehn Jahre älter als ich.« »Und ein bißchen!« Sie lachte spitzbübisch und schaukelte mit den Beinen. »Meinst du, das sei schlimm?« »Nein. Ich habe es nur gesagt. Wenn du zwanzig Jahre älter wärst dann würde ich dich ebenso lieb haben.« »Meinst du?« »Ja, bestimmt.« »Dann hätte ich aber sicher schon Runzeln im Gesicht, hätte graue Haare und wäre ganz launisch!« »Glaube ich nicht. Du siehst sehr viel jünger aus. Und wenn du zwanzig Jahre älter wärst, dann wäre ich zehn Jahre älter. Weißt du, ich denke oft, du bist meine Schwester. Möchtest du meine Schwester sein?« »Oh, dann dürften wir aber nicht zusammen schlafen.« »Warum denn nicht? Wir könnten doch ganz still nebeneinander liegen, wir erzählen uns dann nur was.« Ich grinste ein bißchen. Ingrid lachte. »Ich werde nicht zuhören!« Sie streichelte meine Hand. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn sie uns wieder trennen, wenn sie mich mal -3 8 1 -
wieder schnappen. Es dauert noch so verdammt lange, bis ich volljährig bin.« »Wir werden schon einen Weg finden, meinst du nicht auch? Es gibt immer einen Weg, eine Losung. Ich weiß ganz sicher, eines Tages wirst du Architekt sein.« Sie sah mich etwas nachdenklich an. »Weißt du, Inge, ich glaube... ich stelle mir das wie Fäden vor...« »Was für Fäden?« »Die Menschen. Jeder Mensch ist ein Faden, und immer eine andere Farbe. Natürlich gibt es nicht Millionen verschiedene Farben, sicher aber viele Farbnuancen. Siehst du, und alle diese Fäden laufen kreuz und quer durcheinander, ein richtiger Wirrwarr ist das, es wird gezogen und geschoben und gezupft und gezerrt, und dadurch wird ein Faden durch den anderen bewegt, er kommt mal mit dem, mal mit dem zusammen. Blaue, grüne, gelbe, rote Fäden. Weiß und Rot passen natürlich nicht zusammen, aber Rosa und Rot. Es gibt überhaupt keine Farben, die genau zueinander passen, die vollkommen eins sind. Aber es gibt ähnliche, wenn sich zum Beispiel zwei Menschen gut verstehen, wenn alles genau stimmt, wenn es aber nicht vollkommen ist. Du wärst vielleicht ein blauer Faden, ein roter oder ein grüner und ich wäre ein hellblauer, ein hellroter oder ein hellgrüner. Wir hätten Farben, die sich am wenigsten voneinander unterscheiden, das wäre der Idealfall. Hörst du mir überhaupt zu, Inge?« »O ja, sehr genau.« »Hm, ein ganz normaler Unterschied ist zwischen einem Mann und einer Frau. Also schon deshalb Farbunterschiede. Siehst du, viele Fäden kommen nie zusammen, andere nur für einige Zeit, für zehn oder zwanzig oder auch hundert Jahre. Nee, hundert Jahre nicht, so alt wird man nicht.« Ich schwieg. »Wie kommst du eigentlich auf solche Gedanken, Ben?« »Och, manchmal denke ich eben, weiß auch nicht, warum es so ist und nicht anders. Durst habe ich, du nicht auch?« »Wir trinken am Markt eine Cola, und dann fahren wir nach Hause, ja?« -3 8 2 -
Ich nickte, dachte daran, daß ich noch in ein Kaufhaus mußte. »Ich backe gleich noch einen Kuchen, extra für dich, aber du darfst nur ein ganz kleines bißchen naschen.« »Ich mache noch Sport.« »Sport?« »Ja, laufen, Gymnastik und so. Dann stör ich dich nicht beim Backen.« »Sag das nicht nochmal, du!« Ich grinste. »Wir hätten ja auch mal ins Hallenbad gehen können, aber mit deiner Frisur...« »Macht doch nichts, ich brauche ja nicht untertauchen, aber dann habe ich heute abend soviel zu tun.« »Nein, nein, ich habe mich auch schon auf Gymnastik eingestellt, weißt du. Vor jeder sportlichen Übung muß man sich sammeln, ich müßte mich dann ganz schnell auf Schwimmen umstellen, das geht nicht.« Ingrid lachte hell und unbeschwert. Ich beschloß, etwas besonders Hübsches für sie auszusuchen. Wir tranken an dem Erfrischungsstand neben der Marktwache eine Cola und gingen zum Parkplatz. »Schnell, Ben! Da ist gerade eine Lücke frei, wo ich rausfahren kann.« Ingrid schloß das Auto auf, ließ den Motor an, fuhr los. Der nochgerutschte Rock gab ihre schlanken Beine frei. Ich faßte zwischen ihre Beine, fühlte ihre Hose und streichelte den Stoff. »Ben! Ich muß doch fahren!« Sie zog den Rock wieder nach vorne, faßte ans Lenkrad. »Fahr doch.« »Wenn das jemand sieht, daß du an meinen Beinen rumfummelst!« »Zwischen. Das sieht niemand, es sieht so aus, als hielte ich dich fest, weil du nicht angeschnallt bist.« Ingrid stoppte an einer Kreuzung. »Wenn du nicht sofort deine Finger da wegnimmst, fahre ich bei >Rot< über die Ampel! « -3 8 3 -
»Über die Kreuzung. Die Ampel hangt oben drüber.« Ich saß kerzengerade und grinste dem Fahrer zu, der neben uns auf Grün wartete. Er grinste zurück. Er konnte uns nur bis Unterkante Brust sehen. »Be-hen!« »Ich hab dich lieb.« »Ben, bitte, bitte...« Ingrid legte den Gang ein und preschte los. »Ich sage dir, wenn wir gleich zu Hause sind, dann kannst du aber was erleben...« Sie mußte an der nächsten Kreuzung erneut stoppen. Ich rutschte plötzlich tief in den Sitz, knickte die Beine ein und linste über die Wagentürkante. »Was... was hast du denn?« »Na da, siehst du die? Die mit dem blöden Hut, das ist sie!« »Wer denn?« »Na, die Lappewasch, die meine Tante sein will. Fahr weiter!« »Ist doch rot. Die ist das!? Schickes Kostüm hat sie an.« Die Lappewasch überquerte vor uns den Zebrastreifen wie ein Pfau, sie sah zum zweiten Mal auf unser Auto. Ich dachte erst, sie hätte mich gesehen, doch sie ging auf der anderen Seite weiter, ohne sich nach uns umzudrehen. »Wenn die mich sieht, dann rennt sie sofort zu den Bullen oder zum Jugendamt. Ausgerechnet hier begegnen wir ihr, der ollen Archivziege!« »Ist doch schon weg, komm hoch. Außerdem glaubst du doch wohl nicht, daß ich dich einfach so rausgebe. Neben dem Bad bei uns ist übrigens eine Feuerleiter.« »Weiß ich doch.« »Wenn wirklich mal was sein sollte, dann kannst du bis in den Hof runter oder aufs Dach. Die Dachfenster sind nicht verriegelt. Vielleicht hat sie dich doch gesehen, hat sich nichts anmerken lassen.« Ingrid schwieg eine Weile. »Be-hen?« »Hm?« »Ich liebe dich.« »Das ist gut.«
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Ich hatte Karstadt gewählt. Wegen der großen Auswahl. Die anderen Kaufhäuser waren alle kleiner. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Ich ließ mich schon zum zweiten Mal durch die Geschenkabteilung schieben. Bei den Haushaltswaren hatte ich nichts Passendes gefunden. So eine lederne Papiermappe mit Schreibsachen, das wäre schon ein schönes Geschenk, dachte ich. Fünfundachtzig Mark. So was ließ sich schon verschenken. Ich nahm die Mappe vom Ständer, klappte sie auf und zu und linste mit einem Auge zum Verkäufer rüber, damit ich sie noch rechtzeitig weglegen konnte, wenn der was merkte. Doch der Verkäufer hatte zu tun. Ich schob die Mappe unter meine Jacke, ging weiter und erreichte unbehelligt den Ausgang. Auf der Straße lief ich ein Stück und überlegte, daß ich noch Papier zum Einwickeln brauchte. Ich mußte erstmal die Mappe irgendwo lassen. Ingrid war zu Hause. Wenn ich die Korridortür aufschloß, dann kam sie garantiert auf den Flur. »Ach, da bist du ja wieder<, oder so. Aber ich könnte schnell ins Wohnzimmer flitzen, die Mappe unter die Couch, hm, aber das sah so aus, als hätte ich Geheimnisse vor ihr. Wegen des Papiers müßte ich extra noch mal losgehen. Ich blieb stehen, ging in einen Vorgarten und versteckte die Schreibmappe in einem Strauch. In der Nähe befand sich ein Selbstbedienungsladen, man mußte einen Korb oder einen Wagen beim Reingehen nehmen, sonst fiel man auf. Ich nahm einen Wagen, schob ihn kreuz und quer durch das Geschäft, legte einige Lebensmittel hinein, bis ich die Stelle gefunden hatte, wo Papierrollen angeboten wurden. Ich nahm eine hübsch eingewickelte Rolle, legte sie in den Wagen und steckte sie in einem günstigen Augenblick unter die Jacke. Ich ließ den Wagen stehen und schloß mich einem Mann an, der mit seinen eingekauften Sachen vor einer Kasse wartete. Die Kassiererin leerte seinen Wagen Stück für Stück auf ein Laufband, es ging schnell. Der Mann bezahlte und ging auf die andere Seite. Ich ging dicht hinter ihm her, blieb stehen und sah -3 8 5 -
ihm zu, wie er seine Sachen in eine Einkaufstasche packte. Die Kassiererin wandte sich dem Nächsten zu. »Na?« sagte der Mann zu mir. »Na?« erwiderte ich und ging weg. Mit Mappe und Papier kam ich zu Hause an. Ich bemühte mich, ganz leise zu sein. Es roch, als habe Ingrid für das ganze Jahr Kuchen gebacken. Ich fand gerade noch Zeit, meine Dinge im Schuhschrank zu verstauen, weil sie mich gehört hatte. »Hallo, da bist du ja wieder! Mein Extrakuchen ist fertig, das heißt, er wird jetzt fertig. Ist natürlich nicht mit einem von Steffens zu vergleichen, aber dafür ist er von mir!« Sie gab mir einen Kuß auf die Nase. »Dein Kuchen ist besser. Ich habe Hunger.« »Sehr wohl, mein Herr. Halten Sie vielleicht noch ein Viertelstündchen aus, ohne das Zeitliche zu segnen? Ich muß nämlich noch mal schnell um die Ecke, ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Das Backen hat mich etwas aufgehalten. Es dauert nicht lange«, sie hing sich ihre Jacke um, »du kannst die Schüssel auskratzen. Bis gleich.« Als sie weg war, holte ich Mappe und Papier aus dem Schrank. Es war nicht das Papier, das ich mir vorgestellt hatte. »Müllers Schrankpapier« las ich, nachdem ich die hübsche Verpackung entfernt hatte, zehn Meter Länge garantiert. Jetzt noch mal los und neues Papier besorgen, das schaffte ich nicht. Überall waren Karos auf dem Papier, in jedem vierten stand zu lesen. »Müllers Schrankpapier« oder »Zur Verschönerung eines jeden Schrankes«. Ich schnitt die Schrift mit der Schere aus. Aus dem Bad holte ich zwei von Ingrids Haarschleifen und knotete sie zusammen. Lila. Sah hübsch aus, auf dem weißen Papier. Etwas anderes würde gar nicht passen. Am nächsten Morgen war ich wach, als es hell wurde. Ich werde den Tisch decken, Kaffee kochen, und wenn alles fertig ist, dann wecke ich dich, hatte ich zu Ingrid gesagt, eher darfst du auf keinen Fall aufstehen. Sie schien noch zu schlafen. Jedenfalls tat sie so, ihre Augenlider zuckten ein bißchen, als ich sie ansah. Ich berührte -3 8 6 -
ihren Mund, ihre Nase, doch sie machte die Augen nicht auf. Ich überlegte, ob ich sie mit einem Haar an der Nase kitzeln sollte, das hielt sie nicht aus. Wenn sie schlief, dann wachte sie davon auf und wenn sie nur so tat, dann mußte sie auch aufwachen, weil sie das Kitzeln nicht aushielt. Dann mußte ich gratulieren und hatte noch nichts fertig. Ich stand leise auf und zog mich an. Vom Flur nahm ich die große Einkaufstasche und eine Schere aus der Küche mit. Rosen müssen abgeschnitten werden, sonst geht der Strauch ein. Das hatte ich schon mal gelesen. Draußen war es noch neblig und frisch. Die Leute, die schon unterwegs waren oder vereinzelt an Straßenbahnhaltestellen warteten, guckten alle geradeaus. Ein Mann gähnte mit weit offenem Mund. Ich sah ihn an, was er nicht zu merken schien. Ich sah einen Goldzahn, vielleicht waren es auch zwei, hinten in der Backenzahnreihe. Der Mann ging atemdampfend vorbei. Ich fragte mich, wieso er hinten Goldzähne hatte, wenn man sie doch nur beim Gähnen sehen konnte. Silber hätte es ja auch getan. Oder er gähnte eben oft und hielt wegen der Goldzähne keine Hand vor den Mund. Auf den Rosen in der Parkstraße lag gläsern der Tau. Meine Füße zogen dunkle Streifen in den Rasen. Gleich neben dem Haus befand sich ein großer Rosenstrauch. Ich schnitt eine Rose nach der anderen ab und legte sie in die Tasche, ich zählte mit, ging zu anderen Sträuchern. Bei achtzig war die Tasche voll. Jede Rose sollte ein Jahr mit Inge bedeuten. Ich lief im Dauerlauf zurück. Die Blumen werde ich gleich in die Badewanne stellen, nein, erst Kaffeewasser aufsetzen, das kann dann kochen, dann den Tisch decken, die Blumen, die Schreibmappe aus dem Flurschrank... Beim Tischdecken rutschte mir ein Teller weg, ich versuchte ihn mit einer Hand festzuhalten, während ich mit der anderen die restlichen Teller hielt, er drehte sich ein paarmal in der Luft, hoch, runter, ich immer mit einer Hand dicht hinterher, ich berührte ihn, ohne daß ich zufassen konnte.
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Er knallte gegen den Herd, dann auf den Boden und machte einen Lärm wie drei Teller. Dann war ich fertig. Die Kerze brannte neben einer Vase mit Rosen und dort, wo Ingrid sitzen würde, hatte ich den Tisch mit Blumen eingerahmt, die Mappe lag in der Mitte auf ihrem Teller, ich fand, daß das durchlöcherte Schrankpapier gar nicht so schlecht aussah. Eier hatte ich gekocht, sieben Minuten. Ingrid mochte sie lieber ein bißchen härter. Auf die Butter hatte ich mit der Gabel ein hübsches Muster gestempelt, und den Kuchen hatte ich angeschnitten und so hingelegt, wie er immer bei Steffens im Schaufenster lag. Die restlichen Rosen hatte ich auf fünf leere Milchflaschen verteilt. Die Flaschen hatte ich vorher mit Schrankpapier umwickelt, sie sahen aus wie Vasen. Ich goß den Kaffee ein. Das Radio spielte. »Inge! Aufstehen! Geburtstag feiern!« »Ich sterbe schon vor Hunger!« hörte ich sie antworten. Ich merkte wie sie gleich darauf zwischen Wohnzimmer und Bad hin und her pendelte. Ichprobierte zwei, drei Stückchen Kuchen, ob er auch gut war. »Inge! Der Kaffee wird kalt!« »Nur noch kämmen!« Dann kam sie, blieb einen Moment in der Tür stehen. Ich wollte etwas sagen, doch ich bekam keinen Ton heraus. Ingrid war so schön. So schön hatte ich sie noch nie gesehen. »Oh, Ben«, sagte sie, »Ja, also«, ich räusperte mich, »zu deinem Geburtstag wünsche ich dir, daß du immer gesund bleibst und, ja, und daß du mich weiter lieb hast. Und einen Geburtstagskuß bekommst du auch.« Ich gab ihr einen Kuß. »Ist so einer, wie sonst auch, nicht?« »Oh nein, es war ein Geburtstagskuß«, sie lächelte, »Ben, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...« »Sollst du doch auch nicht. Hinsetzen und frühstücken!« Ich schenkte den Kaffee ein und wunderte mich, daß so viele Körner oben schwammen. Er sah aus wie Moorwasser. »Was ist denn mit dem Kaffee... hm, das ist aber komisch.« -3 8 8 -
»Du, das macht nichts, Ben, das ist nicht schlimm«, Ingrid probierte, »prima! Nicht zu stark. Wir trinken den Kaffee sonst viel zu stark. Was ist denn das? Ist das für mich?« Sie sah auf die eingewickelte Mappe. »Ja. Es ist ein Geschenk für dich.« »Ben, das mußte doch nicht sein.« »Was muß schon sein. Möchtest du zuerst ein Ei oder ein Stück Kuchen? Der Kuchen ist Klasse.« »Ein Ei.« Sie wickelte die Schreibmappe aus. Die lila Schleife kam ihr nicht bekannt vor. »Also... die ist ja toll.« »Magst du sie?« »Ja, so eine Mappe habe ich gar nicht, weißt du.« Sie schlug sie auf und sah sich jedes Fach an, las die Karte, die ich in ein Fach gesteckt hatte und lächelte. »Unser erster Geburtstag. Von Ben« stand drauf. »Ach Ben, ich bin dir so dankbar, und all die Rosen. So viele auf einmal habe ich noch nie im Leben bekommen, wann hast du die denn bloß geholt?« »Die hatte ich noch. Du mußt sie nachher mal zählen. Jede Rose ist ein Jahr, das ich noch mit dir zusammen sein möchte.« »Oh, dann werden wir sicher sehr alt zusammen«, sie lächelte wieder, legte die Schreibmappe zur Seite und klopfte auf ihr Ei. Ich sah auf ihre Hände, wie ihre Finger langsam ein Stückchen Schale nach dem anderen lösten. Ich hätte ihr auch einen Ring schenken können, dachte ich, sie trägt keinen. Ich habe auch noch nie einen Ring bei ihr gesehen. Aber was war schon ein Ring, so ein Ring wird oft geschenkt. Ich sah plötzlich die Tropfen, die auf Ingrids Hände fielen. Weinte sie? »Was ist denn... Inge? Ist doch hart, das Ei, sieben Minuten, ich...« Sie ließ das Ei auf den Teller fallen, legte den Kopf auf ihre Arme und schluchzte, und ihr ganzer Körper schüttelte sich. »Inge, heul doch nicht.« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern, »du sollst dich doch freuen, ist doch dein Geburtstag, Inge.«
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Mir tat die Brust weh, als sei mein Hemd zu eng. Ich kam mir so hilflos vor, weil sie weinte, ich konnte nichts dagegen tun. Ich puhlte ihr Ei fertig ab. Sie hob den Kopf und lächelte durch die Tränen. »Inge, oder ist es was anderes?« fragte ich vorsichtig. »Ein Kind, vielleicht?« »Ach Ben, ich benehme mich wie eine doofe Gans, du hast dir solche Mühe gegeben, und ich flenne. Mußte mal sein.« Sie lief hinaus und kehrte einen Moment später zurück. »So, jetzt wird gefrühstückt.« »Inge?« »Ja?« »Du bist die schönste und zärtlichste Frau, die ich kenne.« »Mensch, Ben.« Beim Mittagsabwasch zerbrach ich den zweiten Teller, ich war fast fertig. Ingrid meinte zwar, der hätte sowieso schon einen Sprung gehabt, doch das sagte sie nur so. Sie hatte gar nicht sehen können, welcher Teller es gewesen war.
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11 Die Rosen waren verwelkt. Wir hatten uns Schaufenster angesehen. Ingrid sah sich gerne Schaufenster an. Ich auch. Es war schön, mit ihr durch die Stadt zu bummeln. Jetzt saßen wir in einem kleinen verräucherten Cafe in der Nähe der Post und tranken französische Schokolade, die wie deutsche schmeckte. Wir waren schon oft hier gewesen. Ich mochte das Cafe und Ingrid auch. Die Einrichtung war aus dunkel getöntem Holz, vor der Theke lief eine dicke blanke Messingstange entlang, und das Flaschenregal an der Wand sah aus, wie ein alter Kaufmannsladen, mit vielen Schubfächern und Türchen. Man konnte auch Alkohol bestellen. Der Besitzer hinter der Theke war ein kleiner rundlicher Mann, der immer eine schwarze Baskenmütze trug und auf der Oberlippe ein dazu passendes Bärtchen. Er war ein sehr freundlicher Mann, und obwohl es meist sehr voll war bei ihm, machte er alles alleine. Oft mußte man eine ganze Weile warten, bis man bedient wurde, aber es rief niemand, es wurde auch niemand ungeduldig. Der Baskenwirt kam von ganz alleine. Manchmal wurde ihm die Bestellung auch von irgendeinem der Gäste gebracht, die an einer Seite der Theke standen. »Es ist gleich vier«, sagte Ingrid, »um vier bin ich verabredet, wegen des Ausweises, willst du mit? Du kannst ja im Auto warten.« Ich schüttelte den Kopf. »Setz mich an der Martinistraße ab, ich gucke noch mal ins Bad. Dauert das lange?« »Nein, nur fragen. Ich fahre anschließend nach Hause oder soll ich dich abholen?« »Ich komme zu Fuß. Vielleicht bade ich. Und du meinst, dann habe ich einen richtigen Ausweis?« »Ja. Einen richtigen falschen. Das spielt keine Rolle, den kann man ruhig überprüfen, weil er ordnungsgemäß ausgestellt ist.
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Dann bist du Hans Pahlmer und mein Bruder, lustig, nicht?« Wir verließen das Cafe. Ingrids Bruder lebte im Ausland. Er war von irgendeiner Familie adoptiert worden. Schon vor zehn Jahren oder so, hatte Ingrid gesagt. Zu jener Familie hatte sie keine Verbindung. Sie besaß eine alte Geburtsurkunde von ihrem Bruder. Er war zwei Jahre älter als ich. Eine Bekannte von Ingrid hatte Beziehungen zu einem Mann, der war beim Ordnungsamt, und der würde alles ordnen. »Hast du eben das Plakat gesehen?« »Nein, wo?« »In den Kästen. Wir sind schon vorbeigefahren«, sagte Ingrid, »Wilhelm Tell. Kennst du die Geschichte?« »Na klar. Der Obstattentäter aus der Schweiz.« »Weihnachten werden wir auch mal ins Theater gehen, ja?« »Warum Weihnachten?« »Stimmt auch wieder. Ich freue mich auf Weihnachten, Ben, weißt du das?« »Jetzt. Ich auch. Aber es dauert noch ein bißchen bis Weihnachten. Ich habe aber keine Lust, in die Kirche zu gehen.« »Auch nicht mir zuliebe?« Ich dachte nach. »Na gut.« »Das ist schön. Ist ja nicht wegen des Glaubens, Ben, ich mag diese ganze Stimmung, das Glockenläuten, alles zusammen, weißt du.« »Hm, das wissen die von der Kirche auch, deshalb machen sie ja die Stimmung. Reklame ist das.« Ingrid lachte. Sie stoppte, weil ein Auto vor uns hielt. »Ich steige hier aus, Inge, bis nachher. Ich habe nur noch eine Querstraße. Tschüs.« »Tschüs.« Sie deutete mit den Lippen einen Kuß an. »Komm nicht so spät, ich mache heute Paprikaschoten, ja?« »Dann komme ich früher zurück...« -3 9 2 -
»Schnell, die Tür zu, ich muß fahren!« Hinter Ingrid hupten die Autos. Ich warf die Tür ins Schloß, ging auf den Gehweg und sah ein Stück weiter die Lappewasch stehen, mit ihren Kindern. Sie sah mich im gleichen Augenblick. »Aber... das ist doch... Ernie! Ernie guck doch mal!« Die Lappewasch faßte den Arm des neben ihr stehenden Mannes, das war mein Onkel, er trug einen größeren Stapel Pakete, das obere klemmte er mit dem Kinn fest. Die Lappewasch schüttelte den Onkelarm und somit die Pakete. Sie verrutschten. »Paß doch auf, siehst doch, daß ich was trage«, sagte der Onkel unwillig, während er sich über das Packpapier beugte. Ich hatte einen Moment gezögert, ging jetzt schnell geradeaus an ihnen vorbei, als hätte ich sie noch nie gesehen. Ich ging zum Kaufhauseingang, aus dem die Lappewasch anscheinend gekommen waren. »Ben-ja-min! Ben-ja-min!« riefen die kleinen Waschlappen wie einen Spielreim, sie verstummten, als ich mich nicht umdrehte. »Errrnie! Nun guck doch mal schnell!« sagte die Lappewasch erneut. »Wo? Der da?« fragte der Onkel. »Ja, eben, stieg aus einem Auto!« »Was du immer hast. Wenn er das gewesen wäre, dann wäre er nicht an seinem Onkel vorbeigegangen...« Ich ging durch den fauchenden Luftstrom im Kaufhauseingang, verschwand zwischen den Leuten, blieb an einer Säule stehen. Der Onkel hatte die Pakete abgestellt, kam bis an den Eingang und machte einen langen Hals, er drehte den Kopf ein paarmal hin und her. Er hätte ebenso in eine Büchse voller Regenwürmer gucken können. Der Onkel drehte sich wieder um. Die Lappewasch redete auf ihn ein, doch er winkte ab, langsam und lahm, dann auf einmal heftig mit einem Ruck, hätte ein Tisch auf dem Gehweg gestanden, es hätte gebumst. Die Lappewasch war still, half dem Onkel, die Pakete auf den Arm zu nehmen, dann gingen sie alle zusammen über die Straße.
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Ich verließ das Kaufhaus auf der anderen Seite und überlegte, was mir ein Ausweis nützen würde, wenn ich der Lappewasch über den Weg lief. Ich war früher zu Hause, als Ingrid erwartet hatte. Es duftete nach Gebratenem. »Schön, daß du da bist. Es dauert nicht mehr lange.« »Habe sie vorhin wieder gesehen.« »Wen?« fragte Ingrid. »Sag bloß, die Waschlappen?« »Ja. Als ich ausgestiegen bin, da stand sie auf dem Gehweg, der Onkel und die kleinen Lappen auch. Sie hat mich nur einen Augenblick gesehen, ich bin gleich ins Kaufhaus. Ich glaube, der Onkel hat ihr nicht richtig geglaubt, er glotzte zwar ins Kaufhaus, aber nur, weil sie ihn losgeschickt hatte. Wenn eines Tages mal ein Bulle in der Nähe ist, dann werde ich rennen müssen, ob mit oder ohne Ausweis.« »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir woanders hinziehen«, sagte Ingrid. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Von mir aus müßte die Lappewasch wegziehen. Gibt es Pudding?« »Natürlich.« Ingrid deckte den Tisch. Wie sorgsam sie das immer machte, Löffel, Gabel an der einen Seite und Messer an der anderen, und eine Blume stand immer auf dem Tisch. Mama legte alles zusammen hin, das ging schneller. Aber die Frau vom Zweitenvatervater erst! Die legte überall einen Löffel dazu, selbst neben Bratkartoffeln. >Mein Gott, du hast immer Extrawünsche!< sagte sie dann, wenn ich was sagte. >Vom Löffel fällt wenigstens nichts runter.< >Von der Gabel auch nicht.< erwiderte ich. Sie: >Opa braucht auch nur einen Löffel!< Das sagte sie in der Hoffnung, daß ich nun auch einen Löffel nahm. Ich nahm keinen Löffel. >Ich bin kein Opa. Ich esse Bratkartoffeln mit der Gabel! Ich esse immer mit der Gabel, wenn ich denke, daß ich mit der Gabel essen will!« Sie: >Immer diese Extramanieren!< und knallt mir eine Gabel hin. Dann konnte sie richtig gehässig sein. >Ich brauche auch nie 'ne Gabel. < Ich: >Warum putzt du sie
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dann jede Woche wie 'ne Wilde?< Sie: >Damit du Bratkartoffeln essen kannst!< Dann war ich still, weil ich essen wollte. So fing es immer an, wenn ich aus der Schule kam. Wenn sie mit ihrer Bestecktheorie fertig war, hatte ich die Bratkartoffeln erst zur Hälfte weg. Zu der anderen Hälfte hörte ich, daß heute der Garten umgegraben werden müßte, daß der Vater vom zweiten Vater sich gestern abend wieder so aufgeregt hatte, weil ich eben gestern erst abends gegraben hätte und nachmittags überhaupt nicht, wo das nochmal hinführen sollte! Ich dachte dann nach, mit wem, mit ihm oder mir. Die letzten Kartoffeln schmeckten nicht mehr, ich würgte sie runter und beschloß, heute gar nichts zu tun. War ja schließlich sein Garten und nicht meiner. Bloß weg. An die Weser. Da hatte man wenigstens seine Ruhe. Da konnte ich nachdenken, ein mitgenommenes Buch lesen oder nur faul im Gras liegen und die Schiffe beobachten. Manchmal kamen ganz schöne Brummer vorbei, sie schleppten eine Kette von Lastkähnen. Ich schwamm immer an die Lastkähne heran und ließ mich stromauf mitnehmen, sprang oberhalb des Flusses wieder ins Wasser und ließ mich stromab treiben. So ein Fluß war eine gute Sache. »So, guten Appetit.« Ingrid setzte sich. »Danke.« »Warst du wieder mit deinen Gedanken unterwegs? Was hältst du Von München?« fragte sie. »München? Da essen sie viel Sauerkraut.« »Hast du nicht mal gesagt, dort wohnen Verwandte von dir?« »München nicht. Inzell oder so, da ist das. Aber die kennen mich nicht, es sind die Verwandten von meinem richtigen Vater. Als ich das letzte Mal bei ihnen war, muß ich so vier Jahre alt gewesen sein. Da ist Mama endgültig nach hier gezogen.« »Ja, aber du bist doch hier geboren!?« »Hm. Geboren bin ich hier und gemacht in Bayern, Mama ist dann wieder mit mir runter, als ich so drei oder vier war, sagt -3 9 5 -
Mama, da hätte sie erfahren, daß mein Vater wirklich gefallen ist, daß das keine Falschmeldung gewesen war. Und die Verwandten haben es auch erfahren und Mama weggegrault. Sie hat eine Abfindung gekriegt, sonst hatte sie die Hälfte erben müssen. Aber sie ist keine Bayerin, und dann wird das mit einer Abfindung gemacht. Sie hat ein paar Millionen gekriegt, da hat sie zwei Brote und einen Pott Honig gekauft, und die Millionen waren alle.« »Aber sie hätte doch klagen können!?« »Hat sie auch, aber nur so vor sich hin. Mama war froh, daß sie mit der ganzen Bagage nichts mehr zu schaffen hatte, hat sie gesagt. Der einzige, der wirklich in Ordnung gewesen ist, das war mein Vater.« »Ich glaube, ich kann sie verstehen«, sagte Ingrid nachdenklich. »Was gibt es wohl für einen Pudding?« »Pudding? Ach so«, sie lächelte, »dreimal darfst du raten.« »Vanille und Hirnbeersaft!« »Gut!« Ich schob das Fahrrad auf den Bürgersteig, trug es die Treppe hoch, über den Flur, dann eine Treppe runter und stellte es im Kellergang ab. Es war ein Herrenrad. Unter der Querstange befand sich ein langes, schwarzes Schild mit der weißen Aufschrift: »Niemöller & Sohn«. Dort arbeitete ich nun schon zwei Wochen. Ingrid hatte mir den Job besorgt. Genau genommen war es Ingrids Bekannte gewesen, die das mit dem Ausweis regeln wollte. Doch das dauerte etwas. Ich hatte die Bekannte nur einmal gesehen, es war eine dunkelhaarige Frau in einem Pelzmantel gewesen, sie fuhr einen großen Mercedes mit einem kleinen, giftigen Hund auf dem Rücksitz. Niemöller war ein prima Kerl, fand ich. So so, du bist der Hans und willst später einmal Architekt werden, hatte er gesagt, na ja, klein anfangen muß jeder mal, das weißt du ja, fährst erst mal die Baustellen ab, machst Botengänge, Zeichnungen abholen, Pausen bringen, da gibt es genug zu -3 9 6 -
tun. Du kriegst fünfzig Mark in der Woche, und später werden wir dann weitersehen, was!?« Das war alles gewesen. Niemöller & Sohn war ein Architekturbüro. Niemöller war der Sohn und hatte zwei Töchter. Das Geschäft hatte den Namen noch von früher. Niemöller hatte mich nicht einmal gefragt, woher ich kam, was ich bisher gemacht hatte. Ich war eben da und fertig. Alles weitere würde sich schon finden. Wenn er mich sah, hob er eine Hand und streckte den Daumen in die Luft. Ich grüßte ihn genauso. Manchmal fragte er auch, wie weit es an der oder der Baustelle sei, ob das Richtholz für den Schulneubau eingetroffen war. Wenn ich auf einer Baustelle war, dann achtete ich schon von selbst auf Dinge, nach denen er mich vielleicht fragen würde. Niemöller war sein eigener Bauunternehmer. Wenn es nichts zu tun gab, dann hielt ich mich im Zeichenbüro auf und sah den Zeichnern zu, die an schräggestellten Reißbrettern zeichneten, wie sie leicht mit zwei Fingern die Zeichenmaschinen versetzten. Die Bedeutung der verschiedenen Schraffuren kannte ich bereits, und heute morgen, als ich im Nebenraum war, hatte ich gehört, wie einer der Zeichner zu Niemöller sagte: »Dein neuer Stift fragt mich noch mal ein Loch in den Bauch!« »Dann laß dir gleich den Blinddarm rausnehmen«, hatte Niemöller lachend gesagt, »Hauptsache, du gibst ihm immer die richtige Antwort!« Heute hatte ich die zweiten fünfzig Mark erhalten, in einer Tüte, auf der mein Name stand. Wenn das nichts war! Hundert Mark schon, richtig verdient. Runde fünf Monate mußte ich im Heim für hundert Mark arbeiten. Und das Geld bekam man erst bei der Entlassung, damit man später etwas hatte. In Heiligenstatt hatte es gar nichts gegeben. Scheiß Heim. Ich schloß die Wohnungstür auf. Ingrid hatte Eierpfannkuchen gebacken. Mensch, das ist eine Ingrid! So eine gibt es sicher nur einmal, hm, vielleicht gibt es sie doppelt, aber die andere kann nicht so gut Eierpfannkuchen machen und Paprikaschoten und überhaupt... -3 9 7 -
»Traritrara, der Ben ist da«, trällerte sie, »ich hab auch was Schönes für dich.« »Was denn?« »Nach dem Essen.« »Ich hab auch was für dich«, ich zog eine zerknitterte Blume aus der Hemdtasche, »oha, ich glaub, ich hab sie schon heute mittag gepflückt.« Ich gab sie Ingrid. »Sie muß ins Wasser.« »Klar, die wird schon wieder, danke.« »Ah ja, ich habe noch was, hier.« Ich gab ihr den Fünfzigmarkschein. »Ben, du bist goldig«, sie drehte den Schein hin und her. »Er ist echt!« »Aber ja, es ist nur... ich brauche kein Kostgeld, ich habe die anderen Fünfzig auch noch nicht angebrochen. Wir werden das Geld sparen, einverstanden?« »Wenn du meinst.« Ich sah, daß sie einen neuen Hosenanzug trug, ich kannte alle ihre Sachen, dieser Anzug war neu. »Du hast einen neuen Anzug.« »Ja. Gefällt er dir?« »Hübsch.« »War ganz billig, im Ausverkauf. Ein Sonderangebot, weißt du.« »Hast du was drunter?« Ingrid lächelte. »Natürlich. Noch eine Hose, ein Höschen, wenn du's genau wissen willst. Möchtest du Preiselbeeren oder Blaubeeren?« »Beides. Nacheinander.« Sie sah mir beim Essen zu. »Schmecken sie?« »Ja, gut. Deshalb esse ich sie mit den Fingern. Stell dir mal vor, in der Steinzeit, ich glaube, da hättest du gar keinen Abwasch gehabt.« »Oh, laß nur, ich finde unsere Zeit ganz gut.« Ingrid hatte ihre Haare an den Seiten zu Schwänzchen zusammengebunden, es paßte so gut zu ihr, fand ich. Jetzt war sie genauso alt wie ich. Wenn ich sie kitzelte, dann lachte sie sich halbtot und warf mit -3 9 8 -
Pantoffeln und Kissen nach mir. Aber wenn sie vom Friseur kam, wenn sie eine Wolke unnahbarer fraulicher Eleganz vor sich herschob, dann war sie sechsundzwanzig. »Bist du schon satt?« »Ja.« Sie puffte mir ihre kleine Faust in die Rippen und sah mich zärtlich an. Ich merkte es an ihren Augen. Ich hatte plötzlich das Verlangen in mir, ihr Hose und Höschen runterzuziehen, trotz Eierpfannkuchenfettfinger. Ich dachte daran, daß sie, solange ich bei ihr war, abends nicht mehr weggefahren war. »Woran denkst du jetzt?« »Sag mal, Inge, hast du eigentlich viel Geld auf deinem Konto?« »Was heißt viel? Für uns beide reicht es schon, die nächste Zeit.« »Was ist nächste Zeit?« »Ich weiß auch nicht, vielleicht ein paar Jahre. Wenn wir nicht jedes Jahr zwei Mittelmeerfahrten machen. Warum fragst du? Hast du einen Wunsch?« »Nein. Ich habe daran gedacht, daß ich später ja mal mehr Geld verdiene, und dann brauchst du nie mehr los.« »Ich höre sowieso damit auf«, Ingrid lächelte. Dann wurde sie ernst. »Ich kann mir denken, was du denkst, Ben, aber ich empfinde nichts bei den anderen...« Das kam mir bekannt vor. »... bekomme Geld für die Benutzung einer Ware, so ungefähr muß man das sehen. Vielleicht finde ich auch nichts dabei, weil ich nichts empfinde, verstehst du? Wenn ich hinterher gebadet habe, dann bin ich ein ganz neuer Mensch. Natürlich muß man sich von der allgemeinen Moral freimachen, aber wer sagt denn, daß gerade diese Moral die richtige ist? Bei den Eskimos soll es eine Sitte sein, einem Gast die Frau anzubieten. Stell dir das hier mal vor! Im Aburteilen sind alle schnell bei der Sache, taugt nichts, verworfen, verkommen, diese Leute sollten sich -3 9 9 -
doch erst mal um ihre eigenen Sachen kümmern. Weißt du, die am schlechtesten über eine Sache reden, die würden sie am liebsten selbst einmal versuchen. Aber sie haben Angst, ins Gerede zu kommen. Aber mir ist das egal, verstehst du«, Ingrid schwieg, ihr Atmen war hörbar geworden. »Inge... ich habe dich lieb.« »Ach Ben«, sie setzte sich neben mich und lehnte ihren Kopf an, »Viele Menschen denken mit Wollust daran, daß es andere gibt, die schlechter sind als sie selbst, zumindest nach außen hin. Und diese nach ihrer Moral schlechten Menschen beruhigen das eigene, schlechte Gewissen. Ich habe eine ganze Reihe biederer Hausfrauen gekannt, so nennen sie sich ja, sie sind heimlich auf den Strich gegangen und haben angeschafft, und der liebe Gemahl wußte von nichts. Und die Knilche, die im Senat gegen öffentliche Bordelle wettern, sie gehen dreimal wöchentlich in die inoffiziellen Puffs und reagieren ihre Perversionen ab...« »Hast du schon mal einen Wellensittich eingefangen?« »Wie? Eingefangen?« »Na ja, ich hab dir doch gesagt, als ich in Hamburg war, die Frau sagte, sie machte das öfters.« »Ach so, ja, die. müssen noch ganz andere Dinge machen, damit die ihre Miete bezahlen können. Ich habe keinen Schein, einmal hat mich die Polizei erwischt, sie haben ein großes Protokoll aufgenommen, doch sie konnten mir nichts nachweisen. Ist schon lange her.« »Das fiel mir eben nur so ein, Inge. Weißt du, wenn wir zusammen im Bett liegen, dann sagst du immer so vieles zu mir, manchmal denke ich daran, daß du das auch jemand anders sagen könntest, dann ist mir so komisch zumute, als könnte ich nicht atmen.« »Ben, Lieber«, Ingrid küßte mich sanft auf die Schläfe, »du weißt doch, daß es nicht so ist, du weißt es. Wenn du volljährig bist, dann können sie uns sowieso den Buckel runterrutschen.« »Das dauert noch lange.« -4 0 0 -
»So lange ist das gar nicht. Zeit vergeht schnell.« »Deine Bekannte, geht die auch?« »Früher ist sie mal. Heute ist sie mit einem Fabrikanten verheiratet und hat einige Verbindungen. Hilfst du mir schnell abtrocknen?« »Klar.« »Na, dann komm. Macht dir die Arbeit bei Niemöller Spaß?« »Oh ja, ich gondel überall mit dem Rad hin, zu den Bauten, weißt du, und wenn nichts los ist, dann sitze ich im Zeichenbüro. Niemöller ist nicht verkehrt. Gestern hat er mich gefragt, ob ich nicht mal Lust hätte, ein paar Skizzen zu machen und Querschnitte und so, er würde mir schon sagen, was ich falsch mache. Da ist ein freier Tisch, den darf ich benutzen. Er sagt, ich solle alles aufzeichnen, was mir so in den Kopf kommt. Ein Reißbrett ist da auch, aber ich kann nicht mit einer Zeichenmaschine umgehen. Das muß man erlernen.« »Oh, das lernst du schon, das geht nicht alles von heute auf morgen. Laß mich mal ziehen, ich habe nasse Hände.« Ingrid machte zwei Züge aus meiner Zigarette. Ich lehnte mich zurück, ich dachte an die Fundamente einer riesigen Brücke, wie sie langsam wuchs, nur auf zwei Pfeilern, eine kühn geschwungene Betonkonstruktion. Kein Holzgestell wie am River Kwai, oh nein, freitragend! Und wenn schwere Lkws darüber fuhren, dann vibrierte sie. Oder einen Staudamm. Aus dem Beton ragt das Eisengeflecht heraus wie Borsten aus einem verfilzten Besen; dazwischen krabbelten die Arbeiter herum, scheinbar wahllos. Doch jeder hatte seine Aufgabe, jeder verrichtete etwas Bestimmtes, und wenn man näher kommt, dann hört man das Rufen und Pfeifen, mit dem sie sich untereinander verständigen. Die Baumaschinen machen Krach. Und der Damm wächst. Und hin und wieder stehe ich mit Niemöller an der einen oder der anderen Stelle, wir vergleichen Pausen und Bauabschnitte, ein Polier geht vorbei, ich kenne sie alle auf der Baustelle, >Morgen, Herr Ingenieur!< >Morgen, Morgen<, nicke ich.
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Niemöller meint: >Tja, Pahlmer, wenn die Sache so weiter vorangeht, dann sind wir im Herbst mit dem ersten Abschnitt fertig. Übrigens ist da wieder so eine Ausschreibung, eine Talsperre. Kümmern Sie sich mal drum, sagen Sie mir, was Sie davon halten...< »Wenn du weiter so auf meine Bluse starrst, ist das ganze Muster weg, hallo! Bist du wieder unterwegs?« »Ja, ein bißchen«, sagte ich etwas verlegen. »Wollen wir Sonntag nach Berlebek fahren? Zur Adlerwarte? Ich möchte mir die Vögel so gerne mal von ganz nah ansehen, du, richtig wilde haben sie da. Ich bin zwar schon mal in Jugoslawien gewesen, aber bis zur Adlerwarte hat es noch nie gereicht. Sie sind gefährlich, nicht?« »Ach wo, die nicht. Als ich klein war, bin ich oft dagewesen, mit meinem richtigen Großvater, der, der zu Mama gehört, weißt du. Wir sind quer durch den Berg gegangen, das sagt man so, wenn man durch den Wald geht, na ja, das dauerte immer eine Stunde.« »Durch den Berg?« »Nein, nicht hindurch. Durch den Wald heißt »wir gehen durch den Berg« und in den Wald gehen heißt »wir gehen in den Berg«. »Wir fahren vor Mittag los und essen da oben irgendwo, wir werden mal so richtig Spazierengehen, ich freu mich schon!« Berlebek war ein kleiner Ort, es war ein Randort der Stadt, so wie Hiddessen, Wilhelmshöhe, Heiligenkirchen und Schling. In Schling wohnten der Onkel und der Großvater. Alle diese Orte trugen die Bezeichnung »Luftkurort«. In der Stadt kostete ein Schnitzel sieben Mark und fünfzig, in einem Luftkurort dagegen acht Mark und fünfzig. Die würzige Luft wurde mitberechnet. An jedem Ortseingang stand eine große Tafel, auf der auf Luft, Ruhe, Würzigkeit und Erholung hingewiesen wurde. In Berlebek gab es eine große Zusatztafel: »Besuchen Sie die Adlerwarte! Einmalig! Wilde, freifliegende Adler über den Wipfeln des Teutoburger Waldes!« Und darunter, etwas kleiner, aber doch so groß, daß man es schon
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von weitem lesen konnte: »Bitte achten sie auf Ihre Kinder! Hunde anleinen!« Im ganzen Ort waren eine Vielzahl gefiederter Holztafelpfeile angebracht, deren Spitze immer den kürzesten Weg zur Adlerwarte anzeigte. Unter jedem dieser Richtungspfeile war ein wetterfestes Bild mit einem Adler, immer verschieden; Adler sitzend, Adler stehend, Adler liegend, Adler im Dauerlauf, Adler im Gleitflug, Adler grimmig guckend, Adler lächelnd, Adler empört, Adler schlafend, Adler mit Beute, Adler flügelschlagend, Adler ohne Beute, Adler nachdenklich und immer so weiter. Die Beute des Bilderadlers sollte ein junges Reh sein, doch wenn man sehr genau hinsah, dann konnte man den verwaschenen Stempel eines ehemaligen Jutesacks erkennen. Welches Reh trägt schon ein Brandzeichen. Unter jedem Bild stand: »Adlerwarte Berlebek«. In dem Lokal, in dem Ingrid und ich zu Mittag gegessen hatten, waren Adler auf die Teller gebrannt, auf Tassen, auf Bestecke; die Toilettenhandtücher hatten einen eingewebten Adler, das Toilettenpapier einen aufgedruckten, den Hakenschnabel ganz am Rand. An einer Wandseite des Lokals war ein riesiges Farbfoto angebracht, aus Glas, das von hinten beleuchtet wurde. Auf dem Bild stand ein Adler inmitten rotblutiger Knochen und blickte ziemlich wütend um sich, weniger, weif es ein wildes Tier war, sondern weil man ihn einfach zwischen die Knochen gestellt hatte. Es mußte auf dem Hof von Kuhle & Kuhlmann sein, eine Schlachterei in Ortsmitte, denn im Hintergrund war ein Stück Backsteinmauer zu sehen, was der Unterschrift: »Adler in freier Wildbahn« völlig widersprach. Ingrid trug ein kurzes, rotes Kleid. Es war warm. Sie hatte gemeint, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie ein gelbes oder ein grünes Kleid angezogen hätte, weil Puter doch auch so furchtbar wild würden, wenn sie rot sähen. Wir befanden uns oben auf dem Berg, auf dem Gelände der Adlerwarte, das von einem Maschendraht umgeben war. Wir passierten drei Erfrischungsbuden, eine Wegbiegung, zwei Andenkenstände, eine Erfrischungsbude, einen großen Andenkenstand und einen kleinen, dann das Lokal »Zum -4 0 3 -
Adlerhorst«. Hinter dem Lokal schlängelte sich der Weg um Kurven, zwischen angelegten Rasenflächen und Büschen entlang. Überall standen Schilder. »Füttern verboten«, »Hunde anleinen«, »Nehmen Sie Ihre Kinder an die Hand«, »Führer zwei Mark«. Zu sehen gab es noch nichts. Eintritt hatten wir schon an der ersten Bude bezahlt, dort war eine Sperre gewesen. »Ben, wollen wir einen Führer nehmen?« fragte Ingrid. Ich grinste. »Nee. Wenn wir von der anderen Seite durch den Wald gegangen wären, dann hätten wir nicht mal Eintritt zu bezahlen brauchen. Da fällt das Gelände steil ab, deshalb ist da kein Zaun. Aber an den Felsen kommt man prima hoch.« »Ach du, ich bezahle lieber.« Besucher kamen uns entgegen oder überholten uns. Dann war der erste Adler zu sehen. Er hockte trübsinnig auf einem abgesägten Baumstumpf, der etwa einen Meter hoch war. Unter dem Stumpf war eine Wasserschale in den Boden eingegraben, daneben ein Schild: »Steinadler« und darunter Steinadliges Federflugis oder so ähnlich, was die lateinische Bezeichnung war. An einem Adlerbein war eine lange dünne Kette befestigt und deren anderes Ende an dem Baumstumpf. Eine Tafel an der Rasenkante wies darauf hin, daß jene Kette einen Radius von zwei Metern erlaube und daß man besser nicht in den Bereich dieser Zone ging. »Daaa! Mamaaa! Putt Putt!« krähte ein Kleinkind und wollte unbedingt zu dem Vogel hin, streckte eine Hand aus. Doch die Mama hielt es fest. »Jürgen, nun sei doch vernünftig«, sagte sie und zu einem Nebenstehenden: »Es ist mein Einziger, wissen Sie.« Ein junger Mann lag auf dem Rasen auf dem Bauch und schoß mit einer Kamera ein Foto nach dem anderen. Er hatte ein Bein etwas angezogen und stützte sich auf den Ellenbogen auf. Nach einigen Fotos sprang er auf, warf sich ein Stückchen weiter wieder hin und fotografierte erneut. Fast jeder der Besucher trug einen Apparat in der Hand oder um den Hals. Wenn bei jedem Klicken eine Feder ausfällt, dachte ich, dann ist er bis zum Abend nackt, der Adler. -4 0 4 -
»Was für ein stolzes Tier«, sagte Ingrid, »und wie groß der ist!« »Na ja, ist ja ein Adler.« Wir bummelten inmitten des Besucherstroms weiter, sahen uns zwei angebundene Uhus an, einen Falken, einen Seeadler und zwei Enten. Die waren nicht angebunden. Dann kam ein Kondor. Er saß mit zusammengefaltetem Hals auf seinem Baumstumpf und lauschte den Erklärungen eines Adlerwartenführers, die dieser einer Gruppe von Leuten gab. Daß der Kondor ein ganz gefährlicher sei, was ja auch die aufgestellten Schilder ringsum bewiesen und die starke Kette, die aufgrund der Umweltschutzbestimmungen in der Stärke genormt wäre. Und daß sich so ein Vogel in der Hauptsache von mexikanischen Säuglingen ernähren würde, auch von solchen, die schon ein paar Wochen tot seien, denn er wäre ein Aasfresser. Und daß er nur in den Bergen hausen würde, und wenn keine Berge da wären, na ja, dann auch in der Wüste. Die Gruppe schwieg und fotografierte. Ein dünner kleiner Mann sah mit Kopfrucken hin und her, doch es gab nur zwei deutsche Frauen mit zwei deutschen Säuglingen. Er hörte wieder dem Führer zu, der weitersprach. Manchmal zog der Aasfresser ein Augenlid etwas runter und guckte durch den Spalt, wer da noch so alles stand. Von der anderen Seite kam ein Langhaardackel quer über den Rasen. Er schnüffelte hier und da und störte sich weder an den Warntafeln noch an den vogelbewe hrten Stümpfen. Der Aasfresser drehte seinen Hals ein wenig und guckte runter. Unter ihm nahm der Dackel Trinkwasser, das eigentlich nur für Adler bestimmt war, zu sich. Dann schnüffelte er sich die zwei Schritte bis zum Baumstumpf hin, guckte hoch und der Kondor runter, wobei er den Hals nach vorne krümmte. Der Dackel war ein Rüde, er hob ein Bein, strullte kurz an den Baumstumpf, der Kondor guckte weg, brachte seinen Kopf wieder in die alte Lage und zog die Lider zu. Der Dackel lief weiter. ».., und deshalb diese besonderen Sicherheitsbestimmungen«, sagte der Adlerwartenführer. Die Umstehenden grinsten. »Und nur wenn er ganz satt ist, dann tut er keiner Seele etwas, wie -4 0 5 -
Sie gerade selbst festgestellt haben. Sie, gnädige Frau«, wandte er sich an eine Hinzugekommene mit einem Kinderwagen, »Sie können jetzt unbesorgt Ihr Kleines dem Kondoris Aasfressitis anvertrauen.« Aber die Frau wollte nicht und lachte verlegen. Vielleicht hatte sie nur das eine Kind. Die Gruppe ging langsam weiter, Ingrid und ich schlossen uns an. »Da sehen Sie gerade Hermann, der von der Jagd zurückkommt!« Alle Blicke folgten dem Adlerwartenführerzeigefinger, der steil in die Luft stach. »Zahm ist der«, sagte ich zu Ingrid. Hermann hatte schon für die Adlerwarte e.V. geflogen, als ich noch zur Schule ging. Für ein Butterbrot ließ er sich ohne weiteres streicheln. Damals hatte er in regelmäßigen Zeitabständen die Schulhöfe der umliegenden Orte abgeflogen. Der Adler setzte weich auf dem Rasen auf und faltete seine Schwingen zusammen. »Hermann hat heute mittag bestimmt wieder ein oder zwei Karnickel erlegt. Er ist unser billigster Kostgänger, er versorgt sich selbst«, erklärte der Führer, »er darf deshalb zu bestimmten Zeiten fliegen, wenn die Bewohner der Umgegend zu Hause sind. Manchmal ist er natürlich etwas scheu«, der Adler verschwand zwischen den Büschen, »aber Menschen, die er gut kennt, die dürfen ihn sogar anfassen. Und das ist Elli, unsere Elster...« Als wir nach Hause fuhren, ging die Sonne unter. »Ben?« »Hm?« »Es war ein herrlicher Tag heute, weißt du das?« »Ja.« Ich lehnte meinen Kopf an Ingrids Schulter. Wir waren anschließend quer durch den Wald gelaufen. Ingrid lief barfuß. Sie fand es schön, die Fichtennadeln unter den Füßen zu fühlen. Wir hatten Versteck gespielt, es war, wie wenn wir uns schon jahrelang kannten. Wenn ich sie fand, dann lachte sie so hell und unbeschwert, es hallte von den Bäumen wider. Ich hatte mir vorgestellt, daß es genauso klingen müßte, wenn man
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gläserne Tropfen über die kurzen Saiten einer schräg gestellten Harfe schüttet. »Noch Kaffee?« Ingrid füllte meine Tasse nach. Nach dem Frühstück saßen wir immer noch eine Weile herum und klönten, bevor ich das Rad aus dem Keller holte und zu Niemöller fuhr. Um neun mußte ich dort sein, jetzt war es erst halb. Mit dem Rad waren es nur zehn Minuten. Sie steckte sich eine Zigarette an und hustete nach dem ersten Zug. »Puh, in den falschen Hals gekriegt«, sagte sie, »hast du schon sehr früh mit Rauchen angefangen?« »Nein, ich war schon aus der Schule, ich war vierzehn, fast. Im Heim raucht jeder.« »Viele sagen, daß das Rauchen schädlich sei, ich habe mal gelesen, in Amerika ist ein Mann hundertundzwei Jahre alt geworden bei ein und derselben Zigarettenmarke. Blöd, nicht? Als Nichtraucher wäre er doch sicher auch so alt geworden. Magst du die neue Topfblume, dort links? Habe ich gestern mitgebracht, sie blüht nur einmal im Jahr, aber dafür vier Wochen lang, ich mag die Farbe so gerne.« »Ja, mag ich.« Ich dachte daran, wie sehr Ingrid sich immer über Blumen freute, die ich ihr mitbrachte. Manchmal war es nur eine ganz einfache gewesen, eine Kornblume oder eine Butterblume, die ich hinter einer Baubaracke gefunden hatte und die schon arg zerknittert war, wenn ich sie Ingrid am Abend gegeben hatte. Sie stellte sie dann in eine kleine Vase, und erst wenn die Blume ganz verwelkt war und ich eine neue mitbrachte, warf sie sie weg. »Ich glaube, ich muß los.« Ich sah zur Uhr. Es klingelte an der Wohnungstür. »Nanu, wer kann das denn sein?« Ingrid sah mich verwundert an. Ich dachte das gleiche. »Weiß nicht.« Es klingelte erneut, diesmal anhaltend, zweimal, dreimal hintereinander. »Inge! Bullen!«
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»Ja? Meinst du?« Sie sprang auf und räumte schnell das Geschirr weg, schob es wahllos übereinander in den Schrank. Solange ich jetzt bei Ingrid war, hatte es erst zweimal geklingelt. Abends. Beide Male war es ihre Bekannte, die dunkelhaarige Frau gewesen. Sie kann es jetzt ja auch sein, dachte ich, ich wußte aber, daß es nicht so war. »Leg dich in die Nische hinter der Couch«, sagte Ingrid leise. »Nein, ich nehme das Badezimmer, mach das Fenster hinter mir zu.« Es klingelte. »Moment« rief sie. Ich lief auf Socken ins Bad. Die Feuerleiter war eine Armlänge neben dem Fenster, und da die Flügel sich nach innen öffnen ließen, war es sehr einfach. Ich stieg die wenigen rostigen Sprossen hoch bis zum Dach. Unter mir schloß Ingrid das Fenster. Oben war ein breiter zinkverkleideter Rand, dann begannen die Dachpfannen. Ich kroch bis zum ersten Dachfenster, hob es hoch, es war nicht verriegelt, ich kletterte rein, auf den Boden. Ein Stück neben mir ragte ein viereckiges Blechrohr aus dem Fußboden, es reichte nach oben durch die Pfannen hindurch. In Bauchhöhe befand sich eine Klappe mit einem Riegel. Der Luftabzug vom Bad. Ein gleiches Rohr etwas weiter, es gehörte anscheinend zur Küche. Ich öffnete die Klappe und kauerte mich hin. Eine Tür schlug unten. Stimmen. Ich konnte sie nicht verstehen. Dann hörte ich Ingrid rufen: »... lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen!« »Aber Süße, du bist ja richtig prüde«, vernahm ich jetzt eine Männerstimme, »wenn du sonst auch so bist, dann kannst du aber nichts verdienen. Du hast zwar kein Bäckerbuch, doch die Augen des Gesetzes sehen überall, das weißt du ja.« »Ich werde mich über Sie beschweren! Und lassen Sie gefälligst meine Schubladen in Ruhe! Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Und für was überhaupt!?« Ein schurrendes Geräusch war zu hören. -4 0 8 -
»Das nicht, du holdes Kind. Aber wenn wir deine Burg auf den Kopf stellen wollen, dann machen wir das so, die Genehmigung reichen wir dann nach. Aber deine Klamotten interessieren uns nicht, uns interessiert, ob du einen Holberg kennst. Sagt dir der Name was?« Ingrid lachte spöttisch. »Ach! Weil Sie sich für irgend jemand interessieren, kommen Sie in meine Wohnung gestürzt, reißen meine Schubladen auf und beleidigen mich noch obendrein?« Schweigen. »Daß wir nicht wegen deiner langen Beine gekommen sind, das kannst du dir doch wohl denken«, sagte eine andere Männerstimme. »Ich kenne ungefähr fünfzigtausend, die Holmann heißen. Welchen wollen Sie denn nun haben?« »Werd nicht frech, Puppe, wir können auch andere Seiten aufziehen!« Über meinen Rücken lief es heiß, kalt, heiß, dann wieder kalt. Scheißbullen, dreckige! »Ich will Ihnen was sagen, wenn Sie nicht augenblicklich meine Wohnung verlassen, dann schreie ich um Hilfe! Das wollen wir doch mal sehen!« »Na gut, Fräulein Pahlmer. Eine Zeugin hat gesehen, wie ein junger Mann aus Ihrem Auto gestiegen ist. Vor einigen Wochen, aller Wahrscheinlichkeit war das der Neffe der Zeugin. Er ist aus einem Fürsorgeheim ausgebrochen. Wir sind hier, um Sie zu der Sache zu hören. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Nichts. Aber ich bekomme gleich einen Lachkrampf«, erwiderte Ingrid. Schweigen. »Naaaa?« Ein Bulle. »Was naaaa?« »Na, was du zu sagen hast!« Ein Bulle. »Wie heißt die Zeugin denn?« »Wie die heißt? Was tut denn das zur Sache. Krüger heißt sie.« »Gut, dann möchte ich hiermit Anzeige gegen eine Frau Krüger erstatten«, sagte Ingrid, »wegen falscher Anschuldigung, -4 0 9 -
Verleumdung, was es genau ist, wird Ihnen mein Anwalt mitteilen. Die Anzeige nehmen Sie aber bitte gleich auf!« »Oho, du gehst aber ran.« Ein Bulle. »Übrigens nehme ich hin und wieder mal einen Anhalter mit, ohne daß der sich vorstellt. Außerdem war ich vor einigen Wochen, wie Sie sagen, im Urlaub. Und auch wenn ich einen Holmann kennen würde, dann hätte ich es Ihnen nicht gesagt!« »Vielleicht hat die Krügersche auch vor lauter Neffen ihren eigenen nicht gesehen«, ließ sich der erste Bulle vernehmen. Er meinte wohl seinen Kollegen. »Ihr Mann hätte ihn ja schließlich auch sehen müssen, aber der sagte ja, seine Frau sähe öfters was, was er nicht sähe. Junge Leute sind ja heutzutage manchmal nicht zu unterscheiden.« »Sie haben also nichts dazu zu sagen?« »Ich habe mich doch wohl klar genug ausgedrückt! Ich erstatte hiermit Anzeige gegen diese Krüger!« »Also passen Sie auf, wir werden die Krüger noch mal befragen, und so wie ich die Dinge sehe, wird sie ihre Behauptungen zurücknehmen.« »Ich verstehe zwar nicht, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat«, sagte Ingrid, »aber ich lasse mir das auf keinen Fall bieten!« »Ihr Bengel, also ihr Neffe, der ist im Sommer aus irgendeinem Erziehungsheim ausgebrochen. Wir sind erst durch die Tante aufmerksam geworden. Und er soll wieder rein in die Anstalt. Wofür werden Anstalten schließlich gebaut.« »Also Puppe, mach's gut.« Ich hörte, wie sie auf den Flur gingen, wie die Tür zuschlug. Kurze Zeit später schloß Ingrid die Bodentür auf. »Ben?« »Ja, ich bin hier.« »Ben, es waren tatsächlich welche. Jetzt sind sie weg.« »Ich weiß, ich habe alles mitgehört, durch den Luftschacht. Mistkerle!«
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»Laß doch. Ich habe gar nicht hingehört. Die kommen auch nicht wieder.« Wir gingen nach unten. »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir woanders hinziehen, Ben?« Ich nahm sie in die Arme. »Ich hab dich lieb.« »Ich dich auch. Wenn wir deine Papiere haben, dann ziehen wir weg, ganz bestimmt.« »Ja.« »Oh, halb zehn gleich, du mußt doch los!« Als ich das Rad aus dem Keller schob, hatte ich die Bullen fast vergessen. Unterwegs dachte ich daran, daß ja auch einer mal in der Nähe stehen konnte, den Eingang beobachten. Aber viel nützte es nicht, es wohnten ja auch andere Familien dort. Ein Bild hatten die Bullen nicht von mir. Außerdem haben sie der Lappewasch nicht richtig geglaubt. Ingrid hat gut die Nerven behalten. Wir hätten ja auch nicht zu öffnen brauchen. Aber dann wären sie ein anderes Mal wiedergekommen. Bullen sind hartnäckig. München ist groß. Später einmal werde ich die Inge heiraten. Was machte das schon, wenn ich mit einundzwanzig wieder Hofberg hieß. Gar nichts. Ingrid meinte auch, was ich einmal gelernt hätte, das könnte mir niemand mehr wegnehmen, und so eine Prüfung konnte man nachmachen. Schade, mit Niemöller kam man so gut aus. Heute komme ich das erste Mal zu spät, wegen der blöden Bullen, wegen der Lappewasch! Was kümmerte es die überhaupt! Nicht mal eine echte Verwandte ist sie. Zu den Bullen rennen, das kann sie. Als wenn ich ein Schwerverbrecher wäre. Manchmal ist alles wie ein Traum. Man träumt sich von einem Tag zum anderen, und wenn man aufwacht, ist man tot. Klingt richtig philosophisch. Werde Niemöller sagen, daß ich die Zeit verschlafen habe. Dann grinst er bestimmt und sagt, daß ihm das auch schon passiert wäre. Freitags war bei Niemöller & Co. um halb vier Feierabend. Eigentlich schon um drei Uhr, weil dann auf den -4 1 1 -
Baustellen niemand mehr anzutreffen war. Im Zeichenbüro wurden die Reißbretter mit weißen Tüchern abgedeckt, man klönte noch ein bißchen, wünschte sich ein angenehmes Wochenende, und wenn die letzten weggingen, war es halb vier. Freitags ließ ich das Rad immer bei Niemöller stehen, weil Ingrid mich dort abholte. Wir kauften dann zusammen ein und tranken anschließend bei Steffens eine Tasse Kaffee und aßen Kuchen. Meist war es immer sieben Uhr, ehe wir zu Hause eintrafen. Beim Einkaufen schob ich den Drahtwagen, und Ingrid suchte aus Sie wußte immer, was fehlte, was wir brauchten. >Halt, Ben, hier ist der Zucker. Und eine Tafel Marzipanschokolade für dich! Und was darf ich mir heute wünschen?< >Alles.< >Gut, eine Rolle Drops, aber die sauren<, sagte sie dann und lachte verschmitzt. >Heute nachmittag gehe ich zum Friseur, und um Punkt vier treffen wir uns am Theater, ich schaffe es nicht eher, du weißt ja, Friseur! Aber dafür bin ich wieder wie neu, gut?< hatte sie heute morgen gesagt. >Du bist immer wie neu, ein Friseur kann daran nichts ändern, ich werde mich an der Schloßparkhaltestelle auf die Bank setzen und warten«, hatte ich erwidert. Dort saß ich jetzt seit Viertel vor vier und beobachtete die Leute, die aus der Straßenbahn aus- und einstiegen. Gegenüber war das Theater. Die hohen dicken Säulen erinnerten mich immer an Elefanten. Das Theater war ein riesiger Bau und hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Elefanten. Doch die Steine und die Fassade waren grau, elefantengrau, und die Säulen waren Elefantensäulen. Acht Minuten nach vier kam Ingrid. Ich erkannte den hellblauen VW schon von weitem in der Autoschlange, die aus dem Stadtzentrum kroch. Ich stand auf und stellte mich an die Kante des Bürgersteigs, Ingrid stoppte auf der anderen Seite, um den Gegenverkehr vorbeizulassen. Sie sah zu mir herüber, spitzte ihren Mund zu einem Kuß und winkte. Ich auch. Eine neue Straßenbahn hielt, und die Leute an der Haltestelle stiegen ein. Ingrid wendete. -4 1 2 -
Dann geschah alles so schnell, wie man die Augen schließt und wieder öffnet; ich mußte an eine Libelle denken, die flirrend in der Luft still zu stehen scheint, die plötzlich ruckartig ihre Position verändert. Die Straße vor dem Theater war ziemlich breit. Um an meine Bürgersteigkante zu kommen, mußte Ingrid über die Straßenbahnschienen vor der Bahn, deren hydraulische Türen sich schlössen. Der Mann an der Kurbel sah das und gab ihr ein Handzeichen, daß sie ruhig fahren solle. Ingrid winkte, bedankte sich, sie konnte nicht den Lkw sehen, der zwischen Bahn und Bürgersteig angefahren kam. Vielleicht hatte der Fahrer schon von weitem gesehen, wie die letzten Leute eingestiegen waren, hatte sich ausgerechnet, daß er in eins durchfahren konnte, ohne anzuhalten, weil die Bahn abfahren mußte. Es gab ein krachendes Geräusch, ein kreischendes. Der VW wurde wie ein Pappauto zusammengedrückt, unter die bullige Stoßstange des Lastwagens, der ihn vor sich herschob, erst ein Stück weiter kam er zurn Stehen. Doch das Geräusch hält an, es ist so laut, daß ich meine, mein Kopf platzt auseinander. Menschen quellen an mir vorbei und laufen zu der Stelle hin, eilig, wichtigtuerisch und gierig, wie eine Schar Tauben, in deren Mitte man ein Stück Brot geworfen hat. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht vor dem Geräusch fliehen, und die Tauben schwimmen gläsern und flattern umher. Inge...Inge... Plötzlich ist das Geräusch fort aus meinem Kopf: Ich höre, wie sie alle durcheinander rufen, wie Autos hupen, der Sirenenton eines Unfallwagens. Meine Beine lassen sich wieder bewegen, links, rechts, links, rechts, Stolpern, ich laufe, linksrechtslinksrechtslinksrechts... Ich schiebe mich durch die Menge. Das Auto schaut nur noch ein wenig unter dem Lkw hervor, der jetzt zurücksetzt, es knirscht. Blau abgeblättertes, verbeultes Blech, das Dach bis auf die Türbrüstung niedergequetscht, bis auf den weißen Arm, der -4 1 3 -
über der Türkante hängt, manchmal von einem der Unfallwagenmänner verdeckt wird. »Weitergehn! So gehn Sie doch weiter! Weitergehn, meine Herrschaften! Weitergehn!« Ein zweiter Unfallwagen kommt, die Fahrer reden miteinander, der Wagen fährt an den Straßenrand. Ein Mann im weißen Kittel ist aus dem Haus schräg gegenüber gekommen. Er läuft. Es ist wie eine lautlose Szene vor dem Theater. Dort wo der Lastwagen gestanden hat, laufen dicke Kreidestriche über das Pflaster, sie klammern den blauen Blechhaufen ein, wie eine Zange. Schneidbrenner leuchten bläulich. Einer der Männer stellt das herausgebrannte Unterteil der Tür zur Seite, es fällt um, bleibt mit der rot gesprenkelten ehemals weißen Innenseite nach oben liegen. Schneidbrenner leuchten bläulich. Eine blauweiße Handtasche wird weitergereicht, zu einem Polizi-sten. Neben einem Polizeiauto hält ein Milchpalmenscheibenauto Zwei Männer steigen aus. Sie öffnen die hintere Tür und ziehen eine übergroße Brottrommel heraus, sie stellen sie neben die Schneidbrennermänner und haken den Deckel ab. »Weitergehn! So gehn Sie doch weiter! Weitergehn!« Ich bewege meine Füße. Je weiter ich mich von der Stelle entferne desto mehr höre ich wieder. Anfahrende Motoren, Hupen, das Ping-Ping-Ping einer Straßenbahn, das knisternde Lecken des Stromabnehmers an der Hochspannungsleitung, gerade hier an der Schloßparkstraße ist das ein paarmal hintereinander zu hören, weil mehrere Leitungen abzweigen. Wenn es dunkel war, nachts, erhellten die bläulichen Blitze die riesige Front des Theaters, die wuchtigen Säulen und machten ein Fabeltier daraus. Die Schwäne zockeln eine Weile hinter mir her. Sie machen das bei jedem, der dicht am Graben entlanggeht, um zu prüfen, ob es was zum Fressen gibt. An der Konditorei Steffens sitzen ein paar Leute vor der Tür unter der Markise und rauchen kaffeetrinkend und -4 1 4 -
kuchenessend. Vor dem Friseur nehme ich die schmale Passage und komme auf die Schmiedestraße, sie ist für den Autoverkehr gesperrt, damit die Leute in Ruhe einkaufen können. Der Selbstbedienungsladen, in dem wir immer einkaufen, liegt in der Mitte der Straße. Ich nehme mir einen der blanken Drahtwagen, schiebe ihn vor mir her und kaufe. Zum Wochenende kaufen wir immer allerlei ein. >Oh Ben, Mehl! Wir haben Mehl vergessen! Warte, fahr noch einmal zurück auf die andere Seite.< Das Mehl mit der gelben Ähre an der Tüte, wo... aha, da ist es ja. Und Drops, die sauren. Ich lege die Sachen oben auf den Wagen, doch sie rutschen immer wieder runter. >WolIen wir ein Schwarzbrot mitnehmen? Klar! Weintrauben, ich mache heute abend mal wieder diese Häppchen wie neulich, du magst sie, ich weiß es, du willst es nur nicht sagen.< Ja, ich mag sie. Viereckig, dreieckig, ein Käsewürfel, eine Traube und eine Salzstange oder ein Stäbchen. Salzstange ist besser, die kann man mitessen, man muß vorher nur ein kleines Loch bohren, sonst bricht sie ab. >Du, lauf noch mal schnell nach hinten und bring Erdnüsse mit. Und dann liest du mir wieder etwas vor, ja?< Hmhm, Streichhölzer, Zucker, Drops, wo sind denn... »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« fragt die Verkäuferin. »Ja. Ja, ich habe Drops vergessen, ich kann sie nicht finden, die sauren, die mit der angeschnittenen Zitrone, ja, ja, die sind es.« Die Verkäuferin legt mir eine Rolle auf den Wagen. Sie rutscht nach unten unter die eingekauften Sachen. »Noch eine bitte, ich möchte noch eine haben.« Die Kassiererin an der Kasse nimmt Stück für Stück aus dem Wagen, registriert und läßt die Sachen in die Mulde hinter der Sperre rutschen, sagt etwas. Ich lege ihr den Fünfzigmarkschein hin, nehme das Kleingeld, das der Kassenautomat in eine Schale spuckt.
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Wo ist denn... die große Tasche, wir haben die große Tasche vergessen, warte, ich hole sie eben... sie wird im Auto sein... Ich bin unter den letzten und gehe zum Ausgang. »Hallo! Sie! Wollen Sie Ihre Sachen nicht mitnehmen!« Ich gehe schneller. »Hallo!?« Auf der Straße laufe ich. Es regnet gleichmäßig Fäden. Die Leute gehen dicht an den Vorderfronten der Läden entlang. Einige schimpfen, weil ich an ihnen vorbei durch die Pfützen laufe und sie bespritze. Ich erreiche den Markt. Ich laufe mit angewinkelten Armen zwischen die Autos auf der Kreuzung. Eine Hupe blökt, noch eine. Bremsen quietschen, wie wenn man mit dem angefeuchteten Finger über eine Scheibe fährt. Auf der anderen Straßenseite laufe ich langsamer, immer dicht an der Gehsteigkante entlang, die vollkommen frei ist, manchmal um einen Hydranten, um einen Fahrradständer herum. Die Menschen drängen sich alle an der Schloßparkmauer, weil die Autos Wasserfahnen werfen. An der Kreuzung biege ich ab. Die Straße verläuft breit und schnurgerade, macht einen leichten Knick, wieder gerade. An dem Knick ist das Theater, ich komme immer näher. Ich kann nicht mehr atmen, das unbarmherzige Würgen wird so stark, daß vor meinen Augen gleißende Streifen sind, kleine Punkte, die größer werden und blendend platzen, ich habe ein Gefühl, die Straße entlang zu taumeln. Ich rudere mit den Armen in der Luft herum, ich verliere immer wieder das Gleichgewicht, die Menschen schwanken und kreischen. Doch ich laufe ganz normal. Ich laufe an der Stelle mit den Kreidestrichen vorbei, sie sind durch den Regen verwischt, auf der Ladefläche eines Abschleppwagens hängt ein unförmiger blauer Klumpen halb an einem Hebekran, ein Polizeiauto, eine Gruppe Menschen, die auf die nächste Bahn warten. An der Post biege ich wieder ab. In meinen Ohren braust es, macht den Verkehrslärm unhörbar. -4 1 6 -
Gehweg. Straße. Kreuzung. Straße. Gehweg. Allee. Straße. Allee. Gehweg. Hinter der Musikakademie ist die Stadt so gut wie zu Ende. Die Rollschuhbahn, eine Künstlerkneipe, ein großes Kino: >Ben, VOM WINDE VERWEHT, den sehen wir uns an. Im Regina spielen sie den nächste Woche. Ich finde, das ist das beste Kino in der Stadt, so ein bißchen verräuchertes Plüsch, richtig gemütlich, nicht so ein kahler Kunststoffkasten...< Zur Linken beginnt der Wald. Ich laufe neben der Straße auf dem weichen Weg bis zur Mühle, da ist die letzte Haltestelle vor dem Depot. Ich biege ab und laufe in den Wald, zwischen die Buchen, bis es ganz still ist, dann gehe ich im Schritt, stolpere, falle hin, und das Aufstehen fällt mir schwer, ich bleibe an einem Baum sitzen. Ich merke, daß ich weine. Ein Mann weint nicht! >Doch Ben, auch Männer müssen weinen. Wenn ein Mann weint, dann gibt es einen sehr wichtigen Grund, dann weiß er sich nicht anders zu helfen. Aber deshalb ist er trotzdem ein Mann, gerade deshalb.< Es läßt sich nicht unterdrücken. Die Tränen laufen mir warm aus den Augen. Ich stehe auf und gehe weiter, sehe angestrengt nach vorne, als könne dort etwas passieren, was ich nicht versäumen darf, was ich sehen muß, doch bei jedem Schritt wanken die Stämme, werden Büsche und Äste glasig, ich muß die Augen schließen, wieder öffnen, um sehen zu können. -4 1 7 -
Es ist schon eine Weile dunkel. Die Beine tun mir weh, aber ich kann nicht stehenbleiben, ich stolpere immer öfter. Es nieselt weich durch das Blätterdach. Das Unterholz knackt und bricht. Ich gehe an mannshohen Schonungen vorbei. Es ist Wind aufgekommen. Die Tannen bewegen sich, sie sehen aus wie eine dichtgedrängte Menschenmenge. »Weitergehn! So gehn sie doch weiter! Weitergehn!« raunen sie, sagen sie, rufen sie! Von überall her vernehme ich es, durch das Keuchen des Windes, aus dem Ächzen alter Äste. Ich versuche erneut zu laufen, in die Tannen hinein, ich stoße sie auseinander und dränge mich durch ihre Zweige, meine Füße verhaspeln sich, ich falle hin und krieche weiter und bleibe nach Atem ringend unter Zweigen liegen. Jetzt ist alles still. Am Morgen ist der Himmel verhangen. Ich sehe zur Uhr. Es ist Nachmittag. Ich bleibe einfach liegen. Die Mulde unter mir ist naß, und von oben tropft es regelmäßig. Meine Beine frieren. Ich ziehe sie unter den Körper. Die Zigaretten in meiner Hosentasche sind feucht, doch ich finde eine, die sich anzünden läßt, versuche mich noch mehr einzurollen, weil ich jetzt überall friere. Ich krieche unter der Tanne hervor, stehe auf. Die Bewegungen treiben mir den Schweiß aus den Poren. Ich ziehe meine Jacke aus und öffne das Hemd bis zum Bauch. Als es dunkelte, war ich an einer Ortschaft. Es war der Adlerwartenluftkurort. Ich kaufte mir an einem Kiosk eine Schachtel Zigaretten und eine Tüte Kekse und ging wieder in den Wald. ES WAR DUNKEL. AUF HOLBERGS TISCHCHEN neben dem Bett brannte eine kleine Lampe, die das Zimmer nicht ausleuchtete. Er konnte aber trotzdem alle Gegenstände erkennen, weil durch die verglaste Wand zum Flur hin etwas Licht durch die Vorhänge fiel. Schwester Elisabeth hatte Nachtdienst. Sie kam immer zuerst zu ihm, wenn ihr Dienst begann. Er hatte jedenfalls das Gefühl, daß es so war. Er -4 1 8 -
überlegte, wieviele Tage er schon hier war, zehn oder elf, er wußte es nicht genau. Er hatte erst einmal in einem Krankenhaus gelegen. Nicht in einer Klinik. In einem Krankenhaus, in einem gewöhnlichen, in einem Lazarett. Eine Klinik war etwas Besonderes, bei einer Klinik setzte man gute Ärzte, gute Behandlung und Krankenzimmer voraus. Bei einem Lazarett nicht. Der Name Lazarett erinnerte an Krankensäle, an Ärzte, die auch mal ein Besteck im Bauch eines Patienten liegenlassen konnten, es erinnerte an Feldbetten, Notdürftigkeit und Eile. Lazarett war eine gewöhnliche Sache, eine gemeine, ein gemeines Krankenhaus, in dem jeder behandelt werden mußte. Damals war er gerade sechzehn gewesen. Die Bullen, die ihn verfolgten, hatten sich nicht lange bei der Vorrede aufgehalten. Komplizierter Schußbruch des rechten Oberschenkels. Der Lazarettaufenthalt hatte fast fünf Monate gedauert. In dem Lazarett hatte er damals fingerlange Kakerlaken kennengelernt, fingerhohen Dreck und gichtfingerige Mörder. Schwester Elisabeth kam herein. »Bist du nicht müde?« frage sie. »Nein, ich schlafe tagsüber so viel, ich glaube, ich verschlafe den ganzen Tag.« »Das ist ein Zeichen der Gesundung, jeder Arzt wird das bestätigen.« »Und Wachsein macht krank.« »Sei nicht so sarkastisch.« Sie fühlte seinen Puls. »Eine Kollegin wird mich gleich eine Weile lang ablösen. Sei ein bißchen nett zu ihr. Sie möchte dir so gerne helfen. Dein Puls ist in Ordnung, du hast es jetzt geschafft.« »Sind die Typen noch da?« »Natürlich. Du bist der erste Patient bei uns, der seine Leibwache vor der Tür sitzen hat. Es wird aber noch ein Weilchen dauern, bis du wieder laufen kannst. Die Aufpasser wissen es vom Arzt.« »Kannst du mir etwas zum Trinken bringen?« »Natürlich, kommt gleich.« -4 1 9 -
Aufpasser, dachte Holberg, damit ich nicht abhaue. Wenn das so einfach wäre. Das Abhauen vielleicht, irgendeine Gelegenheit gab es immer mal, aber dann. Ich kann nicht mein ganzes Leben lang abhauen, ich laufe im Kreis, ich beginne an einem Punkt, laufe los und dann bin ich wieder dort, wo ich begonnen habe, wo ich jetzt bin; ein Teufelskreis. Eine andere Schwester betrat in diesem Augenblick das Zimmer. Holberg sah es an dem Häubchen, das sie trug. Der Lichtkreis der Lampe fiel auf ihr Gesicht, auf ihre Haare, sie waren blond und kurz. »Marion...« Er schloß die Augen, öffnete sie wieder. Es war Marion. Sie stand neben dem Bett. »Ich bringe diese Saft«, sagte sie und lächelte. Sie stellte das Glas ab und sah zur Tür. Dann beugte sie sich über ihn, er fühlte ihre Lippen auf seiner Stirn. »Ich bin eine shlechte Shwester, at jeg kommer for sent, hm, wie sagt man das in tysk..., daß ich komme allzu spät. Es war ein bischen shwierig zu finden wo du bist, aber nun bin ich da.« Sie setzte sich in den Stuhl neben dem Bett und nahm seine Hand, streichelte sie. Er sah sie an, sog ihr Lächeln in sich auf, dieses Lächeln, das er so liebte, das ihn aufgerichtet hatte, wenn er mal »down« gewesen war, ohne daß sie es bemerkt hatte. Beim Lächeln konnte man ihre weißen, spitzen Eckzähne sehen. Er hatte ihr gesagt, daß ihn das an ein kleines, wildes Raubtier erinnern würde und erklärt, was das war. Sie wußte nicht, was ein Raubtier war. >Ist es eine kleine Kaninschen? In Danmark es gibt nur kleine Kaninschen!< »Marion, es ist alles zu schwer...« »Du mußt nicht sprechen, wir haben so viel zueinander gesagt, you remember, what does it mean in dansk...« »Jeg elske dig.« »Oh, ich wußte das, du bist ein shlauer Junge.« Es war wunderbar, ihr zuzuhören. Sie gab sich immer solche Mühe, wenn sie >sch< oder >schw< aussprach, aber es klappte nur selten. -4 2 0 -
»Ich kann nicht bei dir sehr lange bleiben, dear, Shwester Elisabeth hat es so gemacht, daß wir uns sehen. Aber ich werde immer wieder kommen, du mußt vertrauen auf mich, wir zusammen schaffen alles, verstehst du das!« Holberg lächelte. Seine Brust schmerzte, es war nicht von der Operation, es war ein anderer Schmerz. Er schloß die Augen und fühlte ihre Nähe, Marions Nähe. »Es ist sehr gut, daß du da bist«, sagte er nach einer Weile »Ja, sehr sehr gut.« Bei Marion war >sehr sehr gut< die höchste Steigerung. »Du mußt shlafen. Ich bin jetzt deine Krankenschwester, und du mußt hören, was sie zu sagen hat.« »Ich möchte dich aber ansehen.« Er nickte manchmal ein. Wenn er die Augen öffnete, saß sie unverändert da und sah ihn an. Der Platz neben dem Bett war leer. Schwester Elisabeth befand sich im Zimmer. »Sie wollte dich nicht wecken«, sagte sie, kam ans Bett und setzte sich, »sie fliegt in zwei Stunden zurück. Sie ist eine großartige Frau. Ich bin sicher, daß ihr es zusammen schaffen werdet. Du liebst sie sehr?« Holberg dachte nach. »Ja.« »Warum hast du mir dann so wenig von ihr erzählt?« »Ich kenne dich nicht. Ich kenne dich erst ein paar Tage.« Elisabeth schwieg. »Du hast recht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich möchte dir danken, daß du sie hier hereingebracht hast.« »Es war nicht schwer. Die Bewacher kennen sie nicht.« »Du hast deinen Job auf's Spiel gesetzt.« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich hatte es aber dennoch getan. Ich hoffe, daß man dir eine Chance gibt.« »Was weißt du von einer Chance.«
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»Oh, es wird einiges getan. Ich habe mich in diesen paar Tagen unserer Bekanntschaft ein bißchen informiert, über Strafvollzug, weißt du.« »Ja, und du hast festgestellt, wieviel doch im Grunde genommen für die Resozialisation getan wird.« »Ja. Hier in der Stadt ist ein Arbeitskreis...« »Ja, das hat man jetzt in allen Städten, das ist in.« »Warum sprichst du so verbittert?« »Das kann ich dir nicht mit zwei Sätzen sagen. Eine Chance. Ein Richter sieht eine Chance darin, daß er anstatt fünfzehn Jahre zehn Jahre verhängt. Und mit diesen zehn Jahren mußt du leben. Oder krepieren. Wenn du lebst..., du mußt dir das wie einen Tausendfüßler vorstellen, jede Woche wird ihm ein Bein abgehackt, das ist Vorschrift, für jede menschliche Regung wird dir auch ein Bein abgehackt. Nach acht Jahren oder auch nach neun schickt man dich wieder raus. Dann versuche zu laufen. Du hast neunhundert Mark in der Tasche, es sind nicht einmal die Zinsen irgendwelcher Schulden. Eine Wohnung bekommst du nicht. Wer bezahlt die Mietvorauszahlung? Du nimmst dir irgendwo ein möbliertes Zimmer, du darfst niemandem sagen, woher du kommst. Aber es dauert in der Regel nicht sehr lange, dann weiß deine Umgebung woher du kommst. Dann weiß es auch dein Arbeitgeber. Und dann suchst du dir was Neues, weil du hoffst. Weil du meinst, du hast deine Strafe verbüßt. Aber du mußt dir wieder was Neues suchen. Und dann gehst du dorthin, wo niemand Anstoß daran nimmt, daß du mal gesessen hast. Was macht man in diesen Kreisen, die sich von Ungesetzlichkeiten über Wasser halten? Man heult mit den Wölfen.« Holberg schwieg. Schwester Elisabeth erwiderte nichts. Die Stille im Zimmer war bedrückend. Irgendwo fuhr ein Auto an, es war nur als ein leises Grummeln zu hören. Du wirst ganz normal in so ein Haus eingeliefert«, fuhr er langsam fort, »und mit einem normalen Verstand erkennst du, daß du in absehbarer Zeit ein Tier sein wirst, ein Tier heißt in diesem Fall ein Mensch ohne Meinung, ohne Selbständigkeit, -4 2 2 -
ohne Selbstvertrauen, du wirst zum Befehlsempfänger abgerichtet. Was du behältst, ist dein aufrechter Gang. Du hast vielleicht eine Frau, und trotz allem hältst du durch, weil du diese Frau hast. Und dann beginnt diese Bindung langsam zu zerbröckeln. Man kann nicht nur immer von der Erinnerung, von der Vergangenheit leben. Wenn man nach vorne gehen will, muß man auch nach vorne sehen, sonst verhaspelt man sich, man stolpert. Eine Ehe oder eine Gemeinschaft überhaupt läßt sich nicht durch Briefe, durch einen Besuch alle vierzehn Tage aufrechterhalten.« »Aber es gibt doch Urlaub«, unterbrach sie ihn. »Siehst du, Elisabeth, das ist das eigentlich Gemeine an der ganzen Sache. Jedem wird etwas vorgegaukelt, der Gefangene hat, der Gefangene bekommt, der Gefangene kann... natürlich bekommt er Urlaub. Wenn du zehn Jahre Strafe bekommen hast, dann kannst du frühestens ein oder eineinhalb Jahre vor deiner voraussichtlichen Entlassung Urlaub bekommen. Du kannst bekommen, du mußt nicht bekommen. Bei zehn Jahren würde das dann heißen, daß du nach sechs oder sieben Jahren Urlaub bekommst. Es ist eine Auslegungssache, der man einen Gesetzestext gegeben hat.« Holberg trank den Rest Saft aus. »Soll ich dir noch ein Glas holen?« »Hmhm. Es wird hell.« Er sah zu den Fenstern. »Es wird ein Scheinwerfer gewesen sein, es ist erst fünf Uhr.« Elisabeth verließ das Zimmer und kehrte einen Augenblick später mit einem gefüllten Glas zurück, stellte es hin und setzte sich wieder. »Erzähl doch weiter«, sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Soviel gibt es da nicht zu erzählen.« »Es gibt dort doch auch Betriebe...« »Natürlich. Dort gibt es auch Betriebe.« »Weißt du, ich denke gerade daran, wenn ich manchmal so richtig unzufrieden bin, dann stürze ich mich in die Arbeit, und irgendwie überwinde ich dann diesen Punkt.«
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»Dort könntest du dich in Plastiklöffel, in Plastikgabeln stürzen. Du nimmst dann ein Plastiklöffelchen, schiebst es in eine durchsichtige Papierhülle. Danach ein Plastikgäbelchen. Das schiebst du auch in eine durchsichtige Papierhülle. Beide Papierhüllen legst du dann, entgegengesetzt zusammen, in einen Pappkarton. In diesen Pappkarton passen zwölf Doppelbestecke. Dann faltest du den Pappkarton zu. Du wirst es sicher sofort können, die Falten sind vorgestanzt. Wenn du fünf solcher Pappkartons gefüllt hast, dann schiebst du sie in einen größeren Pappkarton. Das wirst du sicher auch können, denn in diesen größeren Pappkarton passen nur fünf kleine. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du nun fünf größere Pappkartons mit fünf kleinen besteckgefüllten Pappkartons gefüllt hast, dann schiebst du diese fünf größeren in einen noch größeren. In einen Karton mit der Aufschrift >Inhalt Stück 300 à 1 Paar<. Wenn du zehn der beschrifteten Kartons gefüllt hast, hast du dreitausend Löffelchen und dreitausend Gäbelchen verpackt. Dafür bekommst du dann vier Mark pro Tag.« Holberg schwieg. »Eine Bekannte sagte mir, dort gibt es auch Ausbildungsbetriebe, aber sie wird es auch nur gehört haben.« Elisabeth fragte. »Natürlich. Bevor du voll in den Verpackungsbetrieb übernommen wirst, hast du drei Tage Anlernzeit. Wo würdest du zum Beispiel so ein Plastikbesteckpaar anfassen, wenn du es in einen Pappkarton schieben willst? Du mußt es am unteren Ende anfassen, dann kannst du es in einem Zug in den Karton schieben. Raffiniert, nicht? Wenn du es nämlich vorne anfassen würdest, dann müßtest du noch mal nachschieben. Aber das erklärt dir dein Werkmeister alles.« Holberg grinste ein bißchen. »Es gibt dort eine Tischlerei, ja, auch eine Schlosserei. In diesen Betrieben könnten Leute ausgebildet werden. Diese Betriebe dienen in erster Linie dazu, zu sagen: Wir haben auch Ausbildungsbetriebe. Die Mehrheit jedoch verrichtet Arbeiten, mit denen draußen kein Geld -4 2 4 -
verdient werden kann. Du denkst auch bei diesen Arbeiten. Deine Gedanken sind Haß oder Resignation.« Schwester Elisabeth schwieg. Auf dem Flur war ein gedämpftes Geräusch zu hören, etwas später sah einer der Pensionsberechtigten ins Zimmer. »Was wollen Sie!?« »Äh, schon gut, Schwester.« Er zog sich zurück. »Der Frühdienst wird gleich kommen. Soll ich sie noch mal anrufen?« Schwester Elisabeth erhob sich. »Ja. Grüß sie von mir, ich, ich denke an sie.« »Mach's gut. Bis heute abend.« Sie lächelte und ging raus.
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12 Heute morgen war ich mit dem Zug hierher nach Minden gefahren. Warum Minden, Warum nicht. Irgendwo mußte ich ja hinfahren. Was ich hier wollte, wußte ich nicht. Ich stand mitten in der Stadt vor einem Kino, an einer Bushaltestelle. Außer mir wartete niemand an der Haltestelle. Wenn ein Bus kam, verlangsamte er die Fahrt. Dann drehte ich mich um und sah in die Schaukästen des Kinos, und der Bus fuhr ohne anzuhalten weiter. Bis gestern abend war ich durch die Wälder gebummelt. Ich hatte nichts gegessen, hatte aber keinen Hunger. In der Nacht war ich durch ein offenes Kellerfenster bei der Mutter von Mama ins Haus gestiegen. In der oberen Wohnung wohnten die Lappewaschs. Auf dem Boden hingen in einem Schrank Sachen von mir, ich hatte Licht gemacht, mich umgezogen und das alte Zeug hingehängt. Einmal hatte unten eine Tür geklappt und die Stimme von Mamas Mutter, die auch die des Onkels war, hatte halblaut gerufen: >Ernie?< Und dann noch mal: >Ernie?< Danach hatte sie sich wieder hingelegt. Sie hätte sich bestimmt gefreut, mich zu sehen. Sie war mir von allen Verwandten die liebste. Ich sagte von klein auf an »Mutti« zu ihr, während Mama «Mama« war. Mama hatte erzählt, Mutti hatte dauernd nach mir gefragt, als ich im Heim war, wie's mir ginge und ob ich nicht bald wieder dort raus käme, sie würde ganz fest daran glauben, daß aus mir noch mal etwas würde. Mit Mamas Vater war ich als kleiner Junge immer in den Berg gegangen, um Wild zu beobachten. Er meinte, ich solle mir das richtig überlegen, ob ich später nicht Förster werden wollte. Doch Förster bauten keine Brücken. Als ich vom Boden schlich, war ich bei der Lappewasch in die Küche gegangen und hatte ihr das Portemonnaie aus der Tasche genommen. -4 2 6 -
Hundertsechzig Mark waren drin gewesen. Ich hatte Hundert rausgenommen und ihr dafür vier Mottenkugeln reingetan. Mir taten die Beine weh. Ich war den ganzen Tag in der Stadt umhergelaufen. Ein neuer Bus kam vorbei. An seiner Seite war ein langes Transparent angebracht. Irgendwo in Minden war Schützenfest, und dort gab es »Jubel, Trubel, Heiterkeit«. Ich fand, daß es ein spätes Schützenfest sei. Wir hatten bald den ersten Advent. Es war nicht gut, daran zu denken. Als der nächste Bus kam, stieg ich ein. Der Schützenplatz befand sich auf einer Weserwiese. Man konnte die Zelte und Buden schon von weitem sehen, weil der Bus über eine Brücke fuhr, bevor er hielt. Von der Haltestelle aus ging man einen plattgetretenen Grasstreifen entlang, der voll von besoffenen Schützen war und von solchen, die ihnen wieder auf die Beine helfen wollten; in der Mitte kamen und gingen die Besucher. Ich kaufte mir ein Eis und bummelte durch die Budenreihen. An einem großen Schild las ich, daß dies ein kombiniertes Schützenfest sei, man könne es auch Jahrmarkt oder Kirmes nennen, die Vereinsleitung danke all denjenigen, die eigens zu diesem Fest der Tradition aus dem Ausland und von noch weiter her angereist waren. Und allen anderen danke sie auch. Niemand war vergessen. An der Raupe blieb ich stehen und beobachtete das Kreisen der Wagen. Die Lautsprechermusik dröhnte, ich schwamm in der Menge hin und her, die Stimme des Ansagers dröhnte noch lauter, sie übertönte alles. Er rief in das Mikrofon, daß jetzt die schnellste Fahrt des Tages käme. Die Mädchen in den Wagen begannen wild zu kreischen. Aber die kreischten bei jeder Fahrt, auch wenn es gar nichts zum Kreischen gab. Vielleicht gab es deshalb hier so ein Gedränge, weil jeder sehen wollte, warum da so gekreischt wurde.
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»Mensch, Ben! Das ist doch Ben!« sagte jemand neben mir. Ich wandte mich halb um. »Fred. Auto-Fred«, sagte ich. Neben ihm stand noch einer, ich kannte ihn nicht. »Komm her, laß uns mal aus diesem Gewühl raus«, Fred drängelte sich ins Freie, wir folgten, setzten uns auf einen Stapel leerer Kästen. Fred erzählte. Der andere hieß Siggi. Er war aus einem Heim in Hannover abgehauen. Sie hatten nur notgedrungen einen Abstecher nach Minden machen müssen, weil ihr Auto in Rehme stehengeblieben war. Dort hatten sie an einer Kneipe angehalten. Nur mal schnell 'n Bier trinken. Im Halteverbot. Als sie wieder aus der Kneipe rauskamen, sahen sie das Verbotsschild. Und hinter dem Wagen einen Bullen von der Mot. Er hatte seine Maschine aufgebockt und vertrat sich die Beine, mit einem Meldeblock in der Hand. Sie waren unauffällig weitergegangen, denn der Wagen gehörte einem Schrotthändler aus Süddeutschland, der nun schon seit einer Woche seine Geschäfte zu Fuß erledigen mußte. »Ja, und da sind wir mit dem Bus hierher, er stand gerade in diese Richtung. Wir wollen nach dem Rummel hier zu Siggis Mutter und dann weiter nach dem Süden, da ist es warm, da ist was los. Und du?« Ich fror. »Och, ich bin nur so hier, Eis essen.« Wir gingen zu dritt über den Rummelplatz. Fred erzählte nebenbei von der Freundin, von der er mir schon mal erzählt hatte. Es war wohl doch nicht die richtige gewesen. Als er wieder im Heim saß, hatte sie ihre ganze Wohnung aufgelöst. Jetzt hatte er sie nicht mehr angetroffen. Aber daß sie mit einem dicken Amischlitten abgedampft war, das stand fest, denn er, Fred, hatte sich in der Nachbarschaft informiert. Mit einem Amischlitten! Das schlug dem Faß den Boden aus! Er, Fred, bemühte sich immer wieder, endlich mal einen zu klauen, und diese Ziege haut mit so einem ab! Mir tat der Bauch weh vom vielen Eis essen. Wir setzten uns in ein Zelt.
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Ein Kellner brachte, nachdem er gefragt hatte, zwei Bier und für mich ein Eis. .»Wenn du sowieso nichts vorhast, dann komm doch mit uns mit«, sagte Siggi, »wir bleiben ein paar Tage bei uns zu Hause, da sind wir ganz sicher. Die Bullen fragen erst immer nach der dritten oder vierten Woche bei uns an.« »Bei dir zu Hause?« »Ich hab nur noch 'ne Mutter, die ist in Ordnung, und 'ne kleine Schwester. Ist ja ein bißchen eng bei uns, aber das geht schon. Meine Mutter hat geschrieben, sie hat jetzt 'ne Schiene durch den Raum mit'm Vorhang, das ist wie zwei Zimmer, gut, nicht? Wenn wir nämlich mal Besuch kriegen sollten.« »Aus dem klitzekleinen Zimmerchen sind zwei Zimmerlein gewor-den, oder wie sagt man das, Ben?« fragte Fred. »Na ja, ist immer noch besser, als in 'ner Anstalt.« »War doch nicht so gemeint.« »Wir müssen bei den Miezen vorbeifahren«, sagte ich zu Fred und dachte daran, daß Karen noch dort sein könnte. Ihr Fuß müßte ein Superfuß sein, so lange hatte er heilen können. Vielleicht wollte sie immer noch abhauen. Mädchen wußten nie genau, was sie wollten. »Ich will mal gucken, ob meine Freundin noch da ist, sie hatte sich damals 'n Fuß gebrochen. Und dann fahren wir nach München.« »Wieso München?« fragte Fred. »Wieso nicht. Ist doch auch Süden. Der Anfang.« »Meinetwegen. Wir können deine Mieze ja mitnehmen«, schlug er vor. Ich winkte ab. Ich wußte nicht, wie es weitergehen sollte, wenn Karen dort war, ich wußte nur, daß ich ihr dann helfen würde, daß ich sie rausholen mußte. »München ist Bayern«, wandte Siggi ein, »da sprechen sie 'ne andere Sprache.« »Du lernst sie eben. München ist groß«, erwiderte ich. »Ist doch egal, wohin«, mischte sich Fred ein, »ich finde München ganz gut. Wir müssen jetzt erstmal einen fahrbaren Untersatz besorgen. Wenn es etwas später ist, dann gehen wir auf den -4 2 9 -
Parkplatz hinter den Gaststätten, vorne an der Straße. Da finden wir was. Um halb eins hatte sich der Schützenplatz merklich geleert. Wir standen an der Rückwand der Holztoiletten, die man am Parkplatzende für die Schützenfestbesucher errichtet hatte. Sie wurden jetzt nicht mehr benutzt. Für die Jahreszeit war es ein sonniger Tag gewesen, doch am späten Abend hatte es begonnen zu regnen, es hatte sich eingenieselt. Von dem überstehenden Rand des Toilettendachs tropfte es gleichmäßig. Fred fluchte leise, weil auf dem Parkplatz noch ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Autos kamen und fuhren ab. Siggi stand an der anderen Seite zwischen den versetzten Schutzwänden und gab regelmäßig einen Lagebericht. »Jetzt ist nur noch ein Wagen da.« Er kam um die Ecke, »ein Kombi mit einer riesigen Kaffeereklame. Er steht aber dicht an der Kneipe. Ich glaube, die haben den Laden dichtgemacht, eben ist einer nach dem anderen abgezittert.« »Macht nichts«, Fred winkte ab, »nehmen wir eben den Kombi. Der fährt ja auch. Wollen mal sehen, ob er sich kurzschließen läßt, wenn ich noch 'ne Weile hier im Regen stehe, schlage ich Knospen!« Wir wollten über den Parkplatz gehen, als aus der rückwärtigen Gaststättentür ein Paar kam, dann folgte ein einzelner Mann. Er schwankte und war sehr groß. »Mist!« Wir zogen uns wieder hinter die Holzwand zurück. »Wieso denn?« Siggi grinste. Ich sah seine Zähne leuchten. »Möchte wetten, die machen 'ne Nummer, die können wir uns doch ansehen. Als Gratisschlußvorstellung. Schließlich haben wir unser ganzes Geld an den Buden verschossen.« »Geiler Bock!« knurrte Fred. Die beiden Männer trugen eine Uniform. Der Baumlange hatte an einer Brustseite eine Menge blitzender Abzeichen. Sie hatten das Mädchen in die Mitte genommen und schaukelten alle drei. »Hilde... hick... du bist von uns ausgewählt... unsere
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Schützenbraut zu sein, wir... schie-schießen mit scharfer Munütschion«, lallte der kleine Schütze. »Sch... Scheißen!« ergänzte der Lange und furzte laut und dumpf. »Ihr seid... hick... hihi, ja besoffen«, kicherte das Mädchen. Sie blieben hinter der ersten Zwischenwand stehen. Während der Lange pinkelte, faßte der kleine Schütze unter das Kleid des Mädchens. »Du, du, dudu, dudu«, sagte es. »Moment«, der Baumlange war fertig. Sein Ast ragte aus der offenen Hose. »Du noch nich...«, sagte er zu dem Kleinen, »das ist... Mist, Mistachtung seines Vorgesetzten... wenn du zuerst... die Hilde, denn ich steh über dir...!« »Is egal«, erwiderte der Schießkollege, der nüchterner zu sein schien, der jetzt seine Hosen runterließ. »Nichts ist... egal, du. Die Statuten... so ein Verein hat Statuten, ja... hick... die hat er, und die besagen, ein Mitglied mit zehn Jahren... jawoll! Mit zehn Jahren Treue... und dann...«, der Lange kam ins Stocken, »jedenfalls hat die Hilde ein Anrecht... ein Anrecht darauf, von mir zuerst... zuerst gestoßen werden, zu werden, jawoll!« Der Kleine nahm seine Hand von Hilde weg. »Was... was sagst du denn da-u?« »Ich bin doch... hick... keine Kuh, nich, nasse... nasse Füße hab ich auch«, maulte die Braut und drückte eine Hand gegen ihren Schoß. »Laß uns knobeln.« Die beiden Männer standen sich gegenüber, der eine hatte die Hosen auf den Schuhen, ohne daß ich es lustig fand. Sie hieben auf Kommando mehrmals mit ihrer rechten Hand durch die Luft und hielten an. »Schere«, sagte der Kleine und hielt Daumen und Zeigefinger und Mittelfinger gespreizt hoch, machte dann aber schnell eine Faust und sagte: »Stein!« Der Baumlange gluckste, deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis an: »Brunnen!« »Gut... gut, du hast mich in ehrlichem Zweikampf gesch... geschlagen, ich... ich beuge mich...«
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»Quatsch! Du... du doch nicht, aber Kommando da... darfst du geben«, sagte der Baumlange großmütig, er knetete seinen vertrockneten Zweig wieder zum Ast. »Achtung! Das Kommando gilt. Auf die Plätzääää... ferrrrtig...« »Idiot! So nicht«, der Baumlange zog das Brautkleid hoch, »festhalten!« Hilde hielt fest. Er zog ihr die Hose runter. »Habt aaacht! Die Beinäää... spreizt!« »Er soll das Schreien lassen... oh... au«, sagte Hilde. »Laß... das... das Schreien, Ohau«, gab der Lange an den Kleinen weiter, er schob die Schützenbraut auf die Zehenspitzen und wieder runter.. »Mensch, mir platzt der Gürtel«, flüsterte Siggi. »Hau nicht so auf'n Putz. Gleich willst'e 'n Güterwagen entgleisen lassen, wie? Was sagst du dazu, Ben?« »Langweilig. Wenn sie nüchtern waren, würden sie das vielleicht gar nicht machen.« Der Lange fluchte, knetete wieder, während der Kleine den Schützenbrauthintern freilegte. »N... nein!« Hilde stolperte und fiel hin, richtete sich unsicher auf, fiel wieder hin. »Ich will keine... Sch... Schützenbraut mehr sein...« »Laß uns abhauen«, Fred sah Siggi an, »oder willst du hier solange glotzen, bis die fertig sind? Das kann noch Stunden dauern.« Siggi kam mit. Das Kaffeereklameauto war verschwunden. »Da haben wir deine blöde Abschiedsvorstellung!« »Wer weiß, ob wir den überhaupt hätten mitnehmen können«, erwiderte Siggi, »wir gehen in die Stadt, da finden wir einen besseren Schlitten.« Es war fast vier Uhr morgens. Wir saßen im Vorgarten einer Villa an einem Gartentisch und rauchten. In dieser Gegend standen nur neue Autos. Fred hatte es bei einigen umsonst versucht. Sie hatten Spezialzündschlösser, wenn man die kurzschließen wollte, benötigte -4 3 2 -
rnan Werkzeug. Fred sagte zu Siggi: »Wenn du nicht unbedingt die blöde Vögelei hättest sehen wollen, dann wären wir jetzt schon ein Stück weiter.« »Mensch, hab dich nicht so. Du bist schließlich schon zwei Monate draußen, ich erst zwei Tage. Wenn du dir ein Jahr lang einen runterholst und dann 'n Strumpfband siehst, dann wirst du auch heiß.« Fred erwiderte nichts. »Und bei uns kannst'e nicht so einfach abhauen, wie bei euch«, fuhr Siggi verbittert fort, »da ist immer einer von den Affen in der Nähe oder 'ne Schwester! Die telefonieren, und dann jagen dich die Bauern der Umgegend, weil es eine Prämie gibt für dich...« »Hast du Schwester gesagt?« fragte ich. »Ist so 'ne Art Gruppenmutter, dann gibts auch 'ne Gruppenunter-mutter, Schwester Elfriede, Schwester Maria, ich kann dir sagen! Die meinen, man wäre erst zwei statt zwanzig und klopfen dir noch mit einem Stöckchen auf die Finger!« »Bist du schon zwanzig?« »Nee, achtzehn.« »Warum hältst du deine Finger hin?« »Na Mensch, was willste machen. Weiß der Teufel, an welcher Sekte die sich ausrichten«, Siggi schnippte seine Asche ab, »Schweinereien haben sie auch gemacht. Leider nicht mit mir. Habe dauernd Bambule gemacht, vielleicht haben sie sich nicht getraut.« Fred sah mich an. »Ich glaube, im Landesjugendheim ging es uns ganz gut, was?« »Gut. Es gibt schlechte Heime und ganz schlechte. Unseres war ein schlechtes. Ich hasse Heime!« Wir erhoben uns und gingen auf die Straße, die Straße entlang. In einer Toreinfahrt parkte ein Sportwagen mit einem schwarzen Faltverdeck. »Nicht schlecht«, sagte Fred, »wollen mal sehen.« Er zog ein Taschenmesser aus der Tasche und trennte das Dach über der -4 3 3 -
vorderen Scheibe auf, er faßte durch den Schlitz und öffnete die Tür. »Siggi! Du paßt an der Straße auf! Ben, leuchte mal!« Wir setzten uns in das Auto, ich riß ein Streichholz nach dem anderen an. Fred holte unter dem Armaturenbrett verschiedene Kabel hervor. »Aha, der hat noch'n Starterkopf, links.« Er zeigte ihn mir und knipste die Kabel mit einer Nagelzange ab, die er in der Tasche gehabt hatte. »Normalerweise reichen diese drei schon«, erklärte er, »siehst du?« Er hielt die Kabelenden zusammen, und am Armaturenbrett leuchtete ein rotes Lämpchen auf. »Und der vierte ist für Licht, der muß auch dran, mußte erstmal sehen, welcher den Stromkreis unterbricht, für den Fall, daß wir mal irgendwo parken wollen. Sonst ist die Batterie ruckzuck leer.« Er drückte den Starter kurz, der Wagen ruckte. »Alles klar, hol Siggi, wir schieben ihn erst mal ein Stück weg.« Wir schoben das Auto auf die Straße, dann etwas weiter in eine Nebenstraße und stiegen ein. »Das ist'n Porsche!« ließ sich Siggi von hinten vernehmen. »Du merkst auch alles«, Fred startete, der Motor gluckste und sprang an. Fred fuhr los. Recht flott, wie ich fand, er drehte am Radio herum. Ein feiner Sprühregen ließ die Scheiben beschlagen, Es dauerte einen Moment, bis Fred den Knopf für die Scheibenwischer gefunden hatte. »Du fährst über achtzig«, sagte Siggi. »Geschenkt!« Fred winkte lässig ab. »Ich bin auf dem Asphalt groß geworden, mein Junge. Ich müßte eigentlich schon 'ne Anstecknadel für runtergefahrene Kilometer kriegen.« »Aber nicht auf geklauten Reifen. Da gibts keine.« »Eben.« Eine Kurve kam, eine ganz gewöhnliche. Der Wagen schlingerte plötzlich, Fred drehte wild am Lenkrad herum, doch das Heck wurde wie von einer unsichtbaren Faust weggezogen, der Wagen rutschte einmal um sich selbst, dann über den Straßenrand in den daneben befindlichen Graben, wo er hochkam auf einer Seite liegenblieb. »Raus! Raus! Nichts -4 3 4 -
wie raus!« Fred trampelte auf meinem Bauch herum, weil ich unter ihm lag. Er öffnete die Tür wie eine Bodenluke, stemmte sich hoch, dann ich, dann Siggi, der gleich durch den Graben in den dahinter liegenden Garten rannte. »Fred! Fred! Warum hauen wir denn ab!? Ist doch nichts passiert!« »Wenn einer kommt!« »Was ist schon. Steht doch nicht am Auto dran, daß es geklaut ist. Wir müssen versuchen, es rauszuheben, ohne Auto sind wir aufgeschmissen! Siggi! Herkommen!« »Also gut, meinetwegen«, lenkte Fred ein. Wir versuchten, mit vereinten Kräften den Wagen aus dem Graben zu drücken, doch nur das Chassi hob sich aus den Stoßdämpfern. »Das schaffen wir nie«, keuchte Siggi, »da! Hört ihr nichts!?« Wir lauschten. »Ein Auto!« Siggi flitzte wieder in den Garten. Fred und ich blieben vorsichtshalber im Graben stehen, damit wir Siggi sofort folgen konnten, falls es not tat. Es dämmerte bereits. Das näherkommende Auto besaß keine weißen Kotflügel, es war auch nur eine Person drin. Bullen fuhren immer zu zweit. Auch die Zivilen. Wir kletterten auf die Straße. Das Auto stoppte. Der Fahrer stieg aus. »Morgen. Na, Pech gehabt, was?« »Kann man wohl sagen. Ist wie Schmierseife, das Pflaster.« Er nickte und sah sich die Sache an. »Haben Sie vielleicht ein Seil im Wagen?« »Habe ich«, er sah auf seine Uhr, »na, dann wolln wir mal.« Er ging zu seinem Auto und fuhr es in die richtige Position, holte aus dem Kofferraum ein Abschleppseil. »Wenn das klappt, dann geben wir ihm einen Zwanziger«, murmelte Fred. »Dann habe Ich noch genau acht Mark«, murmelte ich zurück. »Für neun Liter Sprit, da kichert jeder Tankwart, wenn du für so ein Auto neun Liter verlangst.« -4 3 5 -
»Der Tank ist voll, bis nach Siggi kommen wir allemal.« -Wir hatten eine Nacht bei Siggis Mutter verbracht. Sie wohnte in einer Kleinstadt, in einem alten Mietshaus, ganz oben unter dem Dach. Siggis Vater war verunglückt. Zwei Jahre später kam Siggis Schwester Sieglinde ohne Rücksicht auf die Nachbarn unehelich zur Welt. Man hatte Siggis Mutter die kleine Wohnung gekündigt, da diese nur für eheliche Kinder bestimmt war. Mit Wohnungen war es schon seit jeher schlecht bestellt. Der Firmenbesitzer, bei dem Siggis Mutter Schuhe verpackte, hatte helfend eingegriffen und ihr das Zimmer vermietet, das sie jetzt bewohnte. Das Zimmer kostete hundertneunzig Mark im Monat. Die Mutter hatte keine Sorge um rechtzeitige Mietzahlung, weil das Geld ihr gleich vom Lohn abgezogen wurde. Das war sehr praktisch. Für den Firmeninhaber war es in der ersten Zeit unangenehm gewesen. Wenn die Mutter, Siggi oder das Kleinkind aufs Klo mußten, dann ging es jedesmal acht Treppen mit je acht ausgeleierten Stufen hinunter, anschließend wieder rauf. Es war die einzige Wohnung im Haus, deren Toilette auf dem Hof neben der Waschküche lag. Die anderen Mieter hatten sich beim Firmeninhaber beschwert. Das unregelmäßige Treppengeknarre sei nicht zu ertragen. Mutter, Siggi und die inzwischen herangewachsene Schwester waren dazu übergegangen, ihre Bedürfnisse gemeinsam abzustimmen, so gab es jetzt nur ein zeitweilig großes Knarren. Außerdem wurden stuhlgangfördernde Speisen vermieden. Die Mieter hatten sich an die knarrende Treppe gewöhnt, wie an das Schlagen einer Turmuhr. Sieglinde war jetzt zehn. Der Firmeninhaber, dem die ganze Häuserzeile in dieser Straße gehörte, war drauf und dran gewesen, auf dem Boden ein Behelfsklo einbauen zu lassen. Dann aber hatte er errechnet, daß sich ein solches Klo nur dann rentieren würde, wenn er ein zweites Zimmer vermieten könnte. Es war jedoch nur das eine Zimmer vorhanden, in dem Siggis Familie wohnte.
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Dann war Siggi in ein Heim eingeliefert worden, und ein inzwischen erbautes Behelfsklo hätte bei den noch vorhandenen zwei Personen ohnehin mit Verlust gearbeitet. Es blieb beim alten. Entgegenkommenderweise hielt der Firmeninhaber die Miete niedrig, weil Siggis Mutter bei ihm beschäftigt war. Das Zimmer ähnelte einem kurzen Schlauch. An der einen Stirnseite stand eine Liege, auf der Mutter und Sieglinde geschlafen hatten, an der anderen Stirnseite ein Sofa, auf dem wir hätten schlafen sollen. Für Sieglinde war das Sofa genau richtig, doch für uns drei war es zwei Mann und ein Paar Beine zu klein. Jeder wollte dem anderen den Vortritt lassen. Also hatten wir uns zu dritt auf den Boden gelegt. Wenn man müde ist, kann man überall schlafen. Bei mir hatte das Einschlafen eine ganze Weile gedauert. Siggi hatte Mutter und Schwester eine ganze Zeit nicht gesehen. Wir hatten Cola mit Rum getrunken, dann Rum mit Tee. Sowas treibt. Wir hatten ohne großes Reden den Eimer für die kleine Notdurft den Frauen auf der anderen Vorhangseite überlassen, weil wir auf der Türseite des Zimmers schliefen und als Männer bedeutend besser mit dem bauchhohen Dachfenster auf dem Flur klarkamen. Jedesmal wenn der Eimer auf der anderen Seite benutzt wurde, war ich wieder vollends wach, überlegte, wer wohl gerade drauf saß. Mir fiel auf, daß der Fußboden bedeutend härter als ein Sofa sei, dass Siggi wie ein Pferd schnarchte. Ich fand, daß München vielleicht doch nicht die richtige Stadt war, aber sie war für mich die beste aller Städte. Ich rückte immer etwas weiter unter den Tisch, weil Siggi sich dauernd umdrehte und mir dabei seinen Arm in die Seite oder in den Rücken hieb. Wenn ich durch meine Überlegungen schläfrig geworden war, dann mußte ich. Ich schlief erst gegen Morgen ein. Wir kamen von einem kleinen Fluß zurück. Dort hatten wir das Auto gewaschen. Von dem Grabenrutsch hatte es nur eine Beule in der Tür zurückbehalten.
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Siggi fuhr. Seine Mutter hatte uns Geld zum Tanken gegeben. »Wir können übrigens solange hier bleiben, wie wir wollen. Ich hab mit meiner Mutter gesprochen.« Ehe ich etwas erwidern konnte, mischte sich Fred ein. »Nee, Siggi, ich habe schon mit Ben geredet, wir fahren heute abend weiter. Die Bullen sind auch nicht blöd.« »Er hat recht.« Ich nickte. Die Sonne schien. Wir hatten das Verdeck heruntergelassen, weil der Schlitz mit dem Messer auffiel. Siggi wollte es unterwegs reparieren. In der Stadt an einer Ampel sah uns ein ehemaliger Schulfreud Siggis. Er brüllte laut und kam quer über die Straße gelaufen. Siggi fuhr auf den Gehweg, begrüßte den Freund vom Lenkrad aus. »Mensch, wo hast du denn den heißen Schlitten her!?« »Ich hab ihn. Steig ein, ich nehm dich ein Stück mit. Kleine Probefahrt.« Der Freund klemmte sich hinten neben Fred auf den Notsitz. Siggi wendete. »Ist ja ganz schön eng hier hinten.« »'n Sportwagen ist keine Frachtkutsche.« »Was macht er denn?« »Hundertachtzig, zweihundert, kommt drauf an.« Etwas später befanden wir uns auf einer Bundesstraße. Die Tachometernadel kletterte auf hundertsechzig. »Da ist Musik drin, was?« schrie Siggi. «Autobahn ist natürlich besser, diese Straße ist beschissen, du darfst nicht vergessen, wir sind vier Mann hoch!« »Nicht schlecht!« brüllte der Freund, »da vorne hinter dem Laster kommt eine Kurve!« »Weiß ich doch! Gleich dahinter haben wir mal bei dem Bauern zwei Enten geklaut! Vor Weihnachten war das! Weißt du noch?« »Ja! Der hatte so'n blödes Hundevieh, das konnte an einem Draht um den ganzen Hof laufen!« -4 3 8 -
Mir fiel auf, daß dem Freund noch nicht aufgefallen war, daß das Auto ohne Zündschlüssel fuhr. Siggi hatte die zusammengeschlossenen Kabel unter das Armaturenbrett gedrückt. Der Lastzug vor uns fuhr nicht allzu schnell. Siggi setzte zum Überholen an, war fast auf gleicher Hohe, als vor uns in der Kurve ein anderer Lkw auftauchte. »Mensch, das schaffst du nicht!« Siggi zögerte, ohne daß er bremste. »Doch!« schrie ich. »Doch! Das schaffst du! Los! Los! Gib Gas! Gaaas!« Ich stemmte meine Füße gegen den Wagenboden. Wie im Rausch sah ich den anderen Lastwagen näherkommen, dunkelgrün, er blinkte andauernd. Es ging alles so rasend schnell. Schreien, Blinken, Gas, weiß, blau, rot, blauweiß, blau, blau, blau! »Gas! Gas!« Ich schrie es. Im gleichen Moment geschah es: Der Fahrer des entgegenkommenden Lastwagen riß das Steuer nach rechts, ich sah, wie er wild kurbelte, der Lkw kippte ab und rutschte in den Graben. Siggi zog das Lenkrad etwas zur Seite, er rammte die Stoßstange des Lastzugs, etwas fetzte an mir vorbei, wir wurden herumgeschleudert, vor den Lastzug, ich kniff die Augen zu, merkte die Drehbewegung, es gab einen dumpfen Krach! Das Radio spielte. Ich machte die Augen auf. Wir standen an der Böschung der anderen Straßenseite, waren dagegengekracht, verkehrt zur Fahrtrichtung. »Mist!« sagte ich und stieg über das aufgerissene Türblech. Die anderen hatten weiße Gesichter. »Ihr müßt aussteigen. Gleich kommen die Bullen.« Der Lastzug kam vor uns zum Stehen. Der Fahrer sprang laut fluchend aus seinem Führerhaus. Über die Straße kommen Bullen! Nein, keine echten, Grenzpolizei ist das. Es war eine ganze Kolonne Grenzpolizisten, sie hatten auf dem Lastwagen gesessen, der jetzt drüben im Graben hing. Die ersten Hauser des Dorfs befanden sich hundert Meter weiter. Von dort kamen Leute angelaufen. Stimmen schwirrten durcheinander. Sie umstanden das Auto, in dem jetzt niemand mehr saß. »Tjaaa«, sagte ein alter Bauer, »was die Polizei ist, die ist just -4 3 9 -
in der Bürgermeisterei, mit ihre Motorräder, is man gar nich weit.« »Wo ist das?« erkundigte Fred sich freundlich. Der Alte erklärte. »Ich komme eben mit«, sagte ich. Wir liefen und blieben bei den Häusern im Schutz einer Scheune stehen. »Mensch, hoffentlich schalten die«, keuchte Fred. Wir sahen Siggi, der sich einen Augenblick später aus der Menschenanansammlung löste, dann der Freund. Sie kamen in aller Ruhe. »Ah, da seid ihr ja.« »Was ist? Was habt ihr gesagt?« »Nichts. Wir wollen nur mal gucken, wo die Polizei bleibt«, erwiderte Siggi. »Wenn ich gewußt hätte, daß der Wagen geklaut ist«, jammerte der Freund, »wenn ich das gewußt hätte...« »Lauf lieber! Verschwende deine Luft nicht mit Gebrabbel!« Wir liefen hinter den Höfen in die Felder, die etwas bergan stiegen. Oben war Wald. Von dort aus sahen wir weit unten die Unfallstelle, an der jetzt die Bullen waren, mit ihrem weißen Koppelzeug. »Wir müssen in diese Richtung«, Siggi lief voran, »der Wald geht bis zur Stadt, ich weiß das.« »Das ist nicht gut, von dort kommt sicher die Verstärkung. Der Wald ist nicht zusammenhängend, wenn wir über freies Feld müssen, sehen die Bauern uns, wenn sie uns sehen und dann die Bullen, die am suchen sind, haben sie uns bald am Arsch!« Niemand erwiderte etwas. Manchmal fielen Fred und ich in Schritt, weil die beiden anderen nicht mitkamen. »Wir bleiben immer hart an der Waldgrenze, da unten ist die Straße, die bleibt immer auf Sichtweite.« -4 4 0 -
Wir verschnauften im Schutz der Büsche. Manchmal fuhr auf der Straße ein Bulle mit einem Motorrad vorbei, doch hier konnte uns niemand sehen. Wir liefen weiter. Der Wald reichte jetzt manchmal bis an die Straße. Ein großes Stoppelfeld kam. Wir blieben stehen. »Wir können nicht drumherum laufen, das dauert zu lange.« »Wenn sie uns nicht erwischen, dann dauert nichts zu lange.« Wir beobachteten das Feld, an der einen Seite waren die Dächer eines Hofes zu sehen. Dann liefen wir los. Auf die andere Seite. Fred lauschte plötzlich. »Still!« Wir flitzten auseinander. »Bullen!« sagte er. Nichts passierte. Dann hörten wir ein leises Tuckern. Nicht weit vom Waldrand entfernt fuhr ein Bulle mit seiner Maschine über das Stoppelfeld. Er suchte mit seinen Augen den Waldrand ab. »Ich sage ja, so schnell geben die nicht auf. Die haben Karten, auf denen ist jeder klitzekleine Feldweg eingezeichnet.« »Aber nicht die Wege, die wir nehmen.« »Ich geh hin und stell mich«, sagte Siggis Freund, »ich habe mit der ganzen Sache doch gar nichts zu tun, das wißt ihr doch auch!« »Meinst du vielleicht, es kommt einer mit und bestätigt das!?« »Egal, was du machst«, sagte Fred, »wenn du dich stellst, dann lochen sie dich sowieso erst mal ein, bis sich alles geklärt hat. Und wenn sie uns zusammen erwischen, machen sie das gleiche. Aber dann können wir sagen, daß du nichts mit der Sache zu tun gehabt hast und daß du nur aus Angst mitgelaufen bist.« »Wieso Angst?« Der Freund zögerte, »Scheiße, ich gehe trotzdem hin. Die lochen mich nicht ein, mein Alter ist Stadtrat, außerdem hat er Geld, der schickt sofort zwei Anwälte und läßt die Puppen tanzen.« »Hat sein Alter Geld?« fragte ich Siggi. -4 4 1 -
»Ja, das stimmt. Er hat'n Werk mit eigenen Anwälten, und Stadtrat ist er auch.« »Na schön. Aber du gehst erst in einer Stunde hin, sie wissen sonst, in welchem Gebiet wir sind. Wir müssen uns auf dich verlassen!« »Ja, ja, das mache ich. Ich setze mich hier solange hin, ich sage einfach, ich habe mich verlaufen...«. »Das glauben sie dir auch aufs Wort!« Wir ließen ihn sitzen und tauchten im Wald unter. Ich überlegte, ob ich mich von den anderen trennen sollte. Einer allein kam immer besser durch als eine ganze Gruppe. Hier müssen wir lang und da und da, sagt Siggi. Blödsinn. Hauptsache, wir sind weg. Vorhin haben uns zwei Bauern gesehen, der eine mit dem Traktor hat richtig hinter uns her geglotzt. Hätte ich sicher auch getan, wenn da plötzlich vier Mann aus dem Wald gekommen waren, mit den Schuhen in den Händen, im November. Vielleicht hatte der Bauer den Bullen schon einen Tip gegeben. ZWÖLFTER DEZEMBER. Holberg lag nicht mehr allein im Zimmer. Gegenüber in dem Bett lag jemand, Holberg konnte nur sehen, daß Apparatur wieder lief, auf der Mattscheibe zitterte die weiße Linie. Schwester Elisabeth sagte ihm am Abend, daß der Patient gegenüber auf der Straße umgefallen sei. Herzanfall. Er war operiert worden, und in seiner Brust war jetzt ein Schrittmacher. Der Arzt hatte sich heute morgen Holbergs Wunden angesehen, hatte zufrieden genickt. >Sie machen gute Fortschritte<, hatte er gesagt, >in ein paar Tagen können die Fäden entfernt werden; aber das brauchen wir nicht unbedingt zu machen.< Letzteres hatte der Arzt mehr zu sich selbst gesagt. Holberg fühlte, daß irgend etwas in der Luft lag. Wahrscheinlich wollte man ihn wegbringen.
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Als Schwester Elisabeth sich zu ihm setzte, fragte er sie. »Es ist darüber gesprochen worden«, erwiderte sie, »aber der Arzt will noch nicht. Irgendeine Staatsanwaltschaft hat angefragt. Sie wollen dich in eines ihrer Krankenhäuser bringen. Gibt es dort auch Schwestern?« »Nein. Das heißt, in dem Lazarett in dem ich früher mal war, lief so eine alte Vettel herum, sie machte die Blutsenkungen. Es ging immer ein Beamter mit, damit sie nicht mal vergewaltigt wurde. Aber sie sah aus wie ein Vampir. Wer vergewaltigt schon einen Vampir.« Elisabeth lächelte. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie, »es gibt doch auch gute Richter. Solange nichts Gegenteiliges bewiesen ist, kannst du doch hoffen... du... du bist kein Verbrecher, du mußt dich vertei-digen...« »Da gibt es nicht viel zum Verteidigen, weißt du, als ich das erste Mal vor einem Richter stand, las er mir meine Akte vor, die hat jeder, so eine Akte. Und er las: Der Angeklagte legte bereits während seines Heimaufenthaltes den Grundstein für sein späteres, kriminelles Verhalten, indem er mit einer Axt auf ein Starkstromkabel einhieb und die Arbeit des Betriebs, in dem er arbeitete, sabotierte.« Holberg grinste schwach. »Das glaube ich nicht!« »In einem Prozeß urteilt man nicht nach Glauben, sondern nach Tatsachen, nach Fakten. Und so ein Aktenvermerk ist eine Tatsache.« »Aber das geht doch nicht, so was muß doch objektiv überprüft werden«, Schwester Elisabeth schwieg. »Das ist alles so neu für mich, so kompliziert«, sagte sie dann. »Ich habe noch nie etwas mit einem Gericht zu tun gehabt.« »Wie schön für dich.« »Ach, so meine ich das doch nicht, du weißt es. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie das ist, immer in einer kleinen Zelle. Mit wem kannst du dort sprechen?« »Du kannst mit jedem sprechen, mit jedem Gefangenen. Doch es ist keiner unter ihnen, der den anderen versteht. Sie verstehen nur sich selbst.« -4 4 3 -
»Es gibt doch Lehrer dort. Hier in der Stadt sind zwei Lehrer in der Anstalt. Ich weiß es, dieser Arbeitskreis geht einmal in der Woche hinter die Mauern.« »Zwei Lehrer und fünfhundert Mann.« »Wenn sie mich wegbringen«, fuhr er dann fort, »sag mir vorher Bescheid. Dann kommt es nicht so überraschend.« »Natürlich. Ich sage dir ganz bestimmt Bescheid.«
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13 In der Zelle standen vier Betten, je zwei übereinander. Unter dem Fensterloch standen zwei, die anderen längs der Wand. Dahinter war noch etwas Platz für ein Waschbecken aus Eisen und eine Toilette. An der anderen Wandseite stand ein Tisch mit vier Hockern. Über dem Tisch hingen vier kleine Schränke. Neben den Schränken waren vier Nägel in die Wand geschlagen, an denen drei Handtücher hingen. Unter den Handtüchern befand sich eine Heizung mit vier Rippen, und da wir nur zu dritt auf der Zelle lagen, teilten wir uns die Wärme der vierten Rippe. Ich befand mich schon zwei Wochen hier in diesem Gefängnis, mitten in Göttingen. Die Bullen hatten uns zwei Stunden, nachdem wir uns von dem Stadtratssohn getrennt hatten, erwischt. Erst hatten sie uns zusam-men in ein anderes Gefängnis gebracht, am späten Abend des Tages war ich dann hierher verlegt worden. Sie hatten Angst, daß wir zusammen ausbrechen würden. So schlecht war es gar nicht im Gefängnis. Hier brauchte ich niemanden mit >Bruder< anzureden, und man wurde den ganzen Tag lang in Ruhe gelassen. Die Tür wurde viermal am Tag geöffnet. Morgens gab es Brot und braunen Kaffee, mittags eine gemischte Suppe, in der auch kleine, schwarze Speckstückchen schwammen, abends wieder Brot, braunen Kaffee, einen alten Fisch oder ein Stück Käse. Morgens wurde die Tür noch mal aufgeschlossen, zum Hof-rundgang. Die ersten drei Tage hatte ich alleine auf der Zelle verbracht, tagsüber, weil die beiden anderen tagsüber in einem Saal arbeiteten. Dort wurden Einkaufstaschen aus Papier geklebt. Am vierten Tag durfte ich auch in den Saal mitgehen. Manchmal saßen dort sieben Männer, manchmal zehn, wie sie wollten. Vor dem Saal, dessen Tür sehr oft offen stand, war ein kleiner Flur. Dort war immer ein Hauptwachtmeister, der mit einem uralten Gefange-nen die geklebten Taschen zählte und verpackte. -4 4 5 -
Daß er ein Hauptwachtmeister war, das hatte er mir genau erklärt, weil ich »Wärter« zu ihm gesagt hatte. Er trug auf seinen Schulterstücken drei Sterne. Das bedeute Hauptwachtmeister, hatte er gesagt, und das sei mehr, als zwei Sterne oder gar ein Stern. Das leuchtete mir ein. Also nannte ich ihn Hauptwachtmeister. Herr Meier wollte er auch nicht hören. So hieß er wirklich. Die anderen sagten alle nur »Meister« zu ihm. Zu jedem Wärter sagten sie Meister. Das fand ich sehr blöd. Als Meister mußte man wenigstens eine Meisterprüfung haben. Und die hatte er nicht. Außerdem gab es für Wärter keine Meisterprüfung, weil sie nur Türen auf- und zuzuschließen brauchten. Das leuchtete mir auch ein. Am fünften Tag hatte mich der Hauptwachtmeister Meier auf den Flur geholt und gesagt: »Holberg, du bist ein kräftiger Kerl! Du hilfst hier dem Böhm beim Verpacken und trägst die Sachen immer mit runter, wenn der Wagen kommt!« Böhm war der uralte Gefangene. »Geht in Ordnung, Herr Hauptwachtmeister«, hatte ich erwidert. Wenn es nichts zum Verpacken gab, saß ich mit im Saal. Die beiden, mit denen ich auf der Zelle lag, waren schon über zwanzig. Sie warteten auf ihre Berufungsverhandlung. Der eine war aus der Automatenbranche, sagte er. Er hatte vier Jahre bekommen. Das war ihm zuviel. Er hatte schon mal drei Jahre gesessen, in einer Jugendstrafanstalt, die Vechta hieß. Damals hatte man ihm eine Strafe von unbestimmter Dauer gegeben. Zwei bis vier Jahre. Davon hatte er drei verbüßt. Diesmal hatten ihn die Bullen auf frischer Tat erwischt. Die Automatenwand, an der er gearbeitet hatte, war durch eine Alarmanlage mit den Bullen verbunden gewesen. Der Besitzer hatte die Anlage einbauen lassen, weil an der Wand andauernd gewerkelt wurde. Der, mit dem ich zusammenlag, wußte davon nichts. Er war das erste Mal in jener Gegend gewesen. Plötzlich hatten die Bullen hinter ihm gestanden. Da war es zu spät -4 4 6 -
gewesen. Der andere hatte schon zweimal gesessen, einmal sechs Monate, dann drei Jahre und einen Monat. Er hatte Villeneinbrüche begangen. Es war ihm auf die Dauer zu nervenaufreibend gewesen, sagte er. Als er wieder entlassen war, hatte er die Branche gewechselt. Die Richter meinten, nun sei es Raub, schwerer Raub. Seine Freundin war ein Handtaschenmädchen. Der aus der Automatenbranche hatte mir heimlich gesagt, sie sei der letzte Schrott und mache es für eine Zigarette, wenn sie gerade keine hätte. Das Mädchen war in den Wallanlagen auf und ab gegangen, und wenn einer kam, der wollte, dann hatte sie sich zwanzig Mark geben lassen und zu dem, der wollte, gesagt, er solle mal die Hose aufmachen. Und dann war das Mädchen plötzlich weggerannt. Und der, der, wollte hinter ihr her, weil er eben sie oder sein Geld haben wollte. Plötzlich war der ehemalige Einbrecher, mit dem ich zusammenlag, hinter einem Baum hervorgesprungen und hatte dem, der wollte, den Weg versperrt, ihn gefragt, was er überhaupt wollte und so nebenbei einen Aufwärtshaken losgelassen. Er schlug gute Aufwärtshaken. Wir stellten jeden Abend Tisch und Hocker auf die Betten. Er hatte früher mal ein bißchen geboxt. Nach dem Aufwärtshaken konnte der, der wollte, nicht mehr weiterlaufen, und der Einbrecher hatte ihm die Brieftasche und die Uhr abgenommen. Eines Abends hatte er selbst einen Haken bekommen, sagte er, mit links und ganz kurz aus der Schulter heraus, von einem Bullen. Der Bulle, ein Polizeilandesmeister im Halbschwergewicht, sollte diese Brieftaschengeschichte mit Haken aufklären. Das war ihm gelungen. Das Handtaschenmädchen mußte nun zwei Jahre Körbe flechten. Der Einbrecher hatte vier Jahre bekommen. Er war auch schon in der Jugendstrafanstalt Vechta gewesen und nach dem, was -4 4 7 -
er so erzählte, war dieses Vechta noch schlimmer als Heiligenstatt. Jeder der dort eingeliefert wurde, mußte Rohr flechten. Für Verwaltungsteppiche. Neunzig Meter am Tag. Immer rückwärts. Wer es nicht schaffte, der bekam eine Meldung. Auf eine Meldung hin gab es Arrest. Die Arresttage wurden hinten an die Strafe drangehängt. In den ersten Monaten durfte man keinen Besuch empfangen, man durfte nicht rauchen, nur einmal im Monat schreiben, man saß in seiner kleinen Zelle und war mit Flechten beschäftigt. Die Haut an den Fingern ging kaputt, und wenn man damit zum Sanitäter ging, dann pinselte der Jod drauf, und man mußte weiterflechten. Aus dem Fenster durfte man nicht gucken, sonst gab es Arrest; singen durfte man nicht, sonst gab es Arrest; pfeifen durfte man nicht, dann gab es Arrest; onanieren durfte man nicht, sonst gab es Arrest; beim Hofgang durfte man nicht mit dem Vordermann sprechen, dann gab es Arrest. Es gab eigentlich nichts, wofür es keinen Arrest gab, und ich konnte mir vorstellen, daß dort welche schon zehn Jahre oder noch länger saßen. In so eine Anstalt brauchte man nicht erst verlegt zu werden, um zu wissen, daß man dort abhauen würde. Wenn ich es mir so richtig überlegte, war es im Gefängnis nun auch wieder nicht so gut. Sicher, man brauchte nicht »Bruder« sagen, auch keine Gebete sprechen, aber es war so eng in einer Zelle. Immer war es mir, als fiele mir die Decke auf den Kopf, als könnten jeden Augenblick die Wände einstürzen und mich unter sich begraben. Der Einbrecher und der Automatenfritze wollten auch türmen, aber erst nach der Berufungsverhandlung, weil sie meinten, daß sie vielleicht weniger Strafe bekämen. Dann brauchten sie nicht zu türmen. Aber das war mir zu unsicher. Ich würde gar nicht erst warten, bis man mich verurteilte. Mich würden sie sowieso nach Vechta bringen. Ich würde es dort sicher schwerer haben, mit dem Abhauen. -4 4 8 -
Ich dachte oft daran, daß Karen nur durch die Gitterstäbe und die Stadt von mir getrennt war. Das war schlimm. Wir waren beide eingesperrt, in einer Stadt, aber wir konnten uns nie sehen. Vielleicht war sie jetzt abgehauen? Sie würde es verstehen, daß es gar nicht so einfach war, aus einem Gefängnis zu türmen. Daß es so war, das machte mich richtig nervös. Ich war schon ein paarmal mit dem Uralten und dem Hauptwachtmeister Meier unten in einem kleinen Nebenhof gewesen. Dort wurden die verpackten Pakete auf einen Lieferwagen verladen. Der Lieferwagen kam in den Hof gefahren, er paßte genau in den Hof rein, man konnte gerade noch das Tor schließen. Doch an der Mauer stand ein Schuppen, von dem ich auf die Mauerkrone kommen konnte. Vor dem Schuppen standen Mülltonnen. Das hatte ich jetzt zweimal gesehen, auch, daß der Hauptwachtmeister Meier jedesmal an den Tonnen stand. Aber der würde sich ablenken lassen, wenn es soweit war. Vor drei Tagen waren drei Leute aus einem Zirkus eingeliefert worden. Der Zirkus gastierte in der Stadt. Die drei waren nur eine Nacht geblieben, am anderen Morgen waren sie während des Hofrundganges über die Mauer gegangen. Schwarzhaarige drahtige Kerle waren es gewesen, und das Ganze hatte höchstens ein oder zwei Minuten gedauert. Einer hatte sich an der Mauer gebückt und seinen Turnschuh zugeschnürt, der zweite hinter ihm war stehengeblieben, als warte er solange, und plötzlich war der Dritte mit ein paar langen Sätzen über den schmalen Hof gerannt, auf den Rücken des Gebückten gesprungen, dann auf die Schultern des Stehenden und hatte oben an der Mauer gehangen. Der Stehende war blitzschnell auf den Gebückten gesprungen und hatte an die Beine des Hängenden angefaßt, und der Gebückte hatte sich aufgerichtet, war wie ein Wiesel an dem Stehenden, der jetzt auch hing, hochgeklettert, er hatte ihm geholfen, mit der Brust auf die Mauer zu gelangen, der Stehende hatte einen raffinierten Aufschwung gemacht, zu zweit hatten sie den Hängenden hochgezogen. Das alles war so schnell gegangen, -4 4 9 -
daß jeder nur geglotzt hatte. Auch der Wärter, der die Hofaufsicht führte. Dann war der durch die offene Tür ins Haus gerannt, hatte die Alarmschnur gezogen, die über den Türen entlanglief. Zusätzlich hatte er laut geschrien: »Alarrrrm!!« Dabei befand sich draußen gleich neben der Hoftür ein Alarmknopf. Doch die drei waren weg gewesen. Jetzt standen immer zwei Wärter Auf dem Hof, der eine an der Stelle, an der die Zirkusleute über die Mauer gegangen waren. Ich steckte mir jeden Tag zwei Zigaretten ein. Die wollte ich rauchen, wenn ich es geschafft hatte. Die Tage des Wartens läpperten sich zusammen. Heute waren es achtzehn, Dienstag. Sonntag war der zweite Advent. Auf jedem Gefängnisflur hing ein Adventskranz ohne Kerzen. Die Kerzen wurden am Adventstag auf den Kranz gesteckt und angezündet, weil sie sonst geklaut wurden. Verpackt wurde gar nichts. Niemand hatte Lust zum Arbeiten. Im Saal wurde Karten gespielt. Hauptwachtmeister Meier kam herein. »Böhm und Holberg! Mitkommen!« Wir kamen. »Ist Koks gekommen«, sagte er draußen auf dem Flur, »die beiden Kalfaktoren schaffen das nicht allein bis Feierabend. Wir helfen!« Er ging uns voran die Treppen hinunter. Ich fühlte nach den beiden Zigaretten hinten in meiner Tasche. Sie waren da. Koks abladen, Koks abladen, Koks abladen, sang es in meinem Kopf. Auf dem Hof hustete ich vor mich hin, um meine Verblüffung nicht merken zu lassen. Das Tor war offen! Schräg vor die Öffnung war ein großer Lkw gefahren, voller Kokssäcke. Die Ladeklappe hing bis auf den Boden, man konnte nicht unter dem Lkw hindurch. Hauptwachtmeister Meier stellte sich sofort in die Lücke, wo der Lkw nicht bis an die Mauer reichte.
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Der Fahrer stand im Keller und zählte die leeren Säcke. Der uralte Gefangene kletterte auf den Wagen und zog die vollen Säcke an die vordere Kante. Er war sehr zäh. Ich trug den Koks mit in den Keller. Ich paßte es so ab, daß ich nie zusammen mit den Kalfaktoren nach unten ging oder wieder heraufkam. Vielleicht rannten die im Gefängnis auch hinter einem her? Wer wußte das schon. Ich kam zum fünften Mal wieder nach oben, die Kalfaktoren schwankten mit einem vollen Sack nach unten. Hauptwachtmeister Meier stand neben mir, als ich einen vollen Sack auf meine Schulter kippen ließ, ich drehte mich um und ließ den Sack los. »Ahhhau! Paß doch auf, Ker... Halt!« Ich schubste ihn zur Seite und raste los. »Haaalt! Haaalt! Festhalten!« Er kreischte. Aber es war niemand da, der mich festhielt. Vor mir klirrten Schlüssel auf das Pflaster. Er hatte sein Bund nach mir geworfen. Dann war ich um die Ecke herumgelaufen, befand mich mitten auf einem Markt, zwischen Blumenständen. Ich lief zwischen den Leuten herum, nicht allzu schnell, damit ich nicht auffiel. Auf der anderen Marktseite führte eine breite Treppe nach oben auf die Wallanlagen. Ich sah mich um. Es folgte mir niemand. Ich ging die Treppe hoch, oben auf dem Wall lief ich wieder. Es würde nicht lange dauern, dann waren hier überall Bullen. Ich kam an die Hauptstraße und bog in Richtung Innenstadt ein. Hundert Meter weiter war eine Toreinfahrt zwischen Geschäften, ich ging hinein, als sei das jeden Tag um diese Zeit so. Auf dem Hinterhof befand sich eine Druckerei. Alles war hell erleuchtet, und ich sah drei Arbeiter, doch sie sahen nicht nach draußen auf den Hof. Ich überkletterte ein morsches Holztor und schlich an der Rückseite des nächsten Hauses entlang, überstieg ein zweites Tor und befand mich in einer schmalen Lücke zwischen den Häusern, die zur Straße hin zugemauert war. Fenster gab es hier nicht. Über mir war in etwa zwei Metern Höhe eine Holzklappe. Ich stemmte mich zwischen den Wänden wie in einem Kamin hoch, zog an der Klappe, riß, riß -4 5 1 -
sie auf und kletterte nach innen. Die Klappe war mit einem Bindfaden zugebunden gewesen, ich flickte die Reste zusammen und band sie erneut zu. Ich sah mich in dem halbdunklen Raum um, es war eine Abstellkammer. Zum Garten hin war ein kleines, blindes Fenster. Es war zugenagelt. Überall lag Gerumpel herum, standen Kisten und alte, zerbrochene Stühle. In der Stadt war der auf- und abschwellende Sirenenton eines Streifenwagens zu hören. Ich grinste ein bißchen, wischte mit einem Lumpen hinter einer Kiste den Staub weg und legte mich auf den Boden. Jetzt wurde es dunkel. Sie konnten lange suchen. Als ich aufwachte, war es stockfinster. Ich blieb noch eine Weile liegen, dann tastete ich mich zu der Klappe, machte die Knoten auf, rutschte nach draußen, drückte die Klappe zu und stemmte mich nach unten. In den Druckereiräumen herrschte jetzt reger Betrieb. Ich konnte eine Uhr sehen. Es war zehn Minuten nach elf. Ich ging in den Garten hinter der Druckerei und setzte mich auf einen wackligen Stuhl, der an einem Tisch in einer Laube stand. Aus der hinteren Tasche holte ich die beiden Zigaretten hervor, aus einer war der Tabak herausgekrümelt, doch die andere ließ sich noch rauchen. Sie schmeckte gut. Im Wäldchen hatte sich nichts verändert. Blätter waren gefallen. Wenn ich die Füße nicht hoch genug hob, dann raschelte es in einem fort. Ich blieb stehen und lauschte. Der Wind strich durch die Kronen der Bäume und durch die Büsche. Ich ging langsam weiter, ich legte die Leiter auf die andere Schulter. Ich hatte sie den ganzen Weg von der anderen Ziegelei unten am Bahndamm hergetragen. Auf der Ziegelei neben dem Mädchenheim hingen keine Leitern mehr am Schuppen. Sie waren sicher weggeschlossen worden. Karen wußte, daß ich kam. Ich war gestern nacht schon hier gewesen. Ich hatte Steinchen gegen das Fenster des Schlafsaals geworfen, in dem Karen -4 5 2 -
früher gelegen hatte. Die Mädchen waren aufgewacht und hatten nach draußen geguckt, auch seitlich aus dem Toilettenfenster, doch ich hatte mich nicht blicken lassen, ich hatte sie nur beobachtet, Karen hatte ich nicht entdecken können. In Pyjamas sahen die Mädchen alle gleich aus. Etwas später war ich an den Mauervorsprüngen nach oben geklettert, hatte mich auf die Fensterbank der Toilette gesetzt und gewartet. Wenn die Mädchen einmal wach waren, dann blieben sie es auch eine Zeitlang. Dann klönten sie erst mal, wer das wohl gewesen sein könnte, ob das der und der gewesen sei, und ob es überhaupt einer gewesen war und nicht nur der Wind oder ein Traum. Na ja, Traum würden sie vielleicht nicht denken. Sie konnten nicht alle das gleiche träumen. Sicher war es der Wind, denn wenn da einer gewesen wäre, dann hätte er sich bestimmt noch mal gemeldet, wer weiß. Und bevor sie dann wieder einschliefen, mußte die eine oder andere noch mal schnell. Ich dachte daran, daß es schlecht sei, wenn zwei gleichzeitig mußten, wegen des Weitererzählens. Wen sollte ich H ansprechen. Eine wollte dann die andere übertrumpfen. Es wurde natürlich nur der besten Freundin weitererzählt, unter dem Siegel der höchsten Verschwiegenheit. Und die erzählte es wieder der besten, und die dann wieder. Alles mit Siegel. Spätestens bis Mittag war jedes Mädchen Geheimnisträgerin. Und dann wußte es die Geschke auch. Mist. Ich stellte es dann fest, wenn die Bullen hier auf mich warteten oder die Erzieher. Was nutzte es schon, wenn diejenige, die geplappert hatte, von den anderen einen Arschvoll bekam. Gar nichts. Mich hatten sie wieder. Doch es war nur ein Mädchen auf die Toilette gekommen. Es hatte einen Satz vom Fenster weggemacht, als ich gegen die Scheibe pochte und einen Juchzer ausgestoßen. Es war eine Neue gewesen. Sie kannte mich nicht. Sie kannte aber Karen, die jetzt in einem anderen Schlafsaal schlief. Es hatte eine ganze Weile gedauert, ehe Karen kam, und ich dachte schon, die Neue habe mich verpfiffen. Sie hatte sich mächtig gefreut. Ich mich auch.
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Doch es war nicht die gleiche Freude gewesen wie früher, wenn wir uns getroffen hatten. Wenn man jemand gut kennt und nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersieht, dann freut man sich sowieso. Eine Art Grundfreude war das dann, so stellte ich mir das vor, etwas wie einen Luftballon. Ist er schlapp, ist gar nichts. Grundfreude reingepustet, bekam er vielleicht ein Viertel seiner ganzen Größe. Dann kamen andere Freuden dazu, kleinere Freuden, vielleicht ein gemeinsames Erlebnis, an das man sich im Augenblick des Wiedersehens erinnerte, weil man sich liebte, weil man sich darüber freute, daß sich der andere freute, weil man froh war, ihn wiedergetroffen zu haben, weil durch das Treffen vieles klargerückt wurde. Diese kleinen Freuden wurden dann zu der Grundfreude gepustet, vermischten sich zu einer großen Freude. Und an der Größe des Ballons ließ sich dann erkennen, wie groß die Freude war, ob sie den Ballon bis zum Zerreißen füllte und dehnte, oder ob sie gerade ein Viertel ausmachte. Ich fand, daß sich mit meiner Freude ein Ballon nur zur Hälfte füllen ließ. Heute abend war es ein bißchen mehr, wäre es ein bißchen mehr gewesen, weil ich tagsüber daran gedacht hatte, daß Karen abhauen wollte, daß sie sich auf mich verließ und daß ich ihr helfen wollte. Als ich gegen Morgen wieder in der Stadt war, hatte ich von einem Bäckereihof ein Brot mitgenommen. Dort standen zwei Regalwagen zum Abkühlen. Ich setzte die Leiter ab und hängte den Bolzenschneider von der anderen Schulter. Ich hatte ihn ebenfalls von der Ziegelei mitgenommen. Es war ein großer Schneider, die Hebelarme waren gut achtzig Zentimeter lang, und die Eisen, die auf der Ziegelei durchgeknipst wurden, waren bedeutend dicker, als die Gitterstäbe des Toilettenfensters. Um ein Uhr hatten wir abgemacht. Bis dahin waren es noch zehn Minuten. Ich sah auf Karens Armbanduhr, die sie mir mitgegeben hatte. Pünktlichkeit war wichtig. Auf der Arbeit mußte man auch pünktlich sein, sonst flog man raus. Wenn etwas nicht in Ordnung war, dann sollte sie zweimal den Fensterflügel zuknallen. Genau um eins. Wenn alles klar war, -4 5 4 -
sollte sie mit dem Feuerzeug knipsen. Karen hatte gesagt, daß die Neue in Ordnung wäre. Ich überlegte, was ich tun sollte, wenn nun doch etwas nicht stimmte, wenn die Bullen schon ringsherum auf der Lauer lagen? Wenn man aus dem Gefängnis türmen ging, dann waren die Bullen zuständig. Bullen sind auch nur 'ne Art Erzieher. In Uniform. Aber wenn man bei denen nicht genau das machte, was sie wollten, dann ballerten sie los. Ein normaler Heimerzieher hatte we nigstens keine Pistole. Würde sicher eine ganz schöne Knallerei geben. Ich könnte auch aufs Haus zurennen und blitzschnell an der Ecke hoch. Aber was heißt blitzschnell. Die bleiben unten stehen, den Arm quer, Pistole drauf und peng! Ich falle runter wie eine Erbse. Hm, eine Erbse treffen sie sicher nicht sofort. Auf Erbsen wird auch nicht geschossen. Ich könnte einfach in die Büsche flitzen, das Laub ist zwar weg, aber man kann da immer noch gut verschwinden, ich kenne mich hier aus. Aber wenn sie hier sind, dann überall zugleich. Bullen kommen bei so was immer im Dutzend. Und wenn sie wissen, daß ich schon mal versucht habe, die Karen rauszuholen, daß ich aus einem Gefängnis getürmt bin, dann sind sie richtig wild. Den Stab oben haben sie wieder eingeschweißt. Unsauber. Die Nähte stehen wie Gnubbel vor, man kann sich dran reißen. Da ist sie! Oben an der Hauswand blitzte es ein paar Mal auf. Ich lud mir Leiter und Bolzenschneider auf, ging hinüber. Beim Aufrichten rutschte mir die Leiter weg, scharrte an der Hauswand entlang. Ich wartete, ob es jemand gehört hatte, doch alles blieb ruhig. Ich stellte die Leiter erneut an. »Mensch, Ben, ich bin so aufgeregt, beeil dich doch«, Karen huschte zur Tür und legte ein Ohr an das Holz, lauschte, kam zurück. »Alles klar, kann ich dir nicht dabei helfen?« »Ja. Sei still und halt die Leiter fest. Ich muß mich nach hinten lehnen.« »Ich bin doch schon still, ich sage doch gar nichts!« Sie faßte durch die Gitterstäbe und hielt einen Leiterholm fest. »Du glaubst nicht, wie unruhig ich den ganzen Tag gewesen bin. Immer -4 5 5 -
wenn mich eine Kluck angesehen hat, dann habe ich gedacht: hoffentlich hat die Neue den Mund gehalten, hat nichts gesagt und... geht es? Hoffentlich geht es.« »Sicher, ich kann schlecht zusammendrücken, ich kippe über, sonst«, ich drehte den Bolzenschneider hin und her und preßte die Hebelarme zusammen. »Knack!« machte es. Ich setzte die Beißzangen oben an den Stab, schnitt ihn nur soviel an, daß ich ihn herumbiegen konnte und grinste, weil ich mir vorstellte, wie sie morgen früh durcheinanderlaufen würden. Wie die Hühner! Alles dicht, und ein Huhn fehlt! Das is'n Ding! Zuerst ist es immer ein flüchtiges Suchen, weil man sich etwas Unangenehmes nicht vorstellen will. Sie muß doch irgendwo sein! Habe sie doch eben noch gesehen, meinte die Geschkesche dann. Aber Karen war weg. Und dann suchte man genau, kontrollierte jedes Fenster und jedes Gitter, und der Stab, der vorher übersehen worden war, löste Alarmstimmung aus. >Alarrrrrm!< Lustig. Aber der fette Reimers würde es ja erst später erfahren, dann war das Alarmbrüllen zwecklos. Ich bog den Stab nach oben. »Komm, ich helfe dir. Krabbel durch und stütz dich auf meine Schultern.« »Warte, Ben, nimm erst mal die Tasche.« Karen wollte eine kleine Reisetasche durch das Loch schieben, doch sie klemmte. »Zieh doch mal.« »Ich werd verrückt! Laß das Ding stehen, sie geht nicht durch.« »Ich brauche doch ein paar Kleinigkeiten für unterwegs, warte, ich packe schnell was aus.« »Nichts brauchst du! Deine Beine, das ist alles!« »Rede nicht!« Sie schob mir zwei Frotteetücher durch das Loch, eine Nietenhose, einen Pyjama, ein Paar Schuhe, dann die dünner gewordene Tasche hinterher. -4 5 6 -
Ich versuchte an etwas zu denken, nur nicht daran, daß man uns durch diese blöde Tasche erwischen konnte, daß durch die Tasche alles schief laufen konnte, und ich stand da, mit den Klamotten auf dem Arm! Ich stopfte sie wieder rein, ließ alles nach unten fallen. »Puff!« Da lag sie. »Mensch, du! Mein helles Kleid ist da drin!« Karen zwängte und drehte sich durch das Loch. »Im Arrest brauchst du kein helles Kleid! Du mußt dich mehr drehen, ja so. Wir werfen alles in den Kiessee, das ist Ballast, letztes Mal hast du auch nichts mitgehabt.« »Dann trage ich sie eben. Letztes Mal hatte ich auch noch keinen Draht zur Kleiderkammer.« Karen kletterte auf die äußere Fensterbank, stieg nach unten. »Guck mal um die Ecke, ob alles klar ist.« Ich bog den angekniffenen Stab in seine alte Lage und zog die Fensterflügel zu. »Alles in Ordnung, Ben. Wollen wir die Leiter wieder mitnehmen?« »Ja. Den Schneider auch. Komm!« Wir standen an der Seitenwand der Tankstelle. Karen hatte nur eine Plastiktragetasche mit ein paar Sachen behalten. Alles andere hatten wir am Kiessee versteckt. Es war kalt und windig, aber es fror nicht. Karen hatte sich ein Kopftuch umgebunden, sie bibberte. »Frierst du ga-ga-gar nicht, Ben?« »Nur ein bißchen, du mußt dich bewegen, hättest dich wärmer anziehen sollen, es dauert ja nicht mehr lange.« »Ha-hab ich d-doch. V-v-vier Schlüpfer ha-ha-habe ich drunter, trotzdem...« »Wenn du oben frierst, dann hilft das nicht. Schlag mit den Armen, sieh mal, so, aber weck nicht die Leute auf. Du weißt Bescheid. Wenn du irgendwas Verdächtiges merkst, dann klopf an die Scheibe, auch wenn es hinterher nichts war. Besser dreimal raus und rein, als einmal rein, in den Bau.« -4 5 7 -
»Ja, ist g-gut.« Ich kletterte an der Eingangstür der Tankstelle hoch und zwängte mich durch das offene Oberlicht. Auf dem Hof standen fünf Autos und mit einem Zündschlüssel ließ es sich einfacher fahren, als wenn man kurzschloß. Außerdem mußte ich erstmal die richtigen Kabel finden. Ich sah überall nach, dann fand ich die Schlüssel. Sie hingen hinter einem Blumenbaum an einem Wandbrett. Ich hakte den Opelschlüssel ab. Opel war gut. Für lange Strecken nur Opel, sagte Fred immer, wegen der weichen Federung. Mercedes war natürlich noch besser, aber die standen nicht so rum. Ich gab Karen ein paar Coladosen nach draußen und Schokolade. Dann sah ich die Ladenkasse, sie war unverschlossen. Drei Zwanziger und etwas Hartgeld. Ich schob die Lade wieder zu. Karen hatte ihr ganzes Geld mit, warum sollte ich dann dieses Geld auch noch mitnehmen. Der Chef würde dann sicher sauer sein, vielleicht lief die Tankstelle gar nicht so gut. Oder er machte das absichtlich? Als Täuschung. Er läßt nur etwas Geld in der Kasse und nimmt das andere mit nach Hause, damit ein Einbrecher denkt, die Tankstelle geht nicht besonders gut. Aber Autos sind versichert. Ich kletterte wieder nach draußen. »Hast du einen Öffner mitgebracht?« »Kannst du doch so aufziehen, hier am Haken. Laß uns erstmal wegfahren, komm.« Ich probierte die Schlüssel an dem einzigen Opel unter den Autos auf dem Hof. Er paßte. Wir stiegen ein. Der Motor sprang sofort an. Ich ließ ihn eine Weile im Stand laufen. Fred hatte mal erklärt, wenn man eine Maschine anläßt und gleich wie ein Verrückter Gas gibt, dann ist sie bald im Eimer. Dann brennen die Kolben fest, weil sie sofort unter Höchstbelastung arbeiten müssen. Das Öl, das die Kolben schmiert, ist noch kalt und kommt nicht so schnell überall hin. Die Kolben schleifen sich dann ab. Wenn man den Motor etwas im Stand laufen läßt, dann wird das Öl heiß und kommt bei Vollgas überall hin. Das war eine klare Sache. Karen band ihr Kopftuch ab. -4 5 8 -
Ein Zeitungsmann ging vorbei. Er sah nur kurz zu uns herüber. Ich machte die Scheinwerfer an und gab Gas. Der dachte sicher, das mußte so sein, da fuhr jemand mit seinem Auto weg. Ich fuhr los. »Schickes Auto. Damit laß uns man bis in die Schweiz fahren. Meine Tante hat auch einen Wagen«, Karen steckte zwei Zigaretten an und schob mir eine zwischen die Lippen. »Ohne Papiere kommen wir nicht mit einem Auto über die Grenze.« »Du, da gibt es soviele Stellen, da ist kein Mensch, in den Bergen...« »Da sind die Alpen. Wir können das Auto nicht tragen.« Ich rauchte. »Wir fahren bis zum Hellwerden, dann stellen wir das Auto ab und suchen uns eine Scheune, bis es wieder dunkel ist«, sagte ich. »Oh ja!« Als es dämmerig wurde, nahm der Verkehr zu. In einem großen Dorf ließ ich Karen aussteigen und fuhr das Auto auf einen Parkplatz, kehrte zu Karen zurück, die in einer Nebenstraße wartete. Als wir aus dem Stroh der Scheune krochen, war es fünf Uhr abends, und es begann dunkel zu werden. Es hatte den ganzen Tag geregnet. Wir brauchten eine ganze Zeit, um uns gegenseitig die Halme aus den Haaren und aus dem Zeug zu entfernen. »Das Ideale ist es gerade nicht im Winter, in einer Scheune, ich habe hinterher ganz schön gefroren, du nicht?« »Doch. Ist noch Schokolade da?« »Eine Tafel.« »Brich mir 'ne halbe ab.« »Kannst sie ruhig aufessen, Ben, ich hab keinen Hunger. Wenn wir unterwegs einen Kiosk sehen, dann mußt du mal halten. Ich habe ein bißchen Bauchschmerzen.« -4 5 9 -
»Hmhm, vielleicht doch ein Stück Schokolade? Das hilft!« »Ach du. Ich hab meine Tage, hätten eigentlich gestern schon da sein müssen, aber durch die ganze Aufregung hat sich das wohl um einen Tag verschoben.« »Aha, und nun meinst du, ein Kiosk führt Watte oder so?« »Ach wo, darauf bin ich doch vorbereitet. Zigaretten brauchen wir, und eine Cola könnte ich auch vertragen.« Karen seufzte. »Und ich drei halbe Hähnchen.« »Oho, drei gleich!« »Ist in Wirklichkeit nur eins, ich such mir nur das weiße Fleisch raus.« In Höxter, einer Kleinstadt, blieb das Auto stehen. Genau um zwölf Uhr nachts. Vor einer Kreuzung. Ich war zweimal durch die Stadt gefahren, hatte die richtige Ausfallstraße nicht gefunden. Beim dritten Versuch fand ich zwar eine Straße, von der ich glaubte, sie sei die richtige. Vor einer Kreuzung hielt ich an, um die Schilder genau zu lesen. Ich merkte, daß irgend etwas mit der Kupplung nicht stimmte. Das Pedal ließ sich so lasch durchtreten, dann merkte ich, daß die Gänge nicht mehr einrasteten. Hinter uns stand ein großer Lastzug und hupte, doch wir kamen nicht vom Fleck. »Verdammter Mist!« »Ben, laß uns aussteigen und abhauen«, sagte Karen und sah sich andauernd um, »wir laufen einfach weg, es ist dunkel...« »Wie stellst du dir das vor? Wir können doch nicht das Auto mitten auf der Straße stehenlassen, wir behindern den ganzen Verkehr! Außerdem alarmiert der Fahrer hinter uns sofort die Bullen! Los, setz dich ans Lenkrad, ich schiebe.« »Ich hab doch noch nie Auto gefahren!« »Das lernst du. Halt das Lenkrad einfach fest, und wenn ich rufe >rechts<, dann drehst du es nach rechts.« Ich sprang raus und schob, rief »rechts« und »links«, dann »gerade« und war ganz außer Atem, als der Wagen in einer Seitenstraße stand. Karen packte ihre Sachen zusammen, stieg aus. -4 6 0 -
»Wir gehen gleich weiter, sind eben Leute vorbeigegangen, die haben so komisch geguckt, warst ja ganz prima.« »Willst du nicht abschließen?« »Wozu? Wenn der erste Bulle kommt, dann kann er ihn gleich weiterschieben bis zur Wache, der steht nämlich im Halteverbot.« Wir versuchten, uns ein anderes Auto zu besorgen. Morgens um acht waren wir immer noch in der Stadt, gingen durch die Straßen, die jetzt belebt waren. Mit einem anderen Auto hatte es nicht geklappt. Zwei hatten ein Lenkradschloß gehabt, bei einem anderen war die Unterseite des Armaturenbrettes vollkommen verkleidet gewesen, ohne Werkzeug ließ sich da nichts machen. Als ich den vierten Wagen aufgebrochen hatte, kamen die Bullen. Sie kamen gleich mit drei Streifenautos, ohne großes Getute waren sie gekommen. Aber ich guckte sowieso dauernd, wenn ich ein Motorengeräusch hörte, und ich hatte das Blaulicht gesehen, das über die Hauswände flitzte, obwohl sie noch ein ganzes Stück entfernt waren. Ich hatte einen Hindernislauf durch die Gärten gemacht. Die meisten Zaunarten kannte ich. Karen wartete an einer Ecke auf mich, sie sollte aufpassen und mich durch einen Pfiff warnen. Doch die Bullen waren von einer anderen Seite gekommen, sie hatte sie nicht gesehen. Eine Imbißbude hatte geöffnet. Wir gingen hinein und setzten uns an einen der kleinen Tische, Karen bestellte Kaffee und belegte Brötchen. »Du, wir können auch mit dem Zug weiterfahren«, schlug sie vor, »wir fahren bis Lörrach, das ist der letzte Ort vor der Grenze, dann kommt Basel, da ist ein Grenzübergang. Aber den nehmen wir nicht, wir fahren bis Säckingen weiter. Dort führt eine uralte Fußgängerbrücke über den Rhein, der ist die Grenze, da stehen zwar auch Leute vom Zoll, aber die kümmern sich nicht um einen, sie machen nur hin und wieder mal eine Stichprobe. Weißt du, über diese Brücke gehen die Leute, die in der Schweiz arbeiten und andere, die hier -4 6 1 -
arbeiten. Die vom Zoll hätten viel zu tun, wenn sie jeden kontrollieren wollten. Wir gehen einfach in so einem Schub mit, das fällt niemals auf. »Nur der Rhein ist die Grenze?« »Ja, ganz normal.« »Na, dann könnten wir auch rüberschwimmen, über den Rhein, im Dunkeln, das ist dann sicher.« »Wollen wir bis zum Sommer warten?« »Wieso Sommer?« »Im Winter geht das nicht!« »Warum?« »Mensch, ich kriege schon eine Gänsehaut, wenn ich nur an das kalte Wasser denke!« »Ach, das ist gar nicht schlimm. Wenn du erst mal im Wasser bist, dann ist es richtig warm. Wir rubbeln uns hinterher richtig ab. Sag mal, kennst du eigentlich jemand in München?« »München?« »Ja, das wäre eine gute Stadt, wenn man dort jemanden kennt.« »Die Iris aus der Wäscherei, die war aus München, kannst du dich an die erinnern? Die Schwarze, die mit den langen Haaren.« »Die ein Kind gekriegt hat?« »Ja, haben sie aber in ein Heim gebracht, ist 'n Junge gewesen. Sie ist inzwischen entlassen worden, u.v.b., sie war volljährig.« »Und ihr Kind?« »Weiß nicht. Sie hat zwar gesagt, sie wolle es dort rausholen, doch ich hab nichts mehr von ihr gehört. Warte mal«, Karen krauste ihre Stirn, »ich glaube, Geschwister-Scholl-Straße oder so, da wohnt sie, aber die Nummer kenne ich nicht.« »Wenn wir mit dem Zug zu deiner Tante fahren, mußt du eine Nietenhose anziehen, und eine Tasche brauchen wir auch, damit wir Reisende sind.« -4 6 2 -
»Siehst du! Da haben wir's, eine Tasche! Ich habe ja ein Kleid drunter, aber das ist hin, das müßte ich erst bügeln. Deine Jacke ist hinten auch kaputt, du wolltest die Tasche ja nicht mitschleppen.« »Na ja.« »Wir werden uns ein paar neue Sachen kaufen.« Die neue Hose paßte wie angegossen. Wir hatten uns in dem Geschäft gleich umgezogen. Nach einigem Hin- und Herfragen befanden wir uns jetzt in der Bahnhofstraße. Die Häuserzeile verlief hier nur an einer Seite, an der anderen Seite waren Anlagen, Beete, auf denen im Sommer sicher Blumen blühten. Etwas weiter war eine Schloßruine zu sehen. Ich dachte daran, daß es so eine Bahnhofstraße in jeder Stadt gab, und Parkanlagen vor dem Bahnhof oder gleich in der Nähe, jeder, der dann mit dem Zug ankommt, denkt, wie hübsch und gepflegt alles in dieser Stadt ist, weil er nur die Anlagen und die Blumen sieht. Arme Leute können nicht in Bahnhofsnähe wohnen, das ist viel zu teuer. »Sieh mal, Ben, ist das nicht ein hübsches Kleid!?« Karen blieb vor einem Schaufenster stehen. »Ich finde das so toll, mit dem Kragen, du nicht?« »Hmhm, 'n Kleid.« Ich sah es mir an, daneben lagen andere Kleider, Kostüme, ich sah die Autos, die sich in der Scheibe spiegelten, die hinter uns vorbeifuhren, eins schob sich ganz langsam heran und blieb auf einem Kostüm stehen. Ich sah den hellen Stern an der Türseite, das Schild und den Lautsprecher auf dem Wagendach. »Karen, dreh dich nicht um, hinter uns stehen Bullen«, sagte ich halblaut. »Wo? Hinter uns?« »Ja doch. Nicht umdrehen...« »Heh! Hallo, Sie!« Wir wurden aus dem Auto angerufen. Ich drehte mich ein bißchen um, wir gingen weiter. »Heh! Warten Sie mal!« rief der Beifahrerbulle durch das heruntergedrehte Fenster. Das Auto fuhr ein paar Meter und hielt auf gleicher -4 6 3 -
Höhe. Der Beifahrerbulle sprang raus, musterte mich, dann Karen. »Papiere!« sagte er. »Was will er?« fragte ich Karen. »Weiß nicht, vielleicht Geburtsurkunde oder so...« »Nun machen Sie schon! Sonst kommt ihr mit zur Wache, bis wir eure Personalien überprüft haben!« »Du, er will einen Ausweis«, sagte Karen zu mir. »Ah, einen Ausweis.« »Und zwar ein bißchen plötzlich!« brüllte der Bulle auf einmal. »Wo wollt ihr überhaupt hin!?« »Wohin, wohin. Ich will mit meiner Schwester zu meiner Tante jetzt fahren wir dahin. Und einen Ausweis haben wir nicht. Wozu brauchen wir einen Ausweis, wenn wir die Tante besuchen? Wir haben noch nie einen Ausweis gebraucht«, sagte ich und überlegte, ob ich sofort losrennen sollte. Dann hatte er erstmal mit Karen zu tun, weil er denkt, sie rennt auch. Jetzt steigt der andere auch aus, oha, das ist nicht gut. »Naaaa?« fragte der Fahrerbulle. »Haben keine Papiere«, sagte der, der vor uns stand, und zu uns: »Los, Herrschaften, einsteigen!« Er öffnete weit die Autotür, während der Fahrerbulle wieder auf der anderen Seite einstieg. »Na los, los«, der Beifahrerbulle machte eine »Hopphopp«Handbewegung. Ich sah Karen an und zuckte die Schultern. Sie auch. Sie stieg ein, setzte sich hinten auf den Rücksitz. Jetzt! Jetzt muß ich losrennen! Sie dürfen mich nicht schnappen! Ich muß weg! Ich muß weg! »Möchte mal wissen, was das alles soll«, sagte ich und stand noch auf dem Gehweg. Der Bulle stand hinter der offenen Tür und hielt sie fest, damit sie nicht zuklappte. »Menschenskind, steig ein, sonst mache ich dir Beine!« Auf der Straße kam ein Lieferwagen. -4 6 4 -
Ich bückte mich, kam wieder hoch. »Ich sitz lieber vorne, kannst du dich nicht nach hinten setzen?« fragte ich den Bullen. »Du sollst einsteigen!« schrie der Bulle bullig und ließ seine Halsadern sehen. Jetzt war der Lieferwagen heran! Ich stieß mich ab und rannte los, zwei Sätze, um den Streifenwagen herum... »Halt! Haaalt!!« Ich schaffte es so eben, vor dem Lieferwagen über die Straße zu kommen, hörte, wie er hinter mir mit quietschenden Reifen vorbeibremste, Autos hupten, das Bullenhorn begann zu tönen. Ich lief. Quer über die Rasenanlagen auf der anderen Seite, ich wandte mich im Laufen um, sah die Autos auf der Straße halten und den Bullen, der hinter mir herkam, wie er während des Laufens versuchte, seine Uniformjacke auszuziehen, und er brüllte. »Stehenbleiben! Stehenbleiben oder ich schieße!« brüllte er. Ich dachte an meine neue Hose. Als ich mich ein zweites Mal umblickte, war der Bulle ein ganzes Stück zurückgefallen, doch auf der linken Seite kam der Streifenwagen angefahren, er fuhr einfach auf einem Parkweg. Es knallte! Zweimal, noch einmal. Was die Karen wohl denkt. Sie sitzt im Auto, beim Laufen hätte sie sicher schon schlapp gemacht. Der schießt sich erst ein. Lange halte ich das nicht mehr durch. Die Anlagen waren zu Ende, vor mir befand sich ein mannshoher Zaun, Maschendraht, ich sprang ihn an.. Wieder knallte es und sofort darauf ein mißtönendes Sirren, der Bulle hatte einen Draht getroffen. Ich wälzte mich oben über den Zaun und fiel auf der anderen Seite in den Dreck, kam hoch und merkte, wie mir die Beine zitterten, ich rannte stolpernd weiter, dann ging es wieder, ich verschwand um eine Stallwand. Ich war auf einem Bauernhof. Ich umrundete den Stall und lief bis zum nächsten Gebäude über ein freies Stück Garten. -4 6 5 -
Ich verspürte plötzlich einen Schlag, oberhalb des rechten Knies, dann hörte ich den Knall. Doch es war nichts. Bestimmt nur ein Streifer, ein Durchschuß, dachte ich, damit ließ es sich noch laufen. Dann war es, als würde mir das Bein mit einem dicken Knüppel unter dem Leib weggeschlagen, es gab einfach nach; knickte ein wie ein Gummibein, ich stürzte nach vorn und schlug schwer auf die Erde, wollte wieder aufstehen, doch es ging nicht. Ich lag nur einen Schritt hinter der Ecke eines Hauses, einer Scheune, doch ich konnte nicht weiterlaufen. Ich fühlte auf einmal den Schmerz, zuerst war es nur ein langer, scharfer Stich, er stach bis hinauf in meinen Kopf, mir wurde etwas schwindelig. Wenn ich hier liegenbleibe, werden sie mich sofort finden, verdammt, ich muß weg, ich muß weg... Ich robbte auf den Ellenbogen weiter, zog meine Beine hinterher. Die Schmerzen machten manchmal alles dunkel. Ich arbeitete mich bis an das große Tor der Scheune, es war verschlossen, ein dickes Vorhängeschloß hing vor einem Riegel, doch unten in der Tür war ein Durchschlupf für Hühner. Der Durchschlupf war schon ausgefranst an den Rändern und groß genug, ich drehte und zwängte mich hindurch und blieb keuchend auf der anderen Seite in einer dünnen Strohschicht liegen. Für einen Moment war wieder alles schwarz vor meinen Augen, dann konnte ich die hellen Ritzen in der Scheunentür sehen. Ich wollte mich auf die Seite drehen, auf den Bauch, damit ich weiter ins Stroh kam, doch der Schmerz wurde so stark, daß ich ganz still liegenblieb. Ich dachte daran, wie sie das in Amerika gemacht hatten, wenn sie mit einer Kugel in der Hüfte noch fünzig Meilen bis zum nächsten Doc geritten waren, ich konnte mir das nicht mehr vorstellen. Draußen waren Stimmen laut, Rufe, jemand rüttelte an dem Scheunentor. »Hol mal einer den Kuhbauern! Soll hier aufschließen!« »Ist doch zu!« -4 6 6 -
»Trotzdem! Hier ist so 'ne Schleifspur! Irgendwo muß der Kerl doch geblieben sein!« Ich versuchte erneut, weiter in das Stroh hineinzukommen, doch es ging nicht. Auf dem Hof redeten mehrere Stimmen durcheinander, es bumste gegen das Tor, der Sperrbalken fiel runter, und die Torflügel wurden aufgezogen. Ich blinzelte in die Morgensonne. »Hiiier! Hier liegt das Schwein! Ich hab's doch gesagt! Steh auf, du Sau!« Der Bulle fuchtelte mit einer Pistole herum und trat mit seinem Stiefel von unten in meinen Bauch. Ich sah gar nichts mehr, ich hörte nur seine Stimme, sie kam von ganz weit her: »... hab ich gesagt«, dann lauter: »Los, aufstehen!« Ich kriegte wieder einen Tritt, ich mußte mich übergeben. »Sie sehen's doch, er kann nicht«, sagte ein alter Mann in einer grünen Joppe, er beugte sich über mein blutdurchtränktes Hosenbein. »Misch dich nicht ein, Alter, du sollst nur hier aufschließen! Das andere machen wir, dafür werden wir bezahlt!« »Ruf mal einer 'n Krankenwagen«, sagte ein anderer Bulle. »Schon verständigt.« »Wo hat's dich denn erwischt, zeig mal«, ein Bulle hockte sich neben mich und guckte. »Ich weiß nicht, oben, das Bein...« »Ja«, sagte er, »Scheiße! Komm, hier, rauch erst mal eine, ein paar Züge, das hilft vielleicht ein bißchen. Oder rauchst du noch nicht?« Er steckte zwei Zigaretten an. »Will nicht!« Ich drehte den Kopf weg. »Stell dich doch nicht so an, hier, sie brennt schon.« Er klemmte mir eine Zigarette in den Mund. Ich sog gierig den Rauch ein, während der Kreis der Stiefel mich schweigend umstand. VIERZEHNTER DEZEMBER.
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Schnee war noch nicht gefallen. Holberg sah durch das Fenster die kahlen Äste der Bäume. Arabesken am nachtdunklen Himmel. Morgen also, dachte er, morgen bringen sie mich weiter. Vierzehn Tage lang ist die Zeit stillgestanden. Ich kann schon stehen und kleine Schritte machen, vielleicht bringen sie mich deshalb weg. »Ich habe es vom Arzt«, sagte Schwester Elisabeth, »er weiß, daß ich es dir sagen werde. Wird man dich wieder in das Krankenhaus bringen, in dem du früher schon mal gewesen bist?« »Ich weiß es nicht. Wie lange ist das schon her«, Holberg sagte es mehr zu sich selbst, als zu ihr. »Damals haben sie mir das Bein kaputtgeschossen, es dauerte eine ganze Zeit, bis ich wieder vollkommen fit war. Jetzt haben sie mir die Lungen kaputtgeschossen, ich werde wieder Zeit brauchen, so wie es aussieht, behalte ich doch nichts zurück?« Er sah Elisabeth fragend an. »Nein, du wirst wieder gesund werden. Aber ich würde jetzt etwas auf mich aufpassen. Du hast zweimal Glück gehabt.« »Rodeln deine Kinder, wenn Schnee liegt?« »Ja, und wie gerne. Wie kommst du darauf?« Holberg lächelte. »Es fiel mir nur so ein. Hast du die Puppenhandschuhe fertig?« »Fast, ich brauche nur noch den rechten Daumen. Weißt du, ich meine, kann ich nicht irgend etwas für dich tun?« »Nein, Elisabeth. So wie alles getan wird, so ist es schon richtig. Du hast mir viel geholfen, das weißt du selbst auch.« »Es wird sicher ein schweres Weihnachtsfest für dich werden...« »Nein, Heiligabend gibt es Bockwurst, und am ersten Weihnachtstag gibt es Kakao und ein Stück Butterkuchen. Es ist aber sehr wenig Zucker drauf.« Schwester Elisabeth ging zum Fenster und sah hinaus.
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Ich sollte versuchen zu schlafen, dachte er, dann brauche ich nicht zu denken. Das Rauchen sollte ich jetzt aufgeben, nach vierzehn Tagen, Rauchen ist schädlich.
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