Freder von Holk Trommeln der Hölle
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhau...
10 downloads
264 Views
881KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder von Holk Trommeln der Hölle
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet weiden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Franz-Josef-Straße 21,
A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 96 16 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
Oktober 1978
Scan by Brrazo 03/2006
1.
Die Sage ist eine Form der geschichtlichen Überlie ferung. In Südamerika, zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean sollen im unerschlossenen Gebiet am Oberlauf des Amazonas weiße Indianer leben. Die Sage wird belächelt und ins Reich der Fabel verwiesen. Aber sie hält sich trotzdem. Am Oberlauf des großen Stroms sind viele Hun derttausende von Quadratkilometern Land noch un erforscht. Dort leben die »Weißen Indianer«, und sie sorgen dafür, daß kein Forscher und kein Abenteurer ihr Gebiet betritt. Sie wollen unentdeckt bleiben. Sie wünschen keine Verbindung mit der Welt, töten jeden, der in ihren Bereich gerät. So weiß es die Sage. Viele verlachen sie, aber nicht alle. Einzelne Abenteurer stoßen von Manaus aus westwärts oder von den Anden aus ostwärts vor. Das Unbekannte lockt sie. Sie kommen nicht wieder. Man hört nichts mehr von ihnen. Ihre Namen waren unbekannt und bleiben unbekannt. Es ist nicht der Mühe wert, sich um sie zu kümmern. Doch dann rüstet man Expeditionen aus – eine, zwei, die dritte. Die ganze Welt weiß von diesen Ex peditionen. Die Medien haben ausführlich berichtet. Die Männer, die das Geheimnis jener unbekannten 5
Gebiete lösen wollen, tragen bekannte Namen. Die Expeditionen kommen nicht wieder. Man war tet Monate. Man wartet Jahre. Keiner der Teilnehmer läßt sich wieder sehen. Sie sind verschollen, unter gegangen, gestorben. Jetzt schlägt die Presse Alarm. Die ganze Welt horcht auf. Sollte es etwa doch solche »Weißen Indianer« ge ben, die jene gutausgerüsteten Expeditionen ver schwinden lassen? Behält die Sage recht? Oder schiebt man nur geheimnisvollen »Weißen India nern« in die Schuhe, was Schuld des Amazonas ist? Dieser Strom! Achtzig Kilometer ist er an seiner Mündung breit. Seine Länge beträgt rund fünftausend Kilometer. Er schneidet einen großen Erdteil in zwei Hälften und besitzt einige hundert Nebenflüsse, von denen mehr als ein Dutzend ein paar tausend Kilometer lang sind. Das Gebiet, das durch den Amazonas bewässert wird, umfaßt eine Fläche von siebeneinhalb Millio nen Quadratkilometern. Und wenn der Strom alljähr lich zur Regenzeit um zehn bis fünfzehn Meter an steigt, liegt ein beträchtlicher Teil davon unter Was ser. Die Weißen, die bis jetzt zu den riesigen Ländern um seinen Oberlauf vorgedrungen sind, kann man bald an den Fingern abzählen. Und für jene, die zu rückkamen, braucht man noch nicht einmal eine Hand. 6
Denn dort gibt es tausend Arten zu sterben und kaum eine einzige, um zu leben. Das Unheil war nicht zu verhüten, obgleich Sun Koh selbst am Steuer des Flugzeugs saß. Sie flogen ziem lich tief, fast schon in den violetten, dunstigen Schleiern, die der unermeßliche Urwald in die Höhe atmete. Die Sonne stand übermäßig groß in dunklem Brandrot über dem Horizont. Die Geschwindigkeit war gering. Sun Koh und seine beiden Begleiter wollten etwas von diesen geheimnisvollen Ländern am Amazonas sehen. Sie nutzten die Minuten. Die bald anbrechende Nacht würde sie zwingen, wieder Geschwindigkeit und Höhe zu gewinnen. Viel war nicht zu sehen. Wald, Wald und wieder Wald, dessen Einzelheiten sich von oben her nicht erfassen ließen. Dazwischen blinkten verästelte Fluß läufe auf, gelegentlich auch verschlammte Seen. Le bewesen bemerkte man hier und dort, aber insgesamt lohnte es sich kaum, dauernd hinunterzustarren. Hal Mervin machte nach einer Weile seiner Ent täuschung Luft. »Offengestanden«, murrte er, »das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich möchte wissen, warum diese Gegend so verrufen ist.« »In genügender Entfernung verlieren alle Schrek ken ihre Wirkung«, erwiderte Sun Koh. »Der Urwald wird nur aus der Vogelschau so harmlos aussehen. 7
Übrigens wird wohl bald Sturm aufkommen.« Nimba wies nach vorn. »Dort schiebt sich eine Wand hoch, die wie schmutzige Butter aussieht. Sie kommt sehr schnell.« »Schon da«, murmelte Sun Koh. »Seht euch die Instrumente an. Die Luft ist geradezu unglaublich geladen. Gehen wir lieber nach oben.« Zu spät! Der elektrische Sturm, der schon seit Stunden über dem Urwald gebrütet hatte, brach so plötzlich los, als hätte ihn das heranschießende Flugzeug gezündet. Er packte die Maschine, warf sie einige Kilometer vor wärts, säbelte die Spitzen der Bäume mit ihr herunter und drückte sie gegen die Erde. Eine Tragfläche knickte widerwillig ab. Der Rumpf drehte sich im Kreis, schmierte sich fest gegen den Boden und kam zur Ruhe. Den drei Insassen war einige Minuten lang zumute gewesen, als befänden sie sich in einer Hexenschau kel. Sun Koh hatte sich am Sessel festgehalten, Nim ba war eine innige Verbindung mit dem Instrumen tentisch eingegangen, und Hal hatte sich in letzter Not an Nimbas Körper geklammert. »Ich lebe noch!« stöhnte Hal, als das Flugzeug nach dem letzten Ruck endlich zur Ruhe gekommen war. »Nicht mehr lange, wenn du nicht bald meinen Bauch losläßt«, knurrte Nimba. 8
Sun Koh löste sich vom Steuer und half den bei den hoch. Das Flugzeug stand ziemlich normal, so daß sie wenigstens wußten, was unten und oben war. Glücklicherweise hatte sich keiner von ihnen etwas gebrochen. Sie hatten sich an verschiedenen Körper stellen geprellt, aber das machte ihnen nicht viel aus. »Also noch gut abgegangen«, stellte Sun Koh be friedigt fest. »Na, ob das die richtige Bezeichnung ist?« seufzte Hal, während er probeweise hin und her humpelte. »Mich muß einer durch die Kaffeemühle gedreht ha ben. Man soll eben nicht so gutmütig sein. Das sage ich dir gleich, Nimba: Das nächstemal halte ich dich nicht fest, sondern lasse dich hinrasseln, wie du willst.« Nimba stierte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Du willst mich … Mann, du hast dich doch an mir festgehalten!« »Wie bitte?« Hal winkte ab. »Na ja, Undank ist eben der Welt Lohn. Das Flugzeug ist wohl Bruch, Sir?« »Im Mindestfall eine Tragfläche, und der Rest… Aber ich muß erst einmal nachsehen.« Die Kabinentür klemmte. Er mußte sie mit Gewalt angehen. Nachdem sie einmal in Bewegung geraten war, rollte sie jäh zurück. Durch die Öffnung wuch tete der Sturm herein. Seine Gewalt war derartig groß, daß Sun Koh zurückgeworfen wurde und seine 9
beiden Begleiter lang hinschlugen, obgleich sie sich seitlich von der Tür befanden. Das war keine Luft bewegung mehr, sondern eine mächtige Faust, eine harte Körperlichkeit, die sich wie Bleiplatten auf die Augen legte und wie fester Stoff in die Lunge hin eindrückte. Der gewöhnliche Atem war zu schwach, um dagegen anzukommen. Die Lungen mußten die Luft unter Aufbietung aller Kraft hinauspressen. So begannen die drei wie auf Befehl ungeformte Schreie aus der Kehle zu würgen. Man hörte die Schreie nicht. Man konnte sie höch stens aus der Verzerrung der Gesichter erraten. Der Sturm nahm alle Geräusche weg. Er machte sie unter seinem eigenen Toben unhörbar. Pfeifend, heulend, krachend und berstend raste er über das Flugzeug hinweg. Dabei war er mit unerträglicher Hitze geladen. Die Luft brannte und glühte wie der heiße Atem eines Backofens, der den Schweiß in Strömen aus den Po ren jagt und den Menschen innerhalb von Minuten zu einem weichen, schlaffen Bündel macht. So erschlaf fend wirkte diese feuergetränkte Wärme, daß keiner der drei mehr die Kraft fand, sich gegen den Sturm aufzurichten. Sun Koh versuchte, sich abzustemmen, um wieder an die Tür zu kommen, aber die Kraft seiner Muskeln löste sich gleichsam in Schweiß auf. Plötzlich zerriß die schwarze, dicke Dunkelheit. Bläulichweiß stand die Helligkeit im Flugzeug und 10
beleuchtete die drei Männer, die innerhalb von Minu ten aus der gefahrlosen Höhe in die Hölle des unbe kannten Landes hinuntergeschmettert worden waren. Ein ohrenbetäubender Schlag! Prasselnd und knatternd polterte es hinterher, scharfer Ozongeruch biß sich in den Nasen fest, und dann raste das Gewitter. Blitz folgte auf Blitz und Donner auf Donner. Die Erde wurde nicht mehr dun kel, die Welt war ein einziges zuckendes Flammen meer, und die Donnerschläge vereinigten sich zu ei nem einzigen, kaum erträglichen Getöse, das wie durch ein Wunder die Trommelfelle noch nicht zer fetzt zu haben schien. Ein entsetzlicher Aufruhr der Natur tobte um das verlorene Flugzeug. Die Erde schien aufzubrechen und der Himmel einzustürzen. Nichtig und neben sächlich wurde das winzige Leben, das unter der Wucht des Sturmes gepreßt lag. Alles Bewußtsein, alles Denken und Fühlen schrumpfte zusammen bis auf die kaum geahnte Erwartung der letzten Sekunde, in der einer dieser zahllosen Blitze den Körper im Krampf zusammenziehen würde. Die Luft schien unter Tausenden von Blitzen zu brennen. Wie Feuer und brennender Schwefel stand sie um die Körper herum. Da – ein furchtbarer Schlag und ein Krach, den die Ohren nicht mehr aufnehmen wollten. Dann Stille. 11
Tödliche Stille, die schrecklicher war als das in fernalische Toben. Und plötzlich begann es leise zu rauschen, schwoll an, immer mehr und mehr, bis in feierlichem Brausen die Erlösung niederstürzte. Regen! Die Luft wurde kühl und frisch. Wie sanfter, wür ziger Duft strich sie herein und umspülte die Glieder. Der Regen strömte. In langen Fäden hing er erst wie Tausende von Fransen vor der offenen Kabinen tür, dann vereinigte er sich zu Stricken, dann zu dik ken Bündeln, und dann wurde es eine einzige Flut, die vom Himmel herunterstürzte, wie ein Strom in die Kabine hineinquoll und sie zu füllen drohte. Sun Koh taumelte eben noch rechtzeitig hoch und schloß die Tür. Das schwere Brausen der fallenden Wassermassen wurde zum eintönigen, dumpfen Ge räusch eines fernen Geschehens. In der abgeschlossenen Kabine wagte sich das Le ben schnell wieder hervor. Bei Hal Mervin ging es vor allem ins Mundwerk. Das war in mancher Hin sicht eine glückliche Veranlagung, denn seine Schnoddrigkeit half über manche unerträgliche Lage hinweg. »Du lieber Gott, hier Blitzableiter zu verkaufen – das wäre ein Geschäft. Ich bin für die nächsten fünf zig Jahre bedient, soweit es meinen Bedarf an Gewit tern angeht.« 12
Damit löste sich die Spannung. Über Sun Kohs Gesicht huschte ein Lächeln, und Nimba grinste, als er sich aufrichtete. »Jetzt kommt dir die Gegend doch nicht mehr so alltäglich vor, nicht wahr?« erkundigte sich Sun Koh. Hal schüttelte das Wasser aus seiner Kleidung. »Nein, Sir. Solche Gewitter gibt’s ja nun bei uns zu Haus doch nicht. Hoffentlich können wir uns bald wieder von hier verdrücken.« »Hoffentlich«, stimmte Sun Koh zu. »Vor morgen früh können wir aber den Zustand des Flugzeugs wohl kaum untersuchen.« Hal deutete auf das Wasser am Boden. »Sieht schon jetzt mehr aus wie ein Kahn, der leck geworden ist.« »Zieht euch um«, sagte Sun Koh. »Das Wasser können wir jetzt nicht hinausschaffen. Wir wollen versuchen zu schlafen, solange uns der Regen ohne hin festhält. Es kann sein, daß wir morgen unsere Kräfte brauchen.« »Zum Schwimmen!« sagte sich Hal ahnungsvoll. Trotzdem lag er eine Viertelstunde später in fe stem Schlaf. Und draußen strömte eintönig der Tro penregen weiter. Mit der Plötzlichkeit, mit der elektrisches Licht im Zimmer aufflammt, waren Tag und Sonne da. Der übergangslose Wechsel wirkte schmerzhaft auf die 13
Augen, die sich nur zwinkernd an die Flut des Lichts gewöhnten. Wie helles, durchsichtiges Gold lag die Sonne auf der Landschaft. Es dauerte freilich nicht lange, und ihre Strahlen wurden bleicher und weißer. Mit dem aufsteigenden Tag wandelten sie sich mehr und mehr zu einem flimmernden, leicht rötlichen Glutmeer, über dem die Sonne selbst wie eine verschwimmen de, brennende Scheibe stand. Sun Koh, Hal Mervin und Nimba blickten hinaus. Nicht weit vor ihnen stachen zwischen blinkenden Wasserflecken Schilfstengel auf. Violette Schleier hingen zwischen ihnen, die träge davonzogen und sich auf die Wasserfläche legten, die jenseits der schmalen Schilf wand sichtbar wurde. War das ein Fluß oder ein See? Die Wasserfläche schimmerte breit gedehnt, wurde aber jenseits durch eine dunkle Kante abgeschlossen. Langsam trieb ein mächtiger Baum, dessen Wurzelwerk sich wie ein Klumpen dunkler Schlangen weit über die Oberflä che erhob, in das Blickfeld hinein. Also doch ein Fluß! Die Augen gingen über das Schilf zurück. Unmit telbar am Flugzeug war freies Land zu sehen, gelbli cher Lehm, auf dem schmierige Pfützen standen, da zu Buschwerk und junge Bäume. Auf einem Streifen von annähernd hundert Meter Breite hatte der Ur wald aus unverständlichen Gründen auf das Recht 14
seiner Vorherrschaft verzichtet. Dieser Streifen zog sich vom Ufer des Wassers aus ein ganzes Stück ge rade in das Land hinein, bis er sich langsam krümmte und nicht mehr erkennen ließ, ob er sich fortsetzte. Auf beiden Seiten stand hoch der Urwald an, dort wie eine dunkle Kulisse, über der ein farbensprühen der Schleier lag, hier am Flugzeug wie ein phantasti scher Fiebertraum von Bäumen, Lianen, Orchideen, dicken, giftgrünen Polstern, langen, dünnen Gräsern, zähnefletschenden Affen, zahllosen buntfarbigen Schmetterlingen und grauen Schwärmen von Moski tos. Nach dem Rundblick stiegen die Männer aus, um den Zustand des Flugzeugs zu prüfen. Sie wußten bald Bescheid. Die eine Tragfläche hing zwanzig Meter hoch zwischen Ästen und Lianen, die andere steckte fast zur Hälfte im Lehmboden. Es war gera dezu ein Wunder, daß der Rumpf fast unbeschädigt geblieben war. Er hatte einige Einbuchtungen abbe kommen, sonst aber nichts. Sie standen stumm vor der Ruine. Ihre Gesichter waren ernst. Hal Mervin platzte endlich tröstend her aus: »Bestimmt gibt das noch einen brauchbaren Kahn.« »Möglich«, gab Sun Koh geistesabwesend zu. »Je denfalls ist es kein Flugzeug mehr. Wir können es nicht reparieren.« »Reif zum Verschrotten«, murmelte Nimba. 15
»Und keine Reparaturwerkstatt in der Nähe«, seufzte Hal. »Im Umkreis von einigen tausend Kilometern wohl kaum«, sagte Sun Koh. »Wir müssen das Flug zeug aufgeben und versuchen, zu Fuß weiterzukom men.« »Vielleicht können wir ein Auto mieten?« »Laß deine Witze«, verwies Sun Koh ungehalten. »Unsere Situation ist ernst genug. Wir befinden uns praktisch ohne Hilfsmittel im Urwald des Amazonas, inmitten einer mörderischen Natur und im Bereich von Bewohnern, die uns bestimmt nicht freundlich aufnehmen werden. Nach menschlichem Ermessen wird es uns schwer fallen, lebend aus diesem Gebiet herauszukommen.« Hal zog ein klägliches Gesicht. »Wenn das meine Lebensversicherung wüßte, würde die glatt einen Hubschrauber herschicken. Können wir nicht Hilfe heranholen?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich habe das Funkgerät probiert, während ihr schlieft. Fehlanzeige.« »Ist das dort drüben der Amazonas?«fragte Hal. »Wohl kaum, höchstens einer seiner zahlreichen Nebenflüsse oder der Nebenfluß eines Nebenflusses. Wir können uns nicht mehr genau orientieren. Der Sturm hat die Instrumente beschädigt. Da uns der Sturm jedoch nicht weit trug, könnten wir uns unge 16
fähr an der Stelle befinden, die ich kurz vorher ablas. Sofern die Kartenangaben etwas taugen, wäre das also das Gebiet zwischen Jurua, Amazonas und Yavari.« »Schon Oberlauf, nicht wahr?« »Ja, eine Gegend, in die wohl noch kein Weißer vorgedrungen ist. Tausende von Kilometern im Um kreis um uns herum befindet sich unerforschtes Ge biet, die berüchtigte grüne Hölle des Amazonas.« »Und ausgerechnet hier müssen wir hineinplump sen«, seufzte Hal. »Ich bin neugierig, ob wir uns wieder herausschlängeln.« Sun Koh hob die Schultern. »Versuchen werden wir es auf alle Fälle. Leider fehlt es uns am Nötigsten. Noch nicht einmal eine Axt haben wir zur Verfügung. Wir brauchen aber Äxte oder schwere Haumesser, wenn wir durch die sen Urwald hindurchkommen wollen.« »Und wenn wir auf dem Wasser fahren?« »Dann fehlt uns ein Boot.« »Die Bäume?« »Ja, aber es wird uns viel Mühe kosten, bis wir aus einem dieser Bäume ein Boot herausgeholt haben. Wahrscheinlich muß es aber sein. Wir können nur auf dem Wasserweg den Versuch machen, auf den Amazonenstrom zu gelangen und dann solange fluß abwärts zu fahren, bis wir eine Siedlung treffen.« »Aber das kann doch wochenlang dauern«, meinte Hal. 17
»Monatelang«, sagte Sun Koh. »Vielleicht brau chen wir sogar Jahre, bevor wir aus diesem Gebiet herauskommen.« »Bis dahin sind wir alt und grau und haben längst vergessen, wie es in der Welt aussieht.« Nimba faßte Sun Koh plötzlich am Arm. »Da…« Sun Koh sah gerade noch eine flüchtige Bewe gung zwischen Gras und Busch. »Was war?« »Ein Mensch«, flüsterte Nimba. »Ein Eingebore ner, ganz nackt, mit einer dünnen Stange auf dem Rücken. Er erschrak, als er uns sah, und machte so fort kehrt.« In der Ferne rasselten Trommeln. Dünn und höl zern klang es, fast so, als ob Kinder auf Blechtrom meln schlügen. Und doch lag in diesem fast unbehol fenen Klappern eine furchtbare Drohung. Die drei am Flugzeug griffen unwillkürlich nach ihren Pistolen. »Das ist die Antwort auf die Nachricht, die der Mann gebracht hat«, sagte Sun Koh leise. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind die Indianer hier. Das Trommeln kommt näher. Klettere auf das Flug zeug hinauf, Nimba. Du hast von oben eine bessere Sicht. Du besetzt das vordere Fenster, Hal. Nicht schießen, bevor es nicht zum Äußersten kommt. Aber gebt gut acht. Wir müssen mit Giftpfeilen rechnen.« 18
Die beiden bezogen stumm ihre Plätze. Minuten vergingen. »Bewegung im Busch«, meldete Nimba von oben. »Mindestens zwei Dutzend Leute. Man sieht aber nur ab und zu einen Kopf.« »Die Eingeborenen scheinen klein zu sein.« »Ja. Ah, da kommt jemand hinter ihnen herge rannt.« Die Trommeln dröhnten stärker. Nimba berichtete hastiger. »Jetzt hat er die anderen eingeholt. Er schwingt ein Gewehr.« Sun Koh streckte sich. »Ein Gewehr?« »Ja.« »Rätselhaft!« Das Trommeln brach plötzlich ab. Im Busch wur de es still. »Der Mann kommt allein vor. Die anderen bleiben stehen.« Nun sah auch Sun Koh den einzelnen Mann he rankommen. Er brach mit schnellen Schritten durch Büsche und Gras, wobei er über seinem Kopf einen grünen Wedel schwenkte. In der herabhängenden Hand hielt er einen Gegenstand, der tatsächlich ein Gewehr sein konnte. Genaues ließ sich von Sun Kohs Platz aus nicht sagen, da die Gräser noch ver deckten. 19
»Nicht schießen!« warnte Sun Koh halblaut. »Der grüne Zweig ist wohl das Zeichen der friedlichen Annäherung. Beobachte die anderen, Nimba.« Der Mann wurde deutlich sichtbar. Er trug außer einem Laubschurz nichts auf dem Leib. Über die Schulter lief jedoch ein schmutziggrauer, breiter Kordstreifen, an dem flache Patronentaschen saßen. Die linke Hand hielt tatsächlich ein Gewehr, wäh rend die Rechte immer noch den grünen Busch schwenkte. Die Haut des großen, kräftig gebauten Mannes war rotbraun. Sie war mit Rissen, verheilten Schürfungen und alten Narben förmlich übersät. Es war nicht die Haut eines Indianers, sondern die eines Weißen, die durch jahrelangen Aufenthalt in diesen Breitengra den gegerbt worden war. Oder hatten sie es doch mit einem Eingeborenen zu tun? Gewehr und Patronengürtel, Körpergestalt und Haut sprachen für einen Weißen, auch Augen und Haare wirkten verhältnismäßig hell. Andererseits war der Mann unglaublich verwildert. Der Körper starrte von Schmutz, ebenso der üppige Vollbart und die lang über die Schulter fallenden Haare. Er kam über die letzten zwanzig Meter im Lauf schritt heran. Er stieß dabei Rufe aus, die keiner der drei verstand. Schließlich stand er vor Sun Koh und redete in wirren Lauten durcheinander. Offensichtlich wurde er von einer ungeheuren Erregung geschüttelt. 20
Sun Koh hielt schließlich seinen Arm fest. »Ruhig. Sprechen Sie englisch?« Es war, als ob diese wenigen Worte ein Tor aufris sen. Der Mann stand plötzlich ganz still, holte tief Atem und sagte dann mit erschütternder, holpriger Einfachheit: »Das war es. Ich mußte Sie sprechen hören, um zu wissen, daß ich noch englisch sprechen kann. Ich habe es jahrelang nicht getan und es dar über fast vergessen. Ich heiße Jerry Recife. Wie kommen Sie hierher?« »Ich heiße Sun Koh. Dort auf dem Flugzeug sehen Sie meinen Freund Nimba, und dort am Fenster steht Hal Mervin. Wir befanden uns auf einem Flug, wur den von einem Sturm überrascht und stürzten ab.« Jerrys Augen gingen über die Trümmer des Flug zeugs. »Glück gehabt«, murmelte er. »Aber vielleicht wä re es besser für Sie gewesen, wenn Sie tot hier unten gelandet wären. Das hätte Ihnen viel erspart.« »Sie sehen unsere Lage schwarz, nicht wahr?« Jerry stieß einen rauhen Laut aus, den man zur Not für ein Lachen halten konnte. »Nun, mit mir ist zwar auch nicht viel los, aber in diesem Fall hat mich das Schicksal als rettender En gel hierher verschlagen. Sie wären jetzt schon tot, wenn ich nicht diese verrückten Puhadas zurück gehalten hätte.« »Puhadas?« 21
Jerry nickte und beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis. »Dort hinten liegen sie. Jeder hat sein Blasrohr und ein Dutzend Giftpfeile bei sich. Sobald einer dieser Pfeile Ihnen auch nur die Haut ritzt, sind Sie verloren.« »Wie kommen Sie …« »Warten Sie«, unterbrach Jerry Recife. »Ich muß zunächst zu den Puhadas zurück. Wir haben soviel zu erzählen, daß wir in ein paar Minuten ohnehin nicht fertig werden. Und sehr lange warten sie nicht. Man muß sie sehr vorsichtig behandeln, denn wenn sie schlechte Laune bekommen, blasen sie uns ihre Pfeile ins Gesicht. Bleiben Sie hier. Ich werde die Puhadas heranholen. Sie brauchen vorläufig nichts zu befürchten. Mein Einfluß ist gerade groß genug, um sie friedlich zu halten. Sie werden bestimmt nichts Feindliches unternehmen, solange sie neugie rig sind. Man wird Sie zu den Hütten führen. Kom men Sie ruhig mit, nachdem Sie Ihr Flugzeug dicht gemacht haben. Ich werde dafür sorgen, daß Sie zu rückkehren können, bevor es Abend ist. Dann wollen wir alles Weitere besprechen.« »Einverstanden«, sagte Sun Koh. Jerry lief zurück. »Wer ist das?« erkundigte sich Hal. »Ein Weißer, der irgendwie hierher verschlagen wurde. Er kommt gleich mit den Eingeborenen zu 22
rück. Seid vorsichtig in euren Bewegungen und Mie nen. Er sieht eher wie ein Buschneger als wie ein Weißer aus. Sind Ihnen die furchtbaren Narben an seinem Körper aufgefallen?« »Mir ist noch mehr aufgefallen. Er sieht wie ein Mensch aus, der jahrelang in der Hölle gelebt hatte.« »Die Indios kommen«, meldete Nimba. 2. Die Puhadas kamen. Sie glitten zwischen Büschen und Gräsern heran, kaum mehr als eineinhalb Meter groß. Ihre Körper waren hager und zierlich, ihre Beine dünn, doch traten die Bäuche gewölbt vor. Die Gesichter wirkten sehr flach und ausdruckslos, die kleinen Augen blickten scheu und unruhig, dabei aber stumpf und unbelebt. Die Haare lagen in schwarzen Strähnen weit über der niedrigen Stirn. Sie waren dicht über den Augen ponyartig wegge schnitten. Die schmutzigen, ölverschmierten Körper waren nackt. Bei einigen wirkte die Haut wie brauner, stumpfer Samt, aber bei der Mehrzahl verband sich die ursprüngliche Hautfarbe mit einer undefinierba ren Kruste. Die Nacktheit wurde nur durch einen dünnen Lianenstrick, der um die Hüfte lief, unterbro chen. An ihm hingen Taschen aus Binsengeflecht, in denen sich die sorgfältig in Blätter eingehüllten Gift 23
pfeile befanden. Die Bewaffnung der Puhadas bestand aus einer kurzen Keule aus hartem glänzendem Holz, die in der linken Hand getragen wurde. In der rechten hiel ten sie ein langes Rohr – das Blasrohr, mit dessen Hilfe sie die Giftpfeile abschossen. Neugierig starrten die Puhadas auf die drei Frem den. Einige Zudringliche wagten sich dichter heran und versuchten Sun Koh zu betasten. Ein scharfer Ruf Jerrys veranlaßte sie, wieder Abstand zu neh men. Es waren rund zwei Dutzend Männer. Ihre Lippen bewegten sich fast ununterbrochen, plapperten und zischten unverständliche Laute. Einer von ihnen gur gelte und schnatterte Jerry etwas ins Gesicht. Dieser übersetzte es. »Die Puhadas laden ihre neuen Freunde ein, sie in den Hütten zu besuchen. Bitte folgen Sie.« Umgeben von den lautlos dahinhuschenden Ein geborenen schritten Sun Koh und seine beiden Be gleiter neben Jerry her. »Wie heißt der Fluß hinter uns?« erkundigte sich Sun Koh. »Er wird wohl auf keiner Karte verzeichnet sein. Es ist ein unwichtiger Nebenfluß, der irgendwie mit dem Amazonas zusammenhängt. Die Indianer nennen ihn den Fluß der großen Schlange. Das hat aber nichts zu bedeuten. Beim nächsten Stamm heißt 24
er schon wieder anders.« »Gibt es hier keine Giftschlangen?« fragte Hal und wies auf die nackten Füße der Eingeborenen. »Mehr als genug, aber die Puhadas wissen schon, wie man ihnen aus dem Weg geht. Sie sind von Kindheit an in diesem Urwald und kennen ihre Um gebung besser als andere ihre Heimatstadt. Übrigens nehmen sie es nicht tragisch, wenn einer von einer Schlange gebissen wird. Er ist dann eben tot.« »Haben die Puhadas Angst vor uns?« fragte Sun Koh. »Angst?« Jerry wunderte sich. »Wieso? Wenn Sie etwa meinen, daß sie Ihre Pistolen fürchten, haben Sie sich geirrt.« »Das nicht, aber ich hatte den Eindruck, daß auf den Gesichtern ein Ausdruck von Angst liegt.« Jerry nickte. »Das meinen Sie. Ja ja, ich vergaß, daß Sie diese Leute zum erstenmal sehen. Ich entsinne mich, daß ich anfangs auch diesen Eindruck hatte. Aber er täuscht. Sie haben keine Angst. Sie sehen immer so aus. Aber vielleicht kann man es auch Angst nennen. Die Puhadas sind außerordentlich scheu und stehen unter der Gewalt einer Natur, von der Sie sich wohl kaum eine richtige Vorstellung machen können. Hier ist der Mensch kein Herrengeschöpf, das stolz und sieghaft über die Erde schreitet, sondern ein kärglich ausgestattetes Tier, das sich nur unter tausend Vor 25
sichten, Schlichen und Listen kläglich zu halten weiß. Die übermächtige Natur erdrückt den Men schen. Er schleicht geduckt durch den Urwald und ist froh, wenn er den zahlreichen Schrecknissen auswei chen kann. Diese Puhadas leben nicht, sondern vege tieren. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen…« »Vollkommen«, sagte Sun Koh. »Wir haben ja ge stern das Gewitter erlebt.« »Dann haben Sie wenigstens einen kleinen Vorge schmack bekommen. Betrachten Sie es als Anfang – und vielleicht als Anfang vom Ende.« Der lianenverhangene Urwald trat weiter zurück. Voraus wurde blauschimmerndes Wasser sichtbar, das von Schilfstreifen eingerahmt war. Nicht weit vom Wasser standen einige Hütten, die nur aus höl zernen Pfeilern und Dach bestanden. Drei von ihnen waren auffallend hoch, die vierte war tief geduckt. In den hohen Hütten hingen Dutzende von Hängemat ten über- und nebeneinander. Zwischen ihnen stieg blauer Rauch nach oben, so daß Hal fragte: »Dort brennt es wohl?« »Es brennt schon«, bestätigte Jerry nicht ohne Humor, »aber absichtlich. Unten wird ein Feuer in Gang gehalten. Der Rauch streicht Tag und Nacht durch die Hütten, um die Moskitos fernzuhalten.« Vielfaches Geschrei schallte den Ankömmlingen entgegen. Zwischen den Hütten wimmelte eine ganze Menge Menschen herum, Männer, Frauen und Kin 26
der, alle gleich nackt, alle gleich scheu und alle gleich neugierig. Die flachen Gesichter sollten wohl Freundlichkeit ausdrücken, trotzdem wirkten sie aber nur wie komische, verzerrte Fratzen. Die Freundlich keit wirkte keinen Augenblick recht glaubhaft, zumal die Trommeln fast dauernd rasselten. In der kleinen Hütte hockte über einem qualmen den Feuer ein verunglücktes Lebewesen und rührte mit einem Stab in dem Gefäß herum, das auf dem Feuer stand. Irgendeiner der Puhadas redete auf Sun Koh und seine beiden Leute ein, als sie auf dem Platz zwi schen den Hütten angekommen waren. Sie hörten mit unbewegten Mienen zu. Jerry übersetzte wieder: »Das ist eine Einladung zum Essen. Ich werde sie in Ihrem Namen annehmen.« Er gab dem Redner der Puhadas in deren Sprache eine wort- und gestenrei che Antwort, dann winkte er Sun Koh. »Kommen Sie, dort zum Feuer.« Sie hockten sich auf der bloßen Erde um das Feuer herum nieder. Die Eingeborenen nahmen gegenüber Platz oder bildeten einen Kreis, machten dabei aber nicht den Eindruck, als ob sie sich noch übermäßig für die Fremden interessierten. Ältere Frauen brachten auf großen Blättern ver schiedene Speisen, die sie vor den Fremden auf die Erde legten. Hal konnte sich nicht enthalten, miß trauisch zu schnüffeln. 27
»Das können Sie ruhig essen«, beruhigte Jerry. »Das Fleisch stammt von Affen und schmeckt nicht schlecht, das andere sind Bananen, Maniokwurzeln und Paranüsse, geröstet und miteinander vermischt.« »Gar nicht schlecht«, lobte Sun Koh, nachdem er zugelangt hatte. »Das Fleisch schmeckt sehr fade, nicht wahr?« »Es ist ungesalzen. Dieser Stamm kennt das Salz überhaupt nicht.« »Ich wundere mich schon, daß sie sich überhaupt zu solchen Nahrungsmitteln aufgeschwungen haben?« Jerry hob die Schultern. »Gott, sie essen auch noch anderes Zeug. Als größter Leckerbissen gelten Maden und Engerlinge, die sich die Puhadas aus verfaulten Baumstämmen herausholen.« Hal schüttelte sich. »Wie steht’s mit Fischen?« fragte Sun Koh. »Fische gibt es genug, aber die Eingeborenen fan gen sie nicht, sie haben keine Angeln.« »Andere wilde Völker fangen die Fische mit Pfeil und Bogen oder mit dem Speer.« »Diese Waffen sind bei den Puhadas unbekannt. Außer der Keule ist ihre einzige Waffe das Blasrohr, aus dem sie ihre giftigen Pfeile herausblasen.« Einer der Eingeborenen sagte etwas zu Recife. Dieser antwortete und wandte sich dann wieder an Sun Koh. 28
»Die Leute wollen noch auf die Jagd, wundern Sie sich also nicht, wenn sie nach und nach verschwin den. Ein paar werden immer hierbleiben.« Tatsächlich löste sich die Runde kurz darauf auf, so daß sich Jerry mit den drei Ankömmlingen ziem lich ungestört unterhalten konnte. »War das der Häuptling des Stammes?« erkundig te sich Sun Koh. Jerry schüttelte den Kopf. »Einen Häuptling gibt es nicht. Unsere Begriffe sind für das Zusammenleben dieser Menschen nicht recht anwendbar. Diese Puhadas sind genau genom men eine zusammengelaufene Horde, die nur deshalb zusammen wohnt, weil einer zum Schutz des anderen wird. Im allgemeinen lebt jeder mit seiner Familie für sich, keiner kümmert sich um den andern. Ein Oberhaupt anerkennen sie nicht. Der einzige Mann, der etwas mehr Bedeutung besitzt, ist der Alte dort in der kleinen Hütte. Er spielt so etwas Ähnliches wie einen Zauberer, seine Hauptaufgabe liegt jedoch in der Zubereitung des Pfeilgiftes. Dafür, daß er die Männer mit dem nötigen Gift versorgt, erhält er seine Lebensmittel, so daß er nicht auf die Jagd zu gehen braucht.« »Ist das Gift sehr stark?« »Ein Ritz in die Haut, eine winzige Spur ins Blut, und man ist tot. Innerhalb weniger Minuten rührt man kein Glied mehr. Es ist ein ungeheuer wirksa 29
mes Gift. Wenn die Puhadas einmal hinter einem Menschen her sind, dann ist er so gut wie verloren. Sie bewegen sich fast geräuschlos, und den Pfeil, den sie aus dem Rohr blasen, hört man nicht kommen. Der Tod kommt über den Menschen, bevor er es recht begriffen hat.« Sie erhoben sich und wanderten zwischen den Hütten bis zum Wasser hinunter. »Ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte Jerry, »was für uns von größter Bedeutung sein wird.« Als sie am Wasser ankamen, hielt er an und wies auf einen dunklen Baumstumpf, der halb im Wasser stand. »Das ist es nicht, was ich Ihnen zeigen will, aber das wird Sie auch interessieren. An diesen Pfahl bin den die Puhadas die Männer und Frauen, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht haben. Die Krokodile wissen schon Bescheid und holen sich ihre Beute ziemlich schnell.« »Diese Eingeborenen bestrafen den Ehebruch so scharf?« »Ja. Sie können zwar für drei Hundezähne eine Frau kaufen, aber sie müssen sie dann auch behalten und ihr treu bleiben. Das Familienleben der Puhadas ist bei aller Einfachheit ziemlich eng. Wer Ehebruch begeht, kommt vor die Krokodile.« »Sie sprachen von Hundezähnen?« »Das ist hier die übliche Münze. Geld gibt es 30
nicht, die einzigen Wertgegenstände sind die Eck zähne von Hunden, die oft von weit her kommen, denn die Puhadas besitzen selbst keine Hunde. Diese Zähne ersetzen das Geld und dienen gleichzeitig als Schmuck. Außerdem gibt es noch Wertgegenstände, die aber noch seltener sind als Hundezähne – das sind die geräucherten Köpfe von menschlichen Fein den. Sie werden abgeschlagen, ausgehöhlt, mit Sand gefüllt und dann monatelang über dem Feuer gerö stet. Sie schrumpfen bis auf die Hälfte ihrer Größe zusammen, halten sich aber dafür jahrzehntelang.« »Eine barbarische Sitte.« Jerry nickte. »Den Toten kann es ja gleich sein, aber für die Überlebenden ist es ein entsetzlicher Anblick, wenn er die Köpfe seiner Freunde als Räucherwaren wie dersehen muß. Doch lassen wir das vorläufig.« Das hatte so herb und bitter geklungen, daß Sun Koh weiter keine Frage stellte. Stumm schritten sie am Ufer weiter. Nach einigen hundert Metern bot sich ihnen ein überraschender Anblick. Zwischen Gras und Busch stand eine Reihe von Kisten, die meisten aus Blech, einige verlötet, alle verschlossen. »Was ist das?« fragte Sun Koh erstaunt. Jerry machte eine umfassende Handbewegung. »Diese Kisten, ich und ein halbes Dutzend einge schrumpfter Köpfe in der Hütte des Giftmischers 31
sind alles, was von einer stattlichen Expedition üb rigblieb, die vor langen Jahren auszog, um diese Landgebiete am Oberlauf des Amazonas zu erfor schen. Fragen Sie nicht weiter, ich werde Ihnen alles noch im Zusammenhang erzählen. Wir wollen jetzt nichts tun, als uns klar zu werden, um dann so schnell wie möglich zu handeln. Zunächst: Haben Sie die Absicht hierzubleiben?« »Natürlich nicht. Wir wollen unter allen Umstän den versuchen, zivilisierte Gegenden zu erreichen.« »Darf ich mich Ihnen anschließen?« »Selbstverständlich. Sie werden uns damit sogar einen großen Dienst erweisen, denn Sie kennen die Gefahren dieses Landes.« Jerry nickte befriedigt. »Gut, ich hatte das nicht anders erwartet. Als ein zelner habe ich es nicht gewagt, mich durch den Ur wald zu schlagen, aber als ich Sie sah, da stand mein Entschluß fest. Nun das zweite: Wie steht es mit Ih rer Ausrüstung?« »Sehr schlecht. Ich glaube, uns fehlt das Notwen digste. Pistolen haben wir zwar, aber das ist auch al les. Uns fehlen Gewehre.« Jerry wies auf eine der Kisten. »Dort liegt ein halbes Dutzend Gewehre sorgfältig eingeölt, daneben mehr Munition, als wir tragen können.« »Wir haben keine Medikamente.« 32
»Diese ganze Kiste ist voll Chinin.« »Äxte oder Haumesser?« »Hier liegt ein Dutzend schwerer Macheten.« Sun Koh atmete tief auf. »Sie nehmen mir eine schwere Sorge vom Herzen. Mit diesen drei Dingen ausgerüstet, wird es uns leichter fallen, durch den Urwald zu kommen.« »Es ist noch mehr da. Wir waren gut ausgerüstet. Vor allem werden wir Hängematten brauchen, von denen eine ganze Anzahl in einer der Kisten liegen muß. Wir dürfen natürlich auch nicht zuviel mitneh men, weil wir keine Träger haben.« »Wie ist es möglich, daß die Indianer diese Kisten jahrelang so ruhig stehen ließen?« »Sie haben keine Verwendung dafür. Die Einzel stücke, die hier überall herumlagen, haben sie im Laufe der Zeit weggeschleift, aber ohne jemals da von Gebrauch zu machen. Diese Kisten ließen sie stehen. Ich brachte ihnen bei daß böse Geister in ih nen stecken.« »Ein Glück für uns. Werden die Puhadas es dul den, daß wir die Kisten forttragen?« Recife blickte nachdenklich zu Boden. »Ich führte Sie absichtlich so schnell wie möglich hierher, weil ich das Gefühl habe, daß wir bald han deln müssen. Die Indianer sind wie die Kinder – jetzt freundlich und gutwillig, im nächsten Augenblick unerbittlich grausam. Ich habe ihnen vorhin vorge 33
schwatzt, daß Sie gekommen sind, um die bösen Geister fortzuschaffen. Sie schienen es zu glauben, aber man weiß nie, wie sie in einigen Stunden dar über denken. Ich wollte Ihnen daher vorschlagen, die Kisten sofort aufzubrechen und alles zu Ihrem Flug zeug zu schaffen, was wir verwenden können. Die Männer sind größtenteils auf die Jagd gegangen, so daß wir hier ungestört arbeiten können. Haben wir die Sachen einmal aus dem unmittelbaren Bereich der Indianer heraus, so mögen sich die Dinge ent wickeln wie sie wollen.« Sie machten sich sofort an die Arbeit. Jerry Recife staunte nicht schlecht, als die drei Fremden aus den Stahlschnallen ihrer Gürtel winzige, kaum sichtbare Klingen herauszogen und damit die Blechkisten auf schnitten, als ob sie aus Papier beständen. »Ich merke«, seufzte er, »daß ich jahrelang außer der Welt gewesen bin. Solche Messer habe ich noch nicht kennengelernt.« »Sie sind auch jetzt noch sehr selten«, erwiderte Sun Koh leichthin. »Hoffentlich haben Sie nicht vergessen, Rasier messer mitzubringen?« Sun Koh lächelte. »Sie werden sich nachher wieder menschlich her richten können. Kleider haben wir auch an Bord.« »Es wird mir nicht leicht fallen, mich wieder daran zu gewöhnen. Hier sind die Macheten.« 34
Säuberlich geordnet, eingewickelt und geölt lagen die schweren Haumesser in der Kiste. Kein einziger Rostfleck trübte die blanken, breiten Klingen. Hal Mervin hieb mit einer der Macheten sausend durch die Luft. »Donnerwetter«, meinte er, »das sind Dinger. Damit muß man doch ganze Bäume durchschlagen können?« Jerry lachte kurz auf. »Haben Sie eine Ahnung. Die Messer sind zwar schwer wie drei Äxte und scharf wie Rasierklingen, aber sie reichen trotzdem nur gerade hin, um sich durch das Lianengewirr hindurchzuschlagen. Wenn man vom frühen Morgen bis zum Abend ununterbro chen mit der Machete arbeitet, kommt man doch höchstens fünf Kilometer vorwärts, und dann hat man noch nicht einmal eine regelrechte Gasse gehauen, sondern nur einen Durchschlupf, der in ei nigen Tagen schon wieder überwuchert ist.« »Da können wir uns ja auf etwas gefaßt machen«, murmelte Hal ahnungsvoll. Sie holten nacheinander Gewehre, Patronen, Hän gematten, Chinin und andere Dinge aus den Kisten heraus, packten sich alles auf und traten den Rück weg an. Die Eingeborenen, die sich im Dorf befan den, schnatterten erregt auf sie ein, aber es gelang Jerry, sie zu beschwichtigen. Man hielt sie nicht auf. Sie kamen ungefährdet zum Flugzeug zurück. 35
Jerry war sichtlich erleichtert. »Das schwerste Stück haben wir geschafft«, sagte er. »Selbst wenn uns die Puhadas noch angreifen, haben wir immer noch die Möglichkeit zur Flucht. Ich würde auf jeden Fall raten, daß wir uns gleich ein Boot beschaffen. Wir verankern es im Schilf. Das Flugzeug liegt so günstig, daß wir es vor dem Zugriff der Indianer schützen können. Und ob wir morgen noch Zeit genug haben, das Boot fertig zu machen, wage ich zu bezweifeln.« »Ein Boot?« erwog Sun Koh. »Werden wir dazu nicht längere Zeit brauchen?« »Eine halbe Stunde.« »Aber…« »Doch. Man muß nur den richtigen Baum kennen. Wenn ich nicht irre, stehen flußaufwärts einige Pal mettos. Kommen Sie.« Sie gingen ein Stück flußaufwärts. Jerry wies auf einige Bäume von verhältnismäßig heller Farbe. »Das sind Palmettos, eine der schönsten Gaben, die dem Menschen in dieser Wildnis von der Natur geschenkt werden. Wir werden gleich diesen Baum nehmen.« Die Äxte schlugen dumpf in das weiche Holz. Der Stamm war über zwei Meter dick, stürzte aber trotz dem schon nach zwanzig Minuten mit einem dump fen Krach durch das Lianengewirr hindurch in das sumpfige Ufer hinein. 36
»Ein herrlicher Baum!« lobte Jerry. »Er ist die Rettung für alle, die ihr Heil auf dem Wasser suchen müssen. Im Handumdrehen ist ein Boot fertig. Es ist ein bißchen wacklig, trägt aber bei einigem Geschick sicher durch diese Hölle hindurch. So, jetzt können wir mit dem Aushöhlen beginnen.« Sie hatten von dem zwei Meter starken Stamm ein ungefähr acht Meter langes Stück abgeschlagen. Nun holten sie aus diesem Stück das Holz heraus, so daß eine Art Trog entstand. Ein merkwürdiger Baum war dieser Palmetto schon. Er bestand eigentlich gar nicht aus Holz, son dern aus einer zähen, festen Rinde, die ein markähn liches Innere umhüllte. Die weichen, saftreichen Fa sern ließen mühelos herausschlagen. Vorn und hinten blieben auf Jerrys Anweisungen hin doppelte Schich ten des Marks stehen, zwischen die dicker Lehm ge preßt wurde. Damit war das Kanu fertig. Sie stellten noch schnell einige Paddel her, dann drückte Jerry das Boot ins Wasser und ließ es flußabwärts bis zu der Stelle treiben, an der sich das Flugzeug befand. Da bei wich er geschickt einem riesigen Krokodil aus, das sich dem zerbrechlichen Fahrzeug in träger Neu gier in den Weg legen wollte. Als Sun Koh mit seinen beiden Begleitern beim Flugzeug angelangt war, machte Jerry das Boot schon im Schilf fest und gesellte sich wieder zu den 37
dreien. Auf seinem Gesicht zeigte sich zum ersten mal Hoffnung. »Jetzt können die Puhadas kommen«, meinte er. »Ich glaube, wir werden ihnen entwischen.« »Sie fürchten sie sehr, nicht wahr?« »Mehr als alles andere, was es sonst noch in die sem verrückten Land gibt«, gestand Jerry unumwun den. »Dann bleiben Sie am besten gleich bei uns. Oder möchten Sie zu den Hütten zurückkehren?« »Ich werde mich hüten. Ich habe keine Lust, mein so lange aufbewahrtes Leben in dem Augenblick zu opfern, in dem ich wieder angefangen habe zu hof fen.« Wie eine Unterstreichung kam aus der Ferne das Rasseln der Trommeln, hölzern und kindlich einfach und dennoch drohend. Von Mittag bis Abend saßen sie zu viert im Flug zeug. Jerry Recife sah jetzt wesentlich verändert aus. Die Kleidungsstücke Sun Kohs, die er trug, gaben ihm das Aussehen eines Europäers. Sein struppiger Bart war gefallen. Ein scharfkantiges, energisches Gesicht war darunter zum Vorschein gekommen. Auch die Haare hatte er sich geschnitten und gewa schen. Insgesamt machte er wieder einen menschli chen Eindruck. Lange herrschte Schweigen. Sun Koh und seine beiden Begleiter spürten, daß der Augenblick ge 38
kommen war, in dem Jerry erzählen wollte. Sie lie ßen ihm Zeit und warteten, während er vor sich auf den Boden starrte. »Ich glaube, ich muß Ihnen eine Menge erzählen«, begann er endlich zögernd. »Ich weiß bloß nicht, wie ich anfangen soll. Wissen Sie, was ein Seringueiro ist?« »Nein.« »Ein Kautschuksucher. Ich war Seringueiro, fast solange ich denken kann. Ich wurde irgendwo in der Stadt Recife an der Küste geboren. Man fand mich vor einer Hütte liegend. Mein Vater soll ein Englän der gewesen sein, meine Mutter eine Quadronin. Ge naues konnte ich nicht erfahren. Ich habe jedenfalls meine Eltern nie gekannt. Irgendwo bin ich am Rand der Stadt groß geworden. Ich war noch keine zwan zig Jahre, als ich in den Urwald ging – als Kau tschuksucher.« »Ich hielt diesen Beruf für ausgestorben«, warf Sun Koh ein. »Kautschuk wird doch heute in Planta gen gewonnen, so daß sich die Arbeit eines Kau tschuksuchers kaum mehr lohnen wird.« Jerry schüttelte den Kopf. »So leicht stirbt der Kautschuksucher nicht aus, wenigstens nicht, solange es noch Menschen gibt, die für ein paar Eimer Kautschukmilch ihr Leben wagen. Seringueiros sind Männer, die nichts mehr zu verlie ren haben. Die finden schon einen Händler, der sie 39
auf Kredit ausrüstet und ihnen nachher die Mühe von Monaten mit einem Schandgeld bezahlt. Dieser Kau tschuk ist billig, viel billiger als der Plantagenkau tschuk, und deshalb wird es immer Seringueiros ge ben. Und den Seringueiro treibt es immer wieder in den Urwald, obgleich dieser die Hölle für ihn bedeu tet und obgleich er tausendmal schwört, keinen Fuß wieder in ihn hineinzusetzen. Aber sobald er heraus ist, zieht es ihn mit Gewalt wieder zurück. Er kommt nicht los. Es ist eine Art Sehnsucht, eine Art Gefes seltsein. Und dazu kommen dann natürlich die wirt schaftlichen Verhältnisse. Das schwer verdiente Geld ist in wenigen Tagen oder Wochen verjubelt, so daß dem Seringueiro schließlich nichts anderes übrig bleibt, als das Angebot des Händlers anzunehmen.« »Schwere Arbeit, nicht wahr?« Jerry lachte kurz und verbissen auf. »Schwer? Das reicht kaum. Sie werden es besser beurteilen können, wenn Sie erst einmal ein paar Ta ge durch diesen Wald gewandert sind. Zunächst ein mal dauert es oft viele Wochen, bevor man nach mühseligem Suchen eine Estrada gefunden hat, also einen Platz, an dem die Gummibäume dichter beiein ander stehen. Aber machen Sie sich keine falschen Vorstellungen. Eine derartige Estrada umfaßt ein ausgedehntes Gebiet. Die Bäume stehen nicht einer neben dem anderen, sondern Hunderte von Metern voneinander entfernt. Ein einziger Rundgang durch 40
die Estrada dauert gewöhnlich einen ganzen Tag. Und jede Tageswanderung bietet hundert Gelegen heiten zu sterben. Man haut sich mit der Machete durch den Wald hindurch, klettert über gestürzte Bäume, watet durch Sümpfe, läßt sich von Blutegeln und Zecken halb auffressen und ist froh, wenn man Krokodile, Buschmeister oder Korallenottern recht zeitig bemerkt. Ein feines Leben, sage ich Ihnen, von dem sich niemand etwas träumen läßt, der es nicht selbst mitgemacht hat.« »Sie ritzen die Gummibäume an, um den Kau tschuk zu gewinnen?« »Ja. Man schlägt Kerben in die weißen Stämme hinein und hängt alte, verrostete Blechbüchsen dar unter. In einige Stunden haben sie sich mit dem wei ßen, zähen Saft gefüllt. Der Saft wird in Eimern zum Lagerplatz getragen. Manchmal trinkt der Seringuei ro in seiner Verzweiflung auch die Milch, wenn ihm nicht Zeit bleibt, einen Affen zu schießen. Sie schmeckt gut, aber sie ist ungesund. Deshalb hütet man sich gewöhnlich davor. Affenfleisch ist jeden falls besser.« »Ich kann mir größere Delikatessen denken«, murmelte Hal. »Im Urwald ist man oft genug froh, einen Affen schießen zu können, obgleich es Tiere in Hülle und Fülle gibt. Ich finde das Fleisch nicht schlecht, und man gewöhnt sich daran.« 41
»Wie wird aus der Kautschukmilch der feste Kau tschuk gewonnen?« fragte Sun Koh. »Er wird geräuchert«, gab Jerry Auskunft. »Man räuchert ihn über offenem Feuer. Dabei wird er all mählich fest. Er entwickelt aber scharfe, giftige Dämpfe. Eine unangenehme Arbeit, aber sie muß eben erledigt werden. Wenn der Seringueiro Frau und Kinder mit in den Wald genommen hat, müssen diese das Räuchergeschäft übernehmen.« »Frauen und Kinder?« Jerry hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Was wollen Sie? Die meisten Seringueiros sind Halbindios, die nicht das Geringste dabei finden. Der Mensch stumpft auch gegen die größten Gefahren und gegen die unangenehmsten Lebenslagen ab. Man gewöhnt sich so sehr an alles, daß man sich nicht einmal mehr um die Blasrohrindianer sorgt. Finden sie einen, so hat sich der Fall eben erledigt, denn ge gen Giftpfeile gibt es kein Mittel. Außerdem hat der Gummisucher gar keine Zeit, sich dauernd selbst zu bewachen. Wer Glück hat, wird von den Indios nicht entdeckt, und viele haben dieses Glück jahrelang.« »Und Sie sind als Gummisucher bis hierher ver schlagen worden?« Jerry schüttelte den Kopf. »Als Gummisucher? Nein, so wahnsinnig bin ich denn doch nicht gewesen. Das kam ganz anders.« Er schwieg eine ganze Weile, bevor er nachdenklich 42
fortfuhr: »Ich habe zehn Jahre meines Lebens als Gummisucher im Urwald verbracht. Von der Welt weiß ich nicht viel – nicht mehr als das, was man ge legentlich einmal hört oder in einer alten Zeitung liest –, aber den Urwald kenne ich genau. Ich kenne ihn vielleicht sogar besser als sonst irgendwer. Nicht jeder kommt als junger Kerl hinein und hat das Glück, immer wieder herauszukommen. Soweit es um den Urwald geht, bin ich ein alter Hase. Und das stach gewissen Leuten in die Nase. Als ich eines Ta ges wieder einmal meine Klumpen Kautschuk he rausbrachte, erzählte mir mein Händler, daß in Ma naus ein paar Leute auf mich warteten, die wild dar auf waren, mich ein gutes Stück Geld verdienen zu lassen. Ich sollte sie unbedingt aufsuchen. Nun, war um nicht? Er brauchte mich nicht lange zu überre den. Ich setzte mich in mein Boot und paddelte nach Manaus. Dort warteten sie tatsächlich auf mich, und es waren ein paar sympathische Burschen dabei. Sie brauchten jemand, der sich im Urwald auskannte. Sie hatten einen verrückten Plan gefaßt. Sie wollten den Oberlauf des Amazonas erforschen. Ich lachte sie natürlich zunächst aus.« »Warum?« Jerry seufzte. »Warum? Nun, weil ich vom ersten Augenblick an eine Ahnung hatte, wie diese Expedition ausgehen würde – und wie sie dann ja tatsächlich auch ausge 43
gangen ist. Die Leute waren zwar unternehmungslu stig, kluge Köpfe und tüchtige Wissenschaftler, aber vom Amazonas hatten sie wirklich nicht viel Ah nung. Wenn sie die gehabt hätten, wären sie zu Haus geblieben. Sie wußten zwar, daß das ganze Gebiet für Weiße noch unerschlossen ist, und sie kannten aus ihren Büchern auch alle Gefahren des Urwalds, aber sie machten sich eben doch falsche Vorstellun gen, weil sie den Urwald noch nicht am eigenen Leib erlebt hatten. Deshalb fühlten sie sich den Gefahren gewachsen. Ich warnte sie vor den Indios, aber sie schüttelten die Köpfe und meinten, daß sie genug Leute wären, um sich die Giftpfeile vom Hals zu hal ten. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Ne benflüsse, in die sie eindringen wollten, nur noch aus Stromschnellen bestanden, aber sie zweifelten keinen Augenblick, daß sie es trotzdem schaffen würden. Ich wies darauf hin, daß sie die Verbindung mit der Welt verlieren würden, aber sie verließen sich auf ihren Funkapparat. Ich warnte sie, sich in ein Gebiet zu begeben, in dem sie in weitestem Umkreis die einzigen Weißen sein würden, aber sie antworteten, daß sie ja gerade die ersten Weißen sein sollten, die durch dieses Gebiet hindurchzogen.« »Nun, ein Forscher und Entdecker muß ja schließ lich so sprechen, nicht wahr?« »Sicher, sicher«, gab Jerry zu. »Ich hätte an Stelle dieser Leute wohl auch nicht aufgegeben. Offenge 44
standen hätte es mir sogar leid getan, wenn aus der Expedition nichts geworden wäre. Trotz meiner dü steren Ahnungen reizte mich die Sache nämlich. Im Grunde genommen kam es den Leuten gar nicht so sehr darauf an, vom Urwald her zum Gebirge hinauf zukommen, sondern sie hofften, die weißen Indianer zu finden.« »Die weißen Indianer?« »Ja, darum ging es. Sie redeten darum herum, aber letzten Endes galt die Expedition doch den weißen Indianern. Und ich hatte am Strom immerhin von den weißen Indianern munkeln hören. Deshalb war ich selbst neugierig, und deshalb entschloß ich mich schließlich trotz meiner Ahnungen, an der Expediti on teilzunehmen. Natürlich war es Unsinn. Es war von vornherein klar, daß wir niemals dazu kommen würden, weiße Indianer zu sehen, weil wir vorher zuviel braunen Indios begegnen würden.« »Gibt es hier weiße Indianer?« fragte Hal interes siert. Jerry zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt hat sie noch niemand gesehen. Aber die Sage hält sich eben schon lange. Es heißt, daß im oberen Stromgebiet weiße Indianer leben. Wer das verbreitet hat, weiß ich nicht. Die Puhadas und ande re Stämme der Blasrohrindianer schweigen sich hart näckig darüber aus. Sie kennen jedoch die Sage ebenfalls. Wenn man einen von ihnen stellt, so hat 45
man immer das Gefühl, daß er mehr über diese wei ßen Indianer weiß. Ich habe mich mit dem alten Giftmischer drüben bei den Hütten wiederholt dar über unterhalten, aber gewöhnlich hat er meine Fra gen nach besten Kräften nicht beantwortet. Nur gele gentlich, wenn er besonders guter Laune war, gab er zweideutige Hinweise von sich. Einmal, als ich ihm einen saftigen Tapirbraten brachte, behauptete er so gar, die weißen Indianer lebten dort, wo der Fluß der großen Schlange herkommt. Das wäre also ungefähr im Quellgebiet des Yavari und des Juras. Vielleicht hat er das nur so hingesagt, aber ich denke doch, daß hinter dem Gerücht von den weißen Indianern etwas Ernsthafteres steckt.« Hal wandte sich jetzt an Sun Koh. »Was halten Sie davon, Sir? Gibt es weiße Indianer?« »Woher soll ich das wissen?« fragte Sun Koh zu rück. »Ich glaube eher, daß solche Gerüchte nicht mehr als eben Gerüchte sind. Weiße Indianer sollte es beispielsweise auch im Stromgebiet des Atrato geben. Diesem Gerücht ist man einmal gründlich nachgegangen. Dabei hat man die überraschende Feststellung gemacht, daß es in jener Gegend tat sächlich weiße Indianer gibt. Sie sind aber eben kei ne Weißen, sondern Albinos.« »Hm, dann gibt es hier am Amazonas vielleicht auch solche Albinos?« überlegte Jerry laut, aber Sun Koh schüttelte den Kopf. 46
»Das würde mich überraschen. Die räumlichen Voraussetzungen sind doch ganz andere. Diese Indi os hier am Amazonas besitzen genügend Bewe gungsfreiheit und haben keinen Anlaß, die Albinos zur Fortpflanzung zuzulassen. Naturgebundene Völ ker sorgen doch gewöhnlich dafür, daß solche Irrtü mer der Natur wieder ausgemerzt werden. Das ge schieht am einfachsten dadurch, daß man den Albi nos die Heirat untersagt.« »Die Leute von der Expedition dachten jedenfalls nicht an Albinos«, nahm Jerry nachdenklich den Fa den wieder auf. »Sie vermuteten ganz unbekannte, geheimnisvolle Völkerstämme, die mitten zwischen den Puhadas leben sollten. Einer von ihnen sagte mir einmal: Wir hoffen, daß wir ähnlich aufsehenerre gende Entdeckungen machen wie einst die Spanier unter Pizarro. Ich halte es durchaus nicht für ausge schlossen, daß die Angaben unserer Karten völlig danebentreffen. Vielleicht liegt zwischen den Strö men noch einmal ein Gebirge, das die Existenzmög lichkeiten für eine höhere Kultur bietet. Vielleicht lernen wir in den sagenhaften weißen Indianern ein Volk wie das der Inkas kennen, ein Volk also, das in strengster Abgeschlossenheit eine eigene hohe Kultur mit eigenen Bauten, Sprache, Schrift, Kunst und so weiter entwickelt hat. Dieses Volk wollen wir entdecken, selbst auf die Gefahr hin, daß wir seinen Frieden zerstören.« 47
»Ein interessanter Gedankengang«, meinte Sun Koh lächelnd. »Halten Sie es für möglich, daß sich in diesem unerforschten Gebiet ein Gebirgszug befin det, von dem die Welt noch nichts weiß?« »Hm, ausgeschlossen wäre das nicht. Es handelt sich ja immerhin um eine Million Quadratkilometer oder mehr. Da paßt ganz Mitteleuropa hinein, und es wäre mächtig gewagt, zum Beispiel den Schwarz wald abstreiten zu wollen, weil man in Paris und Umgebung noch nichts von ihm bemerken kann. Un ter diesem Urwald können noch Dutzend Gebirgs rücken oder Hochplateaus stecken, die noch auf kei ner Karte verzeichnet wurden.« »Dann sind auch alle anderen Folgerungen nicht unberechtigt. Das unbekannte Land bietet unbekann te Möglichkeiten. Doch lassen wir diese Vermutun gen. Sie wollten von Ihren weiteren Erlebnissen be richten?« Jerry nickte. »Es kam alles, wie es kommen mußte. Wir redeten damals in Manaus hin und her, aber schließlich schloß ich mich eben doch der Expedition an. Sie bestand aus vierzehn Europäern, dazu kamen ich und ein zweiter Seringueiro als Führer und Dolmetscher, ferner eine Anzahl Indios und Mischlinge als Träger. Wir fuhren los, als das Wasser zu sinken begann, zu nächst den Amazonas aufwärts, dann den Jurua hin auf. In den ersten Tagen ging alles gut, aber dann 48
begann allmählich das Drama. Eine Woche nach un serer Abreise kippte ein Boot um. Vier Träger und zwei Expeditionsteilnehmer wurden innerhalb einer Minute von den Piranhas skelettiert. Ich habe nie so blasse Gesichter bei Männern gesehen wie damals bei den Leuten der Expedition. Wie gesagt, bereits nach einer Woche ging uns ein Boot mit allen Insas sen verloren. Dann folgten kleinere Unannehmlich keiten, Schlangenbisse und andere Dinge, die nicht der Rede wert sind. Solange wir uns auf dem Ama zonas befanden, war es ja überhaupt nur eine Spa zierfahrt. Der Strom ist breit genug, daß man den Ge fahren ausweichen kann. Anders wurde es, nachdem wir hundert Kilometer den Jurua hinaufgekommen waren. Die Leute waren erstaunlich zäh und uner schrocken. Sie hätten es erleben sollen, wie wir uns durchgeschlagen haben. Ich kann Ihnen das nicht be schreiben, aber Sie werden es begreifen, wenn wir selbst ein paar Wochen durch den Urwald gezogen sind. Selbstverständlich schied einer nach dem ande ren aus. Bald war es eine Korallenotter, die einen von uns erwischte, bald eine Sucuriju, die einen Mann zerdrückte. Die Krokodile bekamen ihre Beu te, und das Fieber holte sich diesen und jenen. Die Europäer hielten sich fast besser als die Indios. Dafür waren diese eines Nachts verschwunden, so daß wir die Lasten selbst tragen mußten. Die Kerle hatten eine gute Nase und ahnten, was die Trommeln zu 49
bedeuten hatten, die wir aus der Ferne hörten. Einen Tag nach ihrem Verschwinden wurden wir zum er stenmal von den Puhadas überfallen. Ich hatte glück licherweise für gute Wache gesorgt. Die Expedition wurde rechtzeitig gewarnt, so daß wir uns die Indios vom Leib halten konnten, wenn auch einige an Gift pfeilen starben.« »Demnach muß die Expedition schon ziemlich zu sammengeschmolzen sein.« »Stimmt. Wir waren noch elf Mann, dazu fünf Halbindios. Das war nicht einmal schlecht, denn wir waren immerhin schon ein gutes Stück ins Unbe kannte hineingestoßen. Wir wurden aber nun die Pu hadas nicht mehr los. Sie verfolgten uns Tag und Nacht, so daß wir gezwungen waren, ausschließlich auf dem Wasserweg vorzudringen. Auf dem Wasser hat man einige Umsicht und gewöhnlich genügend Abstand von den Giftpfeilen, während man sich im Urwald kaum gegen die hinterlistigen Angriffe schützen kann. Aber selbst auf dem Wasser blieb die Fahrt schrecklich genug. Ständig hörten wir von ir gendwoher die Trommeln, die den Tod bedeuteten. Es schien, als wären sämtliche Indianer im weitesten Umkreis gegen uns aufgeboten. Wir hofften, den Stamm, der uns angegriffen hatte, schnell loszuwer den, indem wir immer weiter vordrangen. Im allge meinen entfernen sich nämlich die Puhadas nicht weit von ihrem Wohnsitz. Sicher gelang es uns auch, 50
jenen Stamm abzuwimmeln, aber er hatte seine Nachbarn rebellisch gemacht. Wir kamen in den Be reich anderer Stämme, aber diese waren genauso er bittert hinter uns her.« »Wäre es nicht ratsam gewesen umzukehren?« »Wir erwogen es oft genug, aber erstens paßte es den Leuten nicht zu kneifen, und zweitens hätte es auch wenig Zweck gehabt. Nach einigen Wochen hatten wir ebensoviel Feinde hinter uns wie vor uns. Wir ließen es also darauf ankommen und drangen immer weiter vor.« »Bis hierher?« »Bis die Katastrophe kam. Ich habe an die letzten Tage nur eine undeutliche Erinnerung. Daran war eine Sucuriju schuld. Sie erwischte mich aus dem Boot heraus. Wir hielten uns zeitweise dicht am Ufer, um nicht unnötig gegen die Strömung arbeiten zu müssen. Ich muß hier einflechten, daß wir alle schon ziemlich fertig waren. Wie wir ausgesehen ha ben, können Sie sich kaum vorstellen. Heute bin ich gesund und leidlich genährt, während wir damals seit Wochen nur vom Notwendigsten lebten und dabei ungeheure Strapazen durchstanden. Die Europäer hatte der Hunger geschwächt, das Fieber saß ihnen im Blut, und der Urwald hatte ihnen mitgespielt. Wir waren gelbe, abgezehrte Gespenster, die nur durch ihren verrückten Willen und die Drohung der Trom meln vorwärtsgetrieben wurden. Ich habe nie solche 51
Männer kennengelernt. Tausend andere hätten sich schon lange vor der Katastrophe hingelegt und wären nicht wieder aufgestanden. Aber das waren Fanati ker, die nicht locker ließen, solange sie noch ein Glied rühren konnten. Also jedenfalls hatten wir An laß, unsere Kräfte zu schonen, und hielten uns des halb ziemlich am Ufer. Ich hatte gerade meinen Fie beranfall und paßte nicht genau auf, obwohl ich im ersten Boot die Führung hatte. Beides zusammen wurde mir zum Verhängnis oder auch – wenn man die späteren Ereignisse berücksichtigt – zum Glück.« »Sie sprachen von einer Sucuriju?« »Ja, das ist die größte Schlange, die es am Ama zonas gibt. Der Umfang ihres Leibes ist gelegentlich so stark wie der eines erwachsenen Mannes, und ihre Länge beträgt zehn bis zwanzig Meter. Ein riesiges Tier! Sie ist nicht giftig, aber es ist fast unmöglich, von ihr wieder loszukommen, wenn sie den Körper einmal umschlungen hat. Sie zermalmt ihre Opfer durch ihre ungeheure Kraft. Dabei hat sie die Ange wohnheit, auf dicken Baumästen zu ruhen und ihren Opfern aufzulauern. Ich bemerkte diese Sucuriju je denfalls zu spät. Sie riß mich aus dem Boot heraus und nahm mich in ihre stinkende Umklammerung, so daß ich fast augenblicklich das Bewußtsein verlor. Meine Kameraden handelten aber schnell. Sie schossen und hieben mit ihren Macheten zu, so daß sie mich frei bekamen.« 52
»Das geschah auf diesem Fluß?« »Nein, auf einem anderen, der einige Kilometer weiter drüben parallel zu diesem fließt. Die Expedi tion hat diesen Fluß überhaupt nicht kennengelernt. Ich war in den folgenden Stunden nur gelegentlich bei Bewußtsein. Die Schlange hatte mir den Leib fast zerdrückt und mich derartig verbogen, daß ich mich kaum rühren konnte. Vielleicht wollten mir nun mei ne Kameraden Gelegenheit geben, mich gründlich auszuruhen, vielleicht wurden sie auch durch die of fene Lichtung verlockt, jedenfalls gingen sie am nächsten Tag seit langer Zeit wieder einmal an Land. Sie betraten von der anderen Seite her diese Lich tung, die sich hier quer durch den Wald zieht. Es kann auch sein, daß sie den Flußarm hinaufruderten bis zu der Stelle, an der die Kisten liegen. Ich kann das nicht genau sagen. Jedenfalls war es unklug, überhaupt an Land zu gehen.« »Wurden sie nicht durch die Indianer daran gehin dert?« »Die Indianer haben nie jemand daran gehindert, ans Ufer zu kommen. Im Gegenteil, sie haben sich nichts Besseres gewünscht. Übrigens hatten wir in jenen Tagen gerade Ruhe vor ihnen. Seit langen Wo chen waren zum erstenmal die Trommeln verstummt. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Expe dition ein festes Lager bezog. Man wähnte sich wohl sicher, vermutete im weiten Umkreis keinen Einge 53
borenen mehr und glaubte vielleicht auch, daß die verhältnismäßig gute Sicht, die die Lichtung bot, als Schutz genügen würde.« »Besonders gut finde ich die Sicht eigentlich nicht«, warf Sun Koh ein. »ich habe Sie erst sehr spät bemerken können.« »Gegenüber dem Urwald ist sie geradezu großar tig. Für den Fall eines Angriffs genügt sie auch voll kommen. Die Indianer müssen ziemlich nah heran, wenn sie mit ihren Blasrohren Erfolg haben wollen.« »Die Expedition wurde überfallen?« »Ja und nein. Nach meiner dunklen Erinnerung und nach dem, was ich später aus den Puhadas her ausholte, bemerkten meine Kameraden erst nach der Landung die Hütten der Eingeborenen. Sie werden vielleicht gesehen haben, daß sie vom Standort der Kisten aus verdeckt sind. Da die Trommeln schwie gen, versuchte es die Expedition mit einer freundli chen Annäherung. Das schien ihnen zu gelingen. Ich sagte Ihnen, daß diese Puhadas äußerst verschlagen und falsch sind. Sie stellten sich freundlich. Man ließ sie an das Lager heran, sie beschnüffelten alles, ra debrechten mit dem Dolmetscher herum, ließen sich mit Hundezähnen beschenken und teilten sich dabei bereits ihre Opfer auf. Am nächsten Tag kamen sie wieder und ermordeten innerhalb von drei Minuten die gesamte Expedition. Fast gleichzeitig bekam je der einen oder mehrere Giftpfeile, so daß es zu einem 54
Kampf überhaupt nicht kam. Ich blieb als einziger am Leben.« »Warum wurden Sie verschont?« Jerry Recife zuckte mit den Schultern. »Es ist so gut wie unmöglich, in die Gedanken die ser Wilden einzudringen. Soviel ich herausbekom men habe, nimmt der Mann, der einer Sucuriju ent ronnen ist, bei ihnen eine besondere Stellung ein – ungefähr so wie der Besessene bei anderen wilden Völkern. Wahrscheinlich verschonten sie mich des halb, vielleicht aber auch weil in mir nicht mehr viel Leben war. Sie schleppten mich mit zu ihren Hütten und überließen mich dort der gelegentlichen Pflege durch die Frauen. Ich weiß nicht, wie lange ich hilf los und zum großen Teil ohne Bewußtsein herumge legen habe, sicher sind es aber viele Wochen gewe sen. Allmählich erholte ich mich, lernte gleichzeitig die Sprache der Puhadas und wurde mit ihren Sitten vertraut, soweit das möglich war. Als ich dann zum erstenmal aufstehen konnte, hatten sich diese Wilden schon soweit an meine Gegenwart gewöhnt, daß sie mich zu töten vergaßen. Der seelische Stumpfsinn rettete mir gewissermaßen das Leben.« »Seitdem wohnen Sie mit den Wilden zusam men?« »Ja, viele Monate lang. Meine Zeitrechnung ging verloren, aber mir ist, als seien es Jahre gewesen.« »Sie machten keinen Versuch zu fliehen?« 55
Jerry lachte kurz auf. »Zu Anfang dachte ich natürlich daran, aber dann wurde ich zu stumpfsinnig, um mir noch viel Gedan ken über meine Zukunft zu machen. Es hatte ja nicht den geringsten Zweck. Ich wäre als einzelner nicht weit gekommen. An eine Wanderung im Urwald war gar nicht zu denken, und im Boot muß man minde stens zu zweit sein – einer, der rudert und steuert, und einer, der das Gewehr schußbereit in der Hand hält. Es wäre Wahnsinn gewesen zu fliehen. Die Pu hadas hätten mich in Stunden oder Tagen erwischt und mir einen ihrer verfluchten Pfeile in die Haut gejagt. Hören Sie?« Wie eine düstere Drohung drang das hölzerne Rasseln der Trommeln in die Kabine herein. Sie standen auf und blickten hinaus. »Sie kommen schon«, sagte Jerry leise. »Sie sind sehr schnell mißtrauisch geworden.« »Eigentlich kein Wunder, nachdem wir mit den Packen an den Hütten vorbeigezogen sind.« »Allerdings, aber ich dachte nicht, daß sie vor morgen früh kommen würden. Es ist eigentlich nicht Sitte bei den Puhadas, eine halbe Stunde vor Son nenuntergang noch einmal hinauszuziehen. Sie blei ben lieber bei ihren Hütten am Feuer, solange es dunkel ist.« »Wir hätten doch eigentlich schon unterwegs sein können? Wenn wir gleich losgefahren wären, so wä 56
re unsere Flucht den Puhadas gar nicht aufgefallen.« »Stimmt schon, aber was hätte uns das genützt. Die Trommeln geben unsere Flucht so und so weiter. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß Sie wochen- und monatelang noch Hunderte und Tau send von Puhadas auf der Jagd nach unserem Trupp bemerken. Es kommt auf die zwei Dutzend wirklich nicht an. Mir sind die paar Stunden in ihrer Flug zeugkabine mehr wert als tausend Puhadas. Verste hen Sie, daß ich erst einmal eine Gelegenheit haben mußte, um wieder Mensch zu werden?« »Ich verstehe das. Wir kommen ja morgen auch noch zeitig genug weg.« »Und genauso gefahrlos, wenn wir die Minuten nach Sonnenaufgang benutzen. Bevor die Puhadas heran sind, fahren wir schon auf dem Wasser. Doch jetzt will ich mich erst einmal mit den Leuten unter halten. Schießen Sie gut?« »Vollkommen sicher.« »Dann will ich mich sehen lassen. Achten Sie auf die Blasrohre. Es kann sein, daß einer der Burschen, den ich nicht im Auge habe, mir einen Pfeil in den Körper blasen will.« »Sie können sich auf uns verlassen, seien Sie aber trotzdem vorsichtig.« Die Puhadas, ungefähr ein Dutzend Männer, wa ren bis auf zwanzig Meter herangekommen, als Jerry Recife in die offene Kabinentür trat. Er rief die Ein 57
geborenen an, erhielt einen Zuruf als Antwort und sagte dann schnell und erregt einige Sätze. Die Folge war, daß die Puhadas nicht weiter herankamen, son dern stehen blieben. Nun folgte ein Wechselgespräch, das wesentlich aus einem gegenseitigen Angurgeln und Anzischen zu bestehen schien. Es wurde von beiden Seiten ziemlich lebhaft geführt und endete damit, daß sich die Puhadas zurückzogen. Aufatmend trat Jerry Recife in die Kabine zurück, deren Tür von Sun Koh sofort wieder geschlossen wurde. »Wie ich mir gedacht habe«, knurrte Jerry. »Die Kerle sind bis obenran voller Haß und Wut. Ich lasse mich hängen, daß sie es mit Ihnen genauso machen wollten wie mit der Expedition. Ich bin ihr bester Feind, weil ich ihnen den Streich vereitelt habe. Sie forderten mich auf, mit Ihnen zusammen zu den Hüt ten zu kommen und dort über Nacht zu bleiben, aber das mußte ich ihnen natürlich abschlagen. Darauf wünschten sie zu erfahren, was wir beabsichtigten. Ich habe ihnen eine ganze Menge vorgeschwindelt und ihnen vor allem versprochen, morgen zu den Hütten zu kommen. Zu glauben schienen sie es nicht recht, aber da die Sonne kurz vor dem Untergang steht, blieb ihnen nichts übrig, als abzurücken. Mor gen früh haben wir sie bestimmt auf dem Hals. Ich würde raten, daß wir alles zurechtlegen, damit wir 58
innerhalb von fünf Minuten abfahrbereit im Boot sit zen, denn sonst kommen wir den ganzen Tag nicht fort.« Sun Koh wies auf die Waffen und die anderen Ge genstände, die in der Kabine lagen. »Ich zweifle nicht daran, daß wir innerhalb von fünf Minuten auf dem Wasser sein werden. Viel mehr als dies haben wir ja nicht mitzunehmen. Frag lich ist nur, wohin wir uns überhaupt wenden wollen – flußaufwärts oder flußabwärts?« Jerry pendelte mit dem Kopf hin und her. »Tja, die Frage ist ja nun nicht leicht zu beantwor ten. Genau genommen wird es sich darum handeln, ob wir zum Amazonenstrom oder zu den Anden kommen wollen. Im ersten Falle müßten wir flußab wärts fahren und würden dann früher oder später wahrscheinlich den Jurua erreichen, von diesem aus dann den Amazonenstrom. Wir würden also den Weg, den ich bereits mit der Expedition gemacht ha be, rückwärts benutzen. Wenn alles gut geht, könnten wir in einigen Wochen leidlich in Sicherheit sein. Dieser Weg würde den Vorteil bieten, daß ich Ihnen als Führer dienen kann. So ungefähr behält man ja die Strecke in Erinnerung.« »Und die andere Möglichkeit?« »Wir könnten den Weg fortsetzen, den die Expedi tion nehmen wollte, also immer flußaufwärts bis zu den Quellen, bis zum Gebirge. Dieser Weg ist kür 59
zer, aber er hat natürlich seine erheblichen Nachteile. Erstens einmal ist er mir selber völlig unbekannt, und zweitens führt er durch ein Gebiet, das vielleicht noch viel wilder ist als dieses hier. Wir können auf Indianerstämme treffen, denen gegenüber die Puha das harmlose Kinder sind. Die Natur kann uns mit Schrecknissen den Weg versperren, von denen wir einstweilen noch keine Ahnung haben. Möglicher weise stoßen wir sogar auf die berühmten weißen Indianer, falls es solche gibt.« »Welche Wahl würden Sie treffen?« Jerry zuckte mit den Schultern. »Gott, im Grunde genommen bleibt es sich gleich. Wir haben nach rückwärts und nach vorwärts nur eine Chance von eins zu hundert durchzukommen. Mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit erreichen wir weder den Amazonas noch das Gebir ge.« »Das scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein?« »Das nicht«, erwiderte Jerry ruhig, »aber Sie ha ben sicher auch schon beobachtet, daß man gegen Gefahren abstumpft. Je schlimmer die Lage ist, desto weniger macht man sich Gedanken darüber. Die Na tur hilft einem in diesem Fall, denn wenn man unsere Aussichten mit normalen Maßstäben richtig werten würde, bliebe uns nichts anderes übrig, als uns schleunigst eine Kugel in den Kopf zu schießen. Wenn die Gefahren wirklich bedeutend sind, hat der 60
Mensch weder Zeit noch Lust, sich ihre Größe aus zudenken. Man nimmt sie eben hin und versucht, damit fertig zu werden. Das ist noch nicht einmal Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Im Gegenteil, wenn es hart auf hart geht, dann kämpft man bis zur äußersten Verzweiflung, um das nackte Leben zu retten. Das besorgt der Körper von ganz allein, er bemüht sich nach besten Kräften, am Leben zu blei ben, ohne das Gehirn groß zu bemühen.« »Sie haben gut beobachtet«, sagte Sun Koh. »Der Selbsterhaltungstrieb des Körpers reißt den Men schen oft selbst dann noch hoch, wenn der Wille zer brochen ist. Sie meinen also, daß es sich im Grunde genommen gleich bleibt, ob wir zum Amazonas oder zum Gebirge fahren?« »Ja. Entscheiden Sie, in welche Richtung es gehen soll.« Sun Koh überlegte nicht lange. »Wir fahren flußaufwärts«, sagte er bestimmt, »al so dem Gebirge zu. Für mich ist entscheidend, daß wir so am schnellsten in eine Landschaft kommen, die der Gesundheit zuträglicher ist, als dieser feucht heiße Urwald. Die Gefahren werden hier wie dort die gleichen bleiben. Und offengestanden lockt es mich auch etwas, möglicherweise mit jenen weißen India nern in Berührung zu kommen. Und schließlich tritt man keinen Rückweg an, solange es noch einen Weg nach vorwärts gibt.« 61
Jerry Recife lächelte flüchtig. »Sie sind genau wie die Männer von der Expediti on. Nur immer vorwärts, niemals rückwärts. Sie ver gessen dabei, daß der Weg zum Amazonas für Sie ja gar keinen Rückweg bedeuten würde.« Sun Koh nickte. »Gewiß, aber da uns der Zufall gerade an diese Stelle geführt hat, an der die Expedition ihr Ende fand, kommt es mir vor, als müßte ich nun deren Aufgabe weiter zu lösen versuchen. Wir nehmen Richtung auf das Gebirge. Oder sind Sie damit nicht einverstanden?« »Doch, vollkommen. Wenn Sie anders entschie den hätten, würde ich versucht haben, Sie zum Ge genteil zu überreden. Wenn ich mich schon monate lang durch den Urwald schlage, so will ich dann hin terher wenigstens die Genugtuung haben, daß ich der erste Weiße bin, der von Manaus aus quer hindurch zum Gebirge gekommen ist.« Sie schüttelten sich die Hände. Die Nacht lag schon eine ganze Weile über dem Urwald. Auf der einen Seite des Flugzeugs ragte er dunkel wie eine mächtige Wand zum Himmel. Gelb leuchtend ging der Mond auf, aus dem Wasser stie gen in dünnen Schleiern violette Dünste und zogen sich zum Schilf hinüber. Über der Lichtung breitete sich eine Schicht weißen Nebels aus. Um das Flug zeug herum schwirrten grünleuchtend die Glühwür 62
mer, setzten sich zu Dutzenden an die hohen Gräser und bildeten dort ein funkelndes Geschmeide. Die Sterne wurden sichtbar, soweit das Licht des Mondes sie nicht überdeckte, erst ein paar große, dann eine unbeschreibliche Pracht zahlloser, blitzender und tanzender Lichtfunken. Sie standen nicht fest, sondern sie schwammen dauernd hin und her, tanzten einen märchenhaft schönen Reigen, der durch die heißen Luftschichten der tropischen Ge gend verursacht wurde. Jenseits der Lichtung zog sich der Urwald wie eine dunkle Wand hin. Das Geschrei der Affen kam her über, untermischt mit dem gelegentlichen Auf schmettern von Vogelstimmen. Ab und zu stieg ein kurzes Jaulen auf, das den streifenden Jaguar verriet. Über das Schilf zog eine ganze Reihe fliegender Hunde von der einen Seite des Urwaldes auf die an dere. Wie unheimliche Gespenster taumelten sie über die Lichtung. Plötzlich dröhnte von drüben ein unbeschreibli ches Brüllen herüber, so stark und laut, daß sich die Insassen der Kabine fast die Ohren zugehalten hät ten. »Das sind Aluates«, erläuterte Jerry Recife. »Brüllaffen. Sie haben einen Kehlkopf, der mehr Ähnlichkeit mit einer Trommel hat als mit einem Kehlkopf. Sicher sitzen sie drüben am Waldrand, heben die Köpfe in die Höhe und singen ihren Chor, 63
ein paar Dutzend nebeneinander.« Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, hörte das Gebrüll wieder auf. Tiefe Stille setzte ein, in die sich allmählich das vielfältige Gewirr der Urwaldgeräu sche wieder hineindrängte. Sie legten sich schlafen. Trotz aller vorangegan genen Erlebnisse, trotz der ungewohnten Umgebung und trotz der gefahrdrohenden Zukunft schliefen sie alle vier tief und fest. Sun Koh und seine beiden Be gleiter hätten vermutlich sogar verschlafen, wenn nicht Jerry Recife gewesen wäre. Ihm saß das jahre lange Vertrautsein mit dem Urwald im Blut. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang weckte er seine neuen Freunde. Sie brauchten nicht mehr viele Vorbereitungen zu treffen. Als sich die Sonne blitzartig über den Hori zont hob, luden sie schon alles, was sie mitnehmen wollten, in das Boot ein. Drei Minuten nach Sonnen aufgang stießen sie durch das Schilf hindurch auf das freie Wasser und wandten sich flußaufwärts. Von den Puhadas war noch nichts zu sehen. »Wir wollen ein paar Minuten warten«, schlug Jer ry vor, »damit Sie sehen, wie lebendig die Burschen sind. Sie können uns hier nicht gut bemerken, wir können sie aber beobachten.« Unter der Deckung eines weit über dem Wasser hängenden Baumstamms machten sie Halt und blick ten auf die Lichtung zurück. Da kamen die Indianer 64
schon, erst einzeln zögernd, dann der gesamte Stamm. Sie hüpften herum und schrien mit greller Stimme zu dem Rumpf des Flugzeugs hinüber. »Sie nehmen an, daß wir noch drin stecken«, sagte Recife leise. Als sich im Flugzeug nichts rührte, gingen die In dianer weiter heran und kletterten schließlich darauf herum. Und dann versuchten sie, mit ihren Keulen Löcher hineinzuschlagen. »Fahren wir weiter. Lange wird es nicht mehr dau ern, dann wissen sie ganz genau, daß wir fort sind. Die Fenster haben sie ja bald eingeschlagen.« »Wenn Sie sich da nur nicht täuschen«, sagte Hal. »Das sind nämlich Fenster, die sogar von einer Ge wehrkugel nicht durchschlagen werden.« »Trotzdem wird ihnen unsere Flucht kein Ge heimnis bleiben.« Sie griffen zu den Rudern. Das Boot schoß gegen die Strömung, die hier am Rand nicht stark war, leb haft vorwärts. Damit begann für Sun Koh und seine Begleiter die Fahrt durch das unbekannte Gebiet voller Geheim nisse und voller Schrecken. Und sie waren noch keine halbe Stunde unterwegs, als in der Ferne hinter ihnen die Trommeln rasselten und dröhnten.
65
3.
Unbeschreiblich ist der unbekannte Weg durch den Urwald – voll wunderbarer Schönheiten, voll ent setzlicher Schrecken und dabei doch grauenhafter Eintönigkeit. Vier Männer suchten den unbekannten Weg durch den Urwald am Amazonas. Tage waren sie schon unterwegs, immer flußauf wärts, immer der Strömung entgegen, auf die Quel len zu. Die Quellen lagen irgendwo im Westen im Gebir ge – und das Gebirge war die Rettung. Gleichförmig tauchten die Ruder in das Wasser und drückten das zerbrechliche und so leicht kippen de Boot aus dem weichen Holz des Palmettostammes vorwärts. Ruhig glitten die Wasser zurück. Hellblau waren sie jetzt, wunderbar zart, so daß der heiße Körper ein brennendes Bedürfnis spürte, sich hinein zustürzen. Aber schon warnten die dunklen, breiigen Stellen dort am Ufer unter den riesigen Luftwurzeln herabgestürzter Bäume. Dort blinzelten tückisch un ter der schillernden, blasenaufwerfenden Oberfläche die Krokodile. Und die Schwärme der Piranhas sind blitzschnell heran und schälen das Fleisch von den Knochen, bevor man noch sein letztes Gebet spre chen kann. Das Wasser fiel von den vorschwenkenden Pad 66
deln, und die fallenden Tropfen gaben eine unaufhör liche eintönige Melodie. Es war heiß wie all die Tage. Die Sonne stand wie eine gelbrote, dunstige Scheibe über den Köpfen, um die sich die Glut wie feurige Klammern legte. Jeder Atemzug bereitete Qual. Die Luft schoß wie Flam men durch die Lunge und lastete wie Blei, das flüssig geworden ist, auf den schmerzenden Augen. Der Schweiß floß wie Wasser am Körper herunter, ätzte sich in die wunden Stellen an Arm und Bein hinein, die durch die ständigen Ruderbewegungen aufgerieben worden waren. Leer starrten die Augen nach vorn. Aber tief im Grunde der Pupillen saß ein fiebernder Brand wie tödliche Verzweiflung und irrsinnige Wut. Die Au gen von Wahnsinnigen waren es, die irgendwo das erlösende Ziel suchten. Oder suchten sie schon gar nicht mehr? Sie starrten unentwegt auf Sun Koh, der mit dem Gewehr im Arm in der Spitze des Bootes stand. Nur Jerry wandte sich von Zeit zu Zeit ab, wenn die bös artigen, wilden Flüche seine verkniffenen Lippen auseinanderrissen und Himmel wie Hölle ver wünschten. Die Pest über dieses verfluchte Land! Sun Koh schwieg. Seine Lippen legten sich schmaler aufeinander, aber er ließ seine drei Beglei ter fluchen. Sie wären verrückt geworden oder zu 67
sammengebrochen, wenn sich ihnen nicht von Zeit zu Zeit das Ventil der Verwünschung geöffnet hätte. Wenn er sich umblickte sah er Gespenster der Höl le hinter sich. Wie Stein lagen die Backenmuskeln hart verkrampft unter der gelbgefleckten, vom Fieber durchgifteten Haut der beiden Weißen und unter dem verfallenen, dunstigen Schwarz Nimbas. Wie Stiche standen die Lippen, und die Augenhöhlen waren wie von Säure ausgefressen. Das verfluchte Fieber! Eigentlich merkwürdig, daß es Nimba auch ge packt hatte. Er war es so wenig gewöhnt wie Hal und litt doch stärker als der Junge. Jerry war es gewöhnt. Er machte sich nicht viel daraus und wußte, daß jeder Anfall vorüberging, wenn seine Zeit vorbei war. Das Fieber mordet! Der Anfall beginnt mit einem schweren Gefühl von Mattigkeit. Die Glieder werden schwer wie Blei. Durst quält, doch ist der Körper zu matt, um ihn zu stillen. Nur nicht bewegen, nur kein Glied regen! Dann beginnt allmählich die Kälte hochzusteigen, durch die Adern zu schleichen und die Glieder starr zu machen, als wären sie in einen Eismantel gehüllt. Aber sie sind gar nicht starr. Die Kälteschauer schüt teln sie hin und her, daß die Zähne wild aufeinander klappern. Ruckweise nur ringt sich der Atem aus der keuchenden Brust heraus. Eine Stunde lang dauert das, eine Stunde, in der das Gehirn in wilden Phanta 68
sien tobt. Dann kommt die Müdigkeit, die tiefe Schwäche, die in Schlaf übergeht. Nach Stunden hat man alles vergessen, aber in zwei oder drei Tagen ist der neue Anfall da. Chinin, Chinin und abermals Chinin! Es bewahrt nicht vor dem schüttelnden, verzehrenden Fieber, aber es nimmt ihm die furchtbarsten Schrecken und scheucht die grinsende Maske des Todes zurück. Die drei Männer an den Rudern hatten sich stark verändert. Hal Mervin war nur noch eine Erinnerung an sein früheres Aussehen. In seinem gelbgefleckten Gesicht lagen die Augen ganz tief und brennend heiß. Er hatte keine Sorgen mehr um seine Sommer sprossen, die ihm sonst manchen Kummer bereitet hatten. Seine Backen waren hohl, als steckte kein Gramm Fleisch in ihnen. Die Knochen traten scharf hervor. Der Junge war vollkommen fertig, fertig nach wenigen Tagen Urwald. Nur sein verbissener Wille hielt ihn aufrecht und ließ ihn wie die anderen Stunde um Stunde paddeln. Sun Koh versuchte, ihn zu schonen, aber dann wurde er rasend. Die Wut bleckte dann aus ihm heraus, und aus seinen Augen sprangen die Tränen, während seine Lippen Verwün schungen und falsche Versicherungen heraussprudel ten. Er wollte nicht schlapp machen. Nur wenn ihn das Fieber packte, lag er als hilfloses, erbarmungs würdiges Bündel im Boot. Gelbfleckig war auch das Gesicht Jerry Recifes. 69
Aber Jerry war ein Mann, und sein Körper hatte sich in Jahren an all das gewöhnt, was Hal als neues Schrecknis überfiel. Jerry preßte die Kiefer aufein ander, so daß sich die Muskeln in scharfen Strängen abzeichneten, er fluchte, wenn es ihm zuviel wurde, er unternahm sogar in der halben Raserei eines An falls von Tropenkoller tätliche Angriffe gegen die anderen, aber im übrigen arbeitete er ununterbro chen, zäh und beharrlich, ein unermüdlicher Helfer und Berater in der unbekannten Wildnis. Wenn einer Aussicht besaß, sich durch diese Hölle hindurchzu schlagen, so war es Jerry. Er besaß wie Hal einen Willen aus Stahl, dazu aber einen Körper, der in tau send Schrecknissen abgehärtet und immun geworden war. Und Nimba? Der Hüne war unter der Tropensonne geboren und aufgewachsen. Er blieb unberührter als die beiden anderen. Nur das Fieber, das ihn wider Erwarten doch gepackt hatte, nahm ihn jedesmal schwer mit. Außerdem litt er unter der unzureichen den Ernährung. Seine Wangen waren ebenfalls hohl geworden, und die gewaltigen Muskelstränge seines Körpers zeichneten sich ohne die mildernden Fett polster hart unter der Haut ab. Gleichmäßig, unermüdlich und eintönig schlugen die Paddel in das Wasser hinein. Die Augen der drei, die im Boot saßen, hingen un entwegt an Sun Koh. Es war fast, als zögen sie aus 70
seinem Anblick die Kraft, die überanstrengten Arme immer wieder von neuem zu bewegen. Reglos und schweigend stand die schlanke Gestalt vorn im Boot und blickte voraus. War es nicht, als ging ein kühler, erfrischender Atem von ihr aus? Kühl war das edelgeformte Gesicht, trotz der brü tenden Hitze kühl und unbewegt wie eine Maske. Die Augen gingen ruhig forschend hin und her. Sun Koh litt am wenigsten. Fast unberührt ging er den schrecklichen Weg in die unbekannte Ferne. Das machte vor allem, daß er vom Fieber verschont blieb, genau so verschont blieb wie diese Blasrohrindianer, die zwischen den violetten Dünsten groß geworden waren. Seine Kraftreserven waren so groß, daß ihn die Anstrengungen dieser Fahrt nicht erschöpften und aufzehrten. Und schließlich war seine Seele stark genug. Sie duckte sich nicht unter den Schrecken dieser Tage und Nächte. »Caramba!« heulte Jerry am fünften Tag in einem sinnlosen Anfall auf. »Stehen Sie mit dem Teufel im Bund, daß Sie verdammter, blutiger Anfänger mich fertig machen können, ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren?« Sie hatten vom frühen Morgen an die Paddel ge schwungen, Sun Koh vorn, Jerry unmittelbar hinter ihm. Jerrys zähe Kraft war im Laufe des Vormittags geschwunden. Die unermüdliche Arbeit hatte ihn mürbe gemacht, die Hitze ihn ausgedörrt und die 71
Sonne sein Gesicht mit tausend Pfeilen gemartert, bis er tobsüchtig aufkochte. Sun Koh aber hatte vor ihm gesessen und gepaddelt, als ob er eben erst angefan gen hätte. Seinem Körper und seinen Bewegungen hatte man keine Anstrengung und keine Hitze an merken können. Das war für Jerry zuviel gewesen. Sun Koh wandte sich zu ihm um und blickte ihn fest an. »Es wird zuviel für Sie, Jerry«, sagte er leise. »Ge hen Sie vor und nehmen Sie das Gewehr. Hal wird weiterpaddeln.« Diese sanfte, kühle Bestimmtheit ließ die rote Flamme in Jerrys Gehirn vollends hochschlagen. »Tod und Teufel!« entfuhr es ihm wütend, wäh rend seine Hand gleichzeitig zur Pistole griff. »Was fällt Ihnen ein, mir Vorschriften zu machen? Wenn einer hier zu bestimmen hat, dann bin ich es. Ich las se mir von einem Neuling nicht erzählen, was ich tun soll. Wenn Sie etwa glauben, daß Sie mir zu befehlen haben, dann verdammt noch einmal…« In diesem Augenblick bekam er von Sun Koh ei nen kurzen Schlag unter das Kinn, der ihn lang in das Boot streckte, das gerade noch mit Mühe und Not im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Als er wieder aufwachte, hatte sich der Rausch be reits verflüchtigt. »Sie hatten einen Anfall«, bedauerte Sun Koh. 72
»Ich mußte Sie hart anfassen, damit Sie kein Unheil anrichteten. Sie vergaßen, daß wir auf Leben und Tod miteinander verbunden sind.« Jerry wagte nicht, ihn anzublicken. »Ich war verrückt«, murmelte er. »Daran ist diese verfluchte Hölle schuld. Es wird nicht das letztemal gewesen sein, daß der Koller über mich kommt. Ich habe früher manchen Kameraden auf ähnliche Weise umlegen müssen, und es ist gut, wenn Sie das auch bei mir rechtzeitig tun. Ich denke natürlich nicht ernsthaft daran, mich Ihren Anordnungen zu wider setzen.« Damit war der Zwischenfall erledigt. Seitdem hin gen die Augen Jerrys wie die der beiden anderen an Sun Koh und saugten sich Kraft aus ihm. Und ununterbrochen tropfte es von den Paddeln ins Wasser. Der Strom hatte sein Aussehen wieder verändert. Eben war er noch gelbbraun gewesen. Das kam von den roten Uferbänken, von denen vor kurzem ein Stück in die Fluten gestürzt sein mußte. Jetzt wurde er dunkel und schwarz, eine schwere, mattgurgelnde Brühe, die das Boot festhalten wollte. Peng! Ein Krokodil, das sich quer vor das schwankende Boot legen wollte, zuckte hoch. Eine feine Blutbahn quoll in das Wasser, dann trieb der weiße Bauch des Reptils an dem Boot vorbei. 73
Weiter! Nach einem Krokodil sah man sich nicht mehr um. Es gab unzählige hier im Strom. Plötzlich schrammte das Boot auf und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Schwer hoben sich die Köpfe. »Diablo!« murrte Jerry. »Wir sind festgefahren. Wahrscheinlich liegt ein alter Baumstamm auf dem Grund. Raus mit dir, Schwarzer, wir wollen das Ding wieder flott machen.« Sie sprangen beide gleichzeitig in das Wasser, das ihnen bis über die Hüften reichte. Hal griff nach dem Gewehr, das neben ihm lag. Peng! Ein Krokodil wendete sich. Die beiden im Wasser warfen keinen Blick hin. Selbst Jerry weiß jetzt, wie sicher Sun Koh schießt. Man kann sich auf ihn verlassen. Er holt die grünen Lichtfunken aus den Augen der schuppigen Biester heraus. Peng – wieder ein Krokodil! Wenn nur die Piranhas nicht kommen, diese schnellen, spannenlangen Teufel, die mit ihren furchtbaren Gebissen das Fleisch abschälen. »Beeilt euch!« mahnte Sun Koh drängend. Hau ruck! Das Boot schwankte und drohte zu kip pen, als Nimba seine riesige Kraft auf der einen Seite ansetzte. Es bekam Luft und glitt mit einem weichen, schnappenden Laut zurück. 74
»Herein mit euch!« Ein Nicken über die Bootsränder hinweg, dann schwangen sich die beiden Männer gleichzeitig aus dem Wasser hoch, während sich Hal weit auf die Sei te legte, an der sich Jerry aufstemmte. Sie machten das nicht zum erstenmal und wußten, welchen Trick sie anzuwenden hatten, um gleichzeitig schnell he reinzukommen und doch das Boot nicht umzuwer fen. Höchste Zeit! Schon schossen die Piranhas gierig in die Strudel hinein, die von den beiden zurückge lassen worden waren. Weiter arbeiteten die Paddel. Die Ufer verschlammten. Die Victoria regia tauch te wieder einmal in Massen auf. Zu Hunderten lagen die riesigen Tellerblätter auf dem Wasser, Blätter mit einem Durchmesser von zwei bis drei Metern. In ih rer Mitte schimmerten in bleichem Weiß die kopf großen Blüten. Eine herrliche Pflanze! Die Pest über diese herrlichen Pflanzen. Die Or chideen waren auch herrlich, aber dabei stanken sie wie Leichen und zogen brennende Blasen auf der Haut hoch, wenn man ihnen zu nahe kam. Der ganze Urwald war herrlich, aber es wäre besser gewesen, ihn im Film zu sehen. Nur wenn die Augen nicht im Fieber glühen, kann man sich der wunderbaren Blü tenschleier über den mächtigen Bäumen freuen, der 75
neugierigen Affen, die zähnefletschend von Ast zu Ast tanzten, der buntfarbigen Vögel und der zarten Schmetterlinge, die sich am Ufer hin und her wiegen. Ruck! Das Boot erhielt einen harten Stoß und schnellte zurück. Zugleich kam langsam der Wurzelballen ei nes Urwaldriesen, der dort seit Jahr und Tag mo dernd gelegen hatte, vom Grund hoch. Klatsch! Sun Koh war auf den Ruck nicht vorbe reitet gewesen. Sein Körper schlug nach vorn, und bevor er zugreifen konnte, lag er im Wasser. Dicht neben dem aufschießenden Baumstamm kam der Körper eines mächtigen Krokodils hoch. Mindestens acht Meter lang war es, und sein gäh nender Rachen mit den gelben Dolchzähnen klappte wie der Rachen des Todes selbst auf. Peng! Peng! Nimba war vernünftig genug, das Gewehr schnell wieder fallen zu lassen und zum Paddel zu greifen. Das Boot entfernte sich immer mehr von Sun Koh. Eine zweite Panzerechse tauchte neben der ersten auf, und da kamen von rechts und links noch mehr sich kräuselnde Furchen herangezogen. »Schießt, verdammt noch mal!« keuchte Jerry. Hal schoß, und er schoß nicht schlecht. Sun Koh schien trotzdem verloren zu sein. Sein nächster Feind, das mit dem Baum hochgekommene Krokodil, schnappte rasend vor Wut nach dem Stö 76
renfried. In letzter Sekunde schnellte sich Sun Koh aus dem zähen Schlamm heraus zur Seite, so daß die harten Kinnladen leer zusammenklappten. Dann stieß er sich auf die Baumwurzel zu. Schon öffnete sich der riesige Rachen wieder. Wenn nur die Wurzel hielt! Sun Koh riß sich mit einem Ruck hoch, stemm te sich auf die armstarke Wurzel hinauf und gleich höher zur nächsten. Peng! Peng! Das Wasser wurde im Todeskampf der riesigen Leiber zu Schlamm. Still trieben die hel len Bäuche davon. Jetzt war das Boot wieder an der Wurzel. Sun Koh schwang sich hinein. Ein kleiner Zwischenfall! Weiter! Rudert, Kame raden! Jeder Paddelschlag bringt euch einen Meter aus dieser Hölle heraus. Entfernten sie sich wirklich aus dem Zentrum des Urwaldes oder fuhren sie immer tiefer hinein? Sie legten sich kaum Rechenschaft darüber ab. Sie wußten nur, daß sie flußaufwärts fuhren und dabei mehr und mehr nach Südwesten kamen. Aber streng genommen wußten sie auch das nicht genau. Manchmal befanden sie sich plötzlich auf einem Wasser, das mit ihnen in gleicher Richtung strömte, obgleich sie sich kurz vorher noch gegen eine Strö mung gestemmt hatten. Und die zahlreichen Win dungen wiesen im Laufe des Tages nach so vielen Himmelsrichtungen, daß sie am Ende nicht mehr sa 77
gen konnten, in welcher Richtung sie die größte Strecke zurückgelegt hatten. Sie fuhren auf einem Fluß, aber der Fluß war von zahllosen Inseln durchsetzt und verästelte sich in tau send Nebenströmungen, die verschlungene Labyrint he bildeten. Es war ihnen unmöglich zu sagen, ob sie sich auf dem Fluß, einem Nebenfluß oder einem Sei tenarm befanden, ja, sie wußten nicht einmal, ob sie den Hauptfluß bisher überhaupt schon zu Gesicht bekommen hatten. Eine scheußliche Ungewißheit, die nur dadurch nicht qualvoller wurde, daß sie größere Sorgen hat ten. Früher oder später würden sie schon heraus kommen. Hauptsache war jetzt, das Paddeln nicht zu vergessen. Hunger? Nun, sie spürten ihn kaum. Aber heute gab es auf alle Fälle eine Rast, ein glühendes Feuer mit gebratenen Fischen und vielleicht einem frischen Affen oder einem Wasserschwein. Es tat schon not, wieder einmal anständig zu essen. Schlimm war der Durst! Wasser gab es genügend. Seit Tagen befanden sie sich auf dem Wasser. Aber wer mochte diese sumpfige, gelbe Brühe trinken, die von kribbelnden Kleinlebewesen wimmelte, wenn nicht die äußerste Not dazu zwang? Die violetten Dünste über Nacht waren schon schlimm, aber in diesem Wasser lag der Tod noch unvermittelter und wirkungsvoller. 78
Tausend Dollar für eine eisgekühlte Limonade! Jerry stieß einen kreischenden, heiseren Laut der Freude aus. Sein Arm wies nach vorn. Verwundert blickten die anderen auf. »Wasser!« Er lachte in unbegreiflicher Glückse ligkeit auf. »Endlich! Herrliches Wasser!« Sun Koh sah ihm scharf in die Augen. War Jerry verrückt geworden? Die faulige Brühe hatte sich noch nicht verändert. Jerry spürte die Zweifel. Er nickte heftig. »Doch, doch! Ich bin nicht übergeschnappt. Dort ist das Wasser. Ich suche seit Tagen nach einer sol chen Stelle. Ran an das Ufer, dort unter die Lianen.« Die Besorgnis der anderen verschwand nicht ganz, aber sie taten ihm den Gefallen und drückten das Boot zum Ufer hin. Dort schwankten in wundervoll farbigen Schleiern die Blumen an grünen, langen Strängen, die braunrot gesprengelt waren. Jerry griff gierig nach einem dieser Stränge, durchschlug ihn mit der Machete, so daß das rote Kernholz unter der grünen Schale sichtbar wurde. Mit einigen weiteren Hieben spitzte er das Ende zu, und schon – o Wunder! – kam klares Wasser in star kem Strahl herausgeschossen. Jerry trank in langen, durstigen Zügen, bis ihm das herrliche, wohlschmeckende Naß rechts und links herunterlief. Dann gab er die unerschöpfliche Liane weiter. 79
Sie tranken alle, bis sie überladen zusammensan ken. In diesen Minuten schenkten sie dem Urwald zum erstenmal wieder einen freundlichen Gedanken. »Davon müssen wir eine Ladung mitnehmen«, schlug Hal, noch schnaufend vom Schlucken, vor, aber Jerry schüttelte den Kopf. »Das ist leider nicht möglich. Die Lianen sind der artig lang, daß unser Boot nicht eine einzige tragen würde. Wir können nicht mehr tun, als uns gründlich satt zu trinken und zu hoffen, daß wir bald wieder auf solche Wasserlianen stoßen. Vielleicht treffen wir aber auch einmal auf Milchlianen, sie enthalten eine Flüssigkeit, die wie Milch aussieht und auch so ähnlich schmeckt.« Sie tranken alle noch einmal, dann fuhren sie wei ter. Die Moskitos, die an der Schattengrenze des Ur waldes auch bei Tag zu Millionen schwärmten, wa ren schon lästig geworden. Rasende Biester, diese Moskitos! Die ersten Tage waren die schlimmsten. Man fühlte jeden der hundert oder tausend stechenden Rüssel einzeln als scharfen Schmerz, und das Blut wurde wild unter dem Gift, das ihm an unzähligen Stellen zugleich eingespritzt wurde. Doch allmählich gewöhnte man sich an die stete Plage. Und seltsam – die Moskitos schienen sich den Geschmack am Menschenblut schnell abzu gewöhnen. Toll war es immer nur in der ersten hal ben Stunde nach Sonnenuntergang, wenn ein neuer 80
Schwarm von Millionen über die vier herfiel. Wenn ein paar hundert die Opfer heimgesucht hatten, lie ßen die anderen ab. Sie schwärmten weiter herum, aber sie stachen nicht mehr. »Es bleibt dabei«, sagte Sun Koh etwas später. »Wir werden heute ein Feuer anzünden und uns neuen Fleischvorrat beschaffen. Die Trommeln sind ver stummt. Die Indianer scheinen nichts mehr von uns zu wissen.« »Das ist damit noch lange nicht gesagt«, warnte Jerry, »aber im übrigen bin ich auch für ein Feuer. Wir brauchen Fleisch. Übrigens müssen wir auch an einen neuen Palmetto denken. Unser Boot löst sich in seine Bestandteile auf.« So war es. Das Boot zeigte sich schon bedenklich mürbe. Stellenweise machte es den Eindruck, als wollte es auseinanderweichen. Gegen Abend fanden sie eine Stelle, die ihnen günstig schien. Der Urwald schob sich nur dünn über einen Bodensattel hinweg. Dort hinauf kamen die Fieberdünste nicht, und man konnte die Umgebung bewachen. Das Feuer konnte freilich dafür um so leichter die Indianer anlocken. Krachend schob sich das Boot in das Schilf und stieß mit seiner Nase gegen den festen Lehm. Die vier nahmen Waffen, Macheten und alles andere auf die Schultern und stiegen schwerfällig aus. Die Füße waren es schon fast nicht mehr gewöhnt, auf festem 81
Land zu stehen. Aber trotzdem war es ein köstliches Gefühl, auf die Erde zu treten und durch das hohe Gras zu stampfen. »Verdammt!« Sie begannen fast gleichzeitig zu fluchen, zu hüp fen und mit wilden Handbewegungen am Körper hin und her zu fahren. »Verfluchte Grasblutegel!« schrie Jerry und gab damit zugleich die erforderliche Erklärung. »Reißt euch die Biester vom Leib und lauft nicht weiter, sonst werdet ihr sie überhaupt nicht los. Hölle und Teufel, wenn wir wenigstens schon ein Feuer bren nen hätten.« Die widerlichen, dunklen Schläuche der Blutsau ger hingen zu Dutzenden auf der nackten Haut und schwollen langsam an. Sie hatten sich so fest ge saugt, daß es eines gewaltsamen Rucks bedurfte, um sie loszureißen. Und oft genügte auch dieser nicht. Der saugende Kopf blieb im Fleisch sitzen, während der zerquetschte Körper davonflog. Am einfachsten war es, man nahm das Messer und schnitt sich einen Punkt Fleisch weg. Jetzt waren die vier Männer vorsichtiger. Sie ent fachten vor allem ein Feuer und schlugen sich mit brennenden Ästen eine Bahn durch das Gras bis zu der Stelle, die sie sich als Lagerplatz ausgesucht hat ten. Peng! 82
Ein dunkler Streifen fiel dicht vor Jerry ins Gras zurück. Verwundert blickte Jerry sich um. »Eine Schlange«, sagte Sun Koh, während er die Pistole zurücksteckte. Jerry beugte sich neugierig ins Gras. »Teufel noch mal – eine Sucurubu! Wenn Sie nicht getroffen hätten, wäre ich jetzt erledigt. Feiner Schuß! Dank Ihnen.« Endlich flammte das eigentliche Lagerfeuer auf. Hal bekam seinen Fieberanfall. Die Hängematten wurden gespannt. Sie legten ihn hinein. Nimba blieb als Wache. Sun Koh und Jerry gingen auf die Jagd. Sie kamen gerade mit einem erlegten Wasser schwein zurück, als Hal einen verzweifelten Schrei ausstieß und sich mit einem wilden Ruck aus der Hängematte herauswarf. »Was ist los?« schrieen die drei Männer gleichzei tig und stürzten auf den Jungen zu, der sich wie irr sinnig hin und her wälzte. Wieder bewährten sich die Kenntnisse Jerrys. Nach einem prüfenden Blick knurrte er: »Caraputos. Schnell, die Sachen herunter. Heiße Asche, Nimba.« Sie rissen dem Jungen die Kleidung vom Leib. Jetzt sah auch Sun Koh die winzigen Zecken, kaum so groß wie ein Stecknadelkopf. Sie waren zu Hun derten aus dem Baum heruntergefallen und auf die Haut ihres Opfers gerieselt, in die sie sich nun mit schraubenden Bewegungen hineindrehten. 83
Nimbas Hände schütteten heiße Asche auf den nackten Körper. Sun Koh und Jerry rieben sie ein und wischten dabei die Zecken herunter. Jerry holte sich noch ein glühendes Holzscheit und hielt es an die Stellen, an denen sich die Zecken schon einge fressen hatten. Hal brüllte erst unter dem Fieber, dem bohrenden Schmerz der eindringenden Zecken und dem Brand des brennenden Holzstücks wild auf, aber dann biß er die Zähne aufeinander und schwieg. Er konnte es nur nicht verhindern, daß ihm Tränen in hellen Bä chen aus den Augen herausliefen. Endlich war die Gewaltkur zu Ende und der Kör per von den Zecken befreit. Aufatmend sank Hal in die zwischen zwei anderen Bäumen gespannte Hän gematte und schlief ein. »Maria purisima!« Jerry atmete auf. »Das war höchste Zeit! Eine verfluchte Pest, diese Caraputos. Wenn man nicht aufpaßt, muß man ein halbes Pfund Fleisch herausschneiden, um eine einzige Zecke loszuwerden. Ein paar von der Sorte im Fleisch, und der Mensch ist zu nichts mehr zu ge brauchen.« »Der arme Hal!« brummte Nimba. »Ausgerechnet auf diesem Baum mußten sich die Biester aufhalten. Ich möchte nur wissen, wovon sie leben, wenn sich niemand darunter legt.« »Kann mir gleich sein«, knurrte Jerry. »Die 84
Hauptsache ist, daß sie sich nicht gerade uns aussu chen, um dick und fett zu werden. Jetzt sieht man sie kaum, aber wenn sie ein Opfer erwischen, mästen sie sich, bis sie platzen.« »Zecken sind merkwürdige Lebewesen«, meinte Sun Koh. »Die gewöhnliche Zecke, wie sie in den europäischen Wäldern zu finden ist, kann achtzehn Jahre lang ohne Nahrung auskommen. Dieses Fa stenvermögen über so lange Zeit gibt ihr die Aus sicht, ein zufällig vorbeistreifendes Opfer zu finden.« »Achtzehn Jahre?« Nimba staunte. »Na, ich muß schon sagen – für mich wäre das nichts. Mir knurrt der Magen jetzt schon, und wenn ich so das Fleisch vor mir sehe, möchte ich es am liebsten gleich roh essen.« Der Horizont flammte purpurn auf, dann kam jäh wie immer die Nacht. Das Feuer wurde entfacht, ein zuckender, glühender Mittelpunkt in einer unendli chen Weite. Das Abendkonzert des Urwalds begann. Die Moskitos summten in dichten Schwärmen heran, tanzten um den Rauch und hüllten die Männer in ein giftiges, spitzes Zischen, das eintönig auf- und nie dersank. Die großen Sterne wurden sichtbar, dann die Myriaden der kleinen, bis sich der Himmel wie eine kaum aufgehellte Samtkugel wölbte, an der Tausende von Edelsteinen sprühten. Hier und dort verdunkelten sich die schwimmenden Funken, wur den verdeckt durch die unförmigen Körper der flie 85
genden Hunde, die über die Bäume taumelten. In der Ferne brüllten Aluates im Chor auf, nicht weit jaulte ein Jaguar und kreischte ein gestörter Affe. Gewöhn lich verschlang jedoch das unbestimmbare, tausend fältige Geräusch des Waldes die Einzelheiten. Als der Braten fertig war, hatte sich Hal soweit von seinem Fieberanfall erholt, daß er sich am ge meinsamen Essen beteiligen konnte. Sie aßen, und dabei wurde jedem bewußt, wie groß der Hunger des anderen gewesen sein mußte, so gierig stopften sie das Essen in sich hinein. Sie aßen, dann warfen sie sich in die Hängematten, um zu schlafen. Sun Koh blieb am Feuer und lausch te in die Nacht hinein. Er hielt für die anderen Wa che. Eine merkwürdige Nacht! Während sonst das abendliche Konzert des Urwal des nach einiger Zeit abzuflauen pflegte, nahm es heute an Stärke zu. Sun Kohs Nerven spürten die Un ruhe, die in Wellen an ihn heranspülte. Er lauschte und starrte. Waren diese heimtückischen Blasrohrindianer un terwegs, die ihre vergifteten Pfeile aus dem Hinter halt heraus geräuschlos auf ihre Opfer bliesen, um dann die Trommeln triumphierend aufklappern zu lassen? Unwahrscheinlich. Die Eingeborenen schli chen immer auf dem Grund des Waldes und brachten ihn wohl kaum in solche Aufregung. Außerdem lieb 86
ten sie die Nacht nicht und blieben lieber solange in ihren Hütten. Was geschah in dieser Nacht? Gegen die hellere Linie des Wassers, in dem sich die Sterne widerspiegelten, zeichneten sich flüchtig die Gestalten vorbeihuschender Tiere ab. Tierhufe klapperten gehetzt. War das nicht ein Jaguar, der eben am Rand der Dunkelheit vorbeihuschte, ohne sich um den lauschenden Menschen zu kümmern? Etwas Grausiges bereitete sich vor, und doch zeig te sich außer den immer schärfer anschwellenden Geräuschen ringsum nichts Besonderes. Der Urwald lag dunkel, so weit das Auge reichte. Sun Koh erhob sich und weckte Jerry. »Aufstehen, Jerry. Irgend etwas ist nicht in Ord nung. Ich kann nicht feststellen, um was es sich han delt. Sie besitzen mehr Erfahrung als ich.« Jerry sprang trotz seiner Schlaftrunkenheit aus der Hängematte heraus. Er stolperte und stieß einen Fluch aus. Darüber wurden auch Nimba und Hal wach und merkten, daß etwas Besonderes vorlag. »Was ist denn?« fragte Jerry. »Horchen Sie.« Jerry schüttelte den Kopf, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. »Hm, heute scheint der ganze Wald verrückt zu sein. Haben Sie die flüchtenden Tiere bemerkt?« »Ja, ich beobachte sie schon eine ganze Weile. Ir 87
gend etwas treibt sie fort. Ich dachte an einen Wald brand, aber vorläufig fehlt jeder Feuerschein und Brandgeruch.« »Dieser Wald brennt nicht«, murmelte Jerry. »Es ist viel zu feucht. Ich möchte nur wissen …« Die Zeit verstrich. Das jammervolle Schreien des Urwalds schien abzuflauen. Oder hatten sich die Oh ren nur daran gewöhnt? Immer spärlicher wurden die Tiere, die noch vorbeihuschten. Plötzlich war ringsum ein feines Knistern, das zum schwachen Rauschen anschwoll. Es war zum Wahnsinnigwerden. Dieses Knistern und Rauschen – das war die Gefahr. Sie kam heran. Sie mußte sich ganz in der Nähe befinden. Aber sie wußten immer noch nicht, um was es sich handelte. Ein Lufthauch trug einen eigentümlichen Geruch heran. »Verdammt!« Sie schrieen es gleichzeitig und griffen gleichzei tig nach ihren Beinen, an denen es plötzlich an meh reren Stellen zugleich schmerzhaft zwickte. Und jetzt heulte Jerry auf. »Tocandeiros! Fort! Lauf!« »Was ist es?« fuhr Sun Koh ihn an. »Wanderameisen! Ich Idiot! Ich hätte es wissen müssen.« Er wollte davonlaufen, aber Sun Koh riß ihn zu rück. 88
»Ihre Machete und Ihre Sachen, Jerry. Wollen Sie alles liegen lassen?« »Alles unwichtig!« brüllte Jerry. »Lauft, es geht ums Leben!« Trotzdem stürzte er jetzt nicht mehr besinnungslos weg, sondern raffte erst noch auf, was ihm gehörte, und die anderen folgten seinem Beispiel. Jetzt sahen sie die Gefahr. Wie ein schwach leuch tendes Meer schob es sich rings um die Anhöhe her an, eine hohe Flut zahlloser Ameisen, Milliarden und Abermilliarden, die wie ein Strom heranflossen. »Zum Boot!« Unmöglich, zum Boot zu kommen. Schon schob sich eine breite Zunge von Ameisen zwischen die Lagerstelle und das Wasser. Die vier Männer ver zichteten. Sie rannten in die Richtung, in der sich die wenigsten Ameisen befanden. Es waren immer noch genug, die unter den Sohlen knirschten und krachten. Ameisen, Ameisen! Blitzschnell liefen sie an den hastenden Körpern hinauf, verbissen sich in die Haut, in die Lippen, in die Achselhöhlen, spritzten Säure ins Blut und Unru he in die Gehirne. Dabei hatten die Männer nicht einmal die Hände frei. Sie konnten nur mit Ellbogen, Armen und zuckenden Schultern gegen die winzigen Bestien angehen. Sun Koh lief schweigend. Er riß Hal die Last aus dem Arm und lud sie sich auf. 89
Die anderen liefen wie die Irren, tobten vor Schmerz und fluchten wie die Teufel. Endlich hatten sie die vorgeschobene Spitze der lebenden Flut überholt. Sie liefen nicht mehr auf Ameisen, sondern auf Gras. Da warfen sie alles ab, was sie in den Händen hatten, und rissen sich die Ameisen vom Leib herunter. »Weiter!« drängte Sun Koh. »Die Ameisen kom men.« Da rieselte es auch schon heran. Sie setzten sich wieder in Bewegung, liefen durch die Nacht und ge wannen Abstand. Aber jetzt wurde der Wald mit jedem Schritt dich ter. Sie konnten nicht mehr einfach durchbrechen. Das Dickicht ließ sich nur noch mit den Macheten durchschlagen. Eine kurze Verständigung, dann nahmen Jerry und Hal die Waffen und alle Lasten auf ihre Schultern. Sun Koh und Nimba schwangen die Haumesser, und sie schwangen sie so schnell, daß die Luft unter dem Stahl pfiff. »Beeilt euch!« rief Jerry trotzdem. »Die Ameisen sind schnell. Wenn sie uns erreichen, bleiben nur un sere Gerippe übrig. Die Biester lassen nur leeren Wald hinter sich.« Die beiden Männer arbeiteten fieberhaft, aber es ging trotzdem langsam. Dabei ahnten die überreizten Sinne dauernd den knisternden Tod, der sich wie ei 90
ne Wasserwelle durch den Urwald vorschob. »Das Boot?« erinnerte Hal einmal. »Zum Teufel!« knurrte Jerry. »Ist auch nicht schlimm. Einen neuen Palmetto finden wir schon. Wenn uns nur die Ameisen nicht erwischen.« Sun Koh arbeitete mit der Kraft und der Regelmä ßigkeit einer Maschine. Nimba mußte trotz seiner riesigen Kräfte nach einer Weile verschnaufen, weil das Tempo für ihn zu scharf war. Jerry sprang für ihn ein. Er ließ eine Weile später fluchend die Machete aus seinen bleischweren Armen fallen. Nimba nahm sie wieder auf. Die Nacht sang ein Lied von Verzweiflung, ge heimer Todesfurcht und unbändiger Willenskraft. Als der Morgen graute, besaßen sie die Gewißheit, daß sie den Ameisen entronnen waren. Der knisternde Strom hatte eine andere Richtung genommen als sie. Die Gasse durch den Wald, die sie in dieser Nacht geschlagen hatten, war ihre Rettung geworden. Sie war so lang, daß drei Männer zwei volle Tage gebraucht hätten, um sie nachzuschlagen. Und jeden Schritt markierten Schweiß und Flüche. Sun Koh hatte bis an die Grenze seiner Kräfte ge arbeitet. Als die Sonne ihre ersten Strahlen blitzend aus dem Wasser in ihre Augen warf, als sie den Fluß vor sich sahen, von dem sie nicht einmal wußten, ob es ihr alter Fluß oder ein anderer war, da brachen die 91
Männer zusammen. Sie taumelten und schlugen wie gefällte Baumstämme hin. Hal durchforschte das Gras ringsum nach Blut egeln, Zecken und Schlangen. Dann stellte er sich mit dem Gewehr im Arm neben die erschöpften Männer und hielt einsame Wache. 4. Sie legten eine zweitägige Rast ein, während der sie gedörrtes Fleisch herstellten, ein neues Boot aus ei nem Palmetto hieben und nicht zuletzt sich einmal gründlich ausruhten. Da sie Wasserlianen in der Nä he fanden, wurde die Rast recht angenehm. Am Abend des zweiten Tages hatte sich ein guter Teil der scharfen Anspannung und Überreizung aus den Gesichtern verloren. Sie waren wieder fähig, sich ruhig und vernünftig zu unterhalten. Begreiflicherweise drehten sich ihre Gespräche fast alle um den wichtigsten Punkt. Wie lange würde die Fahrt durch den Urwald noch dauern? Niemand konnte diese Frage beantworten, aber sie drängte sich immer wieder auf. Wie lange noch? »Vielleicht ein paar Wochen?« beantwortete Jerry schulterzuckend eine dieser Fragen. »So wichtig ist das ja schließlich nicht, solange alles weiter so gut verläuft wie bisher.« »Gut ist originell«, brummte Nimba. »Mir ist es 92
noch nie so schlecht gegangen wie jetzt.« »Die besseren Herren sind eben ein feines Leben gewöhnt.« Jerry grinste. »Ich finde jedenfalls, wir können von Glück reden. Bis jetzt haben wir noch keinen Mann verloren, und die Indianer scheinen auch nicht auf unserer Spur zu sein. Ebenso gut könnten wir schon irgendwo tot im Wald liegen.« »Das ist auch meine Meinung«, sagte Sun Koh. »Wir müssen zufrieden sein, daß wir so weit ge kommen sind. Und wenn alles so weiter geht, haben wir in einigen Wochen den Urwald hinter uns. Unse re Hauptrichtung haben wir sicher eingehalten. Sie muß früher oder später zum Gebirge führen.« Am nächsten Morgen setzten sie ihre Fahrt fort. Sie bot nicht viel Neues. Die Leiden und Schrek ken der vergangenen Tage wiederholten sich bis zur Abstumpfung. Am zweiten Tag nach ihrer Rast rette ten sie das Boot und sich mit Mühe aus dem An griffsbereich einer Riesenschlange heraus. Am Tag darauf gerieten sie in ein Sumpfgebiet. Tagelang trieben sie sich auf den Rinnsalen zwischen schwammigem Boden, Schilf und Baumflecken her um, bis sie von dem ewigen Aufenthalt im Boot ganz steif waren. Der sonst so verhaßte Urwald wurde zu einem ersehnten Ziel, denn dort gab es wenigstens festen Boden, auf dem man nachts die Glieder strek ken konnte. Am fünften Tag dieser Fahrt durch die Sümpfe 93
entdeckte Sun Koh halbrechts voraus einen blauen Streifen am Horizont. Er machte die anderen auf merksam, und nun starrten sie zu viert in die ver schwimmende Ferne. »Es sieht fast wie ein Höhenzug aus«, stellte Sun Koh fest. »Gerettet!« Hal atmete tief auf. »Noch nicht«, dämpfte Jerry. »Es kann noch lange dauern, bis wir dorthin kommen.« Immerhin – es war eine Hoffnung. Die Kräfte schienen zurückzukehren, und das Boot nahm eine Geschwindigkeit an, wie es sie nur in den ersten Ta gen besessen hatte. Die Gunst des Schicksals hielt an. Am Abend stie ßen sie wieder auf festes Land. Aufatmend betraten sie den unnachgiebigen Boden. Noch nie schliefen sie so fest und so freudig ein wie an diesem Abend. Und noch nie war das Erwachen schrecklicher als in dieser Nacht! Nimba hockte beim Feuer und spähte und horchte in den Wald hinein, obgleich er viel dafür gegeben hätte, schlafen zu dürfen. Die trotz ihrer Vielfalt mo notonen Geräusche des Urwalds passierten sein Ohr. Seine Sinne überprüften halb unbewußt alles, was ringsum vorging. Und sie waren in seiner Jugend, die er im afrikanischen Wald verbracht hatte, gut ge schärft worden. Kein Wunder, daß er plötzlich aufhorchte. Etwas 94
Ungewohntes war da. Eine feine, aber doch deutlich vernehmbare Unruhe kam von der Landseite her. Ein Affe kreischte ärgerlich, einige Vögel, die sonst nur bei Tag zu hören waren, schimpften. Nimba erhob sich und warf Holz auf das Feuer, so daß es heller aufloderte und in den Wald hineinzuck te. Dann weckte er Sun Koh. »Etwas Ungewöhnliches im Wald, Sir«, flüsterte er. »Ameisen?« fragte Sun Koh sofort hellwach. »Nein, etwas anderes. Vielleicht Indianer. Ich will nachsehen, aber es ist besser, wenn Sie Bescheid wissen. Und vielleicht wäre es besser, wenn sich niemand gegen den Feuerschein stellen würde.« »Gut.« Sun Koh stand auf. Nimba glitt weg. Außer der Lichtgrenze stellte er sich mit dem Rücken gegen einen Stamm und verschmolz mit der Dunkelheit. Höchste Zeit! Nicht weit voraus verriet ein feines Brechen, Knacken und Schleifen die Annäherung der nächtlichen Ruhestörer. Nimba strengte seine Augen an. Nichts zu sehen! Doch da … Die Ahnung bestätigte sich. Das war ein Mensch, der durch das Gewirr von Busch und Lianen glitt. Weiter seitlich von ihm mußten sich andere auf glei cher Höhe befinden. Indianer! Nimba ahnte die starre Linie eines Blasrohrs und 95
schoß. Die Kugel jagte peitschend hinaus. Rollend kam der Krach aus den dichten Laubdächern zurück. Der huschende Schatten brach mit einem gellen den Schrei zusammen. Plötzlich rasselten Trommeln auf, zornige, dro hende Trommeln der Indianer. Sie klapperten so nahe, daß Nimba wild in den Wald hineinschoß, einfach in Richtung dieser höl zernen Trommeln. Er wußte, daß er verloren war, wenn ihm einer dieser Indianer nahe kam. Dann sprang er zurück, über das Feuer hinweg. Jenseits warf er sich dicht am Fluß neben den drei anderen nieder, die inzwischen Stellung bezogen hat ten. Wenn die Indianer sie dort erreichen wollten, mußten sie über den erhellten Lagerplatz hinweg oder sich dicht am Ufer anschleichen. In beiden Fäl len aber würden die Kugeln schneller sein als die Pfeile. Peng! Peng! Die Schüsse knallten in schneller Folge. Die Trommeln rasselten. »Achtung, Nimba!« schrie Sun Koh, als sich Nim ba eben neben ihm niederwarf. Die Pfeile waren schnell. Sie zischten durch die Luft, ein bunter Schwarm vergifteter Todesboten. Im Augenblick, in dem sich Nimba bereits in Si cherheit glaubte und sich gegen die Erde duckte, spürte er auf dem Unterarm einen feinen Stich. 96
Ein Giftpfeil! So locker hing er an der Haut, daß er bei der näch sten Bewegung wieder abfiel und im Gras ver schwand. Getroffen! Im Bruchteil der Sekunde schob Nimba alles durch den Kopf, was er von Jerry über die Wir kung der Giftpfeile gehört hatte. Er war verloren, ret tungslos verloren. In Sekunden oder Minuten würde der Tod eintreten. Vorbei! Sun Koh bemerkte den Giftpfeil an Nimbas Arm im gleichen Augenblick wie dieser. Der Schreck sprang ihn wie Eis an. Nimba warf sich neben ihm nieder. Sun Koh schnellte hoch. Die Bewegungen begegneten sich so jäh, daß sie von den beiden richtig vollendet wurden. Aber eine halbe Sekunde nach dem Auftreffen des Pfeils lag Sun Kohs Hand bereits wie ein Schraub stock um Nimbas Oberarm. »Ich bin getroffen, Sir«, keuchte Nimba. »Leben Sie wohl und nehmen Sie auf mich keine Rücksicht mehr.« »Schießt!« schrie Sun Koh den beiden anderen zu und riß dabei das Messer aus dem Gürtel. »Beiß die Zähne zusammen, Nimba.« Bevor Nimba noch recht begriffen hatte, floß das Blut schon in zuckenden, dicken Strömen aus seinem Arm. Sun Koh fuhr rücksichtslos mit dem Messer hinein und zerschnitt die Oberseite des Unterarms in 97
der Umgebung der unsichtbaren Wunde, so daß die Muskelstränge bis auf die Knochen auseinanderklaff ten. »Au …«, brüllte Nimba im ersten, überraschenden Schmerz auf. »Schrei!« Sun Koh fuhr mit weiteren Querschnit ten durch die ohnehin schon gräßliche Wunde hin durch. Nimba verstummte. Jetzt erst begriff er, was Sun Koh wollte. Wenn das Leben schon verloren war, so konnte ein letzter, verzweifelter Versuch nichts scha den. Auch tödliches Gift braucht Zeit, braucht Schlä ge des Herzens, um sich über den Körper zu verteilen. Wenn man ihm keine Zeit ließ, sondern es mit dem ausströmenden Blut wieder herausschwemmte … Und wurde die Wirkung von Giften erfahrungs gemäß nicht übertrieben? Von manchem Gift hatte es schon geheißen, daß es blitzartig wirke, und doch brauchte es lange Minuten, bevor es einen Mann umwarf. Was wußte man von der Wirkung der Gift pfeile anderes als das, was Jerry berichtet hatte? Wie das Blut floß! Über der Verwunderung, daß er soviel Blut in sei nen Adern besaß, verlor Nimba das Bewußtsein. Jerry und Hal schossen immer noch. Die Pfeile waren seltener geworden. Die Kugeln hatten sich ihre Opfer geholt. Jetzt blieben die bunten Todesboten ganz aus. Der Klang der Trommeln än 98
derte sich. »Sie reißen aus!« schrie Jerry voll Triumph. Er hatte lange genug unter den Eingeborenen gelebt, um die Sprache der Trommeln zu verstehen. Und dann wurde es still. Die Trommeln schwiegen. Die Schüsse knallten nicht mehr. »Die haben wir zum Teufel geschickt.« »Vorsicht!« warnte Hal. »Dort bewegt sich noch etwas.« Sein Schuß peitschte hinaus. »Stop!« knurrte Jerry. »Ich will versuchen den Kerl zu fangen.« Er rannte über die Lichtung. Nach den vorausge gangenen Erfahrungen schien das Leichtsinn zu sein, aber Jerry kannte eben die Gewohnheiten dieser Ein geborenen. Der Indianer versuchte, sich durch den Busch fort zuschleppen. Jerry riß ihn hoch und schleppte ihn zum Feuer. »Was hast du?« höhnte er dabei wild. »Schmer zen? Zeig her. Ah, Bauchschuß! Geschieht dir recht, Bursche, warum greifst du fremde Leute an. Ihr habt Nimba auch erledigt.« Dann ging er in das Idiom der Puhadas über und versuchte, sich mit dem Schwerverletzten zu ver ständigen. 99
Hal trat zu Sun Koh. »Nimba ist tot?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Noch nicht«, antwortete Sun Koh, während er ei nen Verband um Nimbas Arm legte. »Ich habe ihn zur Ader gelassen. Vorläufig lebt er noch, und ich hoffe, daß es dabei bleiben wird.« Hal atmete tief auf. »Das wäre das Feinste, was uns passieren könnte.« »Ja.« Sun Koh nickte. »Hoffen wir, daß seine Na tur ihm hilft. Blut hat er genug verloren. Was ist mit den Indianern?« »Fort. Jerry hat einen Verwundeten.« Der Indianer stieß einen gräßlichen Schrei aus, dann wimmerte er leise weiter. Jerrys Stimme wurde drängend und scharf hörbar. Nimba wurde unruhig. Seine Glieder zuckten. »Die Krise beginnt«, murmelte Sun Koh. »Wir müssen mit allem rechnen. Schneide einige Lianen herunter.« Er hielt den immer heftiger um sich schlagenden Körper fest, bis Hal zurückkam. Dann band er Nim bas wunden Arm um dessen Brust fest, schnürte den anderen Arm an die Hüfte und fesselte die Beine. Nimba verfügte über Riesenkräfte, die unter Fieber und Gift leicht übermächtig werden konnten. Es mußte verhütet werden, daß er sich die Glieder zer schlug. Jetzt kam Jerry heran. 100
»Nimba lebt noch?« rief er überrascht. »Ich dach te, Sie machen ihn schon für die Erde fertig.« »Ich habe die Wunde aufgeschnitten. Vielleicht kann er die Giftspuren, die in seinem Körper blieben, bewältigen.« Jerry schüttelte nachdenklich den Kopf. »Hoffen wir es, aber es ist verflucht unwahr scheinlich. Ich habe noch keinen, der von einem die ser Pfeile getroffen wurde, fünf Minuten später am Leben gesehen.« »Was ist mit dem Indianer?« »Tot«, erwiderte Jerry. »Er ist mir unter den Hän den gestorben. Bauchschuß.« »Warum schrie er so auf?« »Ich mußte ihm den Mund öffnen. Er wollte nicht sprechen.« »Und – was haben Sie erfahren?« Jerry winkte ärgerlich ab. »Nicht der Rede wert. Der Kerl sprach wieder ei nen anderen Dialekt als die Puhadas, deren Sprache ich gelernt habe. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, waren es zwanzig Mann, die uns angriffen. Ich wollte wissen, wieso sie uns gefunden haben, aber da sagte er etwas von Trommeln und Krokodilmännern, aus dem ich nicht klug werden konnte.« »Krokodilmänner?« »Ja, aber das dürfen Sie nicht so genau nehmen. Die Indianer schwatzen zwar stundenlang, aber ihre 101
Sprache ist arm an Worten. Sie müssen eine Menge Umwege machen, wenn sie etwas bezeichnen wol len, was nicht zu ihren täglichen Erfahrungen gehört. Er sprach von Männern, die hart und unverwundbar wie Krokodile sind und die das Feuer blasen.« »In welchem Zusammenhang sprach er von diesen Männern?« »Das habe ich nicht richtig herausgekriegt. Er re dete ziemlich sinnlos durcheinander. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß die Indianer den Krokodil männern dafür verantwortlich sind, daß niemand den Fluß hinauffährt. Er kann aber auch genau das Ge genteil gemeint haben.« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. »Männer, die unverwundbar wie Krokodile sind und das Feuer blasen – finden Sie das nicht merk würdig?« Jerry zuckte mit den Schultern. »Sie machen sich zuviel Gedanken. Wer weiß, was der Unsinn bedeuten soll.« »Wir blasen das Feuer«, warf Hal ein. »Eben daran dachte ich«, sagte Sun Koh. »Für die Indianer, die nur das Blasrohr als Waffe kennen, müssen wir Männer sein, die das Feuer blasen.« »Hm, das stimmt ganz genau«, bestätigte jetzt auch Jerry. »Diese Bezeichnung gebrauchten die Pu hadas üblicherweise für die Weißen. Aber als unver wundbar haben sie noch keinen bezeichnet.« 102
»Das glaube ich, denn dann müßten die Weißen gewissermaßen in Eisen gehüllt sein.« »In eine Rüstung«, meinte Hal. »Leder würde zur Not auch genügen.« Jerry schnippte mit den Fingern. »Von mir aus Nickelstahl. Ich zerbreche mir den Kopf nicht darüber. Werde lieber mal nachsehen, wieviel Indianer auf der Strecke blieben.« Hal schloß sich ihm an. Sie fanden insgesamt elf Leichen in der Umgebung der Lichtung. Das war in Anbetracht der schlechten Schußverhältnisse eine erstaunlich hohe Zahl, die sich nur durch die Unvor sichtigkeit der Angreifer erklären ließ. Den Indianern mußten die Gewehre und ihre Wirksamkeit ganz oder fast ganz unbekannt gewesen sein, sonst wären sie besser auf Deckung bedacht gewesen. »Die Hälfte haben wir bestimmt erwischt«, stellte Jerry fest. »Ich glaube nicht, daß sich der Rest noch einmal heranwagt.« »Was machen wir mit den Toten?« »Wir müssen sie ins Wasser werfen. Hier geht es sehr schnell mit der Zersetzung.« »Ins Wasser?« Sun Koh zögerte. »Dort wimmelt es von Krokodilen.« »Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen. Die Indianer kennen kein anderes Verfahren, um ihre Toten loszuwerden. Sie werfen sie immer den Kro kodilen vor.« 103
»Dann also ins Wasser.« Jerry und Hal gingen an die Arbeit. Sie waren froh, als sie die Leichentransporte hinter sich hatten. Die Nacht verging ohne weitere Störung, ebenso die folgenden Tage. Die nächtliche Schießerei mußte tatsächlich so stark auf die Eingeborenen gewirkt haben, daß sie sich nicht wieder heranwagten. Nimba schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Obgleich nur winzige Spuren des Gifts in sei nen Körper eingedrungen sein konnten, sah es so aus, als würden ihn selbst diese Winzigkeiten überwälti gen. Drei Tage lang kämpfte er wie ein Tobsüchtiger gegen die Lianenfesseln, die ihn hielten. Drei Tage lang schrie und brüllte er immer wieder in den Ur wald hinein. Endlich war die Kraft des Gifts gebrochen. Die Ausbrüche wurden matter und hörten schließlich ganz auf. Das verzerrte Gesicht glättete sich, der Atem wurde ruhiger und gleichmäßig, das Fieber schwand. Am vierten Tag schlug er nach langem Schlaf zum erstenmal wieder die Augen mit Bewußtsein auf und erkannte Sun Koh. Zwei Tage später fühlte er sich bereits kräftig ge nug, um die Fortsetzung der Fahrt vorzuschlagen. Sein gesundes Blut baute mit erstaunlicher Ge schwindigkeit auf. Freilich verschlang er auch er staunliche Mengen von Nahrungsmitteln. Die Wunde 104
heilte zusehends. Dann stellte sich heraus, daß die Vergiftung auch eine angenehme Nachwirkung besaß. Nimba müßte am siebten Tag seinen Fieberanfall bekommen. Die ser blieb jedoch aus. »Ich merke nicht das Geringste«, versicherte er. »Mir ist vollkommen wohl und genauso, als hätte ich nie am Fieber gelitten.« »Vielleicht hat das Gift das Fieber vertrieben?« erwog Sun Koh. »Immerhin möglich. Dann könntest du jetzt immun sein. Nun, wir werden ja sehen.« Die nächsten Tage zeigten, daß die Vermutung zu traf. Nimba bekam keinen Anfall mehr. Er blieb ge sund, obgleich weiterhin alle Möglichkeiten vorla gen, das Fieber wieder ins Blut zu bekommen. Damit erhielt Sun Koh zugleich einen Anhalt da für, warum er selbst vom Fieber verschont blieb. Am neunten Tag nach dem Überfall bestiegen sie ausgeruht und reichlich mit Vorräten versehen von neuem das Boot, um die Fahrt durch das unbekannte Gebiet fortzusetzen. Drei Tage lang hoben und senkten sich eintönig die Paddel, drei Tage lang tropfte das gelbe Wasser neben dem Kanu her, drei Tage lang lief der Schweiß von den verzerrten Gesichtern, glühte die Sonne auf den Köpfen und spien die Lippen wieder Flüche zu den tückisch schielenden Krokodilen hinüber. Dann kam die Verheißung. 105
In den träge dahinfließenden Strom, den sich das Boot hinaufschob, mündete ein schmaler Nebenfluß ein. Die vier hatten in diesen Wochen zahllose Ne benflüsse und Seitenarme bemerkt, aber noch nie hatte sich das Wasser mit solcher Gewalt in den Hauptstrom gepreßt, und noch nie war der Unter schied in der Beschaffenheit so auffallend gewesen wie hier. Das einströmende Wasser war gegenüber der leh migen Brühe fast klar. Die zahllosen Kleinlebewe sen, die man sonst mit dem bloßen Auge bemerkte, fehlten. Das Wasser war so sauber, daß man es ohne Ekel trinken konnte. Sicher war es nicht besser als das Wasser von hundert europäischen Flüssen, aber im Vergleich zu allem, was die vier bisher auf ihrer endlosen Fahrt kennengelernt hatten, wirkte es wie ein Labsal. Und das Wasser dieses Nebenflusses war kühler! Auf Jerrys verkrampften Mienen flackerte ein Grinsen. »Verdammt will ich sein, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist.« Das Gesicht Sun Kohs war ebenfalls heller gewor den. »Das ist ein gutes Zeichen. Der Fluß kommt vom Gebirge. Das beweist seine Strömung, seine Tempe ratur und seine Sauberkeit. Er wird uns den Weg zei gen.« 106
»Endlich siegt die Tugend!« Hal atmete auf und schlug dem vor ihm sitzenden Jerry kräftig auf die Schulter, worauf Jerry herumfuhr und damit das Boot fast zum Kentern brachte. »Bist du verrückt?« »Nein, nur freudig erregt.« »Wenn wir an Land sind, werde ich auch einmal freudig erregt sein«, knurrte Jerry. »Das wird dir dann eine kilometerlange Zahnarztrechnung einbrin gen.« »Lächerliches Großmaul!« meinte Hal gering schätzig. »Hoho, ich…« »Gib auf, Jerry«, fing ihn Nimba ab. »Es hat kei nen Zweck, sich mit Hal zu streiten. Er will sich oh nehin im nächsten Zoo als Krokodil anstellen las sen.« »Wieso?« erkundigte sich Hal mißtrauisch, und damit war er hereingefallen. Nimba strahlte über das ganze Gesicht. »Wegen konkurrenzloser Großmäuligkeit. Soweit kann kein Krokodil den Rachen aufreißen wie du.« Jerry wieherte vor Lachen. »Bravo, gut gegeben. Bravissimo!« »Dämliche Meckerei!« fauchte Hal. »Wie kann ein erwachsener Mann nur so kindisch sein. Du hast dich von dem Giftpfeil noch nicht erholt, Nimba. Schwerer Gehirnschaden!« 107
»Hoho!« »Hähä!« »Vergeßt das Rudern nicht«, mahnte Sun Koh. »Die lachen doch nur, damit sie nicht zu paddeln brauchen.« »Weiter.« Sie schwiegen wieder, aber die Gesichter blieben heller, als sie in diesen Tagen gewesen waren. Der Fluß mußte nach menschlichem Ermessen die Ret tung bedeuten. Doch es machte sich ein Nachteil bemerkbar. Die Strömung dieses Flusses war erheblich kräftiger. Da durch sank die Geschwindigkeit des Bootes. Sie mußten schärfer paddeln als bisher und kamen trotz dem langsamer voran. Zwei Tage lang stemmten sie sich flußaufwärts, dann erreichten sie einen Wasserfall. Jerry fluchte, aber Sun Koh lachte. »Sie sollten froh sein, daß wir schon so bald auf einen Fall stoßen. Er bringt uns dreißig Meter höher. Glaubten Sie, wir können aus dieser Sumpfland schaft herauskommen, indem wir einfach den Fluß schräg hinauffahren. So stark ist der natürliche Fall nicht. Wenn der Fluß ohne Wasserfälle wäre, würden wir viele Wochen brauchen, um auf Höhe zu kom men. Ein Wasserfall spart uns eine Woche Ruderar beit. Wir können uns nichts Besseres wünschen als eine ganze Kette solcher Fälle, denn dann sind wir 108
bald im Hochland.« Jerry pendelte mit dem Kopf. »Hm, schon richtig, aber wir müssen jeden Fall am Ufer umgehen, und das kann böse für uns werden, falls Indianer in der Nähe sind.« »Sicher«, sagte Sun Koh. »Erzwingen müssen wir uns aber den Weg ohnehin. Heute werden wir wohl ohne Gefahr durchkommen. Man scheint im Augen blick nichts von uns zu wissen. Also zum Ufer! Wir bleiben heute hier und schlagen uns morgen durch den Wald.« Die Umgehung des Wasserfalls, der nicht einmal besonders groß war, erforderte einen vollen Tag. Sun Koh und Jerry hieben mit den Macheten die Spur. Nimba schleppte das Boot, und Hal übernahm die Sicherung. Sie befanden sich am Abend dieses Tages nur dreißig Meter höher, und doch bemerkten sie einige Veränderungen. Die Luft war weniger dunstig und giftig, die Hitze nicht ganz so drückend, und der Wald schien insgesamt nicht mehr so faulig-wild zu wuchern, sondern fester und klarer zu sein. Das dröhnende Geräusch fallenden, frischen und bewegten Wassers war Musik in ihren Ohren. Nach dem sie wochenlang das trübe, stehende und ver seuchte Sumpfwasser der Niederung um sich herum gehabt hatten, kam ihnen die zerstiebende Flut am Fall wie ein Geschenk des Himmels vor. Die Ver 109
krampfung in ihnen löste sich. Vier Tage harter Paddelarbeit brachten sie an die nächste Bodenwelle und damit an den nächsten Was serfall heran. Trotz aller Mühe halfen ihnen diese Tage, aus Verzweifelten wieder zu trotzigen und kampfbereiten Abenteurern zu werden. Die Natur erdrückte sie nicht mehr, obgleich nach wie vor ringsum der Urwald wucherte. Sie besaßen jetzt gleichsam ein Existenzminimum, an das sie sich hal ten konnten. Wasserfall! Paddelarbeit auf dem strömenden Fluß. Wieder ein Wasserfall. Und dann erlebten sie das Wunder. Die Umgehung dieses Wasserfalls hatte soviel Zeit in Anspruch genommen, daß sie erst mit anbrechender Nacht ihr Ziel erreicht hatten. So schoben sie erst am nächsten Morgen das Boot in den Fluß oberhalb des Falls. Hal bemerkte das Wunderbare. Seine Hand schwankte, als er auf das Wasser wies, und in seinem Schrei zitterte es wie ein Schluchzen, als er heraus stieß: »Sir! Sehen Sie! Dort! Sand! Sand!« Sand! Wochen und Ewigkeiten hatten sie nichts gesehen als blasenwerfenden Schlamm, dunstigen Morast und weiche Lehmbänke. Jetzt lag dort Sand, reiner Sand, der aus lauter einzelnen festen Körnchen bestand. 110
Es war für sie das Wunder schlechthin. Sie starrten ergriffen auf die winzige Sandbank, bis Hal mit einem Schwung seine Waffen wegwarf. »Und jetzt – jetzt hinein!« Bevor die anderen noch recht begriffen hatten, war er wollte, hatte er sich mit einem Satz ins Wasser hineingeworfen, direkt auf die sandige Stelle zu. Und dann lag er mit sämtlichen Sachen im Wasser und kreischte vor Vergnügen. »Die Piranhas!« rief Jerry ihm erschreckt zu. »Hier wird es wohl keine geben«, beruhigte Sun Koh. »Bleiben Sie hier oder wollen Sie auch ins Wasser?« »Wenn das eine Frage sein soll?« Jerry grinste. »Moment, ich bin gleich wieder da und lasse Ihnen dann den Vortritt.« Schon lag er im Wasser, und Nimba folgte ihm gleich darauf. Sun Koh beherrschte sich und ließ die drei sich austoben. Irgendwer mußte ja schließlich Wache hal ten. Erst als Jerry triefend wie ein Wassergott und strahlend wie ein Geburtstagskind wieder heraus stieg, warf er sich ebenfalls in das herrliche Bad. Sie fühlten sich wie neugeboren, als sie weiter paddelten. Das Bad hatte wie ein Jungbrunnen ge wirkt. Außerdem waren ihre Sachen, die vom Schmutz steif geworden waren, einer Reinigung un terzogen worden – soweit man Kleidungsstücke in 111
kaltem Wasser ohne Seife eben reinigen konnte. Jetzt war die Fahrt durch den Urwald wundervoll, eine Fahrt durch den herrlichsten Blumengarten der Welt. Das bißchen Paddeln – nicht der Rede wert. In Kürze würden sie von einer Anhöhe oder vom Gipfel eines Berges aus auf die Niederungen blicken, die sie bezwungen hatten. Sie waren gerettet. Dachten sie. Aber am Spätnachmittag bemerkten sie seit langer Zeit wieder den ersten Indianer. Das wischte die freudige Stimmung innerhalb von Sekunden weg, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Noch lauerte rechts und links der Tod. »Das kann gemütlich werden«, knurrte Jerry be sorgt. »Sie werden uns mit ihren Pfeilen spicken, daß wir wie eine Schmetterlingssammlung aussehen.« »Solange wir auf dem Fluß sind, können sie uns nicht viel anhaben«, beruhigte Sun Koh. »Und wenn ein Wasserfall kommt?« »Dann werden wir eben kämpfen.« In dieser Nacht blieben sie auf dem Fluß. Sie hat ten zwar keinen weiteren Indianer bemerkt, aber aus der Ferne den trockenen Klang der berüchtigten Trommeln gehört. Sicher alarmierte dieser Kund schafter seinen ganzen Stamm. Ein Baumstamm, der quer über das Wasser gefal len war, gab dem Boot Halt und Deckung. Im Falle 112
eines Angriffs würde es leicht fallen, rechtzeitig die Mitte des Stromes zu gewinnen. Insgeheim wünschten sich alle vier, daß sich ihnen in nächster Zeit kein Wasserfall hindernd in den Weg stellen möchte. Sie gaben sich jedoch keinen großen Hoffnungen hin. Das ferne Dröhnen, das in ihren Oh ren lag, kam sicher schon vom nächsten Fall. Die Nacht verlief ohne Störung, ebenso die Stun den des nächsten Vormittags. Gegen Mittag wußten sie jedoch bereits, daß sich ihre Ahnung bestätigte. Vor ihnen lag ein neuer Wasserfall. Sie erreichten ihn gegen Abend. Da es zu spät war, um ihn noch zu umgehen, blieben sie unterhalb des Falls im Strom. Diesmal mußten sie aber ziemlich dicht an das Ufer heran, weil sie sonst gezwungen gewesen wären, wenigstens einen Mann die ganze Nacht hindurch paddeln zu lassen. Auch diese Nacht blieb ruhig. Es sah überhaupt so aus, als wären sie der Gefahr entronnen. Die Indianer ließen sich weder hören noch sehen. Dann kam der Morgen. »Der Wald ist nur mäßig dicht«, stellte Sun Koh befriedigt fest. »Wir werden nicht allzuviel mit der Machete zu schlagen haben. Zunächst wollen wir aber einmal sehen, ob Indianer in der Nähe sind. Beobachte drüben das Ufer, Nimba.« Er zog die Pistole heraus und feuerte einen Schuß ab. 113
»Da!« rief Nimba. »Drüben zwischen den Bäu men!« Flüchtig waren einige Köpfe sichtbar geworden. Die Neugier hatte die lauernden Feinde, die sich bis jetzt geschickt verborgen gehalten hatten, verraten. »Das mußten wir wissen«, sagte Sun Koh. »Auf dieser Seite hat sich niemand sehen lassen. Vorwärts, an Land. Du nimmst wieder das Boot, Nimba. Jerry wird den Weg schlagen, soweit es nötig ist. Hal und ich decken. Sollte der Wald zu dicht werden, löse ich Jerry ab.« Sie betraten das Ufer. Hal konnte sich nicht versa gen, den Indianern auf der anderen Seite eine lange Nase zu drehen. Ob sie diese Gebärde verstanden oder ob sie die Geheimhaltung nun für überflüssig hielten – jedenfalls wurden sie jetzt sichtbar. Es wa ren rund dreißig Mann, die kreischend am jenseitigen Ufer herumtobten. Einzelne bliesen sogar gefiederte Pfeile herüber, aber sie erreichten nur die Mitte des Stroms. »Hoffentlich kommen sie nicht herüber!« meinte Nimba bedenklich. »Kaum zu befürchten«, antwortete Jerry. »Die Kerle haben es noch nicht einmal gelernt, ein Boot zu bauen und über das Wasser zu lenken.« Sie marschierten los. Der Charakter des Waldes hatte sich immerhin schon so stark geändert, daß man von Marschieren sprechen konnte. Freilich 114
mußten sie häufig riesige Moderstämme umgehen, sich durch kaum entwirrbare Bäume hindurchschlän geln und Lianenvorhänge durchbrechen. Die Mache te brauchte aber nur selten in Tätigkeit zu treten. Unangenehm machten sich die Saubas bemerkbar, eine Ameisenart, die zwar nicht in Massen auftrat, aber außerordentlich bissig war. Grasblutegel und Zecken gab es hier und dort auch, aber sie wurden kaum besonders beachtet. Indianerpfeile waren schlimmer. Jerry hätte seiner Gewohnheit gemäß gern ge flucht, aber Sun Koh hatte Anweisung gegeben, still durch den Wald zu brechen, um die Annäherung von Indianern möglichst früh wahrnehmen zu können. Nach einigen Stunden näherten sie sich oberhalb des Wasserfalls wieder dem Ufer. Es war schneller gegangen, als sie gehofft hatten. Sie sahen das Was ser schon durch die Stämme blinken, als Sun Koh halblaut warnte: »Achtung! Deckung!« Sie duckten sich sofort hinter die nächsten Stäm me. Jerry rettete sich durch die schnelle Bewegung das Leben. Ein Pfeil schwebte genau dort durch die Luft, wo er eben noch gestanden hatte. Der Schütze brach schon unter der Kugel Sun Kohs zusammen. Sein Todesschrei mischte sich mit dem Knall des Schusses. »Mindestens ein halbes Dutzend«, verständigte Sun Koh. »Seid vorsichtig! Jerry und Nimba, ihr ver 115
sucht, euch zum Wasser zurückzuziehen!« Peng! Einzelne Pfeile schwirrten zwischen die Bäume. Peng! Sun Koh traf zum zweitenmal. Gleich dar auf holte sich Hal den dritten Indianer. »Sie ziehen sich zurück.« »Wir uns auch. Komm.« Sie wechselten vorsichtig ihre Standplätze und folgten Jerry und Nimba. Die Indianer machten sich nicht wieder bemerkbar. Ungehindert erreichten sie das Ufer und konnten das Boot besteigen. Irgendwo in der Ferne klapperten die Trommeln, aber das hölzerne Rasseln besaß jetzt nicht mehr die lähmende Wirkung wie unten in den Niederungen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurde ihnen das zweite Wunder dieser Flußfahrt beschert. Aus der Mitte des Strombetts stieß eine nackte Klippe heraus. Nackter Felsen! »Hier wollen wir über Nacht bleiben«, schlug Sun Koh vor. »Einen besseren Platz können wir kaum finden.« Sie sprangen heraus, zogen das Boot hoch und hat ten gerade noch genügend Platz, um ihre Glieder zu strecken. Der Boden war hart, aber gerade deshalb war es herrlich, auf ihm zu schlafen. Das Rauschen des Wassers störte sie so wenig wie der wilde Chor der Brüllaffen. 116
Am nächsten Morgen waren sie kaum eine Stunde unterwegs, als sie auf beiden Seiten des Flusses In dianer entdeckten. Rechts und links wurden die nack ten, fahlbraunen Gestalten zwischen den Bäumen sichtbar, zunächst nur flüchtig, weil sich die Indianer in Deckung hielten, später fast dauernd, weil von den Männern auf dem Fluß keine Gefahr zu drohen schien. Es waren die gleichen platten Gesichter wie bei den Puhadas, doch waren die Körper beträchtlich größer. »Vermutlich zwei verschiedene Stämme«, urteilte Jerry nach längerer Beobachtung. »Über den Fluß kommen sie nicht, aber unsere Anwesenheit ist hü ben wie drüben bekannt, und nun hofft wohl jeder Trupp, daß er unsere wertvollen Köpfe erwischt. Hübsche Situation.« Er hatte nun mit den anderen zusammen genug damit zu tun, das Boot vorwärts zu drücken und gleichzeitig auf Strommitte zu halten. Auf das letzte re kam es an. Solange sie das Boot in der Mitte des Stroms halten konnten, hatten sie nicht viel zu be fürchten. Es gelang ihnen den ganzen Tag über, aber dafür kamen sie nur langsam vorwärts. »Höchstens halb so weit wie gestern«, zensierte Nimba, als sie gegen Abend das Ergebnis überblick ten. »Macht nichts«, tröstete Sun Koh. »Lieber eine 117
Woche länger rudern als jetzt einen Wasserfall um gehen zu müssen. Wir haben auf jeder Seite einige Dutzend Begleiter, und es wäre unangenehm für uns, wenn wir uns durch so starke Trupps hindurchschla gen müßten. Gott sei Dank ist von einem neuen Fall noch nichts zu hören.« »Wenn sie uns nur nicht auch ohne Wasserfall er wischen«, murmelte Jerry. »Ich suche mir die Augen aus dem Kopf, aber dieser verdammte Fluß bleibt glatt wie ein Tisch. Was soll über Nacht werden?« »Wir werden das Boot auf dem Wasser verankern. Ein Lianenseil und eine Machete werden schon ge nügen. Doch vielleicht treffen wir auch noch auf Fel sen.« Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Sonne stand schon kurz vor dem Untergang, aber im Strom ließ sich immer noch kein fester Punkt finden, an dem sie das Boot hätten befestigen können. Sun Koh band nun eine Machete an ejn dünnes Lianenseil, gab das eine Ende Nimba in die Hand, legte seine Kleidung ab und sprang ins Wasser. Jerry und Hal hielten das Boot auf der Stelle. Nach einer Weile kam Sun Koh wieder hoch, blieb aber im Wasser. »Laßt die Paddel ruhen. Wir wollen sehen, ob die Verankerung hält. Der Boden besteht aus Sand und Schlamm. Ich habe die Machete so weit wie möglich hineingestoßen.« 118
Die Strömung nahm das Boot ein kleines Stück mit, dann straffte sich das Seil, ruckte und blieb straff. Die Verankerung hielt. Sun Koh schwang sich mit aller Vorsicht wieder in das Boot hinein. »Geglückt!« stellte er erleichtert fest. »Einer von uns muß freilich immer die Liane halten. Wir können in das Boot keine Machete hineintreiben.« Dazu gab es nichts zu bereden. Einer mußte ohne hin immer wachen. Die Nacht wurde etwas unbe quem, vor allem für den Wächter, der jeweils das Boot gegen die Strömung halten mußte, aber sie hat ten schlimmere Nächte erlebt. Wieder kam ein neuer Morgen. Wieder kämpften sie sich einen ganzen Tag lang den Strom aufwärts, immer unter den aufmerksamen Augen der lauernden Indianer. Der Strom nahm stellenweise den Charak ter eines Wildflusses mit Untiefen und Wirbeln an, wurde aber zwischendurch immer wieder glatt und stetig. Der Wald lichtete sich rechts und links so weit, daß man ein Stück in ihn hineinsehen konnte. Die Lianenvorhänge wiesen beträchtliche Lücken auf. Mittags verzehrten die vier im Boot ihre letzten Vorräte. »Jetzt werden wir den Gürtel enger schnallen müs sen«, prophezeite Hal, aber sein Pessimismus wurde von den anderen nicht geteilt. »Hier gibt es Fische«, wandte Jerry ein. »Rohe Fi 119
sche schmecken auch, wenn man Hunger hat.« »Ewig werden ja die Indianer nicht nebenherlau fen«, murmelte Nimba. In dieser Nacht legten sie das Boot auf eine schmale Barre, die bis dicht unter die Oberfläche des Wassers heraufstieg. Erstaunlicherweise nutzten die Indianer die Gelegenheit nicht. Die Barre zog sich bis zum Ufer hin. Die Indianer hätten sich nur die Füße naß gemacht, wenn sie auf ihr entlang an das Boot herangekommen wären. Sie schienen jedoch eine abergläubische Furcht vor dem Wasser zu ha ben. Gegen Mittag des folgenden Tages drang aus der Ferne leiser Donner an die Ohren der Männer. »Ein Wasserfall!« »Gute Nacht und kein Bett!« seufzte Hal. »Jetzt werden wir doch noch zu Spickbraten.« »Zu Räucherköpfen.« Jerry grinste kümmerlich. »Jetzt wissen wir wenigstens, warum die Indianer soviel Ausdauer gezeigt haben. Sie wollen uns am Wasserfall erwischen. Ich glaube, jetzt werden hüben und drüben Wetten abgeschlossen, welche Seite wir uns wohl aussuchen.« Überraschenderweise blieben die Indianer im Lauf des Nachmittags zurück und verschwanden schließ lich gänzlich, nachdem sie hüben wie drüben noch einmal heftig getrommelt hatten. »Sie geben auf.« 120
»Quatsch! Sie schlagen einen Bogen und überho len uns, damit sie sich in aller Ruhe in den Hinterhalt legen können.« Diese Vermutung besaß die höchste Wahrschein lichkeit. Deshalb bedeutete das Verschwinden der Eingeborenen auch keine Erleichterung. Bisher hatte man den Gegner wenigstens gesehen. Jetzt mußten sie sich an den Feind herantasten und jederzeit mit einem Angriff rechnen. Der unsichtbare Feind war gefährlicher als der sichtbare. Sie bekamen den Wasserfall am Vormittag des nächsten Tages zu Gesicht. Es war der größte, den sie bisher gesehen hatten. Er besaß eine Höhe von ungefähr achtzig Metern. Und er stürzte über eine Felsenkante hinweg in die Tiefe. Sun Koh wies hinauf. »Dort beginnt das Hochland, das Gebirge. Wenn wir dort oben stehen, haben wir das Schlimmste überwunden.« »Wenn…« »Wir müssen hinauf. Die Macheten werden wir kaum brauchen. Das Boot lassen wir zurück, so daß wir die Hände zur Verteidigung frei haben. Es wird alles davon abhängen, daß wir uns gut umsehen und genügend auf Deckung achten. An sich sind wir ja mit unseren Waffen den Indianern überlegen.« »Aber wir besitzen dann kein Boot mehr.« »Vielleicht finden wir einen neuen Palmetto?« 121
»Wenig wahrscheinlich. Der Palmetto wächst nur in der Niederung, halb im Wasser.« »Es gibt andere Bäume. Wir müssen es darauf an kommen lassen. Das Boot würde mindestens einen von uns zwingen, ungedeckt zu bleiben.« »Die Macheten?« »Nehmen wir mit.« Sie hielten auf das Ufer zu. Acht Augen durch forschten sorgfältig den Rand des Waldes. Kein In dianer zu sehen. Der erwartete Pfeilhagel blieb aus. Sun Koh feuerte einen Schuß ab. Ein paar Affen jag ten kreischend in voller Flucht davon, aber kein braunes, plattes Gesicht ließ sich sehen. Einen Augenblick schien es Sun Koh, als dröhnte in der Ferne eine dumpfe Trommel, aber er wußte nicht, ob er sich nicht täuschte. Das Brausen des Wasserfalles füllte die Ohren bereits zu stark. Ans Ufer! Fester Boden, unter dessen Humus man den Felsen zu spüren glaubte. Sie traten erst eine ganze Weile am Wasser hin und her. Ihre Glieder waren fast nicht mehr daran gewöhnt zu stehen und zu gehen. Sie waren durch das ständige Hocken im Boot steif geworden, und es konnte notwendig werden, sich schnell zu bewegen. »Vorwärts!« Die Hände fest um das schußbereite Gewehr ge legt, den Blick in angespannter Aufmerksamkeit nach vorn, nach oben und nach den Seiten gerichtet, 122
so drangen sie in den Wald ein. Und jeder Schritt in das warme Halbdunkel hinein verschärfte die Span nung. Wann würde der erste bunte Pfeil fliegen? Wo würde er herkommen? Wann würden die Trommeln anfangen zu klappern? Es war ein Beweis für die gute Selbstzucht und Beherrschung der vier, daß sich kein Schuß löste, obgleich sie alle ständig den Finger am Abzug hat ten. Bei tausend anderen Männern hätte die Gefahr und die Anspannung zusammen mit der Überreizung der Sinne schnell zu sinnlosen Schüssen geführt. Eine Stunde verging. Das Gelände stieg scharf an. Wieder eine Stunde. »Verdammt!« fluchte Jerry, der die Spannung kaum mehr ertragen konnte. »Wo bleiben die India ner? Wollen sie uns erst ein paar Stunden verrückt machen, bevor sie uns ihre Pfeile in den Pelz jagen?« Die dritte Stunde! Keine Spur von den Indianern. Nur Affen husch ten zwischen den Bäumen. Die Hoffnung stieg all mählich auf. Sollten es die Eingeborenen doch auf gegeben haben? Das wäre … »Achtung!« rief Sun Koh. Peng – peng, peng – die Schüsse peitschten wie Maschinengewehrfeuer hinaus. Mit einem Schlag wimmelte es ringsum von In 123
dianern. Sie lagen hinter den Bäumen, saßen auf den Ästen und hockten in den Büschen. Ein Hagel von Pfeilen prasselten gegen die vier Abenteurer. Die Läufe wurden heiß. Das waren keine dreißig, sondern hundert und mehr Indianer, die hier im Hinterhalt lagen. »Was sind das für Burschen?« brüllte Nimba in heller Wut seinem Nachbarn zu. »Weiß nicht«, schrie Jerry zurück. »Sie tragen ei nen Lendenschurz. Keine Amazonas-Indios.« »Das sind auch keine Blasrohre. Sie schießen mit Bogen.« Die Pfeile verrieten es schon. Es waren starke, fast halbmeterlange Pfeile, die zitternd in den Bäumen stecken blieben. »Deckung!« mahnte Sun Koh. Du lieber Gott, so viele Bäume gab es gar nicht um einen Mann herum, um sich gegen alle Pfeile zu decken. »Verdammt!« fluchte Jerry. »Mich hat’s erwischt. Macht’s gut, ich werde diesen Höllenhunden …« Er hielt sich für verloren, rechnete mit dem Tod. Und nun zeigte er, wie verwegen sein Charakter war. Er warf sein Gewehr in den Busch, riß seine beiden Pistolen heraus und stürmte aus seiner Deckung her aus. Unbekümmert um die Pfeile, die durch die Luft schwirrten, stürzte er auf die Büsche hin, hinter de nen die Indianer lagen. 124
Es war schrecklich, ihn zu sehen. Schrecklich für seine Kameraden, aber wohl noch viel schrecklicher für die Eingeborenen. Ein Stöhnen lief durch die Bü sche, ein panischer Schrei stieg hoch, und dann krachte und huschte es überall. Die Indianer flohen! Jerry blieb schließlich mit leeren Waffen stehen. Er taumelte, aber schon stand Sun Koh neben ihm und riß ihm einen Pfeil aus dem Arm und einen zweiten aus dem Halsfleisch. »Sie türmen!« keuchte Jerry. »Ihr habt Luft. We nigstens etwas. Möchte nur wissen, wie lange das mit dem Gift dauert.« Sun Koh hielt den zweiten Pfeil dicht an seine Augen. Jerry hätte schon tot sein müssen, wenn diese beiden Pfeile … »Jerry – die Pfeile sind nicht vergiftet!« »Sind nicht…« wiederholte Jerry, ohne zu begrei fen. Dann standen sie steif und lauschten. Aus dem Wald klang der dumpfe, harte Klang ei ner Trommel, völlig unähnlich jener Trommeln, die sie bisher gehört hatten. 5. Sie standen wie gebannt. »Wir müssen uns auf einen neuen Angriff gefaßt 125
machen«, sagte Sun Koh. »Der Stamm scheint sehr kriegerisch zu sein.« »Kriegerisch?« fragte Jerry. »Hundert gegen vier – das ist ein Kunststück. Und trotzdem sind sie davon gelaufen.« »Sie vergessen die Wirkung unserer Gewehre und Ihr erschreckendes Auftreten, Jerry. Hören Sie nur die Trommel. Sie schreit nach Krieg und Kampf. So leicht wird es uns nicht fallen, wieder an den Fluß heranzukommen. Aber wir müssen wenigstens ver suchen, ebenen Boden zu erreichen. An diesem an steigenden Berg sind wir zu stark benachteiligt.« »Fünf Minuten lang keine Bäume«, brummte Nimba, »dann wollen wir einmal sehen.« »Weiter.« Sun Koh übernahm wieder die Spitze, Jerry und Nimba hatten die Seitendeckung, Hal bildete den Schluß. Sie blieben nach Möglichkeit dicht beieinan der, aber in erster Linie richteten sich ihre Bewegun gen nach den Stämmen, zwischen denen sie hin durchglitten. Die Trommel schwieg. Eine halbe Stunde lang drangen sie unter Beach tung aller Vorsichtsmaßregeln vorwärts. Der Boden stieg noch immer, aber es sah aus, als hätten sie die Höhe fast erreicht. Plötzlich dröhnte die Trommel kurz und wild auf. »Dort vorn wird es licht!« rief Sun Koh, und dann: 126
»Achtung!« Ein Hagel von Pfeilen zischte zwischen den Bäu men. Die Luft gellte vom Aufheulen vieler Stimmen. Der Angriff! Sie standen und lagen hinter den Bäumen, hinter den Büschen und auf den Ästen, Dutzende von brau nen Gestalten. Die Deckung war gut, brachte sie aber auch in Nachteil. Das Dickicht ließ die starken Pfeile nicht gut durch und deckte auch die vier Männer, die hinter den Bäumen Schutz gefunden hatten. Sie schossen ununterbrochen, und ihre Geschosse wurden durch keine Liane abgelenkt. Und die Einge borenen mußten immer wieder ihre Deckung aufge ben, um ihre Bogen zu spannen. Sie brachen zu Dutzenden zusammen. Jede Se kunde forderte ihr Opfer. Die Männer blieben auch nicht verschont. Hal’s linke Hand wurde von einem Pfeil durchbohrt, Nim ba zerrte sich mit einem Ruck einen Pfeil aus dem Bein, Sun Koh sah gleich zwei Stück nebeneinander in seinem stecken, und Jerry griff nach seinem Ohr läppchen. Aber sie ließen sich dadurch nicht aufhal ten. Die Pfeile waren nicht vergiftet. Kaum zwei Minuten dauerte der ungleiche Kampf, dann stürzten die Überlebenden mit schrillen Schrei en davon. In geringer Entfernung sang zornig die Trommel. Aufatmend erhoben sich die vier. 127
»Gut gegangen.« Hal grinste, so gut es eben ging. »Ich habe mir eine Theaterhand zugelegt – mit Not ausgang.« »Verdammte Bande!« Jerry betastete sein Ohr. »Jetzt kann ich für den Rest meines Lebens mit einer zerfetzten Ohrmuschel in der Weltgeschichte herum laufen.« Sun Koh zog sich die Pfeile aus dem Arm. »Ein Glück, daß die Widerhaken so grob sind. Ein menschenfreundlicher Stamm. Das Verbandszeug, Nimba. Ihr Ohr lassen Sie am besten verharschen, Jerry. Deine Hand muß verbunden werden, Hal. Bei mir wird ein Pflaster genügen.« »Fein muß ich aussehen«, murrte Jerry. »Mir ist der ganze Saft über das Gesicht gelaufen.« »Wie ein frisch abgestochenes Schwein«, gab Hal sachverständig sein Urteil ab. »Für eine Schönheits konkurrenz bist du nicht mehr zu gebrauchen.« »Du auch nicht. Überhaupt habe ich schon schöne re Männer gesehen als dich, falls man so was wie dich schon als Mann bezeichnen darf.« Nimba hatte inzwischen die flache Blechkiste mit den Medikamenten von seiner Schulter herunterge schnallt. Er wollte sie öffnen, hielt aber in der Bewe gung inne und starrte auf ein rundes, durchgebeultes, ausgefranstes Loch, das sich in der Stirnwand des Kastens befand. »Nanu, das ist doch ein Kugeleinschlag? Hat einer 128
von euch auf mich geschossen?« Die anderen wurden aufmerksam. »Unmöglich«, sagte Sun Koh erstaunt. »So schlecht schießt keiner von uns«, meinte Hal entrüstet. »Ein Querschläger?« vermutete Jerry. Sun Koh beugte sich prüfend über das Loch. »Nicht von uns. Unsere Stahlmantelgeschosse würden das Blech glatt durchschlagen, und ein Quer schläger würde ein ganz anderes Loch reißen. Viel leicht ein Pfeilschuß, aber solche Durchschlagskraft haben Pfeile auch nicht, und überhaupt…« Er öffnete den Kasten. Eine Schachtel aus Blech, die an der Stirnwand lag, zeigte die gleichen Löcher. Hinter ihr lagen Binden. In der ersten fand er den Übeltäter. Ein breitgeschlagenes Bleigeschoß, genauer eine abgeplattete Bleikugel. Sie blickten sich überrascht an. »Also hat doch jemand auf mich geschossen«, murmelte Nimba unsicher. »Dann müssen doch die Indianer auch Gewehre haben?« »Mit Bleikugeln?« höhnte Jerry. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das ist das Rätselhafteste, was uns bisher begeg net ist. Ich habe keine Schüsse gehört und keinen Gewehrschützen gesehen, aber diese Bleikugel ist eine Tatsache. Irgend jemand muß mit einem alter 129
tümlichen Gewehr auf uns geschossen haben. Viel leicht hat sich irgendwann in den vergangenen Jahr hunderten einmal eine solche Waffe zu diesen ver borgenen Völkern verirrt?« »Dann muß sich das Pulver aber märchenhaft gehalten haben.« »Ja, auch das ist seltsam. Aber vielleicht ist es we niger geheimnisvoll, als es jetzt scheint. Wenn diese Anhöhe die Ausläufer der Anden sind, können die Indianer in ihrem Hinterland Beziehungen zur zivili sierten Welt besitzen. Doch darüber können wir spä ter grübeln. Jetzt wollen wir so schnell wie möglich weiter vorstoßen, bevor sich die Indianer,zu einem neuen Angriff gesammelt haben.« Nach Minuten drangen sie weiter vor. Plötzlich hörte der Wald auf. Vor ihnen lag eine Fata Morgana. In ihrem Rücken schwang sich die grüne Mauer des Urwalds nach rechts und links zu einem sanften Bogen, der sich in der Ferne verlor. Das Gelände vor ihnen war frei von Wald, fast baumlos bis auf wenige Haine, die hier und dort wie Inseln standen. Das Land streckte sich eben hin, so weit die Augen sehen konnten. In der Ferne verlief eine helle Linie, jenseits davon verschwamm eine Höhenzug im Dunst. Links strömte irgendwo der Fluß und brauste der Wasser fall. Heiß, aber klar stand die Sonne am Himmel. Die Luft strich würzig und herb über die Gesichter. 130
Eine herrliche Entdeckung, aber noch kein Wun der. Das Wunder konnten sie mit ihren Händen greifen. Sie standen nicht auf nacktem Felsen, nicht auf trockener Steppe und nicht zwischen hohem Ried gras. Sie standen vor einem Maisfeld, vor grünen Schäften und dicken Kolben. Und das war kein wil des, regelloses Erzeugnis der Natur, sondern ein von Menschenhänden kunstgerecht angelegtes und be bautes Feld. Dort rechts wurde es durch einen Pfad begrenzt, jenseits dehnten sich andere Felder. Büsche und Stauden unterbrachen sie. Kleine Wasserläufe funkelten. Es war ein Paradies, das vor ihnen lag, aber es war ein nüchternes, zweckmäßiges Paradies, in dem keine Pflanze mehr wuchs, als Menschen ge wollt hatten. »Wir haben’s geschafft.« Jerry stöhnte behaglich. »Hier laßt uns Hütten bauen«, schlug Hal vor. »Dort steht schon eine«, sagte Nimba. Als wohlerzogene Leute vermieden sie es, quer durch das Feld hindurchzugehen. Sie benutzten den schmalen Pfad, um weiterzukommen. Am Ende des Feldes stand eine kleine Hütte, gerade groß genug, um zwei Bewohnern Unterkunft zu gewähren. Sie war jedoch fest gebaut. »Eine Wachhütte«, vermutete Sun Koh. »Die In dianer werden ihre Felder wohl überwachen müssen, um Raubtiere und feindliche Stämme fernzuhalten.« 131
In der Hütte befand sich weiter nichts als ein ein faches Lager, eine Feuerstelle und einige tönerne Ge fäße. Sie hielten sich nicht erst mit einer genauen Untersuchung auf, sondern setzten ihren Weg fort. Dabei spähten sie nach allen Seiten. Die Indianer mußten sich irgendwo aufhalten. Hal zeigte nach vorn. »Dort – ein Dorf.« Halbrechts vor ihnen stand in einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer eine Gruppe von Bäumen. Zwischen den Bäumen tauchten Hütten auf. Über die Wipfel stieg Rauch. Sie kamen noch ungefähr hundert Meter näher, dann wurden zwischen den Bäumen Menschen sicht bar. Gleichzeitig dröhnte die Trommel auf. Andere Trommeln fielen ein. Das Wirbeln kam von vorn, aber auch von rechts und von links. Auf drei Seiten wurde es lebendig. Vom Dorf, vom Fluß und von der entgegengesetzten Seite her bewegten sich Trupps auf die vier Abenteurer zu. Die beiden seitlichen Gruppen zogen sich auseinander und nahmen Füh lung mit dem Wald auf. Sun Koh blieb stehen. »Sie wollen uns umzingeln. Das kann unange nehm für uns werden, aber wenn wir uns zum Wald zurückziehen, wird es noch unangenehmer. Hier ha ben wir wenigstens nach allen Seiten freie Sicht und können uns die Angreifer vom Leib halten.« 132
Sie blieben und beobachteten die Anrückenden. »Allerhand Tempo«, staunte Hal. »Die Kerle lau fen wie die Hasen.« Es war schon auffällig, daß die Leute rannten, aber noch auffälliger war, daß die Sonnenstrahlen an ihren Körpern aufblitzten. »Unbegreiflich!« sagte Sun Koh leise. »Seht ihr, daß diese Leute Panzer tragen?« »Panzer?« Sie warteten noch eine Weile, dann gab es keinen Zweifel mehr. Die Männer, die in drei Gruppen von je zwanzig Mann herangelaufen kamen, trugen Rü stungen – Eisenpanzer, wie sie sonst nur noch in den Museen zu finden sind. Der ganze Rumpf war in ei nen geschlossenen Panzer eingehüllt. An den Beinen befanden sich glänzende Schienen, und auf den Köp fen saßen regelrechte Eisenhauben mit herunterge klappten Visieren. Das waren keine Indianer, son dern mittelalterliche Ritter, die sich näherten. Er staunlich blieb, daß die Leute mit den schweren Rü stungen bei dieser Hitze überhaupt so schnell laufen konnten. Jetzt wurden auch die Waffen erkennbar, die sie trugen. Einige Männer hatten schwere, altertümliche Musketen in der Hand. Andere trugen lange Spieße, wieder andere mächtige Schwerter, die fast so hoch waren wie sie selbst und an die Zweihänder des Mit telalters erinnerten. 133
»Wir träumen vielleicht«, seufzte Hal. »Phantastisch!« flüsterte Sun Koh. »Sollten sich die Indianer diesen Schutz angelegt haben, um vor unseren Schüssen sicher zu sein? Haltet euch bereit. Es wird Zeit, ihnen eine Warnung hinüber zu schik ken.« Die Trommeln dröhnten herausfordernd. Sun Koh nahm sein Gewehr hoch und schoß. Die Entfernung betrug noch einige hundert Meter, aber einer der Eisenmänner ruckte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, und stürzte. Die Gruppe, zu der er gehörte, hielt an. Die eine Trommel wechselte die Tonart. Wenig später setzte sich der Trupp jedoch wieder in Bewegung und rückte wie die anderen wei ter vor. »Wir lassen sie bis auf hundert Meter heran«, ent schied Sun Koh, »und geben dann Schnellfeuer. Die Entfernung wird genügen, um sie uns vom Leib zu halten.« Gleich darauf riß er jedoch sein Taschentuch, das man mit viel gutem Willen als weiß bezeichnen konnte, heraus und winkte damit. »Wir wollen doch erst versuchen, den Leuten auf friedlichem Weg zu begegnen«, erklärte er. »Diese Felder gehören einem größeren Volk, das kaum mehr aus lauter Wilden besteht. Vielleicht läßt sich mit den Leuten reden.« Die Anstürmenden, die nun schon fast einen wei 134
ten Ring um die Gruppe bildeten, blieben stehen. Das weiße Tuch war bemerkt worden. Wenig später flat terte drüben ebenfalls ein weißes Tuch. »Sie sind bereit, mit uns zu verhandeln.« Sun Koh atmete auf. »Ihr bleibt hier. Ich gehe ihnen ein Stück entgegen.« Er legte seine Waffen ab und schritt auf den Ring der Eisenmänner zu. Wenig später löste sich aus die sem ebenfalls ein Mann und kam ihm entgegen. Sie trafen sich in der Mitte zwischen den beiden Gruppen. Sie näherten sich bis auf drei Meter. Sun Koh hatte die Arme über der Brust gekreuzt. Der an dere ließ seine eisengepanzerten Arme locker herun terhängen. Er trug ebenfalls keine Waffen. Sun Koh musterte seinen Gegner aufmerksam. Es war gerade, als würde ein Stück Geschichte wieder lebendig. So mußten die Eisenknechte vor vierhun dert Jahren über das Feld gegangen sein. Sun Koh deutete eine Verneigung an. Der andere hob die Hand und klappte das Visier hoch. Weiße Indianer! Ein braungetöntes, aber verhältnismäßig helles und junges Gesicht wurde sichtbar. Es verriet auf Anhieb Intelligenz und Mut. Und es war auf den er sten Blick hin klar, daß es nicht zu einem Indianer gehören konnte. Das war das Gesicht eines Europä ers: kräftige Nase, gerade, feste Lippen, die Augen hell, die Stirn breit angesetzt. Das Gesicht war bart 135
los, aber die Brauen waren blond, und das Kopfhaar war wohl auch blond. Weiße Indianer! Sun Koh erwartete unwillkürlich, daß ihn dieser Mann in einer europäischen Sprache ansprechen würde. Es waren jedoch fremde Laute, die er von sich gab, wohllautende Worte einer Sprache, die Sun Koh nie gehört hatte, offenbar ein Gemisch verschie dener Sprachen. Er erfaßte jedoch den Sinn und konnte sich selbst verständlich machen. »Du gabst das Zeichen des Friedens«, sagte der Jüngling in Eisen. »Jetzt sprich. Ich bin Hajno und will dich anhören, bevor wir gegeneinander kämp fen.« »Ich bin Sun Koh«, antwortete Sun Koh, während er sich in die schwere und etwas feierliche Sprech weise des anderen hineintastete. »Ich gab das Zei chen des Friedens, weil wir nicht gegen euch kämp fen wollen. Wir sind vier Männer, die durch ein un günstiges Geschick in den Urwald verschlagen wur den und seit Wochen den Weg zu den Bergen und zur Rettung suchen. Wir möchten keinen Kampf mit euch, sondern wollen nur friedlich durch dieses Land ziehen, um wieder in unsere Heimat zu kommen.« Über die Lippen Hajnos ging ein spöttisches Lä cheln. »Ihr sprecht so, wie ich es erwartete. Ihr gehört zu den Völkern, die einst über die großen Wasser zu 136
diesem Erdteil kamen?« »Man kann es so sagen«, bestätigte Sun Koh, denn er wollte sich nicht auf eine Auseinandersetzung über seine Abstammung einlassen. »Was wollt ihr von uns?« »Wir wollen weiter nichts, als aus diesem mörde rischen Urwald herauszukommen und unsere Heimat zu erreichen.« Wieder lächelte Hajno spöttisch. »Natürlich sucht ihr weder Gold noch Edelstei ne?« »Natürlich nicht. Wie kommst du auf solche Fra gen?« »Ihr seid harmlos wie die Tauben, die über die Felder fliegen, nicht wahr? Welche Torheit wäre es doch, euch wie einen Jaguar zu töten, der durch den Wald schleicht und tückisch seine Opfer anspringt.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte Sun Koh. »Wir lassen uns nicht belügen«, antwortete Hajno härter. »Wir werden dich und deine Begleiter töten.« »Warum?« »Es ist Gesetz in unserem Land, daß jeder Fremde getötet wird, vor allem aber jeder Weißhäutige, der aus den Ländern jenseits des großen Waldes kommt. Ihr müßt sterben.« Jetzt lächelte Sun Koh. »Dir und deinen Leuten wird es nicht leicht fallen, uns zu töten. Wir besitzen Waffen, die euren weit 137
überlegen sind. Eure Panzer können euch gegen un sere Geschosse nicht schützen.« Die Brauen des eisernen Jünglings zogen sich zu sammen. »Wir sahen es, aber das ist nur ein Grund mehr, euch zu töten. So wie ihr kamen einst die Männer, die durch Verrat und Mord die großen Reiche ver nichteten. Auch sie besaßen Waffen, die überlegen waren und gegen die es keinen Schutz gab. Aber sie eroberten die Reiche nicht durch ihre Waffen, son dern durch Verrat und Feigheit der Männer, die jene Reiche führten.« »Du sprichst vom Reich der Inka?« »Ja.« »Wir sind aber keine Abenteurer, die euer Reich vernichten wollen, um Gold und Edelsteine zu ge winnen.« »So sprachen jene Männer auch. Geh jetzt zurück, wir werden kämpfen.« In Sun Koh stieg der Zorn auf. »Das ist Unsinn!« sagte er scharf. »Ihr seid alle tot, bevor ihr an uns herankommt.« »Wir sind sechzig Mann, die zu kämpfen verste hen und den Tod nicht fürchten.« »Ihr seid sechzig Dummköpfe!« gab Sun Koh kalt zurück. »Unsere Gewehre töten die doppelte Anzahl, bevor ihr uns gefährlich werden könnt.« »Dann werden wir eben sterben.« 138
»Wie sinnlos!« Hajno schüttelte den Kopf. »Wir werden sterben, aber bevor ihr eine Stunde weitergekommen seid, werden euch nicht sechzig, sondern sechstausend gegenüber stehen. Und keiner dieser sechstausend wird sich schlafen legen, bevor ihr nicht getötet seid.« »Wozu der Aufwand?« wehrte Sun Koh ab. »Wir wollen ja nicht als Sieger durch euer Land ziehen. Wir wollen weder herrschen noch Beute machen. Wir wünschen weiter nichts, als daß ihr uns unbehel ligt unseren Weg fortsetzen laßt.« Der junge Krieger verzog keine Miene. »Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sprichst oder die Lüge. Es bleibt sich aber gleich. Selbst wenn ihr nur hindurchziehen wollt, so werdet ihr in eurer Heimat von diesem Reich, von dem die Welt nichts weiß, berichten. Dann werden die Männer zu Hun derten und Tausenden kommen, um unser Land zu erobern. Es steht geschrieben, daß das Reich so lange sicher steht, solange es ringsum von Urwald ge schützt wird und kein Weißer erfährt, daß dieses Reich besteht.« Sun Koh sah plötzlich einen Weg, der aus dieser scheußlichen Lage herausführen konnte. »Tötet ihr auch einen Feind, der waffenlos ist und sich nicht zur Wehr setzt?« Stolz zuckte es in dem Gesicht des anderen auf. 139
»Sind wir Indianer? Unsere Feinde fallen nur im Kampf.« »Was würde mit uns geschehen, wenn wir euch waffenlos gegenüber ständen?« »Ihr seid nicht waffenlos«, gab Hajno abwehrend zurück. »Nimm an, daß wir es wären, und antworte.« »Dann würden wir euch gefangennehmen und in die Stadt bringen. Ihr würdet ebenfalls sterben, aber das Gericht der Führer des Volkes würde euch einem schimpflichen Tod überliefern. Es ist besser für euch, wenn ihr kämpft. Meine Freunde brennen darauf, mit Männern zu kämpfen.« »Deine Freunde sind Narren wie du, denn sie wer den nicht gegen Männer kämpfen, sondern gegen Gewehre, gegen Maschinen. Ich habe aber keine Lust, euch sinnlos sterben zu sehen. Wir werden nicht kämpfen, sondern euch waffenlos gegenüber treten.« Hajnos Gesicht zeigte Verachtung. »Hast du nicht den Mut, als Mann zu sterben?« In Sun Kohs Augen blitzte es zornig auf. Heftig erwiderte er: »Hüte deine Zunge, Knabe. Wir kom men aus dem Urwald, der hundertmal mehr Gefahren bietet als ihr mit euren lächerlichen Schwertern und Musketen. Keiner von uns fürchtet den Tod, ich will aber kein sinnloses Schlachten. Ihr würdet für eure Heimat sterben, wir aber noch nicht einmal um unser 140
Leben kämpfen. Es gehört für uns mehr Mut dazu, uns euch waffenlos auf Gnade und Ungnade auszu liefern, als bis zum letzten Atemzug zu töten. Nun geh zurück zu deinen Kameraden und sage ihnen, daß wir mit leeren Händen freiwillig kommen wer den, um uns als Gefangene fortführen zu lassen.« Stumm und gehorsam wandte sich Hajno ab und ging. Sun Koh schritt zu dem Platz, auf dem seine drei Begleiter warteten, zurück. Mit kurzen Worten unterrichtete er sie. »Wir haben hier ein starkes Volk gegen uns, viel leicht ein Zweig der Inkas, der sich hier in einer ab gelegenen Gegend über die Jahrhunderte hinweg gehalten hat. Der Mann, mit dem ich sprach, sah al lerdings harrgenau wie ein Europäer aus. Der Kampf gegen dieses Volk ist so gut wie aussichtslos, weil die Leute sich uns fanatisch bis zum letzten Mann entgegenstellen würden. Es gibt für uns nur zwei Möglichkeiten – entweder müssen wir in den Urwald zurück oder wir müssen uns waffenlos ausliefern. Zu der ersten Möglichkeit brauchen wir uns nichts zu sagen. Im zweiten Fall müssen wir damit rechnen, daß man uns früher oder später tötet, falls es uns nicht gelingt, diese Menschen von unserer Harmlo sigkeit zu überzeugen. Gehen wir in den Urwald zu rück, so berauben wir uns der Möglichkeit, dieses rätselhafte Volk näher kennenzulernen. Diese Ei senmänner sind die Menschen, die man seit Jahrhun 141
derten als weiße Indianer bezeichnet.« »Hölle und Teufel!« fluchte Jerry. »Wenn’s nach mir ginge, würden wir uns auf Tod und Leben hier durchschlagen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das scheidet aus. Ich will nicht Hunderte von Menschen töten, wenn der Kampf sowieso aussichts los ist. Ich bin entschlossen, nicht in den Urwald zu rückzukehren, sondern mich in die Hände dieser Männer zu geben.« »Ausbrechen können wir allemal noch«, meinte Hal. »Wir haben uns noch aus ganz anderen Situa tionen herausgewunden, und so übermäßig fest wer den die Gefängnisse ja auch nicht gerade sein.« »Mir ist es gleich«, knurrte Jerry. »Ich glaube, es ist das Gescheiteste, wenn wir das machen, was Sie für richtig halten.« Sie legten ihre Waffen auf einen Haufen zusam men, dann schritten sie auf die eiserne Runde zu. Die Geharnischten standen abwartend. Sie ließen die vier bis auf zwanzig Meter herankommen, erst dann stieß Hajno, der ihnen gerade gegenüberstand, einen Ruf aus, worauf sich die Männer zusammenzogen und sich um die vier scharten. »Wir sind deine Gefangenen«, sagte Sun Koh mit einem kleinen Lächeln, als er an Hajno herange kommen war. »Unsere Waffen liegen hinter uns. Ich bitte dich, sie sorgfältig zu verwahren, damit du sie 142
uns später zurückgeben kannst.« »Du bist voll törichter Hoffnungen«, erwiderte Hajno kurz. »Wir werden euch jetzt in die Stadt füh ren.« * Das Dorf, in dem sie rasteten, war eine Überra schung. Es bestand nicht aus einfachen Indianerhüt ten, sondern aus festgefügten Holzbauten, die breit und wuchtig rechts und links von der durchgehenden Straße lagen. Irgendwie erinnerten sie an europäische Bauernhäuser. Sie wurden sehr sauber gehalten, ob wohl ihre Bewohner Indianer waren. Offensichtlich wohnten die Eisenmänner nicht in diesen Häusern, in deren Türen und Fenstern sich die dunklen Gesichter von Indianern zeigten. Die Ei senmänner gehörten in den mächtigen Steinbau, der sich in der Mitte des Dorfes erhob. Er bestand aus einer ganzen Reihe würfelförmiger Gebäude, die durch Bogengänge und Säulenhallen miteinander verbunden waren. Als Baumaterial hatte man sauber bearbeitete Felsblöcke verwendet, die fast fugenlos aneinanderlagen. Sun Koh wurde lebhaft an die Bau ten der Inkas erinnert, die er in Cuzco und anderen Ruinenstätten der Inkas kennengelernt hatte. Sie wurden in den Hof des kastellartigen Gebäu des geführt und durften auf Steinbänken, hinter ei 143
nem langen, steinernen Tisch, Platz nehmen. Bereits nach einigen Minuten brachte man ihnen gebratenes Fleisch und eine Art Maisfladen, beides sehr schmackhaft zubereitet. Hajno und ein paar andere leisteten den Gefange nen Gesellschaft. Die Kameraden Hajnos waren ebenfalls junge Leute. Einige von ihnen zeigten fast den gleichen Typ wie ihre Anführer, andere waren dunkler getönt und besaßen in ihrem Gesichtsschnitt eine überraschende Ähnlichkeit mit den Berginkas. Nach dem Essen verließen sie das Dorf in Beglei tung Hajnos, der noch zehn andere eisengepanzerte junge Leute mitnahm. Über eine Stunde lang marschierten sie durch die Ebene, zwischen fruchtbaren Feldern hindurch, dann standen sie vor einer mächtigen Mauer, die sich quer durch die Landschaft zog. Sie war acht Meter hoch und aus sorgfältig behauenen Steinblöcken zusam mengefügt, mit Zinnen gekrönt und in Abständen von annähernd einem Kilometer von mächtigen Türmen überragt. Auf einen dieser Türme führte der Weg zu. Als sie bis auf fünfzig Meter heran waren, zeigte Hajno in die Runde. »Das ist die große Mauer der Cibjas. Drüben liegt unser Reich, wohlgetrennt von diesem Vorland, in dem die Parunas wohnen.« »Ihr habt euch gut gesichert«, sagte Sun Koh be wundernd. »Es wird keinem Feind so leicht fallen, 144
diese Mauer zu besteigen.« Hajno lächelte. »Es wird auch keinem Feind leicht fallen, die Mauer zu erreichen. Seht dort.« Je näher sie herankamen, desto deutlicher erkenn bar wurde der tiefe Graben, der sich vor der Mauer befand. Er war fast zwanzig Meter breit und mit Wasser gefüllt. Hajno wies hinunter. »Würdet ihr wagen, durch diesen Graben hin durchzuschwimmen?« Sun Koh schüttelte den Kopf. Dort unten wimmel te es förmlich von Piranhas, jenen gefräßigen Fi schen, die einen Menschen innerhalb einer Minute skelettierten. Über den Graben führte eine Brücke, deren innerer Teil an starken, eisernen Ketten hing. Da war eine regelrechte Fallbrücke, wie sie bei ei ner mittelalterlichen Burg üblich gewesen war. Da hinter gähnte die Wölbung des Tores. Als sie hin durchschritten, bemerkten sie über sich die drohen den Eisenspitzen eines Fallgatters. In der Torwöl bung selbst standen zwei Dutzend Bewaffnete, die ähnlich wie Hajno und seine Kameraden in eisernen Rüstungen gehüllt waren. Die beiden Gruppen tauschten kurze Worte, dann führte Hajno seine Gefangenen weiter. Jenseits der Mauer zeigte die Landschaft dasselbe 145
Bild wie bisher. Einförmig dehnten sich die Felder. Nur die Straßen waren erheblich breiter geworden und besaßen glatte Steinpflasterung. Außerdem tauchten häufiger Dörfer auf, die durchgängig aus niedrigen Steinbauten bestanden und einen außerordentlich sauberen Eindruck mach ten. Auf den Feldern waren häufig Menschen zu sehen, arbeitende Männer und Frauen. Sie trugen eine ein fache Kleidung, die im wesentlichen aus einer langen Hose und einem kittelartigen Übergewand bestand. Ab und zu flogen Zurufe zwischen den Geharnisch ten und jenen Leuten hin und her, aber im allgemei nen schien die Neugierde nicht übermäßig groß zu sein. In den Dörfern, die sie passierten, erregten die Ge fangenen schon mehr Aufsehen. Frauen und Kinder drängten sich neugierig heran. Es war erstaunlich, wie viel schöne Menschen es hier gab. Man sah den Frauen an, daß sie schwere Arbeit leisteten, aber trotzdem zeigte jede einzelne in Gesicht, Haltung und Bewegung ausgeglichene Harmonie und einen gewissen Adel. Dasselbe galt in noch viel höherem Maße für die Kinder. Hajno drängte unaufhaltsam vorwärts. »Wie groß ist euer Reich?« erkundigte sich Sun Koh. »Wir müssen zehn Stunden marschieren, bis wir 146
die Stadt erreicht haben, und die Stadt liegt ungefähr in der Mitte unseres Reiches. Die Mauer beschreibt einen plattgedrückten Kreis, und wir nähern uns von der engsten Stelle aus.« Die Mauer, die sich demnach um das gesamte Land herumziehen mußte, bildete also eine Ellipse. Aus der Zeitangabe und der ungefähren Marschge schwindigkeit konnte Sun Koh leicht errechnen, daß das Reich der Cibja annähernd fünf zehntausend Quadratkilometer umfassen mußte. Es war nicht viel, aber doch schon ein ganz ansehnliches Staatswesen, das hier in der Verborgenheit bestand. Sun Koh sah nach der Sonne, die bereits blutrot dicht über dem Horizont stand. »Dann erreichen wir die Stadt heute nicht mehr?« »Nein, wir werden im nächsten Dorf bleiben. Es wird nicht lange dauern, so sind wir angelangt.« »Weißt du, wieviel Cibjas euer Volk umfaßt?« »Fünfhunderttausend Menschen.« »Und wieviel Parunas gibt es außerhalb der Mau er?« »Nicht mehr als fünfzigtausend.« Die Sonne ging unter. Sie marschierten in der Dunkelheit weiter. Die Straße leuchtete wie ein wei ßes Band, so daß es ihnen keine Mühe machte, den Weg zu finden. Eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang erreich ten sie wieder ein Dorf. Dort blieben sie. Die vier 147
Gefangenen wurden gemeinsam in einem der Bau ernhäuser untergebracht. Man bewachte sie sorgfäl tig, behandelte sie aber gut und gab ihnen reichlich zu essen. Die Inneneinrichtung eines solchen Hauses war für Sun Koh ebenfalls eine Überraschung. Die Wohn räume waren peinlich sauber gehalten. Eigentliche Möbel gab es nicht, nur schwere Holztische und lan ge Truhen, die mit Hilfe zahlreicher, kunstvoll ge stickter Kissen in bequeme Lager verwandelt werden konnten. Die steinernen Böden waren mit Matten aus Bambusgeflecht bedeckt und die Wände teils mit Holz, teils mit schweren, gestickten Stoffen beklei det. Dadurch wirkten die Räume einesteils wunder voll klar und schlicht, andernteils aber auch sehr ge mütlich. Nur ein Volk mit hoher Kultur konnte so wohnen. Der reine Stil war um so erstaunlicher, als es sich um die Wohnung von Bauern handelte. Aber diese Menschen schienen verhältnismäßig scharf zwischen Wohnräumen und Arbeitsräumen zu tren nen. Es fiel Sun Koh auf, daß die Leute jetzt am Abend wesentlich anders gekleidet waren, als tags über, und daß sie auch sonst alles abgelegt zu haben schienen, was sie mit der Arbeit des Tages verband. Das Ehepaar, das ihnen beim Essen Gesellschaft lei stete, verriet kaum etwas von der Beschäftigung des Tages. Sun Koh und seine Begleiter wurden sofort nach 148
dem schweigsam eingenommenen Mahl allein gelas sen. Hajno kam und bat sie, sich schlafen zu legen. Er wünschte ihnen sogar einen guten Schlaf. Sie ließen sich nicht lange mahnen, sondern mach ten es sich auf den zur Verfügung gestellten Kissen bequem. »Nicht schlecht«, brummte Jerry behaglich. »Die Leute verstehen zu leben. Ich komme mir vor, als sei ich ganz aus Versehen in den Himmel geraten.« »Geht mir ganz ähnlich«, meinte Hal. »Sie wollen uns zwar abmurksen, aber das kann mir ganz egal sein. Die Leute sehen alle nicht so aus, als ob sie Menschenfresser wären.« Jerry wandte sich an Sun Koh. »Sie meinen, daß das hier die weißen Indianer sind?« »Indianer sind es natürlich nicht. Es sieht eher so aus, als ob hier Weiße und Reste der Inkas zusam mengestoßen wären. Mir ist noch sehr vieles rätsel haft, ich hoffe aber, in der Stadt bessere Antworten auf meine Fragen zu erhalten, als Hajno sie gibt. Nun sollten wir aber schlafen. Ich glaube, wir können es alle vier gut gebrauchen.« Ungestörter, gefahrloser Schlaf tat ihnen tatsäch lich mehr not als alles sonst auf der Welt. Drei Minu ten später schliefen die vier tief und fest. * 149
Am nächsten Morgen setzten sie die Wanderung fort. Dreimal während des Tages trafen sie auf turmbe setzte Mauern mit breiten Wassergräben, die sich quer in ihren Weg stellten. »Es sind Mauern wie jene, die du bereits kennen lerntest«, beantwortete Hajno eine Frage Sun Kohs. »Das Reich der Cibjas ist früher klein gewesen, und diese Mauer hat einst zu seinem Schutz gedient.« »Die Mauern sind heute noch so gut, daß man sich hinter ihnen verteidigen könnte«, erwiderte Sun Koh. »Ja, denn sie sind für eine Ewigkeit gebaut.« Im allgemeinen unterhielt sich Sun Koh während des Marsches mit seinen Leuten, besonders mit Jerry, der vieles nicht begreifen konnte, weil ihm die Vor aussetzungen fehlten. Die Stunden vergingen. Sie marschierten ohne Pause. Einmal wandte sich Hajno von selbst an Sun Koh, was sonst nie geschah, und fragte: »Fühlt ihr euch müde? Der Marsch ist lang, und ich will euch gern Gelegenheit geben zu ruhen.« »Wir sind nicht müde«, wehrte Sun Koh ab. »Mich wundert nur, daß es dir und deinen Kameraden nicht beschwerlich ist, in diesen schweren Eisen rüstungen so lange durch die glühende Sonne zu wandern.« Hajno schüttelte stolz den Kopf. »Ein Cibja marschiert drei Tage und Nächte ohne 150
Ruhepause, ohne Speise und Trank und ohne seine Rüstung abzulegen, sonst ist er kein Cibja.« Es war wirklich erstaunlich, wie mühelos diese ei sernen Jünglinge marschierten. Nach sechs Stunden gingen sie genauso frisch wie beim Aufbruch, ob wohl die Rüstung eine bedeutende Last darstellen mußte. Außerdem glühte die Sonne mit mörderischer Kraft. Man befand sich ja immerhin unter dem Äqua tor. Die einzige Annehmlichkeit war ein kühlerer Lufthauch, der fast fortwährend über die Ebene strich. So ganz eben blieb das Land freilich nicht. Weite, muldenartige Senkungen wechselten mit Hügeln, und dann stieg das Gelände allmählich gleichmäßig zu einem Berg an, der das ganze Reich der Cibjas be herrschen mußte. Auf diesem Berg lag die Stadt. Es war ein einzigartiger Anblick. Dunkelgrün leg te sich ein breiter Waldstreifen um den Fuß des eigentlichen Berges herum. An ihn schloß sich nach oben zu ein Streifen freien Landes an, dann stieß eine gewaltige, ringsum laufende Mauer auf, die in den Flanken des Berges verschwand. Sie umschloß einen mächtigen, sich zur Spitze des Berges verjüngenden Park, zwischen dessen Bäumen zahlreiche helle Steinbauten sichtbar wurden. Mit zunehmender Höhe traten die Bäume zurück, die Bauten drängten enger zusammen, riesige Anlagen wurde sichtbar, und ganz 151
oben leuchtete eine Gruppe von Gebäuden wie ein riesiger gelber Edelstein, von dem das Licht der Sonne zurückgeworfen wurde. Diesen Anblick hatte man jedoch nur aus einer immerhin noch beträchtlichen Entfernung. Je näher man kam, um so schwieriger wurde es, noch eine Übersicht zu bekommen, denn die Stadt war außer ordentlich groß und bedeckte sicher einige hundert Quadratkilometer Boden. Endlich durchschritten sie durch ein mächtiges, durch Fallbrücken und Wachen gesichertes Tor die Umfassungsmauer der Stadt. Bereits eine Viertel stunde später bedeutete ihnen Hajno vor einem fe stungsartigen Gebäude, daß das Ziel des Marsches erreicht sei. In diesem aus behauenen Quadern ausgeführten Gebäude sah Sun Koh nichts Besonderes. Um so stärker interessierte ihn ein Haus, das auf der anderen Seite der Straße stand. Es war erheblich kleiner und zeigte ganz erstaunliche Abweichungen in seiner Bauart. Man hatte es als Fachwerkbau errichtet, also aus Holz mit getünchten Zwischenfeldern. Die zwei oberen Stockwerke sprangen ein ganzes Stück vor, der Giebel stieß hoch und spitz in die Luft. Zierliche Erker, buntfarbige Malereien und eine Reihe anderer Kleinigkeiten machten das Haus dem Steingebäude so unähnlich wie nur möglich. Nur zwei völlig ver schiedene Kulturen konnten zwei so völlig verschie 152
dene Häuser errichtet haben. Das Steingebäude ver riet die Kultur der Inkas, das andere aber die Kultur des europäischen, besonders des deutschen Mittelal ters. Das Haus dort drüben war ein Patrizierhaus, wie man es heute noch in manchen deutschen Städten sieht. Sun Koh stellte eine Frage an Hajno, aber dieser schüttelte den Kopf. »Es wird später Zeit sein, deine Fragen zu beant worten, jetzt bitte ich dich, mir in das Haus zu fol gen.« Wenn dieses Haus ein Gefängnis sein sollte, so war es sicher ein sehr angenehmes. Die Räume zeichneten sich durch die gleiche stilvolle Behag lichkeit aus wie die jenes Bauernhauses, in dem sie übernachtet hatten. Der Innenhof wies ein geräumi ges Schwimmbecken mit durchfließendem Wasser auf, das man ihnen zur Reinigung zur Verfügung stellte. Einer der Jünglinge brachte als Ersatz für die verschmutzen zerrissenen Kleider neue Gewänder, Hosen und blaue Überwürfe aus feinen weichen Stoffen, dazu lederne Sandalen. Ein anderer kam mit Seife und einem erstaunlich scharfen Rasiermesser und machte mit viel Geschick ihre Gesichter menschlich. Anschließend setzte man ihnen ein reichhaltiges Essen vor. Kein Wunder, daß es den vieren nicht schlecht ge fiel. 153
Eine Stunde lang blieben sie sich selbst überlas sen, dann erschien Hajno wieder. »Der König will euch sehen«, sagte er. »Bitte, folgt mir.« Sie verließen das Haus, gingen durch die Stadt wie durch einen wundervollen, villenbesetzten Park, über Straßen, die fugenlos mit Steinplatten belegt waren, unter herrlichen Bogengängen hindurch und kamen endlich in ein weitläufiges Gebäude. Es wirkte von außen nüchtern und fast festungsähnlich, aber innen war es wie ein Märchentraum. Der nackte Stein war nirgends mehr zu sehen. Die Wände waren mit Gold und Edelsteinen verkleidet, so daß einem fast die Augen wehtaten, wenn man hindurchschritt. Und doch wirkte dieses Innere nicht barbarisch, sondern kunstvoll und majestätisch. Nachdem sie eine gewaltige Säulenhalle, die dom artig aufwärtsstrebte, durchschritten hatten, gelang ten sie in einen kleinen, behaglich mit Holz verklei deten Saal. Dort erwartete sie der König der Cibjas inmitten seiner zehn Ratgeber. Dieser König war blond und helläugig wie Hajno, zeigte aber sonst in seinen Zügen mehr Ähnlichkeit mit den Inkagesichtern. Sun Koh schätzte ihn auf vierzig Jahre und staunte zugleich innerlich über die Kraft dieser wahrhaft königlichen Erscheinung. Die Ratgeber, die ringsum saßen, waren nicht viel älter als der König selbst und zeigten ähnlich ein 154
drucksvolle Gesichter. Die Kleidung der Männer unterschied sich in nichts von der, die Sun Koh und die drei anderen trugen. Es waren die gleichen Stoffe und die gleichen Stücke, ganz ohne Rangabzeichen und ohne Schmuck. Dieser König saß auch nicht auf einem Thron, sondern auf einem hölzernen, allerdings kunstvoll geschnitzten Stuhl. Sun Koh und seine Begleiter verbeugten sich, der König der Cibjas und seine Ratgeber erwiderten die Verbeugung, dann wandte sich der König an Sun Koh und begann zu sprechen: »Mir wurde gesagt, daß du unsere Sprache sprichst?« Sun Koh hielt den prüfenden Blick der starken Augen ruhig aus. »Es ist richtig, ich spreche eure Sprache.« »Wie kommt das?« »Ich weiß es nicht. Ich muß sie in meiner Jugend, deren Vorgänge meinem Gedächtnis entschwunden sind, gelernt haben.« »Du gibst uns damit ein Rätsel auf, das wir jetzt nicht zu lösen vermögen. Wer bist du, und wer sind deine Begleiter?« Sun Koh nannte die Namen. »Unser Feldmeister Hajno nahm euch gefangen«, fuhr der König fort, »als ihr den Boden unseres Lan des betratet. Ihr habt euch geweigert zu kämpfen?« Sun Koh antwortete: »Ja, wir wollten nicht kämp 155
fen, weil dieser Kampf sinnlos schien.« »Du weißt, daß ihr sterben müßt?« »Es wurde mir gesagt, daß die Gesetze dieses Rei ches den Tod jedes Fremden verlangen. Ich hoffe jedoch, daß euch der Wortlaut dieses Gesetzes nicht hindern wird, seinen Sinn zu erfüllen. Jene Männer, die dieses Gesetz einst schufen, hätten sonst wohl nie in diesem Land Wohnung finden können.« In dem Gesicht des Königs zuckte es überrascht auf. »Du sprichst seltsame Worte, Fremder. Was weißt du von der Geschichte dieses Reiches?« »Ich sah«, erwiderte Sun Koh schlicht. Der König schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wo kommt ihr her?« »Aus den Ländern, die jenseits des Urwaldes lie gen.« »Ihr seid ausgezogen, um unser Reich zu finden? Spricht man in jenen Ländern von uns?« »Nein, nur dann und wann erzählen sich die Män ner von den weißen Indianern, die inmitten des gro ßen Urwaldes leben sollen. Wir kamen nicht, um euch zu finden, sondern wir stürzten mit unserem Flugzeug in den unbekannten Wald und suchten ei nen Weg, um herauszukommen. Es ist ein Zufall, daß wir dabei auf euer Reich trafen.« »Woher seid ihr gestürzt?« erkundigte sich der König. 156
»Aus einem künstlichen Vogel stürzten wir ab«, gab Sun Koh Aufklärung. »Wir flogen durch die Luft. In unseren Ländern werden solche künstlichen Vögel gebaut.« »Ich weiß.« Der König nickte überraschenderwei se. »Wir besitzen zwei solcher Vögel, die auf unse rem Boden niedergingen.« »Ah, dann sind wir nicht die ersten Fremden, die in den letzten Jahren hierherkamen?« »Nein«, gab der andere kurz zurück. »Ihr seid nicht die ersten Fremden, die durch das Gesetz der Cibjas sterben müssen. Doch habt ihr recht, nicht das Wort soll erfüllt werden, sondern der Sinn. Es wird euch die gleiche Gerechtigkeit widerfahren wie jenen anderen. Geht jetzt, ihr werdet hören, was über euch beschlossen wird.« Hajno führte sie wieder zurück. Am nächsten Tag erschien ein Mann bei ihnen, den sie in der Nachbarschaft des Königs gesehen hat ten. »Ich bin Picano«, sagte er, »und komme im Auf trag des Königs, um euch zu sagen, was über euch beschlossen ist. Ihr steht unter dem Gesetz, und die ses Gesetz verlangt den Tod. Es läßt jedoch eine Ausnahme zu. Sie besagt: Wenn Fremde in das Land kommen, die guten Blutes sind, so soll man sie nicht gleich töten. Man soll sehen, ob sie im Wettstreit des Krieges und des Friedens das gleiche zu leisten ver 157
mögen wie die Jünglinge der Cibjas. Falls sich das erweist, soll man sie fragen, ob sie gewillt sind, eine Tochter der Cibjas zum Weib zu nehmen und bis zu ihrem Ende im Reich zu leben. Wenn sie das bejahen und zugleich beschwören, die Gesetze des Reiches zu halten und zu befolgen, so soll man ihnen das Le ben lassen und ihnen Land, Haus und Hof geben, damit sie ihr Leben halten, wie es bei den Cibjas üb lich ist. Erfüllen sie jedoch eine dieser Bedingungen nicht, so soll man sie um das Wohl des Reiches wil len töten.« Sun Koh sah den anderen fest an. »Ein sehr weises Gesetz. Du bist gekommen, um uns zu fragen, ob wir von dieser Ausnahme Ge brauch machen wollen?« »Ja.« »Und du erwartest sofort Antwort von uns?« Picano schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht meine Aufgabe, euch zu drän gen. Das Gesetz verlangt vor allem, daß ihr mit den Jünglingen unseres Volkes in den Wettstreit tretet. Ihr sollt zehn Tage Zeit haben, um euch zu ernähren und auszuruhen, damit ihr dann kräftig und gewandt seid. Zehn Tage habt ihr Zeit, dann werdet ihr gegen unsere Jünglinge kämpfen. In dieser Zeit werde ich euch Gesellschaft leisten. Der König hat mich beauf tragt, bei euch zu bleiben und eure Fragen zu beant worten.« 158
»Damit erweist du mir einen großen Dienst, und ich hoffe, daß du meiner Fragen nicht müde wirst. Doch vor allem sage mir, was von euren Jünglingen und von uns im Wettstreit gefordert wird?« »Ein schneller Lauf von dreihundert Schritten und ein Lauf um die Mauer dieser Stadt herum, ein weiter Sprung und ein hoher Sprung, der Wurf mit dem Speer und der Wurf mit dem Stein, schwimmen, der waffenlose Kampf von Mann gegen Mann, der Kampf der stumpfen Schwerter und der Wettstreit der Gewehre.« »Es wird von uns verlangt, daß wir in jedem Wett streit das gleiche leisten wie die besten eurer Jüng linge?« »Nicht wie die besten, aber wie die meisten. Und es wird euch nicht zum Schaden gerechnet werden, wenn ihr einen der Kämpfe nicht besteht. Der Sinn des Gesetztes liegt darin, daß ihr zeigen sollt, ob eure Körper und Seelen gesund und stark sind.« »Wird man uns Gelegenheit geben, in den näch sten Tagen die Jünglinge der Cibjas beim Wettstreit zu sehen?« »Ihr werdet sie Tag für Tag sehen können. Es steht euch auch frei, mit ihnen zusammen eure Kräfte zu üben.« Picano entfernte sich. Sun Koh gab den anderen den Inhalt der Unterre dung wieder. 159
Nimba grinste, als er von dem Wettkampf hörte. »Denen werden wir aber zeigen, was eine Harke ist, nicht wahr, Sir?« »Klar«, rief Hal. »Mit den Blechbüchsenindianern nehmen wir’s allemal auf.« Jerry zuckte mit den Schultern. »Gott, ich laufe ja nicht schlecht, aber ob es aus reichen wird?« »Wir wollen uns noch keine Sorgen darüber ma chen«, schloß Sun Koh ab. »Picano sagte ja nach drücklich, daß man sich nicht in jedem Wettstreit Lorbeeren zu holen braucht. Diese Cibjas wollen ja nur wissen, ob wir wertvoll genug sind, um in den Bestand ihres Volkes aufgenommen zu werden.« »Das ist doch gar nicht unsere Absicht«, sagte Hal. »Ich denke gar nicht daran zu heiraten und mir eine zahlreiche Familie zuzulegen. Am Ende sitze ich mit sechs Kindern da, wenn ich zwanzig Jahre alt bin.« Die anderen lachten. »Es ist auch nicht meine Absicht«, erwiderte Sun Koh, »hierzubleiben. Wir gewinnen aber vorläufig Zeit, und ich kann sehr viel erfahren, was ich wissen möchte. Außerdem würde es mich reizen, diesen Wettkampf zu bestehen.« »Warum wollen Sie eigentlich nicht hierbleiben?« fragte Jerry. »Von mir aus würde ich es ganz hübsch finden, wenn wir uns hier niederließen.« »Das ist für Sie möglich«, gab Sun Koh zurück, 160
»für uns aber leider nicht. Die Zukunft könnte zei gen, daß sich unsere Wege hier trennen. Ich kann nicht hierbleiben, und Hal und Nimba werden mich begleiten, wenn ich dieses Land wieder verlasse. Üb rigens glaube ich auch nicht, daß die Cibjas ernstlich erwägen, Nimba als Stammitglied aufzunehmen. Seine dunkle Haut ist ihnen nicht geheuer, und ich vermute stark, daß man vorläufig nur noch nichts gesagt hat, weil man das Ergebnis der Wettkämpfe abwarten will.« »Und wenn diese zu unseren Gunsten ausfallen?« »Dann müssen wir neue Entscheidungen treffen – aber auch erst dann. Zehn Tage sind lang.« 6. Picano erschien zur angesetzten Zeit, aber aus dem Rundgang durch die Stadt wurde nicht mehr viel. Sun Koh blieb bereits an dem Haus hängen, das ihm aufgefallen war. »Löse mir das Geheimnis dieses Hauses«, bat er Picano. »Es gibt kein Geheimnis bei diesem Haus.« »Für dich vielleicht nicht, wohl aber für mich. Be finden sich noch mehr solche Bauten in der Stadt?« Picano nickte. »Sie liegen überall verstreut. Du wirst weiter oben eine ganze Straße voll von ihnen kennenlernen, aber 161
wenn du willst, so wollen wir uns dieses Haus anse hen.« Sun Koh bat darum, und sie traten in das Gebäude ein. Das Innere bestätigte mit seinen getäfelten Räu men, seinen gewundenen Holztreppen und den ge schnitzten Möbeln durchaus den Eindruck, den Sun Koh bereits von außen gewonnen hatte. Das Haus war ein guterhaltenes Museumsstück eines mittelal terlichen Wohngebäudes. Sogar die Butzenscheiben waren vorhanden, nur bestanden sie nicht aus Glas, sondern aus dünnen Häuten, die zwischen Bleirah men gespannt waren. Von einem vorgebauten Erker aus wies Sun Koh auf das gegenüberliegende Gebäude mit seinen star ken, kunstvoll gefügten Mauern. »Du sagst, Picano, daß es kein Geheimnis um die ses Haus gibt? Ist es dir verboten, darüber zu spre chen? Meine Augen sind nicht blind, und diese bei den Häuser nebeneinander sind ein Rätsel, dessen Lösung ich gern von dir hören möchte.« Picano lächelte. »Es ist mir nicht verboten, darüber zu sprechen, aber ich glaubte nicht, daß die Vergangenheit meines Volkes dich so sehr fesseln könnte. Diese Häuser sind von unseren Ahnherren gebaut, das Haus, in dem wir uns befinden, schon vor fast vierhundert Jahren. Die Geschichte meines Volkes reicht viele tausend Jahre zurück. Die Cibjas gehörten einst zu 162
dem großen Volk der Sonnensöhne, das jenseits der Sümpfe und Wälder unter den schneebedeckten Gip feln des Hochgebirges wohnte.« »Jenseits der Sümpfe und Wälder, sagst du?« Sun Koh horchte auf. »Sprichst du von dem Gebirge, hin ter dem die Sonne versinkt?« »Ja.« »Also hängt euer Reich nicht unmittelbar mit dem Gebirge zusammen, sondern es befinden sich Wälder und Sümpfe in jener Richtung?« »Ja«, sagte Picano leicht verwundert zum zwei tenmal. »Man sieht von hier aus jenes Gebirge nicht, so wenig man uns von ihm aus sehen kann. Man müßte viele Wochen der untergehenden Sonne durch den Urwald folgen, wenn man das Gebirge erreichen wollte.« »Dann ragt dieses Hochland wie eine einzelne In sel aus der Niederung der Ströme heraus?« »So ist es.« Diese Mitteilung erklärte, warum das Reich der Cibjas so völlig unbekannt geblieben war. Da sich zwischen ihm und den Anden noch einmal Hunderte von Kilometern dieses mörderischen Urwaldes be fanden, war es kein Wunder, wenn die Cibjas keine Beziehung zur sonstigen Welt hatten. »Sprich weiter«, bat Sun Koh. »Du sagtest, daß die Cibjas einst zu den Inkas, jenem Volk im Gebir ge, gehörten?« 163
»Vor tausend und mehr Jahren wohnten die Ahnen der Cibjas auch im Gebirge. Aber dann zog ein Trupp von ihnen der aufgehenden Sonne entgegen, drang durch den Urwald vor und erreichte dieses Ge biet. Die Männer und Frauen, die den furchtbaren Nöten entgangen waren, gründeten hier eine neue Heimat. Von ihren Brüdern im Gebirge hatten sie sich für immer getrennt, denn der Weg zu ihnen war zu beschwerlich, und außerdem waren sie in Feind schaft geschieden. Nur dann und wann drangen Nachrichten durch den Urwald hindurch in diese Einsamkeit.« »Die Cibjas bauten sich hier eine Stadt?« »Ja. Sie kämpften gegen die wilden Indianer und gegen die Tiere des Waldes, der damals unser Reich bedeckte, sie rodeten den Wald und bauten Straßen und Häuser. Vor vierhundert Jahren war das Reich so groß wie jetzt die Stadt. Diese Umfassungsmauer dort gab die Grenzen ab. Die Cibjas lebten zu jener Zeit nicht schlecht, aber es gehörten immer nur ein paar tausend Menschen zu ihnen. Der Wald und die Indianer forderten sehr viele Opfer, und die Cibjas kämpften auch untereinander um die Herrschaft über diese Stadt. In jener Zeit, vor vierhundert Jahren al so, kamen die Fremden in dieses Land.« »Ach, die Eisenmänner?« Picano sah ihn überrascht an. »Du weißt?« »Ich ahne. Rüstungen wie jene, die eure Jünglinge 164
tragen, sah ich ebenfalls jenseits des großen Mee res.« Picano nickte. »Du vermutest richtig. Eines Tages stieg ein Trupp Männer aus dem Urwald herauf. Es waren zweiund vierzig Mann, alle in Eisen gehüllt und mit fremdar tigen Waffen versehen. Ihr Haar war blond, und ihre Augen waren hell, auch die Farbe ihrer Haut unter schied sich von der der Cibjas. Sie hatten breite, starke Körper und kräftige Gesichter, aber es gab keinen unter ihnen, der nicht verwundet oder krank gewesen wäre. Die Cibjas verteidigten ihre Stadt ge gen jene, aber die Fremden kämpften wie Verzwei felte, und sie kämpften anders als die Indianer. Sie verstanden es, auf die Mauer zu kommen und wehr hafte Männer der Cibjas zurückzuschlagen. Nach langen Tagen blutigen Streites wurde zwischen den Cibjas und den Fremden der Friede geschlossen – die Fremden wurden in unser Volk aufgenommen.« »Wo kamen sie her?« »Sie kamen aus Deutschland. Dort lebte ein Mann, der sich Welser nannte. Er war sehr reich und schenkte dem Kaiser Karl, der über das Land herrschte, große Mengen Gold. Dafür versprach ihm der Kaiser eine Provinz, ein Gebiet in diesem Erdteil, von dem die Kunde damals gerade über das Meer gedrungen war. Welser vertraute ihm und schickte ein Heer über das Meer in das Land, das ungefähr in 165
der Richtung der Mittagssonne liegt.« »Das müßte Venezuela sein?« »Der Name ist mir nicht bekannt. Das Heer jenes Welser besetzte jedenfalls die Küsten des Landes und baute eine Stadt. Der Kaiser Karl aber wollte, daß die Deutschen Gold und Edelsteine für ihn er obern sollten. So kam es zum Streit, und schließlich besetzte er die Stadt der Deutschen und ließ seine Krieger gegen die Männer des Welser kämpfen. Die se wichen dem Verrat, soweit sie nicht getötet wur den. Ein Trupp von ihnen suchte sich den unbekann ten Weg quer durch das Land hindurch, durch Sümp fe, Flüsse und Urwälder, um das Gebirge zu finden, in dem sie sich niederlassen wollten. Unzählige wur den getötet oder starben am Fieber, an den Schlangen und an Schrecknissen der verschiedensten Art. Der Rest erreichte diese Stadt. Hier blieben die Männer, die von den Deutschen noch lebten, und vermischten sich mit den Cibjas. In unseren Adern fließt heute das Blut der Inkas und der Deutschen.« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. Diese Aufschlüsse waren noch überraschender, als er ver mutet hatte. Ein Zug deutscher Landsknechte nach Südamerika war ihm bis dahin unbekannt gewesen, aber er zweifelte nicht daran, daß die Worte Picanos die geschichtlichen Ereignisse ziemlich genau wie dergaben. »Die Vermischung der beiden Völker ist zum Se 166
gen für die Cibjas geworden?« fragte er. »Von jener Zeit an wurde aus der Cibja-Stadt ein Cibja-Reich. Die eisernen Männer brachten mannig fache Künste mit, die unserem Volk bis dahin nicht bekannt waren. Ihre Waffen und Rüstungen schütz ten vor den Angriffen der Indianer, sie verstanden es, das Eisen zu schmieden, Stoffe zu weben und dem Boden reiche Frucht abzugewinnen. Sie hatten starke Herzen und kühne Köpfe. Einer von ihnen wurde der König der Cibjas. Von jenem Tag an gab es keinen Bruderstreit mehr in unseren Mauern. Sie nahmen sich Frauen der Cibjas und zeugten zahlreiche Kin der, die gesund, stark und klug waren. Sie schufen vor allem Gesetze, die unser Reich so fest gründeten, wie es heute besteht. Es war ein glücklicher Bund.« »Trotzdem seid ihr so hart gegen die Fremden, die sich wie jene in euer Gebiet verirren?« Picano schüttelte den Kopf. »Du hörtest doch, daß wir euch wie jenen anderen Fremden die Möglichkeit geben, bei uns zu bleiben. Freilich, wir töten die Fremden, die nicht guten Blu tes sind oder sich als untüchtig erweisen, wir töten auch jene, die unser Land wieder verlassen wollen, aber diese Gesetze stammen nicht von Cibjas, son dern von den Deutschen, die damals aufgenommen wurden. Du kennst die Geschichte unseres Stamm volkes aus den Bergen?« »Ja.« 167
»Die eisernen Männer, die damals zu uns kamen, kannten sie auch«, sagte Picano sehr ernst. »Sie hat ten ihre Heimat verlassen, um neues Land zu finden, um Städte und Dörfer zu gründen, um den Boden zu bebauen. Sie verabscheuten aus tiefstem Herzen jene Männer, die wie die Räuber durch die Gebirge gezo gen waren und alles vernichtet hatten. Sie sahen un ser Gold und unsere Edelsteine, wie ihr sie sehen werdet, denn das Land ist reich daran. Aber sie lach ten darüber, denn sie suchten Häuser und Felder. Sie wußten aber auch, daß andere nicht so denken wür den wie sie, sie wußten, daß das Reich zerstört wer den würde, wenn jener Kaiser oder seine Truppen von ihm hören würden. Deshalb schufen sie die Ge setze, die heute noch gelten. Kein Cibja darf die Grenzen des Reiches um mehr als eine Stunde Marsch überschreiten, kein Cibja darf die Länder aufsuchen, die jenseits des schützenden Urwaldes liegen. Die Welt soll von uns nichts erfahren.« Sie verließen das altertümliche Haus und wander ten auf den breiten, sauberen Straßen den Berg hin auf. Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags, die Son ne stand noch weit über dem Horizont, aber die Luft war angenehm frisch. Sun Koh richtete deswegen eine Frage an Picano. Dieser antwortete: »Nein, wir leiden eigentlich nicht so sehr unter der Sonne. Wir haben uns daran gewöhnt, und dann streicht dieser kühle Wind fast 168
ständig über unser Land. Vergeßt nicht, daß die Sümpfe, durch die ihr gekommen seid, fast tausend Meter tiefer liegen.« Zwischen den Bäumen wurden niedrige Steinmau ern sichtbar, dann öffnete sich ihnen der Blick auf eine einzigartige Sportanlage. Hunderte von Metern breit und lang, dehnte sich vor ihnen eine riesige, völlig ebene Fläche, die mit feinem rötlichem Sand bedeckt war. Sie war in Übungsplätze für die ver schiedensten Sportarten unterteilt und enthielt auch ein zweihundert Meter langes, völlig in polierten Fel sen eingefaßtes Schwimmbad. In diesem Sportforum trainierten sich einige hun dert Jungen. Picano führte die vier von einer Gruppe zur anderen. Die Sportler grüßten freundlich, ließen sich aber sonst nicht stören. Spezialisten in irgendeiner Sportart gab es nicht, wie Picano auf Sun Kohs Frage versicherte. »Was hat es für einen Sinn, wenn einer jahrelang nur darauf übt, daß er recht schnell laufen kann?« fragte Picano. »Damit kann er sich bei uns keinen Ruhm erwerben. Nicht wer in einer Sportart etwas leistet, gilt bei uns als Sieger, sondern wer in allen sportlichen Übungen der Beste ist.« Sie schwiegen, denn jetzt schnellten die Jungen vor ihnen aus Startlöchern und jagten über die Bahn. »Donnerwetter«, murmelten Hal und Jerry halb laut, und Hal fügte hinzu: »Mann, die legen aber ei 169
nen Zahn vor.« Sun Koh war besorgt. Die Laufgeschwindigkeit war tatsächlich außerordentlich hoch. Nach seiner Schätzung waren die Jungen nicht mehr als zehn Se kunden über hundert Meter gesprintet. Was sollte da aus Jerry werden? Auch Hal würde seine Not haben, einigermaßen Platz zu halten. »Wie schnell laufen eure Jungen?« erkundigte sich Sun Koh. Picano gab ihm eine Zeit- und Streckenangabe, die Sun Koh jedoch fremd war. Erst in den nächsten Ta gen erfuhr er, daß die Cibjas, deren Zahlensystem sich auf der zwanzig aufbaute, die kurze Strecke über genau hundert Meter liefen und zehn Sekunden als Durchschnittsgeschwindigkeit betrachteten, die häu fig unterboten wurde. Sie gingen zu den Weitspringern. Als sie diese verließen, kratzten sich Jerry und Hal bedenklich hinter den Ohren. Was sie hier gesehen hatten, nahm ihnen so gut wie alle Hoffnungen. Der Aufenthalt bei den Hochspringern erheiterte sie auch nicht gerade. Sprünge unter zwei Meter schienen diese Cibjas überhaupt nicht zu kennen. Sie flogen nur so über die Latte, scheinbar gänzlich mü helos. »Stundenlang könnte man zusehen«, knurrte Jerry, »aber es wird mir dabei flau im Magen. Denn ich muß immer daran denken, daß ich gegen diese Leute 170
antreten soll. Da ist es besser, wenn ich von vornher ein darauf verzichte.« »Das werden Sie nicht tun«, erwiderte Sun Koh bestimmt. »Sie werden zwar nicht erreichen, was diese hier leisten, aber zu einer guten Durchschnitts leistung sollte es immerhin langen. Ich halte es für das beste, wenn Sie mit Hal zusammen von morgen an ins Training gehen, dann haben Sie eine gute Wo che Zeit, um sich vertraut zu machen. Aufgegeben wird nicht.« »Natürlich nicht«, murmelte Jerry, »ich meinte ja nur so.« Von den Springern aus kamen sie zu den Speer werfern, von diesen zu den Steinstoßern, dann zu den Schwimmern. Überall fanden sie die gleichen her vorragenden Leistungen, die dort anfingen, wo die Bestleistungen zivilisierter Leute meist aufhörten. Sie verließen das Forum. Picano führte sie zu dem Haus zurück, in dem sie wohnten. Sie hatten es kaum erreicht, als die Sonne sank. * Der Tag des Wettkampfes kam. »Wie fühlt ihr euch?« fragte Sun Koh seine Be gleiter am Morgen. »Ausgezeichnet«, rief Nimba lachend. »Topfit«, meinte Hal grinsend. 171
»So lala«, meinte Jerry leicht gedrückt. »Für mich wird das eine Riesenblamage.« Picano erschien, obwohl es erst wenige Minuten nach Sonnenaufgang war. »Ich bitte euch, mir zu folgen«, bat er. »Es ist be schlossen worden, daß ihr nicht in der größten Hitze des Tages kämpfen sollt, weil man euch nichts Un gebührliches zumuten will. Man gesteht euch zu, in den Stunden der untergehenden Sonne weiterzu kämpfen.« Sie folgten ihm. Auf den amphitheatralisch aufsteigenden steiner nen Sitzbänken des großen Sportforums, das nur bei festlichen Anlässen benutzt wurde, saßen Zehntau sende von Cibjas. »Sie haben in der Nacht die Dörfer verlassen, um euch kämpfen zu sehen«, gab Picano die Erklärung. »Sehr schmeichelhaft«, knurrte Jerry. Sie zogen sich um, dann wurden sie mit den Kämpfern der Cibjas bekannt gemacht. Sun Koh stellte dabei fest, daß man ihnen nicht die allerbesten gegenüberstellte, sondern junge Leute, die den übli chen Durchschnitt leisteten. Das war sehr anständig, doch dieser Durchschnitt entsprach eben immer noch der Weltbestleistung. Der König schüttelte ihnen ebenfalls die Hand. Er bewegte sich unter den Männern des Volkes wie je der andere. 172
Dann standen sie in der gewaltigen Arena, über der das dumpfe, aber sehr beherrschte Geräusch der vielen Menschen lag. Hundertmeterlauf. Jerry trat als erster an. Das war seine schwächste Leistung. Er lief gegen zwei Cibjas, hatte aber nicht viel mehr als zwei Drittel der Strecke hinter sich, als jene durchs Ziel gingen. Die Zuschauer raunten dumpf. Hal lief mit den beiden nächsten. Er blieb wenige Meter hinter ihnen und errang sich damit einen acht baren Erfolg. Nimba ging als dritter vom Start. Er berührte das Zielband als erster, so daß die Runde überrascht aufmurmelte. Sun Koh lief von Anfang an mit voller Geschwin digkeit. Er ging durch das Ziel, als seine Gegner noch zehn Meter hinter ihm liefen. Brausend donnerte der Beifall auf. Weitsprung. Jerry gab sein Äußerstes her. Er sprang auf Tod und Leben, hatte Glück, daß er nicht stürzte, und er reichte fast die Marke seiner Partner. Hal und Nimba blieben ein Stück hinter seiner Leistung zurück, aber offensichtlich waren die Cibjas auch damit recht zu frieden. Sun Koh strengte sich sehr wenig an und übersprang fast ohne Anlauf die Marke seines Vor gängers. 173
Die Geringfügigkeit seiner Anstrengung war Picano nicht entgangen. »Gefallen dir die Jünglinge nicht, die mit dir kämpfen?« fragte er. »Ich sah, daß du viel weiter springen könntest.« Sun Koh lächelte etwas. »Du hast gute Augen, Picano. Ihr hättet gegen mich eure besten Kämpfer stellen sollen.« Picano verschwand für eine Weile. Hochsprung. Jerry erreichte nur 1,60 Meter und blieb damit weit hinter den Ergebnissen der anderen zurück. Hal schaffte zehn Zentimeter mehr und konnte damit nicht imponieren, obwohl es unter normalen Um ständen ein beachtlicher Sprung gewesen wäre. Nimba kam über zwei Meter hinweg, während seine Partner 2,20 Meter sprangen. Bevor Sun Koh antrat, erschien Picano mit zwei neuen Jünglingen und sagte: »Das sind unsere Be sten. Wenn es dir gefällt, kannst du gegen sie kämp fen. Es wird dir nicht zum Schaden gerechnet wer den, wenn du ihre Leistungen nicht erreichst.« Sun Koh nickte nur. Der erste der beiden warf die Latte bei 2,40 Meter, der andere erst bei 2,55 Meter. Wahrhaft erstaunliche Sprünge. Die Zuschauer zeigten sich lebhaft interessiert. Sun Koh ließ die Latte bei drei Metern auflegen 174
und erregte damit bedenkliches Kopf schütteln. Als sein Körper mühelos darüber hinwegfegte, fiel die Ruhe von den Cibjas ab. Sie schrieen vor Stau nen, Bewunderung und Überraschung. Langlauf über fünf Kilometer. Sie traten in vier Staffeln an und liefen gleichzeitig los. Die Bahnlänge betrug gerade einen Kilometer, so daß sie fünfmal runden mußten. Das war bei der Hitze, die bereits herunterglühte, gar keine so gerin ge Leistung, zumal die Cibjas gleich sehr scharf vor legten. Sun Koh und seine Partner gingen gleich in Füh rung, Sun Koh aber lief den beiden einfach davon. Er wirbelte seine fünfte Runde herunter, als seine Geg ner noch bei der vierten waren. Die anderen Gruppen lagen um diese Zeit noch im Anfang der vierten Runde. Nimba hielt ausgezeichnet mit seinen beiden Part nern Schritt, er blieb mit ihnen ständig auf einer Hö he. Der Endspurt mußte entscheiden, wer zuerst an kam. Hal lag eine Viertelrunde zurück. Das war recht befriedigend. Seine langen Beine und seine schmäch tige Gestalt kamen ihm zustatten. Ganz schlecht stand es um Jerry. Er erreichte erst die Mitte der dritten Runde, als Sun Koh die Mitte der fünften durchlief. Seine Partner waren fast eine Runde voraus. 175
Er lief ein aussichtsloses Rennen. Jerry wußte das, aber er war nicht der Mensch, der aufgab. Sun Koh lief auf ihn auf und verhielt etwas. »Wie steht’s?« »Gut«, knurrte Jerry, »aber die Kerle jagt der Teu fel. Kunststück, wo sie von Jugend auf trainiert ha ben.« Sun Koh hatte einen Einfall. »Wir werden sie mal ein bißchen überholen. Ach tung.« Bevor Jerry noch recht erfaßte, was Sun Koh be absichtigte, wurde er mit einem Ruck hochgehoben und lag bäuchlings über den Schultern Sun Kohs. Er wollte sich wehren, aber Sun Koh befahl ihm: »Blei ben Sie still, verloren haben Sie ohnehin.« Da blieb er ruhig und beobachtete staunend, wie Sun Koh mit ihm davonlief. Die Zuschauer waren einen Augenblick sprachlos, dann tosten sie in rasendem Beifallsgeschrei auf. Und dann wurden sie atemlos still. Sun Koh lief mit der gleichen Geschwindigkeit, die er vorher innegehabt hatte. Die Last auf seinen Schultern schien ihn kaum zu stören. Er rückte zusehends auf. Als er an Hal vorbeikam, schrie dieser: »Mich auch mitnehmen!« »Lauf du nur«, rief Sun Koh. Als die Gegner Jerrys in die fünfte Runde gingen, war er ihnen schon ziemlich dicht auf den Fersen. 176
Die Mitte erreichte er eine Weile eher als sie. Hun dert Meter vor dem Ziel setzte er Jerry ab. »Nun los, jetzt werden Sie siegen.« Jerry setzte sich in Trab. Er verhielt aber seinen Schritt, bis seine Gegner heran waren, erst dann wur de er wieder schneller. Er ließ sich absichtlich über holen. Der Trick hatte ihm Spaß gemacht, aber natür lich mußten die besseren Leute den Sieg haben. Die Zuschauer begriffen die Anständigkeit solcher Gesinnung durchaus und wußten sie zu würdigen. Brausendes Beifallsgeschrei begleitete die letzten fünfzig Meter. Picano eilte heran. »Noch nie sahen die Cibjas einen solchen Läufer wie dich«, sagte er begeistert zu Sun Koh. »Höre ih ren Jubel.« »Ich hoffe, daß er auch meinen Kameraden gilt«, erwiderte Sun Koh lachend. »Sie sind wahrhaftig gut gelaufen.« »Ausgezeichnet«, lobte Picano nickend. »Und die ser Mann, den du Jerry nennst, hat…« »Er ist den Lauf nicht gewöhnt«, sagte Sun Koh. »Er hat am schönsten gesiegt«, sagte Picano lä chelnd. »Wir wissen den Adel der Seele zu würdi gen. Höre, wie sein Name gerufen wird.« Die Cibjas brachten dem verblüfften Jerry tatsäch lich Ovationen dar, so daß er verlegen zu Hal sagte: »Die müssen ja eine schlechte Meinung von uns ge 177
habt haben, weil sie sich über so eine Selbstverständ lichkeit aufregen. Ich kann mir doch nicht einen Lor beerkranz umhängen lassen, weil ich Huckepack ge tragen worden bin.« »Aber wegen deiner malerischen Haltung«, feixte Hal. »Du sahst aus wie ein Hammel, der Trocken schwimmübungen machen will.« »Blöder Quatsch«, murmelte Jerry verächtlich. Zum Abschluß der Vormittagskämpfe kamen Schießübungen. Man stellte Scheiben auf und schleppte schwere Musketen herbei. Das waren alter tümliche Modelle, die ungefähr den Waffen entspra chen, die im siebzehnten Jahrhundert in Europa üb lich gewesen waren. Die Cibjas hatten die Haken büchsen der Landsknechte weiter entwickelt, aber lange nicht in dem Maße, wie es die Europäer getan hatten. Die Musketen waren immer noch außeror dentlich klobig und schwer. Von Zündnadelgeweh ren hatten die Cibjas keine Ahnung, von gezogenen Läufen und ähnlichen Dingen erst recht nicht. Sie luden immer noch von vorn und schossen mit einfa chen Bleikugeln. Hal stemmte mißvergnügt eine der Musketen an. »Damit können wir vielleicht Freiübungen ma chen, aber nicht schießen. Können wir nicht unsere Waffen bekommen, Sir?« Sun Koh sprach schon mit Picano darüber. Dieser wiegte bedenklich den Kopf und meinte: »Die Be 178
dingungen des Kampfes müssen die gleichen sein.« »Es steht euren Jünglingen frei, unsere Waffen zu benutzen«, erwiderte Sun Koh entschieden. »Seit wann ist es Sitte, daß der Herausgeforderte unter fremden Bedingungen kämpfen muß.« »Eure Waffen sind besser.« »Gewiß, das ist unser Vorteil. Aber eure Jünglinge sind auch von früher Jugend an für diese Kämpfe ausgebildet worden, sie haben sich an das Klima ge wöhnt und was noch alles, aber wir haben uns trotz dem nicht beklagt.« »Du hast recht«, gab Picano zu. »Ich werde eure Waffen bringen lassen, damit ihr mit ihnen kämpfen könnt.« Es dauerte eine ganze Weile, bevor die vier ihre vertrauten Pistolen und Gewehre wieder in den Hän den hielten. Sie waren tadellos in Ordnung, die Cib jas hatten sie anscheinend sorgfältig aufbewahrt. Auch die Munition war unversehrt. Die Cibjas schossen nicht schlecht. Sie holten aus ihren ungefügen Büchsen das heraus, was herauszu holen war. Einzelne Schüsse gingen sogar ins Schwarze, die meisten in die Zentrumsringe. Aber im Vergleich zu dem, was Sun Koh und seine Begleiter zeigten, fielen sie vollkommen ab. Selbst Jerry, der von den vieren am schlechtesten schoß, war turm hoch überlegen. Das heißt nicht etwa, daß Jerry schlecht schoß. Er 179
jagte eine Kugel nach der anderen ins Schwarze hin ein und hatte keinen einzigen Fehlschuß. Nur mit der Pistole war er nicht so gewandt und so sicher wie die anderen. Aber die Pistolen blieben ja bei diesem Wettkampf eigentlich aus dem Spiel. Wenn Sun Koh im An schluß an die eigentlichen Kämpfe noch mit ihnen schießen ließ, so um den Cibjas eindrucksvoll die Schießkunst zu beweisen. Sie feuerten jeder ein paar Schüsse in die Scheiben hinein, dann schossen sie ohne Jerry ein paarmal nach hochgeworfenen Steinen, und schließlich stellte sich Hal vor eine der großen Scheiben, und Sun Koh schoß die Umrisse seines Körpers aus. Die Cibjas waren bald andächtig still, bald tobten sie vor Begeisterung. Rückhaltlos anerkannten sie die Leistung der Fremden. Damit war die erste Hälfte der Wettkämpfe been det. Am Nachmittag wurden sie fortgesetzt, als die größte Hitze vorüber war und der kühle Wind über das Stadion strich. Diesmal waren vor allem die waf fenlosen Kämpfe von Mann gegen Mann erwäh nenswert. Bei den Cibjas hatte sich ein eigener Kampfstil – ein Mittelding zwischen Ringen und Jiu-Jitsu – ent wickelt, wobei aber auch gewisse Schläge zulässig waren. Picano teilte Sun Koh mit, daß man ihn und 180
seine Freunde nicht darauf festlegen wolle, sondern daß jede Kampfweise erlaubt sei. Es käme einzig und allein darauf an, den Gegner kampfunfähig zu ma chen. Sun Koh lächelte, als er das hörte, und gab seinen Leuten entsprechende Anweisungen. Die Cibjas wa ren außerordentlich stark, zäh und schnell, aber sie konnten nicht boxen. Im Ringkampf hätten es Jerry und Hal schwer gehabt, aber nun mußte der Kampf auch für die beiden leicht werden. Er wurde leicht. Jerry, der wieder als erster antrat, ließ seinen Gegner gar nicht erst aufkommen. Als dieser ihn ansprang, punktete er ihm einen Schlag auf die Kinnspitze und legte seine ganze Kraft dahin ter. Der Cibja ruckte mit dem Kopf nach hinten und legte sich in den Sand. Die Zuschauer brauchten eine ganze Weile, bevor sie begriffen, daß dieser Kampf schon aus war. Dann sparten sie jedoch nicht mit ihrem Beifall. Aus diesem Beifall wurde ein betroffenes Schwei gen, als Hal Mervin seinen Gegner ganz ähnlich ab sackte. Er ließ ihn anlaufen, rannte ihm die Faust in die Magengrube und hieb dann mit Behagen nach, so daß der ungedeckte Cibja ein paar Minuten liegen blieb. Das wirkte um so stärker, als der schmächtige Hal dem muskelstarken großen Cibja von vornherein stark unterlegen sein mußte. Die Gegner Nimbas und Sun Kohs versuchten et 181
was vorsichtiger zu sein, aber das half ihnen nur we nig. Sie wurden mattgesetzt, bevor sie richtig ange fangen hatten. Die Zuschauer jubelten, aber man merkte doch, daß sie enttäuscht waren. »In euren Fäusten steckt eine große Kunst«, sagte Picano zu Sun Koh, »aber es ist schade, daß sich un sere Jünglinge nicht besser wehren konnten.« »Ihr müßtet eben ein halbes Dutzend gleichzeitig gegen einen von uns stellen«, erwiderte Sun Koh, »dann dauert’s vielleicht etwas länger.« »Sprichst du im Ernst?« fragte Picano hoffnungs voll. »Warum nicht?« Picano, der wohl für dieses ganze Schauspiel mehr oder weniger verantwortlich war und für die Unter haltung der Zehntausend bedacht sein mußte, lief schleunigst davon. Er brachte einen ganzen Trupp frischer Kämpfer mit, als er zurückkehrte. Sun Koh nickte Nimba zu. »Jetzt wirst du dich wieder einmal austoben kön nen. Dort sind fünf Mann, traust du dich, es mit ih nen aufzunehmen?« »Oh!« Nimba strahlte. »Das wäre eine Gelegen heit, Sir. Sie dürfen aber nicht mitmachen, sonst nehmen Sie mir die besten Leute weg.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Sun Koh. Picano war sehr erstaunt, als ihm Sun Koh vor 182
schlug, er solle die fünf Jünglinge gleichzeitig gegen Nimba kämpfen lassen, aber selbstverständlich hatte er nichts zu erwidern. Nimba war außer sich vor Vergnügen, als die fünf gegen ihn anliefen. Er freute sich, daß er sich wieder einmal ausarbeiten durfte. Es war ein großartiger Boxkampf. Nimba war her vorragend in seiner Beinarbeit und prachtvoll in sei nen Schlägen. Wo seine mächtige Faust einmal auf knackte, da schied sie endgültig einen Gegner aus. Er hatte es einesteils leicht, weil die Jünglinge auch jetzt nicht an Deckung dachten, andernteils war der Kampf auch gar nicht so einfach. Er hatte immerhin fünf hervorragende Sportler gegen sich, die sehr stark und außerordentlich gewandt waren. Sie warfen sich rücksichtslos gegen ihn an und hätten ihn sicher lich einfach in den Sand gerollt, wenn er nicht so vorsichtig gewesen wäre. Aber Nimba wich äußerst geschickt aus und sorgte dafür, daß seine Gegner sich genügend selbst behinderten, ohne ihm gefähr lich zu werden. Auch das gelang ihm nicht immer, aber dann kam ihm die überlegene Schwere seines muskelbepackten Körpers zustatten. Er fing den stärksten Anprall auf, ohne sich groß erschüttern zu lassen. Als der fünfte Mann seinen linken Schwinger er hielt und ein paar Meter seitwärts taumelte, raste ein Orkan des Beifalls hoch. 183
»Herrlich! Hervorragend!« pries Picano in allen Tönen. »Könnt ihr alle so gewaltig kämpfen?« »Selbstverständlich«, sagte Sun Koh lächelnd. Picano atmete tief. »Wir werden stolz sein, euch bei uns aufnehmen zu dürfen. Doch sage, kämpft ihr nicht auch ohne diese furchtbaren Schläge, bei denen unsere Jünglin ge gar keine Zeit finden, sich anzustrengen?« »Doch«, sagte Sun Koh. »Wenn es dir Spaß macht, kannst du noch einen Mann gegen mich stel len, damit wir einmal ohne Schläge gegeneinander kämpfen.« Picano ließ sich das nicht zweimal sagen. Er brachte einen neuen Mann ins Treffen. Sun Koh ließ diesen Mann sich ruhig ein bißchen anstrengen. Er stand einfach ruhig da und lächelte. Dann hob er ihn hoch und warf ihn zu Nimba hin. Nimba gab ihn zurück. Sun Koh schickte ihn zum zweitenmal auf die Reise, erhielt ihn zurück. Dann packte er ihn im Genick, riß ihn los und drückte ihn langsam in den Sand hinunter. Jetzt gab der Cibja auf. Er sprang hoch, als ihn Sun Koh losließ, verbeugte sich und sagte respekt voll: »Ich bin besiegt. Es war vermessen von mir, gegen dich zu kämpfen. Du bist stärker als zwanzig Cibjas zusammen.« Da es nur noch wenige Minuten bis Sonnenunter gang waren, mußten die Kämpfe beendet werden. 184
Unter andauerndem jubelndem Beifall der Zu schauer verließen sie die Kampf statte. * Vierundzwanzig Stunden später. Sun Koh und seine Begleiter marschierten zum Forum – zum Richtplatz. Sie waren ungebunden, aber von einem so dichten Gürtel von aufmerksamen, bewaffneten Kriegern umgeben, daß sie zunächst nicht an ihren letzten Versuch denken konnten. Man hatte ihnen angeboten, Cibjas zu werden, aber Sun Koh hatte abgelehnt. Dafür drohte ihnen jetzt der Tod. Sie wollten kämpfen und hatten sich einen Plan ausgedacht, aber es war fraglich, ob er sich durchführen ließ. Die steinernen Sitzbänke des Forums waren dicht besetzt, fast dichter noch als bei dem Sportkampf. Es herrschte heute jedoch tiefstes Schweigen. Als sie sich innerhalb des weiten Runds befanden, wurde die Lage hoffnungsvoller. Der Haupttrupp der Krieger trat seitlich zurück, die Gefangenen blieben in der Obhut einer kleinen Schar. Der König trat in Begleitung Picanos heran. »Der Tod wartet auf euch«, sagte er ernst. »Ich bitte dich und deine Freunde noch einmal, eure Ent scheidung zu ändern.« »Nein«, lehnte Sun Koh kurz ab und ließ dabei 185
seine Augen unauffällig prüfend herumgehen. In ih rem Rücken lag einer der Zugänge zum Stadion. Er war unbewacht. Wenn man direkt darauf zulief … Freilich, die Cibjas waren sehr schnell und würden Jerry wie Hal bald eingeholt haben. Man mußte die sen beiden also zunächst den Rücken decken, die Verfolger aufhalten, bis sie einigen Vorsprung hat ten. Dann konnte man immer noch den Cibjas davon laufen. Waffenlos waren sie schlecht aufzuhalten. Aber es würde kein Kunststück sein, dem ersten das Schwert aus der Hand zu reißen und damit zu kämpfen. Die Kugeln waren wohl nicht sehr zu fürchten, denn die Cibjas würden in dem entstehenden Getümmel kaum zum Schießen kommen. Sun Kohs Plan stand in rohen Umrissen fest. Er beachtete kaum, wie sich die beiden Cibjas mit ver schlossenen, düsteren Mienen vor ihm verneigten und davongingen. Flüsternd verständigte er seine Begleiter. Diese nickten. Aus der Gruppe der Krieger trat der Anführer her aus und kam auf sie zu, wahrscheinlich um sie an den richtigen Platz zu stellen. »Dort kommt mein Schwert«, sagte Sun Koh. »Achtung, sobald er heran ist, lauft ihr zu dritt los.« »Jawohl, Sir«, antwortete Hal. »Junge, Junge, jetzt 186
heißt es aber die Beine in die Hand nehmen, sonst…« Er sprach seinen Satz nicht aus. Sun Koh vollendete seine Bewegung, die er bereits angesetzt hatte, nicht mehr. Der Cibja kam nicht weiter heran. Wie ein Nebel glitt es plötzlich über die Gehirne der vier, über die Gehirne der Krieger und der Tau senden von Cibjas im weiten Oval. In einer einzigen Sekunde brachen sie alle zu sammen, fielen zur Erde oder rutschten auf den Steinbänken seitlich gegeneinander. Hoch über dem Stadion wurde ein Punkt sichtbar. Er wuchs zusehends und formte sich blitzschnell zu einem Flugzeug, das in die Tiefe stürzte. Zwischen Sun Koh und den Kriegern der Cibjas setzte es auf den Sand auf. Ein Mann sprang heraus, dessen bleiches, fast dreieckiges Gesicht mit den glühenden Augen und dem schwarzen Spitzbart etwas Satanisches an sich hatte. Ihm folgte ein untersetzter Japaner mit aus druckslosem, unbeweglichem Gesicht. Manuel Garcia lachte spöttisch, während er in die Runde blickte. »Mir scheint, wir sind gerade zurecht gekommen, um die Leutchen um ihr Eintrittsgeld zu bringen. Haben Sie die Maske?« »Hier ist sie.« 187
Garcia nahm den maskenähnlichen Gegenstand zu sich, beugte sich über Sun Koh und preßte ihn auf dessen Gesicht. »Besser als ein Riechfläschchen«, murmelte er da bei vergnügt. »Passen Sie auf, wie unser Freund wie der von den Toten aufersteht.« Nach einer halben Minute schlug Sun Koh die Augen auf. Erstaunt blickte er in das Gesicht, das sich über ihn beugte, dann richtete er sich auf, blickte umher, sprang auf und sagte schließlich: »Sie, Ma nuel Garcia? Wie kommen Sie hierher? Was ist ge schehen?« »Wie fühlen Sie sich? Ich flog zufällig hier vorbei und verlor mein Schlafpulver. Wenn ich nicht irre, hat die ganze Gegend davon geschluckt.« »Sie haben gewußt, daß wir uns hier aufhalten?« Garcia zwinkerte. »Gewußt ist gut. Wir haben uns die Augen blutig gesucht, als Sie nicht ankamen. Drei Fernseher sind total unbrauchbar dabei geworden. Endlich hatten wir Sie, gerade rechtzeitig genug, um Sie aus der Klemme herauszuholen. Aber nun will ich erst mal die anderen Freunde mit meinem Riechfläschchen traktieren.« »Sie haben Gas abgelassen?« »Natürlich, oder dachten Sie, die Leutchen wären von allein umgefallen?« Sun Koh packte ihn hart an der Schulter. 188
»Sie haben doch nicht etwa Giftgas abgelassen?« Garcia grinste. »Warum denn nicht? Diese hoffnungsvollen Brü der wollten Sie doch abmurksen?« »Sie sind ein verbrecherischer Narr«, fuhr Sun Koh ihn an. »Wie können Sie wegen uns drei ein paar tausend Menschen töten?« »Mancher König hat ein paar hunderttausend um seinetwillen töten lassen. Sie haben ein zu zartes Gewissen, Verehrtester. Aber trösten Sie sich, in ei ner Stunde sind sie alle wieder mobil.« Sun Koh atmete auf. »Sie haben sich noch immer nicht gebessert.« Hal wurde munter, starrte in Garcias Gesicht. »Ach du dicke Berta«, murmelte er, »nun bin ich doch in der Hölle gelandet.« »Liebenswürdige Schmeicheleien als Dank für wunderbare Lebensrettung«, beschwerte sich Garcia, während er Nimba wieder zum Bewußtsein zurück holte. Dieser schob die Maske schon energisch bei seite, ehe er noch die Augen aufgeschlagen hatte. Wahrscheinlich träumte er unangenehm. »Ein rabiater Bursche«, rief Garcia. »Der hatte sich wahrscheinlich vorgenommen, kräftig um sich zu schlagen, bevor er umfiel.« »Was? Was?« gurgelte Nimba, während er hoch kam. »Mach langsam«, beruhigte Hal. »Du störst sonst 189
den Schlaf der Cibjas. Jerry müssen Sie auch noch auf die Beine bringen.« Manuel Garcia bemühte sich auch noch um Jerry, der dann ebenfalls erwachte. Er war reichlich ver wirrt und erstaunt, aber Sun Koh beschränkte sich in seinen Erklärungen. »Dieser Herr, Manuel Garcia, ist ein Freund von uns. Er hat uns entdeckt und konnte gerade rechtzei tig eingreifen. Die Cibjas schlafen augenblicklich unter der Wirkung eines besonderen Gases.« »Dann können wir also fort?« Sun Koh nickte. »Ja, aber wir werden das Flugzeug benutzen.« »Was denn, wieso denn?« protestierte Manuel Gar cia. »Ich kann doch nicht die halbe Welt mitnehmen. Darauf bin ich nicht eingerichtet.« »Haben Sie sonst noch Begleiter?« fragte Sun Koh. »Das nicht, aber ich wollte mir doch auch ein paar von diesen Brüdern hier mitnehmen und sie meiner Sammlung einverleiben.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Sie haben Einfälle, Garcia. Wir fliegen also mit Ihnen.« »Ihr habt bloß Angst«, feixte Hal. »Daß ich in dein großes Maul hineinfalle«, sagte Garcia. »Das kann schon sein. Wie wär’s mit dem Einsteigen?« 190
»So eilig?« fragte Sun Koh. Garcia zuckte mit den Schultern. »Besser ist besser, schließlich schlafen die Leute hier nicht eine halbe Stunde, sondern bloß zehn Mi nuten. Sie denken wohl, ich will mich von den eiser nen Kerlen kitzeln lassen?« »Immerhin wundert es mich, daß Sie gar nicht so neugierig sind wie sonst.« Garcia kniff die Augen zusammen. »Warum soll ich neugierig sein?« Sun Koh wies in die Runde. »Diese Stadt ist schon einige Neugier wert.« Garcia machte eine wegwerfende Bewegung. »Die kenne ich doch schon lange. Als ich jung und hübsch war, habe ich mich nachts stundenlang hier herumgetrieben und habe mir alles in Ruhe angese hen.« »Sie kannten das Reich der Cibjas?« vergewisserte sich Sun Koh. »Natürlich.« Garcia feixte. Sun Koh blickte nachdenklich auf Jerry. »Für uns löst sich ja nun alles sehr einfach, aber – was wird aus Ihnen? Haben Sie immer noch die Ab sicht, hier zu bleiben?« Jerry wiegte den Kopf hin und her. »Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich gern hier geblieben. Aber ich denke, man wird es mir sehr krumm nehmen, wenn Sie auf einmal fort sind, und 191
ich stehe allein noch da. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll.« »Ich werde hoch einmal mit dem König spre chen.« Sun Koh winkte Garcia. »Bitte nehmen Sie die Maske mit, wir müssen noch einen dieser Leute zum Bewußtsein bringen.« Garcia folgte ihm, und Sun Koh sagte weiter: »Unser vierter Mann heißt Jerry Recife. Wir haben ihn im Urwald getroffen. Er ist uns eine wertvolle Hilfe gewesen. Er hat als einziger von uns die Ab sicht, sich gewissen Bedingungen dieses Volkes zu unterwerfen und für dauernd bei ihm zu bleiben. Ich glaube, das würde das Beste für ihn sein, deshalb will ich mit dem Führer dieses Volkes sprechen. Vielleicht findet sich unter den veränderten Umstän den ein gangbarer Weg.« »Sie sollten wohl auch hierbleiben?« »Ja.« »Kann ich mir denken, daß die Cibjas solche Fein schmecker sind.« Der König der Cibjas schlug die Augen sehr schnell auf, nachdem ihm einmal die Maske aufge setzt worden war. Es dauerte aber eine ganze Weile, bevor er die Lage einigermaßen begriffen hatte. Sun Koh half etwas nach. »Du siehst, daß uns plötzlich Hilfe zuteil gewor den ist. Deine Leute schlafen. Sie liegen am Boden 192
und sind nicht imstande, die Waffen zu heben, wäh rend wir uns frei bewegen. Bevor sie erwachen, wird uns der künstliche Vogel in die Luft tragen.« Der andere erhob sich schwerfällig. »Deine Freunde sind aus der Luft gekommen?« »Ja, ich sagte dir ja, daß es leicht ist, den Urwald zu überwinden, da man ihn in ein paar Stunden über fliegen kann.« Der König der Cibjas deutete auf Garcia, der ihn stillvergnügt musterte. »Woher wußte dieser, daß ihr hier seid?« »Er sah uns«, antwortete Sun Koh. »Außerdem hat er schon vor Jahren euer Reich kennengelernt, aber er hat euch keine Gelegenheit gegeben, ihn zu fangen.« »Du sprichst seltsam wie immer. Willst du dich nun rächen, bevor du uns verläßt? Und wirst du nun dafür Sorge tragen, daß die Fremden in großen Scha ren kommen, um unser Reich zu zerstören?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Keins von beiden. Ihr habt so gehandelt, wie es eure alten Gesetze verlangten. Das nehme ich euch nicht übel. Es ist auch nicht meine Absicht, die Welt auf eure Existenz aufmerksam zu machen. Aber ich wiederhole mein Angebot. Es ist um der Sicherheit eures Volkes notwendig, daß ihr euch auf kommende Gefahren vorbereitet. Ich bitte dich daher, alles noch einmal zu bedenken, was ich dir gestern bereits sag te.« 193
In den Augen des Königs lag tiefe Bewunderung. »Du machst mir abermals jenes Angebot, obgleich du ohnehin frei bist?« »Ja. Glaubtest du gestern, daß ich so sprach, um mein Leben zu retten?« »Ja«, gab der andere zu. »Dann bitte ich dich, meinen Vorschlag noch ein mal zu überlegen, nachdem du weißt, daß ich nicht um meines Lebens willen sprach. Aber nun zunächst etwas anderes. Du weißt, daß Jerry gern bei euch bleiben möchte. Er hat den Wunsch auch jetzt noch, fürchtet aber, daß ihr ihn nicht mehr aufnehmen wer det, nachdem wir uns eurer Gewalt entzogen haben.« Der König blickte nachdenklich vor sich hin. »Ich hatte den Kriegern, die euch töten sollten, Anweisungen gegeben, nicht auf ihn zu schießen. Er sollte leben und trotz eures Todes ein Cibja sein. Wenn ihr nun fort seid, so werden viele Fragen an mich kommen, und es wird mir nicht leicht fallen, den Cibjas alles zu erklären. Aber Jerry kann trotz dem bleiben. Er ist uns willkommen wie vorher.« »Ihr werdet ihm die gleichen Rechte gewähren wie jedem anderen deines Volkes?« »Ja.« »Ich danke dir. Jerry wird sich freuen, wenn er das hört, und sicher wird er deinem Volke sehr nützlich sein. Und nun bitte ich dich, mit zu den anderen zu kommen, denn wir wollen uns verabschieden, bevor 194
dein Volk erwacht.« »Willst du mir nicht erst Zeit geben, deine Vor schläge neu zu überlegen?« fragte er. Sun Koh lächelte. »Ich gebe dir Zeit. Du kannst mit Jerry darüber sprechen, falls du zu der Einsicht gekommen bist, daß es richtiger für dein Volk ist, meinen Ratschlä gen zu folgen. Er wird zukünftig mit mir in Verbin dung bleiben, wir werden durch die Luft hindurch miteinander sprechen, so daß ich jederzeit erfahren kann, was du beschlossen hast.« Dann wandte sich Sun Koh an Garcia. »Sie haben doch ein Kurzwellengerät bei sich?« »Gewiß.« »Dann lassen wir Ihnen eines hier.« Jerry freute sich, als er hörte, daß er bleiben durfte. Er freute sich noch mehr, als ihm Sun Koh das Sprechgerät aushändigte und ihm zeigte, wie man es benutzte. »Ich werde es als meinen kostbarsten Schatz hü ten«, versprach er. »Offengestanden ist es mir ganz lieb, daß ich wenigstens nicht ganz von der Welt ab geschnitten bin, sondern so noch etwas Verbindung behalte. Man weiß nie, was noch kommen wird.« »Es ist leicht möglich«, erwiderte Sun Koh, »daß in absehbarer Zeit noch Zuzug von außen kommt. Früher oder später werden sich die Cibjas entschei den, ihr Volk den Kampfbedingungen der Außenwelt 195
anzupassen. Dann werden Sie als Mittler dienen müssen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Glück.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Jerry zog ein komisches Gesicht dabei. Man merkte ihm an, daß ihm die Trennung nicht leicht fiel. Hal rettete mit sicherem Instinkt die Stimmung. »Na, weine nur nicht, Großer«, sagte er tröstend. »Im Notfall schicken wir dir ein Flugzeug und holen dich ab.« Nimba verabschiedete sich ebenfalls und brachte seine guten Wünsche für die Zukunft an, dann reich te Manuel Garcia als letzter dem Zurückbleibenden die Hand. »Viel Spaß, verehrter Freund«, sagte er und schritt auf das Flugzeug zu. »Aber wir schicken dir das Flugzeug nur im Not fall«, rief Hal, während er zur Maschine ging, »nicht etwa, wenn du von deiner Frau oder von deiner Schwiegermutter eine Gardinenpredigt bekommst.« »Kommt gar nicht in Frage«, antwortete Jerry la chend, dem etwas freier geworden war. »Na, sage das nicht«, meinte Hal bedenklich. »Wenn du meine Erfahrungen hättest, würdest du über den Punkt anders denken.« »Großschnauze!« »Letztes zärtliches Kosewort bei einer Trennung für ewig. Du hast einen Geschmack im Leibe! Da geht doch die ganze Poesie zum Teufel.« 196
Wenige Minuten später erhob sich die Maschine mit den Männern in die Luft. Der schweigsame Ja paner, der sich während der ganzen Zeit kaum be wegt hatte, saß am Steuer. Das weite Rund schlief noch immer. Nur hier und dort kamen die ersten unsicheren Lebensäußerungen. Die Erde fiel zurück. Auf dem freien Platz zwischen den schlafenden Kriegern blieben die zwei Männer allein nebenein ander – der König der Cibjas und Jerry, der Serin gueiro und Abenteurer. Klein und zierlich wurden ihre Figuren. Das ge waltige Forum verwandelte sich in ein Stück Spiel zeug, das Reich der Cibjas wurde übersehbar, dann tauchte unendlich wie ein dunkelgrünes Meer der Urwald auf. Erleben wandelte sich zur Erinnerung, Wirklich keit wieder zur Sage, die scheu durch die wuchernde Hölle geistert. ENDE
Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite. 197
Als SUN KOH-Taschenbuch Band 10 erscheint:
Freder van Holk
4000 Meter
unterm Meeresspiegel
Ein Tauchboot geht mit Mann und Maus auf ho her See verloren, liegt aber wenige Tage später an der Küste. Harry Shurman hat eine Spur ge legt, und es nützt ihm nichts mehr, sich in die Tiefen des Meeres zurückzuziehen. Merry Owen findet ihn auf der Suche nach ihrem Bruder, und Sun Koh findet ihn, obwohl er nur ein Stück Land an der Küste kaufen wollte. Und dann fällt die Tauchkugel in die schwarzen Tiefen des Meeres hinein, bis die unterseeische Wand über ihr zu sammenbricht und sie festklemmt. Es geht um Leben und Tod, und im Kampf um die Zeit und den letzten Atemzug retten nur mehr die kühlen Nerven Sun Kohs und ein Stück Zucker. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.