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Träume - Botschaften einer unvertrauten Welt? Traumen gehört zu unserem Dasein wie Essen, Trinken oder Atmen Das haben wir schon als Kinder erfahren Manche Traume machten uns so viel Angst, daß wir deswegen aufwachten und uns danach sogar vor dem Widereinschlafen fürchteten Manchmal wollten wir morgens spontan etwas von unseren Traumen erzählen und uns gemeinsam mit der Familie oder anderen Kindern über das Geträumte wundern oder amüsieren Oft überfallt uns noch als Erwachsene ein Lachen darüber, wie »sonderbar« wir träumen können Es ist uns dann, als hatten Traume mit der Kinderwelt zu tun / in der alles anschaulich, offen und erlebnisreich zu sein scheint
Träume entstammen einer anderen Bewusstseinsebene Es ist bemerkenswert, daß wir Tag für Tag drei unterschiedliche Bewusst-Seinszustande (mit jeweils verschiedenen Unterstadien) durchlaufen unser Tag Bewusstsein, Phasen des Tiefschlafs (mit erhöhter Weckschwelle), an die wir keine Erinnerung haben, sowie allnächtlich etwa vier bis fünf Abschnitte, in denen wir träumen Aber die meisten von uns können sich an dieses Zehntel ihres Lebens, etwa 90 bis l 20 Minuten pro Nacht, nicht oder nur bruchstückhaft erinnern Prinzipiell jedoch ist es möglich, sich Traume zu vergegenwärtigen Wir leben in unseren Traumen zwar in anderen Bewusstseinszuständen als in unserem Wach Bewusstsein Aber dennoch gibt es offenbar Beziehungen zwischen diesen Ebenen Allerdings sind diese Beziehungen sehr vielschichtig Wer von uns kennt es nicht, daß ihm nach dem Aufwachen ein besonders lebhafter Traum so »nachgehangen« hatte, daß er kaum in die Alltagswelt finden konnte? Andere Traume dagegen scheinen uns am Morgen so widersinnig, daß sich alles in uns sträubt, uns mit ihnen zu beschäftigen Wir sollten uns darum bemühen, uns allen Traumen, an die wir uns erinnern können, mit gleicher Aufmerksamkeit zuzuwenden
Scanner: Yakuzza Titel: Träumen URL: http://kickme.to/yakuzza Datum: 12.08.2001
Kurze Geschichte des Umgangs mit Träumen Träume entstammen göttlicher Eingebung Daß man sich schon seit Jahrtausenden im religiösen Kult, in der Meditation und im Hören auf seine Traume mit besonderen Bewusstseinszuständen außerhalb der Alltagswirklichkeit beschäftigt hat, hing ursprünglich mit der Überzeugung zusammen, auf diese Weise göttliche Botschaften vernehmen zu können Auch davon berichtet die Bibel im Buch Hiob »Im Traum, im Nachtgesicht, wenn tiefer Schlaf auf die Menschen fallt, im Schlummer auf dem Lager, da öffnet Gott der Menschen Ohr und schreckt sie auf durch Warnung, um von seinem Tun den Menschen abzubringen« (Hiob33 , 15-16) Zugleich warnt die Bibel vor Kritiklosigkeit falschen Propheten und Traumsehern gegenüber, die ihre Macht mißbrauchen Aber nicht nur um göttliche Botschaften ging es in den Traumen So findet sich zum Beispiel in der griechisch-römischen Antike die Überzeugung, daß auch Heilung von Krankheiten durch die Eingebung von Traumen möglich sei Im Tempelschlaf, der »Inkubation«, den man an bestimmten Orten, zum Beispiel Epidauros in Griechenland, nach einer Vorbereitungszeit des Fastens und der Reinigung in einem heiligen Raum auf einem besonderen Bett, der »Kline«, vollzog, kam es zur Heilung von allen möglichen Leiden (2) Daß diese Maßnahmen häufig erfolgreich waren, wird durch schriftliche Dokumente zweifelsfrei bestätigt Unser Wort Klinik leitet sich ab von jener alten Kline Der Mensch ist Ursprung seiner Träume Obwohl der antike Tempelschlaf weit verbreitet war/ hat sich die Auffassung von der Quelle der Traume bereits beim Philosophen Aristoteles (384 bis 322 v C h r ) gewandelt Er sah ihren Ursprung nicht mehr außerhalb des Menschen Sie entstammten, wie er sagte, nicht göttlicher Offenbarung, sondern folgten den Gesetzen des menschlichen Geistes Da er aber diesen Geist als der göttlichen Natur verwandt auffasste, bewahrte er trotz seiner neuen Sichtweise jene innere Haltung, die auch heute noch jede Beschäftigung mit unseren Traumen leiten sollte
Erste Spielregel Zwar geht es beim Verstehen der Traume um Einsicht, aber unter den Vorzeichen von Sympathie, Staunen und der Bereitschaft, die Alltagssicht zu bereichern, nicht jedoch mit dem Willen zum Umdeuten der Wirklichkeit oder zur Entlarvung Auch nach dem Ende der Antike hat man den Traumen oftmals religiöse Bedeutung zugesprochen, zuletzt in der Romantik Dann verschwand m der Neuzeit die Vorstellung von einem religiösen Sinn der Traume immer mehr In verwandelter Form lebt ein Aspekt davon allerdings bis heute weiter, vor allem bei dem Schweizer Psychiater C G Jung und seinen Nachfolgern Sie gehen davon aus, daß sich in den Traumen ein überpersonlicher Sinn äußere, und zwar m Form allgemein menschlicher Bilder und Symbole (-> Seite 70) »Es träumte mir« Selbst wem dies spekulativ vorkommt, wird sein eigenes Erleben eher m dem Satz »Es träumte mir« wieder finden als m einem »Ich träumte heute Nacht« Daraus folgt nicht etwa, daß unsere Traume letztlich nicht aus uns selbst stammen, wohl aber, daß wir zwei Fehler bei der Traumauslegung vermeiden müssen Zweite Spielregel Wir verkennen unsere Traume, wenn wir sie bloß als Ausdruck einer abstrakten Instanz m uns sehen (das Ich, das Unbewusste] und vergessen, daß wir selbst die Träumer sind Dritte Spielregel Wir sollten realisieren, daß Traumen weniger ein aktives Tun als vielmehr ein Widerfahrnis ist »Der Irre ist ein wacher Schläfer« Die Frage, welche Rolle das Ich beziehungsweise das Denken im Traum spielt, wurde etwa von der zweiten Hälfte des l 8 Jahrhunderts an zu nehmend beachtet und m erster Linie im Sinne eines Abbaus unseres be-
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wußten Denkens beantwortet Der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis l 804) druckte das m dem Satz aus »Der Irre ist ein wacher Schlafer« Dieser Gedanke wurde seit l 900 durch Sigmund Freuds Traumdeutung m entscheidender Form fortgeführt und ausgearbeitet (—> Seite 38) Auch Freud verstand die Traumgedanken, gemessen am Wachbewusstsein, als mangelhaft Zugleich aber stellte er die bisherige Auffassung gleichsam auf den Kopf Er betonte, daß nicht der Schlaf den Traum erzeuge, sondern daß der Traum den Schlaf schütze Das Studium dieses Schutzes ermögliche einen neuen Zugang zum eigenen Wesen und ein vertieftes Verständnis unbewusster Absichten und Wunsche Vernunft gegen Eingebung? Alle weitere Traumforschung gründet auf Freuds Werk - sei es, daß man es weiterführte oder sei es, daß man sich leidenschaftlich von ihm abzugrenzen suchte Seme Anhänger setzen es bis heute mit Vernunft und Aufklarung gleich, seine Gegner dagegen mit Künstlichkeit und Blutleere Die letzteren sehen sich selbst am liebsten als Hüter von Ganzheitlichkeit und Intuition (dem mehr oder weniger deutlich ahnenden Erfassen von Zusammenhangen), ihre wissenschaftlichen Widersacher wiederum werfen ihnen verschwommenes und spekulatives Denken vor Vierte Spielregel Traume verstehen zu wollen, ohne die eigene Intuition sprechen zu lassen, ist tatsachlich blutleer und künstlich, aber jede Intuition muß rational begründet und verantwortet werden, soll sie nicht zum Geschwafel verkommen Wir halten derartige Polarisierungen für falsch Intuition ist zwar vielleicht mehr als Rationalität (eine Geisteshaltung, die nur das logisch Beweisbare und mit dem Verstand Erklärbare gelten läßt), macht diese aber nicht überflüssig, sondern hebt sie m sich auf, so wie ein Würfel ein Quadrat nicht vernichtet, sondern m sich schließt Auf der anderen Seite muß man akzeptieren, daß auch die einleuchtendste oder faszinierendste Intuition lediglich eine Denkmoglichkeit, niemals aber fraglose Gewißheit sein kann
Wer sich mit dieser ausgewogenen Haltung seinen Traumen nähert, steht auch nicht im Widerspruch zur Aufklarung, jedenfalls dann nicht, wenn man diese im Sinne Kants als den Aufbruch des Menschen aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit versteht Die experimentelle Schlaf- und Traumforschung Ein neues Verständnis des Traumproblems tat sich seit etwa den fünfziger Jahren durch die experimentelle Schlaf- und Traumforschung auf Spezialisten bestimmten im Schlaflabor die Hirnstrome (das Elektroenzephalogramm) und andere physiologische Daten (-> Seite 51) Dabei zeigte sich, daß eine ausschließlich »geistlose«, auf die Biologie beschrankte Betrachtung der Traume ebenso unhaltbar ist wie eine nur »hirnlose« Beschrankung auf seelische Vorgange Stattdessen drangt sich die Annahme einer Wechselwirkung zwischen Geist (beziehungsweise Ich) und Gehirn auf Dennoch sind viele Streitfragen, vor allem solche, die mit der scheinbaren Unverständigkeit der meisten Traume zusammenhangen, immer noch ungeklärt Gegner und Befürworter der Traumdeutung Die meisten von uns vermuten, daß sich hinter vielen Traumen, die sich uns zunächst nicht erschließen, ein Sinn versteckt Aber geht diese Vermutung nicht ms Leere? Und wie gewinnt man einen Zugang zu solchen Traumen? Der Streit über diese Fragen dauert seit Urzeiten an und hat bis heute zu keiner Einigung geführt Zwei Stichworte kennzeichnen die beiden gegensätzlichen Positionen Wahrend wir im Talmud lesen »Traume, die nicht gedeutet werden, sind wie Briefe, die nicht geöffnet wurden« (3), klingt zugleich der Satz m unseren Ohren »Traume sind Schaume« Beide Ansichten fußen auf demselben Sachverhalt der Unverständigkeit der meisten Traume - jedenfalls auf den ersten Blick Am Umgang mit dieser Unverständigkeit scheiden sich allerdings die Geister, wobei beide Seiten meist nicht zur Kenntnis nehmen, daß auch die jeweilige Gegenseite vielfach ernsthafte Argumente vorbringt
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• Gegner der Traumdeutung sehen m der Beschäftigung mit Traumen vielfach eine unnutze, a sogar gefährliche Flucht aus der Wirklichkeit Zwar könne es sein, daß sich m Traumen alle möglichen Andeutungen und Anspielungen fanden Diese seien aber ohne Wert, denn der Traum sei ein Gefangener des Schlafes und spiele sich auf einer regressiven Ebene ab, auf der Ebene urtümlicher, um nicht zu sagen primitiver Bewußtseinszustände also • Befürworter der Traumdeutung räumen zwar ein, daß die meisten Traume auf urtümlichen Bewußtseinsebenen ablaufen Daher lasse sich jeder, der sich mit seinen Traumen beschäftigt, auf diese Bereiche ein Es komme aber darauf an, dies kontrolliert und gezielt zu tun Versöhnung beider Standpunkte Wir teilen die Ansicht der Befürworter der Traumdeutung, meinen aber, daß wir die Argumente der Kritiker nicht einfach abtun dürfen Zweifellos sollten wir unsere Bemühungen um eine Bewältigung der äußeren Realität nicht durch ein Grübeln über innere Prozesse ersetzen Unbestreitbar ist auch, daß der Abbau von Bewußtheit m unseren Traumen mehr bedeutet als einen bloßen Verlust an Wachheit Denn die Erfahrungen, die wir im Traum von der Außenwelt und auch von uns selbst haben, sind weniger einheitlich und zuverlässig als im Wachzustand Auch beschäftigen wir uns m den meisten Traumen weniger mit Dingen, die uns vorwiegend tagsüber bewegen Eher gehen Traume ihre eigenen Wege und drehen sich hauptsächlich um Erlebnisse, die für uns eine Bedeutung hatten, ohne daß wir es so recht wußten Dennoch sind diese Erlebnisse der Aufmerksamkeit wert Gerade das macht Traume für uns so wichtig, daß ihre zahlreichen Anspielungen uns Zusammenhange eröffnen, die wir im Alltag nicht beachtet haben Fünfte Spielregel Es ist zwar falsch, m alle Traume um jeden Preis einen geheimnisvollen Hintersinn hineinlegen zu wollen Ebenso falsch ist aber auch das andere Extrem, nämlich Traume bloß als irrational und - verglichen mit dem Wach bewußtsein - als minderwertig abzutun
Der rechte Umgang mit Träumen
Sechste Spielregel Stattdessen sollten wir m Traumen einen ergänzenden Einblick m sonst kaum zugängliche Hintergrunde unserer Sichtweisen und Motive, /o unserer gesamten Existenz suchen - über das hinaus, aber niemals gegen das, was unser Denken, unsere Lebenserfahrung und unser Realitätsinnn uns eröffnen Wir sollen uns weder auf eine eingeschränkte Sachlichkeit verlegen, noch einer versponnenen Grübelei Raum geben, sondern mit Hilfe unserer Traume eine innere Haltung entwickeln, bei der Intuition und Denken, Spontaneität und Erfahrung gleichermaßen ms Spiel kommen Diese Haltung fuhrt nicht von den Menschen weg, sondern letztlich zu ihnen hm
Träume alleine deuten Vielleicht denken Sie jetzt Es ist |a sehr interessant, daß man sich über die Beschäftigung mit den eigenen Traumen besser kennen lernen kann, selbst wenn es dabei theoretisch noch manches offene Problem gibt Aber ist es denn überhaupt möglich und sinnvoll, daß man allem, also ohne einen Psychotherapeuten, seine Traume zu verstehen sucht? Traume selbst zu deuten ist nur bis zu einem gewissen Grade möglich Wir teilen zwar die Ansicht von C G Jung, daß ein intelligenter Mensch mit psychologischem Interesse, Lebenserfahrung und Übung viele semer Traume selbst deuten kann (4), vor allem m dem Sinne, daß er gespurig wird für die Bewußtseinslage, die sich m dem Traum ausdruckt Auch jede therapeutische Traum Interpretation ist m erster Linie ein Stuck Selbstanalyse m Gegenwart eines teilnehmenden Analytikers Eine solche Selbstanalyse findet aber ihre Grenzen in tiefliegenden Konflikten, die von unserem Ich abgewehrt werden Siebte Spielregel Eine ernst gemeinte Selbstanalyse darf niemals mit dem Anspruch unternommen werden, sich wie Munchhausen aus dem Sumpf der eigenen Probleme ziehen zu können Das richtige »Maß« der Selbstanalyse Es gibt ernstzunehmende Gegner jeder Selbstanalyse Vieles, was sie sagen, ist bedenkenswert Bei Goethe zum Beispiel lesen wir »Hierbei bekenn' ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer mnern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur m sich und sich nur m ihr gewahr wird « (5) Diese Aussage Goethes kann uns helfen, das Auslegen von Traumen mit der rechten Haltung anzugehen
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Achte Spielregel: Jede Beschäftigung mit dem eigenen Inneren, sei es über den Weg des Traumes oder anderswie, muß wieder zu den Mitmenschen zurückführen. Goethe warnt auch mit Recht vor einem falschen Pathos bei dem Versuch, sich selbst zu erkennen. Wenn Sie mit Träumen umgehen, sollten Sie sich mit einer Haltung begnügen, die Erich Fromm »to feel around« genannt hat. Neunte Spielregel: Die rechte Haltung beim Umgang mit Träumen: Einsicht durch ein Erfühlen, Ertasten und Erspüren des eigenen Zustands.
Über das Auslegen der Träume anderer Auf jeden Fall müssen wir uns davor hüten, die Träume unseres Nächsten, die er uns anvertraut hat, ungefragt zu deuten. Seine Träume mit ihm gemeinsam aufzuhellen, indem wir sie anteilnehmend anhören, kann hingegen eine große Nähe zu ihm herstellen. Zehnte Spielregel: Ungebetene Deutung von Träumen ist zwar heute in Mode gekommen. Dennoch handelt es sich dabei um einen taktlosen Eingriff in die Intimsphäre des Nächsten, auch wenn dieser sich aus Unwissenheit nicht dagegen verwahrt.
Begegnung mit sich selbst Dieses Vorgehen führt im Endergebnis zu einer Selbstbegegnung, die sich zum Beispiel so ausdrücken könnte: • So also habe ich im Traum gedacht, gefühlt, gewollt, mir vor Augen gestellt, gehandelt oder gerade nicht gehandelt. So also bin ich im Traum mit meinen Mitmenschen umgegangen. • Wie merkwürdig, daß ich Probleme, die mich tagsüber so in Trab halten, im Traum gar nicht aufgreife. Ist mir vielleicht manches daran letztlich doch nicht so wichtig, wie ich mir gerne einrede? Oder habe ich es im Traum in einer für mich nicht vertrauten Weise aufgegriffen? Finde ich es dort vielleicht an irgend einer versteckten Stelle? • Wie sehe ich mich in Wirklichkeit und wie im Traum? Wie sehr klaffen die Tagwirklichkeit und das, was ich nachts träume, bei mir auseinander? So bin ich also offensichtlich auch! Gerade dieses »auch« bewahrt uns vor dem Fehler, Träume wörtlich zu nehmen, wovor wir manchmal Angst haben - wenn wir etwa geträumt haben, wir hätten einen Inzest oder einen Mord begangen. Auch solche Träume lassen sich nur aus dem Lebenszusammenhang des Träumers begreifen. So könnte zum Beispiel ein Mord bedeuten: Ich fühle mich hilflos, mit dem Betreffenden anders umzugehen als dadurch, daß ich ihn mit letzter Konsequenz ausschalte.
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Ebenso falsch ist, aus Träumen unserer Mitmenschen - in der Annahme, daß wir die Träume verstehen - Ratschläge abzuleiten. Am Wort »Ratschlag« ist in bezug auf Träume nur eines wichtig: die Silbe »Schlag«. Immer wird dabei ein Stück Wirklichkeit und ein Teil einer Beziehung erschlagen. Die Grenzen jeder Selbstanalyse Nach dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß wir durch den Einblick in unsere Träume keine Psychotherapie im »do it yourself-Verfahren« erwarten können und stets die Grenzen jeder Selbstanalyse vor Augen haben sollten. Andererseits ist es wichtig, sich klarzumachen, daß wir Menschen gar nicht existieren könnten, wenn wir uns nicht immer wieder selbst »mit neuen Augen« betrachten, uns nicht immer wieder in Frage stellen würden, und wenn wir nicht eine bestimmte Meinung von uns hätten. Niemand kann sich dieser Aufgabe entziehen - er kann dabei allerdings an eine Grenze stoßen oder sich »verrennen«.
»Lernen wir träumen« Bevor wir versuchen, einen Zugang zu scheinbar unverständlichen Träumen zu gewinnen, möchten wir Sie auf einen weiteren Effekt unserer Träume hinweisen: Sie arbeiten für uns gleichsam Nacht für Nacht und helfen uns, unsere Probleme zu lösen, auch wenn wir sie nicht deuten. Fast jeder von uns hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, als er dem bekannten Rat folgte, vor einer schwerwiegenden Entscheidung die Sache erst einmal eine Nacht zu überschlafen. Am nächsten Morgen hat sich vieles davon entschieden oder wie von selbst erledigt. Ein geübter Träumer wird von dieser Methode systematisch Gebrauch machen, auch wenn er sich am nächsten Morgen nicht an einen Traum erinnern kann. Wie sehr sich diese Möglichkeit weiterentwickeln läßt, wollen wir an zwei scheinbar unterschiedlichen Beispielen deutlich machen. Der Traum des August Kekule Das erste Beispiel zeigt, daß unsere Träume uns mitunter geradezu geniale Lösungen anstehender Probleme geben können. Es stammt vom Entdecker des Benzolrings, August Kekule (l 829 bis l 896). Er beschrieb anschaulich, wie es zu dieser Entdeckung kam, die einen Markstein bei der Entwicklung der organischen Chemie bedeutete. Nachdem er sich eines Tages wieder angestrengt über die Anordnung der Atome im Benzol Gedanken gemacht hatte, versank er in Halbschlaf. Er berichtete: Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen. Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichter ähnlicher Art geschärft, unterschied jetzt größere Gebilde von mannigfacher Gestaltung, lange Reihen, vielfach dichter zusammengefügt; alles in Bewegung, schlangenartig sich windend und drohend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfaßte den eigenen Schwanz, und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich. (6) Beim 25jährigen Benzolring-Jubiläumsfest rief Kekule seinen Zuhörern zu: »Lernen wir träumen, dann finden wir vielleicht die Wahrheit!« (7)
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Unser Beispiel zeigt allerdings nicht nur die Bedeutung des Traumes, sondern auch, wie wenig es ausreicht, bloß zu hoffen, daß es »der Herr den Seinen im Schlafe« gibt, wenn nicht geistige Anstrengung dem Erkenntnisprozeß vorangeht und eine Deutung ihm nachfolgt. Elfte Spielregel: Wichtig ist, daß wir immer mehr mit der Sprache der Träume vertraut werden. Der Umgang mit Träumen bei den Senoi Ein anderes Beispiel wird von dem Anthropologen Kilton Stewart berichtet, der 1935 unter den Senoi lebte, einem Stamm im Dschungel des zentralen Hochlands von Malaysia. Die Senoi fielen durch außerordentliche Friedfertigkeit, vor allem aber durch das Fehlen von Gewaltverbrechen sowie durch ihre ungewöhnlich gute körperliche und seelische Verfassung auf. Stewart führte das auf den Umgang der Stammesmitglieder mit ihren Träumen zurück. Er berichtet (8): Jeden Morgen nach dem Erwachen diskutiert und analysiert die Familiengruppe gemeinsam die Träume der vorhergegangenen Nacht. Die Kinder werden über ihr Verhalten im Traum ebenso unterrichtet und belehrt wie über ihr Tun am Tag. Berichtet ein Senoijunge zum Beispiel, er sei im Traum hingefallen, dann antworten die Erwachsenen begeistert: »Das ist ein wunderbarer Traum, einer der besten Träume, die ein Mann haben kann. Wo bist Du hingefallen? Was hast Du dabei entdeckt? ... Wenn Du in einem Traum hinfällst, mußt Du Dich entspannen und es genießen ... Fallen ist der kürzeste Weg, um mit den Kräften der geistigen Welt in Berührung zu kommen ... Wenn Du wieder in einem Traum hinfällst, wirst Du Dich an das erinnern, was ich Dir jetzt gesagt habe ... Und Du wirst fühlen, daß Du dabei auf die Quelle der Kraft zugehst, die Deinen Sturz veranlaßt hat.« Angenehme Träume werden absichtlich und bewußt weitergeträumt, bis etwas Schönes oder Nützliches im Traum auftaucht, das der Gruppe zurückgebracht werden kann. Fliegt zum Beispiel jemand im Traum, dann fliegt er weiter, bis er Wesen trifft, von denen er einen Gesang oder eine Kunstfertigkeit lernen kann, die er seinem Volk übermittelt.
In sexuellen Träumen träumt der Träumer, bis er zu einem Orgasmus gekommen ist; dann bittet er seinen Liebhaber im Traum um einen Gesang. Er hat auch keine Angst, in seinen Träumen Liebesempfindungen auszudrücken, selbst wenn diese tagsüber verboten sein sollten, zum Beispiel dem Bruder oder der Schwester gegenüber. Solche Empfindungen beziehen sich nicht auf den wirklichen Bruder oder die wirkliche Schwester, es sind lediglich psychische Wesen, die in deren Verkleidung auftreten. Nach der Traumdiskussion innerhalb der Familie treffen sich die Senoi in der Ratsversammlung unter dem Vorsitz des Halak, des Schamanen. Dort werden die Träume aller Teilnehmer diskutiert und analysiert, dort werden auch die Gesänge und Tänze, die im Traum erfahren wurden, erklärt und aufgeführt. Natürlich sind wir weder Senoi, noch leben wir im Bewußtseinszustand von Schamanen. Aber wir können und sollen von ihnen einiges lernen, selbst wenn ihre Situation eine andere ist als die unsere. Zwölfte Spielregel; Wir können lernen, innerhalb einer Partnerschaft oder einer Gruppe gemeinsam liebevoll mit unseren Träumen umzugehen - nicht nach dem in unserer Leistungsgesellschaft so weit verbreiteten Motto: Wo irrst Du Dich und wie kann ich Dich widerlegen? Wie kann ich Dich am Ende gar übertrumpfen? Eine solche Haltung wird letztlich von Angst diktiert nach dem Motto: Ich bin der Größte, also kann mir nichts passieren. Die dahinterstehende Ichfunktion ist diejenige der Negation, der einseitigen Verneinung also. Leopold Szondi nannte sie schlichtweg »defektuös« (schadhaft), weil sie sich immer mehr verselbständigt, uns dabei einengt und uns zunehmend vom Strom des Lebens abdrängt. Dreizehnte Spielregel: Die gegenteilige, um Interesse und Verständnis und nicht um Widerlegung bemühte Haltung sollten Sie auch auf den Umgang mit den eigenen Träumen übertragen.
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Die subjektive Welt des Träumenden Betrachten wir die scheinbare Unverständlichkeit der Träume näher, dann stellen wir fest, daß unsere Träume nur im Lichte unseres Tagbewußtseins als unverständlich erscheinen. Während wir träumen, haben wir diesen Eindruck nicht. Im Traum leben wir in einer für uns ebenso selbstverständlichen Welt wie im Wachen. Auch die Beziehungen zu unserer Umgebung, zu unserem Tun und zu unseren Ideen sind uns so selbstverständlich, als seien wir wach. Diese Erfahrung verliert sich erst, nachdem wir aufgewacht sind, und wir begreifen nicht mehr, wie vertraut uns alles im Traum war. Eine schöne Geschichte des chinesischen Weisen Dschuang Dsi (etwa 400 Jahre v. Chr.) macht das anschaulich: »Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei« (9). Man hätte Dschuang Dsi eine Antwort geben können, die ihn vermutlich nicht zufrieden gestellt hätte. Sie stammt vom griechischen Philosophen Heraklit von Ephesos, der etwa l 00 Jahre vor Dschuang Dsi gelebt hat. Er stellte fest, daß die Wachenden eine gemeinsame Welt haben, während sich von den Schlafenden ein eder seiner eigenen zuwende (10). Wäh-"• rend wir träumen, merken wir das nicht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir uns im Traum in eine Privatweltzurückziehen würden. Im Gegenteil! Fast in jedem unserer Träume teilen wir unsere Welt mit anderen: Die Welt im Traum ist nicht privat, wohl aber subjektiv. Daß die Feststellung des Heraklit richtig ist, bestätigt unsere Umgangssprache recht genau. Wir sprechen vom Erwachen, sobald wir in die prinzipiell allen Menschen gemeinsame, eine Wirklichkeit eintreten - sie steht unter der Vorherrschaft einer verbindlichen Realitätsauffassung. Unter Erträumen dagegen verstehen wir etwas anderes, nämlich den Rückzug in eine subjektive Wirklichkeit (l l) - sie steht unter der Vorherrschaft der Phantasie.
Traum oder Wirklichkeit? Solange wir träumen, merken wir nicht, in welcher der beiden Welten wir uns befinden, denn es gibt im Traum kein verbindliches Kriterium, das uns zeigt, ob wir wach sind oder nicht. Vierzehnte Spielregel: Daraus läßt sich eine wichtige Konsequenz für das Verständnis unserer Träume ableiten: In unseren Träumen drücken sich nicht nur Wünsche und Ängste aus, sondern auch Ahnungen, Kreativität und Möglichkeiten. Insofern können unsere Träume auch im Dienst einer besseren Wirklichkeitsbewältigung stehen. Aber Möglichkeit ist nicht Wirklichkeit. Deshalb sind wir davon bedroht, in bloße Phantastereien abzugleiten, wenn wir bei dem Versuch, unsere Träume zu verstehen, nicht immer wieder unsere kritische Vernunft einschalten und die Meinung unserer Mitmenschen einbeziehen. Fünfzehnte Spielregel: Unsere Träume verstehen wir also dann, wenn wir sehen, daß sie Ausdruck sowohl der niedrigsten und irrealsten als auch der höchsten Seelentätigkeit sein können. Dies gilt im übrigen für alles, was aus dem eigenen Inneren kommt, also ebenso für unsere Phantasien, Tagträume, Intuitionen und Ahnungen. Der innere Dialog Das, was wir geträumt haben, müssen wir also immer wieder zu unserem Tagbewußtsein in Beziehung setzen und umgekehrt unser Alltagsdenken durch unsere Träume in Frage stellen lassen, um es so zu erweitern und zu vertiefen. Sechzehnte Spielregel: Unser Tagbewußtsein mit unseren Träumen in Beziehung zu setzen, geschieht vornehmlich dadurch, daß wir die Bilder der Träume möglichst in Fragen verwandeln, die wir uns stellen.
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Die beiden wichtigsten Fragen dabei lauten: Warum habe ich den Traum gerade jetzt geträumt, warum habe ich ihn gerade so geträumt? • Gerade jetzt und nicht schon vor acht Tagen oder vor zwei Jahren? Was ist also das Besondere gerade an meiner jetzigen Situation? • Gerade so: Warum habe ich als Regisseur meines Traumes gerade diese Menschen und gerade diese Umgebung ausgewählt? Warum gerade diese Lösung der Situation und keine andere? Wenn wir so vorgehen, lenken wir unsere Aufmerksamkeit wie von selbst auf den konkreten Ablauf der Ereignisse im Traum und auf ihre ursächlichen Beziehungen. Indem wir uns beide Seiten das Geschehen im Traum und unsere Stellungnahme dazu - abwechselnd vor Augen stellen, lernen wir immer besser, mit uns selbst ins Gespräch, in einen inneren Dialog zu kommen. So vertiefen wir sowohl unsere Sicht der Wirklichkeit als auch unsere Kreativität.
Der ganzheitliche Stil der Träume Träume sind keine abgeschlossenen Wesenheiten, sondern Ausdruck lebendiger Prozesse und Beziehungen. Etwas weiteres folgt aus dem Satz des Heraklit, daß die Wachenden eine gemeinsame Welt haben, während sich im Schlafe jeder gleichsam seiner eigenen Welt zuwende: Es führt in die Irre, im Traum eine abgeschlossene Wesenheit (»den« Traum) mit nur einer umschriebenen Bedeutung zu sehen. In Wirklichkeit sind Träume Ausdruck eines ständig fließenden Bewußtseinsstromes. Das bedeutet, daß es streng genommen falsch ist zu sagen, wir hätten heute Nacht einen Traum gehabt und an ihm bestimmte Äußerungen des Unbewußten, Komplexe, Archetypen (Urbilder) und wie all diese beeindruckenden Begriffe sonst noch heißen, festgestellt. In Wirklichkeit werden wir sagen müssen, daß wir Träumende sind mit ganz bestimmten Erlebnissen, Empfindungen, Gefühlen, Stimmungen und Arten des Tätigseins. Sie machen den ganzheitlichen Stil des jeweiligen Traumes aus. Einen Traum zu verstehen oder zu deuten hieße demnach, seinen Stil und die ihn kennzeichnende Atmosphäre in die Sprache unseres Alltagsbewußtseins zu übersetzen mit all den Beschränkungen, die für jede Übersetzung kennzeichnend sind.
Erschwerend kommt hinzu, daß unsere Träume innere Zustände und Vorgänge ausdrücken, während unsere Alltagssprache in erster Linie dazu geschaffen ist, sachliche Probleme zu lösen. Daher bewundern wir mit Recht auch so sehr unsere Dichter, die diese Grenzen unseres Alltags zu überschreiten vermögen (12). Ständig fließender Bewußtseinsstrom, Stil und Atmosphäre sind anschaulich vorgegebene Merkmale. Unser Alltagsbewußtsein neigt aber dazu, diese sinnliche Welt mit Abstraktionen »totzuschlagen« und sich mit einer Scheineinsicht durch Wörter und Begriffe zufrieden zu geben. Wir können zwar auf Begriffe oder Konstruktionen (das »Unbewußte«, »Archetypen«, Seite —> 45) nicht verzichten und werden sie immer wieder heranziehen. Aber es ist wichtig, in ihnen lediglich brauchbare Hilfsmitte zu sehen, nicht jedoch eigenständige »Wesenheiten«. Sorgfältige Wiedergabe von Träumen Die eigentliche Absicht bei unseren Überlegungen ist, Sie dazu einzuladen, sich so sorgfältig wie irgendwie möglich auf die Welt Ihrer Träume einzulassen und sie angemessen zu formulieren, wenn Sie sie aufschreiben oder jemandem erzählen. Je genauer Sie sich darum bemühen, desto mehr stellen Sie fest, daß wir uns meistens bloß in einer Welt der Wörter bewegen, wenn wir von unseren Träumen reden. Wir kommen r aber sofort darüber hinaus, wenn wir die Traumbilder tatsächlich vor unseren inneren Blick rücken. Wir möchten sogar behaupten, daß eine genaue Wiedergabe schon eine halbe Auslegung ist. Je genauer Sie sich auf Ihre Träume einlassen, desto mehr erfahren Sie, daß deren Stil ganzheitlich ist, ohne Abstand zu Ihnen selbst. Sie erleben dann unmittelbar, was der Idee nach sowieso klar ist, nämlich, daß ein Traum jenes Theater ist, in dem der Träumer Szene, Spieler, Souffleur, Regisseur, Autor, Publikum und Kritiker in einem ist ( 13). Über den Umgang mit der Auslegung Nicht in der Deutung oder der Auslegung als solcher also sehen wir vornehmlich unsere Aufgabe, sondern im richtigen Umgang mit ihr.
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• Der größte Fehler bei der Traumauslegung besteht darin, den Traum einfach »Niederzudeuten«. Eine solche Deutung, in der alles klar ist, gehört zu dem, was der Philosoph Martin Heidegger »Gerede« genannt hat (14). Ein solches Gerede, das alles versteht »ohne vorgängige Zueignung der Sache«, sei bodenlos, weil es die Möglichkeit jedes wirklichen Verstehens raube. Es bilde lediglich »eine indifferente (ungenaue) Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist«. Wir wollen stattdessen beim Auslegen der Träume unseren Blick für das Besondere schärfen, das sich in jedem Traum offenbart, und jenes Verstehen meiden, das sich in bloßen gedanklichen Annahmen und in vagen Schlüssen erschöpft. • Wir sollten uns davor hüten, im Sinne einer »Süchtigkeit nach Tiefe« in unseren Träumen zu »grundein«. Vielmehr geht es darum, festgefahrene Ansichten und Haltungen aufzuweichen und uns zu fragen, wie Beziehungen und Sachverhalte sein könnten über das hinaus, was wir sowieso schon von ihnen wissen. • Ein weiterer Fehler besteht darin, dem Traum mit dem Symbol-Lexikon zu Leibe zu rücken. Wir sind keine »Übersetzungscomputer« und verkennen außerdem durch ein solches Vorgehen das Wesen der Symbole (-> Seite 70). Angemessen ist stattdessen, von der Wirklichkeit auszugehen, in der der Träumer in seinen Träumen wirklich lebt - der Bilderwelt. Deshalb muß die Deutung in erster Linie »eine Sache des Sehen- und Hörenkönnens, des Sti gefühls, des Gespürs für die ästhetischen Proportionen des Traums, kurz, eine anschauliche Sache!« ( 1 5 ) sein. Nochmals möchten wir betonen: Wer Träume auslegen möchte, seien es eigene oder die von Mitmenschen, der muß vor allem seine Wahrnehmung schulen (—> Seite 26)!
Das »Instrumentarium« der Traumauslegung Für die Auslegung von Träumen stehen Ihnen zwei Arten von »Instrumentarium« zur Verfügung: • Zum einen Sie selbst, das heißt Ihre Wahrnehmungs- und Erinnerungsfälassen. So wird Ihre eigene kreative Wahrnehmung immer wieder unterbrochen, unterstützt, ergänzt, erweitert durch »Einwürfe« des Wissens. Sie können sich auf die Welt der Träume immer mehr einlassen, wenn Sie sich selbst (innere Vorgonge, Zustände, Bilder, Gefühle, Gedanken) und Ihre Umgebung (Beziehungen, Situationen) bewußter wahrnehmen und wenn Sie Wissen ansammeln über Möglichkeiten des Verstehens Ihrer Träume und des Umgangs mit sich selbst.
Träume wahrnehmen Wichtig ist, daß Sie insgesamt Ihre Wahrnehmungs- und Ihre Erinnerungsfähigkeit steigern und Verlebendigen. Dabei hilft es Ihnen vielleicht, sich zunächst vom Druck des Traumen-Müssens zu lösen. Selbst der beste Träumer vermag sich von allnächtlich vier bis fünf Träumen nur einen kleinen Teil zu merken. Viele meinen sogar, daß sie so gut wie nie träumen. Manche von ihnen erinnern sich jedoch an nächtliche Gedanken, die sie aber nicht als Träume ansehen, obwohl es doch oft welche sind. Es gilt also, alles, was nachts auftaucht, zu registrieren, selbst wenn Sie es zunächst nicht für einen Traum halten. Um Ihre Wahrnehmung zu schulen, möchten wir Jhnen drei Übungen empfehlen Sie können diese Übungen durchführen, wann immer Sie die nötige Zeit und Ruhe dafür haben. Beim Üben sollten Sie sich jedes Anspruchs enthalten, etwas erreichen zu wollen; seien Sie vielmehr ganz bei dem, was Sie tun. Übung für den Morgen Nachdem Sie, soweit es Ihnen möglich ist, zur Ruhe gekommen sind, nehmen Sie einen natürlichen (also zum Beispiel keinen aus Plastik geformten), nicht zu kompliziert gestalteten, sondern klar strukturierten Gegenstand, der Ihnen angenehm ist, der Sie aber gefühlsmäßig nicht zu sehr beeindruckt, zur Hand. Nehmen Sie also zum Beispiel einen schönen Stein, einen Tannenzapfen, eine
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higkeit sowie Ihre innere Haltung, mit der Sie an den Traum herangehen; • zum anderen das Wissen und die Informationen, die Sie über das Träumen und die Traumdeutung haben. Beides ist untrennbar ineinander verwoben: Ihre Wahrnehmung bewußt einzusetzen und Ihren eigenen inneren Dialog zu vertiefen, bedeutet, daß Sie vorhandenes Wissen zwar benutzen, es aber auch immer wieder »vergessen«, um Ihre direkte augenblickliche Wahrnehmung »sprechen« zu Muschel; auch ein geblasenes Glas oder eine Schale würde sich eignen, nicht hingegen ein Foto (künstlich) oder ein Landschaftsgemälde (zu kompliziert). Schauen Sie sich diesen Gegenstand genau von allen Seiten an, nehmen Sie ihn auch in die Hand, betasten Sie ihn, um zu spüren, wie er sich anfühlt, drehen Sie ihn nach allen Richtungen, prüfen Sie seinen Geruch, kurzum: Versuchen Sie, ihn mit allen Sinnen zu erfassen, ohne aber über ihn ins Grübeln zu geraten. Danach legen Sie den Gegenstand zur Seite, schließen die Augen und versuchen, ihn genau zu erinnern. Bemühen Sie sich dabei um die Vergegenwärtigung jeder Einzelheit. Nachdem Sie den Gegenstand möglichst unmittelbar erinnert haben, nehmen Sie ihn erneut in die Hand, und machen Sie sich klar, was Sie gesehen haben und was nicht. Konzentrieren Sie sich nun nochmals auf jede Einzelheit, und versuchen Sie dann, den Gegenstand wiederum zu erinnern. Das machen Sie gegebenenfalls zwei- bis dreimal. Je öfter und länger Sie bei demselben Gegenstand verweilen, um so mehr werden Sie erfahren. Bei einem Stein oder einem ähnlichen Objekt sollten Sie mindestens einen Monat lang bleiben, bevor Sie auf etwas anderes übergehen. Sie können auch ein einmal gewähltes Objekt auf die Dauer beibehalten. Wenn Sie aber zum Beispiel eine Blume genommen haben, so daß ein dauerndes Verweilen nicht möglich ist, dann sollten Sie sich daran erinnern, wie diese Blume sich im Lauf der Tage verändert hat.
Übung für den Abend Während Sie am Morgen den Schwerpunkt auf das Erinnern einer Wahrnehmung legen, sollten Sie am Abend vor allem die Erinnerung einer Handlung schulen. Die Dauer dieser Übung sollte wiederum etwa
fünf Minuten betragen. Bringen Sie sich dafür erneut in den Zustand einer möglichst großen äußeren und inneren Ruhe, und vergegenwärtigen Sie dann eine einfache Szene aus dem gerade vergangenen Tag, die gleichfalls emotional nicht besonders »geladen« sein sollte. Die Übung ist nicht als Problem- oder Konfliktlösung gedacht! Unterscheiden Sie also genau: »Jetzt ist Üben dran, zu einer anderen Zeit Problemlösen.« Wenn Sie sich nicht an diese Trennung halten, beleben Sie entweder den Affekt wieder, den Sie hatten, und fallen damit aus der übenden Haltung heraus, oder Sie verdrängen wichtige Einzelheiten und verstoßen dadurch gegen die Forderung nach völliger Öffnung der Sinne. Bei allen diesen Übungen werden Sie freilich feststellen, daß es Situationen ganz ohne jede Gemütsbeteiligung gar nicht gibt. Später, nach sehr langem, meist jahrelangem Üben, werden Sie dann in der Lage sein, auch emotional stark geladene Situationen auf die gleiche Weise zu betrachten - aber nur, wenn Sie sich vorher daran gehalten haben, sich zunächst auf relativ neutrale Situationen zu beschränken. Übung: Kunstwerke betrachten Eine weitere Übung, die Ihnen das Wahrnehmen sowie das Merken von Träumen erleichtert und zugleich zu deren Deutung hinführt: Betrachten Sie in Büchern Kunstwerke, in die Sie sich, soweit Sie können, Detail für Detail innerlich versenken, um sie sich einzuprägen. Lesen Sie danach eine Beschreibung dieses Kunstwerkes und lernen Sie zu unterscheiden: Das habe ich gesehen und das hat der Autor der Beschreibung gesehen. Was habe ich nicht gesehen und was sieht er anders als ich?
Träume merken Viele Menschen würden sich gerne mit ihren Träumen beschäftigen, stellen aber fest, daß ihre Träume beim ersten Weckerklingeln in sich zerfallen wie Seifenblasen. Dagegen gibt es kein Patentrezept, wohl aber hilft Ihnen, sich klarzumachen, daß es sich mit unseren Träumen ähnlich verhält wie mit einem Voge, den Sie im Park füttern möchten. Sie können ihn nicht herbeizwingen, wohl aber herbeilocken, indem Sie ihm ohne Hast Futter geben, sobald er in Ihre Nähe gekommen ist. Sie dürfen auch nicht direkt nach ihm greifen, sonst fliegt er weg. »Die Wachen von den Toren des Verstandes zurückziehen« Auf das Merken von Träumen übertragen heißt dies, daß Sie zwei scheinbar einander entgegengesetzte Haltungen einüben sollten: Auf der einen Seite nehmen Sie sich fest vor, sich Ihre Träume zu merken. Zugleich aber müssen Sie, wie Schiller sagt, Ihre »Wachen von den Toren zurückziehen«, also keineswegs nach dem Traum »grapschen«, sondern ihn kommen lassen - am besten im Liegen mit geschlossenen Augen, wobei Sie zunächst ohne jeden kritischen Einwand auf das achten, was Ihnen in den Sinn kommt. Natürlich können Sie Träume auch mit Gewalt herbeizwingen, indem Sie mehrfach nachts zu beliebiger Zeit den Wecker rasseln lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß Sie dabei auf eine traumaktive Phase stoßen und sich danach den Traum merken können. Aber das ist nicht unser Ziel. Träume sind schnell vergessen Die sicherste Methode, seine Träume zu vergessen, ist, sich nach dem Aufwachen zu sagen: »Den Traum merke ich mir bestimmt, den brauche ich mir nicht aufzuschreiben«, oder »wenn ich den aufschreibe, kann ich nachher nicht mehr schlafen«. Solche Träume sind mit großer Wahrscheinlichkeit am nächsten Morgen vergessen, nicht nur, weil wir sie verdrängen, sondern auch, weil wir
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uns, während wir träumen, in einem anderen Bewußtseinszustand befinden als im Wachzustand (-> Seite 8 und 57). Diese unterschiedlichen Bewußtseinszustände des Wachens und des Träumens lassen sich meist nur schwer miteinander verbinden. Den Traum notieren Sobald Sie festgestellt haben, daß Sie geträumt haben, sollten Sie Ihren Traum unter allen Umständen festhalten - ihn sofort aufschreiben, oder, falls Sie Ihren Partner dabei nicht wecken, auf ein Tonband sprechen. Sie müssen sich nachts nicht jede Einzelheit Ihres Traumes merken, sollten sich aber die wichtigsten Stichworte notieren. Bleistift und Papier, um den Traum aufzuschreiben, sowie eine abgedunkelte Lichtquelle gehören ans Bett eines jeden, der sich seine Träume merken möchte. Besser als ein loser Zettel ist ein Traumtagebuch, das Sie systematisch führen. Es hilft Ihnen, die wesentlichen Traumthemen in ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit zu verfolgen.
Das Gefühl nach dem Aufwachen wahrnehmen Achten Sie nach dem Aufwachen auch darauf, wie es sich mit Ihrem Körper, Ihrer Atmung, Ihrer Stimmung verhält, wenn Sie sich an Ihre Träume erinnern. Sind Sie eher gespannt oder gelöst, niedergeschlagen oder in einem Hochgefühl? Über solche Wahrnehmungen bekommen Sie nicht nur mehr Zugang zu sich selbst, sondern schlagen auch oft eine Brücke zu geträumten Gefühlen, über die Sie sich dann an weitere Bilder des Traumes herantasten können.
Eine Schlagzeile formulieren Wenn Ihnen nach dem Aufwachen ein Traum sofort als Ganzes vor Augen steht, so daß Sie befürchten, den Zusammenhang zu verlieren, wenn Sie ihn von vorne aufschreiben, dann sollten Sie für den Traum zunächst eine prägnante Schlagzeile suchen. Notieren Sie als nächstes einige Stichworte aus den Teilen, die Ihnen am wichtigsten scheinen, und schreiben erst dann weitere Einzelheiten auf.
Eine Traum-Skizze anfertigen Da sich die meisten Träume charakteristischerweise in einer Bilder- und Gefühlswelt vollziehen, ist es oftmals sinnvoll, wenn Sie eine Skizze Ihres Traumes machen. Nehmen Sie Papier und Bleistift, und versuchen Sie, das Szenarium Ihres Traumes möglichst getreu nachzuzeichnen - einen künstlerischen Anspruch an Ihre Skizze sollten Sie dabei völlig außer Acht assen. Meist genügt es, das Geschehen im Traum mit wenigen Strichen deutlich erkennbar festzuhalten. Bruchstücke notieren Anders als mit dem nächtlichen Notieren ist es, sobald Sie sich morgens den Traum ins Gedächtnis zurückrufen. Falls Sie sich nur an einige Bruchstücke erinnern können, schreiben Sie auch diese auf - eines nach dem anderen. Meist kommen Ihnen dabei weitere Bruchstücke in den Sinn, an die Sie sich vorher nicht mehr erinnerten.
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Einfälle mehrmals erinnern Gehen Sie beim Merken jede Erinnerung unter Umständen mehrfach durch. Sollten Sie dabei auf bestimmte Zusätze, Auslassungen oder sonstige Veränderungen Ihres Traumbildes stoßen, so richten Sie Ihre besondere Aufmerksamkeit darauf. Derartige Veränderungen sind für das Verständnis Ihrer Träume meist besonders wichtig, weil sich darin Fehlleistungen, Verdrängungen oder andere unbewußte Prozesse ausdrücken. Frühere Träume festhalten Manchmal kommt Ihnen beim Erinnern an Ihre Träume ein früherer Traum in den Sinn. Sie sollten ihn auf die gleiche Weise festzuhalten suchen wie einen heute geträumten Traum. Oft gehört er zum »Thema« Ihres Traumes.
Lücken im Traum ausphantasieren
Einüben der inneren Haltung
Wenn die Traumteile sich nicht zu einem Traum zusammenschließen, dann phantasieren Sie aus, was sich zwischen den Traumteilen abgespielt haben könnte. Lassen Sie sich so tief wie irgend möglich auf diese Phantasien ein, aber unterscheiden Sie in einem weiteren, endgültigen Schritt streng zwischen dem, was Sie sich gemerkt, und dem, was Sie sich dazuphantasiert haben (—> Seite 44). Im übrigen ist es ein Hinweis für einen richtig gemerkten Traum, wenn sich am Ende nicht alles zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschließt. Daß wir ihn fälschlicherweise als Einheit sehen, wird aus verschiedenen Quellen gespeist: • Zum einen hängt es mit unserem normalen Vergessen zusammen, wobei wir alle die Neigung haben, das Fehlende den eigenen Vorstellungen entsprechend zu einem sinnvollen Ganzen aufzufüllen. Dies gleicht dem nächtlichen Blick zum Sternenhimmel, wo wir Sterne automatisch zu bestimmten Sternbildern zusammenfassen. • Zum anderen ist die Übersetzung der Traumbilder in die Sprache des Wachbewusstseins beim Erzählen oder Aufschreiben immer nur angenähert möglich. Vor allem wird eine solche »sekundäre Bearbeitung« des Traums von Verdrängungsprozessen bestimmt (-> Seite 38). Schon Freud sah, daß die »zensurierende Instanz« nicht nur zu Einschränkungen und Auslassungen im Trauminhalt führt, sondern oft auch zu Einschaltungen und Vermehrungen desselben (17).
Oberstes Ziel jeder Beschäftigung mit den eigenen Träumen sollte es also sein, den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit solange wie möglich auf das Merken der Inhalte und der dabei auftauchenden Gefühle zu hegen. Dieses Merken vollzieht sich - wir sagten es schon, wollen es aber hier wiederholen, wei mit ihm jedes Traumverständnis steht und fällt - nicht in der Haltung eines Menschen, der etwas »in den Griff« zu bekommen sucht. Eher sollten wir uns in die Haltung einer Mutter hineinbegeben, die sich dem Kind zuwendet, indem sie sein Erleben teilt.
Merken wir uns Das Erinnern unserer Träume ist immer ein Kampf um die genaue Erinnerung. Das Wort »Kampf« soll allerdings nicht Verbissenheit signalisieren. Eher ist eine gewisse spielerische Haltung günstig, in der Sie bereit sind, sich auf etwas Unerwartetes und Wesentliches einzulassen. Im übrigen meinen wir, daß häufig allein schon das Merken der eigenen Träume heilsam und bewußtseinsfördernd sein kann, weil es ein unverkrampfteres, wachsameres Verhältnis zu uns selbst vermittelt und dadurch die Balance zwischen Innen und Außen fördert.
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Siebzehnte Spielregel: Das heißt auf den Trau m bezogen: Wir sollten uns beim Merken so weit wie möglich und immer wieder in die Verfassung des Traumes zurückversetzen, aber mit wachem, aufmerksamem Bewußtsein. Es ist dies die Haltung eines Fragenden und nicht die eines Wissenden: weder wertend (»so ein Unsinn« beziehungsweise umgekehrt »wie tiefsinnig«) noch deutend (»das ist doch ganz klar«, »das bedeutet ...«l sondern staunend, sinnend und prüfend. Staunen Staunen heißt, sich anteilnehmend auf die Stimmung und den Gehalt des Traumes einzulassen. Sie sollten ihn also nicht von außen mit Hilfe von Begriffen und Konstruktionen abfragen, sondern vernehmen, was Ihnen seine Bilder sagen. Dadurch entsteht eine innere Nähe zu ihm, aus der Ihre Fragen gleichsam von selbst erwachsen. Fragen, die sich dabei stellen, wären zum Beispiel: Ich bin in den letzten Tagen durch so viele Straßen gegangen. Warum spielt der Traum gerade gestern und in dieser Gegend? Oder: Wie eigenartig, daß ich mich selbst, diesen Menschen oder diese Situation im Traum so ganz anders gesehen habe als tagsüber? Oder: So also sehe ich diesen Menschen, diese Situation, wenn ich tagsüber darüber nachdenke, und so ist mein Bild von ihm im Traum. Wofür bin ich Denkbarerweise tagsüber blind? Was bedeutet dieser Mensch möglicherweise
noch für mich über das hinaus, was ich über ihn zu wissen meine? Oder: Warum ist wohl ausgerechnet jetzt etwas aus meiner Kindheit in mir aufgetaucht, während ich mich doch zur Zeit mit ganz anderen Problemen herumschlage? Könnte es sein, daß meine Sicht auf mich selbst oder auf meine Lebensumstände tagsüber zu eingeengt ist? Dieses »könnte es sein?« (das im Englischen so trefflich mit »l wonder« -es erstaunt mich - ausgedrückt wird) ist die Standardfrage, mit der wir uns jeder Einzelheit in unseren Träumen nähern sollten, nachdem wir uns ihrer Bilderwelt beim Merken zunächst fraglos ausgesetzt haben. Sinnen Unser staunendes Fragen mündet also immer mehr in ein Sinnen. Der Schwerpunkt liegt dabei darin, daß Sie als Träumer den Traum sozusagen mit wachen Sinnen, aber zugleich in einer Verfassung nachträumen, die der inneren Bilderwelt des Traumes nahe ist, bis er zu »Ihrem Traum« geworden ist. Dies geschieht nicht dösend, sondern im Sinne einer Verlebendigung, bei der Sie sich jede Einzelheit vor Augen führen. Gerade das trägt dazu bei, dem flüchtigen Dahingleiten unserer Gedanken, das unser Tagbewußtsein kennzeichnet, entgegenzuwirken. Wir wollen also mehr und mehr lernen, jede Einzelheit unseres Traumes ruhig vor unser »inneres Auge« zu stellen.
mit dieser Klosterfrau zu unterhalten, verhielt ich mich selber eher skeptisch und zurückhaltend. Dann gingen wir zusammen zu dem Kloster Sankt Anna. Dort sollte ich aufgenommen werden, und nach wie vor war meine Freundin von dieser Idee, daß ich dort den Ort der Geborgenheit finden sollte, ganz begeistert. Um dort aufgenommen werden zu können, mußte eine Art Exorzismus an mir gemacht werden. Ich mußte erst von allem Bösen befreit werden, damit ich dort in gutem Zustand bleiben konnte. Nachdem Sie den »Traumtext« so ausführlich wie möglich erinnert und festgehalten haben, können Sie so vorgehen: »Ich bin eine alte Frau« -was fällt mir dazu ein? - »ich suche eine neue Heimat« - was fällt mir hierzu ein? - »ich gehe mit meiner Freundin« - »auf diesem Wege begegnet uns eine Klosterfrau«. Um jeden Satz Ihres Traumes entsteht auf diese Weise meist eine vielschichtige Welt von Erinnerungen und Einfällen; möglicherweise fällt Ihnen aber auch nur wenig zu einem be stimmten Traumbild ein; oder Sie scheuen davor zurück, da es für Sie mit schmerzhaften Gefühlen verbunden ist; vielleicht berührt es Sie auch überhaupt nicht. Lassen Sie alles geschehen und nehmen es wahr. Bei diesem Vorgehen sollten Sie nicht eine Art »Salto« machen und sich angestrengt bemühen. Vielmehr sollten Sie das Bild des Traumes so in sich aufleuchten lassen, daß gleichsam wie von selbst Erinnerungen und Einfälle auftauchen. Es kommt darauf an, sich in das Traumbild sinnend, forschend einzuspüren, mit ihm gewissermaßen eine familiäre Beziehung einzugehen und es in seiner Bedeutung für Sie verbindlich sein zu lassen. Falsch wäre es also, das Traumbild nur in Ihr Alltagsverständnis übersetzen zu wollen.
Einfülle zulassen In einem weiteren Schritt überlassen wir uns allen Einfällen, die uns zu unserem Traum kommen, also Begebenheiten, die uns durch den Kopf gehen, auch wenn sie uns nebensächlich, nicht zum Traum gehörig oder sogar widersinnig oder peinlich anmuten. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ich war eine alte Frau und ging mit meiner Freundin, die den gleichen Vornamen hatte wie ich, um mir eine neue Heimat, um mir einen Ort der Geborgenheit zu suchen. Auf diesem Wege begegnete mir eine Klosterfrau. Im Gegensatz zu meiner Freundin, die ganz begeistert war, sich
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Prüfen Das führt zu einem Prüfen beziehungsweise Sichten, bei dem Sie alle Eingebungen und Erinnerungen, die Ihnen zu dem Traum gekommen sind, mit vergleichbaren Situationen Ihres Lebens in Beziehung setzen. Sie gehen also wie ein guter Historiker vor: Er wird nicht versuchen, das einzelne Ereignis zu einem typischen »Fall von« einzuebnen, sondern gerade umgekehrt dessen Eigentümlichkeit herausarbeiten.
Wesentlich ist dabei, daß wir bei diesem Vorgehen ein Wort vermeiden müssen, das im Umgang mit Träumen oft verwendet wird, obwohl es immer fehl am Platz ist: das Wort »eigentlich«. Es ist der Tod jedes wirklichen Trau m Verständnisses und würde ebenso in die falsche Richtung führen wie das Abtun der Träume als »Schäume«. Wir sollten also niemals sagen: So habe ich Dich bisher gesehen, aber jetzt - nach meinem Traum - weiß ich, wie Du »eigentlich« bist. Innerlich geöffnet sein Sicher ist Ihnen deutlich geworden, daß wir nicht wertend, sondern innerlich geöffnet an Träume herangehen sollten. Um dies nachzuvollziehen, nehmen wir gleichsam die Haltung des Propheten Daniel ein, der seinerzeit den Traum des Nebukadnezar gedeutet hat, indem er ihn zunächst in einer Art von erlebnishafter Wahrnehmung innerlich nachvollzog. Die Bibel drückt das mit dem Satz aus: »Darauf wurde ihm das Geheimnis (des Traumes von Nebukadnezar) enthüllt« (Daniel 2, 19). Dann vertauschen wir diese Haltung gewissermaßen mit der des Sherlock Holmes, der aus einzelnen Indizien eine Gesamtsituation zu rekonstruieren suchte. Diese »DaniekPosition und »Sherlock Holmes«-Position wechseln wir in der Folge mehrfach, bis sich ein »Aha-Erlebnis« bei uns einstellt. Wie gut es uns gelungen ist, uns einem Traum wirklich zu nähern, können wir daran erkennen, in welchem Ausmaß wir in uns ein Gefühl für seine Einzigartigkeit entwickeln. Viele Träume scheinen sich zu wiederholen. Aber wenn wir sie genau betrachten, zeigt sich meist, daß das gar nicht stimmt. Und wenn sie doch früheren Träumen ähnlich sind, gilt es, dies nicht fraglos hinzunehmen, sondern weiterzufragen. Dann könnte sich zum Beispiel zeigen, daß wir mit einem Problem innerlich stecken geblieben sind, aber auch, daß in dem Traum eine neue Variante einer für uns grundsätzlich wichtigen Frage auftaucht. Wichtig ist auch hier, daß wir an dieses Problem nicht mit der Haltung herangehen: »Schon wieder ein Fall von ...«, sondern gerade umgekehrt: »Ich will das Neue an diesem Traum erkennen, selbst wenn es gemessen an ähnlichen Träumen noch so geringfügig sein sollte«.
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Ein Traum-Beispiel Mehr als viele Worte zeigt ein kurzes Beispiel, worum es uns geht: »Ich betrete an einem warmen Sommernachmittag zusammen mit Herrn Meyer ein Segelboot«. Zunächst einmal stellen Sie fest, daß auf den ersten Blick die Welt des Traumes nicht vie anders ist als die Welt unseres Alltags. Der Träumer tut im Traum etwas, was er auch tagsüber tut, er begegnet dabei unter Umständen denselben Menschen, denen er auch tagsüber begegnen könnte. Um einen näheren Zugang zu finden, stellen wir uns nach dem Aufwachen, wenn wir uns den Traum gemerkt haben, verschiedene Fragen: • Wie fühlte ich mich im Traum und was kam mir in den Sinn, während ich neben Herrn Meyer zum Segelboot ging? Was geht mir jetzt, im wachen Zustand, über ihn durch den Kopf? • Ich krieche beim Nachspüren so intensiv wie möglich gleichsam in Herrn Meyer hinein. Wie fühle ich mich als dieser und was denke ich wohl als FHerr Meyer über mich, den Träumer, während ich neben ihm gehe? • Kann ich mich für einen Augenblick vielleicht sogar in die Rolle des Segelbootes versetzen, das da im Hafen liegt? Wie ist wohl seine Geschichte? Wem gehört es und wer hat es an den Platz gebracht, an dem es jetzt liegt? Wie wird es mit ihm weitergehen, wenn wir, der Träumer und Herr Meyer, uns ihm nähern? Bei diesem Vorgehen sollten Sie sich jeder einfältigen Deutung, Interpretation oder »Übersetzung« enthalten. So erfahren Sie wesentlich mehr über sich, über den Traum, über Ihre innere Bilderwelt, als wenn Sie beispielsweise gesagt hätten: »Schiff bedeutet Weltreise«. Damit würden Sie die Bilderwelt totschlagen, nicht aber sie Verlebendigen.
Bewährte Methoden der Traumdeutung Aus den Fragen, die uns beim Nachsinnen über unsere Träume kommen, soll sich der Schlüssel zu ihrem Verstehen ergeben. Das Schloß dafür besteht in bestimmten Deutungsanweisungen. Hier werden wir uns mit den Deutungstechniken von Sigmund Freud, von C. G. Jung sowie des Schöpfers der Daseinsanalyse, Medard Boss, beschäftigen, die drei besonders fruchtbare tiefenpsychologische Schulrichtungen begründeten. Wir sehen in ihnen keine »Galerie von Narrheiten« (Hegel), sondern die Konsequenz aus der Tatsache, daß Träume ähnlich vielschichtig sind wie andere Phänomene unseres Bewußtseins. Jede Exklusivität, die nur die eigene Methode als einzige gelten läßt und diese durch Dogmen verteidigt, verleugnet dies. Sie ist ebenso falsch wie ein Rückzug auf eine bloß praktische Beschäftigung mit den eigenen Träumen. Wer das versuchen würde, wäre blind dafür, daß jede Sicht auf einen Traum immer schon auf einer Theorie gründet - ob er das merkt oder nicht. Wenn wir somit verschiedene Standorte beschreiben, reden wir zugleich von dem Versuch, immer wieder den Standort der eigenen Sichtweise zu wechseln. Denn Träume sind keine abgeschlossenen Wesenheiten; deshalb kann es auch kein einheitliches Deutungsschema geben. Die Einfallsmethode von Sigmund Freud (1856 bis 1939) Freud nahm an, daß während des Schlafes die Wachsamkeit des Ichs gegenüber dem Unbewußten (dem »Es«) nachläßt. Dadurch können unbewußte Wünsche und Gefühle auftauchen, die von unseren moralischen Vorbehalten und unserem kritischen Verstand nicht zugelassen werden, auch nicht im Schlaf. Ein Teil des Ichs, der Zensor, schützt uns vor diesen Phantasien und Wünschen, indem er sie in Symbole verwandelt. Der Traum dient also nach Freud der Abwehr, vor allem mit Hilfe von Verdrängung. Sie ist für die Entstehung des Traumes mitbestimmend.
Der »Traum hinter dem Traum« Freud betont zwar, daß man den Traum behandeln müsse »wie einen heiligen Text« ( 18) , also mit Ernst und Ehrfurcht. Dennoch sei der mani-
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feste, der nach den Aufwachen erinnerte Traum mit seinen Bildern, Situationen und Gefühlen lediglich täuschende Fassade und eine Verschleierung seines wahren Sinnes. Verstehen lasse sich lediglich der latente Traum, jene unbewußten Kräfte, Bedürfnisse und Wünsche also, die sich verschleiert im Traum ausdrücken. Den latenten Traum könne man mit Hilfe seiner Einfälle (Assoziationen) erschließen. Freud stellt also konsequent die Erklärung aus der Vorgeschichte über den erfahrbaren Gehalt des Traumes. Er geht sogar noch einen Schritt weiter: Auch der latente Traum ist für ihn nichts Letztes, sondern wird seinerseits aus bestimmten Triebquellen gespeist, zum Beispiel dem Aggressionstrieb oder der frühkindlichen Sexualität.
Kritik an Freud So wesentlich die Einsicht Freuds ist, daß sich Träume nicht allein aus ihren Bildern verstehen lassen, sondern die Kenntnis der Lebenssituation des Träumers voraussetzen, so umstritten ist diese Theorie bis heute. Sie setzt letztlich voraus, der Träumer wisse etwas, was er wiederum nicht wisse. Dabei argumentierte man, der Träumer »mache« ja den Traum selbst: Warum drückt er dann aber das, was er meint, nur so indirekt und verschlüsselt aus? Die Kritik an Freuds Vernachlässigung des manifesten Traumes ist berechtigt, während die Kritik an seiner Triebtheorie viel an Schärfe verliert, wenn man sich klar macht, daß hinter seinem Begriff »Sexualität« die liebende Bezogenheit auf den Mitmenschen steht. Mit Recht wurde auch kritisiert, daß Freud die Träume zu ausschließlich durch eine entlarvende »Sherlock-Holmes-Brille« sah und zu wenig berücksichtigte, daß ihnen - verglichen mit dem Tagbewußtsein -ganz andere Bewußtseinszustände zugrunde liegen, die nicht zuletzt auch in den physiologischen Gegebenenheiten des Traumes wurzeln (—* Seite 51). Mit ersterem überschätzte er die Rolle der Verschleierung durch die Zensur, mit letzterem übersah er die Stoffwechsel bedingten Umwandlungen unseres Denkens und Fühlens im Traum. Falsch wäre aber, deswegen den Kern des psychoanalytischen Traumverständnisses zu bestreiten. Dieser besteht darin, daß sich in vieen Träumen ein Sinn ausdrückt, der sich auf einzigartige Weise mit Hilfe der Einfallsmethode erkennen läßt.
Praxis der Traumdeutung: Assoziieren
Wunschregungen und Zensur
Halten wir fest: Die praktische Aufgabe bei der Traumdeutung besteht nach Freud darin, den Traum auf seine Ursachen zurückzuführen. Diese sind auf drei Ebenen zu suchen: • Auf der Ebene der Tagreste, die Sie mit Hilfe von Erinnerungen, Einfällen oder Assoziationen gewinnen, • auf der Ebene von Wunschregungen, • auf der Ebene der im Traum zwar gelockerten, aber immer noch vorhandenen Zensur.
Die hinter den Einfällen vermuteten Ebenen der Wunschregungen und der Zensur treffen Sie weder im Traum selbst noch in den eigenen Einfäl-en unmittelbar an, sondern Sie können sie lediglich erschließen. Die »Traumarbeit« läßt sich nach Freud rekonstruieren, indem Sie »die Beziehungen des manifesten Trauminhalts zu den latenten Trauminhalten« untersuchen und nachspüren, »durch welche Vorgänge aus den letzteren der erstere geworden ist« (20) (—> Seite 66).
Assoziationen Einfälle oder Assoziationen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: • Objektive Assoziationen funktionieren nach den Prinzipien der Ähnlichkeit (Buch - Heft), der Gegensätze (groß - klein) oder der zeitlichen Nähe (Januar - Februar). • Für das Verständnis von Träumen wichtiger sind subjektive Assoziationen. Sie lassen sich nur aus den besonderen Erlebnissen, Befürchtungen oder Vorstellungen des Träumers ableiten. Eine Assoziationskette zu dem Traum mit Herrn Meyer (—> Seite 37) wäre »Segelboot - Tegernsee - Schäferhund«: Das Segelboot lag am Ufer des Tegernsees und wurde von einem Hund bewacht, der den Träumer an einen Hund erinnerte, vor dem er als Kind Angst hatte. Wir stellen also fest, daß sich Assoziationen nicht nur in Gedanken und Erinnerungen ausdrücken, sondern auch in Gefühlen und Stimmungen. Durch »freie Assoziation« gewonnene Einfälle sind immer noch eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis von Träumen. Sie gewinnen sie, indem Sie den Traum in Einzelabschnitte »zerstücken« (19) und sich Ihren Gedanken und Gefühlen zu jedem dieser Abschnitte überlassen, ohne sich dabei zu kontrollieren (—> Seite 34). In einem späteren Schritt suchen Sie dann auch den Lebensbezug der Einfälle und Erinnerungen zu erspüren, nicht aber zu ergrübeln (—> Seite 35). Freud war davon überzeugt, daß sich so das seelische Geschehen des Träumers aus der Vergangenheit lückenlos rekonstruieren läßt. Diese Annahme revolutionierte das bisherige Trau m Verständnis, obwohl sie ihre Grenzen hat, auf die wir hier aber nicht näher eingehen können.
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Verständlicherweise werden Sie sich jetzt fragen, wann Sie hintergründige Tendenzen bei der Deutung eines Traumes mitberücksichtigen sollen und wann nicht. Die Antwort fällt heute anders aus als bei Freud, der gesagt hat: »Die wahrgenommenen Phänomene müssen in unserer Auffassung gegen die nur angenommenen Strebungen zurücktreten« ( 2 1 ) . Gerade umgekehrt wie er benutzen wir als »roten Faden« der Interpretation nicht unsere Konstruktionen, sondern im Sinne von M. Boss (—> Seite 46) die geträumten Traumbilder, die wir durch daraus abgeleitete Assoziationen lediglich ergänzen, und zwar in dem Sinne, daß wir sie zu Fragen umformulieren (—> Seite 22). Die »aktive Imagination« von Carl Gustav Jung (1875 bis 1961) Anders als Freud sah C. G. Jung den Traum weniger unter Triebaspekten oder als moralisches Versteckspiel, sondern als Ausdruck einer Selbststeuerung des Organismus, durch die er Einseitigkeiten unseres Erlebens, Denkens und Entscheidens anzeigt und ausgleicht.
Ausgleich von Tagesgeschehen In diesem Sinne drückt sich im Traum also eine Kompensation, ein Ausgleich zu den Inhalten unseres Tag bewußtseins aus (22). In unserem Beispiel (der Traum mit Herrn Meyer, Seite 37) träumte der Träumer seinen Traum vom Segelboot, nachdem er am Vortag bis in die Nacht eine von ihm ungeliebte Schreibtischarbeit ausgeführt hatte. Der Gedanke an eine Kompensation in den Träumen war allerdings nicht neu, sondern wurde vor Jung bereits von Platon (427 bis
347 v. Chr.) geäußert. Platon schrieb, in jedem von uns wohne eine heftige, wilde und gesetzlose Begierde. Der Tugendhafte begnüge sich aber damit, von ihr zu träumen (23). Das ist ähnlich häufig wie das Gegenteil, nämlich daß Menschen, die sich im Alltag zu gering einschätzen, sich im Traum mit wohlwollenden Augen sehen.
»Der Andere bin ich auch« Hier taucht nun allerdings eine schwierige grundsätzliche Frage auf -schwierig vor allem für unser westliches Denken, das stark zum Abgrenzen neigt: Wieso kann Herr Meyer er selbst und zugleich der Träumer sein? Dem Osten fällt dieser Gedanke nicht so schwer wie uns. Im indischen Denken heißt es seit urdenklichen Zeiten: »tat tvam asi« - der Andere bin ich auch.
Deutung auf der »Objektstufe« Ein weiterer Schritt Jungs war, daß er eine Objektstufe von einer Subjektstufe unterschied: Wenn im Traum von Herrn Meyer die Rede war, dann war damit wirklich Herr Meyer gemeint und nicht etwa Herr Müller. Insofern muß der Betrachter des Traumes Herrn Meyer selbst in den Blick bekommen und ihn nicht durch jemand anderen ersetzen oder ihn gar in einem bloßen Repräsentanten eines Konflikts ohne eigene Bedeutung aufgehen lassen. Dieses Ernstnehmen des geträumten »Objekts« nennt Jung »Deutung auf der Objektstufe«.
Achtzehnte Spielregel: Bei jeder Person, die in einem Traum vorkommt, sollte sich der Träumer immer auch fragen: Könnte die geträumte Person nicht auch einen Aspekt von mir darstellen? (»Der Andere bin ich auch«.) Wem dieser Satz fremd vorkommt, dem wird diejungsche Unterscheidung praktisch helfen, wenn er sich prüfend beiden Möglichkeiten öffnet: In Herrn Meyer diesen, aber auch sich selbst zu sehen. Letzteres muß er nach Jung umso eher annehmen, je fremdartiger ihm der Geträumte ist.
Deutung auf der »Subjektstufe« Zugleich ist allerdings der Herr Meyer des Traumes sozusagen nicht Herr Meyer »an sich«, sondern das Bild, das sich der Träumer von ihm gemacht hat. In diesem Bild fließen wirkliche Wahrnehmungen mit demjenigen zusammen, was der Träumer unbewußt in das Bild hineingelegt (in der Psychologensprache ausgedrückt: in es projiziert) hat. Insofern muß der geträumte Herr Meyer immer auch auf der Subjektstufe betrachtet werden. Der Träumer wird sich also fragen: »Was ist sozusagen das »Meyerhafte« in mir, das ich lediglich an ihm wahrnehme? Letztlich werde ich, um diese Projektion zu verstehen, bei der Auslegung meines Traumes in dem von mir geträumten Herrn Meyer zur Probe immer auch einen Teil von mir selbst suchen müssen. Statte ich also zum Beispiel Herrn Meyer im Traum mit einem häßlichen Wesenszug aus, so muß ich mich zunächst einmal fragen: »Benehme ich mich am Ende selbst so scheußlich, wie ich es von Herrn Meyer geträumt habe?« Oder, wenn jemand negativ vom anderen Geschlecht träumt, sagt das zwar zunächst vie über seine Einstellung diesem gegenüber aus, aber wenig über den Menschen, von dem er geträumt hat.
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Der Traum - Spiegel der Persönlichkeit C. G. Jung hat in Abgrenzung zu Freud dem manifesten Traum seine Bedeutung zurückgegeben. Damit eröffnete er zugleich den Weg für die Einsicht, daß der Traum keineswegs bloß Ausdruck eines unbewußten Konfliktes sein müsse, wie Freud das angenommen hatte. A. Maeder hat in Fortführung dieser Anregung gezeigt, daß man den Traum als Spiege der Persönlichkeit des Träumers beziehungsweise seiner Situation in symbolischer Form sehen könne (24), ja daß er sogar eine zukunftsorientier-te Bedeutung in Form von Warnungen, Vorbereitungen oder aktiver Führung haben kann. (Der Träumer in unserem Beispiel träumte seinen Traum, nachdem ihm im Laufe einer Analyse neue Möglichkeiten aufgingen, wie er besser mit seiner bisherigen Depressivität umgehen könne, und er sich anschickte, mehr Beziehungen und Interessen als bisher aufzunehmen.) Ein Traum muß also nicht notwendigerweise nur retrospektiv, das heißt, auf die Vergangenheit bezogen sein und drückt daher nicht nur frühkindliche Wünsche aus; er kann auch prospektive, zukunftsorientierte Züge
aufweisen. Um diese allerdings zu erkennen, genügt oft nicht ein einze-ner Traum; man muß vielmehr eine ganze Traumserie heranziehen. So wichtig diese Gedanken Jungs sind, so wenig wird seine damit verbundene Kritik dem Anliegen Freuds gerecht und ebenso wenig dem des Begründers der »Individualpsychologie« Alfred Adler, der vor allem das Moment der sozialen Bestätigung und Sicherung in den Träumen hervorhob. Weder Freud noch Adler betrachteten nämlich die Vergangenheit als solche. Ihnen ging es vielmehr um die Vergangenheit, die immer noch gegenwärtig und damit handlungsleitend ist. Deswegen muß man Jungs Auffassung dahingehend zurechtrücken, daß Träume neben kindlichen Wünschen oft auch zugleich Hinweise auf gehemmte Entwicklungskeime enthalten.
Praxis der Traumdeutung: aktive Imagination Wir verdanken C. G. Jung einen weiteren wichtigen Zugang zum Traum. Er entwickelte eine Technik des Traumverständnisses, die er »aktive Imagination« nannte. Sie üben sie ein, indem Sie den erinnerten Traum sozusagen im Wachen weiterträumen, womöglich der Reihe nach in verschiedene Richtungen beziehungsweise mit Lösungen, die auch denkbar wären. Lassen Sie also die einzenen Traumfiguren weiterhandeln und treten Sie dazu in einen gefühlsmäßigen Kontakt. Finden Sie aber immer wieder zu Ihrem ursprünglichen Traum zurück. Dieses kontrollierte Phantasieren (»Imaginieren«) ist etwas anderes als ein bloßes Bildstreifendenken, bei dem man seine Gedanken unverbindlich »nur so« dahingleiten läßt, anders auch als die freie Assoziation. (Eine Beherrschung aller drei Techniken - Imaginieren, Bildstreifendenken, Assoziieren - ist für ein tieferes Eindringen in den Traum besonders fruchtbar.) In bezug auf unser Beispiel (-> Seite 37) heißt das etwa zu erspüren, was es bedeutet, sich einem Segelboot zu nähern und nicht einer Eisenbahn oder einem Auto. Was wird über das Lebensgefühl des Träumers dadurch deutlich, daß das Boot einladend für ihn bereitsteht? (Für ihn war es insofern etwas Neues, als er bis dahin fast immer die Idee hatte, er müsse sich alles mühsam erkämpfen.)
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Praxis der Traumdeutung: die Amplifikation (Erweiterung) Später verlegte Jung den Schwerpunkt seiner Forschungen immer mehr auf Symbole, von denen er annahm, daß sie für alle Menschen gültig seien. Auch hierbei entwickelte er eine neue Technik, die »Amplifikation« (deutsch: »Erweiterung«). Dabei soll durch Einbeziehung von Material zum Beispiel aus Märchen, Mythen und der Religionsgeschichte der Blick für das Charakteristische des Traumes geschärft und dieser dadurch ins überzeitlich Gültige, ins allgemein Menschliche erhoben werden.
Praxis der Traumdeutung: Malen der Träume Hilfreich ist auch das Malen der eigenen Träume. Sie können dadurch Kräfte in sich entdecken, die über Ihr bewußtes Ich hinausgehen. Besonderer künstlerischer Fähigkeiten bedarf es dabei nicht, um auf diesem Weg zu tieferen Einsichten zu kommen. Es genügt allerdings nicht, die Sicht des eigenen Unbewußten mit Hilfe von Phantasien und künstlerischen Produktionen anzureichern. Das so Gestaltete muß zusätzlich interpretiert werden, wiederum mit Hilfe von Material aus Märchen, Mythen und der Volksüberlieferung, weil sich darin allgemeinmenschliche, überpersönliche Situationen und Konflikte ausdrücken. Das Ziel dabei ist das näm iche wie bei der Amplifikation: uns aus der Verengung unserer persönlichen Sichtweise herauszulösen, ohne daß sich deswegen unsere Probleme in vager Allgemeingültigkeit verflüchtigen müssen.
Schwächen derjungschen Methode Jung meinte, in dem von ihm benutzten Material drückten sich menschliche Urbilder, Archetypen, aus. Sie entstammten einem kollektiven Erinnerungsspeicher der Menschheit, der sich bei jedem von uns finde. Diese Annahme ist - trotz einer Fülle von Beispielen, die in diesem Sinne zu sprechen scheinen (—* Seite 70) - umstritten, weil sie einen theoretisch schwer zu begründenden Bereich hinter der antreffbaren Wirklichkeit voraussetzt. Wie dem auch sei, wichtiger für uns ist, daß diejungsche Methode häufig zu zwei Fehlern verführt: • Zur Vernachlässigung der freien Assoziation, auf die Jung tatsächlich im Laufe seiner Arbeit immer mehr verzichtet hat;
• zur Vernachlässigung des Traumtextes ähnlich wie beim Freudschen Ansatz, nun aber nicht mehr zu Gunsten persönlicher Einfälle, sondern zu Gunsten von Mythen und Symbolen. Wir entgehen diesen Fehlern, wenn wir uns bei der Auslegung eines Traumes so lange wie möglich allen denkbaren »Verweisungszusammenhängen« (Boss) der einzelnen Traumbilder öffnen, also den Bedeutungen, die sich uns vom Wesen der Bilder her aufdrängen. Diese Bedeutungen entspringen einer genauen Beschreibung des Traumgeschehens (25). Die »daseinsanalytische« Methode von Medard Boss (1903 bis 1990) Einen dritten Ansatz modernen Trau m Verständnisses nach Freud und Jung eröffnete Medard Boss. Er stand der Existenzphilosophie Martin Heideggers besonders nahe. Sein Ausgangspunkt ist, daß der Träumer auch derjenige ist, der den Traum erinnert. Das eine ist nicht das andere und zeigt, daß wir auf ganz verschiedene Weisen in der Welt sein können.
Merkmole des Traumbewußtseins Betrachten wir nunmehr das »ln-der-Welt-Sein« im Traum, so ist daran folgendes kennzeichnend: • Daß wir im Traum oft auf eine Grundstimmung »versammelt« sind, • daß uns im Traum dasjenige, was wir im Wachen nur beiläufig denken, leibhaftig begegnet, • daß dabei vielfach das geschieht, was wir im wachen Leben eigentlich hätten wahrnehmen, was sich hätte ereignen sollen oder was aus äußeren Gründen nicht zu seiner Entfaltung kam. So weist der Traum in seinen Bildern oft gerade auf dasjenige hin, und zwar sehr unmittelbar, was zum Ursprung der Existenz gehört, was uns also »eigentlich« wichtig ist. (Hier ist das Wort »eigentlich« angebracht! •> Seite 36). Der Traum ist insofern in hohem Maß eine »Offenbarung des Eigentlichen«, das im Alltagsleben vernachlässigt wird. Wir werden uns also bei jedem Traum fragen müssen: Was wird in ihm von dem dargestellt, was im Alltag zu kurz kommt?
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Konsequente Beschränkung auf die Traumbilder Einen breiten Raum nimmt bei Boss die Kritik an Freud und Jung ein. Er findet in ihrem Werk ein Übergewicht an Erklärungen und Theorien gegenüber einer konsequenten Auslegung des Erscheinenden. Wie sollten wir, so fragt er, das angeblich Unbekannte des Traumgeschehens durch etwas noch Unbekannteres, von dem wir überhaupt nichts wissen - das Unbewußte -, erklären können (26)? Tatsache ist, daß Freud (inzwischen überholte) biologische und naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen seiner Zeit so weit wie möglich in seine Arbeiten einbezog. Jung hingegen stützte sich in seiner Archetypenlehre auf nicht beweisbare Annahmen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. Dies macht Teile beider Theorien fragwürdig. Es berührt aber nicht den Wert der von Freud und Jung eingeführten Methoden. Das Neue bei Boss war, daß er konsequent versuchte, sich auf die Phänomene zu beschränken, wobei er betonte, daß Phänomene mehr sind als lediglich materielle Fakten, auf die wir sie oft reduzieren. Dabei machte er ernst damit, daß sich die Wirklichkeit bei unvoreingenommener Betrachtung nicht auf physikalische Daten schmälern läßt. Eine Vase zum Beispie sehen wir von vornherein in ihrer Bedeutung, also nicht als so und so gearteten Gegenstand, dem wir sekundär die Qualität »Vase« zuordnen. Zugleich sehen wir sie ganz, also nicht bloß als jene geometrische Figur, die rein physikalisch auf unsere Netzhaut einwirkt, aber auch nicht lediglich als Symbol oder als Anreiz für unsere Assoziationen. Diese unmittelbar wahrgenommenen Bedeutungen also suchen wir bei der Traumauslegung zu erfassen.
Praxis der Traumdeutung: »Umkreisende« Annäherung an das Traumbild Fruchtbar war der Hinweis von Boss, daß uns eine ausschließliche Konzentration auf persönliche Einfälle, wie sie Freud einführte, oft zu ausschließlich in unsere Vergangenheit führt und somit vom Traum selbst ablenkt. Wenn Sie dem Traumbild seinen Wert nehmen und sich bloß noch Ihren Einfällen hingeben und dabei auf jedes Detail achten, dann können Sie in letzter Konsequenz auch beim Assoziieren über den Leitartikel Ihrer heutigen Tageszeitung noch auf unbewußtes Material stoßen.
• Den ersten Fehler vermeiden wir am besten dadurch, daß wir uns vornehmen, den Traum zu deuten und nicht umzudeuten, indem wir ihm einen Sinn, eine Bedeutung unterstellen, die in seinen Bildern gar nicht aufscheint. • Dem zweiten Fehler begegnen wir damit, daß wir uns durch unsere Assoziationen nicht vom Traum weglocken lassen. Stattdessen geht es bei jeder Traumauslegung um eine umkreisende Annäherung an das Traumbild, in das wir uns immer weiter vertiefen. Nehmen wir das Segelboot des Traumes (—> Seite 37). Es ist keineswegs nur ein komplizierter Gegenstand mit Eigenschaften »an sich«, also zum Beispiel mit einer bestimmten Länge, Breite und Wasserverdrängung. Andererseits ist es in keiner Weise bloß ein Symbol, das für etwas anderes steht, also zum Beispiel für den Übergang von einem Ufer (des Lebens) zum anderen (des Todes). Wohl aber verweist es auf etwas, nämlich auf das Segeln. Dazu aber kommt es im Traum gar nicht: Das Boot bleibt im Hafen verankert. (Auch im Leben des Träumers blieb bisher Vieles stecken.) Für den Träumer hat das Boot außerdem einige zusätzliche persönliche Bedeutungen, die sich nur aus seinen Einfällen erschließen lassen. (Er würde selbst gerne ein Boot besitzen und trägt sich mit dem Gedanken, sich eines zu kaufen. Aber dazu ist er zu sparsam. Außerdem weiß er, daß er ein Boot von dieser Größe nicht allein aus dem Hafen fahren könnte. Er brauchte dazu einen Helfer, zum Beispiel Herrn Meyer. Jedoch fürchtet er die damit verbundene Verpflichtung.) Aus alledem folgt, daß es falsch ist zu meinen, der Träumer finde sich durch seine Auslegung in zwei getrennten Existenzformen wieder: sozusagen als Subjektstufen- Objektstufen-»Doppelgänger« oder als Träger eines insgeheimen Traum-»Hintersinns«. In Wirklichkeit geht es dabei um etwas ganz anderes, nämlich um bestimmte Fragen: Bleibe ich nicht vielleicht öfters bei vordergründigen Wünschen oder beim bloß Angenehmen stehen (im Traum im Bild des »warmen Sommernachmittags« ausgedrückt), während ich mir meine wirklichen Wünsche gar nicht klarmache (zu segeln, Herrn Meyer um Hilfe zu bitten oder mir gar meine Wünsche nach einem eigenen Boot zu erfüllen)?
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Mit solchen Fragen umgreifen wir die möglichen Arten der Traumauslegung am umfassendsten: reduzierende (auf die Vergangenheit bezogene), prospektive (auf die Zukunft weisende), kompensierende (ausgleichende) sowie auf eine Traum-Situation lediglich reagierende Traumauslegung. Die verschiedenen Methoden können einander ergänzen. Das daseinsanalytische Modell, das wir zuletzt dargestellt haben, ermöglicht vielfach den einsichtigsten Zugang zu unseren Träumen, weil es sich am konsequentesten am vorgegebenen Traumtext orientiert. Wir sollten deswegen aber nicht die Freudschen und Jungschen Gesichtspunkte bei der Auslegung unserer Träume vernachlässigen. Erst die verschiedenen Sichtweisen zusammen ermöglichen ein realistisches Bild unserer inneren Situation.
Hier hilft folgende praktische Regel: Bei jeder Auslegung eines Traumes sollten Sie zunächst so weit wie möglich daseinsanalytische Gesichtspunkte vor Augen haben. Diese sollten dann von den Freudschen und den Jungschen Aspekten ergänzt werden. l .Verweisungszusammenhänge (Daseinsanalyse Boss') 2.Assoziationen aus dem biographischen Kontext (Psychoanalyse Freuds) 3.Symbole und Archetypen (analytische Psychologie C. G. Jungs) Im Vergleich zu einem solchen integrativen Ansatz befriedigt das Deutungsmonopol einer einzigen tiefenpsychologischen Schule zwar unseren Anspruch auf »Reinheit der Methode«, aber wir berauben uns dabei der Sichtweisen, die die anderen Richtungen zum Verständnis unserer Träume beigesteuert haben. Wer in unserer Zeit »ismen« und »anern« in unserem Fach immer noch huldigt, ist häufig ein Opfer unseres zur Einseitigkeit tendierenden westlichen Denkens, dem oft auch vorzügliche Wissenschaftler zum Opfer gefallen sind. Letztlich erinnert das an den berühmten Tastversuch der
Blinden an einem Elefanten: Der Mann, dessen Hand ein Ohr betastet hatte, sagte: »Er ist groß und rauh, so groß und breit ausgedehnt wie ein Teppich«. Einer, der den Rüssel berührt hatte, sagte: »Ich kenne die wahren Tatsachen. Er ist wie eine gerade und hohle Röhre, schrecklich und zerstörerisch«. Einer, der die Füße und Beine berührt hatte, sagte: »Er ist mächtig und stark wie ein Pfeiler«. Um zu einer integrativen Sicht zu kommen, die soweit wie möglich das Ganze in den Blick bekommt, ist es sinnvoll, »von unten nach oben« vorzugehen. Daher wollen wir zunächst einige physiologische Aspekte unseres Träumens aufzeigen.
Ergebnisse der physiologischen Traumforschung Das Studium der körperlichen Entsprechungen unserer Träume ist der jüngste Zweig der Traumforschung. Die Befunde gewann man in Schlaflabors an Gesunden und an Schlafgestörten, bei denen man während des Schlafes alle möglichen Daten ableitete, vor allem die Hirnströme, das Elektroencephalogramm (EEG) und verschiedene Muskelspannungen, insbesondere an den Augenmuskeln. Was wurde dabei deutlich? Der Einfachheit halber seien hier wesentliche Ergebnisse der physiologischen Traumforschung schlicht aufgezählt: • Der Schlaf ist kein Vakuum, sondern ein aktiver Prozeß, bei dem weder die Funktionen unserer Organe noch die unserer Sinne ruhen. • Der Schlaf und der Traum werden von tieferen Schichten unseres Gehirns, dem Althirn, angestoßen, wobei die Großhirnrinde, auf der unser Bewußtsein beruht, stark aktiviert, aber von äußeren Informationen weitgehend abgeschnitten ist. Zugleich spieen sich chemische Prozesse ab, die die Informationsverarbeitung, verglichen mit dem Wachzustand, nachhaltig verändern. • Auch höhere Säugetiere und Kinder im Mutterleib weisen Hirnstrommuster auf, ähnlich wie wir sie bei uns finden, während wir träumen. Daraus folgt zwar nicht notwendigerweise, daß auch sie träumen, wohl aber, daß unsere Träume eine materielle Entsprechung in physiologischen Vorgängen von weitreichender Bedeutung haben. • Traumphasen und traumlose Phasen stehen in Beziehung zueinander: Wir träumen erst nach Eintritt des Schlafes. Dies und die Steuerung aus urtümlichen Hirnbereichen läßt den Schluß zu, daß der Traum ein »Gefangener des Schlafes« ist. Das heißt aber nicht, daß Träume Hirngespinste sind, die sich a s bloßer Ausdruck von Hirnereignissen ableiten lassen. Wohl aber bedeutet es aufgrund der Gebundenheit unseres Bewußtseins an das Gehirn, daß man nicht erwarten kann, der Traum könne Leistungen erbringen, die »über« denen des Wach bewußtsei n s stehen. Hingegen kann der Traum diese durchaus aufgrund seiner Andersartigkeit im Vergleich zu unseren Wachzuständen ergänzen und auf diese Weise Neues schaffen.
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• Zwischen der »Tiefe« des Schlafes und der »Tiefe« der Träume im Sinne einer Rückkehr zu besonders urtümlichen Bewußtseinsformen besteht keine direkte Beziehung. Die »Tiefe« der Träume läßt sich also nicht als körperlich bedingt verstehen. Damit entfallen zugleich viele Argumente etwa der Art, daß wir schwer träumen, weil wir vorher schwer gegessen haben. • Traumphasen sind, was die Schlaftiefe angeht, weniger »tief« als Tiefschlafphasen. Wir sind also im Traumschlaf empfindlicher gegen Umweltreize. Die Sinnesorgane wenden sich vorwiegend inneren Prozessen zu und tragen dazu bei, den Träumen jene vollsinnlichen Qualitäten zu geben, die sie auszeichnen. Im Wachen sind wir vorwiegend auf die Welt der Außenwahrnehmungen und der Orientierung bezogen, im Traum dagegen beziehen wir uns vor allem auf die Welt unserer »inneren Bilder«, auf unsere Triebe und auf unser Unbewußtes. • Während wir uns im traumlosen Schlaf oft lebhaft hin- und herwälzen, ist unsere Muskelspannung im Traumschlaf erniedrigt. Unsere Alpträume, in denen wir fliehen möchten, aber außerstande sind, uns zu bewegen, spiegeln diese Situation getreulich wider. • Wir erwähnten bereits, daß wir Nacht für Nacht etwa vier- bis fünfmal träumen. Das läßt sich unter anderem daran feststellen, daß wir während des Träumens unsere Augen schnell bewegen. Dafür hat sich der Ausdruck REM-Phasen eingebürgert (vom englischen: »rapid eye movement«: schnelle Augenbewegung). • Das Ende einer REM-Phase ist ein Hinweis dafür, daß ein Traum zu Ende ist. Weckt man den Träumer unmittelbar danach, dann kann er sich meist an den Traum erinnern. Davon weiß er jedoch am nächsten Morgen oft nichts mehr. Am ehesten kann er sich noch an Gefühle erinnern. Gefühle, die man nach dem Aufwachen hat, bilden also häufig eine »Brücke« zum Erinnern von Träumen. Das heißt, daß es sinnvoll ist, das Merken von Träumen zu üben. Aber es wäre falsch zu erwarten, daß man sich jeden Traum merken kann. Auch sollte man nicht den Schluß ziehen, das Nicht-Merken von Träumen deute in jedem Fall auf eine Verdrängungsbereitschaft hin. Wir wissen heute, daß es »bessere« und »schlechtere« Träumer gibt und daß dies mit bestimmten Charakterstrukturen zusammenzuhängen scheint.
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• Hindert man Menschen am Träumen (indem man sie jedesmal am Beginn einer REM-Phase weckt), dann versuchen sie, in immer rascherer Folge die ausgefallenen Träume nachzuträumen. Gelingt ihnen das nicht, dann werden sie zunehmend unleidlich. Bricht man daraufhin das Experiment immer noch nicht ab, so können nach wenigen Tagen schwere psychische Störungen auftreten, die verschwinden, sobald der Betreffende wieder schläft. Das spricht dafür, daß Träume, unabhängig davon, ob man sich an sie erinnert beziehungsweise sie deutet oder nicht, zur Aufrechterhaltung der psychischen Stabilität notwendig sind, ja daß sie eine lebenswichtige Funktion haben. C. G. Jung hat das schon vor der experimentellen Traumforschung gesehen und das Phänomen »automatische Kompensation« genannt (27). Warum das so ist, wissen wir letztlich nicht. Vermutlich jedoch hängt es mit der Aufarbeitung (Verdauung) von unnötigen und unerwünschten Erinnerungen zusammen. Anderenfalls würden wir immer mehr zu deren Sklaven und immer unfähiger werden, uns ständig neu auf die Wirklichkeit einzustellen. • Kennzeichnend für viele Träume ist ein ständiges Hin- und Herfließen von Gegenwart und Vergangenheit. Offenbar geht es dabei um ein zweites Element neben der inneren Entlastung, nämlich um eine Weiterführung unerledigter Themen, um ein Einüben neuer Haltungen und um ein Ausschleifen eingefahrener, zur Routine erstarrter Vorstellungen und Sichtweisen durch das Verkoppeln aktueller mit früheren Erfahrungen. Es scheint also eine wichtige Aufgabe des Träumens zu sein, Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, indem sie Abgespeichertes sozusagen immer wieder neu durchspieen. Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden Sie in dem Buch »Schlaf. Gehirnaktivität im Ruhezustand« von J. Allan Hobson (-> Seite 92).
Vier »Typen« von Träumen Obwohl Träume sich meist jeder Einordnung entziehen, lassen sich doch ihrem Inhalt nach einige Merkmale ausmachen, mit deren Hilfe sie eingeteilt werden können: reine und sinnbildliche (allegorische) Träume, Tagträume und scheinbar unverständliche Träume. Bedenken Sie aber: Auch die folgende Charakteristik von Träumen sollten Sie nur als ein Hilfsmittel für das Auslegen Ihrer Träume begreifen, nicht aber als eine feststehende »Vorgabe«, der sich Ihre Träume unterordnen müssen. Reine Träume Zu allen Zeiten kennen wir reine Träume (28), die in klarer, unmißverständlicher Weise anzeigen, was sie bedeuten.
Zwei Beispiele Das wohl bekannteste Beispiel stammt wiederum aus der Bibel: Als Pila-tus auf dem Richtstuhl saß, um über Jesus zu urteilen, ließ ihm seine Frau sagen: »Laß die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum« (Matthäus 27, 19). Ein neueres Beispie eines reinen Traumes gab Leopold Szondi: (29). »Als rekonvaleszierender Sanitätsleutnant faßte ich in Wien eine tiefe Neigung zu einer Sprachlehrerin, die blond, sächsischer und christlicher Abstammung war. Eines Nachts erwachte ich mit Angst aus einem Traum, in dem meine Eltern über das tragische Schicksal meines ältesten Halbbruders diskutierten. Dieser hatte mehr als dreißig Jahre vor mir auch Medizin in Wien studiert, hatte sich auch in eine Sprachlehrerin verliebt, die auch blond, sächsischer und christlicher Abstammung war. Er mußte sie vor den Abschlußprüfungen heiraten und die Medizin aufgeben. Seine Ehe war nicht glücklich. All das geschah vor meiner Geburt. Durch diesen Traum ist mir bewußt geworden, daß ich unbewußt das Schicksal meines Halbbruders wiederholte. Nun lehnte ich mich aber energisch gegen diesen familiären Zwang meines Wahlschicksals auf. Ich wollte mein eigenes, persönliches Schicksal haben und nicht ein
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bereits dagewesenes familiäres Geschick zwanghaft wiederholen. Am Morgen verließ ich Wien und kehrte ins Feld zurück.« Reine Träume wie dieser sind selten, und wir sollten uns davor hüten, einen Traum allzuschnell als »rein« zu klassifizieren.
Neunzehnte Spielregel: Im Allgemeinen enthält jeder Troum mehrere Bedeutungsebenen (Skripten). Je umfassender wir diese erfassen, desto besser begreifen wir den Traum. Eine scheinbar leichte Verständlichkeit dagegen ist meist eine Täuschung, die uns von dieser Vielschichtigkeit wegführt. Die Psychoanalyse spricht bei einem allzu leichten Verstehen eines Traumes von Widerstand, womit sie die fehlende Bereitschaft meint, sich wirklich auf die dahinterliegende Problematik einzulassen. Daher ist es auch fragwürdig, Träume zu klassifizieren, zum Beispie als Angsttraum, Wunschtraum oder Sexualtraum. Sinnbildliche Träume Schon nicht mehr so leicht zu durchschauen sind sinnbildliche oder allegorische Träume. Auch hier gibt uns die Bibel ein klassisches Beispiel, das unter dem Namen Josefs Traum in die Literatur eingegangen ist (Genesis 37, 5-8): »Einst hatte Josef einen Traum ... Er sagte zu seinen Brüdern: Hört, was ich geträumt habe: Wir banden Garben mitten auf dem Feld. Meine Garbe richtete sich auf und blieb auch stehen. Eure Garben umringten sie und neigten sich tief vor meiner Garbe. Da sagten seine Brüder zu ihm: Willst du etwa König über uns werden oder dich als Herr über uns aufspielen? Und sie haßten ihn noch mehr wegen seiner Träume und seiner Worte.« Die Auslegung von Josefs Traum, des traumkundigen Israeliten, der seinerseits einen Traum seines Pharaos gedeutet hatte (Genesis 41, 25-32), war intuitiv: Die Brüder erschlossen aus seinem Inhalt, aus der Kenntnis des Charakters ihres Bruders und vermutlich aufgrund ihrer Neidgefühle und ihrer Eifersucht seinen Sinn.
Tagträume
Merkmale des Traumbewußtseins
Auch unsere Tagträume, also das, was wir uns tagsüber zu unserem Vergnügen oder zu unserem Trost ausphantasieren, lassen sich deuten. Aber im Unterschied zu den meisten wirklichen Träumen fällt dies fast nie schwer, wei sie unmittelbar unsere Phantasien und Wünsche ausdrücken, derer wir uns durchaus bewußt sind, während wir sie erzeugen. Dies macht auch die Tagträume - ähnlich wie die meisten Kinofilme - zugleich mehr oder minder schablonenhaft, im Gegensatz zu der unendlichen Vielfalt an Möglichkeiten, die sich in jedem wirklichen Traum auftut.
Trotz aller Vielgestaltigkeit sind den meisten Träumen jedoch bestimmte Strukturmerkmale gemeinsam.
Scheinbar unverständliche Träume Die meisten Träume scheinen, von außen her betrachtet, ungereimt und unverständlich zu sein - sie können außerordentlich viegestaltig sein. Manche erschöpfen sich in einem Satz, der auch dem Alltagsbewußtsein entnommen sein könnte wie unser Bootstraum (—> Seite 37). In anderen drückt sich eine schier unerschöpfliche Vielfalt aus wie in manchen Träumen unserer Dichter (30). Auch kennen wir buchstäblich kein Thema unseres Lebens und kein Merkmal unseres Bewußtseins, das sich nicht in einem Traum nachweisen ließe. Das macht unsere Träume so bunt, daß sich prinzipiell fast ede Behauptung über deren Wesen durch andere Thesen widerlegen läßt. Dennoch wäre es falsch, »alle Katzen grau« zu machen, anstatt zu sehen, daß wir täglich zwischen einer wachen und vielen träumenden Daseinsformen wechseln.
Erweiterung der Gedächtnisleistung Im positiven Sinne zählen zu diesen Merkmalen vor allem erstaunliche Gedächtnisleistungen, die weit über unsere alltäglichen Erinnerungen hinausgehen. Sie beziehen sich sowohl auf Begebenheiten aus unserer Kindheit als auch auf Einzelheiten aus unserem Alltagsleben, die wir gar nicht bewußt registriert haben. Aber verblüffenderweise können sogar Erfahrungen und Sichtweisen aus der Frühzeit der Menschheit in unseren Träumen auftauchen, vor allem in symbolischer Form, selbst wenn wir davon bewußt nichts wissen. So werden wir zum Beispiel, wenn wir träumen, eher von Schlangen als von heranrasenden Autos bedroht, obwohl eine Gefährdung durch Schlangen im Alltag für uns so gut wie keine Rolle spielt, was man von Autos bekanntlich nicht sagen kann. Aber auch bestimmte familiäre Verhaltensmuster, vor allem in Form von Vorlieben oder Abneigungen, werden von uns häufig geträumt, auch wenn wir ihnen bis zu diesem Augenblick in unserem täglichen Leben noch niemals begegnet sind. Der Traum unseres Lehrers Leopold Szondi wäre ein Beispiel hierfür (—> Seite 54). Aufhebung der Stabilität von Raum, Zeit und Handlung Negativ ließe sich dagegen aufführen (wobei dieser Begriff »negativ« nicht abwertend gemeint ist), daß in vielen Träumen unsere Orientierung, unsere selbstreflektierende Bewußtheit und unsere Stellungnahme weitgehend ausgeschaltet sind. Das führt unter anderem dazu, daß die Einheitlichkeit von Raum, Zeit und Handlung nicht gewahrt wird, daß häufig sogar die Prinzipien der Logik oder wesentliche Naturgesetze mißachtet werden. Die Mißachtung der Stabilität und der Einheitlichkeit von Raum, Zeit und Handlung zeigt sich am deutlichsten dann, wenn Sie Ihre Situation im Wachen mit der im Traum vergleichen - zum Beispiel:
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»Wachend weiß ich, daß heute der 4. Februar ist und daß ich in meinem Büro an meinem Schreibtisch sitze. Wie aber war es heute Nacht im Traum? Ich saß ebenfalls an meinem Schreibtisch. Im Hintergrund befand sich meine Tochter, aber sie blieb schemenhaft. Mein Schreibtisch war derjenige meines Großvaters, und als ich schrieb, benutzte ich einen Federhalter, den ich aus einem Federmäppchen entnahm, das ich seit meiner Schulzeit nicht mehr in der Hand gehabt habe.« In diesem Traum sind verschiedene Zeiten zusammengeballt, und in einem Bild ist Nahes und Fernes zusammengedrängt. Mißachtung physikalischer Gesetze Vielfach werden im Traum auch physikalische Gesetze mißachtet, zum Beispie die Gesetze der Schwerkraft (etwa wenn wir träumend frei im Luftraum dahinschweben). In anderen Träumen werden elementare Kategorien der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt, zum Beispiel die Kategorie der Substanz oder der Identität, etwa wenn sich in einem Traum harte Gegenstände verbiegen, als bestünden sie aus Teig, oder wenn sich ein Objekt in ein anderes verwandelt. Verschiebung unserer Gefühle Aber auch unsere Gefühle und unsere Beurteilung sozialer Beziehungen können sich tiefgreifend verschieben. Wir können also zum Beispiel im Traum von einer Kleinigkeit gefühlsmäßig aufs äußerste bewegt sein, zugleich aber eventuell unseren Mitmenschen mit einer Kälte begegnen, die uns tagsüber völlig fremd ist. In unserer Alltagssprache formuliert könnte man sagen, daß sich in den gezeigten Abwandlungen unserer Alltagssichtweise eine außerordentliche Phantastik ausdrückt, während wir im Vergleich dazu im Wachen kritischer und nüchterner sind. Aber auch das trifft nicht ganz das Wesen der Sache.
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Übung: Auslegung eines Traumes Wir wollen uns der »Phantastik«, dem scheinbar Unverständlichen, erneut mit Fragen nähern. Das ermöglicht uns zugleich, die Einfallsmethode (—> Seite 34 und 38) noch besser einzuüben. Nehmen wir dazu den letzten Traum von dem am Schreibtisch sitzenden Träumer (—> Seite 58). Seine Tochter ist im Traum schemenhaft: Ihm fällt ein, daß er ihr zur Zeit nicht so recht »aufs Fell schauen« kann, weil er mit ihrem Freund nicht einverstanden ist. Dennoch würde er sie am liebsten ständig um sich haben (wie im Traum), weil er fürchtet, sonst könnte sie endgültig ihre eigenen Wege gehen. Der Schreibtisch paßt nicht in den Raum: Er stammt von seinem längst verstorbenen Großvater und ist ihm seit seinen Kindertagen niemals mehr in den Sinn gekommen. Der Schreibtisch war im Traum »wie geleckt«, die Bleistifte lagen in einer Reihe da, das Papier war wie mit dem Linea nachgezogen. Sollte der Träumer von seinem Großvater mehr Maßstäbe übernommen haben als ihm klar ist? Zum Beispiel dessen Pedanterie, obwohl sich doch schon sein Vater dagegen aufgelehnt hat? Hat vielleicht doch seine Frau recht, wenn sie ihm manchmal seine Kleinlichkeit vorwirft? Gewiß! Sein Vater war äußerlich eher lässig, er selbst ist es auch. Aber da gibt es auch ganz andere Seiten an beiden. Dem Träumer fällt zum Beispiel ein, wie pedantisch sein Vater während der Schulzeit seine Hausaufgaben überwachte. Vielleicht verhält er sich ähnlich. Seine Frau wirft ihm jedenfalls vor, er achte bei seinen eigenen Kindern in übertriebener Weise auf Äußerlichkeiten. Ihm fallen dazu die aufgereihten Bleistifte und das gestapelte Papier im Traum ein. Wieso aber kommt das Federmäppchen in den Traum? Es erinnert ihn an seine ersten Schuljahre. Ein überstrenger Lehrer schlug Kindern, die einen Fleck ins Heft machten oder deren Handschrift ihm nicht gefie , auf die Finger. Der Träumer hat sich damals sehr darum bemüht, schön zu schreiben, um nicht bestraft zu werden. Sollte der Drang, alles zu kontrollieren, auch heute noch stärker bei ihm vorhanden sein, als ihm deutlich ist? Sollte er sich seiner Tochter gegenüber ähnlich verhalten wie der
Lehrer ihm gegenüber in der Schule? Sollte am Ende gar seine hintergründige Pedanterie damit zusammenhängen, daß Pedanterie und Strenge in seiner eigenen Erziehung eine so große Rolle spielte? Die Psychoanalyse nennt das »Identifikation mit dem Aggressor« und zeigt, daß diese einer der urtümlichsten menschlichen Abwehrmechanismen ist. Dies führt uns zu einer wichtigen Regel zum Verständnis seelischer Zusammenhänge. Zwanzigste Spielregel; Achten Sie beim Auslegen Ihres Traumes darauf, ob nicht für Sie der Satz gelten könnte: »Sage mir, was Du ablehnst, und ich sage Dir, was Dich selber kennzeichnet«. Freilich gibt es keine Rege ohne Ausnahme, aber dieser Zusammenhang sollte in jedem Fall auf seinen Wahrheitsgehalt durchgespürt werden. Aber warum träumte dem Träumer dies gerade heute Nacht? Ihm fällt ein, daß er am Vorabend einen groben Leserbrief an die Zeitung schreiben wollte, weil er sich über einen Artikel geärgert hatte. Der Brief war schon halb fertig, da kam ihm in den Sinn: Das bringt ja doch nichts!, und er warf den angefangenen Brief in den Papierkorb. Statt dessen hat er dann pedantisch alle möglichen offenstehenden Rechnungen überwiesen, dabei jede Zahl auf den Formularen überprüft und dadurch seine Wut mit Zwang gebändigt. Hier wird eine von drei Traumursachen deutlich, die bereits die alten indischen Denker sahen (3 l): • Intensive Eindrücke aus der Umgebung - in unserer heutigen Sprache ausgedrückt: Tagreste; • die Grundsäfte - in heutiger Terminologie: Einfärbung durch die jeweilige Charakterstruktur beziehungsweise das Temperament; • das Karma - in unserer Sprache ausgedrückt: unsere Biographie. Soweit die sicherlich nicht abgeschlossene Auslegung dieses Traumes. Ein weiteres Charakteristikum der Träume ist ihre Bildersprache.
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Die Bildersprache der Träume Unsere Träume vollziehen sich vorwiegend in Bildern, die scheinbar ohne Anfang immer schon da sind (32) und die einander meist ohne erkennbare Übergänge ablösen. Subjektiv drückt sich darin eine Wirklichkeit aus, die wir als besonders ursprünglich, ohne »des Gedankens Blässe«, erleben und in der alles Sprachliche - gemessen an der Bilderwelt - relativ zurücktritt. Objektiv betrachtet offenbart sich in dieser Bilderwelt eine urtümliche Beziehung zur Wirklichkeit, selbst wenn wir von modernen Objekten wie Autos oder Weltraumraketen träumen sollten. Der Spracherwerb ist nämlich der jüngste Entwicklungsschritt eines jeden von uns, ja der gesamten Menschheit: Wir alle waren bereits in vielfacher Weise in unsere Mitwelt einbezogen, bevor wir zu sprechen gelernt haben. Für uns erwächst daraus die Schwierigkeit, daß wir »beim Wort längst vergessen (haben), aus welchem konkreten Bild es hervorgegangen ist, und erkennen es darum in seiner Ersetzung durch das Bild nicht wieder« (Freud, 33). In dieser erschwerten Zugänglichkeit unserer Träume iegt eine Chance begründet und zugleich führt sie, wenn man damit nicht richtig umgehen kann, zu bestimmten Mißverständnissen. Über den richtigen Umgang Die Chance der Bildersprache besteht darin, daß sie uns durch ihre vielen Anspielungen von Begriffen und Abstraktionen und vom unverbindlichen Registrieren wegführt, zu dem wir oft neigen. Schließlich »unterfüttert« sie das bloß Gedachte mit Gefühlen und Affekten, über die wir im Alltag gerne achtlos hinweggehen. So führt die Bildersprache mehr oder minder zu einer Gleichsetzung des Schauenden mit dem Geschauten im Erlebnis des Schauens. Dadurch aber wird der Träumer bis zu einem gewissen Grad verwandelt, weil er gleichsam wie von selbst in den Strom des Erlebens eintritt und so Anschluß an von ihm abgewehrte oder vernachlässigte unbewußte Tendenzen und Entwicklungsmöglichkeiten bekommt.
Andererseits macht diese erschwerte Zugänglichkeit unserer Träume die zweierlei Mißdeutungen begreiflich, von denen wir bereits gesprochen haben (—> Seite l 2) und die wir jetzt besser begreifen: • Einseitige Romantiker neigen in ihrer Verklärung der Vergangenheit dazu, den Träumen einen besonderen Tiefsinn zu unterstellen, bloß weil sich in den Traumbildern alte Bewußtseinsschichten offenbaren. Dabei verwechseln sie oftmals »tief« mit »hoch«, wenn sie insgeheim der frühmenschlichen Überzeugung frönen, die träumende Seele steige nächtlich zu »höheren« Erfahrungen auf. • Einseitig Fortschrittsorientierte dagegen tun die Träume aufgrund von deren »Primitivität« als belanglos ab. Wer beide Einseitigkeiten vermeidet, für den kann die Rückkehr zu den Ursprüngen unseres Bewußtseins, die in vielen Träumen stattfindet, zur Quelle wichtiger Einsichten werden, falls es ihm gelingt, sie mit den Möglichkeiten unseres heutigen Bewußtseins in Beziehung zu bringen. Ohne diese Bemühung wird er sich allerdings leicht in bloße Phantasien verstricken, denn Träume sind der Interpretation bedürftige Phänomene. Dazu kommt etwas weiteres: In Wirklichkeit bewegt sich kein Traum lediglich auf einer Ebene unseres Bewußtseins, sondern durchläuft dessen verschiedene Schichten gleichsam in einem ständigen Auf und Ab (—> Seite 51). Darum ist der Traum auch nicht völlig sprachlos, sondern er zeigt lediglich eine Bevorzugung des Bildhaften.
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Die Sprache im Traum Im allgemeinen hört man sich selber im Traum genauer sprechen als die anderen, wobei in jedem Fall der Rhythmus und der Klang des gesprochenen Wortes eine besondere Bedeutung haben (34). Deshalb empfiehlt es sich, jeden Traum leise vor sich hinzusprechen. Dadurch erschließen wir uns einen Zugang zum Gefühlshaften der Sprache, die ja mehr ist als ein bloßes Transportmittel für Sachinformationen: Worte mit einem »u« wie »Sumpf«, »dumpf« oder »Kummer« zum Beispiel drücken häufig eine düstere Stimmung aus. Worte mit einem »a« oder »i« wie »Wahrheit«, »Klarheit«, »Licht«, »Sieg« oder »Liebe« hingegen sind oftmals Ausdruck einer gehobenen Stimmungslage. Aber noch etwas wird durch ein solches leises, sinnendes Vorsich-hin-Sprechen des Traumtextes deutlich. Wir werden dabei oft darauf aufmerksam, wie der Traum mit der für ihn kennzeichnenden Spracharmut umgeht. Könnte das Bild, daß ich im Traum in einem Schrank eingesperrt bin, nicht heißen: »Ich bin beschränkt?« Oder könnte der Umstand, daß ich den Hut meines Freundes auf meinem Kopf trage, nicht bedeuten: »Ich fühle mich von ihm behütet«? Natürlich können solche Anspielungen überdeutet werden. Sie sind nur Möglichkeiten, die wir nicht zu fraglosen Gewißheiten aufblähen dürfen, denn Möglichkeiten sind keine Wirklichkeiten.
Weitere Merkmale des Traumbewußtseins Bilder also spielen in unseren Träumen eine besondere Rolle, was mit der Bewußtseinssituation während des Träumens zusammenhängt. Aber unsere Träume weisen verschiedene weitere Merkmale auf. Beispiel: ein Kindertraum Wir wollen sie mit Hilfe eines Kindertraums veranschaulichen. Kinderträume sind oft leichter zu verstehen als die Träume von Erwachsenen. Dennoch unterliegen sie ähnlichen Spielregeln. Hier ist zunächst der Traum. Er wurde von unserem Sohn mit fünf Jahren geträumt: »Ich gehe mit Papa ins Deutsche Museum. Wir besuchen die große Rakete. Plötzlich lacht die Rakete und sagt: Knackwurst-Knackwurst.«
Vorgeschichte Bevor wir den Traum interpretieren, betrachten wir die Vorgeschichte. Ihre Vergegenwärtigung sollte am Anfang jeder Traumauslegung stehen: Unser Sohn war zu einem kurzen Sommerurlaub zu seinen Großeltern nach Regensburg gefahren. Am ersten Abend besuchte er mit ihnen zusammen bei schönem Wetter einen Biergarten und verzehrte dort mit großem Genuß eine typische Regensburger Spezialität: eine Knackwurst. Vor dem Einschlafen klagte er kurz über Heimweh, schlief dann aber alsbald ein.
Besondere Elemente des Traumes Betrachten wir den Traum, dann stoßen wir auf zwei bereits benannte Phänomene: die Bedeutung des Rhythmischen (das Wort: »Knackwurst« wird wiederholt) und die Betonung des Buchstaben »a« (der Traum scheint in eher gehobener Stimmungslage abgeschlossen worden zu sein). Was aber kommt an neuen Elementen hinzu? • Ein Gegenstand, näm ich eine Rakete, lacht und spricht. Eine der wichtigsten Errungenschaften im Laufe der individuellen und der Menschheitsgeschichte besteht darin, zwischen Ich und Außenwelt sowie zwischen lebendig und leblos unterscheiden zu können. Bei Kindern ist
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die Tendenz, leblosen Objekten Leben zuzuschreiben - man spricht von animistischem Denken-, norma erweise noch vorhanden. Insofern ist die lachende Rakete für einen Fünfjährigen nichts Ungewöhnliches. Aber auch Erwachsene können in ihren Träumen noch animistisch empfinden. • Der »Gefühlston« entsteht dadurch, daß wir ständig - und zwar sowohl im Wachen als auch im Träumen - unsere Zustände nach außen verlegen und sie dort antreffen (—> Seite 66, Projektion). Projektion heißt also, daß ein innerer Zustand von außen zum Bewußtsein kommt, oft auch in verstellter Form. Wer sich an Träume erinnern möchte, der sollte sich auch deshalb ihren »Gefühlston« vergegenwärtigen. In dem Maße, in dem wir das einüben, stellen wir fest, daß wir alle Menschen, ja sogar alle Gegenstände ständig mit einem Gefühlston besetzen: Meine Armbanduhr ist für mich mehr als ein Gegenstand der Marke X des Baujahrs Y. Wenn ich sie sehe, schwingt dabei meine »Geschichte«, die ich mit ihr hatte, in Form von unterschwelligen Erinnerungen mit. Die Besetzung von Menschen und Gegenständen mit einem bestimmten Gefühlston bleibt freilich nicht immer gleich, sondern vollzieht sich in einem dauernden Wandel und Fluß.
Traumarbeit nach Freud Wie läßt sich das auf unseren Kindertraum übertragen? Der Junge stand beim Einschlafen unter einem Konflikt: Einerseits war er gerne bei den Großeltern, andererseits aber litt er in der für ihn weniger vertrauten Umgebung unter Heimweh. Ihm war also in dem Moment wahrscheinlich eher nach Weinen als nach Lachen zumute. Im Traum wird das Weinen ins Lachen verwandelt (Verkehrung ins Gegenteil). Allerdings lacht nicht er, sondern die Rakete. (Man könnte im Sinne des psychoanalytischen Deutungsschemas sagen, hinter der Rakete stecke der »phallisch« gesehene mächtige Vater, der ihn zugleich tröstet.) Dabei wird die Rakete von einem Instrument der Macht und Faszination zu etwas Eßbarem verschoben (Verschiebung), beziehungsweise Rakete und Knackwurst werden in einem Bild verdichtet (Verdichtung). Psychoanalytisch ausgedrückt: Es findet dabei eine Regression auf die orale Stufe statt; ein Rückschritt also auf die Entwicklungsstufe, in der der Mund die hauptsächliche Quelle lustvoller Empfindungen ist.
Das Beispiel soll zeigen, daß es sinnvoll ist, die Traumwirklichkeit mit dem Netz psychoanalytischer Begrifflichkeit zu überziehen, wei dadurch ein Stück Traumarbeit deutlich wird. Freud rechnet zu ihr die Projektion, die Verdichtung, die Verschiebung und die bereits besprochene sekundäre Traumbearbeitung (-> Seite 41). Diese Mechanismen greifen häufig ineinander. Freud nahm an, daß es zur Traumarbeit unter der Wirkung eines unbewußten Systems kommt, des Zensors (35): Dieser entstelle »latente« (verborgene) Traumgedanken, Triebe und Bedürfnisse zum »manifesten« (geträumten) Traum. Somit sah Freud im Traum nichts Ursprüngliches, sondern begriff ihn abgeleitet aus den genannten Kräften und Phantasien. Zwar können wir diese Ansicht heute nicht mehr teilen, denn dadurch würde in letzter Konsequenz ein »Männchen im Mann« vorausgesetzt, das im Hintergrund wirkt, ohne daß wir davon etwas wissen. Statt dessen sehen wir in unseren Träumen in erster Linie den Ausdruck einer besonderen Bewußtseinssituation - des Traumbewußtseins - und finden den Begriff »Arbeit« eher im Zusammenhang mit der Umwandlung der Traum-Sprache in die Sprache unseres Tag bewußtsei n s für angemessen. Dennoch geben die von Freud aufgezeigten Mechanismen Einblick in die Bedeutung vieler Traumphänomene. Projektion: Einen der Mechanismen, die Projektion, sollten wir näher ansehen, wei gerade er uns zu einem vertieften Verständnis unserer Träume verhilft. Eine Projektion verstehen wir vor allem in dem Sinne, daß eine innere Strebung verdrängt wird und sich statt dessen von außen in verstellter Form zeigt. Ein Beispiel wäre, daß jemand sich im Traum angegriffen fühlt, obwohl er eigentlich selbst voller Aggressionen steckt. Eine vollständige Projektion schließt demnach mehrere Elemente in sich: • Verdrängung einer inneren Strebung, • Entstellung des verdrängten Inhalts, häufig ins Gegentei, • Hinausverlegung dieser Strebung in die Außenwelt (zum Beispiel in andere Menschen), • Wiederkehr dieser Strebung von außen.
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Einundzwanzigste Spielregel: Auf die Traumauslegung angewendet bedeutet das, daß Sie immer auch das Gegenteil in Betracht ziehen sollten: Wo etwas »groß« ist, müssen Sie »klein« mitdenken; hinter Haß steht oft heimliche Liebe; hinter Unterwerfung finden sich häufig Machtansprüche. Allerdings handelt es sich auch dabei nur um Möglichkeiten des Traumes, die sich nicht verallgemeinern assen. Hier ist wieder jedes »eigentlich« fehl am Platz (»jetzt weiß ich, daß es eigentlich umgekehrt ist, wie es im Traum erschien«). Vor allem lassen sich eigene Projektionen nur schwer feststellen, wenngleich deren Aufzeigen bei der therapeutischen Beschäftigung mit Träumen eine wichtige Rolle spielt. Verschiebung/Verdichtung: Auch bringt der Traum Gedanken oft nicht in logische Beziehungen und kann zudem keine Alternativen oder Gegensätze ausdrücken. Statt dessen setzt er diese einfach nebeneinander beziehungsweise verschmilzt sie zu einem Bild (in Wirklichkeit steht die Rakete in München und die Knackwürste gehören nach Regensburg). Auslegung des Traumes Nach allen diesen Erörterungen dürfte uns nunmehr die Deutung des Kindertraumes nicht mehr schwerfallen: Es ging dabei um die Bewältigung des Konfliktes zwischen dem Wunsch des Jungen, seinen Urlaub bei seinen Großeltern zu verbringen, und dem plötzlich vor dem Einschlafen auftauchenden Heimweh. Betrachtet man den Humor, der sich im Traum ausdrückt, und die Tatsache, daß unser Sohn am nächsten Morgen fröhlich davon berichtete, dann wurde dieser Konflikt mit Hilfe des Traumes von ihm gelöst.
Der dramaturgische Aufbau unserer Träume
Lysis (Lösung)
In den meisten Träumen spiegelt sich nicht nur eine bestimmte Bewußtseinsstruktur wider, die sich vor allem in jenen Merkmalen ausdrückt, die wir gezeigt haben. Träume folgen meist auch einer bestimmten formalen Struktur, die fast immer auffallend einheitlich ist und dem Aufbau eines Dramas gleicht (36).
Das Resultat des Traumes - die Spannung löst sich auf, und es wird manchmal sogar ein »happy end« erreicht: Plötzlich merke ich, daß es um eine Fechtstunde geht und nicht um einen wirklichen Kampf. Hinterher besprechen wir unsere Fechttechnik. Ich bin zufrieden, weil ich etwas gelernt habe. Da gehe ich wieder zu der Wiese zurück und will weiter zu meinem Hotel hinunterrutschen.
Beispiel: der Traum einer 40jährigen Frau Wir wollen diese Struktur am Beispiel des Traums einer etwa 40jährigen Frau veranschaulichen. Auch hier geht es weniger um die Deutung (wobei Sie freilich unschwer erkennen können, daß in ihrem gegenwärtigen Leben das Rivalisieren mit Männern eine besondere Rolle spielt), sondern um den typischen Aufbau eines Traumes.
Abweichungen in der Dramaturgie Abweichungen von diesem Schema mit seinen vier Gliedern sind bemerkenswert, und der Träumer sollte sich fragen, wie er sie sich möglicherweise selbst erklären kann. Das kann in zweierlei Richtungen geschehen.
Der Troum ist auffallend kurz Exposition Bei ihr geht es meist um eine Ortsangabe und die Einführung einer handelnden Person: Bei schönem Wetter rutsche ich auf meinem Hosenboden einen Grashang hinunter, was mir wahnsinnig viel Spaß macht.
Verwicklung Plötzlich tritt eine Spannung auf, bei der man nicht weiß, wie es weitergehen soll: Plötzlich entdecke ich rechts von meiner Rutschbahn ein Bauernhaus. Es sieht unheimlich aus. Ich spüre, daß ich in Gefahr bin.
Kulmination oder Peripetie Der Traum erreicht seinen Höhepunkt, er »schlägt um«, wobei etwas Entscheidendes geschieht: Wie unter Zwang betrachte ich das Haus. Da springt ein älterer Mann mit einem kurzen Schwert auf mich zu. Auch ich habe ein Schwert, das länger ist als seines. Wir beginnen zu kämpfen. Er ist mir technisch überlegen, worüber ich mich ärgere.
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Kennzeichnende Bestandteile eines »typischen Traumes« fehlen: Mußte ich vielleicht wichtige Glieder in der Erinnerung auslassen, also verdrängen? Oder habe ich am Ende gar während des Träumens die »Notbremse« eines plötzichen Erwachens gezogen, weil ich im Traum in eine Entwicklung hineingeriet, die mich so aufwühlte, daß ich nicht mehr weiterschlafen konnte? Oder hat mich etwas besonders geängstigt, was ich auch jetzt noch als ängstigend erlebe oder was ich als Verschiebung begreifen könnte?
Der Traum ist auffallend lang Kreise ich vielleicht um ein Problem »wie eine Katze um den heißen Brei«, sei es, weil ich so viel Angst davor habe, daß ich es nicht zu einer Lysis »durchträumen« kann, also auch im Traum keine Lösung dafür sehe? Oder aber: Habe ich mir im Alltag einen ström inienförmigen »Effizienzstil« angewöhnt, der alles Kreative und alles »sowohl-als-auch« wegläßt, so daß es des Traums bedarf, alle Möglichkeiten spielerisch durchzuprobieren? (Mit Recht nennt Freud das Denken eine »Probeaktion«.) (37) Wie stimmt also das Nicht-zuEnde-Kommen im Traum mit der Haltung meines Wach bewußtsei ns zusammen? Kann ich vielleicht beide Ebenen besser aufeinander abstimmen?
Die Symbolsprache der Träume Träume lassen sich ohne Kenntnis von Symbolen nicht deuten. Was hat man unter einem Symbol zu verstehen? Es weist hin auf einen Bereich, der sich mit Einfällen und Assoziationen nicht mehr erreichen läßt. Einfälle haben uns bisher auf zweierlei Weise genützt: • In Form einer Vertiefung in jede Einzelheit unseres Traumes, bis uns seine Bedeutung so weit wie möglich aufgegangen ist; • in Form von Einfällen zu unserer Lebensgeschichte, zu unserem biographischen Hintergrund. Diese beiden Zugangswege haben aber eine Grenze, die darin liegt, daß eine ausschließlich kausale Betrachtung der Träume, also eine Ableitung ihrer Inhalte aus der Vergangenheit, zur Eindeutigkeit und damit zu einer Verflachung des Traumverständnisses drängen würde. Nun wurde aber, wie wir zeigten, im Zuge der Traumforschung nach Freud deutlich, daß Träume auch zukunftsweisende und überpersönliche Aspekte enthalten können (-> Seite 43). Diese Tatsache lenkt den Blick zwangsläufig auf die Ebene der Symbole. Das Wesen der Symbole Unter einem Symbol verstehen wir einen Namen oder ein Bild, das durch eine merkwürdige Spannung gekennzeichnet ist: Es ist uns zwar oft im alltäglichen Leben vertraut (denken Sie zum Beispiel an das Kreuz) und stellt etwas dar, was für Vieles steht. Dennoch besitzt es zusätzlich zu seinen herkömmlichen Bedeutungen weitere Nebenbedeutungen, die sich unserem Alltagsbewußtsein nicht ohne weiteres erschließen (38). Das Vorliegen von Symboen im Traum erkennen wir vor allem daran, daß uns zu ihnen auch besten Wissens nichts einfällt, was ihren Kern, ihr Wesen wirklich erfaßt. Das ist in diesem Fall kein Widerstand gegen eine Bewußtmachung, sondern darin kommt der überpersönliche Charakter des Symbols zum Ausdruck. Was ein Symbol aussagt, läßt sich niemals vollständig in die rationale Ebene übersetzen. Es hat dieser gegenüber also sozusagen einen »Mehrwert«.
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Der Umgang mit Symbolen Mit dieser Eigenart der Symbole hängt es zusammen, daß sie bei den meisten von uns eine starke Gefühlsreaktion auslösen, sei es im Sinne von Abwehr oder umgekehrt: von Faszination. Die einen werden dabei ärgerlich und gehen skeptisch an die Symbole heran, wei diese nicht in ihr Alltagsdenken passen, das von Begriffen bestimmt wird. Aber wenn sie sich an ihre eigenen Träume erinnern, werden sie feststellen, daß auch sie sich dabei oftmals in einer Symbolwelt bewegen. Auch das andere Extrem findet sich oft: Symbolsüchtigkeit aus Naivität. Wir erwähnten bereits jene Symbol-Lexika, die dem Leser versprechen, daß er mit ihrer Hilfe seine Träume ergründen könne. Wer in einer Buchhandlung die Literatur über Träume durchmustert, der stellt fest, wie verbreitet diese Auffassung auch heute noch ist. Aber auch manche Psychotherapeuten verhalten sich Symbolen gegenüber merkwürdig einschichtig. Für sie ist klar: »Schlange bedeutet ...« und dann kommt die Meinung ihrer tiefenpsychologischen Schule. Beide Haltungen gehen mit ein und demselben Sachverhalt gegensätzlich um: der »Prägemacht der Symbolik« (Ludwig Klages). So verkennen sie das Wesen von Symbolen. Um dieses zu verdeutlichen, wollen wir die Symbole zunächst von Begriffen und Neusymbolen abgrenzen.
Begriffe und Neusymbole Begriffe heißen so, weil wir damit eine Vielzahl von Fällen begreifen. Sie führen zu deutlichen, unverwechselbaren Aussagen über umschriebene Eigenschaften oder Tatsachen, die diese von allen anderen Eigenschaften oder Tatsachen unterscheidet (»eine Schlange ist ein Reptil, das sich von anderen Reptilien durch die Schuppenbildung und die Bildung der Augenlider unterscheidet«). Was wir über die Eigentümlichkeiten von Begriffen sagten, gilt auch für Neusymbole, zum Beispiel für Verkehrszeichen. Sie sind unter Umständen lebenswichtig, zum Beispiel, wenn wir das Verkehrsschild übersehen, das bedeutet: »Vorfahrt beachten!«. Manche Neusymbole sind sogar äußerst prägnant, ja suggestiv. Darauf verwendet die Werbung viel Mühe und Überlegung.
Allegorien, Metaphern, Gleichnisse Wir kennen weitere Darstellungsweisen der Wirklichkeit, die häufig in Träumen vorkommen, ohne daß wir dabei von Symbolen sprechen können: Allegorien, Metaphern und Gleichnisse. • Bei einer Allegorie (wörtlich: das Anderssagen) wird ein Begriff in einem Bild dargestellt, oft in Form einer Person, zum Beispiel in mittelalterlichen Kirchen das Alte und Neue Testament, Synagoge und Ecclesia, als zwei Frauengestalten (zum Beispiel im Straßburger Münster). Das Alte Testament erscheint dabei als Verliererin mit einer Binde vor den Augen, also blind, und mit einem zerbrochenen Stab in der Hand, das Neue Testament dagegen als aufrechte Siegerin mit Krone, Kelch und Kreuzesfahne. Was gemeint ist, begreift man nicht aus dem Bild heraus, sondern man weiß es erst, nachdem man es gelernt hat. • Metaphern drücken in einem Bild etwas Bestimmtes durch einen anderen Bedeutungszusammenhang aus, zum Beispiel den Vater als Oberhaupt. • Gleichnisse sind uns vor allem aus der Sprache der verschiedenen Religionen vertraut. Denken Sie zum Beispie an die vielen Gleichnisse Jesu, etwa jenes, in dem ersieh als guter Hirte bezeichnet. In den Gleichnissen werden unter Umständen tiefe Geheimnisse in schlichten Bildern dargestellt, die vor allem der Natur oder dem menschlichen Alltag entnommen sind.
Ein Beispiel: der Troum eines jungen Mannes Alle diese Bereiche kommen auch in unseren Träumen vor. Sie können darin entweder mehr bewußtseinsnah oder mehr bewußtseinsfern und dann meist zugleich gefühlsgeladen sein. Das kommt sehr anschaulich im Traum eines jungen Mannes zum Ausdruck: Ich stehe an einer Fußgängerpassage vor einer Verkehrsampel. Auf der anderen Seite geht ein schönes Mädchen, zu dem ich hinübermöchte. Die Ampel ist auf »grün« geschaltet, zugleich steht auf ihr in großen Lettern geschrieben: »Halt!« Ich weiß nicht, worauf ich mich verlassen soll, auf die Farbe oder auf die Schrift. Zur Vorsicht bleibe ich stehen und tue gar nichts.
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Man muß nicht ange raten, um zu erkennen, wo das Problem des jungen Mannes lag: Er wußte nicht, worauf er sich verlassen solle: Auf seine Gefühle (die »Farbe«) oder auf seinen Verstand beziehungsweise psy-choanalytisch ausgedrückt: auf sein Über-lch (die »Schrift«). Er stammte aus einer fundamentalistischen kirchlichen Gemeinschaft, die auf die wörtliche Auslegung der »Schrift« (der Bibel) sowie auf strikte Einhaltung bestimmter Moralvorschriften besonderen Wert legte.
Bedeutung und Symbol Für den Träumer hatten Farbe und Schrift im Traum unterschiedliche Bedeutung, die wir hier ohne weiteres erfühlen können. Das gelingt freilich nicht in jedem Fall. Die Grenze legt dabei darin, daß wir alle, wie wir bereits ausgeführt haben (-> Seite 21), weniger in einer Welt der Gegenstände als vielmehr in einer Welt der Bedeutungen leben, die etztlich subjektiv ist. Bei jeder Auslegung eines Traumes geht es zunächst darum, die Vielfalt dieser Bedeutungen möglichst umfassend zu erschließen. Die verschiedenen Bedeutungen eines (Traum-)Bildes werden uns am ehesten dann zugänglich, wenn wir uns auf dieses Bild sinnend einlassen. Aber wie das Gleichnis nicht das Innerste einer re igiösen Aussage ausmacht, weshalb Jesus es als eine Sprache für »die draußen« bezeichnet (Markus 4, 11), so macht die Gesamtzahl aller Bedeutungen allein noch nicht das Wesen eines Symbols aus. Das Wort »Symbol« könnte jedoch nahelegen, worum es dabei geht: Die griechische Sprachwurzel »symbällein« bedeutet »zusammenwerfen« oder »zusammenbringen«.
Der ganzheitliche Charakter der Symbole Ursprünglich verstand man unter einem Symbol ein Erkennungszeichen, bei dem sich ein abgebrochenes Stück (zum Beispiel eines Ringes) an seinem Bruchrand genau mit einem anderen Stück zusammenfügen ieß. Es zur rechten Zeit wieder zusammenzufügen, bedeutete ein Erkennungszeichen, das verpflichtenden Charakter hatte. In gleicher Weise hat ein Symbol verpflichtenden Charakter, zugleich stellt es eine Ganzheit dar, nämlich eine Ganzheit von Persönlichem und Uberpersönlichem sowie von Sinnlichem und Nicht-Sinnlichem:
• Bedeutungen sind immer meine persön ichen Bedeutungen. Für mich hat dieser Gegenstand, dieses Wort ganz bestimmte Bedeutungen. Häufig teile ich meine Sicht mit anderen Menschen, die ähnlich empfinden und fühlen wie ich. Symbole dagegen scheinen für alle Menschen verbindlich zu sein, obwohl wir keine allgemeingültige Symbolsprache kennen. Symbolen gegenüber befinden wir uns in der Situation des Menschen nach der babylonischen Sprachverwirrung. • Das Sinnliche (zum Beispiel ein Ring oder eine Schlange) hat im Symbol seine Eigenbedeutung, ist also mehr a s ein bloßer Aufhänger für das nicht mehr sinnlich Erfaßbare (also die dahinterstehenden Bedeutungen, Möglichkeiten oder Zusammenhänge). Beide Seiten des Symbols - die sinnliche und die geistige - gehören untrennbar zusammen. Wir müssen also sozusagen beide Teile des Ringes gleich ernst nehmen.
Symbole und Mythen sind nicht willkürlich erfunden Symbole und Mythen sind in einem jahrtausendelangen Prozeß entstanden. Zwar haben sich einzelne Bedeutungen der Symbole im Laufe der Zeiten gewandelt, ja manchmal veroren sie sogar ihren ursprünglichen Sinn. Dieser stellte sich dann aber meist zu anderen Zeiten wieder neu her. Immer blieb dabei erhalten, daß es um für uns Menschen wesentliche Sinngehalte ging. Auch für moderne Menschen sind Symbole bedeutsam und auf ihre Weise ebenso wahr wie das rationale Denken. Wirft man sie sozusagen durch die Vordertür (des Bewußtseins) hinaus, so kommen sie - meist mit entstellter, neuer Bedeutung - durch die Hintertür (des Unbewußten) wieder zum Vorschein und üben dort, oft zu Idolen entstellt, unter Umständen eine verheerende Wirkung aus (zum Beispiel das alte Swastikasymbol als Hakenkreuz im Dritten Reich, nachdem die altchristlichen Symbole von den Nazis gewaltsam abgeschafft und durch nicht verstandene germanische Symbole willkürlich ersetzt worden waren).
Wir können Symbole nicht begreifen Kennzeichnenden wirklichen Symbolen ist, daß sich in ihnen nicht nur Sinnliches und Übersinnliches, sondern Inneres und Äußeres, Vergange-
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nes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sowie Sachverhalte der verschiedensten Ebenen in einem einzigen Bild ausdrücken können, wobei zwischen diesen Ebenen ein »stets schwebender Übergang« (39) besteht. In seinen »Maximen und Reflexionen« (633) hat Goethe diese »schwebenden Übergänge« in genialer Weise gekennzeichnet: »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und (zwar) so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe«. Goethe sagt somit, daß wir ein Symbol etztlich nicht begreifen können, wei sich alles Begreifen nur auf einer Ebene - der rationa en - abspielt, während das Symbol über die sichtbaren Erscheinungen auf das selbst nicht sichtbare Geistige hinweist und dies vorsichtig tastend erschließt. Man kann das am Bild des Horizonts veranschaulichen. Wir vermögen zwar nicht über ihn hinauszuschauen, aber im Wort »Horizont« ist das Jenseitige des Sichtbaren bereits mitgesetzt. Zum anderen drückt Goethe im Wort »wirksam« aus, daß das Symbol gleichsam kraftgeladen und in ständiger Wandlung begriffen ist. Das erste hängt damit zusammen, daß wir Menschen an der materiellen und an der geistigen Wirklichkeit gleichermaßen teilhaben, ohne in der einen oder der anderen aufzugehen. Das zweite dagegen gilt in dem Sinne, daß das Symbol zwar nicht auf einen Gedanken »hinter« sich verweist, wohl aber einen immer mehr sich vertiefenden, nie abschließbaren Denkprozeß in Gang setzt (40). So spiegelt es den ständigen Wechsel unseres Bewußtseins und unserer Situation wider, dem wir lebenslang unterworfen sind. Die seelische Wirklichkeit ist also nicht statisch, sondern dynamisch: Was heute möglich ist, kann morgen wirklich sein, und was heute wirklich ist, ist dann zur Vergangenheit abgesunken. Symbole werden diesem Wandel eher gerecht als Begriffe. Wir heutigen Menschen wollen in einer eindeutigen Wirklichkeit mit feststehenden Bedeutungen leben. Dies ist aber nur bei der Allegorie möglich: Wenn wir sie entschlüsseln können, »haben« wir sie tatsächlich. Symbole dagegen verbildlichen Ideen, die man nicht »haben« kann, die aber sind und die ihrerseits die Wirklichkeit, ja unser Dasein in ein anderes Licht rücken. Was hilft uns das weiter? Der Reiz im Umgang mit
ihnen besteht darin, daß wir sie zwar nicht beherrschen können, daß sie aber unsere Sicht der Wirklichkeit ändern, wenn wir sie erleben und erfahren. Die Schlange - ein »klassisches« Symbol Wie Sie sich selbst den Zugang zu den Symbolen erarbeiten können, werden wir nunmehr anhand der Schlangensymbolik veranschaulichen. Versuchen Sie dabei, den Übergängen zwischen den einzelnen Aspekten des Symbols nachzuspüren, auch wenn wir sie aus didaktischen Gründen nacheinander aufführen.
Drache und Schlange Drache und Schlange werden als Symbole oft gleichsinnig verwendet, wobei aber der Drache im Vergleich zur Schlange eher brutale, bedrohliche Züge aufweist. Im chinesischen Kulturkreis freilich fehlt diese vorwiegend negative Beurteilung des Drachens. Dort wird er in erster Linie als Symbol der männlichzeugenden Naturkraft (Yang) gesehen und vielfach als Glückssymbol begriffen. Der geistige Platz, den der Drache einnimmt, wird auch räumlich dargestellt: Er steht im Osten, der Richtung des Sonnenaufgangs. Nicht immer ist er gleich groß, das heißt, daß seine Bedeutung für uns wechselt. Manchmal kann er klein sein wie eine Raupe, aber auch eventuell den gesamten Raum zwischen Himmel und Erde ausfüllen (41).
Die Angst vor Schlangen Die Schlange hat - verglichen mit dem Drachen - im großen Ganzen eine breitere Palette von Bedeutungen, die sich vom Biologischen bis zum Religiösen erstreckt. Wenn wir die verschiedenen Facetten ihrer Symbolik gemäß der Tradition unserer Kultur von »unten« nach »oben« durchgehen, also mit der Biologie beginnen, stellen wir fest, daß bei Befragungen die Schlange die Liste der unbeliebtesten Tiere anführt (42). Da sich die Abneigung gegen Schlangen auch bei unseren nächsten Verwandten, den Affen, nachweisen läßt, haben wir es offenbar mit einem angeborenen Mechanismus zu tun. Die Angst vor Schlangen kann
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auch durch den Verstand nicht immer gebremst werden. So berichtete Charles Darwin, wie er sich gegen die Angst vor einer auf ihn zufahrenden Schlange nicht wehren konnte, obwohl er durch eine dicke Glasscheibe geschützt war (43). Wenn wir uns mit Schlangen beschäftigen, wird deutlich, daß ihnen alle menschenähnlichen (anthropomorphen) Kennzeichen fehlen. Wir können uns also nicht mit ihnen identifizieren, werden sie zum Beispiel niemals »herzig« finden wie viele andere Tiere.
Die Gleichsetzung Schlange - Phallus Bei näherem Fragen werden die Merkmale »glitschig« und »eklig« genannt. Dies und der Umstand, daß die Schlange meist still auf der Erde liegt, obwohl sie beweglich ist, und daß sie sich meist harmlos verhält, aber plötzich hochspringen kann, wenn sie gereizt wird, legt eine sexuelle Deutung nahe. Es wäre aber falsch, wollte man daraus folgern, die Schlange »bedeute« Penis. Eine solche Übersetzung der Symbolsprache in unsere eindeutige Begriffssprache widerspricht, wie wir gesehen haben, dem Wesen des Symbols, wenngleich natürlich eine Schlange auch den Penis oder die zeugende männliche Potenz repräsentieren kann. Auch andere Argumente sprechen gegen eine einfache Gleichsetzung. So wurde festgestellt, daß der Abscheu Schlangen gegenüber mit vier Jahren am größten ist und bis zum 14. Lebensjahr eher abfällt, wobei der Eintritt der Pubertät für die Zunahme oder Abnahme keinerlei Rolle spielt. Ein weiteres Argument gegen eine einfache Gleichsetzung von Schlange und Phallus liefert der babylonische Schöpfungsmythos: Der Drache Thia-mat, der Urmutter und Gottesmutter zugleich ist, wird also weiblich erfahren. Dabei wird das Moment der Zeugung und Schöpfung mit dem Wasser verbunden: Thiamat lebt, wie viele andere Drachen und Schlangen, im Wasser. Alles Leben kommt aus dem Wasser, aber zugleich ist es davon bedroht, wieder vom Wasser verschlungen zu werden. Hier bedarf es des Eingriffs des Menschen, des Helden Marduk: Thiamat wird von Marduk erschlagen und in zwei Teile zerstückelt, woraus er dann Himmel und Erde formt. Was daraus entsteht - der Kosmos
• ist wiederum »zwie-spältig«, nämlich aus dämonischer »Natur« (Thia-mat) und göttlicher »Form« (den Händen Marduks) gebildet. Was das bedeutet, wird deutlich, wenn wir uns daran erinnern, daß wir Menschen an zwei Wirklichkeitsbereichen zugleich Anteil haben: dem der Triebe und dem des Geistes. Insofern sind wir gleichsam Amphibien, die auf zwei Ebenen existieren. Materialisten wollen den einen Bereich nicht wahrhaben, Spiritualisten nicht den anderen.
Symbol des Bösen Je mehr der Mensch sein Bewußtsein und sein Ich entwickelte, desto mehr mußte er den urtümlichen Bereich der Schöpfung und damit auch die Schlange abwehren. Er erfuhr sie zunehmend als böse. Noch in manchen Stellen des Alten Testaments war das nicht so: Moses formte eine Schlange aus Kupfer. Wer sie anblickte, blieb am Leben (Numeri 2 1 , 9 ) . Aber schon an anderen Stellen des Alten und erst recht im Neuen Testament wurde die Schlange ausschließlich zum Symbol des Bösen (des »Teufels«).
Reale Ursprünge der Bedeutungen des Schlangensymbols Wie groß auch die Spannbreite eines Symbols sein mag, stets bleibt sein konkreter Hintergrund. Für die Schlange ist kennzeichnend, daß wir sie im wörtlichen Sinne nur schwer »be-greifen« können. Diese Tatsache drückt sich nun auch symbolisch aus: Aus der physischen »Schwer-Begreiflich keit« der Schlange wurde ihr geheimnisumwitterter Charakter. Was man nicht begreifen kann, sucht man deshalb umso genauer zu beobachten: • Man sah, daß sich Schlangen im Frühjahr häuten, sich also »verjüngen«. Dadurch wurden sie zum Symbol des neuen Lebens. • Aus dem Bild der Beweglichkeit wurde die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, ein Bild des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen, wie wir es Jahr f ü rja hr in der Natur erleben. • In ihrem starren Blick schließlich sah man eine bannende Macht, die sie zum Sinnbild von Wissen und Weisheit machte. In der Schöpfungsgeschichte der Bibel ist sie »listiger als alle Tiere« und hilft dem Menschen zur Erkenntnis von Gut und Böse (Genesis 3, 1-15).
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Wandlung Unbegreifliches und Geheimnisvolles hat aber noch einen weiteren Doppelaspekt: Es ist furchterregend und anziehend zugleich, wie alles, das uns zunächst nicht vorstellbar war, in das wir uns aber hineinverwandeln (Pubertät, Mutterschaft). Insofern ist es immer auch etwas, das Wandlung und Reifung ermöglicht. Alle diese Aspekte finden sich im Schlangensymbol: Der Schöpferheld überwand nicht nur die Urmutter; er beging zugleich mit ihr, wie der Mythos andeutet, Inzest: Er tötet Thiamat mit dem Speer (Phallus) und dem Wind (Befruchtung). Die Tötung der Mutter bedeutete daher nicht deren endgültige Auslöschung, sondern zugleich den Aufbau einer neuen Welt. Der Mythos von Marduk macht uns gleichermaßen urtümlich wie großartig deutlich, daß der Mensch zum furchtbaren Verbrechen ebenso fähig ist wie zur großen schöpferischen Leistung.
Die Schlangenkraft »Kundalini« Eine besonders originelle Komponente des Schlangensymbols reicht Jahrtausende zurück und ist heute noch aktuell. Es ist dies die im indischen Kulturkreis verbreitete Lehre von der Schlangenkraft Kundalini. Sie wird als spirituelle Kraft verstanden, und man stellt sich vor, daß sie aufgerollt bei edem von uns am unteren Ende der Wirbelsäule ruht. Wird sie wachgerufen, so durchläuft sie die verschiedenen Kraftzentren (Chakren) und kann sich von dort aus sowohl in materiellen wie in seelisch-geistigen Funktionen ausdrücken. So repräsentiert zum Beispiel das dritte Chakra sowohl die aufbauenden Aspekte des Ernährungssystems (etwa der Leber), als auch des Feuers, sei es im Sinne von seelischer Wärme oder aber innerer Verwandlung (44). Widersprüchliche Bedeutungen fügen sich zusammen Am Beispie des Schlangensymbols haben wir gezeigt, daß es in die Irre führen muß, wenn man ein Symbol auf eine einzelne Bedeutung festlegen möchte. Eine Vielschichtigkeit der Bedeutungen ist ebenso kennzeichnend für Symbole wie die Tatsache, daß bei ihnen der Satz vom Widerspruch keine Gültigkeit besitzt. (Dieser Satz besagt, daß zwei
einander entgegengesetzte Urteile nicht beide wahr sein können.) Dies gilt auch für Träume im allgemeinen. Man würde es sich zu einfach machen, wollte man daraus den Schluß ziehen, Symbole seien also Ausdruck einer primitiven Denkform, auf die einzugehen sich nicht lohne. Richtig dagegen ist, daß Gegensätze sowohl unterhalb als auch oberhalb der mentalen Bewußtseinsebene nicht gelten, also außerhalb derjenigen Straße unseres Denkens, mit dessen Hilfe wir technische und wissenschaftliche Probleme lösen.
Gegensinn der Urworte Im vorrationalen Denken gibt es ein Phänomen, das wir Gegensinn der Urworte nennen. Im Lateinischen zum Beispiel heißt »sacer« sowohl »heilig« als auch »verflucht« und »altus« sowohl »hoch« als auch »tief«. Auch bei uns versteht man unter Verantwortung-Tragen noch so entgegengesetzte Haltungen wie »Rechenschaft geben« auf der einen Seite und »Fürsorge« auf der anderen. Daraus auf einen Mange an Logik zu schließen, wäre ebenso absurd, als wollte man aus dem Fehlen der Vokale in manchen Schriften, zum Beispiel im Hebräischen oder Arabischen, einen Mangel an Sprachgefühl ableiten.
»Coincidentio oppositorum« - dos Verschmelzen von Gegensätzen Aber auch jenseits der Rationalität können Gegensätze in sich zusammenfallen. Die Mystiker sprechen von einer coincidentia oppositorum. Worum es dabei geht, veranschaulicht Nikolaus von Cues (1401 bis 1464) am Beispiel von Kreis und gerader Linie. Sie sind im Endlichen Gegensätze, im Unendlichen jedoch fallen sie zu einem zusammen. Im Vergleich dazu hat auch der Verstand (ratio) seinen Bereich, wobei das rationale - vom Verstand bestimmte - Denken stets unterscheidet und trennt, niemals aber die Einheit erkennen kann. Anders verhält es sich mit der Vernunft (intellectus). Sie bedient sich zwar der ratio, kann aber über sie hinausgelangen. Dabei geht es nicht um Ergebnisse, die wir unverbindlich registrieren, sondern um eine geistige Bewegung, in die wir eintreten und die wir innerlich mitvollziehen.
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Paradoxien im Zen Die Grenzen des rationalen Denkens legen besonders einige Schulen der japanischen Meditationsmethode des Zen frei. Dem Übenden werden logisch nicht auflösbare Paradoxien, »Köans«, gegeben, zum Beispiel: »Was ist der Ton des Klatschens einer Hand?« Jede verstandes-•gemäße Antwort auf diese Frage wird vom Zen-Meister rigoros abgewiesen. Erst im Scheitern gelingt es dem Schüler, die Grenze seines Denkens zu durchbrechen (45). Unvermittelt findet er sich in einer Welt jenseits aller Widersprüche wieder: Er hat die coincidentia oppositorum selbst vollzogen. Ahnlich kann es auch beim Umgang mit dem Symbol oder Traum gehen. Der Traum- und Symbolforscher Herbert Silberer nennt daher das Symbol einen »Mittler zwischen uns und der Wahrheit« (46). Trotz der Arbeit vieler Forscher besitzen wir noch keine umfassende Symbolkunde. Einen guten Einblick in den heutigen Stand der Symbolkunde geben uns aber die Werke von Joseph Campbell, Mircea Eliade, Friedrich Heiler und C. G. Jung (-> Seite 91).
Der Traum eines 45jährigen Mannes Möglichkeiten seiner Auslegung Zum Abschluß wollen wir die verschiedenen Ebenen und Möglichkeiten der Traumauslegung am Beispiel des Traumes eines 45|ahngen Technikers veranschaulichen Damit Sie die Auslegung des Traumes besser mitvollziehen können, haben wir einzelne Elemente des Traumtextes gekennzeichnet • Der Traum folgt dem dramaturgischen Ablauf, wie wir ihn auf Seite 68 dargestellt haben Die m Klammern gestellten Ziffern kennzeichnen jeweils das Ende der einzelnen Glieder dieses Ablaufs • Die Entwicklung des Menschen vollzog sich von der mineralischen (anorganischen) über die pflanzliche (vegetative) und die tierische (animalische) Welt zu seiner heutigen Erscheinung Diese vier Entwicklungs schritte sind im Traum enthalten - wir haben sie durch m Klammern gestellte Großbuchstaben kenntlich gemacht Noch ein Wort zur Auslegung Wir mochten Ihnen anhand dieses langen und überaus vielschichtigen Traumes deutlich machen, welche mannigfachen Möglichkeiten Sie prinzipiell bei der Auslegung Ihrer eigenen Traume haben Lassen Sie sich nicht verwirren von der Ausführlichkeit der Auslegung, sondern versuchen Sie, ihr mit wachen Sinnen zu folgen
Der Traumtext Ich bin mit Freunden beim Skifahren Ich springe über einen Hügel und statt im Schnee (A) lande ich auf einem grunbewachsenen Abhang mit üppiger Vegetation (B), wie m einem Dschungel Ich mache mir Gedanken, wo meine Freunde sind, aber die sind scheinbar einen anderen Weg gefahren (I) Ich klettere den steilen, grünen Hang hinunter und nehme plötzlich die Tierwelt wahr (C) Neben mir hangt eine kleine gelb schwarz geringelte Schlange, die einen Totenkopf auf dem Kopf tragt Ich denke mir Vor sichtl, die Schlange ist sicher sehr giftig, aber ich empfinde keine Furcht und die Schlange greift auch nicht an Dann schaue ich nach oben Über mir hangt eine große, dicke Schlan ge zusammengerollt Wie ich weiter nach unten gehe, sehe ich emzel ne Spinnen, die ihre Netze bauen Sie sind sehr groß und wunderbar schon
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Am Ende des Abhangs gehe ich durch ein Waldstuck hinaus und über den Weg ist ein riesiges Spinnennetz gebaut mit einer handtellergroßen Spinne m der Mitte, und ich erkenne, daß diesen Weg noch nie jemand besc h ritten hat (II) Das Bild wechselt, und ich bin mit meiner Fami le (D) auf einem weiten Feld Es ist ein starkes Gewitter, und wenn es donnert, kann ich zahlen, bis es blitzt, und ich habe dadurch das Gewitter unter Kontrolle Auf der Ebene befinden sich lauter Eisenträger, die wie Stacheln herausragen Das Gewitter kommt immer naher Die Eisenteile saugen die Blitze an Über der ganzen Ebene liegt ein Netz von Blitzen, das immer schneller auf mich zukommt, und ich merke, ich habe das Gewitter nicht mehr un ter Kontrolle (III) Ich nehme mit meiner Familie in einer Fabrikhalle Unterschlupf, um mich vor dem Gewitter zu schützen (IV)
Die Auslegung des Traumes Wir können hier nicht die ganze Deutung des Traumes darstellen, sie wurde ein ganzes Buch füllen Hier müssen wir uns im wesentlichen auf die Betrachtung der Traumstruktur beschranken und diese so weit wie notig mit anderen der genannten Elemente erganzen Es fallt auf, daß im Traum eine Abstiegsbewegung vom Berg ms Tal stattfindet, die von Naturgewalten und wilden Tieren bedroht ist Der Traumer ist bemuht, die Dinge m der Hand zu behalten Das eine Mal ermahnt er sich selbst zur Vorsicht, das andere Mal mochte er durch Zahlen der Zeit zwischen Blitz und Donner das Gewitter kontrollieren Bei so viel Bemühung, »den Kopf oben zu behalten«, ist nicht verwunderlich, daß der Traum trotz aller Bedrohtheit den »klassischen« Aufbau m Exposition (I), Verwicklung (II), Kulmination (III) und Lysis (IV) zeigt (Die Ziffern kennzeichnen im Traumtext jeweils das Ende der einzelnen Glieder dieser Entwicklung ) Versuchen wir, den Abstieg zu deuten, so werden wir uns fragen Ist das ein Weg von den »reinen Hohen« der Freiheit und der Freizeit (Skifah-
ren) in die Alltäglichkeit (der Familie und der beruflichen Welt)? Oder handelt es sich umgekehrt um einen Schritt weg von einer einsamen, menschenfeindlichen und hin zu einer bewohnten Wirklichkeit? Wie das zu verstehen ist, wird beim genaueren Betrachten der Bilder deutlich. Mit dem Abstieg einher geht eine Entwicklung hin zur Menschenwelt, gleichsam ein Abbild der verschiedenen Schritte der Evolution. Wir haben sie im Traumtext mit den Buchstaben A bis D gekennzeichnet: A - der Traum beginnt im Schnee, also im Bereich des Mineralischen beziehungsweise Anorganischen; B - er führt weiter zur Ebene des Pflanzlichen oder Vegetativen, zunächst in Form des Dschungels und später der Wiese; C - dann taucht die Tierwelt auf, und zwar in bedrohlicher und zugleich faszinierender Weise in Form von Schlangen und Spinnen; D - schließlich begegnet der Träumer der menschlichen Welt, und zwar zunächst in ihren technischen (Fabrikhalle), dann in ihren mitmenschlichen Aspekten (Familie). Die technische Welt bietet ihm Schutz: Zu den Eisenstangen fielen ihm Blitzableiter ein, durch die ein Gewitter ebenso »entschärft« werden kann wie durch Zählen der Zeit zwischen Blitz und Donner. Fabrikhallen sind ihm von Jugend auf vertraut. Bevor wir als nächstes auf die eigentliche Ebene der Einfälle zu sprechen kommen, müssen wir Sie zunächst noch genauer mit der Lebenssituation des Träumers vertraut machen: Er wurde von einem Internisten wegen vielfältiger psychosomatischer Beschwerden und Störungen zur Psychotherapie überwiesen, nachdem vorhergehende körperliche Therapien praktisch wirkungslos gewesen waren. Bei den ersten Gesprächen war er niedergeschlagen, aber zugleich innerlich unruhig. Seit einigen Monaten lebte er von seiner Familie getrennt. Nicht daß er eigentlich etwas gegen sie habe, aber er könne ihre Nähe nicht mehr ertragen. Seine einzige Erfüllung fand er im beruflichen Erfolg sowie in kurzdauernden erotischen Abenteuern, wobei er jede innere Beziehung vermied,
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teils aus Angst vor Bindung und teils, weil es ihm dabei lediglich um Selbstbestätigung ging. Es ist begreiflich, daß ihn die jeweiligen Partnerinnen alsbald langweilten und dann durch andere ersetzt wurden. Der Psychotherapie stand er anfangs skeptisch gegenüber, da er sie nicht mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild (das mechanistisch war) in Zusammenhang bringen konnte. Psychisches war für ihn gleichsam nur ein Anhängsel an das Körperliche. Als es ihm bald nach dem Beginn der Therapie besser ging, rettete er seine Überzeugung, indem er in der Behandlung eine Art von magischem Prozeß sah, wobei das Wort »Magie« seine damalige innere Situation präzise kennzeichnet. Ihm liegt die indogermanische Silbe »magh« zugrunde, die Mechanik, Macht, Maschine und Machen zusammenbindet (47). Da damals sein Zugang zur Wirklichkeit vorwiegend von diesem Bewußtseinszustand gekennzeichnet war - ihm ging es sowohl beruflich wie erotisch in erster Linie um Machen (Agieren) und Macht - war auch seine Vorstellung von der Therapie dementsprechend. Dies wird in einem früheren Traum nach einigen Monaten Behandlung deutlich: Ich sehe im Traum Herrn K. als Arzt im weißen Kittel (er ist etwa 70 Jahre alt, ein Schlitzohr und beruflich im Freizeitbereich tätig). Ich habe nachts Krämpfe und gehe deshalb zu ihm in die Praxis. Er sagt: »Das haben wir gleich«. Ich sperre meinen Mund auf, und er holt wie aus einem Eimer blutige Eingeweide heraus und wirft sie weg. Nach der Behandlung bei Herrn K. geht es mir gut. Zweifellos steckt in Herrn K. der Therapeut. Er wird aber nicht als er selbst geträumt, sondern als »altes Schlitzohr«, das bewirkt, daß es dem Patienten besser geht, und zwar ohne dessen eigene Mitarbeit. Die Wirkung der Behandlung konnte in dieser Phase weder in einem Einsichtsprozeß noch im Herstellen einer inneren Beziehung zu sich selbst beziehungsweise zum Therapeuten gesehen werden. Dieser »macht« vielmehr (magisch!), daß es dem Patienten besser geht. Die Qualifikation des Therapeuten dafür wird auf einen zwiespältig-intellektuellen Aspekt reduziert (»Schlitzohr«), was wiederum für diese Stufe der Bewußtheit kennzeichnend ist: Auch die Schlange in der zitierten
Genesisstelle ist listig (—> Seite 78), ebenso zum Beispie Odysseus bei Homer Wie haben wir das zu verstehen? Auf der Objektstufe (—> Seite 42) kommt dann zum Ausdruck, daß der Analysand zum Zeitpunkt dieses Traumes zu spuren begann, wie das Verschwinden seiner Symptome seit Beginn der Behandlung nicht bloß Folge der fachlichen Kompetenz des Therapeuten war, sondern vor allem mit der Beziehung zu ihm zu tun hatte Das aber mußte er abwehren, wie folgende Äußerung von ihm zeigt »Meine größte Angst ist, mich auszuliefern« Auch eine Deutung auf der Sub ektstufe (—> Seite 42) fallt nicht schwer Er selbst neigte beruflich zeitweilig ausgesprochen zur Schlitzohngkeit und war darauf früher immer recht stolz gewesen Wir finden hier also eine Projektion (—> Seite 66) Erhellend ist aber auch die Deutung der Beziehungsebene Zwar wünschte er sich Heilung, doch sie hatte m dieser Phase der Therapie für ihn bedeutet, den Therapeuten als »machtig« anzuerkennen Damit aber wäre er angesichts semer eigenen Machtanspruche ohnmachtig dagestanden Daher ersetzte er den Therapeuten durch das »alte Schlitz-ohr« und machte ihn zugleich zu einem Vertreter der Freizeitindustrie Die für ihn lebenswichtige Bedeutung der Behandlung wurde auf diese Weise verleugnet und zum belanglosen Luxus abgestempelt Freiheit im Sinne von totaler Unabhängigkeit war für ihn zwar der höchste Wert, Freizeit hingegen äußerst anrüchig Unschwer finden wir auch weitere, bereits beschriebene Merkmale So projizierte er die eigene Aggressivität (er war zum Beispiel ein fanatischer Jager) auf den Therapeuten (dieser riß ihm im Traum ohne Narkose die kranken Eingeweide mit bloßen Händen aus dem Leib) Aber kehren wir zum »Schlangentraum« zurück Als er ihn träumte, war seine Besserung wesentlich fortgeschritten Er fühlte sich wohler, hatte kaum noch körperliche Beschwerden, war zu seiner Fami le zurückgekehrt und hatte, entgegen seinen Erwartungen, beruflich eher noch mehr Erfolg Aber immer noch war er mit sich nicht zufrieden, allerdings nicht
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ganz ohne Grund Er spurte zunehmend seine Defizite m bezug auf die Welt der Gefühle und auf mitmenschliche Beziehungen Vor allem fürchtete er, er könne lächerlich und weibisch wirken, wenn er sich zu ihnen bekenne Auch die Ruckkehr zu seiner Familie verstand er m diesem Sinne a s bedrohlich Hatte er dadurch nicht sein Gesicht verloren? Eine Reihe von Assoziationen bringt weitere Einblicke • Skifahren »Durch die frühe Scheidung meiner Eltern und den standigen Streit meiner Mutter mit ihrem spateren Partner bin ich zum Einzel-ganger geworden Es hat für mich immer nur zwei Befriedigungen gegeben Besser zu sein als die anderen und seit der Pubertät Anerkennung unter Mannern Frauen hielt ich bloß gut für den Sex und das eigene Prestige Sonst kann man mit ihnen nichts anfangen« • Manner »Mit Mannern sportlich zu rivalisieren und sie nach Möglichkeit zu übertrumpfen, ist das höchste der Gefühle für mich« • Ich habe mich von den Mannern getrennt »Ich sehe ja ein, daß ich mich auf meine Familie einlassen sollte, nicht aus Bravheit, sondern weil mich mein jetziges Leben kaputt macht mit seinem ewigen Streß Aber man verliert so viel dabei, wenn man vernunftig wird« • Dschungel »In ihm kann man sich verirren Auf einer Piste dagegen kommt man gut zurecht, wenn man aufpaßt« • Schlange Er habe gelesen, das habe etwas mit »Penis« zu tun Aber das sei ja wohl nicht alles • Spinne »Dazu habe ich keine Emfalle, außer daß mir mein neues, »solides« Leben ziemlich »g'spmnert« vorkommt« Wenn wir als nächstes eine Deutung unter psychoanalytischen und ergänzend dazu unter Jungschen Kriterien versuchen, dann druckt sich m der Abfolge der Bilder eine konsequente Entwicklung aus, die m mehreren Schritten weg von der rivalisierenden, Emotionen und alles Weibliche ausklammernden Welt der Manner fuhrt • Nachdem er sich von seinen Mitskifahrern entfernt hat, begegnet er zweimal einer Schlange, die erste tragt einen Totenkopf auf dem Kopf Die eigene männliche Potenz wird von ihm als lebensgefährlich erlebt, die Begegnung mit ihr erfordert größte Vorsicht Anschließend trifft er m
der Gestalt der zweiten Schlange auf einen anderen, den »Kundalini«-Aspekt der Schlangenkraft (-> Seite 79). Für diese Deutung spricht, daß die Schlange aufgerollt ist. Es gibt unzählige Darstellungen davon überall auf der Welt, vor allem im indischen Kulturkreis. Der Analysand wußte das freilich nicht; fremde Kulturen und symbolische Darstellungen waren ihm nicht vertraut. Der eigentliche Ort der Kundalinischlange ist der Genitalbereich, dem Analysanden begegnet sie aber in Kopfhohe: Seine Sicht ist von seiner auf ein bloßes Besitzen reduzierten und daher unsinnlichen Sexualität verstellt. Darüber können auch seine erotischen Abenteuer nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil! Sie sind ihr Ausdruck.
Dieser Eindruck von der Einzigartigkeit dieses Wegs ist unabweisbar, obwohl sich niemand wirklich gereift nennen darf, der nicht irgendeine Form von Initiation durchlaufen hat.
• Nach der Begegnung mit den Schlangen trifft der Träumer auf die Welt der Spinnen, wobei wiederum das Moment der Steigerung offensichtlich ist: Die Größe und Faszination der Spinnen nimmt von Bild zu Bild zu. Wie ist das zu sehen? Spinnen sind die neben Schlangen emotional am stärksten abgelehnten Tiere, wobei die Einfälle nicht wie bei Schlangen »glitschig« und »eklig« lauten, sondern »haarig« und »gruslig« (48). »Gruslig« an der Spinne ist nicht nur ihre Gestalt, sondern vor allem auch, daß sie als Symbol für die netzestellende Weiblichkeit gilt, in die sich das Männchen verfangt - wobei es außerdem riskiert, nach dem Coitus vom Weibchen aufgefressen zu werden.
Der Wandel der Landschaft - es erscheint jetzt ein weites Feld - drückt dabei keine Erweiterung des Erlebnisraumes im Sinne von mehr Ruhe und Idylle aus. Die Welt ist vielmehr voller Eisenstacheln, die den Träumer aber nicht bedrohen, sondern vor den einschlagenden Blitzen bewahren. Darin drückt sich aus, daß er sich durch sein »stacheliges« Verhalten vor jeder näheren Begegnung mit den Mitmenschen und vor dem Hineingezogenwerden in effektives Verhalten und in Gefühle schützen mußte. Von Freude darüber, daß er nach soviel Gefahren Frau und Kind trifft, kann auch jetzt nicht die Rede sein. Unser Träumer ist kein zu Frau und Kind zurückgekehrter Odysseus. Wohl aber wird sichtbar, worin seine wirkliche Beziehung zu ihnen liegt: Er sieht in ihnen Schicksalsgefährten angesichts einer insgesamt als bedrohlich erfahrenen Welt. Sie zu schützen und ihnen materielle Sicherheit zu geben, war ihm selbst m seinen düstersten Zeiten wichtig, auch wenn er ihnen innerlich sonst nicht nahe sein, geschweige denn, sie ieben konnte. Naheliegenderweise verlegte er im Traum den Schutz gewährenden Raum in eine Umgebung, die ihm vertraut ist und die für ihn Schutz bedeutet, in eine Fabrikhalle.
Der Träumer nahm in seinem Traum ein Stück seiner späteren Entwicklung vorweg, die ihn hin zu den Menschen führte (prospektive Bedeutung des Traumes). Was er dabei erlebte, ist letztlich ein geistiger Reifungs- und Schulungsweg, den man Initiation nennt (49). Das Ziel dieses Wegs, der sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet, ist letztlich, zu sich zu kommen. Fast überall ist dieser Weg damit verbunden, daß der Betreffende bestimmten - meist angstvoll erlebten inneren Erfahrungen ausgesetzt wird, denen er standhalten muß (50). Jeder, dem dies gelungen 1 ist, wird wie der Träumer sagen können »Ich weiß, daß diesen Weg noch nie jemand beschriften hat.«
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Für den Träumer bestand dieser Weg darin, daß er mit höchster Anstrengung bedrohliche, urtümliche Formen der männlichen und der weiblichen Triebwelt meistern mußte. Nachdem ihm das gelungen ist, kann er sich endlich als ein gerade noch Davongekommener seiner Familie nähern, im wörtlichsten Sinne unter Blitz und Donner. Im Aufruhr der Elemente spiegelt sich die innere Erregtheit und Aufgewühltheit wider, die diese Begegung in ihm bewirkt.
Dort endet der Traum ohne happy end. So wie alle Träume beginnen, ohne scharfe Grenzen, so endet er auch. Der Traum und seine Deutung bleiben unabgeschlossen.