Kate Morgenroth
Töte mich zuerst Roman
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- Hypophyse
k-leser – Dr Gonzo
Bitte nicht bei e-bay verkaufen
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Übe...
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Kate Morgenroth
Töte mich zuerst Roman
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- Hypophyse
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Über die Autorin: Kate Morgenroth studierte an der Princeton University und war anschließend Verlagslektorin in New York. Töte mich zuerst ist ihr Romandebüt mit dem sie in den USA für einiges Aufsehen sorgte. Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison war beeindruckt von Morgenroths Talent. >Dieser Roman schlägt einen in seinen Bann<, so ihr Lob.
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Kate Morgenroth Töte mich zuerst Roman Aus dem Amerikanischen von Christine Gaspard
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel 3
»Kill Me First« bei Harper Collins in New York. Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe 2002 Copyright © 1999 by Kate Morgenroth Published by arrangement with HarperCollins Publishers, Inc. Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur. Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf- auch teilweise- nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Phil Heffernan Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Norhaven Paperback A/S Printed in Denmark ISBN 3-426-61806-0
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Niemand möchte bei sich Schwäche sehen, erkennen, was mit Menschen passieren kann, wenn sie unter Stress gesetzt werden ... von sich denken, dass man alles tun würde, um am Leben zu bleiben. Jeder denkt, er würde sagen: »Töte mich zuerst« ... Patty Hearst
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Für Gra
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Prolog Ein leichtes Ziel Eine Reihe von Gestalten stand nebeneinander auf einem kahlen Feld in der kühlen Morgenluft. Während der Himmel am Horizont heller wurde, begannen ihre ausgestreckten Arme unter der Last der Pistolen, die sie hielten, zu zittern. Ein Mann stand abseits von den anderen. Mit tiefer Stimme und einem leichten Akzent gab er das Kommando: »Feuer!« Die Schüsse fielen in kurzen Abständen. Der Mann sprach wieder. »Jetzt sind es nur Zielscheiben«, sagte er. »Ihr wisst, dass eure Kugeln nur Holz durchschlagen. Wie würdet ihr euch fühlen, wenn es Fleisch wäre?« Neun Personen standen in der Reihe. Sie stellten sich mutig ihren Sperrholzgegnern, und auf Befehl hoben sie wieder die Arme und spannten die Hähne ihrer Waffen. Torrenson hielt die Pistole auf das Ziel gerichtet und versuchte seine Gefährten zu beobachten, ohne den Kopf zu wenden. Er hatte erwartet, sie würden alle wie Schläger aussehen, aber direkt neben ihm stand ein schmächtiges Bürschchen mit schrecklicher Akne, und neben dem war eine Frau. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie seine schwarze Lederhose an den Schenkeln rieb. Der Sprecher fuhr fort: »Wenn ihr tötet, löscht ihr ein Leben aus. Ein Leben, das genauso viel wert ist wie eures. Nicht mehr, nicht weniger.« Die Sonne stieg hinter den Zielscheiben über den Horizont, und ein Strahl fiel genau in Torrensons Augen. Er hob die andere Hand, um sein Gesicht zu schützen, und versuchte sich auf die Worte des Mannes zu konzentrieren. Er wusste, dass die Gedanken in Stresssituationen manchmal zu Nebensächlichkeiten abschweiften; er hatte das einmal in einer 7
Trainingsstunde gehört und seither die Erfahrung gemacht, dass es stimmte. Die Stimme des Mannes hatte sich mit der aufgehenden Sonne verändert; er sprach jetzt in normalem, fast beiläufigem Ton. »Es ist einfacher, für eine Sache zu sterben, als dafür zu töten. Das eine macht dich zum Märtyrer, das andere zum Monster.« Torrenson hatte keine Zweifel, was den Mann vor ihm betraf. Er war ein Monster - Torrenson hatte seine Akte gesehen. »Denkt gründlich darüber nach«, fuhr der Mann fort. »Könnt ihr töten? Wenn ihr glaubt, ihr könnt es nicht, sagt es bitte jetzt.« Der Mann wartete auf eine Antwort, und als alle schwiegen, gab er den Befehl ein zweites Mal: »Feuer! Torrenson bemerkte, dass nur wenige Schüsse die Sperrholzbretter trafen. Er richtete kühl die Pistole aus und drückte den Abzug. Die Scheibe vibrierte unter dem Aufschlag. Der Sprecher schritt die Reihe ab und versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Zielscheiben zu erkennen. »Guter Schuss«, sagte er zu Torrenson. Zu der ganzen Gruppe meinte er: »Es sieht so aus, als hätten ein paar von euch Schwierigkeiten mit der Entfernung. Das ist schon in Ordnung, nicht jeder ist ein Scharfschütze. Das ist für den Job auch gar nicht nötig.« Die Sonne war jetzt ganz aufgegangen. Die strahlende Helligkeit schmerzte in den Augen. Der Sprecher kniff einen Moment lang die Augen zusammen, dann drehte er sich plötzlich zu ihnen um. »Aber vielleicht können wir ein leichteres Ziel für euch finden.« Mit ein paar schnellen Schritten war er bei den ersten beiden Schützen in der Reihe - einem Mann mit Ohren, die wie Henkel vom Kopf abstanden, und einem großen Mann direkt neben ihm. »Stellt euch einander gegenüber.« Zögernd befolgten sie den Befehl. 8
»Legt an.« Keiner von beiden bewegte sich. Der Mann griff vorsichtig nach dem Pistolenlauf des großen Mannes und hob ihn an die Stirn des anderen. Henkelohr tat das Gleiche ohne weitere Aufforderung. Der Mann ging die Reihe ab und arrangierte sie so, dass die Pistolen auf die Brust des jeweils anderen gerichtet waren oder sich gegen die Kehle drückten. Acht hatten nun einen Partner. Torrenson blieb allein übrig. Der Mann blieb vor ihm stehen. »Es sieht ganz so aus, als ginge es nicht auf. Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« Torrenson zuckte die Achseln, aber das Herz rutschte ihm in die Hose. »Keine Sorge, das kriegen wir schon hin. Ich werde dein Partner sein.« Er zog eine Pistole aus der Tasche, hob sie an Torrensons Stirn und drückte sie leicht dagegen. Torrenson stand da, wie festgenagelt von der kleinen Druckstelle, so groß wie eine Münze. Er weiß es, dachte Torrenson. Aber es gab nichts, was er jetzt noch tun konnte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Bewegung durch die anderen ging, eine Verlagerung des Gewichts, eine Anspannung. Mechanisch hob er den Arm. Der Mann lächelte ihn mit weißen Zähnen an, im Unterkiefer etwas unregelmäßig, sonst aber makellos. Aus der Entfernung hatten seine Gesichtszüge wie gemeißelt gewirkt, hart wie Stein. Aber jetzt aus der Nähe konnte Torrenson sehen, dass die Haut dünn und trocken war und unter den blauen Augen Tränensäcke bildete. »Du sagst, wann.« Torrenson merkte, dass der Mann mit ihm sprach. »Ich?« Seine Lippen formten das Wort, aber kein Laut kam heraus. Der Mann nickte und tippte ihn mit der Pistole an die Stirn. »Auf drei.« Torrenson hätte gern gewusst, was die anderen taten, aber er 9
sah nur noch die Augen direkt vor sich. »Bist du so weit?«, fragte der Mann ruhig. Die Sonne wärmte die eine Seite seines Gesichts. Die andere war unerträglich kalt. »Eins.« Torrensons Stimme klang heiser. Er räusperte sich. »Zwei. « Seine Stimme klang klarer, fester. »Drei. « Schüsse krachten. Torrenson drückte den Abzug, und ... nichts passierte. Er sah in die blauen Augen, die ihm so nah waren. Der Mann krümmte ganz leicht den Zeigefinger, und die Pistole ging los, einen Augenblick nach den anderen. Er hatte nur eben so lange gewartet, bis Torrenson klar geworden war, dass das Ergebnis des Tests von vornherein festgestanden hatte. In Torrensons Pistole waren nur zwei Patronen gewesen ebenso wie in den Pistolen der Männer, die jetzt blutend am Boden lagen. Die der anderen - derer, die noch standen - waren voll geladen gewesen. Der Mann wandte sich an die Überlebenden. »Ihr begrabt die Toten. Das Töten ist nicht in dem Moment vorbei, wenn der andere vor euch auf dem Boden liegt. Holt euch bei Karl Säcke.« Er wies zu dem Lastwagen hin, der etwa fünfzig Meter entfernt geparkt gewesen war, jetzt aber neben ihm zum Stehen kam. Der Mann kniete neben Torrensons Leiche, aus der immer noch Blut in den Staub sickerte. Er durchsuchte die Taschen der schwarzen Lederjacke und fand einen Schlüsselbund und ein Päckchen Kaugummi. Nun versuchte er es mit den Hosentaschen und entdeckte eine dicke Brieftasche. Nach einem kurzen Blick hinein machte er sie wieder zu und schlug nachdenklich mit ihr in die freie Hand. Dann wischte er sie sorgfältig am Ärmel ab, steckte sie zurück und holte einen Sack.
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Wie ein Betender, der zu Gott blickt Erst viele Jahre später sollte Tresler endlich Gelegenheit haben, den Mann zu treffen und zu befragen, den er verfolgt hatte. Als er an dem stillen Teich saß, beschattet von den überhängenden Zweigen einer Trauerweide, konnte er Merec zum ersten Mal in Ruhe studieren. Er hatte ein steiles, zerklüftetes Gesicht mit tief eingegrabenen Linien. Seine Augen waren von einem gleichmäßigen, unergründlichen Blau. Doch es waren die Hände, die Treslers Aufmerksamkeit erregten. Sie lagen in seinem Schoß, die langen, schlanken Finger entspannt. Und Tresler überlegte sich - und fragte dann laut: »Wie viele Menschen haben Sie getötet?« »Wie meinen Sie das?« Er musste bemerkt haben, dass Tresler seine Hände betrachtete, denn er sagte: »Meinen Sie mit denen?« und er öffnete sie, die Handflächen nach oben, wie in einer Bittgeste. »Oder meinen Sie durch meinen Befehl? Oder meinen Sie vielleicht nicht einmal körperlich, sondern seelisch, emotional? Wir haben viele verschiedene Methoden zu töten entwickelt.« Tresler sagte, er wolle bei der wörtlichen Definition bleiben. »Ja, das ist am einfachsten«, stimmte Merec zu. »Ich betrachte mich als verantwortlich dafür, mit eigenen Händen«, und er sagte das sehr präzise, »zweiundachtzig Menschen getötet zu haben.« Er legte den Kopf zur Seite. »Und nun? Was meinen Sie jetzt? Ist das viel? Wenig? Das, was Sie erwartet haben?« »Weniger, als ich erwartet habe«, gab Tresler zu, »für ein Lebenswerk.« »Oh, aber diese zweiundachtzig Menschen sind nicht die Einzigen. Die habe ich mit eigenen Händen getötet, aber es 11
sind nicht die Einzigen, die ich auf dem Gewissen habe, und ganz sicher sind es nicht die, die mich am meisten belasten.« Er wies Tresler behutsam zurecht. »Die einfachsten Fragen sind genau das - am einfachsten. Aber sie bringen uns normalerweise nicht die Antworten, die uns am wichtigsten sind.« Sie saßen da und lauschten auf das Zirpen der Grillen. »Also, erzählen Sie mir von den Eignungstests«, sagte Tresler. Merec lachte plötzlich, und wenn er lachte, sah er gut aus. »An die habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht ... Aber Sie müssen doch etwas über meine Vorgehensweise wissen.« »Ich weiß, dass eine Hälfte der Männer zwei Kugeln und die andere ein volles Magazin hatte. Ich weiß, dass die Überlebenden das Gras mit den Fingern nach Resten von Fleisch und Knochensplittern durchkämmen mussten.« Nur Merecs Augen zeigten irgendein Gefühl. Die Lider senkten sich etwas, ein Zusammenziehen der Haut in der Nähe der Ohren. Aber er meinte nur: »Es ist kein sehr glanzvoller Job.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Sie scheinen die Fakten ja zu kennen.« »Durch die Sache mit Torrenson«, sagte Tresler. Merec nickte. »Also wissen Sie, wovon ich rede.« Er nickte wieder. »Wussten Sie, wer Torrenson war, als er sich beworben hat?« »Ja«, gab Merec zu. »Und trotzdem haben Sie Kontakt aufgenommen.« »Richtig.« »Aber ... warum?« »Warum?«, wiederholte Merec. Er lachte, voll und leichthin, aber das Lachen lud nicht zum Mitlachen ein. »Ich glaube, ich habe die meisten Warums und Wozus schon vor einer ganzen Weile verloren. Aber ich will versuchen, Ihre Frage zu beantworten. Als ich mit den Eignungstests angefangen habe, 12
habe ich den Hintergrund aller Anwärter sorgfältig recherchiert. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen gekommen, und ich habe sie - auch aus unterschiedlichen Gründen - angenommen. Viele Menschen verstehen das nicht, aber es gibt eine direkte Verbindung zwischen dem, was man will, und dem, was man bekommt. Die meisten kamen der Gewalt wegen, und die haben sie auch gekriegt. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die die Sache vielleicht klarer macht. Bei einem Test war ein Mann dabei, der wegen des Geldes gekommen war. Es war gar nicht so viel, aber für ihn muss es ein zwingendes Argument gewesen sein. Und er hatte einen äußerst zwingenden Grund. Seine kleine Tochter starb gerade an Leukämie. Sie hatten keine Krankenversicherung. Seine Frau und seine Mutter hatten ihm ihr ganzes Geld gegeben. Dieser Mann hatte sein eigenes Geld für ... andere Dinge ausgegeben. Er hatte Schulden, und die Bank weigerte sich, ihm einen Kredit zu geben. Ich hätte ihn ablehnen können -«, er breitete die Hände aus, »hätte es vielleicht tun müssen. Aber ich dachte, ich könnte etwas für ihn tun. Bei den Spezialfällen bin immer ich der Partner. Natürlich haben sie keine Kugeln mehr im Magazin, aber das wissen sie ja nicht. Manchmal sterben diese Spezialfälle, egal, was sie tun, so war es zum Beispiel bei Ihrem Mann Torrenson. Hier hingegen hatte ich mich entschlossen, den Mann am Leben zu lassen, wenn er zu schießen versuchte. Aber er hat nicht mal abgedrückt. Ich habe dafür gesorgt, dass sein Kind das Geld bekam - weit mehr, als wir ursprünglich angeboten hatten -, und er ist ehrenhaft gestorben, was mehr ist, als die meisten von sich sagen können.« »Ehrenhaft?«, fragte Tresler. »Er konnte keinen Menschen töten, nicht einmal, um sich selbst zu retten. Nicht einmal, um seine Tochter zu retten. Das nenne ich ehrenhaft.« 13
»Aber wenn er abgedrückt hätte, dann hätte er den Test bestanden und wäre in die Gruppe aufgenommen worden?« »Er hätte diese Stufe bestanden.«, gab Merec zu. »Also akzeptieren Sie keine Ehrenmänner.« »In meinem Beruf ist für Ehre kein Platz.« »Wenn Sie ihm helfen wollten und den Verdacht hatten, dass er den Test nicht bestehen würde, warum haben Sie ihm dann nicht einfach das Geld gegeben?«, forschte Tresler. Merec zuckte die Achseln. »Man bekommt nichts geschenkt - schon gar nicht in Ihrem Land. Ich vermute«, er hielt inne, »nein, ich weiß, hätte ich ihm das Geld gegeben, hätte er es nicht für sein kleines Mädchen verwendet. Ein Bankdarlehen, ja, das hätte er dafür ausgegeben, denn es wäre nicht wirklich sein Geld gewesen. Aber hätte ich ihm einfach das Geld gegeben oder es auf sein Konto überwiesen, hätte er es für sich selbst ausgegeben. Das ist unmoralisch? Selbstsüchtig? Aber dort auf dem Feld konnte er mich nicht erschießen - mich, einen Fremden - nicht für Geld, nicht einmal, um sein eigenes Leben zu retten. Das ist das Schöne an der Menschlichkeit, finden Sie nicht auch?« Tresler lehnte sich etwas vor, als er seine nächste Frage stellte: »Bewundern Sie diese Eigenschaft?« Merec legte eine seiner glatten, mörderischen Hände aufs Herz: »Ich habe sie verachtet.« »Und jetzt?« »Jetzt weiß ich es einfach nicht mehr.« Tresler konnte nicht anders - Merecs leise Stimme und sein trauriges Lächeln faszinierten ihn. »Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?« Merec lehnte sich im Stuhl zurück und ließ den Blick über Treslers Kopf hinweg in die Ferne schweifen wie ein Betender, der zu Gott blickt, und er sagte: »Sarah Shepherd. Sarah Shepherd hat alles verändert.«
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Ein Schäferleben Jonathan Shepherds Tod war nicht so grässlich wie viele andere, die Sarah später noch miterleben sollte, aber es war der erste, und er stellte die Weichen für ihr weiteres Leben, so wie man die Weichen für einen Zug stellt. Der Tag hatte genauso begonnen wie unzählige andere vorher. Jonathan und Sarah waren beide Frühaufsteher und um sechs Uhr schon auf. Während Jonathan sich die Zähne putzte, stellte Sarah das Teewasser auf und steckte das Brot in den Toaster. Dann tauschten sie die Rollen, und er ließ den Tee ziehen und bestrich die Toastscheiben mit Butter, während sie sich anzog. Nach dem Frühstück saßen sie im Wohnzimmer und lasen die Zeitung. Jonathan hatte sich auf dem Sofa niedergelassen, die Füße auf der Ottomane und eine Steppdecke über den Knien. Er hatte die Zeitung auf dem Schoß ausgebreitet und fuhr die Zeilen mit dem Zeigefinger nach, während er las. Sarah saß auf dem Sessel, die Zeitung zu einem handlichen Rechteck gefaltet. Staubteilchen schwebten in der Luft und verschwanden wieder, während sie in die vereinzelten Sonnenstrahlen hineinund wieder hinaustrieben. Die Stille wurde nur vom gelegentlichen Zischen der Heizung und vom Rascheln der Zeitung unterbrochen, wenn einer von ihnen umblätterte oder nach einem neuen Teil griff. Jonathan faltete die Zeitung im Schoß zusammen und sah die Teile durch, die auf dem Couchtisch lagen. Er blätterte sie noch einmal durch. Schließlich sagte er: »Sarah?« »Ja, Schatz?« »Ich suche den Wochenrückblick. Hast du den zufällig irgendwo gesehen?« 15
Sie entfaltete die Zeitung, die sie auf dem Schoß hatte, blätterte um und faltete sie wieder zusammen. »Vielleicht.« Kleine Fältchen bildeten sich in ihren Augenwinkeln. »Hmmm.« Er saß da und runzelte die Stirn, als sei er tief in Gedanken versunken. »Könnte es vielleicht sein, dass du ihn hast?« Sie trank einen Schluck von ihrem kalten Tee, um ein Lächeln zu verbergen. »Möglicherweise.« »Würdest du eventuell tauschen?« Sie ließ die Zeitung sinken und legte schützend die Hände darüber. »Was hast du denn anzubieten?« »Den Hauptteil?« »Hab ich schon gelesen«, sagte sie. »Das Feuilleton?« »Schon gelesen.« »Jetzt hab ich's«, verkündete er. »Den Sportteil.« Sie lachte. »Abgemacht.« Sie gab ihm den Wochenrückblick, lehnte den Sportteil aber ab. Nachdem Jonathan die Zeitung ausgelesen hatte - er brauchte immer länger als sie -, fragte er: »Bereit für unseren Spaziergang?« »Ich war schon vor einer Viertelstunde so weit«, aber sie sagte es mit einem Lächeln. Sie ging zur Garderobe und kam mit ihren Hüten und Mänteln wieder. Während des Spaziergangs grüßte Jonathan die Menschen, die sie trafen. Sarah hielt den Kopf gesenkt und achtete auf den Gehweg. Oft nahm sie seinen Arm, um ihn zu stützen, wenn Baumwurzeln die Betonplatten zu kleinen Gebirgen und winzigen Klippen hochgestemmt hatten. Nach dem Mittagessen saßen sie im Wohnzimmer. Durch die spaltbreit geöffneten Fenster drangen eine leichte Brise und das entfernte Geräusch vorbeifahrender Autos. Jonathan hatte sich auf einen Stuhl neben das Sofa gesetzt und las laut aus einem Buch vor, das er in einer Hand hielt, während Daumen und kleiner Finger die Seiten auseinander spreizten. 16
Sarah saß auf dem Sofa und massierte sein schmerzendes Knie. Während sie Jonathans Stimme lauschte, massierte sie immer langsamer und hörte schließlich ganz auf. Jonathan bewegte das Bein. Sie schien es nicht zu bemerken. Er bewegte es wieder. Schließlich ließ er das Buch sinken, sah sie nachdrücklich an und räusperte sich. Sie verdrehte die Augen und fing wieder an zu kneten. Er wandte sich nicht wieder dem Buch zu, sondern betrachtete sie einen Augenblick. Ihr silbernes Haar glänzte in einem Strahl der Nachmittagssonne, und ihr Profil war glatt und beinahe jugendlich. »Du bist so schön«, sagte er. »Weißt du eigentlich, wie schön du bist?« »Hmpf.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. Dann nahm er das Buch und fing wieder an zu lesen. Sarah unterbrach ihn. »Den Teil hast du schon gelesen.« »Na ja, dann hörst du ihn eben noch mal.« Er fuhr in aller Ruhe fort. Jonathan las, bis es dämmerte. Dann klappte er das Buch mit einem Knall zu. »Ich bin am Verhungern«, verkündete er. »Und du? « Sarah lächelte. »Ich hole die Schlüssel, du holst die Mäntel.« Jeden Sonntagabend fuhren sie zu einem kleinen Restaurant, dem »Blue Swan«, das zwei Abendessen zum Preis von einem anbot. An diesem Abend bestellten beide das Hühnchen und aßen zufrieden von den vertrauten angeschlagenen Tellern. Satt und schläfrig gingen sie auf den Parkplatz hinaus, wo ein leichter Regen auf den Asphalt stäubte. Sarah schloss zuerst die Beifahrertür auf, damit Jonathan nicht im Regen stehen musste, und ließ dann ein paar Minuten den Motor laufen, damit es im Auto warm wurde. Sarah parkte vorsichtig rückwärts aus und fuhr langsam zur 17
Ausfahrt, aber als sie auf die Straße abbog, vergaß sie, in beide Richtungen zu sehen. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde. Der andere Wagen fuhr über achtzig, und der Fahrer hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit zu bremsen. Die Autos kollidierten mit sprühenden Funken und einem grässlichen Geräusch wie Töpfe, die auf den Boden krachen. Der Fahrer, ein Teenager, und seine Freundin waren auf der Stelle tot; die ganze Vorderfront des Autos war eingedrückt, das Armaturenbrett nur noch Zentimeter von den Vordersitzen entfernt. Sie waren in die Beifahrerseite geprallt - die Seite, auf der Jonathan saß. Er wurde gegen Sarah geschleudert. Durch die Wucht des Aufpralls brach sie sich die Hüfte und ein paar Rippen, aber sein Körper schirmte sie gegen das scharfe, zerdellte Blech ab und rettete ihr das Leben. Sarah und Jonathan lagen Seite an Seite im Krankenwagen. Sarah war bei Bewusstsein; sie hatte das Gefühl, als balanciere ihr Geist auf einer Rasierklinge. Als der Notarzt sich über sie beugte, konnte sie jede einzelne Pore in seinem Gesicht sehen. Sie drehte den Kopf nach rechts und sah Jonathan auf der Trage direkt neben sich. Seine Haut war grau und sein Mund hing offen, aber sonst war sein Gesicht unversehrt. Er schnarchte leise - man hätte meinen können, er schliefe, wäre nicht das Tuch, mit dem er zugedeckt war, blutdurchtränkt gewesen. Das Schnarchen hörte auf, bevor sie das Krankenhaus erreichten. Sie zogen das Tuch nicht über seinen Kopf, aber als sie die Tragen ausluden, rollten sie Sarah in eine Richtung den Gang entlang und Jonathan in die entgegengesetzte. Sarah und Jonathan waren einunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen. Ihr gemeinsames Leben war ruhig, geordnet und normal verlaufen. Es war ein Leben, das zu einem Einundsiebzigjährigen passte - so alt war Jonathan, als er starb. Sarah war fast zwanzig Jahre jünger, aber sie hatte sich 18
Jonathans Lebensstil angepasst, ohne darüber nachzudenken. Als sie in dieser Nacht im Krankenhausbett lag, hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben mit seinem zu Ende gegangen war. Sie konnte sich keine Zukunft mehr vorstellen. Das war auch gut so. In ihren wildesten Träumen hätte sie sich nicht ausmalen können, was ihr bevorstand. Früh am nächsten Morgen fand man die erste Leiche in South Dakota.
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Eine Lektion in Sachen Polizeiarbeit Der Sheriff rutschte die Böschung hinunter in den Graben neben der Straße. »Wo war das noch mal, John?«, rief er über die Schulter zurück. »Da drüben. In dem Gestrüpp unten.« Der alte Farmer blieb neben der Straße stehen und deutete mit seinem Stock. Der Sheriff watete in das hüfthohe Unkraut. »Ich sehe hier gar nichts. Ich bin sicher, da ist nichts.« »Erzählen Sie mir bloß nicht, dass da nichts ist. Ich weiß, was ich gesehen hab, und ich hab einen Mann gesehen, der heute in aller Herrgottsfrühe in den Graben da geklettert ist, und er hat was über der Schulter getragen. Aber als er wieder raufgekommen ist, war da nichts mehr. Und ich bin sicher, dass da was faul ist, weil er sich immer so verstohlen umgeschaut hat. Ich bin da hinten auf dem Feld hinter meinem Traktor gestanden.« »Was haben Sie eigentlich um die Uhrzeit hier draußen gemacht, John?« »Ich hab ne Menge zu tun, oder vielleicht nicht. Und außerdem kann's Ihnen doch egal sein, was ich gemacht habe. Kümmern Sie sich lieber darum, was der andere Kerl da in dem Graben gemacht hat.« Der Sheriff stocherte mit seinem Knüppel im Unkraut herum. »Also, ich glaube, da ist nichts ... «, aber er unterbrach sich, als er mit dem Fuß an etwas stieß. »Moment mal«, sagte er. Er bückte sich, und die Zweige bogen sich und raschelten, als etwas Schweres von der Stelle gezerrt wurde. Der Sheriff kam rückwärts wieder zum Vorschein und zog einen riesigen Segeltuchsack hinter sich her. Er war armeegrün, aber übersät mit dunkleren Flecken, die beim Eintrocknen steif geworden 20
waren. »Da ist nichts, was?«, krähte der alte Farmer. »Na ja, vielleicht ist es bloß Müll. Aber eins muss ich Ihnen lassen - das Ding ist schwer. Ich seh mal rein.« Er ging in die Hocke und öffnete den Reißverschluss. »Was zum Teufel ...?« Er wich hastig zurück, als ein kleiner Schwall Flüssigkeit herausquoll. Er lachte unsicher. »Ich wette mit Ihnen, da hat bloß irgendein Jäger ein Reh abgeladen, weil noch nicht Jagdsaison ist.« »Quatsch«, sagte der alte Farmer. »Also sehen wir mal nach.« Der Sheriff packte den Sack am anderen Ende und leerte ihn aus. Die Leiche eines Mannes rutschte heraus. »Sieh mal einer an.« Der Farmer schob die Lippen vor und bemerkte: »Sieht nicht aus wie einer von hier.« Der Sheriff warf einen Blick auf den Kopf. Die obere Hälfte des Gesichts - die Stirn und die Augen - war weggeschossen. Plötzlich bemerkte er den Gestank. Er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, drehte sich zur Seite und krümmte sich. Aber er richtete sich schnell wieder auf und sagte mit gespielter Gleichgültigkeit: »Ich weiß nicht, wie Sie von da drüben erkennen wollen, dass der nicht von hier ist. « »Ich mein doch seine Kleider, Trottel«, sagte der Farmer. Die Leiche steckte in der Kluft eines Motorradfahrers: schwarze Lederjacke, schwarze Lederhosen und schwere Stiefel. »Sie hätten Polizist werden sollen, John.« »Nee danke. Drecksarbeit.« Der Farmer verzog das Gesicht. »Was machen Sie jetzt mit dem da, wo er doch kein Gesicht hat und so?« »Dafür haben wir heute die moderne Technik, John«, sagte der Sheriff. »Es gibt so was wie DNA-Analysen, Vergleiche von Zahnabdrücken, Computerrekonstruktionen anhand der Knochenstruktur ...« »Das ist doch alles Scheiße«, sagte der Farmer. »Gucken Sie 21
doch einfach mal in seinen Taschen nach. »John«, sagte der Sheriff geduldig, »wenn jemand umgebracht wird, lässt der Mörder normalerweise nicht noch Hinweise für uns in den Taschen.« John spuckte zur Seite und sagte: »Wolln wir wetten?« »Herrgottnochmal. Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst.« »Zehn Mäuse.« Der alte Farmer starrte ihn herausfordernd an. »Also gut. Jetzt kriegen Sie mal eine kleine Lektion in Sachen Polizeiarbeit.« Der Sheriff ging neben der Leiche in die Hocke und griff ihr vorsichtig mit einer Hand in die Hosentasche. Sie war leer. Er versuchte es auf der anderen Seite. Leer. »Sehen Sie«, sagte er, »nichts drin.« »Sie haben's noch nicht in den hinteren Taschen probiert.« Er seufzte tief und schob die Hand unter den Körper. Er konnte etwas Hartes, Viereckiges spüren. Als er in die Gesäßtasche griff, fand er eine Brieftasche. Er hielt sie hoch und sagte: »Ich glaub's einfach nicht.« Der Sheriff lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Füße hoch. Er sprach mit der Frau, die an der Rezeption saß. Sie tippte ununterbrochen, nickte aber hin und wieder, um zu zeigen, dass sie zuhörte. »...und der alte John sagt, es wird ziemlich schwierig rauszufinden, wer der Kerl ist, und ich sage >Sie würden sich wundern, was Kriminelle heutzutage alles übersehen, und vielleicht findet man sogar was direkt bei der Leiche<, also durchsuche ich die Taschen. Und wissen Sie was? Wer auch immer ihn da abgeladen hat, er hat doch tatsächlich die Brieftasche dagelassen. Und hören Sie sich das an, Tammy. In der Brieftasche ist der Führerschein, der Sozialversicherungsnachweis, Geburtsurkunde, Kreditkarten - er hat sogar seinen Angelschein dabei. Also habe ich rumtelefoniert, um 22
rauszufinden, wer der Kerl ist und wo er herkommt. Dann habe ich bei Davis angerufen - Sie kennen doch Sheriff Davis, Tammy?« Tammy nickte, ohne mit dem Tippen aufzuhören. »Also, ich rufe ihn an, um ihm zu sagen, dass da was auf ihn zukommt. Erinnern Sie sich, als sie vor ein paar Monaten die ganzen Leichen in der Nähe von Topeka gefunden haben? Die waren auch alle in solchen Säcken. Also denke ich mir, wir kriegen hier vielleicht bald auch noch mehr Leichen. Und was glauben Sie, was Davis mir erzählt? Er hat schon zwei in seinem Bezirk gefunden. Eine war unten am Thayer Lake, und die andere haben sie in irgendeiner Scheune entdeckt. Die hatte wer zwischen ein paar Heuballen gestopft. Ich sag Ihnen was, ich glaube, das ist einer von diesen Serienmördern. Wahrscheinlich ein Homosexueller, anscheinend waren alle Opfer Männer. Den einen haben sie in den Hals geschossen, und Davis hat mir erzählt, daß gerade noch genug Hals da war, dass der Kopf dranbleibt, und der andere hatte die Kugel in der Brust. An den Pulverspuren haben sie gesehen, dass sie beide aus nächster Nähe erschossen worden sind. Und identifiziert haben sie die Leichen auch. Einer war ein Junge aus dem Ort, und der andere war doch tatsächlich aus Kalifornien. Aber üble Typen waren sie beide. Davis sagt, die hatten Vorstrafenregister so lang wie mein Arm. >Nicht schade drum<, hat Davis gesagt, und ich sag Ihnen was, ich finde, er hat Recht.« »Vielleicht war's ja auch Selbstjustiz und keiner von diesen Serienmördern«, sagte Tammy. Es war das erste Mal, dass sie etwas sagte, wobei sie ununterbrochen weitertippte. »Wissen Sie was, Tammy, da könnte was dran sein. Gute Idee.« Das Telefon klingelte. Tammy hörte auf zu tippen und griff nach dem Hörer. Sie hörte einen Augenblick zu und sagte dann: »Es ist für Sie, Sheriff. Es geht um die Nachforschungen wegen dem Mann, den Sie gefunden haben.« 23
»Na großartig.« Er nahm den Hörer, und Tammy fing wieder an zu tippen. »Also wie sieht's aus? Haben Sie ein paar Antworten für mich?«, fragte der Sheriff gut gelaunt. Er hörte zu, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. »Was soll das heißen? Wie meinen Sie das? Ich versteh das nicht.« Tammy hörte auf zu tippen und drehte sich auf ihrem Stuhl um, um zuzuhören. »Aber der Mann hatte einen Führerschein, eine Sozialversicherungskarte - er hatte sogar einen Angelschein. Gut. In Ordnung. Vielen Dank«, sagte er und knallte den Hörer auf die Gabel. Tammy starrte ihn an. »Ich glaub's einfach nicht«, murmelte der Sheriff. »Hören Sie sich das an, Tammy.« Tammy hörte zu. »Diese Idioten behaupten, unser Mann existiert gar nicht. Laut ihren Informationen hat er die letzten zwei Monate ein paar Sachen über Kreditkarte gekauft und einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit gekriegt, aber wenn man weiter als drei Monate zurückgeht, ist da nichts. Kein Hinweis darauf, dass er je existiert hat.« Am nächsten Tag kamen zwei Männer ni Anzügen in das Büro des Sheriffs. Sie zeigten ihm kurz ihre Ausweise und verkündeten, dass sie gekommen waren, um die Leiche des Mannes abzuholen, den er entdeckt hatte. Er brauche sich keine Gedanken mehr um die Ermittlungen zu machen. Von nun an würden sie sich darum kümmern. »Ich brauche irgendeine -«, begann der Sheriff, aber einer der Männer hatte bereits alle erforderlichen Dokumente herausgezogen. Der Sheriff sah sie sich an und seufzte. »Also, er ist drüben in der Leichenhalle. Ich komme mit und sag denen dort, dass 24
sie Ihnen die Leiche rausgeben sollen.« Er kam eine halbe Stunde später zurück und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Also, das war's dann wohl, Tammy«, sagte er. »Wer waren die denn?«, fragte sie. »Das waren Geheimagenten.« »Vom FBI?«, flüsterte sie. »Nein, von der CIA.« »Der CIA?« »Genau.« »Wow. Das war ja wie im Film.« »Ich weiß nur eins, Tammy. Jetzt muss sich jemand anderes darum kümmern.« Agent Greene betrat das Büro seines Chefs, ohne vorher anzuklopfen. Wie üblich war die Luft rauchgeschwängert. Zackman saß mit den Füßen auf dem Tisch und einer Zigarette im Mundwinkel da und beobachtete einen flackernden Bildschirm. Greene durchquerte das Zimmer und ließ sich auf dem abgeschabten, braunen Sofa nieder. Auf dem Bildschirm lief ein Wrestlingmatch ohne Ton. Einer der Wrestler war unglaublich fett und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit Augenmaske und Umhang. Der andere war riesig, aber muskulös; er trug enge Shorts, auf die in Pailletten die amerikanische Flagge gestickt war. Greene sagte: »Ich wusste nicht, dass Sie ein Fan sind.« »Ich seh's zum ersten Mal«, antwortete Zackman, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Und was halten Sie davon?« Es war Zeitschinderei, aber Greene konnte nicht widerstehen. »Cleveres Konzept. Man gibt dem Zuschauer genau das, was er will - Gewalt und billige Moral. Der Fettsack ist natürlich der Böse, und der Superman-Ableger ist der Held. Ob die wohl 25
jemals die Bösen gewinnen lassen?« »Ich hab nicht viel Ahnung davon«, gab Greene zu, »aber soweit ich weiß, sind die Bösen normalerweise am beliebtesten.« Zackman grunzte, drückte die Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich die nächste an. Sie saßen eine Weile schweigend da und verfolgten das Match. Schließlich räusperte sich Greene. »Ich hab den Bericht über das Team Persi«, sagte er. Zackman wandte den Blick vom Bildschirm ab und sah Greene an. »Sie haben Torrenson gefunden«, Greene machte eine kleine Pause, »in einem Sack in South Dakota. Wir haben davon erfahren, als sie seine Identität überprüft haben.« Zackman drehte die Zigarette zwischen den Fingern hin und her. »Wir müssen die Leiche abholen«, sagte er. »Ich hab schon jemanden hingeschickt. Sie sind auf dem Rückweg.« »Haben Sie schon seine Angehörigen verständigt?« »Ja.« »Können wir ihnen die Leiche überlassen?« Greene schüttelte den Kopf. »Schuss ins Gesicht, aus nächster Nähe.« Zackman nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er wandte den Blick wieder dem Bildschirm zu, aber Greene konnte sehen, dass er nichts von dem wahrnahm, was dort über den Monitor flackerte. »Irgendwas von unserem anderen Mann?«, fragte Zackman. »Nein. Aber vielleicht ist es für ihn zu gefährlich zu telefonieren, selbst wenn er an ein Telefon rankommt.« »Das weiß ich auch, Greene«, schnauzte Zackman. »Scheiße.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und der Aschenbecher schepperte. »Ich gehe hin«, bot Greene an. »Heldentaten nutzen mir nichts. Im Moment brauche ich 26
Leute, die den anderen Möglichkeiten nachgehen.« »Welchen anderen Möglichkeiten?« »Jeder anderen Möglichkeit, verdammt noch mal. In der Zwischenzeit können wir nur hoffen, dass wir nicht von dem Fall abgezogen werden. Der Chief ist persönlich dran interessiert.« »Aber der Chief kann uns doch nicht von dem Fall abziehen, solange unser anderer Mann noch am Ball ist«, protestierte Greene. »Wir glauben, er ist dran, aber wir wissen es nicht genau«, verbesserte Zackman. »Die da oben denken nicht logisch. Die lassen uns den Fall wahrscheinlich nur wegen des dämlichen Namens. Diese Schreibtischhengste mit ihrem ScheißMotivationsblabla. Haben Sie je einen so blöden Namen gehört wie Team Persistente? Das beharrliche Team, Herrgott noch mal.« Greene verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, warum der Chief so auf diesen Kerl fixiert ist, aber er will Antworten, und das bitteschön gestern.« »Warum buchten wir ihn nicht einfach ein? Sobald wir wissen, wo er das nächste Mal zuschlägt?« »Scheiße, denken Sie doch mal einen Augenblick nach. Wenn wir nicht ein Riesenglück haben, können wir ihn höchstens wegen unerlaubtem Waffenbesitz anklagen. Alles, was er kriegt, ist ein kleiner Klaps auf die Hand, und dann weiß er, dass wir ihn im Auge haben. Nein, wir halten uns an den vereinbarten Plan und hoffen, dass sich unser Mann vor dem nächsten Mal meldet.«
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Völlig gesund Sarah konnte die geflüsterte Unterhaltung zwischen den beiden Ärzten von ihrem Bett aus so gut verstehen, als wollten sie, dass sie alles hörte. »... schwere Depressionen und nicht ansprechbar. Wenn es nur nach dem körperlichen Zustand ginge, hätten wir sie letzte Woche entlassen können. Von den Verletzungen mal abgesehen ist sie völlig gesund.« Die Stimme des zweiten Arztes war ein leises Murmeln, und sie verstand nicht, was er sagte. Es reichte vollkommen, eine Hälfte des Gesprächs mitzubekommen. »Nein«, antwortete der erste Arzt, »soweit wir wissen, hat sie keine lebenden Angehörigen mehr. Nein, auch nicht auf der Seite des Ehemanns. Ja, die Versicherungsgesellschaft hat schon bei mir angefragt. Und ich habe ihnen gesagt, dass sich der Zustand voraussichtlich nicht so schnell ändern wird. Kommen Sie mit rein und sagen Sie mir, was Sie davon halten. « Sie betraten das Zimmer, und Sarahs Arzt kam schnell zu ihrem Krankenbett herüber. Er wünschte ihr fröhlich Guten Morgen und zog sein Stethoskop heraus. Dann beugte er sich über sie, fuhr mit der kalten Metallscheibe unter den Kragen ihres Krankenhaushemds und horchte. Er richtete sich auf und fragte: »Wie geht's Ihnen heute, Sarah?« Sie antwortete nicht. Er nickte, als ob er mit ihrem Schweigen gerechnet hätte, schrieb ein paar Worte auf ihr Krankenblatt und hängte es zurück an das Fußende des Bettes. Als er und sein Kollege das Zimmer verließen, konnte sie, kurz bevor die Tür ganz zuging, noch ein paar Worte aufschnappen. »Geben Sie ihr noch ein paar Tage Zeit. Dann sehen wir weiter.«
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Es war Abend, und die Lichter im Zimmer waren ausgeschaltet. Die Tür ging auf und warf einen immer breiter werdenden Lichtstrahl auf den Boden. Der Arzt kam herein und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Er zog sich einen Stuhl neben ihr Bett. »Sarah? Sarah, können Sie mich verstehen?« Sarah versuchte wie nebenbei, ihr Haar mit den Fingern durchzukämmen. Als sie auf einen großen Knoten stieß, ließ sie die Hand teilnahmslos wieder in ihren Schoß fallen. »Wie lange geht das jetzt schon so, Sarah? Fast zwei Wochen, oder? Und es wird nicht besser. Es geht Ihnen nicht besser.« Sie stimmte ihm insgeheim zu. Nichts hatte sich gebessert. »Sarah, haben Sie irgendwelche lebenden Verwandten? Wir haben in Ihrer Akte nachgesehen und keine gefunden. Gibt es denn niemanden, den wir anrufen könnten? Gar niemanden?« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. »Sarah, wir können hier nichts mehr für Sie tun. Die Hüfte heilt tadellos. Die Rippen sind in Ordnung. Aber wir können Sie nicht nach Hause schicken. Und hier können wir Ihnen nicht helfen. Sie sollten irgendwohin gehen, wo Sie sich ausruhen können. Was halten Sie davon? Wir haben einen Platz in einem Heim gefunden. Das ist ein Glücksfall, wissen Sie. Normalerweise muss man monatelang warten. Es ist das WillowridgePflegeheim. Klein und ziemlich exklusiv. Ich bin sicher, dass Sie sich da wohl fühlen werden, Sarah. Sarah? Sarah, haben Sie mich verstanden?« Sie hatte erwartet, dass es ihr egal sein würde, aber zu ihrer eigenen Überraschung wurde sie wütend und wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Sie zog einen harten Fingernagel über die Innenseite ihres Handgelenks. Der Arzt hörte, wie sie scharf die Luft einzog, und beugte sich vor. »Was ist los, Sarah?« Sie wandte sich ihm zu. Ihre dunklen Augen glitzerten. Er sagte besänftigend: »Es ist ja nicht für immer, Sarah. Nur bis 29
Sie wieder auf eigenen Füßen stehen können.« Sie wusste, dass er log. Er glaubte nicht daran, dass sie das Pflegeheim je wieder verlassen würde, wenn sie erst einmal dort war. Sie selbst glaubte auch nicht daran. Sie irrten sich beide.
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Eine vertraute Melodie Merec rief zuerst Karl an. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, seit Merec ihn nach New York geschickt hatte. »Wie geht's?«, fragte Merec. »Gut«, sagte Karl, kurz angebunden wie immer. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sprach Karl wieder. »Treffen wir uns?« Merec seufzte. »Noch nicht«, sagte er. »Ich geb dir Bescheid. Ich brauche dich da, wo du bist. Ich muss erst noch einen anderen Job erledigen.« Als Nächstes rief Merec Tina an. »Wie läuft's bei dir?«, fragte er sie. »Hier ist es richtig Scheiße. Ich kann's immer noch nicht fassen, dass du mich in so ein beschissenes Altersheim geschickt hast.« »Hat sich irgendwas geändert seit deinem letzten Bericht?« »In dem Scheißladen hier ändert sich nie was«, beschwerte sie sich. »Steigt das Ding bald, oder was? Ich könnte das wirklich auch alleine durchziehen.« »Nein, davon würde ich abraten. Ich habe etwas Besonderes vor. Ich sage dir Bescheid.« Merec legte auf, wählte dann erneut und hinterließ seine Nummer auf dem Anrufbeantworter. Danach saß er mit dem Rücken zum Fenster, das Telefon neben sich. Draußen wurde es allmählich dunkler. Er hörte ein paar Fetzen eines Liedes, das ihm entfernt vertraut vorkam, und er ging zum Fenster und streckte den Kopf ins Freie, um die Melodie in der leichten Brise zu identifizieren. Noch einen Augenblick länger, und er hätte sie erkannt, aber das Telefon klingelte. Er wartete bis zum fünften Klingeln, nahm dann ab und sprach in den Hörer. »Haben Sie die Hälfte des Geldes auf das Konto eingezahlt? Gut. Ich werde mich um Ihr kleines Problem kümmern, sobald 31
ich die Bestätigung habe. Machen Sie sich keine Gedanken. Ich sorge dafür, dass kein Verdacht auf Sie fällt. Ja, ich melde mich wieder.«
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Mausetot Diejenigen, die noch gehen konnten, kamen jeden Nachmittag vor Sonnenuntergang hinunter und brachten leichte Aluminiumstühle mit ins Freie. Sie trafen sich hier vom frühen Frühjahr an, wenn die ersten Knospen an den Bäumen erschienen, bis in den Spätherbst, wenn die Zweige sich kalt und tot vor dem grauen Himmel abhoben. Sie kamen, um den hallenden Gängen zu entkommen, um mit anderen zu reden, die noch Worte zu Sätzen zusammenfügen konnten, und um wieder erkannt zu werden, so dass sie gegebenenfalls vermisst werden würden. An diesem kühlen Frühlingsnachmittag, an dem die Bäume noch kahl waren und das Gras eher braun als grün, waren sie zu viert. Im letzten Herbst waren sie acht gewesen. Aber als die Tage gerade kalt genug waren, um ihre Nasen rot anlaufen zu lassen, war Harold Nussbaum, der einzige männliche Teilnehmer, an seinem vierten Herzinfarkt gestorben. Dann, irgendwann während des Winters, war Rachel Merryweather hoffnungslos in die Senilität abgerutscht, und obwohl sie sie manchmal ansah, als versuchte sie sich an etwas Langvergessenes zu erinnern, erkannte sie sie nicht mehr. Und erst letzte Woche war Beatrice Spanner im Schlaf gestorben. Bea war still gewesen, aber die Art, wie sie das Gesicht in den leichten Wind hob, hatte sie daran erinnert, was noch geblieben war. Sie stellten Beas leeren Stuhl ins Freie, damit sie sie diesmal durch ihre Abwesenheit - zu gelegentlicher Dankbarkeit bewegen konnte. Die Sonne hing tief über den fernen Hügeln, und Emma Ness war immer noch nicht da. Sie rutschten in ihren Stühlen hin und her und tauschten Kommentare über das Wetter aus: die Aussichten (nicht eine Wolke hing im bleigrauen Himmel), die Kälte (kühle zehn Grad) und den Mangel an Regen (in 33
diesen trockenen Jahren schien es nie genug davon zu geben). Keine ließ ihre Uhr aus den Augen. Schließlich meldete sich Rose Tillman zu Wort. »Tot«, erklärte sie in ihrer lauten, durchdringenden Stimme. »Ich sag euch, sie ist mausetot.« Meg Litton stieß ein bellendes Lachen aus, und Mattie Franklin warf ihnen einen missbilligenden Blick zu. Rose sagte: »Was siehst du mich so an, Miss Mattie Franklin? Der Mensch darf ja wohl noch seine Meinung sagen. Soweit ich weiß, sind die Russen noch nicht an der Macht, und wir leben nach wie vor in einem freien Land. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt.« »Die Chinesen«, sagte Doris Morton hinter ihrer Zeitung hervor. Roses grimmiger Blick richtete sich von Mattie auf Doris. Doris blätterte die nächste Seite um, stieß sie zurecht und hob sie vors Gesicht. »Was soll das heißen?«, wollte Rose wissen. Doris seufzte und ließ die Zeitung sinken. »Entweder dein Gedächtnis lässt dich im Stich oder deine Kenntnisse über das Zeitgeschehen. Die Russen sind keine Bedrohung mehr. Sie werden nicht mal mit einem Aufstand im eigenen Land fertig. Im Augenblick gelten zufällig die Chinesen als die größere Bedrohung.« Und sie hob die Zeitung wieder. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mit mir reden?«, fragte Rose. »Du wirst bitte im Gedächtnis behalten, dass ich zwar bereit bin, hier zu sitzen und wie ein guter Christenmensch dieselbe Luft zu atmen wie du. Aber ich muss dich bitten, das nächste Mal daran zu denken, dass ich von dir nicht angesprochen werden will. Was mich angeht, ich halte nichts von deinem überlegen-intellektuellen Blödsinn.« Mattie Franklin unterbrach die Diskussion. »Wo bleibt das Mädchen?«, fragte sie, während sie sich aus ihrem Stuhl hochstemmte. »Ich gehe nachsehen, was los ist. Sie hat 34
Zimmer vierundzwanzig, stimmt's?« Alle Augen folgten Mattie, als sie aufstand und Richtung Gartentür aufbrach, die breiten Hüften mit bequemem Polyesterjersey bekleidet. Aber gerade da wurde ein Stück weiter den Gartenpfad entlang Emmas Fenster hochgeschoben, und ihr grauer Kopf sah ins Freie. »Du kannst dich wieder hinsetzen, Mattie«, rief sie. »Ich hab den Löffel noch nicht abgegeben.« »In Ordnung«, antwortete Mattie gedehnt, obwohl ihr die Erleichterung anzusehen war. »Ich wollte nur mal nach dir sehen. Alles okay?« »Bestens. Ich komme gleich.« Mattie nickte und ging zu der Gruppe zurück. Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür, aber statt Emma erschien Simon. Simon war Pfleger in Willowridge jung, schlaksig und bei den Frauen sehr beliebt, sogar bei Rose. Sie riefen »Simon!«, und einige klatschten in die Hände. »Meine Damen«, antwortete Simon. Er kam über den Rasen zu ihnen herüber. »Darf ich mich dazusetzen?«, fragte er und setzte sich auf den leeren Stuhl, der etwas abseits von dem unregelmäßigen Halbkreis stand. Er streckte die langen, dünnen Beine aus. »Wessen Stuhl ist das?«, fragte Simon. »Beas«, erklärte Mattie. »Sie wollte, dass er stehen bleibt für den nächsten Menschen, der nach Willowridge kommt. Den nächsten, der ihn gebrauchen kann«, verbesserte sie sich. »Und wir haben uns gedacht, wir nehmen ihn mit raus, bis er wieder besetzt wird.« »Das ist ein netter Gedanke«, sagte Simon. »Und vielleicht kann ihn bald jemand brauchen.« »Was?«, riefen mehrere der Frauen gleichzeitig. Neuzugänge waren nichts Ungewöhnliches. Aber ein neuer Patient, der als Kandidat für die Gruppe auf dem Rasen in Frage kam - das war 35
eine Seltenheit. Sie verlangten Einzelheiten. »Ich weiß nicht viel über sie«, sagte Simon. »Ich weiß nur, ihr Name ist Sarah Shepherd.«
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Sarahs Beitrag zur Unterhaltung Als Sarah in Willowridge eintraf, bekam sie Beas Zimmer und Beas Bett, aber Beas Stuhl blieb weiter leer; Sarah benutzte immer noch den Rollstuhl, obwohl der Arzt sie zum Laufen ermutigt hatte. Wenn sie durch die Gänge geschoben wurde, hatte sie das Gefühl, an Phantomen vorbeizuschweben. Die Flure waren still, und alle Welt sprach mit gedämpfter Stimme. Mehrere andere Rollstühle glitten vorbei, geschoben von Angestellten in weißen Kitteln, und ein paar gehfähige Patienten schlurften mit gebeugten weißen Köpfen und weiten, hellblauen Einheitsschlafanzügen umher. Unterhaltung wurde in Willowridge nicht groß geschrieben. Der Fernseher stand in einem langen, schmalen, mit Stühlen vollgestellten Zimmer, aber als ein leergesichtiger Angestellter Sarah hineinzuschieben versuchte, protestierte sie mit einem heftigen Kopfschütteln. Stattdessen parkte man sie am Fenster eines winzigen Wohnzimmers mit zwei verblassten Chintzstühlen und einem dick verstaubten Nähkorb, der auf einem schmalen Sideboard stand. Sie schlief ein, während sie einen Sperling in der Birke vor dem Fenster beobachtete. Eine sanfte Berührung an der Schulter weckte sie. »Entschuldigen Sie.« Ein schlaksiger junger Mann in einem weißen Kittel beugte sich über sie. »Die Damen fragen nach Ihnen.« Er deutete durch das Fenster zu der Gruppe von Stühlen am Rand der Hügelkuppe hinüber. »Erlauben Sie?«, fragte er höflich, während er den Stuhl vom Fenster fortzog. Er schob sie zur Gartentür hinaus und über den gepflegten Rasen zu der kleinen Gesellschaft hinüber, die unter der Baumgruppe saß. Die Zweige schwankten im leichten Wind, und die tief stehende Sonne beleuchtete die alten Gesichter. 37
Beinahe sah es so aus, als wartete ihr Platz auf sie - eine Lücke in der Gruppe der Stühle. Einige lächelten ihr zu, aber sonst wurde ihre Ankunft nicht weiter zur Kenntnis genommen. Es überraschte Sarah. Obwohl sie bereit gewesen war, sich der Gruppe anzuschließen, um im kühlen Wind zu sitzen, hatte sie sich darauf vorbereitet, alle Annäherungsversuche mit einem kalten Blick abzuwehren. Stattdessen hatte sie kein Wort der Begrüßung gehört. Der Pfleger war schon wieder auf dem Weg zum Haus, womit ihr der Rückzug abgeschnitten war. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Gruppe zu. Eine sehr alte, zerbrechliche Frau las aus einer Zeitung vor, die sie sich dicht vor die Nase hielt. »Aufgrund dieser Vereinbarung, mit der die endgültige Entscheidung über die Unabhängigkeit Tschetscheniens vertagt wird, behält Russland den offiziellen Status eines Partners bei der Verwaltung der abtrünnigen Gebiete. Obwohl damit noch keine Unabhängigkeit erreicht ist, haben die Rebellen die innere Brüchigkeit ihres Vaterlands demonstriert.« Sie ließ die Zeitung sinken und sah demonstrativ zu einer plumpen Frau mit Strickzeug im Schoß hinüber. Ohne sich aus dem Rhythmus ihrer Arbeit bringen zu lassen, sagte Rose ruhig: »Du kannst mich mal, Doris.« »Wo hast du eigentlich diese Ausdrücke her?«, fragte Doris angewidert. »Aus der verdammten Zeitung da sicher nicht.« »Auf wen setzt du in dieser Tschetscheniengeschichte, Doris?«, fragte Emma in einem Versuch, die beiden zu unterbrechen. »Herrgott, Emma, das ist doch kein Tennismatch«, wies Mattie sie zurecht. »Die Leute sterben dort.« »Das Sterben ist gar nicht so schlimm«, sagte Sarah plötzlich, ohne auch nur gewusst zu haben, dass sie sprechen würde. Alle Frauen musterten sie mit kalten Blicken. »Und wer hat dich gefragt?«, wollte Meg Litton wissen. Ihre 38
Augen wurden schmal. »Du siehst nicht alt genug aus, um ungefragt den Mund aufzumachen.« »Was ich gern wissen will«, erklärte Rose mit ihrer heiseren Krähenstimme, »ist, warum wir uns einen Dreck um diese Ausländer scheren sollten, die sich in ihrem eigenen Land gegenseitig umbringen. Ich wette, die verschwenden keinen Gedanken an uns.« »Sie sind mitten im Krieg«, sagte Doris. »Und?«, warf Sarah ein. »Wärst du lieber hier?« »Da hat sie nicht Unrecht.« Rose beugte sich vor. »Hast du vor, das zu beantworten?« Als Doris nicht reagierte, wandte sie sich stattdessen an Meg. »Was meinst du, Meg?« »Ich wäre lieber dort«, sagte Meg. »Aha«, krähte Rose. »Emma?« Emma lachte entschuldigend, aber sie stimmte zu. »Dort.« »Mattie?« Mattie nickte. Doris unterbrach. »Daran sieht man doch nur, dass ihr keine Ahnung habt. Ihr wisst nicht, wie der Krieg ist.« »Glaubst du, die tschetschenischen Soldaten würden mit uns tauschen?«, fragte Rose hinterhältig, und alle lachten bei dem Gedanken.
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Feuerwerk Sarah war nun schon seit vier Monaten in Willowridge, und das Wetter hatte sich verändert - von kaltem Märzwind zu stickiger Julihitze. Der Morgen des vierten Juli wurde von tief hängenden Wolken verdüstert. Das Licht war gelblich, und die Luft hatte etwas Atemloses, als sie in den Bäumen seufzte. In den vergangenen Jahren hatten die Frauen von ihrem Aussichtspunkt auf der Hügelkuppe zu der Stadt im Südwesten hinübersehen und das leuchtende Feuerwerk beobachten können. Und das Beste war, dass sie selbst aus dieser Entfernung das gedämpfte Dröhnen hören und spüren konnten, wie es in ihren brüchigen Knochen nachhallte. Mrs. Moodie, die das Heim leitete, hatte sich ein langes Wochenende freigenommen und Martha Bell die Leitung übertragen. Martha war eine ernsthafte junge Frau mit nervösem Gehabe und einem besorgten Stirnrunzeln. Man hatte sie gewarnt, dass am Vierten das Personal knapp sein könnte, aber als der Tag dann da war, kam es schlimmer als erwartet. Deshalb war es ihr nicht unlieb, dass eine der neueren Angestellten, Tina, zwei Freunde zum Aushelfen mitbrachte. Es waren ungewöhnliche Freunde für ein junges Mädchen - ein mondgesichtiger Mann mit Halbglatze, den Tina Fritz nannte, und ein älterer Herr mit zottigem grauem Haar und auffallend blauen Augen -, aber Martha war verzweifelt und nicht geneigt, einem geschenkten Gaul ins Maul zu sehen. Martha richtete sich für den Tag im Videozimmer ein, die Augen wie gebannt auf die Monitore gerichtet, auf denen sie die Gesichter der schwächeren Patienten beobachten konnte. Sie betete im Stillen: »Lass sie nicht sterben, während ich hier die Verantwortung habe.« Sie fürchtete sich davor, die Angehörigen anrufen zu müssen. Sie wusste, den volltönenden Kummer beim Vortragen der vorformulierten Worte, den Mrs. Moodie bis zur Perfektion geübt hatte, brachte sie nicht zu 40
Stande: »Ihr Vater [Ihre Mutter, Ihr Bruder, Ihre Schwester, Ihr Cousin, Ihre Großtante] ist heute am frühen Morgen [späten Nachmittag, frühen Abend] verschieden. Er [sie] ist friedlich im Schlaf von uns gegangen.« Sie gingen immer »friedlich im Schlaf«, auch dann, wenn jemand mitten im Hauptgang einen fürchterlichen Krampf bekam. Martha verfolgte auf den Bildschirmen, wie die gehetzten Angestellten allen beim Anziehen halfen und sie zum Frühstück führten. Auch das Mittagessen war ein Erfolg. Sie brachten es sogar fertig, jedem eine Schale Vanilleeis mit ein paar Spritzern Blaubeeren aus der Dose und einer Maraschinokirsche obendrauf zu servieren. Draußen brachen die Wolken auf und trieben nach Norden davon. Bis zum Nachmittag waren sie ganz verschwunden, und über den Köpfen spannte sich ein riesiger blauer Himmel. Aber der Beobachtungsraum hatte keine Fenster; er war dunkel bis auf das flackernde Licht der Bildschirme. Martha streckte sich und rieb sich die Augen. Die Tür öffnete sich mit einem fast unhörbaren Geräusch. Martha sah so gebannt auf die Monitore, dass sie es nicht bemerkte; sie starrte in die Augen des alten Mr. Macy und versuchte ihn durch schiere Willenskraft zu bewegen, nicht zu sterben. Die zwei Schritte bis zu ihrer Stuhllehne wurden katzengleich und professionell getan. Sie hielt Ausschau nach dem Tod, aber als er kam, bemerkte sie ihn trotz aller Wachsamkeit nicht. Immerhin blieb es ihr erspart, zuzusehen, wie Mr. Macy wenig später ebenfalls sein Ende fand. Jemand anderes musste den Anruf bei Tochter, Sohn, Bruder, Schwester, Cousine übernehmen, obwohl man diesmal nicht guten Gewissens behaupten konnte, der Patient sei im Schlaf gestorben. Sarah döste den größten Teil des Nachmittags über im Wohnzimmer. Sie wachte auf, als das Licht, das durchs Fenster 41
hereinfiel, von dämmerigem Grau war. Sie nahm an, dass man sie an diesem aufregenden Tag vergessen hatte. Sie wollte das Feuerwerk nicht verpassen, von dem sie so viel gehört hatte, und so stieß sie den Rollstuhl mühsam den Gang entlang. Als sie die Gartentür erreichte, war ein Angestellter, den sie noch nie gesehen hatte - ein älterer Mann mit leuchtend blauen Augen - gerade dabei, einen Schlüssel im Schloss zu drehen. Er wirkte leicht überrascht von ihrem Anblick. »Wie heißen Sie?«, fragte er. »Sarah Shepherd.« »Waren Sie nicht im Fernsehzimmer, Sarah?« »Wohnzimmer.« »Ah«, sagte er. »Ich fürchte, Sie werden sich heute nicht auf dem Rasen treffen. Die anderen Damen sind alle im Esszimmer.« Sie blieb sitzen und wartete darauf, dass er die Griffe des Rollstuhls nehmen und sie dorthin bringen würde. Er stand da und sah sie an. »Ich fürchte«, sagte er, »Sie müssen sich selbst dorthin begeben. Ich warte noch auf jemanden. Doris, glaube ich.« Sie öffnete den Mund, um ihm eine Frage zu stellen, aber etwas Undefinierbares in seinen Augen ließ sie zögern. Langsam wendete sie den Rollstuhl und stieß sich ohne ein Wort den leeren Flur entlang wieder zurück. Als sie um die Ecke bog, wurde Sarah bewusst, dass der Gang ungewöhnlich dunkel und trübselig wirkte. Sie brauchte einen Augenblick, um den Grund herauszufinden: alle Türen, die auf den Gang führten, waren geschlossen. Sie ließ den Rollstuhl vor einer davon ausrollen. Mit einem schnellen Blick über die Schulter drehte sie den Knopf, rollte hinein und hielt an, um die Tür hinter sich zu schließen. »Hallo?«, rief sie. »Hallo?« Die Jalousien waren unten, und das Zimmer lag im Schatten. Ihre Augen brauchten eine Sekunde, um sich an das 42
Dämmerlicht zu gewöhnen. Als sie weiter ins Zimmer rollte, sah sie, dass beide Betten belegt waren. Das Erste, was ihr auffiel, waren die leuchtend roten Kissen - Vierter-Juli-Farbe. Dann konzentrierte sie sich auf die Gesichter, die mit offenen Mündern in die leere Luft starrten. In der Mitte beider Stirnen, genau zwischen den blicklosen Augen, war ein sauberes, rundes Loch mit schwarz versengten Rändern. Ihre Hand hob sich an die Lippen, und sie sagte sehr leise: »Oh.« Sie spürte, wie ihr Herz hart gegen die Rippen schlug. Mit einem tiefen Atemzug stieß sie ihren Rollstuhl nach hinten und wandte sich von den Leichen ab. Der Flur war leer, als sie hinausschlüpfte. Sie stieß ungeschickt gegen die Wand, rollte ein Stück zurück und machte sich auf den Weg den Gang entlang zum Esszimmer. Als sie in der Tür erschien, sah sie, dass alle anderen auf sie warteten. Sie saßen um das Ende eines der langen, weißen Tische. Der Mann mit den blauen Augen lächelte ihr zu. »Oh, wir haben uns Sorgen gemacht!«, platzte Emma heraus. »Wir haben nicht gewusst, wo du steckst. Dieser Mann hier wollte schon jemanden schicken, der nach dir sucht.« Sarah warf einen Blick auf die anderen Gesichter rings um den Tisch. Rose strickte und knurrte vor sich hin. Meg trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Emma lehnte sich etwas zur Seite, um hören zu können, was Mattie ihr zuflüsterte. Doris las die Zeitung, die sie wie einen Schild zwischen sich und der Welt hochhielt. Nur Mattie sah besorgt aus; ihr Stirnrunzeln faltete lächerliche Furchen und Gräben in ihre Stirn. »Kommen Sie, schließen Sie sich uns an«, lud der blauäugige Mann sie von seinem Sitz am Kopf des Tisches her ein. Mattie sprang auf, um ihr zu helfen, aber der Mann winkte sie zurück. »Sie kann das selbst«, sagte er. Und Sarah stieß sich die letzten paar Meter durch den Raum bis zu einer Lücke 43
neben Rose. »Wir warten noch auf ein paar Leute, die zu uns stoßen werden. Dann können wir anfangen.« »Mit was anfangen?«, fragte Emma. »Mit den Festivitäten, Mylady«, antwortete Merec mit einer anmutigen, kleinen Verbeugung im Sitzen. »Wir werden mit den Festivitäten beginnen.« Merec spürte etwas und sah sich um. »Aha, sagte er. »Jeremy ist auch da.« Ein Mann stand in der Tür. Er war dünn und elegant und hatte langes, glänzend schwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. »Jeremy, dies sind die Damen. Meine Damen, Jeremy.« Merec übernahe, die Vorstellung. »Jeremy, würdest du so gut sein, die Kamera herauszuholen. Wir wollen diese kostbaren Augenblicke festhalten.« Jeremy kam ins Zimmer und beugte sich schweigend über eine schwarze Nylontasche. Sarah verspannte sich, als er den Reißverschluss öffnete und hineingriff, aber er holte nur einen Camcorder heraus. Mit einer Hand unter dem Gurt hob er die Kamera ans Auge. Er schwenkte sie zur Tür hin, und alle sahen sich um. Simon, ihr Lieblingspfleger, stolperte ins Zimmer. Eine weitere Angestellte, Tina, folgte ihm. Sie hatte die Arbeit in Willowridge ungefähr zu der Zeit aufgenommen, als auch Sarah eingetroffen war. Tina führte Simon zu einem Stuhl am Nachbartisch, und Sarah sah, wie sie etwas unter ihre Jacke schob, bevor sie zurücktrat. Gleich darauf erschien eine weitere Gestalt. Kevin, ebenfalls ein schon vor langer Zeit eingestellter Pfleger, aber weniger beliebt als Simon, blieb in der Tür stehen, krümmte sich und erbrach sich auf den Boden vor seinen Füßen. Als er sich so unvermittelt bückte, wurde der mondgesichtige Mann hinter ihm sichtbar - und die Pistole, die er in der Hand hielt. Sarah merkte an dem scharfen Atemzug und der plötzlichen Stille um sie her, dass die anderen sie auch gesehen hatten. 44
Sie alle blickten automatisch von der Waffe zu Merec. Er sagte: »Es sieht so aus, als wäre das Geheimnis verraten.« Er zog eine identische Waffe aus dem Hosenbund, legte sie vor sich auf den Tisch und fügte hinzu: »Komm rein, Fritz. Und bring deinen Gast mit.« Der mondgesichtige Mann umging sorgfältig die Pfütze von Erbrochenem und führte Kevin zu einem Stuhl. Merec klatschte in die Hände. »Gut. Jetzt sind alle da. Wir können anfangen.« Über den fernen Hügeln war das Licht schwächer geworden, und die Menschen um den Tisch verschwammen zu grauen Papiersilhouetten. Jeremy schaltete das Licht ein, und sofort füllten eingesunkene Augen und weiße Fingerknöchel die Umrisse aus. Emma holte Atem, als wollte sie sprechen, aber Doris drückte ihre Hand, und Emma verstummte. Ein würgender Schluchzer brach aus Kevin hervor. Sie alle hörten die beginnende Hysterie und sahen überallhin, nur nicht in sein blasses, verzerrtes Gesicht. Merec räusperte sich. »Fritz«, bellte er. Fritz sah auf, verstand, was Merec meinte, tat ein paar Schritte und schlug Kevin ins Gesicht. Ein dunkelroter Fleck erschien auf der bleichen Wange, aber er verblasste schnell und nahm die aufsteigende Hysterie mit. Kevins Schluchzen wurde zu leisem Stöhnen. »Ich muss sagen, alles in allem seid ihr eine sehr wohlerzogene Gruppe«, sagte Merec, während er aufstand. Er schob die Waffe wieder in den Hosenbund, schlenderte durchs Zimmer und nahm zwei leere Stühle bei den Lehnen. Er stellte sie einander gegenüber. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, in was für Gesellschaft wir schon gewesen sind«, fuhr er fort, während er mehr Stühle holte. »Geschrei, Ohnmachtsanfälle, Verstecken unter Tischen.« Er nahm zwei weitere und plazierte sie neben dem ersten Paar. »Tische halten in der Regel keine Kugeln ab, wisst ihr. Oh, aber am schlimmsten sind die Leute, die 45
versuchen, Helden zu sein. Was für ein unglückseliges Wort. Es erlaubt den Leuten, unter der Maske des Heldentums zu handeln, wenn die wirklichen Motive Selbstsucht und Panik sind. Die menschliche Natur in extremen Stresssituationen ist ein Thema, das mich fasziniert.« Er hielt inne, um die Anwesenden zu zählen, arrangierte zwei weitere Stühle und trat zurück und prüfte die Wirkung. »Ich habe einen erheblichen Teil meiner Zeit investiert und keinen Aufwand gescheut, um sie zu studieren. Es heißt, die wahren Werte zeigen sich erst unter Stress.« Er nahm noch eine winzige Änderung am letzten Stuhlpaar vor und sah dann wieder zu ihnen auf. »Ich werde euch allen Gelegenheit geben, an einem meiner bewährten Experimente teilzunehmen.« Er winkte mit einem Finger zu Kevin hinüber, der leise weinte, eine Hand vor der unteren Gesichtshälfte, um das Geräusch zu dämpfen. »Du da, wie heißt du?« Kevin holte zitternd Atem, aber Merec sagte: »Schon gut, schon gut. Komm einfach her und setz dich.« Er klopfte einladend auf den ersten Stuhl. Kevin versuchte aufzustehen, aber die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel zurück. Tina nahm einen seiner Arme, Fritz nahm den anderen, und sie zerrten ihn zu dem ersten Stuhl hinüber. Alle anderen beeilten sich, die ihnen zugewiesenen Stühle einzunehmen. Meg saß auf dem Stuhl vor Kevin, Emma saß Mattie gegenüber und Doris Simon, Sarah und Rose wurden ans Ende der Reihe geschoben, wo sie das letzte Paar bildeten. Obwohl Kevin am anderen Ende der Reihe war, nahm Sarah den scharfen Geruch von Erbrochenem wahr. Sie fragte sich, ob Pferde etwas Ähnliches spürten, wenn sie Angst rochen. »Und jetzt möchte ich, dass ihr alle sehr genau zuhört«, sagte Merec, während er einen Stuhl so drehte, dass er ihnen gegenübersaß, »denn dies ist wirklich eine Frage von Leben und Tod. Oder sollte ich vielleicht sagen eine Wahl zwischen den beiden.« Jeremy stellte sich hinter Merec, und das dunkle Auge der 46
Kamera schwenkte über ihre Gesichter und hielt ihre Furcht auf einer winzigen Kassette fest. »Ich werde in jedem Paar einer Person eine Frage stellen. Ihr müsst in einem vollständigen Satz antworten. Das heißt Subjekt und Prädikat. Ich habe eine Schwäche für korrekte Grammatik, und ihr werdet mir den Gefallen tun müssen.« Er betrachtete die Gesichter. »Ihr werdet genau zwei Minuten Zeit haben, die Frage zu beantworten«, sagte er, während er auf seine Armbanduhr klopfte. »Hat jeder mich so weit verstanden?« Er machte eine Pause, aber niemand antwortete. In der kurzen Pause hörte man ein kurzes, donnerndes Dröhnen. Sarah sah die Gesichter ringsum aufleuchten - in einer Sekunde wandelte sich Verzweiflung zu Erlösung. Die plötzliche Verwandlung zeigte, dass jeder Einzelne von ihnen im Grunde seines Herzens geglaubt hatte, sie würden durch irgendeinen Akt der Vorsehung entkommen - dass auch sie wie im Film im letzten Augenblick gerettet werden würden. Sarah spürte den Donner im Brustbein, spürte, wie der Klang im Brustkorb widerhallte, aber sie wusste, wenn sie zum Fenster hinaussah, würde sie keinen Polizistentrupp sehen, sondern eine verblassende, zerfallende Blüte von Farben im Himmel. Als sie den Kopf drehte, sah sie die letzten Reste, die grünen und rosa Sterne, zu körperlosen Linien von blassestem Licht werden, wie fallende Engel. Als die nächste Blüte, ein grell leuchtendes Purpur, zu winzigen Veilchen zerbarst, stöhnte Simon. »Das Feuerwerk«, flüsterte Mattie. Merecs volltönendes Lachen rollte über die Gruppe hin. »Ganz richtig, meine Liebe. Und wir dachten schon alle, die Kavallerie ist eingetroffen, nicht wahr?« »Ich liebe Feuerwerk«, sagte Mattie einfach. »Dann sollst du es dieses Jahr auch nicht unseretwegen verpassen.« »Der Scheiß dauert doch mindestens zwanzig Minuten«, 47
protestierte Tina. Merec wandte sich an Jeremy. »Haben wir genug Zeit, bevor die Nachtschicht eintrifft?« »Ja«, antwortete Jeremy hinter der Kamera hervor. Merec stand auf und schaltete das Licht aus. »Du versäumst etwas«, sagte er zu Mattie und deutete auf das Fenster hinter ihr, wo eine blutrote Blume schwebte und in wenigen Sekunden welkte. Sie drehten sich auf ihren Stühlen, um das Feuerwerk zu beobachten. Tina ging auf und ab und rauchte mit ruckartigen Bewegungen, Fritz kratzte an einer Schorfstelle an seinem Ellenbogen herum, und Jeremy umrundete sie und filmte ihre Gesichter, während sie zusahen. Sarah konnte die auf und ab gehende Frau, die Kamera und die Pistole, von der sie wusste, dass sie auf Fritz' Knien lag, nicht ignorieren, aber nichts davon beeinträchtigte ihre Freude an dem Feuerwerk, das über dem fernen Hügel aufblühte und erstarb. Und als die letzte Rakete mit dem Himmel verschmolz, stellte sie fest, dass es ein sehr gutes Feuerwerk gewesen war nicht das beste, das sie je gesehen hatte, aber sehr gut. Sie wandten sich widerwillig vom Fenster ab. Jeremy schaltete das Licht an, und Merec rieb sich müde mit einer langen, schlanken Hand die Augen. »Also gut, machen wir weiter«, sagte er, aber er schien den Elan verloren zu haben. Er gab Fritz ein Zeichen, der sich daraufhin hinter Kevin und Meg aufstellte. Kevin hatte als Einziger das Feuerwerk nicht verfolgt. Er saß da, eine Hand fest auf die Augen gedrückt. Merec sah stattdessen Meg an. »Meine Liebe, die Frage geht an dich, weil dein Gegenüber nicht aussieht, als könnte er antworten. Denk daran, du hast zwei Minuten. Ich werde einen von euch töten. Ich überlasse dir die Wahl. Wirst du sterben oder wird es der Mann sein, der dir gegenübersitzt?« Er sah auf seine Uhr und dann wieder hinauf zu Megs Gesicht. 48
Meg wirkte nicht überrascht oder auch nur sonderlich verstört. Sie sah zu Kevin hinüber, der die Frage nicht wahrgenommen zu haben schien. Sie sah wieder zurück und sagte klar und deutlich: »Töte ihn.« Sofort hörten sie ein leises »pfft«, und Kevin sackte noch weiter nach vorn, kippte wie in Zeitlupe. Er landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden. »Meine Liebe«, sagte Merec, »du hast einen neuen Rekord aufgestellt. Du hast nur sechs Sekunden gebraucht, um zu entscheiden, dass das Leben eines anderen Menschen für deins geopfert werden sollte. Ich beglückwünsche dich zu deinem moralischen Dilemma.« Im Profil kam es Sarah vor, als sehe sie eine Träne in seinem Augenwinkel glitzern, aber als er sich wieder umdrehte, nahm sie an, dass es das Licht gewesen sein musste, denn die Flächen und Klippen waren wie gemeißelter Stein und der Ausdruck gänzlich unbewegt. Als Nächstes sah er zu Emma und stellte ihr die Frage. Ihr Gegenüber, Mattie, saß starr und abwartend, ohne den Blick von ihrem Schoß zu heben. Als der Zeiger bei einer Minute und fünfzig Sekunden angekommen war, begann Merec laut zu zählen. »Fünfzig, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig ... Du wirst sterben, meine Liebe«, und daraufhin flüsterte Emma: »Töte sie«, und Mattie fiel neben Kevin auf den harten Fliesenboden; Blut quoll unter ihrer Wange hervor. Und Jeremy umkreiste sie und dokumentierte alles. Merec sah Doris an und dann Simon, während er die Augenbrauen hochzog. Ein erstickter Laut kam aus Simons Kehle. »Töte sie«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang hoch und unnatürlich. Doris fiel nach vorn und landete mit ausgestrecktem Arm; eine Fingerspitze berührte Matties Schulter. Er wandte sich an Rose und Sarah und sah von einer zur an49
deren. Rose strickte, die Augen hartnäckig auf die Nadeln in ihrem Schoß gerichtet. »Und was sagst du?«, fragte er Sarah. Sarah sah hinauf in seine blauen Augen. »Töte mich«, sagte sie. Fritz zögerte und warf Merec einen Blick zu. »Ich werde es tun, weißt du. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich es nicht tun werde.« Sarahs Blick lag auf den zusammengesunkenen Gestalten, die sie zu kurz gekannt hatte, um sie Freunde zu nennen, und sie sagte: »Wie könnte ich dir nicht glauben?« Er starrte sie an und begann die Stirn zu runzeln, dann bewegte er plötzlich die Hand. Sarah spürte eine Bewegung in ihrem Rücken und verspannte sich unwillkürlich. Aber es war Simon neben ihr, der fiel, dann Emma. Es geschah schnell, aber bevor Fritz Meg erreicht hatte, merkte sie, was ihr bevorstand. Sie versuchte nicht aufzustehen oder sich auch nur zu ducken. Sie öffnete einfach den Mund und stieß einen hohen Klagelaut aus. Er endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und auch sie fiel. In der plötzlichen Stille hallte das Echo des letzten Schusses wider. Ein Blutsee breitete sich langsam auf dem Boden aus und umgab jede der ausgestreckten Gestalten. Fritz ging zurück zu Sarah und Rose. »Nicht Rose«, sagte Sarah. Merec hob die Hand, und Fritz blieb stehen. Rose strickte verbissen weiter; die Nadeln zitterten und klickten in unregelmäßigen Abständen gegeneinander. Aber Sarah hatte das Bedürfnis zu sprechen. »Wozu war das gut?«, wollte sie wissen. »Das?« Merec zeigte auf die Gestalten auf dem Boden. »Es ist tatsächlich am besten so. Früher haben, wenn ich diese Leute gehen ließ, fünfundzwanzig Prozent innerhalb eines Jahres sowieso Selbstmord begangen. Und weitere fünfzig 50
Prozent sind nie darüber hinweggekommen.« »Und die restlichen fünfundzwanzig?« »Die restlichen fünfundzwanzig, ja, die haben, wie man so schön sagt, glücklich gelebt bis an ihr Ende.« Er zuckte die Achseln. Jeremy machte mit seiner Kamera die Runde. »Und was machst du jetzt mit mir?« »Ja, was«, sagte Merec. Er zog seine Waffe heraus und strich mit der Hand über den Lauf. »Ich muss gestehen, ich bin furchtbar neugierig.« Sie setzte sich in ihrem Stuhl zurecht. »Könntest du mir sagen, warum du dich für diese Antwort entschieden hast? War es ein moralisches Bedürfnis? Der Gedanke an die Schuld? Was?« »Ich wusste nicht, dass noch ein Fragebogen dabei ist«, sagte Sarah. Er lachte leise. »Du bist außergewöhnlich. Aber du musst es mir wirklich sagen.« »Oder du bringst mich um?« Sie verschlang die Finger im Schoß. »Deine Verhandlungsposition ist nicht besonders gut.« »Du glaubst, der Tod ist das Einzige, womit ich drohen kann? Du glaubst, das ist das Schlimmste, was passieren kann? Heutzutage ist alle Welt so abgeschirmt. Der Tod ist das Beste, was ich anzubieten habe. Das ist meist die Belohnung, nicht die Strafe.« »Ich habe keine Angst vor dir«, sagte sie mit erhobenem Kinn. »Wirklich?« Sie schüttelte den Kopf. Er überlegte und sagte: »Wir werden sehen.« Tina unterbrach ungeduldig. »Wir müssen weg.« Merec warf ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen brachte. Dann wandte er sich an Jeremy. »Ankunft der Nachtschicht?« Ohne die Kamera zu senken, antwortete Jeremy: »In zehn 51
Minuten.« Merec wandte sich zu Sarah. »Was machen wir jetzt mit dir?« »Ich kann euch eins sagen, das ihr nicht tun werdet«, antwortete sie. »Und was ist das?«, fragte er, als spiele er mit einem bezaubernden Kind. »Ihr werdet Rose nicht wehtun.« »Wer sagt denn, dass es wehtut?« Aber er meinte zu Jeremy: »Wir sind hier fertig.« Jeremy filmte noch ein paar Sekunden, legte einen Hebel um, und das rote Auge verblasste. Er senkte die Kamera, nahm die Kassette heraus und gab sie Merec. »Bist du sicher, dass keins von unseren Gesichtern mit drauf ist?«, fragte Merec. Jeremy nickte, während er die Kamera einpackte. »Gut, gehen wir also.« Merec durchquerte den Raum bis zu Rose, die immer noch über ihre Nadeln gebeugt saß. Er legte ihr die Kassette vorsichtig in den Schoß. »Sorg dafür«, sagte er langsam und deutlich, »dass das hier an die Medien geht. Und sag der Polizei nichts. Wenn du es tust, wirst du sie«, - er zeigte auf Sarah - »in ernsthafte Gefahr bringen.« »Scheiße, ich glaub's nicht. Du lässt die hier?«, platzte Tina heraus. »Tina«, sagte er warnend. »Aber sie kann uns identifizieren, der Polizei eine Beschreibung liefern.« »Fritz, kannst du sie zum Schweigen bringen?«, fragte er über die Schulter. Er ging vor Rose in die Hocke und hob den Klumpen Strickzeug an. »Was machst du da?« Rose antwortete nicht, aber sie fuhr beim Geräusch des Schusses heftig zusammen. 52
Als Merec aufstand, ließ Fritz gerade Tinas Leiche auf den Boden gleiten. »Danke, Fritz«, sagte er. »In Ordnung, machen wir uns auf den Weg. Die andere kommt mit.« Jeremy trat vor und nahm die Griffe von Sarahs Rollstuhl. Fritz folgte ihnen. Rose blieb zwischen den Leichen zurück. Als sie den Parkplatz erreichten, rief Merec: »Jeremy, nimm du sie mit.« Dann gingen er und Fritz zu einem anderen Auto hinüber. Jeremy brachte den Rollstuhl mit einem Ruck vor der Beifahrertür einer dunkelblauen Limousine zum Stehen. Er öffnete die Tür, hob Sarah mühelos hoch - einen Arm unter ihren Knien, den anderen in ihrem Rücken - und setzte sie ins Auto. Er klappte den Rollstuhl zusammen und verstaute ihn im Kofferraum. Das andere Auto fuhr bereits vom Parkplatz, als Jeremy sich neben sie schob. Er ließ den Motor an und trat aufs Gaspedal. Sie rasten die Zufahrt hinunter und nahmen die Kurve auf die etwas breitere Landstraße. Sarah spürte die Geschwindigkeit im Vibrieren des Autos und den verschwommenen Umrissen der Bäume, die vorbeijagten. Sie hatte so lang im Stillstand, in der Bewegungslosigkeit verharrt. Sie drehte sich auf ihrem Sitz um und sah zurück zu dem Pflegeheim oben auf dem Hügel. Ein passender Ort für das Fegefeuer, dachte sie. Als sie sich auf der Autobahn in den dichten Feiertagsverkehr einordneten, sah Sarah die Lichter eines Autos an der Stelle abbiegen, an der sie gerade aufgefahren waren, und wusste, dass es die ersten Angestellten der Nachtschicht sein mussten.
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Stabwechsel Nachdem sie das Auto geparkt hatte, ging Charlotte Wilson geradewegs zum Aufenthaltsraum der Pfleger. Dort wechselte sie die Schuhe, legte die Handtasche in ihren Spind und knöpfte den weißen Kittel zu. Sie setzte sich auf das alte grüne Sofa und nahm sich eine Zigarette. Meist konnten die Angestellten den Schichtwechsel kaum erwarten und streckten die Köpfe ins Zimmer, um nach der Ablösung zu sehen. Charlotte zog kräftig an ihrer Zigarette; sie rechnete damit, dass sie nur wenige Züge machen konnte, bevor man sie entdeckte. Sie saß noch zehn Minuten später dort, als Becky ins Zimmer geschlittert kam, ihren Spind aufriss und hastig ihren Kittel zuzuknöpfen begann. »O Gott, bin ich spät dran«, sagte Becky über die Schulter zu Charlotte auf dem Sofa. »Toben sie schon?« »Bisher ist keiner reingekommen«, antwortete Charlotte, während sie sich die dritte Zigarette anzündete. »Auch eine?«, fragte sie und streckte ihr das Päckchen hin. Becky schüttelte den Kopf. »Das ist aber seltsam. Hast du im Videoraum nachgesehen?« Im Videoraum war immer jemand. »Ich hab nirgends nachgesehen. Wollte die Gelegenheit nutzen.« Becky warf ihr einen angewiderten Blick zu und ging in den Gang hinaus. Einen Augenblick später hörte Charlotte Beckys Aufschrei und ließ die Zigarette auf den Boden fallen, wo sie ein rundes, schwarzes Loch in den Teppich brannte. Sie stürzte um die Ecke und entdeckte Becky im Videoraum, wo sie sich zitternd und weinend über die Leiche von Martha Bell beugte. »O Gott«, sagte Charlotte zurückweichend. »Ich gehe jemanden holen.« 54
Sie rannte den Gang entlang, rief: »Simon? Simon?«, und hörte, wie ihre Stimme in der Stille verklang. Sie bemerkte, dass alle Türen am Gang geschlossen waren. Als sie eine davon öffnete und das Licht einschaltete, sah sie die Leichen. »Scheiße«, sagte sie. Dann begannen Beckys hysterische Schreie wieder durch das Gebäude zu hallen. Als Charlotte sie fand, stand sie vor dem Fernsehzimmer und weinte mit langen, atemlosen Schluchzern. »Sie sind tot«, keuchte sie, »sie sind alle tot.« Charlotte sah hinein. Der Raum war voller zusammengesunkener, von flackerndem blauem Licht beleuchteter Gestalten. Sie nahm Becky am Arm, führte sie zum Büro und setzte sie dort auf ein Sofa. Dann wählte sie 911. Nach einer Pause in der Warteschleife bekam sie schließlich jemanden an den Apparat. Sie lieferte mit leiser, wenn auch nicht ganz fester Stimme die wesentlichen Informationen. Als man ihr mitteilte, man würde sein Bestes tun, explodierte sie. »Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz. Das ist ein gottverdammtes Massaker. Schicken Sie jemanden her, und zwar sofort.« Sie war erleichtert, als sie nicht mehr als fünf Minuten später die Klingel hörte. Sie rannte zur Tür und öffnete. In der Zufahrt standen weder Polizeiautos noch Krankenwagen. Es waren nur zwei graue Lieferwagen da, auf deren Seiten in großen schwarzen Buchstaben IBC stand. Eine Gruppe von Leuten drängte sich draußen auf den Stufen; zwei davon balancierten riesige Kameras auf der Schulter. Zunächst war sie schockiert. Wie war es möglich, dass die Kamerateams vor der Polizei da waren? Aber sie war froh, außer den dutzenden von Leichen noch andere Menschen im Haus zu haben, und sie öffnete die Doppeltür und ließ sie herein. Ein Kamerateam stürmte an ihr vorbei, das andere blieb, um mit ihr zu reden. Sie richteten die Kamera auf ihr Gesicht, 55
hielten ihr ein Mikrofon vor den Mund und stellten eine Frage nach der anderen: Wann war sie gekommen? Wie hatte sie die Leichen entdeckt? Was war ihre erste Reaktion gewesen? Gab es Überlebende? Das andere Kamerateam suchte Zimmer um Zimmer ab und fand ordentliche, ruhige Schlafzimmer und alte Männer und Frauen mit ordentlichen, ruhigen Löchern in den Köpfen. Dann erreichten sie das Esszimmer und fanden Rose. Sie strickte immer noch, aber seit sie Becky schreien gehört hatte, hatte sie damit gerechnet, dass jemand auftauchen würde. Der Reporter durchquerte den Raum, wobei er sorgfältig über die Leichen hinwegstieg. Er trat neben sie und fragte: »Ma'am, geht es Ihnen gut? Brauchen Sie einen Krankenwagen?« Dann erkannte er die unglaubliche Gelegenheit, die sich ihm bot, und fragte drängend: »Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?« Roses Augen glitten von ihm zu dem Kameramann, der gerade in der Tür erschien. »Sind Sie Journalist?«, fragte sie. Er zögerte und gab dann zu, dass dem so war. »Dann habe ich etwas für Sie«, sagte sie. Sie griff unter ihr Strickzeug, holte die Kassette heraus und legte sie ihm sorgfältig in die Hand.
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Besuchstag in Willowridge Ein großer, dünner Mann in einem zerknitterten grauen Anzug ging auf die Tür des Willowridge-Pflegeheims zu, mehrere Stunden nachdem die Kamerateams von den eintreffenden Polizisten hinausgeworfen worden waren. Mit langsamen, schlurfenden Schritten ging er zum Haus und die Treppe hinauf. Zwei Polizeibeamte waren an der Tür postiert. »Moment mal«, sagte einer der beiden. »Wo wollen Sie denn hin?« Der Mann lächelte kurz, griff in die Innentasche seines Jacketts und holte seine Brieftasche heraus, die er aufklappte und aushändigte. »Oha.« Der Beamte sah genauer hin. »Das ist ja ein FBI Ausweis.« »Ihnen entgeht aber auch gar nichts«, sagte der Mann. Der Polizist ignorierte die Bemerkung. »Ihr Typen habt also schon die Finger drin?« Der Mann zuckte die Achseln und wartete geduldig. Der Polizist studierte den Ausweis noch einmal. »Agent Tresler«, las er laut vor. Tresler streckte die Hand aus, und der Polizist gab widerwillig die Brieftasche zurück. Tresler steckte sie ein, murmelte »Danke« und ging an ihm vorbei. Im Gang wimmelte es von Polizisten. Er ging gemächlich weiter und trat ruhig zur Seite, wenn kleine Gruppen vorbeieilten. Er sah zu, wie dutzende von Männern mit lockeren, geübten Bewegungen aus dem Handgelenk alle Oberflächen mit dünnem grauem Staub bepinselten. In jedem Raum rutschten Männer auf den Knien herum und suchten nach Patronenhülsen, verlorenen Zigarettenkippen, Haaren. Ärzte beugten sich über die Leichen, erschöpft und überwältigt von 57
der Anzahl der Toten. Die Leute mit Klemmbrettern waren nicht zu zählen. Kaffee und Sandwiches rollten auf Liegen durch die Gänge, und scharfe Stimmen hallten von den glatten Wänden wider. Tresler streckte den Kopf durch eine der wenigen Türen, vor denen sich keine Menschenmenge drängte, und traf nur einen einzigen Zivilfahnder an, der sich über eins der beiden Betten beugte. Eine alte Frau mit einem Loch in der Stirn lag in dem Bett. »Was halten Sie davon?«, fragte Tresler. »Kein Anzeichen für einen Kampf«, sagte der Beamte, ohne auch nur aufzusehen. »Und die anderen Zimmer?« »Das Gleiche.« Tresler ging um das Bett herum und blieb am Fußende stehen. Er zog die Decke zur Seite, die über die Kante hing, und enthüllte dabei ein Namensschildchen aus Plastik. »Harvey Desmond« stand darauf. Tresler nahm das Schild ab und untersuchte es. Es war mit einem einfachen Magneten an dem Metallgestell befestigt gewesen. Er klopfte damit in seine Handfläche und ging zu der Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Er öffnete die oberste Schublade. Sie war voller Damenunterwäsche. Tresler sah zu dem Mann hinüber, der sich immer noch über die Blutflecken auf dem Kopfkissen beugte, und sagte: »Die Namensschilder sind ausgetauscht worden.« Der Zivilfahnder richtete sich auf und kam zu ihm herüber. Er nahm das Schild entgegen. »Stimmt«, sagte er, während er es umdrehte. »Das hatte ich nicht gemerkt. Es wird uns aufhalten.« »Ich denke, das war auch der Sinn der Sache.« Sein Gegenüber richtete sein Augenmerk zum ersten Mal auf Tresler und runzelte leicht die Stirn. »Wer sind Sie? Ich glaube nicht, dass wir ...« »Agent Tresler«, antwortete er und nahm zum zweiten Mal 58
die Brieftasche heraus, um seinen Ausweis vorzuzeigen. »Aha. Wir haben fast damit gerechnet, dass jemand auftaucht. Simmons«, stellte der Mann sich vor. »Und so interessant dieser Mordschauplatz hier auch ist, ich sollte Ihnen das Esszimmer zeigen. Dort gibt es eine Überlebende. Und Sie werden wahrscheinlich mit Stanley reden wollen.« Simmons ging voran und bahnte ihnen einen Weg durch den überfüllten Gang. Die Türen des Esszimmers waren offen und festgehakt. Drinnen hockte ein weiterer Zivilfahnder neben einer alten Frau in einem Rollstuhl. Die Frau arbeitete an dem Strickzeug in ihrem Schoß, während der Mann versuchte, mit ihr zu reden. »Das ist Stanley. Er leitet die Ermittlungen.« Simmons deutete hinüber. »Sie sehen, er redet mit der einzigen Überlebenden, die wir gefunden haben. Ich glaube nicht, dass er irgendwas aus ihr rausgekriegt hat. Sture alte Schachtel.« Er zuckte die Achseln. »Aber wie auch immer, das ist der Mann, mit dem Sie sprechen sollten.« Tresler bedankte sich bei Simmons und suchte sich einen Weg durch die Leichen, bis er unmittelbar hinter Stanley stand. Dort blieb er stehen und hörte zu. Stanley sagte gerade: »Ich frage Sie jetzt nur noch einmal, Rose. Und denken Sie daran, wir sind hier die Guten.« Die Stimme triefte vor Frustration. »Rose, hören Sie zu, Sie sind alles, was wir haben.« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Schließlich meinte er: »Ich bin einen Schritt davor, Sie wegen Behinderung der Justiz einbuchten zu lassen. Was zum Teufel war heute Abend hier los?« Rose strickte weiter. Stanley richtete sich auf und drehte sich abrupt um, wobei er Tresler beinahe umgerannt hätte. »Was zum Teufel?«, schnappte Stanley. »Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe?« Er wollte sich schon an ihm vorbeidrängen, aber dann sah er genauer hin. Er musste den Kopf in den Nacken legen, denn Tresler war etliche Zentimeter größer, 59
wobei er zugleich auch ungefähr fünfzig Pfund leichter war als der untersetzte Zivilfahnder. »Und wer zum Teufel sind Sie?«, wollte Stanley wissen. Tresler suchte wieder einmal seine Brieftasche heraus. »Was ist das?« Stanley riss sie ihm ungeduldig aus der Hand und untersuchte sie sorgfältig. »Oh.« Dann klappte er die Brieftasche zu und gab sie zurück. »Sind Sie hier, um die Leitung zu übernehmen? Ich habe alles unter Kontrolle.« Hinter ihm begann Rose zu gackern, und Stanleys ohnehin schon rötliches Gesicht nahm ein dunkleres, leuchtenderes Rot an. »Da bin ich mir ganz sicher«, sagte Tresler. »Ich habe hier bloß beratende Funktion.« »Oh.« Stanley machte eine Pause. »Natürlich. Na ja, Sie sehen ja, es ist eine ganz schöne Party hier. Und kein Mensch erzählt uns was. Natürlich hat jeder außer dieser kleinen Dame hier einen guten Grund dafür. Lassen Sie sich Rose vorstellen. Rose«, sagte er mit einem Fingerschnalzen. »Rose, sehen Sie mich an.« Rose ignorierte ihn. »Rose, dies ist Agent Tresler. Rose ... « Tresler ging um Stanley herum und an Rose vorbei und kam mit einem Stuhl zurück. Er stellte ihn neben dem Rollstuhl ab und setzte sich. Stanley lehnte sich ans Ende des Tisches und verschränkte die Arme. Tresler studierte das Gesicht der alten Frau. Die Linien rings um den Mund waren tief und entschlossen, und der Blick war fest auf das Strickzeug in ihrem Schoß gerichtet. Ihre Hände zitterten, während sie die Nadeln führten. In der kurzen Zeit, die er ihr zusah, ließ sie drei Maschen fallen. Tresler sah zu Stanley hinüber. »Könnten Sie Rose und mich eine Weile allein lassen?«, fragte er. »Nur zu. Aber ich glaube nicht, dass Sie viel Glück haben 60
werden.« Treslers Mundwinkel zuckten, als Stanley sich entfernte. Er beugte sich auf seinem Stuhl vor, die Ellenbogen auf den Knien. Nach ein paar Minuten hörte er, wie Rose ruhelos umherzurutschen begann. Noch ein paar, und die Nadeln wurden still. Schließlich platzte sie heraus: »Und, wollen Sie nicht irgendwas fragen?« Er sah ihr ins Gesicht. »Wollen Sie mir denn irgendwas sagen?« Sie starrte ihn an. Dann stieß sie ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Ha. Das war gut. Aber Sie haben Recht. Wie ich ihm gesagt habe«, - sie zeigte mit einer Kopfbewegung auf Stanley - »ich sage euch überhaupt nichts.« Er nickte. »Gar nichts«, wiederholte sie noch nachdrücklicher als zuvor. »In Ordnung«, sagte Tresler. Sie saßen lange Zeit schweigend beieinander. »Sie haben gesagt, sie tun ihr weh, wenn ich euch irgendwas erzähle«, sagte sie plötzlich. Seine Aufmerksamkeit war geweckt, aber er sorgte dafür, dass sein Gesichtsausdruck neutral und seine Stimme ruhig blieb. »Sie sind also sehr vertrauenswürdig? Haben sie gesagt, dass sie ihr nichts tun werden, wenn Sie nichts erzählen?« Sie antwortete nicht, aber sie sah störrisch aus. Er wartete. »Ihr werdet's sowieso bald alle wissen«, sagte sie. »Oh?« »Alle Welt wird's bald wissen. Warum gehen Sie nicht und löchern diese Fernsehleute?« »Sie haben es den Fernsehleuten erzählt?« »Pah.« Sie warf den Kopf zurück. »Ich brauchte denen nichts zu erzählen. Und ich werde es ganz bestimmt nicht Ihnen erzählen.« »Ich verstehe«, sagte er. »Ich werde Sie nicht länger belästigen.« 61
Sie sah ihn misstrauisch an. Tresler lächelte und stand auf. Sie hatte ihm bereits alles gesagt, was er wissen musste: sie hatten eine Geisel, und die Medien hatten irgendwelche Sonderinformationen. Er ging quer durch den Raum zu Stanley hinüber, der mit Simmons sprach. Als Stanley wissen wollte, ob er etwas aus der alten Dame herausbekommen hatte, schüttelte Tresler den Kopf und sagte: »Sie hatten Recht. Nichts zu machen.« Stanley nickte befriedigt. »Ist es Ihnen recht, wenn ich mich umsehe? Der Triumph machte Stanley großzügig. »Natürlich. Simmons, kümmern Sie sich um Agent Tresler?« »Nein, das ist nicht nötig«, sagte Tresler. »Ich komme zurecht. Übrigens, wer hat eigentlich die Leichen gefunden?« Eine halbe Stunde später hatte Tresler mit den beiden Frauen von der Nachtschicht gesprochen und war wieder im Auto und auf dem Weg zum IBC-Gebäude.
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Hauptsendezeit Sie saßen im Schneideraum, die Gesichter geisterhaft, die Gestalten der Toten spiegelten sich in ihren Augen. Der Reporter sah immer wieder zu seinem Nachbarn hin und dann zurück auf den Bildschirm. Er hatte das Band schon einmal angesehen, und ohne auch nur das Licht anzuschalten hatte er den Hörer abgenommen und den Sendeleiter zu Hause angerufen. Als der Mann abnahm, waren im Hintergrund Gelächter und Stimmengewirr zu hören. »Kann das nicht warten?«, hatte der Sendeleiter geschnappt. »Nein«, hatte er gesagt. »Das kann nicht warten.« Am anderen Ende wurde der Hörer mit einigem Nachdruck aufgelegt, und jetzt saß der Reporter mit dem Sendeleiter zusammen, sah sich die Aufnahmen zum zweiten Mal an und wartete besorgt auf seine Entlastung. Das Band näherte sich dem Höhepunkt. Der Reporter fasste die Armlehnen fester, während er auf den dramatischen Augenblick wartete, in dem die Kamera näher fuhr und auf dieser außergewöhnlichen Frau verhielt. Sie bewegte sich um sie herum, rahmte die Schatten unter den hohen Wangenknochen, die Haarsträhne, die weich am Kiefer anlag, die tiefbraunen Augen - unheimlich in ihrer Ruhe. Und dann riss sich die Kamera los, schwang nach rechts und fasste den gebeugten Kopf von Rose, die sich verbissen auf ihr Strickzeug konzentrierte. Schließlich fokussierte sie auf diese knorrigen, verkrampften, zitternden alten Hände, deren Knöchel sich weiß um das dünne Aluminium schlossen. Der Bildschirm wurde schwarz. Der Sendeleiter atmete tief und flatternd aus. »Mein Gott, diese Frau.« Er legte die Hand auf die Schulter des Reporters, wie um sich abzustützen. »Wissen Sie, was wir da haben? Das ist eine Goldmine. Das«, sagte er ehrfurchtsvoll, »ist was für 63
die Hauptsendezeit.« Tresler zeigte der Rezeptzionistin bei IBC seinen Ausweis und fragte nach der Nachtbelegschaft. »Sie sind alle nach Hause gegangen«, sagte sie. »Und die Morgenschicht?« »Noch nicht da.« »Sie meinen, es ist niemand hier?« »Was bin denn ich - Holz?« Tresler lächelte, antwortete aber nicht. Er faltete die Hände im Rücken und machte einen gemächlichen Rundgang durch den Raum. Er blieb bei den Glastüren stehen und sah auf den Parkplatz hinaus. Er inspizierte die Pflanzen (künstlich) und die gerahmten Fotos von Unglücksfällen (echt). Dann kam er zurück zur Theke und lehnte sich dagegen. »So«, sagte er. »Auf dem Parkplatz stehen fünf Autos. Sind Sie ganz sicher, dass niemand da ist, mit dem ich reden kann?« »Na schön, Sie Schlaumeier«, und sie nahm den Hörer ab und wählte. Tresler verließ das Gebäude eine Stunde später mit zwei Videobändern unter dem Arm. Er kehrte gerade rechtzeitig ins Pflegeheim zurück, um die Frühnachrichten sehen zu können. Als Tresler Willowridge zum zweiten Mal betrat, musste er wieder an den Wachtposten vorbei, aber jetzt waren die Gänge leer. Fahrbare Liegen mit Körpern unter Laken standen scheinbar verlassen herum. Er sah in ein paar Räume, die ebenfalls leer waren. Das Rätsel war gelöst, als er den Aufenthaltsraum erreichte. Sämtliche Menschen, die sich im Gebäude aufhielten, drängten sich vor dem Fernseher und verfolgten die Nachrichten, um zu sehen, ob über das Ereignis berichtet wurde. Ganz vorne stand Stanley. Tresler schob sich zur Tür herein und blieb dort stehen, die Hände in den Taschen. Er kam gerade in dem Augenblick, als die 64
Aufnahmen ausgestrahlt wurden, die der Kameramann vor dem Eintreffen der Polizei in dem Pflegeheim gemacht hatte. Noch von seinem Platz an der Rückwand aus hörte Tresler Stanley stöhnen. Auf dem Bildschirm kündigte ein ernster, bekümmerter Moderator an, dass IBC über exklusive, unzensierte, von den Urhebern dieses entsetzlichen Verbrechens gemachte Aufnahmen verfügte. Sie würden am Abend um acht Uhr gezeigt werden. »Was?« Stanley sprang auf. »Herrgottnochmal!« Er trat wütend gegen einen metallenen Aktenschrank, der ihn hohl andröhnte. Er sah über die Menge hin. »Warum hat mir das keiner erzählt?« Niemand antwortete. Stanley wurde einen weiteren Tritt los, diesmal gegen ein Sofa. »Scheiße«, sagte er, schon halb zur Tür hinaus. Tresler schlüpfte hinter ihm aus dem Zimmer. Er holte ihn im Flur ein. Bei der Berührung an seinem Arm fuhr Stanley herum. »Oh«, sagte er. »Sie sind das ...« »Agent Tresler«, erinnerte er. »Ja, stimmt«, sagte Stanley geistesabwesend. Dann kam er zu dem Thema zurück, das ihn beschäftigte. »Haben Sie das gesehen, haben Sie das gesehen? Wie konnten die ...? Diese alte Frau, zum Teufel mit ihr. Jetzt müssen wir ... der Fernsehsender ... « »Das Band«, warf Tresler ein. »Natürlich müssen wir an das verdammte Band ran. Ich weiß das. Ihr Typen vom FBI glaubt doch alle, Polizisten sind Idioten.« »Nein«, sagte Tresler. »Doch, genau das, und versuchen Sie's bloß nicht zu bestreiten.« Stanley drehte sich wütend zu ihm um. »Ich meine nur -« Tresler brach ab und versuchte es noch einmal. »Ich meine, Sie haben mich missverstanden. Ich habe 65
nicht gesagt, dass wir an das Band herankommen müssen. Ich habe gemeint, dass ich das Band schon habe.« »Sie haben es?«, wiederholte Stanley. »Sie haben es.« Tresler streckte es Stanley hin. Er erwähnte nicht, dass er m i Auto noch eine weitere Kopie hatte. Stanley nahm es und sah dabei immer noch aus, als wäre er nicht sicher, was er in der Hand hielt. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Was sagt man jetzt dazu? Sie aalglatter kleiner Schlawiner«, und Stanley schlug ihm auf die Schulter. Tresler zuckte zusammen. »Was sagt man dazu! Die machen also ihre große Ankündigung, und um acht haben sie nichts vorzuzeigen. Ha.« »Nein«, versuchte Tresler Stanleys Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. »Hören Sie, das ist bloß eine Kopie.« Stanley hörte auf zu lachen und runzelte die Stirn. »Sie werden die Aufnahme heute Abend immer noch senden.« »Aber das dürfen die nicht. Wir müssen das verhindern.« »Wie?« Das brachte Stanley zum Stehen. »Gibt es da nicht irgendein Gesetz, auf das wir uns berufen können?« »Denken Sie nach«, sagte Tresler leise. »Denken Sie einfach mal nach. Wollen wir überhaupt verhindern, dass sie das senden?« Stanley runzelte wieder die Stirn. »Aber -« »Was haben wir im Augenblick für Hinweise? Was haben Ihre Leute an Spuren gefunden?« »Na, es dauert eine Weile, bis wir die Resultate aus dem Labor bekommen«, sagte Stanley. »Was haben wir denn wirklich?« Stanley ignorierte die wiederholte Frage. »Aber wir müssen immer noch verhindern, dass sie dieses Band ausstrahlen.« Tresler schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee.« 66
Kribbeln Sarah wachte auf und stellte fest, dass ihr Kopf an Jeremys Schulter lehnte. Sie setzte sich bestürzt auf. Jeremys Gesicht war im Widerschein des Armaturenbretts eben zu erkennen. Er hatte einen blauen Bartschatten und dunkle Ringe unter den Augen. Das Fenster war einen Spalt geöffnet, und kühle Morgenluft wehte durchs Auto, zerzauste die dünnen Haare an seinen Schläfen und streifte ihr eigenes Gesicht. Er wirkte entspannt, mit nur einer Hand am Lenkrad. Er ballte und streckte die Finger der anderen Hand, aber es wirkte nicht bedrohlich. Ihr wurde klar, dass sie lange Zeit an ihm gelehnt haben musste. Als sie zum Fenster hinaussah, konnte sie die dunklen Umrisse von Bäumen und einer ungeteerten Waldstraße erkennen. Das Gerüttel hatte sie wohl geweckt. Es war - es gab kein anderes Wort dafür - behaglich in dem Auto, während sie sich im Halbdunkel durch die Bäume schlängelten. Sie erinnerte sich an die letzte Gelegenheit, bei der sie in einem Auto gesessen hatte, ohne das Ziel zu kennen. Vor Jahren hatte Jonathan an ihrem Geburtstag - sie wusste nicht mehr an welchem - einen Ausflug mit ihr gemacht. Er hatte sie zu einem Freizeitpark gefahren, wo sie sich wunderbar amüsiert hatten, bis er ihr Zuckerwatte kaufte und sie überredete, mit ihm ins Riesenrad zu steigen. Sie hatte sich auf seinen Hosen erbrochen. Die Erinnerung an die Fahrt mit dem Riesenrad holte die jüngere Erinnerung an Kevin und den Geruch nach Erbrochenem zurück. Sie hob den Kopf und schnupperte in der sauberen Morgenluft. Im Grunde hätte sie jetzt neben Simon auf dem desinfizierten Fliesenboden liegen müssen, vielleicht sogar auf obszöne Art halb über ihm. Ihr war bewusst, dass der Gedanke Emotionen hätte hervorrufen sollen, aber sie empfand 67
nichts. Sarah verfolgte, wie die Bäume an Komplexität gewannen; die gewundenen Äste traten dunkelgrau gegen den helleren Himmel hervor. Jeremys Stimme veranlasste sie, sich vom Fenster abzuwenden. »Wie heißt du?«, fragte er. Sie sah zu ihm hinüber, und sein Gesicht, das mitten im Gemetzel so ausdruckslos gewirkt hatte, erschien ihr nun weicher, beinahe melancholisch. »Sarah Shepherd.« »Sarah Shepherd«, wiederholte er. Von seinen Lippen klang es plötzlich wie der Name einer Fremden. »Also dann, Sarah Shepherd, wir sind fast da.« Sie nickte, fragte aber nicht, wo »da« war. Sie stellte fest, dass es leichter zu ertragen war, wenn sie nicht wusste, wohin sie fuhren.
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Verkaufsargumente Tresler parkte neben Stanleys Jeep vor dem IBC Hauptquartier. Keiner von beiden hatte geschlafen oder sich umgezogen, und beide sahen etwas mitgenommen aus. Sie traten ein, und Stanley hielt der Rezeptzionistin seine Marke unter die Nase. »Polizei«, bellte er. »Ich muss mit dem Direktor reden. Jetzt gleich.« Das Mädchen sah aus, als sei es um die fünfzehn, und hatte einen gelangweilten Alles-schon-mal-da-gewesen-Ausdruck im Gesicht. »Gestern war schon einer von Ihnen da«, sagte sie. »Na dann, Liebling, jetzt hast du noch mal zwei. Hol den verdammten Direktor an die Leitung.« Sie ließ ihren Kaugummi knallen. »Sie könnten mit Mr. Elis reden.« »Wer ist Mr. Elis?« »Das ist unser Public-Relations-Mann.« Stanley beschloss mitzuspielen. »Liebling, wenn du etwas Wichtiges zu erledigen hättest, würdest du dann mit Mr. Elis reden wollen?« Sie lachte bei der Vorstellung; die perlmuttrosa Lippen kräuselten sich. »Eben«, sagte Stanley zufrieden. »Mit wem will ich also reden?« Das Mädchen kicherte und griff zum Telefon. »Zwei Polizisten hier, die zum Direktor wollen.« Stanley beugte sich vor. »Sag ihm, es ist Detective Stanley Wall.« »Es ist Detective Stanley Wall.« Sie hörte einen Augenblick zu, dann legte sie auf. »Warten Sie da drüben«, sagte sie mit einer wegwerfenden Bewegung aus dem Handgelenk. »Du solltest dir bessere Manieren zulegen, junge Dame.« Stanley lehnte sich nach vorn. »Vielleicht sollte ich dich wegen 69
Schulschwänzerei aufschreiben.« Sie verdrehte die Augen. »Es ist Sommer, Sie Doofkopf.« Sie warteten zwanzig Minuten. Stanley ging ruhelos auf und ab, Tresler hing zusammengesunken in einem Stuhl. Als das Telefon an der Rezeption klingelte, nahm das Mädchen ab, hörte zu und legte ohne ein Wort auf. Sie vertiefte sich wieder in ihre Zeitschrift und sagte dabei: »Achter Stock, rechts ganz am Ende vom Gang.« Stanley warf ihr einen drohenden Blick zu, den sie nicht bemerkte. Sie fuhren hinauf und wurden von einer Sekretärin mit helmförmig zurechtgespraytem Haar in Empfang genommen, die ihnen die Tür zu einem riesigen Arbeitszimmer öffnete. Direktor Morgan saß hinter seinem Schreibtisch. Ein Mann in einem teuren Anzug - der Anwalt, nahm Tresler an - hatte bereits einen der Stühle davor eingenommen. Der Direktor stand auf und wies den anderen Mann mit einer kleinen Kopfbewegung an, das Gleiche zu tun. »Ah, Detective ... Detective ...« »Wall«, half Stanley aus und griff mechanisch in die Tasche, um seinen Ausweis herauszuholen, aber der Direktor hob die Hand. »Das ist nicht notwendig. Absolut nicht notwendig.« Stanley zog die Hand verlegen aus der Innentasche zurück. Er räusperte sich und stellte sich vor: »Agent Tresler.« »Na so was, ein Agent auch noch? Meine Herren.« Der Direktor zeigte auf zwei weitere Stühle. Er machte keine Anstalten, den zweiten Mann vorzustellen. »Ich habe das Gefühl, ich weiß, weshalb Sie hier sind. Es ist die Sache mit dem Pflegeheim, nicht wahr?« Stanley räusperte sich wieder. »Ja, es ist nämlich -« »Natürlich«, unterbrach der Direktor. »Natürlich geben wir Ihnen eine Kopie des Bandes.« Er beugte sich vor und drückte 70
auf den Knopf einer Sprechanlage. »Wir haben schon eine Kopie«, sagte Tresler. Der Direktor nahm den Finger vom Knopf. »Oh, wirklich? Dann kann ich nur annehmen, dass Sie gekommen sind, um mich von der Ausstrahlung dieser Aufnahmen abzuhalten.« Er starrte Tresler ins Gesicht, während er sprach. »Ganz und gar nicht«, sagte Tresler. Er brach ab und sah Stanley an. Stanley nickte. »Im Gegenteil«, sagte er. »Wirklich?«, fragte der Direktor gedehnt, während er von einem zum anderen sah und die Hände auf der Schreibtischplatte faltete. Er sah zu dem Mann im Anzug hinüber. »Dann können Sie uns jetzt allein lassen, Frank.« »Ich würde vorschlagen, dass ich -«, begann der Mann, aber der Direktor unterbrach. »Raus«, sagte er sehr ruhig. Frank stand sofort auf und verließ das Zimmer. »So«, der Direktor beugte sich vor, »und jetzt lassen Sie mal hören, was Sie zu sagen haben.«
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Charlies Päckchen Jeremy hielt vor einem weitläufigen, einstöckigen Holzhaus am Ende einer tief ausgefahrenen Waldstraße. Als er den Motor abstellte, knallte eine Fliegenschutztür, und ein Junge, kaum achtzehn Jahre alt, kam, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Vortreppe heruntergestürzt. »Merec sagt, du hast ein Päckchen mitgebracht, und ich soll mich drum kümmern«, sagte er, als er neben dem Auto stand. Jeremy öffnete die Tür und stieg aus, steif von der langen Fahrt. »Du?« »Was ist so schlimm daran?« Der Junge warf einen Blick auf Sarah, und seine Augen glitten ab, durch das Auto und wieder zu Sarah zurück. »Das ist es?« Jeremy lehnte sich an das Auto und öffnete sein Haar. Es fiel um sein Gesicht wie ein Vorhang. »Na schön.« Der Junge öffnete Sarahs Tür. »Anscheinend bist du's. Komm schon.« Er packte sie am Arm. Jeremy war in einer Sekunde um das Auto herum und neben ihm. »Du nimmst den Rollstuhl. Er ist im Kofferraum. Ich nehme sie.« Er beugte sich vor und schob einen Arm unter ihre Knie. »Das wird nicht nötig sein.« Jeremy erstarrte. Sarah sah über seine Schulter zu Merec hinüber, der oben an der Treppe stand. »Lass Charlie das machen.« Jeremy zog den Arm zurück und richtete sich auf. »Jeremy wäre mir lieber«, sagte sie. Merec ignorierte sie. Alle anderen taten das Gleiche. Charlie ließ den Rollstuhl achtlos in den Kofferraum zurückfallen. »Ich hab dir doch gesagt, Merec will, dass ich mich um sie kümmere.« Als er zu Sarah zurückging, sagte er zu Jeremy: »Hol mir den Rollstuhl.« 72
»Ich brauche Jeremy.« Merecs Stimme klang scharf und befehlend. »Du kannst den Rollstuhl holen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder ins Haus. Jeremy stieg langsam die Stufen hinauf und folgte ihm ins Innere. »Du«, sagte Charlie, während er mit dem Finger direkt auf Sarahs Nase zeigte. »Beweg dich ja nicht von der Stelle.« Er ging um das Auto herum zum Kofferraum und wuchtete den Rollstuhl heraus. Er klapperte gegen die Stoßstange, und Charlie zerrte ihn die Stufen hinauf. Das Sonnenlicht, das auf die Windschutzscheibe fiel, war heiß. Ein Schweißtropfen rann an Sarahs Schläfe hinunter. Ein weiterer bildete sich über der Nase und rollte bis in den Mundwinkel. Eine Fliege summte um die Autotür, fand den Rückweg nicht und bumste von innen gegen das Fenster. Sie beobachtete die Fliege, bis die Gittertür wieder knallte und sie wusste, dass ihr Begleiter zurückgekommen war. Charlie murmelte vor sich hin, als er die Treppe herunterstapfte. »Woher soll ich denn wissen, wie so ein verdammter Rollstuhl funktioniert.« Er riss die Autotür auf, nahm ihre Beine und schwang sie nach außen, so dass sie ihm das Gesicht zuwandte, und ging vor ihr auf ein Knie wie vor einer Königin. Er schob die Schulter in ihre Magengrube und wuchtete sie sich auf den Rücken - den Kopf nach unten, die Füße in der Luft. Er hielt ihre Beine fest, grunzte und schloss die Autotür mit einem Tritt. Seine Schulter schien aus nichts als hervorstehenden Knochen zu bestehen und bohrte sich ihr bei jedem Schritt in den Magen. Er stieg die Stufen hinauf und stieß die Tür auf. Der Fußboden war aus Hartholz, das in einem dunklen Mahagoniton gebeizt war. »Hey, Charlie hat sich eine Frau mitgebracht!« Sie sah zwei Paar Füße aus dem Weg gehen, als Charlie sich vorbeischob. Er ging den Gang entlang und in einen Raum, in dem sich weitere Fußpaare befanden. »Mann, Platz da für den alten Charlie!« 73
Charlie ging weiter in ein anderes Zimmer und über einen Teppichboden. In einer Ecke saßen Jeremy und Merec an einem Tisch. Sie sahen beide auf, als Charlie mit Sarah über der Schulter vorbeiging. Charlie ging durch eine weitere Tür. Auch diesmal knallte er die Tür mit dem Fuß zu, und sie wurde unsanft in ihrem Rollstuhl abgesetzt. Sarah fand sich in einem kleinen, kahlen Raum wieder, etwa zweieinhalb mal dreieinhalb Meter groß. Es gab keine Fenster. Unter der Decke waren Scheinwerfer an der Wand festgeschraubt, die große, beunruhigende Risse im Putz beleuchteten. Charlie stand neben ihr. Wie sie unterwegs schon festgestellt hatte, war er dünn - das Hemd hing von seinen Schultern, als hinge es an einem Drahtbügel. Er hatte ein herzförmiges Gesicht und ein paar Aknepickel auf der Stirn, aber seine Augen waren wunderschön, schokoladenbraun mit dichten, schwarzen Wimpern und dunklen, geschwungenen Brauen. Sie wirkten noch auffallender, weil er sich das Haar zu einem militärischen Stoppelschnitt geschoren hatte. Jetzt trat er zurück und nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Er zog eine heraus und zündete sie an. Sie bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte. Er nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch aus. »Du bist mein Päckchen«, sagte er und nahm den nächsten Zug. »Ja, das sagtest du schon.« Sie hielt ihre Stimme absichtlich ausdruckslos, aber trotzdem durchquerte er den Raum und schlug sie ins Gesicht. Der Schmerz trieb ihr wütende Tränen in die Augen. »Sieh mich an«, befahl er. Charlie stand vor ihr und versuchte offensichtlich nach Kräften, bedrohlich zu wirken. Es war zum Teil Nervosität, zum Teil ihr Sinn für das Lächerliche - sie lachte. Im Nebenzimmer sahen Merec und Jeremy bei dem Ge74
räusch auf. »Sie sind füreinander gemacht. Hör dir das an«, und Merec hob seinen Stift. Einen Augenblick später hörten sie einen Schrei, dann noch einen, und Flüche. »Prachtvoll. Die verstehen sich bestens.« Sarah drehte den Kopf zur Seite und spuckte Blut auf den Boden. Der Schmerz überraschte sie. Charlie lehnte an der gegenüberliegenden Wand und starrte sie wütend an. Sie sah ihn gierig an der Zigarette ziehen und fragte sich, wie es wohl war zu rauchen. Sie spuckte wieder und fragte: »Könnte ich eine Zigarette haben?« »Du schnorrst eine«, sagte er. »Was?« »Du schnorrst eine Kippe. So heißt das. >Kann ich ne Kippe schnorren<, nicht >Könnte ich eine Zigarette haben<.« Gegen Ende versuchte er ihre gepflegte Sprechweise nachzuahmen. »Könnte ich -« Sie unterbrach sich, als er den Kopf schüttelte. »Ich glaub das nicht«, murmelte sie. »Kann ich ne Kippe schnorren?« Er nickte anerkennend und zog eine Zigarette aus dem zerdrückten Päckchen, tat die paar Schritte zu ihrem Rollstuhl und hielt sie ihr hin. Sie nahm sie ihm aus den Fingern. Er beugte sich vor, riss ein Streichholz an und bog gewohnheitsmäßig die Hand darum, um es vor dem Wind zu schützen. Er hielt die Flamme ruhig und wartete darauf, dass sie zog. »Du musst einatmen, damit sie angeht«, sagte er. Sie tat es vorsichtig. »Hast du noch nie geraucht?« Sie nahm die Zigarette ungeschickt mit Daumen und Zeigefinger aus dem Mund und schüttelte den Kopf. »Jemine!«, sagte er halb lachend, halb verächtlich. »Du weißt ja wirklich gar nichts. So hält man die nicht. So hält man einen Joint.« Er merkte, dass sie ihn nicht verstand. »Schon okay.« Er ging 75
neben dem Stuhl in die Hocke. »Wenn du sie aus dem Mund nehmen willst, machst du so«, - er führte es vor, die Handfläche zum Gesicht gedreht und die Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger. »Versuch's.« Sie tat es. Er verzog das Gesicht. »Du musst ein bisschen üben. Aber jetzt, wenn du die Asche loswerden willst, stoß das Ende mit dem Daumen an.« Er machte es vor. Sie sah zu und wiederholte die Bewegung. Er lächelte zum ersten Mal, und sie sah, dass seine Zähne hässlich waren, unregelmäßig, schief und dunkelgelb verfärbt. »Okay, und jetzt nimm einen Zug.« Er zog tief an seiner eigenen Zigarette. Sie tat das Gleiche und begann sofort heftig zu husten. Er grinste. »Genau so.« Im Nebenzimmer hoben die beiden Männer die Köpfe. Das Lachen wiederholte sich, und diesmal stimmte Sarahs dunkleres, volleres Kichern ein. Merec sagte: »Was zum Teufel war denn das?« »Wie ein Profi«, erklärte Charlie. Sarah zog dramatisch an ihrer Zigarette und blies den Rauch über Charlies Kopf. Dann starrte sie in die gleiche Richtung. »Was?« Charlie rappelte sich auf. Merec stand in der Tür. Er lächelte, aber sein Lächeln war nicht verletzlich. Es war überlegen. »Was ist denn das, eine Teegesellschaft? Wie rührend.« Er kam ins Zimmer geschlendert. »Charlie, ich habe gesagt, du sollst dich um sie kümmern, nicht Kindermädchen spielen.« Sarah schaltete sich ein. »Ich habe nur um -« Charlie ging wutentbrannt auf sie los und schlug sie mit dem Handrücken der geballten Faust ins Gesicht. »Jetzt redet der Boss«, sagte er durch die Zähne und drehte sich zurück zu Merec, die Haltung aufrechter als zuvor. »Ja«, sagte Merec beim Näherkommen, »ja, danke, dass du 76
darauf hinweist. Ich sehe schon, du hast gute Arbeit geleistet.« Er blieb vor Sarah stehen und streckte die Hand aus, um mit den Fingerknöcheln leicht über ihre geschwollene Wange zu streicheln. Sie ignorierte die Berührung, hob unbekümmert die Zigarette an die Lippen, inhalierte und blies ihm den Rauch ins Gesicht. »Ich habe nur«, sagte sie mit Nachdruck, »um eine Zigarette gebeten. Sogar Häftlinge, die zur Hinrichtung geführt werden, kriegen welche.« »Es soll ja nicht heißen, wir wären nicht großzügig.« Er nahm ein Päckchen aus der Tasche und streckte es ihr hin »Ich habe keine Streichhölzer. Charlie, hast du welche übrig?« Charlie schüttelte den Kopf. »Dann musst du für den Augenblick ohne auskommen.« Er sah zu Charlie hinüber. »Raus«, sagte er mit einer Kopfbewegung zur Tür. Charlie warf Sarah einen mürrischen Blick zu und verließ den Raum. Sarah stellte fest, dass ihre Zigarette bis zum Filter heruntergebrannt war. Sie zog eine neue aus dem Päckchen, das Merec ihr gegeben hatte, und nahm sie in den Mund. Merec bückte sich und zündete sie mit einem schweren, goldenen Feuerzeug an. Er richtete sich wieder auf, lehnte sich bequem an die Wand und betrachtete sie mit kalten blauen Augen. In ihrem Kopf pochte es, aber sie rauchte mit Hingabe und konzentrierte sich auf das unangenehme Gefühl. »Wie gefällt dir das Rauchen?«, fragte er. »Es ist das erste Mal, oder nicht?« »Ich finde es sehr unangenehm«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Er nickte. »Bleibst du dabei?« »Ich denke ja.« Er sah sie einen Augenblick an, dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort. 77
Sarah saß da, während der Rauch sich vertraulich durch ihre Finger schlängelte und aufstieg, um vor den Lampen zu hängen. Sie hatte das Gefühl, zu schweben wie der Rauch. Kein Geräusch drang aus dem anderen Zimmer herüber, Niemand kam. Die Tür blieb geschlossen, und schließlich fiel ihr die Zigarette aus der Hand, die Asche verstreute sich, und sie ließ das Gesicht in die offenen Hände fallen. Allerdings war Sarah nicht so allein, wie sie vielleicht hoffte. Hoch oben in der Wand war eine Kamera versteckt, und nebenan sah Jeremy über einen Monitor zu. Schlimmer noch, er nahm sie auf Video auf. Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür, und Charlie zerrte ein eisernes Bettgestell in den Raum. Er sah finster aus und wandte das Gesicht ab, während er das Gestell an der Wand gegenüber der Tür zusammenbaute, wo die Videokamera sie am besten beobachten konnte. Dann stapfte er hinaus und kam mit einem Arm voll Bettzeug zurück, das er auf der Pritsche ablud. »Ich mach dir nicht noch das Bett«, sagte er. »Du machst dir dein Scheißbett selbst.« »Ganz meine Meinung. Ich muss ja auch drin liegen.« Jeremy im Nebenraum lächelte. »Ich mach's jedenfalls nicht«, wiederholte Charlie. Er ging zur Tür und blieb stehen. »Wenn du raus willst, musst du zweimal klopfen.« »Raus?« »Aufs Klo«, sagte er und ging. Sie rollte zur Tür hinüber und klopfte zweimal sehr kräftig.
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Saisoneröffnung Das Band wurde am Mittwochabend um acht ausgestrahlt, einen Tag nach dem Massaker in Willowridge. Es wäre unwahr zu behaupten, dass das ganze Land oder auch nur ein erheblicher Teil davon es an diesem Abend sah. Aber Rose sah es - die Schwestern im Krankenhaus konnten sie nicht umstimmen. »Ich hab's erlebt«, sagte sie. »Ich glaube, ich werd's aushalten, es zu sehen.« Hätte sie getobt und gewütet, hätten sie sie abhalten können, aber auf die ruhigen Worte gab es nichts zu sagen. Sie zeigten das Band in ganzer Länge, und sie verfolgte das Feuerwerk über dem fernen Hügel ein weiteres Mal. Als sie in die Gesichter ihrer Freundinnen blickte, wie erhellt von der Angst, sah sie sie, wie sie sie nie zuvor gesehen hatte. Sie leuchteten, sie schmolzen, sie waren zerbrechlich und schön, und sie wünschte sich mit einem heftigen Stich, sie hätte ihr Leben so beenden können, so spektakulär ins Gefühlsleben zurückgestoßen - wie eine Sternschnuppe, die in dem Augenblick, bevor sie erlischt, am hellsten leuchtet. Stanley sah sich das Band an, während er neben seiner Frau auf dem Sofa saß. Er hatte ihr nichts davon erzählt, vor allem nichts über seine eigene Rolle in der Sendung. Er hatte sie einfach neben sich aufs Sofa gezogen und gesagt: »Liebling, das musst du dir ansehen.« »Ist das dieser neue Fall, an dem du arbeitest? Ich glaube, ich habe heute irgendwas davon gehört«, sagte sie. »Ich hole uns ein Glas Wein.« Sie wollte aufstehen, aber er hielt sie zurück. »Guck's dir an, Mary«, sagte er. »Guck's dir einfach an.« Mary rutschte während der kurzen Einleitung hin und her und gähnte. Aber sie setzte sich etwas aufrechter hin, als die 79
Kamera zu Stanley schwenkte, der neben dem Moderator auf einem Stuhl saß. Sie warf einen Blick auf Stanley auf dem Sofa neben ihr und sah dann wieder zum Bildschirm. »Wir haben's heute Nachmittag aufgenommen«, erklärte Stanley. »Psst«, sagte Mary. »Ich will's hören.« Der Stanley auf dem Bildschirm, in dunklem Anzug und Krawatte, sprach in gewichtigem Ton über die sehr ernsten, entsetzlichen Begleitumstände des Verbrechens, das man zu sehen bekommen würde. Er sagte, jeder, der eine Information jede denkbare Information - im Zusammenhang mit dem Fall liefern könne, solle die Hotline anrufen, deren Nummer gerade auf dem Bildschirm erschien. Er fügte hinzu, die Nummer würde am Ende der Sendung noch einmal eingeblendet werden. Mary drehte den Kopf und studierte Stanley, wie um sich zu vergewissern, dass er derselbe Mann war. »Du warst gut«, sagte sie. Es klang beinahe überrascht. Stanley sah erfreut aus, antwortete aber nur: »Tresler glaubt, der Verbrecher wird anrufen.« »Kommt mir aber nicht sehr wahrscheinlich vor. Wer ist Tresler?« »Mein Partner bei diesem Fall.« Er wandte sich wieder dem Fernseher zu und stellte fest, dass die Aufnahme lief. »Du musst dir das ansehen, Mary. Das ist das Unglaublichste, was ich je gesehen habe.« Nach dem Essen sah Tresler auf die Uhr und zog sich einen Stuhl mit gerader Lehne vor den Fernseher. Ein kleiner Tisch und ein schmales Doppelbett waren die einzigen weiteren Möbelstücke im Raum. Tresler zückte ein Notizbuch und beobachtete Stanleys Vorstellung aufmerksam. Auf dem Bildschirm wirkte Stanley wie ein engagierter Beamter, dem es mit seiner Sache sehr 80
ernst war. Tresler war sicher, der Mann, der das Band gemacht hatte, würde sich über Stanleys Moralpredigten ärgern und die Einmischung übel nehmen. Und Tresler hätte wetten können, er war nicht der Typ, der einem Mann wie Stanley das letzte Wort lassen würde. Als die Aufnahme begann, konzentrierte Tresler sich nicht auf das Drama, sondern auf die Details. Er beobachtete Hände. Er studierte Gesichter. Er machte Notizen und verglich sie mit der Akte. Am Ende der Aufnahme hatte er seinen Anhaltspunkt: die Pflegerin, die zwischen den Leichen in der Cafeteria lag und deren Gesicht nicht ein einziges Mal auf dem Bildschirm erschienen war. Zackman sah sich das Band in seinem engen, rauchdurchzogenen Büro im CIA-Hauptquartier an. Während Stanleys Einleitung arbeitete er weiter an der dicken Akte auf seinem Schreibtisch, aber als die Aufnahme begann, forderte der Bildschirm seine Aufmerksamkeit. Den Rest der Sendung verfolgte er gebannt. Und danach kritzelte er die Nummer der Hotline auf einen Zettel. Die Männer drängten sich um die improvisierte Bar und gossen sich Drinks ein. Merec saß. auf der Armlehne eines Sofas und ließ die Eiswürfel in seinem Scotch kreisen, so wie die Männer respektvoll rings um ihn kreisten. Hin und wieder sagte er ein paar Worte zu einem von ihnen, und sie hörten ernsthaft zu, starrten in ihre Drinks und nickten. Jeremy saß neben Merec auf dem Sofa, schweigend und wachsam. An diesem Abend stand ein vor Zufriedenheit wüst grimassierender Charlie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Männer drängten ihm Drinks auf, rammten ihn mit den Ellenbogen, sagten »Heute kriegen wir zu sehen, wie Merec dein Vögelchen gefangen hat« oder »Dein kleines Päckchen ist im Fernsehen«. 81
Als die Sendung begann, suchten sie sich Stühle, hielten die Gläser vor dem Bauch und rissen Witze. Der Moderator ging die Geschichte von dem brutalen Angriff auf das friedliche Wohnheim bei Arlington, Virginia durch. Das Johlen und die Zwischenrufe der Männer übertönten den größten Teil der Einleitung. Aber als Stanley auf dem Bildschirm erschien, brachte Merec sie wütend zum Schweigen. Es wurde still, und Stanleys Stimme war klar zu verstehen. »Wer ist der Trottel?«, fragte einer der Männer. Aber niemand antwortete. Merec wirkte jetzt angespannt, und sein Blick war fest auf den Bildschirm gerichtet. »Merec?« Merec sah zu Jeremy hinüber. Seine Augen brannten immer noch. »Der Typ ist ein Nichts«, sagte Jeremy. »Ganz richtig, Jeremy«, stimmte Merec zu. »Aber der, der die kleine Episode geplant hat, der nicht.« »Aber-«, begann Jeremy. Merec schnitt ihm das Wort ab. »Lassen wir uns von der kleinen Unterbrechung doch nicht den Spaß an dem wirklichen Programm verderben.« Die Aufnahme hatte begonnen, und alle Augen waren auf den Fernseher gerichtet. Als die Kamera auf Sarah schwenkte, lehnte Jeremy sich etwas vor. Als sie mit glitzernden Augen in die Kamera starrte, pfiff jemand. Später, als sie kühl sagte: »Wie könnte ich dir nicht glauben?«, murmelte ein anderer: »Die ist mal hart im Nehmen.« »Gar nicht unattraktiv«, bemerkte jemand. »Inzwischen sieht sie nicht mehr so toll aus«, sagte Charlie. Aber statt der Zustimmung und Bewunderung, die er erwartet hatte, gingen die Männer auf ihn los. »Was zum Teufel hast du mit ihr gemacht?« Einer packte Charlie am Hemd. »Lass mich los, Jody. Ich hab sie bloß ein bisschen zusam82
mengeschlagen.« Jody versetzte ihm zwei klatschende Ohrfeigen. »Die Frau da ist zehnmal so viel wert, wie du je sein wirst. »Merec?«, sagte Charlie hilfesuchend. Merec hatte die kleine Szene bis zum Ende verfolgt. »Perfekt«, sagte er, »perfekt. Lass Charlie los, Jody.« Jody gab ihm einen Stoß, und Charlie stolperte rückwärts gegen einen anderen Mann, der ihn gegen einen Dritten schob, der eine Faust ausstreckte, und Charlie stürzte. »Lasst ihn in Frieden, Leute.« Merec nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Er hat sie auf meinen Befehl zusammengeschlagen.« Sie wichen widerwillig zurück, und einer versetzte Charlie einen abschließenden Tritt in die Rippen. Er grunzte und blieb liegen. »Sie war grandios, stimmt's?«, lächelte Merec. »Die kleine Dame bringt uns einen Haufen Geld.« »Sie ist reich?«, fragte jemand. »Nein, soweit ich weiß, hat sie keinen Cent. Aber die Sendung da haben sie heute Abend landesweit gebracht, und ich wette, sie bringen sie noch mal - wahrscheinlich noch ein paar Mal. Und ich könnte mir vorstellen, dass die übrigen Zuschauer genauso reagieren wie ihr. Ich habe etwas vor mit ihr. Wenn wir fertig sind, wird es keinen Menschen in diesem Land mehr geben, der nicht von Sarah Shepherd gehört hat.« Auch die Printmedien wurden aufmerksam. Sarahs Geschichte lieferte phantastische Schlagzeilen, und trotz ihres abgrundtiefen Zynismus waren einige Journalisten bewegt. IBC strahlte das Video wieder und wieder aus, und man konnte mit einiger Sicherheit sagen, dass die gesamte Bevölkerung (oder doch der größte Teil davon) mindestens einmal das Licht dimmte und sich vor den Fernseher setzte. Die Menschen waren gebannt, ihr Entsetzen war geschürt, ihre Blutgier befriedigt und ihr Bedürfnis nach einer Heldin gestillt. 83
Die Medien hatten ihren großen Tag. Sie sprachen mit Psychologen, Kriminologen und den Überlebenden anderer Überfälle. Sie druckten Artikel, gaben Kommentare und Analysen in Auftrag und veranstalteten Dutzende von Umfragen. Sie gingen mit Kameras auf die Straße und befragten die Passanten. Es war erstaunlich, wie viele Leute sagten: »Ich hätte in Sarah Shepherds Situation genau dasselbe getan.« Oder die, nach ihren alten Eltern befragt, schworen: »Nein, unter keinen Umständen würde ich meine Mutter oder meinen Vater in ein Pflegeheim geben.« Aber sobald die Polizei ihre Arbeit in Willowridge getan hatte, wurde das Heim geputzt, desinfiziert und wieder eröffnet. Nach wenigen Wochen war es voll.
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Warten am Telefon Tresler und Stanley trafen sich am frühen Donnerstagmorgen. Tresler hatte einen kleinen fensterlosen Raum im FBIHauptquartier mit Beschlag belegt, in dem vier Schreibtische und ebenso viele Telefone standen. Er stellte Stanley Helen vor, der unbewegt blickenden Frau hinter dem nächststehenden Schreibtisch. Sie leitete die Nachtschicht und hatte die Flut von Anrufen unmittelbar nach der Sendung entgegengenommen. Stanley hatte während und nach der Ausstrahlung am Telefon bleiben wollen, aber Tresler hatte ihn daran erinnert, dass keiner von ihnen in den letzten achtundvierzig Stunden geschlafen hatte und dass in dieser Nacht sowieso nichts Brauchbares kommen würde. »Außerdem«, hatte er ihn beruhigt, »alle Anrufe werden aufgezeichnet, zurückverfolgt und eingetragen. Und wenn irgendwas Wichtiges dabei ist, wissen sie, wo sie uns finden können.« Er erwähnte nicht, dass Helen seit dreißig Jahren beim FBI war und Vorfälle jeder Art wahrscheinlich mindestens so gut handhaben konnte wie sie selbst. Helen nahm Stanley mit einem Nicken zur Kenntnis und gab Tresler den Stoß von Protokollen. »Nichts«, sagte sie. »312 haben wir eingetragen. 297 waren Wie-weit-ist-es-nurgekommen-Anrufe.« Sie bemerkte Stanleys verwirrten Gesichtsausdruck und erklärte ihm, dass es sich dabei meist um alte Damen handelte, die darüber sprechen wollten, wie schockiert und empört sie waren. Mit einem Mal glitt ein bösartiges Grinsen über Helens Gesicht. »Erstaunlich, wie sie immer die wirklich grausigen Aspekte in allen Einzelheiten besprechen wollen«, sagte sie, während sie Stanley zuzwinkerte. Bevor er antworten konnte, traf die Ablösung ein, und die Frauen der Nachtschicht sammelten ihre Habseligkeiten ein, 85
während die neue Gruppe sich auf die Schreibtische verteilte. Die Leiterin der Tagschicht war eine kleine, gebeugte Frau namens Irene, die noch älter war als Helen. »Irene kümmert sich um Sie«, sagte Tresler zu Stanley. »Ich habe ein paar andere Sachen zu erledigen, aber ich bin nebenan im Computerraum, der Anschluss ist sechs-dreifünf, falls Sie mich brauchen. In Ordnung?« »Kein Problem«, sagte Stanley. »Ich hab's unter Kontrolle.« »Wissen Sie, die Mädchen können das schon. Sie brauchen nicht zu bleiben.« »Sie haben gesagt, die Nummer wird in allen Nachrichtensendungen wieder gebracht?« Tresler nickte. »Dann sollte ich hier bleiben«, sagte Stanley. »Wie Sie wollen«, sagte Tresler und verschwand durch die Tür. Stanley setzte sich an seinen Schreibtisch, um zu warten. Der Raum war still mit Ausnahme des Raschelns, mit dem die Frauen die Seiten ihrer Zeitschriften umblätterten. Stanley trommelte mit den Fingern und brach ab, als eine von ihnen aufsah. Sie lächelte ihm mitfühlend zu. »Wollen Sie eine Zeitschrift?«, fragte sie. Stanley war ganz in einen Elle-Artikel versunken, in dem erklärt wurde, wie man einen Mann wirklich glücklich macht, als das Telefon zum ersten Mal klingelte. Er fuhr zusammen und sah auf. Irene nahm beim zweiten Klingeln ab. »Willowridge-Hotline.« Stanley lauschte aufmerksam. »Ja«, sagte Irene nach einer Pause. »Ja, es war entsetzlich, was da passiert ist. Ja, vielen Dank, dass Sie anrufen, um Ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Nein, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht sagen, wie viel Blut man auf dem Boden gefunden hat.« Stanley seufzte und wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. 86
Um ein Uhr streckte Stanley den Kopf in den Raum, in dem Tresler arbeitete. »Mittagessen?«, schlug er vor. Tresler warf einen Blick auf den Computer. »Ich wollte eigentlich durcharbeiten.« »Oh nein«, protestierte Stanley. »Herrgott, ich brauche eine Pause. Und außerdem müssen Sie mir zeigen, wo man hier was zu essen bekommt. Dieses Gebäude ist ja das reinste Labyrinth.« Tresler seufzte und stand auf, um Stanley den Weg zur Cafeteria zu zeigen. Sie setzten sich an einen Tisch in einer dunklen Ecke. Stanley warf einen Blick auf Treslers Tablett. »Das ist alles?«, fragte er. Tresler hatte sich nur eine Tasse Kaffee geholt. Stanleys Tablett dagegen war voll geladen, und er stürzte sich mit Vergnügen auf sein Essen. »Erstaunlich, wie viel Hunger man vom Nichtstun kriegt«, sagte er mit vollem Mund. »Was haben Sie den ganzen Vormittag getrieben?« »Bin bloß ein paar Ideen nachgegangen.« »Ihr FBI-Typen. Macht nie das Maul auf«, sagte Stanley kopfschüttelnd. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?« »Oh, eine ganze Weile.« Tresler nahm einen kleinen Schluck von seinem Kaffee. »Wie geht Ihre Story?« »Meine Story?« »Yeah. Jeder, der auf unserem Gebiet arbeitet, hat doch eine. Sie wissen schon - wie Sie an den Beruf geraten sind. Wie der eine Typ, den ich mal gekannt habe - sein Vater war bei einem Raubüberfall auf eine Bank ums Leben gekommen. Sie haben den Kerl nie erwischt. So was geht einem nach. Bei mir ist's passiert, als ich zehn war. Ich gehe die Straße entlang und höre, wie eine Frau zu schreien anfängt, dass sie beraubt worden ist. Ich sehe diesen Jungen auf mich zurennen, strecke den Fuß aus, und er landet auf dem Gehweg. Ich stürze 87
mich auf ihn und schaffe es, ihn unten zu halten, bis ein paar Erwachsene da sind. Das war's. Da hatte es mich gepackt. Ich hab mich nie besser gefühlt als damals, als ich den Jungen erwischt und der Dame ihre Handtasche zurückgegeben hab. Da kommt nichts ran.« »Haben Sie je rausgekriegt, was mit dem Jungen war?«, fragte Tresler. »Was? « »Haben Sie rausgekriegt, warum er gestohlen hat? Vielleicht hatte er Hunger, seine Mutter war krank, sein Vater war gerade gefeuert worden.« »Nein, er war einfach ein kleiner Ganove.« »Was ist später aus ihm geworden?« »Ich weiß nicht. Das war nicht meine Sache. Ist es immer noch nicht. Ich erwische sie bloß. Die Gerichte entscheiden, was dann mit ihnen passiert.« Tresler nickte nur. »Aber was ist mit Ihnen, Tresler? Wie sind Sie hier reingeraten?« Tresler legte den Kopf zur Seite und sagte: »Ich wollte immer ein Verbrecher sein. Aber dazu hat es nicht gereicht, also habe ich das Zweitbeste genommen.« Stanley starrte ihn einen Moment lang an, dann lachte er. »Jetzt haben Sie mich fast drangekriegt. Ein Verbrecher. Das ist gut.« Er biss das nächste große Stück von seinem Sandwich und kaute, während Tresler die Leute in der Cafeteria beobachtete. Stanley schluckte den Bissen hinunter und fragte: »Wie halten Sie das aus?« »Was?« »Diesen Teil des Jobs. Die Detailklauberei, die Warterei.« Tresler blies in seinen Kaffee. »Was gibt es denn sonst noch?« »Alles andere - Überwachung, Razzia, Verhaftung.« Tresler 88
schüttelte den Kopf. »Das jetzt, das ist das Wahre an einem Fall. Das ist der Teil, wo man es mit dem Hirn des anderen aufnimmt. Das ist der wirkliche Test.« »Aber das ist doch alles Glückssache«, protestierte Stanley. Tresler sah ihn an, sagte aber nichts. »Wie dieser Fall«, fuhr Stanley fort. »Wir haben nicht viel, mit dem wir arbeiten können. Und es sieht auch nicht so aus, als ob diese Hotline viel bringen würde. Aber wir müssen ihn aufklären. Schon wegen Sarah Shepherd müssen wir das irgendwie knacken.« »Ich habe festgestellt«, sagte Tresler, »dass es hilfreich ist, wenn ich mich nicht emotional auf die Fälle einlasse, an denen ich arbeite, zumindest nicht, was die Opfer angeht. Man muss wie der Verbrecher denken, nicht wie das Opfer.« Stanley sah ihn an, als seien ihm gerade Hörner gewachsen. »Wie schafft man es, nicht an so eine Frau zu denken? Die ist es doch, die mich bei so einem Fall bei der Stange hält. Ich meine«, erklärte er schnell, »der Gedanke daran, sie zu retten, hält mich bei der Stange.« »Aber was dann?«, fragte Tresler. »Wie meinen Sie das, >was dann« »Wenn Sie sie gerettet haben, was dann?« »Dann? Dann bin ich ein Held«, sagte Stanley einfach. Tresler lächelte in seinen Kaffee.
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Eine ordentliche Tracht Prügel Am Donnerstagmorgen erwachte Sarah aus einem überraschend festen Schlaf. Ihr Gesicht war noch empfindlich von Charlies Schlägen, aber sonst fühlte sie sich gut. Sie glitt vom Bett aus in ihren Rollstuhl und wartete. Jeremy und Merec sahen vom anderen Zimmer aus zu. Merec rieb sich das Kinn. »Das reicht nicht«, sagte er. »Die Schwellungen sind schon fast weg, und sie hat kaum Blutergüsse gekriegt. Für das Video brauche ich mehr.« Jeremy spielte mit den Knöpfen des Bildschirms und vertiefte die Rottöne. »Nein.« Merec schüttelte den Kopf. »Sag Charlie, er soll's noch mal versuchen. Und sorg dafür, dass er es diesmal richtig macht. Ich will nicht noch mehr Zeit verschwenden.« Er richtete sich auf. »Ich fahre in die Stadt. Ich bin in einer Stunde zurück und sehe nach, wie weit ihr seid.« In ihrem Zimmer versuchte Sarah sich zu beschäftigen, indem sie die Risse in der Wand verfolgte. Sprangen ihre Augen automatisch vom Ende des einen zum Anfang des nächsten, oder waren sie alle miteinander verbunden? Der Abgrund schien nirgends zu enden. Nach einer Weile drehte sich der Türknauf und Charlie kam herein. Sie starrte ihn finster an, aber er sah ihr nicht einmal in die Augen. Der erste Schlag explodierte wie die Sonne über dem Horizont. Merec fuhr die zwanzig Minuten in die nächste Stadt und hielt als Erstes vor dem Schreibwarenladen, um alle Zeitungen zu 90
kaufen. Er nahm sie mit ins Auto und breitete sie auf dem Beifahrersitz aus. Der Bericht über den Film von den Ereignissen in Willowridge stand bei allen mit Ausnahme einer einzigen auf der ersten Seite. In seinen Gedanken begann sich ein Plan abzuzeichnen. Er ließ den Motor an und fuhr zur Tankstelle, um das Münztelefon ganz am Ende des leeren Parkplatzes zu benutzen. Er nahm eine Hand voll Münzgeld aus dem Aschenbecher und rief Karl in New York an. Glücklicherweise war Karl zu Hause und nahm beim zweiten Klingeln ab. »Merec hier.« »Mhm«, sagte Karl. »Wie weit bist du mit deinem Auftrag?«, fragte Merec. »Hab das Zeug beisammen.« Merec lächelte. Karl hatte die Knappheit zu einer schönen Kunst entwickelt. Es war eine der Eigenschaften, die ihn so wertvoll machten - das und sein außerordentliches Geschick im Umgang mit Sprengstoffen. »Hör zu«, sagte Merec. »Ich rufe an, weil ich will, dass du das erst mal liegen lässt. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.« Und in den nächsten paar Minuten erklärte er Karl, was er brauchte. Bei seiner Rückkehr ging Merec geradewegs zu Jeremy, der vor Sarahs Zellentür saß. Er warf die Zeitungen auf den Tisch und beugte sich vor, um auf den Bildschirm zu sehen. »Perfekt«, sagte Merec. »Das ist einfach perfekt. Wir machen's morgen. Bis dahin müssten diese Blutergüsse wirklich eindrucksvoll aussehen.«
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Verloren / Gefunden Nachdem er Stanley am frühen Donnerstagmorgen bei der Hotline zurückgelassen hatte, setzte sich Trester vor einen Computer im Nebenraum und loggte sich in das System des FBI ein. Dann legte er die Akte des Falls auf den Schreibtisch und ging den Inhalt durch. Er sortierte dutzende von Fotos der Leichen mit kleinen runden Löchern in der Stirn, bis er die Pflegerin mit dem kurzen blonden Haar und dem rosa Lippenstift gefunden hatte. Ihre Augen waren nach oben gerollt, und der Mund hing offen. Er nahm das Bild heraus und lehnte es an den Monitor. Innerhalb weniger Minuten hatte er herausgefunden, dass die junge Frau erst vor kurzem eingestellt worden war und dass der Name, den sie angegeben hatte, nicht mit ihrer Sozialversicherungsnummer übereinstimmte. Die Nummer gehörte einer Fünfundachtzigjährigen in Naples, Florida. Der Name selbst war fraglos falsch. Er holte eine Schere aus der Aktentasche, nahm das Foto und schnitt sorgfältig am Umriss des Gesichts entlang, quer über die Stirn und rings um das eine sichtbare Ohr. Er entfernte das Haar, den Körper - nur das Gesicht blieb übrig. Er befestigte es mit Klebestreifen am Rand des Bildschirms, rief die Vermisstendatenbank auf und begann die Bilder durchzugehen. Als Stanley ihn unterbrach, um zum Mittagessen zu gehen, suchte er immer noch in der riesigen Datenbank, ohne etwas gefunden zu haben. Tresler hatte fast zwanzig Stunden lang gesucht, als er sie schließlich fand. Er seufzte, nahm einen Schluck kalten Kaffee und rief die Daten auf. Name: Mary Louise Morton. Alter: zweiundzwanzig. Vor fünf Monaten verschwunden. Zuletzt gesehen in Albuquerque, New Mexico. Adresse und Telefonnummer waren dabei. Tresler sah auf die Uhr; es war 92
fast zwei Uhr morgens. Er berechnete den Zeitunterschied immer noch zu spät, um guten Gewissens anrufen zu können. Aber er griff trotzdem zum Hörer und wählte. »Hallooo?« Die Stimme am anderen Ende war laut; sie musste es aber auch sein, um es mit der im Hintergrund dröhnenden Musik aufnehmen zu können. »Ich versuche Mrs. Collins zu erreichen«, sagte Tresler. »Was, Liebling? Kann nichts verstehen. Moment.« Inzwischen war unverkennbar, dass sie etwas lallte. »Schätzchen, mach das ein bisschen leiser. Nein, leiser«, kreischte sie, als das Hämmern lauter wurde. »Bleib dran, Schnucki«, sagte sie ins Telefon. Tresler wartete. Die Frau kam wieder ans Telefon und schrie jemandem zu, er solle den anderen Hörer auflegen. Endlich wurde es vergleichsweise ruhig. »Was kann ich für dich tun, Liebling?« »Ich versuche Mrs. Collins zu erreichen«, wiederholte Tresler. »Gibt hier keine Mrs. Collins«, lachte sie hysterisch, »Gott bewahre.« »Es tut mir leid.« Trester zögerte und versuchte es dann mit »Ms. Collins?« »Das bin jetzt ich.« Die Augen brannten ihm von den Stunden vor dem Bildschirm, und er rieb sie mit dem Handrücken. »Ms. Collins, ich möchte Ihnen ein paar Fragen über Mary Louise Morton stellen. »O nein, nicht schon wieder. Ich schwöre, das Mädchen hat mehr Ärger gemacht, als ich gedacht hab, das kann ich Ihnen sagen. Ich hätte sie gar nicht nehmen sollen, aber das arme Ding hat mir Leid getan, mit meiner Schwester als Mutter. Aber ich hab nichts als Scherereien gehabt mit der Vermisstenanzeige und der Polizei. Und man sollte glauben, dann wär Schluss gewesen, aber die Leute kommen immer 93
wieder damit. Wer sind Sie überhaupt?« »Ms. Collins, ich arbeite fürs FBI, und ich -« Die Frau unterbrach »Das ist doch genau dasselbe, was der andere Typ mir erzählt hat. Der hat auch behauptet, er gehört zum FBI, als er vor einer Weile vorbeigekommen ist und mich gelöchert hat. Und jetzt hab ich schon wieder einen von Ihnen wegen derselben Geschichte.« Natürlich, dachte er, das Pflegeheim war kaum das erste Verbrechen gewesen; jemand war ihnen bereits auf der Spur. Aber er sagte nur: »Jemand anderes vom FBI hat Ihnen also schon Fragen gestellt?« »Herrgott, Sie sind vielleicht neugierig.« »Dafür bezahlen sie mich«, sagte er. Jetzt lachte sie. »Also schön, Mr. FBI-Mann. Was wollen Sie diesmal?« »Fangen wir doch mit dem anderen Ermittler an. Wann haben Sie mit ihm geredet?« »Vor einem Monat vielleicht. Er ist vorbeigekommen und hat dasselbe alte Zeug gefragt, was die Polizei auch schon gefragt hatte. Und ich hab ihm dasselbe alte Zeug erzählt, das ich denen vorher erzählt hatte. Wahrscheinlich dasselbe Zeug, das Sie jetzt fragen werden. So unoriginell - dafür bezahlen die Sie auch?« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie sich an seinen Namen erinnern können, halte ich Sie nicht länger auf. Ich werde dann einfach ihn anrufen.« »Das wär nett, zur Abwechslung«, stimmte sie zu. »Warten Sie mal, er hat mir seine Karte dagelassen. Wissen Sie, irgendwie hätte ich nicht gedacht, dass FBI-Agenten Karten haben. Aber Moment, vielleicht ist sie hier noch irgendwo.« Trester hörte sie wühlen. »Da ist sie«, verkündete sie. »Lassen Sie mich sehen, der Name ist Dick Martins. Huch, hier steht ja CIA. Na ja, CIA, FBI, wer kann sich schon die Buchstaben merken?« 94
»Steht eine Telefonnummer dabei?«, fragte Tresler. Sie las sie vor. »Ist sie das?« »Das ist sie«, sagte Tresler. »Danke.« Aber sie hatte schon aufgelegt. Ohne sich zu erkundigen, ob er etwas über Mary Louise wusste, wie er feststellte.
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Bitte recht freundlich Als Sarah am Freitagmorgen aufwachte, stellte sie fest, dass ihr rechtes Auge halb zugeschwollen war. Sie hob die Hände zum Gesicht und betastete vorsichtig die Blutergüsse. Ihre Unterlippe war aufgerissen, und der rechte Wangenknochen war unter einer Schwellung verschwunden. Und um die Lage noch unangenehmer zu machen, war ihre Zunge steif vor Trockenheit, und sie musste dringend auf die Toilette. Charlie hatte sich mit den Schlägen auf ihr Gesicht konzentriert und den Körper unverletzt gelassen, und so konnte sie sich ohne Schwierigkeiten vom Bett in den Rollstuhl schieben und durchs Zimmer rollen, um an die Tür zu klopfen. Als Charlie hereinkam, glitten seine Augen schnell über ihr Gesicht, dann sah er verlegen weg. Er brachte sie schweigend zur Toilette und schob sie dann in ihre Zelle zurück Er ging, kehrte aber einen Augenblick später mit einem Tablett mit Essen und einem Krug Wasser zurück. Als er sich bückte, um es auf dem Boden neben ihrem Rollstuhl abzustellen, zog sie eine Zigarette aus dem Päckchen und nahm sie in den Mund. Er sah es und fischte in der Tasche nach Streichhölzern. Als das Ende der Zigarette orange zu glühen begann, sah er mit seinen schönen Augen zu ihr auf. »Wenn die hier am Ende ist«, sagte er, »kannst du die nächste daran anzünden. Du hältst sie an die Spitze von der neuen und ziehst. Das reicht.« Er ging schnell hinaus. Sie rauchte drei hintereinander, bevor sie die dritte ausgehen ließ. In ihrem Gesicht pochte es. Sie befingerte eine weitere Zigarette, rollte sie über die Fingerknöchel. Sie döste ein und wachte schlagartig auf. Sie klopfte noch einmal, um erneut zur Toilette gebracht zu werden. Sarah musste danach wieder eingeschlafen sein, denn sie wachte auf und stellte fest, dass sie nicht allein im Zimmer 96
war. Vor ihr stand eine Kamera auf einem Stativ, das rote Auge glomm, und dahinter stand Merec. Eine Viertelstunde später wiederholte sie: »Ich kann das nicht machen.« Sie hob das Kinn und sah Merec an der Kamera vorbei ins Gesicht. »Ich mache das nicht. Ich werde nicht Leute, die ich nicht kenne, um Geld für dich bitten.« »Aber es ist doch dein Lösegeld«, erinnerte er. »Nur dass ich es eben bekomme.« »Ich kann das nicht«, sagte sie wieder. »Du bist zu bescheiden.« Sarah antwortete nicht. »Früher oder später wirst du's tun.« »Dann später«, schoss sie zurück. »Das ist nicht deine Entscheidung«, teilte er ihr mit. »Aber in der Zwischenzeit müssen wir etwas für dich zu tun finden. Gut möglich, dass es unangenehm sein wird.« Es gab keine Fenster, durch die man hätte hinaussehen können, und sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie auch die Wände nicht mehr betrachten wollte mit ihrem Gewimmel unruhiger Risse, breit genug, um den Mut darin zu verlieren. Also antwortete sie ihm. »Was könnte denn noch schlimmer sein?«, fragte sie. Daraufhin lachte er. »Hast du das?«, fragte Merec ein paar Minuten später Jeremy. »Von Anfang bis Ende«, antwortete Jeremy. »Ich hätte das nicht besser planen können. Stell dir vor, was los ist, wenn sie das ausstrahlen. Ich werde auf zehn Millionen raufgehen müssen. Herrgott, die ist zweimal so viel wert.« »Willst du jetzt also, dass ich das Band bearbeite und einschicke?« »Nein, noch nicht.« Merec rieb sich das Kinn. »Noch nicht.«
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Nach der Auseinandersetzung war Sarah rastlos. Sie rutschte in ihrem Rollstuhl herum, lehnte sich zurück, rutschte wieder herum. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes hatte sie das Bedürfnis nach Aktivität. Sie war in ihrem Zimmer in Willowridge herumgeschlurft, hatte sich aber für größere Entfernungen immer in den Rollstuhl gesetzt. Sie runzelte die Stirn und versuchte das eine Bein anzuheben, es zu strecken und wieder abzusenken. Sie wiederholte die Bewegung, so oft sie konnte, und als sie das Bein nicht mehr heben konnte, ging sie zum anderen über. Strecken, senken, strecken, senken. Sie versuchte es mit ein paar Schritten, vom Bett aus, wobei sie sich an den Griffen des Rollstuhls festhielt. Dann ließ sie los und tat drei unsichere Schritte ohne Hilfe.
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Stanleys Entdeckung Als Stanley am Freitag um halb zehn ins Büro zurückkehrte, war aus der Flut von Anrufen ein Tröpfeln geworden. »lrgendwas?«, fragte er. »Nichts, das uns weitergebracht hätte«, sagte Irene. »Und gestern Abend?« Sie zuckte die Achseln. »Ist Tresler hier irgendwo?« »Er hat gesagt, er würde am Nachmittag vorbeikommen.« »Oh.« Stanley räusperte sich. »Also gut.« Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Heute war er besser ausgerüstet. Er holte die Akte des Falls aus der Tasche, öffnete sie und beugte sich über die Dokumente. Zwei Stunden später blätterte er immer noch in den Daten, den Kopf in die Hand gestützt. Waffentypen, Spuren auf Kugeln, Todeszeitpunkte, Anzahl der Opfer, psychologische Profile, Stimmanalysen - es führte zu nichts. Er schlug sich mit der Handfläche leicht gegen die Stirn und stöhnte. Dann stand er unvermittelt auf. »Wenn Tresler auftaucht, sagen Sie ihm, ich bin im Labor.« Fünf Minuten nachdem Stanley gegangen war, ging bei Irene ein Anruf für ihn ein. Der Mann nannte seinen Namen und seine Nummer, weigerte sich aber, darüber hinaus etwas zu sagen. Tresler hatte den ganzen Morgen versucht, den CIA-Agenten Dick Martins zu erreichen, und hatte das Gefühl, abgewimmelt zu werden. Er versuchte es noch einmal, und die Frau am anderen Ende teilte ihm mit, dass Mr. Martins gerade zum Mittagessen gegangen war. »Vielleicht wäre es am besten, wenn ich ihm das Material einfach schickte.« »O ja«, stimmte die Frau zu, eine Spur zu enthusiastisch. 99
»Können Sie mir die Adresse geben?« Tresler kritzelte sie in sein Notizbuch. »Danke«, sagte er. Dann suchte er ein paar Dinge zusammen und machte sich auf, um mit Mr. Martins persönlich zu sprechen. Stanley kam erst am frühen Abend zurück. Er ließ den Mantel von den Schultern fallen und setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch. »Da war ein Anruf für Sie«, sagte Irene. »Heute Morgen, kurz nachdem Sie weggegangen sind.« Stanley sah auf. »Mann? Frau?« »Ein Mr. Zackman. Hier ist die Nummer.« Er nahm die Notiz. »Danke, Irene.« Er wählte. »Zackman«, meldete sich eine heisere Stimme. »Detective Stanley Wall. Sie wollten zurückgerufen werden.« »Wall? Ich glaube nicht ... ach so. Sie arbeiten an dieser Pflegeheimgeschichte.« »Ja, das stimmt«, sagte Stanley. »Und über diesen Fall wollte ich mit Ihnen reden. Ich hab das Band gestern Abend im Fernsehen gesehen. Ich könnte nicht drauf schwören, aber nach der Vorgehensweise, den Verhaltensmustern, vor allem den sadistischen Spielchen würde ich sagen, wir suchen nach demselben Mann.« »Demselben Mann?«, wiederholte Stanley. »Für wen arbeiten Sie?« »CIA«, sagte Zackman. »Wir sind seit über sechs Monaten an diesem Fall. Ich hab schon einen Mann verloren.« »Was ist passiert?« »Kann ich Ihnen nicht sagen. Sorry. Intern.« Zackman schnitt eine Grimasse, die Stanley nicht sehen konnte. »Oh.« »Streng genommen dürfte ich Sie auch gar nicht anrufen.« »Aber das ist doch lächerlich«, sagte Stanley. »Stimmt«, gab Zackman zu. »Aber in diesem Fall muss ich die Sicherheit meiner Leute über die Firmenphilosophie stellen. 100
Ich möchte Ihnen sagen, dass wir einen Mann undercover in der Organisation haben.« »Dann wissen Sie also, wo die sitzen? Haben Sie Informationen über die Gruppe?«, fragte Stanley eifrig. »Wir haben von unserem Mann schon geraume Zeit nichts mehr gehört.« »Na, es ist gut zu wissen, dass jemand da drin ist, der auf Sarah Shepherds Seite steht.« »Wessen Seite?« »Sarah Shepherd. Die Frau, die sie gekidnappt haben.« »Ach ja, natürlich.« Zackman bezweifelte, dass sein Mann in der Lage sein würde, irgendetwas für sie zu tun, aber er sprach es nicht aus. »War sie nicht unglaublich?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gab Zackman zu. »Aber ich könnte mir vorstellen, sie würde keine üble Agentin abgeben.« »Das ist alles, was Sie über sie zu sagen haben?« »Meiner Meinung nach«, antwortete Zackman ernsthaft, »sagt das eine ganze Menge.«
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Bruce Lee, ein Wunder und nahendes Unheil Kaum eine Stunde nach Merecs Unterhaltung mit Sarah trafen die neuen Rekruten ein. Merec trat aus dem Haus, als die drei Männer aus einem fensterlosen Lieferwagen stolperten und im Licht blinzelten. Einer hatte krumme Beine, eine Haut wie dunkles Segeltuch und so tief liegende Augen, dass man sie nur sah, wenn das Licht in sie fiel. Der Zweite war breitschultrig und hatte einen Schnauzbart. Er räusperte sich oft und hatte die Angewohnheit, sich die Lippen zu lecken. Der Dritte war ein stämmiger junger Mann Anfang zwanzig. Merec ging zu der Fahrerin hinüber. »Maude«, sagte er und beugte sich vor, um sie auf beide Wangen zu küssen. »Du bist unbezahlbar. Was hast du uns mitgebracht?« Maude nahm das Kompliment ernsthaft an. »Alan.« Sie nickte zu dem kleinen drahtigen Mann hinüber. »Pat«, sagte sie mit einer Handbewegung zu dem Zweiten, der sich nervös die Lippen leckte. »Lee«, sagte sie über den Letzten. »Fritz, Jody, Parker - zeigt den Leuten ihre Zimmer«, befahl Merec. Fritz nahm Lee am Arm, und Lee warf ihn auf den Rücken. »Wir lassen nach«, murmelte Merec und wandte sich von der kleinen Schar von Männern ab, die sich mit einem Mal um Lee bildete, während er um sich schlug und trat, als versuchte er sich für einen Karatefilm zu qualifizieren. Merec ging zurück zum Haus. Maude folgte ihm. »Von dem armen kleinen Ding, wie hieß sie doch gleich, hast du also irgendwann genug gehabt?«, fragte Maude. »Tina? Du hast sie uns gebracht.« »Ja«, stimmte sie zu. »Ich dachte, sie könnte nützlich sein.« Dann rückte sie zurecht: »Oder zumindest entbehrlich.« »In der Tat. Hast du gehört? Ich habe stattdessen jemand 102
anderen mitgebracht.« »Ja. Ich hab's gehört. Das war kaum zu vermeiden. Die Sender können nicht genug davon kriegen. Aber ...« Maude streckte den Arm aus und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »war das klug?« »Das ist nichts, worüber ich mir normalerweise Gedanken mache.« Merec hob die Schulter und schüttelte ihre Hand ab. Vor Sarahs Zelle holte sie ihn ein. Merec lehnte sich über Jeremys Schulter und starrte auf den Monitor. Auf dem Bildschirm ging Sarah mit unsicheren Schritten hinter ihrem Rollstuhl durch den Raum. »Was soll das?« Er richtete sich wieder auf. »Ich dachte, sie ist gelähmt. »Es ist ein Wunder«, sagte Maude. »Willst du mir jetzt vielleicht erzählen, was hier los ist?« Merec ignorierte die Frage. Stattdessen wandte er sich an Jeremy. »Warum gehst du nicht mit Maude und siehst nach, ob unsere Neuen gut untergebracht sind.« Sie gingen den schmalen Gang entlang, Maude voran, Jeremy hinter ihr. Maude hatte länger als irgend jemand sonst für Merec gearbeitet, und sie war stolz darauf. Wenn Merec jemand Besonderen brauchte, rief er Maude an. Aber in letzter Zeit hatte Jeremy viele Stunden allein mit Merec verbracht. Dann hatte er bei ihrem letzten Auftrag mitten im Getümmel eine Videokamera herausgeholt und mit der Aufnahme begonnen. Und von da an war er immer dabei und zeichnete alles auf - entweder mit der Kamera oder mit seinen kleinen braunen Knopfaugen. Eine Weile hatte sie sich wieder sicher gefühlt, als Merec ihr mitteilte, dass sie die nächste Rekrutierungsaktion für ihn übernehmen sollte. Aber außerhalb seines Einflusses hatte sie das Ziel aus den Augen verloren, hatte ihre Energie verloren, und im Innersten wusste sie, dass die Rekrutierung eine 103
halbherzige, glanzlose Angelegenheit gewesen war. Sie wandte sich zur Seite und öffnete eine Zimmertür. Der Raum war mit zwei Stühlen und einem Tisch sparsam möbliert. Sie ging zum Fenster und starrte hinaus auf die Bäume, die das Haus auf allen Seiten umgaben. Der Wald war jung und dicht, mit dickem Unterholz. Sie hörte, wie Jeremy die Tür schloss, und das Knarren eines Stuhls, als er sich setzte. »Und?«, fragte Maude. Sie drehte sich zu ihm um. »Was zum Teufel ist hier los?« Sie hatten noch nie unter vier Augen miteinander gesprochen, und Maude hätte mit der Frage alles Mögliche meinen können. Jeremys Antwort überraschte sie. »Ich habe mit deiner Situation gar nichts zu tun, Maude. Das war schon längst im Gang, bevor ich hier aufgetaucht bin.« »Scheiße, was weißt du schon von meiner Situation?«, schnappte sie. Er sagte nichts. »Erzähl mir, was in diesem Pflegeheim passiert ist«, verlangte sie. »Das war doch angeblich so einfach. Ein alter Mann, fünfhunderttausend auf dem Konto. Einfacher geht's fast nicht mehr. Man schleust jemanden ein, der sich die Situation ansieht, dann rein und wieder raus, und es ist vorbei. Stattdessen geht ihr hin und bringt so ziemlich jeden in dem verdammten Laden um, die Informantin endet als Leiche auf dem Cafeteriaboden, und ihr bringt diese gelähmte Frau mit. Was stimmt da nicht?« Sie ging mit quietschenden Sohlen auf dem Dielenboden hin und her. Jeremy zuckte die Achseln. »Du kennst ihn besser, aber für mich klingt das gar nicht so untypisch.« Sie starrte ihn durchdringend an. »Sehen wir mal nach den Neuen«, sagte sie und ging voran aus dem Zimmer. Sarah war in einer der Zellen untergebracht worden, in denen meist die Neuankömmlinge wohnten. Es gab vier weitere identische Räume in dem Gebäude, kaum größer als 104
Abstellkammern, alle mit einer Eisenpritsche und einer Videokamera ausgestattet. Als Maude und Jeremy die Runde machten, sahen sie, dass Lee auf der Stelle joggte und dabei Schläge in die Luft führte, während Alan schlief und Pat auf der Bettkante hockte und an einem Daumennagel kaute. Sarah lag in ihrem Zimmer auf der Pritsche, die Augen gegen das grelle Licht geschlossen. Sie sehnte sich nach Dunkelheit, nach dem Zirpen von Grillen, nach Nachtwind oder kompromissloser Sonne, nach gebogenen Grashalmen, einem warmen Salzbad. Stattdessen stand sie mühsam auf und drehte eine weitere Runde um den Raum, die Risse in den Wänden mit den Fingerspitzen nachzeichnend.
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Treslers Entdeckung Treslers Ausweiskarte öffnete ihm die Türen zum CIAHauptquartier. Er hatte eine Zeitung und eine Tasse Kaffee als Tarnung mitgebracht und machte sich sofort auf die Suche nach Martins' Büro. Als er es gefunden hatte, ging er daran vorbei und stellte aus dem Augenwinkel fest, dass es besetzt war. Er steuerte auf die offene Tür zu und lächelte der Frau zu, die davor saß. »Ich sag nur eben guten Tag«, sagte er im Vorbeisegeln. Sobald er drinnen war, drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich. »Hi«, sagte er gut gelaunt, während er Kaffee und Zeitung auf dem Schreibtisch des Mannes deponierte. »Hallo.« Martins war offensichtlich verwirrt. Tresler setzte sich in einen der Besucherstühle und schlug die Beine übereinander. »Wie geht es Ihnen?« »Gut. Mir geht's gut. Und Ihnen?« »Phantastisch. »Entschuldigen Sie, ich fürchte, ich kann mich nicht an Ihren Namen erinnern« gab Martins zu. »Das liegt daran, dass ich das Vergnügen noch nicht hatte. Ich bin Tresler.« Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Tresler, Tresler, das klingt irgendwie vertraut«, überlegte Martins. »Ich habe den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen«, gab Tresler zu. »Aber ich bin nicht zu Ihnen durchgekommen, also dachte ich, ich nehme das als Entschuldigung, um den Mann persönlich kennen zu lernen.« »Ich muss gestehen, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Sehen Sie, ich arbeite drüben beim FBI«, Tresler zückte seinen Ausweis - »und ich habe ihren Namen schon mehrfach im Zusammenhang mit Fällen gehört, für die ich mich interessiere.« »Ach, wirklich?« 106
»O ja. Sie haben einen phantastischen Ruf.« »Oh?«, sagte Martins, unverkennbar geschmeichelt. »Ja. Und ich bin gerade einem Fall zugeteilt worden, strikt als Berater, wohlgemerkt, und ich bin ein bisschen besorgt, was die Bemühungen der örtlichen Behörden angeht.« »Das überrascht mich nicht«, bemerkte Martins. »Eben. Sie können sich also vorstellen, wie erleichtert ich war zu hören, dass Sie schon an dem Fall dran sind. Ich dachte, ich komme mal vorbei und rede mit Ihnen. Ich wollte sichergehen, dass die örtliche Polizei Ihnen bei der Aktion nicht in die Quere kommt.« »Natürlich.« Tresler wartete. »Äh ... welche Ermittlung?«, fragte Martins. »Die im Zusammenhang mit diesem Pflegeheim.« »Mit diesem Fall habe ich gar nichts zu schaffen.« »Er hängt mit dem Verschwinden einer jungen Frau namens Mary Louise Morton in New Mexico zusammen. Sagen Sie's mir, wenn ich falsch liege, aber ich glaube, an dem arbeiten Sie.« Tresler sah, dass Martins von keinem Zusammenhang zwischen den beiden Fällen wusste, es aber zu überspielen versuchte. »Ich kann nicht behaupten, dass Sie falsch liegen, aber Sie kennen ja die Firmenphilosophie. Ich kann über meine Fälle nicht reden. Aber ich kann Ihnen eins sagen - Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Diesen Fall haben wir unter Kontrolle.« »Wunderbar«, sagte Tresler. Er täuschte ein kurzes Zögern vor. »Darf ich fragen inwiefern ... ?« Martins sah zur Tür und beugte sich nach vorn über seinen Schreibtisch. »Kinderleicht. Wir haben die Organisation geknackt. Wir haben einen Mann drin.« Er lehnte sich mit einem breiten Lächeln zurück. »Einen von Ihren Leuten?«, fragte Tresler. »Oh, nein. Bloß einen Strohmann. Wir haben ihm einen 107
Koffer voll Geld angeboten, und er hat angebissen. Hübsches Stück Arbeit, was? Wir sind gerade mal einen Monat an dem Fall, und er ist so gut wie abgeschlossen.« »Wissen Sie, wie viele es sind? Wie bewaffnet? Wo sie sitzen?« »Ich fürchte, das sind Informationen, die ich Ihnen nicht geben kann.« »Wissen Sie, dass er jetzt eine Geisel hat?« »Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden alle Aspekte berücksichtigen«, sagte Martins mit einem überlegenen Lächeln. »Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich muss wirklich wieder an die Arbeit.« »Selbstverständlich. Es war mir ein Vergnügen.« Tresler verließ das Büro. Als er die Tür hinter sich schloss, murmelte er durch die Zähne: »Idiot.« Die Frau im Vorzimmer hörte ihn und sagte leise: »Hört hört.«
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Ein ganz gewöhnlicher Job »Ich soll was tun?« wollte Lee von Merec wissen. Der neue Rekrut stand in der Tür von Sarahs Zimmer und wippte auf den Zehen. »Es gehört zu den besten Seiten in diesem Beruf. Wir wollen sicherstellen, dass du es genießen kannst.«, sagte Merec. »Okay, okay, aber wie wollen Sie, dass ich's mache?« »Hast du denn keine Lieblingstechnik?« »Splitter? Unter den Fingernägeln?« »Nicht gerade originell, aber das müsste hinhauen.« Merec schien auf etwas zu warten. »Na, dann los. Hol ein paar Splitter.« »Oh.« Lee wippte noch einmal und schoss davon. Sarah blieb mit Merec allein. Er ging zu ihr und bot ihr sein Feuerzeug an. Sie griff in die Brusttasche und holte ein neues Päckchen heraus. Die Hände im Schoß, griff sie nach dem Goldbändchen. Sie musste die Finger aneinander reiben, um das Zellophan zu entfernen. Dann holte sie eine Zigarette heraus. All ihre Bewegungen waren ruhig, aber als sie die Zigarette in den Mund nahm, zitterte ihr die Hand. Es war nur ein winziges Flattern, aber Merec musste sich abwenden. Er wäre fast gegangen, aber ihre Stimme rief ihn zurück. »Feuer?«, fragte sie. Er zündete ihr die Zigarette an. Seine eigene Hand blieb ruhig, wie er feststellte. »Willst du es dir noch mal überlegen mit der kleinen Bitte an die amerikanische Öffentlichkeit?«, fragte er. Sie nahm einen Zug. Noch ein paar Tage, dachte er, und es wird so aussehen, als hätte sie seit dreißig Jahren geraucht. Sie bot ihm eine Zigarette aus dem Päckchen an. Er nahm sie, zündete sie aber nicht an. »Es würde doch sowieso keinen Unterschied machen«, sagte 109
sie. »Du würdest damit trotzdem weitermachen.« Es war keine Frage, aber er antwortete trotzdem. »Nein, es würde keinen Unterschied machen.« »Das ist es ja schließlich, was du machst. Das ist alles, was du machst.« Alles, was du machst. Es klang so klein bei ihr. Er fragte sich, wie ihr Leben ausgesehen hatte, dass sie seins so unbedeutend wirken ließ. Er hatte tausende von Leben auf der ganzen Welt berührt, sie plötzlich und gewaltsam zu Tragödien gemacht. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen - was, wusste er selbst nicht genau -, aber Lee kam zurück, ein paar lange Holzstücke in der Handfläche. Merec schüttelte den Kopf. »Die sind viel zu groß, und du kriegst sie nie wieder raus. Vergessen wir das mit den Splittern. Nadeln tun's viel besser. Sie lassen sich sauber rausziehen, und du kannst sie sterilisieren. Dann kriegen wir später weniger Schwierigkeiten.« »Kann ich zum Sterilisieren Ihr Feuerzeug leihen? Ich hab sonst nichts«, sagte Lee, während er die nutzlosen Holzstücke auf den Boden fallen ließ. Merec gab das Feuerzeug nicht ihm, sondern Sarah. Dann ging er, um die Nadeln zu holen. Das Feuerzeug war schwer, und Sarah wog es in der Hand wie einen guten Wurfstein. Sie rieb mit dem Daumen über die Oberfläche und spürte eine Unebenheit an der Unterseite. Als sie es ins Licht hob, konnte sie sehen, dass dort einmal eine Inschrift gewesen war, aber sie war so abgewetzt, dass sie sie nicht lesen konnte. Sie schob den Deckel zurück und drehte das Rad, und die Flamme sprang heraus, ein klares, helles Gelb. Die Mitte, geformt wie ein schlanker kleiner Finger, war dunkler, trüber, aber gerahmt von einem leuchtenden Violettblau, einer Farbe, die man sich gut in einem Heiligenschein vorstellen konnte. 110
Merec verbrachte eine Weile damit, über den Nadeln im Nähset zu grübeln und die dünnsten herauszusuchen. Er hätte sich die Mühe sparen können; sie waren alle industriell gefertigt und identisch. Statt ins Zimmer zurückzukehren, blieb er vor der Tür stehen, wo Jeremy vor dem Bildschirm saß. Er öffnete die Hand und sagte: »Bring die dem neuen Mann. Und natürlich musst du ein Auge drauf haben. Das wird wichtig für das Band.« Jeremy nickte und wich seinem Blick aus. »Alles okay bei dieser Sache?« Jeremy starrte unbewegt auf den Bildschirm. Merec warf die Nadeln auf den Tisch. Ein paar rollten davon und fielen auf den Boden. »Es ist ein ganz gewöhnlicher Job, Jeremy. Ein ganz gewöhnlicher Job.« Merec ging, eine Hand zur Faust geballt. In der Faust, in einer tiefen Falte der Handfläche, hielt er eine der dünnen Nadeln. Er verließ das Haus und ging weiter in den umliegenden Wald. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, und die Zweige brachen unter seinen Füßen. Er blieb stehen, als er das Haus nicht mehr sehen konnte, und lehnte sich an einen Baum. Er streckte die linke Hand aus und studierte das unschuldige Rosa der Fingernägel. Dann hielt er die Nadel hoch und drehte sie im Licht. Er wischte sie an seinem Hemd ab und schob sie unter den Nagel seines kleinen Fingers. Nur ein Stückchen weit. Er holte Atem und stieß sie tiefer. War es das, was sie empfand, oder war auch Schmerz subjektiv? Blut quoll rings um die Nadel hervor, lief ihm über den Finger und tropfte auf die dürren Blätter. Er leckte es ab und schmeckte Eisen. Würde Lee so tief gehen? Er stieß tiefer. Oder so tief? Unvermittelt zog er die Nadel heraus, warf sie weg und machte sich auf den Rückweg. Er war auf Schreie gefasst und runzelte die Stirn, als er nichts hörte außer dem trockenen Rascheln der Blätter im Wind. Ein Schauer stellte 111
trotz der schwülen Hitze die Härchen auf seinen Armen auf. Blut tropfte gleichmäßig von seinem Finger, und er ging zu dem Schrank, wo das Verbandszeug aufbewahrt wurde. Es war nicht da. Natürlich - sie würde es brauchen. Er wickelte stattdessen ein Papiertuch um den Nagel. Merec empfand einen seltsamen Widerwillen dagegen, zu Sarahs Zimmer zurückzukehren, und so ging er nach den Neuankömmlingen sehen. Jody saß vor einer Zelle, die Füße hochgelegt, und schnarchte leise. Merec sah auf den Bildschirm; der Mann drinnen lag ausgestreckt auf seiner Pritsche, einen Arm über die Augen gelegt, und seine Brust hob sich in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus. Merec weckte keinen von ihnen. Er ging den Gang entlang zur nächsten Zelle. Fritz saß vor dem Bildschirm und las eine Zeitschrift. Als er Merec kommen sah, stand er auf, beinahe feierlich. »Was hast du da?«, fragte Merec. »Bloß eine Zeitschrift«, und Fritz warf sie auf den Tisch. »Das sehe ich.« Er ging um Fritz herum, um sie in die Hand zu nehmen. »Segeln. Fritz, ich wusste gar nicht, dass du segelst.« »Tu ich auch nicht.« Er drehte die Zeitschrift in den Händen. Er hatte Nachforschungen über alle Kandidaten angestellt, aber nun wurde ihm klar, dass er Fritz trotz aller gesammelten Informationen nur als Söldner kannte, das war alles. Mit allem anderen hatte er nichts zu tun. »Sir?« Fritz trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Er sah in Fritz' breites, ausdrucksloses Gesicht, in dem sich das Unbehagen abzeichnete. Merec stellte fest, dass er das Segelmagazin noch immer in der rechten Hand hielt. Von der linken tropfte trotz seiner Vorkehrungen unablässig Blut auf den Boden. Er legte die Zeitschrift auf den Tisch und beugte sich vor, 112
um auf den Bildschirm zu sehen. In der winzigen Zelle ging Pat auf und ab, den Kopf gebeugt, und schnaufte in seinen Schnurrbart. »Und?«, fragte er. »Lagebericht?« »Klar. Tut mir Leid.« Fritz wurde sachlich. »Der macht das jetzt seit zwei Stunden, seit wir ihn da untergebracht haben. Kommt mir ein bisschen nervös vor für den Job.« Merec beobachtete die Gestalt auf dem Bildschirm. »Er konnte dich noch überraschen.« »Wenn Sie meinen«, sagte Fritz schnell. Merec zögerte, dann fragte er: »Glaubst du, du könntest meinen Job tun?« »Ah, nein«, antwortete Fritz sofort und mit Nachdruck, »Nein, Ihr Talent hab ich nicht.« »Talent?« Merec war überrascht und eine Spur geschmeichelt. »Yeah. Talent dafür, die Seite in den Leuten rauszuholen.« »Was für eine Seite?« Er wusste nicht, was er erwartete, aber was immer es war, es war nicht Fritz' Antwort. »Die schlimmste Seite, sagte Fritz. »Die was?« »Ich meine«, stotterte er, »ich meine, was sagen Sie doch immer?« »Die wahre Seite«, sagte Merec leise. »Das ist es. Das war's, was ich gemeint habe. Ich sehe das nie so deutlich, wie wenn Sie da sind und es mir zeigen.« »Was siehst denn du?« »Ich sehe einfach Leute, wissen Sie. Einfach normale Leute.« »Natürlich.« Was immer Fritz' besonderes Talent sein mochte, Wortgewandtheit war es nicht, tröstete sich Merec. »Talent, das ist es.«, wiederholte er - er spürte, dass Merec nicht zufrieden war. »Ich bin sicher, Sie haben Recht mit dem Typ da drin. Ich wette, Sie haben Recht. Ganz klar.«
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Überbucht »Was haben Sie gesagt?« Tresler fuhr herum und starrte Stanley an. Er war nach seinem Besuch bei Martins eben erst ins Büro zurückgekehrt. Stanley erklärte es noch einmal. »Ich hab heute Nachmittag einen Anruf von einem Mann beim CIA gekriegt. Er hat gesagt, er ist an dem Fall dran, und er wollte uns sagen, dass er einen Undercovermann dort hat. Sonst habe ich nichts aus ihm rausgekriegt.« »Wie heißt der Mann?« »Die würden mir doch nie sagen, wen sie Undercover da reingeschickt haben.«, sagte Stanley entsetzt. »Nein«, verbesserte sich Tresler, »ich meine, wer hat angerufen?« »Oh. Er heißt Zackman.« »Und dieser Undercoveragent - das war doch nicht einer von ihren Leuten?«, fragte Tresler scharf. »Doch, da bin ich mir sicher. Er hat gesagt, es geht gegen die Regeln, mich anzurufen, aber das Leben seiner Leute ist ihm wichtiger.« »Und der Name war nicht Martins?« »Nein, ich sage Ihnen doch, er heißt Zackman. Sie können Irene fragen, wenn Sie mir nicht glauben. Sie müßten sie allerdings zu Hause anrufen, sie hatte um sechs Feierabend.« Tresler fragte ungeduldig: »Was hat dieser Zackman noch gesagt?« »Nicht viel. Ich habe doch gesagt, aus dem was rauszukriegen war wie Zähneziehen. Er hat bloß gesagt, er ist schon ewig an diesem Fall dran, und sie haben einen Undercovermann drin.« Tresler runzelte die Stirn. Er wollte zu seinem Schreibtisch hinübergehen; dann blieb er wieder stehen. 114
»Tresler? Alles okay? »Wie lang, hat er gesagt, ist er an dem Fall?«, fragte Tresler. »Eine ganze Weile. Ich hab vergessen, es mir aufzuschreiben, aber ich habe seine Telefonnummer.« »Ungefähr«, beharrte Tresler. »Ich weiß nicht. Mindestens ein halbes Jahr. Vielleicht mehr.« Tresler sah Stanley an, als sehe er ihn in Wirklichkeit nicht. »Die haben überbucht«, sagte er leise. »Was?« Diesmal sah Tresler Stanley tatsächlich an. »Überbucht«, wiederholte er lauter. »Wenn das erste Team keine Ergebnisse bringt, setzen sie ein zweites Team drauf an.« »Sie meinen, es gibt zwei CIA-Teams?« »Genau das meine ich. Der Mann, der das zweite Team leitet, ist ein Idiot, und wenn ich mich nicht täusche, ist Zackmans Mann zur Zeit in einer ziemlich üblen Lage.« »Wir sollten Zackman anrufen und ihm Bescheid sagen.« »Genau das habe ich auch vor«, sagte Tresler.
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Ein paar Western zu viel Als Merec sich der Tür von Sarahs Zimmer näherte, sah er, dass Jeremys Stuhl leer war. Er setzte sich und sah auf den Bildschirm. Sarah saß in ihrem Rollstuhl, und sowohl Charlie als auch Jeremy knieten vor ihr, jeder über eine ihrer Hände gebeugt; der Verbandskasten stand offen zwischen ihnen. »Beide Hände«, flüsterte Merec. Sarahs Kopf war gesenkt. Jeremy war mit dem Verbinden fertig und ging zu Charlie hinüber, um dessen Arbeit zu überprüfen. »Danke, Jeremy«, sagte sie. Ihre Stimme war leise und rau. »Da wären wir.« Charlie stand auf. »Jetzt darfst du dich bloß ein paar Wochen lang nicht prügeln. Lass die Schlägerchen heilen.« Jeder einzelne Finger war mit Verbandstoff umwickelt, der an einigen Stellen schon dunkel wurde. Sie wedelte mit ihnen, als spiele sie Klavier. »So gut wie neu. Danke, Charlie.« Jeremy und Charlie wandten sich zur Tür. »Ihr habt was vergessen.« Sarah fischte mit dicken, ungeschickten Fingern in ihrem Schoß. Sie hielt das goldene Feuerzeug hoch. Jeremy nahm es ihr behutsam aus der Hand. Als er Merec auf dem Holzstuhl vor dem Bildschirm antraf, legte er es vor ihm auf den Tisch. »Wie ist es gegangen?«, fragte Merec. »Phantastisch«, antwortete er, ohne zu lächeln. »Und Sarah?« Jeremy beugte sich vor, nahm eine Kassette aus dem Gerät und legte sie neben das Feuerzeug auf den Tisch. »Sieh's dir selbst an.« Merec nahm die Kassette und schlug damit gegen die Hand116
fläche. »Ich habe viel Schlimmeres getan«, sagte er. »Viele Male.« Merec hatte einen Fernseher mit Videorekorder in seinem eigenen Zimmer. Er zog sich dorthin zurück, legte das Band ein und spulte zurück - viel weiter, als nötig gewesen wäre. Er beobachtete Sarah, während sie aß, während sie gehen übte und während sie versuchte, sich mit einem Finger und Wasser aus dem Krug die Zähne zu putzen. Merec sah zu, wie er selbst und Lee ins Zimmer kamen. Er hatte darauf geachtet, nicht ins Blickfeld der Kamera zu geraten, aber Lee stelzte herein, und die Aufnahmen zeigten ihn im Profil, im Halbprofil und von vorn. Nachdem Jeremy die Nadeln gebracht hatte, hielt Lee eine davon zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und zeigte sie Sarah. »Ziemlich dünn, siehst du? Wird wohl nicht so schlimm werden. Es tut mir Leid und so weiter.« »Ganz sicher«, sagte sie. »Hör mal, warum erzählst du ihnen nicht einfach, was sie wissen wollen? Dann können wir auf dieses ganze...«, Lee wedelte mit der Nadel und suchte nach einem passenden Wort, »Zeug verzichten.« »Ich fürchte«, sagte sie, »es gibt da nichts zu erzählen.« Er kam näher und blieb unmittelbar vor dem Stuhl stehen. »Bist du von der Agency?«, flüsterte er. »Was?« »Natürlich kannst du's nicht sagen. Aber du musst es sein.« Er kam noch näher und warf einen schnellen Blick zur Tür. »Ich soll dir sagen, demnächst kommt Hilfe.« Merec hielt das Band an und spulte zurück. Er sah sich die Szene noch einmal an, und als er zu der Stelle kam, wo Lee flüsterte: »Bist du von der Agency?«, klopfte jemand an die Tür. Er drückte auf den Pausenknopf und öffnete. Es war Maude. 117
»Jeremy sagt, du siehst dir das Band an, und vielleicht sollte ich es auch sehen.« »Ja, das solltest du allerdings.« Er öffnete die Tür ganz, lud sie mit einer Handbewegung ein, sich einen Stuhl heranzuziehen, und spulte wieder zurück. Maude beugte sich vor und sah zu. Als Merec das Band anhielt, nachdem Lee gesagt hatte »Demnächst kommt Hilfe«, fluchte sie. Merec wandte sich zu ihr. »Kann er irgendwas mitgebracht haben, irgendwie?« »Ich hab mich an alle Regeln gehalten«, antwortete sie aggressiv, während sie gleichzeitig daran dachte, wie nachlässig sie während der ganzen Operation gewesen war. »Wir haben sie sich ausziehen lassen wie immer und ihnen neue Sachen gegeben.« Merec fragte weiter. Wie weit hätte man sie verfolgen können? Waren auf der Fahrt Hubschrauber zu sehen gewesen? Wann hätte man zwischen seiner Rekrutierung und dem Aufbruch mit Lee Kontakt aufnehmen können? Ihre Antworten fielen nicht eben zufrieden stellend aus. »Was ist da eigentlich passiert, Maude?«, wollte er wissen, während er sich nach vorn beugte. Sie sagte nichts. Merec starrte sie an, dann drehte er sich wieder zum Fernseher um und drückte auf einen Knopf. Auf dem Bildschirm erwachte Lee zum Leben und sprach weiter: »... kommt Hilfe.« Sarah sah ihn einfach nur an. Auf ihre nicht eben enthusiastische Reaktion hin wiederholte er: »Ich habe gesagt, sie sind unterw-« »Ich bin nicht schwerhörig. Aber ich nehme an, sie sind noch nicht hier. Also -« Sarah streckte die linke Hand aus. »Okay. Okay.« Lee schüttete die Nadeln in die Brusttasche seines Hemdes und behielt nur eine in der Hand. Er hantierte mit dem Feuerzeug und hielt die Nadel über die Flamme. Sie 118
wurde schwarz. »Nimm eine andere und halt sie höher«, schlug Sarah vor. »Okay.« Er wiederholte die Übung, diesmal mit mehr Erfolg. Er griff nach ihrem Handgelenk, und sie legte die andere Hand über das Gesicht. Vor dem Fernseher hielten Merec und Maude den Atem an. Lee setzte die Nadel unter ihrem Daumennagel an und zögerte wieder. »Gott vergib mir«, murmelte er und stieß sie hinein. Es folgte ... Stille. Sarah nahm die Hand vom Gesicht und starrte auf die Nadel, die tief unter ihrem Fingernagel steckte. Tränen standen in ihren Augen, ohne zu fallen. Ihre Lippen waren weiß und bewegten sich, als spreche sie, aber es war kein Geräusch zu hören. »Tut es nicht weh?« Lee hörte sich beinahe enttäuscht an. »Ich dachte, du würdest schreien.« Sarah holte würgend Atem und legte das Gesicht wieder in die Hand. Lee ließ die Nadel in ihrem Daumen stecken und nahm eine weitere aus der Tasche. Er legte ihr Handgelenk auf die Armlehne des Rollstuhls, röstete sorgfältig die nächste Nadelspitze und schob sie in ihren Zeigefinger. Das Blut tropfte gleichmäßig auf den Boden. Scheinbar gleichgültig arbeitete Lee methodisch weiter. Als er mit der linken Hand fertig war, legte er sie ihr in den Schoß und nahm sich die rechte vor. Beim Daumennagel stöhnte Sarah, leise und tief in der Kehle. Er hatte neun Finger hinter sich gebracht, als ihm die Nadeln ausgingen. Er wühlte in den Taschen, ohne etwas zu finden. »Das kann doch so schlimm nicht gewesen sein«, sagte er. Aus jedem von Sarahs Fingern ragte eine Nadel mit Ausnahme des kleinen Fingers der rechten Hand. Er trat zurück, um sein Werk zu studieren. Vor dem Fernseher biss Merec die Zähne zusammen. 119
Die Kamera war so angebracht, dass sie es nicht aufnehmen konnte, aber sie hörten, wie die Tür aufging und Charlies Stimme sagte: »Okay, du, das reicht.« Die Kamera schwenkte und fokussierte auf Sarahs jetzt unverdecktes Gesicht. Ihre Lippen waren eine schmale Linie, und die Brauen waren leicht zusammengezogen, als versuche sie sich an etwas zu erinnern, das ihrem Gedächtnis entglitten war. Maude sah zu Merec hinüber und stellte fest, dass er völlig auf den Bildschirm konzentriert war, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht - einen Ausdruck, den sie dort noch nie gesehen hatte. Sie verspürte einen Stich von etwas, das sie nicht näher untersuchen wollte. »Ich habe den Verdacht«, sagte sie, »die Frau hat ein paar Western zu viel gesehen. Die ist doch nicht real.« Sie warf einen Blick auf Merec. »Ich hab noch nie jemanden gesehen, der sich für die Kamera so viel Mühe gibt.« Er riss sich vom Bildschirm los. »Du vergisst, Maude - sie weiß gar nicht, dass eine Kamera da ist.« Nachdem er Sarahs Finger verbunden hatte, brachte Jeremy ihr ein Glas Wasser und zwei Tabletten. Sie nahm sie ohne zu fragen und schlief friedlich ein. Jeremy saß vor der Tür und beobachtete sie, als Merec zurückkam und fragte: »Hast du einen Moment Zeit?« Jeremy überließ Charlie die Überwachung des Bildschirms und folgte Merec hinaus in den Wald, wo sie unbelauscht reden konnten. Merec setzte sich auf einen umgefallenen Baum. Jeremy steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich an einen Ahorn. Merec fragte: »Du hast dir das alles angesehen, oder?« Jeremy nickte. »Was meinst du, wie viel Zeit haben wir hier noch?« Jeremy verzog das Gesicht. »Nicht viel.« »Aber darüber machen wir uns jetzt keine Gedanken. Ich rede mit Lee, finde raus, was er weiß. Ich möchte, dass du alles 120
zusammensuchst, was du für das zweite Video brauchst. Wenn du mit Packen fertig bist, geh mir einfach aus dem Weg, und ich erledige den Rest.«
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Antreten zum Appell Tresler und Stanley trafen sich im CIA-Hauptquartier mit Zackman. Er führte sie durch die Gänge zu einem Konferenzraum, in dem fünf weitere Männer warteten. »Für alle Fälle«, sagte Zackman. Martins erschien fünf Minuten später mit argwöhnischem Gesichtsausdruck. Er hatte sich kaum gesetzt, als Zackman sich ihn vornahm. »Stellen wir erst mal ein paar Dinge klar«, sagte Zackman, »weil ich nämlich nicht sicher bin, dass ich das richtig verstanden habe. Einer von Ihren Leuten hat einen Rekruten kontaktiert, der da reingegangen ist? Irgendeinen Typen, den ihr euch gekrallt habt, und ihr stattet den mit einem Sender aus, versprecht ihm einen Koffer voll Geld? Und mein Mann steckt da drin?« »Keiner hat mir gesagt, dass ihr einen Mann da drin habt«, sagte Martins. »Keiner hat mir gesagt, dass noch jemand an dem Fall ist. Der Boss hat schnell Informationen gewollt. Für so was muss man eben Risiken eingehen. Sie wissen das, Zackman. « »In Ordnung, jetzt beruhigen Sie sich«, unterbrach Tresler. »Konzentrieren wir uns auf die Fakten. Martins, wann erwarten Sie von Ihrem Kontaktmann zu hören?« »Wir hören gar nicht von ihm. Zu riskant. Wir haben ihn einfach mit einem Sender reingeschickt.« »Und wann rechnen Sie damit, seinen Aufenthaltsort ausmachen zu können?« »Wir haben ihn ausgemacht«, murmelte Martins. »Jesus Christus.« Zackman stand auf. »Ich warte bloß noch auf die Erlaubnis.« Zackman beugte sich über Martins. »Geben Sie mir die Koordinaten für dieses Scheißsignal.« 122
»Dazu bin ich nicht berechtigt.« Martins war rot geworden, aber er blieb fest. Zackman explodierte. »Wenn Sie mir die Scheißkoordinaten nicht geben, reiße ich Ihnen den Kopf ab!« »Es ist mein Fall, Zackman. Ich habe die Informationen beschafft, nicht Sie. Ihr Mann hat sich nicht mal gemeldet.« »Und jetzt tun Sie Ihr Möglichstes, um Ihre Chancen zu versauen.« Martins zuckte die Achseln. »Schön.« Zackman spuckte das Wort geradezu aus. »Sie können den Scheißruhm dafür einstecken. Geben Sie mir einfach die Koordinaten.« Martins starrte Zackman an. »Gut«, sagte er. »Es ist in der Nähe. Die genauen Koordinaten habe ich im Büro.« »Wagen und Gerät, raus auf die Straße. Jetzt«, schnappte Zackman, und seine Männer verschwanden aus dem Zimmer. Zackman, Stanley und Tresler begleiteten Martins zu seinem Büro. Er schloss eine Schreibtischschublade auf und zog eine Aktenmappe heraus. »Viel Spaß auch, wenn Sie meine Arbeit tun.« sagte er, als er sie ihnen gab. Tresler und Stanley saßen mit Zackman in dem Transporter, der keine halbe Stunde später das CIA-Hauptquartier verließ.
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Nadelkissen und Pistolen Fünf Männer waren nötig, um Lee an einen Stuhl zu fesseln, als er begriffen hatte, was ihm bevorstand. »Du solltest dich schämen.« Merec hatte seinen spöttischen Ton wiedergefunden. »So ein Theater, wenn es, in deinen eigenen Worten, doch so schlimm nicht gewesen sein kann.« Lee brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was Merec gesagt hatte. »Aber ihr habt doch nicht ...« Er verstummte, als ihm einfiel, was er sonst noch geflüstert hatte. Merec bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Er sagte: »Für dich ist keine Hilfe unterwegs, mein Freund«, und zog aus der Tasche eine Nadel und das goldene Feuerzeug, an dem noch Spritzer von Sarahs Blut klebten. Lees Handgelenk an die Armlehne zu binden reichte nicht aus. Merec musste seine Hand bis zu den Fingerspitzen mit Klebeband fixieren. »Ich schlage vor, du versuchst wenigstens stillzuhalten. Ich glaube nicht, dass ich so geschickt bin wie du, und am Ende richte ich eine Riesenschweinerei an.« Er hob das Feuerzeug und schob den Deckel mit dem Daumen zurück. Lee versuchte sich vorzubeugen, aber das Klebeband hielt ihn zurück. »Wenn ich euch jetzt alles erzähle, jetzt gleich?«, fragte er. Merec ließ die Nadel und das Feuerzeug sinken. »Fang an... Also...« Merec hob die Nadel gelassen bis auf Augenhöhe, schlug eine Flamme und begann die Nadelspitze zu rösten. »Die sind zu mir gekommen, Mann. Die sind zu mir gekommen.« »Wann war das?« »Na ja, nachdem ich die Leiche losgeworden bin, versteht ihr.« 124
Was zum Teufel hatte Maude da eigentlich gemacht?, fragte sich Merec, aber er sagte nur: »Mach weiter.« »Es war ein öliger kleiner Kerl. Ich hatte meine Freundin besucht, und als ich aus dem Haus gekommen bin, hat er mir richtiggehend aufgelauert. Ich wollte sowieso nach Hause, also hab ich ihn mitkommen lassen. Ich kann euch sagen, ihr solltet mit den Preisen raufgehen. Sogar die Regierung schlägt euch um Längen. Ich hätte verrückt sein müssen, das Geld auszuschlagen, das die mir angeboten haben. Und sie wollten nichts weiter, als dass ich den Sender reinschmuggle.« »Wo haben sie den Sender versteckt? In den Kleidern?« »Nein.« Lee grinste triumphierend. »Im Haar.« Sie hatten die Koordinaten fraglos längst ermittelt. Warum also hatten sie noch nichts unternommen? Es gab keine Zeit mehr zu verlieren, aber Merec entschied, dass er sich die Zeit für diese eine kleine Maßnahme noch nehmen würde. »Was glaubst du, wird jetzt passieren?«, fragte er Lee. »Jetzt?« Merec nahm die Nadel und hielt sie dicht über die Flamme, während er sich über den Gesichtsausdruck des Mannes amüsierte. Diesmal hatte er viel mehr als neun mitgebracht, und Lee brüllte, bis er ohnmächtig wurde. Aber Merec machte weiter, bis jeder einzelne Finger vor Nadeln starrte. Er wartete geduldig, bis Lee aufwachte. Das Erste, was Lee sah, war Merecs lächelndes Gesicht. Dann sah er entsetzt auf seine Finger hinunter und öffnete den Mund, um wieder zu brüllen. Aber bevor das Geräusch aus seiner Kehle drang, hob Merec die Pistole und schoss ihn gelassen ins Herz. Fritz kam ihm an der Tür entgegen. Als Merec sie hinter sich schloss, sagte Fritz.: »Der Dreckskerl hat's verdient, Sir.« Merec legte ihm eine Hand auf die Schulter und antwortete: »Tun wir das nicht alle, Fritz - tun wir das nicht alle?«, bevor er die Pistole hob und Fritz unters Kinn schoss. Merec hatte die Antwort als Frage formuliert, und hätte die Kugel nicht von 125
unten sein Gehirn durchschlagen und ihn augenblicklich getötet, hätte Fritz sie sicherlich bestätigt - hätte sicherlich zugestimmt: »Da haben Sie Recht, Sir, ich bin sicher, Sie haben Recht.« Eine Stunde später hatte Merec sich fast alle vorgenommen. Einer der Kämpfer - sie nannten ihn Peanut, weil sein rasierter Schädel die wuchernde, unregelmäßige Form einer Erdnuss hatte - wäre Merec beinahe zuvorgekommen. Er kam ins Zimmer, als Merec noch bei den blutigen Leichen von Jody und Henry stand. Peanut hatte die Waffe schon in der Rand, aber er zögerte. Merec zögerte nicht. Er zögerte nie. Dann waren nur noch Maude, Jeremy, Sarah und Charlie übrig. Merec fand Maude in ihrem Zimmer. Sie stand am Fenster, als er klopfte und eintrat. Ohne sich umzudrehen sagte sie: »Merec, es tut mir Leid.« »Mir auch.« Sie sah über die Schulter zurück, überrascht von der Entschuldigung. Sie bemerkte die Pistole in seiner Hand, und ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Nein, tut es nicht«, sagte sie.
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Kiefer Als Merec Maudes Zimmer verließ, die Pistole noch in der Hand, stieß er im Gang auf Charlie. »Sie sind alle tot«, sagte Charlie. Seine Stimme war hoch. Dann bemerkte er die Waffe und trat einen Schritt zurück. »Oh. Anscheinend weißt du das schon.« Er wich zurück bis zur Wand. »Ich kann mich um Sarah kümmern. Ich meine, wenn ihr, du und Jeremy, weg müsst, kann ich auf sie aufpassen.« »Und was, wenn ich gar nicht vorhabe, sie mitzunehmen?« Charlie sagte nichts. »Kannst du kochen?« Er schüttelte den Kopf. »Weißt du nicht mal, wann du lügen musst, Junge? Komm schon.« Merec bedeutete Charlie, ihm zu Sarahs Zimmer voranzugehen. Der Stuhl vor dem Bildschirm war leer, aber eben erschien Jeremy in der Tür. »Das Auto ist gepackt«, sagte er. »Gut.« Merec stieß den Jungen grob vorwärts. »Was hältst du von Charlie hier?« Jeremy musterte den Jungen kalt. »Er könnte nützlich sein.« »Na, wenn Jeremy dich behalten will ...« Merec schlug dem Jungen auf die Schulter, hob die Pistole und schoss ihn in den Nacken. Charlie brach tot zusammen; seine Stirn schlug mit einem schweren, dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Merec seufzte. »Er ist der Letzte«, sagte er zu Jeremy. »Gehen wir die Hämmer und das Kerosin holen.« Eine halbe Stunde später betrat Merec Sarahs Zelle. »Wir gehen jetzt.« Er streckte ihr die Hand hin. »Kommst du?« Die Frage war natürlich reine Höflichkeit. Aber sie verbiss sich den sarkastischen Kommentar; sie war zu sehr damit beschäftigt, über die Bedeutung der ausgestreckten Hand nachzudenken. Er wusste, dass sie gehen konnte. Er musste ihre unsicheren 127
Schritte beobachtet haben. Was hatten sie sonst noch gesehen? Sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen und durch die Zellentür führen. Unmittelbar davor stießen sie auf die erste Leiche. Sie sah Charlies schöne Augen, halb geschlossen wie im Halbschlaf. Dann bemerkte sie seinen Mund, der einmal voller schiefer, gelber Zähne gewesen war - der einzige Teil seines Gesichts, der angreifbar gewirkt hatte. Er stand in einem unnatürlichen Winkel offen; der Kiefer musste am Gelenk gebrochen sein. Im Inneren herrschte blutiges Chaos. Die verbliebenen Zähne waren scharfzackige Bruchstücke, die aus dem Zahnfleisch hervorragten, blutig und zerklüftet wie die Kiefer eines Hais. Diese Zerstörung seiner armseligen, bescheidenen Zähne erschütterte sie. Die Knie wurden ihr weich, und sie musste sich an Merecs Arm festklammern, um das Gleichgewicht zu bewahren. »Nimmt dich das mit?«, wollte er wissen. Sie umging die Frage, indem sie sie zurückgab. »Nimmt es dich denn nicht mit?« Er blieb stehen, um die Leiche zu studieren. »Ich weiß nicht«, sagte er, und seltsamerweise hörte sie Aufrichtigkeit in der Antwort. »Ich habe ... die Perspektive verloren, könnte man wohl sagen.« »Warum hast du das mit seinen Zähnen getan?«, fragte sie. »Damit sie die Leiche nicht identifizieren können.« »Oh.« Jeremy kam um die Ecke. »Wir gehen besser«, sagte er. Merec führte sie durch die Gänge, an anderen Leichen vorbei, alle mit blutigen, klaffenden Kiefern. Einer der Körper zuckte; der Kiefer bewegte sich und gab ein Stöhnen von sich. Sie blieben neben ihm stehen. Merec sah Sarah an und fragte: »Willst du dich der Sache annehmen?« Er griff in den Schulterholster unter seinem Arm und bot ihr eine Pistole an, einen seltsam vertrauten Ausdruck im Gesicht. Sie zögerte und versuchte den Ausdruck einzuordnen. Er rührte eine lang vergessene Saite an, und die Erkenntnis trieb langsam an die 128
Oberfläche - er flirtete mit ihr. Sie errötete und griff vorsichtig mit ihren bandagierten Fingern nach der Waffe, schob behutsam den Zeigefinger hinter den Abzug und zielte. Merec streckte den Arm aus und entsicherte die Pistole. Sarah hielt die Waffe vor sich hin und richtete sie auf das Herz des Mannes. Als sie abdrückte, war sie nicht auf den Rückstoß gefasst. Die Pistole bewegte sich ruckartig, und die Kugel durchschlug die Nase des Mannes. Vor ihren Augen verschwand die Nase in Knorpelfragmenten und Blut. »Das war unschön.« Merec streckte den Arm aus und nahm sich die Waffe zurück. »Deine Augen glänzen jetzt«, stellte er fest. »Was denkst du gerade?« »Ich frage mich«, sagte sie fest, »wie viele Kugeln in dieser Pistole waren.« Sie sagte nichts von dem seltsamen Schauer, den sie empfand. Sie war sich nicht sicher, ob es Abscheu war ... oder etwas anderes. Er lachte entzückt. »Ich bin so froh, dass ich beschlossen habe, dich noch eine Weile zu behalten.« Er bot ihr wieder den Arm. »Du bist reizend, wenn du lügst.« Als sie in die sanfte, schwüle Nacht hinaustraten, kam Jeremy mit zwei Kerosinkanistern die Treppe herauf. »Lass einen für mich an der Tür stehen«, sagte Merec. Er führte Sarah die Stufen hinunter zum Auto, und sie saß bei offener Tür auf der Kante des Sitzes. Merec ging zum Haus zurück und nahm den Kanister mit. Sarah hob den Kopf, um einen Blick auf die Sterne zu werfen, und holte tief Atem. Die Luft roch nach Kerosin und war erfüllt vom Zirpen der Grillen. Jeremy kam als Erster zurück. Er lehnte sich an das Auto, die offene Tür zwischen ihnen. Sarah hatte das Gefühl, dass Jeremy etwas sagen wollte, aber in diesem Augenblick erschien Merec, warf den leeren Kanister über das Geländer in die Büsche und kam rasch die Stufen herunter, zwei mit jedem Schritt. 129
»Jeremy, hast du unsere Cocktails?« Jeremy stieß sich vom Auto ab und holte zwei Gläser, in deren Öffnungen er Lumpen gestopft hatte. »Kannst du gut werfen?«, fragte Merec, zu Sarah gewandt. »Willst du die Honneurs machen?« Ernst nahm sie ein Glas von Jeremy entgegen und hielt es zwischen ihren bandagierten Händen, während Merec das Feuerzeug herausholte und an den Lumpen hielt. Er flammte sofort auf, und Sarah musste das Glas mit ausgestreckten Armen halten. So ging sie zum Haus zurück, das Glas wie eine Opfergabe vor sich. Die Flamme warf ein dramatisches Flackern auf ihr Gesicht. Sie ging bis zum Fuß der Treppe, nahm das Glas fest in eine Hand, beugte den Arm und warf. Es flog nicht sehr weit. Es landete eben jenseits der Schwelle und ging in Flammen auf, die wie Schlangen die Kerosinspuren entlang glitten. Sie hörte ihren Namen und drehte sich zu den beiden Männern um, deren Haut im Feuerschein golden wirkte. Merec kam auf sie zu, den zweiten Cocktail nachlässig in einer Hand. Er zog sie fort und ging um das Haus herum, um das Glas durch eins der Fenster zu werfen. An der Vorderseite waren die Flammen die Wand hinaufgeklettert und fraßen gierig am Dach. Einige tief hängende Zweige eines Baumes fingen Feuer und bekamen tieforange glühende Umrisse. Aus dem Augenwinkel sah Sarah Jeremy näher kommen, und sie spürte kühle Finger auf dem Arm. »Gehen wir«, sagte er, aber sie konnte ihn kaum verstehen, denn das Geräusch des Feuers war von einem Murmeln zu einem Donnern geworden. Jeremy bot ihr nicht den Arm. Stattdessen nahm er ihre Hand wie ein kleines Kind oder ein junger Liebhaber. Er hielt ihre Handfläche, ohne die bandagierten Finger zu berühren, und führte sie zurück zum Auto. Seine Berührung war so leicht und sanft wie ein Hauch. Die hintere Tür des Autos stand offen, 130
und sie stieg ein. Merec kam zu ihnen herübergetrabt. »Machen wir, dass wir fortkommen. In ein paar Minuten ist es hier heiß wie im Hades.« Jeremy blieb noch eine Sekunde lang stehen und starrte in die Flammen. Dann vergewisserte er sich, dass Sarah sicher im Auto war, und schloss die Tür. Sie sah zum Rückfenster hinaus, als sie über den Waldweg rumpelten. Sie stellte sich vor, dass die Flammen jetzt über die Leichen kriechen mussten wie ein gieriger Liebhaber und sie sauber leckten.
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Nordlicht Sie hatten ungefähr fünfzehn Meilen zurückgelegt, als Stanley sagte: »Sehen Sie mal, die Sonne kommt hoch.« Zackman sah durch die Scheibe nach oben, dann hinunter auf seine Uhr und wieder zurück zu dem Schimmer am Horizont. »Aber es ist erst drei«, sagte er mit schmalen Lippen. »Und das Licht da ist im Norden«, fügte Tresler hinzu. Sie fuhren weiter, während sie das über den Bäumen flackernde Licht beobachteten, das die Sterne verblassen ließ. Fünf Meilen von ihrem Ziel entfernt wurden sie von einem Polizeiwagen gestoppt, der quer über die Straße geparkt war. Zackman stieg aus, ging zu dem Auto hinüber und beugte sich zum Fenster hinunter, um mit dem schläfrigen jungen Beamten auf dem Fahrersitz zu reden. Er kam zum Transporter zurück. »Wir haben sie um eine Stunde verpasst«, sagte er. »Eine gottverdammte Stunde.« Tresler schlug ruhig vor, zurückzufahren. »Aber das Beweismaterial!«, protestierte einer von Zackmans Leuten. »Wird wahrscheinlich tagelang nicht zugänglich sein. Wenn ich mir das Feuer so ansehe.« Zackman setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Er sagte mit müder Stimme: »Umkehren, Bill.« Danach sprach er nicht mehr. Als der Transporter wieder am Hauptquartier eintraf, fragte Tresler Stanley, ob er ihn zu seinem Jeep zurückfahren solle. Sie waren zusammen in Treslers Auto zum CIA gefahren, um Zeit zu sparen. »Nein.« Stanley rieb sich die Augen. »Nein, das ist zu weit. Ich wohne viel näher. Ich hole das Auto später.« Er gab Tresler mit gedrückter Stimme die Adresse, und auf der Fahrt blieben beide schweigsam. 132
Tresler hielt vor Stanleys Haus, stellte den Motor aber nicht ab. Sie saßen im Auto, während der Motor sacht unter ihnen vibrierte. Stanley machte nicht gleich Anstalten auszusteigen. Durch die Windschutzscheibe sahen sie, wie Stanleys Frau an einem Fenster auftauchte. »Meine Frau«, sagte er. »Ah.« Tresler nickte. Nach einer langen Pause fragte er höflich: »Was macht sie?« »Sie ist Strafverteidigerin.« Tresler kicherte. »Was?«, fragte Stanley. »Was ist daran so komisch?« Tresler konnte nicht antworten - er lachte immer noch. Stanley schnaubte und begann dann ebenfalls zu lachen. »O Mann«, sagte Stanley eine Minute später, während er sich die Augen wischte. »Okay. Und was machen wir jetzt?« »Jetzt schlafen wir uns aus.« »Ich meine mit dem Fall. Wie finden wir sie?« »Wie fängt man denn einen Fuchs?« »Ist das ein Rätsel?«, fragte Stanley misstrauisch. Tresler schüttelte den Kopf. »Man studiert die Gewohnheiten des Tieres.« Kamerateams warteten an den Rändern des glimmenden Feuers. Irgendwann war das Haus zugänglich, und die ersten Informationen gelangten an die Öffentlichkeit. Zehn Männer und eine Frau wurden gefunden, aber es gab Schwierigkeiten mit der Identifizierung der Leichen. Es bestand kein Zweifel, dass das Feuer durch Brandstiftung entstanden war, und aus den Schusslöchern in den Schädeln vieler der Opfer schloss die Polizei, dass sie alle tot gewesen waren, bevor das Feuer ausbrach. Es gab sogar ein unbestätigtes - Gerücht, dass ein Undercoveragent in den Flammen umgekommen war. Die hitzigsten Diskussionen drehten sich selbstverständlich um die Identität der Frau. IBC strahlte das Band mit den Aufnahmen 133
aus dem Willowridge-Pflegeheim noch zweimal aus, und Ausschnitte davon liefen fast jeden Abend. Wie Merec vorausgesagt hatte, mittlerweile hatte jeder Mensch im Land von Sarah Shepherd gehört.
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Geheimakten und Frank Sinatra Merecs FBI-Akte enthielt fünf Fotos. Eins zeigte einen Mann, dessen scharfe Gesichtszüge aufeinander zuzulaufen schienen wie die Kanten eines Beils. Auf einem anderen sah man einen Mann mit schmaler Adlernase, dessen Nüstern sich blähten, als habe er etwas Unangenehmes gerochen. Das dritte Foto zeigte ein Gesicht mit wuchtigen Kinnbacken und harten Kieselaugen. Die Bilder waren so unterschiedlich, dass jemand zum Spaß ein Foto von Frank Sinatra dazugelegt hatte. In der unteren Ecke der staubigen Mappe fand sich noch ein winziger Schnappschuss - eine unscharfe Aufnahme von Kiefer und Ohr eines halb abgewandten Mannes in einer Menge. Es war ein Bild von Merec, das vor über einem Jahrzehnt in einer holländischen Kleinstadt geschossen worden war, und es war unmöglich, mehr darauf zu erkennen als die ungefähre Größe und Form des Ohrs. Auch in der CIA-Akte fanden sich Details, Aufzeichnungen in verblasster Tinte, verschiedene maschinengeschriebene Dokumente und vergilbte Zeitungsausschnitte in einem Dutzend verschiedener Sprachen. In ihnen wurde Merec für zwei Dutzend terroristische Attentate verantwortlich gemacht, von Präsidentenmorden bis hin zu Guerillakriegen in Afrika. Der eine Punkt, in dem alle Berichte übereinstimmten, war seine Reputation für Unberechenbarkeit. Merec gehörte weder einer bestimmten Organisation oder Ideologie an, noch konnte man ihn einfach als Söldner einordnen. Er ging kaum jemals zum höchsten Bieter und erledigte Aufträge gelegentlich sogar kostenlos, wenn sie ihm zusagten. Tresler hatte die Mappe durchsehen können, als er sich mit seinem Kontaktmann aus der CIA, Bob O'Berski, traf. Bob hatte in der hintersten Ecke 135
einer dunklen, höhlenartigen Bar auf ihn gewartet, in der Rauchschwaden dicht über ihren Köpfen hingen. Tresler legte einen Umschlag auf den zerschrammten Holztisch, und im Tausch schob Bob ihm die Mappe hinüber. »Weiß nicht, was du damit willst«, sagte er. »Ich hab dir ja gesagt, die Akte ist alt. Irgendwo haben sie eine neue, an die ich nicht rankomme.« »Das ist schon okay«, versicherte Tresler. Er nahm den Inhalt heraus und fand die Bilder, die Artikel und die gekritzelten Notizen. Er nahm sich ein paar Minuten Zeit, um das Material durchzusehen. Bob wartete, während der Bierspiegel in seinem Glas weiter und weiter absank. Als Tresler fertig war, war das Glas leer. Tresler ging zur Bar und bestellte noch zwei Bier. »Du kennst die Agency, die zahlen Hungerlöhne«, sagte Bob, während er sein Bier entgegennahm. »Von der Pension kann man nicht leben, und zum Sparen bleibt nichts übrig. Ich weiß nicht, wie die Typen mit Familien über die Runden kommen.« Er nahm einen langen Zug und wischte sich den Mund mit der Serviette, die als Bierdeckel diente. Dann stellte er das Glas auf der Holzplatte ab, wo es den unzähligen Ringen einen neuen, milchigweißen Ring hinzufügte. »Was willst du also wissen?« »Erzähl mir einfach alles«, sagte Tresler. »Aber das meiste kennst du wahrscheinlich schon« warnte Bob. »Du willst trotzdem die ganze Geschichte hören?« »Als hätte ich keine Ahnung.« »Okay.« Bob nahm einen Schluck von seinem zweiten Bier. »Also, die Sache war von Anfang an ein Fiasko. Ich weiß nicht, warum die Agency überhaupt die Finger drin hat, es ist eigentlich ein FBI-Fall, aber ich habe gehört, die Anweisung ist von ganz oben gekommen. Es heißt, der Boss persönlich hat mit diesem Typ eine Rechnung zu begleichen. Wie auch immer, wie du weißt, haben sie Zackman den Fall 136
gegeben. Er stellt Team Persi zusammen, und sie finden ihren Mann über eine Rekrutierungsaktion in der Glücksritterszene. Zackman schickt zwei Leute rein. Aber der eine taucht ein paar Wochen später in einem Sack wieder auf. Von dem anderen hören sie nichts, allerdings hatten sie den ganz abtauchen lassen - das heißt kein Verbindungsmann, kein Funkkontakt, nichts. Sie haben sich darauf verlassen, dass er es wieder nach draußen schafft und ihnen die Info mitbringt. Also haben sie sich auch nichts daraus gemacht, als es zwei, sogar drei Monate gedauert hat. Aber weiter oben wird irgendwer ungeduldig. Es ist Monate her, und es ist nichts dabei rausgekommen als ein toter Persi, was tun sie also? Sie setzen noch ein Team darauf an. Das ist okay, aber sie haben Zackman nichts davon gesagt. Und das andere Team beschließt, nicht noch einen Mann einzuschleusen. Wahrscheinlich weil ihnen das zu lange dauert. Also verlegen sie sich auf Überwachung, und ich weiß nicht, wie sie an die Info gekommen sind, aber sie finden irgendeinen Typ, der gerade angeworben wird. Sie kontaktieren ihn, bieten ihm eine blödsinnige Summe an, die sie nie gezahlt hätten, auch wenn der Trottel lebend wieder rausgekommen wäre, und fädeln ihm einen Sender ins Haar.« Er nahm den nächsten großen Schluck. »Der Idiot geht also rein, und sie kriegen raus, wo er steckt. Machen sie was draus? Nein, sie machen Mist. Ich hab nie rausgekriegt, warum. Jedenfalls kriegt Zackman es mit, rastet aus und zischt vom Hauptquartier aus los wie ein Verrückter.« Bob hielt inne, um das restliche Bier zu trinken, bevor er fortfuhr. »Den Feuerschein haben sie mindestens zehn Meilen weit gesehen. Der Wald hat gebrannt wie Zunder, es hatte seit Monaten nicht geregnet. Es hat im Radius von einer Viertelmeile alles abgefackelt, und wegen der Hitze sind sie einen Tag lang nicht mal in die Nähe gekommen.« Er ließ feierlich sein leeres Glas auf dem Tisch kreisen. »Der 137
Typ, hinter dem du her bist, ist ein verrückter Kerl.« Er sah Tresler ins Gesicht, als erwarte er eine Antwort. Tresler zuckte die Achseln. »Hör mal«, sagte Bob, während er sich nach vorn beugte, »ich kenne dich schon geraume Zeit, und ich hab gesehen, wie du arbeitest. Du fängst diese Typen, indem du rauskriegst, was bei denen abläuft. Deswegen hast du auch diese alte Akte gewollt, stimmt's?« Tresler nickte. »Aber genau deswegen hast du bei dem Mann keine Chance. Du hast gesehen, was in der Akte steht. Er gehört zu keiner Organisation. Er arbeitet nicht für irgendwelche Freiheitskämpfer, er versucht nicht, einen Kumpel aus dem Gefängnis zu kriegen oder die Welt auf irgendeine Krise aufmerksam zu machen. Bei so einem Profil sind die Typen meist Söldner. Aber der hier ist nicht hinter Geld her. Meine Theorie«, sagte er, »und wohlgemerkt, das ist nur meine Theorie - er ist ein Killer. Ganz einfach.« »Aber was ist mit den Spielchen, die er mit den Opfern spielt?« Bob wedelte mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Was weiß ich über solches Zeug? Ich bin doch kein Psychologe.« »Okay, und was ist also die offizielle Theorie?«, fragte Tresler. »Dass er in Wirklichkeit eben doch für irgendwen oder irgendwas arbeitet und sie's einfach so gut getarnt haben, dass wir's nicht sehen. Ich hab gehört, dass sie nicht mal in der richtigen Akte viel über ihn haben. Aber es heißt, er ist rübergekommen, weil er da, wo man ihn kennt, keine Leute mehr gefunden hat. Kein normaler Mensch lässt sich mit dem ein - die Sterblichkeitsrate seiner Leute liegt bei fast hundert Prozent. Damit hat's auch zu tun, dass kaum jemand weiß, wie er aussieht. Wenn sie nicht bei dem Auftrag umkommen, 138
erledigt er sie selbst.« »Was ist mit dieser Rose, die in dem Pflegeheim übriggeblieben ist?« Bob lachte. »Das ist der größte Witz von allen. Der einzige Mensch, der weiß, wie er aussieht, und ihn identifizieren könnte. Und sie macht den Mund nicht auf. Sie behauptet, der Anführer hätte gesagt, dass sie Sarah Shepherd gefährdet, wenn sie uns hilft. Kannst du dir das vorstellen? Als ob die jetzt in Sicherheit wäre. Aber ich kann dir sagen, diese Rose ist eine sture alte Dame.« »Und was ist mit Sarah Shepherd?«, fragte Tresler. Bob hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. »Autsch, Herrgottnochmal, ich hab's gewusst. Ich hab's gewusst, dass das kommen würde.« »Wo kommt die eigentlich her?« »Wenn wir das wüssten«, sagte Bob. »Wenn wir das bloß wüssten.«
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Reise nach Jerusalem Während der Fahrt musste Sarah sich auf den Rücksitz legen. Zuerst lag sie mit angezogenen Knien auf der Seite und starrte auf die Umrisse der Lehnen. Bald hatte sie genug von der Aussicht und drehte sich auf den Rücken. Nun konnte sie durch das Rückfenster in den Nachthimmel sehen. Sie amüsierte sich mit dem Gedanken, dass das Licht der Sterne Millionen hunderte Millionenjahre alt war. Sie wusste, dass ihr Leben verglichen mit den Sternen in kürzerer Zeit vorbeigehen würde, als ein Schatten braucht, um auf den Boden zu fallen. Aber die Autofahrt in dieser Nacht kam ihr endlos vor. Am nächsten Morgen rief Merec Karl aus einer Telefonzelle nur einen halben Block von Karls Wohnung entfernt an. Ohne seinen Namen zu sagen sagte Merec: »Geh sofort aus der Wohnung und zum nächsten Postamt, dort liegt ein Päckchen für dich.« Er legte auf und wartete. Pflichtgemäß erschien Karl in der Haustür und trat hinaus auf die Straße. Merec beobachtete die Gesichter der Passanten. Manche sahen kurz auf, als Karl vorbeiging, aber die meisten ignorierten ihn, und niemand schien ihm zu folgen. Eine Viertelstunde später passte Merec Karl auf dem Rückweg ab und schloss sich ihm an. Karl warf ihm einen Blick zu, zeigte aber keine Überraschung. »Wie kommst du voran? «, fragte Merec. »Fast fertig.« »Kann ich mit raufkommen?« Aber die eigentliche Frage lautete: »Ist es sicher?« Karl nickte. Sie stiegen drei Treppen hinauf. Karl hatte eine Wohnung besorgt, deren zwei Zimmer durch einen langen, schmalen Flur 140
verbunden waren. Das vordere Zimmer ging zur Straße. Das hintere war dunkel; ein winziges Fenster führte auf einen Lichtschacht hinaus. Merec maß beide Räume mit je drei langen Schritten aus. Er drehte die Matratze um, inspizierte die Unterseiten von Tisch und Stühlen und klopfte mit den Fingerknöcheln an die Wände. Eine Sekunde später klopfte jemand zurück. Merec fuhr zusammen und musterte die Stelle misstrauisch. Er klopfte wieder, und wieder kam ein Echo zurück. »Dünne Wände.«, sagte Karl. »Dann müssen wir leise reden.« »Du bleibst also?« »Wir bleiben«, verbesserte Merec. Auf dem Rücksitz des Autos hatte Sarah es fertig gebracht, sich in schwarze Hosen und ein T-Shirt zu zwängen. Merec hatte sie außerdem angewiesen, ihr Haar unter einem großen Strohhut zu verstecken, eine Schildpattsonnenbrille aufzusetzen, die ihr blaues Auge verbarg, und Lippenstift aufzutragen - ein dramatisches dunkles Weinrot, das von den verblassenden Blutergüssen ablenkte. Als Merec aus Karls Wohnung zurückkehrte, saß Sarah aufrecht und reckte den Hals, um einen Blick auf das Straßenschild zu werfen. Sie hatte während der ganzen Fahrt auf dem Rücksitz gelegen und sehr wenig von der Umgebung gesehen. Aber das Straßenschild bestätigte ihr, was sie bereits vermutet hatte - sie waren in New York City. Merec öffnete die Tür, bot ihr zum zweiten Mal den Arm und zog ihre Finger in seine Armbeuge. Sie brauchte Hilfe, um die drei Treppen hinaufzusteigen, und auf dem zweiten Treppenabsatz legte er ihr den Arm um die Taille. Als sie die Wohnungstür erreichten, lehnte sie sich fast mit ihrem gesamten Gewicht auf ihn. Bei den letzten Schritten berührten nur ihre Zehen noch den Boden. Er öffnete die Tür, brachte Sarah in das hintere Zimmer und 141
legte sie auf die Matratze. Sein Atem roch nach Pfefferminz und Rauch, und mit diesem Geruch in der Nase schlief sie ein. Mit Karls Hilfe räumte Jeremy seine Geräte aus dem Kofferraum in das vordere Zimmer der Wohnung. Merec stand am Fenster und sah zu. Jeremy prüfte den Tisch und stellte fest, dass er wackelte; also baute er die Geräte auf dem Fußboden auf. Er hatte nur die Grundausstattung mitgebracht: einen Fernseher, einen Videorekorder, Fernbedienungen, Kopfhörer und die Videokamera. Als alles angeschlossen und überprüft war, trat Jeremy zu Merec ans Fenster. »Wie lange brauchst du, um das zu bearbeiten?« Jeremy zuckte die Achseln. »Die Ausrüstung ist primitiv, aber die Aufnahmen sind gut.« »Na hoffentlich. Heute ist Samstag. Bis Montag muss das Band fertig sein.« »Dann wird es nicht optimal. Warum die Eile?« »Ich habe etwas vor mit diesem Band.« »Es wird wirkungsvoller, wenn es gut gemacht ist«, sagte Jeremy. »Nein, darauf kommt es nicht an. Sorg einfach dafür, dass es nicht langweilig ist.« Jeremy lachte. »Und«, fuhr Merec fort, »ich will, dass unsere Zuschauer ein paar Tränen um unsere kleine Heldin vergießen. Wir müssen ihr Publikum packen, bevor sie kalter Kaffee ist.« »Und das heißt bis Montag?«, fragte Jeremy. Weil die Geräte auf dem Boden standen, lag Jeremy bei der Arbeit auf dem Bauch, auf die Ellenbogen gestützt, mit Augen, in denen sich das Licht des Bildschirms spiegelte. Er war so versunken in seine Arbeit, dass er nicht auf das Hupen von Autos vor dem Fenster oder das Rufen der Leute auf der Straße achtete. Jeremy war wie geblendet von dem Bild Sarah 142
Shepherds - nicht von Sarah der Frau, sondern von Sarah der Heldin. Er konnte das Juwel in dem rohen, unpolierten Stein leuchten sehen. Und er polierte. Als Sarah aufwachte, streckte sie sich und stützte sich auf die Ellenbogen. Merec saß auf einem Stuhl in der Ecke, eine Zeitung auf dem Schoß und einen Ohrhörer im linken Ohr, von dem ein Kabel zu einem kleinen Radio führte. Sie sah, wie seine Augen den Zeilen folgten. Er hatte die Beine elegant übereinander geschlagen, ein Fuß wippte leicht. Sie beobachtete ihn. Einen Augenblick später fragte sie abrupt: »Hast du vor, den ganzen Tag da zu sitzen?« Er sah auf. »Ja«, antwortete er. »Warum?« Sie hatte aus keinem bestimmten Grund gefragt. Sie suchte nach einer Antwort. »Zufällig sitzt du auf dem einzigen Stuhl im Raum.« Er sah nach unten, als sei er überrascht. »Tut mir Leid. Willst du ihn?« »Ja.« antwortete sie, obwohl sie den Stuhl gar nicht wollte. Statt das Zimmer zu verlassen, setzte er sich einfach auf den Fußboden neben dem Stuhl. »Bitte sehr«, sagte er und las weiter. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von der Matratze hochzukämpfen, durchs Zimmer zu gehen und sich auf den Stuhl zu setzen. Jetzt saßen sie nebeneinander. »Eigentlich brauche ich den Stuhl gar nicht«, sagte sie. »Das ist schon in Ordnung. Ich fühle mich auf dem Boden ganz wohl.« »Ich meine, mir wäre es lieber, wenn du gehen würdest.« »Red jetzt nicht um den heißen Brei herum. Sag mir, was du wirklich empfindest«, sagte er, während er zu ihr hinaufgrinste. Den Bruchteil einer Sekunde lang erinnerte er sie an Jonathan ihren sanften, friedliebenden Jonathan, der die Augen schließen musste, wenn er eine Spinne mit dem Hausschuh erschlug. Erst 143
später erkannte sie, was die plötzliche Gedankenverbindung ausgelöst hatte. Aber jetzt lächelte sie nicht zurück, und Merecs neckendes Grinsen verblasste. »Ich kann nicht«, sagte er einfach - beinahe entschuldigend, wie es ihr schien. »Warum nicht?« Er öffnete den Mund, um zu antworten. Schloss ihn wieder. Runzelte die Stirn. Sie beobachtete die Verwandlung vom Mann zum Gefängniswärter. Sie wusste, was kommen würde. So schnell wie eine Klapperschlange schoss seine Hand vor und schlug sie quer über das Gesicht. Obwohl sie geahnt hatte, dass es geschehen würde, kam es so schnell, so hart dass ihr Kopf zur Seite schnappte und gegen die Wand schlug, und der Schmerz strömte zurück. Zugleich flammte auch der Schmerz in ihren Fingern, der zu einem dumpfen Pochen abgeebbt war, heiß und feurig wieder auf. Sie hob eine bandagierte Hand an ihre Wange und berührte sie vorsichtig. »Ich wusste gar nicht, dass dir an mir liegt.« »Oh, und wie, meine Liebe«, sagte er in seinem alten glatten Ton. »Und wie.« Sie hielt die Handfläche an die prickelnde Wange gepresst. Weit entfernt dröhnte flüsternd ein Motorrad. »Hast du Zigaretten?«, fragte sie. Er klopfte seine Taschen ab und fand ein Päckchen. Er gab es ihr zusammen mit dem schweren, goldenen Feuerzeug. Sie hantierte ungeschickt damit, aber es gelang ihr, mit den verbundenen Fingern eine Flamme zu erzeugen. Sie zündete eine Zigarette an, stieß den Atem aus und sah zu, wie der Rauch träge zur Decke hinaufstieg.
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Der Jagdhund Tresler hatte Michael O'Connells Namen in Merecs Akte gefunden. Es gab nur ein Detail, das O'Connell aus der langen Liste von Leuten hervorhob, von denen man annahm, dass sie Kontakt zu Merec gehabt hatten: Bei O'Connells Name stand eine Adresse. Er war in einem Hochsicherheitsgefängnis in England eingemauert, wo er zwei lebenslängliche Haftstrafen für den Mord an einem Politiker absaß. O'Connell, früher einmal unter seinem Spitznamen »der Jagdhund« bekannt, wurde verdächtigt, mit dutzenden, vielleicht hunderten von Morden über fünf Kontinente und ein Vierteljahrhundert hinweg zu tun zu haben. Tresler überließ Stanley den Fall und flog vom JFK-Flughafen nach Heathrow. Als er eintraf, wurde er direkt zum Gefängnis gefahren. Am Eingang führte man einen Detektor über ihn, der bei seinen Schlüsseln und Reißverschlüssen piepte. Die Pistole hatte er schon abgegeben. »Das ist ein richtiges Ereignis«, bemerkte der Wärter. »O'Connell hat keinen Besuch gehabt, seit ich hier bin.« »Wie lang ist das?«, fragte Tresler. Der Wärter überlegte. »Sieben Jahre jetzt, fast acht.« Der Häftling wurde auf die andere Seite des Fensters geführt, Hände und Fußknöchel zusammengekettet. Man fesselte seine Hände vorn, so dass er den Telefonhörer zwischen den Handflächen halten und ans Ohr bringen konnte. O'Connell war ein kleiner, krummbeiniger Mann mit einem Streifen von grauem Haar, der sich sauber um die Ohren legte, und einem gepflegten, kurzen Bart. Seine Augen waren hell, und er musterte Tresler erwartungsvoll. »Wie geht es Ihnen?«, fragte Tresler höflich. »Phantastisch«, antwortete O'Connell mit einem fröhlichen Lächeln. »Einfach phantastisch. Meinen Sie, Sie könnten uns 145
ein bisschen was davon erzählen, was in der Welt los ist? Vor sieben Monaten haben sie unsere Fernseher und Radios konfisziert, und wir haben total den Anschluss verloren.« Tresler wurde klar, dass O'Connell über die Häftlinge insgesamt sprach und nicht, wie er zuerst vermutet hatte, den Pluralis Majestatis verwendete. »Natürlich. Wollen Sie irgendwas Bestimmtes wissen?« Er wollte. Er wollte alles über die jüngsten Wahlen in Amerika wissen, über die Tresler Auskunft geben konnte, und über die in Italien, über die Tresler nicht Bescheid wusste. Er fragte nach Naturkatastrophen, von Menschen verursachten Katastrophen, Gefängnisausbrüchen und politischen Morden. Nachdem Tresler erwähnte, dass ein Würdenträger vor kurzem bei einem Bombenanschlag das Augenlicht verloren hatte, begann O'Connell mit einer hitzigen Diskussion über die Wichtigkeit der verschiedenen Sinne. Er sagte, er würde alles lieber verlieren als den Geruchssinn - Augenlicht, Gehör, alles. »Denken Sie an Helen Keller«, sagte er. »Stellen Sie sich vor, was sie alles riechen kann. Auf welchen Sinn würden Sie am wenigsten verzichten wollen?« »Das Sehen«, antwortete Tresler. O'Connell schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht. »Das denken so viele.« »Sie missbilligen das?« »Ich finde es phantasielos. Es ist, als wüsste man nur, was man sehen kann, als könnte man nur den Augen trauen. In Wirklichkeit kann man gerade denen nicht trauen. Stellen Sie sich vor, was Sie wissen könnten, wenn Ihnen nicht erlaubt wäre, sich auf das zu verlassen, was Sie sehen.« Er schloss kurz die Augen und sagte: »Jetzt muss ich gehen.« Und wirklich kam eine Sekunde später ein zweiter Wachmann herein, um ihn abzuholen. »Wir machen jetzt dicht«, sagte der Wachmann zu Tresler. O'Connell sagte: »Sie werden ja wahrscheinlich nicht zum 146
Schwatzen hergekommen sein. Sie können morgen wiederkommen«, und er nickte Tresler zu, bevor er hinausgeführt wurde. Aber am nächsten Tag musste Tresler drei Stunden warten, bevor der Wachmann O'Connell ins Besuchszimmer führte, und als er erschien, war eine Hälfte seines Gesichts purpurrot, und eins der hellen Augen war zugeschwollen. Ein mit sauberen schwarzen Stichen vernähter Schnitt schlängelte sich über die Stirn und um eine Augenbraue. »Tut mir Leid«, sagte er, während er den Hörer ungeschickt ans andere Ohr hielt. Sonst ging er mit keinem Wort auf sein fürchterliches Aussehen ein. »Bei Ihrem letzten Besuch haben Sie sich anständig verhalten. Was wollen Sie wissen?« »Merec«, sagte Tresler. O'Connell zeigte keine sichtbare Reaktion auf den Namen. »Ich möchte etwas über Merec wissen.« »Selbst wenn ich wirklich was wüsste, warum sollte ich es Ihnen erzählen?« »Ich habe gehört, Sie haben hier einen Videorekorder.« Tresler griff in die Tasche und zog Merecs Videokassette heraus. »Ich habe für Sie die Erlaubnis erwirkt, sich das hier anzusehen. Ich warte, bis Sie fertig sind.« Während er wartete, ging Tresler hinaus, um sich mit dem Wachmann zu unterhalten. Dabei fragte er beiläufig, was O'Connell zugestoßen war. Der Wachmann runzelte die Stirn. »Der Schnitt, die Blutergüsse ...«, sagte Tresler. »Ach, das? Das ist gar nichts. Dem kann keiner was.« »So sieht er aber nicht aus«, bemerkte Tresler. Der Wachmann lachte. »Den anderen haben wir in einem Sack rausgetragen.« Vierzig Minuten später kam O'Connell zurück. Er legte die Kassette auf den Tisch, hielt sich den Hörer ans Ohr und begann ohne Einleitung zu sprechen. »Ich habe mit Merec gearbeitet, als ich noch neu im Ge147
schäft war. Er war bloß ein paar Jahre älter als ich, aber er hatte schon einen Namen. Mein Vater hat Raubüberfälle gemacht, und da hab ich mir meine Sporen verdient, aber ich wollte mehr als das, und mein Vater war auch der Meinung. Er hat gesagt, man muss sich da auf zu viele Leute verlassen, und es gibt einfach zu viele Faktoren, die man nicht kontrollieren kann. In dem Job hängt der Erfolg mindestens so sehr am Glück wie am Geschick. Er wollte, dass ich was Solideres mache. Er war's auch, der mich mit Merec zusammengebracht hat, damit ich mal was anderes ausprobiere. Beim ersten Mal war's ein belgischer Geschäftsmann. Vorher hat Merec mir erzählt, wer er ist, was er treibt, wo er lebt, alles über seine Familie. Scheinbar unwichtige Details, zum Beispiel wie oft er verreist, wie viel er verdient, was er in seiner Freizeit macht. Ich saß da und hörte zu; schließlich sollte ich ja von ihm lernen. Aber als er fertig war, gab es da noch zwei Dinge, von denen ich meinte, ich sollte sie wissen: Wer den Typ umbringen lässt und warum. Also habe ich Merec gefragt ... und er hat mich ausgelacht. Er hat gesagt, so funktioniere das einfach nicht. Damals habe ich das nicht verstanden.« O'Connell machte eine Pause, das Telefon immer noch an der Wange. »Merec war sehr sorgfältig. Er hat so lange beobachtet, wie es nötig war. Später ist mir zu Ohren gekommen, dass er bei einem Auftrag - wohlgemerkt, es war einer, von dem jeder gesagt hat, es wäre unmöglich - fünf Jahre lang beobachtet hat. Ich hab's nie bezweifelt. Er hatte eine unendliche Geduld. Den belgischen Geschäftsmann brauchten wir bloß zwei Monate lang zu beobachten. Das ist das Übliche, obwohl's mir damals endlos vorgekommen ist. Als wir dann beschlossen haben, wir wären so weit, sind wir am Mittag hingegangen, als die Kinder weg waren und die Frau beim Einkaufen. Sie war am Nachmittag immer drei, vier Stunden zum Einkaufen weg. Sobald sie weg war, ist die Haushälterin schnurstracks zur 148
Hausbar gegangen. Sie hat dabei immer ein Auge aufgehalten nach dem Auto, aber sehr vorsichtig brauchte sie nicht zu sein, weil die Frau nicht immer eingekauft hat, wenn sie einkaufen war, falls Sie wissen, was ich meine. Das ist das Erstaunliche an diesem Job. Man lernt alles Mögliche über diese Menschen, über ihr Leben, ihre Täuschungsmanöver, die Manöver, mit denen sie getäuscht werden, ihre Fehlschläge, ihre Erfolge - die ganzen kleinen Einzelheiten. Man zapft ihr Telefon an und hört die Gespräche mit. Man verwanzt ihr Haus und hört zu, wie sie mit ihren Frauen schlafen und die Kinder ins Bett bringen. Dann bringt man sie um. Ich weiß nicht, ob man je aufhört, darüber zu staunen. Wir haben uns auf dem Dachboden versteckt und gewartet bis ungefähr vier Uhr morgens, haben in Plastikbecher gepinkelt und versucht, keine Muskelkrämpfe zu kriegen. Um vier sind wir ins Wohnzimmer runtergeschlichen, und Merec hat mir gesagt, wenn ich nicht genau das mache, was er sagt, bringt er mich um. Dann ist er im Flur verschwunden und eine Minute später mit den Kindern wiedergekommen. Sie waren sechs und neun, zwei Mädchen. Er hatte eins davon auf dem Arm und das andere an der Hand. Er hat sie beide aufs Sofa gesetzt und ist wieder verschwunden. Dann ist er mit der Haushälterin wiedergekommen. Er hatte ihr irgendwas in den Mund gestopft. Es war rot, mit Spitze. Ich glaube, es war ihre eigene Unterwäsche. Dann ist er mit dem Mann und der Frau zurückgekommen. Er hat es fertig gebracht, sie alle aufs Sofa zu quetschen. >Denkt dran<, hat Merec zu ihnen gesagt, >ein Wort, und ich -< Die Frau hatte diese furchtbare Angewohnheit, niemanden ausreden zu lassen. Wir hatten uns das die letzten zwei Monate angehört, und er hatte den Satz noch nicht beendet, da hatte sie schon den Mund offen. Sie hat gesagt >Aber-<. Das nächste Wort hat sie gar nicht mehr rausgekriegt. Bumm, einfach so, er 149
hat genau zwischen ihre Augen geschossen, aus zehn Schritt Entfernung. Das ist nicht so einfach, wie Sie vielleicht glauben. Aber das Beängstigende daran war, dass er nicht gezögert hat nicht eine Sekunde lang. Einfach >Aber -<, und sie war tot. Das ist nicht einfach Geschicklichkeit, dazu braucht man einen eisernen Willen. Seit ich ihn kenne, war Merec immer im Vorteil, weil er augenblicklich töten kann, ohne zu zögern. Jeder - und ich meine wirklich jeder - zögert mindestens eine Sekunde lang, bevor er tötet. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Ich weiß das von mir selbst. Ich habe versucht, dagegen anzugehen, aber ich mach's immer noch. Vielleicht ist es einfach die Verzögerung zwischen dem Willen, der Entscheidung zu töten, und der Ausführung. Und ich kann mir nur vorstellen, dass Merecs Finger beschließt zu töten, bevor sein Gehirn es tut. Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist. Töten - manchmal ist es einfach und manchmal ist es kompliziert, aber ich garantiere Ihnen, es ist für niemanden je zweimal das Gleiche. Ich habe Männer gekannt, die ein Jahrzehnt lang getötet haben, und dann frieren sie eines Tages ein und können nicht abdrücken. Man weiß nie, wann das passiert. Manchmal passiert es, wenn man jemanden zu töten versucht, den man kennt - manchmal ist es ein Fremder. Aber Töten, das ist eine Religion, keine Wissenschaft. Jedenfalls hat Merec die Frau erschossen. Eins von den Mädchen hat angefangen zu brüllen, und Merec hat sie auch umgebracht. Sie hat keinen Mucks gemacht, aber die Haushälterin hat's als Nächste erwischt. Sie ist zusammengesackt und hatte immer noch diese Unterhose im Mund. Zum Schluss hat er den Geschäftsmann erledigt. Dann war noch das eine kleine Mädchen übrig, das von neun Jahren. Ich wollte, dass er's zu Ende bringt, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich hatte Angst, den Mund aufzumachen. Das kleine Mädchen hat einfach dagesessen, mit zusam150
mengekniffenen Augen. Merec ist zu ihr rübergegangen und hat gesagt: >Jetzt sorg dafür, dass du was Interessantes mit deinem Leben machst, kleines Mädchen.< Und dann hat er sie da sitzen lassen, eingequetscht zwischen ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester. Ich habe ein paar Jahre mit ihm zusammengearbeitet, wir haben zehn oder fünfzehn Aufträge bearbeitet. Er war immer gleich. Unglaublich gewissenhaft, bevor wir den Auftrag ausgeführt haben, aber wenn wir einmal mittendrin waren, total unberechenbar. Warum ich so lange bei ihm geblieben bin? Sie hätten ihn kennen sollen damals. Er war wie Helen Keller. Er konnte Dinge riechen. Er konnte Angst, Verrat, Absichten riechen. An der Oberfläche war er immer ruhig, aber im Inneren hat er gebrannt. Ich weiß noch, am Schluss hat er mich gemocht, wenigstens so sehr, wie er irgendwen mögen konnte. Ich hab den Mund gehalten, kein Theater gemacht, zu ihm gehalten, ihm gehorcht und dabei eine Menge Geld verdient. Dann habe ich allein einen Job angeboten gekriegt, eine Ein-MannGeschichte. Wahrscheinlich hatte ich inzwischen einen Ruf als die verlässliche Hälfte von Merecs Firma. Beim nächsten Auftrag, den Merec angenommen hat, nachdem ich weg war, hat er sich gegen seine eigenen Leute gestellt, hat sie alle erschossen und die Zielperson am Leben gelassen. Danach hat er den Auftraggeber aufgespürt und stattdessen ihn erschossen. Dann ist er verschwunden, nach Afrika oder so. Irgendein verrückter, gottverlassener Ort. War auch gut so. Man konnte sich bei ihm auf nichts verlassen, außer dass es Ärger geben würde. Durchgeknallt, hieß es. Ein paar Wochen, nachdem er verschwunden war, bekam ich einen Brief. Es war ein Scheck über eine Million mit irgendeinem Namen als Unterschrift, den ich nicht kannte, aber ich hab gewusst, es ist von ihm. Dann war da noch ein kleiner Zettel, auf dem stand >Auch du könntest ein Künstler sein.< 151
Ich hab das Geld auf die Bank gebracht und mich aus dem Geschäft zurückgezogen. Ich dachte mir, wozu soll ich diesen Mist noch machen? Ich bin jung und reich, ich kann tun, was mir gefällt. Aber ich hab's nur acht Monate durchgehalten. Man braucht eine Aufgabe. Man braucht seine Arbeit. Ich bin ganz allmählich wieder ins Geschäft gekommen. Ich hab mir nicht die Jobs mit dem großen Geld ausgesucht, oder zumindest nicht unbedingt. Ich habe mir einen Namen gemacht. Ich habe das gemacht, von dem Merec gesagt hat, ich soll's nie tun: ich habe gefragt, warum. Dann habe ich rausgefunden, dass man durch Fragen nicht an die Antworten kommt. Und nie drankommen wird. Ich hab das Geld nicht gebraucht, also hab ich mir die Aufträge, die Fragen und die Antworten selbst gesucht. Mir ist klar geworden, dass Merec das die ganze Zeit getan hat. Eigene Fragen, eigene Antworten. Inzwischen weiß ich, was Merec mit dem Zettel gemeint hat.« Jetzt unterbrach Tresler. »Er ist also nicht verrückt?« O'Connell zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind hergekommen, um mich das zu fragen?« »Können Sie mir sagen, was ihn treibt?« »Gott allein weiß das. Ich ganz sicher nicht.« Er grinste. »Das macht es furchtbar schwer, ihn zu erwischen, stimmt's?« »Gibt es irgendeinen Punkt, wo er empfindlich ist? Irgendwas, das er persönlich nimmt?« O'Connell dachte einen Augenblick nach. »Es ist eine Weile her«, sagte er, »aber ich weiß noch, wie einmal ein Mann aus unserem Team ihm gestanden hat, dass er einem Therapeuten von unserem letzten Job erzählt hat. Merec hat ihn erschossen. Später hab ich ihn gefragt, ob er es getan hat, weil der Mann getratscht hatte. Aber Merec meinte, nein, das war's nicht. Auch wenn der Mann dem Psychotyp nicht von dem Auftrag erzählt hätte, hätte er ihn trotzdem erschossen. Er hat ihn einfach dafür umgebracht, dass er zugegeben hat, überhaupt zu einem gegangen zu sein. Merec war die ganze Idee von 152
Psychologie zuwider. Er hat gesagt, es ist lächerlich, jemanden versuchen zu lassen, einem sich selbst zu erklären. Lächerlich, es zu erwarten, aber noch schlimmer, wenn jemand anderes sich einbildet, er kann das.« »Tatsächlich«, sagte Tresler. Er saß gedankenverloren da. Dann sah er auf. »Die Versuchung ist ziemlich stark, was? Ihn verstehen zu wollen. Haben Sie es jemals versucht?« »Natürlich«, gab O'Connell zu. »Und?« O'Connell kratzte an der frischen Wunde auf seiner Stirn. Dann nahm er den Hörer wieder an den Mund. »Ich hab eine Menge Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, das können Sie sich wohl vorstellen. Und ich glaube«, sagte er langsam, »Merec ist blind in einer blinden Welt, aber alle anderen sitzen still, weil sie Angst haben, sich zu bewegen, und Merec geht herum. Und was passiert, wenn man herumgeht, ohne sehen zu können, wohin man geht?« Er beantwortete seine eigene Frage. »Man rennt gegen die Dinge. « »Sie glauben nicht, dass er ...« Tresler zögerte, als schämte er sich für die Frage. Er versuchte es noch einmal. »Sie glauben also nicht, dass er böse ist?« O'Connell lachte und entblößte seine kleinen weißen Zähne zu einem Blecken. »Sie fragen einen Mann, dem man unterstellt, mit eigener Hand 147 Menschen abgeschlachtet zu haben, nach seiner Meinung über das Böse?« »Ja.« Und Tresler fragte sich, ob er ihn falsch eingeschätzt hatte. »Wer sonst würde so viel darüber wissen wie Sie?« O'Connell wurde sofort ernst. »Ja, wer sonst«, sagte er nachdenklich. »Wir alle, die wir tun, was wir tun, wir gehen ein großes Risiko ein. Wir müssen daran glauben, dass es keine Ordnung in der Welt gibt, keine wirkliche Belohnung oder Strafe für unsere Taten. Aber wenn es so etwas gibt wie das Böse, und das ist ein großes Wenn, dann ist Merec der böseste Mensch, den ich kenne.« 153
Ein verdammt guter Grund Der Samstag verging, und Merec setzte keinen Fuß aus dem Zimmer - zumindest nicht, wenn Sarah wach war. Als sie ins Badezimmer ging, begleitete er sie und wartete draußen im Flur, wo er schon die nächste Zeitung las. Sie spürte seine Anwesenheit, während sie vor dem Spiegel stand und die verblassenden Blutergüsse in ihrem Gesicht studierte. Am Sonntag setzte Merec sich vor Sarah auf den Boden und entfernte die Verbände von ihren Fingern. Die Nägel waren alle abgefallen, die Fingerspitzen waren verschorft und empfindlich. Sie hielt die Hände zu Fäusten geballt, denn wenn die Finger die Matratze oder die Wände streiften, fühlten sie sich ungewohnt an. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging sie in dem kleinen Zimmer auf und ab und döste zwischendurch. Gelegentlich rauchte sie, und dann bekam die Luft etwas Dunstiges, Verschleiertes, das sie wirken ließ wie einen ihrer Träume. Oft sah sie auf und stellte fest, dass Merec sie beobachtete. Es machte sie nervös, obwohl sie alles getan hätte, um zu verhindern, dass er es merkte. Am Montag verschlechterte sich das Wetter. Eine Hitzewelle rollte über die Stadt, und die Luft im Hinterzimmer wurde dick. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Atmen und konnte die Luft durch ihre Kehle ziehen hören. Das Geräusch ertrug sie nicht. Sie versuchte es auszuschalten, indem sie sich aufs Bett legte. Es half nichts. Sie hörte es immer noch - Luft, die durch Leere strömt. Das Gefühl in ihrer Brust verstärkte sich, bis sie von der Matratze aufsprang und wieder auf und ab zu gehen begann. Schließlich sprach sie, um das Geräusch zu übertönen. »Wollt ihr immer noch dieses Band machen?«, fragte sie. Merec erstarrte. Woher wusste sie, womit Jeremy beschäftigt 154
war? Dann wurde ihm klar, dass sie von der Bitte um Lösegeld sprach. »Warum? Würdest du es jetzt tun?« Sie richtete sich etwas gerader auf. »Nein.« »Warum fängst du dann davon an?« Sie antwortete nicht. »Aha. Du wolltest einfach wissen, ob dir noch mehr von dieser Sorte«, er wedelte mit den Fingern in ihre Richtung, »bevorsteht.« »Ja.« »Das kommt ganz auf dich an.« »Ha.« Es war ein heftiger, gezwungener Laut. Sie lehnte sich vor, bis ihr Gesicht dicht an seinem war. »Du hast es nicht mal selbst gemacht. War es die Vorstellung, die dir Spaß gemacht hat? Hast du draußen gestanden und darauf gewartet, dass du Schreie hörst?« »Das glaubst du?« Sie sah Abscheu in seinem Gesicht. »Ich würde so etwas niemals tun, wenn es nicht nötig wäre.« »Ich habe gesehen, wie du sechs von meinen Freunden vor meinen Augen umgebracht hast, aus keinem Grund, den ich mir vorstellen könnte. Oder angeordnet hast, dass sie umgebracht werden. Das ist nur eine Frage der Semantik.« »Aber das war sauber, schnell«, sagte er. »Sie hatten keine Schmerzen.« »Nur damit ich dich richtig verstehe - du bringst Menschen ohne Grund um. Aber du versicherst mir, dass du einen verdammt guten Grund brauchst, um sie zu foltern?« »Ja. Was soll das eigentlich werden? Warum das Verhör?« Sie antwortete nicht. »Du bist wütend«, sagte er mit plötzlicher Verwunderung. »Ich bin nicht wütend.« »Was bist du dann?« »Ich bin ... « Sie zögerte. »Okay, schön. Du hast Recht. Ich bin wütend. Ich bin nicht einfach nur wütend, ich bin so 155
wütend, dass ich spucken könnte.« »Spuck ruhig, wenn du dich dann besser fühlst.« »Das kann ich nicht.« »Und warum nicht? Sie überlegte. »Ich bin eine Dame.« Er lachte kurz und schallend auf. Zur Abwechslung war kein Spott darin. »Das also bist du.«, sagte er, immer noch schmunzelnd. »Ich hatte mir schon so meine Gedanken gemacht.« Sie antwortete nicht, sondern sah geradeaus. »Hab doch nicht so viel Angst«, flüsterte er. Ihr Kopf fuhr herum. »Ich habe keine Angst vor dir«, sagte sie eisig. »Ich glaube, das hast du mir schon einmal gesagt. Ich habe es nicht vergessen. Das meinte ich auch nicht. Du solltest keine Angst vor dem haben, was du vielleicht über dich selbst herausfindest.« Ein Klopfen unterbrach sie, und Jeremy streckte den Kopf zur Tür herein. Er sah Merec an und sagte einfach: »Es ist fertig.«
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Medienprofis Nach seiner Rückkehr aus England rief Tresler Stanley an. Er wollte gerade vorschlagen, sich am Morgen im Büro zu treffen, als Stanley eifrig ein verspätetes gemeinsames Abendessen vorschlug. »Ich kenne ein tolles kleines Lokal bei mir in der Nähe. Soll ich Ihnen die Adresse geben?« Tresler unterdrückte einen Seufzer und zog einen Kugelschreiber heraus. Stanley wartete drinnen an der Tür, als Tresler erschien. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin am Verhungern«, sagte Stanley, während er zu einem Tisch voranging. Er winkte die Kellnerin herüber. »Ich weiß schon, was ich will. Ich nehme den Hackbraten. Und Sie, Tresler?« »Nur einen Kaffee«, sagte Tresler zu der Kellnerin. »Essen Sie eigentlich nie? Ich will nicht, dass mein Partner vor Hunger tot umfällt. Bringen Sie lieber zwei Portionen Hackbraten.« Er wandte sich wieder an Tresler. »Und wie ist Ihr Ausflug nach England verlaufen? Hier war die Hölle los. Wissen Sie, ich habe die letzten Tage auf der Brandstätte verbracht. Wir haben zehn Reifenabdrücke von dem Waldweg genommen, das müsste ein paar tolle Hinweise geben. Und wir haben Zeugenbeschreibungen von ein paar verdächtigen Autos, die an dem Abend gesehen wurden.« »Verdächtige Autos?« »Es könnte was dabei herauskommen«, protestierte Stanley. »Und wir haben ein paar Dinge gefunden - Waffen, elektronische Ausrüstung, Teile von etwas, das nach einer internen Überwachungsanlage aussieht.« »Wie sieht's mit den Leichen aus?« »Ja, wir haben die Leichen geborgen. Wir sind noch bei der Identifikation, aber es steht fest, dass die eine Frau, die wir 157
gefunden haben, unmöglich Sarah Shepherd sein kann. Mindestens zehn Zentimeter zu groß.« »Der Undercovermann?« »Sie sind sich noch nicht sicher, aber sie glauben, er war dabei. Verstehen Sie, es gibt nicht viele Spuren. Kein Haar, keine Kleidung«, er zögerte einen Augenblick, »keine Zähne.« »Sie würden also sagen, wir haben ...« Stanley trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Nichts«, gab er zu. »Wir haben nichts.« Die Kellnerin kam mit zwei Tellern Hackbraten zurück. Sie stellte einen vor Stanley und den anderen vor Tresler ab. Sie goss Tresler Kaffee ein. Er schob seinen Teller zur Seite und legte die Finger um den warmen Becher. Stanley starrte düster auf sein Essen hinunter. Dann schüttelte er sich und begann zu essen. Während der nächsten paar Minuten sah Tresler zu, wie Stanley mit verblüffender Geschwindigkeit alles verschlang, was auf dem Teller lag. »So«, sagte Stanley um einen großen Bissen Hackbraten herum, »haben Sie irgendwas gefunden?« »Ja. Ich habe rausgefunden, dass unser Mann Psychologen nicht mag.« »Oh.« Stanley hörte auf zu kauen, um nachzudenken. »Und?« Tresler erzählte Stanley von seinem Plan. »Aber«, unterbrach Stanley, kaum dass Tresler ausgeredet hatte, »das hat letztes Mal auch nicht funktioniert. Sie haben gesagt, er würde anrufen, nachdem wir die Hotlinenummer angegeben haben, und er hat's nicht getan.« »Vielleicht tut er's diesmal auch nicht. Aber ich würde sagen, wir können davon ausgehen, dass er die Berichterstattung über den Fall verfolgt, und es wäre gar nicht uncharakteristisch, wenn er anriefe.« »Aber das wäre doch nicht logisch.« »Stimmt«, gab Tresler zu. »Es ist ein Experiment. Aber an158
dere Anhaltspunkte haben wir nicht.« Stanley wusste keine Antwort darauf. Stattdessen zeigte er auf Treslers unberührten Teller und fragte: »Essen Sie das noch?« Tresler schüttelte den Kopf. »Dann, wenn es Ihnen nichts ausmacht -«, sagte Stanley und griff nach dem Teller. Merec beschloss, Karl das Band persönlich abgeben zu lassen. »IBC«, sagte er zu ihm. »Rezeption. Ich möchte, dass du es selbst hinbringst. Verstehst du?« »Ja.« »Bevor du gehst, sind die Pläne von der Kathedrale fertig?« Karl reichte ihm eine Papprolle, die an beiden Enden mit breiten Klebebandstreifen verschlossen war. Merec nahm sie und schlug nachdenklich damit in die Handfläche. »Und was ist mit der anderen kleinen Sache? « Karl gab Merec einen kleinen rechteckigen Gegenstand aus Plastik. Merec öffnete den Deckel, sah den weißen Knopf im Inneren und schloss das Kästchen wieder. »Reichweite?« »Fünfzig Meter«, sagte Karl. Er wühlte in der Hosentasche und holte einen Schlüssel heraus, den er Merec hinstreckte. »Wenn du zusehen willst«, sagte er. »Es ist auf dem Plan eingezeichnet.« Merec lachte. »Du bist unbezahlbar, Karl. Danke. Du weißt, wo wir uns nächste Woche treffen?« Karl nickte, und Merec warf ihm die Autoschlüssel zu. Tresler mobilisierte den Radiosender für Dienstagabend. Er sorgte dafür, dass eine Fangschaltung eingerichtet wurde, organisierte das Personal, das die Geräte bediente, und trieb einen Psychologen auf. Stanley sorgte dafür, dass Ankündigungen in den Zeitungen jeder größeren Stadt erschienen. 159
Der Sender versprach, das Ereignis im Voraus zu bewerben. Alles ging glatt, bis Stanley herausfand, dass Tresler das Interview selbst führen wollte. »Aber die andere Sendung hab doch ich gemacht«, protestierte Stanley. »Und Sie haben sie phantastisch gemacht«, stimmte Tresler zu. Er sagte nicht, dass Stanley genau das gewesen war, was er damals gebraucht hatte. »Ich habe Erfahrung mit so was«, sagte Stanley. Seine Stimme wurde lauter. »Ich auch«, antwortete Tresler. »Schön. Aber Sie sind doch als Berater hier.« »Und ich rate Ihnen, mich dieses Interview führen zu lassen.« »Und wenn nicht?« »Dann, fürchte ich, werde ich meine Mitarbeit an diesem Fall zurückziehen müssen.« »Was? Das können Sie nicht tun!« Tresler antwortete nicht, denn natürlich konnte er. »Also schön«, sagte Stanley schlecht gelaunt. »Sie können das Interview machen. Aber ich denke, Sie sollten Ihre Vorliebe für die Medien im Zaum halten, Tresler. Ich glaube, Sie lieben das Rampenlicht ein bisschen zu sehr.« Tresler nickte ernsthaft und sagte: »Ich werde das in Erwägung ziehen.« Am Dienstagabend begann Merecs Armbanduhr zu piepen. Von ihrer Matratze aus sah Sarah auf und beobachtete, wie Merec die Zeitung aufschlug und die Seiten durchblätterte. Er schien zu finden, was er gesucht hatte; er faltete die Zeitung zusammen und stellte den Sender an seinem Radio ein. Sarah seufzte und drehte sich auf die Seite, um durch das kleine, schmutzige Fenster in den Luftschacht hinauszusehen. Als sie ein paar Minuten später wieder zu Merec hinübersah, 160
merkte sie sofort, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Merec hatte sich aus seiner Lümmelhaltung aufgesetzt und wirkte gespannt und konzentriert. Sie sah sich im Zimmer um, konnte aber nicht sehen, was ihn beschäftigte. Tatsächlich wirkte sein Blick leer, als starrte er in die Luft. Dann wurde ihr klar, dass er über den kleinen Ohrhörer auf etwas lauschen musste. Plötzlich stand er auf, steckte das Radio in die Tasche und nahm die Zeitung unter den Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, bevor er den Raum verließ. Sie hörte, wie er den Flur entlangging, aber einen Augenblick später kam er zurück. »Wo ist Jeremy?« »Du hast ihn einkaufen geschickt«, sagte sie, überrascht, dass er es vergessen hatte. »Stimmt.« Merec sah auf die Uhr. »Ich kann nicht auf ihn warten.« Er drehte sich um und verschwand wieder im Flur. Sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde, und Merecs Stimme drang zu ihr herüber: »Ich gehe aus.« Sarah fuhr von der Matratze hoch. »Wohin?«, rief sie, aber sie hörte nur, wie die Tür hinter ihm zufiel. Sie stand verunsichert mitten im Zimmer. »Aber was ist mit mir?«, fragte sie in die leere Luft hinein.
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Auf Sendung Das Interview wurde um fünf ausgestrahlt. Der Moderator stellte die Teilnehmer vor und gab das Wort dann an Tresler. Sie hatten nur fünf Minuten, und so ging Tresler rasch die Qualifikationen des Psychiaters durch und begann mit dem Interview. »Dr. Meadows«, sagte Tresler, »erzählen Sie uns doch etwas darüber, wie Sie Informationen vom Schauplatz eines Verbrechens interpretieren.« Dr. Meadows war ein dünner, nervöser Mann mit einem Toupet und der Angewohnheit, zu schnell zu sprechen. Er stürzte sich eifrig in die Antwort. »Also, ich muss zugeben, es ist wahr, dass manche glauben, das, was ich im Rahmen einer Ermittlung mache, ist nur einen Schritt von Voodoo entfernt. Aber Sie müssen verstehen - was diese Leute nicht wissen und was ich jedes Mal erklären muss, ist, dass meine Methoden den Methoden in einem Gerichtsverfahren sehr ähnlich sind. Und niemand würde behaupten, dass unsere amerikanischen Gerichtshöfe ihre Urteile aufgrund von Voodoo fällen, oder?« Er wartete nicht auf eine Bestätigung, »Verstehen Sie, vor Gericht sieht man sich das Beweismaterial an und verlässt sich sehr stark auf das Präjudiz. Das bedeutet, man zieht die Urteile und Schlussfolgerungen aus früheren Fällen hinzu, die dem aktuellen ähneln. Völlig logisch, nicht wahr? Und das ist genau das, was ich mache. Ich untersuche die Details eines Falles und vergleiche ihn mit anderen Kriminalfällen, die ich in der Vergangenheit bearbeitet habe. Ich gebe meine Meinung ab, und die Behörden werden sie entweder berücksichtigen oder entscheiden, sie zu ignorieren. Und ich kann Ihnen sagen, dass meine Einschätzung in der Mehrzahl der Fälle für die Lösung des Falles außerordentlich hilfreich gewesen ist.« Tresler 162
unterbrach geschickt den Redeschwall. »Ich bin sicher, das wird auch hier der Fall sein.« Er lenkte von der eifrigen Selbstdarstellung des Arztes ab und fragte: »Wollen Sie uns etwas darüber erzählen, wie Sie diesen Fall einschätzen?« »Dieser Fall, ja natürlich«, sagte der Arzt, während er die Hände aneinander rieb, als wollte er sie wärmen. »Dieser Fall ist geradezu eine Fundgrube. Lassen Sie mich erklären. Verbrecher lassen so gut wie immer eine Art Spur zurück. Je bizarrer das Verbrechen, desto charakteristischer die Spur. Aber«, er hob einen Finger, »in der Regel sind sie nicht so zuvorkommend, das Ereignis zu dokumentieren.« »Sie meinen das Video«, suggerierte Tresler behutsam. »Was? O ja, natürlich. Das Video vermeidet sorgsam, der Polizei allzu viel an herkömmlichen Hinweisen für die Verfolgung zu geben, aber was der Urheber nicht durchschaut, zumindest auf der bewussten Ebene, ist, dass er uns eine psychologische Karte seines Denkens hinterlassen hat. Und damit komme ich ins Spiel.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Wenn ich bei einem Fall hinzugezogen werde, sehe ich mir zunächst die Motivation bei allen ins Auge springenden Aspekten an, und der auffälligste Aspekt in diesem Fall ist meiner Ansicht nach das Video. Also frage ich mich, warum lässt der Urheber etwas zurück, das seine Täterschaft dokumentiert und seinen Verfolgern hilft? Und die Antwort ist, dass der Verbrecher vermutlich glaubt, er demonstriere aller Welt seine Unverfrorenheit. Aber«, der Finger hob sich wieder, »hier sind noch andere psychologische Mechanismen im Spiel. Dieser Mann will sich von der psychotischen Klasse abheben, indem er die Rolle des Wissenschaftlers annimmt und vorgibt, in seinem so genannten >Experiment< die wahren Eigenschaften der menschlichen Natur zu ermitteln. Aber wie Sie feststellen können, hat er, anders als ein wirklicher Forscher, seine Schlussfolgerungen bereits formuliert und seinen Test so arrangiert, dass seine Ansichten 163
höchstwahrscheinlich nicht widerlegt werden. Er zwingt seine Opfer, an seiner eigenen moralischen Verworfenheit teilzuhaben.« Die Stimme des Arztes stieg um ein Dezibel. »Aber natürlich fühlt er sich davon nicht besser, es verschärft das Problem nur. Er behauptet, die Gesellschaft zu verachten, aber er hasst sie nicht wirklich. Er projiziert seine eigenen verwerflichen Neigungen auf die Gesellschaft, und seine Wut und Aggressivität sind im Grunde nur Resultat eines intensiven Selbsthasses.« Der Arzt schloss grandios und etwas außer Atem. »Sehr aufschlussreich«, sagte Tresler. »Und was ist Ihre Meinung über Sarah Shepherds Rolle bei alldem?« »Wer?« »Die Geisel«, erklärte Tresler. »Natürlich. Vielen Dank. Sie haben einen noch interessanteren Aspekt dieses Dramas angesprochen. Unerwartet stößt unser Krimineller auf jemanden, der sich nicht in den sorgfältig vorausgeplanten Ablauf der Dinge einfügt. Und als er sich mit dieser Anomalie konfrontiert sieht, ist er unfähig zu handeln. Sie stellt eine Widerlegung all seiner Vorstellungen dar, und ich kann Ihnen garantieren, dass er als Nächstes versuchen wird, alles zu zerstören, für das sie steht.« Der Sendeleiter gab Tresler ein Zeichen. »Vielen Dank für Ihre Interpretation der Ereignisse, Dr. Meadows«, sagte Tresler. Ach bin überzeugt, dass Ihre Analyse für diese Ermittlung von unschätzbarem Wert sein wird. Und unsere Zuhörer bitten wir, am Apparat zu bleiben, denn wir werden Anrufe von jedem Hörer entgegennehmen, der mit dem Doktor sprechen will.« Der Moderator übernahm von Tresler, der leise hinausging. Er schloss sich den Leuten im Hinterzimmer an, wo die Geräte aufgebaut waren. Er nahm sich einen Stuhl und setzte den Kopfhörer auf, der ihm erlaubte, einen Teil jedes eingehenden Anrufs mitzuhören. 164
Der erste Anrufer war eine wütende Frau, die über den Arzt herfiel, weil er über diesen Perverso redete, als wäre der ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen und nicht das Tier, als das er sich erwiesen hatte. Sie stellten sie durch, damit sie auf Sendung mit Dr. Meadows sprechen konnte. Der nächste Anrufer sagte, seiner Meinung nach sei der Allgemeinheit ein wertvoller Dienst erwiesen worden, weil die ermordeten Leute alt und für die Gesellschaft nutzlos gewesen waren. Auch er wurde durchgestellt. Die nächsten fünf Minuten hörte Tresler ohne Ergebnis zu, bis er eine ruhige Stimme mit der Spur eines Akzents sagen hörte: »Nein, ich rufe nicht an, um mit dem Arzt zu sprechen Ja ich weiß, dass die Nummer dafür da ist. Ich hatte gehofft ich könnte mit dem anderen Mann sprechen. Ja, dem Ermittler.« Tresler gab dem Mann am Schaltpult ein Zeichen, dass er den Anruf entgegennehmen würde. Dann bedeutete er seinem Team, den Anruf zurückzuverfolgen, und nahm ab. »Hallo?« »Darf ich fragen, mit wem ich spreche?« Diesmal gab es keinen Zweifel - Tresler erkannte die Stimme von der Videoaufnahme. Er gab seinen Leuten mit hochgerecktem Daumen ein Zeichen und sagte in den Hörer: »Hier spricht Agent Tresler.« »Hallo, Agent Tresler«, sagte Merec. »Ich habe so eine Ahnung, dass Sie ein intelligenter Mann sind. Wissen Sie, wer ich bin?« »Ja.« »Gut. Ich habe mir gerade Ihre kleine Sendung angehört, und ich dachte mir, wenn Sie sich so für mich interessieren, ist es nur höflich, wenn ich anrufe und ein wenig über Sie herausfinde. Erzählen Sie mir doch von sich.« »Was wollen Sie denn wissen?« »Nun, haben Sie eine Frau? Eine Familie?« »Nein. Keine Familie.« »Ah, Sie sind also wie ich. Ein Mann, der für seine Arbeit 165
lebt.« »Ja, so könnte man wohl sagen.« »Wie sind Sie dazu gekommen, als FBI-Mann zu arbeiten?« »Das ist merkwürdig«, sagte Tresler. »Das hat mich vor ein paar Tagen schon jemand gefragt. »Und was haben Sie ihm gesagt?« Tresler erinnerte sich an die Antwort, die er Stanley gegeben hatte. »Ich habe gesagt, ich wollte immer ein Verbrecher sein. Aber dazu hätte mehr gehört, und dies war das Zweitbeste.« Anders als Stanley lachte Merec nicht. Ein kurzes Schweigen folgte der Erklärung. Dann fragte Merec: »Was hätte denn dazugehört?« »Ein erhebliches Ego.« Jetzt lachte Merec herzlich. »Ja, ja, da haben Sie Recht.« »Warum haben Sie sich Ihre derzeitige Tätigkeit ausgesucht?«, fragte Tresler. »Eines Tages sage ich es Ihnen, aber nicht heute.« »In Ordnung.« Tresler sah zu seinem Team hinüber. Die Leute drängten sich um die Geräte. »Wie geht's denn mit dem Zurückverfolgen?«, fragte Merec. »Haben Sie den Bundesstaat schon raus?« Tresler lächelte. »Ich weiß nicht. Soll ich fragen?« »Machen Sie sich keine Mühe. Es ist nicht wichtig. Aber es ist interessant, dass Sie mit meinem Anruf gerechnet haben.« »Auf ihn gehofft«, sagte Tresler bescheiden. »Hat dieser Psychiater Ihnen gesagt, ich würde anrufen?« »Nein. Das war meine Idee.« »Auf jeden Fall war es mir ein Vergnügen, Agent Tresler.« »Sie können jederzeit wieder anrufen. Ich kann Ihnen meine Nummer geben.« »Es tut mir Leid, aber ich fürchte, ich muss Ihr großzügiges Angebot ablehnen. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Wenn der richtige Zeitpunkt kommt, werde ich dafür sorgen, dass Sie mich finden können. Wie klingt das?« 166
»Gut«, sagte Tresler. »Ich habe noch eine Frage, bevor ich gehe.« »Ja?« Es folgte eine Pause. »Glauben Sie wirklich an den ganzen Unsinn, den der Doktor da abgelassen hat?« Tresler lächelte. »In der Regel denke ich nicht in solchen Kategorien. Glaube oder Unglaube ist in meinem Job nicht hilfreich.« Die Gruppe von Leuten, die sich um die Geräte gedrängt hatte, brach plötzlich auseinander und verteilte sich auf die Telefone. Einer der Männer hob den Daumen in Treslers Richtung. »Aber Sie müssen doch sicherlich eine Meinung haben«, beharrte Merec. »Ich tue mein Möglichstes, um das zu vermeiden.« »Dann besitzen Sie die Weisheit Salomons, mein lieber Mann ... und Sie haben ganz entschieden den falschen Beruf.« Im Hörer klickte es, und die Leitung war tot. »Hallo?« Eine Sekunde später hörte Tresler das Amtszeichen. Er drehte sich in seinem Stuhl. »Was ist los, Stanley?« Stanley hob einen Finger und sprach weiter rasch ins Telefon. Als er aufgelegt hatte, gab er die Neuigkeiten an Tresler weiter. »Wir haben was. New York City, Stadtmitte. In der Umgebung haben wir jetzt drei verschiedene Reviere am Apparat, und sie sind am Mobilisieren.« »Wahrscheinlich werden wir ihn nicht kriegen«, sagte Tresler. »Aber wir wissen wenigstens, wo er ist.« »Aber er weiß auch, dass wir es wissen«, protestierte Stanley. »Das war auch seine Absicht.« »Warum sollte er so was tun?« »Der Doktor würde vielleicht sagen, es ist ein Hilferuf.« »Was würden Sie sagen?«, fragte Stanley. Tresler lächelte nur und schüttelte den Kopf. 167
Ein Mangel an Weihnachtskarten und eine Entscheidung Als Jeremy die Wohnungstür aufschloss, die Tüte mit den Einkäufen auf eine Hüfte gestützt, traf er auf Sarah, die im Flur auf und ab ging. Er fuhr zusammen und ließ beinahe die Tüte fallen. »Wo warst du so lang?«, wollte sie wissen. Er schloss rasch die Tür. Statt die Frage zu beantworten, fragte er: »Was zum Teufel machst du hier draußen?« »Auf dich warten.« »Wo ist Merec?« Er sah den Flur entlang, als erwartete er, Merec werde bei der Frage auftauchen. Sarah warf die Hände hoch. »Weggegangen.« »Weggegangen?« »Fort.« »Wohin ist er gegangen?« »Keine Ahnung. Mir hat er's nicht gesagt.« »Aber ...«, Jeremy verstummte verwirrt. »Okay. Erzähl mir einfach, was passiert ist.« »Wir haben im Hinterzimmer gesessen. Dann ist er aufgestanden und gegangen.« »Hat er irgendwas gesagt?« »Er hat gesagt >Ich gehe aus<.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« »Und du hast keine Ahnung, warum er gegangen ist?« »Es hat so ausgesehen, als ob er irgendwas im Radio gehört hat«, sagte sie. In diesem Augenblick ging die Wohnungstür auf. Jeremy 168
und Sarah fuhren herum und sahen Merec. »Wo warst du?«, wollte Sarah wissen. »Was ist los?«, fragte Jeremy gleichzeitig. Merec ging an ihnen vorbei und den Flur entlang zum vorderen Zimmer. »Keine Zeit für Erklärungen«, sagte er, bevor er durch die Tür verschwand. Er kam mit der Pappröhre, die Karl ihm gegeben hatte, und einem Matchsack zurück. »Wir gehen.« »Was, jetzt?«, fragte Sarah. »Ja, jetzt.« Er wandte sich an Jeremy. »Nimm nur wirklich wichtige Sachen mit.« Jeremy hörte den drängenden Unterton, nickte und ging an Merec vorbei ins Vorderzimmer. »Wir treffen uns draußen«, sagte Merec. Er öffnete die Tasche und nahm den Hut und die Sonnenbrille heraus, die Sarah zuvor getragen hatte. »Sagst du mir jetzt, was ...« Er brachte sie zum Schweigen, drückte ihr die Sonnenbrille in die Hand und stülpte ihr den Hut auf den Kopf. Sie griff instinktiv nach oben, um ihn zurechtzurücken. Dann zog Merec einen Lippenstift aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. Als sie nach dem Lippenstift griff, zitterte ihr die Hand. Also nahm Merec den Deckel ab, drehte das Unterteil und trug ihn für sie auf. Er nahm einen zweiten Hut aus der Tasche, zog ihn sich tief über die Augen und bedeutete ihr, sie sollte die Sonnenbrille aufsetzen. Dann öffnete er die Wohnungstür. »Fertig?« Sie nickte, und er führte sie die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Als sie ins Sonnenlicht traten, blieb sie stehen und blinzelte heftig hinter den getönten Gläsern. Merecs Hand legte sich wie ein eisernes Band um ihren Oberarm und zog sie unaufhaltsam weiter. Dann sah sie sie - eine Reihe von Polizeiautos mit lautlos blinkenden Lichtern, die hintereinander die Straße entlang fuhren. Zu ihrer Überraschung blieb Merec stehen, als sie 169
vorbeifuhren. Das letzte Auto der Kolonne hielt einen halben Block entfernt. Sarah sah zu, angespannt vor Furcht. »Du brauchst bloß zu rufen«, sagte Merec zu ihr. Sie drehte sich zu ihm um. Sein Griff lockerte sich, und jetzt ließ er ihren Arm los. »Was?«, fragte sie. »Ruf nach ihnen. Geh einfach zu ihnen rüber. Nimm den Hut und die Sonnenbrille ab, damit sie dich erkennen.« »Warum sollten sie mich erkennen?« Merec hatte vergessen, dass sie nichts von den Videos wusste. Aber sie wartete nicht auf seine Antwort. »Du willst, dass ich au ihnen rübergehe, damit du mich erschießen kannst.« »Du brauchst nicht fortzugehen, damit ich dich erschießen kann«, erinnerte er sie. »Außerdem habe ich meine Pistole nicht dabei. Ich hab sie in der Wohnung gelassen.« »Hast du nicht«, sagte sie, aber ihre Stimme klang unsicher. Sie sah ihn an, dann sah sie zu der Gruppe von Polizisten hinüber, die auf dem Gehweg beisammen standen. Er folgte ihrem Blick. »Idioten. Inzwischen hätte ich sie abschießen können wie Büchsen auf einer Mauer.« Sie griff nach oben und nahm die Sonnenbrille ab. Die Haut rings um das linke Auge war von dem letzten Bluterguss noch immer gelblich verfärbt. »Was ist eigentlich los?« Er zuckte die Achseln. »Ich will und brauche einfach keine Geisel mehr.« »Und was ist mit dem Lösegeld?« »Ich brauche kein Geld. Ich habe schon jetzt mehr Geld, als ich je ausgeben könnte.« Eine Frau näherte sich und warf Sarah im Vorbeigehen einen Blick zu. Sie ging noch ein paar Schritte weiter, blieb abrupt stehen und drehte sich um, um sie anzustarren. Sarah konnte nicht anders, als es zu bemerken, und sie erwiderte den Blick. Merec senkte den Kopf, aber er hätte sich keine Sorgen zu 170
machen brauchen, denn die Augen der Frau blieben auf Sarahs Gesicht geheftet. Als die Frau nicht wegsah, schnappte Sarah: »Wo bleiben Ihre Manieren? Hat Ihre Mutter Ihnen nie beigebracht, dass es unhöflich ist, Leute anzustarren?« Merec keuchte leise, als er versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Die Frau musste angenommen haben, das Benehmen sei hinreichend untypisch für eine Geisel, denn sie runzelte die Stirn und ging schnell weiter; sie warf nur einen kurzen Blick auf die in der Nähe ihrer Autos beisammen stehenden Polizisten. Sarah setzte die Sonnenbrille wieder auf, ohne dass Merec es ihr sagen musste, und fragte: »Hast du je eine Geisel gehabt, die freiwillig bei dir bleibt?« »Ich habe gehört, dass es vorkommt, aber nein, mir persönlich ist das noch nie passiert.« »Na ja, wahrscheinlich hast du noch nie eine alte Frau ohne Familie als Geisel gehabt.« »Nein, das kann ich nicht behaupten.« »Das erklärt es dann wohl.« Er sah sie fest an. »Du wirst deinen Beitrag leisten müssen.« »Meinst du damit, ich werde Menschen umbringen müssen?«, fragte sie sachlich. »Glaubst du, du könntest das? Sie schob die Lippen vor, sagte aber nichts. »Vielleicht ist das nicht nötig«, fuhr Merec fort. »Jeremy macht seine Videos. Vielleicht finden wir auch was für dich.« In diesem Moment kam Jeremy aus der Haustür geschlendert, die Tasche über der Schulter. Er ging an den Polizisten vorbei, dann sah er über die Schulter und entdeckte Merec und Sarah. Er nickte ihnen zu und ging weiter in die entgegengesetzte Richtung. Da löste sich die Gruppe der zusammenstehenden Polizisten auf, und zwei von ihnen kamen auf Merec und Sarah zu. Ohne ein Wort drehte Merec sich um und begann sich zu entfernen. 171
Diesmal bot er Sarah nicht den Arm. Er sah sich nicht einmal um. Sarah wusste, es ging gegen jede Vernunft, diesem Mann zu folgen. Sie wusste, dass es wahrscheinlich, fast sicher ihren Tod bedeuten würde. Aber jetzt stellte sie fest, dass der Tod nicht das war, was sie am meisten fürchtete. Sie fürchtete ihr Leben in Willowridge, das Gähnen, das ihr den Mund so weit geöffnet hatte, dass ihre Kiefer knackten, das Flackern des Fernsehers, die alten, wässrigen Augen, die Leere. In dieser Welt würde sie vollkommen allein sein. Sie hatte keine einzige Freundin, mit der sie jährlich Weihnachtskarten austauschte. Wenn der Tod wirklich die Leere bedeutete, dann war er wenigstens eine unbewusste Leere. Der Mann, der vor ihr die Straße entlang ging, war eine Zuflucht. Er würde ihr diesseits des Grabes eine Existenz geben. Wenn er sie mit diesen scharfen, blauen Augen beobachtete, blühte sie auf. Und wenn er sie nicht mehr beobachten wollte, würde er sie nicht unbeachtet und allein in die Welt zurückgleiten lassen. Nein. Er würde sie rasch in eine andere befördern. Sie lief ihm nach, und seine Schritte wurden langsamer. Das allein ließ ihr die Tränen in die Augen treten.
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Hufeisen und Handgranaten Unmittelbar bevor er das Flugzeug nach New York bestieg, erhielt Tresler einen Anruf und die Mitteilung, dass die Suchaktion nichts erbracht hatte. Tresler gab die Information an Stanley weiter. »Ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt die Mühe gemacht haben«, brach es aus Stanley heraus. »Jetzt verschwindet er einfach anderswohin, und wir sind keinen Schritt weiter.« »Das glaube ich nicht«, sagte Tresler. »Warum zum Teufel nicht? Ich würde es tun, wenn ich er wäre.« »Wenn man davon ausgeht, dass er einfach entkommen will. Aber wenn das der Fall wäre, hätte er nicht angerufen. Nein, er hat etwas anderes vor. Er plant ... irgendwas.« »Was?« »Ich weiß nicht. Aber ich bin ziemlich sicher, er wird Mittel und Wege finden, es uns wissen zu lassen.« »Und warum um alles in der Welt würde er das tun?« »Merken Sie das nicht? Unser Mann hat gern Publikum.« »Publikum«, schnaubte Stanley. »Na, das hat er sich schon verschafft. Was können wir bieten, das ihm eine Million Fernsehzuschauer nicht bieten können?« »Jemanden, der seine Fähigkeiten zu würdigen weiß.« »Fähigkeiten! Der Mann bringt Leute um. « »Aber Sie müssen zugeben«, sagte Tresler, »er ist sehr gut bei dem, was er tut.« Tresler war gerade auf dem JFK-Flughafen gelandet, als der nächste Anruf kam. Diesmal war es Irene, die nach wie vor die Hotline im Hauptquartier betreute. »Ich versuche Sie schon fast eine Stunde lang zu erreichen«, sagte sie. »Wir haben einen Anruf von einer Frau in New York 173
gekriegt, die behauptet, Sarah Shepherd auf der Straße gesehen zu haben. Hört sich an wie Blödsinn, oder? Aber warten Sie ab, bis Sie hören, wo die Frau sie angeblich gesehen hat. Sie war nur einen Block von der Telefonzelle entfernt, von der aus Merec Sie angerufen hat.« »Hmm«, sagte Tresler. »Sie hat gesagt, sie wäre im ersten Moment nicht sicher gewesen, ob es Sarah war - es ist ihr so unwahrscheinlich vorgekommen. Aber zu Hause hat sie eine alte Zeitung mit der Kidnappinggeschichte rausgesucht und das Bild angesehen. Danach hatte sie keinen Zweifel mehr. Sie hat erwähnt, dass keine zehn Meter weiter eine Gruppe Polizisten gestanden hat, und das war damals der zweite Umstand, der sie davon überzeugt hat, dass es nicht die richtige Frau sein konnte.« »Und der erste?«, fragte Tresler, weil er wusste, dass Irene auf die Frage wartete. »Als sie Sarah gesehen hat, ist sie stehen geblieben und wollte sie ansprechen, aber bevor sie irgendwas sagen konnte, hat Sarah sie gefragt: >Wo bleiben Ihre Manieren? Hat Ihre Mutter Ihnen nie beigebracht, dass es unhöflich ist, Leute anzustarren?< Was halten Sie davon?«, fragte Irene. Aber bevor er etwas sagen konnte, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Wissen Sie, als ich das gehört habe, dachte ich das Gleiche wie die Anruferin - das konnte unmöglich Sarah sein. Aber als ich darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass diese Kleinigkeit die wichtigste Information in der ganzen Geschichte war. Das ist etwas, das kein Mensch jemals erfinden würde, aber es passt.« »Mhm«, sagte Tresler zustimmend. »Hat sie bei Sarah Shepherd noch jemand anderen gesehen?« »Sie sagt, sie glaubt sich zu erinnern, dass auf der Seite noch jemand gestanden hat, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, Sarah anzustarren, und sie glaubt, dass er einen Hut aufhatte.« »Sehr wahrscheinlich.« 174
»Es führt nirgendwohin, aber ich dachte, Sie würden es vielleicht wissen wollen.« »Ja, vielen Dank, Irene.« Tresler beendete das Gespräch und gab auch diese Neuigkeit an Stanley weiter. Stanley stöhnte. »Zehn Meter. Herrgott, sie waren so nah dran.« »Sie kennen doch den Spruch.« »Welchen?« »Nah dran zählt bloß, wenn man entweder Hufeisen oder Handgranaten wirft«, sagte Tresler unbewegt. Gegen seinen Willen musste Stanley lachen. »Nein«, gab er zu, »den kannte ich noch nicht.«
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Gefährlich gut Als Merec und Sarah um die Ecke kamen, wartete Jeremy in einem Taxi. Sie stiegen zu ihm ein. »Zum Plaza«, sagte Merec großspurig. Sarah lehnte sich ans Fenster und sah zu, wie die Stadt vorbeischoss. Die Luft kam ihr hell vor. Sie fuhren auf einer Einbahnstraße, und sie hatte den Eindruck, als hastete alle Welt in dieselbe Richtung, ans selbe Ziel. Und sie vermutete, dass es genau so war. Als sie an einer Ampel Halt machten, entdeckte Sarah einen Straßenverkäufer mit einem Tisch voller Haarspangen, die aussahen wie Folterinstrumente, »I love New York«T-Shirts, Baseballkappen und Reihen um Reihen leuchtender, glänzender Sonnenbrillen. Sie beugte sich vor und berührte den Fahrer an der Schulter. »Halten Sie hier einen Moment.« Sie wandte sich an Merec. »Kann ich ein bisschen Geld haben?« Er überlegte, dann nahm er die Brieftasche heraus und gab ihr einen Zwanzigdollarschein. Sie stieg aus dem Taxi und zog sich den Hut tiefer ins Gesicht. Sie sah sich die Reihen von Sonnenbrillen an und wählte eine aus. Sie sprach kurz mit dem Mann, der neben dem Tisch in einem Liegestuhl lag, und streckte ihm den Schein hin. Er zog ein Bündel Scheine aus der vorderen Tasche seiner engen Jeans, gab ihr ein paar davon, und sie stieg wieder zu Merec ins Taxi. Sie senkte den Kopf und kam mit der neuen Sonnenbrille im Gesicht wieder hoch. Merec kicherte. Jeremys Mundwinkel zuckten. Es war eine Brille mit breiten Bügeln von der Sorte, die das Auge vollständig vor Licht schützen, und sie bedeckte das halbe Gesicht. Als das Taxi hielt, öffnete ihr ein uniformierter Mann die Tür. Sie streckte die Hand aus, um sich aus dem Auto helfen zu lassen, und trat zur Seite, damit Merec aussteigen konnte. Sie 176
hielt die Augen hinter der Brille geschlossen, um die Rolle besser spielen zu können, und griff elegant, aber blind nach Merecs Arm. »Hübsches Detail«, flüsterte er ihr zu. »Keine Taschen«, rief Merec dem Portier zu. Während er sie führte, beugte er sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich will, dass du so schnell wie möglich aus dem Foyer verschwindest und ins Zimmer raufgehst.« Sie nickte und ließ sich von Merec führen. »Stufen«, sagte er deutlich. Dann: »Die Letzte«, und sie brachte die Strecke bis zur Rezeption hinter sich. Sie stolperte ein paar Mal, und jedes Mal reckte sich ihr Kinn ein paar Grade höher. »Kann ich Ihnen helfen, Madame?«, fragte der Angestellte. »Wir würden gern eine Suite buchen«, unterbrach Merec. »Nebeneinander liegende Zimmer für mich, meine Frau und unseren Neffen.« »Wie lange wollen Sie bleiben?« »Eine Woche«, sagte er. »Vielleicht auch zwei.« »Name und Anschrift?« »Ich bin furchtbar müde«, unterbrach Sarah. »Liebling, ich bin sicher, du kannst das allein erledigen.« Sie tätschelte Merecs Arm, der immer noch in ihren geschoben war. »Ich hätte gern den Schlüssel, bitte. Es war ein anstrengender Flug.« Der Mann hinter der Theke zögerte und sagte: »Ich bin nicht sicher, ob das Zimmer gemacht ist, und eigentlich ...« »Geben Sie mir den verdammten Schlüssel, bevor ich umkippe«, schnappte Sarah. Der Angestellte gab Merec den Schlüssel, und er gab ihn Jeremy. »Bring sie rauf«, sagte er. Jeremy nahm ihren anderen Arm und führte sie zu den Aufzügen. »Kann ich Ihnen das Gepäck raufbringen lassen?«, rief der Angestellte. Sie blieb stehen und drehte sich um. »O ja, bitte tun Sie's. Es 177
ist in Nashville oder sonst einem gottverlassenen Ort.« Sie tastete nach Jeremys Arm. Merec sagte: »Flugplatzchaos. Sie kennen das ja.« »O ja«, stimmte der Angestellte zu. Merec lehnte sich über die Theke. »Und könnten Sie uns einen besonderen Gefallen tun und den Fernseher aus unserem Zimmer entfernen lassen? Nicht aus dem meines Neffen, nur aus unserem. Er macht sie verrückt.« »Natürlich, Sir.« »So hilfsbereit«, murmelte Merec und schob einen zusammengefalteten Zwanzigdollarschein über die Theke. Der Angestellte nahm ihn und lächelte. Merec trat eine Viertelstunde später leise ins Zimmer. Sarah stand am Fenster. Sie studierte die Kutschen, die aufgereiht an der Nordseite der 59th Street standen. Jeremy saß in einem der wuchtigen Sessel, die Beine ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen, und es sah aus, als döste er, aber Merec wusste es besser. Merec spürte einen plötzlichen Stich. Sie waren beide wie außer Kraft gesetzt. Sie warteten auf ihn. Er hatte viele Jahre lang Menschen angeführt - sinnlos gewalttätige, gierige, kriminelle Typen. Sie waren stumpfe, primitive Waffen gewesen, aber unter seiner Anleitung waren sie gut genug, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Aber diese beiden, dank ihnen würde - wenn die Zeit für das nächste Projekt gekommen war, für sein persönliches Meisterstück - die ganze Welt zusehen. Bei diesen beiden hatte er keine Zweifel. Aber der Form halber musste er vorgeben, sie zu haben. Sarah wandte sich vom Fenster ab. Jeremy öffnete ein Auge. Merec schloss die Tür hinter sich. »Hat Jeremy es dir gesagt?«, fragte er. »Was gesagt?« Sie warf einen schnellen Blick zu Jeremy in dem Sessel hinüber. 178
»Wie grandios du warst. Wie viele Leute können von einem Moment zum anderen von der Geisel zur Flüchtigen umschalten und das Plaza-Personal davon überzeugen, dass sie Hoheiten sind, wenn sie so was tragen -«, und er zeigte auf ihre zerknitterten Kleider. »Du warst«, er machte eine Pause, »gefährlich gut.« Sie tat unwillkürlich einen Schritt rückwärts und zog den Vorhang dicht an eine Schulter. »Was meinst du damit?« »Was ich meine? Warte mal, wie kann ich das erklären?« Er kam ins Zimmer geschlendert. »Okay, ich erzähle euch eine Geschichte.« Er winkte sie mit einer Handbewegung zum Sofa. Sie setzte sich, behielt die Sonnenbrille aber auf. Merec verschränkte die Hände im Rücken und wandte sich an sein Publikum. »Die Geschichte beginnt damit, dass eine Gruppe von Leuten beschließt - aus welchem Grund auch immer -, jeden Menschen in einem Pflegeheim auf dem Land zu töten. Der Anführer dieser verworfenen Gruppe wiederum beschließt, ein Spiel zu spielen. Es heißt >Wie tief kann die Menschheit sinken?<. Und es läuft einfach wunderbar. Die Menschheit sinkt zufriedenstellend, ganz wie vermutet, bis er zu dem letzten Paar kommt und eine kleine Überraschung erlebt. Er hat im Leben schon Akte der Selbstaufopferung erlebt, wenn auch nicht viele. Man hört von mehr, als man tatsächlich sieht. Sie sind nicht so verbreitet, wie die Nachrichten uns glauben machen wollen. Aber zurück zu meiner Geschichte. Ich muss sagen, die Ironie, beide zu töten, hat ihren Reiz, aber die Versuchung, die ein lebendes Beispiel darstellt, ist zu groß. Also beschließt er, sie mitzunehmen. Sie zu testen. Er versucht es mit Isolation. Er versucht es mit Schlägen. Er versucht es mit Folter. Nichts funktioniert. Aber das ist nicht alles. Rings um sie her werden Leute abgeschlachtet. Sie hat die Gelegenheit zu gehen. Sie beschließt, bei ihren Kidnappern zu bleiben, und eine Stunde später checkt sie in aller Ruhe im 179
Plaza ein. Sie überzeugt alle Welt davon, dass sie blind und reich ist, und an ihr wirkt es mühelos. Ihrem früheren Kidnapper und jetzigen Kollegen fallen dazu alle möglichen Fragen ein. Fragen, die er sich schon früher gestellt hat, die aber jetzt viel hartnäckiger wiederkommen.« »Was für Fragen?«, fragte Sarah. »Fragen wie >Wo liegt die Wahrheit bei dieser unwahrscheinlichen Situation?<« »Und?« Er sah sie fest an. »Ein Komplott.« »Ein Komplott?«, wiederholte sie verwirrt. »Eine Agentin. Eine Spionin, wenn du so willst.« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann begann Sarah zu zucken. Ihre Schultern zogen sich hoch und nach vorn; ihr Kopf senkte sich. Das Geräusch, zuerst leise und abgerissen, schwoll von einem Kichern zu schallendem Gelächter an. Mindestens eine halbe Minute lang konnte sie sich nicht beruhigen. Schließlich nahm sie die Brille ab und wischte sich über die tränennassen Augen. »Oje«, sagte sie. »So habe ich seit Jahren nicht gelacht.« Merec lächelte nicht. Er stand noch an derselben Stelle, die Arme verschränkt, und beobachtete sie mit einem leichten Stirnrunzeln. »Ich bin sicher, ich bin nicht der Einzige, dem dieser Gedanke gekommen ist. Jeremy?« Jeremy zuckte die Achseln, was in sich schon eine Bestätigung war. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »aber ihr müsst verstehen, wie lächerlich das für mich klingt. Ich bin dreißig Jahre lang Hausfrau gewesen. Ich habe den Staub und das schmutzige Geschirr und die Wäsche bespitzelt.« »Wie erklärst du dir dann deine ... Begabung für diesen Lebensstil?« Sarah setzte die Brille wieder auf. »Gar nicht.« »Das ist nicht sehr überzeugend«, bemerkte Merec. 180
»Das ist die Wahrheit oft nicht.« »Oh?« »Na ja, wie hätte ich das mit dem Pflegeheim wissen sollen? Und warum hätte ich dann nicht versucht, all diese Menschen zu retten?« »Vielleicht hast du zu diesem Zeitpunkt wirklich dort gelebt.« Sie überlegte. »Warum hätte ich euch nicht verpfeifen sollen, als ich die Gelegenheit hatte?« »Du warst dir nicht ganz sicher, dass sie mich gekriegt hätten, also hast du beschlossen, noch am Ball zu bleiben.« Sie warf die Hände in die Luft. »Ich glaube, du willst einfach glauben, dass ich so eine Art weiblicher James Bond bin. Weil dann alles so hübsch zusammenpassen würde, stimmt's? Dann bräuchtest du deine kostbaren Klischees nicht einen Millimeter zurechtrücken. Eine Hausfrau kann unmöglich mutig und abenteuerlustig sein oder irgendwas anderes wollen als das Leben, das sie geführt hat - nein, das geht zu weit über deine engstirnigen Vorstellungen von der Wirklichkeit hinaus.« »Okay«, lenkte er ein. »Okay. Nehmen wir an, dass du die Wahrheit sagst und dass du niemals etwas anderes gewesen bist als eine Hausfrau. Warum solltest du mich nicht ausliefern, sobald du die Gelegenheit hast?« »Ich hab's bisher doch auch nicht getan.« Er zog die Jacke aus und zog eine Pistole aus dem Hosenbund. »Du hast gelogen«, sagte sie. Es klang überrascht. »In manchen Dingen.« »Du hast vorhin gesagt, dass du keine Waffe dabei hast. Und dass ich gehen könnte, wenn ich wollte.« »Da habe ich gelogen, ja. Aber ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich es müde bin, eine Geisel zu haben.« Er ging durch das Zimmer und setzte sich auf das andere Ende des Sofas. »Aber dich habe ich nicht satt. Ich will wissen«, er 181
lehnte sich vor, »warum ich dir glauben soll, dass du mich nicht verrätst, wenn du die Gelegenheit hast. Du wärst eine Heldin.« Sie faltete die Hände im Schoß. »Ich wäre eine Heldin, aber wie lang? Einen Tag? Zwei? Was würden sie mir geben? Eine Ehrentafel? Einen Scheck? Einen Orden?« Er streckte den Arm aus und nahm ihr die dicke Plastikbrille ab, schob ihr Haar zur Seite, so dass er ihre Augen sehen konnte. »Aber was können wir dir geben?« Sie sah ihn an. »Einen Job«, sagte sie.
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Opfergaben und Salons Bevor sie ins Bett ging, saß Sarah vor der Frisierkommode und zog eine Bürste durch ihr Haar. Sie hatte geduscht und den weichen, weißen Bademantel angezogen, den sie ordentlich gefaltet auf einer der Ablagen entdeckt hatte. Sie sah ins Leere, während sie die Bürste weglegte und geduldig begann, einen Knoten mit den Fingern aufzulösen. In Gedanken ging sie die Ereignisse des Tages durch. Sie fühlte sich wie eine Schlafwandlerin, die mitten in ihrer Wanderung geweckt wird und feststellt, dass sie Treppen, Türen und Gänge gemeistert hat, ohne das Terrain zu kennen. Sie spürte eine leichte Berührung an der Schulter, und als sie aufsah, traf ihr Blick im Spiegel auf Merecs. Er war so leise wie eine Katze hinter sie getreten. Er hob eine feuchte Haarsträhne von ihrer Schulter und ließ sie auf der Handfläche liegen. »Bist du bereit«, fragte er, während er mit der Haarsträhne in seiner Hand spielte, »für die Opfer, die deine neue Stellung von dir verlangt?« »Und die wären? « Er fasste eine Strähne an der Wurzel, zog sie vorsichtig zu ihrer ganzen Länge aus und ließ sie ihr wieder auf die Schulter fallen. »Dein Haar.« Merec machte für den frühen Dienstagvormittag einen Termin aus. Sarah schlief fest, und als sie aufwachte, lag einer ihrer Arme ausgestreckt über die halbe Breite des Bettes. Sie zog ihn zurück, versuchte aus dem Bett zu rollen, ohne Merec zu wecken, und ging quer durchs Zimmer zur Dusche. »Du wirst so runzlig werden wie eine Backpflaume«, rief Merec. Es war ihre dritte Dusche seit ihrer Ankunft. »Zu spät«, sagte sie, und er kicherte. 183
Als sie im Bademantel zurückkam, betrachtete sie angewidert die sauer riechenden Kleider, die in einem Haufen auf einem Stuhl lagen. Sie seufzte und beugte sich vor, um sie aufzuheben. »Gestern hast du es durchziehen können, aber heute dürften diese Kleider sogar für dich etwas zu viel sein.« Merec stellte eine Schachtel auf dem Fußende des Bettes ab. »Die hier müssten es für den Moment tun. Wir besorgen später noch mehr.« Sie öffnete die Schachtel. Sie enthielt ein Paar weiße Handschuhe, eine cremefarbene Seidenbluse, rehbraune Hosen, Strümpfe sowie BH und Slip in hellem Rosa. Sie errötete in einem passenden Ton. Der Friseursalon lag im sechsten Stock eines Gebäudes an der Ecke des Madison, nicht weit vom Hotel entfernt. Merec vertraute sie Philip an. Philip nahm ihr den Hut ab, zog die Nadeln aus ihrem Haar und fuhr mit den Fingern hindurch. »Wunderschön«, sagte er. »Ein bisschen nachschneiden und eine Pflegespülung?« Merec antwortete für sie. »Nein. Wir wollen es kurz, etwas Elegantes - und gefärbt. Welche Farbe würden Sie empfehlen, Philip?« »Das meinen Sie doch sicher nicht ernst? Diesen schönen Ton färben?« »Welche Farbe würden Sie empfehlen?«, wiederholte Merec. »Also, die meisten, die von Weiß zu einer Farbe übergehen, nehmen ein helles Blond, damit man die Wurzeln nicht sieht. »Hatten Sie das vorgeschlagen?« Philip zögerte. »Nein. Eine kräftige Farbe, glaube ich dunkelbraun, fast schwarz. Aber Sie werden ein Problem mit den Wurzeln bekommen, wissen Sie. Vielleicht kann ich Ihnen eine Spülung geben, die ein bisschen hilft. Aber wenn Sie dabei bleiben wollen, müssen Sie oft wiederkommen.« Er wedelte mit dem Finger, aber natürlich konnte sie es nicht 184
sehen. Hinter den Gläsern hielt sie die Augen geschlossen und genoss das Gefühl der Finger in ihrem Haar. »Und Sie?«, fragte Philip Merec. »Ja. Ich möchte die Haare kürzer, und mein Freund auch.« Er zeigte in die Ecke, wo Jeremy auf einem der Sofas saß. »Sehr gut. Veronique, Liebling«, rief Philip. »Veronique zeigt Ihnen die Umkleidekabine, dort können Sie statt der Bluse einen Kittel anziehen. Die hier sollten wir loswerden.«, und er griff nach der Brille, aber sie wehrte rasch ab. »Bitte, direktes Licht tut mir weh.« »Oh. Wir arbeiten uns drum herum.« Er tätschelte ihre Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe, ich bin Fachmann.« Als sie drei Stunden später ins Hotel zurückkehrten, sah Merec aus wie zuvor. Sein Haar war geschnitten worden, aber es war immer noch recht lang. Jeremy fuhr sich wehmütig mit der Hand über den geschorenen Kopf. Sein Gesicht wirkte voller, die Gesichtszüge klarer, und er sah beinahe attraktiv aus. Aber Sarahs Haarschnitt hatte sie um Jahre verjüngt. Selbst Philip hatte am Ende gefragt: »Wie alt sind Sie eigentlich, Liebling?«, bevor er sich wieder fing. Im Zimmer setzte Sarah sich vor die Frisierkommode und nahm den Hut ab. Dann entfernte sie langsamer auch die Brille und starrte ihr Spiegelbild an. Sie stellte fest, dass die Blutergüsse endlich ganz verblasst waren. Merec trat hinter sie. »Was meinst du?« Sie sah ihn im Spiegel an. »Ich habe noch nie kurzes Haar gehabt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl.« »Du siehst richtig jung aus damit.« Sie sah von seinem Gesicht im Spiegel zurück zu ihrem eigenen. »Ich glaube, es wird Zeit«, sagte Merec, »dass wir ein bisschen mehr über dich erfahren. Unser Einstellungsverfahren ist 185
in der Regel ziemlich rigoros.« »Das kann ich mir vorstellen.« »Schon möglich ... Aber unsere Entscheidung hängt weitgehend davon ab, was wir über die Vergangenheit des Bewerbers herausfinden. Aus ihr können wir entnehmen, was für ein Typ Mensch er ist und ob er geeignet ist.« »Könnt ihr das wirklich?« Sie wirkte amüsiert. »Menschen sind keine Puzzles«, sagte sie. »Die Teile passen nie ganz genau zusammen.« »Du glaubst, du weißt mehr über Menschen als ich?« »Nein«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß weniger.«
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Privatvorstellung für den Direktor Ein Umschlag wurde am späten Montagabend an der Rezeption des IBC-Hauptquartiers abgegeben. Am Dienstagmorgen schickte man ihn ins achte Stockwerk hinauf, und die Sekretärin des Direktors brachte ihn auf einem Stoß von Post herein. »Ich hab nichts von Ihrer Post aufgemacht, wie Sie gesagt haben.« Sie wartete auf eine Reaktion. Er grunzte. »Das hier oben sieht aus wie eins von diesen Amateurvideos.« Sie stellte den Stoß auf der Schreibtischkante ab. »Ich hätte es gar nicht reingebracht, aber Sie haben gesagt, Sie wollen alle -« »Vielen Dank, June. « Er sah kaum von dem Dokument auf, das er las. Sie verließ das Zimmer und schloss respektvoll die Tür hinter sich. Sein Blick flackerte hoch, um sich zu vergewissern, dass sie fort war, und er griff nach dem Päckchen. Er schlitzte es an einem Ende vorsichtig mit dem Brieföffner auf und zog die Kassette heraus. Es lag keine Karte dabei. Er griff zum Telefon und wies June an, ihn mit dem Sendeleiter zu verbinden, und zwar gleich. Es dauerte keine Minute, bis er am Apparat war und sich die Anweisungen des Direktors anhörte. »Wir brauchen einen privaten Vorführraum, und ich will, dass Sie und Sie« - der Direktor führte alle anderen leitenden Mitarbeiter auf - »dabei sind. Und ich will, dass das Ganze um halb zehn stattfindet.« »Halb zehn«, stimmte der Sendeleiter zu. Als der Direktor eine Viertelstunde später in den Vorführraum hinunterging, waren alle anderen schon anwesend und warteten auf ihn. Plötzlich überkamen ihn Zweifel, Wenn das Band nun nicht das war, wofür er es hielt? Wenn es wirklich 187
nur das Video eines Amateurreporters war? Er winkte dem Sendeleiter. »Kommen Sie einen Moment mit mir raus.« Der Mann wurde blass, aber er gehorchte. »Ich will einen Blick auf den Anfang werfen, bevor wir's laufen lassen«, sagte der Direktor. Der Sendeleiter führte ihn in einen engen Schneideraum, schaltete ein paar Geräte ein und streckte die Hand nach der Kassette aus. Der Direktor gab sie heraus und beobachtete den Bildschirm, während er seine Besorgnis hinter einem Stirnrunzeln verbarg. Nach ein paar Sekunden Flimmern wurde der Bildschirm schwarz, und dann erschien Sarah Shepherds Gesicht. »Gut«, sagte er. »Das ist gut so. Spulen Sie's zurück, und wir gehen zu den anderen.« Er ging hinaus und überließ es dem Sendeleiter, ihm mit der Kassette zu folgen. Der Direktor nahm sich einen Stuhl an der Rückwand, so dass er die Reaktionen seiner Mitarbeiter beobachten konnte. Sie alle waren sich des Blicks auf ihre Hinterköpfe bewusst, und sie saßen unnatürlich still, während sie darauf warteten, dass das Video anlief. Niemand fuhr zusammen oder sprach, als Sarah Shepherds Gesicht auf dem Bildschirm erschien, aber sobald die Kamera zurückfuhr, wurde ihnen klar, dass sie neue, noch unbekannte Aufnahmen sahen. »Scheiße auch«, flüsterte jemand. Jemand anderes zischte scharf: »Schhh«, und das war das letzte Mal, dass einer von ihnen sprach. In der gefilmten, geschnittenen und bearbeiteten Version war Sarahs Vorstellung beeindruckend. Als Charlie sie zum ersten Mal schlug, entfuhr ihr ein leises, überraschtes Grunzen. Minuten später kicherten die Zuschauer beim Anblick von Sarah, die ihre erste Zigarette rauchte. Der Direktor merkte, dass er aufgehört hatte, seine Mitarbeiter zu beobachten, und sich ganz auf den Bildschirm konzentrierte. Das bedeutete, dass der Film gut war, sehr gut 188
in der Regel fand er es fast unmöglich, auch nur einen kurzen Clip zu verfolgen. Auf dem Bildschirm wechselte die Position der Kamera, und Sarah starrte geradewegs ins Bild, während sie es ablehnte, um Geld für ihre Freilassung zu bitten. Die Tränen traten ihnen in die Augen, als sie, nun wieder aus der Vogelperspektive, Sarahs mühsame Gehversuche verfolgten. Sie umklammerten die Armlehnen, als sie darauf wartete, gefoltert zu werden. Jemand keuchte, als das Blut rings um die erste Nadel hervorquoll, die unter Sarahs Daumennagel geschoben wurde. Sie fuhren zusammen und wanden sich bei Lees abgerissenen Schreien, als er den Biss des Stahls unter seinem eigenen Fingernagel spürte. Als das Band durchgelaufen war und es im Raum wieder dunkel war, machte niemand Anstalten, das Licht einzuschalten. Mit einem Grunzen stand der Direktor selbst auf und drückte auf den Schalter. Selbstzufrieden sah er von einem benommenen Gesicht zum nächsten. »Das können wir nicht zeigen«, sagte jemand. »So etwas Furchtbares habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.« »Oder so etwas Grandioses«, hauchte jemand anderes. Die einzige Frau im Raum schluchzte leise. »Ob wir das senden oder nicht steht nicht zur Diskussion«, schnappte der Direktor. »Wir müssen natürlich schneiden - ein paar von den -« »Wir lassen es genau so, wie es ist. Es ist mir egal, ob man uns eine Geldstrafe so groß wie Alaska aufbrummt. Das wird nicht geschnitten. Das Einzige, was ich wissen will kriegen wir noch genug Publicity, um das morgen ausstrahlen zu können?« »Aber wir können das doch nicht einfach so senden. Wir müssen irgendwas tun«, rief die Frau. Die anderen wandten verlegen den Blick ab, als sie versuchte, ihnen in die Augen zu sehen. Sie waren schon dabei, ihre eigenen Reaktionen 189
abzuschütteln und wieder zu den anstehenden technischen Fragen zurückzukehren. »Ms. Fern hat vollkommen Recht«, verkündete der Direktor. Die anderen waren sehr erstaunt. »Und wir werden etwas tun. Wir hier beim IBC werden persönlich eine Kampagne starten, um das Lösegeld für Sarah Shepherd zusammenzubringen.« Sie verstanden schnell. Es dauerte nur einen Augenblick, bevor sie zu lächeln begannen. Er konnte die Gedanken an die kostenlose Werbung für den Sender, den enorm gestiegenen Wiedererkennungseffekt, den unbezahlbaren Wert eines guten Namens und einer Reputation für verantwortungsbewussten Journalismus beinahe sehen. Selbst Ms. Fern hob ihr tränennasses Gesicht und sah nachdenklich aus.
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Schlagzeilen Am späten Dienstagabend checkten Tresler und Stanley in ihrem Hotel ein. Sie waren beide müde, und im Aufzug sprachen sie nicht. Tresler schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete seine Tür. Er war schon fast verschwunden, als Stanley ihn mit einem »Hey« zurückhielt. Tresler drehte sich pflichtschuldig um. »Was machen wir jetzt?«, fragte Stanley, während er verloren im Gang stand. »Schlafen. Sie werden's brauchen.« Dann betrat er sein Zimmer und schloss die Tür. Tresler und Stanley trafen sich am nächsten Morgen und verließen das Hotel, um zu frühstücken. Tresler nahm sich nur die Zeit, ein paar Zeitungen zu kaufen, dann suchten sie sich einen Tisch in einem Lokal in der Nähe. Sie hatten sich kaum niedergelassen und ihr Frühstück bestellt, als Tresler die Zeitung öffnete. »Stanley.« Stanley verlagerte seine Aufmerksamkeit von seinem Kaffee auf Tresler. Dann sah er nach unten auf Treslers Finger, der auf die Titelseite zeigte. Er bemerkte ein großes Bild von Sarah Shepherd. Dann las er die Schlagzeile und spürte plötzlich Erregung aufsteigen. »Okay«, sagte er, »ich würde sagen, wir wissen, was wir heute Abend um acht machen.« »Allerdings«, stimmte Tresler zu. Die Nachricht stand riesig auf allen Titelseiten. IBC hatte eine kunstvolle Mitteilung in letzter Minute verfasst, die die Zeitungen zum exakt richtigen Zeitpunkt erreicht hatte, gerade noch rechtzeitig, um am nächsten Tag erscheinen zu können. Radio- und Fernsehmoderatoren blieben gelassen. IBC ließ sie die Geschichte aus den Zeitungen übernehmen. 191
Die Kurzfristigkeit der Ankündigung sollte sicherstellen, dass die Behörden nichts unternehmen konnten, um die Ausstrahlung des Bandes zu verhindern. Aber sie ließ auch Merec nicht viel Zeit. Kurz nach dem Frühstück ließ er Jeremy und Sarah zurück und stahl sich allein aus dem Hotel. Er ging zehn Blocks weit und rief aus einer Telefonzelle an einer Straßenecke an, einem anderen Hotel genau gegenüber. Jemand nahm ab und sagte: »Ja? »Ich habe gehört, dass Ihr Schwiegervater vor kurzem bei dem Überfall auf dieses Pflegeheim umgekommen ist«, begann Merec. »Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen. Es ist alles so tragisch.« Die Stimme am anderen Ende fragte scharf: »Wer spricht da? Was wollen Sie?« »Ich habe außerdem gehört, dass mit dem Tod Ihres Schwiegervaters die Position des Hauptaktionärs von IBC an Sie übergeht.« Er schnalzte mit der Zunge. »Eine solche Verantwortung.« Es folgte eine lange Pause. Schließlich fragte der Direktor: »Merec?« »Und«, fuhr Merec fort, »ich hatte nie Gelegenheit, Sie zu fragen, was Sie von der Ausführung Ihres Auftrags halten. Habe ich nicht gesagt, ich würde es so einrichten, dass niemand Verdacht schöpft?« »Ja. Sie sind allerdings sehr gründlich. Es gibt nicht viele, die ein ganzes Pflegeheim voller alter Leute umbringen würden, um einen einzigen Todesfall zu tarnen. Und dieses Video ...« »Höre ich da einen Tadel?« »O nein«, sagte der Direktor. »Im Gegenteil. Ein brillantes Stück Arbeit.« »Vielen Dank auch«, sagte Merec bescheiden. »Ich habe auf dem Konto noch ein bisschen was draufgelegt, für die Aufnahmen, die Sie uns freundlicherweise überlassen 192
haben. Das war ein völlig unerwarteter Bonus. Und ich würde gern Ihren Kameramann abwerben.« »Aber die Themen, die ich ihm biete, könnten Sie nicht liefern. Da wir gerade dabei sind, wie sehen Ihre Pläne für die nächste Folge aus? Keine Polizeiinterviews oder Hotlines mehr, hoffe ich.« Er sagte es in freundlichem Ton, aber es war unverkennbar eine Warnung. »O nein. Wir haben andere Pläne. Heute Abend haben wir ein gutes Werk vor«, sagte der Direktor. »Erzählen Sie mir doch davon.« »Wir starten einen Lösegeldfonds für Sarah Shepherd.« »Den Sie dann auf ein ausländisches Konto überweisen?« »Natürlich«, stimmte der Direktor zu. »Dasselbe?« »Nein, ein anderes. Das ist viel sicherer. Aber Sie könnten rechtliche Schwierigkeiten kriegen mit diesem Lösegeld.« »Für so was haben wir unsere Juristen. Rufen Sie morgen nach der Sendung diese Nummer an«, der Direktor las die Zahlen vor. »Ihnen ist sicher klar, dass möglicherweise mein Telefon angezapft wird, obwohl dies nicht die Nummer ist, die wir für Informationen über Sarah Shepherd angeben werden. Sie können mir die Kontonummer morgen geben.« »Sie gehen trotz Ihrer Juristen ein Risiko ein«, bemerkte Merec. Das Schweigen des Direktors war für sich schon eine Bestätigung. »Noch eins«, sagte Merec. »Ja?« »Ich glaube, nach heute Abend werden noch viel mehr Leute für Sarah Shepherd beten. Ich hatte an einen öffentlichen Gottesdienst gedacht.« »Aha.« »Sonntagabend in der Saint Patrick's Cathedral. Sie können dabei gleich eine Kollekte für den Lösegeldfonds arrangieren.« »Ich habe gehört, Sie sind in New York«, kicherte der Direktor. »Ich stelle mir gerade die Fernsehteams vor Ort vor. 193
Warum sind wir nicht selbst darauf gekommen? Sie sind ja eine Ideenfabrik.« »Muss ich Ihnen sagen, was passiert, wenn Sie sich nicht an unsere Abmachung halten?« »Aber ich bitte Sie. Das ist ganz und gar unnötig. Wir reden morgen.« Und der Direktor legte auf. Merec nahm den Hörer vom Ohr und betrachtete ihn. Dann lächelte er und hängte ihn an seinen Haken. »Ich könnte Sie beinahe mögen, Herr Direktor«, sagte er. »Beinahe.«
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Gebete, Whiskey und ein schlichtes, schwarzes Kleid »Ich habe heute Abend zu tun«, sagte Merec an diesem Abend zu Sarah. »Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, dass du allein hier bleibst.« Er ging zur Tür. »Ich würde es auch gern sehen«, sagte Sarah. »Was?«, Merec hielt inne, die Hand am Türknauf. »Ich weiß, dass heute Abend etwas im Fernsehen kommt.« Merec warf Jeremy einen Blick zu. »Jeremy hat nichts gesagt. Ich bin selbst darauf gekommen. Und wie gesagt, ich würde es auch gern sehen.« »Nein.« »Nein?«, fragte sie herausfordernd. Er schüttelte den Kopf. »Warum?« Er drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. »Dies«, und er schloss mit einer Geste alle drei ein, »was wir hier haben, das ist keine Demokratie. Verstehst du?« Sie starrte ihn an, und ihre Augen wurden schmal. »Es funktioniert eher wie in der Army. Um durchzukommen, musst du Befehle entgegennehmen. Ohne zu fragen.« »Ich habe schon immer gedacht, dass ich mich ausgesprochen schlecht für die Army geeignet hätte.« »Sarah, du bist anstrengend. Jeremy und ich gehen jetzt ins Nebenzimmer. Du wirst nirgendwohin gehen, um die Sendung anzusehen, und du wirst auch niemanden danach fragen, weder heute noch irgendwann in der Zukunft.« Sie musterte ihn ausdruckslos. »Und?«, fragte er. »Ich wusste nicht, dass das eine Antwort erfordert.« »Ich will ein Versprechen. Sie klopfte ihre Taschen ab und fand ein Päckchen Zigaretten. Sie zog eine heraus, zündete sie aber nicht an. Sie zwir195
belte sie zwischen den Fingern. »Ist es die Aufnahme, die Jeremy in Willowridge gemacht hat?« Merec stutzte. »Nein.« »Wenn es nämlich die ist-« »Ich sagte«, unterbrach Merec, »nein. Ich meine nein. Es ist nicht die Aufnahme aus Willowridge.« Er verschränkte die Arme und wartete. Sarah zerdrückte die Zigarette in der Hand. »Schön«, murmelte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Schön was?« »Ich bin kein Kind.« »Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen, Sarah. Schön was?« »Ich gebe mein Wort.« »Danke«, sagte er. »Jeremy ... «, und Jeremy ging mit abge wandtem Blick an Sarah vorbei und schlüpfte zur Tür hinaus. Merec folgte ihm und schloss leise die Tür hinter sich. »Himmelherrgott«, murmelte Sarah. Sie ließ die zerkrümelte Zigarette fallen und ging duschen. Sie stieg aus der Wanne, wickelte sich ein Badetuch hoch oben um die Brust und erhaschte in dem beschlagenen Spiegel einen schattenhaften Blick auf ihr Gesicht. Sie trat näher und wischte mit einer Ecke des Handtuchs eine Fläche frei. Selbst ohne Dampfschleier wirkte das Gesicht im Spiegel beinahe jugendlich. Es faszinierte sie. Schon als junge Frau hatte sie aschblondes Haar gehabt, nahe genug am Weiß, um ihrem Gesicht jede Vitalität zu entziehen. Der Übergang von Blond zu Weiß war undramatisch gewesen. Aber jetzt war es dunkel, und sie fühlte sich, wenn nicht jung, so doch unbekümmert. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und ging zurück ins Zimmer, um sich anzuziehen. Aber zehn Minuten später hatte sie alle Kleider, die Merec ihr gekauft hatte, an- und wieder ausgezogen - lauter wunderschön geschnittene und gearbeitete Hosen und teure Pullover und Blusen. Sie saß niedergeschlagen im Bademantel 196
auf der Bettkante. Dann bemerkte sie das Verzeichnis der internen Telefonnummern auf dem Nachttisch. Sie zog es sich heran, blätterte und klopfte nachdenklich auf eine Seite. Sie schoss durchs Zimmer und griff nach dem Telefon. »Hallo? Ist dort die Boutique? Ja, ich wüsste gern, ob Sie ein schwarzes Kleid in Größe sechs haben. Nicht zu offenherzig, aber ein bisschen«, sie zögerte, »ein bisschen sexy. Ja? Könnten Sie es ins Zimmer 827 raufschicken? Ja, ich weiß, das ist ein wenig ungewöhnlich. Nein, ich bin mir sicher, das ist okay. Danke.« Als sie die Tür öffnete, stand eine hochmütige junge Frau mit einer Woge von Plastik über dem Arm vor ihr. Sarah ließ die Augen lang genug offen, um zu sehen, wie der gereizte Gesichtsausdruck der Frau wich und zu Verständnis wurde. »Kommen Sie von der Boutique?« Sie tat so, als folgte sie mit den Augen der Richtung, aus der die Antwort kam. »Das ist wunderbar. Vielen Dank. Kommen Sie bitte herein«, sagte sie, während sie zur Seite trat. »Vielleicht könnten Sie bleiben, bis ich es anprobiert habe, und mir sagen, wie es aussieht.« »Natürlich.« Die Frau trat an ihr vorbei ins Zimmer, und Sarah schloss die Tür hinter ihr. Sie hörte das Knistern von Plastik, als die Frau das Kleid auspackte. »Bitte sehr.« Sarah streckte die Hände aus und spürte den Stoff in den Handflächen. »Brauchen Sie-«, begann die Frau. »Zeigen Sie mir einfach, wo die Reißverschlüsse sind.« Die Frau führte ihr die Hände bei einer schnellen Besichtigung des Kleides. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Sarah und ging ins Bad. Dort angekommen, warf sie den Bademantel zur Seite und schlüpfte in das Kleid. Der Stoff war anliegend und fließend zugleich. Sie setzte die Brille wieder auf, und jetzt wirkte sie nicht mehr merkwürdig und unpassend, sondern geheimnisvoll, 197
irritierend, beinahe modisch. Sie kam aus dem Badezimmer zurück. »Es ist wundervoll«, hauchte die Verkäuferin; die Stimme verriet Aufrichtigkeit. »Kann ich es auf die Hotelrechnung setzen lassen?« »Natürlich. Selbstverständlich.« Sarah fand ihre Handtasche und nahm einen Schein heraus, den sie sauber faltete und der Frau hinstreckte, während sie sagte: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Es war mir ein Vergnügen.« Die Frau steckte das Geld ein. »Guten Abend, Ma'am.« Sarah fand ihren weinroten Lippenstift und die weißen Handschuhe und hängte sich die Handtasche über den Arm. Sie nahm den Aufzug ins Foyer hinunter und ging unsicher in die Halle hinaus, bis sie jemanden neben sich hörte. »Kann ich Ihnen helfen?« Sie drehte ich nach der Stimme um. »Ja, könnten Sie mir die Bar zeigen?« »Natürlich.« Sie streckte die Hand nach einem Arm aus und ließ sich durch die Halle führen. »Bar oder Tisch?« »Bar bitte«, sagte sie und ließ sich zu einem Hocker geleiten. »Danke.« Sie hantierte mit ihrer Handtasche, aber niemand nahm ihr den angebotenen Schein ab. »Er ist schon weg«, sagte eine Stimme hinter der Bar. »Und Sie wollten ihm gerade einen Fünfziger geben.« Sie steckte den Schein wieder in die Tasche. »Was darf ich Ihnen bringen?« »Whiskey. Und haben Sie Zigaretten?« »Ja. Was für einen Whiskey und was für Zigaretten?« »Die besten.« »Das ist meist Ansichtssache.« »Dann das, was Sie für das Beste halten«, korrigierte sie. Sie hörte das Geräusch, mit dem ein Glas vor ihr auf der Theke 198
abgestellt wurde, und die Stimme fragte: »Auf Eis?« »Pur«, antwortete sie. »Was bekomme ich da?« »Fragen dürfen Sie nicht. Trinken Sie einfach.« Sie schälte das Zellophan von ihrem Zigarettenpäckchen, und als sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, spürte sie die Hitze der winzigen Flamme, die er ihr anbot. »Danke.« Sie hörte, wie er hinter der Bar umherging. Sie rauchte ihre Zigarette und ertastete mit den Fingerspitzen einen Aschenbecher. Glücklicherweise war er sauber. »Ruhig heute Abend«, sagte sie. »Oh, ja. Aber das überrascht mich nicht. Ich hab mir schon gedacht, dass heute Abend alles am Fernseher klebt. Warum -« Er unterbrach sich und fuhr dann etwas lahm fort »hören Sie denn nicht zu?« »Bei was?«, wollte sie wissen, während sie sich fragte, ob sie mit diesen beiden Worten ihr gegebenes Versprechen brach. »Bei was? Sie machen sich über mich lustig. Wollen Sie mir erzählen, Sie lesen keine Zeitung?« Er merkte, was er gesagt hatte, und lachte, nicht über sie, sondern über sich selbst. »Es tut mir Leid. Ich meine, hören Sie kein Radio?« »Heute Morgen nicht«, sagte sie. »Es ist wieder was über diese Frau, Sarah Shepherd. Mein Mitbewohner nimmt es für mich auf.« Sie nickte, wollte das Thema aber nicht weiter verfolgen. Stattdessen sagte sie: »Nachdem wir die einzigen Leute hier sind - jedenfalls nehme ich an, wir sind die einzigen - wollen Sie sich mir auf einen Whiskey anschließen?« »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.« Sie bot ihm auch eine ihrer Zigaretten an, aber er lehnte höflich ab. »Wenn Sie nicht rauchen, woher wissen Sie dann, welches die besten sind?«, fragte sie. »Braucht man denn immer die persönliche Erfahrung, um so 199
etwas zu wissen?« Sie saßen über eine Stunde lang an der Bar. Nach dem dritten Whiskey lehnte er sich über die Bar und griff nach ihrer behandschuhten Hand. »Nimm die Brille für mich ab«, sagte er. »Warum?« »Den ganzen Abend sitzt du hier und bist geheimnisvoll hinter dieser unglaublichen Brille. Und ich«, - er kam noch näher, und sie spürte seinen heißen Atem auf der Wange »will sehen«, - sie spürte, wie er die Brille am Gestell fasste - »was dahinter ist.« Sie hinderte ihn nicht daran, ihr die Brille vorsichtig abzunehmen. Aber sie hielt die Augen geschlossen. »Mach die Augen auf«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Bitte.« »Was hinter denen ist, kannst du nicht sehen. Da gibt es nichts zu sehen.« Er beugte sich vor, bis seine Lippen ihr Ohr berührten. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du sehr schön bist?« »In letzter Zeit nicht«, sagte sie und versank augenblicklich in Erinnerungen. Wie aus einem Traum hörte sie Jonathans Stimme durch den Nebel des Schlafs - »Du bist so schön.« »Alles okay?« Der Barmann griff nach ihren Handgelenken. »Kann ich die Brille wiederhaben? Es ist das Licht. Wenn ich die Augen nur ein bisschen öffne, tut das sehr weh.« Er hantierte mit ihr und setzte sie ihr wieder auf. »Es tut mir so Leid. Das wusste ich nicht.« »Das ist schon in Ordnung. Wirklich.« Sie griff nach ihrem Zigarettenpäckchen und nahm die nächste heraus. Er zündete sie ihr an. »Du hast keine Ahnung, wie ich aussehe?«, fragte er plötzlich. »Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß, denn sie hatte die Augen nicht geöffnet, seit sie die Bar betreten hatte. »Willst du mein Gesicht abtasten? Ich habe im Fernsehen gesehen, dass 200
blinde Leute so eine Vorstellung von Gesichtern bekommen können.« »Das funktioniert bei mir nicht. Ich hab's versucht, aber in meiner Vorstellung sehen die Leute dann aus wie Picassozeichnungen. Lauter Augenhöhlen und Nasen und Münder an der falschen Stelle.« »Dann bist du nicht immer blind gewesen - wenn du weißt, wie Picassozeichnungen aussehen.« »Nein. Es ist noch nicht so sehr lang her.« Sie lieferte keine Details, und zu ihrer Erleichterung fragte er nicht nach. Stattdessen fragte er: »Was meinst du, wie ich aussehe?« »Ich habe nicht mal drüber nachgedacht«, log sie mühelos. Tatsächlich hatte sie ihn sich als unglaublich attraktiv vorgestellt, mit dunklem Haar, tiefen schwermütigen Augen und feinen, scharf geschnittenen Zügen. Sie hörte, wie er den nächsten Whiskey eingoss. »Wie ist es, wenn man das Sehvermögen verliert?«, fragte er, während er das Glas zu ihr hinüberschob. Sie nahm einen kleinen Schluck. »Man hat nichts weiter als den Klang, den man hört, die Berührungen, die man auf der Haut fühlt, und den Geruch, der einem in die Nase steigt. Und man merkt, wie wenig man weiß, wie wenig man hat außerhalb von sich selbst.« So war es mit ihrer Blindheit. Aber wenn sie wollte, dass das Universum wieder Gestalt annahm, brauchte sie nur die Augen zu öffnen. »Das ist wunderschön.« Sie spürte, wie er sich vorbeugte, und als er sprach, war sein Mund wieder dicht an ihrem Ohr. Er sagte: »Meine Schicht ist in ungefähr zehn Minuten zu Ende.« Sie antwortete nicht. »Und ich würde wirklich gern mit dir ausgehen.« »Wohin?« »Wohin auch immer. Ich könnte die Augen schließen, und wir wären zusammen blind. Nur wir beide, nur unsere Stimmen und Hände.« Er hatte die Augen geschlossen, um ihr dies ins 201
Ohr zu flüstern, und sah den Mann nicht, der auf die Bar zukam. »Verzeihung«, sagte Merec. »Störe ich?« Der Barkeeper richtete sich auf. »Ganz und gar nicht, Sir. Was kann ich Ihnen anbieten?« »Meine Frau.« Merec packte Sarah hart am Oberarm. »Ich habe mir Sorgen gemacht, Liebes.« Sie merkte, dass er wütend war. Sie stand auf und lächelte dem Barmann zu. »Könnten Sie das auf die Rechnung setzen? Zimmer 827. Es war ein wundervoller Abend.« Sie streckte die Hand aus, die Handfläche nach unten. Der Barkeeper nahm sie und hob sie an seine Lippen. Merec manövrierte sie rasch fort. »Was hast du dir eigentlich gedacht?« Sarah spürte die angespannten Muskeln unter seinem Jackettärmel. »Ich habe keine Ahnung«, gab sie zu. Sie betraten den Aufzug, und als die Türen sich schlossen, kam noch ein Mann herein, und so blieben sie schweigsam auf der Fahrt nach oben, schweigsam auf der Strecke den Gang entlang, schweigsam, als er die Tür öffnete. Und als Merec schließlich sprach, sprach er nicht mit ihr, sondern mit Jeremy. Als die Tür sich öffnete, sprang Jeremy von einem Stuhl am Fenster hoch. »Ich hab sie gefunden«, sagte Merec, und er sank wieder zurück. »Jeremy«, sagte Sarah, während sie vortrat und den Arm aus Merecs Griff wand. »Was hältst du von meinem Kleid? Merec hat kein Wort dazu gesagt.« Sie streckte die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Wo warst du?«, fragte er. Seine Stimme klang rau. Merec antwortete, bevor Sarah sprechen konnte. »Ich hab sie unten in der Bar gefunden, sie hat gerade den Barkeeper aufgetan. Gott weiß, was sie sich dabei gedacht hat. Ich meine, sie hat zwei tadellose Kerle hier, die hoffnungslos in sie verliebt sind. 202
Wozu braucht sie noch einen? Aber er war unglaublich attraktiv, und jung natürlich. Er hatte keine Chance gegen unsere Sarah hier. Ich hab ihn gerettet, als sie ihn gerade abschleppen wollte.« Jeremy hatte die Hände von den Augen genommen und starrte sie an. »Was?«, sagte sie. »Du glaubst ihm das doch nicht? Er redet kompletten Blödsinn.« Jeremy senkte den Blick, um das Kleid zu inspizieren. Sie verschränkte in plötzlicher Verlegenheit die Arme über der Brust. Als er sagte: »Es ist ein hübsches Kleid«, wurde sie dunkelrot. Sie begann: »Ich habe nicht -«, aber Jeremy hatte sich schon abgewandt und hörte Merec zu. Sie griff nach ihrem Nachthemd. Sie wollte sich nur noch umziehen und schlafen gehen, aber Merec fing sie ab, bevor sie das Bad erreicht hatte. »Hast du mich nicht gehört?«, fragte er, während er ihr den Weg versperrte. »Nein, ich hab nicht zugehört«, schnappte sie. »Sarah«, sagte er, während er nach ihrer Schulter griff und sie leicht schüttelte. »Mach dir keine Gedanken, wir bringen das in Ordnung.« »Wovon redest du überhaupt?« Sie versuchte ihn fortzuschieben. »Ich bin müde. Ich will jetzt schlafen gehen.« Er bewegte sich nicht von der Stelle. »Merec, geh mir aus dem weg.« »Verstehst du denn nicht? Du kannst jetzt nicht schlafen gehen. Jeremy geht die Rechnung begleichen. Wir ziehen aus.« »Aber ich will nicht.« »Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich in dein schickes, schwarzes Fähnchen wirfst und runtergehst, um Romeo den Kopf zu verdrehen.« »Aber ich hatte die Brille auf.« Unwillkürlich dachte sie daran, wie sie ihm erlaubt hatte, ihr die Brille abzunehmen und 203
ihr Gesicht zu studieren. »Mein Haar«, sagte sie. »Ich bin sicher, er hat mich nicht erkannt.« »Noch nicht. Aber irgendwann wird er sehen, was wir uns heute Abend angesehen haben - vielleicht in den Nachrichten morgen oder übermorgen, bei irgendeiner Wiederholung.« Sie erwähnte nicht, dass sein Mitbewohner die Sendung aufgenommen hatte und dass er sie vielleicht sogar heute Abend noch ansehen würde. »Ihr habt euch eine ganze Weile unterhalten. Das habe ich gesehen. Und heute Abend wird er nach Hause gehen und von deiner Stimme träumen ... « Sie dachte an seine Worte - »nur unsere Stimmen und Hände.« »... und dann wird er diese Stimme im Fernsehen hören. Wie gut stehen die Chancen, dass er sie nicht erkennt?« Null. Sie wusste, die Chance war null. »Ich wollte doch nur raus«, flüsterte sie. »Ich wollte mich bloß hinsetzen und mit jemandem reden. Ich bin es so leid, immer unterwegs zu sein.« Sie ging ein paar Schritte und sank auf einen Stuhl. »Du willst raus? Dann geh aus, aber mach es allein. Du willst dich hinsetzen und mit jemandem reden? Rede mit mir. Rede mit Jeremy. Du bist es leid, unterwegs zu sein?« Er ging zu ihr hinüber und zerrte sie unsanft vom Stuhl hoch. »Pech für dich. Hast du mich verstanden, Sarah?« Er stieß sie zurück. »Jetzt hol dir ein paar Sachen und zieh dich um. Ich packe.« Eine Viertelstunde später verließen sie das Hotel und stiegen in das nächste Taxi. Sie quetschten sich alle drei auf den Rücksitz, und Merec lehnte sich vor. »Zum JFK, bitte. Wir sind ein bisschen spät dran.« Sarah starrte zum Fenster hinaus auf die Lichter der Stadt, die in einem Nebel von Rot, Gelb und Weiß vorüberschossen. Es war eine Stadt voller geschlossener Türen und zugezogener Vorhänge. Sie selbst musste wohl das kleinste ihrer 204
Geheimnisse sein, dachte sie. Eine halbe Stunde später hielten sie vor der Ankunftshalle des Flughafens. Merec zog einen Hut aus der Tasche und gab ihn Sarah; es war ein weicher, schwarzer Strickhut, und er streckte den Arm aus und zog ihr die Krempe bis dicht über die Brille. »Lass den Kopf unten«, flüsterte er ihr ins Ohr. Merec zahlte, und Jeremy holte die Taschen. Sie gingen zielstrebig zum Eingang und durch die automatischen Türen. »Ist er weg?«, fragte Merec, und Jeremy nickte. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Merec ihr die Brille von der Nase genommen und sie in den nächsten Mülleimer geworfen. Von der anderen Seite schob Jeremy ihr eine neue Brille in die Hand. Es war keine Sonnenbrille, sondern eine Brille mit schwachen Gläsern, und als sie sie aufsetzte, wurden alle Konturen schlagartig schärfer. Sie gingen an den Tischen der Fluglinien vorbei und zu der Rolltreppe, die zur Gepäckausgabe hinunterführte. Als sie kurz vor den Hotelreservierungstischen stehen blieben, gab Jeremy ihr eine Handtasche. »Sieh's dir an«, sagte Merec. »Jeremy hat es für dich zusammengestellt.« Sie nahm die Handtasche und fühlte das weiche Leder. Sie öffnete den Schnappverschluss und sah hinunter auf einen Führerschein, Bank- und Kreditkarten, eine Telefonkarte, sogar die Ausweiskarte einer Bibliothek, alle auf den Namen Elizabeth Miller ausgestellt. »Das bist du. Du brauchst keine Story, weil du nicht reden wirst.« »Das hast alles du gemacht?« Jeremy zuckte die Achseln. »Der Führerschein ist nicht sehr gut. Mit dem kommst du nicht durch.« »Aber wenn du deine Rolle ordentlich spielst, brauchst du's auch nicht.« Merec nahm ihren Arm und zog sie weiter. »Jetzt geh und check im Peninsula Hotel ein. Lass sie den Transfer 205
arrangieren.« Er gab ihr einen kleinen Stoß zwischen die Schulterblätter. Sie drehte sich um. »Und was ist mit euch?« »Wir gehen in ein anderes Hotel. Der kleine Ausflug zum Flughafen bringt sie vielleicht nicht von der Spur ab. Und jetzt, wo sie eine Vorstellung davon haben, wo wir sind, und wahrscheinlich auch eine gute Beschreibung, werden zwei Männer und eine Frau, die in den nächsten Tagen ein Hotel betreten, wahrscheinlich Polizeibesuch kriegen. Es ist zu riskant. Du bist dir selbst überlassen, meine Liebe. Wir besuchen dich.« »Was soll ich tun?« Er zuckte die Achseln. »Sightseeing?« Erst später, viel später, als sie in ihrem neuen Zimmer am Fenster saß und über den grauen Gebäuden die Morgendämmerung betrachtete, erinnerte sie sich an Merecs Worte: »... sie hat zwei tadellose Kerle hier, die hoffnungslos in sie verliebt sind. Wozu braucht sie noch einen?« Die Worte fielen ihr wieder ein und hallten in ihrem Kopf wider. »Zwei tadellose Kerle, die hoffnungslos in sie verliebt sind.« Sie zog die Fingerspitzen über ihre Bluse und spürte die glatte Seide unter der neuen Haut. Die Haut wurde langsam fester, aber es gab noch keine Anzeichen dafür, dass die Nägel wieder wuchsen. Noch nicht.
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Fortsetzung Als das Video ausgestrahlt wurde, zog sich Merec einen Stuhl bis dicht vor den Fernseher, und Jeremy setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken ans Fußende des Bettes gelehnt. Sie sahen sich sämtliche Nachrichtensendungen an, aber das meiste davon war alte Information, und als es Zeit für das Video wurde, schalteten sie auf IBC und beugten sich vor. Eine Frau kündigte die Sendung an - sie sprach leise und ernst, und sie war sehr schön. Sie, nahm Merec an, würde es auch sein, die am Ende der Sendung den Lösegeldfonds vorstellte. Geschickt, dachte er. Jemand, der die Aufmerksamkeit von Frauen wie von Männern erregen würde. Sie sprach kurz und fügte eine Warnung ein, dass das Material für Kinder und sensible Gemüter nicht geeignet war. »Ich wette, jetzt bleiben sie alle am Bildschirm kleben«, bemerkte Merec. »Nichts Besseres als die Aussicht auf Blut und Gewalt, wenn sie dranbleiben sollen.« Sie verfolgten das bekannte Video, und als der Schirm nach der letzten Szene schwarz wurde, sagte Merec: »Jedes Bild an seinem Platz. Stimmt's?« Jeremy stimmte zu. »Okay. Jetzt kommt's.« Die attraktive Frau erschien wieder auf dem Bildschirm. Ihre Augen waren groß und glänzten vor Tränen. Sie sprach über Werte. Jeremy stöhnte. »Hat sie eigentlich nicht hingeguckt? Das hatte doch nichts mit Werten zu tun.« Merec brachte ihn zum Schweigen. Er hatte die Worte »etwas zurückzugeben« aufgeschnappt und hielt den Zeigefinger hoch, um weitere Kommentare von Jeremy abzuwehren. »Wir bei IBC fühlen uns verpflichtet, eine von Amerikas letzten großen Heldinnen zurückzuholen, und wenn ein Lösegeld dazu notwendig ist, es zu tun, sind wir der Meinung, 207
dass sie es wert ist. Nachdem Sarah Shepherd zu stolz war, um für sich selbst zu bitten, bitten wir für sie. Wenn sie Ihr Herz in irgendeiner Weise angerührt hat, tragen Sie bitte zu unserem Lost Shepherd Fund bei.« »Niedlich«, sagte Merec. »Demonstrieren wir die Macht des Volkes. Stecken Sie nur einen Dollar in einen Umschlag. Nur einen einzigen Dollar, und schicken Sie ihn an -«, und hier erschien eine Adresse am unteren Bildschirmrand. »Aber ob Sie nun etwas beisteuern wollen, um diese noble Frau zu retten, oder nicht ...« Jeremy gab Würggeräusche von sich. »... wir bitten Sie, für Sarah Shepherd zu beten. Wir drängen Sie, Gottesdienste in Ihren Andachtsstätten zu organisieren. Wir werden hier in New York City am Sonntagabend um acht Uhr einen schlichten Gottesdienst abhalten. Alle Konfessionen sind willkommen.« Sie brachte ein Lächeln zu Stande, ein trauriges Lächeln, und auf dem Bildschirm erschien ein Bild von Sarah, über das der Abspann rollte. Am Ende erschien noch einmal die Adresse. Sie blieb mindestens zehn Sekunden lang auf dem schwarzen Bildschirm stehen, bevor die Werbepause begann. »Was hältst du davon?« Merec nahm mit der Fernbedienung den Ton weg und drehte seinen Stuhl herum, so dass er Jeremy gegenübersaß. Jeremy rieb sich die Augen. »Wirkungsvoll. Schwer zu sagen, wie viel sie einsammeln werden.« Merec winkte ungeduldig ab. »Das meine ich nicht. Was hältst du von dem Gottesdienst? Werden sie kommen?« »Das fragst du?« Jeremy starrte zu Merec hinauf. »Werden sie kommen?«, fragte Merec drängend. »Ich würde sagen, ja.« »Dann haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns.«
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Tresler und Stanley sahen sich die Sendung jeder für sich in seinem jeweiligen Hotelzimmer an. Tresler richtete sich mit einem Getränk und einem Notizblock in seinem Sessel ein. Am Anfang war er sachlich, machte sich Notizen und nahm kleine Schlucke aus seinem Glas, aber nach der Hälfte der Sendung hörte er auf zu schreiben, und das Glas blieb unberührt auf dem Tisch stehen. Er saß noch bewegungslos da und starrte ins Leere, lang nachdem die Sendung zu Ende war, bis ein Klopfen ihn aufschreckte. Tresler stand auf und öffnete die Tür, ließ die Kette aber vorgelegt. Stanley stand im Gang. »War das nicht grandios?«, fragte Stanley. »Lassen Sie mich aufmachen.« Er schloss die Tür, hakte die Kette aus und öffnete wieder, um Stanley einzulassen. Stanley kam voll ungetrübtem Enthusiasmus herein. »War sie nicht phantastisch?«, fragte er, während er Tresler im Vorbeigehen auf die Schulter schlug. Er fiel in einen der Sessel. »War sie nicht ...« Er gestikulierte mit beiden Armen, während er nach einem anderen passenden Wort suchte. »Was meinen Sie, Tresler? Was würden Sie sagen?« Stanley sah erwartungsvoll auf. Tresler runzelte die Stirn und räusperte sich. »Ich würde sagen, es ist am besten, wenn wir uns bei der Analyse nicht von Emotionen leiten lassen.« »Herrgott, Mann, das Hirn zu gebrauchen heißt doch nicht, dass man kein Herz haben darf.« Tresler warf Stanley einen abschätzenden Blick zu. »Unter Umständen schon. Denken Sie daran, es ist der Täter, auf den wir uns konzentrieren müssen.« »Ist das alles, woran Sie denken?« Tresler starrte ihn unbewegt an. »Ja«, log er. »Gehen wir an die Arbeit. Ich denke, dieses Video hat eine ganze Reihe unschöner Details geklärt.« »Zum Beispiel?«, fragte Stanley, gegen seinen eigenen Wil209
len interessiert. »Erstens wissen wir jetzt, wie die Verdächtigen erfahren haben, dass die CIA eingeschaltet war. Wir haben gesehen, wie übel der Fehler war, den Martins' Gruppe gemacht hat, als sie diesen Lee rekrutiert haben. Die Aussicht auf Erfolg war bei diesem speziellen Typ nicht groß, selbst wenn man schnell gehandelt hätte, und natürlich wissen wir, dass sie das nicht getan haben. Inkompetenz auf der ganzen Linie. Mit einer Ausnahme.« Tresler machte eine Pause und schien auf eine Reaktion zu warten. »Wir?«, fragte Stanley. Treslers Mundwinkel zuckten. »Merec«, verbesserte er. »Er hat nichts weiter gebraucht als den einen Satz, den die versteckte Kamera aufgenommen hat. Wir haben von Anfang an gewusst, dass wir es mit einem Profi zu tun haben, aber sogar Profis können nachlässig werden, wenn sie sich sicher fühlen. Ich glaube, das beweist, dass wir es mit einem Verbrecher von höchstem Format zu tun haben. Einverstanden?« »Eine versteckte Kamera«, flüsterte Stanley. Er hatte das Detail nicht bemerkt, so gebannt war er von dem Drama gewesen. Tresler fuhr fort: »Wir sind uns also einig, dass Merec ein echter Profi ist. Warum dann diese Entführung? Warum diese Filme, die uns mehr Hinweise geben?« »Haben Sie nicht zugehört? Es ist eine Lösegeldforderung. Er hat die Frau wegen des Geldes gekidnappt.« »Es passt nicht zusammen«, sagte Tresler. »Viel zu viel Aufwand für so ein simples Ziel. Ein Amateur hätte sich das vielleicht einfallen lassen, aber ein Profi müsste wissen, wie gering die Erfolgschancen sind. Nein, wenn es nur das Geld wäre, hätte er es einfacher angestellt - den Topmanager einer großen Firma oder die Tochter einer reichen Familie entführt.« »Okay, und?« 210
»Wenn es ihm also nicht um Lösegeld geht, um was geht es dann?« »Ich weiß nicht. Und Sie?« »Ja, ich glaube, ich habe eine ziemlich klare Vorstellung. Aber um das zu überprüfen, muss ich gleich morgen früh noch mal nach DC. Und ich muss noch einen Blick in die Akte werfen.« Aber wie sich herausstellte, hatte Tresler noch etwas anderes zu erledigen, bevor er nach DC flog. Das Telefon klingelte gegen zwei Uhr morgens. Es war Helen von der Hotline mit einem Anruf des Barkeepers aus dem Plaza Hotel.
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Schönheitstipps Als Tresler im Plaza eintraf, war es fast drei Uhr, und der Verkehr war schwächer geworden. Als er aus dem Taxi stieg und die Stufen vor dem Hotel hinaufging, stellte er fest, dass der Dienst habende Portier an der Mauer lehnte und die Augen geschlossen hatte. Es sah aus, als döste der Mann im Stehen. Als Tresler sprach, fuhr der Portier zusammen. »Tut mir Leid, Sir«, sagte er und öffnete die Tür. »Danke, ich will vorläufig noch nicht rein. Ich wollte mit Ihnen über ein paar Hotelgäste sprechen, die vor ungefähr fünf Stunden gegangen sind.« Er schlug sein Notizbuch auf. »Oh, yeah, Karp von der Rezeption hat mir gesagt, dass Sie vorbeikommen. Was wollen Sie wissen?« »Wissen Sie, von welcher Gruppe ich rede?« »Yeah, älterer Typ mit einer blinden Frau und noch ein jüngerer Typ.« »Blinden Frau?«, fragte Tresler. »Yeah.« »Erinnern Sie sich noch an etwas anderes?« »Der ältere Typ hatte graues Haar. Von der Frau hab ich nicht viel gesehen bei dieser Brille und dem großen Hut, den sie aufhatte.« »Sonst noch was?« Der Mann dachte einen Augenblick nach. »Viel Gepäck hatten sie nicht. Oh, und die Dame, die hatte Handschuhe an. Aber das ist so ziemlich alles.« »Aha«, sagte Tresler. »Haben Sie gehört, wohin das Taxi gefahren ist?« Der Portier sah zum Himmel, als erhoffe er sich Hilfe von dort. »Zum Flughafen«, sagte er schließlich. »Zum Flughafen?«, sagte Tresler. »Sind Sie sicher, dass Sie sich da nicht irren?« 212
»Sie haben mich gefragt, ich hab's Ihnen gesagt«, antwortete der Mann und zog die Lippen zusammen. »Okay. Welcher Flughafen?« »Da bin ich mir nicht sicher.« »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ein Beamter wird vorbeikommen und ihre Aussage aufnehmen«, sagte Tresler. »Zum Flughafen«, wiederholte er leise, als er ging. Obwohl er skeptisch war, schickte Tresler Männer zu den drei Flughäfen der Umgebung. Dann setzte er sich, um auf den Barkeeper zu warten. Es dauerte nicht lang, bis Peter eilig in die Bar kam, wo Tresler in einer Ecke saß und Kaffee trank. Peter entdeckte ihn und kam zu ihm herüber. »Sind Sie der Ermittler im Fall Sarah Shepherd?«, wollte er wissen. Tresler stellte seine Kaffeetasse sorgfältig auf der Untertasse ab. »Ja, der bin ich.« »Ich kenne sie«, verkündete Peter. »Ich war den größten Teil des Abends mit ihr zusammen.« »So sieht es aus. Bitte setzen Sie sich.« Peter schob sich auf den Stuhl gegenüber. »Wahrscheinlich brauche ich Ihnen nicht zu sagen, dass ich Zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte, wer sie ist«, sagte er. »Ich hatte da erst das erste Video gesehen, und das nur einmal. Aber ich will Ihnen was sagen.« Er sah Tresler direkt in die Augen, als wollte er ihn herausfordern. »Ich würde sie wiedererkennen. Ich bräuchte sie nicht mal zu sehen. Ein Wort, selbst wenn sie nur ein einziges Wort sagte, ich würde die Stimme erkennen.« Er lächelte wehmütig. »Ich würde es sofort wissen.« »Worüber genau haben Sie gesprochen?« »Am meisten habe ich geredet«, gab Peter zu. »Erinnern Sie sich an etwas, das sie gesagt hat?« Er überlegte kurz. »Wir haben eine Menge getrunken«, gab er zu, »es ist also nicht mehr alles ganz klar, verstehen Sie. 213
Aber ich weiß, was sie darüber gesagt hat, wie es ist, blind zu sein. Ist das nicht komisch?« Tresler fragte ihn, weshalb es komisch war. »Na, weil sie nicht blind ist. Oh, und ich erinnere mich an noch etwas. Ich weiß noch, was sie geantwortet hat, als ich sie gefragt habe, wie sie meint, dass ich aussehe. Sie hat gesagt, sie hätte darüber nicht mal nachgedacht. Wissen Sie, ich habe immer davon geträumt, einfach normal auszusehen. Ich wollte nie hässlich sein, einfach nur normal. Aber als sie gesagt hat, sie hätte nicht darüber nachgedacht, wie ich aussehe, wollte ich plötzlich, dass sie es weiß. Ich wollte, dass sie mich behandelt, als ob ich etwas Besonderes wäre. Ich dachte, wenn sie mein Gesicht abtasten würde, vielleicht ... Aber sie wollte es nicht mal versuchen.« »Vielleicht hat es daran gelegen, dass sie schon wusste, wie Sie aussehen.« Aber Peter schüttelte hartnäckig den Kopf. »Die Leute reagieren auf eine bestimmte Art auf mich. Meistens positiv, manchmal negativ, aber nie einfach neutral. Denken Sie mal darüber nach. Sie versuchen alle Menschen davon zu überzeugen, dass Sie blind sind. Was ist die beste, leichteste, sicherste Methode, das zu tun? Sie hat die Augen hinter der Brille geschlossen gehalten. Ich hätte es gemerkt, wenn sie sie aufgemacht hätte. Und ich glaube, sie hat gewusst, dass ich es wissen würde - wenn Sie wissen, was ich meine. Das ist ein bisschen verwirrend.« Tresler widersprach. »So weit kann ich Ihnen folgen.« »Können Sie? Phantastisch.« Er wirkte aufrichtig erleichtert. »Okay, wo war ich?« »Sie haben sie gefragt, ob sie Ihr Gesicht abtasten wollte.« »Ja. Es läuft alles auf diese Sache mit der Schönheit hinaus. Alle Welt redet davon, wie schön sie ist. Meistens sagen sie nicht mal dazu >für ihr Alter<. Aber ich habe etwas herausgefunden - es geht gar nicht darum, wie sie aussieht. Verstehen 214
Sie, es ist nicht nur ihr Gesicht. Es ist nicht mal vor allem ihr Gesicht. Ich kann's nicht erklären. Sie kennen den Begriff Charisma? Ich habe nie richtig verstanden, was das bedeutet, bis ich Sarah getroffen habe. Ein Wort kann das gar nicht beschreiben.« Er zögerte, dann brach ein Schwall von Worten aus ihm heraus. »Glauben Sie mir, dass ich sie getroffen habe?« Als hätte er Angst vor Treslers Antwort, redete er weiter. »Mein Mitbewohner hat mich ausgelacht. Er hat gesagt, ich trinke zu viel. Ich trinke zu viel, aber das hab ich mir nicht eingebildet?« Er machte eine Frage daraus. »Nein«, sagte Tresler. »Das haben Sie sich mit Sicherheit nicht eingebildet.« »Danke.« Er begann wieder zu sprechen, aber er musste sich räuspern, bevor Worte kamen. »War da noch was, das Sie mich fragen wollten?« »Ja. Sie war Ihrer Erzählung nach mehr als eine Stunde lang mit Ihnen allein. Können Sie mir sagen, warum sie Ihnen nicht verraten hat, wer sie ist, und um Hilfe gebeten hat?« Peter blieb still. »Glauben Sie«, hakte Tresler nach, »dass sie vielleicht mit ihrem Kidnapper zusammengearbeitet haben könnte?« »Ich habe darüber nachgedacht«, gab Peter zu. »Und ich kann Ihnen da keine Antwort geben, außer dass die Frau, die ich getroffen habe, zu allem fähig war.«
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Ein Leben für einen allein Sarah verbrachte die Nacht auf einem Stuhl am Fenster und beobachtete die Autos auf der Fifth Avenue. Die Scheinwerfer waren blendend weiß, die Rücklichter glühten kirschrot. Wenn sie nach links sah, rasten sie auf sie zu. Wenn sie nach rechts sah, stürmten alle Autos davon. Sie amüsierte sich damit, ein bestimmtes Auto auszusuchen - noch so weit entfernt, wie sie es gerade erkennen konnte und ihm mit den Augen zu folgen, bis es wieder außer Sichtweite war. Der Moment, in dem es unter ihrem Fenster vorbeischoss, war so kurz, dass sie ihn verpassen konnte, wenn sie blinzelte. Erst als die Sonne aufging, legte sie sich aufs Bett - auf die Überdecke. Sie machte sich nicht die Mühe, die Vorhänge zuzuziehen, sie schloss nur die Augen gegen das Sonnenlicht und fragte sich, ob sie die Kraft für den Rückweg hatte. Sie wusste, sie konnte niemals zu der Art von Leben zurückkehren, das sie mit Jonathan geführt hatte. Das Leben, das sie zusammen aufgebaut hatten, war ein Leben für zwei gewesen. Es war entweder zu groß oder zu klein für einen Menschen allein. Irgendwann schlief sie ein, und als sie aufwachte, war das Zimmer im Licht des Spätnachmittags dämmrig und grau. Sie griff nach dem Telefon und rief die Rezeption an, um zu fragen, ob Nachrichten für sie gekommen waren. »Keine Nachrichten, Ms. Miller.« »Danke«, sagte sie und legte den Hörer wieder auf. Sie kam aus der Dusche, als die Stadt wieder unter die langen Schatten der Gebäude fiel. Sie frottierte ihr Haar, während sie den leeren Fernsehschirm betrachtete. Sie hatte versprochen - keine Zeitung, kein Fernsehen, kein Radio, aber es juckte sie in den Fingern, das Gerät einzuschalten und die Abendnachrichten anzusehen. Als sie mit einem Finger über 216
den Bildschirm strich, sah sie, dass er mit einer grauen Staubschicht bedeckt war. Sie wischte ihn am Handtuch ab und seufzte. Unter den Kleidern in ihrem Koffer fand sie Jeans und ein T-Shirt. Sie setzte die Brille auf und kämmte das Haar mit den Fingern durch. Als sie in den Spiegel über der Kommode sah, erkannte sie die Frau nicht einmal, die zurückstarrte. Gut, dachte sie. Gut.
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Lautlose Bäume Tresler nahm am späten Vormittag einen Flug nach Washington, und wenige Stunden später war er wieder im IBCHauptquartier. Während er darauf wartete, zum Direktor vorgelassen zu werden, schlenderte er im Gang auf und ab und betrachtete die Bilder an den Wänden. In der hinteren Ecke war ein offizielles Foto des Vorstands mit den Namen auf einem kleinen Schild darunter. Tresler warf einen flüchtigen Blick auf die Namen, und einer davon erregte seine Aufmerksamkeit. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und nahm die Akte aus der Aktentasche. Beim Durchblättern des Materials fand er, was er suchte - die Liste der Bewohner von Willowridge. Er formte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff und nahm sein Handy heraus, um zu telefonieren. Er hatte den Anruf gerade beendet, als die Rezeptzionistin ihm zurief, dass der Direktor jetzt so weit war. Als Tresler sein Büro betrat, winkte Direktor Morgan ihn zu einem Stuhl, stand aber nicht auf. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich die Zeit zu nehmen«, sagte Tresler. Der Direktor klopfte mit einem dicken Finger auf die Schreibtischplatte. Er beobachtete Tresler, und das Sonnenlicht brach sich an den Rändern seiner Brille. »Und womit kann ich Ihnen diesmal dienen?«, fragte der Direktor, mit einer leichten Betonung des Wortes diesmal. »Ich werde es kurz machen. Ich wollte nur noch ein wenig über Ihre Sarah-Shepherd-Serie plaudern. « »Da hätte es ein Telefongespräch doch auch getan. Es war nicht nötig, dass Sie deswegen aus New York rüberkommen.« Tresler stellte für sich fest, dass der Direktor wusste, wo er sich aufhielt. »Ich musste aus anderen Gründen zurück«, log Tresler. »Ich dachte, da kann ich auch gleich vorbeikommen.« Die Augen des Direktors verengten sich etwas, dann zuckte 218
er die Achseln. »Schießen Sie los.« »Diese Sarah Shepherd. Sie haben die Videos gesehen - was halten Sie von ihr?« »Wundervolle Frau. Eine lkone.« Aber die Antwort klang wie einstudiert. »Und ich bin stolz darauf, dass wir bei IBC die Möglichkeit haben, Sarah Shepherd den Menschen dieses Landes nahe zu bringen. Die Öffentlichkeit sehnt sich nach Heldentum, und wir hier bei IBC haben es ihr gegeben.« »Hat nicht eher Sarah Shepherd das getan?«, suggerierte Tresler. Der Direktor lächelte über seine Naivität. »Ohne uns hätte niemand jemals auch nur ihren Namen gekannt oder von ihrer Existenz erfahren«, erklärte er, als redete er mit einem Kind. »Wir sind nicht verantwortlich für ihre Handlungsweise, aber ihre Berühmtheit - ich glaube, an der haben wir einen gewissen Anteil.« »Aber was hat ihre Berühmtheit mit Heldentum zu tun?« »Wenn ein Baum im Wald umstürzt ...« Er ließ den Satz unvollendet verklingen. Die Diskussion schien dem Direktor Spaß zu machen, und Tresler nützte es aus. »Die Millionen Menschen auf der Welt, die nie berühmt werden«, sagte er. »Was ist mit denen?« Der Direktor stützte den Ellenbogen auf den Schreibtisch und senkte den Arm, bis er flach auf der Platte lag. »Sie fallen lautlos. Ohne ein Geräusch.« Tresler hob die Augenbrauen in mildem Protest. »Warum sind Sie hier und erkundigen sich nach Sarah Shepherd und nicht nach Mary Higgins aus Bottomswallow, North Dakota? Sie erkundigen sich nach Sarah Shepherd unseretwegen. Weil wir ihrem Baum ein Mikrofon hingehalten haben, sozusagen.« Er lehnte sich zurück, zufrieden mit seiner Argumentation. »Und das Lösegeld und der Gottesdienst in der Saint Patrick's Cathedral? Ein größeres Mikrofon?« 219
»Genau.« »Wessen Idee war das?« Er bemerkte ein winziges Zögern, bevor der Direktor sagte: »Meine.« »Aha.« Tresler machte eine Pause. »Was halten Sie von dem Menschen, der die Videos gemacht hat?« Die Augen des Direktors funkelten, als er sagte: »Das ist ein wirklich bemerkenswerter Mensch.« Tresler wartete auf eine Erklärung. »Er ist einer von diesen außergewöhnlichen Menschen, die unsere Dienste nicht brauchen. Er bringt sein eigenes Mikrofon mit; er sorgt dafür, dass er gehört wird.« »Glauben Sie, das ist der Grund dafür, dass er tut, was er tut?«, fragte Tresler. »Was sollte er sonst für einen Grund haben?« »Und sein Kameramann?« »Er könnte uns Millionen bringen, wenn er für uns arbeiten würde.« »Sonst noch was?« Der Direktor hörte die Ironie in seiner Stimme. »Millionen darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen«, mahnte er. »Diese Videos sind brillant. Wissen Sie, wie viel Geld sie mir eingebracht haben?« »Messen Sie daran Brillanz?« »Nein, ganz sicher nicht. Brillanz zahlt sich nicht aus. Und Heldentum in der Regel auch nicht. Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben, habe ich noch ein paar Dinge zu erledigen.« Tresler stand auf. »Vielen Dank für Ihre Zeit.« Der Direktor nickte, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Tresler blieb in der Tür stehen. »Oh«, sagte er, »eins noch. Ich wollte Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres Schwiegervaters aussprechen. Sie haben gar nicht erwähnt, dass Sie persönlich von dieser Tragödie betroffen sind.« 220
Der Direktor sah alarmiert auf, aber Tresler war schon gegangen.
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Sightseeing Ihren ersten Tag allein hatte Sarah damit verbracht, zu schlafen. Aber am Vormittag des zweiten fuhr sie auf die Spitze des Empire State Building, nahm die Fähre zur Freiheitsstatue hinaus und aß mittags in einem Restaurant im Rockefeller Center. Um halb zwei hatte sie die Geduld mit den Sehenswürdigkeiten verloren. Sie kehrte ins Hotel zurück und fragte an der Rezeption gespannt nach Nachrichten. Der Angestellte sagte: »Tut mir Leid, Ms. Miller. Keine Nachrichten.« Sie versuchte sich in ihrem Hotelzimmer auszuruhen, aber um drei war sie wieder draußen auf der Straße. Sie setzte den Hut mit der riesigen, weichen Krempe auf und ging mit gesenktem Kopf. Sie studierte die schwarzen Gummispuren auf den Gehwegen und die Knöchel der Leute, die an ihr vorübergingen. Sie hatte nicht gewusst, dass Knöchel so charakteristisch sein konnten. Als sie müde wurde, zog sie sich in eine nahe gelegene Bibliothek zurück, nahm ein Buch von einem Regal und setzte sich an einen der gut besetzten Tische. Ringsum saßen alte Männer und Frauen, die ebenfalls in Büchern blätterten. Mit ihren knarrenden Stühlen und ziellosen Menschen erinnerte die Bibliothek sie an Willowridge. Eine Welle der Sehnsucht rollte über sie hin, und sie wünschte sich nichts mehr, als wieder mit diesen alten Frauen auf dem Rasen zu sitzen, von dem aus man die Hügel sehen konnte. Sie merkte, dass sie sie in Gedanken immer noch dort unter den Birken sitzen sah, obwohl sie sie ausgestreckt auf dem Boden der Cafeteria gesehen hatte. Sie rief sich das Bild ins Gedächtnis, um es wirklich werden zu lassen. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren - alles, was sie denken konnte, war »Warum ruft er nicht an?«. 222
Merec und Jeremy hatten sich ein Zimmer in einem Hotel ganz in der Nähe von Sarah und nur ein paar Blocks von Saint Patrick's entfernt genommen. In der ersten Nacht schliefen sie nur kurz und waren früh wieder auf den Beinen. Zuerst sammelten sie alle Zeitungen und sahen die Seiten einzeln durch, wobei sie jeden Artikel über das Video ausschnitten. Die Ausschnitte ergaben einen hübschen kleinen Stoß, und alle erwähnten den Gottesdienst, der am Sonntagabend stattfinden sollte. Dann machte Merec eine Liste der Dinge, die sie zu erledigen hatten. »Ich will bis Freitagabend mit alldem fertig sein«, sagte er. Jeremy studierte die Liste. »Das wird knapp.« »Wir teilen die Aufgaben auf. Heute Vormittag kaufen wir zusammen die Materialien ein, die wir brauchen.« »Und danach sehen wir nach Sarah?« Merec erstarrte. »Seit wann stellst du denn Fragen?« Jeremy warf ihm einen raschen Blick zu. »Tut mir Leid.« Während des Vormittags stellte Merec oft fest, dass seine Gedanken abglitten. Wo war sie jetzt? fragte er sich. War sie zur Polizei gegangen? Oder war sie einfach zum Flughafen gefahren und in ein Flugzeug gestiegen? Und die wichtigste, die hartnäckigste Frage - dachte sie an ihn?
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Roses Wunsch Während der zwei Tage, die sie allein war, tat Sarah nur einmal etwas Törichtes. Sie schob es auf diese hölzernen Büchereistühle, deren Knarren sie an Willowridge erinnert hatte. Sarah rief Rose an. Sie verwendete ein Münztelefon im Foyer eines Restaurants. Es war schierer Zufall, dass sie sich an eine von Roses bissigen Bemerkungen über eine unverheiratete Tochter erinnerte, die weniger als eine Stunde von Willowridge entfernt lebte. Das bedeutete dieselbe Vorwahl, der gleiche Name. Sie ließ sich die Nummer von der Auskunft geben, wählte und fragte nach Rose. »Ist es wieder eine Journalistin?«, fragte die Stimme am anderen Ende scharf. »Nein, eine alte Freundin.« »Sie heißen?« Die Stimme klang immer noch misstrauisch. »Sarah.« Es entstand eine Pause. »Einen Augenblick, bitte.« »Ja?« Die Stimme, die sprach, klang brüchig, ungebraucht und sehr schwach. Sie klang absolut nicht nach der bissigen, schlagfertigen Rose. »Rose?«, sagte sie. »Wer ist da?« »Sarah«, flüsterte sie. »Hallo? Ist da jemand?« Die Stimme klang jetzt beinahe ängstlich. Sie konnte Sarahs Worte nicht verstanden haben. »Hier ist Sarah«, sagte sie lauter. »Was? Wer?« »Sarah«, schrie sie, alle Vorsicht außer Acht lassend. »Sarah?« »Sarah Shepherd.« Schweigen. »Hast du mich gehört, Rose?« 224
»Du bist das«, sagte Rose nur. Es folgte eine weitere Pause. »Erinnerst du dich an mich, Rose?« »Brauchst mir nicht ins Ohr zu brüllen, Mädchen«, grollte Rose mit Anzeichen ihrer alten Reizbarkeit. Sarah war so erleichtert, dass sie am liebsten in nervöses Gelächter ausgebrochen wäre, aber sie biss sich auf die Unterlippe und wartete darauf, dass Rose weitersprach - dass sie ihr dankte. Stattdessen fragte Rose: »Also ... was willst du?« »Was ich will?«, wiederholte Sarah. »Ich ... ich wollte bloß herausfinden, wie es dir geht.« »Na, ich bin am Leben, dank dir.« Rose klang nicht dankbar. »Ist das so furchtbar?«, gab Sarah zurück. »Ja, das ist es tatsächlich.« Sarah drückte den Hörer fest ans Ohr. »Hast du dir jemals eine Sekunde lang überlegt, wie es hinterher für mich sein würde? All meine Freunde - alle, an denen mir gelegen war - sie sind alle tot. Also für wen genau hast du es getan, Sarah? Hast du es für mich getan? Oder hast du es für dich getan?« »Es tut mir Leid«, flüsterte Sarah. »Du hast Recht. Du hast vollkommen Recht.« »Ich bin es müde, Recht zu haben. Ich bin einfach nur müde. Aber du wolltest mich ja nicht ausruhen lassen.« »Gibt es irgendwas -« »Zu spät«, sagte Rose. »Das Einzige, was ich will, kannst du mir nicht geben.« »Was ist das?«, fragte Sarah. »Ich wollte mit einem Feuerwerk abgehen.« »Gut«, sagte Merec zu Jeremy, während er die Ausrüstungsgegenstände musterte, die sie auf der Überdecke ausgebreitet hatten. »Das ist alles. Und jetzt möchte ich, dass du es heute Abend zusammenbaust. Du weißt, wie das gemacht wird?« 225
Jeremy nickte. »Ich gehe eine Weile aus.« »Wohin gehst du?« »Ich«, sagte Merec lächelnd, »gehe beten.« Es war Abend, als Merec die Kathedrale betrat. Er sah sich anerkennend um. Draußen schossen die Autos die Fifth Avenue entlang, und auf den Gehwegen drängten sich die Leute. Aber sobald man die Kathedrale betrat, herrschte plötzlich Stille, die Luft hatte etwas Gedämpftes. Hunderte von Kerzen flackerten und warfen seltsame Schatten auf die gigantischen Steinmauern. Merec ging ein Stück den Mittelgang entlang und schob sich auf eine der hölzernen Bänke. Er beugte den Kopf, als betete er, und tastete dabei mit den Fingern unter der Sitzbank herum. Karl hatte ihn angewiesen, nach kleinen Klumpen von der ungefähren Größe und Form hart gewordener Kaugummis zu suchen, jeweils ungefähr einen Meter voneinander entfernt. Er wunderte sich, mehrere davon ganz vorn an der Kante und dicht beisammen zu finden. Er beugte sich noch weiter vor, sah unter den Sitz und stellte fest, dass er echte Kaugummis ertastet hatte und nicht Karls Nachahmungen. Er rutschte ein Stück weiter, und da war es. Merec musste sehr sorgfältig tasten, um den dünnen Draht zu finden, der durch den Klumpen zum nächsten Stück kaugummiförmiger Masse einen Meter weiter lief. Er lehnte sich lächelnd in der Kirchenbank zurück. Sobald Jeremy mit seiner Aufgabe fertig war, würden sie so weit sein. Als Merec ein paar Stunden später in das Hotelzimmer zurückkehrte, stellte er fest, dass Jeremy die ihm übertragene Arbeit tatsächlich beendet hatte. Sie lag sauber ausgebreitet auf dem Bett - aber Jeremy selbst war nirgends zu sehen.
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Wochenendpläne Als Sarah am Freitagabend in ihr Hotelzimmer zurückkehrte, fand sie Jeremy mit geschlossenen Augen auf dem Bett vor. Sie schloss die Tür so geräuschlos, wie sie konnte, und schlich durchs Zimmer zum Stuhl. Sie drehte ihn um, zum Bett hin, setzte sich und beobachtete Jeremy - seine Brust hob und senkte sich im tiefen, langsamen Rhythmus des Schlafes. Ungefähr eine halbe Stunde später drehte er sich auf die Seite, schob eine Hand unter das Kopfkissen und schlief weiter. Er hätte vielleicht die ganze Nacht geschlafen, aber das Telefon klingelte. Jeremy setzte sich schlagartig auf und sah sich panisch um, aber eine Sekunde später hatte er Sarah auf ihrem Stuhl und das Telefon auf dem Nachttisch zur Kenntnis genommen. Er ließ sich auf die Kissen zurückfallen. »Du solltest besser abnehmen«, sagte er. Seine Stimme klang heiser vor Schlaftrunkenheit. Sie nahm vor dem vierten Klingeln ab. »Hallo?« »Sarah.« Es war Merec. »Hallo«, sagte sie wieder, ruhig, wie sie hoffte. »Ist Jeremy bei dir?« »Kein >Wie geht es dir, Sarah?< Kein >Was hast du getrieben?< Willst du denn gar nichts über die Sehenswürdigkeiten wissen?« Sie hörte einen scharfen Atemzug. »Was zum Teufel habt ihr zwei die ganze Zeit getrieben?« »Er ist eingeschlafen«, sagte sie. Das Schweigen, das darauf folgte, klang scharf. »Ich meine, als ich reingekommen bin, habe ich ihn schlafend auf dem Bett gefunden. Er ist gerade erst aufgewacht, als das Telefon geklingelt hat«, erklärte sie. 227
»Ist er nicht aufgewacht, als du reingekommen bist?« »Nein. Ist er nicht. Und ich weiß nicht, warum du hier alle Fragen stellst. Wo zum Teufel wart ihr eigentlich zwei Tage lang? « »Ich bin derjenige, der das Recht hat, Fragen zu stellen, Sarah.« »Diese Masche habe ich allmählich ziemlich satt.« »Sarah.« Sie konnte beinahe sehen, wie er den Kopf schüttelte. »Gib mir Jeremy.« Sie wollte sagen: »Nein, noch nicht.« Aber sie streckte den Hörer aus. »Er will mit dir reden.« Jeremy nahm den Hörer. Sein Gesicht war hart, aber Sarah konnte nicht entscheiden, ob es Gleichgültigkeit oder Furcht war. »Ja«, sagte Jeremy, dann »Nein«, dann wieder »Ja«. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte Merecs Worte nicht verstehen, sie hörte nur das Ansteigen und Abfallen seiner Stimme. Schließlich gab Jeremy den Hörer an Sarah zurück. Sie hob ihn vorsichtig ans Ohr. »Ja?« »Das hat vorhin ganz falsch angefangen. Wie geht es dir?« »Okay.« »Wie war das Sightseeing?« »Öde.« »Du kannst die Kreditkarte verwenden, weißt du. Warst du einkaufen?« »Glaubst du, das wäre interessanter gewesen?« Sie versuchte nicht einmal, den Sarkasmus aus ihrer Stimme zu halten. »Hast du deine Kreditkarte verwendet?« »Nein. Ich habe meine Einkäufe bar bezahlt«, gab Merec zu. »Hast du irgendwas Schönes gefunden?« »O ja. Und ich habe etwas ganz Besonderes für dich. Ich dachte, du willst vielleicht ein bisschen damit üben.« Sie erinnerte sich an das Gefühl einer Pistole in ihrer Hand, erinnerte sich, wie die Nase des Mannes vor ihren Augen 228
zerplatzt war. »Üben wie damals in diesem Holzhaus?« »Nein, nicht so. Das ist kein Üben. Ich hole dich morgen ab.« Am anderen Ende klickte es, und das Amtszeichen summte ihr im Ohr. Sie runzelte die Stirn und kaute auf der Unterlippe. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie zusammenfahren. Sie hatte Jeremy vergessen, der geduldig am Fußende des Bettes saß. »Du hast mich vergessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Jeremy.« Was konnte sie sonst sagen? »Was, wenn«, - er unterbrach sich mitten im Satz, stand auf und kam zu ihr herüber, um vor ihr stehen zu bleiben. Er legte die Hände unter ihre Ellenbogen, und ein Schauer durchlief sie. Sie hatte vergessen, wie leicht seine Berührung war, wie ein Vogelflügel an ihrer Haut. »Was, wenn?«, fragte sie. Aber es musste etwas in ihrer Stimme gewesen sein, eine Spur Ungeduld, denn er trat zurück. »Was ist los?« Sie machte einen Schritt vorwärts, und er wich zurück. »Jeremy-« »Ich muss gehen«, sagte er auf dem Weg zur Tür. »Warte« befahl ihre Stimme. »Du hast etwas vergessen. Warum bist du gekommen, Jeremy?« Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Ich habe nichts vergessen.« »Und?« Sie konnte ihre Gereiztheit nicht unterdrücken. Sie sah die Rundung seiner Wange, die Spitze seiner Nase, den Mundwinkel, der zuckte wie bei einem Lächeln oder vielleicht auch der Grimasse, die den Tränen vorangeht. »Ich bin hergekommen, um dich zu sehen, Sarah. Ich bin einfach gekommen, um dich zu sehen.« »Du hast mich gesehen.« »Ja«, sagte er, während er ihr wieder den Hinterkopf zuwandte. »Ich habe dich gesehen.« »Und?« 229
»Und ... jetzt gehe ich.« Er hatte die Hand auf dem Türknauf, als sie fragte: »Merec hat dich nicht gebeten, mir etwas auszurichten?« Er fuhr herum. Sein Gesicht war kalkweiß. »Ich bin gekommen, weil ich wollte. Ich bin gekommen, weil Merec mich nicht abhalten konnte.« Er sprach langsam; seine Stimme klang belegt, als habe er nicht genug Speichel im Mund. »Ich dachte, er hätte eine Nachricht für mich ...« Ihre Stimme verklang, als sie das Flackern in seinen Augen bemerkte. »Sei lieber vorsichtig, Sarah Shepherd«, sagte er. »Merec ist ... er ist nicht wie andere Männer.« Sie verdrehte die Augen. »Lass das. Mach dich nicht darüber lustig. Ich mein es ernst. Sein Gehirn funktioniert nicht wie das von anderen Menschen.« »Er ist klüger«, sagte Sarah rasch. Jeremy schüttelte müde den Kopf. »Ich dachte, dir liegt an Merec. Ich dachte, du bewunderst ihn.« »Darum geht es nicht.« »Doch, natürlich. Nur darum geht es.« Jeremys Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Du kennst ihn nicht«, sagte er. »Was versuchst du mir zu sagen, Jeremy? Was könnte er tun, das ich noch nicht gesehen hätte? Wovor genau soll ich mich hüten?« Er schien sie nicht zu hören. »Merec hatte nicht vor, dich heute Abend zu besuchen. Er hatte auch nicht vor anzurufen. Ich glaube auch nicht, dass er vorhatte, dich morgen zu sehen.« Sarah verschränkte die Arme. »Soll mich das jetzt verletzen?« Wieder war es, als hätte er sie nicht gehört. In einem Schwall sagte er: »Verschwinde heute Abend noch, Sarah. Zieh aus 230
dem Hotel aus. Sorg dafür, dass du nicht hier bist, wenn er kommt.« »Und wohin soll ich gehen?« »Geh zur Polizei.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, sagte Jeremy schnell: »Oder geh einfach in ein anderes Hotel. Sei morgen überall, nur nicht hier.« »Wenn du versuchst, mir zu sagen, dass ihm nichts an mir liegt, das ist nicht der Grund -« »Nein«, unterbrach er. »Nein. Ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, warum er dich allein weggeschickt hat. Ich weiß, er hat gesagt, es wäre zu riskant, wenn wir drei zusammen einchecken. Aber überleg doch mal. Ich hätte allein einchecken können, dann wärt es bloß ihr zwei gewesen - ein Ehepaar eben. Was meinst du, wie viele Ehepaare in Manhattan in Hotels einchecken? Oder wir hätten alle einzeln in dasselbe Hotel gehen können. Er hätte dich im Auge behalten können. Er hätte dich im Auge behalten müssen. Was hätte riskanter sein können, als dich allein loszuschicken? Es ist zwei Tage her, seit wir mit dir geredet haben. Ich bin die ganze Zeit mit ihm zusammen gewesen, und er hat nicht einmal angerufen, um zu überprüfen, ob du im Hotel angekommen bist. Kommt dir das nicht merkwürdig vor?« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe gedacht, er versucht mich loszuwerden.« »Er hat eine andere Methode, das zu tun, Sarah.« Jeremys Stimme klang rau. »Das hast du selbst gesehen.« »Warum also?«, fragte sie herausfordernd. »Warum? Ich weiß nicht mal, ob er es sich selbst gegenüber eingestanden hat. Aber ich glaube, er hofft, dass du gehst. Er betet darum, dass du weg sein wirst, weil ... Er will dich nicht umbringen müssen. Und das ist genau das, was er dieses Wochenende vorhat.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte protestieren, aber was Jeremy gesagt hatte, klang richtig. »Also?«, sagte 231
er. »Also?«, fragte sie zurück. »Gehst du?« »Ich kann nicht.« Er drehte sich um und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Er schloss die Tür leise hinter sich.
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Treslers Audienz Nach seinem Treffen mit dem Direktor fuhr Tresler zum Flughafen zurück und nahm eine der späten Pendlermaschinen nach New York. Die Zeit vor dem Abflug verbrachte er mit dem Versuch, jemanden vom Stab der Saint Patrick's Cathedral aufzutreiben, aber die einzige Stelle, die so kurzfristig noch erreichbar war, war das Büro des Diakons. Tresler kehrte ins Hotel zurück, nachdem Stanley schon im Bett war, und war schon wieder unterwegs, als Stanley aufwachte. Er ging zur Kathedrale hinüber und wartete draußen, während der Diakon den vorherigen Termin zu Ende brachte. Es dauerte nicht lang, bis ein junges Paar erschien. Der Diakon brachte die beiden bis zur Tür und schüttelte ihnen die Hand, bevor sie gingen. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Sie werden das wunderbar machen.« Als sich die Tür hinter dem Paar geschlossen hatte, wandte sich der Diakon zu Tresler, um ihn zu begrüßen. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Die beiden heiraten nächste Woche in der Kathedrale.« Er ging voran in sein kleines Büro. »Ist es in Ordnung, wenn wir hier reden? Ich habe Sie zwischen zwei Terminen eingeschoben, und in zehn Minuten kommt das nächste Paar.« »Das ist in Ordnung«, sagte Tresler, während er ihm in den Raum folgte. »Was kann ich also für Sie tun, Mr. Tresler?« »Ich arbeite fürs FBI und verfolge den Fall Shepherd.« »Ah, dann sind Sie wegen des Gottesdienstes hier.« »Genau.« »Wollten Sie über den Ablauf sprechen? Möchten Sie einen bestimmten Redner?« »Nicht ganz«, sagte er und begann zu erklären. 233
Als Tresler zu sprechen begann, saß der Diakon zurückgelehnt in seinem Stuhl, die Hände ruhig im Schoß gefaltet und ein freundliches Lächeln im Gesicht. Aber während er zuhörte, erschien eine Falte auf seiner Stirn. Dann setzte er sich auf und begann hin und her zu rutschen. Schließlich unterbrach er. »Sir, vielleicht sollte ich erklären - ich habe mit Hochzeiten und Taufen zu tun. In dieser Sache bin ich überfordert. Ich glaube, da müssen Sie sich an das Büro des Kardinals wenden.« »Das einzige Problem ist, jemanden im Büro des Kardinals zu erreichen.« »Ah. Ja.« Der Diakon saß da und verschlang die Finger im Schoß ineinander. »Gut. Warten Sie hier.« Er stand auf und verließ schnell den Raum. Als er fast zehn Minuten später zurückkam, setzte er sich nicht wieder hin, sondern blieb an der Tür stehen. »Der Sekretär des Kardinals wird Sie heute Mittag um eins empfangen«, sagte er. »Und jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen, ich bin spät dran für meinen nächsten Termin.« »Danke.« Tresler stand auf und wollte den Raum verlassen. Aber als er an dem Diakon vorbeiging, spürte er eine Hand auf seinem Arm. »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Aber ich bete darum, dass Sie sich in dieser Sache irren.« »Ich auch«, sagte Tresler. Um Viertel nach eins war Tresler mit seinen Ausführungen für den Sekretär des Kardinals fertig. Der Mann beugte sich vor und fragte: »Verzeihung, kann ich Ihren Ausweis noch mal sehen?« Tresler zog die Brieftasche heraus und öffnete sie, so dass die Karte zu sehen war. Der Sekretär nahm sie entgegen und sah sie durch. Er blätterte den Führerschein und die 234
Kreditkarten um. Er schloss die Brieftasche, und statt sie zurückzugeben, legte er sie auf die Schreibtischkante. Tresler nahm sie und schob sie wieder in die Tasche. »Ich hatte gehofft, das wäre ein dummer Witz. Ich gehe davon aus, es ist keiner.« »Nein.« »Also«, sagte er, während er die Finger leicht gegeneinander schlug, »sagen Sie mir, ob ich Sie richtig verstanden habe. Sie wollen, dass ich die Kathedrale schließe und dafür sorge, dass im letzten Moment eine andere Örtlichkeit gewählt wird. Als zweite Möglichkeit bieten Sie an, die Kathedrale zu schließen, damit Ihre Leute sie gründlich durchsuchen können. Und außerdem wollen Sie, dass wir am Tag des Gottesdienstes am Hauptportal einen Metalldetektor aufbauen und die Leute beim Hereinkommen durchsuchen, und Sie wollen ein Team von Polizisten im Inneren stationieren.« »Ja.« »Und Sie haben absolut keinen konkreten Beweis für Ihren Verdacht.« »Wir wissen, dass der Täter in New York ist -« »In New York war«, verbesserte der Sekretär. »Sie wissen, dass er in New York war.« »- und ich halte es für offensichtlich, dass dieser Bittgottesdienst ein mögliches Ziel abgibt.« »Offensichtlich für wen, Agent Tresler? Offensichtlich für Sie vielleicht. Für mich ist das nicht offensichtlich.« »Der Kardinal sieht das möglicherweise anders«, regte Tresler an. »Der Kardinal?« Das Gesicht des Sekretärs lief rot an. »Erwarten Sie allen Ernstes, dass ich den Kardinal mit diesem lächerlichen Vorschlag behellige? Die ganze Idee ist doch grotesk.« Tresler antwortete nicht. »Wir werden den Gottesdienst nicht verlegen«, fuhr der 235
Sekretär fort. »Wenn ich Ihre Männer dabei erwische, dass sie die Kathedrale zu inspizieren versuchen, werde ich sie entfernen lassen. Es wird keine, ich wiederhole keine Durchsuchung unserer Gemeindemitglieder am Eingang geben, und Ihre Männer sind als Teilnehmer am Gottesdienst sehr willkommen, aber sie dürfen keine Waffen mitbringen. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Vollkommen«, seufzte Tresler. Tresler kehrte in sein Hotelzimmer zurück und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er wusste, er hatte nur wenig Zeit zum Ausruhen, bevor er mit den wenigen Vorbereitungen beginnen musste, die ihm noch zu treffen blieben. In dem Augenblick, in dem er die Augen schloss, klingelte das Telefon. Er nahm ab. »Tresler, wo zum Teufel haben Sie eigentlich gesteckt? Ich hab seit gestern Abend jede Stunde bei Ihnen im Zimmer angerufen.« »Hallo, Stanley.« »Moment, ich bin gleich drüben.« Das Telefon klickte, und bevor Tresler es noch fertig gebracht hatte, von seinem Stuhl aufzustehen, klopfte Stanley an die Tür. Tresler fasste müde seine Aktivitäten während der letzten beiden Tage zusammen. Stanley ging beim Zuhören ruhelos im Zimmer auf und ab und steuerte ein paar Mal einen unterdrückten Ausruf bei. Als Tresler fertig war, kam Stanley herüber und setzte sich auf die Kante des zweiten Stuhls. »Hören Sie, Tresler. Sie wissen, ich respektiere Ihre Arbeit, aber in diesem Fall teile ich Ihre Ansicht nicht. Ich meine, ich weiß schon, dass der Typ spinnt, aber das ist immerhin Saint Patrick's Cathedral. Und im Ernst, was meinen Sie denn, was er tun könnte?« Tresler rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht, Stanley«, sagte er. »Was war inzwischen hier los?« »Oh, ich bin bloß ein paar Hinweisen von Leuten nachge236
gangen, die Sarah Shepherd gesehen haben. Es war nichts dran. Wir haben Hotelbuchungen überprüft, aber es war keine von zwei Männern und einer Frau um diese Tageszeit dabei. Im Moment überprüfen wir gerade die Passagierlisten auf LastMinute-Buchungen spätabends in allen drei Flughäfen. Aber das wird noch eine Weile dauern. Ich sag's nicht gern, aber es sieht immer mehr danach aus, als wären sie aus der Stadt verschwunden.« »Sind sie nicht«, sagte Tresler. »Also gut. Das ist Ihre Meinung. Was haben Sie vor?« »Ich kann morgen immer noch ein paar Leute in die Kathedrale schicken, die sich da umsehen. Und ich kann ein Team an strategisch wichtigen Stellen im Freien aufstellen. Aber sonst...« Er zuckte die Achseln.
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Double Action Sarah wachte am Samstagmorgen mit einem seltsam beengten Gefühl in der Brust auf, als könnte sie nicht genug Luft in die Lungen ziehen. Das ist lächerlich, dachte sie. Sie duschte schnell, rief den Zimmerservice an und stellte fest, dass sie es nicht fertig brachte, sich an den Tisch am Fenster zu setzen und zu kauen. Sie ging im Zimmer auf und ab, rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis sie das Päckchen fast aufgebraucht hatte, und versuchte herauszufinden, warum sie an diesem Morgen so rastlos war. War es Merec oder der Gedanke an das, was er ihr mitbrachte? Ein leichtes Klopfen an der Tür ließ sie plötzlich innehalten. Sie ging hin, um zu öffnen, und Merec schlenderte ins Zimmer. Sein Anblick nach vier Tagen war eine Offenbarung. In ihrer Vorstellung war er größer geworden. Seine Taten hatten ihn in ihrer Erinnerung mit einer dunklen Erhabenheit umgeben. Aber in dem Augenblick, als er über die Schwelle trat mit seiner lässigen Unbeschwertheit und seinem aggressiven Spott, fiel er wieder an seinen Platz zurück. Und sie dachte: Oh ja, das hatte ich ganz vergessen, Er drückte ihr einen warmen, trockenen europäischen Kuss auf jede Wange und ging an ihr vorbei ins Zimmer. Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen. »Hallo, meine Liebe.« Merec stellte eine Tasche ab und setzte sich auf den Stuhl. »Hallo.« Es folgte ein kurzes Schweigen, aber es war kein unbehagliches Schweigen. »Wie ich sehe, hast du nicht gegessen.« Er warf einen Blick auf den fast unberührten Teller mit Eiern und Toast, die mittlerweile kalt und verklebt waren. »Nein«, sagte sie. »Nicht gut«, tadelte er. »Du musst bei Kräften bleiben. Aber 238
vielleicht musst du dir den Appetit erst holen.« »Das ist es vielleicht«, stimmte sie zu. Sie war wieder außer Atem. »Willst du es sehen?« Sie tat unwillkürlich einen Schritt vorwärts. »Ja.« Er schob die Tasche mit dem Fuß zu ihr hin. Sie kam näher und ging auf die Knie, um vorsichtig den Reißverschluss zu öffnen. Sie spähte hinein und holte dann den Revolver heraus, fest am Griff gepackt. Sie hielt ihn mit gestrecktem Arm vor sich hin, legte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn. »Er ist wunderschön«, sagte sie. »Das ist ein Smith and Wesson Chief's Special, ein Airweight-Modell. Deswegen ist er so leicht. Double Action mit Zwei-Zoll-Lauf.« Sie drehte ihn in den Händen. »Würdest du ihn gern ausprobieren?« Ihre Augen glänzten sehr hell, als sie nickte. Als sie am frühen Abend in Sarahs Hotelzimmer zurückkehrten, waren ihre Arme schwach von der ungewohnten Anstrengung, sie ruhig und gerade ausgestreckt zu halten. Sie hatte kein außergewöhnliches Talent bewiesen, aber eine Konzentration und Entschlossenheit, die auf die Geburt einer Leidenschaft hindeuteten. Zudem fühlte sich ihr Kopf leicht und beschwingt an von dem Wein, den sie während eines gemächlichen Mittagessens getrunken hatten, das sich bis in den frühen Abend hinzog. Eine Band hatte in dem Restaurant zu spielen begonnen, und sie tanzten einen langsamen, eleganten Foxtrott. Merec hielt sie fest genug, dass sie spürte, wie seine Handwaffe, eine gewöhnliche, praktische Beretta in einem Schulterholster, sich in ihre Rippen drückte. Er hatte den größten Teil der Unterhaltung bestritten. Er begann mit einem kurzen Vortrag über Waffen und ging allmählich zu Geschichten von seinen früheren Aufträgen über. 239
Sie hörte zu, die Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn in den Händen. Erst als die ersten Gäste zum Abendessen einzutreffen begannen, gingen sie hinaus auf die Straße. Sie schlenderten auf Umwegen zurück zum Hotel, und Merec begleitete Sarah in ihr Zimmer. Sie setzte sich auf den Stuhl, und Merec ging zum Bett hinüber und nahm den Telefonhörer ab. »Willst du etwas trinken?« Sie zuckte die Achseln. Er legte wieder auf. »Sag mir, was du willst, Sarah.« Sie fasste ihre Handtasche fester und spürte die Form der Pistole durch das Leder. »Weißt du das nicht?«, fragte sie.
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Sabbat Der Sonntag dämmerte mit einem schnellen, pfeifenden Wind, der leere Pappbecher in Bögen durch die Straßen blies. Der Himmel wurde nur langsam hell, die Sonne war hinter niedrigen, grauen Wolken versteckt. Merec war lang vor der Dämmerung wach. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete Sarah. Sie bewegte sich und öffnete unter Merecs Blick die Augen. Sie lächelte schläfrig. Er starrte zurück. Seine Augen, in der Regel von eisigem Blau, hatten jetzt ein weiches Grau angenommen. Sie passten zu dem Himmel draußen. »Und?«, sagte sie, um das Schweigen zu brechen. Er zögerte. »Sarah ...« Ihre Augen wurden schmal. »Gestern Abend ... ich meine, dies ist nicht ...« Es forderte eine erhebliche Anstrengung von ihm, nicht wegzusehen. »In Ordnung«, sagte sie gedehnt. »Ich versuche das im Gedächtnis zu behalten.« Er wünschte sich plötzlich und inbrünstig, er hätte überhaupt nichts gesagt. Er streckte den Arm aus und strich ihr mit einem Finger über die Wange. Sie ließ es eine Sekunde lang zu, dann wich sie zurück. Er schloss die Finger zu einer losen Faust, dann glitt er aus dem Bett und begann sich anzuziehen. »Hast du es eilig?«, fragte sie. »Ja, tatsächlich. Heute ist ein großer Tag für uns.« »Oh? Was machen wir heute?« Jetzt lächelte er - ein junges, jungenhaftes Grinsen reinster Vorfreude. »Wir gehen zur Kirche.« Das Wetter blieb unberechenbar, ruhelos, mit Windstößen, die manchmal Schauer von Regentropfen verstreuten. Jeremy hatte sich Merec und Sarah im Hotelzimmer angeschlossen. 241
Sarah saß auf dem Bett, die Beine ausgestreckt und die Knöchel gekreuzt. »Müssen wir nicht los?«, fragte sie. »Die meisten Gottesdienste fangen um diese Zeit an.« »Wir gehen zum Abendgottesdienst.« Sie runzelte die Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass sie Abendgottesdienste abhalten.« »Dieser ist etwas Besonderes«, gab Merec zu. »Ich erzähle es dir.« »Ja, bitte.« Sie sprach mit professioneller Distanz. Merec log gelassen. Er sagte, sie würden an einem Gedenkgottesdienst für Angehörige teilnehmen, die sinnloser Gewalt zum Opfer gefallen waren, und Sarah würde in den Gebeten genannt werden. »Ich dachte, du möchtest vielleicht einen öffentlichen Auftritt absolvieren«, fuhr Merec fort. »Und Jeremy hat dir etwas ganz Besonderes zum Anziehen mitgebracht. Jeremy.« Jeremy wuchtete die große Segeltuchtasche aufs Bett. Was er herauszog, sah aus wie etwas, das sie im Kino gesehen hatte. Es war unverkennbar. »Was hältst du davon?«, fragte Merec. »Es ist der letzte Schrei.« Das Kleidungsstück, das Jeremy hochhielt, damit sie es inspizieren konnte, hatte die Form einer Weste, aber der wichtigste Aspekt waren die Accessoires. Es war überzogen, eingefasst, gefüttert, vollgestopft - mit Sprengstoff. »Bist du ganz sicher, dass es meine Größe hat?«, fragte sie. Merec warf den Kopf zurück und lachte - eine Spur zu herzlich? Jeremy lächelte, und in ihren Augen sah es gequält aus. Sie sah sich die Weste näher an. »Reicht das, um eine ganze Kirche zu sprengen?« »Nein, nicht mal annähernd. Dazu würde man hundertmal so viel brauchen. Aber das hier ist nicht echt. Es ist nur dazu da, für Disziplin zu sorgen.« 242
»Du meinst, das ist kein echter Sprengstoff?« »Nein.« Er schob die Lippen vor. »Der Sprengstoff ist absolut echt. Aber für sich genommen ist er harmlos. Zeig's ihr, Jeremy.« Jeremy warf die Weste in Sarahs Richtung, aber neben das Bett. Sie konnte nicht anders, als zurückzuzucken, als sie mit einem lauten Aufprall auf dem Boden landete. »Sie ist ein bisschen schwer, aber wie gesagt, sie ist harmlos ohne den Zünder.« »Und wer hat den Zünder?« »Den habe ich«, sagte Merec. Hatte er eine Spur zu schnell gesprochen, fragte sie sich. Er fischte etwas aus seiner Tasche. »Er funktioniert nicht. Dafür haben wir gesorgt.« »Darf ich sehen?« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Jeremy schnell zu Merec hinsah, aber Merec warf ihn ihr zu. Es war eine kleine, rechteckige schwarze Schachtel. »Wo ist der Schalter?« »Den sollte man lieber nicht zufällig drücken können.« Er setzte sich neben sie auf die Bettkante. »Siehst du, diesen Verschluss musst du aufmachen.« Er nahm ihr den Zünder ab, und es schien ihr, als sorgte er dafür, dass ihre Finger sich nicht berührten. »Dieser Teil wird zurückgeklappt und voilá.« Er brachte einen kleinen roten Knopf zum Vorschein. Er ließ den Deckel wieder zuschnappen. Sie sagte: »Ich würde das gern ausprobieren.« Sie hantierte mit dem Zünder, hatte ihn eine Sekunde später geöffnet und legte den Finger über den Schalter. Die Rundung ihres Daumens passte genau in die Vertiefung. »Es passiert also gar nichts, wenn ich den hier drücke?« Erstarrten die beiden? Oder bildete sie sich etwas ein? »Nichts«, sagte Merec. Sie drückte. Nichts geschah. Die beiden schienen wieder zu atmen. 243
Merec streckte den Arm aus und nahm ihn ihr aus der Hand. »Tut mir Leid, aber wir alten Hasen werden ein bisschen nervös, wenn wir so was in der Nähe haben. Wir haben zu viele davon gesehen, die alle zu gut funktioniert haben.« Sie nickte, aber sie wusste, dass es verschiedene Methoden der Täuschung gab. Nichtsdestoweniger hatte sie ihre Wahl schon getroffen. Es hatte ganze Tage gegeben, an denen sie hätte ausziehen, ein Zimmer in einem anderen Hotel buchen, den Hörer abnehmen und die Polizei anrufen können. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und sie bedauerte es nicht. »Natürlich ist die Weste nicht absolut sicher«, sagte Merec gerade. »Es ist nie absolut sicher, mit zehn Pfund Sprengstoff herumzulaufen. Zum Beispiel würde ich dir raten, Kugeln aus dem Weg zu gehen.« »Wer sollte denn auf mich schießen?« »Jeremy hat die Nacht über in der Umgebung der Kathedrale Wache gehalten. Vielleicht kann er deine Frage beantworten. Jeremy, wie viele Agenten hat das FBI dort stationiert?« Jeremy hielt fünf Finger hoch. »Aber alle draußen im Freien.« »Du musst wissen, dass sie da sind, und wir zeigen dir auf den Plänen, wo sie sind, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dir gefährlich werden. Alle Welt glaubt, dass du noch unsere Geisel bist. Sie wissen nicht -« Seine Stimme sank bedeutungsvoll ab. »Sie wissen nicht, dass du willens bist ... und überaus fähig.« Sarah merkte, wie ihr Gesicht flammte. »Du hast nicht viel übrig fürs Süßholzraspeln, Sarah?«, fragte er leichthin. »Vor allem nicht vor anderen Leuten«, schnappte sie. »Wer, Jeremy?« Er heuchelte Überraschung. »Mach dir wegen Jeremy kein Gedanken. Er ist ein guter Verlierer.« »Das ist lächerlich«, sagte sie. »Du siehst, Jeremy, du hattest nie eine Chance.« Merec 244
wurde gefährlich heiter. »Willst du eine lehrreiche Geschichte hören, Sarah? Ich glaube, wir haben noch ein wenig Zeit.« Sowohl Jeremy als auch Sarah wandten den Blick von Merec ab, und voneinander ebenso. »Ich glaube, ich habe dir schon von dem Prozess erzählt, mit dem man in diesen engen Familienkreis aufgenommen wird. Nein? Also, ein Teil des Bewerbungsprozesses hat einige Ähnlichkeit mit dem Spiel, das wir in dem Pflegeheim gespielt haben. Allerdings verlangt dieses Spiel etwas mehr Einsatz als das, das du mitverfolgt hast. Es gibt niemanden, der dir die schmutzige Arbeit abnimmt. Du hast zwei Leute, die sich gegenüberstehen und nur auf ihr Stichwort warten, um aufeinander zu schießen. Nun gibt es Bewerber, von denen ich will, dass sie Erfolg haben, und andere, bei denen ich es nicht will. Also sorge ich dafür, dass die einen ein volles Magazin haben und die anderen nicht. In Wirklichkeit ist der Wettkampf gar kein Wettkampf. Die Hälfte ist - wie sagt man? - Kanonenfutter. Aber die Bewerber wissen nicht, dass der Ausgang feststeht. Sie glauben, dass beide Waffen geladen sind und dass sie dem Tod ins Gesicht sehen. Ein solcher Test ist notwendig. Man will ja nicht jemanden bei einem Auftrag einsetzen, der alles ruiniert, weil man plötzlich feststellt, dass er nicht die Nerven hat. Manchen von meinen Kollegen ist das öfter passiert, als man meinen sollte. Aber in all den Jahren, in denen ich dieses kleine Szenario eingesetzt habe, um meine Bewerber zu testen, hat niemand jemals die Waffe darauf kontrolliert, ob sie ein volles Magazin hatte oder nicht. Sie waren so vertrauensselig, diese Männer und Frauen. Sie haben sich einfach nicht überlegt, dass der Test, wenn es ein richtiger Test sein sollte ein Test auf Leben und Tod -, unfair sein musste. Wann im Leben hast du dich jemals auf etwas eingelassen, bei dem die Karten nicht gezinkt waren - entweder zu deinem Vorteil oder nicht? Es passiert 245
einfach nie. Jedenfalls ist Jeremy auch nicht darauf gekommen, die Kugeln zu überprüfen, aber er hat etwas anderes getan, das auch noch nie jemand getan hatte. Er hat seine Karten selbst gezinkt. In der Regel zähle ich bis drei, und sie schießen. Aber Jeremy, der hat bei eins geschossen. Und zufällig war er derjenige, der die geladene Waffe hatte, es war also sehr wirkungsvoll. Es war feige, ehrlos und sehr wirkungsvoll. Er war mein bester Schüler.« »Rührend«, sagte Sarah. »Oh, warte. Das war nicht der Teil der Story, den ich eigentlich erzählen wollte. Das war bloß der Vorspann. Hinterher wird von den erfolgreichen Bewerbern erwartet, dass sie ihre Opfer loswerden, und nach Jeremys Einstand war ich gespannt, was er tun würde. Also habe ich meinen besten Beobachter auf ihn angesetzt. Jeremy war wirklich einfallsreich. Ich will mich nicht über die unappetitlichen Details auslassen, sagen wir einfach, er hat seine Sache gut gemacht, so, wie er die Leiche versteckt hat, wäre sie wochenlang nicht gefunden worden. Wir erwarten natürlich, er würde zum Treffpunkt zurückkommen. Richtig? Falsch. Er ruft anonym bei der Polizei an, und die findet die Leiche. Jeremy setzt zwei Tage lang kaum einen Fuß aus seinem Motelzimmer. Am dritten Tag erscheint eine Story in der Lokalzeitung, und er macht sich auf den Weg. Er mietet ein Auto und fährt durch drei Bundesstaaten, bis er in einer kleinen Stadt namens Barton ankommt. Meiner Quelle zufolge hat er eine Flasche Evian und ein Päckchen Fig Newtons gekauft und ist in eine protestantische Kirche gegangen. Wir glauben, dass er dort vierunddreißig Stunden lang im Besenschrank gewartet hat, bis um zehn Uhr am Freitagmorgen ein Pfarrer aufgetaucht ist und einen Gottesdienst für Walter Mitthell Storms abgehalten hat. Es waren genau drei Leute bei diesem Gottesdienst: Jeremy, der 246
Pfarrer und eine alte Frau in einem orangekarierten Rock, Gummistiefeln und einem rosa Wollpullover. Das Einzige, was mein Beobachter mir nicht sagen konnte, war, ob Jeremy geweint hat.« Merec brachte seine Geschichte zu Ende. Jeremys Gesichtsausdruck war genau der gleiche wie immer - reserviert, unbewegt, unnahbar. Aber tief in seinen Augen meinte Sarah ein Flackern zu sehen. »Also?«, fragte Merec. Aber Sarah richtete ihre Frage an Jeremy. »Glaubst du, an der Beerdingung des Mannes teilzunehmen, den du erschossen hast, macht dich zu einem moralischen Menschen?« »Nein. Aber es macht mich zu einem Menschen. Er qualifiziert nicht.« Jeremy sprach über Merec, als wäre er nicht im Zimmer. »Ist es nicht merkwürdig, ich mache mich lustig über dich, weil du ein Gewissen hast, und du ... du ... welches Wort würdest du verwenden?«, fragte Merec. »Mitleid«, sagte Jeremy sehr deutlich. »Mein lieber Junge«, sagte Merec, während er ihm jovial die Hand auf die Schulter legte. »Nach all dieser Zeit hätte ich erwartet, dass du mich besser kennst. Stolz gehört nicht zu den Stellen, an denen ich verwundbar bin. In Ordnung. Wo war ich? O ja, ich mache mich über dich lustig, weil du ein Gewissen hast, und du bemitleidest mich, weil ich keins habe. Korrekt?« »Das Wort Gewissen würde ich nicht stehen lassen. Ich würde stattdessen das Wort Herz verwenden«, sagte Jeremy, während er sich aus Merecs Griff zog. »Wenn das doch nur wahr wäre. Wenn doch beides wahr wäre, ich wäre viel glücklicher. Nur weil ich allem Anschein nach keine Moral habe, bedeutet das nicht, dass ich deshalb kein Mann bin.« Hier wurde seine Stimme rauer. »Ganz und gar nicht.« 247
»Wie heißt es doch?« Jeremy trat den Rückzug an. »Es ist unser Schicksal, uneins zu sein?« »Und wir sind so wundervoll miteinander ausgekommen Was hat es eigentlich mit den Frauen auf sich, dass sie jede Harmonie zwischen Männern zerstören?« Sarah unterbrach. »Sollten wir nicht unsere Pläne machen?« »Korrekt wie üblich, meine Liebe. In Ordnung, genug der Späße. Machen wir uns an die Arbeit.«
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Im Sonntagsstaat Am Sonntagabend zog Tresler sich langsam an. Über das TShirt zog er eine kugelsichere Weste. Dann knöpfte er ein dunkelblaues Hemd zu und schlüpfte in das Schulterholster. Er hatte seine Pistole an diesem Nachmittag gereinigt, und jetzt lud er sie sorgfältig und überzeugte sich, dass er Reservemunition hatte. Er zog das Jackett über und ging hinaus, um an Stanleys Tür zu klopfen. »Es ist offen«, rief Stanley von drinnen. Tresler traf ihn vor dem Spiegel an, wo er gerade die Krawatte knotete. »Fast fertig«, sagte Stanley. Tresler sah sich im Zimmer um und bemerkte Stanleys kugelsichere Weste auf dem Bett und seine Pistole, die im Holster über der Armlehne eines Stuhls hing. Stanley griff nach seinem Jackett. »Alles klar«, sagte er und ging zur Tür. Tresler rührte sich nicht von der Stelle. »Was ist mit Ihrer Ausrüstung?« »Die nehme ich nicht in eine Kathedrale mit.« »Aber wir gehen nicht in die Kathedrale. Wir überwachen die Sache von einem Bürogebäude gegenüber.« »Ehrlich gesagt, ich habe beschlossen, an dem Gottesdienst teilzunehmen«, gab Stanley zu. »Am Gottesdienst teilzunehmen?« »Ja. Das habe ich vor.« »Aber haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?« »Ich hab's gehört, und ich bin anderer Ansicht. Dies ist ein Gottesdienst für eine unglaubliche Frau, und ich will ihr die Ehre erweisen.« Tresler verdrehte die Augen zur Decke, als erhoffte er sich Hilfe von dort. »Also schön. Ich kann Sie natürlich nicht abhalten, aber nehmen Sie wenigstens die Waffe mit.« 249
»Nicht in eine Kathedrale. Ich sage Ihnen, es passiert überhaupt nichts. Kommen Sie schon, gehen wir.« Er ging voran, und Tresler blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.
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Sonntagsreden Es war die Zeit, wenn der Tag nahtlos in die Nacht übergeht, wenn die Luft frischer wirkt, die Umrisse der Gebäude und Bäume schärfer erscheinen und Geräusche weiter tragen und ein kleines Echo hervorrufen, bevor sie ersterben. An den Türen der Kathedrale war das Licht taghell, aber die Wattleistung stammte nicht von der Sonne, sondern von den Scheinwerfern der Kameraleute. Die Weitwinkellinsen nahmen die Hundertschaften auf, die durch die Türen hereinschlurften, um sich zu setzen und für eine Frau zu beten, die sie nie getroffen hatten. Die Kameras gehörten selbstverständlich zu IBC. Sie waren Stunden zu früh eingetroffen, um sich die besten Plätze zu sichern. Und als die Menschen an ihnen vorbeizogen, bewegten die Interviewer Einzelne von ihnen, für die Kameras eine Frage zu beantworten: »Warum sind Sie heute Abend hier?« Einige der Antworten: »In den Nachrichten haben sie gesagt, dass sie sonst keinen hat. Keinen Mann, keine Kinder, keine Angehörigen. Da hab ich gedacht, wer soll dann für sie beten? Und dann dachte ich, vielleicht ist die ganze Welt ihre Familie.« »Dies ist nicht einmal meine Religion. Ich habe noch nie einen Fuß in ein christliches Gotteshaus gesetzt. Aber meine Tochter ist bei einem Bombenattentat in Israel ums Leben gekommen. Ich bin hergekommen, weil ich ... damit ich andere Menschen unterstützen kann, die ...« Tränen erstickten den Rest des Satzes. »Bei mir haben sie gerade Prostatakrebs diagnostiziert. An dem Abend haben sie das erste Video gezeigt. Und als ich das gesehen habe, und das nächste, da hab ich gewusst, so will ich auch enden. Ich bin hergekommen, weil ich um Sarah Shepherds Mut bitten will.« 251
Merec war sogar schon länger da als die Fernsehkameras. Er trug eine Soutane und war mit Hilfe des Schlüssels, den Karl geliefert hatte, auf die Orgelempore hinaufgestiegen. Dort versteckte er sich hinter den dicken Vorhängen, die er so weit zurückzog, dass er in die Kathedrale hinuntersehen konnte. Er blickte hinunter und konnte sicher sein: wenn die Kugeln kamen, würde es den Leuten auf den Bänken vorkommen, als seien sie von Gott gesandt. Jeremy war in der Menge, die durch die riesigen Türen hereinkam, unter den Ersten gewesen, aber er hatte sich auf eine der hintersten Bänke geschoben. Seine Videokamera enthielt eine neue Kassette, die Akkus waren frisch geladen, und er hatte für beides Ersatz in den tiefen Taschen seiner Windjacke. Die letzten vereinzelten Besucher kamen durch die Türen herein und nahmen ihre Plätze ein. Die Kathedrale war wie eine Höhle, und obwohl die Menschenmenge recht groß war, wirkte sie unbedeutend in dem riesigen Raum. Von seinem Versteck aus sah Merec hinunter auf die schmalen Bänder der Köpfe, sauber in den Bänken aufgereiht wie Enten auf einem Schießstand. All diese Leute hatten ihre klimatisierten Wohnungen verlassen, hatten sich Babysitter für die Kinder besorgt, hatten Geld für Taxis ausgegeben oder vor Hitze keuchend auf stickigen U-Bahnhöfen gewartet. In diesem Augenblick gab es so viele andere Dinge, die sie hätten tun können - den Sonntagabendfilm im Fernsehen ansehen, im Bett ein Buch lesen, eine kühle Dusche genießen, an einem Glas gekühltem Weißwein nippen, Zeit mit ihren Ehepartnern, ihren Kindern, ihren Freunden verbringen. Merec hatte auf unbestimmte Art immer gewusst, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt. Aber bis jetzt hatte er den Gedanken meist verdrängen können. Wenn bei seltenen Gelegenheiten jemand etwas Anständiges, etwas Menschliches getan hatte, war es ein 252
so winziger Funke in dem riesigen Meer gewesen, dass es ihm unbedeutend erschienen war, eine geringfügige Abweichung. Aber jetzt sah er sich all diesen Menschen gegenüber, die in diesem kleinen, aber auf eine gewisse Art bedeutungsvollen Sinn gut waren. Hatte Fritz Recht gehabt? Hatte er wirklich das Talent, die schlimmste Seite im Menschen herauszuholen? War dies wirklich der richtige Zeitpunkt, um zu zweifeln zu beginnen? Merec sah den Organisten auf die Empore kommen und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Ein Akkord hallte durch die Kathedrale, und die Stimmen ebbten ab. Ein zweiter Akkord und dann eine plätschernde Tonfolge, die zu einer Melodie aufblühte. Einige schlossen die Augen, um zuzuhören, aber Stanley versuchte die Herkunft der Musik zu ermitteln. Er entdeckte die riesigen Orgelpfeifen im Dämmerlicht über der Tür. Dann lehnte er sich wieder in der Bank zurück. Als die letzten Töne angeschlagen waren, vibrierten und verklangen, schlüpfte Merec aus seinem Versteck, die Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer in der Hand. Mit drei schnellen, leisen Schritten war er hinter dem Organisten. Er hob die Pistole an den Nacken des Mannes und drückte ab, wobei er den Körper abfing, damit er nicht auf den Tasten landete. Die einzigen Geräusche waren ein leiser Hustenlaut und ein leichtes Tröpfeln. Unten knarrten die Bänke, als die Leute sich auf ihren Sitzen bewegten und auf den Beginn des Gottesdienstes warteten. Als der Priester sprach, waren die Worte vertraut. Er rezitierte das Gebet, das selbst die Atheisten erkannten. Er sprach mit einer leisen, ehrfurchtsvollen Stimme in das Mikrofon, die trug, als flüstere sie in jedes Ohr: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele ... 253
Viele stimmten in die Worte des bekannten Psalms ein. Als sie fertig waren und der Priester wieder sprach, hallte nur seine Stimme durch den Raum. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich mir beim ersten Gebet dieses Abends angeschlossen haben. Obwohl wir es so oft sprechen und obwohl die Worte so vertraut sind, erfordert es manchmal eine Situation wie diese, uns daran zu erinnern, was sie bedeuten.« Er machte eine Pause und sah wieder über die Menge hin. Aber er sah nicht zu der schattigen Empore hinauf, wo Merec dabei war, schnell sein Präzisionsgewehr zusammenzusetzen. »Sie bedeuten, dass wir heute Abend nicht nur hier sind, um für diese tapfere, noble Frau Sarah Shepherd zu beten. Wir sind auch hier, um für die fehlgeleiteten Menschen zu beten, die sie gefangen halten. In seiner Bergpredigt hat Jesus gesagt: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen -« Merec stützte das Gewehr auf der hölzernen Brüstung ab. »Denken Sie darüber nach«, sagte der Priester. »Es ist so einfach, für Sarah Shepherd zu beten. Sie ist gut. Sie leidet. Aber sie ist nicht allein. Sie hat den Weg des Herrn gefunden, und er geht jeden Schritt mit ihr. Überlegen Sie, wie viel schwieriger es ist, für die Menschen zu beten, die vom Weg des Herrn abgekommen sind. Und überlegen Sie auch, wie viel mehr sie unsere Gebete heute Abend brauchen.« Merecs Hand fiel vom Abzug. Es war das Letzte, was er zu hören erwartet hatte. Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken klären, und legte das Auge wieder ans Zielfernrohr. »Denn«, sagte der Priester, die Handflächen zum Himmel gereckt, »so retten wir nicht nur ein verdienstvolles Schaf, sondern auch die unwürdigen. Wir werden sie in der Herde 254
willkommen heißen, wie der verlorene Sohn willkommen geheißen wurde.« Der Priester lächelte, und seine Kehle erblühte rot, als eine Blume von Blut auf die Seiten des Buches vor ihm strömte. Er lächelte immer noch, als er fiel. Die Leute keuchten, als der Priester zusammenbrach, aber weil sie keinen Schuss gehört hatten, waren sie nicht sicher, was geschehen war. Eine Gestalt in Regenmantel und Schal kletterte über die niedrige Barriere, stieg die Stufen hinauf und ging zur Leiche des Priesters hinüber. Sarah sah auf die Gestalt vor ihren Füßen hinunter. Dann nahm sie den Schal ab und ließ den Regenmantel von den Schultern gleiten, so dass alle die Weste sehen konnten, die sie trug - mit den zehn Pfund Sprengstoff, die ihr auf die Brust geschnallt waren. Bevor der Körper des Priesters auch nur auf dem Boden aufgeschlagen war, war Stanley auf den Beinen, sah über die Menge hin, suchte nach dem Schützen und griff nach seiner Waffe. Seine Finger griffen in leere Luft. Eine Bewegung erschütterte die Menge wie Wind in einem Wald, und er hörte, wie der Name geflüstert wurde, »Sarah, Sarah Shepherd«. Er sah nach vorn, und da war sie. Ihr Haar war kurz und dunkel, aber es gab keinen Zweifel. Sie stand neben der Leiche des Priesters, und einen fürchterlichen Moment lang glaubte Stanley, Sarah sei der Schütze gewesen. Aber dann schlüpfte sie aus dem Regenmantel, und er sah, was darunter war. Stanley war vermutlich der einzige Mensch in der Kathedrale, der von dem, was er sah, beruhigt war. Tresler hielt ein Auge auf den Bildschirm, aber der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt dem Bericht eines seiner Beobachter über den Kopfhörer. Offenbar war jemand in Regenmantel und Schal gerade durch eine der Nebentüren ins Seitenschiff geschlüpft. 255
Auf dem Bildschirm sah Tresler den Priester fallen, aber der Kameramann hatte nicht fokussiert, und der Körper war ein undeutlicher Haufen. Tresler trat nahe an das Gerät heran, ging in die Hocke, bis er es in Augenhöhe hatte, und starrte den Körper an. Er war sich fast sicher, unter ihm eine dunkle Flüssigkeit hervorsickern zu sehen, die sich langsam zu einer Amöbenform ausbreitete. Dann kletterte Sarah Shepherd ins Bild. »Holt mehr Leute«, bellte Tresler ins Mikrofon, bevor er sich den Kopfhörer herunterriss. Er wartete nicht auf den Aufzug, sondern nahm die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal, und stürzte aus dem Gebäude. In dieser Sekunde bog kreischend ein Polizeiauto um die Ecke und kam hinter ihm zum Stehen. »Scheiße«, murmelte Tresler. Er hatte gehofft, wenigstens ein paar Minuten Ruhe zu haben, um den Schauplatz zu studieren. Aber sobald die Polizei da war, würde sich eine Menschenmenge sammeln. Er drehte sich um und lief zu dem Streifenwagen hinüber. IBCs Livereporter und der zusätzliche Kameramann waren gegangen, als die Aufnahmen vor der Kathedrale abgeschlossen waren. Sie hatten vor, das Material im Studio mit den Moderatoren abzustimmen. Es war nur noch eine Kamera übrig, um das Ereignis festzuhalten, und ein einziger Kameramann. Der Rest des Teams saß draußen im Transporter. Im ersten Schreck war der Kameramann bei einer Aufnahme des Podiums eingefroren. Und als Sarah auf die Bühne kam, sah er an der Kamera vorbei, als traute er dem nicht, was er durch die Linse sah. Aber er hatte auch noch einen Ohrhörer, durch den das Studio ihm Anweisungen geben konnte, und dort erholte man sich etwas schneller. Die schrillen Schreie brachten ihn wieder in Bewegung. »Mach die Aufnahme. Warren? Warren! Mach die Scheißaufnahme!« 256
Dann wurde Warren klar, was er vor sich hatte. Während des Vietnamkriegs war er ein Teenager gewesen, und er war ein halbes Dutzend Male abgewiesen worden, als er sich um Arbeit im Golfkrieg, in Bosnien, in Afrika beworben hatte. Jetzt wurde sein Traum wahr. Es war genau das, wofür ein Kameramann lebt. Liveaufnahmen von einer Katastrophe. Der Direktor sah die Aufnahmen allein in seinem Büro. Er hatte die Sendung eingeschaltet und sie im Hintergrund laufen lassen, während er andere Arbeiten erledigte. Aber die Predigt des Priesters hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Der Direktor kam aus einer katholischen Familie, wobei er die Religion schon lange zu Gunsten greifbarerer Ziele aufgegeben hatte und seit Jahrzehnten nicht mehr in der Kirche gewesen war. Die vertrauten Zitate, die unerwartete Wendung zu den Kidnappern statt zu dem Opfer zogen seine Aufmerksamkeit von dem Stoß Papiere auf seinem Schreibtisch ab. Er sah zu, als der Schuss die Kehle des Priesters zerriss. Der Direktor schrie auf. Es war kaum mehr als ein Grunzen, aber bei einem Mann, der für seine strenge Selbstbeherrschung bekannt war, war es bemerkenswert. Unmittelbar danach sah er zur Tür seines Büros hinüber. Sie war geschlossen. Seine Augen glitten wieder zum Bildschirm. Dort stand Sarah Shepherd neben der Leiche des Priesters. Sie schlüpfte aus dem Regenmantel, und die Augen des Direktors wurden schmal vor Vergnügen. Er sah, dass sein Freund eine bemerkenswerte Show inszeniert hatte. Sarah sah hinaus über die hunderte von Gesichtern, die zu ihr hinaufstarrten. Das Blut auf dem Boden hatte ihre Schuhe eingeschlossen und tropfte die Marmorstufen hinunter. Sie würde niemals von hier entkommen können. Sie würden einfach der blutigen Spur ihrer Füße folgen. Würde, dachte sie, Würde. Sie streckte eine Hand nach der 257
Kante des Pultes aus, um sich abzustützen, und als sie sprach, war ihre Stimme wie durch ein Wunder klar. »Bitte bleiben Sie sitzen. Sie sind sicher, wenn Sie bleiben, wo Sie sind.« Diejenigen, die aufgestanden waren, um besser zu sehen, was vor sich ging, sanken sofort wieder auf den Sitz, zogen die Schultern ein, beugten die Köpfe, versuchten sich in ihrer neuen Rolle als Zielscheiben kleiner zu machen. Sie sprach in klarem, stetigem Ton weiter. »Mein Name ist Sarah Shepherd.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß nicht, ob Sie alle meine Geschichte kennen. Vor zwei Wochen habe ich noch im Pflegeheim Willowridge unten in Virginia gelebt. Ich dachte, dort würde ich den Rest meines Lebens bleiben. Es hat mir damals nicht viel ausgemacht. Mein Mann war kurz zuvor gestorben, und ich hatte nichts sonst, niemanden sonst. Aber das wollen Sie sicher nicht hören.« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, ich bin es nicht gewöhnt, vor großen Menschenmengen zu sprechen. Ich war vier Monate in Willowridge. In meiner Zeit dort hatten wir nur ein paar Besucher. Die meisten Patienten waren schon senil, also haben ihre Angehörigen sich nicht die Mühe gemacht, oft zu kommen. Und die anderen, na ja, sie wären nicht dort gewesen, wenn sie jemanden gehabt hätten, dem an ihnen lag.« Sie konzentrierte sich auf das Gesicht einer Frau in der vordersten Reihe. Wie konnte Sarah erwarten, dass diese Leute verstanden? Sie sprach schnell weiter, ohne zu wissen, dass sie die Details kannten, ebenso wie wohl jeder Mensch im ganzen Land. »Dann hatten wir sehr ungewöhnliche Besucher. Soviel ich weiß, haben sie alle Bewohner und die Angestellten getötet außer mir und einer anderen Frau. Sie haben sie dort gelassen und mich mitgenommen, und seither bin ich eine Geisel.« Sie hielt inne, um tief Luft zu holen, und verlagerte ihr Gewicht. Ihre Füße rutschten in der Blutpfütze. Das Geräusch einer Sirene drang schwach durch die dicken Steinmauern. »Bewegen Sie sich nicht«, befahl Sarah. Ihre Stimme wurde 258
sanfter. »Bitte, bewegen Sie sich nicht von der Stelle. Mir wurde gesagt, dass draußen ein zweiter Mann postiert ist, der jeden Menschen, der die Tür erreicht, im Schussfeld hat.« Sarah hörte ein leises Schluchzen aus der Menschenmenge vor ihr. Sie roch die Furcht. Oder vielleicht war es auch der Geruch des Blutes, das ihre Füße wie ein Fluss umspülte. Merec hörte Sarah zufrieden zu. Seine Voraussage hatte sich glücklicherweise erfüllt, und er brauchte niemanden zu erschießen, der zur Tür zu rennen versuchte. Seiner Erfahrung nach führte die erste unkontrollierte Panik oft dazu, dass die Leute erstarrten wie Wild im Scheinwerferlicht. Jetzt mussten Sarahs Worte zu ihnen durchgedrungen sein, und sie würden bleiben, wo sie waren. Sie würden sitzen bleiben und zuhören, bis sie zu den Zeilen kam, die er für sie geschrieben hatte. Stanley reckte den Hals und versuchte verzweifelt, den Schützen auszumachen. Wenn er seinen Standort herausfand, konnte er auch einen Weg finden, an ihn heranzukommen. Wenn er ihn nicht fand, würde er nur sich selbst retten können - und es sprach für ihn, dass er daran keinen Gedanken verschwendete. Aber nur ein Teil von Stanleys Hirn berechnete seinen eigenen Standort, seine Möglichkeiten, seine Strategie. Die andere Hälfte war wie gebannt von Sarahs Stimme. Sie war klarer, knapper und paradoxerweise auch sanfter, als sie in den Videoaufzeichnungen gewesen war. Sie hypnotisierte ihn. Sie schien nicht zu seinen Ohren, sondern zu seinem Herzen zu sprechen. Niemand bemerkte Jeremy mit seiner kleinen Handkamera. Er filmte ungestört alles, was vor sich ging. Tresler schlich durch das Labyrinth von Polizeiautos, die kreuz und quer auf der Fifth Avenue geparkt waren. Er stellte ein Team ab, das die Menschenmenge unter Kontrolle halten 259
sollte. Er hielt Kontakt zu seinen Beobachtern, um zu erfahren, ob jemand das Gebäude verließ. Vor allem sorgte er dafür, dass jeder Beamte wusste, es gab Geiseln, und Helden wurden nicht gebraucht. Als das erledigt war, ging er hinüber zum Wagen des Fernsehteams und kämpfte sich durch die Menge, um vor dem Bildschirm in die Hocke zu gehen und zuzusehen, wie sich das Drama in der Kirche entwickelte. »Ich habe gehört«, sagte Sarah zögernd, »dass Sie alle hierher gekommen sind, zumindest unter anderem, um für mich zu beten?« »Ja«, trieben ein paar zögernde Stimmen zu ihr herauf, dünn vor Furcht. »Danke.« Sie räusperte sich. »Ich soll Ihnen etwas ausrichten von dem Mann, der diese -«, sie hatte sagen wollen »Party«, merkte aber dann, wie entsetzlich unangebracht das gewesen wäre. Sie verhaspelte sich und sagte stattdessen: »- dieses Spektakel organisiert hat. Ich kann ihn nicht beschreiben. Ich habe jemanden wie ihn noch nie getroffen. So, wie manche Leute mit Karten spielen, spielt er mit Leben. Und er hat mir eine Botschaft an Sie alle mitgegeben.« Sarah fasste das Pult fester. Sie stellte fest, dass sie diesen Teil ihrer Aufgabe nicht mochte. Merec hatte die Gabe, seine Forderungen mit einer spöttischen, sardonischen Ironie vorzutragen, die ihnen eine Wendung zum Launenhaften, zum Schicksalhaften gab. Sie sprach langsam, ernsthaft. »Er sagt, er wird alle hier unversehrt gehen lassen, wenn ... wenn jemand bereit ist, sein Leben zu opfern. Alles, was diese Person tun muss, ist, aufzustehen und zur Kathedralentür hinauszugehen. Er verspricht, dass es schnell gehen wird.« Die Menge war still. Sogar das Schluchzen war verstummt. Dann rief jemand: »Wird es Sie retten?« Aber die Stimme klang hart, nicht hoffnungsvoll. Sarah schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich Teil 260
des Handels bin.« Sie wusste sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Jemand nahm das schlecht gewählte Wort auf. »Handel?«, sagte ein Mann in mittleren Jahren. »Handel!« Und die Stimme schwoll in einem Crescendo an. »Das nennen Sie einen Handel?« »Es ist nicht meine Entscheidung«, sagte sie, aber die Worte gingen unter in dem Ruf, den die Leute vor ihr aufgenommen hatten. Ein Mann mit weißem Haar und einem buschigen Schnauzbart stand auf, die Faust gereckt. Ein Schuss krachte. Der alte Mann fiel unverletzt auf die Bank zurück. Alle Welt zuckte zusammen. Merec hatte den Schalldämpfer abgenommen und schoss mit der Pistole in die Luft. Es dauerte eine volle Minute, bis die Menschen die Köpfe wieder zu heben begannen. Sie sahen als Erstes Sarah, die hoch aufgerichtet und streng vor ihnen stand. »Wer geht?«, fragte sie. Als er in der Nacht zuvor mit Sarah im Bett gelegen war, hatte Merec geträumt. Er träumte, dass jeder einzelne Mensch nach Sarahs Worten aufstand und dass sie alle zusammen die Kathedrale verließen. Aber jetzt wartete er. Er starrte in die Menge, und niemand bewegte sich. Sarah sah über die Köpfe hinweg. Die Sekunden schienen straff gespannt, ein Hochseil aus Zeit. Stanley drehte sich auf seiner Kirchenbank und suchte in den Ecken und Winkeln nach dem Glänzen von Metall. Merec holte eine kleine Plastikschachtel aus der Hosentasche. Er zog einen Finger an der Kante entlang, öffnete sie, so dass man den leuchtend roten Knopf im Innern sah, und legte sie auf der Brüstung ab. Er griff tief in die mitgebrachte Tasche, zog eine zweite, identische Schachtel heraus und legte sie neben die erste. Beim Öffnen erschien ein blauer Knopf. 261
Schließlich brachte er eine dritte zum Vorschein. Ihr Knopf war weiß. Er nahm die erste und drückte beiläufig auf den roten Knopf. Nichts geschah, denn dies war Sarahs Attrappe. Er steckte sie wieder ein. Seine Hand hing über dem blauen Knopf, als seine Augen unten eine Bewegung wahrnahmen. Zuerst bemerkten nur einige Leute in der Nähe, dass Stanley aufstand. Er hatte weit hinten gesessen, nur ein paar Reihen vor Jeremy. Aber bald lief die Neuigkeit durch die Menge, und Köpfe drehten sich. Die Bewegung erregte Sarahs Aufmerksamkeit, und sie sah den Mann hinten in der Kirche stehen. Sie sprach ihn an. »Wie heißen Sie?«, fragte sie. Er umklammerte die Bank vor ihm. »Stanley Wall.« »Stanley Wall«, wiederholte sie und nickte ihm zu. Er nahm an, das sei sein Zeichen, und ließ widerstrebend die Lehne vor sich los. Er hätte gern etwas mehr von ihr bekommen. Das einzige Problem war, er wusste nicht was. Wäre er ihr näher gewesen und hätte sie deutlicher sehen können, wäre er vielleicht mit ihren leuchtenden Augen zufrieden gewesen. Er schob sich an den Knien der Leute neben ihm vorbei und ging den breiten, marmornen Mittelgang hinunter zur Tür. Seine eigenen Bewegungen schienen ihm langsam und traumartig. Er stieß die riesige Tür auf und trat über die Schwelle, geblendet von den blitzenden Lichtern der Polizeiautos und den Scheinwerfern der Kamerateams. Er hob automatisch eine Hand, um seine Augen zu schützen. Er stand einen Augenblick vor der Tür, dann ging er ein paar Schritte nach vorn, bis er in der Mitte der Marmorplattform stand. Er breitete die Arme aus, halb Einladung, halb Frage. Die Fernsehkamera hatte Stanley entdeckt und auf ihn fokussiert, als er den Mittelgang erreichte. In dem engen Lieferwagen vor der Kathedrale stöhnte Tresler: »Was denken Sie 262
sich eigentlich?« Merec hatte Stanleys Kopf im Visier, kaum dass er aufgestanden war. Er folgte ihm mit dem Gewehrlauf, als Stanley zum Mittelgang und dann zu den Türen ging. Aber als er zum ersten Mal sein Gesicht sah, erkannte Merec ihn von der Einführung zu dem ersten Video. Und als Stanley den Mittelgang entlangging, ließ Merec ihn unter die Empore und aus seinem Blickfeld verschwinden. Er legte das Gewehr auf den Boden, nahm sich die beiden Zünder wieder vor und öffnete einen davon. Jetzt. Er musste es jetzt tun. Er duckte sich hinter die massive hölzerne Brüstung, murmelte: »Auf Wiedersehen, Sarah«, und drückte auf den blauen Knopf. Das Geräusch dröhnte von den Steinwänden zurück. Merec legte den Finger über den weißen Knopf und dachte an Jeremy, der nichts von diesem zweiten Zünder oder von den kleinen, kaugummiförmigen Stücken Plastiksprengstoff wusste, die Karl unter den Bänken angebracht hatte. Dann drückte er auf den Knopf. Der IBC-Kameramann hielt die Kamera immer noch auf die geschlossene Tür gerichtet, durch die Stanley verschwunden war, als Merec auf den ersten Knopf drückte. Die Zuschauer im ganzen Land, die sich auf ihren Sofas und Sesseln vorbeugten, hörten nur das hallende Dröhnen und dann die Schreie. Als die Kamera herumschwenkte, hatten sie einen undeutlichen Eindruck von weißen Gesichtern. Die Kamera vollendete den Schwenk und kam auf dem Altarraum zur Ruhe. Das Pult war von der Explosion umgeworfen worden, und der kunstvoll geschnitzte Stuhl, der ein paar Schritte dahinter gestanden hatte, war zerbrochen. Und natürlich war Sarah verschwunden. Einen Augenblick später folgte eine zweite Explosion, und die Leute, die im ganzen Land vor dem Fernseher saßen, sahen plötzlich nur noch weißes Flimmern.
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Das Dröhnen der ersten Explosion war schwach, gedämpft von den Steinmauern von Saint Patrick's. Stanley hörte die Schreie im Inneren und machte sich auf den Weg zurück zur Tür. Aber eine zweite betäubende Explosion ließ ihn zurückfahren, als er gerade nach der Klinke greifen wollte. Die Ohren dröhnten ihm. Zögernd griff er wieder nach der Tür. Als er sie öffnete, drang Rauch in trägen, gekräuselten Bändern ins Freie, und er spürte einen scharfen, beißenden Rauch in der Kehle. Die Schreie hatten aufgehört; aus dem Inneren der Kirche drang nichts als Schweigen.
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Hinweise und Kirchenlieder Tresler rannte aus der Menschenmenge um den Übertragungswagen die Stufen hinauf und war dicht hinter Stanley, als dieser über die Schwelle trat. Im Inneren der Kathedrale war es rauchig und dunkel - die Explosion hatte die hunderte von Kerzen gelöscht, die an den Wänden geflackert hatten. Sie blinzelten im beißenden Rauch, aber sie konnten immer noch sehen, dass dort, wo einmal Reihen und Reihen von Bänken gestanden hatten, nur noch ein dicker Teppich von zersplittertem Holz und zerschmetterten Körpern war. Polizisten drängten sich hinter Tresler und Stanley in die Kathedrale. Sie unterhielten sich, als sie eintraten, aber als sie den Anblick vor sich sahen, verstummten sie. Tresler wandte sich an denjenigen, der ihm am nächsten stand. »Holen Sie Hilfe«, sagte er. Der junge Mann warf noch einen Blick auf die Verwüstung im Inneren. Seine Augen waren weit. Dann nickte er und flüchtete. »Alle anderen, schwärmen Sie aus und versuchen Sie Überlebende zu finden«, wies Tresler die kleine Schar an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass da drin noch jemand am Leben ist«, flüsterte jemand. »Sehen Sie trotzdem nach.« Tresler sicherte die offenen Türen, damit der Rauch sich verziehen konnte, und lief einen der Nebengänge hinunter. Während er sich einen Weg durch die Trümmer bahnte, suchte er die Abschnitte rechts und links nach Bewegungen ab. Nach einem Viertel des Weges meinte er, etwas wie ein schwaches Husten zu hören. Er spähte durch den Rauch. Nichts. Er wollte schon weitergehen, als er eine schwache Bewegung unter einem Brett bemerkte. »Ist hier schon ein Sanitäter?« Es war einer da. »Da ist jemand am Leben«, sagte er. Er wartete, bis 265
der Mann ihn erreicht hatte, und zeigte ihm die Stelle. Dann ging er weiter zum Altarraum. Er kletterte über das niedrige Geländer, ging zu dem Priester hinüber und beugte sich über die Leiche. Die Austrittswunde war genau in der Mitte des Nackens, der Schuss konnte also nicht von der Seite gekommen sein. Und sie war zu akkurat, als dass jemand ohne aufzulegen aus der Menge heraus geschossen haben könnte selbst wenn es möglich gewesen wäre, dies unbeobachtet zu tun. Tresler sah das Schiff entlang, und die lange schattige Empore, die die riesigen Orgelpfeifen beherbergte, zog seinen Blick an. Er sah zurück zu dem Priester und dann wieder nach oben. Dann schrie er nach Stanley. Sie fanden die Treppe, die zur Empore führte, und schlichen hinauf, Tresler voran, die Waffe gezogen, Stanley nur einen Schritt hinter ihm. Sie stießen auf den stillen Körper des Organisten, der nach der Seite zusammengesackt auf der Bank lag. Es kostete sie nur einen Blick, um festzustellen, dass Merec gekommen und wieder gegangen war. Tresler senkte die Waffe und ging zum Geländer hinüber. »Perfekte Sicht«, murmelte er. »Scheiße.« »Sehen Sie mal«, rief Stanley. Tresler drehte sich um. Stanley stand neben dem Organisten, aber er sah nicht den Mann an. Er starrte auf etwas, das neben der Leiche lag, teilweise von den Falten des Talars verdeckt. Tresler ging hinüber und schob den Stoff zur Seite, der Gewehr, Pistole und Zünder verdeckt hatte. Sie sahen auf das tödliche Häufchen hinunter. »Das bringt uns vielleicht irgendwas«, sagte Stanley. »Einen Fingerabdruck zumindest.« »Vielleicht.« Tresler war skeptisch. »Na, wenigstens können wir's versuchen. Ich gehe runter und hole ein paar Leute, die sich um das hier kümmern.« Stanley verschwand die Treppe hinunter, während Tresler bei der Orgel stehen blieb. Seine Augen glitten über die Leiche und hinauf zu 266
dem Blut, noch nass und glitschig, das auf das Instrument gespritzt war. Er begann das Kirchenlied zu lesen, das aufgeschlagen war. Nach der Hälfte hörte er auf zu lesen, und eine kleine Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Er beugte sich vor, näher zu dem Buch, und studierte die Seite, dann sah er sich das Pult an, auf dem es stand. Es war mit Blut besudelt, aber die aufgeschlagene Seite war absolut sauber. In diesem Augenblick kam Stanley mit zwei Polizisten im Schlepptau zurück. Er erklärte den Männern, wovon er Fingerabdrücke wollte und dass sie alles nach Haaren und Fasern absuchen sollten, als Tresler unterbrach. »Was hat der Organist am Anfang des Gottesdienstes gespielt?«, fragte er. Stanley sah ihn an, als wäre er verrückt geworden. »Was?« Tresler wiederholte die Frage. »Weiß ich nicht mehr«, sagte Stanley. »Ging es so?« Und er summte ein paar Takte, die er von dem Notenblatt ablas. Stanley seufzte. »Nein, ich glaube nicht, dass es das war.« »Und was ist mit dem hier?« Und er summte aus dem Gedächtnis eine andere Melodie. »Ja, das ist die richtige.« Tresler beugte sich über das Buch und begann laut vorzulesen: Herr, nicht irdische Schätze, nicht Silber noch Gold, Nur ein Platz in deinem Hause sei mein himmlischer Sold. In dem Buch deines Reiches mit den Seiten so rein - Wird mein Name, o Jesus, geschrieben dort sein? Wird mein Name geschrieben auf der Seite so rein, Wird mein Name, o Jesus, geschrieben dort sein? Als er fertig war, wartete Tresler gespannt. »Und?«, fragte Stanley. »Merec hat das Buch dagelassen.« Stanley war sofort neben ihm. »Woher wissen Sie das?«, 267
fragte er. »Zunächst mal war das nicht das Lied, das am Anfang des Gottesdienstes gespielt wurde. Zweitens, sehen Sie sich die Blutflecken an.« »Da sind keine«, sagte Stanley. »Genau.« Es dauerte eine Minute, bis es angekommen war. »Scheiße auch«, flüsterte Stanley, während er sich vorbeugte und die Zeilen noch einmal durchlas. »Was bedeutet das?« »Ich habe keine Ahnung«, gab Tresler zu. »Scheiße, Tresler, was nützt es uns dann? Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, Sie haben Recht, und er hat es uns wirklich dagelassen. Aber das hat er bloß gemacht, um uns verrückt zu machen. Es bedeutet in Wirklichkeit gar nichts.« Stanley kehrte zu den anderen Beamten zurück, aber Tresler blieb über das Buch gebeugt stehen und wiederholte die Worte leise für sich. Beim Refrain blieb er stecken und flüsterte: »Wird mein Name geschrieben ...« Er machte eine Pause, dann wiederholte er: »Wird mein Name geschrieben?« Er richtete sich auf, und seine Augen glitzerten. Er stürzte zum Geländer, beugte sich darüber und suchte den Boden unter der Empore ab. »Passen Sie auf, Tresler, ruinieren Sie die Spuren nicht«, warnte Stanley. Tresler achtete nicht auf ihn und beugte sich noch weiter vor. Plötzlich stieß er einen Ruf aus. »Da ist es!« Wie der Blitz drehte er sich um und rannte zur Treppe. »Was? Was ist da?«, rief Stanley ihm nach. Als er keine Antwort bekam, sah er zu den beiden Männern hinüber, die bei der Spurensicherung waren, und zur Treppe, wo Tresler verschwunden war. Es dauerte nur eine Sekunde der Unentschiedenheit, bevor Stanley ihm nachrannte. Er entdeckte Tresler auf den Knien neben einem hölzernen Sockel, den die Explosion umgeworfen hatte. Aber als er näher kam, sah er, dass es in Wirklichkeit nicht der Sockel war, den Tresler 268
untersuchte, sondern ein großes Buch, das danebenlag. »Was ist los?«, wollte Stanley wissen. »Es ist intakt. Die Säule muss es vor der Explosion geschützt haben.« »Was geschützt?« »Das Buch deines Reiches.« »Wovon reden Sie eigentlich?« Stanley ging neben Tresler in die Hocke, um besser zu sehen. »Tresler, das ist doch bloß das Besucherbuch.« »Ich weiß.« »Was wollen Sie mit dem Besucherbuch? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Merec sich die Mühe gemacht hat.« Tresler antwortete nicht. Er blätterte weiter in den Seiten. »Tresler, ich glaube nicht, dass unser Mann sich eingetragen hat. « »Nein? Wissen Sie noch, wie er den Radiosender angerufen hat? Am Ende unserer Unterhaltung hat Merec gesagt: >Wenn der richtige Zeitpunkt kommt, werde ich dafür sorgen, dass Sie mich finden können<.« »Und?« Tresler rezitierte aus dem Gedächtnis: »Wird mein Name geschrieben auf der Seite so rein, Wird mein Name, o Jesus, geschrieben dort sein?« Tresler wartete geduldig, bis der Groschen fiel. »Oha, sagte Stanley mit plötzlichem Verständnis. »Oh.« Er setzte sich auf die Fersen zurück, während Tresler weiter die Einträge studierte. »Er ist nicht hier«, murmelte Tresler. »Wo ist er?« »Wissen Sie, ich hab mich in dem anderen eingeschrieben«, sagte Stanley. »Was?« Tresler sah scharf auf. »Das andere Besucherbuch. Da drüben hinter der anderen Säule.« Er deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung. Als sie hinübergingen, mussten sie innehalten, um eine Trage vorbeizulassen. Dann saßen sie beide über dem zweiten 269
Buch, während ringsum die blutigen Aufräumungsarbeiten weitergingen. Tresler studierte es, blätterte zurück, bis er den Finger unter einen Eintrag legte. »Da«, sagte er. Stanley las den Namen. »Salomon Greer ... Sie meinen, das ist er?« »Ich weiß es«, verbesserte Tresler. »Als wir am Telefon geredet haben, hat er gesagt, ich hätte die Weisheit Salomons.« Stanley verfolgte den Eintrag weiter und las laut vor; »Hotel Hilton, Zimmer 435 ... Da könnte was dran sein, Tresler.« Stanley stand auf. »Also, worauf warten wir?«
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Ein neuer amerikanischer Held Eine halbe Stunde später betraten Stanley und Tresler das Hilton mit ein paar hastig zusammengerufenen Männern als Verstärkung. Als sie an der Rezeption nachfragten, stellte sich heraus, dass in Zimmer 435 tatsächlich ein Salomon Greer wohnte. Sie beschafften sich den Zweitschlüssel, fuhren in den vierten Stock hinauf, schlichen den Gang entlang und hielten vor der Tür inne. Die Männer stellten sich in einem Halbkreis mit gezogenen Waffen auf, und Tresler trat vor, um zu klopfen. Es kam keine Antwort. Er klopfte ein zweites Mal, lauter. Immer noch nichts. Tresler gab den hinter ihm stehenden Männern ein Zeichen, schloss die Tür auf und stieß sie nach innen. Als sie aufging, sah er in ein auf den ersten Blick leeres Zimmer. Er ging vorsichtig hinein, die Waffe gezogen. Die anderen kamen rasch hinterher und verteilten sich, um im Bad, im Schrank, unter dem Bett nachzusehen. »Er ist nicht da«, sagte Stanley. »Was für ein Hundesohn.« Er drehte sich um und trat einen Stuhl über den Haufen. »Herrgott noch mal, Tresler, er ist nicht da.« Tresler machte langsam eine Runde ums Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch in der Ecke stehen. Mit Daumen und Zeigefinger hob er ein Stück Notizpapier auf. »Was ist das?« Stanley war mit zwei Schritten bei Tresler und nahm es ihm vorsichtig aus den Fingern. Er las laut vor: Lieber Agent Tresler, ich wollte nicht verschwinden, ohne Ihnen einen Ratschlag zu geben. »Ein guter Mensch kann dumm und dabei immer noch gut sein. Aber ein schlechter Mensch muss Hirn haben unbedingt.« Wie ich Ihnen schon sagte, Sie haben den falschen Beruf. Es hat Spaß gemacht. Merec 271
Stanley ließ den Zettel angewidert wieder auf den Schreibtisch fallen. »Das war's dann wohl mit dieser Spur.« »Ich hole Leute zur Spurensicherung«, sagte Tresler. Er nahm sein Handy heraus und telefonierte. Stanley ließ sich in einen Sessel fallen, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Als Tresler fertig war, war Stanley eingeschlafen und schnarchte. Tresler weckte ihn mit einer leichten Berührung an der Schulter wieder auf. »Ich erledige das hier. Warum gehen Sie nicht zurück ins Hotel und legen sich ins Bett?« Stanley sah auf und war drauf und dran, nein zu sagen, aber dann zögerte er und stimmte zu. »Yeah, wahrscheinlich mach ich das. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich anrufen, wenn Sie irgendwas finden.« Tresler nickte. Stanley stemmte sich mühsam aus seinem Sessel hoch und ging zur Tür. Aber unmittelbar bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um. »Wie groß, meinen Sie, ist unsere Chance, ihn jetzt noch zu kriegen?« Tresler zuckte die Achseln. »Im Ernst«, drängte Stanley. »Nicht groß«, gab Tresler zu. »Wahrscheinlich ist er in ein paar Tagen nicht mehr im Land.« »Das dachte ich mir«, seufzte Stanley und verließ den Raum. Als er bei seinem Hotel ankam, stellte er fest, dass die Straße draußen von Pressefahrzeugen flankiert war. Er wurde durch die Scheiben hindurch entdeckt, noch bevor er das Foyer betreten hatte. Drinnen griff alles hastig nach der Ausrüstung, und die Reporter kamen auf ihn zugestürzt, ihre Kameraleute und Beleuchter im Schlepptau. Sobald er die Drehtür hinter sich hatte, drängten sie sich um ihn, schrieen Fragen und wedelten mit ihren Mikrofonen. »Ich verstehe kein Wort«, sagte er. Als sie sich beruhigt hatten, fuhr er fort: »Ich werde Ihnen gern Ihre Fragen beantworten, aber vorher habe ich eine Frage an Sie.« Jetzt 272
warteten sie respektvoll auf seine Frage: »Sind Sie wirklich alle meinetwegen hier?« Jeder Mensch in der großen Gruppe, die ihn umgab, lachte. »Detective Wall, wissen Sie das nicht? Alle Welt nennt Sie den neuen amerikanischen Helden.« »Das ganze Land hat gesehen, was Sie getan haben«, warf eine Frau in einem türkisfarbenen Kostüm ein. »Jetzt senden sie die Aufnahme alle zehn Sekunden.« Es kam ihm vor, als habe sich die Explosion vor Jahren ereignet, nicht erst vor ein paar Stunden. »Oha, sagte er. Sie lachten wieder und reckten eifrig die Mikrofone, und Stanley wurde klar, dass sie mitschnitten. »Wie fühlt man sich denn als Held?«, fragte das Türkiskostüm. »Aber ich habe niemanden gerettet«, protestierte Stanley, Nur mich, dachte er. »Sie waren bereit, Ihr Leben für fremde Menschen zu opfern. Warum haben Sie das getan?«, rief ein anderer Reporter. Sie warteten auf seine Antwort, während die Mikrofone sacht schwankten wie schwere Blumen im Wind. »Ich bin Polizist. Das ist mein Job.« Jetzt setzten die Fragen erst richtig ein. »Sie arbeiten unten in Washington. Ist es wahr, dass Sie in New York sind, um den Fall Sarah Shepherd zu bearbeiten?« »Das ist richtig. »Haben Sie vorhergesehen, dass bei dem Gottesdienst so etwas passieren würde? Haben Sie deshalb daran teilgenommen?« Er war entsetzt. »Ich hoffe doch, dass ich mich ein bisschen besser vorbereitet hätte, wenn das der Fall gewesen wäre. An dem Gottesdienst habe ich teilgenommen, weil ...« »Ja?«, drängte ein Reporter. Er versuchte es in so wenigen Worten wie möglich zu sagen. Aber seine Stimme brach trotzdem dabei. »Ich bin wegen 273
Sarah gegangen.« Diese Aufnahme erschien fast so oft wie sein heroischer Gang durch die Kathedralentür.
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Überreste Es war nur eine kurze Fahrt stadtauswärts zu dem Ort, an dem Merec sich mit Karl verabredet hatte. Nachdem er aus dem Bus gestiegen war, ging er in einen nahe gelegenen Spirituosenladen und kaufte eine Flasche teuren Scotch. Danach brauchte er nur noch fünf Minuten zu dem Motel. Als er auf den Parkplatz kam, empfing ihn der Anblick des vertrauten Autos vor einem der Zimmer. Er klopfte, und Karl öffnete die Tür und trat zurück, um ihn eintreten zu lassen. Merec kam herein und nahm den Scotch aus der Papiertüte. »Hast du Gläser hier?« Karl verschwand ins Bad und kam mit zweien zurück. Er stellte sie auf den Tisch, und Merec goss großzügig ein. Während er Karl ein Glas reichte, sagte er: »Ich gehe davon aus, dass du die Nachrichten gesehen hast.« Karl nahm das Glas und nickte. »Ganz außergewöhnliche Arbeit.« Karl reagierte nicht. «Was ist mit dem Bonus?« »Kommt sofort. Karl hob sein Glas, und beide tranken den Inhalt in einem Zug. Während er nachschenkte, schlug Merec vor: »Warum machst du nicht den Fernseher an, und wir sehen uns die neusten Entwicklungen an?« Karl stellte bereitwillig das Glas ab und ging durchs Zimmer, um das Gerät einzuschalten. »Okay so?«, fragte er. »Perfekt«, antwortete Merec. Sie richteten sich in Stühlen auf beiden Seiten des kleinen Tisches ein, sahen die Nachrichten und nippten an ihren Gläsern. Eine Viertelstunde später fiel Karls Glas mit einem dumpfen Aufschlag auf den Teppich. Merec sah zu ihm hinüber. Karls Kopf war in einem unbequemen Winkel nach hinten gefallen, und die Augen waren nach oben gerollt, so dass unter den 275
Lidern nur noch ein dünner Rand der Iris zu sehen war. Merec streckte sich und stand auf. Er tastete an Karls Hals nach dem Puls, und nachdem er sich vergewissert hatte, bückte er sich und hob das Glas vom Boden auf. Er zog ein Paar Handschuhe aus der Tasche, zog sie an und machte sich daran, alle Fingerabdrücke vom Glas zu wischen. Er drückte Karls Finger wieder darum und legte es dann zurück auf den Boden, wo es zuvor gelandet war. Er wiederholte die Prozedur mit der Flasche Scotch und der kleinen Glasampulle, die das Gift enthalten hatte. Er durchsuchte Karls Gepäck nach allem, das ihn mit Merec oder mit der Kathedrale in Verbindung bringen konnte. Nachdem er nichts gefunden hatte, spülte Merec sein eigenes Glas, stellte es wieder auf die Badezimmerkommode und ging hinaus auf den Parkplatz. Ein paar Schritte die Straße entlang gab es ein zweites Hotel, und er nahm sich ein Zimmer für die Nacht. Als Erstes reservierte er sich telefonisch ein Flugticket für den folgenden Nachmittag. Dann duschte er lange, schaltete das Licht aus und legte sich aufs Bett. Er schlief fast sofort ein, aber es war kein friedlicher Schlaf. Am nächsten Morgen kaufte Merec mehrere Zeitungen und suchte sich ein Cafe. Er setzte sich an einen Tisch, bestellte ein leichtes Frühstück und sah die Zeitungen durch. Die Geschichte stand in jeder einzelnen davon auf der oberen Hälfte der ersten Seite. Merec nahm einen Schluck Kaffee und begann zu lesen. Er überflog den Bericht über die Ereignisse mit Befriedigung, bis er zu einem Satz kam, der ihn innehalten ließ. Er griff sich die nächste Zeitung, um die Information zu überprüfen, und fand sie auch hier. Karls Installationen waren nicht fehlerfrei gewesen; unter denjenigen Besuchern, die in den letzten Reihen gesessen hatten, hatte es Überlebende gegeben. Keiner der Artikel nannte die Namen, aber man bat um Information über einen jungen Mann, der durch die Explosion das Gedächtnis verloren zu haben schien. 276
Merec seufzte, faltete die Zeitung zusammen und winkte der Kellnerin. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber es bestand immerhin die Möglichkeit, dass der junge Mann Jeremy war. Es lag nicht in Merecs Natur, eine Aufgabe unvollendet zu lassen, und es sah so aus, als sei seine Arbeit noch nicht ganz getan.
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Etwas fehlt Tresler blieb in Zimmer 435, bis das Spurensicherungsteam seine Arbeit beendet hatte. Er wollte an Ort und Stelle sein, für den Fall, dass etwas von Bedeutung auftauchte. Sie konnten ein paar Fingerabdrücke sichern, und es fanden sich einige Haare im Abfluss der Badewanne, aber das war alles. Der Leiter des Teams versprach, man würde in dieser Nacht noch damit anfangen, die Fingerabdrücke vom Computer überprüfen zu lassen, aber niemand konnte sagen, wann - oder ob - sich eine Übereinstimmung ergeben würde. Tresler nickte, bedankte sich und kehrte in sein eigenes Hotel zurück, um ein paar Stunden zu schlafen. Am nächsten Morgen war er um sieben auf den Beinen. Er nahm sich nur genug Zeit, um einen Becher Kaffee und eine Zeitung zu kaufen, bevor er zur Kathedrale zurückkehrte. Nachdem die Leichen fortgeräumt waren, hatte ein Spurensicherungsteam mit der Arbeit begonnen. Tresler suchte den Leiter des Teams auf und ließ sich Bericht erstatten. Man hatte festgestellt, dass kleine Mengen von Plastiksprengstoff an der Unterseite der Bänke befestigt gewesen waren, was bedeutete, dass das Ziel nicht das Gebäude selbst gewesen war - nur die Menschen im Inneren. Folglich hatte man nun Schwierigkeiten mit der Identifizierung, und manches davon würde warten müssen, bis das Labor mit der Arbeit beginnen konnte. Tresler fragte, ob er in irgendeiner Weise helfen konnte. Der Mann schüttelte den Kopf. »Okay, dann stehe ich Ihnen jetzt nicht mehr im Weg rum. Sind Sie mit der Empore fertig?« Der Mann bejahte. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin da oben.« Trester stieg die Treppe hinauf. Das Geländer zog ihn an, und er stand dort und sah das Kirchenschiff entlang. Er blieb 278
stehen, bis jede Wärme aus seiner Kaffeetasse verschwunden war. Mehrere Stunden später stieg der Leiter des Spurenteams die Treppe zur Empore hinauf. Er traf Tresler dabei an, wie er auf der Kante der Organistenbank saß und ins Leere starrte. »Agent Tresler? « »Ja?« Treslers Blick kam zurück zu dem Mann, der vor ihm stand. »Ich möchte, dass Sie runterkommen und sich etwas ansehen. « Tresler stand auf und folgte ihm die Treppe hinunter und zum Altar. »Sehen Sie mal«, sagte der Mann. »Hier stimmt was nicht mit der Lage der Trümmer von der Explosion. Sarah hat ungefähr hier gestanden, stimmt's?« Er ging zu dem Pult hinüber, das jetzt auf dem Boden lag. »Aber sehen Sie mal, wie das Pult umgefallen ist. Es hätte von meinem Standort weggedrückt werden sollen. Stattdessen ist es in meine Richtung gefallen. Und sehen Sie sich das Muster der Splitter an. Die Explosion muss etwa hier stattgefunden haben.« Er kam zurück und stand jetzt auf der anderen Seite des Pultes. Tresler verfolgte es mit wachsendem Interesse, sagte aber nur: »Sie könnte sich von der Stelle bewegt haben, bevor die Explosion kam. Die Kamera war auf Stanley gerichtet.« »Stimmt«, sagte der Mann, »das könnte sie. Wenn da nicht noch ein kleines Problem wäre ... wir haben nämlich keine Überreste gefunden.« Tresler stutzte. »Sarah Shepherd ist noch am Leben«, sagte der Mann. «Verletzt vielleicht, aber ganz entschieden am Leben.«
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Komplikationen Von den Menschen, die die Explosion überlebten, hatten alle mindestens einen Arm oder ein Bein verloren, und mehrere von ihnen behielten Hirnschäden zurück. Aber einem jungen Mann ging es zweifellos am schlechtesten. Er hatte beide Arme und ein Bein verloren, und er schien an Amnesie zu leiden. Es muss der Schock gewesen sein, entschieden die Ärzte, denn davon abgesehen war er bei gnadenlos klarem Verstand. Merec betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang. Die Frau an der Pforte sah nicht einmal auf. »Wissen Sie die Zimmernummer?«, fragte sie. »Intensivstation.« »Dritter Stock rechts. Nehmen Sie einen Schein.« Er nahm einen rosa Zettel von einem Stoß und ging den Gang entlang zu den Aufzügen. Auf der Fahrt nach oben betastete er die fingerhutgroße Spritze in seiner Tasche. Merec verließ den Aufzug, wandte sich nach rechts, ging durch eine doppelte Schwingtür und stand in der Intensivstation. In der Mitte war eine Überwachungsanlage für die Schwestern, ringsum lagen Räume mit Glaswänden. Die Luft wirkte wie gedämpft, nur das Murmeln einer Stimme und ein leises mechanisches Summen brachen die Stille. Merec ging zum ersten Zimmer und sah durch das Fenster zu dem Patienten hinein. Er konnte den Körper unter all den Drähten und Schläuchen kaum erkennen, aber eine Hand lag auf der Decke. Sie war klein, und die Nägel waren rosa lackiert. Sie gehörte entschieden nicht zu Jeremy. »Entschuldigung«, sagte eine Stimme. »Wen wollen Sie besuchen?« Er drehte sich um. Eine winzige Krankenschwester stand vor ihm, die Fäuste auf die Hüften gestützt. Merec öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie gab ihm 280
keine Gelegenheit dazu. »Ich hab's gewusst. Ich hab euch Leuten doch gesagt, Reporter haben hier keinen Zutritt.« »Ich bin kein Reporter. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es Überlebende gibt.« »Und?«, fragte sie. Sie wirkte immer noch aggressiv, aber sie nahm die Hände von den Hüften. »Und ich glaube, ich kenne den Mann mit der Amnesie.« »Oh.« Sie war nicht vollständig überzeugt. »Wer ist es?« »Ich glaube, er ist ein Mitarbeiter von mir. Soviel ich weiß, hat er keine Angehörigen, also dachte ich, ich komme vorbei ...« Merec ließ den Satz ins Leere laufen. »Beschreiben Sie ihn«, befahl sie. »Schwarzes Haar, braune Augen und ein Leberfleck hier.« Er zeigte auf die linke Seite seines Kinns. Die winzige Krankenschwester wurde milder und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es tut mir Leid, dass ich so unfreundlich war. Wenn Sie mit mir zum Schreibtisch kommen und uns ein paar Informationen geben könnten ...« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich würde ihn gern zuerst sehen.« »Natürlich«, entschuldigte sich die Schwester. »Er ist ein bisschen groggy von den Medikamenten, aber er ist zäh. Er liegt da hinten am Ende des Ganges.« Sie ging voraus und blieb vor einem Zimmer stehen. »Er ist da drin«, sagte sie mit einer Geste. Merec sah durch die Glaswand ins Innere und stellte fest, dass es ein Irrtum gewesen war, zu glauben, er könne Jeremy an den Händen erkennen. Es gab keine. Die kurzen Ärmel des Krankenhausnachthemds fielen wie Rüschen über leere Höhlen. Auch unter der Decke, wo die Beine hätten sein sollen, herrschte ein verdächtiger Mangel an Masse, und die Augen waren unter Verbänden versteckt. Merec studierte sein Werk. »Keine Arme, ein Bein?«, fragte er mit ausdrucksloser Stimme. 281
»Es tut mir Leid. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid. Aber natürlich können Sie das nicht. In der Zeitung hat es nicht gestanden, oder?« »Nein, hat es nicht.« Ihr Mund bildete ein stummes »Oh.« Dann sagte sie: »Aber jedenfalls lasse ich Sie ... « Sie drehte sich um und eilte davon. Merec stieß die Tür auf, ging durchs Zimmer und blieb neben dem Bett stehen. Er sah hinunter auf Jeremys bandagiertes Gesicht. Der Mund bewegte sich, und Jeremys Stimme, heiser, aber zu erkennen, fragte: »Wer ist da?« »Hallo Jeremy.« Es folgte eine Pause. Dann sagte Jeremy: »Hallo Merec.« »Hast du dir nicht denken können, dass ich kommen würde?« »Doch. Ich wusste, du würdest kommen - früher oder später.« »Warum hast du ihnen dann nicht gesagt, wer du bist?« fragte Merec. »Sie hätten dich geschützt.« Jeremy hustete hohl. Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er: »Es ist ein bisschen komplizierter.« »Nein, Jeremy, du irrst dich. Es ist sehr, sehr einfach.« Merec sah zu der Überwachungsanlage hinüber. Niemand beobachtete sie. Er beugte sich vor, stach die Spritze in die Ader an Jeremys Hals und schob sie wieder in die Tasche. Jeremys Atem wurde zu einem leisen Zischen, als er die Nadel spürte. »Das war doch nicht kompliziert, oder?« Er wartete auf eine Antwort. Als er keine bekam, sagte er: »Ich muss gestehen, ich bin enttäuscht von dir, Jeremy. Ich hätte irgendwie ein bisschen mehr erwartet.« Jeremy lächelte. »Es gibt auch noch mehr.« »Ach wirklich? Dann solltest du dich aber beeilen. Du hast nicht viel Zeit.« 282
»Das ist in Ordnung. Ich brauche nicht lang. Erinnerst du dich an die Vorbereitungen für den Gottesdienst?« »Ja,« Merec sah auf die Uhr. »Also, ich habe den Zünder an einen kleinen Sprengsatz angeschlossen, den ich unter dem Stuhl am Altar versteckt habe, und nicht an die Weste.« Merecs ganze Gestalt erstarrte. »Was?« Seine Stimme war ruhig und sehr kalt. »Merec«, flüsterte Jeremy, »Sarah ist am Leben.« Merec blieb mehrere Sekunden lang regungslos, bevor er mit einer schnellen, verletzlichen Bewegung den Kopf senkte. »Hm.« Er räusperte sich und sah auf Jeremy hinunter. Etwas ließ ihn die Stirn runzeln. »Jeremy?«, sagte er. Er bekam keine Antwort.
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Undercover Als Tresler die Intensivstation betrat, schien eine Krise im Gang zu sein. Schwestern liefen in alle Richtungen, und eine Gruppe von Leuten stand unter lautem Stimmengewirr zusammengedrängt in einer Tür. Er stand eine Minute lang da und beobachtete das Schauspiel, und als niemand seine Anwesenheit zu bemerken schien, begann er die Patienten in den einzelnen Räumen durch das Glas in Augenschein zu nehmen. Er hatte drei von ihnen überprüft, als eine winzige Schwester vorbeieilte, ihn bemerkte und abrupt stehen blieb. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie sofort gehen. Diese Abteilung ist jetzt für Besucher geschlossen.« »Aber -« Sie schnitt ihm das Wort ab. »Absolut keine Ausnahmen.« Er griff in die Jackentasche, um seine Karte herauszuholen. »Ich arbeite fürs Federal Bureau of Investigation.« Sie streckte den Arm aus, nahm den Ausweis und untersuchte ihn misstrauisch. »Ich weiß nicht, ob der echt ist oder nicht«, sagte sie, während sie ihn zurückgab. »Er ist echt«, versicherte er. Die Schwester sah ihm ins Gesicht, und sie musste wohl beschlossen haben, ihm zu vertrauen, denn als Nächstes sagte sie: »Ich glaube, hier ist gerade ein Mord passiert.« Treslers Lippen wurden schmal. »Einer von den Überlebenden der Explosion gestern Abend?« »Das stimmt.« »Eine ältere Frau?«, fragte er rasch. »Nein, ein junger Mann.« »Ein junger Mann?«, wiederholte Tresler stirnrunzelnd. »Ja, und ich bin mir fast sicher, dass ich mit dem Mann gesprochen habe, der es getan hat. Es war ein älterer Herr mit langem 284
grauem Haar und einem Akzent.« Jetzt hatte sie Treslers gesammelte Aufmerksamkeit. »Wann ist er gegangen?«, fragte er drängend. »Erst vor zehn Minuten.« Tresler entspannte sich etwas. Es hatte keinen Zweck, ihn jetzt noch zu verfolgen. »Machen Sie weiter«, forderte er sie auf. »Also, er hat gesagt, er will den jungen Mann sehen, der bei der Explosion verletzt wurde und das Gedächtnis verloren hat. Das hat in der Zeitung gestanden«, erklärte sie. »Und er hat ihn genau beschrieben. Er hat behauptet, er hätte mit dem Patienten zusammengearbeitet.« »Aha«, sagte Tresler. »Also ist er zu ihm reingegangen, und dann plötzlich sind bei dem jungen Mann alle Vitalparameter runtergegangen. Ich habe gar nicht mehr an den Besucher gedacht, bis wir den Patienten verloren hatten. Dann hab ich zwei und zwei zusammengezählt. Wir haben die Polizei gerufen, aber die ist noch nicht da.« Tresler hörte zu und nickte. »Hat der Mann auch andere Überlebende der Explosion besucht?« Die Schwester sah erschrocken aus. »O Gott, ich glaube nicht.« »Wir sollten besser nachsehen.« Sie stimmte mit verängstigtem Gesichtsausdruck zu. Sie machten die Runde bei den anderen Überlebenden. Die Schwester überprüfte, ob ihr Zustand stabil war - er war es. Tresler überprüfte, ob einer von ihnen Sarah Shepherd war keiner war es. »In Ordnung«, sagte er seufzend. »Gehen wir zu dem Opfer.« Sie führte ihn zu Jeremys Zimmer. Der größte Teil der Menge hatte sich zerstreut, aber sie musste immer noch Leute aus dem Weg scheuchen, um eintreten zu können. Inzwischen 285
hatte die Schwester ihre Fassung wiedergewonnen. Über die murmelnden Stimmen hinweg sagte sie: »Okay, Leute, geht wieder an die Arbeit. Wir haben noch mehr Patienten, und die brauchen uns jetzt dringender als dieser hier.« Sie gingen im Gänsemarsch hinaus, und Tresler konnte zum Bett hinübergehen. Er sah auf den jungen Mann hinunter. »Wer ist er?«, fragte die Schwester. Tresler schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Sie konnten auch nichts rausfinden?« »Wir hatten ja nicht viele Anhaltspunkte«, protestierte sie. »Keine Fingerabdrücke. Kein Ausweis. Er konnte uns nicht mal seinen Namen sagen.« Oder wollte nicht, dachte Tresler. »Niemand ist gekommen und hat gesagt, er kennt ihn. Ich meine, niemand außer diesem Mann.« Es passt, dachte Tresler. Wenn der junge Mann mit Merec zusammengearbeitet hatte, dann hatte niemand sonst gewusst, dass er in der Kathedrale war. Und offensichtlich hätte er die Explosion nicht überleben sollen. Treslers Handy klingelte. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu der Schwester und ging in eine Ecke des Zimmers. »Ja?« »Ist da Agent Tresler?« »Hier ist Agent Patinsky. Ich hatte gesagt, ich würde mich bei Ihnen melden, wenn wir diese Fingerabdrücke untersucht haben.« Tresler brauchte einen Augenblick, um sich daran zu erinnern, dass es um die Abdrücke ging, die sie in Merecs Hotelzimmer gefunden hatten. »Und?« »Also, nichts beim ersten Satz. Wahrscheinlich irgendein früherer Gast. Aber Sie können sich nicht vorstellen, was beim zweiten Satz herausgekommen ist. Das kann kein Zufall sein.« »Was kann kein Zufall sein?«, fragte Tresler. »Der zweite Satz gehört zu einem CIA-Agenten namens 286
Alan Porter.« »CIA ...« Tresler drehte sich abrupt um und sah zu dem jungen Mann im Bett hinüber. »War ein Bild dabei?« »Kein Bild. Aber eine allgemeine Beschreibung - das ist alles geheim, natürlich.« »Natürlich«, stimmte Tresler zu. »Eins zweiundachtzig, mittlerer Körperbau, schwarzes Haar, braune Augen, besondere Merkmale unter anderem ein Leberfleck auf der linken Backe. Viel ist das nicht.« »O nein, das reicht völlig. Vielen Dank.« »Keine Ursache. Soll ich diese Haarproben noch hier behalten?« »O ja, ich glaube, die können wir brauchen«, sagte Tresler. Er beendete das Gespräch, sah in sein Notizbuch und wählte. Zackman nahm ab. »Agent Tresler hier.« »Oh.« Zackman klang überrascht, erholte sich aber schnell. »Was kann ich für Sie tun, Tresler?« »Ich habe nur eine Frage. Ich brauche den Namen des Agenten, den Sie in Merecs Organisation eingeschleust haben.« Nach einer kurzen Pause sagte Zackman: »Ich glaube nicht, dass es ihm jetzt noch schaden kann. Sein Name war Alan Porter. Sein Deckname war Jeremy.« Tresler blieb im Krankenhaus, nach außen hin um die Arbeit der Polizisten zu überwachen, aber in Wirklichkeit wartete er ganz einfach auf Zackman. Zackman traf keine zwei Stunden später mit einem eigenen Team ein. Er ignorierte den Beamten, der die Arbeiten leitete, und kam direkt zu Tresler. Nachdem er ihn in ein leeres Zimmer gezogen hatte, fragte Zackman: »Weiß die Polizei irgendwas?« »Sie haben den Verdacht, dass der Tote mit der Explosion zu tun hatte. Aber das ist alles.« 287
Er nickte. »Das macht die Sache einfacher. Ich würde gern noch mit Ihnen reden. Können Sie warten?« In weniger als zwanzig Minuten hatte Zackman die ermittelnde Einheit auseinandergenommen - nicht ohne bei den betroffenen Leuten eine gewisse Bitterkeit zu verursachen -, sich ihre Akten besorgt und seine eigenen Leute an den Fall gesetzt. Danach erschien er bei Tresler und sagte: »Meine Leute haben hier alles unter Kontrolle. Was sagen Sie zu einer Tasse Kaffee?« Sie gingen in die Cafeteria des Krankenhauses, und Tresler erstattete Zackman über ein paar Tassen wässrigen Kaffees Bericht über alles, was geschehen war, seit er Merec nach New York gefolgt war. Zackman hörte sich die ganze Geschichte schweigend an, dann stellte er ein paar präzise Fragen. Treslers Antworten schienen ihn zufrieden zu stellen. »Ich glaube nicht, dass es damit Probleme gibt. Es wird in den Zeitungen stehen, natürlich, aber sie haben nicht genug Information, um sich alles zusammenzureimen. Es sieht so aus, als wäre die Situation unter Kontrolle, dank Ihnen.« Tresler nahm das Kompliment mit einem Nicken an. »Kann ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen?« »Nur zu. Ich antworte, wenn ich kann.« »Als ich Ihnen von Alan erzählt habe -« »Nennen wir ihn Jeremy«, sagte Zackman. »Sorry. Als ich Ihnen von Jeremy erzählt habe, haben Sie nicht sehr überrascht gewirkt.« Es war genau genommen keine Frage, aber Zackman wusste, was Tresler wissen wollte. »Nein«, gab er zu. »Ich war nicht wirklich überrascht. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl nach dem Brand damals - Sie wissen ja, die meisten von diesen Leichen wurden nie mit Sicherheit identifiziert. Und«, er nahm einen Schluck Kaffee, »Jeremy war ein bisschen unberechenbar. Wir haben ihn aus der Army rekrutiert. Er war 288
sehr gut darin, Befehle anzunehmen. Es sieht so aus, als wäre er nicht ganz so gewissenhaft gewesen, wenn es darum ging zu entscheiden, von wem er sie annimmt.« »Dieser Merec«, sagte Tresler milde. »Er scheint einen ungeheuren Einfluss auf jeden auszuüben, mit dem er in Berührung kommt.« Zackman warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Oh, ich gebe über Jeremy kein Urteil ab. So etwas kommt viel zu häufig vor.« »Ach wirklich?« »Na ja, wir hängen es nicht gerade an die große Glocke. Aber es passiert ziemlich oft, wenn Agenten monatelang untertauchen müssen. Ihr Leben hängt davon ab, dass sie ihre Rolle werden. Und manchmal tun sie es zu gut.« »So simpel ist das?« »Natürlich nicht. Es ist einfach die Entschuldigung, die wir verwenden. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie die Wahrheit genauso gut kennen wie ich.« »Nein«, sagte Tresler. »Was ist die Wahrheit?« Zackman zuckte die Achseln. »Genau das meine ich.«
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Faktencheck Tresler kehrte erst in den frühen Morgenstunden in sein Hotelzimmer zurück. Er hatte in den letzten achtundvierzig Stunden weniger als fünf Stunden geschlafen und hatte sich gerade bis auf die Unterwäsche ausgezogen, als das Telefon klingelte. Er saß auf der Bettkante und rieb sich die Augen, während er den Hörer abnahm. »Hallo?« Seine Stimme war heiser vor Müdigkeit. »Spät geworden?«, erkundigte sich die Stimme am anderen Ende. Treslers Hand erstarrte über seinen Augen und fiel dann in seinen Schoß. »Merec«, sagte er. »Aber immer noch auf Draht.« »Woher haben Sie diese Nummer?« »Ich habe einfach teuflisches Glück, wissen Sie«, lachte Merec leise. »Ich musste bloß zwölf Hotels anrufen, bevor ich eins gefunden hatte, in dem sich jemand unter Ihrem Namen eingeschrieben hat. Lassen Sie sich einen Rat geben. Wenn ich nicht gestört werden will, verwende ich in der Regel ein Pseudonym.« »Ja«, sagte Tresler trocken. »Wirkt Wunder, finden Sie nicht auch?« Tresler stellte fest, dass Merec sich eine Spur verstört anhörte. Sein gewohnter glatter, spöttischer Ton wirkte gezwungen. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Was? Natürlich.« Es folgte eine lange Pause. »Na dann«, sagte Merec. Tresler wartete. »Ich wollte ein paar Fakten überprüfen.« »Fakten überprüfen?«, wiederholte Tresler. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber dies war es nicht. »Ja.« 290
»Sie meinen«, sagte Tresler langsam, »Sie wollen mir eine Frage stellen.« »Darauf läuft es hinaus, ja.« »Oh.« Er schwieg und dachte hastig nach. »Sicher«, stimmte er zu. »Woher soll ich wissen, dass Sie mir antworten, wenn ich Sie gefragt habe?« Tresler lächelte. »Das wissen Sie nicht.« »Geben Sie mir Ihr Wort?« Er schnaubte. »Gut, ein Handel also«, schlug Merec vor. »Das klingt schon besser.« »Eine Antwort für eine Antwort.« »Zwei für eine. Und Sie beantworten meine beiden zuerst. Sonst haben wir keinen Deal.« Merec seufzte. »Sie sind ein harter Brocken, mein Freund. Aber ich nehme die Bedingungen an. Schießen Sie also los.« Tresler holte tief Atem. »Wie haben Sie ihn umgedreht?« »Wen umgedreht?« »Alan Porter.« »Wen?«, wiederholte Merec. »Ich dachte, Sie wollten meine Fragen beantworten.« »Versuch ich ja. Ich tu's, wenn Sie mir sagen, wovon Sie reden.« »Alan Porter, der zweite Undercover-Agent.« Von Merec kam keine Antwort. »Sie haben ihn unter seinem Codenamen gekannt - Jeremy.« Am anderen Ende herrschte absolute Stille. »Sie haben es nicht gewusst«, sagte Tresler plötzlich. »Sie haben das nicht gewusst, stimmt's?« Merec lachte, aber es klang gequält. »Nein, ich habe es nicht gewusst.« Er räusperte sich. »Nächste Frage.« »Aber -« »Nächste Frage.« Merecs Stimme klang schroff. 291
»Gut. Was haben Sie mit Sarah Shepherd gemacht?« Auch diesmal kam von Merec kein Laut. »Also?«, bohrte Tresler. »Ich habe sie umgebracht«, sagte Merec leise. »Nein.« »Doch, ich habe sie in kleine Stückchen gesprengt.« »In der Sache können Sie mich nicht anlügen. Da waren keine kleinen Stückchen, die wir hätten finden können.« Merec hatte das Gefühl, der Atem berste aus seinen Lungen, aber Tresler am anderen Ende der Leitung hörte nur einen leisen Seufzer. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Was haben Sie mit ihr gemacht?« »Ich war mir so sicher, dass er blufft«, sagte Merec nachdenklich, beinahe zu sich selbst. »Dass wer blufft?« »Jeremy«, erklärte Merec. »Jeremy hat mir gesagt, dass sie am Leben ist.« »Das wäre Ihre Frage gewesen, oder? Und Sie haben keine Ahnung, wo sie ist, stimmt's?« »Nein«, gab Merec zu. »Aber eins kann ich Ihnen versprechen.« »Und was?« »Ich werde sie finden.« Ein Klicken, und Tresler hörte nur noch das Amtszeichen.
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Die Suche nach Sarah »Sie hatten zwei Fragen, die er Ihnen beantworten musste, und das haben Sie ihn gefragt!«, sagte Stanley. Tresler und Stanley saßen am Morgen nach Merecs Anruf in einem Lokal in der Nähe des Hotels. »Was hätten Sie denn gefragt?«, fragte Tresler herausfordernd. »Ich weiß es nicht, aber das bestimmt nicht.« »Sie hätten nicht wissen wollen, wo Sarah Shepherd ist?« »Aber das war doch seine Frage«, protestierte Stanley. »Das konnte ich ja wirklich nicht wissen«, schnappte Tresler. Stanley war bestürzt. Er hatte noch nie gesehen, dass Tresler seine unerschütterliche Gelassenheit verlor. »Okay. Es hat keinen Zweck, über etwas zu reden, das wir nicht ändern können.« »Genau.« Sie saßen einen Augenblick, ohne zu sprechen. »Und-«, begann Stanley. »Fragen Sie mich bloß nicht«, warnte Tresler, »was wir jetzt tun sollen.« Stanley verstummte, und sie saßen wieder schweigend da. Nach ein paar Minuten sagte Stanley ruhig: »Na, aber irgendwas müssen wir ja tun.« »Was würden Sie vorschlagen?« »Ich würde sagen, es ist noch nicht vorbei. Ich würde sagen, wir finden ihn.« »Und sagen Sie mir auch, wie Sie das anfangen wollen, Stanley?« »Sie sind es doch, der weiß, wie er denkt«, bemerkte Stanley lapidar. Tresler seufzte. »In Ordnung. Ja, es gibt eine Möglichkeit, 293
ihn zu finden. Es ist sehr einfach. Er hat gesagt, er würde Sarah Shepherd finden. Wir brauchen nicht ihn zu finden. Wir müssen einfach nur sie finden.« »Und Sie glauben, das wird einfach?« »Sie nicht?« »Nein. Ich meine, nicht unbedingt.« Treslers Augenbrauen hoben sich. »Warum nicht?« Stanleys Stirn legte sich in Falten, und er kaute an einem Daumennagel. »Na ja, ich sehe es so. Merec hat sie nicht. Und Jeremy ist aus dem Rennen.« Er machte eine Pause und wartete auf Zustimmung. »Das ist richtig«, sagte Tresler. »Also ist sie allein. Und wenn sie allein ist, warum ist sie nicht aufgetaucht?« »Ich weiß nicht. Sagen Sie's mir.« »Das ist doch offensichtlich. Weil sie nicht gefunden werden will.« Tresler wartete. »Und?« »Und ... vielleicht wird es ja nicht so einfach.« Tresler sah einen kurzen Moment lang zur Decke hoch und dann auf seine Hände hinunter. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich finde sie.« »Sie klingen schon wie Merec. « Tresler sah rasch auf und Stanley ins Gesicht. »Tut mir Leid.« Tresler schüttelte den Kopf. »Okay, haben Sie irgendwelche Ideen, wo wir anfangen könnten? « »Eine oder zwei«, gab Tresler zu. »Na dann.« Stanley stand auf und schlug ihm auf die Schulter. »Dann mal los.«
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Trost oder Fluch Jahre später erhielt Tresler einen Brief mit einer ausländischen Marke, begraben unter den üblichen Postwurfsendungen. Er öffnete ihn neugierig und hielt den Atem an, während er die kurze Mitteilung las. Am nächsten Tag buchte er einen Flug, und am Tag darauf traf er in einer kleinen Stadt in der Nähe eines berühmten Sanatoriums ein. Er nahm ein Hotelzimmer, ließ sein Gepäck dort und fragte nach dem Weg. Die lange, kiesbestreute Zufahrt, die zu der Anlage führte, fand er ohne Schwierigkeiten, und er parkte im Schatten unter einer Reihe stattlicher Bäume. Als er den Weg hinaufging, fragte sich Tresler, nach welchem Namen er sich erkundigen sollte. Er fragte nach Merec. Das genügte. Tresler hatte nach Merecs Besuchern und Vorlieben gefragt, aber niemand, dem er begegnete, sprach genug Englisch für eine Unterhaltung. Er folgte einem weich besohlten Angestellten kühle, dämmrige Gänge entlang durch das Gebäude und hinaus in den dahinterliegenden Garten. Der Angestellte wies ihn einen Plattenweg entlang, der zu einem Hain führte. Selbst die Luft wirkte wie gedämpft. Tresler traf Merec in einem Rollstuhl an einem stillen, von Trauerweiden überschatteten Teich an. Merec sah ausgemergelt und hinfällig aus, aber die blauen Augen waren immer noch wach. »Sie sind also gekommen«, sagte er. Tresler breitete die Arme aus. »Wie verlangt.« »Ich dachte es mir fast.« Tresler stellte fest, dass die einstmals glatte Stimme jetzt kratzig klang. Es war die Stimme eines alten Mannes. »Fangen Sie immer noch Verbrecher?«, fragte Merec. »Ich versuche es immer noch.« »Das ist gut. Der Mensch braucht einen Beruf.« 295
»Es heißt, dass Sie ...«, Tresler suchte nach einem Wort, »sich zur Ruhe gesetzt haben.« Merec nickte langsam. »Ja, das stimmt.« »Darf ich fragen warum?« »Sie dürfen fragen. Ich kann nicht versprechen, dass ich Ihnen eine Antwort geben kann. Nein, das stimmt nicht ganz. Sagen wir, ich bin es einfach müde geworden und habe keinen Sinn mehr darin gesehen.« Tresler beugte sich vor. »Hat es je einen gegeben?« Merec kicherte. »Es hat einen gegeben, aber jetzt klingt er albern. Andererseits, inzwischen klingt alles albern.« Merec verfiel in Schweigen, und sie saßen lange Zeit da und hörten dem Zirpen der Grillen zu. Ohne den Blick von dem ruhigen Wasser zu wenden, sprach Merec wieder. »Wissen Sie, wo sie ist?«, fragte er leise. Tresler schüttelte den Kopf. Merec wandte sich ihm plötzlich zu. »Wenn Sie es wissen, müssen Sie es mir sagen.« »Ich weiß es nicht.« Merec sank in seinen Stuhl zurück. »Ich habe überall gesucht. Das ist alles, was ich getan habe ... bevor ich hierher gekommen bin. Ich bin Gerüchten nachgegangen - eine Frau, die nach Indien gegangen ist, um Tiger zu schießen, eine andere, die zwei Millionen in einem Kasino in Monte Carlo gewonnen und dann alles in einer einzigen gigantischen Wette wieder verloren hat.« »Ich habe gehört, sie hat das Geld gespendet.« Merec reagierte sofort. »Sie haben also auch gesucht.« »Ja, ich habe gesucht«, gab Tresler zu. »Und?« »Genau wie bei Ihnen, nehme ich an.« Merec nickte. »Wie lange?« »Sie haben mich nach sechs Monaten von dem Fall abgezogen.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Aber ich habe 296
noch eine Weile privat weitergemacht. »Aha ... Sie suchen immer noch«, bemerkte Merec. Tresler bestritt es nicht. »Wissen Sie, der Grund dafür, dass ich Sie hergerufen habe, ist der - ich hatte einen Traum, in dem Sie sie gefunden hatten und Sie beide zusammen waren. Ist das nicht verrückt?« »Was hätten Sie denn getan, wenn Sie sie gefunden hätten?« Merec lächelte. »Am Anfang habe ich gedacht, ich würde sie umbringen. Das habe ich mir jedenfalls eingeredet. Jetzt will ich sie einfach nur sehen. Sie einfach noch einmal sehen.« Seine Stimme verklang. Dann schüttelte er es mit einer Spur seiner alten Energie ab. »Aber sehen Sie, am Ende hat sie uns zusammengebracht.« »Deshalb habe ich damals überhaupt angefangen, nach ihr zu suchen«, sagte Tresler. Das zumindest war seine Entschuldigung gewesen. »Dann machen wir doch das Beste daraus, einverstanden?« »Ja«, stimmte Tresler zu. Er blieb, bis das Tageslicht in der Dämmerung verblasste. Schließlich, als die ersten Glühwürmchen über dem Garten schwebten, stand Tresler auf. »Ich sollte gehen.« Merec nickte. Er sah auf seinen Schoß hinunter, als er sagte: »Es tut mir Leid, dass ich Sie den ganzen Weg für nichts habe machen lassen.« »Ganz und gar nicht«, protestierte Tresler. Merec sprach weiter, als hätte er ihn nicht gehört. »Aber ich dachte, Sie wüssten vielleicht etwas, und wenn Sie mich hier sähen, so ... « Er zuckte die Achseln. »Sie sagen, ich liege im Sterben«, und er sah mit seinem alten schiefen, ironischen Lächeln zu Tresler auf. Nach einem Augenblick zitterte und brach es. »Sie war so schön«, sagte er mit belegter Stimme, »herzzerreißend schön.« Tresler ließ ihn sterbend bei den Weiden zurück mit Sarah 297
Shepherds Gesicht vor seinem inneren Auge - ob Trost oder Fluch, Tresler wusste es nicht.
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Geradewegs in die Sonne Die Sonne hing als matter gelber Ball knapp über dem Hügel. Sie warf den skelettartigen Schatten einer Ulme über die vornüber gebeugte Gestalt einer alten Frau. Die Frau tat etwas, von dem ihre Mutter gesagt hatte, sie sollte es niemals tun: sie sah geradewegs in die Sonne. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Augen gegen das Licht zusammenzukneifen. Sie grunzte, setzte sich im Stuhl zurecht und schob die Hände tiefer unter die Decke, die über ihren Knien lag. Sie bemerkte die Gestalt nicht, die sich von rechts näherte, mit langen Schritten den Hang herabkam und in ungefähr zehn Meter Entfernung stehen blieb. Die Person stand da und beobachtete die alte Frau eine Weile. Schließlich brach sie das Schweigen. »Rose, wo ist dein Strickzeug geblieben?« Rose wandte den Blick von der Sonne ab und spähte in die Schatten. Sie zog die Hände unter der Decke hervor. Sie waren zu Klauen erstarrt. »Arthritis macht Ärger«, sagte Rose. Jetzt kniff sie die Augen zusammen. »Wer bist du?« Sarah trat näher und beugte sich vor, um Rose ins Ohr zu flüstern. »Ich bin Sarah Shepherd.« »Ich bin nicht blind, und ich bin kein verdammter Idiot. Sarah Shepherd ist tot. Hab's letzten Sommer in den Nachrichten gesehen. Und nicht schade um sie. Was sagst du jetzt?« »Du hast Recht. Du hast absolut Recht. Sarah Shepherd ist tot. Und nicht schade um sie. Aber sie wollte, dass ich etwas für dich tue.« »Ich hab dem Mädchen gesagt, es hat damals nichts gegeben, was sie für mich tun konnte, und es gibt ganz sicher nichts, was sie jetzt für mich tun könnte.« »Es gibt aber doch etwas.« Sarah zog eine Pistole aus der Tasche. »Nur für das Feuerwerk musst du selbst sorgen.« 299
ENDE
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