Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Toelcke Töten ist so leicht
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Toelcke Töten ist so leicht
Kriminalroman
Henry Berger, Bauingenieur, kehrt nach mehrjähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt Hamburg zurück. Er will seine Mutter besuchen und findet sie nicht mehr vor; das Haus, in dem sie wohnen sollte, gibt es nicht, ihr Vermögen ist verloren – es steckt in der bankrotten Firma „Seniorenhotels“. Berger trifft nichts von dem, was er erwartet, jedoch: immer wieder stehen alle Türen offen … eilfertig knüpft eine schöne Frau Verbindungen … entgegenkommend wird ihm ein Job angeboten … unvermittelt sieht er sich in einen Mord verstrickt. Müssen bestimmte Menschen immer für andere die Kastanien aus dem Feuer holen oder für die Untaten anderer einstehen? Der Fall Henry Berger läßt diese abwegige Idee aufkommen – zumindest bei Berger selbst. Die Wurzeln des Geschehens aber liegen tiefer.
Werner Toelcke
Töten ist so leicht
Verlag Das Neue Berlin
Für Steffie Spira
1. Die Bauruine erhob sich inmitten des neuen Wohngebietes, etwa dort, wo noch vor wenigen Jahren auf der Keilshooper Anlage Kleingärtner ihre Pflaumen und Äpfel geerntet hatten. Sie bot keinen schönen Anblick. Der Bauplatz vor ihr auch nicht. Leute aus der Nachbarschaft hatten ein paar ausrangierte Autos hergefahren. Die waren inzwischen ausgeschlachtet und rosteten vor sich hin. Das viergeschossige Bauwerk selbst ragte wie ein zerlöcherter Backenzahn steil aufwärts. Kinder spielten in ihm Kriegen, huschten um Absätze und Ecken, jagten über Treppen hinauf und hinunter. Todesmutige riskierten den Sprung von einem Stockwerk ins andere. Ein Mann lehnte an einem Pfosten, der mitten auf dem Gelände ins Erdreich gerammt war. Schon seit geraumer Zeit schaute er hinüber zu der Ruine, beobachtete die Kinder. Er konnte alles gut überblicken, weil es keine Fassade gab. Vor Jahrzehnten hatte er es schon einmal erlebt, dachte er, als er selbst noch ein Kind war. Damals luden die Engländer ihre Luftminen über der Stadt ab, und da geschah es auch hin und wieder, daß ganze Fassaden vom Luftdruck wegrasiert wurden und nur die Eingeweide der Häuser übrigblieben. Dann schaute man in sie hinein wie in die Schichten einer angeschnittenen 6
Torte. Im vierten Stock stand noch die Suppe auf dem Küchenherd, und im dritten hatte Frau Meier wieder mal die Betten nicht gemacht. Die Fassade dieses Hauses wurde aber nicht wegrasiert. Das Ding war ein Skelettbau, und bis zur Vorderfront hatte man es nur nicht geschafft. An dem Pfosten, gegen den der Mann lehnte, also direkt über ihm, war eine Schautafel angebracht. Die zeigte das Projekt des Gebäudes, das einmal entstehen sollte. Die Beschreibung lautete: Wir bauen hier achtzehn 2-Raum-Wohnungen und sechs 4-Raum-Wohnungen. Daneben hatte man die Zeichnung eines Wohnhauses gesetzt. Der Text war ja wirklich nicht unverständlich, dennoch schien es so, als ob der Mann ihn nicht begriffe. Sein Blick wanderte zwischen der Tafel und der Bauruine hin und her. „Da kommen Sie aber reichlich früh auf Besuch“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Er wandte sich um und erblickte einen Postboten. Der schob sein Fahrrad über den Trampelpfad, der den Weg zwischen den beiden Straßen an dieser Ecke abkürzte. Er war ein Graukopf von gut fünfzig Jahren, mit einem Bauch, der die adrette Uniformjacke aufquellen ließ. „Ich meine man nur“, fuhr der Mann fort. „Wenn Sie zu dem Haus wollen, da kommen Sie zu früh. Da wohnt noch keiner. Und wenn Sie meinen Tip hören wollen, daraus wird auch nichts. Zuerst sollte es vor reichlich zwei Jahren fertig sein. Dann ganz bestimmt im vergangenen Jahr. Na, und nun schauen Sie mal hin! Ist doch eine Affenschande für die Gegend!“ Das war es wirklich! In den Häusern ringsum, die auf dem Gelände der ehemaligen Kleingartenanlage errichtet wurden, wohnten längst nette Leute mit ihren Kindern. Man hatte die Häuser nicht mehr hochgeknallt mit endlosen Etagen übereinander wie noch vor Jahren, und die Vierstöcker standen auch nicht in Reih und Glied. 7
Da war so eine Art von aufgelockerter Unordnung bei aller Ordnung. Dazwischen viel Rasen und junge Bäume, die hier bereits ihren zweiten Trieb ausreiften. Und mittendrin in dieser honorigen Bürgerlichkeit dieses Gerippe von einem Bau! Der Blick des Mannes kehrte von den umliegenden Häusern zu dem Postboten zurück, und er sah die blanke Neugier in dessen Augen. „Ich habe natürlich bloß Spaß gemacht eben. Denn Sie wollten doch nicht wirklich jemand hier besuchen. Oder?“ Der Briefträger deutete auf den Rosenstrauß unter dem Arm des Mannes, langstielig, rosafarben, etwa dreißig Stück. Sie starrten sich an, und da er absolut keine Antwort erhielt, fuhr er schließlich fort: „Ich hatte nämlich schon mal einen Brief für das Haus. Muß irgendwann in der Weihnachtszeit gewesen sein, ob Sie es glauben oder nicht. Und das ist doch wirklich allerhand: Briefe für ein Haus, das es überhaupt nicht gibt!“ Der Postbote schloß seine Ausführungen mit einem leichten, aber nachdrücklichen Rülpsen. Auf diesem Schnapper schwebte plötzlich ein feiner Dunst von Hamburger Holstenbier und breitete sich in der Gegend aus. Er sagte: „Muß mal weiter jetzt! War aber wirklich nett, ein paar Takte mit Ihnen zu reden. Tschüs denn!“ Damit schwang er sich auf sein Fahrrad und strampelte davon. Auch der Mann machte kehrt und ging über das Baugelände zur Straße zurück. Dabei schaute er zum Himmel. Es mochte gegen neun Uhr sein, und die Sonne kam schon heraus; es würde ein freundlicher Tag werden, ebenso einer wie gestern, als er in Fuhlsbüttel gelandet war, ein warmer Spätsommertag. Die Straßen der Wohnsiedlung waren zu dieser Stunde wie leergefegt. Die Männer arbeiteten in den Fabriken und Büros, sie hatten ihre Autos mitgenommen. Außer einem orangefarbenen BMW gab es kaum Fahrzeuge am Straßenrand. In dessen Nähe standen zwei Frauen, prallgefüllte Einkaufsnetze in den Händen, und tratschten miteinander. 8
Als er näher kam, verstummten sie und starrten ihn an. Das passierte ihm seit gestern immer wieder, daß ihn die Leute anstaunten. Der Mann schloß den Wagen auf, warf die Blumen auf den Nebensitz und wollte einsteigen. Mitten in der Bewegung hielt er ein und drückte sacht die Wagentür wieder heran. Er lehnte sich gegen das Auto und überlegte, was er als nächstes tun mußte. Der Mann war groß, über ein Meter achtzig, athletisch gebaut, und er war in den besten Jahren, wie man so sagte. Höchst albern; denn er hätte wirklich nicht gewußt, was an diesen Jahren so toll sein sollte. Er trug einen, auf Taille gearbeiteten, blauen Tuchmantel, reichlich lang, bis zu den Waden etwa. Auf dem Kopf saß ein breitkrempiger Hut. Seine Hände steckten überwiegend in den Manteltaschen, wobei ihn auch die Blumen nicht gestört hatten, denn die hatten die ganze Zeit lang unter seinem Arm geklemmt. Jetzt kamen sie hervor, schmal und langgliedrig, sensible Hände. Er zündete sich ein Zigarillo an, eine dunkelfarbene Havanna. Er stand eine Weile lang da und stieß Rauch aus, tat nichts, schien ganz in sich gekehrt. Aber wie er so am Auto lehnte, gab er ein Bild ab, das nicht zu übersehen war. Nun drehte er sich herum und guckte über das Wagendach. Die Frauen hielten noch die Stellung in seiner Nähe. Sie sprachen miteinander, aber ihre eigentliche Aufmerksamkeit widmeten sie ihm. Er musterte sie ungeniert. Es waren niedliche Frauen, Mitte Zwanzig etwa. Sie trugen Rock und Bluse, kurzärmelige Blusen, deren obere Knöpfe offenstanden. Allein dieser Anblick machte ihn frösteln. „Gibt es ’nen Fernsprecher in der Nähe?“ fragte er. Beide Frauen nickten eifrig, und eine antwortete: „Gleich vor der Produktion, Sie können es gar nicht verfehlen.“ Der Mann verzog eine Spur den Mund, was sicher ein Lächeln andeuten sollte, und wandte sich ab. Er ging die paar Schritte bis zum Supermarkt zu Fuß. Unterdessen 9
überlegte er. Heinrich Heinrichsen und Sohn, das müßte der Firmenname gewesen sein. Außerdem würde er das Rechtsanwaltsbüro im Fernsprechbuch ausgewiesen finden. Und so war es. Es dauerte gar nicht lange, bis er den Juniorchef an der Strippe hatte. Der Mann sagte: „Hier spricht Berger. Ich bin gerade im Offenbachweg. Da steht ja gar nichts.“ „Ja und?“ kam es aus der Leitung. „Offenbachweg zweiunddreißig bis sechsunddreißig. Die Häuser sollten vor reichlich zwei Jahren fertig sein, falls Sie sich erinnern.“ Pause, in der nichts geschah. Der Mann fuhr fort: „Schlagen Sie mal in Ihren Unterlagen aus dem Jahre dreiundsiebzig nach, wenn Sie überhaupt welche haben.“ „Wer spricht dort?“ „Berger!“ Erneute Pause, dann: „Sind Sie Herr Henry Berger?“ „Der!“ „Herr Berger aus Mexiko?“ „Ja.“ Wieder eine Pause, in der heftig neben dem Apparat getuschelt wurde. Dann ein etwas forciertes Lachen, diesmal direkt in den Hörer und in das Ohr des Mannes. Und dann die Stimme: „Herr Berger?“ „Ich höre!“ „Aber natürlich erinnere ich mich! Da brauche ich nun wirklich nicht in meine Akten zu schauen.“ „Sehr liebenswürdig!“ „Mein Vater ist gerade in einer Konferenz. Ich informiere ihn, sobald ich kann. Wo wollen wir uns treffen? Möchten Sie bei uns an den Raboisen vorbeischauen?“ Der Mann erwiderte: „Ich fahre jetzt nach Ahrensburg, immer noch die alte Adresse in der Rantzaustraße. Auch die werden Sie in Ihren Unterlagen finden.“ „Möchten Sie, daß wir zu Ihnen kommen?“ 10
„Ja.“ „Ich gebe meinem Vater Bescheid, Herr Berger. Ich denke, daß wir noch diesen Vormittag bei Ihnen aufkreuzen. Wir werden alle Termine absagen.“ „Wenn Sie sich bemühen wollen! Schließlich handelte es sich bei unserem Geschäft um hunderttausend Mark!“ Henry Berger ging zum BMW zurück. Das Gespräch mit dem jungen Heinrichsen hatte ihn nicht erleichtert, auch dessen Bereitwilligkeit nicht, alle Termine abzusagen und zu ihm nach Ahrensburg herauszukommen. Im Gegenteil! Dieses Anerbieten machte ihn noch nachdenklicher. Die Frauen hatten Ausdauer; unentwegt standen sie beim Wagen und tratschten. Wieder unterbrachen sie ihr Gespräch und starrten ihm entgegen. Bevor er einstieg, zog er den Mantel aus und tat ihn auf den Rücksitz, schmiß den Hut dazu. Er trug einen grauen Tweedanzug, ein kräftiges Wollgewebe, das ihn kleidete. Dazu ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Die Frauen schienen ein wenig zufriedener, als sie ihn so sahen. Er schaute noch einmal hin zu ihnen, verzog den Mund. Sogar in seine Augen kam so etwas wie ein Lächeln. Dann stieg er ein und startete den Motor. Er fuhr auf der Bramfelder Chaussee ein Stück in Richtung Norden, ging in der Höhe von Berne nach rechts hinüber zur Hamburger Chaussee. Die führte ihn nach Ahrensburg. Der Ort lag bereits jenseits der Stadtgrenze in Schleswig-Holstein, aber die Hansestädter hatten ihre Hochbahn bis dahin gebaut und damit einen kleinen Finger auf Ahrensburg gelegt. Um diese Zeit war auf den Straßen nichts los, in den nördlichen Vororten der Stadt schon gar nicht. Er fuhr entspannt, weit in die Polster zurückgelehnt. Als er durch Berne kam, schaltete er die Heizung im Wagen ein. Ahrensburg! Ein kleiner, schon beinahe ländlich wirkender Ort. Hinter der Endhaltestelle der Hochbahn bog Berger links in die Rantzaustraße 11
ein und fuhr sie bis über die Kreuzung Schimmelmannstraße. Zu beiden Seiten sah man hübsche kleine Einzelhäuser in gepflegten Gärten stehen. Mittelständlerische Leute hatten vor langer Zeit ihr Erspartes hier verbaut. Die meisten Häuser stammten aus den zwanziger Jahren, aber sie waren gut in Schuß. Lediglich das Grundstück, auf dem Henry Berger hauste, ließ Mangel an Sorgfalt erkennen. Viel Gestrüpp und wucherndes Unkraut im Garten. Und an den Gebäuden abblätternde Farbe, über die vor viel zu langer Zeit ein Pinsel hingestrichen war. Als Berger den BMW bei der Garage abstellte, dachte er daran, daß er sich um den Volkswagen kümmern mußte. Danach könnte er das Mietauto zurückgeben. In der Garage stand ein nagelneuer Käfer. Das Ding hatte zwar reichlich sechs Jahre auf dem Buckel, aber soweit er sich erinnerte, war das Auto damals kaum 5 000 Kilometer gelaufen. Er brauchte also nicht viel mehr zu tun, als es von den Böcken herunterzunehmen und die Räder zu montieren. Öl aufkippen, eine neue Batterie anschließen. Und die Zulassung, ja, er mußte auf die Polizei! Henry Berger verzog das Gesicht. Als er die Haustür aufschloß, schlug ihm muffige Luft entgegen, es war beinahe wie ein Hieb in die Magengrube. Er ließ die Tür gleich offen und machte dazu alle Fenster auf. Die beiden links neben der Eingangstür und das vom Eßplatz. Dann ging er unter der Treppe durch zur Küche. Auch dort öffnete er die Fenster, und das bewirkte einen kräftigen Durchzug. Dasselbe hatte er schon gestern gemacht, aber es dauerte sicher eine Weile, bis der Mief aus der letzten Ecke hervorgeweht kam. In der Wohnhalle lagerten drei große Holzkisten, die gleichzeitig mit ihm eingetroffen waren. Er sah die Aufkleber von der Deutsch-Mexikanischen Übersee-Transportgesellschaft. Und darunter: Tampico via Rotterdam–Hamburg. Die Kisten standen wohlverschlossen vor ihm, er dachte auch jetzt nicht daran, sie aufzumachen. 12
Er lehnte neben der Eingangstür und zündete sich mit bedächtigen Bewegungen ein Zigarillo an, diesmal eins aus der oberen Jackentasche. Er sah sich in der Halle um. Ein Verrückter mußte dieses Haus gebaut haben, und er erinnerte sich noch genau, wie sehr ihn der total blödsinnige Grundriß entzückt hatte, als er es zum ersten Mal sah. Und nicht nur ihn! Er hatte schon immer etwas für Verrückte übrig gehabt, und so kaufte er das Haus, ohne lange zu überlegen. Die Wohnhalle war etwa achtzig Quadratmeter groß, und wenn man die Eingangstür aufmachte, fiel man ohne viel Fisimatenten ins Gemäuer hinein. An der linken Wand befand sich ein Kamin aus Feldsteinen, echte gewachsene Steine! Heutzutage war das nichts Besonderes, nachdem man jahrelang die Bonanzaserie im Fernsehen abgeleiert hatte. Aber das Haus wurde 1923 gebaut – mitten in der Inflation. Weiß der Teufel, woher der Bauherr das Geld nahm. Vielleicht fuhr er zur See und verdiente Dollars. Vor dem Kamin standen wuchtige Sessel, Berger hatte den größten Teil der Einrichtung gleich mitgekauft. Sein Blick fiel auf das Kaminbesteck. Ja, das gehörte dazu. Besen, Schaufel, Schürhaken, natürlich schmiedeeisern. Nein, der Schürhaken fehlte! Bergers Blick glitt ab, blieb auch nicht auf der Treppe haften. Gleich rechts neben der Eingangstür lag der Eßplatz, man mußte eine Stufe zu ihm hinaufsteigen. An der Decke gab es einen kernigen Balken als Unterzug, und so entstand etwas wie eine Nische, ein geborgenes Etwas, in das man sich zurückziehen konnte. Darin stand ein Tisch aus Eichenbohlen mit einer Eckbank. Verrückt, total verrückt! Henry Berger nahm einen weiteren Zug aus dem Zigarillo. Die Treppe führte anschließend an den Eßplatz hinauf. Oben sah er die Balustrade und dahinter die beiden Türen. Der Gang setzte sich nach rechts weiter fort, und von da aus erreichte 13
man weitere Räume. Aber diese Zimmer glichen winzigen Löchern. Wirklich groß war die Wohnhalle, und die hatte ihn, wie gesagt, schon beim ersten Hinsehen verzaubert. Er konnte sich noch genau an das Gefühl der Faszination erinnern. Nun ja, er war reichlich sechs Jahre jünger gewesen. Merkwürdig nur, er hatte nicht mal ganz einen Monat in dem Haus gelebt. Im Grunde fühlte er sich fremd hier. Aber er wußte, wenn es für ihn einen Weg zurück geben sollte, dann führte der über jeden einzelnen Raum in diesem Haus! Als Berger den silbergrauen Mercedes die Grundstücksauffahrt heraufrollen und hinter dem BMW anhalten sah, war er bereits umgezogen. Er trug jetzt einen ausgeblichenen Jeansanzug und darunter einen weißen Rollkragenpullover. Auf dem Kopf saß eine schwarze „Elbsegler“, nicht eine dieser albernen Hanseatenmützen, wie sie sich mit der Mode epidemisch ausbreiteten, nein, dies war ein echtes Stück, eine von denen, wie die Leute aus dem Hafen sie trugen. Henry Berger erkannte die Rechtsanwälte gleich wieder. Sie hatten noch die ehrlichen, von Zufriedenheit gesättigten Gesichter. Auch ohne ihre Geschäftsadresse von den Raboisen hätte man ihnen mit erleichtertem Gefühl sein Geld gegeben, damit sie es verwalten. Berger ging ihnen entgegen. „Ich begrüße Sie in der alten Heimat, Herr Berger! Endlich zurückgekommen nach so vielen Jahren, nicht wahr, und nun für immer, wie ich hoffe.“ Das war der Ältere von beiden, Heinrichsen senior. Er hatte ein lautes, tönendes Organ, dem man anmerkte, daß es niemals etwas verbergen mußte. Berger blieb vor ihm stehen, sah ihm ins Gesicht. Der Rechtsanwalt erwiderte lächelnd den Blick, doch dann wanderten seine Augen zum Haus und zur weitgeöffneten Eingangstür hin. Berger tat nicht dergleichen. 14
„Hatten Sie eine gute Überfahrt?“ fragte der junge Heinrichsen und zog die durchlöcherten Autohandschuhe aus, ohne die man heutzutage wohl kein Lenkrad in der Hand behalten konnte. „Oder sind Sie geflogen?“ Auch dazu sagte Berger nichts. Er nahm ein Zigarillo, diesmal klemmte es hinter dem rechten Ohr, und zündete es an, wobei er die Flamme des Streichholzes mit der hohlen Hand schützte. „Ich kann Sie nicht ins Haus bitten“, sagte er dann. „Also, machen wir es gleich hier ab!“ Er paffte ein paar Züge, und da die beiden Heinrichsen nicht reagierten, nur so dastanden und ganz überwältigt waren von seiner Freundlichkeit, setzte er mürrisch hinzu: „Stinkt ganz abscheulich drinnen. Sechs Jahre nicht gelüftet, wenn Sie sich darunter was vorstellen können.“ „Hatten Sie denn niemand, der mal nach dem Rechten sah?“ fragte Heinrichsen senior. Berger schüttelte den Kopf. „Aber warum haben Sie uns nicht davon gesprochen, ehe Sie nach Mexiko aufbrachen. Wir hätten jemanden für Sie gefunden.“ Berger sagte: „Kommen wir zur Sache!“ Der junge Heinrichsen öffnete eine Aktenmappe und zog einen Schnellhefter hervor. „Wir haben alle Unterlagen herausgesucht, so gut es auf die Schnelle ging. Bitte sehr!“ Er hielt Berger die Akte hin. „Was soll ich damit?“ Die beiden Heinrichsen wechselten einen verständnislosen Blick miteinander. Dann nahm der Vater dem Sohn das Schriftstück aus der Hand und hielt es nun seinerseits Berger hin. „Hier ist jeder Pfennig der Summe vermerkt, die wir für Sie verwaltet haben.“ Er machte eine Pause, und da Berger den Schnellhefter noch immer nicht nahm, fügte er tadelnd hinzu: „Besser wäre es allerdings gewesen, Sie hätten uns informiert, Herr Berger, und Ihre Rückkehr angezeigt. Da hätten wir uns 15
auf dieses Gespräch vorbereiten können. Aber selbst so werden Sie sehen, daß alles wohlgeordnet ist und in Ihrem Interesse verwaltet wurde. Werfen Sie nur mal einen Blick hinein!“ Berger tat es nicht. Statt dessen sagte er: „Aber das interessiert mich doch nicht!“ Und als er in die erstaunten Gesichter der beiden Anwälte sah, setzte er hinzu: „In erster Linie interessieren mich andere Dinge, das müßten Sie verstehen. Nein? Nun, dann werde ich es erklären. Ich komme zurück nach all den Jahren, fahre zu der Adresse, von der ich annehme, sie lebt dort, stehe auf dem Grundstück und sehe: Da ist gar kein Haus! Nur so ein Dings da bis zum dritten Stock … eine Wohlstandsruine!“ Henry Berger hielt erschöpft ein, denn er war es nicht gewohnt, lange Reden zu halten. Herr Heinrichsen senior lachte. „Wohlstandsruine … ja, das ist der Ausdruck dafür. Das trifft es genau!“ Berger ging auf den lockeren Ton nicht ein. Kurz angebunden fragte er: „Wo lebt sie also jetzt?“ „In einem Seniorenheim“, erwiderte der junge Heinrichsen. „Das ist nicht Ihr Ernst!“ stieß Berger hervor. „In einem. Altersheim?“ „Seniorenheim“, korrigierte ihn der alte Heinrichsen. „Sehr hübsch gelegen in der Lüneburger Heide. Dort hat sich Ihre Frau Mutter mit den hunderttausend Mark einkaufen können.“ „Wieso erfahre ich nichts von alledem?“ „Wir dachten, Sie wüßten es.“ „Nicht ein Wort!“ „Wir haben Sie von dem Schritt Ihrer Frau Mutter unterrichtet, Herr Berger, wie es unsere Pflicht gewesen ist. Als die Firma Klötzer Konkurs anmelden mußte, den Bau im Offenbachweg nicht vollenden konnte, haben wir mit Ihrer Frau Mutter beratschlagt. Wir haben sie auf die Annehmlichkeiten und Vorteile hingewiesen, die ein 16
Seniorenheim bieten kann. Mein Sohn ist mit ihr in die Heide gefahren, zeigte ihr alles, und die Anlage hat Ihre Frau Mutter hell begeistert. Am liebsten wäre sie gleich dort geblieben, aber so Hals über Kopf ging es natürlich nicht. Wir mußten Verhandlungen führen, weil die Plätze dort sehr gefragt sind, aber schließlich hat meine Firma ihre Verbindungen. Nachdem alle Vorbereitungen getan, vor allem auch der Gesundheitspaß besorgt war, konnte der Leibrentenvertrag abgeschlossen werden, mit dem sich Ihre Frau Mutter in das Heim eingekauft hat.“ „Höhe?“ „Etwa fünfundneunzigtausend. Mit den noch anstehenden Verbindlichkeiten ging es gerade so auf.“ „Wann war das?“ „Im April vierundsiebzig, vor anderthalb Jahren etwa.“ „Und Sie haben mich von diesem Vorgang unterrichtet? Sagten Sie doch eben!“ Herr Heinrichsen senior schlug den Schnellhefter auf, fand, was er suchte, sagte: „Mit der Post vom achtundzwanzigsten April vierundsiebzig, Einschreiben.“ Einschreiben! Henry Berger verzog den Mund. Schickten einen Brief per Einschreiben in die Gegend, in der er sich zwei Jahre lang herumgetrieben hatte. Die hatten ja keinen blassen Schimmer! „Ich habe keine Nachricht erhalten.“ „Hier ist der Postabschnitt, wenn Sie den mal eben anschauen wollen. Der Stempel ist gut lesbar.“ Der alte Mann drückte Berger den Schnellhefter in die Hand, und damit hatte er ihn endlich. Aber Berger schaute nicht hinein, statt dessen wiederholte er: „Ich habe keine Nachricht erhalten.“ Herr Heinrichsen senior schüttelte den Kopf. „Ganz unverständlich!“ Nun ja, das war es Berger gerade nicht. „Und Ihre Frau Mutter?“ fragte der Rechtsanwalt. „Sie 17
muß Ihnen doch von den veränderten Lebensumständen ausführlich berichtet haben.“ „Wir sind schlechte Briefeschreiber in der Familie“, antwortete Berger. „Mal eine Karte zu Weihnachten oder Ostern.“ „Verstehe!“ Sie schwiegen eine Weile, starrten alle drei Löcher in die Gegend, und Berger paffte an seinem Zigarillo. Schließlich sagte er fassungslos: „Altersheim –!“ „So dürfen Sie das nicht sehen, Herr Berger!“ Herr Heinrichsen lächelte höflich. „Diese Art von Seniorenheimen, die da von der Heide Senioren Hotels GmbH verwaltet werden, haben nichts mehr von der leichten Anrüchigkeit früherer Zeit, also Abstellgleis für alte Leute oder so. Nein, gar nichts dergleichen! Sie bieten den ganzen Service eines anspruchsvollen Hotels, die medizinische Betreuung inbegriffen. Ich habe Ihre Frau Mutter ja einmal besucht, nachdem sie sich eingerichtet hatte, und da kam mir der Gedanke, später selbst dorthin zu gehen. Es ist ein standesgemäßes Wohnen, da können Sie mir voll vertrauen.“ Henry Berger warf schließlich doch einen Blick in den Schnellhefter, blätterte ziellos darin. Da seine Brille noch im Tweedanzug steckte, mußte er das Ding weit von sich abhalten, damit die Buchstaben nicht ineinandertanzten. „Heide Senioren Hotels nennt sich das?“ murmelte er. „Steckt nicht dahinter … warten Sie!“ Er suchte nun konzentriert in der Akte, legte den Finger darauf. „Natürlich, hinter diesen Seniorenhotels steckt Huberty!“ Er schaute hoch. Der junge Heinrichsen erklärte: „Die HSHs sind eine Tochtergesellschaft der Bauunternehmung Huberty.“ „Das ist strikt gegen unsere Vereinbarung, meine Herren!“ erwiderte Berger nicht einmal laut, aber mit schneidender Schärfe. „Keine Geschäfte mit Alfons Huberty! Das war keine Empfehlung, als wir miteinander verhan18
delten, sondern Weisung. Ich hoffe, daß Sie sich daran erinnern.“ „Natürlich tun wir das, Herr Berger!“ Die Stimme des alten Rechtsanwalts klang nicht eine Spur gereizt, im Gegenteil, auf dem Gesicht des Herrn Heinrichsen senior lag ein freundliches Lächeln, nichts sonst. „Es schienen uns die Konditionen, die Huberty Ihrer Frau Mutter einräumen wollte, günstig. Dennoch warteten wir zunächst einmal Ihr Veto ab. Das werden Sie alles in dem Durchschlag des Briefes nachlesen, der sich bei den Schriftstücken befindet. Als keinerlei Einspruch von Ihrer Seite kam, nahmen wir das als okay. Den letzten Ausschlag gab dann Ihre Mutter selbst. Schließlich ist sie es ja auch, die dort leben soll, nicht wahr? Wir können nur wiederholen, daß sie ganz begeistert war, als sie die Einrichtung kennengelernt hatte. Zudem schien es uns, als ob Ihre Mutter mit Frau Huberty näher bekannt ist.“ Der Rechtsanwalt machte eine Pause und sah Berger fragend an. „Irren wir uns da?“ Es entstand eine kleine Pause, bis Berger sich aufraffte. „Stimmt schon!“ „Na, sehen Sie mal an!“ Das Lächeln auf dem Gesicht des alten Herrn wurde breiter. „Nun fahren Sie mal erst hin in die Lüneburger Heide, Herr Berger, und schauen Sie, wie Ihre Frau Mutter dort lebt. Sie werden sie höchst zufrieden finden.“ Henry Berger klappte den Schnellhefter zu. „Das Ding werde ich bei mir behalten und durchsehen. Gegebenenfalls melde ich mich bei Ihnen.“ Er nahm das Zigarillo aus dem Mund und warf es neben sich ins Unkraut. „Einverstanden?“ Herr Heinrichsen senior erwiderte freundlich: „Wir stehen zu Ihrer Verfügung.“ „Na, denn!“ Berger tippte gegen seine „Elbsegler“ und ging zum Haus. Als er nur wenig später in der Wohnhalle stand, glaub19
te er auf einmal die Welle zu sehen, bildhaft hatte er es vor sich, wie sie langsam näher rollte, immer näher. Er wich innerlich zurück, denn sie wirkte so bedrohlich groß, daß man wohl in ihr ertrinken mußte. Gestern abend schon hatte sie ihn genommen und auf das Bett geschmissen. Da lag er dann mit allen Decken über sich, die im Haus zu finden gewesen waren. Er fürchtete, daß es ihn wieder so erwischen könnte. Er merkte, wie ihn Angst überfiel. Behutsam schlich er zu einer der Transportkisten, stützte die Arme auf und legte seinen Kopf auf das rauhe Holz. Es ging vom Magen aus, spürte er, Kälteschauer, die in Wellen kamen. Er preßte die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten. Durch das Fenster sah er die Heinrichsen in ihren silbergrauen Mercedes steigen. Der alte Herr hatte seinen Hut abgenommen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das machte die Mittagssonne, die vom Himmel knallte. Berger fand es so komisch, daß er zu grinsen begann. Die Leute da draußen schwitzten, und in seinem Innern tobte die Antarktis. Er hätte ein wenig verbindlicher sein können zu dem alten Herrn, ging es ihm durch den Sinn. Sibill hatte es ihm früher oft gesagt, es war sogar einer ihrer Streitpunkte gewesen. „Sei ein bißchen netter zu den Leuten! Ich weiß ja, daß du es nicht so meinst, aber die Leute wissen es nicht!“ Es wurde kein Anfall daraus wie gestern. Er spürte, daß er glimpflich davonkommen würde. Die Verkrampfung in seinem Innern lockerte sich. Er beobachtete, wie der Mercedes rückwärts die Einfahrt hinabrollte, auf der Rantzaustraße wendete und in Richtung Hamburg davonfuhr. Berger kam von der Kiste hoch und ging schwankend in die Küche. Er griff nach der Tablettenflasche auf dem Gewürzbord, entnahm ihr zwei Perlen und schluckte sie. Dann faßte er die Ginflasche, goß daraus in ein Wasserglas und kippte den Alkohol. Mit geschlossenen Augen stand er 20
gegen den Küchenherd gelehnt und wartete auf das Gefühl, das sich einstellen würde. Und es kam! Wieder strahlte es vom Magen aus, diesmal eine Wärme, die den ganzen Körper durchrieselte. „Die wärmende Wirkung des Alkohols“, hatte sein Biologielehrer oft erklärt und dabei den Zeigefinger gehoben, „die wärmende Wirkung des Alkohols ist trügerisch!“ Dieser alte Esel hatte ja keine Ahnung! Er schielte nach der Flasche, aber er riskierte es nicht, noch eine Füllung zu nehmen. In einer reichlichen Stunde könnte er in der Lüneburger Heide sein. Er ging aus der Küche den kurzen Weg durch die Halle und die Treppe hinauf. Plötzlich war sein Schritt wieder elastisch. Er verschwand in seinem Schlafzimmer, das linker Hand am Ende des Ganges lag. Sein Schlafzimmer! Das klang gewichtig, fand er, als er noch einmal den Anzug wechselte. Wieder zog er den grauen Tweed an, dazu das weiße Hemd, griff auch nach der roten Krawatte. Sein Schlafzimmer, wie albern, er hatte ja nicht einmal vier Wochen in dem Haus gelebt. Aber es stand ein Bett in dem Zimmer, und es war sein Bett. Ganz sachte schloß Henry Berger die Tür zu seinem Schlafzimmer, schlenderte zur Treppe. Unten sah er die Transportkisten der Überseegesellschaft. Den Kamin rechter Hand, dieses kernige, aus Feldsteinen zusammengewuchtete Ding. Das Kaminbesteck davor, Besen, Schaufel – der Haken fehlte! Henry Berger wanderte im Haus umher und schloß alle Fenster. Dann ging er hinaus, sperrte auch die Haustür sorgfältig ab. Er wandte sich zur Garage, vor der das orangefarbene Mietauto stand. Er öffnete gerade die Wagentür, als der Ball vor seine Füße gerollt kam. Der Weg vor der Garage lag nah am Nebengrundstück, und der Zaun zum Nachbarn hatte faustgroße Löcher vom Rost. Durch eins dieser Löcher war der Ball gerollt. Auf der anderen Seite stand ein kleiner Junge, nicht älter als drei Jahre. 21
Berger nahm den Ball, ging zum Zaun und schob ihn dem Jungen zu. Er lächelte, und plötzlich war das Lachen nicht nur um seinen Mund, es lag auf seinem ganzen Gesicht. Er sagte: „Staunst du, daß hier ein Neuer ist, was? Ich heiße Berger. Und wie heißt du?“ „Jens!“ wisperte der Junge. „Jens –!“ Berger lachte. „Was für ein schöner Name!“ „Jens!“ schrie eine Frauenstimme. Sie kam aus der Richtung des Hauses. Berger blickte auf. Er sah die Frau aufgeregt über den Rasen laufen. Seitlich flatterten ihre Arme wie die Flügel einer Glucke. „Jens! Sofort kommst du her!“ Als sie heran war, riß sie den kleinen Jungen zurück, barg ihn zwischen ihren Beinen. „Sie lassen meinen Sohn in Ruhe!“ zischte sie. Berger hatte selten so viel Aggressivität im Gesicht einer Frau gesehen. „Sie lassen meinen Sohn in Ruhe! Sonst hole ich die Polizei!“ Henry Berger antwortete nicht. Statt dessen zog er eins seiner dunklen Zigarillos aus der Tasche und zündete es an. Er beobachtete, wie die Frau den kleinen Jungen auf den Arm nahm und davonstürmte. „Mit dem Mann sprichst du kein Wort mehr, Jens, das mußt du mir versprechen! Die Mami muß dir sonst welche auf den Hintern hauen, und das willst du doch nicht.“ Als Henry Berger die Frau so reden hörte, begann er vergnügt zu grienen. Er stieg in den BMW, startete den Motor und fuhr davon.
2. Marion Huberty stellte ihren Wagen auf einen der drei leeren Parkplätze in der Tiefgarage ab. Die lagen günstig neben dem Fahrstuhl und gehörten ihrem Vater. Er hatte sie für sich und seine Besucher reservieren lassen. Das 22
konnte er leicht, denn im Grunde gehörte ihm die gesamte Garage und darüber das riesige Bürohaus an den Raboisen dazu. Ein paar Boxen weiter sah sie den silbergrauen Mercedes der Rechtsanwälte Heinrichsen und schräg gegenüber Jürgens blauen Mercedes stehen. Er hatte also ihre Verabredung nicht vergessen. Die großen Wagen überwogen hier unten, es waren auch einige Amerikaner dabei; ihr kleiner Citroën nahm sich schäbig dagegen aus und machte seinem Namen vom häßlichen Entlein alle Ehre. Aber Marion fuhr diese Sorte Auto schon seit der Studentenzeit, und da die noch nicht allzulange hinter ihr lag, sie selbst zudem ein sehr anhänglicher Mensch war, blieb sie weiter bei dieser Marke. „Wo sind Sie denn gewesen mit Ihrer Nak-nak, Fräulein Doktor?“ Der junge Monteur aus der Garage hatte sich in ihren Rücken geschlichen. Sie wandte sich lächelnd um. „Aber das wissen Sie doch, Fritzi, von wo ich komme.“ „Immer noch keine Straße in der Wüste?“ „Gar nicht daran zu denken! Und das heißt eben: sechs Kilometer durch den Sand!“ Mit bekümmerter Miene standen sie vor dem kleinen Auto und starrten die dichten Staubschichten auf der Karosserie an. Dann wandten sie ihre Gesichter einander zu. Das war ein Spiel, das sie mindestens einmal in der Woche spielten. „Ich könnte ja mal …“, sagte der Monteur. Marion erwiderte: „Nein, Fritzi, wirklich?“ „Soll ich?“ „Bringen Sie die Zeit denn auf dafür?“ „Für Sie bringe ich die glatt auf!“ „Die Ente wird’s Ihnen danken.“ „Die werden Sie nicht wiedererkennen, Fräulein Doktor, wenn ich die unter der Dusche hatte.“ „Wird dann wohl die Schönste sein hier unten!“ Sie waren inzwischen beim Fahrstuhl angelangt und 23
riefen den Korb herunter. Fritzi öffnete ihr die Tür, und während Marion einstieg, übergab sie ihm die Wagenschlüssel. „Tschüs, Fritzi!“ „Tschüs, Fräulein Doktor!“ Marion mußte zum Penthaus ihres Vaters in der Halle umsteigen. Der gewöhnliche Fahrstuhl fuhr nur bis in die letzte Etage des Bürogebäudes. Für das darüberliegende Dachgeschoß gab es einen Sonderlift, der nirgendwo anhielt und in einem kleinen Vorraum schon innerhalb des Penthauses endete. Das Informationspult in der Halle war Tag und Nacht besetzt, und da es gegenüber den Fahrstühlen lag, hatten die Pförtner ein Auge darauf und kontrollierten, daß sich kein Unbefugter dem Privatfahrstuhl näherte. Marion war befugt; sie hatte sogar einen der Spezialschlüssel, den man für diesen Lift benötigte. Sie brauchte dem Pförtner also nur von weitem zuzuwinken, als sie den einen Fahrstuhl verließ und die Tür zum anderen aufschloß. Ihr Vater hatte den neuen Lift einbauen lassen, als er das Penthaus für sich selbst einrichtete. Es war ein Modell, das die vielen Stockwerke in etwa dreißig Sekunden nahm. Ihr Vater hatte immer Weitsicht bewiesen, fand Marion Huberty. Als es schick wurde, mit Sack und Pack vor die Tore der Stadt zu ziehen, je weiter hinaus, desto besser, nahm er den umgekehrten Weg; er kam in die Innenstadt zurück. Heutzutage brauchten die Leute über eine Stunde, um von ihren Arbeitsplätzen nach Hause zu gelangen. Die Heimfahrt auf den verstopften Ausfallstraßen wurde nach der Arbeit in den Fabriken und Büros zu einer belastenden zweiten Schicht. Draußen in den Vororten schließlich erwartete sie nicht die Ruhe, die sie brauchten. Man hockte in den zersiedelten Gebieten aufeinander und konnte es vor Lärm kaum aushalten. Ganz anders in der City! Dort wurde es nach Geschäftsschluß still. Das Penthaus ihres Vaters 24
war 500 Quadratmeter groß, hatte neben beiden Wohnhallen noch ein Dutzend weiterer Zimmer und einen ausladenden Dachgarten. Kübelpflanzen täuschten Vegetation vor, und so entstand ein Umkreis, in dem man Wedel oder Blankenese leicht vergessen konnte. Der einzige Nachteil war die Lage dieses Dachgartens nach Westen zur Wetterseite. Aber durch einen einmaligen Ausblick wurde man entschädigt, denn die Häuser in der Ferdinandstraße und am Ballindamm waren alle niedriger, so daß man auf das Becken der Innenalster hinunterblickte. Linker Hand wurde es begrenzt vom Jungfernstieg, dieser großen Einkaufs- und Flanierstraße. Und nach rechts schaute man über Lombards- und Kennedybrücke hinüber zur Außenalster und Harvestehude. Dort kreuzte an einem Tag wie diesem ein ganzer Schwarm von Segelboten. Eben kam ein Alsterdampfer unter den Brücken hervor und nahm Kurs auf seinen Anlegeplatz neben dem Alsterpavillon am Jungfernstieg. Marion Huberty seufzte leise. Sie liebte diese Stadt, und besonders liebte sie den Blick von dieser Stelle aus. Sie kam nur noch selten her, seit ihr Vater noch einmal geheiratet hatte. Da gab es zwar noch ein Zimmer mit ihren Möbeln und Sachen, auch mit Garderobe, aber sie benutzte es selten. Sie wollte das ändern, schon des Ausblicks wegen, dachte sie lächelnd. Ihren Blick auf die Alster wollte sie sich nicht nehmen lassen, von niemandem, auch nicht von der letzten Frau ihres Vaters. Sie machte kehrt, schlenderte durch das Arbeitszimmer und die anschließende Wohnhalle, kam auf die Diele und wanderte den Gang entlang, an den die übrigen Zimmer grenzten, also auch ihres. Sie zog sich rasch aus und trat unter die Dusche. Sie stellte die Wandbrausen auf mäßige Schärfe ein, ließ das Wasser lauwarm, das spülte den Staub der Lüneburger Heide herunter. Dann drehte sie an der Armatur, bis das Wasser wärmer wurde und schließlich so heiß, daß sie es kaum noch aus25
hielt. In den folgenden Minuten wechselte sie zwischen heiß und kalt, stellte die Wasserstrahlen auf äußerste Schärfe ein. Als sie nach letzten Güssen die Hähne abstellte, fühlte sie sich wie neugeboren. Sie frottierte sich im Ankleideraum vor dem Spiegel, in dem sie sich von Kopf bis Fuß sehen konnte. Im großen und ganzen konnte sie mit dem Anblick zufrieden sein. Marion Huberty war achtundzwanzig, längst kein Mädchen mehr, aber auch noch keine Frau, wie sie sich immer wieder sagte. Sie befand sich in einer Art Schwebezustand, den sie noch möglichst lange auskosten wollte. Sie stellte das rechte Bein hoch und drehte es nach rechts und links. Ihre langen Beine gehörten zu den schönen Dingen an ihr. Die hatte sie von ihrem Vater, und sie war ihm dankbar dafür. Das Becken sah schon jetzt gewichtig aus, und es würde ausladend werden, wenn sie nicht mit dem Essen aufpaßte. Sie erinnerte sich, daß dieser Hintern ein Erbteil ihrer Mutter war, aber da die schon vor Jahren starb, in einer Nervenheilanstalt zudem, Leberzirrhose, wollte sie ihr das nicht weiter ankreiden. Und wenn es das einzige blieb, was da an Erbe dieser armen Frau in ihr zutage trat, wollte sie es gut sein lassen. Plötzlich fiel ihr Blick auf die Uhr: zwanzig Minuten nach eins! Wenn sie pünktlich sein wollte, durfte sie nicht mehr bummeln. Eine ihrer Stärken bestand in ihrer Pünktlichkeit. In wenigen Minuten war sie angezogen, luftige Sommerkleidung, aber bevor sie ihr Zimmer verließ, griff sie nach einer Wolljacke. Es konnte sein, daß Jürgen mit ihr zum „Pferdestall“ hinausfuhr, weil sie die Gulaschsuppe dort so liebte und die riesigen Scheiben des doppelt auf Holzkohlenfeuer gebackenen Bauernbrotes mit dem leicht salzigen Schinken dazu. Abends kam meist eine Brise die Elbe herauf, selbst an einem Tag wie diesem, und es wurde kühl. Marion machte noch rasch einen Kontrollgang durch das Penthaus. Vor allem schickte sie den Fahrstuhl in 26
die Halle zurück. Ihr Vater konnte es nicht leiden, wenn er auf den Lift warten mußte, selbst wenn der nur dreißig Sekunden für eine Fahrt benötigte. Marion lächelte. Sie war immer eine artige Tochter gewesen, eine ebenso aufmerksame Ehefrau würde sie werden. Sie hielt das für keine schlechte Praktik, um bei den Männern den eigenen Willen durchzusetzen. Die Büroräume des Rechtsanwalts Doktor Jürgen Jomeyer lagen im obersten Stockwerk des Bürohauses an den Raboisen, direkt unter dem Dachgarten des Penthauses. Als Marion die Türklinke zu Jürgens Vorzimmer in die Hand nahm, zeigte die Normaluhr in der Mitte des Ganges 13 Uhr 29 und 30 Sekunden. Marion war zufrieden mit sich. Der Rechtsanwalt hatte eine ganze Flucht von Räumen angemietet. In kleineren Gelassen für die Registratur reichten Leichtmetallgestelle, in denen bearbeitete Fälle in Hunderten von Schnellheftern gestapelt lagen, bis an die Decke. Aus den Heftern hingen beschriftete Papierstreifen gleich Fahnen heraus. Ein Luftzug hätte sie zum Wehen gebracht, aber heutzutage öffnete niemand mehr die Fenster, weil das der Klimaanlage schaden würde. An die Registratur schloß sich das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts an. Darauf folgte das Vorzimmer, in dem die Sekretärin thronte, und den Abschluß machte ein Konferenzraum für Besprechungen größeren Stils. Vom Vorzimmer wie auch vom Arbeitszimmer des Anwalts führten Türen auf den Gang hinaus. „Guten Tag, Frau Bodendieck!“ sagte Marion fröhlich, als sie in das Vorzimmer kam. „Guten Tag!“ Frau Bodendieck vermied es, Marion mit ihrem Titel anzureden. Erstens war sie einige Jahre älter als das junge Ding, und zweitens hätte ihr wohl auch ein akademischer Weg offengestanden, wenn sie den nur hätte gehen wollen. 27
Marion Huberty lächelte freundlich. „Ist er drin?“ „Doktor Jomeyer ist in einer wichtigen Besprechung“, erwiderte die Sekretärin. „Sie werden wohl warten müssen.“ Marion trat an Frau Bodendiecks Schreibtisch und drückte den Knopf der Sprechanlage. „Eine geschlagene Stunde stehe ich hier draußen, ist das gerecht?“ „Dann herein mit dir!“ dröhnte Jürgens Stimme aus dem Lautsprecher. Marion ließ den Knopf los und wandte sich der Sekretärin zu. Sie lächelte. Sie war so fröhlicher Stimmung heute, schon den ganzen Tag über; sie freute sich auf die Möbelausstellung, sie freute sich auf den Bauernschinken und das kernige Brot im „Pferdestall“. Sie würden vielleicht noch ein bißchen tanzen, ganz gewiß aber würden sie die Nacht über zusammenbleiben. Nichts auf der Welt würde ihr die Stimmung kaputtmachen, und Frau Bodendieck schon gar nicht. Herzlich lachte sie der Frau zu und sagte: „Danke!“ Dabei dehnte sie die erste Silbe und setzte die zweite rasch heran, wobei sie das „k“ der Frau Bodendieck ins Gesicht spuckte. Jürgen hatte zwar einen Besucher, aber die beiden waren bereits fertig miteinander, das sah sie gleich. Die Männer standen sich beim Schreibtisch gegenüber. „Nein, ich sehe das überhaupt nicht problematisch, wirklich nicht“, sagte Jürgen gerade. „Aber ich werde mich natürlich sofort kümmern, das verspreche ich dir!“ Jürgen hatte eine gutklingende, geschulte Stimme, das rührte wohl noch von seiner Zeit als Strafverteidiger her. Und er sprach mit Überzeugung! Das tat er übrigens immer. Wenn Jürgen sagte, daß er sich kümmern würde, konnte man alles auf sich beruhen lassen. Sie kannte auch den Besucher; es war sein Anwaltskollege, der jüngere Heinrichsen von der Firma Heinrichsen und Sohn, die ihre Büros einige Etagen tiefer hatten. Ihr Vater und auch Jürgen arbeiteten mit den 28
Leuten hin und wieder zusammen. Der junge Mann kam auf sie zu, drückte ihr die Hand, und irgendwie niedergeschlagen verließ er das Zimmer. Jürgens Zuversicht schien sich nicht auf ihn übertragen zu haben. Marion sagte: „Hör mal, Lieber, es ist nach halb zwei, und wir haben ein tüchtiges Pensum vor uns!“ Jürgen setzte sich hinter den Schreibtisch. Er schaute zwar her zu ihr, lächelte auch, aber es wurde nicht klar, ob er ihr überhaupt zuhörte. Unverdrossen fuhr sie fort: „Wir wollten zur Möbelausstellung, hast du wohl vergessen, was? Wir wollten nachschauen, ob ein Schlafzimmer für uns dabei ist, eins, wie die Schweden sie bauen, Kiefer natur und mit stabilen Betten, in denen man herumturnen kann. Anschließend wollte ich dich in den ‚Pferdestall‘ einladen, wenn dir das nicht einfällt. Eigentlich hätte ich dann noch gern eine Stunde getanzt oder zwei, doch ich seh’ schon, daraus wird nichts. Aber auf jeden Fall will ich mit zu dir und dableiben. Es gibt so vieles, das ich dir ins Ohr flüstern möchte.“ Marion schwieg still und schaute Jürgen an. Dann ging sie langsam zum Schreibtisch und setzte sich ihm gegenüber. Von der unbedingten Zuversichtlichkeit, mit der er noch eben den jungen Heinrichsen verabschiedet hatte, war nicht viel übriggeblieben. Er mußte einen scharfen Vormittag hinter sich haben, sie bemerkte den leichten Schweiß auf seiner Stirn und die fahle Gesichtshaut. Ganz weit am wolkenlosen Himmel sah sie etwas Dunkles aufziehen. Jürgen war reichlich zehn Jahre älter als sie, ein Altersunterschied, der ihr zusagte. Es würde für beide die erste Ehe sein, und auch das hielt sie für eine Leistung in dieser Zeit. Jürgen war derartig mit seiner Karriere beschäftigt gewesen, daß ihm der Gedanke an eine Familie gar nicht kam. Bisher! Er hatte schon einen Namen als Strafverteidiger, ehe er Abgeordneter wurde. Seit einem 29
Jahr gehörte er der Bürgerschaft an. CDU. Nun, das bedeutete ihr nichts, denn für Politik interessierte sie sich nicht sonderlich. Das Schweigen zwischen ihnen dauerte schon eine Weile. Er hatte sich geduldig ihr Gerede angehört, ein Lächeln um den leichtverzogenen Mund, das etwa ausdrückte: Wie gackert mein Hühnchen wieder schön! Sie wußte es, und sie wußte auch, daß er sich bei diesem Wortgeplätscher entspannte, so eine Art Sedativum eben, und genau darauf kam es ihr an. Sie stemmte sich gegen die Wolke und drängte sie zurück. Und während sie ihn beobachtete, fiel ihr plötzlich auf, wie wenig sie ihn eigentlich kannte. Manchmal schien es ihr, als säße sie einem völlig Fremden gegenüber. Dann packte sie so etwas wie Furcht, wenn sie an die bevorstehende Ehe dachte. Das dauerte sicher lange und brauchte viel Geduld, dachte sie, bis die ersten festen Bindungen entstanden. Hin und wieder glaubte sie auch, daß in letzter Zeit etwas Fremdes zwischen ihnen aufgetaucht sei. Sie konnte dieses Gefühl nicht näher erklären, schon gar nicht in Worte kleiden. Aber es war da, wenn auch nicht immer so stark wie gerade in diesem Augenblick. Marion schob es auf die näher rückende Veränderung, auf die Heirat. Sie stemmte sich auch gegen diese Empfindung und drängte sie mit aller Kraft zurück. Schließlich hörte sie Jürgen sagen: „Möbelausstellung … Ja, das muß ich wohl vergessen haben.“ Plötzlich glaubte sie, daß es besser sei, den Stier gleich bei den Hörnern zu packen. „Unangenehm?“ fragte sie. „Was?“ „Das da eben! Was du mit Heinrichsen zu besprechen hattest?“ „Ja, ja, unangenehm, das kann man sagen.“ Er schaute sie an, das Lächeln war aus seinen Mundwinkeln verschwunden. Und dann sagte er: „Berger ist wieder da!“ Berger? Diesen Mann kannte sie nicht. Berger war al30
so wieder da, na schön! Und das trug er vor in diesem leicht pathetischen Tonfall. Meine Güte, dachte Marion, sie befanden sich doch nicht vor Gericht, und dies war kein Plädoyer! Um ein Haar hätte sie laut losgelacht, aber auch nur, weil sie so guter Dinge war. „Berger ist also wieder da“, wiederholte sie. „Ja und? Was bringt er uns?“ „Er hat, Liebes! Er hat gebracht! So an die hunderttausend Mark hat er deinem Vater gebracht!“ Jomeyer beugte sich vor zum Schreibtisch und blätterte in einem Schnellhefter. Schließlich hatte er die Stelle gefunden, auf die es ihm ankam. „Hier steht’s! Es sind genau vierundneunzigtausendeinhundertfünfundzwanzig Mark!“ Marions Blick glitt hin zum sonnenüberfluteten Fenster. Sie starrte hinaus. Berger –? Sagte ihr denn der Name wirklich nichts? O doch, sie erinnerte sich. Vor ihrem inneren Augen tauchte das Gesicht einer alten Frau auf – eben dieser Frau Berger. Und deren Sohn war nun zurückgekommen. Die Tatsache hatte Jürgen offensichtlich aus dem Konzept gebracht, und das verstand sie. Sie selbst hatte plötzlich Mühe, still auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben. Aber sie zwang sich dazu. Nein, sie hatte Berger niemals gesehen, aber sie wußte eine Menge über den Mann. Und in diesem Zusammenhang fiel ihr natürlich Sibill ein, die letzte Frau ihres Vaters. Das Sonnenlicht, das durchs Fenster einfiel, spielte auf dem Schreibtisch herum, berührte auch Jürgens Gesicht. Er saß da, blickte unverwandt zu ihr her, ein kleines Lächeln um den Mund. Sie sah das freundlich helle Licht in dem Zimmer, aber sie bemerkte auch die Wolke an ihrem Himmel, die immer näher zog. Und sie wußte schon, daß es wenig Sinn haben würde, sich ihr entgegenzustemmen. Gerade erklärte Jürgen mit nachsichtiger Stimme: „Selbstverständlich wurde die Summe von vierundneunzigtausendeinhundertfünfundzwanzig Mark versiche31
rungsmathematisch genau berechnet. Ist ja üblich bei den Leibrentenverträgen, wie du weißt. Da haben wir das monatliche Fixum, bestehend aus Wohnen, Essen, medizinischer Betreuung et cetera. Das ergibt den Jahresbeitrag, und der wird multipliziert mit der möglichen Lebenserwartung.“ Die Wolke an ihrem Himmel war beim besten Willen nicht mehr zu übersehen, grau und schwarz braute es sich über ihr zusammen. So mußte es ja kommen. Der Tag hatte viel zu schön und unkompliziert begonnen. Sie hörte Jürgen sagen: „Im Fall der Frau Berger ist die Lebenserwartung hoch, nicht unter zehn Jahre. Du wirst dich wohl erinnern!“ Sie räusperte sich, sagte schließlich: „Ja, natürlich!“ Und Jürgen fuhr mit einem Lächeln zwar, aber unerbittlich fort: „Hier ist der Bericht deiner medizinischen Untersuchung. Willst du ihn sehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dein Urteil bildete die Grundlage für die Höhe des abgeschlossenen Leibrentenvertrages.“ Ihr wurde ganz schlecht. Nichts war es mit der Möbelausstellung, auf die sie sich seit Tagen gefreut hatte, nichts mit dem „Pferdestall“ und all den anderen hübschen Dingen später in der Nacht. Gleich würde es kommen, wußte sie, und natürlich, da kam es schon! Jürgen sagte: „Wir müssen sofort in die Lüneburger Heide. Berger ist schon auf dem Weg dorthin!“
3. Hannah Mewis sah die Mannsperson durch die Halle des Seniorenhotels kommen: ein großer Kerl, etwa vierzigjährig, über eins achtzig groß und sicher zwei Zentner schwer. Auch ohne den merkwürdig langen blauen Wintermantel an diesem heißen Spätsommertag hätte er 32
Beachtung gefunden. Er gehörte zu der Sorte von Leuten, bei deren Auftauchen die Räume ein bißchen voller wirken. Dabei ging nichts Helles von ihm aus, ganz im Gegenteil. Er mutete eher an wie einer, der eine düstere Nachricht überbringen muß. Aber vielleicht lag das auch nur an dem dunklen Mantel und dem komischen Hut mit der breiten Krempe. Irgendwie erinnerte er Hannah an etwas. Sie wußte es nicht, Sie ahnte nur, daß es etwas war, das sie tief in ihrem Innern verschlossen hatte. Auf jeden Fall brachte der junge Mann die Abwechslung, nach der sie in dieser Einöde lange ausgeschaut hatte. Sie klappte den Stefan Zweig zu, der ihr beim Staubwischen zwischen die Finger geraten war. Sie hatte in dem schmalen Bändchen herumgeblättert, hier und da mal angehalten und sich ein paar Brocken herausgepickt. Nun legte sie das Buch neben das Glas mit der sauren Milch, die sie auch nicht mochte. Seit über einer Stunde stand die unberührt vor ihrem Platz. Hannah Mewis lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände im Schoß. Recht behaglich! Sie beobachtete den jungen Mann, der einen Blumenstrauß unter dem Arm hervorholte und dabei sogar die Hände aus den Manteltaschen bekam. Er legte die Rosen auf die Rezeption. Hübsche Dinger, langstielig, rosa, etwa dreißig Stück. Wie lange war es her, daß man ihr zuletzt Rosen geschenkt hatte? Meine Güte, sie erinnerte sich nicht mehr. Sie kam sich ein bißchen vor wie im Theater auf einem der der guten Plätze, zwar nicht vorn, denn von ihrem Sessel bis zum Empfangspult mußten es an die fünfzehn Schritte sein, wenn nicht mehr. Aber Entfernungen spielten für Hannah keine Rolle, ihre Augen wurden mit den Jahren immer besser, zumindest was die Weitsichtigkeit anlangte. Sie saß also weit rückwärts, halb versteckt in einer Nische; vor sich hatte sie das Modell der gesamten Seniorenhotelanlage, das auf einer Stellage aufgebaut war. 33
Hannah Rückwärts! Sie lächelte. Ihr Mann hatte sie vor langen Jahren so getauft. Hannah Rückwärts, weil man ihren Namen von beiden Enden gleich gut lesen konnte. Was der Liebe damals nicht ahnen konnte, als er sie so nannte, war, daß er mit diesem Namen so etwas wie Prophetie bewies, wenn man von dem „Rückwärts“ auf den neu hinzugewonnenen Zug ihres Wesens Schlüsse ziehen wollte. Hannah Rückwärts! Sie hatte es lernen müssen, nach vorn zu sichern und mit dem Rücken an die Wand zu kommen. Das war nicht leicht gewesen, denn Hannah war von argloser Gemütsart. Aber sie hatte die Lektionen mit vielen Nachhilfen brav gelernt. Sie konnte die Männer gut beobachten, und da sie seitlich zur Rezeption saß, schaute sie auch in beide Gesichter. Der Mann sagte: „Ich möchte zu Frau Berger.“ Der Empfangschef erwiderte: „Berger, Berger? Einen Moment …“ Er fügte noch etwas hinzu, das Hannah nicht verstand. Der Kerl nuschelte! Sie hatte es ihm in den letzten Tagen schon mehrmals gesagt. In der Sprechweise drückte sich Erziehung und Kultur aus, sie konnte Nuschler nicht ausstehen. Jetzt kam er mit einem Karteikasten und begann zu kramen. Schließlich machte er den Mund wieder auf, und sie sah ihn sagen: „Hier haben wir es ja! Appartement siebenhundertzweiundzwanzig. Ich werde mal hinaufläuten, ob er in seinem Zimmer ist. Einen Moment, ich …“ Er sprach zwar noch weiter, aber er wandte sich ab dabei. Unterdessen fragte der Mann: „Er …? Haben Sie eben ‚er‘ gesagt?“ Der Empfangschef legte den Hörer auf die Gabel und wandte sich wieder dem Mann und damit auch Hannah zu. Er sagte: „Aber Sie wollten doch zu Berger, nicht wahr?“ Und noch einmal auf die Karte schauend: „Hermann Berger!“ 34
Der Mann sagte: „Ich wollte zu Frau Berger!“ Und skandierend: „Frau Elisabeth Berger!“ Der Empfangschef war irritiert, und darum verstand Hannah natürlich auch nicht, was er entgegnete; sie sah nur seinen Mund eilig auf- und zuklappen. Und sie beobachtete, wie er die Karteikarte zurücksteckte und erneut im Kasten zu suchen begann, ziemlich hektisch zunächst, dann langsamer werdend. Schließlich hielten die Finger unschlüssig still. Der Empfangschef: „Nein, tut mir leid, kann ich nicht finden.“ Der Mann: „Vielleicht brauchen Sie eine Brille?“ Der Empfangschef: „Ich kann auch ohne Brille tadellos sehen.“ Der Mann: „Und lesen können Sie auch, ja?“ Der Empfangschef: „Hören Sie mal, mein Herr, ich stehe hier und gebe Auskünfte. Aber ich muß nicht hier stehen und mir Ihre Dreistigkeiten anhören.“ Der Mann: „Natürlich nicht! Sagen Sie mir, wie ich Frau Berger erreiche, und Sie sind mich los.“ Der Empfangschef: „Eine Frau Berger – Elisabeth Berger – gibt es hier nicht!“ Der Mann: „Ich erkläre Ihnen, daß Frau Berger seit über einem Jahr in diesem Hotel lebt.“ Der Empfangschef: „Und ich erkläre Ihnen, daß Frau Berger hier nicht wohnt, nie hier gewohnt hat!“ Pause, dann der Mann: „Das sagen Sie nicht im Ernst!“ Der Empfangschef: „Im völligen Ernst, mein Herr!“ Erneute Pause! Dann der Mann: „Einen Direktor wird es hier wohl geben?“ Der Empfangschef: „Den gibt es allerdings, mein Herr!“ Der Mann: „Ich möchte ihn sprechen!“ Der Empfangschef: „Da müssen Sie sich eine Weile gedulden.“ Er kehrte dem Mann und damit auch Hannah den Rücken und telefonierte wieder. Auch der Mann wandte 35
sich von der Rezeption ab, zum Glück in Hannahs Richtung. Sie sah die tiefe Ratlosigkeit auf seinem Gesicht. Der Mann schlenderte ziellos durch die Hotelhalle. Hannah Mewis beobachtete ihn, und sie hoffte, daß ihn sein Weg an ihrer Nische vorbeiführen würde. Sie schaute ihn aus großen Augen an, als ob sie ihn durch ihre gesammelten und geballten geistigen Kräfte herbeihexen könne. Sie mußte mit dem Mann sprechen! Und wie sähe es aus, wenn sie aufstand, durch die Halle auf ihn losmarschierte und ihn ansprach, sie, eine Frau von siebenundsechzig Jahren. Bei aller Resolutheit war Hannah oft schüchtern wie ein junges Mädchen. Hannah Rückwärts! Sie wußte inzwischen, wer der Mann war, sie sah auch die Ähnlichkeit. Aber das konnte nicht der eigentliche Kern ihrer Erinnerung sein. Die lag in wesentlich tieferen Schichten. Der junge Mann nahm tatsächlich Kurs auf sie. Aber es lag nicht am Schmelz ihrer Augen, auch nicht an einer wie auch immer gearteten hypnotischen Kraft, nein, schlicht und einfach entdeckte er plötzlich das Modell der Seniorenhotelanlage in ihrer Nähe. Deshalb kam er heran und machte direkt ihr gegenüber halt. Sie selbst hatte er noch mit keinem Blick angeschaut. Die Männer schienen auch nicht mehr das zu sein, was sie mal waren, dachte sie, oder sollte es etwa an ihr liegen? Hannah Rückwärts lächelte still in sich hinein, irgendwie war sie plötzlich vergnügt. Trotzdem! Sie beobachtete den Mann, der sich ganz auf das Modell konzentrierte. Seine Hände kamen aus den Manteltaschen – wahrscheinlich hatte er keinen anderen Platz für sie –, in der einen hielt er ein Zigarillo, dunkle Havanna, in der anderen ein Streichholzheftchen. Ganz in Gedanken zündete er das Zigarillo an, machte einen Zug, und dann hielt er ein und sah sich in der Halle um. Beinahe schien es, als nähme er erst jetzt die Atmosphäre richtig auf. Es war kein gewöhnliches Hotel. Zu dieser 36
Nachmittagsstunde saßen viele Leute in der Halle, alte Leute, Hannah Mewis mit ihren siebenundsechzig Jahren gehörte zu den Küken hier. Sie waren sorgfältig gekleidet, besonders die Frauen, die hatten auch viel Zeit an Frisuren und Make-up gewandt. Gewisse Laxheit in der Kleidung sah er bei den Männern, er entdeckte Hausjoppen und hier und da Filzlatschen. Aber das störte nicht, im Gegenteil, es gab dem Ganzen einen familiären Anstrich, einen kleinen Hauch von Intimität. Erschreckend schien ihm die Langeweile, die in trägen Wellen durch die Halle schwappte. Strickende Frauen gab es viele. Irgendwo lag ein Kater zusammengerollt in einem Schoß und ließ sich den Wollfaden durch die Pfoten ziehen. Ein Ehepaar arbeitete gemeinsam an einem Puzzle. Das Aufregendste war zweifellos die Kanastapartie am Nebentisch. Und dann sah Hannah den Blick des Mannes herumkommen und sie streifen, dabei drehte er das Zigarillo in seinen Fingern. Er fragte: „Darf man hier überhaupt rauchen?“ Hannah antwortete: „Nur los, junger Mann, das vertreibt vielleicht ein bißchen den Mief in diesem Panoptikum!“ Hannah hatte eine kräftige, leicht derbe Stimme. Vor vielen Jahren war sie Schauspielerin gewesen, in einer Zeit, die ihr immer unendlich viel bedeuten würde. Nicht wegen des Theaterspielens, ach nein, die Erinnerungen daran wurden blaß und blässer; geblieben von dem schönen Traum ihrer frühen Jugend war die Stimme. Die füllte allerdings noch immer jeden Raum mit Leichtigkeit. Mit leichten Tönen, wohlgemerkt! Nicht mit jenem Gekrächz aus überanstrengten Kehlen, den die jungen Dinger heutzutage als Ergebnis ihrer Sprechausbildung vorweisen. Hannah Mewis sah, wie der Mann, der sich schon wieder dem Modell der Hotelanlage zugewandt hatte, den Kopf hob und sie anschaute. Anscheinend hatte er 37
erst mit einiger Verzögerung die Direktheit in ihrer Stimme aufgenommen. Er musterte sie mit plötzlichem Interesse und ganz ungeniert. Dieser Flaps! Nun, sollte er sie anschauen, sie wußte selbst am besten, was es da zu sehen gab. Eine Frau von siebenundsechzig, na und? Sie sah jünger aus, das machte, weil sie keine Falten hatte. Hielten sich nicht in ihrem pummeligen Gesicht, hatten keine Angriffsfläche. An ihr war schon immer eine Menge dran gewesen, schon als junge Frau, das hatte ihren Männern gefallen. Ihr halblanges braunes Haar, von grauen Strähnen durchzogen, fiel irgendwie von links nach schräg, streifte dabei die Stirn. Manchmal, wenn es sich allzu mausig machte, jagte sie es in den Nacken zurück, mit einer Bewegung, die sie für Sekunden um dreißig Jahre jünger machte. Sie kannte diese Bewegung, und manchmal setzte sie die ein. Jetzt zum Beispiel! Früher hatte sie das Haar färben lassen, aber sie tat es schon lange nicht mehr. Die breiten grauen Streifen darin waren wie Kerben, fand sie inzwischen, die man vorweisen konnte. Sie hatte ein rundes Gesicht, nichts Auffallendes daran, vielleicht die Augen, weil ein kluger Ausdruck in ihnen lag. Der Körper war pummelig wie das Gesicht. Deshalb stand die saure Milch an ihrem Platz. Die kleine Marion Huberty hatte ihr die verordnet. Ein niedliches Wesen, dieser neugebackene weibliche Doktor, aber die saure Milch würde sie trotzdem nicht trinken. Wozu? Um den Körper zu entschlacken? Noch ein paar weitere Jahre dazusein? Wozu? Und was war Zeit? In ihrer Erinnerung dehnten sich die kurzen Stunden großen Glücks, wurden zeitlos. Und die Jahre, die darauf folgten, schienen irgendwie zusammengepreßt. Sie kamen auch nicht mehr in ihre Träume. Sie lächelte den jungen Mann an. „Setzen Sie sich!“ Und weil er zögerte, fuhr sie fort: „Sie haben sich eben nach Frau Berger erkundigt, nicht wahr?“ Er starrte sie überrascht an. Dann wandte er sich um 38
zur Rezeption, maß den Weg von fünfzehn, zwanzig Metern mit den Augen. Sie konnte auf diese Entfernung nicht ein Wort von dem Gespräch belauscht haben, meinte er vielleicht? Doch, doch, sie hatte! Sie war eben eine Hexe, Hannah Rückwärts, gleich würde sie sich auf ihren Besen schwingen und davonfliegen. Sie schmiß die Haarsträhne in den Nacken und sagte: „Sie sind Henry Berger!“ „Ja …!“ Er nickte ganz entgeistert. „Setzen Sie sich, junger Mann“, wiederholte sie ihre Aufforderung, und diesmal folgte er ihr. Sie ließ ihn noch einige Augenblicke schmoren, in denen sie ihn sich ganz aus der Nähe anschaute. Unbefangen übrigens! Früher hatte sie sofort zu rechnen begonnen, wenn ihr ein Mann gegenübersaß. In diesem Fall wäre sie jedoch zu einem raschen Ergebnis gekommen; sie hätte schnell herausgefunden, daß das Kerlchen damals nicht älter als zwölf Jahre gewesen sein konnte. Sie sagte schließlich: „Ich bin stocktaub!“ Der junge Mann machte zwar den Mund auf, aber sie wettete, daß nicht ein Laut herauskam. „Verstehen Sie das?“ fragte sie. „Ja!“ Unsinn, der Flaps begriff nichts, sie sah es ja in seinen Augen. Sie erklärte: „Ich bin stocktaub, verstehe also kein Wort!“ Sie deutete gegen ihre Ohren. „Damit! Aber ich habe ausgezeichnete Augen, und so lese ich von den Lippen, auch aus großer Entfernung. Hübsch, nicht?“ „Doll!“ „Wie?“ Hannah beuge sich weiter vor. Nun begann der auch noch zu nuscheln. Berger sprach überdeutlich: „Finde ich ganz gut!“ „So liegt in jeder Schwäche zugleich eine Stärke!“ Plötzlich lachten sie sich an. Es war ganz offensichtlich, daß sie auf Anhieb Gefallen aneinander fanden. „Ich habe Sie also belauscht, junger Mann, und von 39
Ihnen habe ich auch jedes Wort verstanden. Aber der Empfangschef nuschelt.“ „Stimmt!“ sagte Berger überrascht. „Natürlich stimmt es, ich verstehe ihn ja schlecht. Sie haben sich also nach Frau Berger erkundigt?“ „Ja, aber man kennt sie hier nicht.“ „Doch!“ „Wie?“ „Ich kenne sie. Gut sogar!“ „Aber der Mann an der Rezeption …“ „… ist meschugge“, unterbrach sie ihn. „Das haben Sie dem Esel auch zu verstehen gegeben, nicht wahr? Außerdem ist er erst seit acht Tagen hier. Was kann der schon wissen.“ „Sie wohnt also in diesem Hotel?“ fragte Henry Berger erleichtert. Hannah überlegte nur wenige Sekunden, dann sagte sie entschlossen: „Kommen Sie mit!“ Sie stand auf und ging davon. Sie wandte sich nicht um nach ihm, sie wußte schon, daß er ihr folgen würde. Sie gingen an der Rezeption vorbei, aber den Empfangschef, der ihnen aus geweiteten Augen hinterher starrte, würdigten sie mit keinem Blick. Sie fuhren in den achten Stock, gingen einen Gang entlang und blieben schließlich vor einer Tür stehen, die Hannah aufschloß. Sie hatten unterwegs nicht miteinander gesprochen. Jetzt lächelte sie ihm auffordernd zu. „Treten Sie bitte näher, Herr Berger!“ „Wo sind wir hier?“ fragte er zögernd. „Gehört das Zimmer meiner Mutter?“ „Es ist mein Appartement!“ Sie machte eine einladende Handbewegung, und da er nicht reagierte, ging sie schließlich voran. Mit etwas forcierter Fröhlichkeit sagte sie: „Hereinspaziert und sich umgesehen, hier wohne ich. Köstlich, nicht wahr?“ Sie wandte sich nach 40
ihm um. Sie war viel zu sehr Schauspielerin, um ihre falschen Töne nicht zu spüren. Sie hätte sich ohrfeigen mögen. Henry Berger erwiderte: „Ein bißchen eng vielleicht.“ „Das nennt man Lebensqualität!“ fuhr sie fort. „Und nebenan und drunter und drüber – jedes Zimmer wie dieses, Wohnungen vom Fließband; ist das nicht entsetzlich? Fünfzehn Stockwerke hoch und auf jedem an die hundert Appartements. Und was das Schlimmste ist bei allem: Ich bin zweifellos die Jüngste hier!“ Sie schmiß die Haarsträhne nach hinten und sah ihn lächelnd an. Es entstand eine Pause. Sie fühlte, daß sie es ihm gleich würde sagen müssen. „Und … meine Mutter –?“ fragte er und schaute sich unschlüssig in dem Appartement um. „Ich meine … ihr Zimmer ist ebenso wie dieses?“ „Die sind alle gleich“, erwiderte sie eifrig, weil sie es noch eine kleine Weile hinauszögern konnte. Sie ging zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und deutete hinaus. „Dahinten bauen sie noch mehr Hotels, drei Stück, in jedem tausendfünfhundert Leute, macht mit diesem hier sechstausend. Eine Verarbeitungsanlage für Altgewordene. Ist es nicht schlimm, auf was für Ideen Menschen kommen?“ „Warum haben Sie sich denn hier einquartiert?“ fragte er nüchtern. „Es war doch Ihr freier Wille, sie mußten doch nicht unbedingt, oder?“ „Unbedingt nicht, nein!“ „Sehen Sie, das meine ich! Die Leute, die sich hier so exklusiv verarbeiten lassen, wie Sie das nennen, haben ja alle bißchen was auf der hohen Kante. Meine Mutter mußte etwa hunderttausend Mark hinblättern, ehe sie überhaupt reingelassen wurde. Weshalb sind Sie also hergekommen, Frau …?“ Er stockte. „Ich kenne nicht mal Ihren Namen, wie heißen Sie denn?“ Sie lächelte. „Ich bin Hannah Mewis.“ 41
„Hübsch!“ Er legte den Kopf schief und tat so, als horche er in sich hinein. „Mewis klingt norddeutsch.“ „Ja“ „Sie sind aber nicht aus der Gegend, Frau Mewis.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Höre ich!“ Dieser Flaps! Sie war schließlich Schauspielerin gewesen und sprach reinstes Hochdeutsch. Dachte sie jedenfalls! „Und wo, meinen Sie, komme ich her?“ Er hob den Blick und sah sie abwägend an. Er hatte was in den Augen, das in einen hineinging, ganz zwanglos dort umherspazierte und ungeniert im Innersten zu stöbern schien. Ein Flaps eben, der Ausdruck traf es schon. Er sagte: „Wahrscheinlich kommen Sie aus Österreich. Großstadt. Wien. Feine Gegend natürlich!“ Und spielerisch setzte er heran: „Nikolaus Lenau!“ Hannah Mewis war elektrisiert. Wie kam der Junge denn auf Lenau, ausgerechnet auf den? Gefielen ihm die Gedichte? Oder dachte er an dessen Amerikareise? Der Auszug voller Hoffnung und die Wiederkehr nach nur wenigen Monaten. Ein ganzes Bilderbuch klappte plötzlich vor ihr auf. Sie sah sich selbst in Mexiko. Das Hoffen und Verzweifeln und das Heimweh schließlich, dieser furchtbare, brennende Schmerz! Und dann die Rückkehr wie beim Landsmann hundert Jahre früher. Nach einer langen Pause sagte sie: „Sie haben es genau getroffen, Professor Higgins! Aber auch eine Wienerin nimmt den Namen ihres Mannes an, wenn sie heiratet, und so wird Hannah Mewis daraus.“ „Und wie kommt eine Hannah Mewis in dieses blödsinnige Seniorenhotel?“ „Weil in den Prospekten immer so viel geschrieben steht und weil die so hübsche, bunte Bilder haben. Aber nun ist erst dieses eine Hotel bewohnt, mit den drei anderen wird es noch dauern, und ehe die nicht fertig sind, 42
wird auch die Straße nicht gebaut. Wenn man hier also mal ’raus will, weil einem die Decke auf den Kopf fällt, muß man sechs Kilometer durch den Sand zur Kreisstadt waten. Die Taxis kommen nicht gern heraus, weil die Fahrer ihren Autos den Sand nicht zumuten wollen.“ „Sie sind noch nicht uralt, Frau Mewis.“ „Danke!“ „Ziehen Sie also wieder aus.“ Sie nickte ernsthaft. „Ja. Aber vorher sollten wir noch schnell einen hinunterkippen. Da drüben steht Rum!“ Sie zeigte zu einer Kommode, auf der sich Flaschen und Gläser befanden. Baccardi-Rum war auch darunter. Er ging hin und schraubte die Kappe ab. „Wie trinken Sie ihn?“ fragte sie. „Pur!“ „Sehr sympathisch! Ich kann den Colapansch auch nicht ausstehen.“ Sie schien nicht mal mit der Wimper zu zucken, als er eine gehörige Menge in beide Gläser kippte. Sie prosteten sich zu. Wieder entstand eine Pause, in der er sich in dem Zimmer umsah. Sie hatte es mit den Resten ihres früheren Lebens vollgestopft. Die Fotografien. Darunter auch eine, die sie als Gretchen darstellte. Das war auf der Sommerbühne in Tuttlingen gewesen, ein erstaunlich pausbäckiges Gretchen mit blonder Perücke! Sie hatte schon immer so etwas Urdeutsches gehabt. Dann die Picassoschen Stierkampfdrucke. Die beiden mexikanischen Hüte in der Nähe, den großen und den kleinen, die silbernen Sporen schließlich. Er wußte schon, was sie ihm zu sagen hatte, spürte sie auf einmal. Aber ebenso wie sie, zögerte auch er den Augenblick hinaus. Er wanderte in dem engen Zimmer umher, schaute sich Fotos an, sprach auch etwas … Sie sagte: „Sie müssen mich schon anschauen, wenn Sie mit mir reden!“ Er wandte sich ihr zu. „Entschuldigen Sie, manchmal bin ich unaufmerksam.“ 43
„Ein ganz seltener Zug an Männern.“ Sie grinsten sich an. Dann zeigte er auf das Bild über der Kommode. „Das ist wohl Ihr Mann mit Ihrem Sohn?“ Das vergilbte Foto steckte in einem Wechselrahmen und zeigte Jakob, als er Mitte Dreißig war, und Joseph daneben mit fünf. Langsam ging ihr Blick von dem Bild zu dem danebenstehenden Mann. Auf eine unerklärliche Weise war sie verwirrt. Wie war das mit dieser Erinnerung vorhin in der Halle? Sie mußte sich setzen. Und wie um das Gefühl einer aufsteigenden Erschütterung zurückzudrängen, deutete sie auf die Stierkampfszenen und die beiden Hüte, den großen und den kleinen, und fragte ein wenig lärmend: „Und dazu sagen Sie gar nichts?“ Ihre beiden Männer, der Große und der Kleine, waren mit Leidenschaft in die Arenen gezogen, hatten dabei die Hüte auf dem Kopf, wie es sich gehörte. Hannah Rückwärts liebte Stierkämpfe nicht so sehr, aber sie war immer mitgegangen. Und wenn es kritisch wurde, hatte sie einfach die Augen hinter der großen Sonnenbrille zugemacht. „Spanien?“ sah sie Berger fragen. Sie schüttelte den Kopf. „Mexiko!“ „Waren Sie denn dort?“ „Einige Zeit!“ Er war sichtlich überrascht. „Und Sie?“ fragte sie. „Wie lange waren Sie dort?“ „Zwei Jahre.“ „Sie haben ein großes Werk dort gebaut?“ „Das hat meine Mutter Ihnen gesagt.“ „Ja.“ Er setzte sich nun auch, lächelte. „Sie geht immer mit meiner bedeutsamen Arbeit hausieren, erzählt es den Leuten, ob die es hören wollen oder nicht.“ „Ja, ich weiß es von Ihrer Mutter, Herr Berger!“ erwiderte Hannah ernsthaft. „Eine … angenehme Frau, Ihre Mutter, anders als die meisten hier, man konnte sich ihr 44
anschließen. Und so hat sie viel von Ihnen erzählt, ergab sich ganz von selbst. Besonders in der letzten Zeit, ja, da hat sie eigentlich nur von Ihnen gesprochen. Und das mit einer so liebevollen Heiterkeit!“ Hannah schwieg still, und sie sahen sich beide an. Eine ganze Weile lang. Dann stand Henry Berger langsam auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Dann, nach einer weiteren Pause, bewegten sich seine Lippen. Er sagte: „Sie lebt nicht mehr!“ Deshalb hatte sie ihn mit heraufgenommen in ihr Zimmer. Sie wollte nicht, daß er es in der Halle erfuhr, sie wollte nicht, daß der Empfangschef oder der Hoteldirektor es ihm mitteilte. Nein, es gehörte sich schon, daß sie es ihm sagte. „Ja, Herr Berger, sie ist tot! Sie starb vor vier Wochen!“
4. „Achthundert Millionen Mark repräsentiert das Bauvolumen meiner Unternehmen, Herr Schulz! Achthundert Millionen! Können Sie sich unter dieser Summe etwas vorstellen? Ich meine das ganz konkret: Sind solche Größenordnungen überhaupt noch vorstellbar?“ Doktor Alfons Huberty legte eine effektvolle Pause ein. In dieser wichtigtuerischen, dozierenden Pose gefiel er sich besonders. „Wir haben im vergangenen Jahr einen Gewinn von zweiunddreißig Millionen erwirtschaftet. Wir haben Außenstände in Höhe von weiteren achtundfünfzig Millionen. Das Vermögen der Bauunternehmung Huberty schließlich beläuft sich auf rund hundert Millionen. Und das sind ja nicht nur Zahlen, mit denen ich jongliere wie seinerzeit der gute Rastelli mit seinen Bällen. Die Posten sind in unserer Bilanz offengelegt und also auch Ihnen zugänglich, Herr Schulz! Und Sie kennen sie auch und werden zugeben, daß es eindrucksvolle Zahlen sind. Und 45
da kommen Sie mir nun mit Ihrer Million! Gemessen an unserer Gesamtkapazität, ist die doch ein Fliegenschiß!“ Herr Schulz erwiderte: „Dieser Fliegenschiß, wie Sie das nennen, Doktor Huberty, setzt sich zusammen aus den Lohnforderungen Ihrer Arbeitnehmer. Hinzu kommt mehr als eine weitere Million an nicht abgeführten Versicherungsbeiträgen. Und da liegt die Summe dann schon höher, nämlich bei zwei-Komma-eins Millionen Mark!“ „Na schön!“ meinte Doktor Alfons Huberty. „Und wie nun weiter?“ Sie standen sich in der werdenden Halle des neuen Seniorenhotels gegenüber, der Unternehmer und sein Betriebsrat. Durch die Öffnungen im Mauerwerk rundum, die einmal Türen und Fenster aufnehmen würden, hatten sie einen guten Blick auf das Gelände draußen. Sie sahen die Mengen unverarbeiteten Baumaterials, die Felder geschichteter Steine, die Berge geschütteten Kieses, die Zementsilos. Neben der Transportschräge, die zur Empfangshalle heraufführte, waren Dutzende Eisenkarren hochkant gekippt. Neben den Lastenaufzügen zu den oberen Arbeitsbühnen befanden sich die Mischmaschinen, sie drehten sich nicht. Auf der gesamten Baustelle wurde nicht gearbeitet. Ebenfalls in der Nähe der Transportschräge hielt der Mercedes des Unternehmers. Neben der Tür zum Fahrersitz lehnte Franz, an die zwei Meter groß und schlank, Arme lässig verschränkt, rauchend, uninteressiert, wie die Haltung ausdrückte. Aber Huberty konnte sicher sein, daß er nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen wurde, Franz, sein Importartikel aus der bayrischen Heimat, Chauffeur, Leibwächter und Kindermädchen in einer Person. Etwas entfernt parkten zwei Mittelkläßler von Ford und VW, in einem von beiden saß der Bauleiter Schmieder. Er war zu diesem Gespräch nicht einmal aus seinem Wagen ausgestiegen. „Nun machen Sie mal Vorschläge, lieber Herr Schulz!“ 46
forderte Doktor Huberty den Betriebsrat auf. „Wie soll es denn jetzt weitergehen?“ Das war entschieden die Höhe, dachte Schulz. Er bedauerte, überhaupt herausgekommen zu sein. ‚Machen Sie mal Vorschläge!‘ Als ob die Reihe dazu nicht an Huberty wäre, diesem Fuchs! „Wir hatten in der Stadt eine Versammlung einberufen, Doktor Huberty“, sagte er schließlich. „Auch Sie waren dazu eingeladen!“ „Ich halte viel von Versammlungen“, erwiderte der Bauunternehmer, „weil ich viel vom Reden halte. Vom Reden im guten, klärenden Sinn! Ja, lieber Schulz, ich wäre Ihrer Einladung gefolgt, wirklich gern. Aber die Zusammenkunft hätte hier stattfinden müssen, hier, wo wir beide gerade stehen. Wenn über unsere Probleme geredet werden muß, dann bitte hier!“ „Es war die Entscheidung der Mehrzahl unserer Kollegen, die Versammlung in der Stadt abzuhalten, Doktor Huberty.“ „Weil dort die Zapfhähne in der Nähe sind! Nun gut, Sie haben Ihren Versammlungsort gewählt, und ich habe Ihnen meinen Bauleiter geschickt.“ „Ja, das haben Sie!“ entgegnete der Betriebsrat Schulz. „Aber Herr Schmieder konnte den Kollegen auch nicht sagen, wann der Lohn der vergangenen vierzehn Tage ausgezahlt werden soll.“ In diesem Jahr war Doktor Huberty fünfundsiebzig Jahre alt geworden, am sechsten März genau, also vor einem halben Jahr. Der Tag wurde nicht so begangen, wie er sich das vor noch nicht allzulanger Zeit vorgestellt hatte. Ein kurzes Mittagessen im Hotel Atlantic mit der Familie, Jomeyer war als angehender Schwiegersohn gebeten worden. Keine Ehrungen in der Bauunternehmung, er hatte sich das verbeten. Franz hatte ihn nach dem Essen in den Wagen gesetzt. Die kleine Bar im Fond war gut sortiert, wie immer, aber auch wie immer wußte er sich darauf zu beschränken, sich die Flaschen 47
anzugucken. Schließlich hatte er an einem Glas Sekt genippt, und das hatte ihn bis Düsseldorf beschäftigt. Die Fahrt ging zu einer Adresse in der Nähe des Karlplatzes. Dort war er avisiert und erfuhr seine Spezialbehandlung. Huberty grinste. Viel war nicht übriggeblieben von dem Hünen, wie es früher hieß, der sich vom einfachen Maurer zu einem der größten Baulöwen der Bundesrepublik emporgewirtschaftet hatte. Doktor Alfons Huberty, der Bauernbursch aus Niederbayern! Von der hünenhaften Gestalt ein gebeugter Rücken, der sich auf einen Stock stützen mußte. Ansehnlich vielleicht allein der Schädel, immer noch kantig, die fleischigen Lippen, die lebendigen Augen, wenn er so tat als ob! Das volle schlohweiße Haar schließlich. Mancher Staatspräsident mochte ihn um diesen Kopf beneiden. Er konnte nichts für diese Krise, auch nicht für die Restriktion am Kapitalmarkt. Hätte sein fünfundsiebzigster Geburtstag nur wenige Jahre früher gelegen, sie hätten ihm das Bundesverdienstkreuz umgehängt, wie er es verdiente; er hätte nicht in den Puff gemußt an seinem Ehrentag! Und nun kam der Schulz, dieses Arschloch, und jammerte ihm die Ohren voll. Vierzehn Tage Lohn war er den Arbeitern schuldig, na, deren Sorgen möchte er mal haben! Durch die Maske seines Gesichts drang nichts von dem, was er dachte, darauf lagen die Weisheit und die Güte seines Alters, sonst nichts. „Sie haben also Ihre Versammlung gehabt, lieber Schulz“, sagte er. „Darf man erfahren, zu welcher Entscheidung Sie gekommen sind?“ „Die Kollegen werden sich arbeitslos melden.“ „Das ist sicher das Törichtste, auf das Sie haben kommen können!“ Und als er sah, daß der Betriebsrat sich zum Gehen wandte, hob er seinen Stock und tippte ihm freundschaftlich gegen den Arm. „Nein, Schulz, bleiben Sie ruhig einmal da, und hören Sie einem alten Mann zu! Ihre Entscheidung ist deshalb töricht, weil sie nichts Kon48
struktives enthält. Aufhören zu arbeiten kann schließlich jeder. Haben Sie auch an die alten Leute gedacht, die da drüben in unserem ersten Seniorenhotel wohnen? Diese Leute, die uns ihre Ersparnisse anvertrauten, damit wir ihnen ein Dach geben für ihren Lebensabend? Haben Sie sich das einmal bewußt gemacht?“ Doktor Alfons Huberty fand Gefallen an dem Gespräch. Er war lustlos hineingegangen, vor allem auch, weil er diesen vertrockneten Schulz nicht für einen Partner hielt. Aber nun gewann es doch an Farbe. Betriebsrat Schulz sagte mürrisch: „Unsere Kollegen sind vierzehn Tage ohne Lohn, Herr Doktor Huberty!“ „Na und?“ fragte der Unternehmer und stocherte mit dem Krückstock im Bauschutt. „Glauben Sie, ich habe das niemals erlebt? Sie wissen doch, daß ich angefangen habe wie Sie. Ein Mann aus ihrer Schicht! Was war denn Anno neunundzwanzig?“ Und beinahe belustigt: „Wann wurden Sie geboren, lieber Schulz?“ „Ein Jahr später.“ „Gut! Sehr gut! Glauben Sie, damals war es besser? Was meinen Sie, wo Ihre arme Mutter die Milch hernahm, nachdem sie Ihnen die Brust vorenthalten mußte? Sie holte sie von der Volksküche, fragen Sie die alte Dame nur einmal!“ Ja, das Gespräch machte Alfons Huberty doch einigen Spaß inzwischen. Sie grinsten sich an, der Unternehmer und der Betriebsrat. Schließlich kamen sie doch aus dem gleichen Stall, dachte Huberty. Aber während er selbst hinaufgekrabbelt war, ganz und gar aus eigener Kraft übrigens, würde die Trockenpflaume Schulz wohl immer unten bleiben. Den würden sie selbst in seinem Gewerkschaftsverein nicht über den Betriebsratposten in einem mittleren Unternehmen an der Basis hinauslassen. „Na los, spielen wir das Spiel!“ meinte Doktor Alfons Huberty angriffslustig. „Die Kollegen melden sich arbeitslos. Gut! Und dann?“ 49
„Sie werden ihre Lohnforderungen einklagen.“ „Auch gut! Und dann?“ „Wir gehen vor Gericht, und dort wird entschieden werden.“ „Ja, das wird es! Und Sie und ich kennen schon jetzt den Beschluß, der ergehen wird. Und zu Recht! Juristisch gesehen! Aber das meinte ich gar nicht. Ich wollte von Ihnen wissen, was die Leute anschließend machen werden?“ Der Unternehmer schwieg und schaute den Betriebsrat erwartungsvoll an. Der antwortete nicht, zuckte nur die Achseln. Doktor Huberty fuhr lächelnd fort: „Sie wissen sehr gut, Schulz, daß ich diese Krise nicht fabriziert habe und daß sie deshalb auch nicht auf meine Bauunternehmung beschränkt bleibt. Ihre Leute melden sich arbeitslos, gut, aber werden sie in einem anderen Betrieb unterkommen? Nein! Es dürfte ja inzwischen niemandem mehr verborgen geblieben sein, wie knapp die freien Stellen im Baugewerbe geworden sind. Sehen Sie, und das meinte ich, als ich vorhin sagte, Ihre Entscheidung sei destruktiv.“ Doktor Alfons Huberty sog tief die frische Luft der Lüneburger Heide ein. Er fühlte sich gar nicht schlecht an diesem Nachmittag, obwohl er nach dem Essen nicht einmal geruht hatte. Er hörte den Betriebsrat fragen: „Und wie würde Ihrer Meinung nach eine konstruktive Entscheidung aussehen?“ „Ich mache Ihnen das Angebot, diese kurze Durststrecke gemeinsam mit mir durchzustehen. In vierzehn Tagen haben dann Ihre Leute den Lohn!“ „Aber das haben Sie uns doch schon einmal gesagt!“ „Richtig! Aber damals waren wir mit den Verhandlungen zwischen der Genossenschafts-Hypothekenbank und der Bauunternehmung Huberty ganz am Anfang, heute sind die so gut wie abgeschlossen. In den nächsten Tagen wird uns diese Bank fünfundvierzig Millionen als 50
Zwischenfinanzierung herüberreichen. Ich erwarte meinen Doktor Jomeyer stündlich mit der Okay-Meldung.“ Der Betriebsrat schaute den Unternehmer an, er glaubte nicht richtig gehört zu haben. Aber auf Hubertys Gesicht entdeckte er nichts sonst, als die übliche sieggewohnte Miene. Er stotterte beinahe: „Kann ich das den Leuten sagen?“ „Aber ja! Und zwar mit einem schönen Gruß von mir.“ „Mir fällt ein Stein vom Herzen.“ „Sehen Sie, Schulz, das ist es eben! Nun arbeiten wir schon einige Jahre miteinander, und im Grunde ist bisher alles gut und ohne Komplikationen gelaufen. Bis hierher! Dies waren die ersten schweren Stunden zwischen uns. Und Sie? Sie wollten mich im Stich lassen! Ja, das schmerzt mich.“ Doktor Alfons Huberty wandte sich ab und ging aus der Halle. Es war ein eindrucksvolles Bild, wie der alte Herr, gebeugter Rücken, den Krückstock aufstoßend, die Transportschräge hinunterschritt. Am Wagen blieb er stehen. Der Chauffeur Franz hob die lange, halbverrauchte Brasil, vollführte kreisende Bewegungen mit ihr. Dann brachte er sie an seinen Mund, nahm einen Zug, hielt den Rauch in den aufgeblasenen Backen und entließ ihn dann langsam. Und der Unternehmer steckte seine große, fleischige Nase in die Tabakswolke hinein. Aus den Augenwinkeln sah er Jürgen Jomeyer auf dem Bauplatz vorfahren und aussteigen. Er hörte den Betriebsrat fragen: „Hat das geklappt mit der Bank?“ „Bestens!“ erwiderte Jomeyer. Er zeigte dem Schulz die Faust, deren Daumen nach oben wies! „Ja, wenn das so ist, Doktor Huberty, dann marschiert der Bau ab morgen wieder!“ Der Betriebsrat Schulz schrie es herüber, und sich an den Bauleiter Schmieder wendend, setzte er hinzu: „Sie haben es gehört, ab morgen geht es weiter!“ Er lief zu seinem VW und fuhr davon, 51
wahrscheinlich wollte er seinen Kollegen schnell die gute Nachricht überbringen. Huberty rief seinem Bauleiter zu: „Und was ist mit Ihnen, Schmieder? Machen Sie nun wieder mit?“ „Kein Stück, Herr Huberty! Erst will ich mein Geld. Vorher spielt sich da gar nichts mehr ab zwischen uns.“ Der Bauleiter drehte die Scheibe hinauf, startete den Ford und fuhr hinter dem Betriebsrat her. Doktor Alfons Huberty stieg in den Mercedes, dessen Tür Franz hinter ihm ins Schloß drückte. Er legte sich aufseufzend in die Polster, nun doch ein bißchen erschöpft. Ohne die Absage des Bauleiters hätte er jedoch mit dem Gespräch zufrieden sein können. Nun erschien Jürgen Jomeyers Gesicht auf der anderen Wagenseite und schaute ins Fenster. Er winkte ihm zu, damit er einstieg. Dann gab er Franz, der ebenfalls hereinschaute, ein Zeichen. Der baumlange Chauffeur, Leibwächter und Kindermädchen in Personalunion, wandte sich ab und begann in einiger Entfernung hin und her zu gehen. Doktor Huberty sagte: „Jetzt habe ich die Arbeiter so weit, daß sie weitermachen, und da kündigt mir der Saupreuße von einem Bauleiter!“ Er beobachtete seinen zukünftigen Schwiegersohn von der Seite. Auch eins dieser Schlitzohren! Eigentlich konnte er Marion nicht verstehen, daß sie auf ihn hereinfiel. Nun ja, er selbst hatte Jahrzehnte gebraucht, bis ihm die Leute nichts mehr vormachen konnten. Jeder mußte wohl oder übel die eigenen Erfahrungen sammeln. Außerdem brauchte er den Rechtsanwalt gerade jetzt dringender als je zuvor. Der kam mit schlechten Nachrichten, das sah er auf den ersten Blick. Er hob seinen Stock und stieß mit der Spitze die eingebaute Bar vor ihnen auf. „Bedienen Sie sich, Jürgen, den Pernod kann ich Ihnen empfehlen!“ 52
„Danke, Herr Huberty, aber Sie wissen ja: keinen Tropfen Alkohol, solange ich Auto fahre.“ Huberty verzog enttäuscht das Gesicht. Den Pernod konnte man auf verschiedene Weise trinken. Er hatte ihn immer mit Wasser gemischt, und es war ihm gelungen, es mit einem Schwupp hineinzugeben, so daß sich der untere Teil des Getränkes weiß färbte und oben ein klarsichtiger Streifen übrigblieb. Als ihm der Pernod verboten wurde, fing Huberty mit Lakritzbonbons an. Manche Tage aß er bis zu fünf Tüten davon. Dann wurde ihm das Lakritzen verboten wegen des Zuckergehaltes. Es war so weit gekommen, daß er seine Gäste überredete, Pernod zu trinken; da hatte er wenigstens ein bißchen was zu schnüffeln. Und nun trank dieser Stockfisch Jomeyer nicht! „Was ist?“ fragte der Unternehmer nörgelnd. „Haben Sie den Scheck?“ „Nein!“ Huberty hatte es ja gewußt. „Natürlich nicht!“ „Die fünfundvierzig Millionen sollten fällig werden, sobald der Rohbau hochgezogen ist. Wir sind aber erst im fünften Stock.“ „Es ist ein Teufelskreis! Die Arbeiter wollen streiken, weil uns das Geld fehlt, und die Bank enthält uns die Mittel vor, weil die Arbeitsleistung nicht erbracht ist. Solange kann ich die Leute nicht bei der Stange halten, bis die fehlenden Stockwerke draufgesetzt sind. Die Banker werden schließlich ein Einsehen haben?“ Huberty wandte sich um und schaute seinem zukünftigen Schwiegersohn ins Gesicht. Der schwieg. „Sieht nicht gut aus?“ „Nein.“ Plötzlich beschlich den Unternehmer eine böse Ahnung. „Die würden das Geld auch nicht herausrücken, wenn wir schon oben wären mit dem Bau?“ 53
„Hat ganz den Anschein.“ „Sie nehmen unsere Verzögerung nur als Vorwand?“ „Ja.“ Das sah dem Geschmeiß ähnlich! Vor Jahren noch, als das Geld billig auf dem Markt zu haben war, hatten sie ihn hofiert. Und seit sie bremsen mußten, war er der erste, der einen Tritt bekam. Sie hatten ihm im Grunde immer mißtraut, weil er nicht zu ihnen gehörte. Es durfte nicht sein! Die Krise konnte nicht dauern, und er mußte es bis dahin überleben. Er wollte nicht so abtreten, sein Lebenswerk so zuschanden gehen sehen. Er sagte: „Wir müssen eine weitere Grundschuld aufnehmen.“ „Auf welches Objekt?“ fragte Jürgen Jomeyer. „Die Eigentumswohnanlage in Hannover?“ Huberty hatte auf gut Glück eines der firmeneigenen Grundstücke herausgepickt. Er sah Jomeyer den Kopf schütteln. „Hamburg-Wandsbek?“ Wieder schüttelte der Rechtsanwalt den Kopf. Alfons Huberty wurde ungeduldig. „Also, da gehen Sie mal die Liste mit den firmeneigenen Grundstücken durch, lieber Jürgen.“ „Bin ich bereits.“ „Sie wollen doch nicht sagen …“ „Doch! Die Bauunternehmung Huberty hat in der Tat keinen Fetzen Land mehr, den man beleihen könnte. Wir sind bis unter das Dach voll!“ Wie gerne hätte Doktor Alfons Huberty einen Pernod genommen, aber er beherrschte sich. Er brauste auch nicht auf, wie er es vor Jahren noch getan hätte. Er wandte sich ganz still zur anderen Seite und schaute zum Wagenfenster hinaus. Dort stand das bis zum fünften Stockwerk gewachsene neue Seniorenhotel. Er wußte, daß es dahinter noch zwei weitere gab, beim ersten hatten sie sich schon aus dem Keller herausgearbeitet, beim anderen schlossen sie gerade den Grund auf. Er mußte es schaffen! Er war zwar noch nicht über dem Berg, aber er sah den Gipfel schon, er war so nah dran! 54
In dem vor ihm liegenden Hotel hatten sie bereits die Appartements mehrerer Stockwerke verkauft. Die Außendienstmitarbeiter seiner Treuhand-Fondgesellschaft arbeiteten gut. Erst in den letzten Tagen hatte er ihnen die Provision erhöht. Das würde die Leute beflügeln, neue Verkäufe hereinzubringen und somit bares Geld! Nur soviel war natürlich sicher: Ohne den Millionenkredit der Hamburger Bank würde er nicht davonkommen. Und deshalb mußten sie her, diese 45 Millionen! „Wir werden die Banker unter sachten Druck setzen, lieber Jürgen!“ sagte der Unternehmer nach einer Pause. „Und wie wollen Sie das anfangen, Herr Huberty?“ Die Stimme des Rechtsanwaltes klang skeptisch. „Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch, ehe ich die ‚Altenhilfe durch private Hand e.V.‘ aus der Taufe hob?“ „Ja.“ „Sie sagten damals: Das bringt nicht viel mehr außer einem Wust von Verwaltungskram. Und als ich dann Ihre prominenten Politikerkollegen zu Ehrenmitgliedern des neuen Vereins machte, da sagten wieder Sie, lieber Jürgen, das brächte uns ein bißchen Akquisition und sonst nichts. Nun ja, Werbung haben die Namen aus Bonn auch gemacht, aber den großen Gewinn, Jürgen, den werden sie uns jetzt bringen!“ „Aber wie?“ fragte Jürgen Jomeyer. Er wußte noch immer nicht, worauf der alte Fuchs aus war. Huberty fuhr fort: „In einem so hochentwickelten Land wie diesem wird im sozialen Bereich eigentlich wenig getan. Da stießen wir mit unserem Bauprogramm und dem Verein ‚Altenhilfe durch private Hand‘ ganz gut in eine Lücke hinein. Und unsere Herren gaben ihren Namen willig her, dachten, damit hätten sie ihr Alibi erbracht. Aber so billig kommen sie uns nicht davon, lieber Jürgen, nun sollen sie uns mal den Heidesand aus dem Getriebe blasen. Die werden es nicht wollen, daß 55
ihr guter, sauberer Politikername mit hineingerät in den Strudel einer zusammenbrechenden Bauunternehmung, Also werden sie schließlich ein Wort sagen im Finanzministerium, und das wiederum wird sich mit der Hamburger Bank in Verbindung setzen müssen. Nun brauchen wir nur noch einen, Jürgen, der nach Bonn geht und den Herren unsere Mitteilung überbringt.“ „Und wer?“ fragte Doktor Jomeyer zögernd. Der Unternehmer wandte sich mit seinem ganzen Körper dem viel jüngeren Rechtsanwalt zu und sah ihn mit einem kleinen Lächeln an. „Möchten Sie jetzt doch einen kleinen Pernod, lieber Jürgen?“ „Nein, danke! Wer soll da hin nach Bonn?“ Huberty lächelte stärker. „Können Sie sich das nicht denken?“ Der Rechtsanwalt wich in seine Ecke zurück. „Nein, bitte nein!“ „Doch!“ „Nein, das können Sie nicht von mir verlangen!“ „Ich muß es, lieber Jürgen, ich muß Sie um diesen Freundesdienst bitten!“ Er sprach nichts weiter aus als diese Bitte, brauchte er auch nicht, das Schlitzohr neben ihm wußte schon Bescheid. Vor einem Jahr hatte der Rechtsanwalt Doktor Jürgen Jomeyer seine vielversprechende Karriere als Strafverteidiger abgebrochen und war in die Politik gegangen. Er hatte das Zeug dazu, besaß all das, was nötig war: gutes Aussehen, verbunden mit jungenhaftem Charme, akzeptable Allgemeinbildung, keinen hinderlichen Tiefgang im Gefühlsbereich, dafür scharfen Intellekt, Durchstehvermögen. War ein guter Redner, hatte die Gabe, das Thema in wenigen Sätzen zu sich herüberzuziehen. Huberty hatte den jungen Anwalt in seinem Vorhaben bestärkt. Und er hatte ihm 200 000 Mark gegeben, damit er einen anständigen Wahlkampf führen konnte. Als zinslosen Kredit hatte er ihm das Geld gege56
ben. Huberty wußte es aus seinem langen Leben, daß sich solche Investitionen eines Tages auszahlten. Heute war der Tag gekommen. „Aber ich kann doch da nicht hin nach Bonn, Herr Huberty, in meiner Position!“ „Gerade in Ihrer Position können Sie es, Jürgen! Sie werden unter Kollegen sein, da spricht es sich leicht.“ Doktor Alfons Huberty lächelte freundlich. Er wußte, daß der Junge bereits auf dem Rückzug war. Er sah zwar den Zorn in Jomeyers Augen und dahinter noch etwas, ganz versteckt, so etwas wie Haß. Um so väterlicher wurde Alfons Huberty. „Und Sie gehen ja auch nicht mit leeren Händen hin, lieber Jürgen! Sie bringen den Herren eine Information, für die man Ihnen dankbar sein wird. Die Nachricht nämlich, daß beim Zusammenbruch unserer Bauunternehmung Hunderte von Arbeitsplätzen flöten gehen würden. Das wird die Herren nicht gleichgültig lassen, zumal sie den Schaden mit einem guten Wort abwenden können. Wir sind vor den Bundestagswahlen, und die Frage der Arbeitsplätze liegt für alle auf dem Tapet.“ Er legte dem Jungen die Hand auf den Arm und schloß herzlich: „Tun Sie mir den Dienst, Jürgen! Sie retten ja nicht nur mich, sondern mehr, viel, viel mehr!“ Beinahe hätte er zu einer großen Geste ausgeholt, aber er besann sich, daß ihm im Wagen der Platz dazu fehlte. Nein, er wollte zufrieden sein mit diesem Tag. Den Millionenkredit würde er bekommen, sobald den Banken der Wind aus Bonn ins Gesicht blies. Es war noch früh am Tag. Er könnte sich von Franz nach Bremen bringen lassen, das bedeutete nicht viel mehr als einen Sprung. Im Bürgerpark-Viertel gab es eine ähnliche Adresse wie die aus der Nähe des Düsseldorfer Karlplatzes. Ja, das würde ein gelungener Abschluß dieses gar nicht so häßlichen Tages sein. Er hob seinen Krückstock über die Lehne des Vordersitzes, um auf die Hupe zu drücken und Franz zu rufen. 57
In diesem Moment sagte Jürgen Jomeyer: „Da ist noch etwas Unangenehmes.“ „Ja –?“ „Da ist plötzlich dieser Berger aufgetaucht.“ „Berger – Berger? Kenn’ ich nicht!“ Dennoch ließ Doktor Huberty den Krückstock sinken und wandte sich dem Rechtsanwalt zu. Etwas in Jomeyers Stimme veranlaßte ihn dazu. „Was ist mit diesem Berger?“ „Wir hatten mit seiner Mutter einen Leibrentenvertrag abgeschlossen.“ „Ja und?“ „Frau Berger ist vor vier Wochen gestorben.“ „Das ist sehr bedauerlich! Wieviel hat uns das gebracht?“ „Rund fünfundneunzigtausend.“ „Sieh mal einer an!“ Ganz langsam kam die Zunge aus Hubertys Mund, sah aus wie eine kleine nackte Maus, die über seine Lippen schlich. „Ist alles korrekt gelaufen bei der Beerdigung? Teilnahme von unserer Seite? Kranz mit Schleife? Diese Dinge eben?“ „Ja, ja!“ „Und nun hat sich der Sohn gemeldet, Berger, sagten Sie?“ „Ja!“ „Na ja, was soll sein? Drücken Sie dem Menschen unser Mitgefühl aus, und zeigen Sie ihm den Leibrentenvertrag, damit er sieht, daß alles seine Ordnung hatte.“ Wieder hob der Unternehmer den Krückstock zur Hupe, und wieder ließ er ihn nachdenklich sinken. „Berger – warten Sie mal! Das ist doch nicht etwa dieser …“ „Doch, doch! Genau der ist das!“ Es war kein schöner Tag! Doktor Alfons Huberty wußte in diesen Sekunden schon, wie er enden würde; endlose Gespräche, hektische Auseinandersetzungen. Keine Fahrt ins Bremer Bürgerpark-Viertel, keine dieser kleinen, köstlichen Entspannungen. Nein, es war kein 58
schöner Tag! Er nahm den Stock zurück und stellte ihn zwischen seine Beine. Er hielt den Blick gesenkt. Eine Weile blieb es still im Wagen. Dann fragte Huberty: „Weiß meine Frau es schon?“
5. Als Henry Berger in das Atelier trat, sah er Sibill am Arbeitstisch stehen. Unter ihrem Arm steckten einige Zeichenrollen, und sie griff gerade nach weiteren, um sie in das Regal dahinter zu ordnen. Sie hörte die Bewegung in ihrem Rücken und drehte sich herum. Sie erkannte ihn sofort, wie er sie ja auch. Sie hatten sich sechs Jahre nicht gesehen, aber sie würden sich immer wiedererkennen. Ihre Verbindung war zu heftig und zu tief gewesen. „Henry, mein …“, sagte sie und stockte. Er sagte: „Hallo, Sibill!“ Er beobachtete, wie sie die Zeichenrollen gegen die Brust hob und enger faßte. Beinahe hatte er das Gefühl, als ob sie mit dieser Bewegung ihn umarmen wollte. Dann kam sie auf merkwürdig steifen Beinen durch das Atelier auf ihn zu. In der Mitte des Raumes blieb sie stehen. Sie ließen sich die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Sie fragte: „Du weißt es schon?“ „Ich habe mit einer alten Dame gesprochen, einer Frau Mewis“, erwiderte er. „Anschließend bin ich zu eurem Hausdirektor gegangen. Er hat mir auch gesagt, daß du hier oben Arbeitsräume hast.“ „Komm näher und setz dich, Henry! Möchtest du Kaffee trinken? Ich kann schnell hinunterläuten, und sie bringen uns dann welchen.“ Er schüttelte den Kopf. „Oder vielleicht einen Schnaps, ja? Oder ein Glas 59
Wein, ein ganz klein bißchen Sekt? Du kannst alles haben, nur kein Bier. Doch, Bier auch, ich kann es von unten holen lassen.“ „Danke, Sibill, ich möchte gar nichts!“ Sie war schön geworden in den vergangenen sechs Jahren. Eine Frau in ihrer Blüte, auf dem absoluten Höhepunkt! In den Anfängerjahren als Architektin hatte er viel Härte in ihr gespürt. Dieses „Ich muß unbedingt nach oben, laßt mich nur ’ran, damit ich es allen zeige“, dieser nagende Ehrgeiz, der hatte sie sich oft verkrampfen lassen. Jetzt schienen sich die Dinge geklärt zu haben, und diese natürliche Sicherheit ließ ihre Schönheit voll zur Geltung kommen. Sie war groß, beinahe so groß wie er, und schlank. Sie hatte ein großflächiges Gesicht, in dem die Augen, graue Augen, ziemlich weit auseinanderlagen. Ihr Mund mit den empfindsamen, nicht zu schmalen Lippen war in einer feinen Linie gezeichnet. So sah Henry Berger sie. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das ihrem veränderten Aussehen galt. Er sagte nichts. Noch immer standen sie sich gegenüber und schauten sich an, sie in der Mitte des Raumes und er bei der Tür. Nun ging sie zum Schreibtisch und legte die Zeichenrollen darauf. „Es kam völlig überraschend für mich. Wir haben noch zwei Tage vorher Kaffee getrunken zusammen. Ich nahm sie mit nach Hamburg ’rein – hier ist es ja sehr schön, die Landschaft und die Ruhe, aber hin und wieder braucht selbst ein alter Mensch mal neue Eindrücke –, ich nahm sie also mit in die Stadt. In der unteren Spitaler Straße gibt es ja jetzt so ein niedliches Straßenkaffee. Man sitzt draußen und kann den Betrieb auf der Mönckebergstraße beobachten. Da haben wir Kaffee getrunken, und ich habe mir ihre Geschichten angehört, die meisten über dich.“ Sibill machte eine Pause und sah Berger lächelnd an. „Ich kannte die Geschichten schon, von dir! Allerdings in einer etwas anderen Version. Sie aß zwei Stück Erdbeertorte und trank 60
drei Tassen Kaffee. Dabei sollte sie es nicht, der … die Ärztin hatte ihr den Kaffee verboten …“ Sibill schwieg. Er fragte: „Wie geht es dir, Sibill?“ Sie war verwirrt, weil er so abrupt das Thema wechselte. Doch dann verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, denn ihr schienen Erinnerungen zu kommen. „Soll ich sagen, es geht mir schlecht?“ „Ich würde es dir nicht glauben.“ „Ich habe viel dafür bezahlen müssen, aber ich habe jetzt das, was ich wollte.“ Sie setzte sich auf die Kante des Schreibtisches, wobei ihr Rock leicht über die Knie hinaufrutschte. Er sah ihre Beine, und der Anblick verwirrte ihn. Hatte er immer getan. Er ging durch den Raum zu der Stellage, auf der das Modell des Seniorenhotels aufgebaut war, ebenso eins, wie er es bereits in der Halle gesehen hatte. Vier Hotels waren da in die Lüneburger Heide hineingesetzt, jedes mehr als fünfzehn Stockwerke hoch. Es gab viel Freiräume zwischen den einzelnen Klötzen. Kleine Waldstücke, an deren Rändern Bänke standen. Liegewiesen, Wanderwege, die in die Heide hinausführten. Auch Sportanlagen mit Tennis und Minigolf. Ein Freibad. Anlagen für Kneipkuren. Auf dem Modell verlief auch bereits die Autostraße in Richtung Kreisstadt. Sehr großzügig alles, sehr hübsch und nett. Wenn der Prospekt von dieser Anlage ebenso farbig war wie dieses Modell, und Berger konnte sich das vorstellen, dann verstand er Hannah Mewis, daß sie von der Heide Senioren Hotels GmbH begeistert gewesen war. „Gefällt dir das Projekt?“ fragte Sibill in seinem Rücken. „Es ist meine erste wirklich große Arbeit.“ „Du machst es ganz selbständig?“ „Ich habe ein Architektenbüro in Hamburg, an die fünfzig Mitarbeiter. Dieses Atelier ist nur ein vorgeschobener Posten, sozusagen mein Unterstand in der Feuerlinie.“ Sie lächelte. 61
Henry Berger starrte auf das Modell, das für sein Empfinden ein gigantomanes Ausmaß hatte. Allein die Häuser würden nach heutigem Geld an die 300 Millionen kosten. Ihm kam ein Wort über den Baulöwen Huberty in den Sinn, das in der Branche umging, jedenfalls vor Jahren, als Berger noch im Land und im Geschäft war. Da hieß es abschätzig: ‚Der fängt immer an, bevor er noch einen Groschen in der Tasche hat.‘ „Kannst du verstehen, daß ich stolz auf diese Arbeit bin?“ fragte Sibill. „Ich würde dir alles gern einmal im Detail zeigen, natürlich nicht heute, aber ich denke doch, daß wir uns wiedersehen, wo du nun zurück bist.“ Henry Berger trat ans Fenster. Sibills Atelier lag im obersten Stockwerk des Seniorenhotels, von hier hatte man einen phantastischen Blick in die Lüneburger Heide hinein. Er erkannte die Anlage, die er auf dem Modell bereits fix und fertig gesehen hatte, in der Wirklichkeit wieder; da er Fachmann war, sah er die Konturen. Da gab es ein Hotel, das bis zum fünften Stockwerk aufragte, und dahinter noch zwei weitere Gruben. In einer waren sie gerade mit dem Keller heraus, in der anderen konnte er nichts erkennen. Mit viel Phantasie stellte sich Berger Wald und Wiesen und Tennis und Minigolf vor. Zur Zeit lag zwischen den Baustellen nichts weiter als Sand. Es würde Jahre dauern, bis die Anlage vollendet war. Die jetzigen Bewohner des ersten Hotels würden es nicht erleben. Es wurde da unten nicht gearbeitet; sie schienen nur mit einer Schicht zu fahren und hatten wohl schon Feierabend. Nur auf der Baustelle, die am weitesten fortgeschritten war, gab es einige Bewegung. Er sah drei Wagen, einen Mercedes darunter; eben kam ein weiterer über die Arbeitsstraße aus Betonteilen, die man im Sand verlegt hatte. Er sah auch Menschen, konnte aber aus der Höhe nicht viel erkennen. Ein Mann schritt gerade die Transportschräge herunter. Der Mann mochte alt sein, 62
denn er stützte sich auf einen Stock. Berger wandte sich um. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein Ölbild, ein regelrechter Schinken, und darauf war auch ein alter Mann abgebildet. Meine Güte, dachte er, der Knabe mußte weit über Siebzig sein! Zwar blitzten die Augen noch unter buschigen Brauen, aber das kriegte ein Maler schon hin fürs Geld. Sehr schön auch das noch volle, schlohweiße Haar! Eindrucksvoll! Guten Tag, Herr Präsident! Obwohl das Bild stark idealisiert war, wußte Henry Berger, wen es darstellte, er erkannte den Unternehmer Alfons Huberty. Und Sibill war mit diesem Greis verheiratet. Ganz unvorstellbar! Bergers Augen kamen von dem Bild herunter, wanderten und gingen zu ihr. Sie hatte ihn beobachtet und jeden seiner Gedanken erraten. Sie setzte sich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch. Sie schauten sich noch an, aber nun lag der Schreibtisch wie eine Barriere zwischen ihnen. Barrieren hatte es jedoch oft gegeben, dachte Henry Berger. Er holte ein Zigarillo aus der Tasche, das Streichholzbriefchen, zündete das schwarze Ding an, suchte nach einem Ascher, fand ihn nicht und legte das Hölzchen endlich an den Rand der Seniorenanlage. Dabei fiel ihm ein, daß Sibill nicht rauchte. Er selbst hatte schon immer stark geraucht, Zigaretten früher, und sie hatte der Gestank angeekelt, aber sie hatte es erduldet. Er war neugierig, ob sie nun protestieren würde. Tat sie nicht! Sie saß da und lächelte ihn an. Und er lächelte zurück. Sie wußten, daß sie das gleiche dachten. Dann fragte Henry Berger: „Schafft er es noch?“ „Wer?“ Er nahm einen Zug aus dem Zigarillo, pustete den Rauch in Richtung des Bildes. „Der da – dein Mann!“ „Was soll er noch schaffen, Henry, was meinst du damit?“ 63
Sie wußte es ganz genau, früher hatten sie es ja oft genug gemeinsam geschafft. Sie wußte schon, was er meinte. Er sagte: „Den Bau! Ich frage mich, ob er den schafft.“ „Warum sollte er nicht?“ „Es ist ein Riesending!“ „Er hat so viel Tatkraft!“ „Du mußt es wissen.“ „Natürlich weiß ich es, Henry!“ Er fuchtelte mit dem Zigarillo in der Gegend herum. „Hör mal. Sibill, ich schätze das Projekt …“ Er setzte sich auf einen Stuhl neben das Modell, starrte es an, sagte: „Projektierungen sind nicht mein Gebiet, aber ich schätze das Projekt auf annähernd vierhundert Millionen.“ „Du bist sehr nahe dran, Henry! Du bist auch in der Projektierung gut, du bist eben immer und auf allen Gebieten gut!“ Sibill gefiel sich in dem leicht frivolen Ton, aber dann sah sie, daß er schon weiter war in seiner Sprunghaftigkeit. Sie paßte sich ihm an. Ihr Lachen verlor sich, ging über in eine freundlich lockere Sachlichkeit. „Du darfst Huberty nicht unterschätzen, Henry! Viele haben es getan und sind schlecht gefahren dabei. Diese Altenheime sind eine großartige Idee! Unsere Gesellschaft ist ja mal nun leider nicht besonders kinderund altenfreundlich. Gegen Kinder kann man sich schützen, man nimmt die Pille, aber wohin mit den Greisen? Man baut ihnen abseits der großen Städte ein Zentrum, in einer schönen Umgebung und mit allem Komfort. Ist das nicht beinahe ein genialer Einfall?“ „Und was ist mit den Leuten, die diesen Komfort nicht bezahlen können?“ fragte Berger nüchtern. „Huberty ist Privatmann, Henry Berger! Wenn er etwas auf die Beine stellt, muß er sich das bezahlen lassen. Aber er hat das Projekt mit einem Verein abgesichert, den er ‚Altenhilfe in privater Hand‘ nennt. Es ist ihm gelungen, das Ding ganz hoch aufzuhängen. Führende 64
Köpfe in der Parteienlandschaft sind die Ehrenmitglieder.“ „Ja–? Und werden die führenden Köpfe mit den Millionen rüberkommen, wenn Huberty ins Schleudern gerät?“ „Sie würden ihn nicht im Stich lassen!“ „Wir gehen in eine mörderische Krise, Sibill, weißt du das nicht? Was machst du, wenn dein Mann dieses Ding nicht durchsteht?“ Sie wurde ungeduldig. „Mal nicht den Teufel an die Wand, Henry! Hast du übrigens immer getan, war immer eine unangenehme Seite an dir, eine schwer zu ertragende Seite.“ Sie schwieg. Auch er sagte nichts, und das dauerte eine Weile. Schließlich sprach sie leise, mehr zu sich selbst: „Ich darf nicht daran denken. Alles, was ich bin, was ich denke, was ich möchte, steckt in dieser Arbeit. Ich darf daran nicht denken!“ Er beobachtete sie. Sie hätte ein Mann werden sollen! Sie hing mit jeder Faser an ihrer Arbeit. Die war ihr Leben. Kinder? Nein, sie mochte keine, glaubte er, konnte nichts mit ihnen anfangen. Männer? Ja, wenn sie Lust auf Liebe hatte oder wenn sie ihr nützten. Aber wirkliche Hingabe an einen Mann …? Er lächelte. Wie gern hätte er sie damals mit nach Afrika genommen, Gabun oder Senegal, er wußte es nicht mehr, aber es war das Jahr, als er sich die Malaria holte, die letzte Afrikareise vor der Trennung. Nein, sie war nicht mit ihm gekommen. Wenn sie sich entscheiden mußte, dann wählte sie die Arbeit. Häuser, die sie auf Papier malte, gute Häuser, wie er zugab; aber war es das, was er von einer Frau erwartete? „Warum hast du meiner Mutter nicht abgeraten, in dieses Hotel zu ziehen?“ fragte er. „Aber ich habe es, Henry! Ich wollte nicht, daß sie herkam. Ich fühlte mich nämlich auf einmal einer einzelnen Person gegenüber verantwortlich mit meiner Arbeit, ei65
ner Person gegenüber, die ich zudem sehr mochte. Aber ich konnte gar nichts tun. Sie haben den Leibrentenvertrag mit ihr hinter meinem Rücken gemacht, sie haben mich vor vollendete Tatsachen gestellt.“ „Sie wollte in deiner Nähe sein“, sagte Berger nachdenklich. „Ich glaube es auch.“ „Sie mochte dich immer.“ „Ja.“ „Wie ich.“ „Wie du … mein Lieber.“ Er schaute überrascht zu ihr hin. Woher kam nur der Samt in ihrer Stimme? Sie schwiegen eine Weile, während er rauchte und auf das Modell starrte. Schließlich sagte er leise: „Ich versteh’ es nicht.“ „Was, Henry?“ „Meine Mutter war kerngesund!“ „Wann hast du sie zuletzt gesehen, Lieber?“ „Bevor ich nach Mexiko ging.“ „Und davor?“ „Wo ich davor vier Jahre lang war, das weißt du ja.“ „Hör zu Henry!“ überging sie das. „Deine Mutter hatte die Herzsache lange. Als sie herkam, war sie sehr krank. Das glaube ich.“ „Und dennoch schloß Huberty mit ihr einen Leibrentenvertrag ab?“ Sibill nickte. „In Höhe von beinahe fünfundneunzigtausend Mark?“ „Das war es doch auch, was mir an der Sache nicht gefiel!“ Und als er nicht antwortete, fragte sie: „Was hast du vor, Henry? Was wirst du jetzt unternehmen?“ Er erwiderte: „Ich brauch’ erst mal ein paar Informationen über das Unternehmen deines Mannes.“ „Ich kann sie dir geben.“ „Ich möchte sie nicht von dir, Sibill! Ich habe das Gefühl, daß mit seinen Geschäftspraktiken nicht alles in Ordnung ist.“ 66
„Wie kommst du darauf?“ „Es hängt mit den bombastischen Ausmaßen dieses Unternehmens zusammen. Ich denke mir, daß er viele Wege gehen muß, um an Geld zu kommen. Ich muß diesen Wegen nachspüren, und es wäre unfair, dich vor meinen Wagen zu spannen. Deshalb, Sibill, will ich deine Hilfe nicht.“ Sie antwortete nicht gleich, aber dann und mit einem plötzlich bitteren Zug um den Mund sagte sie: „Merkwürdigerweise wolltest du meine Hilfe noch nie. Auch in diesen vier Jahren wolltest du sie nicht. Ich durfte dich nicht einmal besuchen. Da kam nur dieser Brief – Trennung, aus! Ich habe den Brief noch, willst du ihn mal wieder lesen?“ Er kam mühsam hoch mit seinen Augen und sah sie an. Er lächelte sogar. „Vergiß diese vier Jahre, Sibill, ich habe sie doch auch vergessen.“ Sie antwortete nicht, und er wußte eigentlich auch nicht mehr, was er reden sollte. Eigentlich war alles gesagt. Er griff nach seinem Hut, der auf dem Modell ein ganzes Haus abdeckte, schaute auch nach der Asche, die er rings um den Stuhl verstreut hatte, wollte eigentlich aufstehen, tat es nicht. Wieder sahen sie sich an. Schließlich meinte er: „Du siehst gut aus, Sibill, ich wollte es dir vorhin schon sagen, irgendwie bin ich nicht dazu gekommen.“ Sie lächelte wieder. „Du hast es mir schon gesagt.“ „Hab’ ich?“ „So in deiner Art!“ „Du bist eine schöne Frau geworden, Sibill!“ „Und du ein reifer Mann!“ „Da haben wir ja viel erreicht!“ Er setzte sich den Hut auf den Kopf und stand auf. Als er auf der Höhe des Schreibtisches war, fragte sie: „Sehen wir uns wieder, Henry?“ „Ja, ja“, antwortete er. Es klang nicht sehr überzeu67
gend, und er blieb auch gar nicht stehen. Als er die Klinke in der Hand hielt, hörte er sie wieder. „Henry?“ Er wendete sich um, schaute hin zu ihr und sah sie lächeln. Sie sagte: „Hüte kleiden dich noch immer nicht, Lieber!“
6. Henry Berger ging zu den Fahrstühlen, die sich in der Mitte des Traktes befanden. Von beiden Seiten kommend, mündete der Gang in einer Art Vorraum. Gegenüber den Fahrstühlen hatten sie Tische und Stühle hingestellt und die Wand dahinter in ganzer Höhe und Breite mit einer Fotomontage zugekleistert. Und die war im Grunde nichts weiter als eine einzige Reklame für die Heide Senioren Hotels GmbH. Alles an diesem Alfons Huberty hatte ein gigantomanes Ausmaß, fand Berger, selbst seine Werbung. Auf den Fotos war überwiegend der Bauunternehmer abgelichtet. Alle anderen Figuren, ob Bauarbeiter oder Pensionäre, die man um und neben Huberty sah, hatten nur so eine Art Statistenrolle zugewiesen bekommen, selbst die prominenten Politiker. Da sah er sie nun, die führenden Köpfe der Bonner Szene, von denen Sibill gesprochen hatte. Sie nahmen den Unternehmer in ihre Mitte und schauten irgendwie zu ihm auf. Es schien offensichtlich, daß der eigentliche Mann Alfons Huberty sein mußte. Berger begann zu staunen. Er hatte ja viel erlebt, der Gute, war auch abgebrüht, aber wirklich, er staunte! Langsam trat er an die Wand heran. Verflixt und zugenäht, es sah echt aus! Nicht so, als hätte man das Bild des Huberty genommen und in die Gruppe der Politiker hineinkopiert. Echt oder nicht, er hätte es nicht sagen 68
können. In der linken oberen Wandecke war ein Spruch angebracht. Der hieß: Denn du bist mein Fels und meine Burg, und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen. Psalm 31,4. Irgendein Knurrlaut kam aus Berger heraus. Er fischte aus einer seiner vielen Taschen ein Zigarillo und zündete es an. Eine Weile stand er rauchend vor der Reklamewand. Dieser Kerl, dachte er, schreckte vor nichts zurück. Der klemmte die Bibel unter den Arm, schleifte ein paar Politiker hinter sich her, trampelte über Tausende von Rentnern und scheffelte Millionen. Berger sah in die Gesichter der alten Leute. Die Bauarbeiter! Die führenden Köpfe! Und immer wieder diese Ratte Huberty! Dieser Mann, der ihm plötzlich auf eigenartige Weise nähergerückt war. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Hotelhalle hinunter, und dort stolperte er beinahe über die junge Ärztin. Berger wußte bereits von Hannah Mewis, daß die Insassen des Seniorenhotels von einer jungen Frau behandelt wurden, die die Tochter des Bauunternehmers war. Diese Person hatte also auch seine Mutter zu Tode gepflegt. Er zuckte innerlich zurück bei diesem Gedanken, aber es mußte schon so sein! Denn kurz vorher noch, so hatte es Sibill ihm gesagt, war sie mit ihr in dem Hamburger Kaffee gewesen, sie hatte zwei Stück Erdbeertorte und drei Tassen Kaffee zu sich genommen. Und zwei Tage darauf war sie dann gestorben. Das Fräulein Doktor Huberty stand neben einem Krankenstuhl, der von einer Pflegerin geschoben wurde, und nahm flüchtig den Puls des Patienten. Sie sagte: „Wie ein Uhrwerk, Herr Baumstark, hübsch rund und kräftig.“ „Ich rappel’ mich noch mal hoch, Frau Doktor, meinen Sie das damit?“ Herr Baumstark sprach in einem nörgelnden Tonfall, wie sehr alte und kranke Menschen es tun. Er schien mit ihrer Diagnose nicht einverstanden. „Na, ich jedenfalls, ich weiß nicht recht.“ 69
Doktor Huberty erwiderte betont forsch: „Ihr Herz, Herr Baumstark, das ist doch gar nicht totzukriegen!“ In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf Henry Berger. Er kam langsam heran und blieb in der Nähe stehen. Berger sah, wie die junge Frau plötzlich blaß wurde. Sie kannten sich ja nicht, aber es machte ihm den Eindruck, als ob sie wußte, wer er war. Es mußte sich schnell herumgesprochen haben, daß er sich im Hause aufhielt. Das schien nicht ungewöhnlich, denn er hatte mit dem Direktor und dem Empfangschef gesprochen, ungewöhnlich war nur, daß sie derartig erschrak. Das merkte selbst Herr Baumstark. Er warf dem Eindringling Berger einen giftigen Blick zu und meinte quengelnd: „Was ist denn nun, Frau Doktor?“ „Sie nehmen mal hübsch weiter Ihre Medizin, Herr Baumstark, und dann werden wir ja sehen.“ Aber die Aufmerksamkeit des Fräulein Doktor richtete sich nicht mehr auf den Kranken. Einen Moment dachte Henry Berger daran, sie anzusprechen. Aber er ließ es. Er mußte noch eine ganze Menge Beweise sammeln. So machte er auf dem Absatz kehrt und ging durch die Halle zum Ausgang. Den ganzen Weg über spürte er ihren Blick in seinem Nacken. Vor dem Seniorenhotel erwartete ihn Hannah Mewis. Sie saß auf einer Bank in der Nähe des orangefarbenen BMW, den er ihr beschrieben hatte. Neben ihr stand eine kleine schweinslederne Reisetasche. Sie wollte mit ihm in die Stadt kommen. Er setzte sich neben sie und fummelte an dem unvermeidlichen Zigarillo herum. „Sie rauchen viel“, meinte sie, während sie zuschaute, wie er es anzündete. „Wollen Sie auch eins?“ „Ich rauche nicht.“ „Aber früher?“ „Natürlich, Sie Fallott!“ 70
„Fallott, was ist das für einer?“ „Jemand aus meiner österreichischen Heimat.“ Er schaute sie an. Er war sich bei ihr nicht sicher, wann sie etwas ernst meinte und wann nicht. Das geschah selten. „Ich habe da eben in der Halle einen alten Mann gesehen“, sagte er. „Wurde in einem Rollstuhl gefahren, nörgelte herum.“ „Ach, der alte Herr Baumstark!“ Berger grinste beinahe wider Willen. „Richtig, Baumstark! Ist der schwerkrank?“ „Jeder alte Mensch ist schwerkrank, Herr Berger!“ „Sie doch nicht!“ „Ich bin ja nicht alt, Sie Flaps!“ „Wie denn nun? Flaps oder Fallott, Sie müssen sich entscheiden!“ „Beides! Ich kann mich nicht entscheiden. Und wenn ich muß, tu’ ich’s falsch. War schon immer so!“ „Sie denken an Ihren Leibrentenvertrag?“ „Ich denke an so vieles, junger Mann, aber an diesen letzten Streich denke ich natürlich auch.“ „Sie hätten sich nicht überreden lassen sollen.“ Hannah Mewis ließ ihren Blick über die Fassade des Seniorenhotels gleiten, immer höher hinauf, auch über das Dach, bis er sich irgendwo verlor. Nach einer Weile sagte sie: „Wenn Sie dem Herrn Doktor Alfons Huberty eines Tages gegenübertreten sollten, junger Mann, werden Sie erleben, daß er durchaus eine Persönlichkeit ist, die für sich und ihre Belange zu werben versteht. Er hat eine Palette mit vielen Farben, für jeden Geschmack die passende. Und er besitzt hinter seiner kantigen Stirn so ein Dingsda mit Schubladen darin, wohl auch Geheimfächern. Und in jedem Fach hat er Ideen und Einfälle, und im richtigen Moment zieht er die richtige Schublade auf, für jeden Intelligenzgrad die geeignete. So einer ist das!“ „Muß ja ein mordsmäßiger Bursche sein!“ 71
„Das kann man wohl sagen!“ Hannah Mewis holte ihren Blick auf die Erde und auf Berger zurück. „Wie käme es wohl sonst, daß ein so alter Mann eine so junge Frau hat, nicht wahr?“ Sie schaute ihn mit einem Blick an, den alle Frauen haben, auch schon die ganz Kleinen, die in der Kinderkarre geschoben werden, ein Blick, dem Männer ausgeliefert sind. Mußte wohl das Geschenk eines Engels sein, ob eines guten oder bösen, wollte Berger nicht entscheiden. Wenn er nur wüßte, dachte er, wieviel seine Mutter der alten Dame erzählt hatte. Die fuhr sachlich fort: „Huberty drängt darauf, daß möglichst viele Heiminsassen einen Leibrentenvertrag abschließen.“ „Der arme, kranke Herr Baumstark auch?“ „Der arme, kranke Herr Baumstark … ich weiß es nicht. Wenn Sie es möchten, werde ich ihn danach fragen.“ „Nicht so wichtig vorerst.“ Es blieb eine Weile still zwischen ihnen. Berger paffte vor sich hin. Dann sagte Hannah Mewis: „Was ist denn eigentlich? Soll es nicht mal losgehen, oder was?“ „Von mir aus!“ Berger warf sein Zigarillo in den Abfallkasten neben der Bank. Während sie auf den BMW zugingen, fragte Hannah Mewis: „Wieviel macht Ihr Wagen denn?“ „Es ist ein Leihwagen“, erwiderte Berger. „Da haben viele dran herumgenuckelt, aber er ist recht neu, und an die hundertsechzig müßte er machen.“ „Oh, die fahren wir mal, ja? Muß nicht lange sein, aber einmal, bitte, hundertsechzig.“ Er sah das Glitzern in ihren Augen und dachte: Verrückt! Die Alte ist total verrückt! Er verfrachtete sie auf den Nebensitz, half ihr beim Anschnallen. Hundertsechzig sollte sie haben, vielleicht machte der Wagen auch noch ein bißchen darüber, die gaben ja immer so an bei BMW. Er ging um das Auto herum und noch ehe er ein72
stieg, nahm er den Hut ab und ließ ihn auf den Rücksitz hinübersegeln. „Bravo!“ sagte Hannah Mewis. Er sah fragend zu ihr hin. „Hüte kleiden Sie nicht, junger Mann! Gab es da noch keine Frau in Ihrem Leben, die Ihnen das mal vernünftig auseinandergesetzt hätte?“ Henry Berger knurrte ein paar unverständliche Dinge, während er sich ebenfalls anschnallte. Dann steckte er den Zündschlüssel ein, aber er startete den Motor nicht. Untätig saß er da und starrte zum Hoteleingang hinüber. Plötzlich fragte er: „Sterben eigentlich viele hier?“ „Gestorben wird überall und immer, junger Mann, sogar in Kinderheimen. Aber naturgemäß stirbt es sich in Altenheimen schneller, was Sie nicht mit leichter verwechseln sollten, und wohl auch häufiger.“ „Sterben viele hier“, fragte Henry Berger, „die kurz zuvor einen Leibrentenvertrag abgeschlossen haben?“ Darauf antwortete Hannah Mewis nichts. Auf einmal war die Spannung dicht zwischen ihnen in dem engen Fahrraum, er spürte sie beinahe körperlich. Man brauchte wohl nur die Hände auszustrecken, um nach ihr zu greifen. Dann startete Henry Berger den Wagen. Mit aufheulendem Motor und mit quietschenden Reifen zeichnete er einen engen Kreis. Das wollte die alte Dame doch so, dachte Berger. Und dann preschte er die Straße entlang vom Hotel in Richtung Lüneburger Heide, denn dieses kleine Stückchen hatten sie schon asphaltiert.
7. Sibill sagte sehr laut und sehr heftig: „Und ich verlange, daß er jeden Pfennig seiner blödsinnigen hunderttausend Mark zurückbekommt!“ 73
Marion antwortete eher amüsiert: „Aber es sind keine hunderttausend Mark, liebste Sibill, es sind tatsächlich nur vierundneunzigtausendeinhundertfünfundzwanzig Mark. Das wurde versicherungsmathematisch genau ausgerechnet.“ Sibill sagte nicht minder heftig als vorher: „Ich will dem mal lieber nicht nachgehen, wie ihr das ausgerechnet habt, ich …“ Jetzt mischte sich der Rechtsanwalt Jomeyer ein. „Liebe Frau Huberty …!“ Sibill war jedoch nicht zu bremsen. „… ich verlange nur, daß er sein Geld zurückbekommt. Bis auf den letzten Pfennig! Ich spiele dieses Spiel nicht mit!“ Jürgen Jomeyer, mit erneutem Anlauf: „Liebe Frau Huberty …!“ Sibill, zu ihm herumfahrend und sich fast noch steigernd: „Ich bin nicht Ihre ‚liebe‘ Frau Huberty, Herr Jomeyer! Das möchte ich mal in aller Deutlichkeit feststellen! Außerdem weiß ich, daß Sie anderer Meinung sind.“ Nein, dies war kein schöner Tag! Doktor Alfons Huberty wußte es von dem Moment an, als ihm klar wurde, um wen es sich bei dem heimgekehrten Berger handelte. Von jenem Augenblick an konnte er sich ausrechnen, wie es weitergehen würde, bis hin zu diesem Part mit verteilten Rollen. Huberty kannte diese wie jede beliebig andere Situation zum Erbrechen! Das Schlimme am Altern schien ihm nicht, daß man auf vieles verzichten mußte, um den Körper zu schonen. Nein, das wirklich Erniedrigende, kaum zu Ertragende, das einfach Entsetzliche war, daß man gezwungen wurde, immer wieder die gleichen Dinge zu erleben. Worte. Gesten. Gedanken. Gefühle – nein, die Surrogate von Gefühlen. Und das alles in kreisender Wiederkehr. Das mußte die Hölle sein, die bereits hier oben begann. Er jedenfalls fühlte sich schon mitten darin. 74
Doktor Huberty saß hinter dem Schreibtisch. Das war ein Platz, der ihm zustand, wenn er schon dieses alberne Atelier betrat. Er hatte es sich auf dem Drehstuhl bequem gemacht, die Beine ausgestreckt und die oberen Knöpfe der Hose geöffnet, damit der Bauch quellen konnte. Seinen Krückstock hatte er mitten auf den Schreibtisch gepflanzt; da lag er, so eine Art Feldmarschallstab, auf Sibills Utensilien. Er wußte, daß er sie damit körperlich quälte, da sie ordentlich, beinahe pedantisch war. Die Augen hielt er geschlossen. Da oben an der Wand hing er ja noch ein zweites Mal, in Öl, und da hatte sein Blick dieses berühmte Funkeln. Damit mußten sie sich fürs erste begnügen, seine Kinder! Den Kopf hatte er in die rechte Hand gestützt und das Gesicht mit den Fingern abgedeckt. Er brauchte sie gar nicht zu sehen. Wenn er sie nur hörte, da wurde von ihnen ein Bild irgendwo in seinem Hirn projiziert, über dessen Gestochenheit sie sich wundern würden. Marion zum Beispiel, seine kleine Tochter! Niemals würde sie diesen Geiern gewachsen sein, und da mochte sie noch so sehr den Schnabel wetzen. Wenn er schon hatte Kinder in die Welt setzen müssen, da wäre Sibill die richtige Partnerin gewesen, aber Sibill hatte er zu spät getroffen. Diese Marion war wie ihre Mutter ein harmloser kleiner Floh! Ganz niedlich, aber langweilig und so entsetzlich brav! Wie gern hätte er ihr etwas von seiner Bedenkenlosigkeit gegönnt, von diesem Gefühl, daß man erst wirklich frei wird, wenn man sich auch frei von Gewissensbissen fühlt. Er sah das Bild noch vor sich, wenn er spätabends ihr Zimmer kontrollierte. Es mußte in ihrer letzten Schulzeit gewesen sein, kurz vor dem Abitur. Ihn hatten in dieser Zeit keine Pferde halten können. Nicht so Marion! Sie lag in ihrem Bett, die Decke bis zum Kinn, das Gesicht zur Wand. Er sah nur die langen blonden Haare, die irgendwie über der Decke lagen, und den Körper, der sich darunter abzeichnete. In dem Zimmer 75
brannte ständig eine kleine Lampe, da sie bei Dunkelheit aus Furcht nicht einschlafen konnte – mit achtzehn! Nein, Marion würde nicht ausbrechen, die kam nach ihrer Mutter. Wie hatte ihn die Frau gelangweilt, wie hatte er sich quälen müssen, wenn er zu ihr ins Bett stieg. Dabei war er froh gewesen, als er damals bei ihr unterkriechen konnte. Im Frühjahr fünfundvierzig, als das Chaos ausbrach und wirklich alles zugrunde ging. Er brauchte nicht in den Krieg, nun wollte er auch nicht Gefangener sein, einer dieser Sklaven des 20. Jahrhunderts. Er kam durch Schwabach auf seiner Flucht, nicht weit weg von Nürnberg, und auf dem Hof des kleinen Maurermeisters. Das heißt, den Meister gab es nicht mehr, der hatte sich auf dem Rückzug von Titos Partisanen abknallen lassen, der Idiot. Da gab es nur noch die Witwe, viel zu jung eigentlich, um schon auszutrocknen. Nachdem sie schwanger wurde, bekannte er, daß er bereits verheiratet sei. Er schaffte es termingerecht, sowohl die Scheidung als auch die Neuvermählung. Marion trug von Anfang an seinen Namen. Die ersten Jahre nach dem Krieg verliefen für ihn nicht so schlecht. Er zog mit dem Arbeitsgerät des gefallenen Meisters sowie den verbliebenen Resten Baumaterials über Land und flickte den Bauern Scheunen und Ställe. An diesen Plätzen gab es den richtigen Lohn für gute Arbeit. Er wollte nicht für eine Währung schuften, mit der man nur die notwendigsten Dinge kaufen konnte und nicht mal die ausreichend. Schweinespeck und Würste waren damals konvertibel, und auf dem schwarzen Markt, auf dem die angenehmen Dinge des Lebens gehandelt wurden, brauchte man eine frei tauschbare Währung. Dort gab es alles, sogar Autoersatzteile. Aus denen setzte er einen Lastwagen zusammen, der mit Holzgas angetrieben wurde. Er arbeitete nun in zwei Schichten und auch in zwei Berufen. Als Maurer und als Händler. Das schien in instabilen Zeiten so zu sein, daß man mehrere Berufe brauchte. 76
Nach der Währungsreform begann sein eigentlicher Aufstieg. Es wurde viel gebaut, und es währte gar nicht lange, bis er oben war. Marions Mutter gelang es nicht, ihm auf seinem Weg zu folgen. Sie übersiedelte zwar noch mit nach München, aber sie blieb die Kleinstädterin. Als er sich von ihr trennte, zahlte er sie in guter, harter Mark aus, sehr großzügig übrigens, denn seine Dankbarkeit für den Start, den sie ermöglicht hatte, dauerte fort. Die gute Frau verlotterte. Nach mehreren Entziehungskuren starb sie schließlich in einer Heilanstalt. Fünfzehn oder zwanzig Jahre später kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, daß Marions Mutter die einzige Frau in seinem Leben gewesen war, die ihn geliebt hatte. An seine dritte Frau erinnerte er sich kaum. Er heiratete sie, weil er jemanden zum Herzeigen brauchte; denn nun war er wirklich oben. Sie hatte den schönsten Körper, den er jemals sah, makellos! Aber es war nur ein Haufen Fleisch unter der samtenen Haut, Nerven zuckten nicht darin. Er konnte mit ihr nicht schlafen! Und dann kam Sibill, die erste Frau, die sich ihm gewachsen zeigte. Doch eigentlich fühlte er sich nun zu alt. Sie verbrachten eine kurze, stürmische Zeit miteinander, reisten durch halb Europa, schliefen jede zweite Nacht in einem anderen Bett. Seine erste Hochzeitsreise übrigens nach drei gescheiterten Ehen. Darauf entzog Sibill sich ihm rasch. Seine Sibill! Er begriff sie gut! Er stellte sich die Überwindung vor, die es sie kostete, mit einem so alten Mann ins Bett zu gehen, aber dieses Wissen hatte ihm die Sache nur noch würziger gemacht. Sibill sagte gerade: „Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, Herr Doktor Jomeyer, gäbe es die Heide Senioren Hotelanlage gar nicht. Keines der Häuser stünde, auch dieses, in dem wir uns befinden, nicht.“ „Dieses eine sicherlich, gnädige Frau“, antwortete der Rechtsanwalt. „Aber nicht gleich vier! Selbst in einer günstigeren Konjunktur hätte ich abgeraten, weil das 77
Projekt die Möglichkeiten der Bauunternehmung übersteigt. Nein, gnädige Frau, ich hätte es nicht ausufern lassen.“ „Es ist mein Lebenswerk!“ rief Sibill kategorisch. Und Jürgen Jomeyer erwiderte mit einem leicht ironischen Unterton: „Ich dachte immer, die Heide Senioren Hotels seien das Werk Ihres Gatten, gnädige Frau.“ Der Streit ging weiter, aber Alfons Huberty achtete nicht mehr auf die Worte, denn es wurde leeres Stroh gedroschen. Interessanter schien da schon die Stimmungslage zwischen beiden, die Schichten, aus denen der Kampf emporwuchs, denn um einen Kampf handelte es sich wirklich. Doktor Alfons Huberty öffnete die Augen, blinzelte zwischen den Fingern hervor. Er war nicht der einzige, der sie beobachtete. Da saß auch noch Marion, schaute nachdenklich von einem zum anderen, den Mund halb geöffnet, ein kleines, hilfloses Lächeln im Gesicht. Er erkannte den törichten Ausdruck ihrer Mutter darin. Wie entsetzlich! „Schluß jetzt!“ sagte Doktor Alfons Huberty. „Sofort hört ihr auf, beide! Und du, Marion, läßt dein einfältiges Grinsen!“ Und wie um es zu bekräftigen, griff er nach dem Krückstock und schlug damit auf die Schreibtischplatte. Im selben Augenblick flog die Tür auf, und der baumlange, an die zwei Meter große Chauffeur Franz stand in der Öffnung. Die drei schauten erschrocken zur Tür. Doktor Huberty fragte: „Was ist denn, Franz?“ „Haben Sie nicht nach mir gerufen, Chef?“ Doktor Huberty erwiderte belustigt: „Hab’ ich nicht, Franz. Und nun geh ’runter in die Hotelhalle und trink einen Kaffee. Du mußt nicht da draußen auf dem Gang stehen.“ „Brauchen Sie mich wirklich nicht, Chef?“ „Verschwinde!“ Lautlos schnappte die Tür ins Schloß. Es war ein be78
ruhigender Gedanke, einen scharfen Wachhund zu haben, wenn man alt und gebrechlich wurde, dachte Alfons Huberty. Er hatte unterdessen seine Hose geordnet, stand auf und kam um den Schreibtisch herum, wobei er sich auf den Krückstock stützte. Ein bißchen schwerer als eigentlich nötig. Es gehörte zu seinen Grundsätzen, seine eigentlichen Reserven im dunkeln zu lassen. Seit jenem gespenstischen Auftritt hatte keiner etwas gesagt, es herrschte eisiges Schweigen. Merkwürdigerweise dachten alle drei dasselbe, daß nämlich der Alte diese Farce mit dem Diener abgesprochen hatte. Hubert wiederum wußte, daß sie es dachten, und es war ihm recht. Der Unternehmer blieb vor Jürgen Jomeyer stehen und fragte: „Dieser Herr Berger, was kann er uns denn eigentlich?“ „Unsere Geschäftspartnerin war seine Mutter, vertreten durch die Rechtsanwälte Heinrichsen und Sohn, mit ihr hatten wir den Leibrentenvertrag.“ Huberty wandte sich seiner Tochter zu. „Und wie war das mit dem Tod der armen Frau?“ Marion erwiderte: „In den letzten Phasen haben wir den Amtsarzt zugezogen. Die Diagnose wurde von ihm bestätigt. Er hat ja auch den Totenschein ausgeschrieben.“ „Was kann uns also dieser Berger“, meinte der Unternehmer zufrieden. „Nichts!“ Sibill sagte: „Er wird den Leibrentenvertrag sehen wollen.“ „Aber das kann er doch“, antwortete Huberty, „ist ja auch sein gutes Recht.“ „Das ist est Und dabei wird er dann den Untersuchungsbefund lesen, der für seine Mutter eine hohe Lebenserwartung ausweist.“ Einen kleinen Augenblick blieb es still im Raum, dann sagte Jomeyer leichthin: „Eine bedauerliche Fehleinschätzung der untersuchenden Ärztin!“ 79
„Eine Thrombosierung oder eine Ruptur der Gefäßwand ist nicht zwangsläufig die Folge bei einem Aneurysma“, wehrte sich Marion Huberty. „Es gibt ähnlich gelagerte Fälle, in denen Patienten ein hohes Lebensalter erreichen. Setze die Lebenserwartung hoch an oder niedrig, du wirst es treffen oder nicht, es ist immer ein Risiko.“ Sibill erwiderte heftig: „Er wird es aber Betrug nennen, und da sind wir wieder am Ausgangspunkt!“ Und direkt zu ihrem Mann sagte sie: „Gib ihm das verdammte Geld zurück!“ Doktor Huberty zuckte die Achseln. „Aber warum sollte ich, meine kleine Sibill?“ Er wandte sich dem zukünftigen Schwiegersohn zu und meinte vergnügt: „Schauen Sie nur mal, Jomeyer, ist meine Frau nicht begehrenswert, wenn sie sich für etwas einsetzt?“ Aber der Anwalt antwortete nicht, stand nur mit einem hölzernen Ausdruck da und verkniff sich jede Bemerkung. So kehrte der Blick des Unternehmers zu ihr zurück. „Warum sollte ich ihm das Geld zurückgeben, Sibill?“ „Weil er die Sache sonst an die große Glocke hängen wird“, entgegnete sie. „Weil es uns eine schlechte Publicity machen wird, wenn er es tut. Und weil das wirklich das letzte ist, das wir brauchen können. Wir suchen händeringend Heiminsassen für die drei neuen Häuser da draußen.“ „Noch sind die nicht gebaut!“ sagte Jomeyer mürrisch. „Aber das Geld der Leute, die da einmal leben sollen, brauchen wir doch schon heute, oder?“ Sibill sah ihren Mann aus großen Augen an, legte sogar ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn leicht. „Gib ihm das Geld zurück, Alfonso, ich bitte dich!“ Alfonso –! So hatte sie ihn zuerst in den Tagen ihrer Hochzeitsreise genannt. Später bekam das „Alfonso“ einen leicht ironisierenden Beigeschmack. Sie wollte ihn 80
damit an seinen akademischen Grad erinnern, der ihm von einer iberoamerikanischen Universität verliehen wurde für seine bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Monolith-Bauweise. Er nahm den Doktor h.c. übrigens auch nicht mehr ernst, hatte auch total vergessen, wieviel er eigentlich dafür bezahlen mußte. Sie grinsten sich beide an, die schöne Sibill und der sehr alte Doktor h.c. Alfons Huberty, und sie dachten möglicherweise an das gleiche. Huberty seufzte leise, sah fragend hinüber zu seinem Rechtsanwalt. Der hob entsetzt die Arme. „Aber lieber Herr Huberty, ich muß Sie wirklich bitten! Da ist kein Pfennig bares Geld mehr in den Kassen!“ Doktor Huberty nickte ernsthaft und dachte: Dieser alberne junge Schlingel, was wußte der schon von den Nöten eines alten Mannes, ehe der zu seinen Bocksprüngen kam. Dann wendete er sich wieder Sibill zu, sagte in der gütigen Stimmlage, die ihm am liebsten war: „Wir wollen es mal nicht ganz abtun, Liebling! Unser Doktor Jomeyer geht ja nun für uns nach Bonn, und da wird das schon werden mit dem Fünfundvierzig-MillionenKredit. Wir wollen die Sache also mal überschlafen! Unter gewissen Bedingungen wäre ich vielleicht bereit, dir die hunderttausend Mark für Herrn Berger zur Verfügung zu stellen.“ Er grinste sie an. „Bist du einverstanden, Liebes?“ „Laß mich deine Bedingungen wissen, wenn es soweit ist, Alfonso!“ In ihren Mundwinkeln lag ein sparsames, kühles Lächeln, das ihm gefiel. Irgendwie war es nun doch noch ein ganz niedlicher, kleiner Tag geworden. In die entstandene Stille hinein sagte Marion Huberty plötzlich: „Ich glaube nicht, daß dieser Berger etwas unternehmen wird.“ Alle sahen zu ihr hin und wunderten sich über ihre Aufmüpfigkeit. „Meinst du?“ fragte Sibill. „Meine ich, ja! Wir kennen den Herrn zwar nicht so 81
gut wie du, Sibill, aber so viel wissen wir doch immerhin: Er hat gesessen. Das ist korrekt, nicht wahr?“ „Völlig!“ Marions Blick kam von Jürgen Jomeyer und ging zu Sibill hin. Offenbar genoß sie es, daß sie sich ins Gespräch gedrängt hatte. Sie fragte: „Wie lange hat er gesessen, Sibill? Kannst du uns das sagen?“ „Vier Jahre.“ „Vier Jahre, sieh mal an, das ist kein Pappenstiel! Und warum?“ Sibill schwieg, ihre Lippen waren schmal geworden. Marion fuhr mit ganz verklärter Stimme fort: „Warum sprichst du es denn nicht aus, Sibill? Wir wissen es doch alle! Warum sagst du es uns denn nicht: Dieser Mann ist ein Mörder!“
8. „Sie können natürlich auch gern hierbleiben, Frau Mewis, hier übernachten, wenn Sie das wollen. Ich lade Sie hiermit ein, wie man so sagt. Da oben sind Zimmer, ich weiß nicht, wie viele, man müßte sie mal zählen.“ Henry Berger war gerade aus der Küche gekommen, in der einen Hand den Gin, in der anderen die Flasche Schweppes und zwei Gläser. Er schenkte ihnen ein, sehr wenig Alkohol und sehr viel Tonic. Dabei fuhr er wortreich wie selten fort: „Morgen könnten wir zusammen frühstücken, mir gelingt das Frühstücksei niemals, und ich habe es so gern, und anschließend könnten wir dann zu Ihrem Rechtsanwalt fahren. Aber ebenso gern bringe ich Sie auch heute zu diesem Herrn Silbermann. Bis Berne ist es wirklich nur ein Sprung.“ Er schwieg, sah sie nicht an, reichte ihr aber das Glas mit dem viel zu schwachen Alkohol, wie sie fand. Sie faßte es als eine Art von Rücksichtnahme gegen sie auf, 82
und diese Geste gefiel ihr. Der Junge gefiel ihr überhaupt immer mehr. Sie sah, daß er Angst hatte. Er fürchtete die Nacht in dem leeren Haus, in das er nach vielen Jahren zurückgekehrt war, und er fürchtete das Alleinsein besonders nach der Mitteilung, die sie ihm hatte machen müssen. So ein einsamer Wolf war der Kleine also gar nicht. Hannah Rückwärts lächelte und sagte: „Silberstein!“ „Wie?“ „Mein Rechtsanwalt heißt nicht Silbermann, sondern Wilhelm Silberstein. Die Eltern haben den armen Knaben nach dem letzten deutschen Kaiser genannt.“ Henry Berger sah sie ratlos an, und Hannah Rückwärts fuhr vergnügt fort: „Minderheiten wollen sich assimilieren, Herr Berger, auch die jüdische wollte es, zumindest in Deutschland, bis Hitler kam. Man möchte höflich sein zu seinen Gastgebern, denn tief innen weiß man, daß man nur geduldet ist, man möchte ein Bürger sein, und so nennt man seinen kleinen Judensohn nach dem großen germanischen Kaiser. Man tut es natürlich nur, wenn man deutsch-national empfindet oder doch gern so empfinden möchte.“ Hannah schwieg still und sah zu Henry Berger hin. Sie spürte, daß sie ihn total überfordert hatte. Die Zeit, dachte Hannah Rückwärts, ist darüber hingegangen. Sie sagte: „Tun Sie mal noch einen Schwups in mein Glas. Das ist ja nun wirklich zu dünn, was Sie uns da zusammengemacht haben.“ Er kippte ihr eine Portion hinterher und sich selbst auch. Hannah nahm einen Schluck, und mit einer weit ausholenden Geste wies sie in den Raum. „Ich liebe Behausungen, in denen ein Anfang ist. Staub in den Ecken, die Teppiche zusammengerollt, Gardinen müssen in die Reinigung. Transportkisten, die von einer weiten Reise kommen. In dieser Atmosphäre ist Bewegung, empfinden Sie das auch, Herr Berger?“ 83
Er schaute sie nur an, antwortete nicht. Sie fuhr fort: „Ich habe diese Situationen immer gern gehabt, in jedem Anfang steckt prallgefülltes Leben. So war es, als wir nach Mexiko kamen und auch bei unserer Wiederkehr. Jakob hat geflucht, weil er nichts fand, Jakob – das ist mein Mann – war so unglücklich, und ich hab’ den ganzen Tag gesungen. Und das hat ihn dann noch wütender gemacht.“ „Was wollten Sie in Mexiko?“ fragte Berger. Hannah Rückwärts hatte plötzlich einen versonnenen Schimmer auf ihrem Gesicht. Sie antwortete: „Jakob hatte in Lübeck eine kleine Kartonagenfabrik, Herr Berger, und er wollte wohl mal schauen, wie es um die Branche in Übersee bestellt war. Aber merkwürdigerweise brauchten die Mexikaner nicht so viel Verpackungsmaterial wie wir in Europa, jedenfalls damals nicht. Irgendwie gab es keinen rechten Markt für Jakobs Kartons. Wir blieben nur zwei Jahre, etwa wie Sie, Herr Berger.“ „Und kamen zurück!“ „Ja.“ „Wegen mangelhaften Absatzes an Kartons?“ „Nein.“ „Weshalb sonst?“ Hannah Rückwärts beugte sich über den Tisch und sagte hintergründiger denn je: „Das Heimweh, Herr Berger, hat so geschmerzt, daß ich es nicht ertragen konnte.“ Sie senkte den Blick auf das Glas in ihrer Hand, nahm auch einen Schluck daraus. Dann fuhr sie fort: „Wir sind zwar nicht nach Lübeck zurückgekehrt, sondern nach Wien, aber Heimat war auch dort. Ich bin durch die Straßen meiner Kinderzeit gegangen.“ „Und eine so weitgereiste Dame landet ausgerechnet in Herrn Hubertys Seniorenheim.“ „Ich bin nun siebenundsechzig, Herr Berger, und ich bin allein. Noch hüpfe ich wie ein munterer Vogel, aber 84
was ist in fünf Jahren oder zehn? Wissen Sie, was ein Jahr ist?“ „Ich denke.“ „Nein, Sie wissen es nicht, noch nicht, Sie junger Dachs! Ein Jahr wiegt leicht wie eine Feder!“ Sie blies gegen die Innenfläche ihrer Hand, ließ die Feder schweben, sah ihr nach. Berger war anderer Meinung, aber er widersprach ihr nicht. In jener Zelle, in der er vier Jahre seines Lebens abgesessen hatte, war ihm die Zeit nicht so federleicht vergangen. „Ich werde mal den Kamin anmachen“, sagte er. „Entweder treibt uns der Qualm hinaus, oder das Feuer wird uns wärmen.“ Sie sah ihn besorgt an. „Sind sie krank?“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Nun, Sie sitzen im Mantel herum, zittern vor Kälte, schlucken heimlich Pillen. Wenn Sie nicht gerade tablettensüchtig sind, müssen Sie krank sein. Haben Sie sich auf der Überfahrt erkältet?“ Berger lächelte. „Man fliegt heutzutage, Frau Mewis!“ Hannah lächelte zurück. „Natürlich.“ „Außerdem bin ich schon vierzehn Tage lang in Europa. Ich war auf Urlaub in Frankreich.“ „Paris –?“ fragte sie schwärmerisch. „An der Nordküste. Eine kernige Gegend! Ich hab’ die Reise schon vor Jahren einmal gemacht; ich wollte sehen, ob man Gefühle reproduzieren kann, ob Empfindungen zu einem zurückkehren.“ „Und? Kehren sie zurück?“ Darauf antwortete Henry Berger nicht, und sie schwiegen. Dann sagte Hannah Mewis: „Kommen Sie, Herr Berger, tun Sie uns noch einen Schluck von dem vorzüglichen Gin in das Glas, und dann gehen Sie zu Bett! Und morgen mache ich Ihnen ein Frühstücksei, da werden Sie staunen. Ich bin perfekt darin. Selbst meinen sanften 85
Jakob habe ich damit zu reifen Leistungen angespornt. Mehr als einmal nahm er das Ei, das ich ihm kochte, und schmiß es gegen die Wand.“ „Und? Überstand es das?“ . „Das Ei? Aber ja, es blieb ganz heil, es war ja lange genug gekocht. Die Schale war vielleicht ein bißchen hin, aber auf die Schale kommt es auch bei einem Ei nicht an, die ißt man ja nicht.“ Plötzlich begann Henry Berger laut zu lachen. Es war das erste Mal in all den Stunden, daß Hannah Rückwärts ihn so herzlich lachen sah. ‚Siehst du, Jakob‘, sagte sie im stillen und zufrieden mit sich, ‚ich kann es immer noch, die Wolken wegblasen!‘ Dann sah sie ihn ein Wort sagen, das sie nicht begriff. „Ich verstehe Sie nicht“, meinte sie. Er wiederholte: „Spökenkiekerin! Ich denke, ich rede so deutlich.“ „Ich verstand das Wort nicht!“ „Spö-ken-kie-ke-rin!“ „Und was bedeutet es?“ „Es ist die weibliche Form von Fallott.“ „Finden Sie das nicht frech einer Dame gegenüber, die ein bißchen in die Jahre geraten ist?“ „Sie hauen mir ununterbrochen die Taschen voll, Frau Mewis!“ „Was sind das für moderne Wörter?“ „Sie beschwindeln mich!“ „Mit keinem Wort, Fallott!“ „Sie waren nicht wegen der Kartons in Mexiko!“ „Stimmt.“ „Hat Hitler Sie ausbürgern lassen?“ Es entstand eine Pause, in der sie ihn überrascht anschaute. Dann nachdenklich von ihr: „Es war schon gut, daß wir hinausgingen. Nur hätten wir nicht zurückkommen dürfen.“ „Aber Sie gingen nach Österreich.“ 86
„Er holte uns dort ein. Haben Sie das nicht in der Schule gelernt?“ „Ich habe viel zuwenig darüber in der Schule gelernt. Aber ich weiß es trotzdem, und ich habe auch darüber nachgedacht. Merkwürdigerweise, als ich selbst für länger im Ausland lebte.“ An dieser Stelle schien es Henry Berger bewußt zu werden, daß er die ganze Zeit über nicht geraucht hatte. Er zog ein Zigarillo hervor, hob es hoch in ihre Richtung, und als sie ihm zunickte, steckte er es in den Mund und zündete es an. Dann, nachdem er einen Zug oder zwei genommen hatte, griff er nach dem Glas und prostete ihr zu. Sie tranken. Dann sagte er: „Diese Ausbürgerungen gehören zu den ersten Verbrechen, die die Nazis begangen haben. Sie haben später so viel und so viehisch gemordet, daß man die frühen Morde darüber leicht vergißt. In meinen Augen war jede Ausbürgerung der Mord an einer Seele.“ Sie erwiderte nichts. Zum ersten Mal schien es, als ob sie sich verschloß, nicht vor ihm als Person, sondern vor dem, was er sagte. Es war so, als ob ihr zu diesem Thema kein Spruch einfiel, daß es sie stumm machte. Sie sah ihn nur unverrückbar und aus großen Augen an. Er fuhr fort: „Wirklich, Frau Mewis, ich denke nicht, daß ich es dramatisiere. Mir kam der Gedanke im Ausland, da empfand ich es selbst, nur mit dem Unterschied, daß ich heimkehren konnte, wann immer ich wollte. Die Sprache! Die Landschaft der Heimat! Die Straße, durch die wir jeden Tag gehen! Der Mauerriß neben der Haustür, über den wir uns aufregen! Für immer verloren. Welch unsagbare Traurigkeit!“ Sie saß ihm schweigend gegenüber, das Gesicht, das sonst so empfindsam reagierte, völlig leer, beinahe starr. Im ersten Moment hatte er das Gefühl, sie sei ungehalten und empfand es als taktlos, daß er darüber sprach. Dann jedoch spürte er, es war nicht so. Sie schien wohl 87
nur sehr verwundert über ihn. Und plötzlich wußte er auch, daß dies der Augenblick war, in dem ihre Beziehung in eine andere Qualität hinüberglitt. „Wie sind Sie mit der Sprache zurechtgekommen?“ fragte er. „Jakob gut, ich nicht so gut.“ „Und Joseph?“ Ihre Augen belebten sich sofort, der Vorhang über ihrem Gesicht schwebte in die Höhe. „Joseph, unser kleiner Sohn, lernte es spielend. Wortwörtlich. Er lag den ganzen Tag im Dreck der Straße und balgte sich mit den Indios. Joseph war immer …“ Sie stockte und schaute Henry Berger an. „Ich habe Ihnen nicht den Namen unseres Sohnes gesagt.“ „Nein.“ „Woher wissen Sie ihn?“ „Ich habe ihn erraten.“ Im ersten Moment sah sie ihn verständnislos an, und wirklich, sie mußte überlegen. Dann lächelte sie. „Sie sind ein Fallott, Herr Berger, ich habe es gleich gewußt!“ Wieder schwieg sie, und für eine Weile schien sie in der Truhe mit den Erinnerungen zu kramen. Und dann, als ob sie es zurückdrängen wollte und doch nicht konnte, sagte sie: „Vielleicht wäre er auch ein Mann geworden, der die Vorratskammern mit Korn gefüllt hätte. Wer weiß es?“ Es war etwa eine halbe Stunde später. Henry Berger kam gerade von einem Rundgang um das Haus zurück. In der Küche hörte er Frau Mewis mit Geschirr klappern. Ganz plötzlich hatte er Appetit auf Kaffee gehabt und wollte welchen kochen. Aber Hannah sagte, das würde sie ihm gerne abnehmen. Die Zubereitung von Nescafé sei eine ihrer ganz starken Seiten. Jetzt kam sie mit einem Tablett, auf dem sich alles Zubehör befand; nicht einmal das Kaffeepulver fehlte. 88
„Das Wasser kocht auch gleich“, sagte sie, während sie das Geschirr auseinanderstellte. Dann wandte sie sich um zu ihm und sah ihn bei den Transportkisten stehen. „Haben Sie sich schon mal Gedanken darüber gemacht, wann Sie die Dinger aufmachen werden?“ „Ich bin nicht sicher, ob ich das überhaupt tun werde.“ „Wieso?“ „Ich weiß nicht, ob ich bleiben werde.“ „Wohin wollen Sie?“ „Brasilien. Ich habe da ein Angebot.“ „Interessant?“ „Nein, das Übliche.“ „Warum gehen Sie dann?“ „Wenn ich es nicht tue, dann weiß ich noch nicht, ob ich in diesem Haus bleiben werde.“ „Es ist doch Ihres!“ „Na ja.“ „Sie haben es zwar nicht gebaut, aber Sie haben es doch an sich genommen, nicht wahr? Da dürfen Sie es auch nicht verlassen, ebensowenig wie man einen Menschen verläßt oder ein Tier. Wußten Sie denn nicht, daß ein Haus auch ein Wesen hat, Herr Berger?“ Damit verschwand sie im Durchgang zur Küche, und Berger schaute ihr nach. Die Alte ist total verrückt, dachte er, eine Spökenkiekerin! Er stand bei der Treppe. Oben sah er die Balustrade und dahinter den Gang mit den Türen.
Und plötzlich erkennt er sich selbst auf dem Gang. Alle Türen stehen offen. Er kommt aus einer davon. Er sieht den erhobenen Schürhaken in seiner Hand … War es denn wirklich so, dachte Berger, daß alle Türen offenstanden? Angestrengt schaute er nach oben und versuchte sich zu erinnern. Wie gelangten sie denn überhaupt hinauf? Sie hatten doch unten beim Kamin geses89
sen, in dem das Feuer brannte, und sich ganz vernünftig unterhalten. Und dann befanden sie sich plötzlich oben? Und wie kam denn dieser Schürhaken in seine Hand?
Henry treibt den Mann vor sich her den Gang entlang. Der Mann geht rückwärts, guckt mit aufgerissenen Augen auf die Waffe in Henrys Hand. Sie gehen langsam. Ihre Bewegungen haben etwas Zeitlupenartiges. Der Mund des Mannes klappt auf und zu, als ob er etwas schreien will, aber es kommt kein Laut heraus. Worte gibt es nicht in diesen Bildern, ebensowenig, wie es Verstand darin gibt. Sie kommen an die Treppe. Der Mann wendet sich halb um, will das Geländer greifen und hinuntergehen. Henry läßt es nicht zu. Er packt den Mann, dreht dessen Körper herum, will ihn heranziehen. Der Mann verliert das Gleichgewicht. Er sieht das Gesicht des Mannes. Der entsetzte Blick. Der offene Mund, aus dem Speichel rinnt. Kommt vom Schreien! Schreie ohne einen Laut! Der Mann beginnt zu fallen, langsam. Nun schnappt Henry nach ihm, um ihn zu halten. Er kriegt den Mann nicht zu fassen, und er fällt doch so langsam. Nein, er kann ihn nicht halten. Er fällt weiter. Auf der Hälfte der Treppe fängt er an, sich zu überschlagen. Wie eine Kugel rollt er, bis er unten liegenbleibt. Der Kopf ist merkwürdig verrenkt. Die Augen schauen zur Decke hinauf. Der Mund ist offen. Speichel rinnt heraus. Eine Gestalt kommt vom Kamin herüber, beugt sich über den Mann, der nicht aufstehen will. Die Gestalt schaut herauf zu ihm. Lippen formen sich zu einem Schrei: Du hast ihn umgebracht! Das sind die ersten Töne in diesen Bildern. Und nun kommen auch die anderen Geräusche wieder. Er hört den Schürhaken zu Boden fallen. Das ist ein übermäßig lauter Knall wie aus einem Gewehr, das neben ihm abgeschos90
sen wird. Der Schürhaken liegt neben seinen Füßen. Er bückt sich nicht danach. Der Schürhaken bleibt auf dem Fleck, bis die Polizei kommt und ihn aufhebt. Henry Berger stand neben der Stelle, auf der damals der Tote gelegen hatte, und starrte die Treppe hinauf. Wie war denn nur dieser Schürhaken in seine Hand gekommen? Über dieses Problem grübelte er seit Jahren. Immer wieder und an vielen Orten hatte er darüber nachgedacht. Aber auch die Besichtigung des Tatortes, wie es hieß, brachte ihm die Erinnerung nicht zurück. Plötzlich hörte er das Motorengeräusch vor dem Haus, und als er sich umwandte, sah er die Autoscheinwerfer, die mit ihrem Licht durch die Fenster drangen und ihn blendeten. Dann wurde der Motor abgestellt, und auch die Scheinwerfer verloschen. Dann hörte er Schritte vor dem Haus. Die Tür wurde geöffnet, und auf der Schwelle stand Sibill. Ihr Blick fiel auf Henry Berger, glitt die Treppe hinauf und kam langsam wieder zu ihm zurück. Sie wußten, daß sie sich an einem wesentlichen Punkt ihrer gemeinsamen Vergangenheit befanden. Aber die berührte Sibill mit keinem Wort, statt dessen sagte sie fröhlich: „Ich habe eine gute Nachricht für dich, Henry, und ich dachte, ich sollte sie dir gleich bringen. Huberty gibt dir dein Geld zurück!“ Sie schwieg und schaute ihn an. Er reagierte überhaupt nicht. Ein bißchen war Sibill enttäuscht. Dennoch ging sie langsam näher an ihn heran. „Er wollte es zuerst auf die lange Bank schieben, dann unter Voraussetzungen geben, die ich errate, denn ich kenne ihn ja. Aber ich konnte ihn überzeugen, Henry, daß es so nicht geht. Und nun will er es endlich zu meinen Bedingungen tun.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, nahe an seinem Hals, und sah ihn aus Augen an, die er sehr viel früher, in einem anderen Leben fast, einmal gekannt hatte. Sie sagte: „Ich glaube, ich war dein guter Anwalt, Henry!“ 91
9. Marion Huberty kam mit dem fertigen Essen, das der Chauffeur noch rasch von Heimerdinger besorgt hatte, durch den Wohnraum auf die Terrasse. Sie stellte das Tablett auf einem Stuhl ab, breitete das Tischtuch über den Tisch, streifte darüber hin und zog es an den Kanten glatt. Dann stellte sie die Teller an die Plätze quer zum Kamin, so daß sie beide das Feuer sehen konnten. Sie schaute auf die Platte mit der Pastete, dem Lachs und den Krabben und schüttelte den Kopf. „Wer soll das nur alles essen?“ fragte sie. Franz kam von dem Holzstoß hoch, den er auf dem Kaminrost errichtet hatte, und sagte: „Er hat gern einen vollen Tisch, auch wenn er selber kaum ißt!“ Der baumlange, beinah zwei Meter große Chauffeur trat zurück und hielt das Gasfeuerzeug gegen die unteren dünnen Zweige des Birkenholzes. Das Feuer loderte gleich auf, da er den Holzstoß mit Spiritus präpariert hatte. Marion schaute einen Moment lang in die hellen Flammen. Sie liebte Feuer, es zog sie an. Der Kamin war freistehend, in die Mitte des Dachgartens gesetzt, und man konnte rings um ihn herumgehen und das Feuer sehen. Sie blickte sich nach ihrem Vater um, der an der Brüstung lehnte und auf die Alster hinuntersah. „Wir können essen, Vater!“ rief sie ihm zu. Alfons Huberty kehrte dem einmaligen Ausblick, der sich ihm von diesem Dachgarten aus darbot, den Rücken; auf seinem Gesicht lag tiefe Unzufriedenheit. „Ich habe nie in diese Stadt gepaßt“, sagte er, „zu diesen Pfeffersäcken auch nicht!“ Er setzte sich Marion gegenüber, lächelte ihr zu. „Und schließlich tue ich es!“ sagte er. „Was, Vater?“ „Wenn ich diese höchst albernen Hotels oben habe, 92
gehe ich nach München zurück.“ Er sah Marion an. „Es ist auch deine Heimatstadt!“ „Schwabach ist meine Heimatstadt!“ Huberty verzog den Mund. „Schon, aber in München bist du eingeschult worden, hast die meisten Schuljahre verbracht. War das nicht erst gestern?“ „Ich habe Hamburg sehr gern“, sagte Marion einfach. „Komm erst in meine Jahre, Tochter! Ich werde nun allmählich älter, und da sollte ich in meiner Heimat sein!“ Franz kam mit Wein, einem leichten Mosel, schenkte ihnen ein. Dann tat er die Flasche in einen Kühler und blieb seitlich hinter seinem Chef stehen. Marion fragte: „Was soll ich dir auftun, Vater?“ Alfons Huberty schaute bedauernd auf das Essen, meinte schließlich: „Es ist schon zu spät für mich, mein Kind. Ich habe auf der Rückfahrt einen Zwieback gegessen. Iß du nur schön, und ich schaue dir zu dabei.“ Franz hob die Hand hinter dem Rücken des Unternehmers, deutete auf den Wein im Kühler und schüttelte den Kopf. Marion senkte die Augenlieder und wandte sich ihrem Vater zu. „Was ist mit deinem Blutdruck, Vater?“ fragte sie. „Wir werden ihn mal wieder messen, ja? Ich habe alles dabei.“ „Deine Großeltern, Kind, sind beide zweiundneunzig geworden. Sie wurden im selben Jahr geboren, und sie starben im selben Monat. Gemessen an denen bin ich ein junger Bursch.“ Marion lächelte ihrem Vater zu, sie kannte die Geschichten von Großmama und Großpapa. Sie tat sich ein bißchen von dem Lachs auf und begann zu kauen. Sie überlegte, weshalb ihr Vater sie gebeten hatte, diesen Abend mit ihr zu verbringen. Um diese Zeit hätte sie mit Jürgen im „Pferdestall“ sein wollen. Heute war wirklich alles schiefgelaufen. Statt durch die Möbelausstellung zu wandern, mußte sie mit Jürgen in die Heide zurück. Während er mit ihrem Vater verhandelte, hatte sie sich 93
um die alten Leute gekümmert, was gar nicht eingeplant war. Dabei stand sie plötzlich jenem Mann gegenüber – Berger! Anschließend die Auseinandersetzung in Sibills Atelier. Die eigentümliche Stimmung, die sie nicht beschreiben, nur erfühlen konnte. Und darauf die zweite Fahrt nach Hamburg an diesem Tag, und nicht mit Jürgen, wie sie gehofft hatte, sondern mit ihrem Vater. „Du kannst jetzt nach Hause gehen, Franz!“ sagte Huberty. „Sei morgen früh um halb acht hier. Wann sollte dieser Berger auf die Baustelle kommen?“ „Es war an neun Uhr gedacht.“ „Dann reicht es, wenn du um acht Uhr hier bist.“ „Brauchen Sie mich auch wirklich nicht mehr, Chef?“ „Verschwinde!“ „Dann gute Nacht, Chef! Gute Nacht, Fräulein Doktor!“ Franz blieb noch einen Augenblick lang zögernd stehen. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, ob es ratsam sei, Marion Huberty mit ihrem Vater allein zu lassen. Doch schließlich ging er. „Er könnte gut hier oben wohnen“, meinte Marion, als sie allein waren. Huberty schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, wenn ich ihn für ein paar Stunden los bin.“ „Du könntest ihn nachts vielleicht brauchen, dir könnte etwas fehlen.“ „Mir fehlt hier oben nichts, Tochter, und sicher bin ich auch. Der Fahrstuhl wird heraufgeholt und blockiert. Und der Fluchtweg vom Dachgarten hat eine Stahltür mit einem Spezialschloß. Den einen Schlüssel trage ich ständig bei mir, und der andere befindet sich beim Pförtner in der Halle. Nein, Marion, ich sitze hier oben wie auf einer Burg, an der die Zugbrücke hochgezogen ist.“ Seine Tochter hatte ihm amüsiert zugehört. Sie schaute auf den Sicherheitsschlüssel an ihres Vaters Uhrkette. Eben nach dem hatte sie eine Dublette anfertigen lassen, 94
die sich in ihrer Handtasche befand. Nicht nur ihr Vater besaß also einen dieser kostbaren Schlüssel, sondern sie auch. Sie dachte an seine Versuche während der letzten Schuljahre, ihren Weggang und ihr Heimkommen zu kontrollieren. Oft schlief sie noch nicht, wenn er in ihr Zimmer schaute; sie lag nur immer mit dem Gesicht zur Wand, sobald sie ihn hörte, und hatte die Decke bis zum Kinn emporgezogen. Für die Abende, in denen sie über den Fluchtweg aus dem Penthaus verschwand, stopfte sie das Bett aus und tat den Frisierkopf mit der Perücke darauf an den Fleck, wo sonst ihr Kopf in die Kissen gekuschelt lag. Welch eine rührende kleine Schwindelei! „Worüber lachst du, meine Tochter?“ fragte Alfons Huberty. „Ich freu’ mich, Vater, daß wir wieder mal einen Abend zusammen verbringen.“ „Lüg mich nicht an, Marion, du weißt, das hast du nie gekonnt. Du wärst jetzt lieber mit deinem Jomeyer zusammen, was ich durchaus verstehen kann, aber ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.“ „Dann zu, ich bin ganz Ohr!“ Sie schob ihren Teller zurück; in die Leckereien von Heimerdinger war kaum eine Bresche geschlagen. Sie sah den lustvollen Blick ihres Vaters, der sich von der Wildpastete nicht losreißen konnte. „Soll ich abräumen, Vater?“ „Laß es nur stehen, Tochter. Aber leg uns eine Schallplatte auf!“ „Was möchtest du hören?“ „Einerlei, mein Kind!“ Marion stand auf und trat durch die Terrassentür in den Wohnraum. Sie legte die Platte von Gheorghe Zamfir auf die Stereoanlage. Das war nun mal wirklich eine wundersame Begegnung zwischen einer Panflöte und einer Orgel. Sie stellte das Gerät so laut, daß sie draußen gut hören konnten. Dann trat sie ein paar Schritte zu95
rück. Eine kleine Weile lauschte sie den reinen und traurigen Tönen der Panflöte. Es war wie ein Schweben über weites Land und in großen Höhen. Merkwürdig, dachte sie, es ist wie der Klang des Todes … „Gefällt dir die Musik, Vater?“ fragte sie, als sie sich wieder zu dem alten Mann ans Feuer setzte. „Es ist sehr schön, meine kleine Marion!“ Sie schaute überrascht zu ihm hin, denn sie spürte plötzlich, daß er es ehrlich meinte. Es war der erste wahrhaftige Ton von ihm an diesem Abend. Er fuhr fort: „Gewissermaßen paßt die Musik zu dem, was ich dir nun mitzuteilen habe. Aber vorher sei so lieb und zünde dir eine Zigarette an. Und dann blas den Rauch in meine Richtung.“ Sie tat es, und er hing seine Nase in den Qualm. Dann sagte er unvermittelt und ohne jede Vorbereitung: „Ich habe das Testament ändern lassen!“ Sie saß plötzlich ganz starr da und hielt den Kopf gesenkt. Am Zittern der Zigarette in ihrer Hand merkte er, daß sie ihn verstanden und daß es sie berührt hatte. Mit einem Mal war sie wieder seine kleine Tochter. Er fuhr fort: „Ich habe es schon vor einer Woche getan, und ich habe Jomeyer gebeten, daß er es dir nicht sagt. An deiner Reaktion erkenne ich, daß er Wort gehalten hat. Schau mich an, Marion!“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Ich rede ungern über solche Dinge, Papa!“ „Keiner redet gern darüber, Tochter, weil es mit dem Tod zu tun hat. Aber du bist Ärztin und weißt, daß der Tod zum Leben gehört, daß er auch nicht aufregender ist als … ich weiß auch nicht … sagen wir – als der Höhepunkt in der Liebe vielleicht.“ Er schwieg, schnüffelte den Rauch. Dann nahm er einen Schluck Wein, etwa die Menge, die ein Spatz aufnimmt, und ließ ihn die Kehle hinabrinnen. Er fuhr fort: „Ich habe also das Testament ändern las96
sen, und zwar zu deinen Gunsten! Sibill ist da jetzt ganz ’raus, sie hat selbst genug. Ich habe aber noch mehr getan. Ich habe dich als Besitzerin meines Privatvermögens eintragen lassen. Es geht da um ein bißchen Geld, das für mich im Ausland arbeitet. Die Geschäfte werden über zwei Schweizer Konten abgewickelt. Nicht viel Geld, Marion, nur so vier oder sechs Millionen. Und es wirft auch keine große Rendite, es ist sehr solide angelegt. Dann geht es um dieses Haus an den Raboisen, Tochter. Das ist nun wirklich ein kleines Juwel, und was die Wohnung hier oben anlangt, empfindest du das ja auch, ich weiß das. Es wird immer deine Heimat sein, Marion, wenn du für das ganze Haus eintrittst, wenn du es beschützt! Ich habe von diesem Raboisenhaus vor Jahren schon alle fremden Gelder ablösen können, ich bin jetzt froh darum, es gehört zu den guten Dingen, die ich gemacht habe. Das Haus gibt bei allen Belastungen, die der Unterhalt fordert, so viel Gewinn, daß du allein davon leben könntest, wenn du nicht zu hohe Ansprüche stellst. Aber das tust du nicht, Kind, du kommst nach deiner Mutter. Du darfst dieses Haus niemals mit fremden Geld belasten. Marion, es würde es beflecken. Es wäre wie ein Makel! Der Besitz dieses Hauses macht dich zu einer reichen Frau. Es ist mein Vermächtnis und soll dich immer an deinen Vater erinnern.“ Alfons Huberty schwieg. Er sah, daß seine Tochter aus der Fassung geraten war. Er lächelte ihr zu. Dann nahm er wieder einen winzigen Schluck und feuchtete sich die Kehle an. „Warum machst du das, Papa?“ Es sah aus, als ob sie gleich zu weinen anfangen wollte. Alfons Huberty sagte: „Ich habe an deiner Mutter Unrecht begangen, Marion, du weißt es ohnehin, und es ist nicht schlecht, wenn du es auch einmal von mir hörst. Sie hätte nicht zu trinken anfangen müssen und in einer Anstalt umkommen, wenn ich ihr ein guter Mann gewe97
sen wäre. Ich habe deiner Mutter viel zu verdanken gehabt, damals nach dem Krieg, und ich habe es ihr schlecht gelohnt. Und damals habe ich auch nicht gewußt, daß sie die einzige Frau in meinem Leben war, die mich gern gehabt hat um meiner selbst willen. So bin ich schon ganz froh, daß du da bist, meine kleine Tochter, und deshalb will ich auch keinen Fehler machen und dich beizeiten absichern.“ Marions Stimme zitterte. „Aber, Papa, du wirst hundert Jahre alt! Du hast doch selbst gesagt, daß Oma und Opa zweiundneunzig Jahre geworden sind und daß du, an ihnen gemessen, noch ein junger Bursch bist.“ „Es ist ja nur für alle Fälle, meine kleine Tochter!“ antwortete Alfons Huberty. Er war drauf und dran, über den Tisch und nach ihrer Hand zu fassen, um sie zu streicheln. Aber er unterließ es. Mit zärtlichen Gesten hätte er sehr viel früher beginnen müssen, damals vielleicht, als sie noch ein Kind war. Aber da hatte er sich nicht zu ihr hingeneigt. Niemals! Er hatte übrigens auch niemals eine Frau sanft an sich herangezogen, dachte er plötzlich, er hatte sie immer nur genommen. Und als er jünger war, hatte er geglaubt, es müßte so sein, daß man eine Frau brutal hinwarf und daß sie es gern hätte. Heute wußte er es besser. Aber heute wollte er den kleinen Vogel vor Angst zittern sehen. Er schaute zu seiner Tochter hin und merkte, daß sie sich gefaßt hatte. Sie saß aufrecht da und beobachtete ihn, viel zu scharf, wie er fand. Ja, sie war schon seine Tochter! Er mußte auf der Hut sein, auch mit den Gedanken! „Ich habe gesagt, daß es nur für alle Fälle ist. Und es ist zunächst auch nur pro forma. Ich meine nicht das Testament damit, sondern die Verfügung, daß ich dich zur Besitzerin meines Privatvermögens gemacht habe. Solange ich lebe, werde ich natürlich über diesen Notgroschen selbst verfügen.“ Sie hatte sich eine neue Zigarette angezündet und 98
blies den Rauch zu ihm hinüber. Dann fragte sie: „Warum tust du das, Vater?“ „Was, mein Kind?“ „Diese Vermögensumschreibung auf meinen Namen? Warum tust du das?“ Er antwortete nicht gleich. Sie fragte: „Steht es mit der Bauunternehmung so schlecht?“ „Es steht nicht gut.“ „Muß man mit einem Zusammenbruch rechnen? Hast du die Umschreibung deshalb vornehmen lassen?“ Huberty nickte erst nach einer Weile. „Ich will nicht, daß sie kommen, Marion, und uns unser ehrlich verdientes Geld wegnehmen. Das haben wir nicht verdient nach solchem arbeitsamen Leben.“ „Aber du schickst doch Jürgen jetzt nach Bonn. Denkst du nicht, daß er Erfolg haben wird? Rechnest du denn nicht mehr mit dem Kredit?“ „Ach, er wird den Kredit schon bekommen.“ „Aber dann ist doch alles gut, nicht wahr?“ Er antwortete nicht. „Oder meinst du vielleicht, selbst diese fünfundvierzig Millionen würden nicht ausreichen?“ „Wenn die Krise weitergeht“, sagte er leise, „wird sie uns alle auffressen!“ „Aber du bist ein erfahrener Mann, Vater. Wie konntest du an ein so großes Projekt gehen?“ „Vor zehn Jahren noch hätten wir es ohne Schwierigkeiten geschafft, Marion.“ „Aber Vater! Ein Unternehmer wird die Konjunktur berücksichtigen, Risiken kalkulieren. Warum bist du nur an diese Seniorenhotels herangegangen?“ Er zog sich in seinen Sessel zurück, damit sein Gesicht aus der Lampe kam. Er wußte es ja. Er wußte, warum er diesen katastrophalen Fehler begangen hatte. Er sah Sibill mit den ersten Zeichnungen kommen, voller Enthusiasmus für diese Arbeit und voller begeisterter Hingabe an ihn. Diese plötzliche Leidenschaft, die sie für ihn entdeckte, hatte ihn tatsächlich überrumpelt. Es 99
wurden die besten Wochen dieser merkwürdigen Ehe, vielleicht die schönsten in seinem Leben überhaupt. Sie kam in sein Bett, rückte heran und wärmte ihn. Sie hatte ihm auch das Herz warm gemacht. Das war wohl das wirklich Seltsame: Plötzlich bekam er eine Ahnung davon, daß es Bezirke sogar in ihm gab, die er nicht gekannt hatte. Und er, der alte, sündige und schuftige Kerl, war drauf und dran, in ein neues Land zu gehen. Natürlich dauerte es nur kurze Zeit, das haben Träume ja so an sich. Aus dem einen Haus, das Sibill plante, wurden zwei, aus denen schließlich vier, das Projekt begann – wie Jomeyer es richtig formuliert hatte –, es begann auszuufern. Nun versuchte er zu bremsen, und als er schließlich energischen Einspruch erhob, da entzog sie sich ihm. Nun hatte er aber über Wochen sogar so etwas wie eine Hoffnung für sich selbst gehabt. Er vermißte sie in seinem Bett, er brauchte ihre wärmenden Hände. Plötzlich hatte er keine Lust mehr an seinen kleinen Tauben in den Luxusbordells. Er fühlte sich durch und durch versaut für diese niedlichen Spiele. Er wollte Sibill und ihre Hingabe. So setzte er seinen Namen unter das Projekt. Aber sosehr er sich in der folgenden Zeit wand, so trickreich er auch vorging, der Brocken erwies sich als zu groß für die Bauunternehmung Huberty. Sie erstickte daran. Und Einfälle hatte er doch wirklich gezeigt. Da gab es den Verein der Altenhilfe mit seinen Ehrenmitgliedern. Da tauchten plötzlich mehrere Tochtergesellschaften auf, die nur die eine Aufgabe hatten, seiner angestrengten Bauunternehmung mit immer neuen Finanzspritzen auf die Beine zu helfen. Da war die ganze Palette von Angeboten für die künftigen Insassen dieser Hotels, einzig zu dem Zweck erdacht, den Leuten das Geld aus den Sparstrümpfen zu holen. Er hatte wirklich nicht schlecht gearbeitet und im Grunde nur auf einen Zielpunkt hin! Es ging bei allem nur darum, Sibills Ehrgeiz zu befriedigen. 100
„Ich hatte dich etwas gefragt, Vater“, hörte er seine Tochter von der anderen Seite des Tisches. „Ja, Tochter, entschuldige! Und was?“ „Warum bist du an dieses Projekt Seniorenhotels herangegangen?“ Alfons Huberty antwortete: „Ich habe es für die alten Menschen getan!“ Es war zu Ende! Das Gespräch, das so vielversprechende Ansätze gehabt hatte, auch in ihrer beider Beziehung etwas zu verändern, es war vorbei! Plötzlich hatte ihr Vater wieder den Ton, den sie von Versammlungen kannte. Da ging man auch aufs Podium, tat den Mund auf und begann zu lügen. Marion sah auf die Uhr. „Es ist schon spät, Vater, ich muß zu Bett.“ „Fährst du morgen mit mir hinaus?“ „Um acht?“ „Ja.“ „Um acht bin ich schon mitten in der ersten Visite, Vater. Nein, ich habe die Ente unten, sie ist sogar frisch gewaschen und poliert.“ Alfons Huberty lächelte ihr zu, und auf einmal klang noch ein bißchen was auf von dem, was vorhin zwischen ihnen geschwungen hatte. Er sagte: „Zu deinen netten Eigenschaften gehören auch deine Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, Marion. Ich glaube, das hast du auch von deiner Mutter!“
10. Das Bübchen sah die Staubwolke zuerst, die sich durch die Lüneburger Heide wälzte und Kurs auf die Baustelle nahm. Er rauchte gerade eine Zigarette auf der obersten Rüstung, hatte so einen mächtigen Blick ins Land. Er war ein Mann von zwei Meter zwei Gardemaß, wie er 101
stolz verkündete, und er wog 260 Pfund. Seine Brust war von kurzen, wirren Haaren zugewachsen. Die Frauen liebten das, so dachte er jedenfalls, weil es animalisch war, aber er zeigte die Brust auch den Kumpels her, besonders an einem warmen Spätsommertag wie diesem, denn er hatte ein offenes Wesen. Er wies auch gern die Muskeln an Armen und Beinen vor. Er konnte leicht einen ausgewachsenen Mann ausstemmen, über den Kopf heben und mit ihm die Treppen hinaufgehen bis zum fünften Stock. Er war sehr stark. Darum nannten sie ihn ja auch Bübchen. „Kommt alle her!“ rief das Bübchen. „Ich glaube, da bringen sie den neuen Bauleiter.“ Die Leute waren froh über eine kleine Abwechslung und kamen willig heran. Zigaretten wurden herumgereicht, man gab sich Feuer. „Fehlt eigentlich nur noch ein Bier“, meinte einer. Alle lachten. Es war nicht weit her mit ihrem Eifer für die Arbeit. Vierzehn Tage ohne Lohn und zwei weitere Wochen für naß, nur mit dem Versprechen, dann alles zu kriegen, was ihnen zustand, und darüber hinaus den Arbeitsplatz zu behalten, diese Aussichten, die sie vor kurzer Zeit noch für Selbstverständlichkeiten gehalten hatten, rissen sie nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin für Herrn Huberty und seine Hotels. Dieser Mann hatte viel an Gottähnlichkeit verloren, seit er von dem Kapitalistensockel heruntergestiegen und zu ihrem Schuldner geworden war. Sie lehnten über dem Längsriegel und ließen sich nichts von dem Schauspiel entgehen, das da unten vor der Baustelle in Szene zu gehen schien. Es waren drei Autos, die gleichzeitig ankamen und hintereinander stehenblieben. Aus dem letzten stieg ein großer Mann, hatte einen Ledermantel an, Raglan, Ringsgurt, englischer Schnitt. Auf dem Kopf trug er eine Schippermütze. „Da kriegst du einen, der dir gewachsen ist“, meinte einer auf der Rüstung. 102
„Abwarten“, antwortete das Bübchen und gähnte. „Keine Panik, Leute, ich bleib ja bei euch!“ Sie sahen den Ledermantelmann an den Rechtsanwalt herantreten. Gemeinsam gingen die beiden vor zu Hubertys Mercedes. Aus dem war längst die Architektin gestiegen und um das Fahrzeug herumgelaufen, um ihrem Mann beim Herausklettern zu helfen, aber so dicht kam sie gar nicht heran an die Tür. Da stand schon der riesenwüchsige Leibwächter und hob den alten Mann aus dem Auto heraus. „Der kann kaum noch stehen“, meinte einer neben Bübchen. „Das kommt davon, wenn man in dem Alter noch jede Nacht bumsen muß.“ „Aber die läßt ihn doch gar nicht mehr ’ran.“ „Ich weiß, wer das ist!“ sagte das Bübchen plötzlich. „Wer?“ „Der im Ledermantel! Weil ihr vom Bumsen gesprochen habt, ist es mir wieder eingefallen.“ „Und wer ist es?“ „Kommt alle mit ’runter, dann sag’ ich es euch!“ Sie stiegen über die Rüstung auf die Massivdecke und gingen zum Treppenschacht. Dort stand natürlich der Polier, der alte Ochse, und starrte ihnen entgegen. „Ist was?“ meinte das Bübchen, weil Angriff immer die beste Verteidigung ist. „Wo wollt ihr denn hin?“ fragte der Mann eher bescheiden. Seit es um den Lohn schlecht stand, war es um die Arbeitsmoral nicht besser bestellt. Mit den Leuten war nicht gut Kirschen essen. „Ihr könnt doch nicht einfach hier weggehen.“ „Ist denn nicht gleich Frühstück?“ Der Polier zeigte auf seine Uhr. „In zehn Minuten!“ „Und Händewaschen vorher, was ist damit?“ fragte das Bübchen. „Hast du das nicht bei deiner Mutti gelernt?“ Sie gingen die Treppe hinunter. Bübchen war der Wort103
führer, solange er denken konnte. Hing wohl mit seiner Größe und seiner enormen Körperkraft zusammen. Das gab seinen Worten ein solches Gewicht, daß ihm kaum einer widersprach. Zu Hause war es anders. Seine Karin wog nur einen knappen Zentner, und manchmal setzte er sie sich auf die flache Hand und trug sie durch die Wohnung. Das durfte er, aber was sonst getan wurde, das bestimmte sie. Und Heike und Anke, die beiden Gören … Er hatte nichts dagegen. Ihm machte es Spaß, zu sehen, wie die drei Piepmätze ihre Schnäbel aufsperrten. Er stand nur da und lachte. Mußte wohl richtig ein bißchen unanständig wirken in diesen Zeiten, daß seine Familie so intakt war. „Nun spuck es aber endlich aus, wer der neue ist“, sagte einer neben ihm. „Ich weiß nicht seinen Namen, aber ich kenne ihn von der Altonaer ‚Hoch und Tief ‘. Das ist, wartet mal, ja, das war im Jahr, als Heike geboren wurde, ist also schon über sechs Jahre her. War ein guter Mann, damals jedenfalls, die hielten Stücke auf ihn, schickten ihn viel ’raus. Die besten Baustellen kriegte der, auch im Ausland, Afrika und so – diese Entwicklungshilfescheiße. Aber das Schärfste kommt jetzt!“ Sie waren längst die Treppe herunter und standen in der werdenden Halle des Rohbaus, alle um das Bübchen geschart wie Schiffbrüchige um einen Leuchtturm. „Was denn nun? Mach es nicht so spannend!“ „Gebt erst ’ne Rolle her, ich muß es euch richtig hinpusten!“ Sie steckten ihm eine Zigarette in den Mund, sie hielten ihm ein Feuerzeug unter die Nase, und er pustete es ihnen hin. „Die Chefin war seine damals!“ „Die Huberty?“ Das Bübchen stieß Rauch durch Mund und Nase aus und sah die Kumpels grinsend an. 104
„Quatsch nicht ’rum!“ „Wenn ich es euch sage! Die gingen miteinander, richtig mit Ring, richtig verlobt. Wie sich das gehört.“ „Und wo liegt da der Witz?“ „Der Witz liegt wieder mal im Bett!“ Sie schauten ihn verständnislos an, und das Bübchen fuhr genießerisch fort: „Eines Tages kommt der gute Mann – wenn ich nur schon auf den Namen käme –, eines Tages kommt der also aus dem Ausland zurück, von einer Baustelle aus Afrika, und findet seine Alte im Bett mit einem anderen. Der war auch ein großes Tier bei der ‚Hoch und Tief ‘, ausgerechnet ihr Chef aus dem Architektenbüro. War eigentlich eine ganz natürliche Angelegenheit, denn sie war schließlich jahrelang seine persönliche Assistentin gewesen. Nur unser Mann – ich komme noch auf den Namen, wartet nur –, der hatte kein Verständnis für diese Sorte von Zusammenarbeit. Der nimmt den Architekten und schmeißt ihn die Treppe ’runter.“ Sie starrten das Bübchen an, und einer fragte endlich: „Tot?“ „Was denkst du denn?“ erwiderte das Bübchen überlegen. „Wenn so einer schon mal hinlangt, dann ist der andere auch alle!“ „Ein Mörder also –?“ Ihnen wurde unbehaglich, nur Bübchen nicht. „Stell dir vor“, sagte er zu einem, „du kommst nach Hause, und deine Alte bumst mit einem anderen.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete der. „Warum nicht?“ „Weil sie es nicht tut.“ „Und Wenn doch?“ „Sie tut es nicht!“ „Na ja, Kollege, genau das hat der Berger vorher sicher auch gesagt. Seht ihr, Leute, da kommt der Name leicht und flockig von der Computerzentrale. Wurde nachgereicht. Berger heißt er. Henry Berger!“ 105
„Und wieviel hat er dafür gekriegt?“ „Vier Jahre, glaub’ ich.“ „Das ist wenig bei einem Mord.“ „Es war ja kein Mord, Kumpel, es war ja nicht vorsätzlich. Es war auch kein Totschlag, weil er ihn nicht geprügelt hat. Es war nicht mal sicher, ob er ihn die Treppe hinuntergestürzt hat. Seine Ische hat Stein und Bein geschworen, daß er es nicht hat. Aber unten lag der tote Chefarchitekt, und so war es eben Körperverletzung mit Todesfolge.“ „Das hast du aus dem Fernsehen.“ „Was –?“ „Diese Fachwörter – Körperverletzung mit Todesfolge, Mord und Totschlag, diese ganzen feinen Unterschiede!“ „Aber logo, Baby!“ „Und dieser Berger nun wieder? Hat der nicht auch gesagt, daß er unschuldig wie ein Neugeborenes ist?“ „Der Berger hat gar nichts gesagt, der konnte sich an nichts erinnern. Zur Tatzeit, Baby, war der nämlich total besoffen!“ Bübchen nahm noch einen Zug aus der Rolle, schmiß sie dann zu Boden und trat sie aus. „Einer hat vorhin gesagt, da ist wer gekommen, der ist mir gewachsen. Könnte hinkommen. Eins allerdings weiß ich genau: Wenn der den Scheißladen hier übernimmt, geht’s ein bißchen anders längs.“ Sie kamen von ihrem Rundgang zurück. Da es auf den beiden anderen Baustellen nicht viel zu sehen gab, eine Grube bei der einen und ein bißchen Keller bei der anderen, hatte es nicht allzulange gedauert. Nun standen sie vor diesem Rohbau, der immerhin bis zum fünften Stockwerk emporgewachsen war. Es schien gerade Frühstückspause zu sein; Berger sah eine Gruppe von Bauarbeitern herumlungern, mitten unter ihnen ein wahres Gebirge von einem Mann. Die Leute wußten 106
natürlich, daß hier ein neuer Bauleiter angeschleppt wurde, er sah es an ihren Mienen. Berger fummelte in seinen Taschen nach einem Zigarillo und fand auch eins. Dies weckte das Interesse des alten Herrn Huberty. Der schaute genau hin, wie Berger es mit einem Sturmfeuerzeug in Brand setzte. Er schnupperte sogar dem Rauch hinterher. „Kubanische!“ erklärte Berger. Alfons Huberty fragte: „Ordentlich?“ „Ja, wirklich! Ich hab’ mir ein paar Kisten mitgebracht.“ Und grinsend: „Geschmuggelt!“ Seine Hand fuhr in die Tasche und kam mit einem ganzen Bündel davon zurück. „Wollen Sie?“ Hubertys Stimme hatte beinahe etwas Tragisches. „Ich rauche nicht mehr.“ Henry Berger erwiderte: „Schade für Sie!“ Die Handvoll wanderte weiter zu Rechtsanwalt Jomeyer. „Und Sie?“ „Danke, ich rauche nur Zigaretten.“ Die Hand ging weiter zu Sibill Huberty, blieb jedoch auf halbem Wege stehen. Er griente. „Verzeih, du hast ja nie geraucht.“ Bergers Blick ging den Rohbau hinauf. „Wie werden die Häuser finanziert?“ fragte er. Berger war eigentlich guter Dinge. Als er heute morgen unter der kalten Dusche hervorkam, faßte er einen schnellen Entschluß. Der Tweedanzug verschwand weit hinten im Schrank. Heraus kamen die abgewetzten Jeans und die Jacke. Auch der Ledermantel, den er vor Jahren auf dem Bau getragen hatte. Dann setzte er sich den breitkrempigen Hut auf und trat vor den Spiegel. Er wußte wirklich nicht, was die Frauen gegen einen Hut auf seinem Kopf hatten. Kleidete ihn phantastisch. Wenn er zum Beispiel die Krempe ein wenig mehr in die Stirn zog? Und gleichzeitig die eine Augenbraue hob? Das brachte doch einen rätselhaften Zug in sein Gesicht. Die Weiber hatten keinen Schimmer, entschied er und schmiß den Hut auf den Schrank. 107
Die Eier waren übrigens ausgezeichnet. Frau Mewis hatte den Lauf des Sekundenzeigers verfolgt, genau 4 Minuten und 15 Sekunden lang. Henry glaubte ihr, weil er es an den Eiern kontrollieren konnte. Darauf machte Berger der alten Dame das Angebot, für ein paar Tage in dem Haus zu bleiben. Sie liebe ja Häuser, meinte er, in denen ein Anfang sei. Dann setzte er sich in den BMW und fuhr in die Lüneburger Heide. Und da stand er nun. Hatte er nicht eben etwas gefragt? Hatte er! „Wie finanzieren Sie die Dinger?“ wiederholte er seine Frage. Er beobachtete Blicke zwischen dem Unternehmer und seinem Rechtsanwalt. „Was ist los?“ fragte er weiter. „Ist das eine geheime Verschlußsache?“ Doktor Huberty sagte: „Wir wundern uns nur, daß ein Mann, der mit Realisierungen beschäftigt ist, sich auch für finanzielle Hintergründe interessiert.“ Henry Berger erwiderte: „Wenn Sie mich kaufen, Herr Huberty, dann kaufen Sie einen Mitarbeiter und keinen Fatzken, der jeden Ihrer Befehle ausführt.“ Huberty nickte ernsthaft, als sei er mit Bergers Erklärung zufrieden. Dann gab er seinem Rechtsanwalt einen Wink, und der begann darauf mit so einer Art von Erklärung: „Der Bauunternehmung Huberty stehen im wesentlichen zwei weitere Gesellschaften als Töchter zur Seite. Einmal die Senioren-Hausanteil-Treuhand-Fondsgesellschaft, kurz S.H.T. genannt, und die Heide Senioren Hotels GmbH, kurz H.S.H. Die Fondsgesellschaft beschäftigt sich mit dem Verkauf und der Vermietung der einzelnen Appartements in den später fertiggestellten Hotels, und die H.S.H.-GmbH ist mit der Verwaltung des gesamten Hotelkomplexes befaßt. Können Sie mir folgen?“ „Ich gebe mir Mühe.“ „Sehr schön, Herr Berger. Nun haben Sie nach der Finanzierung der Hotels gefragt. Der künftige Mieter 108
eines Appartements zahlt seine Beträge in die Senioren-Hausanteil-Treuhand-Fondsgesellschaft ein. Er kann zwischen verschiedenen Angeboten wählen. Ein ‚Bezugsvorrecht‘ gegenüber anderen Interessenten auf Abschluß eines Mietvertrags in einem dieser Hotels kostet beispielsweise fünftausend Mark. Etwas höher im Rang steht ein ‚Anwartschaftsvertrag‘, er liegt je nach Größe des Appartements zwischen sechstausend und fünfunddreißigtausend Mark. Beim späteren Einzug in das fertiggestellte Seniorenhotel sollten diese Anwartschaftsverträge in sogenannte Einkaufsdarlehen umgewandelt und bei Beendigung des Vertragsverhältnisses, sprich Tod des Heimgastes, an die Erben zurückgezahlt werden. Selbstverständlich sichern wir jeden der eingezahlten Beiträge im Grundbuch des jeweiligen Hotels ab.“ „Welche weiteren Belastungen kommen auf den Heimgast zu?“ fragte Berger. „Dann nämlich, wenn er schließlich eingezogen ist?“ „Das richtet sich nach unseren Leistungen“, antwortete Jomeyer. „Die einfache Zimmermiete haben Sie schon ab vierhundert Mark, die Halbpension schon ab sechshundertfünfzig und den gesamten Pflegeservice schon ab tausend Mark. Sie dürfen nicht vergessen, daß wir ein breit gefächertes Angebot offerieren. Neben der selbstverständlich guten ärztlichen Betreuung stehen den Heimgästen Sportfitneßcenter mit geschultem Personal zur Verfügung. In den Dienstleistungstrakt dieses neuen Hotels, vor dem wir uns gerade befinden, wird das erste Wellenbrandungsbad eingebaut.“ „Haben Sie denn auch genügend Interessenten? Schließlich können sich viele Leute einen so komfortablen Lebensabend gar nicht leisten, wie? Mit Wellenbrandungsbädern und Sportfitneßcentern. Glauben Sie nicht auch, daß Sie da hübsch paar Wohnungen für die Halde bauen?“ 109
Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. „Der bisherige Verkauf von Appartements beweist das Gegenteil! In diesem Hotel beispielsweise sind schon ganze Etagen verkauft. Nein, Herr Berger, wir glauben nicht, daß wir mit der Auslegung dieser Hotels auf sechstausend Nutzer zu hoch gegriffen haben.“ Henry Berger sagte: „Eine Form der Finanzierung haben Sie vergessen!“ „Nämlich?“ „Die Leibrentenverträge!“ „Richtig, die gehören auch zu unserem Angebot. Sie sind für Pensionäre gedacht, die sich ihren Lebensabend sozusagen krisenfest und inflationssicher einrichten wollen. Nach Festlegung einer bestimmten Summe, die sich aus dem monatlichen Fixum und den zu erwartenden Lebensjahren als Multiplikator zusammensetzt, übernimmt die Heide Senioren Hotels GmbH die Gesamtbetreuung eines Heimgastes.“ Doktor Alfons Huberty hörte den Erklärungen seines Rechtsanwaltes mit einer Miene zu, als habe er sich mit dieser Problematik bis zur Erschöpfung auseinandergesetzt. Er stand auf seinen Stock gestützt und ließ den Blick über das Baugelände hingehen. Hinter ihm am Wagenschlag lehnte der baumlange Chauffeur, Beine lässig übereinandergeschlagen, Arme über der Brust verschränkt, den Kopf leicht geneigt. Der Mann schien im Stehen zu schlafen. Sibill beobachtete Berger, sie schien zu rätseln, wie er sich entscheiden würde. Berger wußte es selbst noch nicht. Als Sibill gestern zu ihm nach Ahrensburg kam und ihm eröffnete, Huberty wolle ihm den Leibrentenvertrag seiner Mutter vergüten, hatte er aus dem ersten Impuls heraus abgelehnt. Aber nach einer Tasse Kaffee, einem weiteren Zigarillo und nochmaligem Überlegen war er zu dem Ergebnis gekommen, daß das Angebot so schlecht nicht sei. Wenn er die Wahrheit über den Tod seiner 110
Mutter erfahren wollte, dann konnte er das am besten, indem er in die Organisation Huberty hineinging. Noch einmal wandte er sich an den Rechtsanwalt. Er sagte: „Sechstausend Menschen sollen hier einmal leben?“ Und als der Rechtsanwalt nickte, fuhr er fort: „Ich finde das verrückt. Sechstausend alte Menschen auf einen Fleck, Greise, das ist doch verrückt! Das ist, als ob man die Leute aussetzen wollte.“ „Aber ich bitte Sie allen Ernstes!“ Zum ersten Mal begann sich der Rechtsanwalt zu erregen „Empfinden Sie denn nicht die Rühe und Gelassenheit, die einmalige Schönheit dieser Landschaft? Und dann denken Sie an den Lärm und die Hektik unserer Städte, an die Atemluft ohne ausreichenden Sauerstoff, an die Steinwüsten der Hochhäuser, diese Elendsviertel der kommenden Generation. Da gehören alte Leute doch nicht hin!“ Auch Henry Berger ereiferte sich. „Quatsch! Ich denke, daß die Generationen zusammen leben sollten und daß es mitten in der quirligen Gesellschaft auch einen ruhigen Platz für die alten Menschen geben könnte.“ Zum ersten Mal mischte sich Alfons Huberty in das Gespräch. „Wir wollen nicht Ihren Rat als Soziologe, Herr Berger“, sagte er gelassen. „Sie sollen uns hier den Bauleiter machen, das wäre Ihr Job!“ „Sehr richtig!“ Henry Berger fuhr herum zu dem Unternehmer, und nun standen sich beide Blick in Blick gegenüber. Berger war es, als ob der Chauffeur seitlich von ihm den Kopf hob und die Nase in den Wind streckte, wie um Witterung aufzunehmen. „Das bringt mich auf einen weiteren Gedanken. Weshalb haben Sie sich von Ihrem anderen Bauleiter getrennt?“ „Aber er hat sich von uns getrennt!“ erwiderte Alfons Huberty. „Er hat Gehaltsforderungen in Höhe von mehreren tausend Mark an die Bauunternehmung.“ „Da ist es eigentlich kein ermutigender Gedanke für mich, seinen Platz einzunehmen.“ 111
„Aber warum denn nicht? Sie erhalten neben Ihrem Gehalt, dessen Auszahlung Sie uns allerdings vorerst stunden, die fünfundneunzigtausend Mark aus dem Leibrentenvertrag Ihrer Mutter zurück. Als Geste und als Anreiz sozusagen.“ „Jedoch nicht in bar!“ „Nein, so nicht! Sie bekommen die Summe als eingetragene Grundschuld auf diese Anlage, die Sie nun selbst mit errichten werden. So sind Sie dann zu einem bestimmten Teil Miteigentümer des Projekts. Das ist doch keine schlechte Vorstellung.“ „Aber Sie haben das Geld von meiner Mutter in bar kassiert. Ein Vierteljahr bevor sie starb!“ „Leibrentenverträge sind nicht ohne Risiko“, erklärte Doktor Alfons Huberty. „Für beide Seiten nicht, Herr Berger! Ihre Mutter hätte noch zwanzig Jahre leben können, und ich hätte ihr Wohnung gegeben, sie beköstigt und medizinisch betreut. Zwanzig Jahre lang. Nun ist sie leider so kurz nach Abschluß des Vertrages gestorben, hat also nicht sehr viel davon gehabt. Das war ihr Risiko, wenn man das überhaupt so ausdrücken kann, ich meine, in so einem Fall …“ Der Unternehmer schwieg, und alles guckte betreten irgendwohin, nur nicht in Bergers Richtung. Und der spürte auf einmal die Wut, die sich die ganze Zeit über in ihm gespeichert hatte. Er wußte, daß es gefährlich war. Auf der Stelle müßte er sich in seinen Wagen setzen und davonfahren. Kein Wort mehr mit diesen Leuten! Aber er stand da wie ein sturer Bock und rührte sich nicht. Sibill, die ihn kannte, beobachtete ihn, das sah er aus den Augenwinkeln, und noch einer war plötzlich aufgewacht, der lange Chauffeur! Diese Bande von Abenteurern! Dieser Rechtsanwalt Jomeyer mit seinen Sprüchen! Alle Tricks dieses ausgeklügelten Finanzierungssystems zielten nur darauf, gutgläubigen alten Leuten das Geld aus der Tasche zu zie112
hen. Und die generöse Geste, ihm die in den Leibrentenvertrag gezahlte Summe als eingetragene Grundschuld anzurechnen! Dieser Sandboden hatte doch noch gar keinen Preis. Den sollte er ja gerade durch die Bauten darauf bekommen. Erst einmal mußten die vier Hotels oben sein! Und wenn nicht? Verlor er wieder sein Geld! Und mit ihm alle alten Leute, die ihre Ersparnisse in Form von „Bezugsvorrechten“ und „Anwartschaftsverträgen“, und wie der Schmonzes immer heißen mochte, in Hubertys Kanäle hatten leiten lassen. Diese ganze sogenannte Heide Senioren Hotelanlage war in seinen Augen nichts weiter als eine Riesenspekulation! „Es war ohne Risiko für Ihre Seite, als Sie mit meiner Mutter den Leibrentenvertrag abschlossen“, sagte er leise. Aber man verstand ihn gut, denn es war plötzlich sehr still geworden. „Würden Sie das erklären, Herr Berger?“ „Ihre Tochter hat diese medizinische Untersuchung mit meiner Mutter angestellt. Sie mußte also sehen, daß die alte Frau krank war. Aber sie gab ihr eine hohe Lebenserwartung. In betrügerischer Absicht! Das wäre die eine Möglichkeit.“ „Und die andere?“ Der Unternehmer schien nach wie vor heiter und gelassen. Der Mann war viel zu alt, um sich überhaupt noch zu erregen. Henry Berger horchte auf das Pochen des Blutes in seinen Adern. Er sagte: „Die andere Möglichkeit …?“ „Ja, die andere! Was ist mit der?“ „Meine Mutter …“ Berger stockte. Es war gar nicht die Wut, die in ihm kochte, ihn beinahe besinnungslos machte. Er spürte den Fieberanfall kommen! Ja, es stimmte! Vor vier Tagen hatte der ihn zuletzt aufs Bett geschmissen. Er sah die Wellen heranschäumen, Wellen, die höher und immer höher wurden. Er wollte fliehen, denn er hatte Angst, aber er konnte nicht fliehen. 113
Ja, es war das Fieber in ihm und die Wut! Und eine plötzliche, schmerzliche Trauer um seine Mutter, ein Gefühl, das er bis dahin weggeschoben hatte. Er schluckte schwer. „Meine Mutter … war gar nicht … krank!“ Berger war jetzt mitten in den Wellen. Seine Zähne klapperten. Er sah die Leute, die um ihn herumstanden und ihn beobachteten, nicht einmal unfreundlich, aber auch ein klein wenig belustigt. Sibill machte einen Schritt auf ihn zu, aber er wehrte sie mit der Hand ab, ließ sie nicht heran an sich. Auf merkwürdig steifen Beinen stakste er herum, kam an einen Steinstapel, der gerade so hoch war, um sich darauf zu stützen. In ihm tobte die Flut, er keuchte vor Anstrengung. Seine Hände schlossen sich um das längliche Ende eines Gegenstandes aus Metall. Hinter sich hörte er Hubertys Stimme: „Wollten Sie mit dieser anderen Möglichkeit andeuten, daß Ihre Mutter umgebracht wurde? Meine Tochter eine Betrügerin und ich ein Mörder? Finden Sie nicht selbst, daß dies merkwürdig klingt, zumal aus Ihrem Mund?“ Henry Berger fuhr herum. Er sah das nun Folgende wie durch einen Schleier. Da huschte der riesenwüchsige Chauffeur mit einem Satz vor Huberty und deckte ihn mit dem Körper ab. Aus seiner Kehle drang so etwas wie ein Knurrlaut. Der Mann stand in leicht geduckter Haltung da, denn er schien Bergers Sprung zu erwarten. Aber Berger wollte gar nicht los auf den alten Mann. Wozu denn? Das änderte doch auch nichts mehr. Dann spürte er Sibills Hand. Sie lag auf seinem Arm und drückte fest zu. Sein Blick glitt hinunter. Und da sah er die Monierzange! Seine Faust umkrampfte den Griff, daß die Knöchel weiß hervortraten. Der Krampf seines Körpers schien über diese Monierzange abgeleitet zu werden. Aber wie kam sie in seine Hand? Das wußte er nicht. Sein Blick ging hoch zu Sibill. Er sah sie mit den Augen lächeln, das sollte ihn beruhigen, er wußte, daß 114
sie so dachte. Er sollte sich beruhigen! Wie kam denn diese Monierzange in seine Hand? Sibill ließ ihn nicht aus dem Blick. Und ihr Lächeln wurde immer offener, auch heiterer, wie ihm schien. Gleichzeitig verstärkte sie den Druck ihrer Hand. Und dann schüttelte sie ganz leicht und eigentlich nur für ihn sichtbar den Kopf. Wie kam denn nur dieser Schürhaken in seine Hand?
Er sieht ihn doch genau, diesen Haken, und er sieht sich selbst. Er kommt den Gang entlang. Der Mann weicht vor ihm zurück an Türen, die offenstehen. Und er treibt den Mann mit dem erhobenen Schürhaken. Die Treppe dann, der Sturz hinunter. Unten bleibt er liegen. Der Kopf ist merkwürdig verrenkt. Die Augen schauen zur Decke hinauf. Eine Gestalt kommt heran, beugt sich über den Mann, der nicht aufstehen will. Die Gestalt sagt etwas … Was nur, er muß sich anstrengen … „Es kann nur ein Fieberanfall sein“, sagte Sibill. „Ihr müßt das bitte entschuldigen. Ich weiß, daß er Malaria hatte. Es wird ein neuer Anfall sein. Jomeyer, fassen Sie doch mal mit an!“
11. „Wie geht es dir, Henry?“ „Gut.“ „Wirklich?“ „Hm –“ „Du hast beinahe drei Stunden geschlafen, Lieber! Das heißt, vorher hattest du einen mächtigen Schüttelfrost. Es wäre beinahe komisch gewesen, wenn du dich 115
nicht so hättest quälen müssen, ich meine, mitten im Sommer!“ „Wo … wo bin ich hier?“ „Du liegst in meinem Bett, Lieber.“ Er hörte Sibills Stimme, aber es schien nicht ganz klar zu sein, ob es sich nur um einen Traum oder um die Wirklichkeit handelte. Wenn es ein Traum war, dann gefiel er ihm recht gut, und er beschloß, ihn noch ein Weilchen weiterzuträumen. Er ließ die Augen geschlossen. Die Stimme sagte: „Als es mit dir losging, standen die alle wie erstarrt, Henry. Du hattest plötzlich eine Monierzange in der Faust, und in deinen Augen war was … ich kann es nicht ausdrücken. Die hatten alle Angst vor dir, sogar der Alte. Ja, wirklich, zum ersten Mal hab’ ich so was wie Angst bei ihm gesehen. Nur ich wußte, daß nichts geschehen würde. Ich hatte grenzenloses Vertrauen zu dir, mein Lieber. Soll ich aufhören zu reden? Strengt es dich zu sehr an?“ Er lauschte dem Klang ihrer Stimme. Es war doch ein Traum, nicht wahr, es mußte doch einer sein. Er ließ die Augen geschlossen und flüsterte: „Red weiter!“ „Jomeyer und ich brachten dich herauf. Und dann kam Marion Huberty. Als ich ihr die Vorgeschichte erklärte, sagte sie, es sei ein typischer Malariaanfall. Wenn es aber diese … Malaria quartana sei, dann müßte es dich vor vier Tagen schon einmal erwischt haben. Stimmt das?“ „Hm –“ „Du hättest kleine Tiere in dir, die sich alle zweiundsiebzig Stunden teilen, Henry, und immer wenn es dazu kommt, haut es dich hin und schüttelt dich. Wie kannst du das nur zulassen? Du warst dein Leben lang zu gutmütig.“ Es war ein schöner Traum. Er erinnerte sich, daß sie früher viel herumgeblödelt hatten. Auf alle Fälle hielt er die Augen noch geschlossen. Die Stimme sagte: „Ist die116
se unverschämte Malaria damals nicht richtig ausgeheilt worden?“ „Hm –“ „Marion Huberty meinte, einer dieser Anfälle allein erkläre noch nicht dein Gesamtverhalten. Du hättest auch eine plötzliche starke Kreislaufschwäche gehabt, nicht gerade bis zur Ohnmacht, aber kurz davor. Und wirklich, du warst leichenblaß und hattest kalten Schweiß. Hast du einen labilen Kreislauf, Henry?“ Hatte er! Etwas dieser Art hatten sie ja alle in seiner Familie. Seine Mutter sollte ja sogar daran gestorben sein. Wenn sie nicht umgebracht wurde. Er spürte die Kreislaufschwäche seit dem Gefängnis. Mangelhafte Bewegung an der Luft, mangelhafte körperliche Ausarbeitung! Seelischer Streß! Auch die Malaria hatten sie verschlampt. Die wurde auf der Krankenstation nicht richtig ernst genommen. Es war schon minutenlang still, keine Stimme mehr. Er öffnete vorsichtig die Augen, blinzelte. Es war kein Traum gewesen. Er lag in einem Bett, und Sibill saß auf der Kante neben ihm. „Ich dachte“, sagte sie, „du seist eingeschlafen.“ „Wirklich dein Bett?“ fragte er. Sie lächelte. „Wirklich!“ Auf einmal spürte er den brennenden Durst. „Hast du etwas zu trinken?“ Sie reichte ihm ein Glas, das neben dem Bett stand, und er trank. Dann ließ er sich zurückfallen. „Wo steht dieses Bett?“ „In meinem Atelier.“ Er konnte sich nicht erinnern, daß er in ihrem Atelier ein Bett gesehen hatte. Wieder kam er hoch. Es war ein mächtiges Bett, das einen wesentlichen Teil des Zimmers ausfüllte. Hinter der offenen Schiebetür erkannte er das eigentliche Atelier wieder. Ganz am anderen Ende sah er Sibills Schreibtisch stehen, und dahinter an der Wand hing das Ölbild des Unternehmers Doktor Alfons Huberty. 117
Berger war es, als blinzelte ihm der alte Mann zu, als freute der sich herzlich, daß er im Bett seiner Frau lag. Bergers Blick glitt von dem Bild zurück auf Sibill, und dann ließ er sich in die Kissen zurückfallen. Verdammt, er war noch schwach! Nach einer Weile sagte Sibill: „Huberty und ich leben schon eine ganze Weile getrennt. Er in seinem Hamburger Penthaus, und ich habe mir diese Zimmer eingerichtet. Hier bin ich nah an der Baustelle, und das gefällt mir. Arbeit hat mir immer sehr viel bedeutet, Henry, das weißt du ja, und das ist mit den Jahren eher noch schlimmer geworden mit mir.“ Henry Berger hatte wieder die Augen geschlossen und lauschte dem Klang ihrer Stimme. Er konnte keinen unreinen Ton in ihr entdecken. Sie schwindelte nicht, war wohl so etwas wie eine Stunde der Wahrheit für sie. Sie fuhr fort: „Ich hätte vielleicht widerstehen sollen, als Huberty mich bat, seine Frau zu werden. Aber ich konnte diese einmalige Chance nicht ausschlagen. Häuser zu bauen, wie ich sie sah und wollte, die Verlockung war zu groß. Ich habe alles versucht, um ihm eine gute Frau zu sein. Ich wollte nicht nur nehmen, ich wollte auch geben. Aber im Grunde kannst du den Unterschied von vierzig Jahren nicht überbrücken. Der Graben ist zu tief. Huberty hätte es noch besser wissen müssen als ich. Aber es steckte auch viel Egoismus von seiner Seite dahinter. Er dachte wohl, man könnte Gefühle, die man vor vielen Jahren einmal hatte, einfach zurückkaufen. Aber man kann es nicht, Henry, es geht nicht!“ Sie schwieg. Henry Berger hob langsam die Augendeckel und sah zu ihr hin. Auf ihrem Gesicht lag ein weicher Zug, wie er ihn selten an ihr gesehen hatte. Nach einer Weile sagte Berger: „Ich war vor ein paar Tagen in Cap Fréhel!“ Sie antwortete nicht, sah ihn nur nachdenklich an. Er fuhr fort: „Ich hatte von Mexiko nach Paris gebucht und wollte dort ein paar Tage Urlaub ma118
chen. Aber es gefiel mir gar nicht. Und da kam ich auf die Idee mit der Normandie. Gondelte einfach los.“ „Cap Fréhel, wo wir damals waren?“ „Hm –“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ Er wußte es sehr wohl, aber er sagte es ihr nicht. Er spürte, wie sie den Druck ihrer Hand leicht verstärkte. Dann sagte sie: „Alfons Huberty ist zweifellos ein eiskalter Schuft, ich würde ihm sehr viel zutrauen, nur eines nicht, Henry, einen Mord! Er hat mit dem plötzlichen Tod deiner Mutter nichts zu tun. Es ist ein unglücklicher Zufall, daß sie ausgerechnet ein Vierteljahr vorher einen Leibrentenvertrag abgeschlossen hat, nichts weiter. Wir werden beide zu dem Amtsarzt gehen, und der wird es dir auch sagen. Er hat die Diagnose bestätigt, Aneurysma, und er hat auch den Totenschein unterschrieben.“ „Und diese hohe Lebenserwartung?“ fragte Henry Berger mit schwerem Anlauf. „Natürlich haben sie an dem Vertrag gedreht. Aber dafür will er dir ja dein Geld zurückgeben, wenn auch vorerst nur als eingetragene Grundschuld auf diese Anlage. Er kann es nicht anders, er hat kein bares Geld, Henry, ich weiß das.“ Wie auf Bestellung klingelte in diesem Augenblick das Telefon. Sibill stand auf, ging durch beide Räume zum Schreibtisch. Berger blickte hinterher und starrte dabei auf ihre Beine. Ihr Körper wirkte auf ihn nicht weniger sexy als vor Jahren. „Ich kann ihn ja mal fragen“, hörte er sie sagen. Sie ließ den Hörer sinken und rief herüber. „Es ist Huberty, willst du mit ihm sprechen?“ Berger nickte. Sibill nahm den Anschlußstecker aus der Dose und kam mit dem Apparat ins Schlafzimmer zurück. Sie stellte das Telefon auf die Bettdecke und reichte ihm den Hörer. Dann stöpselte sie ein. „Hier ist Berger!“ 119
„Hallo, Herr Berger, Sie machen ja Geschichten! Sind Sie wieder obenauf?“ „Ja.“ „Kümmert sich Sibill auch richtig um Sie?“ „Ja.“ „Hören Sie, Herr Berger, wir konnten ja unser Gespräch nicht beenden. Und ich weiß nun gar nicht, ob Sie den Job annehmen.“ „Ich weiß es selbst noch nicht.“ Hubertys Stimme klang völlig normal. Da schien es niemals harte Worte gegeben zu haben und auch sonst keinerlei Schwierigkeiten zwischen ihnen zu bestehen. „Hören Sie, mein Lieber, Sie helfen mir da aus einer großen Verlegenheit. Und nicht nur mir, wie Sie sich denken können.“ „Ist mir klar!“ Henry Berger sah zu Sibill hin, die ihn gespannt beobachtete. Er lächelte ihr zu. „Wenn Sie es einrichten können, Herr Berger, dann kommen Sie doch um zehn Uhr zu mir ins Penthaus an den Raboisen. Da könnten wir die Modalitäten unseres Vertrages besprechen, das Ding vielleicht auch gleich zusammen aufsetzen. Wir dürfen die Sache ja nicht auf die lange Bank schieben, weil es weitergehen muß auf der Baustelle.“ „Verstehe.“ „Kommen Sie?“ „Ja.“ „Okay, Herr Berger.“ „Tschüs!“ Berger legte den Hörer auf. „Er will, daß ich heute abend um zehn Uhr zu ihm gehe wegen des Vertrages.“ „Und? Gehst du hin?“ „Ja.“ Auf einmal war ein ganz heiterer Ausdruck in ihrem Gesicht. „Weißt du eigentlich, daß ich immer gern mit dir zusammenarbeiten wollte?“ 120
Er erwiderte nichts darauf, sah sie nur an. Sie nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände. Sie sagte: „Manchmal muß man weite Umwege machen, nicht wahr?“ Und dann beugte sie sich herunter und küßte ihn. Henry Berger fuhr über die Autobahn zurück nach Ahrensburg. Es war inzwischen später Nachmittag geworden, und er hatte Zeit bis zu dem Termin an den Raboisen. Er wollte noch einmal nach Hause. Hatte er eben „nach Hause“ gedacht? Er griente vor sich hin, der Begriff hatte sich ihm zum ersten Mal untergeschoben. Er fuhr sehr langsam auf der äußeren rechten Fahrspur, denn er spürte die Nachwirkung jener kleinen Tierchen, die sich in ihm geteilt hatten. Als er über die Süderelbe kam, mußte er die Geschwindigkeit weiter drosseln. Da war noch ein Strom der oberhalb der Elbe nach Hamburg hinein wollte, auf vier Fahrspuren nebeneinander. Sie fuhren Kolonne. In der Abzweigung von Hamburg-Süd sah er den Mann zuerst. Sie mußten die Kurve noch langsamer nehmen, und das Grün des Opels neben ihm stach ihm in die Augen. Ekelhafter Laubfrosch! Sein Blick glitt von der Karosse des Wagens auf das Gesicht hinter dem Lenker; er wollte sehen, wer sich mit einer solchen beschissenen Farbe unter die Menschen wagte. Irgend etwas blitzte auf in Berger, aber zu einer Zündung führte der Funke noch nicht. Der Mann auf der Fahrbahn neben ihm schaute grinsend herüber. Nach der Abzweigung fuhr Henry Berger in nördlicher Richtung die Lübecker Strecke. Der Mann blieb neben ihm. Der Fahrzeugstau hatte sich längst aufgelöst, und der Knabe hätte abziehen können, aber er zeigte große Anhänglichkeit. Berger fuhr immer langsamer, kroch nur noch so dahin, der da neben ihm nicht anders. Das Grün des Opels tat Berger sogar in den Augenwinkeln weh. Und als Berger die Kinderei endlich satt hatte und selbst davongehen wollte, zündete der Funke in ihm, 121
und er erinnerte sich. Wieder schaute er hinüber in das Gesicht. Natürlich, die auffälligen Narben an Kinn und Wange, die von einem Motorradunfall herrührten. Er war es! Der Mann war Kriminalbeamter und hieß Bünger. In den Augen der Polizei schien Bergers Tat damals eine höchst einfache Angelegenheit gewesen zu sein. Leiche, Täter, Tatwaffe – alles zur Hand. Halt! Von Tatwaffe konnte man eigentlich nicht sprechen. Berger hatte nicht zugeschlagen damit, aber dennoch lag dieser Schürhaken bei der Verhandlung mit auf dem Richtertisch. Ja, für die Polizei war es nichts Besonderes, was Berger begangen hatte, und deshalb gaben sie den Fall wohl einem Kriminalassistenten zur selbständigen Bearbeitung. Herr Bünger ging mit Feuereifer an die Arbeit. Auf den jungen Mann wirkte der Tathergang nicht so unkompliziert. Wie kam beispielsweise der Schürhaken in Bergers Hand? Das Ding gehörte nach unten an den Kamin und nicht nach oben auf den Gang. Es gab andauernde Gespräche deswegen. Berger hätte dem jungen Beamten gern geholfen, denn er hätte es selbst gern gewußt, wie der Schürhaken in seine Hand gekommen war. Vor Gericht spielte dieser Punkt dann doch nicht die große Rolle, aber später in seiner Zelle ging Berger ein Licht auf. Der junge Kriminalbeamte hatte mit der Wanderung des Schürhakens eine gewisse Vorsätzlichkeit ins Spiel bringen wollen. Es war eben sein erster großer Fall. Und deshalb hatte er Berger wohl auch jetzt auf der Stelle wiedererkannt. Kurz vor der Ausfahrt Moorfleet trat Herr Bünger aufs Gas und setzte sich vor den BMW. Er blinkte mehrmals rechts und links, was wohl so etwas wie ein Gruß sein sollte, glitt in die Ausfahrt hinein und verschwand aus Bergers Blick. Henry Berger fuhr langsam weiter in Richtung Ahrensburg. Er war höchst nachdenklich geworden. Was 122
sollte denn die Begegnung bedeuten? Zufall – natürlich! Und er war ja auch nicht abergläubisch, aber trotzdem! Sollte dieses Zusammentreffen ein Vorzeichen sein? Aber für was? Und wenn es eins war, für was sollte er es dann nehmen, für ein schlechtes oder für ein gutes Omen?
12. Als der Bauingenieur Henry Berger in die Raboisen einbog, zeigte die Uhr am Armaturenbrett 21 Uhr 53. Er ging über die Straße auf das Haus zu und sah dabei das Wetterleuchten am Himmel. Den ganzen Tag über war es schwül gewesen, da braute sich was zusammen über ihm. Die zweiflügelige, gläserne Eingangstür des Bürohauses war um diese Zeit fest verschlossen, und so mußte er klingeln. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er eine Stimme über die Sprechanlage hörte: „Was wünschen Sie, bitte?“ Er antwortete: „Henry Berger für Doktor Alfons Huberty!“ „Einen Augenblick, bitte!“ Er blickte durch die Glastür in das Innere der Halle, die hell erleuchtet war, und sah den Wachmann mit federnden Schritten herankommen. Der Mann trat an eine Stelle der Tür, an der das Glas perforiert war, und bedeutete Berger, ihm gegenüberzutreten. „Herr Berger?“ kam die Stimme durch die Sprechlöcher hindurch. „Ja!“ „Haben Sie etwas dabei, das Sie legitimiert? Ausweis oder Führerschein?“ Toll, dachte Berger, wohin die Entwicklung ging. Das hatte es vor sechs Jahren, als er aus dem Verkehr gezogen wurde, noch nicht gegeben. Er fummelte an der 123
Jeansjacke herum und zog seinen Ausweis hervor. Den drückte er aufgeklappt gegen die Scheibe. Der Wachmann sagte höflich: „Ich bedanke mich, Herr Berger!“ Er trat zur Tür und schloß auf, und während sie zum Informationspult gingen, sagte der Mann: „Doktor Huberty erwartet Sie bereits, ich rufe nur noch mal schnell hinauf, daß Sie angekommen sind.“ Er lief hinter den Tresen und griff nach dem Telefon. Henry Berger sah sich unterdessen die Messingtafeln an, auf denen die Nutzer des Bürohauses präsentiert wurden. Er las Namen wie Heinrichsen und Jomeyer. Immer wieder tauchte der Name Huberty auf. Da gab es das Stadtbüro der Bauunternehmung Huberty, die Heide Senioren Hotel GmbH, die Senioren-Hausanteil-Treuhand-Fondsgesellschaft und das Penthaus – Doktor Alfons Huberty, privat. Inzwischen hatte der Wachmann die Verbindung hergestellt. „Doktor Huberty?“ fragte er. „Ja, bitte?“ „Hier ist der Wachdienst aus der Halle, Herr Doktor. Eben ist Herr Berger eingetroffen.“ „Sehr schön, mein Lieber.“ Da Henry Berger direkt neben dem Telefon stand, hörte er Hubertys Stimme deutlich. Der Wachmann fragte: „Kann er hinauffahren?“ Alfons Huberty: „Ja, natürlich, ich lasse den Fahrstuhl hinunter.“ Der Wachmann: „Okay, Herr Doktor, dann schicke ich ihn hoch.“ Alfons Huberty: „Danke schön, mein Lieber.“ Der Wachmann legte den Hörer auf und deutete quer durch die Halle zu den Fahrstühlen. „Der da ganz rechts, sehen Sie den? Der ist es! Ich hab’ die Tür schon aufgeschlossen. Wenn der Korb herunterkommt, können Sie einsteigen, und wenn er anhält, sind Sie schon im Penthaus.“ 124
Henry Berger schaute auf die elektrische Uhr über dem Pult. Sie zeigte 45 Sekunden vor 22 Uhr. Der Sicherheitsblödsinn in diesem Haus hatte ihm den ganzen Zeitplan durcheinandergebracht. Er nickte dem Wachmann zu und marschierte zu den Fahrstühlen. Er war noch fünf Schritte davon entfernt, da sah er den beleuchteten Korb ankommen. Er öffnete die Tür und trat hinein. Es gab nur zwei Knöpfe, von denen er den oberen drückte. Der Korb zischte ab mit ihm, daß er es in den ohnehin noch schwachen Knien spürte. Als der Lift ihn oben ausspuckte, war es Punkt 22 Uhr. Verwirrt schaute er auf die Fahrstuhltür, die mit einem zufriedenen Schmatzen ins Schloß glitt. Das hatte ihm schon immer imponiert, wenn es mit den Anschlüssen klappte. Er stand in einem vielleicht vier Quadratmeter großen Vorraum. Gegenüber dem Fahrstuhl gab es eine weitere Tür, die angelehnt war. Berger stieß sie auf und sah in eine beleuchtete Diele. Niemand erwartete ihn, niemand bat ihn einzutreten, aber von irgendwo aus der Wohnung hörte er Hubertys Stimme. Der Unternehmer sagte gerade: „So stellen die Heide Senioren Hotels mit ihrem Dreistufenprogramm einen ganz neuen Typ von Altenheimen der gehobenen Klasse dar …“ Die Diele, auf dessen Schwelle Henry Berger stand, war groß, und sie ging ohne deutliche Abgrenzung in die Wohnhalle über. Die jedoch erinnerte ihn in ihrer Größe an einen mittleren Truppenübungsplatz. Alles in diesem Penthaus schien ins Überdimensionale gesteigert. Er hätte es von Herrn Huberty aber auch nicht anders erwartet. Rechter Hand führte ein Flur zu weiteren Räumen. Berger wanderte in Richtung Wohnhalle. Huberty mußte sich mit jemand unterhalten, denn Berger hörte noch immer die Stimme des Unternehmers. Gerade sagte der: „Die Heide Senioren Hotels sind mit ihrem Einbis Drei-Zimmer-Appartements nicht nur Wohnheime für Selbstversorger. Sie sind auch Komfort-Asyl mit To125
talbetreuung und, wenn beansprucht, Krankenheime für Pflegefälle. Der Service kann anspruchsvollen Wünschen genügen. Hausdamen und Ärzte stehen bereit, um die Mieter in den Kurbadeabteilungen und Sportfitneßcentern der Wohnhotels zu betreuen …“ Berger sah den Unternehmer sehr weit hinten sitzen, schon außerhalb der Halle in einem angrenzenden Raum, wahrscheinlich dem Arbeitszimmer. Mit einem Jeep würde er die Entfernung schnell überbrücken, dachte er, aber auch so müßte er es irgendwie schaffen. Doktor Huberty sprach mit keiner Person direkt, jedenfalls bemerkte Berger außer dem Unternehmer niemand in dem Arbeitszimmer. Huberty schien auf Band zu sprechen, es klang ja auch mehr nach einer Rede, was er gerade abließ. Der alte Mann saß an seinem Schreibtisch mit dem Rücken zur Wohnhalle. Berger erspähte die weiße Präsidentenmähne über dem Rückenpolster und den linken Arm auf der Sessellehne. In der Faust hielt Huberty ein Mikrofon. Sonst sah Henry Berger eigentlich nichts. Er wandte sich noch einmal zurück zur Diele. Er blickte zur Eingangstür, durch die er gekommen war. Die stand offen. Er überlegte, ob er hingehen und sie schließen sollte. Aber warum mußte ausgerechneter höflich sein, wenn Huberty es nicht einmal für nötig befand, ihn an der Wohnungstür zu empfangen. Berger hatte jedoch schon so viele Chefs kennengelernt, daß er sich über nichts mehr wunderte. Er machte sich also auf den Weg zum Arbeitszimmer. Und noch immer klopfte der Unternehmer seine Sprüche. Henry Berger war von den Werbetönen für das Hotelprojekt nicht beeindruckter als heute morgen, da hatte er es so ähnlich ja schon einmal aus Jomeyers Mund gehört. Berger näherte sich dem Arbeitszimmer etwa bis zur Hälfte. Huberty saß unverändert und sprach in sein Mikrofon. Das Arbeitszimmer wurde von der Wohnhalle durch eine gläserne Wand abgetrennt, 126
die im Moment etwa bis zur Hälfte aufgeschoben war. Die Wand verlief in einer Schiene und konnte mittels eines Motors in ganzer Höhe und Breite auf den Dachgarten hinausgefahren werden. Berger blickte durch die geöffneten Türen der Wohnhalle hinaus. Der Dachgarten war hell erleuchtet; zwischen mannshohen Palmen sah er blühende Stauden, Dahlien und Rosen. Die Rosen hatten gerade den zweiten Trieb zum Blühen gebracht. Dieser grüne Garten hoch über der Großstadt bot einen imposanten Anblick, das mußte Berger zugeben. Am Himmel zuckten die Blitze des näher kommenden Gewitters, und Berger hörte den Donner grollen. In diesem Augenblick unterbrach Alfons Huberty sein Diktat und sprach Henry Berger zum ersten Mal direkt an. Er sagte: „Sie entschuldigen mich wohl noch einen Augenblick, ich bin gleich fertig. Legen Sie doch mal ab inzwischen! Den Vertrag habe ich übrigens schon herausgesucht. Leider kann Jomeyer nicht dabeisein, hatte ganz plötzlich einen anderen Termin.“ Berger besaß nichts zum Ablegen außer seinem Jeansanzug, und den wollte er eigentlich anbehalten. Verwirrt schaute er an sich herab, und noch ehe er etwas erwidern konnte, war Huberty schon wieder mitten im Diktat. „Zur Unterstützung meines Programms habe ich die Vereinigung ‚Altenhilfe in privater Hand e. V.‘ ins Leben gerufen. Ihre Bedeutung läßt sich wohl am besten an ihren Mitgliedern messen, die durch ihre Partnerschaft unsere Ziele fördern. Zu ihnen gehören unter anderen ein Landesministerpräsident und nicht weniger als zwei Exkanzler der Bundesrepublik Deutschland …“ Henry Berger hatte ein paar Schritte in Richtung des Dachgartens gemacht. Das Gewitter war bedrohlich näher gerückt, inzwischen zuckten die Blitze über der Außenalster. Und dann unterbrach sich der Unternehmer erneut, diesmal sagte er zu Berger: „Machen Sie uns doch 127
inzwischen was zu trinken! Sie finden wohl die Anrichte. Ich nehme Pernod, ein Drittel Wasser …“ Henry Berger fand die Anrichte und auch den Pernod. Er tat den Schnaps in zwei Gläser, schüttete geeistes Wasser dazu, das er in der Kühlbox entdeckte. Als er damit fertig war und sich umdrehte, diktierte der alte Huberty immer noch. Berger ging, an seinem Glas nippend und das für Huberty vor sich hin tragend, zum Dachgarten, den er von der Wohnhalle aus betrat. Schräg hinter sich hörte er den Unternehmer reden. Berger schlenderte um den Kamin herum, in dem die Reste eines Feuers brannten, und trat an die Brüstung des Dachgartens. Es war ein überwältigender Anblick! Blitz auf Blitz fuhren jetzt hernieder. In immer kürzeren Abständen kamen der dicke Bauch der Alster und die Harvestehuder Gegend ins Licht herein und traten in die Dunkelheit zurück. Das Rollen des Donners war sehr nah. Und es begannen die ersten Tropfen zu fallen. Berger ließ das Wasser über sein Gesicht rinnen. Das tat gut! Dann ging er langsam zum Penthaus zurück. Auch vom Arbeitszimmer des Unternehmers führte eine Tür ins Freie. Dieser Tür näherte sich Berger. Er sah das Zimmer von der anderen Seite – den Schreibtisch, den Lehnstuhl dahinter und darin Alfons Huberty. Seine linke Hand mit dem Mikrofon ruhte auf der Armlehne. Henry Berger glaubte auch zu sehen, daß ihm der alte Mann freundlich zulächelte. Gerade sagte er: „Mein Appell richtet sich an Ihr Konsortium, meine Herren! Geben Sie der Bauunternehmung Huberty die fünfundvierzig Millionen Mark als Zwischenfinanzierung für die neu entstehenden Seniorenhotels. Geben Sie uns die Möglichkeit, zum Wohle alter Menschen auch weiterhin tätig zu sein …“ Henry Berger blieb vor dem geschlossenen Flügel der Terrassentür stehen, blickte ins Arbeitszimmer. Alfons Huberty lächelte ihm noch immer zu, und Berger lächelte zurück. Eine ganze Weile lang starrten sie sich so ins Ge128
sicht, der sehr alte und der jüngere Mann, und dann war es Henry Berger auf einmal, als ob eine eiskalte Hand nach seiner Kehle griff und langsam zudrückte. Er atmete durch den Mund rasch ein und aus, beinahe wie ein Hund hechelnd, der lange gelaufen war. Er stand breitbeinig da und glotzte durch die Scheibe zum Schreibtisch. Dann merkte er, wie etwas Nasses über seine Hände lief und auf die Schuhe zu tropfen begann. Das war der Pernod aus den Gläsern, die er noch immer trug. Er verstand nichts mehr. Der Unternehmer Doktor Alfons Huberty war tot! Er saß hinter dem Schreibtisch, schaute Henry Berger aus großen, leeren Augen an, lächelte auch freundlich, aber er lebte nicht mehr! Und natürlich redete er auch nicht, hatte überhaupt nicht geredet, seit Berger sich in dem Penthaus aufhielt. Seine Stimme kam aus dem Lautsprecher des Tonbandgerätes, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Gerade meinte er: „Kapital in sich ist tot meine Herren! Geben Sie ihm Leben, indem Sie in der Bauunternehmung Huberty investieren!“ Doktor Alfons Huberty war nun auch auf dem Tonband am Ende angelangt. Die Bandspulen drehten sich zwar weiter, aber sie gaben keine Laute mehr her. Das Gewitter mit den Blitzen und dem donnernden Getöse kam Henry Berger auf einmal wie die Untermalung in einer abscheulichen Theateraufführung vor. Er machte die zwei oder drei Schritte zum offenen Flügel der Terrassentür und ging langsam in das Arbeitszimmer hinein. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen. Er beugte sich vor, stellte die beiden Gläser auf den Rand der Platte – hatte wohl auch ein kleines, entschuldigendes Lächeln dabei, es war eben alles ein bißchen töricht – und kam wieder hoch. Und die ganze Zeit über verloren sich die beiden nicht aus den Augen. Doktor Alfons Huberty war keines natürlichen Todes 129
gestorben, wie es so hübsch hieß. Da kam nicht der Sensenmann und hielt ihm das Herz auf sanfte Tour an, während er seiner mitreißenden Tonbandrede lauschte. Nein, das war ein ganz anderer gewesen, der dem alten Mann hinterrücks eins über den Schädel gegeben hatte. Berger sah die Blutspur auf der rechten Halsseite. Da hatte es heruntergetropft und das Sesselpolster versaut. Das Gesicht drückte nichts aus von dem Paukenschlag, mit dem der alte Gauner hinübergegangen war. Er wirkte höchst friedfertig, und dann haftete ja auch noch das Lächeln in seinen Falten. Und diese lächelnde Maske, die würde nun auch darauf bleiben, zwar nicht bis in alle Ewigkeit, aber doch noch eine ganze Weile. Und das war ja auch gar kein schwieriges Geschäft, Berger wußte doch, wie es zuging. Töten ist so leicht, dachte er. Sie hatten den alten Mann erschlagen, ihn in den Sessel gesetzt und das Mikrofon in die Hand gedrückt. Dann brauchten sie nur noch auf Henry Berger zu warten.
Auf einmal weiß er, welche Rolle ihm in dieser Liebhaberaufführung zugedacht ist. Es ist die Hauptrolle! Er soll den Mörder spielen! Er kommt 22 Uhr vor dem Geschäftshaus an, pünktlich wie immer – der Gute! Er nennt seinen Namen, zeigt dem Wachmann den Ausweis. Kann sich ein Mörder besser legitimieren? Dann fährt er mit dem Fahrstuhl hinauf, betritt das Penthaus durch den einzig möglichen Zugang. Drinnen läuft ein Tonband. Das soll ihn wohl eine Weile hinhalten, damit er nicht sofort wieder hinunterfährt in die Halle und schreit: Da oben sitzt ein Toter! Nein, ein bißchen Anlaufzeit muß schon sein. Ein kleiner Tratsch, ein kleiner Streit, ein kleiner Schlag! Henrys Schlag natürlich! Hat er nicht schon heute vormittag vor dem armen Alfons gestanden mit der Monierzange in der Hand? Haben sich nicht alle entsetzt über Henry mit … diesem Schürhaken! Es gibt ja auch 130
Dinge, die sind treu! Man will sie gar nicht, aber sie bleiben bei einem. Dieser Schürhaken wird ihn wohl sein Leben lang begleiten. Sie hatten es kühl berechnet, überlegte Berger, während er noch immer den toten Mann anschaute. Sie hatten ihn in einer Falle, die hatte schnapp gemacht. In einer Mausefalle! In diesem Augenblick klingelte es an der Wohnungstür. Henry Berger machte beinahe einen Satz, so sehr erschrak er. Fliehen – dachte er, aber wohin? Da gab es nur den Weg über den Lift, und von dort kamen sie ja gerade. Wieder klingelte es. Das war doch himmelschreiender Blödsinn! Die Tür stand offen! Warum traten die Leute denn nicht ein? Erneutes Schrillen der Wohnungsklingel. Aus und vorbei, dachte Berger! Immer Blick in Blick mit Huberty, drückte Berger das Tonbandgerät auf „Aus“, dann auf schnellen Vorlauf und wieder auf „Stop“. Er nahm die volle Spule vom Teller und steckte sie ein. Warum er es tat, hätte er nicht zu sagen gewußt, es mußte eine rein impulsive Handlung sein. Aus und vorbei, Herr Huberty, das wär’ es wohl gewesen! Er beendete seine stumme Zwiesprache mit dem alten und nun sehr einsamen Herrn, sie lächelten sich auch noch einmal zu, und dann machte sich Henry auf den Weg durch Arbeitszimmer und Wohnhalle, um den Leuten entgegenzutreten. Die Klingel schrillte übrigens schon eine Weile nicht mehr; das fiel ihm auf, während er durch das Penthaus ging. Aber als er dann in die Diele kam, erwartete ihn eine neue Überraschung. Die Tür stand nicht offen! Jemand hatte sie sanft ins Schloß gedrückt. Er selbst vielleicht? Nein, nur nicht durchdrehen jetzt, ganz langsam und behutsam! Er hatte sich auf der Diele noch einmal umgedreht und auf die offene Tür geschaut. Soll ich sie zumachen, hatte er sich 131
gefragt, soll ich allein hier höflich … Der Wachmann! Der war also nach ihm hochgefahren und hatte hinter ihm die Tür zugemacht? Der Wachmann nicht! Die Tür war abgeriegelt! Von innen zugeriegelt! Der Mörder mußte noch mit ihm im Penthaus sein, war es die ganze Zeit über gewesen und hatte jeden seiner Schritte überwacht. In der Wohnhalle, auf dem Dachgarten, im Arbeitszimmer! Stand er jetzt auch hinter ihm? Henry Berger spürte das unangenehme Kribbeln in der Nähe seines Halswirbels, und so lächerlich es klingen mag, er wagte nicht, sich umzudrehen. Er stand wie erstarrt, den Blick auf die Tür gerichtet. Er hörte nun auch wieder Geräusche; wie durch einen Wattevorhang hörte er sie, während Bilder seiner Erinnerung in seinem Schädel auftauchten. Viele Stimmen waren auf einmal in dem engen Vorraum zwischen Fahrstuhl und Penthaus. Dann schlug jemand heftig gegen die Tür. Dann rief eine Stimme: „Machen Sie auf! Hier spricht die Polizei! Wir wissen, daß Sie da drinnen sind. Treten Sie an die Tür heran und schieben Sie den Riegel zurück! Treten Sie an die Tür heran!“ Und die Bilder seiner Erinnerung rasten!
„Angeklagter, wollen Sie nun mal herantreten?“ Es ist ein freundlicher Vormittag, Frühlingstag, sogar die Sonne guckt neugierig zum Fenster herein. Alle sind guter Dinge, nur Henry nicht. Der Vorsitzende ist ein netter alter Herr, rückt die Bücher, lächelt ihm zu. Auch der Staatsanwalt ist nicht bärbeißig, ganz anders, als Henry sich das gedacht hat. „Wollen Sie nun mal eben an den Tisch herantreten, Angeklagter? Wir möchten von Ihnen ein bißchen was zur Person wissen. Dann erzählen Sie doch mal!“ Der Angeklagte: „Ich heiße Henry Berger, geboren 132
fünften August zweiunddreißig in Hamburg. Vater Seemann, Mutter Hausfrau. Ja, was soll ich … Also – Schule, dann Abitur im Jahre fünfzig, Studium an der TH, dann Diplomingenieur. Verschiedene Arbeitsstellen und ab neunundfünfzig bei der ‚Altonaer Hoch- und Tiefbaugesellschaft‘.“ Der Richter: „Und in diesem Arbeitsverhältnis blieben Sie ununterbrochen bis jetzt, ja, ich sehe, also doch immerhin zehn Jahre. Womit haben Sie sich denn beschäftigt?“ Der Angeklagte: „Bauleitungen –“ Der Richter: „Ja – ähm. Aus den Akten sehe ich, sie waren oft im Ausland. Wo denn überall?“ Der Angeklagte: „Afrika. Südamerika auch, Argentinien, aber hauptsächlich in Afrika.“ Der Richter: „Und womit haben Sie sich dort beschäftigt?“ Der Angeklagte: „Auch Bauleitungen, ich habe immer nur gebaut.“ Der Richter: „Was waren denn das für Bauten, Angeklagter, können Sie uns darüber etwas sagen?“ Der Angeklagte: „Einmal haben wir im Tschad eine Bierbrauerei gebaut. Ein Geschenk des Herrn Bundespräsidenten Heinrich Lübke.“ Bewegung im Saal. Lautes Lachen. Lärmen. Der Vorsitzende pocht auf den Richtertisch. Noch einmal schlugen sie von draußen gegen die Tür. Dann eine männliche Stimme: „Also los, Männer, zu zweit auf los. Los!“ Zwei Körper prallten gegen die Tür, es gab einen mächtigen Bums, aber das Türblatt hielt stand. Die männliche Stimme: „Noch einmal!“ Das gleiche Spiel! Und wieder hielt die Tür! 133
„Vielleicht ist er längst verschwunden“, meinte eine andere Männerstimme. „Kann er nicht“, erwiderte eine weibliche Stimme, die Berger erkannte. Es war die Stimme der Ärztin, Alfons Hubertys Tochter. „Für ihn gibt es nur den einen Zugang, diesen hier über den Fahrstuhl. Er muß drinnen sein!“ Sie fragte gar nicht nach ihrem Vater, die kleine Tochter. Konnte nicht auch Huberty hergegangen sein und den Riegel vorgeschoben haben? Konnte nicht er, Henry nämlich, drinnen auf dem Boden liegen, tot, und Herr Alfons Huberty lebte? Mußte er es wieder sein, der in der Falle steckte? In der Mausefalle!
Der Richter: „Angeklagter, wir wollen nun mal etwas über den Tathergang wissen. Kamen Sie denn überraschend nach Hause?“ Der Angeklagte: „Nein, ich denke nicht.“ Der Richter: „Haben Sie vorher Bescheid gegeben, einen Brief geschrieben?“ Der Angeklagte: „Wir sind immer schlechte Briefschreiber gewesen, alle in der Familie.“ Bewegung und Lachen im Saal. Der Richter pocht auf den Tisch. Der Richter: „Nun mal weiter, Angeklagter, wie war es denn nun?“ Der Angeklagte: „Na, ich habe die eben erwischt, nicht wahr?“ Der Richter: „Erwischt? Wobei?“ Der Angeklagte: „Na, dabei! Sie wissen schon!“ Der Richter: „Hören Sie, Angeklagter, so geht das nicht! Sie müssen zusammenhängend reden, damit sich das Gericht ein Bild machen kann. Sie sind doch ein gebildeter Mann! Nun aber mal los!“ Der Angeklagte: „Ich kam nach Hause, stieg die 134
Treppen hinauf, ging in das Zimmer. Und da sah ich sie liegen. Ich stellte meinen Koffer ab und sagte: Entschuldigt bitte, das konnte ich ja nicht wissen.“ Der Richter: „Waren Sie denn nicht empört über das, was Sie da sahen?“ Der Angeklagte: „Nein, überhaupt nicht.“ Der Richter: „Angeklagter, Sie sind bisher bei der Wahrheit geblieben, das hat einen ganz guten Eindruck gemacht. Wollen Sie nicht so ehrlich und offen fortfahren?“ Der Angeklagte: „Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht empört, Herr Vorsitzender! Da noch nicht! Ich habe sogar gelacht. Und bei mir habe ich gedacht, als ich Fräulein Sibill Jähnisch im Bett liegen sah: Siehst du, jetzt hat es dich auch mal erwischt! Nein, ich war ganz heiter. Ich dachte ja, ich sei ein besonders großzügiger und weltoffener Mensch. Ich habe den beiden gesagt, daß ich hinunter wollte an den Kamin und einen Kleinen trinken. Sie könnten ja nachkommen, wenn sie wollten, und auch einen Kleinen nehmen. Ich ging dann hinunter und trank etwas.“ Der Richter: „Laut Befund der Blutuntersuchung hatten Sie zwei-Komma-drei Promille.“ Der Angeklagte: „Ich habe die Flasche wohl gleich ausgetrunken.“ Der Richter: „Und dann?“ Der Angeklagte: „Ich nahm … den Schürhaken und stocherte im Kamin …“ Der Richter: „Zu dem Schürhaken kommen wir noch. Vorher haben Sie sich doch alle drei am Kamin recht friedfertig unterhalten?“ Der Angeklagte: „Ja, so kann man sagen. Wir hatten sogar Spaß miteinander. Wir amüsierten uns über Herrn 135
Lübkes Bierfabrik im afrikanischen Urwald.“ Der Richter: „Dann war die Situation doch eigentlich entschärft. Wie kam es denn nun zu dem Auftritt mit dem Schürhaken?“ Der Angeklagte: „Das weiß ich nicht.“ Der Richter: „Sie waren dann ja plötzlich wieder auf dem Gang, nicht wahr?“ Der Angeklagte: „Ja, auf dem Gang oben. Und alle Türen standen offen. Plötzlich. Und ich trieb den Mann vor mir her. Bis zu dieser Treppe …“ Henry Berger stand vor der abgesperrten Tür, hinter der es rumorte. Er brauchte nur hinzugehen und den Riegel zurückziehen. Und das würde er zu guter Letzt tun, weil es das Anständigste und irgendwie Würdigste war. Nur eine Sekunde noch! Er wußte auch, wie es weiterging, er hatte es ja alles schon erlebt. Wieviel würden sie ihm diesmal geben? Bei vorsätzlichem Mord? Lebenslänglich – natürlich, die Todesstrafe war ja leider abgeschafft. Draußen sagte eine männliche Stimme: „Wir werden die Tür aufschießen, es bleibt nichts anderes übrig.“ Drinnen streckte Henry Berger die Hand aus, um den Riegel aufzuziehen. Draußen sagte die männliche Stimme: „Können Sie uns die Höhe angeben, Fräulein Doktor, in der die Verriegelung angebracht ist?“ Berger sah die öden Polizistengesichter vor sich. Sie hatten ihren Mörder gefaßt. Nein –! Er wendete sich um, hastete mit langen Sätzen über die Diele und den Gang entlang. Er verschwand hinter einer Tür, schmiß sie ins Schloß und lehnte sich keuchend dagegen. In diesem Augenblick dröhnten zwei Schüsse durch das Haus. In dem Zimmer brannte kein 136
Licht, aber er brauchte keins. Durch das Fenster kam genügend Helligkeit von den Leuchtreklamen aus der Mönckebergstraße und vom Hauptbahnhof. Er lief zum Fenster, öffnete es, sah hinunter. Eine platte Hauswand, vierzig Meter abwärts, kein Vorsprung, kein Balkon. Toll bauten die heutzutage! Aluminium und Glas, glatte Flächen, funktionsschön! Er wendete sich ins Zimmer zurück, und da sah er den Hund! Inzwischen hatten sich Henrys Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er Gegenstände wahrnehmen konnte. Der Hund lag mitten auf dem Bett, den Kopf auf den Pfoten, und blickte ihn aufmerksam an. Henry hörte sein Herz im Hals schlagen, in den Armen und in den Beinen hörte er es, überall! Sein Herz war ein kleiner Vogel, der entsetzt in seinem Körper umherflatterte. Der Blick glitt langsam von dem Hund fort, nur keine ruckartigen Bewegungen, dachte er. Die Giraffe stand auf dem Schrank, berührte mit ihrem Kopf auf dem langen Hals die Zimmerdecke. Die Puppen überall und ein Dutzend anderer Stofftiere! Henry war in ein Kinderzimmer geraten. Hatte Huberty Kinder? Ja, eine Tochter! Es mußte das Zimmer ihrer Jugend sein. Henry lief zu einer Tür, die in einen Nebenraum führte. Dort standen hauptsächlich Schränke, weiterhin eine Liege und ein mannshoher Spiegel. Eine weitere Tür ging ins Badezimmer ab. Die Wanne, das Waschbecken, das Bidet – die Duschkabine. Mit einem Satz war Henry an ihr dran. Als der Plastvorhang hinter ihm zuglitt, war dieses Gefühl wieder da, das er weit über tausendmal erlebt hatte.
Der abendliche Einschluß! Die eisenbeschlagenen Absätze der Wärter auf dem Steinfußboden, die vier Schritte zum Fenster und zurück, die trübe Funzel, die noch wenige Minuten brennen wird, die Klopfgeräusche in den 137
Heizungsrohren, dieser Geruch – und diese Enge, an die er sich niemals gewöhnen kann. Vier Jahre lang beim letzten Mal. Und nun? Für wie lange … Henry hörte, wie die Tür geöffnet wurde; nicht dieselbe, die er benutzt hatte, sondern die gegenüberliegende. Gleich darauf flammte Licht auf. Absätze klapperten über die Fliesen, Polizistenstiefel! Die Stiefel gingen in Richtung des Zimmers mit den Stofftieren. Henry lauschte. Da flatterte kein kleiner Vogel mehr entsetzt in ihm herum, er hörte keinen Herzschlag mehr, da war nur noch eine ungeheure Leere. Plötzlich blieben die Stiefel, die sich schon entfernt hatten, stehen. Dann kamen sie zurück, kamen näher, immer näher. Direkt vor dem Plastvorhang der Duschkabine hielten sie an.
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil! Angeklagter, Sie werden schuldig befunden, den Unternehmer Alfons Huberty vorsätzlich ermordet zu haben. Das Gericht verurteilt Sie … lebenslänglich …“ Lebenslänglich … lebenslänglich … Der Plastvorhang glitt langsam beiseite. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich in die Augen. Beide erkannten sie die Angst im Gesicht des anderen. Blitzartig wußten sie auch, daß sie nur Werkzeuge waren. Henry, der den Polizisten erwartet hatte, zeigte sich gefaßter. Er zielte auf die Kinnspitze des jungen Mannes und schlug zu. Er legte seine ganze Verzweiflung in den Schlag. Marion Huberty stand schon eine Weile lang vor ihrem toten Vater; sie befand sich etwa auf dem Fleck, an dem noch vor wenigen Minuten Henry Berger zur Salzsäule erstarrt war. Von hier konnte sie alles gut überblicken. Wenn sie ein wenig zur Seite ging, würde sie die Wunde erkennen, und das mußte nicht sein! Von ihrer 138
Position aus sah der alte Mann gut aus, er lächelte ja sogar. In der Hand hielt er das Mikrofon, aber auf dem Uhergerät fehlte das Band. Das war dem Anführer des Streifenwagens noch gar nicht aufgefallen. Der hatte nur Augen für sie, glotzte sie unentwegt an. Hatte so einen grüblerischen Zug im Gesicht. Nein, Herr Polizist, Marion verhielt sich richtig! Marion befand sich in einer Schocksituation! Nur in schlechten Theaterstücken brachen die Töchter über der Leiche des Vaters zusammen und schrien vor Entsetzen und schluchzten. In der Wirklichkeit verstummte man bei so einem Anblick. Nein, das war schon recht. Nur etwas stimmte bei ihr eben auch nicht, aber das konnte der Blödian ja nicht sehen. Es gab sie zweimal! Zwei Marions standen im Raum, die eine vor dem Schreibtisch und die andere der ersten gegenüber, und die paßte auf, daß sich die erste Marion richtig verhielt. Der Mann vom Streifenwagen sagte unterdessen ins Telefon: „Raboisen, ja! Haben Sie die Nummer? Es ist das Penthaus über dem Bürogebäude! Die tot aufgefundene Person ist der Bauunternehmer Doktor Alfons Huberty. Schicken Sie uns, wenn möglich, noch einen Streifenwagen, und verständigen Sie die Mordkommission.“ Er legte den Hörer auf. In diesem Moment kam ein weiterer Beamter aus der Wohnhalle. Der erklärte: „Nichts! Muß weg sein!“ Der Streifenwagenführer wandte sich Marion zu. „Sagten Sie nicht, daß dies unmöglich sei, Fräulein Doktor?“ Marion erwiderte kühl: „Dahinten auf dem Dachgarten finden Sie einen Aufbau mit einer Tür, die ins Bürogebäude hinunterführt. Ein sogenannter Fluchtweg. Wenn er die Tür nicht aufbekommen hat, muß er noch im Penthaus sein.“ Sie deutete hinter sich ins Unbestimmte. „Irgendwo da! Sie werden es schon finden.“ Die beiden Beamten ließen Marion mit ihrem Vater 139
allein. Sie sah die Blässe des Todes auf seinem Gesicht und inmitten dieser Weiße, wie eingefroren, das Lächeln. Er hatte also die Lüge mit hinübergenommen, denn dieser gütig lächelnde Mensch, das war nicht Alfons Huberty. Niemals war er gütig gewesen! Sie erinnerte sich genau an ihre Kinderzeit. In München damals noch. Er hat nicht ihren Kopf genommen, sanft herangedrückt an sich und gestreichelt. Niemals! Er hat nie gespielt, kaum mit ihr gesprochen. Er war sehr viel in seinem Leben. Der Baulöwe und der Doktor honoris causa. Der Bauernbursche aus Niederbayern auch, der sich von unten heraufgearbeitet hatte. Viele Seiten hatte er, auch schillernde, der Doktor Alfons Huberty; sehr vieles war er gewesen, nur eines eben nicht – ein Vater! Und ein Ehemann auch nicht! Sie dachte an ihre Mutter, diese freundliche Frau aus dem niedlichen kleinen Schwabach. Hoffnungslos mußte sie diesem Koloß von Ehemann ausgeliefert gewesen sein. Marion hat auch ihre Mutter als Tote gesehen. Sie ist hingefahren in die Anstalt und hat lange vor ihrer Bahre gestanden. Da gab es kein Lächeln auf jenem letzten Gesicht, und trotzdem! Nach allem, was sie hatte durchmachen müssen, sie hatte einen besseren Tod! „Siehst du, Mama“, flüsterte sie, „er ist schlechter umgekommen als du!“ Sie wandte sich ab. Und weil sie die Wunde am Kopf ihres Vaters nicht sehen wollte, nahm sie den Weg über den Dachgarten und betrat die Wohnhalle durch die Terrassentür. Als sie in Richtung Diele weiterging, drang ihr zum ersten Mal ins Bewußtsein, daß dieser schöne Fleck hoch über der Stadt von nun an ihr allein gehörte. Und das Bürogebäude dazu! Das machte sie zu einer reichen Frau! Was Jürgen wohl sagen würde, wenn er es erfuhr. Sie kam über die Diele und betrat den Flur, der zu ihrem Zimmer führte. Sie war noch etwa drei Schritte von der Tür entfernt, als die geöffnet wurde und der dritte 140
Streifenwagenbeamte heraustrat. Sie sah vorerst nur dessen Rücken, aber dann wandte sich der Mann um, und da erkannte sie ihn. Es war nicht der Streifenwagenbeamte, sondern der Mann, den sie zuerst in der Hotelhalle gesehen und einen Tag später bei seinem Malariaanfall sogar selbst untersucht hatte. Der Mann, von dem sie viel wußte – Henry Berger! Sie wollte sich nach rückwärts wenden und davonlaufen, aber sie stand wie festgewurzelt. Sie wollte losschreien, denn die beiden anderen Beamten waren ja nicht weit, nur eben auf dem Dachgarten, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie starrte ihn nur an. Und er sie. Er trug eine Polizistenuniform, und in seiner Faust hielt er einen Revolver. Ehe sie sich fassen konnte, fühlte sie sich unmißverständlich gepackt und herumgedreht. Und dann spürte sie den Lauf des Revolvers in ihrem Rücken. Zum ersten Mal in dieser harten letzten Stunde empfand sie so etwas wie Schwäche. Ihre Knie sanken ein. Aber der Mann hinter ihr hielt sie mit seinem Griff auf den Beinen und schob sie vorwärts. Sie sah den Weg bis zur Diele wie durch einen Gazevorhang. Es schien alles nicht wirklich zu sein. Und dann fühlte sie die Nässe auf ihrem Gesicht, das waren Tränen, die nun hemmungslos liefen. „Verzeih mir, Papa“, schluchzte sie. „Ich hab’s nicht so gemeint. Ich bin nicht gefühllos. Und nicht kalt. Verzeih mir, Papa, ich will nicht wieder bös sein zu dir. Nie wieder!“ Inzwischen befanden sie sich auf der Diele und auch gleich an der zerschossenen Wohnungstür. Da wurde die aufgestoßen, und noch mehr Polizisten drängten herein. Das waren die Beamten des über Telefon herbeigerufenen zweiten Peterwagens. Marion dachte, daß es nun ausgestanden sei, aber die Männer erkannten ihren falschen Kollegen nicht. Und Marion spürte, wie der Druck des Revolvers in ihrem Rücken immer härter wurde. Sie wollte schreien, trotz allem, aber sie konnte 141
nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie vor Entsetzen stumm. „Was ist mit ihr?“ fragte ein Polizist. „Sie hat einen Schock“, erwiderte Berger. „Sie ist die Tochter des Toten.“ „Ich helfe Ihnen, bringen wir sie zusammen hinunter.“ „Vielen Dank, ich schaff es allein.“ Marion fühlte sich in den Fahrstuhl geschoben, und in atemberaubender Fahrt ging es hinunter. Als Berger die Lifttür aufstieß, sah sie den Wachmann. Er stand mitten in der Halle und blickte ihnen entgegen. Der Mann schien fassungslos zu sein, denn alles war ihm durcheinandergeraten; sogar die Eingangstüren auf die Raboisen hinaus standen sperrangelweit offen. Marion hatte sich inzwischen soweit gefaßt, daß sie dem Mann mit den Augen ein Zeichen gab. Aber er verstand sie nicht, und natürlich erkannte auch er Berger nicht, der Ochse! „Was haben Sie denn, Fräulein Doktor?“ fragte er. „Sie hat einen Schock“, erwiderte Berger für sie. „Es tut mir so leid, Fräulein Doktor.“ Der Wachmann stotterte beinahe. Sie gingen auf die Eingangstür zu. Ein weiter Weg! Marion hatte viel über Geiselnahmen gehört, dieses Geschäft war in Mode, war „in“! Die Kinder spielten es schon auf der Straße! Sie hatte Berichte in den Zeitungen gelesen und Bilder im Fernsehen gesehen. Das war alles graue Theorie! Ein Nichts! Man mußte den Lauf eines Revolvers einmal in seinem Rücken gespürt haben! Dann begriff man: Terror und Gewalt sind eindrucksvolle Argumente. Jedermann versteht sie! Und wirklich leicht zu handhaben! Jeder Trottel kann es!
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13. Mit einem Ruck saß Hannah Mewis aufrecht im Bett. Die zweite Bewegung ging zu dem Rautenstein an ihrer rechten Hand. Das war ein Reflex. Als sie den Brillanten zwischen den Fingern spürte, fühlte sie sich beruhigt. Noch wußte Hannah nicht, wo sie sich befand. Sie sah den breiten Streifen Mondlicht neben sich auf dem Boden, aber wo zum Donner stand dieses Bett? Sie hielt ihre Uhr in den Lichtschein: kurz vor halb zwölf! Sie hatte nur etwa eine Viertelstunde geschlafen, dies jedoch sehr tief. Sie wußte, daß irgend etwas in ihrer Umgebung verändert war. Aber was? Langsam kam die Erinnerung. Das Bett stand in Henry Bergers Haus. Das war der junge Mann, der sie aufgefordert hatte, doch für ein paar Tage dazubleiben, und sie hatte die Einladung angenommen. Eigentlich gegen jede Regel, ganz spontan. Einer dieser Entschlüsse, zu dem einsame Menschen manchmal gelangen. Was war denn anders in ihrer Umgebung? Und wo genau? Im Zimmer selbst oder weiter ab, unten in der Halle vielleicht? War Henry Berger nur nach Hause gekommen, also alles ganz harmlos? Sie saß aufrecht im Bett, starrte in das Halbdunkel und horchte in sich hinein. Und da hörte sie plötzlich den Gesang! Es waren Frauenstimmen, die sich in einer Art Rede und Gegenrede singend unterhielten. Die Melodie bestand nur aus wenigen Tönen, aber es war eine schöne, melancholische Weise. Auf Hannahs Gesicht entstand ein Lächeln der Erinnerung, sie kannte diesen Singsang so gut, daß sie ihn mitsummen konnte. Sie legte sich in die Kissen zurück, zog die Decke bis unter das Kinn und schaute über sich zum Fenster und in das Mondlicht hinein. Sie sah die Frauen den gewundenen Pfad vom Fluß heraufkommen. Der führte zu jener Zeit noch so klares Wasser, daß sie ihre Wäsche darin wuschen. Sie 143
schleppten die nassen Stücke in Bastkörben, und manche hatten Säuglinge dabei, die sie, in Tücher gewickelt, auf dem Rücken trugen. Alles an diesen jungen Indiofrauen war irgendwie gewickelt und gebunden. Fast schien es Hannah, als ob sie den Gebrauch von Nadel und Faden gar nicht kannten. Und während sie nun den Weg heraufkamen und ihre bloßen Beine durch das hohe Gras strichen, stimmten sie diesen Wechselgesang an. Eine Weise, die einem das Herz auftat. So rührend schön! Hannah wußte, daß dieses Bild nur einen Teil der Wahrheit zeigte. Sie stand nämlich oberhalb des gewundenen Pfades und blickte den Indiofrauen entgegen. Hannah brauchte nur den Kopf nach links zu wenden, um das Lodo zu sehen. Warum tat sie es denn nicht? Warum versagte sie sich den Blick auf die Heimstatt der Indios, dieser Anhäufung von Wellpappe und Blech vor den Toren der Stadt? Und Hannah wußte doch ebensogut, daß die jungen Frauen nicht barfuß gingen, um das Sittenbild vollkommen zu machen. Sondern sie gingen so, weil sie keine Schuhe besaßen. Ohne Schuhe aber durften sie nicht hinein nach Mexiko-City, und so hausten sie am Rande der Stadt. Weshalb begnügte sich Hannah also mit diesem schönen Ausschnitt und nahm die Lüge bewußt in Kauf? Weshalb? Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß sich selbst das Grauen abnutzt. Hannah wußte dies genau, denn sie hatte selber einmal durch das Tor der Hölle geschaut. Viel später fiel ihr auf, daß sie etwas dazugelernt hatte. Sie konnte ihren Blick plötzlich gezielt dorthin lenken, wohin sie ihn haben wollte. Nicht daß sie unempfindlich geworden wäre gegenüber dem Kummer anderer. Im Gegenteil! Aber sie wußte nun, daß es für das Elend, das man in sich verarbeiten kann, ein Maß gibt. Man muß sich auch im Mitleiden beschränken können. Hannah lag ausgestreckt in dem fremden Bett. Sie lä144
chelte, weil sie sich an dem schönen Bild erfreute. Die jungen Indiofrauen kamen also den gewundenen Pfad vom Fluß herauf, und sie sangen dabei diese wunderschöne Weise … Es stimmt nicht, daß Gehörlose überhaupt nicht über Geräusche verfügen. In Hannah Rückwärts war ein ganzes Tonstudio, das sie nach Belieben an- und ausknipsen konnte. In ihrem Archiv befanden sich Aufnahmen von Bach, die Orgelmusiken vielleicht, oder Mozart. Sie hatte besonders die Klavierkonzerte geliebt. Aber es gab auch ganz profane Geräusche, einen Bauernhof zum Beispiel oder ein Autorennen. Wenn Hannah Rückwärts an einem frostig klaren Wintertag spazierenging und die Krähen über sich nach Hause fliegen sah und wenn die dabei die Schnäbel aufklappten, dann hörte sie sie schreien: ‚Bleibt kalt, bleibt kalt.‘ Nur mit modernen Geräuschen hatte Hannah ihren Kummer. Wenn sie die Abgase einer startenden Düsenmaschine sah, dann hörte sie etwa das hysterische Pfeifen eines kochenden Wasserkessels. Sie hatte ernsthafte Bedenken, daß dieses alberne Wasserkesselgetute auch nur im entferntesten dem erhabenen und schönen Rauschen einer aufsteigenden Düsenmaschine nahekam. Nur, es war nicht Hannahs Schuld! Denn in jenem Jahr, als man ihr so heftig gegen den Kopf schlug, daß sie darüber ihr Gehör verlor, hatte es Düsenmaschinen noch nicht gegeben. Sehr viel besser hingegen verstand sie sich auf die Egmont-Ouvertüre. Sie hatte sich von ihrem Lübecker Theaterpublikum in der Rolle des Klärchens verabschiedet, und diese Aufführung wurde von der Beethovenschen Musik begleitet. Abend für Abend stand sie damals auf dem kleinen, noch verdunkelten niederländischen Marktplatz, vor sich den schönen roten Samtvorhang und dahinter das Raunen des Publikums und das Einstimmen der Instrumente. Dann wurde es leiser. Dann 145
trat große Stille ein. Und dann füllte Beethovens Musik den Raum und drang bis in ihr Herz. Als Hannah 1931 mit dem Klärchen ihre Theaterkarriere beendete, war sie dreiundzwanzig Jahre alt. Eine Karriere, die so vielversprechend begann und sie über das Theater in der Josephstadt und München führte. Immer auf der Suche nach der Penthesilea oder zumindest doch nach der Königin Elisabeth. Sie liebte die naiven Blonden nicht. Aber je höher sie im Rollenfach griff, desto unbedeutender wurden die Theater. So kam sie nach Lübeck, und ausgerechnet dort stolperte der Kartonagenfabrikant Jakob Mewis in ihr Leben. Nein, er stolperte nicht! Er rutschte auf einer Bananenschale vor ihr Fahrrad, als sie eines Morgens ins Theater radelte, und verstauchte sich den Fuß dabei. Sie hat die Bananenschale niemals zu Gesicht bekommen, aber als er sich auf ihren Arm stützte und mühsam forthumpelte, war sie stark beeindruckt. Sie hätte wirklich nicht besser humpeln können, obwohl sie doch alle diese Tricks im Reinhardtseminar gelernt hatte. Später sollte sie sich noch oft die Frage stellen, ob von ihnen beiden nicht Jakob der bessere Schauspieler sei. Da liebte sie ihn aber schon so sehr, daß sie ihm diesen Rang gern einräumen wollte. In Mexiko zum Beispiel, als er die christlichen Heiligenbilder verkaufte, um sie und Joseph zu ernähren. Er sammelte die grellbunten Bilder von Ambrosius und Augustin und Hieronymus und wie sie alle heißen mochten, schnitt sie hübsch oval zurecht, zog sie auf Kartons – von denen verstand er ja etwas – und klebte bunte Kieselsteine drum herum. Damit zog er auf die Bauernmärkte und bot sie zum Kauf an. Auf Handzetteln, die er selbst verfaßt hatte, stand die Lebensgeschichte jener frühen Märtyrer geschrieben. Seine Bilder fanden unter den Mexikanern, die auf ihre Art ebenso strenggläubig waren wie er selbst, guten Absatz. Sie brachten so viel ein, daß sie ihr Brot kaufen konnten. 146
Im Jahre einunddreißig, als Jakob ihren Arm nahm und nicht wieder losließ, wunderte sich Hannah, daß sie sich nicht dagegen wehrte. Sie mußte ihn wohl auf der Stelle als ihren Mann erkannt haben. Wie oft hatte sie sich über Theaterschriftsteller lustig gemacht, die in läppischen Regieanweisungen von zitternden Händen und schwachen Knien schrieben. Als Hannah zum ersten Mal mit ihrem Jakob allein war, schaute sie höchst verblüfft auf ihre Hände, denn die zitterten auch. Und ebenso fühlte sie ihre Knie weich werden. Wirklich merkwürdig! Was die albernen Theaterschriftsteller jedoch nicht beschrieben, war die beinahe schmerzhafte Lust, mit der man sich diesem Gefühl hingab. Wenige Monate später waren sie verheiratet, und ein Jahr darauf wurde Joseph geboren. Sie wurde Jakob eine gute Frau. Sie hielt auch die Gebote mit ihm ein, obwohl sie zu Hause nicht so streng erzogen worden war. Und als Jakob sie bat, ihren Sohn Joseph zu nennen, war sie einverstanden. Zwar dachte sie nicht an den ehrwürdigen Vorvater, der als Knabe von den Brüdern nach Ägypten verkauft wird und diese Schande mit so vielen Wohltaten vergilt. Sie dachte mehr an die habsburgischen Kaiser und Könige, besonders an den letzten bärtigen Franz Joseph, und war es zufrieden. Für eine Wienerin ist Joseph ein gebräuchlicher Name. Übrigens gehörte diese Namensgebung zu den wenigen Themen, die zwischen Jakob und ihr niemals recht geklärt wurde. Zur Geburt des kleinen Jungen bekam sie den Rautenstein geschenkt. Dieser Brillant sollte sie von da an immer begleiten. Nur in einem Abschnitt ihres Lebens nicht. Im allerletzten Augenblick, als sie schon mit den Stiefeln gegen die Tür stießen, streifte sie den Rautenstein vom Finger, schraubte die Messingkugel vom Bettpfosten und tat den Ring in die Höhlung. Jahre später, als sich das Tor vor ihr öffnete, ging sie von Mecklenburg 147
durch Sachsen und Thüringen nach Bayern. Und von dort nach Österreich. Als sie in Hütteldorf vor dem Haus ihrer Eltern stand, fand sie, daß fremde Leute darin wohnten. An dem Bett mit den Messingkugeln hatte keiner Interesse gefunden. Das stand eingestaubt auf dem Boden. In der Höhlung der einen Kugel steckte ihr Rautenstein. Als er wieder in ihrer Hand lag, sich die Finger darüber schlossen und sanft zudrückten, spürte sie die Erschütterung kommen. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren gab sie sich ihr hin. Und sie konnte weinen. Hannah Mewis lag in dem fremden Bett. Sie hatte das Tonstudio ausgeknipst. In ihr war eine abgründige Stille. Aber um sie herum, war da die Stille auch? Hannah konnte nicht einschlafen, sie spürte, daß ihre Unruhe wuchs. Wieder hielt sie die Uhr in das Mondlicht. Die Zeiger wiesen auf drei Viertel zwölf. Lag es an der fremden Umgebung, daß sie nicht zur Ruhe kam? Aber gestern war sie doch gleich eingeschlafen. Natürlich glitt sie nicht mehr in so tiefe Schichten wie in früheren Jahren. Sie träumte auch viel, aber da kamen immer gute Freunde zu Besuch. Alpträume gab es nicht mehr, alles Böse hatte sich abgelöst von ihr. Wichtige Rollen spielten natürlich Jakob und Joseph in ihren Träumen … Nein, etwas stimmte in diesem Haus nicht! Hannah spürte es jetzt ganz intensiv. Und nun war sie auch soweit, daß sie was riskieren wollte. Sie griff nach ihrem Mantel und zog ihn an. Ihre Augen hatten sich an das Mondlicht gewöhnt, und sie konnte gut sehen. Während sie durch das Zimmer ging, wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie jahrelang falsch geträumt hatte. Ihr Joseph war gar nicht zehn Jahre alt, in diesem Monat hatte der Kleine seinen vierundvierzigsten Geburtstag. Über diesen Gedanken begann Hannah zu lächeln. Gab es in ihrer lärmertrunkenen Umwelt irgendein Risiko, das sie eingehen konnte? Nur zu, Hannah Rückwärts kann schon! Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang 148
hinaus. Es war dunkel in dem Haus, nur aus der Halle drang der zuckende Widerschein des Feuers. Nun, sie hatte noch vor einer Stunde dort unten vor dem Kamin gesessen. Die Türen auf dem Gang, an denen sie vorüberging, waren alle geschlossen. Auch das stimmte. Sie hatte an jeder einzelnen Tür gerüttelt, ehe sie sich ins Gästezimmer zurückzog. Hannah schlich wie eine Katze den Flur entlang. Nun gelangte sie an die Treppe. Einen Schritt davor blieb sie stehen. Ganz vorsichtig schob sie den Körper weiter bis zur Mauerecke und blickte in die Halle hinab. Das Gefühl, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte nicht getrogen! Es war etwas anders da unten! Sie hatte das Feuer klein gehalten, damit es bald ausging, und jetzt brannte es lichterloh. Sie sah niemanden. Hannah beschloß hinabzugehen. Sie setzte einen Fuß auf die erste Stufe, zog den zweiten nach. Völlig lautlos. Hannah verstand sich darauf. Bis in die letzte Faser ihres Seins war Hannah Rückwärts plötzlich eine große Katze! Wieder eine Stufe und noch eine! Was Hannah nicht wissen konnte, war, daß die Treppe ganz unverschämt knarrte. Sie hatte schon die Hälfte ihres Abstiegs hinter sich gebracht, als sie den Mann im Sessel sitzen sah! Hannah blieb erschrocken stehen. Dieser Mann, der sich nun auch noch erhob und in Richtung Eingangstür bewegte, war nicht Henry Berger. Er konnte es nicht sein, denn der da unten trug andere Kleidung, irgendeine Art von Uniform. Das erkannte sie an der weißen Tellermütze. Dann flammte das Licht in der Halle auf, und sie sah alles deutlich. Der Fremde war doch Henry Berger! Aber seltsamerweise hatte er die Uniform der Hamburger Verkehrspolizei an. Hannah fragte: „Was ist denn mit Ihnen los?“ Henry Berger hob das transportable Tonbandgerät in die Höhe und zeigt es ihr. Sie bemerkte, daß sich die Spulen drehten. Er mußte also gerade Musik oder ähnli149
ches hören. Hannah sagte: „Ich meine nicht das Tonbandgerät. Was haben Sie da für eine Uniform an?“ Sie sah seinen Mund auf- und zuklappen, aber sie verstand nicht, was er sagte. Sie spürte seine tiefe Ratlosigkeit. Er schien an einem Punkt zu sein, an dem er nicht mehr weiter wußte. Merkwürdig, diese Männer, dachte Hannah! Wenn die Posen von ihnen abfallen, werden sie gleich zu kleinen Jungen. Sie fragte: „Was haben Sie gesagt?“ Wieder klappte sein Mund auf und zu. Was sie da zu sehen glaubte, konnte einfach nicht sein! Sie fragte stockend: „Huberty ist tot?“ Er nickte. Sie kam langsam die Treppe herunter und blieb vor ihm stehen. „Wieso tot? Wie meinen Sie das?“ „Tot – eben. Ermordet!“ Hannah brauchte nicht mehr auf den Mund des Kleinen zu schauen, sie verstand ihn auch so. Seine Augen sagten ihr, daß Entsetzliches geschehen sein mußte. Und was sollte die alberne Uniform an seinem Leibe? Aber Hannah sah noch mehr. Es schien nur noch ein Schritt zu sein, bis der Kleine abkippte. Diese Männer! Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Küche. Im Vorübergehen griff sie die Ginflasche und ein Wasserglas, und im Zurückkommen hatte sie schon eingeschenkt. Sie drückte ihm das Glas in die Hand, und er trank es auf einen Zug leer. Dann führte sie ihn zum Kamin und drückte ihn in den Sessel. Der Schein des Feuers beleuchtete sein Gesicht, so daß sie den Mund gut sehen konnte. Sie hockte sich auf den niedrigen Tisch vor ihm. „Erzählen Sie mal!“ Er begann stockend, und sie unterbrach ihn bereits nach den ersten Worten. „So wird das nichts, Herr Berger! Wenn ich Sie verstehen soll, müssen Sie langsam sprechen – und deutlich. Nicht nuscheln!“ 150
Er grinste sie an. Den Zusammenbruch hatten ihre Energie und der Schnaps verhindert. Vorerst jedenfalls! Er sprach jetzt überdeutlich, und auch das half ihm, sich zu fangen. „Huberty war schon tot, als ich hinkam“, sagte er. „Sie haben ihn hinterrücks erschlagen. Sehr einfallsreich gemacht, das Ganze! Der Pförtner empfängt mich unten in der Halle, eines dieser Häuser, die sie beinahe schon zur Festung gemacht haben. Ich muß meinen Ausweis zeigen. Der Wachdienst ruft hinauf ins Penthaus, vergewissert sich, ob Huberty mich auch wirklich empfangen will, der gibt sein Okay.“ „Zu diesem Zeitpunkt lebte Huberty also noch?“ fragte Hannah. Henry Berger schüttelte den Kopf. „Der Eindruck sollte entstehen! Für mich, aber vor allem wohl für den Wachmann, der sicher den Hauptzeugen für Hubertys Lebendigkeit abgeben soll. In Wirklichkeit war der alte Mann schon tot. Es gab ihn nur noch als Stimme auf diesem Band.“ Henry Berger hob das Tonbandgerät auf seinen Schoß, ließ die Spule zurücklaufen und schaltete auf Wiedergabe. Hannah sah, wie sich die Scheiben drehten. Das war alles. Dann schaltete Berger das Gerät wieder aus. Er erklärte: „Huberty spricht ein paar Sätze, die der Pförtner und auch ich gehört haben. Er sagt: ‚Ja, natürlich, ich lasse den Fahrstuhl hinunter‘, und: ‚Danke, mein Lieber!‘ In dieser Art! Die Sätze geben die Illusion, daß Huberty am Leben ist. In Wirklichkeit sind die Worte nicht live gesprochen, wie man sagt, sondern es ist ein Playback. Ich fahre mit dem Fahrstuhl hinauf, finde die Tür offen. Höre Hubertys Stimme, er redet irgendwelchen Schmonzes über seine Hotels. Ich denke, er diktiert da was auf Band. Mir kommt gar nicht die Idee, daß das Gerät auf Wiedergabe geschaltet sein könnte. Wirklich phantastisch gemacht! Denn Huberty unterbricht sein Diktat zweimal. Zuerst fordert er mich auf abzulegen 151
und entschuldigt Jomeyer, der nicht habe kommen können. Etwas später bittet er mich, Pernod zurechtzumachen. Das Ganze hält mich zeitlich so lange hin, bis Marion Huberty mit der Polizei eintrifft. Und ich sitze in der Falle. Was einen jedoch wirklich fix und fertig macht, kommt jetzt! Ich hatte die Eingangstür offengelassen, und als ich auf die Diele zurückkomme, ist die Tür geschlossen und von innen verriegelt. Von innen! Das heißt also, daß mich der Mörder im Penthaus erwartete, jeden meiner Schritte überwachte, nebenher die Tür verriegelte und erst verschwand, als die Polizei eintrifft und alles zu seiner Zufriedenheit gelaufen ist.“ Henry Berger schwieg erschöpft. Hannah beobachtet ihn, und sie spürt, daß ihre Sympathie für diesen großen und kräftigen und dabei so hilflosen Mann stärker wurde. Berger faßte ihren Blick und auch ihr Schweigen falsch auf. Heftig sagte er: „Ich habe ihn nicht umgebracht! Aber es paßt alles, es paßt ideal … um Haaresbreite!“ „Also doch nicht so ganz?“ fragte sie. „Nein!“ erwiderte er grimmig. „Ich habe nämlich das Tonband!“ Er unterbrach sich und schaute sie plötzlich mit unverhohlenem Mißtrauen an. „Wieso sind Sie heruntergekommen, Frau Mewis? Haben Sie mich gehört?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich bin taub, das wissen Sie doch!“ Er nickte, und dann sagte er eigentlich mehr zu sich selbst: „Ja, ja, deshalb habe ich mich auch nicht vorgesehen. Ich habe nur kein Licht gemacht, um Sie nicht doch eventuell …“ Er schwieg. Was denn, wollte sie ihn fragen, was eventuell? Aber sie ließ es sein. Was hatte diesen Mann nur dazu gebracht, daß er sich derartig isolierte? Er schien ganz unfähig zu sein, eine Beziehung zu knüpfen, auch dort, wo er eine ausgestreckte Hand sah. Und nicht nur zu den 152
Menschen, auch zu den Dingen in seiner Umgebung fand er keinen Zugang. Nun war er schon drei oder vier Tage zurück, aber die Transportkisten der mexikanischen Überseegesellschaft lagerten noch immer in der Halle. Er schien nicht einmal daran zu denken, ein Stemmeisen zu holen und das Holz aufzubrechen. Sie wettete, daß er die Kisten total vergessen hatte, obwohl sie doch vor seiner Nase standen. Was hatte ihn nur in diese Vereinsamung getrieben? Hannah sah seinen forschenden Blick. Sie lächelte ihn unbefangen an, sagte: „Ich kann wirklich nicht hören, Herr Berger! Aber ich habe ein untrügliches Gefühl dafür, wenn sich in meiner Umgebung etwas verändert. Das weckt mich selbst aus tiefem Schlaf, verstehen Sie? So eine Art Witterung, wie Tiere sie haben.“ „Hm, ja, verstehe!“ erwiderte er. Aber Hannah sah, daß er in Wirklichkeit kein Wort verstand. Plötzlich sagte er: „Sie können nicht hierbleiben, Frau Mewis, so leid mir das tut!“ Sein Blick glitt durch die Halle, und plötzlich bemerkte er, daß das Licht nach draußen drang. Er sprang auf, lief zum Fenster und zog schwere Vorhänge vor. Dann wendete er sich ihr wieder zu und sagte: „Es kann nicht mehr lange dauern, und die Polizei wird hier sein!“
14. Die letzten sechs Kilometer bis zu dem Seniorenhotel waren besonders schlimm. Kommissar Schillers Dienstwagen mahlte in Geleisen, die Pferdefuhrwerke in Jahrhunderten geprägt haben mußten. Der Kommissar kochte vor Wut, nicht wegen der Fahrt in die Lüneburger Heide zu nachtschlafender Zeit, nicht wegen der miserablen Wegstrecke, nein, da war eine unvorstellbare 153
Sauerei passiert. Die Idioten vom Peterwagen hatten den Mörder entkommen lassen. Der Kerl hatte in der Falle gesessen, und diese Ochsen ließen ihn heraus. Unvorstellbar! Und was das Maß voll machte, der Gangster hatte eine Geisel genommen! Inmitten der Terroristenszene, in der das Publikum geradezu hysterisch auf diese neue Spielart des Verbrechens reagierte. Und er, der Schiller, hatte mal wieder das Glück, in so einer Nacht Dienst zu haben. Der Fall blieb doch an ihm hängen, er sah es kommen. Am Tatort hatte der Kommissar sich etwa zwanzig Minuten aufgehalten. Mißmutig stampfte er durch die Räume, warf nur einen kurzen Blick auf den Ermordeten und dessen Wunde. Kein erfreulicher Anblick! Der Schädel gespalten, viel Blut, Hirnmasse! Er ging schnell beiseite, denn er fühlte sich allmählich zu alt, um dauernd auf solche Greuel zu schauen. Da war die Aussicht vom Dachgarten auf die nächtliche Binnenalster schon angenehmer. Dort stand er an die fünf Minuten. Er war höchst überrascht, daß man es sich in der City so gemütlich machen konnte. Darauf bat er die kleine Marion Huberty, die irgendwo verstört herumstand, ihn auf seiner Fahrt in die Lüneburger Heide zu begleiten. Der Gangster hatte sie bereits zwei Straßen weiter aus dem Wagen geschmissen, einem orangefarbenen BMW. Das war alles, was das Fräulein Doktor von dem Mann und den Umständen zu berichten wußte. Dürftig! Auf der Fahrt zum Seniorenhotel ließ er ihr Zeit, damit sie sich faßte. Sie sprachen kaum miteinander. Inzwischen wirkte der kleine Doktor nicht mehr verstört, nur noch sehr nachdenklich. Nun, das war der Kommissar Schiller auch. Schon durch viele Jahre seines Lebens! Verdrossen trottete der Beamte durch die Halle des Seniorenhotels hinter Marion Huberty her. Nur wenige Lampen verbreiteten ein spärliches Licht. An der Rezep154
tion befand sich niemand, der Kommissar sah auch sonst keine Menschenseele. Das ganze Hotel schien in tiefem Schlaf zu liegen. Auf dem Tresen stand eine Vasenlampe und erhellte gerade mal den Fleck um das Telefon herum. Marion Huberty schlug mit der flachen Hand auf das Pult. „Hallo!“ „Was wünschen Sie denn?“ kam eine Stimme aus dem Dunkel hinter der Rezeption. In einer Ecke saß ein alter Mann auf einem Stuhl, eingehüllt in Decken, und starrte sie hinter dicken Brillengläsern an. Er sah aus wie ein uralter, vom Leben abgeschnittener Uhu. „Wir wollen zu Frau Huberty!“ sagte Marion Huberty. Der Uhu fragte: „Was wünschen Sie von Frau Huberty?“ Marion antwortete nicht. Sie hob die Lampe in die Höhe, so daß Licht auf ihr Gesicht fiel. Und wesentlich freundlicher aus der Ecke: „Entschuldigen Sie, Frau Doktor, ich habe Sie nicht erkannt.“ Der Uhu pellte sich aus den Decken und kam zur Theke geflattert. „Frau Huberty ist in ihren Räumen. Wollen Sie etwa jetzt noch zu ihr, Frau Doktor, um diese Zeit?“ „Wecken Sie sie!“ In Marions Stimme lag ein Ton, der jeden weiteren Einspruch erstickte. Der alte Mann griff zum Telefon und wählte. Marion langte über den Tresen und nahm ihm den Hörer aus der Hand. „Sibill?“ fragte sie. „Bist du das?“ „Ja, was ist denn?“ drang ihre Stimme über die Leitung. „Hast du schon geschlafen?“ „Nein, nicht geschlafen, aber was willst du mitten in der Nacht?“ „Es ist etwas passiert!“ „Was denn?“ „Nicht am Telefon! Wir kommen hinauf.“ „Wir–?“ „Es ist noch ein Herr dabei.“ „Wer –?“ 155
„Nicht am Telefon!“ „Wenn es wirklich so wichtig ist, dann bitte!“ Auf der anderen Seite des Tresens hatte der alte Uhu seine Federohren aufgestellt, die Brillengläser blitzten. Sie nickten ihm freundlich zu und ließen ihn in den Qualen seiner Ungewißheit allein. Oben auf dem Gang machte der Kriminalbeamte vor der Reklamewand halt; er hätte gar nicht mal sagen können, was dieses Gefühl der Verblüffung in ihm auslöste. Der Unternehmer Huberty vielleicht, der in der linken unteren Ecke einer Greisin übers schüttere Haar strich, als sei sie ein Kind? Oder der Politiker Huberty, der im Mittelteil der Wand zwischen seinen Mitarbeitern stand? Die Mitarbeiter kannte der Kommissar Schiller, es waren die führenden Leute der Bonner Szene, nur von ihrem eigentlichen Chef, Herrn Huberty eben, hatte er bis zu diesem Abend nichts gewußt. Apart auch der Spruch in der linken oberen Ecke: Denn Du bist mein Fels und meine Burg, und um Deines Namens willen wollest Du mich leiten und führen. Psalm 31,4. Der Kommissar warf einen halben Blick auf Marion Huberty, die abseits blieb und den Kopf gesenkt hielt. Es sah aus, als sei ihr diese Art von Reklamemache zuwider. Kommissar Schiller sagte: „Ihr Herr Vater war ein guter Mensch, nicht wahr?“ „Ja.“ „Und gottesfürchtig!“ „Ja.“ „Wer konnte einem so guten und gottesfürchtigen Mann nur solche Gewalt antun?“ Herr Schiller sah freundlich zu Marion hin. Die wendete sich schweigend ab und ging den Weg zu Sibills Räumen hinunter. Der Kommissar stiefelte gedankenvoll hinterdrein. Sibill Huberty saß vor dem Reißbrett, das von zwei starken Lampen angestrahlt wurde. Der übrige Raum lag im Dun156
keln. Als die Tür aufging, gab sie ihrem Arbeitsstuhl einen Schubs, rollte mit ihm rückwärts und drehte sich. Sie sagte: „Mach bitte Licht! Der Schalter ist neben der Tür!“ Es flammten Leuchtstoffröhren auf, die entlang den Wänden hinter Blenden lagen und den Raum taghell machten. Kommissar Schiller erfaßte schnell die Situation. Hier war gearbeitet worden; überall lagen Papiere, Zeichenrollen. Keine stickige Luft jedoch, die Fenster standen hinter vorgezogenen Gardinen offen. Auch kein Zigarettendunst, die Frau schien Nichtraucherin zu sein. Dafür sah er den fast leeren gläsernen Kaffeebehälter auf der Wärmeplatte der Espressomaschine. Und eine Kognakflasche auf einem Beistelltisch neben dem Arbeitsplatz: Hennessy. Daraus fehlte aber nicht viel mehr als ein Schluck. Die Frau hatte sich nicht geschont, das sah er. Die Linien um ihren Mund und zwischen den Brauen mochten tiefer eingegraben sein als gewöhnlich. Sie nahm die Brille ab und sagte entschuldigend: „Da sind ein paar Termine, die mir keine Ruhe lassen.“ Auf ihrem Gesicht lag das gezwungene Lächeln eines Menschen, der sich in seiner Arbeit gestört sieht und dennoch nicht unhöflich sein möchte. Sie fragte: „Was gibt es denn so Wichtiges?“ Marion sagte: „Vater ist tot!“ „Wie –?“ „Er ist tot!“ Es war offensichtlich, daß Sibill den Sinn der Mitteilung nicht verstand. Marion wiederholte: „Vater wurde ermordet!“ „Mein Gott –!“ Das Lächeln auf Sibills Gesicht blieb, es verstärkte sich eher noch. Aber es wirkte plötzlich einfältig, grimassenhaft. Langsam stand sie von dem Drehstuhl auf und kam durch das Atelier auf Marion und Schiller zu. Sie fragte: „Und dieser Herr –?“ Marion sagte: „Herr Schiller von der Hamburger Kriminalpolizei.“ 157
Sibill wandte langsam den Kopf und sah dem Kommissar ins Gesicht. „Guten Abend, Herr Schiller!“ „Es tut mir leid, gnädige Frau!“ Sibills Blick wanderte weiter, irgendwohin ins Leere. Sie flüsterte: „Und ich habe …“ „Wie –?“ fragte der Kommissar. Aber Sibill schien sich innerlich bereits sehr weit von ihnen entfernt zu haben. Sie antwortete nicht. „Was haben Sie?“ wiederholte Schiller seine Frage. „Was meinten Sie damit, Frau Huberty?“ Keine Antwort! Der Kommissar fand die Situation eigenartig. Die Frau war Mitte bis Ende Dreißig, also rund vierzig Jahre jünger als der alte und im Tode verhutzelte Greis, den er am Tatort besichtigt hatte. Sie konnte bequem dessen Tochter, mit einiger Anstrengung sogar die Enkeltochter sein. Aber Kommissar Schiller war selbst alt, stand knapp zwei Jahre vor der Pensionierung. Er hatte viel gesehen in seinem Leben, und er mochte sich seit langem über nichts mehr wundern. Er ließ die Frau in Ruhe, und er sah, daß sie sich fing. Wenn sie auch abgearbeitet war, da schlummerten noch Kraftreserven in ihr. Sogar das maskenhafte Lächeln auf ihrem Gesicht füllte sich mit Leben. Auf einmal sagte sie: „Einen Kaffee, nicht wahr? Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee. Ich werde uns Kaffee machen. Und dazu trinken wir allesamt ein Glas Kognak. Das wird uns wohltun!“ Sie wandte sich ab und ging mit merkwürdig steifen Schritten durch das Atelier. Kommissar Schiller sah, daß es noch nicht ausgestanden war mit ihr. Offensichtlich stand sie unter der Einwirkung eines Schocks. Hoffentlich dreht sie nicht durch, dachte Schiller, er konnte mit hysterischen Weibern nicht viel anfangen. In der Mitte des Raumes blieb Sibill Huberty stehen und wandte sich um. Ihr Lächeln wurde beinahe heiter. „Ob ihr es glaubt oder nicht, ich 158
habe den ganzen Tag nichts gegessen.“ Sie ging weiter, und genau einen Schritt vor der Espressomaschine brach sie ohnmächtig zusammen. Da haben wir den Salat, dachte Schiller! Das war mal wieder einer dieser Arbeitstage, wie er sie heiß und innig liebte. Er lief zu der regungslos am Boden liegenden Frau und beugte sich über sie. Sie bekam Luft. Sie trug unter dem blauen Arbeitsmantel nur eine Bluse, die den Hals nicht einengte. „Das hätte ich nicht gedacht!“ hörte er Marions Stimme hinter sich. Kommissar Schiller knurrte. „Was –?“ „Daß sie das so trifft, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ „Können wir sie irgendwohin betten?“ Marion ging zur Schiebetür und machte sie auf. Schiller sah das große Bett in dem angrenzenden Raum. In Gottes Namen denn, stöhnte der Kommissar innerlich und hob die Frau hoch. Sie war genauso schwer, wie er erwartet hatte. Ächzend schleppte er sie hinüber und ließ sie auf das Bett nieder. Darauf zog er ein Taschentuch hervor und rieb sich die Stirn. „Bringen Sie einen Schnaps!“ sagte er zu Marion. „Für Sie, Herr Kommissar?“ „Für Ihre Frau Mutter!“ erwiderte Schiller bissig. In diesem Augenblick schlug Sibill Huberty die Augen auf. „Ich weiß alles!“ erklärte sie. „Sie kamen herein und sagten, mein Mann sei tot. Er wurde ermordet! Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen!“ Kommissar Schiller erwiderte: „Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!“ „Nein, nein!“ wehrte Sibill ab. „Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Schwäche.“ Sie richtete sich mühsam hoch, stellte die Füße auf den Boden, kam auf die Beine – und stand! Kommissar Schiller verfolgte es nicht ohne ein Gefühl der Bewunderung. Sibill atmete 159
heftig, schließlich sagte sie beinahe schüchtern: „Ich habe zu lange an dem blöden Reißbrett gesessen. Ich hätte eine Stunde Spazierengehen müssen. Ich hätte etwas essen müssen. Und vor allem hätte ich nicht so viel Kaffee trinken dürfen.“ „Nehmen Sie einen Schluck davon!“ Der Kriminalbeamte wies auf das Glas Hennessy, das Marion brachte. „Danke, ich möchte lieber gar nichts.“ Sie schaute hilflos von einem zum anderen, wandte sich dann Marion zu. „Vater ist also …“ Sie schwieg. Kommissar Schiller antwortete: „Ja, Frau Huberty, er wurde ermordet.“ „Weiß man … wer?“ „Ein Mann fuhr gegen zweiundzwanzig Uhr zum Penthaus hinauf. Nach Aussage des Pförtners wurde er erwartet. Minuten später traf Ihre Stief…“ Der Kommissar unterbrach sich und lächelte. Dann fuhr er fort: „Wenige Minuten nach dem Besucher traf Fräulein Doktor Huberty ein.“ „Vater hatte mich angerufen“, erklärte Marion. „Ich sollte gegen zehn zu ihm kommen.“ Der Kommissar sagte: „Doktor Huberty fuhr also ebenfalls zum Penthaus hinauf, konnte die Tür aber nicht öffnen, da die von innen verriegelt war. Auf mehrmaliges Klingeln reagierte niemand. So fuhr sie wieder hinunter, und als sie vom Pförtner erfuhr, ein Mann sei oben bei ihrem Vater, verständigte sie die Polizei. Die Beamten öffneten gewaltsam die Tür und fanden Ihren Vater erschlagen. Unterdessen gelang es dem Täter, einen Beamten zu überwältigen. In dessen Uniform zwang er Fräulein Doktor Huberty mit vorgehaltener Pistole in seine Gewalt und konnte so entkommen.“ Gegen Ende zu war dem Kommissar der Bericht immer schwerer gefallen. Sibill Huberty hatte genau zugehört, und sie reagierte ganz sachlich darauf. Kein neuer Zusammenbruch also, konstatierte der Beamte erleich160
tert, kein hysterisches Weibergekreisch. Jetzt wandte sie sich an Marion Huberty. „Ja – und?“ „Was – und?“ fragte Marion. „Kanntest du den Mann?“ Es entstand eine kleine Pause, und in diesem Moment hatte der Kommissar so ein Gefühl, als spielten die beiden Frauen mit gezinkten Karten. Schließlich sagte Marion Huberty: „Nein, kannte ich nicht!“ „Er nannte sich Berger“, mischte sich Schiller ein. „Er hatte auch Personalpapiere auf diesen Namen, das wissen wir von dem Wachmann. Nur ist das natürlich nicht ernst zu nehmen; ein Mann, der morden will, tut es nicht unter eigenem Namen, nicht wahr? Oder sagt Ihnen der Name Berger etwas, Fräulein Doktor Huberty?“ „Berger ist recht gebräuchlich, nicht wahr?“ „Ja, wirklich!“ Plötzlich hatte der Kommissar ein hintergründiges Lächeln im Gesicht. Marion sagte heftiger als eigentlich angebracht: „Ich habe diesen Mann jedenfalls vorher nie gesehen.“ „Und Sie, gnädige Frau?“ wandte sich der Kommissar an Sibill. „Wie steht es mit Ihnen?“ Sibill antwortete nicht sofort. Sie ging durch das Atelier zum Reißbrett und löschte dort beide Lampen aus. Eine ganz überflüssige Handlung, wie der Kommissar fand. Dann setzte sie sich auf den Drehstuhl, steckte die Hände zwischen die Beine, als ob sie sie gewaltsam festhalten müsse, und dann sagte sie: „Es ist schon merkwürdig!“ „Was ist merkwürdig?“ „Ein Herr Berger war als Bauleiter hei uns im Gespräch, zeigte aber kein besonderes Interesse.“ „Könnte der Mann heute abend mit Ihrem Gatten verabredet gewesen sein?“ „Ich weiß nicht, aber möglich wäre es, nicht wahr?“ „Wissen Sie, wo wir diesen Berger finden können?“ 161
„Ein Hotel? Er kam wohl direkt aus Mexiko zurück, als er hier vorsprach. Ja, ein Hotel würde ich sagen!“ „Wenn Herr Huberty mit ihm in Verhandlungen stand, dann haben wir in ihm unseren Mann. Eins haben wir Ihnen nämlich noch nicht gesagt, Frau Huberty. Ihr Mann diktierte gerade etwas. Vielleicht eine geschäftliche Vereinbarung zwischen beiden, vielleicht einen Arbeitsvertrag. Herr Huberty hielt jedenfalls ein Mikrofon in der Hand, und auf dem Schreibtisch stand ein Tonbandgerät. Das Band selbst jedoch ist verschwunden.“ Der Täter hatte das Band mitgenommen, das war klar, und das fand Kommissar Schiller auch gar nicht so bemerkenswert. Viel eigenartiger fand er das Verhalten der beiden Frauen. Denn die hatten sich mit keinem Blick mehr angesehen, seit der Name Berger gefallen war.
15. Henry Berger und Hannah Mewis saßen auf dem Eßplatz in der Halle. Vor ihnen stand das Tonbandgerät mit den sich drehenden Bandspulen, auch eine Kanne Kaffee und ein Teller voll belegter Brote. Kein Schnaps. Aber ein Ascher, in dem bereits eine Menge halbgerauchter und ausgedrückter Zigarrenstrünke lagen. Es war etwa eine Stunde vergangen, seitdem Henry Berger der alten Dame eröffnet hatte, sie müsse nun aus seinem Haus verschwinden. Hannah hatte still genickt dazu, ihm auch freundlich zugelächelt, dann war sie die Treppe hinaufgestiegen. Umgezogen und sichtlich erfrischt kehrte sie zurück. Da schwebte sogar ein Duft von Eau de Cologne um sie herum. Wieder lächelte sie ihm wohlwollend zu, als sie an ihm vorüberging und in der Küche verschwand. Da gab Henry Berger es auf. Er 162
sprang seinerseits die Stufen hoch und riß sich in seinem Zimmer die Uniform vom Leibe. Als er dann vor dem geöffneten Schrank stand, ergaben sich ernste Schwierigkeiten. Was sollte er anziehen? Sein Jeansanzug steckte in Marion Hubertys Wäschetuff. Die Transportkisten aus der Halle fielen ihm wieder ein, die unter anderem auch seine Garderobe enthielten. Noch einmal mußte der elegante Tweedanzug aus dem Schrank. Als Henry Berger die Treppe herunterkam, saß Hannah Mewis bereits in der Eßecke, und in den Tassen dampfte der Kaffee. Sie hatte auch das Tonbandgerät herübergetragen und schaute es aus erwartungsvollen Augen an. Henry diskutierte nicht mehr mit ihr, daß sie fort müsse von ihm, aber er rächte sich auf seine Weise. Er ließ das Band ablaufen und hörte andächtig zu. Dabei trank er zwei Tassen Kaffee und aß auch von den Broten. Als er das Band zu Ende gehört hatte, ließ er es zurücklaufen und drückte erneut die Wiedergabetaste. Ganz allmählich wurde ihm bewußt, wieviel von der Gelassenheit der alten Dame auf ihn überging. Er wandte sich ihr zu, und sie lächelten sich an. Und plötzlich fühlte er sich erleichtert, daß sie geblieben war. Auf dem Tonband sagte die Stimme des Ermordeten gerade: „Die Bauunternehmung Huberty bilanzierte per einunddreißigsten Dezember vergangenen Jahres mit einem Gewinn von mehr als dreißig Millionen Mark. Die Bauunternehmung Huberty ist also gesund. Ein Kapitalaufkommen von mehreren hundert Millionen Mark kann jedoch von der Bauunternehmung Huberty und ihren Töchtern, der Senioren-Hausanteil-Treuhand-Fondsgesellschaft und der Heide Senioren Hotels GmbH, allein nicht getragen werden …“ Henry Berger schaltete den Apparat aus. „Die Aufnahme muß viele Wochen alt sein“, sagte er „Huberty bittet ein Bankenkonsortium um einen Kredit. Es war 163
der Entwurf einer Rede, die er halten wollte, oder ein Schriftstück, das aufgesetzt werden sollte. Einerlei! Auf alle Fälle sind diese Geschichten ein alter Hut. Huberty konnte schon lange keinen Lohn mehr zahlen, allein sein Bauleiter bekam sechstausend Mark. Verstehen Sie, Frau Mewis?“ Als Hannah nickte, fuhr er fort: „Huberty hatte auch bei jenem Diktat einen Gesprächspartner. Er bot ihm zu trinken an. Pernod. Weiterhin teilte er dem Besucher mit, daß Jomeyer an dem Gespräch nicht teilnehmen könnte. Aber der entscheidende Fehler auf dem Band liegt hier!“ Berger ließ das Band zurücklaufen, und Hubertys Stimme sagte: „… bin gleich fertig. Legen Sie doch mal ab inzwischen! Den Vertrag habe ich übrigens schon herausgesucht!“ Henry Berger schaltete das Gerät aus. Er griff nach einem Zigarillo, das er in Brand steckte, und lehnte sich zurück. Zufrieden meinte er: „Ja, genau das ist es!“ „Was?“ fragte Hannah bescheiden. Henry Berger lächelte entschuldigend: „Huberty sagt, daß er den Vertrag bereits herausgesucht habe. Es gab aber zwischen uns noch gar keinen Vertrag, der sollte ja erst aufgesetzt werden. Verstehen Sie?“ Wieder nickte Hannah. Und dann stellte sie die Frage, die sie wohl schon lange bewegte: „Warum sind Sie aus dem Penthaus geflohen, Herr Berger?“ „Das habe ich Ihnen doch lang und breit auseinandergesetzt!“ erwiderte Berger heftig. „Die hatten mich in der Mausefalle!“ „Aber wenn die Tür verriegelt war, wie Sie mir sagten, dann muß sich doch auch der Mörder in der Falle gefangen haben. Ebenso wie Sie!“ Berger zuckte die Achseln. „Vielleicht hielt er sich in dem Penthaus versteckt. Das Ding ist immerhin an die fünfhundert Quadratmeter groß. Vielleicht hat er einen Weg benutzt, den ich nicht kenne, denn im Grunde müß164
te es ja einen Notausgang geben, nicht wahr? Es braucht ja bloß mal der Fahrstuhl auszufallen.“ Hannah schaute versonnen vor sich auf die Tischplatte, zählte wohl die Krümel auf ihrem Teller. Dann fragte sie: „Und der Polizei wollten Sie diesen doch nicht allzu kühnen Gedankengang nicht zumuten?“ „Nein.“ „Und warum nicht?“ Eine Weile blieb es still. Auch Berger starrte vor sich auf den Teller. Dann seufzte er. Und dann raffte er sich endlich auf und sagte: „Vor Jahren kam durch meine Schuld ein Mann ums Leben. Der Staatsanwalt plädierte auf Körperverletzung mit Todesfolge. Es ist das gleiche Delikt!“ „Ich verstehe …“, sagte Hannah behutsam. Henry Berger stand auf, wanderte durch die Halle. Er hatte sich ein neues Zigarillo angesteckt. Bei der Treppe blieb er stehen und sah zu Hannah hin. Es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen, aber er tat es schließlich: „Es passierte hier bei der Treppe, ist sechs Jahre her. Ein völliges Blackout, wie man sagt. Grund: eine Dreiecksgeschichte, die man besser bei einer Flasche Wein bespricht. So fing es auch an, ganz vernünftig, nur den Schnaps trank ich eben allein – und zu schnell und zuviel. Ich weiß nicht mehr, wie ich da nach oben kam, weshalb plötzlich alle Türen offenstanden und ich den Schürhaken in der Hand hielt. Ich hab’ mit dem Ding nicht zugeschlagen, aber der Mann hatte Angst und stolperte. Fiel die Treppe hinunter. Überschlug sich. Brach sich das Genick. Vier Jahre hat’s eingebracht. Und das da im Penthaus, das ist ja nun wirklich ähnlich.“ „Ich verstehe …“, wiederholte Hannah. „Jemand wußte von Ihrem … Pech und hat bei Huberty eine vergleichbare Situation geschaffen.“ „Ja.“ „Aber wer–?“ 165
Henry Berger zuckte die Achseln. Er ging zum Kamin und legte Scheite auf. Hannah beobachtete ihn. Endlich hatte sie den Schlüssel gefunden und begriff ihn nun wirklich. Henry Berger kam zum Eßplatz zurück, sah Hannah fragend an. „Hat meine Mutter nicht mit Ihnen darüber gesprochen?“ Hannah lächelte: „Aber Herr Berger! Ihre Mutter hatte nur Heiteres zu berichten.“ Und ohne jeden Übergang setzte sie hinzu: „Und das Gewitter?“ „Ja –?“ „Sagten Sie nicht, es sei schweres Gewitter gewesen, als Sie im Penthaus waren?“ „Ja.“ „Und? Ist es auf dem Band?“ „Kann es ja wohl nicht …“ Und dann plötzlich verstand er sie. Wenn Alfons Huberty tatsächlich an seinem Schreibtisch gesessen und diktiert hätte, wie es vom Mörder vorgetäuscht wurde, dann wäre das Tonbandgerät auf Aufnahme geschaltet gewesen. Und dann hätte auch das Gewitter mit aufgezeichnet sein müssen. Das war möglicherweise so etwas wie ein Beweis für Bergers Unschuld. Die beiden lächelten sich zu. Und genau in diesem Moment klopfte jemand gegen die Fensterscheibe. Berger erstarrte. Dann sah er Hannah an, legte den Zeigefinger an den Mund. Hannah bewegte nur die Lippen. „Was ist?“ Und Berger ebenso: „Jemand … am Fenster!“ Wieder klopfte es. Leise und behutsam. Polizei war das nicht, dachte Berger, die würde sich anders bemerkbar machen. Aber er hatte keine Bekannten, keine Freunde. Die Nachbarsfrau? Henry verzog den Mund, weil er sich an deren hysterisches Gekeife erinnerte. Dann wisperte draußen eine Stimme: „Henry!“ Und wenige Sekunden später noch einmal: „Henry!“ Berger zog den Vorhang beiseite, der über die gesam166
te Wandseite führte, und öffnete die Tür. Vor ihm auf der Schwelle stand Sibill Huberty. Sie sahen sich in die Augen. Dann kam sie herein, und er schloß hinter ihr die Tür. Noch immer schauten sie sich an. Dann fragte er: „Du weißt es schon?“ Sibill sagte: „Es war jemand von der Polizei da.“ Pause, in der sie sich unentwegt anschauten. Schließlich beantwortete er ihre stumme Frage: „Ich war es nicht, Sibill! Und ich habe den Beweis, ich habe nämlich das Tonband!“ Sibill: „Ich wußte es!“ Auf einmal schossen Tränen in ihre Augen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, noch einen, bis sie ihn erreichte. Und dann fiel sie in seine Arme. Sie klammerte sich an ihn. In dieser Bewegung lag etwas Schwerwiegendes und Bedeutungsvolles; es schien so, als ob sie ihn nie wieder hergeben wolle. „Ich wußte es, Henry, ich habe es gewußt!“ Seit sehr langer Zeit war dies eine Minute, in der sich Henry Berger glücklich fühlte. Deshalb stand er auch ganz still, ohne sich zu rühren. Und er hatte ganz vergessen, daß es da noch eine alte Frau im Raum gab, die alles mit ansah. Sibill flüsterte an seinem Ohr: „Und diesmal – mein Liebling – lasse ich dich nicht allein. Du kommst mit mir!“ Sie nahm seinen Kopf in beide Hände. Ihre Augen schwammen in Tränen, und dabei lächelte sie. Sie küßte ihn auf die Wangen und den Mund, auf Nase und Augen, und mit der Nässe ihrer Tränen verteilte sie gleichmäßig ihre gesamte Wimperntusche auf seinem Gesicht. Er war es sehr zufrieden. Dann nahm er sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Er ging mit ihr in der Wohnhalle umher, ganz langsam und behutsam, wie man es vielleicht mit einem Pferde tut, das lange galoppiert ist. Er hatte dieses Haus vor Jahren für sie beide erworben. Ausschlaggebend für den Kauf war auch ge167
wesen, daß es eine große Halle hatte, in der man herumgehen konnte. Nun taten sie es beide. Zusammen! „Du mußt sofort hier weg, Henry!“ sagte Sibill. „Die Polizei kennt deinen Namen. Der Pförtner hat ihn angegeben, und mich hat der Kriminalbeamte gefragt, ob ich einen Berger kenne. Ich habe es bestätigt, weil es töricht gewesen wäre, es abzustreiten. Es gibt Dutzende, die uns auf der Baustelle zusammen sahen. Ich habe den Polizisten auf die Hotels gehetzt, aber es wird nicht lange dauern, und die werden diese Adresse kennen. Du mußt also weg von hier!“ Sie blieben beim Eßplatz stehen, und erst da erkannte Sibill Frau Mewis. Sie schien nicht eine Spur verlegen, weil die alte Dame alles mit angesehen hatte. Sie sagte nur: „Wie schön, daß Sie da waren, als er nach Hause kam.“ Hannah erwiderte nichts darauf, sie schaute die beiden nur mit einem wissenden Lächeln an. Sibill fuhr fort: „Sie können auch nicht hier bleiben, Frau Mewis.“ „Warum denn nicht?“ fragte Hannah gemütlich. „Herr Berger war so freundlich, mich für ein paar Tage in sein Haus einzuladen. Stimmt doch! Ich brauchte mal Tapetenwechsel.“ Sibill schüttelte den Kopf. „Aber begreifen Sie denn nicht, Frau Mewis? Wenn Sie hier bleiben, sind Sie Mitwisserin!“ „Wie Sie!“ „Bei mir ist das etwas anderes.“ Das Lächeln auf Hannahs Gesicht verstärkte sich. „Mitwisserin bin ich doch ohnehin. Was ändert es denn da, ob ich hier bleibe oder nicht.“ Nun mischte sich Henry Berger ein. „Frau Mewis, Sie waren im Haus, als ich heute nacht herkam!“ „Ja, ja – aber oben, Sie Fallott! Ich habe in Ihrem Gästezimmer geschlafen. Und ich bin so taub, daß ich nichts gehört habe.“ 168
„Aber –!“ Henry Berger war sprachlos. „Aber Sie können doch nicht einfach für mich lügen.“ Hannah erwiderte fröhlich: „Und warum nicht, Herr Berger?“ Henrys Blick ging von Hannah Mewis zu Sibill und wieder zurück. Er hatte in den letzten Tagen schon einige Erfahrungen mit der alten Dame gemacht. Er wußte, daß Diskussionen über einen bestimmten Punkt hinaus sinnlos waren. Er sagte also nichts weiter, sondern nahm das Tonbandgerät vom Tisch und stieg die Treppe hinauf. Er spürte, daß Sibill an seiner Seite blieb. Sie gingen in Henrys Zimmer, dort trat er an den Schrank, öffnete ihn und tat das Tonbandgerät hinein. Als er sich umwandte, sah er Sibill mitten im Zimmer stehen und auf das Bett starren. Auf ihrem Gesicht war ein schwer bestimmbarer geheimnisvoller Ausdruck.
Und plötzlich sieht Henry das Bild wieder vor sich. Sibill liegt auf dem Bett. Verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Die Linie von den Ellbogen in die Achselhöhlen – die dunklen Haare darin! Henry ist böse. Er ist gerade aus Hamburg gekommen, und draußen vor der Tür steht ein nagelneuer Volkswagen. Er kommt von den Rechtsanwälten Heinrichsen und Sohn an den Raboisen. Er hat das Haus in bar bezahlt. Und er hat noch zweitausend Mark in der Tasche, die will er auf den Kopf hauen. Er will nach Travemünde ins Spielkasino. Sibill liegt auf dem Bett. Rührt sich nicht. Schaut ihn nur an. Ein leichter, ganz feiner Schleier des Verlangens in ihren Augen … „Gibt es den Wein noch?“ hörte er Sibill plötzlich fragen. „Welchen Wein, Sibill?“ Sie schien ganz versunken in ihre Erinnerung. Verklärt sagte sie: „Auf dieser Hausseite gab es ein Gerüst, das weiß ich noch, es reichte bis ans Fenster, und daran 169
rankte Wein. Als wir damals einzogen, war es April. Jetzt ist September, und die Früchte müßten reif sein. Gibt es den Wein noch, Henry?“ Er lächelte, aber er sagte nichts. Frauen! Aus welchen Schichten sie ihre Erinnerungen zogen, er würde es nicht ergründen. Er sah sie zum Fenster gehen, es öffnen und sich hinauslehnen. Während sie das tat, griff er wieder in den Schrank und nahm das Tonband vom Gerät. Er steckte es in die Jackentasche. Er wollte es lieber bei sich behalten, das schien ihm sicherer. Dann schlenderte er zum Fenster. Noch immer lehnte Sibill hinaus. „Nicht eine Traube!“ sagte sie. „Du hast den Wein total verkommen lassen.“ Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn zur Tür. „Wirst du das in Ordnung bringen, Henry?“ „Aber sicher!“ Während sie über den Gang liefen und die Treppe hinunterstiegen, versuchte Henry zum ersten Mal, nicht „daran“ zu denken. Es gelang ihm. Fast. Unten stand Hannah Mewis und blickte ihnen entgegen. Sie zog eine Miene, als fände sie es ganz gut, was sich da zwischen Sibill und ihm abspielte. Er trat an sie heran. Er sagte: „Irgendwann melde ich mich, Hannah …“ Er stockte, denn er hatte sie mit ihrem Vornamen angesprochen. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nennen Sie mich ruhig so, Sie Fallott, es freut mich!“ Und zu Sibill sagte sie: „Geben Sie Obacht auf ihn! Sonst werde ich Ihnen aufs Dach kommen!“
16. „Diese Machination mit dem Tonband konnte nur einen Sinn haben, Henry! Der Mörder mußte dich einige Minu170
ten lang am Tatort festhalten. Er mußte selbst erscheinen, und zwar in Begleitung der Polizei. Die sollte dich bei der Leiche festnehmen!“ Es waren seine eigenen Gedanken, die Sibill aussprach. Sie fuhren auf der Autobahn und hatten die Elbe längst hinter sich gelassen. Vor etwa zwanzig Minuten hatten sie die Polizistenuniform und den darin eingewickelten Dienstrevolver vor dem Eingang des Polizeipräsidiums abgelegt. Das war Sibills Idee gewesen. Es schmälerte zwar Henrys strafbare Handlung nicht, schien aber doch so etwas wie eine Geste zu sein. Henry Berger fragte: „Die Tür im Penthaus war von innen verriegelt, Sibill! Wie ist der Mörder aus dem Haus gekommen?“ „Über den Fluchtweg, Henry!“ „Wie geht der?“ „Über den Dachgarten! Zwei Türen, oben auf dem Dach eine und die andere unten im obersten Stockwerk des Bürogebäudes. Zwischen den Türen eine abwärts führende Treppe. Auf den Dachgarten hinaus gibt es mehrere Zugänge. Es ist ganz einfach, Henry! Der Mörder wartet, bis du über die Diele ’rüber und in der Wohnhalle bist. Dann geht er hin und verriegelt die Eingangstür. Danach verschwindet er durch die Küche und über den Dachgarten ins Bürogebäude. Von dort fährt er in die Tiefgarage. Da ist zu dieser Zeit niemand. Über eine Hintertür kommt er auf einen Hof, von dem auf einen zweiten und auf die Ferdinandstraße. Er steigt in seinen Wagen, kurvt um die zwei Blöcke und erscheint an den Raboisen in der Eingangshalle des Bürogebäudes. Er fährt hinauf zum Penthaus, klingelt, kommt wieder herunter und alarmiert die Polizei. Eine Angelegenheit von wenigen Minuten!“ „Aber die eigene Tochter? Nein–!“ „Wer erschien am Tatort, Henry? Wie bestellt?“ „Marion.“ 171
„Na also!“ „Aber warum? Warum sollte sie das tun?“ „Sie erbt das gesamte Huberty-Vermögen!“ Henry Berger nahm einen Moment seinen Blick von der Fahrbahn und sah Sibill grienend an. „Seine Schulden? Meinst du die?“ Sibill blieb sachlich. „Huberty hat mehrere Millionen seines Privatvermögens im Ausland angelegt. Diese Summe hat er kürzlich an Marion abgetreten. Natürlich nur pro forma, aber bei seinem Tod wird über dieses Geld nicht diskutiert. Außerdem hat er ihr das Haus an den Raboisen überschrieben, allein schon ein Millionenbesitz. Es ist etwa vierzehn Tage her, seit er das Testament geändert hat.“ „Du wurdest darin nicht bedacht?“ „Das ist korrekt, Henry. Ich bin inzwischen finanziell unabhängig. Außerdem war es nur eine kurze Ehe.“ „Wann habt ihr geheiratet?“ „Vor zwei Jahren. Du warst gerade heraus und sofort nach Mexiko gegangen.“ Sie schwiegen eine Weile. Henrys rechte Hand glitt vom Lenkrad ab und zu ihrem Knie hinüber. Er drückte es. Dann fuhr seine Hand sacht an der Innenseite ihres Oberschenkels hin. „Es will mir nicht in den Kopf, Sibill.“ „Was?“ „Die eigene Tochter!“ „Sie hätte es wohl nicht getan, wenn du nicht plötzlich aufgetaucht wärst und Fragen nach dem Tod deiner Mutter und nach ihrem eingezahlten Geld gestellt hättest. Und selbst dann hätte sie vielleicht noch gezögert, aber heute morgen hast du vor dem Alten gestanden, die Monierzange in der Hand. Das hat natürlich die Runde gemacht. Im Seniorenhotel haben sie sich erzählt, du hättest Huberty umgebracht, wenn ich dich nicht im letzten Augenblick zurückgehalten hätte. Marion hat das 172
auch gehört, Henry. Diese Gelegenheit war einfach zu günstig!“ Es schien alles sonnenklar. Und dennoch, es wollte nicht in Bergers Kopf. „Huberty war ein alter Mann und seine Tochter ein blutjunges Ding. Diese paar Jahre hätte sie wohl warten können.“ „Ja, möglich“, räumte Sibill ein. „Aber da ist noch einer! Und der kann nicht warten.“ „Wer?“ „Jomeyer.“ „Dieser Anwalt?“ „Ja. Vor einem Jahr ging es der Bauunternehmung Huberty noch gut, und da hat der Alte dem Jomeyer seinen Wahlkampf finanziert. Zweihunderttausend Mark hat er ihm gegeben als zinslosen Kredit. Natürlich steckte kaufmännisches Kalkül dahinter. Ein Abgeordneter, der zugleich der eigene Anwalt und Schuldner ist, bringt Zinsen ganz anderer Art, nicht wahr? In letzter Zeit jedoch mußte Huberty aus bekannten Gründen dieses Geld zurückfordern. Und Jomeyer konnte nicht zahlen. Aber dafür hat er die kleine Marion – so! Sie ist in einem Zustand, in dem sie alles für einen Mann tun würde.“ Sibills Stimme hatte plötzlich einen merkwürdigen Klang. Er blickte hinüber und sah in ihre Augen, die unablässig auf ihn gerichtet waren. Er lächelte. Sie führte seine Hand an den Mund und küßte sie. Er entzog sie ihr schließlich und legte sie auf das Lenkrad zurück. „Ich werde dich noch auf die Wiese chauffieren, Liebes!“ Sie kicherte leise. „Ja – bitte!“ Dann rückte sie nah an ihn heran, aber sie störte ihn nicht mehr beim Fahren. Sie sagte nur: „Ich kann es nicht erwarten, Henry!“ Er schluckte mehrmals, ehe er antwortete: „Ich auch nicht, Sibill!“ Sie fuhren eine Weile schweigend. Und obwohl Henry es nicht erwarten konnte, wie er ihr versichert hatte, kehrten seine Gedanken immer wieder zum eigentlichen 173
Thema zurück. Er fragte: „Dieser Jomeyer und Marion Huberty also?“ „Es ist von Heirat die Rede.“ „Jomeyer –? Dann hat er den alten Mann umgebracht!“ „Jomeyer war es nicht. Leider nicht!“ Henry Berger wurde ärgerlich. „Hör mal zu, Sibill“, sagte er. „Hubertys Schädel war aufgeknackt. Eine Frau hätte diesen Schlag gar nicht führen können!“ Sie antwortete sanft: „Du traust Frauen noch immer wenig zu, nicht wahr, Henry?“ Er hörte das Belustigtsein in ihrer Stimme und sagte nichts dazu. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Doktor Jürgen Jomeyer kann es nicht gewesen sein, weil Huberty ihn noch selbst nach Bonn geschickt hat. Von dort soll nämlich Dampf gemacht werden, damit die Bauunternehmung doch noch diesen Fünfundvierzig-Millionen-Kredit bekommt. Ja, so ist das. Jomeyer war in Bonn, und so bleibt nur Marion übrig.“ Henry Berger raste mit voller Wucht gegen die Schiebetür; er kam gar nicht auf die Idee, daß man die beiden Hälften auch auseinanderschieben konnte. Er wandte sich nach links. Dort befand sich ein Durchgang zur Küche und zu einer weiteren Tür, über die man ebenfalls den Flur im Seniorenhotel erreichte. Sekundenlang stierte er dorthin, und mittlerweile wurde er wach und bekam sich so weit in die Gewalt, daß er weiteres Herumgerenne stoppen konnte. Er sank auf einen Fellhocker zwischen Schiebetür und Durchgang und verschränkte die Arme über der Brust. Er zitterte heftig. Sibill lag über dem Bett, ihm zugewandt. Ihr ausgestreckter rechter Arm bildete eine Verlängerung in seine Richtung. Sie hatte ihn zu halten versucht. Jetzt glitt sie langsam zurück und richtete sich auf. Sie raffte die Bettdecke um sich. Es war sehr still in dem Raum. Sie blickte 174
ihn nur an, und das tat er auch. Schließlich sagte sie: „Wenn du einmal losgehst, Henry, kann dich keiner aufhalten!“ Er hatte die Schreckensbilder schon hinter sich gelassen, und so konnte er auf ihre Stimme achten. Wie meinte sie das mit dem „Loslegen“? Klang das nicht doppeldeutig? Noch im Auto hatte er verkündet, wie eilig ihm die Sache mit ihr sei. Und nur etwas später dann im Bett …? Außerordentlich peinlich! Trotz ihres Verständnisses und ihrer Zärtlichkeit! Er grinste zu ihr hinüber. Aber das alberne Zittern konnte er nicht abstoppen, er krampfte die Zähne zusammen. Sie fragte: „Ist das einer dieser Malariaanfälle, was da auf uns zukommt, Henry?“ Er schüttelte den Kopf. „Warum zitterst du dann?“ Er antwortete nicht. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, und ganz allmählich begann ihr zu dämmern: er hatte Angst! Unfaßbar! Denn sie erinnerte sich noch gut an den stabilen Mann, den sie vor sechs Jahren gekannt hatte. Sie langte hinüber nach der Ablage auf seiner Bettseite. Dort lagen die Zigarillos. Sie nahm eins davon und zündete es mit ungeschickten Bewegungen an. Dann stand sie auf und kam langsam auf Berger zu. Sie war nackt, ebenso wie er, und er fand, daß sie hinreißender denn je war. Er konnte es nicht begreifen, als er an vorhin dachte. Sibill steckte ihm das Zigarillo zwischen die Lippen, dann ging sie hüstelnd zurück und setzte sich ans Fußende des Bettes. Sie sagte zuversichtlich: „Wir werden es zusammen schaffen, Henry!“ Er machte ein paar Züge aus dem Zigarillo, und es beruhigte ihn; zumindest glaubte er das. „Ich muß diesen Mann finden, für den Huberty den Vertrag heraussuchte und dem er Pernod anbot“, sagte er. „Den Mann also, der dabei war, als Huberty das Tonband diktierte. Wenn ich ihn gefunden habe, stelle ich mich der Polizei!“ 175
„Wir werden ihn finden, Henry!“ Sibill hatte noch diesen unverzagten Tonfall, mit dem man auf Kranke einspricht. „Der Zeitraum liegt doch fest. Huberty wirbt auf dem Tonband um den Kredit. Das war vor etwa acht Wochen. Ich werde alle Abschlüsse dieser Zeit heraussuchen lassen. Der Vertrag jener Person muß darunter sein. Das werden wir morgen machen, das heißt heute, es ist beinahe fünf Uhr. Komm ins Bett, Henry, wir müssen ein paar Stunden ausruhen.“ Aber er rührte sich nicht, starrte vor sich hin. Und so blieb auch sie sitzen. Nach einer Weile fragte sie: „Dieses Tonband, Henry–?“ „Ja –?“ „Ist es wirklich ein Unschuldsbeweis?“ „Was hat der Kommissar zu dir gesagt, als er von dem Band sprach?“ Sie überlegte einen Moment, „Er sagte etwa: Huberty diktierte gerade, als der Mörder kam, denn er hatte das Mikrofon in der Hand.“ „Wenn Alfons Huberty wirklich diktiert hätte, Sibill, wäre das Gewitter aufgezeichnet worden. Auf dem Band ist aber kein Gewitter, und deshalb ist es ein Unschuldsbeweis!“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann kann ich nicht verstehen, weshalb du es in deinen Kleiderschrank gepackt hast. Dort ist es nicht sicher. Wir sollten es wegholen und in meinen Safe tun, Henry!“ Er sah nicht einmal hin zu ihr, und er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Diesen Alptraum hatte er oft gehabt, in seiner ersten Zellenzeit fast jede Nacht. So etwas wie ein riesiger Krake war hinter ihm her, mit glitschigen Armen, die nach ihm griffen. Wenn er sich umwandte, erblickte er das Gesicht. Er wollte sich nicht umdrehen, aber er wurde gezwungen dazu. Die vielen Arme kehrten seinen Kopf nach rückwärts, so daß er in 176
das Gesicht hinter sich schauen mußte. Es trug die Züge jenes Mannes, der durch seine Schuld umgekommen war. Das Ganze war eine ziemliche Tortur. Man konnte nur flüchten. Und entkam nicht, denn der Krake blieb beweglicher. Bis Henry aufwachte. Diesen Alptraum hatte er lange nicht gehabt. Er erkannte daran, daß mit seinen Nerven nichts los war. Dieser Tonbandzeuge mußte schnell gefunden werden. Er fragte: „Wie ist dieser Schürhaken in meine Hand gekommen Sibill?“ Sie wußte sofort, was er meinte. Sie schien auch den Beweggrund zu spüren, weshalb er gerade jetzt darüber sprechen wollte. Sie antwortete: „Du hast ihn mit hinaufgenommen, Henry!“ „Und die Türen? Die Türen standen doch offen, nicht wahr?“ „Du hast sie aufgerissen!“ „Warum?“ „Du hast mit einer Hand nach dem Haken gegriffen und mit der anderen nach diesem Albrecht. Beide hast du nicht mehr losgelassen, bis der Mann tot war. Du hast ihn die Treppe hinaufgeschleift und oben eine Tür nach der anderen aufgerissen. Du wolltest ihm das Haus zeigen, das du für uns gekauft hattest. Na ja, du warst nicht bei dir …“ Sibill schwieg. Es wurde ihm bewußt, wie ungern sie sich an diese Nacht erinnerte! Aber es war eine Gelegenheit, die er nicht vorübergehen lassen konnte. So fragte er weiter: „Und wo warst du die ganze Zeit über, Sibill?“ Sie schaute schweigend vor sich auf den Boden. Nach einer Weile stand sie auf und öffnete die Schiebetür. Sie holte den Hennessy und zwei Gläser. Sie gab einen ordentlichen Schluck in jedes Glas, drückte ihm das eine in die Hand, und sie tranken. Dann sagte Sibill: „Ich habe mich nicht eingemischt, Henry, und das werde ich mir nicht vergeben. Wenn ich dazwischengegangen wäre, da wäre es nicht geschehen! Ich kenne dich und weiß, 177
wie leicht du zu lenken bist. Die Situation heute mit der Monierzange auf der Baustelle war ja ähnlich. Ein Händedruck von mir hat genügt.“ „Heute wäre nichts geschehen, Sibill“, sagte er mit einem zaghaften Lächeln. Sie erwiderte ebenso: „Das konnte vorher niemand mit Sicherheit wissen, Henry.“ Darauf antwortete er nicht. Er trank den Rest Kognak aus und stellte das Glas auf den Fußboden. Sie kniete plötzlich neben seinem Hocker und umfing ihn mit ihren Armen. Er wußte nicht recht, ob sie ihn mit dieser Bewegung wärmen oder beschützen wollte, vielleicht beides. Er hörte sie leise an seinem Ohr sagen: „Diesmal hast du Glück gehabt, Henry! Du konntest entkommen und hast eine Chance, deine Unschuld zu beweisen. Du hast das Tonband! Und Hubertys Vertragspartner, der das Datum der Aufnahme bezeugen kann, den werde ich für dich finden. Du wirst sehen, mein Liebling, diesmal laufen die Dinge anders!“
17. An diesem Vormittag wirkte die ganze Angelegenheit schon freundlicher auf den Kommissar. Vor allem hatte er ein paar Stunden geschlafen und ausgiebig gefrühstückt. Seit wenigen Minuten saß er hinter dem Schreibtisch seines Dienstzimmers. Die Tochter, mit der er die alte Wohnung am Wiesendamm teilte, hatte ihn am Polizeipräsidium abgesetzt, bevor sie weiterfuhr zu einem ebenso wesenlosen Hochhaus an der Ost-West-Straße, das eine Versicherungsgesellschaft beherbergte. Dann die Fahrt im Lift in eines der oberen Geschosse. Grüßen und Nicken, ein paar nichtssagende Worte mit Kollegen, der Weg zum Dienstzimmer. Der erste Blick zum Schreib178
tisch, der sauber und aufgeräumt vor ihm lag, und der zweite Blick zum anderen Schreibtisch, den man ihm vor einem halben Jahr hereingestellt hatte und an dem sein Adlatus saß – ein gewisser Herr Bünger! Vor ihm auf der Schreibtischplatte lag ein achtunddreißiger Smith and Wesson Special. Laut Dienstbericht wurde der um 1 Uhr 40, in einer Polizeiuniform eingewickelt, vor der Eingangstür zum Polizeipräsidium gefunden. Das kam hin! Um diese Zeit etwa hatte er sich mit der Nachbarsfrau unterhalten. Der Mann war also schnurstracks hergefahren, um die Waffe loszuwerden. Aber warum hatte er sie nicht einfach in die Alster oder in einen der vielen Kanäle geschmissen? Kommissar Schiller verstand es nicht. Trotzdem, die Dinge entwickelten sich nicht schlecht. Schiller wußte den Namen des Täters, denn der hatte buchstäblich seine Visitenkarte abgegeben. Schiller kannte die Adresse in Ahrensburg und die Marke und Farbe des Wagens, den er fuhr. Der Kerl selbst würde ihnen in wenigen Stunden ins Netz gehen. Insgeheim atmete Kommissar Schiller auf, denn er brauchte eine schnelle und saubere Lösung. Was schließlich die ungeheuerliche Blödheit der Streifenwagenbesatzung betraf, mußte ihn die nicht kümmern. Ein anderer Bereich hatte das zu verantworten. Das waren die Überlegungen, die dem Kommissar in diesen Minuten durch den Kopf gingen. Gedankenverloren starrte er auf den Dienstrevolver. „Es ist eine 18-Smith & Wesson, Bodyguard-Airweight .38 Special“, meldete sich Herr Bünger vom Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes. Schiller schmiß einen schrägen Blick hinüber. Der Kommissar kannte die genaue Bezeichnung der Waffe, aber er legte keinen Wert darauf, dieses Wissen zu erkennen zu geben. Nicht diesem Schnösel gegenüber, den sie ihm kurz vor Erreichung seines Pensionsalters in die Abteilung gesetzt hatten. Das war eine Kränkung, die er 179
nicht verwinden konnte. Er fand keinen Zugang zu dem um dreißig Jahre jüngeren Kollegen. Sie sagten sich längst nicht alles, wie die gemeinsame Arbeit das verlangte. Meist saßen sie sich mit geheimnisvollen Mienen gegenüber und warfen hin und wieder ein paar Informationen auf den Tisch. Kommissar Schiller fischte einen Rotstift aus der Schale und fuhr damit in den Revolverlauf. Dann hob er die Waffe an. Auf diesen Augenblick mußte der junge Kollege gewartet haben, denn nun sagte er: „Sie können das Ding ruhig anfassen, Herr Schiller, Holthusen war schon im Labor damit.“ Wolfgang Bünger lächelte höflich. Es wäre schwer gewesen, ihm irgendeine Unverschämtheit nachzuweisen, und doch schien alles darauf angelegt, den älteren und ranghöheren Kollegen zu provozieren. Der alte Kommissar wußte das und war auf der Hut. Er schmiß einen weiteren Blick hinüber und fand, daß sich der junge Mensch wie ein Penner kleidete. An diesem Septembertag trug Bünger einen leichten Sommerpullover und darüber ein abgeschabtes Lumberjack aus Kordsamt. Seine Haare gingen bis in den Nacken und waren an den Seiten über die Ohren gekämmt. Einzelne Strähnen fielen in die Stirn. Er war ein Typ, der bei Frauen ankam. Vielleicht lag es am Ausdruck seiner Augen, die den Anschein erweckten, als nähme er nichts und niemand, sich selbst eingeschlossen, allzu ernst. Was die eigene Person anging, trog der Schein, denn sich selbst sah er gern im Mittelpunkt aller Dinge. Er hatte von einem Motorradunfall einige auffällige Narben zurückbehalten. Die gingen von der rechten Kinnpartie über die Wange bis über das Auge und gaben seinem Gesicht etwas von einem verruchten Abenteurer. Ja, wirklich, Frauen wurden schwach, wenn er sie anschaute. Kommissar Schiller allerdings reagierte anders; niemals hätte er einen solchen Mitarbeiter in die Abteilung genommen, wenn es 180
nach ihm gegangen wäre. Wolfgang Bünger saß hinter seinem Schreibtisch, hatte den Stuhl ein bißchen angekippt und blätterte in der „Zeit“. Freundlich erklärend fuhr er fort: „Es sind keine Fingerabdrücke auf der Waffe, Herr Schiller, und es wurde auch nicht geschossen damit. Der Revolver lag, in eine Uniform eingewickelt, unten vor der Eingangstür. Wurde ein Uhr vierzig gefunden. Uniform und Waffe gehören dem Unglücksraben vom Peterwagen, der im Huberty-Penthaus überwältigt wurde.“ „Sie sind also bereits informiert?“ fragte Schiller. „Nur die Fakten vom Tatort. Sparsam bis jetzt.“ Nun, ganz so sparsam war es nicht, dachte der Kommissar. Und mehr für sich, aber dennoch laut, rekapitulierte er: „Dann ist er also von den Raboisen direkt nach Ahrensburg. Von dort wurde er etwa um ein Uhr zehn von einer weiblichen Person abgeholt. Sie müssen wie die Teufel stadteinwärts zum Berliner Tor gerast sein, wenn sie gegen ein Uhr vierzig hier gewesen sind. Aber dann, wo sind sie dann abgeblieben? Und wer ist die weibliche Person?“ Der junge Kommissar sah den älteren über den Rand der Zeitung hinweg an. „Wie kamen Sie denn auf Ahrensburg?“ Schiller erwärmte sich wider Willen. „Einer dieser Zufälle! Auf der Rückfahrt aus der Heide hörte ich über Funk eine Anzeige. Aus Ahrensburg. Eine Frau, offensichtlich die Nachbarin, hatte verdächtige Wahrnehmungen gemacht. Der Name des Mannes, den sie anzeigte, stimmte mit dem Namen unseres Mannes überein. Wir fuhren hin. Nach allem, was die Frau uns über ihn sagte, müßte er in der Kartei sein.“ „Ist er auch“, erklärte Bünger gelassen. „Wieso?“ „Sagten Sie nicht Ahrensburg?“ „Ja.“ 181
„Rantzaustraße?“ „Sagte ich nicht.“ „Aber es ist Rantzaustraße?“ Kommissar Schiller sah seinen jüngeren Mitarbeiter überrascht an, er nickte nur. „Eine Nummer in den Vierzigern?“ Wieder nickte der ältere Kommissar. Bünger schloß: „Der Mann heißt Berger.“ Schiller entschied, nicht auf die Taschenspielertricks des jungen Mannes hereinzufallen. „Den Namen haben Sie aus dem Tatortbericht!“ Wolfgang Bünger nickte friedfertig. „Natürlich, Herr Schiller! Aber wie es so spielt, auch mir gab der Zufall einen Fingerzeig! Ich kam gestern nachmittag aus Bremen zurück, wie Ihnen bekannt sein dürfte, und kurz hinter der Süderelbe überholte ich einen orangefarbenen BMW mit der Nummer HH – AM 140. Zuerst fiel mir die Nummer auf. Sie gehört zu der Autovermietung Adolf Menzel, die Hunderte von Fahrzeugen im Bundesgebiet zu laufen hat. Dann der Fahrer! Ich erkannte ihn sofort. Er war älter geworden, aber er war offensichtlich der Mann aus meinem ersten Fall. Ich werde ihn nicht vergessen!“ „Er ist also vorbestraft?“ fragte Kommissar Schiller. Bünger nickte. „Ich habe Holthusen schon losgeschickt. Er muß gleich mit der Akte hier sein.“ „Was war es denn damals?“ „Körperverletzung mit Todesfolge. Vier Jahre. Anschließend ging er nach Afrika.“ „Nach Mexiko.“ Schiller sah seinen Kollegen versonnen an. „Eines verstehe ich nicht.“ „Und was, Herr Schiller?“ Der alte Kommissar sagte: „Sie haben Ihren ersten Kunden auf der Autobahn wiedergesehen. Gut! Aber wieso schlossen Sie von dem auf den Mann im Penthaus? Berger ist doch ein gebräuchlicher Name.“ 182
„Es gibt da eine delikate Querverbindung, Herr Schiller“, erwiderte Wolfgang Bünger liebenswürdig. „Sibill Huberty – die Frau von dem sehr alten und toten Mann – war vor reichlich sechs Jahren mit ebendiesem Berger verlobt gewesen.“ Kommissar Schiller lehnte sich im Schreibtischsessel zurück. Er gab sich alle Mühe, nichts von seiner Überraschung zu zeigen, und es gelang ihm. Von dieser engen Beziehung war bei seinem nächtlichen Gespräch mit Sibill Huberty nicht die Rede gewesen. Auch die kleine Ärztin hatte kein Wort darüber verloren. Der Aspekt jener früheren Verbindung zwischen der Huberty und Berger rückte die Tat in ein neues Licht. Der Kommissar nahm sich vor, noch am Vormittag wieder in die Heide hinauszufahren. Diesmal würde er sich nicht so zart besaitet zeigen wie in der Nacht zuvor. Der Kommissar beschloß außerdem, dem Kollegen nichts von seinen Überlegungen mitzuteilen. Noch immer schauten sie sich schweigend an. Auch der jüngere Beamte schien anzunehmen, daß das Maß an Kooperation für diesen Vormittag nun voll sei. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Auf halbem Wege wurde vor ihm die Tür geöffnet, und Holthusen stürmte herein. Eine Akte schwenkend, rief er: „Ich habe Berger aus der Kartei gefischt.“ Der junge Kommissar Bünger schlenderte den Gang entlang in Richtung der Fahrstühle. Er wirkte heiter und unbeschwert, obwohl dies einer der Momente war, in denen er intensiv nachdachte. Er überlegte die Position, die er in dem Fall einnehmen sollte. Der Berger war es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, aber ebenso klar war, daß Schiller auf ihn springen würde. Weil eben alles so sauber und übersichtlich schien. Er könnte den Alten in die Sackgasse rennen lassen. Das würde Büngers Stel183
lung festigen. Und wenn Schiller Erfolg hatte mit der Art, wie er den Fall anpackte? Es sprachen ja wirklich alle Indizien gegen diesen armen Kerl. Schließlich würden sie ihn wohl auch ohne Geständnis verurteilen. Plötzlich schien es dem jungen Kommissar weitaus schwieriger, die Unschuld des Berger nachzuweisen als dessen Schuld. Bei den Fahrstühlen standen Automaten mit Getränken und kalten Speisen. Wolfgang Bünger ließ einigen weiblichen Schreibkräften den Vortritt am Kaffeehahn. Er machte ein paar Späße mit ihnen, kontrollierte auch den Sitz ihrer Pullover. Dabei blitzten seine Augen, aber im Grunde war er nicht bei den Mädchen und ihren Pullovern. Er wußte immer noch nicht, auf welche Seite er sich schlagen sollte. Er zog sich schließlich einen Plastbecher mit Kaffee und ging ebenso nachdenklich zu den Zimmern seiner Abteilung zurück. Als er die Tür zum Dienstzimmer öffnete, war er noch immer unentschlossen. Er sah Schiller mit Henry Bergers Akte hinter dem Schreibtisch sitzen. Er blätterte gerade auf den letzten Seiten. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Dort beschäftigten sich Pabst und Holthusen mit den Tatortberichten. Aber im Grunde warteten sie auf Anordnungen, wie nun vorzugehen sei. Bünger spazierte hinter den Schreibtisch, ließ sich nieder, blätterte in der „Zeit“, schlürfte seinen Kaffee. Und dann sagte er plötzlich in die Stille hinein: „Dieser Berger ist es natürlich nicht gewesen.“ Da kam es aus ihm heraus, Wolfgang Bünger wußte selbst nicht, wie. Kommissar Schiller war schon seit einer Weile fertig mit der Akte; er hatte nur so dagesessen und auf die letzte Seite gestarrt. Jetzt klappte er den Deckel zu. „Wieso nicht?“ fragte er. „Da stimmt zu vieles nicht“, erklärte Wolfgang Bünger. „Im Hintergrund stimmt es nicht. Einer, der morden will, verhält sich anders, denke ich mir! Dieser Ber184
ger war mit Doktor Huberty verabredet. Es ging um die eventuelle Abfassung eines Arbeitsvertrages. Mehrere Leute wußten davon. Er trifft Punkt zehn Uhr an den Raboisen ein, meldet sich beim Pförtner. Dem nennt er nicht nur seinen Namen, er zeigt ihm auch den Ausweis. Ein Mörder, nicht wahr! Dann fährt er hinauf ins Penthaus, riegelt die Tür ab und erschlägt den alten Mann?“ Der alte Kommissar sah seinen jungen Kollegen mit undurchdringlicher Miene an. Er antwortete nicht, vielmehr überlegte er, was Bünger mit seiner Attacke bezweckte. Bünger fuhr fort: „Nun trifft die Tochter am Ort des Geschehens ein. Auch sie fährt hinauf, kommt aber zurück und macht ein Riesenbuhei. Sie ruft die Polizei, und die schießen die Tür auf.“ „Das mußten sie“, erläuterte Schiller. „Die Leute mußten sie aufschießen, weil die Tür von innen verriegelt war und der Mann ihnen partout nicht öffnen wollte.“ Wolfgang Bünger wandte den Kopf zur Tür ins Nebenzimmer. Dort lehnten die beiden anderen Beamten der Abteilung und lachten leise. Er sagte: „Das HubertyPenthaus mit dem Zugang über den separaten Fahrstuhl wird doch hoffentlich einen zweiten Ausgang haben? Ich meine, es könnte ja mal Feuer ausbrechen.“ „Hat ihn!“ erwiderte Kommissar Schiller. „Hat ihn nach baupolizeilicher Vorschrift! Dieser Weg, bezeichnenderweise auch Fluchtweg genannt, führt über den Dachgarten ins Bürogebäude.“ „Na also“, meinte Wolfgang Bünger befriedigt. „Und Sie glauben, diesen Weg hat der Mörder, der nicht Berger heißt, genommen?“ „Ja.“ „Haben Sie eigentlich den Tatortbericht gelesen, Bünger?“ „Natürlich, Herr Schiller.“ 185
„Dann muß Ihnen eine Passage entgangen sein! Es heißt da nämlich, daß es nur zwei Schlüssel für die Türen des Notausganges gibt. Der eine hing an Doktor Hubertys Uhrkette, und der andere befand sich beim Pförtner in der Halle in sicherem Gewahrsam. Die Türen selbst waren beide fest verschlossen, keine Gewaltanwendung.“ „Es wird wohl einen dritten Schlüssel geben“, erklärte Wolfgang Bünger liebenswürdig. Der alte Kommissar starrte seinen Adlatus an. Er fragte sich immer noch, weshalb Bünger ihn von der Fährte Berger abzulenken versuchte. Der junge Kommissar fuhr unterdessen fort: „Es scheint mir eine Bluttat im intimen Bereich zu sein. Frau und Tochter, wahrscheinlich auch andere Personen, hatten ständig Zugang zum Penthaus. Da gab es sicher viele Möglichkeiten, einen Abdruck von dem Schlüssel zu machen.“ „Wer?“ fragte Kommissar Schiller. Bünger zuckte die Achseln. „Die Frau –“ Der Kommissar faßte sich in Geduld. Er benutzte Büngers Spiel, um die Posten auf der eigenen Checkliste noch einmal abzuhaken. Er sagte freundlich: „Die Frau hat den ganzen Abend in ihrem Atelier in der Heide gesessen und gearbeitet.“ „Die Tochter?“ „Die Tochter kam mit der Polizei!“ „Eben! Sie kam wie auf Bestellung!“ „Sie kann nicht oben ihren Vater tothauen und gleichzeitig unten im Geschäftshaus eintreffen.“ „Man müßte einmal nachprüfen, wie lange es dauert, um über Dachgarten und Fahrstuhl und Hinterausgang zu verschwinden und beim Vordereingang wieder hereinzukommen.“ Bünger warf einen Blick auf die beiden anderen Kollegen, ob er mit seiner These ankam. Offensichtlich tat er es nicht. Dieser Berger begann ihm leid zu tun. 186
„Mit dem Mord im intimen Bereich gebe ich Ihnen durchaus recht“, meinte Kommissar Schiller. „Aber auch beim möglichen Mörder Berger verläßt es diese Dimension ja nicht. Der Mann kommt um zehn Uhr an den Raboisen an. Dem Pförtner nennt er seinen Namen und zeigt den Ausweis, weil er zu diesem Zeitpunkt gar nicht daran denkt, Huberty umzubringen. Er fährt hinauf, und es kommt oben schließlich zu einem Streit mit dem bekannten Ergebnis. In panischer Angst verriegelt er die Tür, als die Tochter klingelt. Nun sitzt er jedoch in der Falle, denn den Fluchtweg gibt es für ihn nicht, er weiß sicherlich nicht einmal um dessen Existenz.“ „Aber dafür gibt es ein paar liebenswürdige Leute bei den Peterwagenbesatzungen“, ließ sich Holthusen von der Tür vernehmen. „Und die geleiten einen armen Hilfsbedürftigen dann schon mal hinaus.“ Wolfgang Bünger hatte in diesen Minuten wenig Hoffnung für seinen Klienten, und nur um etwas von sich zu geben, fragte er: „Was ist mit dem Tonband?“ Kommissar Schiller erklärte: „Vom Tatort verschwunden! Ich nehme an, daß das Gerät auf Aufnahme geschaltet war und den Streit und alles Drumherum aufgezeichnet hat. Der Berger wird’s inzwischen längst vernichtet haben.“ Der alte Kommissar hob die Akte hoch und wedelte damit in Richtung seines jungen Kollegen. „Sie sollten sich Ihren ersten Fall noch einmal zu Gemüte führen, Bünger, da werden Sie sehen, daß sich beide Fälle auf eine gespenstische Weise ähneln.“ Dieser letzte Satz brachte Bünger wieder auf die Beine. „Das ist es ja gerade, was mich stört“, erwiderte er. „Berger hat einmal vier Jahre wegen einer solchen Sache gesessen. Er weiß genau, was ihm blüht. Ein zweites Mal brennen einem da nicht die Sicherungen durch.“ „Ich bin Polizist, Bünger, nicht Psychologe“, entgegnete Schiller lakonisch. „Ich halte mich an die Fakten!“ Wolfgang Bünger ließ sich nicht beirren. „Die Person, 187
die Huberty aus dem Wege haben wollte, sah die einmalige Gelegenheit, als Berger plötzlich aus Mexiko kam. Dieser Mann, der einschlägig vorbestraft ist und einen idealen Stellvertreter abgibt. Wahrscheinlich hätte es der Täter ohne Berger niemals riskiert. Mit einiger Sicherheit lebte der alte Huberty noch, wenn Berger nur in Mexiko geblieben wäre.“ „Eins der wenigen Male, bei denen ich Ihnen nicht widersprechen möchte“, meinte der alte Kommissar belustigt. Und die beiden jungen Beamten lachten laut heraus. Wolfgang Bünger lachte pflichtschuldigst mit, aber er blieb bei seinem Thema. „Wir sollten uns fragen, ob es nicht noch andere Leute gibt, die Lust hatten, Huberty auf den Schädel zu pochen. Wer erbt zum Beispiel? Wie ist die Geschäftslage der Bauunternehmung? Wir sollten schleunigst bei den Banken nachfragen. Dann müßte man auf die Baustellen. Von den Arbeitern erfährt man sicher eine Menge über Hubertys Charakter. Man muß sich ein Bild machen von dessen Persönlichkeit, nicht wahr?“ Bünger schaute in die Gesichter seiner Kollegen und sah, daß er tauben Ohren predigte. Zumindest was diesen Schiller anging, war es so. Er schloß: „So würde ich vorgehen, wenn es mein Job wäre!“ „Es ist Ihr … Job!“ Schiller, der die Verhunzung seiner Muttersprache nur schwer ertrug, spuckte Bünger das Wort gleichsam vor die Füße. Er glaubte inzwischen zu wissen, weshalb ihn dieser junge Mensch von seiner Fährte abbringen wollte. Es war im Grunde ein Bagatellfall. Sie hatten die Leiche, und sie kannten auch den Täter. Und der hatte keine Chance. Der Apparat würde nur Stunden brauchen, um ihn zu greifen. Dieser Erfolg, der sein Erfolg sein würde, der wurde ihm nicht gegönnt. Das war es! Kommissar Bünger schüttelte hartnäckig den Kopf. „Er ist es nicht gewesen! Mein ganzes Wissen, meine Erfahrung und – natürlich auch mein Gefühl sagen mir: 188
Er ist es nicht! Jemand will es ihm anhängen! Merkwürdig, Herr Hauptkommissar, aber bei diesem Mann hat man immer den Eindruck, daß ihm etwas angehängt werden soll.“ Wolfgang Bünger schaute zu Schillers Schreibtisch hinüber, ein Lächeln im Gesicht, das warmherzig und jungenhaft war und eigentlich nicht zu ihm paßte. Der alte Kommissar erwiderte den Blick. Sie sahen sich eine Weile an, aber im Grunde sahen sie aneinander vorbei. Ihre Gedanken trafen sich nicht.
18. Marion Huberty hatte keine gute Nacht hinter sich, als sie am frühen Morgen ihren Dienst im Seniorenheim aufnahm. Sie hatte kaum geschlafen. Als sich Kommissar Schiller nach halb ein Uhr von Sibill und ihr verabschiedet hatte, verließ sie mit ihm zusammen das Atelier. Sie fühlte sich nicht in der Lage, auch nur noch ein Wort mit der Frau ihres toten Vaters allein zu sprechen. Sie brachte den Kommissar hinunter, und dabei war sie sich seiner forschenden Blicke bewußt. Wieder entdeckte sie, daß es sie zweimal gab. Die eine Marion, die neben dem Kriminalkommissar durch die Halle ging, und die andere Marion, die Obacht gab, daß sich die erste Marion richtig verhielt. Nachdem der Kommissar abgefahren war, verschwand sie in den Räumen ihrer Praxis. Sie nahm zwei Valiumtabletten und legte sich nieder. Völlig angezogen. Der Schlaf kam nicht. Sie versuchte alles in ihrem Gedächtnis zu löschen, was in den letzten Stunden geschehen war. Es gelang ihr beinahe. Zweifellos bewirkten dies die beiden Tabletten. Aber der alles vernichtende Schlaf wollte nicht kommen! Und sie konnte nicht hindern, daß neblig trübe Bilder durch ihr 189
Hirn flimmerten. Es war wie im Kino. Sie saß im Zuschauerraum und sah die verfilmte Lebensgeschichte einer Frau. Sie wußte, daß es sich um ihre eigene Geschichte handelte, aber sie hatte einen ungeheuren Abstand dazu. Was ging sie dieses kleine Mädchen an, das in seinen Gefühlen zwischen Vater und Mutter hin und her gerissen wurde. Was kümmerte sie die Darstellerin der Mutter, die gegen das Ende hin nur noch so merkwürdig taumelte und das kleine Mädchen losschickte, damit es im Supermarkt Schnaps stahl. Und dieser riesige, grobschlächtige Mann schließlich, der sich die Dinge des Lebens mit beiden Händen ins Maul stopfte. Sollte das der Film ihrer Kindheit sein? Wie entsetzlich! Marion schreckte hoch. Sie war sehr benommen. Sie stand auf und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie öffnete auch das Fenster und ließ frische Luft herein. Während sie den heißen Kaffee schlürfte, kam ihr die Erinnerung, weshalb sie eigentlich Medizin studiert und nach dem Studium sofort promoviert hatte. Sie wollte ihrem Vater zeigen, daß es auch einen anderen Weg zu diesem Titel gab, als ihn sich zu kaufen. Damit glaubte sie ihren Vater besiegt zu haben. Aber natürlich hatte sie es nicht. Ihr Vater blieb immer stärker. Bis gestern abend! Marion fühlte, daß die Enge des Raumes sie erstickte. Sie verließ das Hotel, setzte sich in ihr Auto und fuhr ein Stück in nördlicher Richtung zur Elbe hoch. Sie schob das Stoffverdeck zurück und ließ sich die frische Luft über den Kopf blasen. Das brachte sie ganz zur Besinnung. Sie zündete sich eine Zigarette an, sah auf die Uhr, die zeigte die dritte Morgenstunde. Je näher sie dem Fluß kam, desto feuchter wurde es. Nebelschwaden lagen auf dem Kühler. Sie fuhr sehr langsam. Bei Hoopte führte die Straße direkt an der Elbe entlang, und dort war es auch, wo sie plötzlich das Auto anhielt. Mit zitternden Händen zündete sie sich eine weitere Zigarette an. Es war durchaus möglich, daß sie in Verdacht geriet! 190
Sie hatte ein Motiv, denn sie erbte schließlich das Vermögen ihres Vaters, die im Ausland angelegten Millionen und das Haus an den Raboisen. Vielleicht würde man ihr nachweisen wollen, daß es möglich sei, hinter Berger abzuriegeln und über den Fluchtweg und einen Hinterausgang aus dem Haus zu verschwinden und durch den Vordereingang zurückzukommen. Der Schlüssel in Marions Handtasche brannte wie Feuer! Sie stieg aus dem Wagen aus. Bis zum Fluß hinunter waren es nur wenige Meter. Marion ging sie. Sie zog den Schlüssel hervor, der im Penthaus die beiden Türen des Fluchtweges öffnete. Das Stück Metall wog schwer in ihrer Hand. Sie hatte es über zehn Jahre besessen. Als sie den Schlüssel hinter dem Rücken ihres Vaters anfertigen ließ, sollte das auch so etwas wie ein Sieg über „Big man“ sein. Er hielt sich immer für so klug und war es im Grunde gar nicht. Sie brauchte diesen Schlüssel nun nicht mehr. Sie holte aus und warf ihn, so weit sie konnte, auf den Fluß hinaus. Sie lauschte angestrengt in die Nacht hinein, aber sie hörte ihn nicht einmal aufschlagen. Als Marion Huberty Stunden später durch die Halle des Seniorenhotels schritt, fühlte sie sich wohler. Außerdem war heller Vormittag und keine Zeit für Gespenster in neblig-trüben Hirnen. Sie konnte sogar gelassen der Abordnung von Heiminsassen gegenübertreten. Das fand bei der Rezeption statt. Allen voran kam die hochaufgeschossene, spindeldürre Frau Leberecht, die mindestens einmal wöchentlich in Marions zusätzlicher Sprechstunde erschien, um sich mit ihr über die Bedeutung ihres Rheumas zu unterhalten. Bewegt nahm die alte Frau ihre Hand. „Im Namen aller Bewohner, liebes Fräulein Doktor, unser tiefempfundenes Beileid! Er war so ein guter Mensch …“ Und so fromm! wollte Marion schon hinzufügen, aber dann fiel ihr ein, daß der Kommissar gestern diese Vo191
kabel gebraucht hatte. Sie schaute in die Gesichter der Leute um sich herum; sie sah sogar Tränen schimmern, vor allem aber erkannte sie die Angst in deren Augen. Alte Menschen haben eine körperliche Beziehung zum Tode, empfand Marion, sie ducken sich, wenn der Schnitter seine Sense schwingt. „Ich danke Ihnen für Ihre Worte“, sagte sie in die Gesichter rund um sich. „Ihnen allen meinen Dank!“ Neben Frau Leberecht tauchte das Gesicht der Pflegerin auf, die heftige Zeichen in Marions Richtung machte. „Was ist denn?“ fragte sie ungehalten. „Herr Baumstark …“ „Ja und?“ „Er hat eine schlechte Nacht gehabt.“ Das Interesse der alten Leute wendete sich der Pflegerin und Herrn Baumstarks unruhiger Nacht zu. Diesen Moment benutzte Marion, um aus dem Kreis zu entkommen. Beim Eingang stand der Kommissar Schiller. Über die Weite der Halle hinweg blickten sie sich in die Augen. Und dann zwang sich Marion dazu, dem Mann entgegenzugehen. Überrascht stellte sie fest, daß ihre Kontrolleurin, die zweite Marion, verschwunden war. Für einen Augenblick dachte sie an den kleinen Schlüssel, der sich inzwischen immer tiefer in den Schlick der Elbe grub, und sie lächelte. Unbefangen trat sie dem Kriminalbeamten gegenüber. „Wollen Sie zu mir, Herr Schiller?“ fragte sie. Der Kommissar nahm sie beim Arm. „Eigentlich wollte ich zu Frau Huberty. Ob sie schon munter ist?“ „Um diese Zeit bestimmt.“ Kommissar Schiller schielte zum Telefon bei der Rezeption, aber dann sagte er geheimnisvoll: „Ich werde sie mal einfach überraschen. Was halten Sie davon?“ Marion schaute den alten Mann an; sie wußte nicht recht, was sein Verschwörerlächeln sollte, aber sie erwiderte es. „Würde ich wohl auch tun.“ 192
Der Kommissar drückte ihren Arm, wandte sich auch schon zum Gehen, doch dann stockte er. „Dieser Mann, der Sie gestern mit der Pistole bedrohte“, fragte er. „Sie kannten den nicht?“ „Ich hatte ihn vorher nicht gesehen.“ „Aber Sie wußten, wer er war?“ „Ja.“ „Warum haben Sie mir das gestern abend nicht gesagt?“ „Es gibt bestimmte Rücksichten.“ „Frau Sibill Huberty gegenüber?“ Marion lächelte. „Bestimmt nicht.“ „Wem sonst?“ „Der Bauunternehmung meines toten Vaters gegenüber!“ „Sie müssen ehrlich sein zur Polizei, mein Kind, Sie bekommen sonst Schwierigkeiten mit uns.“ „Ich werde mich daran halten, Herr Schiller!“ Sie sah den Kommissar ohne jede Hemmung an. Wirklich, die andere Marion schien für immer verschwunden zu sein. Kommissar Schiller hatte sich auf der zweiten Fahrt in die Lüneburger Heide schließlich für die sanfte Tour entschieden. Wenn die ihn seinem Ziel näher brachte, sollte es ihm recht sein; seinem hohen Blutdruck würde sie auf jeden Fall besser bekommen. Der Kommissar stand vor der Tür, die in Sibill Hubertys Atelier führte, und hatte bereits zweimal angeklopft. Es meldete sich niemand. Behutsam drückte er die Klinke herunter, und die Tür schwang ohne jeden Laut ein Stückchen auf. Der Kommissar gab ihr einen weiteren Schubs. Das Atelier lag vor seinen Augen, aber er sah niemanden darin. Die Schiebetür an der rechten Wandseite, die in die Nebenräume führte, war dicht zusammengeschoben. Langsam ging Schiller durch das Atelier und nä193
herte sich dabei der Tür. Als er sie erreichte, legte er das Ohr gegen das Holz und lauschte. Nichts! Kein Mucks! Eine ganze Weile blieb er so stehen, aber er hörte nur das Pochen seines Blutes in den viel zu engen eigenen Gefäßen. Schließlich gab er es auf. Er ging weiter durch den Raum, am Reißbrett und an den Fenstern vorbei. Es lag nichts herum. Schiller dachte daran, wie es letzte Nacht hier ausgesehen hatte. Die Frau mußte ordnungsliebend sein, denn sie hatte gründlich aufgeräumt, ehe sie zu Bett ging. Auch auf dem Schreibtisch fand er nichts Interessantes. Er kam an die Tür zum Gang zurück, schlich hinaus und zog die Tür hinter sich heran. Dann klopfte er mehrmals, öffnete erneut und blieb auf der Schwelle stehen. Er rief laut: „Frau Huberty! Hallo – Frau Huberty!“ Diesmal brauchte er nicht lange zu warten. Die Schiebetür wurde ein Stück geöffnet, gerade so weit, daß Sibills schlanker Körper hindurchschlüpfen konnte. Sie schob die Türhälften hinter sich zusammen. Sie trug ein Kleid in gedeckten Farben, was wohl so etwas wie Trauer andeuten sollte; ansonsten sah sie frisch und irgendwie ausgeglichen aus, beinahe glücklich, wie der Kommissar empfand. Ganz anders jedenfalls als die kleine Ärztin in der Halle unten, die sich nur mit Anstrengung aufrecht hielt. Der Kommissar fragte höflich: „Sie sind nicht ungehalten, daß ich unangemeldet komme?“ „Nein.“ Der Kommissar spazierte zum zweiten Mal durch den Raum, wobei er Sibill zulächelte. Er schob einen Stuhl neben das Modell der Seniorenhotelanlage und setzte sich. Dann fragte er: „Darf ich mich setzen?“ „Natürlich!“ erwiderte Sibill amüsiert. Nun, da er saß, löste sie sich von der Schiebetür und trat hinter den Kommissar ans Fenster. Sie lehnte dagegen, verschränkte die Arme über der Brust. 194
Schiller deutete auf das Modell. „Werden Sie weiterbauen können, Frau Huberty?“ „Das will ich hoffen“, antwortete Sibill. „Unser Programm hat ja einen sozialen Hintergrund. Ja, ich hoffe es sehr!“ Pause! Und dann ganz unbefangen von ihr: „Haben Sie Herrn Berger gefunden?“ „Ja.“ Erneute Pause! Sibill dann: „Und –? Ist er geständig?“ „Nicht so, Frau Huberty!“ Das klang doppeldeutig von dem Kommissar und war auch nicht ohne Schärfe. Er blickte hoch zu der Frau und stellte fest, daß sie sich in der besseren Position befand, sie hatte das Licht im Rücken. Er konnte nur undeutlich ihren Gesichtsausdruck erkennen. Er fuhr fort: „Nicht ihn selbst haben wir gefunden, aber sein Haus! Die Nachbarin rief die Polizei, weil sie Verdächtiges bemerkt hatte. Berger war nachts gekommen, alles sehr geheimnisvoll, machte lange Zeit kein Licht. Viel später kam dann eine weibliche Person, klopfte ans Fenster, und mit der verließ Berger schließlich das Haus. Die Nachbarin war schon seit Tagen in heller Aufregung wegen diesem Mann. Sie fürchtete für ihren kleinen Sohn.“ „Wieso denn das? Berger frißt doch keine kleinen Kinder!“ meinte Sibill belustigt. Der Kommissar erwiderte ernsthaft: „Das wohl nicht, aber er ist schließlich vorbestraft. Ich habe inzwischen seine Akte gelesen. Vor reichlich sechs Jahren hat er einen Mann umgebracht.“ „Das trifft es überhaupt nicht, Herr Schiller!“ sagte Sibill heftig. „Der Mann stolperte, stürzte die Treppe hinab und brach sich das Genick.“ „Er wurde aber von Berger bedroht, trifft das denn zu?“ „Ja.“ 195
„Sie waren damals dabei?“ „Wenn Sie die Akte gelesen haben, Herr Schiller, dann wissen Sie es ja.“ Er blickte nicht hoch zu der Frau, das hatte ohnehin nicht viel Sinn, da ihr Gesicht im Schatten lag. Er achtete auf ihre Stimme, und die klang nun wieder kühl und beherrscht. Ebenso würde wohl auch ihr Gesichtsausdruck sein. Schiller hatte ein Gefühl, als müsse er vor dieser Frau auf der Hut sein. „Warum haben Sie mir gestern verheimlicht, daß Sie mit ihm verlobt waren, Frau Huberty?“ „Mein Gott, es ist sechs Jahre her!“ „Als ich Ihnen von dem Mann sprach, taten Sie, als sei er ein völlig Fremder für Sie.“ „Das ist er ja auch – heute.“ „Als ich Sie fragte, wie ich ihn erreichen könnte, rieten Sie mir, in Hotels nachzufragen.“ „Nun, das ist doch eine Möglichkeit, nicht wahr, nachdem er gerade aus Mexiko zurückgekehrt war.“ „Kannten Sie dieses Haus in Ahrensburg nicht?“ „Doch –“ „Warum nannten Sie mir die Adresse dann nicht?“ „Ich wußte nicht, daß er es noch besaß. Etwas kommt hinzu: Ich hatte für den Moment dessen Existenz völlig vergessen. Ich war gestern, falls Sie sich erinnern, stark verwirrt.“ Log die Frau? Schwer zu kontrollieren! Ihre Antworten kamen leicht und flüssig, und sie klangen glaubhaft, fand Kommissar Schiller. Durchaus möglich, daß sie die Wahrheit sagte. „Es gibt zwischen diesem Mord, Frau Huberty, und jenem Todesfall von vor sechs Jahren deutliche Parallelen.“ „Möglich.“ „Halten Sie es nicht auch für glaubhaft, daß Berger Ihren Gatten umbrachte?“ „Nein.“ 196
„Ich weiß nicht, ob es Ihnen gestern abend bei unserem ersten Gespräch entgangen ist, gesagt hatte ich es auf jeden Fall: Die Tür war von innen verriegelt, sie mußte aufgeschossen werden.“ „Ja, ich erinnere mich.“ „Wie kann es sich dann, Ihrer Meinung nach, abgespielt haben?“ „Da ist ein Notausgang auf dem Dachgarten. Haben Sie den schon gefunden?“ Schiller grinste in sich hinein. „Haben wir, Frau Huberty! Wissen Sie, wie viele Schlüssel es dafür gibt?“ „Zwei“, erwiderte Sibill, ohne zu zögern. Schiller nickte. „Können Sie mir sagen, wo die sich befinden?“ „Den einen trägt mein Mann … also, er trug ihn an der Uhrkette. Und der zweite wird unten in der Halle in so einem Glaskasten aufbewahrt.“ „Es gibt nur diese beiden Schlüssel?“ „Ja, natürlich! Mein Mann und ich stritten oft deswegen, weil ich fand, daß alle Hausbewohner einen haben müßten. Aber er lehnte es ab, weitere Schlüssel anfertigen zu lassen.“ Der Kommissar sah nun doch einmal hoch zu der Frau, und dabei trafen sich ihre Blicke. Schiller sagte freundlich: „Fahren Sie fort, Frau Huberty!“ „Womit?“ „Wie spielte sich denn die Sache ab, wenn Berger es nicht gewesen ist?“ Sibill schüttelte verständnislos den Kopf. „Ist doch höchst einfach, Herr Kommissar! Derjenige … der Täter eben, der erschlug meinen Mann. Dann nahm er den Schlüssel von der Uhrkette, versteckte sich in der Küche gleich neben der Diele und wartete …“ Sie stockte plötzlich, weil sie den höchst zufriedenen Ausdruck im Gesicht des Kommissars wahrnahm. „Dieser Schlüssel ist nicht …?“ 197
„Nein, natürlich nicht, Frau Huberty“, erwiderte der Kommissar. „Der Schlüssel befindet sich nach wie vor an der Uhrkette Ihres Mannes.“ „Und der zweite?“ „An seinem Platz in der Halle.“ „Dann muß es einen dritten Schlüssel geben“, sagte Sibill kurz entschlossen. „Sie haben doch eben selbst gesagt, daß Ihr Gatte …“ Sibill unterbrach den Kommissar heftig: „Es muß ihn geben!“ Kommissar Schiller erwiderte nichts, und es entstand eine Pause. Sibill war offensichtlich unruhig geworden. Sie löste sich vom Fenster, schritt durch den Raum bis zur Tür. Dann verschwand sie hinter dem Schreibtisch. Dieser Platz schien ihr was von ihrer überlegenen Haltung zurückzugeben. Der Kommissar sagte leise: „Sie sind stark interessiert, daß Berger entlastet wird, nicht wahr?“ Eine ganze Weile antwortete sie nicht, starrte nur so vor sich auf die Schreibtischplatte. Und plötzlich, als der Kommissar schon glaubte, sie wolle sich gar nicht äußern dazu, sagte sie: „Ich möchte verhindern, daß Berger Unrecht geschieht. Er ist nur ein einziges Mal mit seiner Umwelt in Konflikt geraten, und den hat er nicht bestanden. Nicht verbrecherische Energie, sondern menschliche Schwäche hat seiner Tat zugrunde gelegen. Von diesem einen Zwischenfall abgesehen, ist Berger ein völlig integrer Mensch.“ Kommissar Schiller lauschte überrascht der Stimme dieser Frau. Hörte sich an wie in einem Kolloquium über soziologische Fragen, dachte er. Und noch etwas fiel ihm ein: Nun hatte Berger schon den zweiten warmherzigen Fürsprecher gefunden. Der Kommissar wechselte das Thema. „Natürlich interessiert mich auch die weibliche Person, mit der Berger letzte Nacht sein Haus verließ“, 198
sagte er. „Können Sie mir etwas über seinen Bekanntenkreis sagen?“ „Nein.“ „Immerhin waren Sie einmal mit ihm verlobt.“ „Ja – vor sechs Jahren!“ Der Kommissar kam hoch von seinem Stuhl und stampfte mißmutig durch den Raum, näherte sich dabei der geschlossenen Schiebetür. Direkt davor blieb er stehen. Er wußte natürlich, daß sich dieses Atelier nicht in Hamburg, sondern in Niedersachsen befand. Er wußte, daß er keinen Durchsuchungsbefehl in der Tasche hatte. Und er tat es dennoch! Ohne zu fragen, schob er die Schiebetür auseinander. Vom Schreibtisch her kam kein Protest. Das Bett war noch nicht gerichtet. Am Kopfende sah er nur ein zerwühltes Kissen. Auf der rechten Ablage stand ein Kristallascher, und an dessen Rand lag das Ende eines ausgegangenen Zigarillos. Langsam wandte sich Schiller in das Atelier zurück. Sie schauten sich an. „Rauchen Sie Zigarren, Frau Huberty?“ fragte der Kommissar schließlich. Und Sibill erwiderte kalt: „Gelegentlich!“ Henry Berger lief die Seitentreppe im Seniorenhotel hinunter. Der Weg führte in den Keller und über einige Gänge im unterirdischen Gewirr und durch eine Hintertür hinaus ins Freie. Auf diesem Weg waren Sibill und er vergangene Nacht in das Hotel gekommen. Berger mußte im vierten oder dritten Stockwerk angelangt sein, als er plötzlich Stimmen hörte. Von unten kamen ihm Menschen entgegen. Berger blieb stehen und horchte angestrengt. Vorsichtig beugte er sich über das Treppengeländer. Als sie um die Krümmung bogen, erkannte er zwei Mädchen in Schwesterntracht. Berger schwankte eine Sekunde lang, ob er weitergehen sollte. Schließlich könnte er so tun, als ob er zum Haus gehörte oder ein 199
Besucher sei, der sich verirrt hatte. Aber er riskierte es nicht. Falls die Mädchen ihn später identifizierten, würde es Sibill in Schwierigkeiten bringen. Berger huschte den Treppenabsatz wieder hinauf und verschwand im Hotelgang. Bis hierher hatte er Glück gehabt, aber das sollte sich anscheinend ändern. Er war erst wenige Schritte gelaufen, da wurde weiter hinten eine Tür geöffnet, und eine Pflegerin schob einen Servierwagen heraus. Berger machte auf dem Absatz kehrt. Die Stimmen von der Treppe wurden immer lauter, zweifellos wollten auch die beiden Mädchen hierher. Berger hatte das Gefühl, daß er sich töricht benahm, aber er war nicht gewieft in solchen Situationen. Er drückte die Klinke neben sich nieder und verschwand hinter der aufgehenden Tür. Heftig atmend lehnte er gegen das Holz und lauschte. Die Stimmen und das Lachen der Mädchen waren ganz nah, als sie an der Tür vorübergingen. Dann wurde es still auf dem Gang. Und in diesem Moment hörte Henry Berger das Röcheln! Er stand in einem engen Korridor. Rechter Hand befand sich eine geschlossene Tür, auf der linken Seite gab es einen Wandschrank, und gegenüber vom Eingang war noch eine Tür offen, die in den eigentlichen Wohnraum führte. Das Röcheln hielt an. Es drang aus dem Zimmer, aber Henry Berger konnte nichts sehen. Da bekam einer schlecht Luft, erstickte vielleicht. Es klang wie das asthmatische Pusten eines Blasebalgs, an dem es nichts mehr auszubessern gab. Auf dem Gang war es jetzt sehr still, und dies schien die Gelegenheit zu sein, um von hier zu verschwinden. Nun gesellte sich dem Röcheln ein leises Wimmern hinzu. Henry Berger hatte doch wirklich Schwierigkeiten genug! Schließlich war die Polizei hinter ihm her wegen Mordes! Und seine Gesundheit? Beim Himmel, er hatte Malaria! Grund genug, mal an sich selbst zu denken! Was ging ihn denn das Röcheln eines Menschen an? 200
Nichts, überhaupt nichts, dachte er und marschierte geradewegs in das Zimmer hinein. In dem Bett an der rechten Wandseite lag ein Mann, den er kannte. Der Alte hieß Baumstark. An Bergers erstem Tag in diesem merkwürdigen Seniorenhotel hatte er ihn in der Halle gesehen. Da fühlte ihm die Ärztin Marion Huberty gerade den Puls und versicherte, sein Herz sei gar nicht totzukriegen. Henry Berger schien das nicht so sicher, als er den alten Mann jetzt im Bett liegen sah. Herr Baumstark hatte ein krebsrotes Gesicht und wimmerte zum Steinerweichen. Mit flatternden Bewegungen wies er neben sich auf den Nachttisch. „Medizin – schnell!“ röchelte er. Mit einem Satz war Berger beim Nachttisch und griff nach dem Medizinfläschchen. „Wieviel denn davon?“ fragte er, während er die Kappe abschraubte. „Löffel …“, stammelte Herr Baumstark. „Löffel … voll!“ Berger führte die Medizin an Herrn Baumstarks Mund. Der alte Mann sabberte ein bißchen, aber das meiste ging hinein. Er klammerte sich mit beiden Händen an Bergers Arm und zog ihn auf die Bettkante herunter. Henry Berger begann sich zu wundern, wieviel Kraft in diesem Greis steckte, denn sein Arm schien plötzlich in einem Schraubstock zu klemmen. Nachdem Herr Baumstark die Medizin verschluckt hatte, wurde sein Atem ruhiger und der Blick klarer. Henry Berger sah den listigen Ausdruck in den Augen des alten Mannes. „Sind Sie der neue Pfleger?“ fragte der. Berger schüttelte den Kopf. „Aber wir sind uns schon mal begegnet, mein Lieber.“ „Neulich in der Halle.“ „Ja, ich erinnere mich. Wie kommen Sie denn hier herein?“ „Ich habe Sie röcheln gehört.“ „Ja, ja …“ Herr Baumstark gab unzufriedene Grunzlaute von sich. Dann griff er nach einer Klingel, die an 201
einer Schnur hing, und drückte mehrmals. „Hier, sehen Sie das mal! Sie haben die Klingel abgestellt. Da kann man sterben, und es kommt niemand. Das ist schon bitter, mein Herr, wenn man im hohen Alter allein gelassen wird!“ Herr Baumstark machte eine Pause und schaute Berger abwartend an. Der fand, daß sich der alte Mann schnell erholte. Für einen todkranken Menschen konnte er auch erstaunlich gut und zusammenhängend reden. Berger fragte: „Was fehlt Ihnen denn?“ Herr Baumstark verzog das Gesicht und legte eine Hand auf die Brust. Mit der anderen hielt er Bergers Arm nach wie vor wie in einem Schraubstock fest. „Das Herz … das Herz will nicht mehr!“ Berger schielte nach der Medizinflasche auf dem Nachttisch. Er erkannte das Etikett und erschrak. Das waren ganz einfache Beruhigungstropfen, Baldrian und noch ein bißchen Zeugs. Mit diesem Medikament, das man mit gutem Gewissen auch Kindern geben konnte, kurierte Doktor Marion Huberty also die abgearbeiteten Herzen ihrer Patienten. Ob sie seiner Mutter auch solche Tropfen gegeben hatte? In diesen Sekunden mußte sich Henry Berger sagen, daß er den Tod seiner Mutter über den eigenen Problemen glatt verdrängt hatte. Sie starb an einem Aneurysma, hatte ihm Sibill gesagt. Am Bett des kranken Herrn Baumstark kamen ihm Bedenken, ob die Diagnose des Amtsarztes auch stimmte. Er lächelte dem alten Mann noch einmal zu und wollte aufstehen, aber die Backen des Schraubstockes zogen fester an. „Bleiben Sie noch ein Weilchen, junger Mann!“ In Herrn Baumstarks Augen flackerte erneut die Angst. „Es tut gut, wenn man ein bißchen Gesellschaft hat.“ Das verstand Henry Berger, und er wäre auch gern länger geblieben, wenn er nicht gerade wegen Mordes gesucht würde. Und trotzdem brachte er es nicht fertig, 202
sich gewaltsam loszumachen. Nur um etwas zu sagen, fragte er: „Kannten Sie meine Mutter?“ „Ja, ja!“ „Sie hieß Elisabeth Berger.“ „Ja, ja – natürlich!“ Und nahtlos setzte Herr Baumstark heran: „Wissen Sie, ich war Steueroberinspektor. Habe heute weder Kind noch Kegel. Auch meine liebe Frau ist bereits seit fünfzehn Jahren tot. Da über dem Bett hängt sie. Und beim Sofa ist unser Hochzeitsbild. Schauen Sie es sich ruhig an, guter Mann!“ Das hätte er schon getan, wenn der Schraubstock nur ein bißchen im Druck nachlassen würde. Berger sah den Rollstuhl neben dem Bett stehen. Herrn Baumstarks Herzkrankheit mußte weit fortgeschritten sein, wenn er keinen eigenen Schritt mehr machen konnte. „So bin ich in dieses Seniorenhotel gekommen, weil sie hier auch Pflegefälle annehmen“, redete der alte Mann weiter. „Aber wie es mit der Pflege aussieht, sehen Sie nun selbst! Ich weiß wirklich nicht, was mir geschehen wäre, wenn Sie nicht im allerletzten Augenblick hereingekommen wären. Und ich denke mir, daß man sich um alte Menschen, die nicht mehr laufen können, besonders kümmern muß. Oder etwa nicht? Ich habe doch sogar einen Leibrentenvertrag abgeschlossen. Wenn Sie wüßten, was mich der gekostet hat! Also, ich will Ihnen das verraten! Dieser Vertrag hat mich, so wahr ich hier liege, zweiundsiebzigtausendfünfhundertsiebzig Mark gekostet. Wurde natürlich versicherungsmathematisch alles genau errechnet. Nun werden Sie sagen, das ist eine Menge Geld, das ist ein Vermögen! Das ist es auch! Aber ich hatte Erspartes. Dann habe ich natürlich alles verkauft, und unter den Möbeln waren ein paar gute Stücke. Auch die Teppiche waren nicht schlecht, Täbris darunter. Dann der gesamte Schmuck meiner Frau. Einige Wertpapiere. Das Tafelsilber. Also, ich kam schon hin, obwohl ich das meiste unter Wert verschleudern 203
mußte. Diese Hyänen wittern ja, wenn einer verkaufen muß. Aber ich dachte mir, es ist am besten so. Meine Pension ist gut, aber wissen wir, wie lange die Behörde die noch zahlen kann? Ich habe viel erlebt, guter Mann, da war die Inflation, die Deflation, da kam Anno fünfundvierzig, und da gab es noch mal eine Währungsreform. Und das Geld? Lieber Himmel, was Sie vor zwanzig Jahren noch für eine einzige Mark haben kaufen können. Sehen Sie, guter Mann, und deshalb habe ich nun meinen Leibrentenvertrag. Mir passiert nichts mehr.“ Das Reden hatte den alten Mann nicht angestrengt, ganz im Gegenteil, er wirkte mächtig aufgekratzt. In erster Linie schien es nicht das schwache Herz zu sein, das Herrn Baumstark umbrachte, sondern die Einsamkeit. „Dieses viele Geld, das Sie eingezahlt haben, wurde das auch abgesichert?“ fragte Henry Berger. „Ja, ja, das macht Herr Huberty schon!“ „Aber wie?“ „Er macht es, da brauchen wir keine Sorge zu haben.“ Henry Berger schaute den pensionierten Steueroberinspektor verblüfft an. „Aber hören Sie mal, Herr Baumstark! Sie haben all Ihr Geld in den Leibrentenvertrag gesteckt. Das muß doch abgesichert sein, sagen wir, in einem Grundbuch, und das Ganze wiederum muß notariell beglaubigt sein. Ist es das bei Ihnen?“ Auf Herrn Baumstarks Gesicht lag ein heiter-sorgloses Lächeln. „Kennen Sie Herrn Huberty?“ „Flüchtig.“ „Also nicht gut genug! Ich werde Ihnen jetzt mal sagen, was das für ein Mensch ist. Sonntags halten wir hier Gottesdienst, da kommen Pfarrer von den Nachbargemeinden. Und es gibt nicht einen Gottesdienst, den Herr Huberty je versäumt hätte. Das ist ein gottesfürchtiger Mann! Wenn er nur wüßte, was man mir hier antut, er würde kommen und tabula rasa machen. Ich habe ihm mehrfach geschrieben, aber sie befördern meine Post ja 204
nicht! Als ich ihn zum letzten Mal sah, da sagte er mir: ‚Wissen Sie, lieber Oberinspektor, ich will gar nichts für mich! Ich pflege meine Heiminsassen bis zum Tod und drücke ihnen auch noch die Augen zu.‘ So ein Mann ist das!“ Henry Berger empfand so etwas wie Rührung, als er dem alten Mann ins treuherzige Beamtengesicht sah. Und er brachte es einfach nicht über das Herz, ihm zu sagen, daß sein Gönner inzwischen die Augen für immer geschlossen hatte. Kommissar Schiller hatte nur einen kurzen Blick auf den Hotelgang geworfen. Er wollte sich nicht lächerlich machen und dem Kerl durch das ganze Haus hinterherlaufen. Aber es hatte geradezu in der Luft gelegen, daß Berger die letzte Nacht hier zugebracht hatte. „Wann ist er gegangen und wohin?“ fragte der Kommissar. Sibill erwiderte kühl: „Ich weiß nicht, von wem Sie reden, Herr Schiller.“ „Das wissen Sie sehr gut! Sie holten ihn letzte Nacht aus seinem Haus und brachten ihn hierher.“ „Warum sollte ich?“ „Um ihn zu verstecken! Vielleicht haben Sie die Tat zusammen geplant.“ Sibill, noch hinter dem Schreibtisch sitzend, lachte amüsiert. „Seien Sie nicht albern, Herr Kommissar!“ Plötzlich tanzten rote Punkte vor Schillers Augen, schlierten aus zu Kreisen und Spiralen. Nun trat genau das ein, was er hatte vermeiden wollen, die Wut brach vehement aus ihm heraus. Er brüllte: „Ich verbitte mir Ihren flapsigen Ton, meine Gnädigste! Haben wir uns da verstanden? Hier geht es um Mord, und ganz nebenbei geht es auch um eine Geiselnahme. Und diese Bübereien sind nun wirklich eine Seuche, sind die reine Pest! Wir stehen mit gefalteten Händen dabei und gucken zu. Und dann ist man endlich dran an so einem Kerl, hat ihn fast, 205
und Sie, meine Teuerste, was machen Sie? Sie tun so, als sei das Ganze nur ein Spaß!“ Der Kommissar spürte den stechenden Schmerz in der Herzgegend. Die Kranzgefäße! Auch im Kopf hatte er ein Gefühl, als sei der ein gefüllter Ballon und wolle gleich aufsteigen. Mühsam ging er zum Fenster, riß die Gardine beiseite, machte auf. Er zog ein Taschentuch hervor und rieb sich die Stirn. Ein paar Minuten stand er so, ohne sich zu rühren, und ließ die Erregung abklingen. Dann drehte er sich herum. Sibill saß unverändert hinter dem Schreibtisch und sah ihn interessiert an. „Möchten Sie ein Glas Wasser?“ fragte sie. Darauf antwortete der Kommissar nicht. Beherrschter fuhr er fort: „Dieser Berger ist ein Gewalttäter, Frau Huberty! Daran gibt es keinen Zweifel, es ist aktenkundig. Was ich wissen will, ist sein mögliches Motiv in diesem Fall. Und so frage ich Sie: Hatte Berger einen Grund, Ihren Mann zu töten?“ Sibill antwortete nicht. „Hatte er einen Grund?“ „Ich weiß nicht.“ Kommissar Schiller schaute hin zu ihr, und diesmal war er im Vorteil, denn nun mußte sie ins Licht sehen. Schließlich senkte sie den Blick. Schiller sagte: „Sie lügen!“ Auch dazu sagte sie nichts. Der Kommissar ließ einige Sekunden verstreichen, dann erklärte er: „Ich nehme Sie vorläufig fest, Frau Huberty!“ Sibill schreckte hoch. „Aber wieso denn? Aus welchem Grund wollen Sie das tun?“ „Um Sie der Nachbarsfrau gegenüberzustellen“, erwiderte Schiller gelassen. „Ich bin sicher, daß Sie als die Frau erkannt werden, die Berger letzte Nacht abholte. Darauf wird entschieden, ob man Sie der Beihilfe nach der Tat anklagen muß. Das macht der Haftrichter. Ich nehme Sie nur vorläufig fest, Frau Huberty!“ 206
„Aber das ist nicht möglich. Ich kann den Betrieb … in dieser Situation kann ich nicht … wirklich, Herr Schiller, das dürfen Sie, bitte, nicht tun!“ Kommissar Schiller ging quer durch den Raum zur Tür und öffnete sie. „Machen Sie keine Schwierigkeiten, Frau Huberty! Kommen Sie mit!“ „So … warten Sie doch …“ Kommissar Schiller schloß die Tür und lehnte sich dagegen. Abschätzend sah er zu der Frau hin, die auf einmal alle Selbstsicherheit verloren hatte. „Gab es zwischen Berger und Ihrem Mann Probleme, Frau Huberty? Hätte Berger einen Grund gehabt, Ihren Mann zu töten?“ Er sah, wie sie sich wand, aber er wußte schon, daß er gewonnen hatte. Ein solch brutaler Angriff, hinter dem der ganze Apparat stand, zeigte bei Menschen, die mit dem Gesetz sonst nicht in Konflikt gerieten, immer Wirkung. Das war nur noch ein Moment, bis sie endgültig zusammenbrechen würde.
19. Henry Bergers Leihwagen von der Firma Adolf Menzel stand auf dem Parkplatz der Bauarbeiter. Sibill hatte vergangene Nacht geraten, ihn dort abzustellen, und als Berger es tat, war der BMW weit und breit das einzige Fahrzeug gewesen. Jetzt machte es Mühe, das Auto überhaupt wiederzufinden. Niemand hinderte ihn schließlich beim Einsteigen; auch auf dem Trampelpfad bis zur Kreisstadt hatten sie keine Sperren errichtet, aber sicher fühlte sich Henry Berger erst, als er in der Anonymität der Autobahn untertauchen konnte. In Ahrensburg bog er nicht in die Rantzaustraße ein, sondern fuhr über Lange Koppel und Tannenweg, die parallel 207
verliefen, zur Schimmelmannstraße. Als er die erreichte, stoppte er den Wagen und stieg aus. Er sah kaum Leute. Schräg gegenüber an der Ecke Schimmelmann- und Rantzaustraße lag sein Grundstück. Er huschte hinüber und versuchte einen Blick nach innen zu werfen, aber die Hecke war zu hoch und zu dicht. Langsam kam er bis zur Einmündung Rantzaustraße. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Auch dort lief niemand. Vor der Toreinfahrt zu seinem Grundstück stand kein Polizeiauto, er konnte überhaupt keine Fahrzeuge entdecken. Es schien eine Gegend für Leute zu sein, die Ruhe brauchten. Also wie geschaffen für ihn. Wenn es dieses eine Mal gut ausging, wollte er versuchen, hier heimisch zu werden. Immer noch vorsichtig, ging er weiter. Sie konnten im Garten oder sogar im Haus sein. Aber das waren sie nicht! Hannah Mewis stand im Garten! Von irgendwoher hatte sie sich einen verrosteten Fächerbesen besorgt und strich Laub zusammen. „Hier muß tüchtig ausgemistet werden, Sie Fallott!“ rief sie fröhlich. Halb ärgerlich und halb belustigt wollte er ihr den Laubbesen fortnehmen, aber sie gab ihn nicht her. „Sie haben wohl vergessen, was ich Ihnen gesagt habe, Frau Mewis?“ „Sie haben gesagt, daß ich im Haus keinen Besen anrühren soll, und der Teufel wird mich holen, wenn ich es tue. Aber dieses hier ist der Garten, junger Mann!“ „Und da kriechen Sie herum, Hannah, vor allen Leuten!“ Berger begann zu lachen. Die Klamotten, die sie sich zusammengesucht hatte, mußten in der Garage gelegen haben. Die blaue Pudelmütze, daran erinnerte er sich, die hatte er als junger Mensch beim Segeln getragen. „Die Polizei war schon da – mitten in der Nacht. Aber seit vielen Stunden ist Ruhe, ich hab’s recherchiert!“ „Wann kamen die?“ fragte Berger. 208
„Eigentlich zu früh“, erwiderte Hannah. „Sie und Frau Huberty waren kaum fort. Die sind schnell auf Ihre Adresse gestoßen! Ich war noch auf, und überall im Haus brannte Licht, und deshalb lief das auch nicht so ab, wie wir uns das gedacht hatten. Ich mußte denen schon sagen, daß ich Sie gesehen hätte und so weiter. Aber ich habe mich dumm gestellt, und das ist eine Haltung, junger Mann, die ich vorzüglich beherrsche. Ich muß überragend gewesen sein!“ „Und?“ fragte Henry Berger lächelnd. „Was hat die Polizei Ihnen gesagt?“ „Daß Sie gewalttätig sind, Fallott! Und bewaffnet! Und daß ich lieber nicht in diesem Haus bleiben sollte.“ „Und was haben Sie gesagt, Hannah?“ „Ich habe gesagt, daß Sie sicherlich sehr gewalttätig seien. Aber nicht zu mir! Ich käm ganz gut mit Ihnen zurecht. Da haben sie mich gefragt, ob ich Einfluß hätte auf Sie. Da habe ich denen gesagt, ich hätte großen Einfluß auf Sie. Und da haben die mir gesagt, ich sollte meinen Einfluß benutzen, damit Sie sich der Polizei stellen. Davonlaufen hätte keinen Sinn!“ „Und Sie –?“ „Was?“ „Wollen Sie mir das sagen?“ „Ja –!“ „Was –?“ „Davonlaufen hat keinen Sinn, Herr Berger!“ Er spürte, daß sie es ernst meinte und daß sie diesen Ernst nur in Späße verpackte, wie die Narren in den Stücken, in denen sie früher aufgetreten war. Hannah fuhr fort: „Sie müssen es mit der Polizei riskieren, mein Kleiner, wirklich, das meine ich! Da läuft einer herum, der hat Huberty umgebracht, und den werden die auch finden. Es sind ja schließlich Fachleute. Sie müssen einmal Vertrauen fassen, glauben Sie mir das!“ Lange sagte er nichts, stand nur so da; er wußte, daß 209
sie es gut mit ihm meinte. Schließlich raffte er sich auf. „Ich kann mich nicht der Polizei stellen, Hannah, noch nicht! Ich brauche erst den Mann, für den Huberty jenen Vertrag heraussuchte. Wissen Sie, als er damals das Tonband besprach.“ Hannah erwiderte leichthin: „Wenn es nur das ist, kann ich Sie beruhigen, Fallott! Ich bin dieser Mann!“ „Was ist – los?“ fragte Berger. Hannah lachte laut heraus. „Natürlich nicht der Mann, nicht wahr, darum möcht’ ich dann schon bitten!“ Hannah Rückwärts war selbst überrascht, wie leicht und flüssig ihr die Worte von den Lippen kamen. „Aber die Person bin ich schon, für die Huberty den Vertrag herausgesucht hat. Hab’ ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich kürzlich auch einen Leibrentenvertrag abgeschlossen habe?“ „Sie … Hannah? Aber das ist doch kaum möglich!“ Er sah sie durchdringend an. „Ich war diese Person, Herr Berger, und niemand sonst!“ Das schmetterte sie ihm hin. „Und warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“ Hannah Rückwärts wurde wütend. Das fehlte noch, daß er es ihr nicht glaubte. Schließlich war sie Schauspielerin gewesen. „Weil ich mich nicht gleich erinnerte“, antwortete sie. Und plötzlich hatte sie den richtigen Ton. Sie ließ die Worte ganz nebenbei fallen, dieses Understatement eben, das die Schauspieler heutzutage anwenden, weil sie es für modernes Theater halten. „Es fiel mir erst ein, als ich mir später alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Hubertys Bemerkung, wissen Sie, daß Jomeyer sich entschuldigen ließe. Ja, ja, das hab’ ich nicht vergessen. Aber eigentlich brachte mich doch der Pernod darauf!“ „Trinken Sie denn Pernod?“ „In Paris habe ich ihn viel getrunken.“ „Paris, da waren Sie auch?“ 210
„Ja“ „Paris und Mexiko?“ „Ja, ja!“ „Und Rum und Pernod?“ „Jedes in seinem Land!“ Noch immer blickte er sie durchbohrend an, und sie erwiderte seinen Blick eisenhart. Wirklich, dachte er, die Alte hat es faustdick hinter den Ohren! Er wußte nicht, was er glauben sollte. „Sie haben also gerade an jenem Abend Ihren Leibrentenvertrag abgeschlossen, als Huberty dieses Tonband besprach?“ wiederholte er. Sie nickte leichthin. „So muß es wohl gewesen sein, nicht wahr? Es war genau so, wie Sie mir das geschildert haben. Mit dem Einschenken von Pernod … und legen Sie mal ab inzwischen! Ich dachte … na, aus dem Mantel hätte er mir schon helfen können, der alte Esel, wo ich ihm doch das ganze Geld brachte an jenem Abend.“ „In bar?“ Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. „Ich gab ihm einen Scheck.“ „Und der Vertrag?“ Diesmal brauchte sie nicht zu zögern, denn es entsprach der Wahrheit. „Ich habe ihn nicht.“ „Wieso?“ „Doktor Jomeyers Unterschrift fehlte, der hatte sich doch entschuldigen lassen. Und dabei ist es bis jetzt geblieben.“ Hannah Rückwärts war sehr zufrieden mit sich, denn offensichtlich hatte sie ihn überzeugt. „Was ist nun? Gehen wir zusammen zur Polizei?“ „Und Sie werden denen das sagen, das mit Ihrem Leibrentenvertrag und so?“ „Aber natürlich, Fallott! Bringen wir es also gleich mal hinter uns!“ „Es geht nicht, Hannah! Weil Sie den Vertrag nicht in Händen haben. Die könnten glattweg abstreiten, daß Sie jemals einen abschlossen.“ 211
„Aber ich habe doch eine Quittung für den Scheck bekommen!“ „Ach, da gibt es tausend Tricks!“ Hannah wußte plötzlich, daß es schwere Arbeit bedeuten würde, eine Bresche in die Mauer seines Mißtrauens zu schlagen. Sie standen schweigend voreinander, bis Hannah plötzlich sagte: „Die sind im Garten und harken Laub zusammen!“ „Was ist los?“ fragte Berger. Hannah, in die Ferne schauend, fuhr ungerührt fort: „Warum denn nicht verhaften?“ Henry Berger folgte ihrem Blick zum Nachbarhaus hinüber. Als seine Augen bei dem Fenster anlangten, glitt gerade die Gardine vor die Scheiben. Aber er hatte genug gesehen. Da war diese hysterische Frau, und daneben stand ein Mann. Und der hatte einen Telefonhörer am Ohr. „Nein, nicht verhaften!“ wiederholte Kommissar Bünger. Auch er hatte den Telefonhörer am Ohr. „Aber folgen Sie dem Mann! Ich will über jeden seiner Schritte unterrichtet werden.“ Bünger legte auf und streifte Holthusen, der vor ihm am Schreibtisch lehnte, mit einem Blick. „Darf man fragen, was Sie vorhaben, Herr Bünger?“ „Ich habe da so eine Idee!“ Bünger musterte den jungen Kollegen. Er saß in dieser Abteilung noch nicht allzu fest im Sattel, und er fragte sich, ob er den intelligenten Holthusen als Mitstreiter gewinnen könnte. Er entschloß sich zur Vertraulichkeit. „Berger ist bisher nicht ins Ausland geflüchtet! Und das hätte er mit Leichtigkeit tun können. Möglicherweise hat er den Kampf aufgenommen. Ich könnte mir denken, daß er uns dabei vielleicht zum wirklichen Täter führt.“ „Wird schweren Ärger mit dem Hauptkommissar geben“, meinte Holthusen nach einer Weile. „Natürlich!“ 212
„Er wird sagen, daß wir seine Taktik durchkreuzen.“ „Hat er überhaupt eine?“ „Na schön, er wird sagen, daß wir seine Anordnungen nicht befolgen.“ „Wird er!“ „Wir haben eine Menge Pech gehabt in der letzten Zeit, und was der Schiller braucht, ist ein schneller Erfolg.“ „Nun hören Sie mal zu, Holthusen! Wirklichen Erfolg kann er nur haben, wenn er den Täter faßt. Nicht irgendeinen Mann, der es auch getan haben könnte, sondern den Täter! Und dabei wollen wir dem armen, kranken Herrn Schiller helfen, nicht wahr?“ Sie sahen sich an. Holthusen dachte: Einen Dreck willst du dem Schiller helfen! Und er dachte an die Gerüchte, die im Haus umliefen. Der Schiller würde vorzeitig pensioniert, hieß es, und der Bünger, der in der Chefetage ihm freundliche Herren zu sitzen habe, übernähme die Abteilung. Holthusen nickte nur, denn er mußte vorsichtig sein. Bünger fuhr fort: „Und deshalb habe ich Sie heute morgen zu den Banken geschickt.“ „Gegen Schillers ausdrückliche Weisung“, warf Holthusen mit einem halben, um Entschuldigung bittenden Lächeln ein. „Ich nehme es auf mich, Holthusen!“ entgegnete Wolfgang Bünger. Er griff nach einem Bogen Papier, hob es hoch. Sagte anerkennend: „Und was wollen Sie eigentlich? Sie sind doch fündig geworden. Zweihunderttausend Mark haben Sie herausgepickt. Wie sind Sie nur daraufgekommen?“ Holthusen wärmte sich an dem Lob des kommenden Chefs wie an einem guten Feuer. „Ist doch eine verdammt hohe Summe! Wurde von Hubertys Privatkonto abgebucht und dem Privatkonto Jürgen Jomeyers gutgeschrieben.“ 213
„Vor einem Jahr reichlich.“ Wolfgang Bünger schaute versonnen auf das Stück Papier in seiner Hand. Dann hob er den Blick. „War das nicht so um die Wahlen herum?“
20. Marion Huberty fuhr den Citroën in die Tiefgarage des Raboisenhauses und parkte ihn neben dem Mercedes ihres Vaters. Lange Zeit blieb sie untätig hinter dem Lenkrad sitzen, sah zu dem großen Auto hinüber. Auch das gehörte nun ihr. Sie könnte umsteigen, wenn sie wollte. Aber sie glaubte nicht, daß sie es tun würde, jedenfalls nicht so schnell. Dann fiel ihr der riesenwüchsige Chauffeur ihres Vaters ein. Er hatte sich bisher nicht gemeldet. Sie würde ihm sein Geld geben und ihn fortschicken. Auf keinen Fall wollte sie ihn in ihrer Nähe behalten, der Mann war ihr unheimlich. Als Marion schließlich ausstieg, bemerkte sie den jungen Monteur, der sich am hinteren Ende der Garage herumdrückte. Langsam ging sie auf ihn zu. Sobald er sah, daß es sich nicht vermeiden ließ, kam er hoch von dem Wagen, an dem er gerade herumfummelte, und wandte sich ihr zu. „Ach, Fräulein Doktor, habe Sie gar nicht gesehen. Tschuldigung!“ „Guten Tag, Fritzi!“ „Guten Tag, Fräulein Doktor!“ Er vermied ihren Blick, deutete vielmehr zur „Ente“ hin. „Soll ich?“ Marion lächelte. „Heute habe ich andere Sorgen.“ „Ja, ich weiß!“ Und plötzlich nahm er impulsiv ihre Hand. „Mein Beileid auch, Fräulein Doktor! Hat mir einen Schlag gegeben, als ich es hörte.“ „Ich danke Ihnen!“ Auf einmal verstand sie, weshalb er nicht mir ihr hatte sprechen wollen; er wußte nicht, 214
wie er es ausdrücken sollte. Sie nahm seinen Arm. „Sie sind sehr nett, Fritzi!“ Er wurde glutrot, und Marion wechselte schnell das Thema. „Ist Doktor Jomeyer schon im Haus?“ „Seit einer Weile!“ „Wissen Sie, wann er aus Bonn zurückgekommen ist?“ „War er denn in Bonn?“ „Ja, gestern!“ Sie deutete zu dem blauen Mercedes hinüber. „Haben Sie ihn schon gewaschen?“ Der Wagen blitzte vor Sauberkeit. Der Monteur blickte Marion merkwürdig berührt an. „Ich habe den Mercedes nicht gewaschen!“ Fritzi ging einmal um das Auto herum, blieb neben dem Fahrersitz stehen. Wieder schaute er verblüfft zu Marion hin, die mit einem kleinen Lächeln näher kam. Der Monteur zog ein abgegriffenes, fettiges Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. Dann öffnete er die Tür des Mercedes und setzte sich hinter das Lenkrad. Er kontrollierte etwas. Darauf stieg er wieder aus und ließ die Tür zuschnappen. „Der war nicht in Bonn!“ sagte er entschieden. „Weil er so sauber ist?“ „Deswegen nicht! Ich habe vor einer Woche Ölwechsel gemacht, und seitdem ist der Mercedes nur dreihundert Kilometer gelaufen. Ich notiere mir den Kilometerstand der Wagen, wenn ich das Öl wechsele. Sehen Sie, hier!“ Er hielt Marion das Buch hin. „Kann also nicht bis Bonn sein und zurück.“ Plötzlich hatte Marion Huberty einen höchst befriedigten Ausdruck im Gesicht. „Versprechen Sie mir etwas, Fritzi?“ „Alles, Fräulein Doktor!“ „Reden Sie mit niemandem darüber. Auch mit Doktor Jomeyer nicht!“ „Okay, Fräulein Doktor, kein Sterbenswörtchen!“ Marion nickte dem Monteur noch einmal zu, dann 215
ging sie zu den Fahrstühlen. Sie fuhr aus der Tiefgarage bis ins oberste Stockwerk des Raboisenhauses, wo ihr Verlobter seine Geschäftsräume hatte. Ihr Verlobter! Es war sicher nicht nur Einbildung, daß sich ihre Beziehung in der letzten Zeit abgekühlt hatte. Inzwischen glaubte sie auch den Grund dafür zu wissen. Der war so ungeheuerlich, daß Marion sich zunächst einfach weigerte, ihn anzuerkennen. Die Entwicklung schmerzte Marion. Sie war ein beständiger Mensch, hielt viel von Treue und haßte jede Veränderung. Marion fand die Tür zu Jürgen Jomeyers Vorzimmer abgesperrt und ging weiter zum Arbeitszimmer, das ebenfalls einen Zugang auf den Gang hatte. Sie drückte die Klinke nieder und trat ein. Der Rechtsanwalt lehnte am Schreibtisch und sortierte Akten, die er aus einem schmalen Lederkoffer hervorholte. Die Safetür hinter ihm stand offen. Er blickte kurz auf, wobei der Anflug eines Lächelns auf sein Gesicht kam. „Grüß’ dich, Marion!“ sagte er. Er hatte sie bereits in der Heide angerufen, und sie hatten etwa eine halbe Stunde miteinander gesprochen, auch über den Tod ihres Vaters. Er dachte gar nicht daran, sie in den Arm zu nehmen. Er küßte flüchtig ihre Wange, die sie ihm bot, und wandte sich wieder den Papieren zu. Sie schaute ihm eine Weile zu, wartete darauf, ob ihm die Stille unheimlich würde, aber das tat sie nicht. Schließlich fragte sie: „Wann bist du zurückgekommen aus Bonn?“ „Ich habe dich sofort angerufen, als ich in Hamburg war; also kurz vorher.“ „Und –?“ „Was und?“ „Es ging um einen großen Kredit, soviel ich weiß. Hast du etwas erreichen können?“ Er lächelte. „Seit wann interessierst du dich für Geschäfte, meine Kleine?“ 216
„Muß ich doch jetzt, nicht wahr?“ Das Lächeln auf seinem Gesicht verstärkte sich. „Nein, ich habe nichts erreicht, wenn du es wissen willst. Ich bin schon in einem der Vorzimmer – nicht einmal in der Chefetage – steckengeblieben. Möchtest du auch wissen, was mir so ein Schnösel von Ministerialdirigent sagte? Wörtlich? Paß gut auf, er sagte: Bankgeschäfte und Kreditwesen, mein Herr, die gehören ja nun nicht zu unserem Gewerbe.“ Voller Wut warf er einen Stoß Akten in den Koffer zurück, dann wandte er sich dem Safe zu. Marion ging durch die Verbindungstür ins Vorzimmer, dort sah sie den leeren, aufgeräumten Schreibtisch der Sekretärin. „Du hast Frau Bodendieck freigegeben?“ „Ja, sie hat eine Familienangelegenheit. Ich kann sie heute entbehren, weil ich ohnehin in die Bürgerschaft muß.“ Marion schlenderte durch das Vorzimmer zur Tür, die auf den Gang führte, und schaute sich die Verriegelung an. Hinter ihr machte Jürgen Jomeyer seiner Unzufriedenheit Luft. „Und an wem bleibt der HubertyDreck kleben? An mir! In einer Stunde darf ich den Volksvertretern Fragen beantworten. Die parlamentarische Quasselstunde! Schon seit Wochen gehen Gerüchte, daß in der Bauunternehmung Huberty Gelder von zukünftigen Heiminsassen zweckentfremdet eingesetzt würden. Die Gelder jener Senioren, mit denen ich die Verträge gemacht habe.“ Marion legte den Riegel herum, die Tür ließ sich jetzt öffnen. Sie warf einen kurzen Blick auf den Gang hinaus und schob die Tür wieder heran, ließ sie aber unverriegelt. Dann ging sie in das Arbeitszimmer zurück. Jomeyer schloß gerade den Safe. „Und da du dich ja nun für die Geschäfte interessierst, Marion, frage ich dich, wie wir diese Gelder denn zweckentsprechend hätten einsetzen können? In den letzten Monaten wa217
ren wir nämlich nur damit beschäftigt, Löcher zu stopfen!“ Auf seinem Gesicht lag ein gequältes Lächeln, und eigentlich hätte er ihr leid tun müssen. Aber merkwürdigerweise empfand sie gar nichts. Jomeyer kam hinter dem Schreibtisch hervor, nahm im Vorübergehen ihren Arm. Das war eine nebensächliche Bewegung, so als ob er nach seiner Aktentasche griff. Es ärgerte sie plötzlich maßlos. Sie entzog sich ihm. „Einen Moment noch!“ Er war überrascht. „Was ist denn, Marion, ich bin schon spät.“ „Ich habe mit dir zu reden.“ „Aber doch nicht jetzt, Kleines, ich muß in die Bürgerschaft.“ „Nur ein paar Worte!“ Er spürte, daß es ihr bitterernst war. Seufzend sagte er: „Also gut, aber mach’s kurz!“ Er schaute auf seine Armbanduhr. Marion fragte: „Mit der Bauunternehmung Huberty ist es zu Ende, nicht wahr?“ Jomeyer erwiderte gleichgültig: „Ja, natürlich! Der Bankrott war schon seit Monaten nicht aufzuhalten, Kindchen! Der Tod deines Vaters wird das alles nur beschleunigen.“ „In einer solchen Situation denkst du natürlich nicht ans Heiraten, nicht wahr?“ „Du etwa?“ „Es war verabredet!“ „Dein Vater ist noch nicht unter der Erde. Nein, wirklich …“ Er ging zur Tür und öffnete sie. Mit erhobenem Kopf ging sie an ihm vorbei aus dem Zimmer. Jomeyer verschloß die Tür zum Arbeitszimmer, dann liefen sie den Gang entlang zu den Fahrstühlen. Er lächelte ihr zu, aber es war das routinierte Lächeln eines Geschäftsmannes. Er hätte sie gar nicht tiefer verletzen können. Sie fühlte, daß gleich etwas geschehen würde. 218
Vielleicht fiel sie um oder so etwas. Aber sie blieb aufrecht. Und während sie bei den Fahrstühlen standen und auf den Korb warteten, sah sie in sein Gesicht, das ihr plötzlich eigentümlich nackt und fremd vorkam. Sie wußte gar nicht mehr, was sie alles in diese Züge hineingeheimnist hatte. Er sagte: „Möglicherweise denkst du jetzt an die zweihunderttausend Mark, die ich von deinem Vater habe, nicht wahr?“ Wieder lachte er unverschämt. „Die wirst du von mir in den nächsten Tagen bekommen, Kindchen, sorg dich nicht, du bist doch seine Erbin.“ Der Korb war angekommen, und die beiden Türhälften glitten auseinander. Jomeyer machte eine Bewegung, um ihr den Vortritt zu lassen, aber sie stieg nicht ein. „Was ist?“ fragte er. „Willst du nicht mit hinunter?“ „Ich geh’ ins Penthaus hinauf.“ Er verstand sie nicht. „Aber dann mußt du doch auch erst in die Halle und den anderen Fahrstuhl nehmen.“ „Ich geh’ über den Fluchtweg“, sagte sie und schaute ihm aufmerksam in die Augen. Er stellte einen Fuß zwischen die Lichtschranke. „Hast du denn einen Schlüssel?“ fragte er. Auf einmal klang seine Stimme gepreßt. „Ja, hab’ ich.“ „Woher?“ „Ich hab’ ihn eben!“ Er faßte ihren Arm mit einem Griff, der weh tat. „Hör mal, Marion, das ist keine Antwort! Woher hast du den Schlüssel?“ „Ich weiß nicht, was es dich angeht, aber es ist ja kein Geheimnis“, erwiderte sie. „Ich war heute bei der Polizei und habe um die persönlichen Dinge meines Vaters gebeten. Und darunter befand sich auch der Schlüssel.“ Er sah sie voller Mißtrauen an, bis er sie schließlich freigab. Er trat in den Korb. Noch als die Türhälften zu219
sammenglitten, war der fassungslose Ausdruck nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Sie ging schnell zu Jomeyers Büro zurück. Sie trat in das Vorzimmer und verriegelte die Tür hinter sich. Dann lief sie weiter ins Arbeitszimmer und trat hinter den Schreibtisch. Ohne zu zögern, klappte sie das Bild zur Seite, hinter dem der Safe verborgen lag, und stellte die Zahlenkombination ein. Sie zog die Stahltür auf. Dann begann sie, die beiden Fächer schnell und systematisch zu durchsuchen. Sie fand schließlich einen Schnellhefter, der sie interessierte. Damit zog sie sich in Jomeyers Schreibtischsessel zurück. Sie blätterte in den Papieren. Die enthielten Aufstellungen und eine ganze Menge quittierter Rechnungen. Auf einmal glaubte Marion die Zusammenhänge zu durchschauen. Sie war durch den Tod ihres Vaters ja auch zu einer reichen Frau geworden. Jomeyer wußte das, und trotzdem wollte er sie plötzlich nicht mehr heiraten. Er sah sich sogar in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen. Man mußte ihm also einen Ersatz angeboten haben. Und die Erklärung dafür schien Marion in diesen Papieren zu liegen. Lange Zeit saß Marion Huberty hinter dem Schreibtisch in Jürgen Jomeyers Büro. Sie dachte nach. Und sie beschloß, sich zu rächen!
21. Wilhelm Silberstein, der Rechtsanwalt aus dem deutschnationalen Elternhaus, der nach dem letzten deutschen Kaiser genannt wurde, erwies sich schon im Äußeren als das krasse Gegenstück zu einem Germanen. Henry Berger aber, der ein Faible für Nichtgermanen und für Blumen hatte, fühlte sich auf der Stelle heimisch, als er in Wilhelm Silbersteins Garten umherging. Es war die Zeit 220
der Dahlien, und der Rechtsanwalt erklärte ausführlich, wie er es fertigbrachte, daß diese herrlichen Blumen bei ihm so große Blüten hervorbrachten. Hannah Mewis und Berger waren gut in Berne aufgenommen und mit Kaffee und Kuchen bewirtet worden. Und während Hannah und Frau Silberstein auf der Terrasse sitzen blieben, spazierten der Rechtsanwalt und Berger durch den Garten und sahen sich die Dahlien an. Es hatte sich als Kinderspiel erwiesen, aus dem Haus in der Rantzaustraße zu verschwinden. Sie gingen einfach zur Vorderseite hinein und kamen über die Küche auf der Rückseite wieder heraus. In der Deckung des Hauses gelangten sie zu einer Pforte, die auf die Schimmelmannstraße hinausführte, und dort stand der orangefarbene BMW. Hannah hatte zu Berger gesagt, daß sie dieses Räuber-und-Gendarm-Spiel mitmachen wolle, bis er mit Sibill Huberty gesprochen habe. Wenn die Dame dabei sei, jenen Vertrag herauszusuchen, so solle auch ihr das recht sein. Berger konnte sein Telefon nicht benutzen, da es noch nicht wieder angeschlossen war. Er versuchte es von einem öffentlichen Fernsprecher in Ahrensburg aus, bekam aber keinen Anschluß. Als er es über Herrn Silbersteins Telefon noch einmal probierte, kriegte er zwar die Verbindung, aber nicht Sibill an den Apparat. Sie sei auf der Baustelle und im Moment telefonisch nicht zu erreichen. Er mußte sich also gedulden, und solange er sich in diesem Haus aufhielt, fühlte er sich auch sicher. Nachdem Wilhelm Silberstein seinen Lehrvortrag über die Dahlienaufzucht abgeschlossen hatte, begann er eingehend darzustellen, weshalb er eine Schutzgemeinschaft der Huberty-Geschädigten ins Leben rufen wolle. Es sei nur noch eine Sache von Tagen, bis das Schwindelunternehmen zusammenkrache. Und in diesem Fall müßten Tausende alter Menschen um ihre Ersparnisse und damit um die Sicherheit ihres Lebens221
abends bangen. Da gäbe es in der nächsten Zeit viel zu tun, meinte Herr Silberstein, und da sei er über jeden Verbündeten, der zu ihnen stieße, hoch erfreut. Besonders natürlich über einen von Bergers Format, der ihnen durch seinen Sachverstand wirkliche Dienste leisten könne. Dabei sah der Rechtsanwalt den Diplomingenieur mit einem treuherzigen Ausdruck an. Berger wurde sofort an Hannah Mewis erinnert, denn die hatte etwas Ähnliches in den Augen, wenn sie einen ihrer Drachen steigen ließ. Henry Berger versuchte abzuwiegeln. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen nützlich sein kann.“ „Sie können es, junger Mann!“ wurde Berger ermutigt. „Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel!“ „Ich bin nicht sicher, ob ich im Lande bleibe“, beharrte Berger. „Wahrscheinlich gehe ich für einige Jahre nach Brasilien. Sehr bald schon!“ Silberstein wies überrascht auf den Schnellhefter mit Bergers Unterlagen, die er durchgesehen hatte und noch in der Hand hielt. „Aber Sie sind durch den Leibrentenvertrag Ihrer Mutter ebenfalls ein Huberty-Geschädigter. Wollen Sie denn nichts unternehmen, um etwas von dem Geld zurückzubekommen?“ Darauf erwiderte Berger nichts, er zuckte nur unentschlossen die Achseln, und nach einer Weile meinte er: „Eins verstehe ich nicht, Doktor Silberstein.“ „Und was, junger Mann?“ „Sind Sie nicht Frau Mewis’ Vermögensverwalter?“ Der Rechtsanwalt lächelte. „Nun, Herr Berger, viel Vermögen ist da nicht. Das Leben hat es mit Hannah in dieser Hinsicht nicht gut gemeint. Das Unternehmen ihres Mannes wurde arisiert, wenn Sie sich erinnern, eine Form des damals staatlich sanktionierten Diebstahls. Natürlich erhielt sie nach dem Krieg eine Entschädigung. Aber die Zeit, die sie in der Emigration und im Konzentrationslager zubringen mußte, mit was könnte 222
die aufgewogen werden, nicht wahr? Zudem waren das die Lebensjahre, in denen man sich gewöhnlich eine Existenz aufbaut. Nein, Herr Berger, viel Geld ist da wirklich nicht.“ Berger schüttelte den Kopf. „Dann kann ich nicht verstehen, weshalb Sie die alte Dame nicht vor diesem Leibrentenvertrag bewahrt haben.“ „Weil sie mir nichts gesagt hat!“ antwortete Herr Silberstein empört. „Nicht ein Sterbenswort! Sie hat sich von Huberty einwickeln lassen. Und damit hat sie den Beweis erbracht, daß sie in einem Kinderheim sehr viel besser aufgehoben wäre.“ „Wissen Sie eigentlich, wie die Gelder der alten Leute abgesichert wurden?“ fragte Berger lächelnd. Herr Silberstein winkte ab. „Völlig ungenügend! Ich kann Ihnen das an einem konkreten Fall erläutern. Da gibt es in Hamburg ein Haus mit über hundert Wohneinheiten, das Huberty gehört. In seiner Bilanz wird es durch ein frisiertes Gutachten mit neunundzwanzig Millionen Mark ausgewiesen. Auf dem Haus liegen zehn Millionen vorrangige Bankschulden. Gleichzeitig hat Huberty Grundschuldbriefe zur Fondsabsicherung, das sind Rentnergelder, in Höhe von vierzehn Millionen aufgenommen. Ergibt eine Gesamtverschuldung von vierundzwanzig Millionen. Nun stellt sich aber heraus, daß dieses Objekt tatsächlich nur etwa sechzehn Millionen wert ist. Macht einen Fehlbetrag von etwa acht Millionen Mark. Da bei einem Vergleich zunächst die vorrangige Bankschuld abgeführt wird, ist es klar, daß man den Fehlbetrag auf die alten Leute abwälzen will. Dieser eine konkrete Fall steht für Hubertys gesamtes Finanzierungssystem. Das wird einen Haufen Arbeit geben, und in einer solchen Situation wollen Sie nach Brasilien, lieber Herr Berger? Sie sehen wohl ein, daß dies nicht möglich ist!“ Henry Berger wurde einer Antwort enthoben, denn 223
nun kam Hannah Mewis den Gartenweg entlang. Aber Herr Silberstein ließ nicht locker, er rief ihr entgegen: „Wußtest du eigentlich, Hannah, daß dieser junge Mensch nach Brasilien auswandern will?“ Hannah nickte. „Hm – das ist einer, der auf gepackten Koffern sitzt! Von einer Station zur anderen läßt er sich nicht mal Zeit, die Dinger aufzumachen. So einer ist das, wenn du das verstehst.“ Sie hakte sich bei dem Rechtsanwalt ein und zog ihn zum Haus. „Komm, Willi, ich habe mächtigen Durst. Jetzt wollen wir mal einen zwitschern!“ „Was für einen hättet ihr denn gern?“ fragte Silberstein. „Pernod, Willi, hast du den?“ „Pernod –“ Plötzlich lag in Silbersteins Stimme ein schwärmerischer Klang. „Wie in unseren alten Pariser Tagen, nicht wahr?“ „Ja, mein Lieber!“ sagte Hannah. „Genau so!“ Mit einem triumphierenden Blick sah Hannah zu Henry Berger hinauf. Sie war nicht besonders groß, die Hannah Rückwärts, und wenn sie dem Gespräch folgen wollte, hatte sie zu tun, nach links und rechts emporzuschauen. Sie sagte: „Er hat es mir nicht geglaubt.“ „Was?“ fragte Silberstein. „Er hat es mir nicht geglaubt, daß ich in Paris war. Noch niemals bin ich einem so mißtrauischen Menschen begegnet. Er zweifelt ja sogar daran, daß ich diesen wunderhübschen Leibrentenvertrag abgeschlossen habe.“ Wilhelm Silberstein stöhnte. „Aber sie hat ihn abgeschlossen!“ „Na schön“, meinte Berger widerwillig. „Aber sie will es ausgerechnet an jenem Abend getan haben, als Huberty dieses Tonband besprach.“ „Ja – und? Was spricht dagegen?“ „Eigentlich nichts! Nur würde mich diese Aussage eben sehr entlasten.“ „Na, das wäre doch günstig für Sie, nicht wahr?“ Herr 224
Silberstein warf einen Blick auf Hannah, aber die schaute interessiert zum Himmel hinauf. Ein Schwarm Wildgänse flog da in geschlossenem Formationszug vorüber. Sie kamen wahrscheinlich von einem der holsteinischen Seen und berührten gerade mal so den Hamburger Stadtrand auf ihrem Flug nach dem Süden. Rechtsanwalt Silberstein sagte: „Hannahs Familie kam etwa im Jahre sechsunddreißig aus Mexiko zurück. Hannah hielt es drüben nicht aus, und zudem fehlte ihnen wohl auch jede Existenzgrundlage. So gingen sie nach Wien, denn das ist Hannahs Heimatstadt. Und dort lebten alle drei zurückgezogen bis zweiundvierzig. Dann wurden sie eines Tages abgeholt. Nur Hannah hat es überlebt. Ihr kleiner Sohn aber, ja, der wäre nun auch schon über vierzig Jahre.“ Herr Silberstein machte eine Pause, in der er Berger ansah. Und dann fragte er: „Verstehen Sie es jetzt, Sie Trottel?“ Die Wildgänse waren fortgezogen, und Hannahs Blick kehrte zu ihrem alten Freund zurück. Mit einem entrückten Lächeln fragte sie: „Hast du etwas gesagt, Willi?“ „Ja“, erwiderte Silberstein. „Und was?“ „Ich habe gesagt, Hannah, daß du deine großen Ohren gar nicht brauchst. Du hast so viele Antennen, habe ich gesagt, daß du sogar das Gras wachsen hörst.“ Sie sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an und sagte: „Ich hasse dich, Wilhelm Silberstein!“ Und er erwiderte ebenso: „Und ich, mein liebes Mädchen, ich habe dich von Herzen gern!“ Der Anwalt nahm sie und küßte sie. Und Henry Berger stand dabei, sah sich alles an und wußte nicht, was er eigentlich denken sollte.
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22. Auf der anderen Seite des Stadtparks saßen an diesem Abend noch zwei Männer zusammen. Die Zusammenkunft fand in Schillers Wohnung am Wiesendamm statt, und der Gast war der Hauptkommissar Schnabel, der einzige Mann aus dem Kollegenkreis, dem der alte Beamte sich anvertrauen mochte. Schillers vierzigjährige und unverheiratete Tochter hatte Schnabels Lieblingsspeise zubereitet – Birnen, Bohnen und Speck. Eine hanseatische Delikatesse. Danach gab es Eis von Langnese mit heißer Himbeersauce. Und darauf Kaffee. Den nahmen sie auf dem Balkon. Schnabel hatte sich seine Pfeife gestopft, und selbst Schiller achtete nicht auf die mißbilligenden Blicke seiner Tochter und zündete sich eine Zigarre an. Auf Schnabels Knien lag die Akte Huberty, die Schiller dem Freund zusammen mit der Einladung zum Abendessen ins Dienstzimmer hineingereicht hatte. Eine ganze Weile sprachen sie nicht, saßen nur so da und verdauten und genossen die laue Luft des Septemberabends. Sie blickten auf die Geleise der Hochbahn hinunter, deren Strecke zwischen Borgweg und Saarlandstraße parallel zum Wiesendamm verlief. In regelmäßigen Abstanden zischten die mattglänzenden Aluminiumpfeile vorüber. Dahinter verschwamm das Grün der Bäume im Stadtpark. „Weiß du, wie mir das Ganze vorkommt?“ fragte Kommissar Schnabel nach einer Weile und klopfte mit dem Pfeifenstiel gegen die Huberty-Akte. „Es hat etwas von einem Generationsproblem. Und weißt du, was mich daraufbrachte? Die Schwierigkeiten, die du selbst mit deinem Wolfgang Bünger hast.“ Er sah seinen Freund grinsend an und schloß: „Nur, daß sich Polizisten eben nicht auf diese Weise die Schädel einschlagen.“ Schiller saß da mit gefurchter Stirn. Er hatte keinen guten Tag hinter sich. Er spürte das Herz; im Grunde 226
hatten die Schmerzen nicht aufgehört seit dem Besuch in der Lüneburger Heide. Dann der Ärger, als er ins Präsidium zurückkam. Ein zweites Mal hatten sie Berger so gut wie in den Fingern, und wieder war er ihnen entglitten. Diesmal durch Büngers Vorgehen, entgegen der ausdrücklichen Weisung des Leiters der Kommission. Denn das war er doch wohl noch. Oder? Und um das Maß voll zu machen, hatte er zu reichlich von den Birnen und Bohnen gegessen, besonders aber von den goldgelben Speckscheiben. Nun blähte sich der Bauch und drückte zusätzlich gegen das Herz. Schiller legte die Zigarre an den Rand des Aschers und griff nach dem Weinglas. Er hoffte, daß ihm der Rotwein die Gefäße öffnen würde. Schnabel sagte unterdessen: „Du hörst das nicht gern, nicht wahr, Schorsch?“ „Darauf kommt es nicht an.“ Der alte Mann lächelte gequält. „Du hältst Berger also nicht für unseren Mann?“ „Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, und ich will sie dir sagen! Ich schließe mich eher Büngers Überlegungen an.“ „Du hast das gelesen in der Akte? Daß man die Tür aufschießen mußte, weil sie verriegelt war?“ Kommissar Schnabel lächelte amüsiert. „Ja, ja, natürlich! Das gibt der Sache Würze. Aber im Grunde ist es auch der Punkt, wo der Perfektionismus beginnt. Nimm’s mir nicht übel, mein Alter, aber genau hier hättest du stutzig werden müssen.“ Er hob sein Glas und prostete Schiller zu. „Diesen Margaux hast du aber nicht aus der Produktion!“ „Ich kenne einen Weinhändler in der Fuhlsbüttler Straße, der ein gut sortiertes Lager hat.“ „Vorzüglich!“ Schnabel hielt dem Freund das Glas hin, und dabei fuhr er fort: „Kann man in dem Raboisenhaus die Tiefgarage von jedem Stockwerk aus erreichen?“ 227
„Vom Penthaus nicht, dessen Fahrstuhl endet in der Halle.“ „Aber von dort gibt es doch diesen Notweg über den Dachgarten ins oberste Geschoß des Bürogebäudes.“ „Die Schlüssel …“ „Laß diese Schlüssel, Schorsch, die wollen wir erst mal vergessen! Also, man kommt über diesen Weg bis in die Tiefgarage. Hat die einen zweiten Ausgang?“ „Auf einen Hof!“ „Und von dort?“ „Wieder auf einen Hof und schließlich in die Ferdinandstraße.“ „Sieh mal an, das ist doch gar nicht schlecht! Ich würde das mit meinen Leuten üben. Wie lange das dauert, um über diesen Weg aus dem Gebäude zu verschwinden und zum Vordereingang wieder hereinzukommen.“ „Du denkst an die Tochter?“ „Natürlich denke ich an die, die erbt doch einen Haufen Zaster!“ Der alte Kommissar nahm einen weiteren Schluck von dem Rotwein. Er merkte, daß ihm der Alkohol tatsächlich die Gefäße auftat und gleichzeitig eine wohlige, schläfrige Wärme in seine Glieder legte. Er streckte die Beine aus und sagte friedfertig: „Wollen wir mal auf den Schlüssel zurückkommen! Du hast auch diese Passage gelesen?“ „Hab’ ich!“ erwiderte Schnabel. „Aber darin sehe ich kein Problem. Wenn wir den Täter im trauten Familienkreis ansiedeln, stoßen wir auf eine Person, die über Jahre Zugang zum Haus hatte. Da ergab sich wohl mal die Gelegenheit, an Hubertys Schlüssel für einen Abdruck zu gelangen. Aus welchem Grund auch immer! Das kann lange her sein und geschah sicher nicht in der Absicht, diesen Trick anzuwenden. Nur wurde der nach dem Mord zu einem zusätzlichen, verschärfenden Moment gegen Henry Berger. Hast du die Alibis der drei überprüft?“ 228
„Sibill Huberty, Marion Huberty und Jomeyer?“ „Ja.“ „Hab’ ich getan!“ Schnabel lächelte seinem Freund zu. „Tu’s noch einmal!“ „Was sollte denn vorhin die Bemerkung über das Generationsproblem?“ Kommissar Schnabel antwortete nicht direkt. Er lehnte sich im Korbsessel zurück und schickte seine Augen im Grün des Stadtparks auf die Weide. Er sagte: „Ich verfolge die Huberty-Story schon seit einer Weile. Da tauchten immer wieder Notizen auf in den Zeitungen, die einen ausführlichen Wirtschaftsteil haben. Da wird besorgt gefragt, ob die eingezahlten Rentengelder auch ihrem eigentlichen Zweck zugeführt würden. Da gab es doch keinen, der diesen Huberty kontrollierte, denn alle Firmen führte er selbst. Von der Baubude angefangen bis hin zu den Unternehmen, die sich mit der Finanzierung der Projekte oder mit deren Verwaltung beschäftigen. Er war der oberste Boß. Aber er war nicht der alleinige Nutznießer. Und an diesem Punkt wird es interessant, denn hier liegen mögliche Motive, die zu seiner Ermordung führen konnten. Nimm zum Beispiel die Frau! Die ist mit einem eigenen Büro für die HubertyGruppe als Architektin tätig. Sie verdankt ihren beruflichen Aufstieg dieser Spekulation auf Kosten alter Leute. Was für eine Negativ-Publicity, wenn das Unternehmen zusammenkracht. Ebenso ergeht es dem Rechtsanwalt Jomeyer, der jahrelang als Justitiar fungiert, überdies auch noch Hubertys privater Schuldner ist. Du solltest deinem Bünger dankbar sein, daß er den Hintergrund in dieser Richtung sondiert hat. Dieser Justitiar steht außerdem im öffentlichen Leben, gehört der Bürgerschaft an. Was für die Architektin gilt, wiegt noch schwerer für den Volksvertreter. Der Bankrott des Schwindelunternehmens ist nicht aufzuhalten, das sehen alle; was aber, 229
wenn der Boß das Ende lebend erreicht? Wird er seinen Mitarbeitern nicht ihren Platz anweisen, wenn es zur Schuldverteilung kommt? Ist der Alte aber tot, gibt es einfach keinen besseren Schuttabladeplatz für Fehler, Versäumnisse, falsche Entscheidungen. Immer drauf auf den toten Huberty, der sich nicht mehr wehren kann. Und sie, die Mitarbeiter, steigen empor wie der Vogel Phönix, verjüngt, geläutert, makellos. Was hältst du von dieser Version?“ Kommissar Schnabel stocherte in seiner Pfeife herum, klopfte sie aus. Er wandte sich dem Freund zu. Der antwortete nicht, stieß nur ein paar Grunzlaute aus. Schnabel stopfte erneut von dem „Prinz Albert“ und zündete die Pfeife an. Dann fuhr er fort: „Vielleicht wäre überhaupt nichts geschehen, wenn nicht plötzlich dieser Berger auftauchte. Denn unsere Leute sind ja keine Killer im üblichen Sinn. Aber nun kommt dieser Mann, einschlägig vorbestraft und durchaus motiviert für eine solche Tat. Und da schlagen sie zu. Die Gelegenheit ist zu günstig.“ „Wer schlägt zu?“ fragte der alte Kommissar. „Frau Huberty? Oder der Rechtsanwalt? Oder die Tochter?“ Schnabel entlockte seiner Pfeife mächtigen Qualm. Und dann sagte er vergnügt: „Vielleicht alle drei, wie? Was meinst du? Hört sich doch gar nicht schlecht an.“ Noch immer antwortete der alte Kommissar nicht. Beinahe qualvoll wurde ihm bewußt, daß er sich nicht zu einer Meinung aufraffen konnte. Daß der Freund, auf dessen Urteil er viel gab, sich Büngers Ansicht anschloß, beinahe dessen Formulierungen gebrauchte, traf ihn tief. Die beiden saßen eine Zeitlang still nebeneinander. Aus dem Wohnzimmer hörten sie die optimistisch klingende Stimme des Quizmasters Wim Thoelke, der im Fernsehen mit seinem Ratespiel zugange war. Endlich nahm Kommissar Schnabel den Gesprächsfaden wieder auf. „Was nun endlich deinen Bünger an230
geht“, sagte er, „so würde ich auf den fahrenden Zug aufspringen. Ich würde die Eigenmächtigkeiten des jungen Menschen im nachhinein sanktionieren. Du leitest die Abteilung, Schorsch, und ihr Erfolg ist, wenn am Schluß abgerechnet wird, dein Erfolg. Wenn alles vorüber ist, würde ich den Bünger beiseite nehmen und ihm sagen, daß du dich geirrt hast. Das hat noch keinem geschadet, wenn er einen Denkfehler zugibt.“ Schiller griff nach der Flasche mit dem Margaux. Sie war leer. Die beiden sahen sich an, ein leises Bedauern im Gesicht. Schiller sagte: „Ist nun auch egal, ich mach ’ne neue auf.“ Schnabel antwortete: „Glänzende Idee, Schorsch! Und dann kein Wort mehr von dem Scheiß!“
23. Es war der letzte Arbeitstag für sie auf der HubertyBaustelle, und sie waren auch nur erschienen, weil sie für diesen Tag bares Geld in die Hand gezählt kriegen sollten. Die zwanzig Männer, mehr waren gar nicht ausgesucht worden, standen in der Empfangshalle des Hotelrohbaus. Wieder hatten sie sich um das Bübchen geschart, als seien sie Schiffbrüchige und er der Leuchtturm an einem einsamen Strand. Sie hatten Eisenkarren vor sich, in denen sie sonst Mörtel und Steine transportierten. Die Karren waren leer. In Bübchens Händen sah dieses Gerät wie Kinderspielzeug aus. Er hätte sie wohl auch nehmen und in seine Hosentasche stecken können. Daß er es nicht tat, geschah sicher aus Rücksicht auf die Kollegen, damit die keine Minderwertigkeitskomplexe kriegten. Auch an diesem Vormittag, an dem es eigentlich nichts zu lachen gab, verbreitete das Bübchen ungetrübte Lebensfreude. Er trug über den Jeans ein ge231
streiftes Baumwollhemd in leuchtenden Farben. Unter dem Hemd sah man das Gewirr seiner üppig wuchernden Brusthaare. „Nun mal los, Mitmenschen, jetzt wollen wir das mal machen“, sagte das Bübchen. „Geht mal alle hinter mich!“ Die Leute nahmen die Karren auf, schoben sie hinter das Bübchen, einer nach dem anderen, und bildeten eine Reihe. Auf ein weiteres Zeichen von Bübchen marschierten sie los, kamen durch die Halle zum Ausgang und dort die Transportschräge herunter. An deren Ende stellten sie die Karren hochkant ab. „Das war schon hübsch, meine Herren!“ sagte eine Stimme. „Wirklich nicht schlecht für den Anfang. Und nun das Ganze noch einmal von vorn!“ Das Bübchen und seine Mannen schauten verwirrt zu dem Kerl hin. Der war von der Abendschau des Fernsehens und stand neben einem anderen, der sich den Marsch der Männer durch die Kamera angeschaut hatte. Nur ein paar Meter weiter befand sich ein Übertragungswagen des Norddeutschen Rundfunks. „Was soll denn das heißen?“ fragte das Bübchen. „Noch mal von vorn?“ „Alles, was Sie gemacht haben“, erklärte der Mann neben der Kamera geduldig, „tun Sie nun noch mal! Aber bitte ganz genauso!“ „Für dasselbe Geld?“ fragte Bübchen. „Ja, natürlich!“ Das Bübchen kam einen Schritt näher, und der Fernsehmann wich unwillkürlich ebenso einen Schritt zurück. „Trauen Sie sich das bei dem Belmondo auch?“ „Ja, ja!“ „Aber der kriegt mehr Geld dafür.“ „Meine Herren“, sagte der Fernsehmann mit einem feinen Lächeln, „es steht Ihnen natürlich frei, auf der Stelle den Beruf zu wechseln.“ Nur einen Steinwurf entfernt stand noch eine Grup232
pe. Der Redakteur des Fernsehteams hatte Sibill Huberty und den Betriebsrat zu einem Gespräch gebeten. „Sie wollten bereits vor Tagen die Arbeit niederlegen, so könnten Sie beginnen, Herr Schulz“, meinte der Redakteur. „Aber Huberty hatte Sie und die Belegschaft überredet, erst einmal für weitere vierzehn Tage ohne Bezahlung weiterzumachen. So war es doch?“ Der Fernsehmann sah den Betriebsrat fragend an, und als der nickte, fuhr er fort: „Nun werden Sie aber vors Arbeitsgericht gehen, um Ihre Lohnforderungen in Höhe von über einer Million einzuklagen. Es war doch über eine Million Mark?“ „Eine Million!“ bestätigte Herr Schulz. „Und mit den nicht mehr abgeführten Sozialbeiträgen zusammen über zwei Millionen.“ „Das wird ja immer mehr, sehr schön! Dies sollten Sie nun auch vor der Kamera sagen! Sagen Sie es glashart, Herr Schulz: Sie werden das Geld einklagen!“ „Einklagen – das ist doch ganz sinnlos“, empörte sich der Betriebsrat. „In den Kassen der Bauunternehmung Huberty ist nicht ein Pfennig bares Geld.“ „Fein, das sagen Sie dann mal vor der Kamera.“ Herr Schulz erregte sich immer mehr. „Heute morgen kam ein Telex von der IG Bau–Steine–Erden. Es gibt auch keine firmeneigenen Grundstücke mehr, die beliehen werden könnten. Da haben schon überall die Banken ihre Hände drauf.“ Nun mischte sich Sibill Huberty in das Gespräch. „Aber Herr Schulz, so sehen Sie sich einmal um! Die Maschinen hier, die Mengen von Baumaterial, das ist doch bares Geld!“ Aber Herrn Schulz’ Zorn war nicht mehr zu dämpfen. „Und darauf sollen die Kollegen warten, bis das unter den Hammer kommt?“ schrie er. Und sich an den Redakteur wendend, fuhr er gemäßigter fort: „Entschuldigen Sie schon, aber da muß einem schließlich der Kra233
gen platzen. Die Männer sind in der dritten Woche ohne Lohn.“ „Aber das ist ja ganz phantastisch!“ rief der Fernsehmann. „Sie Sind bereit, mit diesem Streitgespräch vor die Kamera zu gehen?“ „Selbstverständlich“, sagte Sibill Huberty. Herr Schulz jedoch erklärte: „Aber ich bin nicht bereit dazu! Ich gehe nicht vor die Kamera. Mit der Frau nicht!“ „Bitte, Herr Schulz!“ versuchte Sibill, den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. „Nun haben wir Jahre zusammengearbeitet und uns immer gut vertragen.“ „Die Kollegen sind sauer, Frau Huberty, und ich bin es auch. Kein Wort mehr zwischen uns, bis nicht der letzte Pfennig auf dem Tisch liegt!“ „Jammerschade!“ Ein tiefer Seufzer kam von dem Fernsehmann. Sibill wandte sich an ihn und sagte: „Wenn Sie Fragen an mich allein haben, Herr Redakteur, so finden Sie mich in meinem Atelier. Im obersten Geschoß des Seniorenhotels dort drüben!“ „Ich melde mich, gnädige Frau“, erwiderte der Mann und nahm Betriebsrat Schulz beiseite. „Na, dann wollen wir mal, Herr Schulz! Wir gehen jetzt vor die Kamera, und da sagen Sie es den Sehern ins Gesicht, wenn die beim Abendbrot sitzen. Da zeigen Sie denen mal Ihre ganze Verbitterung!“ Sibill Huberty nahm die Abkürzung zum Seniorenhotel. Der Weg führte durch ein Waldstück aus jungen Kiefern. Es war geplant gewesen, die Schonung in den fertigen Hotelkomplex mit einzubeziehen. Sibill dachte daran, daß diese Bäume sogar einen Platz auf dem Modell in ihrem Atelier gefunden hatten. Die Seniorenhotels sollten so etwas wie ein Meisterstück von ihr werden, und was würde schließlich bleiben? Nicht mehr als ein schöner Traum! Sibill hatte die Kiefernschonung fast er234
reicht, als sie seitlich von sich etwas aufblitzen sah. Sie blieb stehen. Links befand sich der Parkplatz der Bauarbeiter. Noch einmal flammten Scheinwerfer auf, und da erkannte sie den orangefarbenen BMW. Sibill spürte die tiefe Erleichterung. Sie lief hinüber zum Parkplatz, öffnete die Autotür und sank in Henry Bergers Arme. Und dann begann sie zu weinen. Berger streichelte ihr Haar, fuhr sacht mit den Fingern den Nackenwirbel entlang. „Es ist so entsetzlich, Henry!“ schluchzte sie. „Kaum ist er tot, da fallen sie wie die Geier über uns her.“ „Auch wenn er noch lebte“, versuchte Berger sie zu trösten, „wäre der Zusammenbruch nicht aufzuhalten gewesen, Sibill!“ „Das ist möglich, Henry! Aber nun, wo er tot ist, stürzt sich alles auf mich. Ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht, ich halte das nicht lange durch.“ „Ruhig, Sibill“, flüsterte Berger. „Ganz ruhig!“ Er hielt sie dicht bei sich und spürte, wie sie die Beherrschung langsam zurückgewann. „Ich bin ekelhaft, Henry“, sagte sie schließlich. „Ich denke nur an mich. Wie geht es dir?“ „Gut.“ „Wo hast du die letzte Nacht verbracht?“ „Bei Bekannten von Frau Mewis.“ „Ich habe versucht, in Ahrensburg anzurufen, aber die Leitung ist tot.“ „Ich habe es auch mehrmals probiert.“ „Ich war noch sehr spät unterwegs, Henry. Du ahnst ja nicht, was hier los ist.“ Sie löste sich von Berger und schob sich den Rückspiegel zurecht. „Da haben wir den Salat! Nicht ein paar Tränen darf eine Frau vergießen.“ Sie öffnete ihre Handtasche und holte Kleenextücher und ihr Schminkzeug hervor. Unterdessen zündete er sich ein Zigarillo an. Dann sagte er: „Ich habe übrigens die Person gefunden.“ 235
„Welche Person, Henry?“ Sie wandte sich ihm zu. „Für die Huberty den Vertrag heraussuchte?“ Berger nickte. „Wer ist es?“ „Hannah Mewis! Es ist beinahe grotesk, aber sie hat ausgerechnet an jenem Abend ihren Leibrentenvertrag abgeschlossen. Sie erinnert sich an das Drumherum auf dem Band.“ „Wunderbar, Henry!“ rief Sibill begeistert. „Das ist eine gute Nachricht. Und was soll nun geschehen? Ihr müßt zur Polizei, nicht wahr, das hattest du doch vor!“ „Das hätte vorerst wenig Sinn, Sibill.“ „Wieso?“ „Der Vertrag ist nicht in ihren Händen. Den hat Huberty zurückbehalten, weil noch Jomeyers Unterschrift nötig war, und dabei ist es bis heute geblieben.“ Sibill schüttelte den Kopf. „Eine unglaubliche Sauerei!“ Und nach einem Augenblick des Überlegens: „Aber im Stadtbüro ist kein Vertrag, schon gar keiner von Hannah Mewis! Ich habe gestern alles durchsehen lassen.“ „Hast du es selbst getan, Sibill?“ „Das konnte ich nicht, Henry, ich kam hier nicht weg. An und für sich ist aber auf die Mitarbeiterin Verlaß.“ Sie sah die Bitte in seinen Augen, rutschte näher und küßte ihn. „Also gut, ich fahre am Stadtbüro vorbei und schaue selber nach. Okay?“ Berger nickte. „Und wenn du ihn dort nicht findest, könnte er dann nicht irgendwo im Penthaus sein?“ „Könnte er! Ja, auch das ist möglich!“ Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf, schlug sich gegen die Stirn. „Das ist mal wieder typisch für mich. Und für die Situation, in der ich mich befinde! Ich vergesse das Wichtigste!“ Er starrte sie verblüfft an, und sie fuhr fort: „Gestern um die Mittagszeit kam dieser schreckliche Kommissar Schiller und verhörte mich. Ich konnte lange eine feste 236
Position behaupten, aber er wurde immer massiver, und am Schluß wollte er mich festnehmen, um mich deiner Nachbarin in Ahrensburg gegenüberzustellen. Und da mußte ich ihm einfach sagen, was du mit Huberty auszuhandeln hattest. Es könnte nur einer den Mord begangen haben, sagt dieser Mensch, nämlich du! Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber er blieb bei seiner Meinung. Es liegt an diesen Schlüsseln, Henry! Und die Tür des Notausgangs war verschlossen! Was sollte ich darauf antworten? In einer normalen Situation hätte ich die Festnahme auf mich genommen, aber wir haben keine normale Situation. Es geht drunter und drüber mit der Firma, es ist alles in heller Auflösung, und da kann ich doch hier nicht weg, Henry. Verstehst du das?“ Ja, er verstand es sogar! Er lächelte ihr beruhigend zu. Wenn Sibill sich für einen Menschen oder für ihren Beruf zu entscheiden hatte, sie würde immer die Arbeit wählen. Früher hatte ihn das sehr gekränkt, heute brachte er sogar so etwas wie Verständnis auf dafür. „Ich mußte es ihm schließlich sagen von dem Leibrentenvertrag deiner Mutter und den hunderttausend Mark“, hörte er ihre Stimme und wandte sich ihr zu. Er sah ihren zaghaften Blick und lächelte. Er streckte die Hand aus, streichelte ihre Wange. „Das war schon okay, Sibill. Außerdem hast du ihm kein Geheimnis verraten. Er hätte nur eine Tür weitergehen zu brauchen, und andere Leute hätten ihm dasselbe erzählt.“ „Ja, ja, Henry, aber daß ich es sein mußte, das ist es eben!“ „Was hätte ich von dir, Liebes, wenn dich der Kommissar eingesperrt hätte.“ Sibill war sichtlich erleichtert. Lebhaft erwiderte sie: „Das habe ich schließlich auch gedacht. Ich wußte, daß du dich melden würdest. Und so habe ich für einige Maschinen nach Zürich Plätze gebucht. Den ersten für ges237
tern abend bereits, nun, der ist inzwischen verfallen. Den nächsten für die Mittagsmaschine heute um dreizehn Uhr zehn.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Wenn wir uns beeilen, könnten wir die gerade so erreichen. Was hieltest du davon, Henry? Ich möchte, daß du in die Schweiz gehst.“ Er war viel zu überrascht, um gleich zu antworten. Nachdenklich blickte er zum Fenster hinaus. Sibill fuhr fort: „Du tauchst für ein paar Tage unter, und inzwischen erledige ich hier alles für dich. Ich suche nach diesem Leibrentenvertrag. Schließlich werde ich ihn finden! Dann klemme ich mir die Hannah Mewis unter den Arm und gehe mit ihr zur Polizei. Wenn die diese Beweise sehen und sich dazu das Tonband anhören, müssen sie sich nach einem anderen Täter umsehen. Was meinst du dazu?“ „Hm –“, machte er. „Klingt nicht schlecht. Wie spät ist es jetzt?“ Sibill blickte wieder auf ihre Uhr. „Gleich halb zwölf. Wir müßten die Maschine noch erreichen.“ „Dann los!“ Henry Berger rangierte den BMW vom Parkplatz, lenkte ihn über die Arbeitsstraße und nach einigem Herumkurven auf dem Sandweg in Richtung Kreisstadt. Fünfzehn Minuten später befanden sie sich auf der Autobahn. „Ich werde dir jetzt erklären, wo das Haus liegt“, sagte Sibill. „Kannst du konzentriert zuhören?“ „Was ist das für ein Haus?“ fragte er. „Es gehört mir, Henry, hat mit Alfons Huberty nichts zu tun. Mein erster persönlicher Besitz, wenn du so willst. Nichts Pompöses, ein Vierzimmerbungalow, aber sehr bequem, elektrisch zu beheizen und so weiter.“ Sie lächelte. „Du wirst also nicht frieren und hast wenig Arbeit. Ein guter Platz, wenn man ausspannen oder nachdenken will. Es liegt am Greifensee, das ist nicht weit 238
von Zürich, nur ein Stück östlich. Also, nun hör zu! Du nimmst dir in Kloten ein Taxi und fährst über Dübendorf nach Hegnau. Hinter dem Ort biegst du rechts ab zum Greifensee. Wenn du den See erreichst, siehst du einige Häuser. Meines ist das zweite von rechts! Kapiert? Links daneben wohnen die Baulis, das sind Leute, die im Haus nach dem Rechten sehen, auch die Schlüssel haben. Hast du alles verstanden, Lieber?“ „Na, ich weiß nicht recht …“, gestand Henry Berger. „Das habe ich mir gedacht“, meinte Sibill. Sie zog Papiere aus der Tasche. „Deshalb steht hier alles aufgeschrieben, sogar mit einer Skizze dabei. Außerdem habe ich dir ein paar Zeilen an die Baulis mitgegeben.“ Er schaute zu ihr hinüber und lächelte. „Bei dir hat alles seine Ordnung, Sibill! Hab’ ich immer an dir bewundert.“ „Natürlich, du Ochse!“ erwiderte sie. „Wieviel Geld hast du bei dir?“ „Vielleicht dreihundert Mark.“ „Das ist zuwenig!“ „Damit komme ich weit.“ „Du hast keinen blassen Schimmer, Henry Berger! Du mußt das Flugtickett bezahlen und das Taxi von Kloten. Du mußt ein paar Tage leben. Und du mußt dir Hemden kaufen und Unterwäsche und Socken. Ich will nicht, daß du wie ein Penner herumläufst!“ Wieder zog sie etwas hervor und stopfte es in Henry Bergers Jackettasche. „Was ist das Sibill?“ fragte er. „Es sind tausend Mark unserer Währung und fünfhundert Schweizer Franken.“ „Kann ich doch nicht nehmen, Sibill!“ „Halt den Mund, Henry Berger, wir werden das schon verrechnen!“ Er streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange. „Du bist so umsichtig, Sibill!“ 239
Sie nahm seine Hand und führte sie an die Lippen. Sie küßte sie. Dann rutschte sie nah heran und lehnte sich an ihn. Leise sagte sie: „Wie gerne würde ich mit dir gehen, Henry, mein Lieber! Aber ich komme, sobald ich kann, und wenn nur für eine Nacht. Und wenn nur für ein paar Stunden!“ Henry Berger ging mit der Geschwindigkeit herunter, denn sie erreichten die Tankstellen bei Stillhorn. Er fuhr an eine Zapfsäule heran und stoppte. „Ich ruf nur schnell mal mein Büro an und sage, daß ich später komme, okay?“ Sibill stieg aus dem Wagen aus. Henry Berger reichte dem Wart den Schlüssel für den Tankverschluß und lehnte sich zurück. Er beobachtete, wie Sibill in einer Telefonzelle verschwand und den Hörer nahm. Ihre Handtasche lag auf dem Sitz neben ihm. Einige Male ging sein Blick zwischen ihr und Sibill hin und her, und dabei schien Henry Berger seine Hemmungen allmählich abzubauen. Er öffnete den Verschluß der Tasche, und seine rechte Hand fuhr in sie hinein. Lange stöberte er herum, bis er schließlich einen Gegenstand hervorzog. Es war ein Lederanhänger, der in ein metallenes „S“ auslief und an dem zwei Sicherheitsschlüssel hingen. Nachdenklich blickte Henry Berger darauf. Dann nahm er das Bündel Banknoten, das Sibill ihm zugesteckt hatte, und tat es in ihre Handtasche zurück. Wieder schaute er auf die Sicherheitsschlüssel in seiner Hand. Er konnte nur hoffen, daß sie ihm die Türen auf seinem Weg öffnen würden. Auf jeden Fall nahm er sie an sich. Zu diesem Zeitpunkt telefonierte Sibill Huberty immer noch. „Ja, das spielte sich auf der Baustelle ab! Der Chef war dabei, dann Frau Huberty und Doktor Jomeyer und dieser Berger eben. Die hatten eine mächtige Auseinandersetzung. Das heißt, zunächst ging es ganz friedlich an. Der Berger beguckte sich alles, weil er ja den neuen Bauleiter machen sollte. Aber dann plötzlich, ich weiß nicht wie, 240
brach der Streit los. Berger nannte den Chef einen Betrüger und Mörder …“ „Sind diese Worte gefallen, Herr Sedlmayer?“ „Betrüger –?“ „Ja, ja! Und Mörder?“ „Warten Sie, ich will korrekt sein. Es war wohl so, daß der Chef den Berger fragte, ob er ihn und seine Tochter für Betrüger und Mörder hielte. Ja, so war es, weil nämlich der Berger hatte durchblicken lassen, daß es beim Tod seiner Mutter nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.“ „Und nachdem Herr Huberty das gefragt hatte, das von den Betrügern und Mördern, was geschah dann?“ „Na, da hatte der Kerl doch diese Monierzange in der Hand. Und ein Gesicht machte der, das kann ich gar nicht beschreiben.“ „Ging er mit dem Moniereisen …“ „Zange! Es war eine Monierzange!“ „Richtig! Ging der Berger nun mit dieser Zange auf Herrn Huberty los?“ „Das wollte er, aber ja!“ „Und –?“ „Ich deckte den Chef ab.“ „Das stoppte ihn?“ „Möchte ich meinen, ja! Außerdem ging dann noch Frau Huberty dazwischen.“ „Und dann?“ „Dann fiel er um.“ „Was –?“ „Ja, fiel einfach um! Frau Huberty schrie, das sei ein Malariaanfall, aber wenn Sie mich fragen, dann war das nichts weiter als eine große Schau.“ „Und wann spielte sich das Ganze genau ab?“ „Na, vorgestern doch! Am Vormittag. Und am Abend ging er dann hin und schlug meinen Chef tot.“ Franz Sedlmayer, der riesenwüchsige Leibwächter des toten Alfons Huberty, hockte mit hängenden Schultern 241
vor dem Schreibtisch. Es hatte den Anschein, als sei mit Huberty das Wesentliche aus seinem Leben fortgegangen. Hinter dem Schreibtisch saß Hauptkommissar Schiller, und am Fenster lehnte Wolfgang Bünger. Der hatte einen Ausdruck im Gesicht, als könne er das eben Gehörte einfach nicht glauben. Am glücklichsten von den dreien schien der alte Kommissar zu sein. Er hatte eine schlimme Nacht hinter sich, ohne Schlaf und mit wüsten Gedanken. Schließlich gegen Morgen hatte er sich mit den Vorstellungen seines Freundes Schnabel vertraut gemacht. Aber ein unzufriedener Rest war geblieben, und den hatte er mit hereingetragen ins Dienstzimmer. Bis der Zeuge Sedlmayer auftauchte! Und auf einmal schien es, als ob Schillers alte Spürnase wieder einmal recht behalten sollte. Er betrachtete den Zeugen, der über den Tod seines Dienstherrn tief erschüttert war, mit Freundlichkeit. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Der alte Kommissar nahm den Hörer ab, meldete sich und lauschte. Auf seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Reaktion, man wußte nicht einmal, ob er zuhörte, denn seine ganze Aufmerksamkeit schien auf Sedlmayer zu ruhen. Nach einer Weile sagte er: „Würden Sie bitte einen kleinen Moment in der Leitung bleiben, ich melde mich sofort wieder.“ Er ließ den Hörer sinken und verdeckte die Sprechmuschel. Er wandte sich Franz Sedlmayer zu. „Wir müssen ein Protokoll von Ihrer Aussage machen. Sind Sie bereit dazu?“ „Ja.“ „Sie müssen dann unterschreiben!“ „Natürlich.“ „Sehr schön!“ Schiller rief ins Nebenzimmer hinüber: „Holthusen!“ Der junge Kriminalbeamte erschien auf der Schwelle. „Herr Sedlmayer wünscht eine Aussage zu machen. Würden Sie das veranlassen?“ 242
„Ja, sofort!“ Der alte Kommissar lächelte. „Sie haben uns geholfen, Herr Sedlmayer, schönen Dank!“ Und zu Holthusen gewendet: „Machen Sie bitte die Tür zu!“ Holthusen führte den Zeugen hinaus und schloß hinter ihnen die Tür. So lange wartete Schiller, und dann wandte er sich Wolfgang Bünger zu. Er nahm die zweite Hörmuschel und hielt sie dem jungen Kommissar hin. Auf Schillers Gesicht lag ein schwer abzuschätzender Ausdruck. Mit einem unguten Gefühl kam Bünger an den Schreibtisch und nahm die Muschel. Erst darauf gab der alte Kommissar den Hörer frei. Er sagte: „Sind Sie noch dran, Frau Huberty? Sehr schön! Würden Sie freundlicherweise alles wiederholen, was Sie mir eben gesagt haben?“ Wieder lauschte der alte Kommissar mit ausdrucksloser Miene dem Bericht, und diesmal hörte Wolfgang Bünger mit. Wenn überhaupt möglich, so schien sich das ungläubige Staunen auf dessen Gesicht noch zu verstärken! Schließlich sagte Schiller: „Ich danke Ihnen, Frau Huberty! Und – ich werde Ihnen das nicht vergessen! Gegebenenfalls melde ich mich noch mal. Auf Wiederhören!“ Er legte den Hörer hin; dabei sah er den jüngeren Kollegen an, und natürlich bemerkte er dessen Bestürzung. Der alte Kommissar selbst spürte keinen Triumph, im Grunde war er nur sehr erleichtert. „Sie haben es gehört?“ „Ja, Herr Hauptkommissar!“ „Berger nimmt die Lufthansa nach Zürich um dreizehn Uhr zehn.“ Der Kommissar schaute auf seine Uhr, griff dann zur Sprechtaste, aber er drückte sie noch nicht. Er wandte sich erneut Bünger zu. „Das hatte ich Ihnen noch nicht gesagt! Gestern hab’ ich der Huberty schwer eingeheizt. Schließlich hat sie gebeichtet, daß Berger hunderttausend Mark im Leibrentenvertrag seiner Mutter zu stecken hat. Und ich hab’ ihr mit Fest243
nahme gedroht, wenn sie nicht mit uns zusammenarbeiten würde. Ich könnte ihr einen Strick drehen daraus, hab’ ich ihr gesagt, weil sie den Berger nachts aus Ahrensburg abgeholt und bei sich versteckt hätte.“ „Hat sie das denn getan?“ fragte Bünger. „Nach diesem Anruf eben würde ich sagen: ja!“ Schiller drückte die Taste und sagte: „Machen Sie uns bitte ein Gespräch mit dem Bundesgrenzschutz auf dem Flughafen Fuhlsbüttel!“ Wieder lehnte sich der alte Kommissar im Schreibtischsessel zurück, faltete die Hände über dem Bauch und ließ die Daumen kreisen. Eher vergnügt schaute er zu seinem Adlatus hin. „Wissen Sie, Herr Bünger, ich habe nichts gesagt zu Ihrer eigenmächtigen Aktion gestern, als Sie Holthusen zu den Banken schickten. Ich denke mir überhaupt, wir sollten mehr gegenseitiges Verständnis aufbringen. Aber mal im Ernst! Was sollte die Überprüfung von Doktor Jomeyers Konto?“ „Nun … der Knabe – schließlich hat er zweihunderttausend Mark aus dem Huberty herausgeholt.“ Bünger stotterte beinahe. „Na und?“ „Wahrscheinlich hat er sich seinen Wahlkampf finanzieren lassen.“ „Aber das ist doch nicht unüblich heutzutage.“ „Ja, ja! Aber vielleicht konnte er den Kredit nicht zurückzahlen.“ Schiller schüttelte den Kopf. „Wissen Sie eigentlich, wer dieser Jomeyer ist?“ „Irgendein Abgeordneter …“ „Irgendein Abgeordneter? Menschenskind, Bünger, der ist einer der Männer im Rechtsausschuß! Und da glauben Sie, daß der hingeht und den Huberty totschlägt?“ Was er da plötzlich zu hören bekam über den Rechtsanwalt und Volksvertreter Jürgen Jomeyer, war neu für Wolfgang Bünger. Er gestand sich ein, daß er diesmal 244
nicht genügend Vorarbeit geleistet hatte. Mangelhafter Informationsfluß über Leute, mit denen man zu tun hatte, konnte brandgefährlich werden. In diesem Punkt war ihm der alte Kommissar einen Schritt voraus gewesen. Wolfgang Bünger wollte es sich merken. Eine Stimme drang aus dem Sprechgerät: „Die Flughafenpolizei kommt auf Apparat zwei, Herr Hauptkommissar.“ Schiller lächelte noch immer vergnügt, als er zum Telefon griff. „Hier ist Hauptkommissar Schiller, guten Tag! Wir brauchen Ihre Hilfe bei einer Festnahme. Eine unserer gesuchten Personen will außer Landes. Es wäre gut, den Mann zu stellen, sobald er die Abfertigung passieren will. Sehr schön! Natürlich schicke ich Ihnen jemand hin. Ein Kommissar Bünger wird sich bei Ihnen melden. Ja, vielen Dank und auf Wiederhören!“ Der alte Kommissar legte den Hörer auf und wandte sich seinem Adlatus zu. Plötzlich hatte seine Stimme einen geschäftsmäßigen Klang. „Sie müßten es noch gut schaffen, wenn Sie Blaulicht und Sirene einschalten.“ Und schließlich konnte er sich doch nicht zurückhalten. Süffisant schloß er: „Die Freude dieser Festnahme gönne ich Ihnen!“ Es waren die letzten gemeinsamen Schritte, die sie gingen, vom Parkplatz des Flughafens hinüber zur Abfertigungshalle. Sie hatten von der Tankstelle in Stillhorn bis hierher nur noch über belanglose Dinge gesprochen. Es schien so, als ob zwischen ihnen alles Wichtige gesagt worden sei. Kurz bevor sie das Gebäude erreichten, nahm Sibill seinen Arm und blieb stehen. Sie lächelte hilflos. „Ab hier mußt du allein weitergehen, Henry! Abschiednehmen gehörte noch niemals zu meinen starken Seiten.“ Sie standen voreinander und schauten sich an. Ja, es war wirklich ein Abschied, dachte Henry. Plötzlich wuß245
te er, daß er Sibill nicht wiedersehen würde, zumindest nicht so. Er hatte es schon in Cap Fréhel gespürt, und ganz bewußt wurde es ihm in der letzten gemeinsam verbrachten Nacht – die Dinge kamen nicht zurück zu einem. Sie hatten sich bereits vor länger als sechs Jahren getrennt. Seit damals waren sie eigene Wege gegangen, und auf diesen getrennten Wegen hatten sie ihre Gemeinsamkeit verloren. Und dann lächelte Henry plötzlich. Selbst der Rahmen für diese Abschiedsszene stimmte. Da hielten Taxis neben ihnen, Leute stiegen aus. Schleppten Koffer. Die ganze Hektik von Aufbruchstimmung um sie herum. Rufen. Lachen. Und im Hintergrund das Röhren aufsteigender Düsenmaschinen. Sibill, die ihn beobachtete, schien jeden seiner Gedanken zu erraten. In ihren Augen schimmerte es feucht. Schließlich sagte sie: „Leb wohl, Henry!“ Und da nahm er sie auf einmal und küßte sie. Nun, da er wußte, daß alles vorbei war, verlor er jede Hemmung. Er nahm sie ziemlich hart, und das schien ihr zu gefallen, denn er spürte, wie sie zu zittern begann. Als er sie endlich loßließ, schaute sie ihn verwirrt an. Er sagte lächelnd: „Geh jetzt!“ Sie wandte sich um und lief zum Taxistand, der nicht weit entfernt lag. Er sah sie einsteigen. Als das Auto anfuhr, erschien ihr Gesicht am Rückfenster. Sie hob die Hand und winkte. Er sah ihr Gesicht, das ihn anstarrte, bis es schließlich in der Ferne verschwunden war. Nicht einmal im Traum dachte Henry Berger daran, nach Zürich zu fliegen! Aber es war in der letzten Stunde so viel Theater zwischen ihnen gewesen, und er konnte nicht genau einschätzen, was sie in den folgenden Minuten unternehmen würde. Er hielt es für möglich, daß sie das Taxi an der nächsten Biegung verließ, um hinter ihm herzuschleichen. So mischte er sich erst einmal unter die Flugreisenden und trieb mit dem Strom in die Abfertigungshalle hinein. 246
Es herrschte viel Betrieb, aber merkwürdigerweise sah Henry Berger den Kriminalbeamten auf den ersten Blick beim Abfertigungsschalter der Lufthansa stehen. Vielleicht hätte er Wolfgang Bünger nicht sofort erkannt, aber er war ihm ja erst vorgestern auf der Autobahn begegnet. Da hatte er noch herumgerätselt, ob dieses Treffen ein gutes Omen oder ein schlechtes bedeuten sollte. Jetzt wußte er es genau! Wieso stand der Beamte aber da bei der Abfertigung und sah ihm grinsend entgegen, einen ähnlichen Ausdruck im Gesicht wie bei ihrem ersten Wiedersehen? Wieso kam er überhaupt hierher? Wieso gerade er? Hatte …? Nein, nicht möglich, dachte Henry, das denn doch nicht! Der Beamte tat gar nichts, sah Berger nur an, der langsam Schritt für Schritt näher kam. Er lehnte lässig neben dem Schalter, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände in den Taschen. Und natürlich hatte er dieses schreckliche Grinsen im Gesicht. Flucht, dachte Henry Berger! Er mußte fliehen, aber wohin? Er wußte, daß es nun endgültig vorbei war.
Und plötzlich sieht er das Bild vor sich. Er befindet sich im Mattenbetrieb der Strafanstalt. Bis zu zehn Stunden wird er wieder am Nagelbrett stehen, täglich, und Kokosfasern knüpfen. Am Abend wird er todmüde in seine Hütte kommen, wie sie die Zellen dort nennen. Er wird einen Blick in das Abendblatt werfen, noch ein bißchen Musik aus dem Radio hören. Ganz gemütlich. Ebenso heimelig wird auch die Zelle sein, mit Tapeten an den Wänden und einer selbstgeknüpften Kokosmatte auf dem Boden und Gardinen vor den Gittern. Er wird sich diesmal ein Aquarium anschaffen. Davor kann man sonntags stundenlang sitzen, und in so einem Becken gibt es immer neue Varianten. Und es beruhigt ungeheuer. Am Wochenende wird es Fernsehen geben im Gemein247
schaftsraum. Da stehen ausrangierte Stühle um rohe Tische, und darauf sind verrostete Fischbüchsen als Aschenbecher. Das uralte Schwarzweißgerät wird fast unter der Decke hängen, damit sie nicht daran herumfummeln. Aber das werden sie ohnehin nicht tun, denn Fernsehen ist nur für die, bei denen nichts vorkommt. Und das wird es bei Henry Berger nicht, weil es überhaupt nichts einbringt. Er wird schön brav sein, und alles wird gut werden. Denn diesmal wird es heißen: lebenslänglich! Etwa ein Dutzend Schritte vor der Lufthansaabfertigung blieb Henry Berger stehen. Die letzten Meter mochte er nicht mehr laufen. Sollte er doch kommen, der Bulle, und ihm Handschnellen anlegen. Er würde sich nicht wehren. In den letzten Sekunden war Henry eine große Strecke Wegs gegangen. Er hatte aufgegeben! Henry stand ganz still, aber der Kriminalbeamte kam nicht. War er gar nicht seinetwegen hier, schoß es plötzlich durch Henrys Kopf? War es wieder einer dieser grotesken Zufälle? Nein, nein! Der Bünger kam schon her, um Henry festzunehmen, er sah es doch an seinem Grinsen. Aber weshalb lehnte der Beamte derart sichtbar neben der Abfertigung? Dahinter, wo der Grenzschutz auf Terroristensuche ging, mußte es doch einfacher sein. Und plötzlich hatte Henry Berger einen ganz anderen Gedanken! Der Kriminalbeamte Bünger erschien so deutlich sichtbar, weil er Henry damit ein Zeichen geben wollte. „Hau ab“, mochte hinter diesem Grinsen stecken, „solange du es noch kannst!“ Als dieser Impuls in Henry aufzuckte, spürte er, wie es ihn heiß überlief. Im Grunde war es ja ganz und gar ungereimt, aber es mußte doch so sein, denn Bünger rührte sich ebensowenig wie Henry. So standen sie voreinander und starrten sich an. Und Wolfgang Bünger grinste immer noch. Henry machte einen vorsichtigen Schritt rückwärts. 248
Nichts geschah. Behutsam wie auf Eiern, drehte er sich um und machte weitere tastende Schritte dem Ausgang zu. Noch immer passierte nichts. Keine Trillerpfeifen. Keine rennenden Polizisten. Nichts von „Halt, stehenbleiben, oder ich schieße!“ Keine Handschellen! Immer rascher ging Henry dem Ausgang entgegen. Er wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte, er konnte es nicht einordnen. Ganz instinktiv spürte er nur, daß da noch jemand auf seiner Seite zu sein schien. Dazu noch einer von der Gegenpartei. Menschen, die lange allein waren wie Henry Berger und die so etwas wie Vertrauen nicht aufbringen mögen, werden von der Anteilnahme und Güte anderer rasch überwältigt. Henry fühlte diese Regung mächtig in sich aufsteigen. Und während er zum Parkplatz hinüberlief, hatte er vollauf zu tun, dieses Gefühl in sich niederzukämpfen. So sah er natürlich nicht den Kommissar Bünger, der kurz nach ihm die Abfertigungshalle verließ und schon vor ihm den Parkplatz erreichte. Als Henry Berger von dem Platz hinunterglitt, wartete Bünger bereits in der Zeppelinstraße auf ihn. Es war nicht schwer für den Kriminalkommissar, an dem orangefarbenen BMW mit der Nummer HH – AM 140 dranzubleiben, denn er fuhr langsam. Als sie auf der Alsterkrugchaussee in Richtung Innenstadt rollten, griff Wolfgang Bünger nach dem Funksprechgerät. „Herr Schiller, bitte kommen! Herr Schiller, bitte!“ „Hier Schiller!“ schnarrte es aus dem Gerät. „Ist nicht erschienen, unser Mann“, sagte Wolfgang Bünger grinsend. „Wieso nicht erschienen?“ „Das weiß ich doch nicht. Die Züricher Maschine ist gerade in der Luft, und die Zielperson ist nicht gekommen.“ Einen Moment war es still in der Leitung, dann hörte der junge Kriminalkommissar die Stimme des alten er249
neut. „Ich lass’ eine Großfahndung machen. Kommen Sie sofort zurück!“ „Du kannst mi mol an de Büx rüken“, antwortete Wolfgang Bünger, aber da hatte er das Gerät schon ausgeschaltet.
24. Im Grunde war es ein Kinderspiel, an den Fahrstuhl heranzukommen, der ins Penthaus führte. Die Normaluhr in der Halle zeigte kurz nach 13 Uhr 30, und der Nachmittagssturm auf die Büros nach der Essenspause hatte gerade begonnen. Es herrschte starker Publikumsverkehr. Niemand beachtete den Mann, der sich an Hubertys Privatlift zu schaffen machte. Henry Berger probierte einen der Sicherheitsschlüssel aus Sibill Hubertys Tasche, und bereits der erste paßte. Er trat in den Korb und zog die Tür heran, drückte auf den oberen Knopf, und im nächsten Augenblick war er aus der Halle verschwunden. Die Tür zum Penthaus konnte man nicht mehr schließen, aber eines mußte man den Polizisten vom Streifenwagen lassen, den Riegel hatten sie mit beiden Schüssen sauber herausgeknallt. Berger gab der Tür einen leichten Schubs, und sie schwang auf. Es war beinahe wir vorgestern abend, er hatte auch so dagestanden. Nur hatte er an dieser Stelle schon Hubertys Stimme gehört. Er sah die Diele vor sich und dahinter ein Stück Wohnhalle mit der Terrassentür zum Dachgarten. Henry Berger spürte keine Angst, war nicht einmal erregt. Er schien die Grenzlinie überschritten zu haben. Der eine Schlüssel paßte also zum Fahrstuhl des Penthauses. Henry hielt den Lederanhänger, der in ein metallenes „S“ auslief, in seiner Hand. Nun probierte er 250
den zweiten, und der glitt ohne Schwierigkeiten ins Schloß der Wohnungstür. Eine Weile hatte Henry sich gefragt, ob es nicht für Fahrstuhl und Wohnungstür einen gemeinsamen Schlüssel gäbe. Dann wäre einer der Schlüssel übrig gewesen, und man hätte nachsehen müssen, ob der dann nicht zum Notausgang gehörte. Er stand schon längere Zeit vor der Tür zum Penthaus. Er war nicht unentschlossen, ob er hineingehen sollte. Das würde er tun. Aber noch lauschte er. Es herrschte regungslose Stille. Und jetzt hatte er auch das sichere Gefühl, daß er allein im Haus war. Langsam machte er einige Schritte auf die Diele. Nun konnte er die Wohnhalle ganz überblicken, sah bis ins Arbeitszimmer hinein. Nichts schien verändert seit vorgestern, nur daß der Tote nicht mehr in dem Schreibtischsessel saß. Auch die Glaswand, die den Wohnraum vom Arbeitszimmer abtrennte, war noch auf den Dachgarten hinausgefahren. Langsam ging Henry durch die Wohnhalle zum Arbeitszimmer. Er kam an den geschlossenen Terrassentüren vorbei und an der Anrichte, wo er den Pernod gemischt hatte. Dann stand er auf der Schwelle zum Arbeitszimmer. Links von ihm befand sich der Schreibtisch, davor der Sessel mit der hohen Lehne. Langsam trat er heran und schaute auf die dunklen Flecke an Rückenlehne und Sitzfläche. Das Tonbandgerät lag nicht mehr auf der Schreibplatte, wahrscheinlich hatte die Polizei es als Beweismittel mitgenommen. Henry hob den Blick in Richtung Dachgarten. Auch in diesem Zimmer waren die Terrassentüren geschlossen. Für ein paar Sekunden sah er sich da draußen stehen, inmitten des Gewitters, und durch die Scheiben auf den toten Unternehmer starren. Henry wandte sich nach rechts. Wie er sich richtig erinnert hatte, befanden sich dort Regale mit Leitzordnern. Er setzte sich die Brille auf die Nase und griff nach dem Aktendeckel mit dem Buchstaben „L“. Er entdeckte 251
nichts, was mit irgendwelchen Leibrentenverträgen zu tun hatte. Er stellte den Ordner zurück und nahm einen zweiten mit dem Buchstaben „M“. Neben den Regalen stand noch ein hochlehniger Sessel, in den sich Henry Berger setzte. Er schlug den Aktendeckel auf und begann ihn langsam durchzublättern, wobei er nach dem Namen Mewis Ausschau hielt. Aber er fand ihn nicht. Diese Arbeit beanspruchte seine ganze Konzentration. Gegen Ende hin glitten die Blätter immer schneller durch seine Finger. Der Name Mewis tauchte nirgends auf. Dann ließ er den Ordner auf seine Knie sinken. Henry Berger spürte die tiefe Enttäuschung in sich. Und etwa in diesem Augenblick wußte er auch, daß er in dem Arbeitszimmer nicht mehr allein war. Sein erster Impuls war aufzuspringen. Und in den folgenden Sekunden hatte er auch das Gefühl, daß er es täte, aber in Wirklichkeit blieb er starr im Sessel sitzen, es war nicht mehr als eine schwache innere Regung. In dieser Haltung erkannte Berger, daß er die Grenzlinie tatsächlich überschritten hatte. Er wußte nicht, wer die Person war, er spürte nur, daß sie dicht in seinem Rücken stand. Wie bei Huberty vorgestern mochte sie einen schweren Gegenstand in der Hand halten und zum Schlag ausholen. Sollte sie es tun! Henry Berger wollte nicht mehr kämpfen. Er klappte den Aktendeckel zu. Dann nahm er die Brille von der Nase und legte sie ebenfalls zusammen. Dann saß er nur noch da, die Hände im Schoß. Aber es geschah nichts. Und da sagte Henry Berger schließlich: „Worauf warten Sie denn?“ Er hörte nichts. Keinen Mucks! Henry sagte: „Kommen Sie ruhig näher!“ Wieder nichts! Und da glaubte Henry schließlich, daß er sich getäuscht hatte. Und gerade als er sich an diesen neuen Gedanken gewöhnen wollte, sah er im linken Augenwinkel die Person auftauchen. Sie kam langsam, 252
Schritt für Schritt, in einem Bogen um ihn herum und blieb vor ihm stehen. Henry hob den Blick und sah ihr ins Gesicht. Es war Marion Huberty! Lange Zeit schauten sie sich in die Augen. Jeder versuchte die Gedanken des anderen zu enträtseln. „Worauf warten Sie denn?“ fragte Henry Berger schließlich. „Warum rufen Sie nicht die Polizei?“ „Weshalb?“ Marion begann zu lächeln. „Weil Sie mich gestern mit einer Waffe bedroht haben, nachdem man Sie zu meinem toten Vater gelockt hatte?“ „Sie glauben nicht …“ „Natürlich nicht!“ Henry Berger spürte, wie er zu neuen Kräften kam. Da gab es noch jemand, der ihn nicht für einen Mörder hielt. Das wuchs sich mittlerweile zu einer Ansammlung aus. Da war erst einmal Hannah Mewis, dann Sibill. Was es mit Herrn Bünger und dem seltsamen Erlebnis in der Abfertigungshalle des Flughafens auf sich hatte, konnte er im Moment nicht einordnen. Und nun schließlich Marion Huberty, die allen Anlaß hatte, ihm nicht freundlich gesinnt zu sein. Die meinte gerade: „Außerdem kenne ich den wirklichen Mörder!“ „Dasselbe erklärte mir Sibill auch“, antwortete er. „Interessant! Und wer ist es?“ fragte Marion. „Nach Sibills Meinung?“ Er sah es ihr an, daß sie die mögliche Antwort bereits kannte. Also sagte er nichts darüber. Aber er wollte schon gern erfahren, weshalb sie gestern wie aufs Stichwort erschienen war. Und so fragte er: „Weshalb kamen Sie an jenem Abend hierher?“ „Weil mein Vater mich darum gebeten hatte!“ Henry Berger schaute sie skeptisch an. Dies war eine leichte Antwort, weil niemand sie mehr überprüfen konnte. „Sie glauben mir nicht?“ Marion spürte seine Zweifel, und merkwürdigerweise lag ihr wohl daran, ihn zu über253
zeugen, denn sie fuhr fort: „Mein Vater wollte Sie als Bauleiter für die Unternehmung gewinnen, Herr Berger. Sie sollen ja in Fachkreisen ein gutes Ansehen haben. Vorbedingung für eine Zusammenarbeit wäre aber wohl ein Mindestmaß an Vertrauen gewesen, nicht wahr? Nun hatten Sie aber starke Zweifel am Tode Ihrer Mutter, und deshalb bat er mich her, um mich Ihnen gegenüberzustellen.“ Das klang logisch. Er sah in ihre Augen, die nicht nur ganz hübsch waren, sondern auch einen offenen Ausdruck hatten. Er beschloß, es mit ihr zu versuchen. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das sie erwiderte. Dann sagte sie: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Berger, möchte ich aus diesem Zimmer hinausgehen.“ Er verstand sie sofort und erhob sich. Sie schloß die Terrassentür auf und führte ihn vor den Kamin. „Soll ich Ihnen etwas zu trinken machen?“ „Nein, danke!“ „Hunger?“ Er schüttelte den Kopf. Sie setzten sich und schwiegen eine Weile. Dann begann Marion zu sprechen: „Einen Abend bevor das mit meinem Vater geschah, haben wir hier zusammen gesessen. Ich glaube, er hat gewußt, daß er bald sterben würde. Natürlich nicht auf diese Weise, wie es dann geschah, aber er hat es gewußt! Intuition? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war dieser Abend wie ein Abschiednehmen. In vieler Hinsicht ist mein Vater ein böser Mann gewesen, das muß man wirklich sagen, Herr Berger, aber eines stimmt nicht! Er ist nicht von Anfang an darauf aus gewesen, diesen alten Leuten ihr Geld zu stehlen. Er wurde von anderen getrieben, dieses Projekt immer größer und größer werden zu lassen, bis es die Möglichkeiten der Bauunternehmung schließlich überstieg. Natürlich schmälert es nicht seine Schuld, denn er trug letztlich die Verantwortung, und er hätte nein sagen müssen, als es noch Zeit war.“ 254
Berger sah die junge Ärztin verblüfft an. Natürlich hatte er eine eigene Meinung zu den Vorgängen, aber es mußte wohl so sein, daß sie an dem Bild ihres Vaters zu klittern versuchte. Das tat sie schon um ihrer selbst willen. Marion fuhr fort: „Als ich begriff, was mein Vater mit unserem Namen angerichtet hatte, war das ein regelrechter Schock für mich. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Inzwischen glaube ich es zu wissen. Mein Vater hat einiges Geld aus früheren Einkünften hinterlassen. Ich überlege, wie man es aus dem Ausland zurückführen und notariell abgesichert einer Stiftung zugunsten der betroffenen alten Leute übergeben kann. Ich möchte das um meines Vaters Namen willen tun.“ Sie schwieg. Henry Berger wollte sich vorerst nicht dazu äußern. Natürlich konnte man mit dem Geld, wie hoch die Summe auch sein mochte, den Schaden an den Leuten nicht beheben, aber vielleicht konnte man ihn mildern. Berger hoffte nur, daß die kleine Huberty auch noch an diesen Vorsatz dachte, wenn Gras über die Sache zu wachsen begann. „Sie kamen also vorgestern abend kurz nach mir hier an“, wechselte er das Thema. „Die Planung des Mörders zielte darauf, daß ich von der Polizei bei der Leiche gestellt würde. Er mußte also felsenfest mit Ihrer Pünktlichkeit gerechnet haben.“ „Das konnte er“, meinte Marion. „Jeder kann auf meine Pünktlichkeit zählen, ich bin bekannt dafür!“ „Ach –“, machte Berger und lächelte. Er dachte daran, daß es bei ihm ganz genauso war. „Wer wußte, daß Ihr Vater uns beide gegenüberstellen wollte?“ „Sibill wußte davon.“ „Die hat den ganzen Abend in ihrem Atelier gesessen und gearbeitet.“ „Auch Jomeyer wußte es.“ 255
„Jomeyer war leider in Bonn.“ „Das war er nicht! Sein Wagen ist seit dem letzten Ölwechsel nur dreihundert Kilometer gelaufen. Ich hab’s von unserem Monteur aus der Tiefgarage.“ „Jomeyer also!“ sagte Henry Berger und erinnerte sich, daß er auf diesen Mann von Anfang an getippt hatte! Schon bei seinem ersten Gespräch mit Sibill darüber. „Er schuldete Ihrem Vater zweihunderttausend Mark, nicht wahr?“ „Woher wissen Sie das?“ „Von Sibill. Und er konnte nicht zurückzahlen!“ Darauf erwiderte Marion nichts, und so schwiegen sie eine Weile. Dann begann sie mit schwerem Anlauf: „Herr Berger, ich möchte, daß wir noch einmal über den Tod Ihrer Mutter reden. Ist Ihnen das recht?“ „Bitte!“ „Es war das erste Aneurysma, das ich in der Praxis erlebte, und als die kritische Phase einsetzte, habe ich sofort den Amtsarzt zugezogen. Der Kollege kann Ihnen bestätigen, daß es mit Ihrer Mutter schließlich einen natürlichen Verlauf nahm.“ Wieder wurde es Henry Berger bewußt, wie weit er den Tod seiner Mutter von sich weggeschoben hatte. Nach einer Weile sagte er: „Ich war gestern mittag in Herrn Baumstarks Zimmer!“ Marion schien sichtlich überrascht. „Wieso denn das?“ „Ich lief durch einen Hotelgang und hörte plötzlich Röcheln und Wimmern aus einem der Zimmer.“ Henry Berger änderte den tatsächlichen Hergang, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich ging in das Zimmer hinein, weil ich glaubte, daß schnelle Hilfe nötig sei. Und da fand ich Herrn Baumstark, er hatte einen Herzanfall.“ Marion lächelte. „Gaben Sie ihm seine Medizin?“ „Ja.“ „Beruhigte er sich, als er sie hatte?“ „Ja.“ 256
„Und haben Sie das Etikett auf dem Fläschchen gesehen? Waren es nicht einfache Beruhigungstropfen?“ „Ja.“ „Sie glauben doch wohl auch nicht, daß solche Tropfen einem wirklich Herzkranken helfen würden, nicht wahr?“ Sie sah die Bestätigung in Bergers Gesicht und fuhr beinahe vergnügt fort: „Herrn Baumstarks Beschwerden haben rein vegetative Ursachen. Er ist mit seiner multiplen Sklerose wirklich ein bedauernswerter Mann, aber sein Herz ist organisch gesund. Diese Tropfen stehen auf dem Nachttisch. Er könnte sich die ganz leicht selbst nehmen. Aber er will, daß man sie ihm gibt. Er möchte, daß sich ständig jemand um ihn kümmert. Verstehen Sie? Das ist sein Problem!“ Merkwürdigerweise glaubte Berger der jungen Ärztin plötzlich jedes Wort, und das schien auch alle sonstigen Mißverständnisse zwischen ihnen auszuräumen. Marion spürte, daß sich ihre Beziehung verändert hatte, und so fragte sie nun: „Weshalb sind Sie hier ins Penthaus gekommen, Herr Berger?“ „Ich suchte nach einem Leibrentenvertrag, den Ihr Vater und Frau Mewis abgeschlossen haben. Zusammen mit dem Tonband, das ich von hier mitnahm, könnte es meine Unschuld beweisen.“ „Vielleicht habe ich etwas Besseres“, meinte Marion. Sie nahm einen Schnellhefter, der die ganze Zeit über in ihrem Schoß gelegen hatte, und reichte ihn Henry Berger hinüber. „Wenn Sie darin lesen, wissen Sie plötzlich, weshalb mein Vater umgebracht wurde.“ Henry Berger nahm zögernd den Hefter aus ihrer Hand und schlug ihn auf. Wieder zog er die Brille hervor und setzte sie sich auf die Nase. Er sah Aufstellungen und quittierte Rechnungen, ganz phantastische Zahlenkolonnen, die plötzlich anfingen Ringelreihen zu tanzen, so sehr begann es vor seinen Augen zu flimmern. Er hörte Marion sagen: „Jomeyer war auf diesen Hefter aus. 257
Deshalb wurde mein Vater umgebracht. Als es geschehen war, erwartete Jomeyer Sie in der Nähe der Eingangstür. Er konnte sich im Gäste-W.C., in der Küche oder in einem der ersten Zimmer am Gang verstecken.“ Sie unterbrach sich und sah Berger fragend an. „War auf dem Tonband, das Sie mitnahmen, die Stimme meines Vaters aufgezeichnet?“ „Ja.“ „Dachten Sie, er würde etwas diktieren?“ „Ja.“ Marion nickte befriedigt. „So habe ich es mir vorgestellt! Das sollte Sie für eine Weile hinhalten. Als Sie über die Diele gingen und im Wohnraum verschwanden, erschien Jomeyer und riegelte hinter Ihnen die Penthaustür ab. Dann ging er über die Küche und den Dachgarten zum Notausgang.“ „Aber es gibt nur zwei Schlüssel für dessen Tür“, warf Berger ein. „Ja, das ist ein Pfund, mit dem er wuchert! Es muß Jomeyer gelungen sein, sich solch einen Schlüssel zu beschaffen.“ „Aber wie?“ Marion zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht.“ Sie hätte schon sagen können, wie das prinzipiell möglich war. Aber da hätte sie zugeben müssen, daß sie selbst so einen Schlüssel besessen und schließlich in ihrer Angst fortgeworfen hatte. Und das wollte sie nicht. „Nehmen wir an, daß es so gewesen ist“, sagte Henry Berger nach einer Pause. Er war recht nachdenklich, und er fragte sich, weshalb Marion ihren Verlobten derartig belastete. Die Erklärung konnte nur in den Zahlenreihen dieses Schnellhefters liegen. Berger fuhr fort: „Jomeyer verschwand also über den Dachgarten ins Bürohaus, fuhr in die Tiefgarage und lief über die beiden Höfe zur Ferdinandstraße?“ Marion schüttelte geheimnisvoll den Kopf. 258
„Das tat er nicht?“ „Nein.“ „Aber was dann?“ Marion erhob sich. „Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen!“ Sie gingen über den Dachgarten zum Aufbau, in dem sich die Tür zur Nottreppe befand. Als sie davorstanden, öffnete Marion ihre Handtasche, holte einen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. „Aber Sie haben ja auch so einen Schlüssel!“ schoß es aus Henry Berger heraus. Marion lächelte. „Als man mir gestern bei der Polizei die persönlichen Dinge meines Vaters aushändigte, war auch dieser Schlüssel dabei!“ Mit leisem Bedauern dachte Marion an den anderen, der nun im Schlick der Elbe ruhte. Irgendwie hatte das Herz ihrer Jugendzeit an dem gehangen. Marion öffnete die Tür, und sie sahen in den dunklen Schlund hinab. Dann knipste sie Licht an, und sie gingen hinab. Am Fuß der Treppe wiederholte sich das Spiel mit der zweiten Tür, und schließlich standen sie auf dem Gang des Bürohauses. Marion nahm Bergers Arm und führte ihn bis zu Jomeyers Anwaltsbüro. Henry Berger las auf einer Messingtafel: Doktor Jürgen Jomeyer, Rechtsanwalt und Mitglied des Rechtsanwaltskollegiums der Freien und Hansestadt Hamburg. Marion sagte: „Der Mörder flüchtete über keine Höfe, Herr Berger, das hatte er gar nicht nötig. Er ging hier hinein!“ Marion stieß die Tür auf, und Berger sah die Sekretärin in dem Vorzimmer sitzen. „Ist Doktor Jomeyer da, Frau Bodendieck?“ fragte Marion. Auf einmal hatte ihre Stimme einen spröden, splitternden Klang. „Der Herr Doktor wird nicht vor fünfzehn Uhr zurück sein“, erwiderte die Frau ebenso. Marion wandte ihr den Rücken und blinzelte Berger 259
zu. „Können wir so lange warten, Herr Professor? Läßt Ihre Zeit das zu?“ „Ich denke“, erwiderte Professor Berger. Marion deutete auf Jomeyers Arbeitszimmer und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Wir werden da drinnen auf ihn warten!“ Marion Huberty drückte die Klinke ins Schloß und lehnte sich gegen das Polster der schallschluckenden Tür. „Diese Sekretärin ist ein Drachen“, sagte sie, „es ist schwierig, an ihr vorbeizukommen. Aber nun haben wir eine knappe Stunde Zeit, bis Jomeyer kommt.“ „Ich habe nicht die Absicht, mit ihm zu sprechen“, erklärte Berger. Marion erwiderte: „Ich auch nicht.“ „Weshalb sind wir dann hier?“ Wieder erschien das geheimnisvolle Lächeln auf Marions Gesicht. Sie ging zum Schreibtisch und um den herum zu dem Bild an der Wand. Sie klappte es beiseite, und der Safe wurde sichtbar. Sie stellte die Kombination ein und zog die Tür auf. Dann drehte sie sich zu Berger herum, sagte einfach: „Der Mörder erschlug meinen Vater! Dann nahm er die Dokumente an sich und flüchtete in diesen Raum! Tat sie in diesen Safe! Hier habe ich sie gestern gefunden. Wenn er auf seinem weiteren Weg durch das Haus von der Polizei gestellt worden wäre, und damit mußte er ja schließlich rechnen, er hätte nichts Belastendes bei sich gehabt.“ Henry Berger zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. Er sah Marion in die Augen. Was tat eine Frau, wenn sie sich von ihrem Liebhaber verraten fühlte? Sie lieferte ihn dem erstbesten ihrer Rache aus. Und der war er, Henry Berger! Er fragte: „Die Geschichte zwischen Sibill und Jürgen Jomeyer, wie lange geht die schon?“ „Läuft da eine Geschichte?“ 260
„Hören Sie, Fräulein Huberty, wenn es stimmt, was Sie mir erzählen, daß nämlich Jomeyer es war, muß ein mächtiges Ding zwischen beiden im Gange sein.“ Er hielt ihr den Schnellhefter hin. „Dieses Material belastet, wenn man so will, Sibill Huberty, aber nicht Jomeyer! Weshalb sollte er also diesen Mord für sie begehen? Es muß die große Liebe sein!“ „Es läuft schon eine ganze Weile“, sagte Marion mit einem nachdenklichen Lächeln. „Sie gaben sich alle Mühe, es vor uns zu vertuschen; vor meinem Vater und mir. Sie stritten ununterbrochen miteinander, oft in rüden Tönen. Vielleicht haben sie meinen Vater getäuscht, mich nicht. Ob es allerdings die große Liebe zwischen beiden ist, da bin ich nicht so sicher. Besonders von Sibills Seite! Ich glaube, sie hat sich ihre Männer nach dem Nutzen, den sie brachten, ausgesucht. Da waren zunächst Sie, Herr Berger, und dann kam mein Vater …“ „Sie haben einen vergessen“, warf Henry Berger ein. „Dazwischen liegt ein Abteilungsleiter von der Altonaer Hoch- und Tiefbaugesellschaft, ein Architekt. Sie hatte eine Liaison mit ihm. Als der Mann plötzlich starb, nahm sie dessen Platz im Betrieb ein.“ „Ja, richtig! Sie war Abteilungsleiterin“, erwiderte Marion Huberty. „Der erste weibliche Abteilungsleiter in der Branche! Ich weiß noch, welchen Eindruck das auf meinen Vater machte. So lernten die sich überhaupt kennen. Und diese Verbindung brachte ihr den beruflichen Aufstieg. Und als die Quelle ausgeschöpft war, wandte sie sich dem nächsten zu. Nun ist sie nämlich unabhängig, und was ihr noch fehlt, ist der wirkliche gesellschaftliche Rahmen. Man sagt Jürgen Jomeyer eine politische Karriere voraus.“ „Damit wird es wohl nichts, wenn man ihn des Mordes überführt“, meinte Henry Berger trocken. „Sie vergessen, daß Sie der Mörder sein sollten und daß diese Rechnung beinahe aufgegangen wäre. Sibill 261
muß einen starken Einfluß auf Männer haben, nicht wahr? Das muß sie doch, wenn sie Jomeyer zu dieser ungeheuerlichen Tat überreden konnte. Was meinen Sie, Herr Berger?“ Henry erwiderte: „Sie sehen es auch an Ihrem Vater, wie weit sie Männer treiben konnte. Sie hat dreißig Millionen aus der Bauunternehmung herausgepreßt. Das muß man sich mal vorstellen! Dreißig Millionen!“ Henry Berger klappte den Schnellhefter auf und schaute sich noch einmal die Aufstellungen, Rechnungen und Belege an. Schließlich sagte er: „Und es ist nicht einmal die Höhe der Summe, Fräulein Huberty, die scheint bei dieser Größenordnung ganz korrekt zu sein. Aber wie sie es geschafft hat, daß er ihr das gesamte Honorar auszahlte, da liegt der Haken! Sie hat ja selbst schon für jene Häuser bis auf den letzten Pfennig kassiert, die niemals aus der Baugrube herauskommen werden.“ In Henrys Mundwinkel erschien der Abglanz eines milden Lächelns. „Nun, Ihr Vater war vierzig Jahre älter. Sie wird ein leichtes Spiel gehabt und dem alten Herrn dafür eine wild bewegte Zeit beschert haben.“ „Für dreißig Millionen!“ „Ganz so hoch dürfen Sie die Summe nicht ansetzen. Immerhin hat sie zwei Jahre lang ein Büro mit fünfzig Angestellten beschäftigt. Das kostet natürlich.“ „Und wieviel blieben ihr unterm Strich?“ Er erwiderte nach kurzem Überlegen: „Sie könnte zehn, zwölf Millionen abgestaubt haben.“ „In zwei Jahren!“ „Ja, es ist ganz phantastisch!“ „Und da liegt eben auch der Grund, weshalb mein Vater sterben mußte!“ Henry Berger streifte die junge Ärztin mit einem Blick, er sah den Haß in ihren Augen. Er stand auf und ging zum Fenster. Seit einer Weile war ein merkwürdiger Gedanke in ihm aufgetaucht. Von Sibills Schurkerei 262
abgesehen, von der er sich in dem Schnellhefter hatte überzeugen müssen, waren alle anderen Dinge Vermutungen. Vielleicht hatte das Mädchen den Vater selbst umgebracht, um ihn zu beerben! Marion könnte den Schnellhefter ebenso genommen und in den Safe gepackt haben, um den Verdacht auf Jomeyer zu lenken und sich so für seine Untreue zu rächen. Ja, wirklich, dachte Berger, so könnte es auch gewesen sein … Langsam wandte er sich zu ihr um. In ihrem Blick lag ein Ausdruck, als ob sie unter allen Umständen herauskriegen wollte, was er dachte. Den Teufel würde er tun und es ihr sagen! Er trat hinter ihrem Drehstuhl vorbei an den Safe. Er schaute hinein und begann ungeniert zu kramen. Wonach suchte er aber? Jomeyers Papiere, und daraus bestand schließlich der Inhalt, die schaute er nicht mal an, hob sie nur so hoch. Nein, er wußte nicht, wonach er suchte. Und dabei stieß er dann plötzlich auf ein Tonband. Es steckte in einem Stück Plastfolie. Ebenso eins schleppte er seit dem Mord an Huberty mit sich herum. Sibill dachte zwar, es sei noch in seinem Kleiderschrank, und sie … Hier stockte Henry, denn auf einmal sah er das in einem anderen Licht. Ja –! Sie hatte ihn überreden wollen, ihr dieses Band zu geben. Es war doch wirklich unglaublich! Auf einem Beistelltisch sah er ein Tonbandgerät stehen, er ging hin und legte das Band auf. Etwas war merkwürdig damit. An verschiedenen Stellen ragten Papierschnipsel heraus, das schienen ihm Markierungen zu sein. Henry drückte auf die Wiedergabetaste, und das Band begann zu laufen. Zunächst hörten sie einige unverständliche Laute, und dann fragte plötzlich Alfons Hubertys Stimme: „Ja, bitte?“ „Mein Vater!“ flüsterte Marion. Henry Berger drückte die Stopptaste, denn genau an dieser Stelle fiel das erste Papierschnipsel heraus. Berger fühlte die Verdickung, das Band war kurz hinter der 263
Stimme geschnitten. Bei den anderen Schnittstellen würde es sich also ebenfalls um Markierungen handeln. Henry tat das Schnipsel an den Fleck zurück und ließ das Gerät weiterlaufen. Bis zur nächsten Markierung sahen sie ein Stück Leerband durch das Gerät gehen, und dann hörten sie wiederum Hubertys Stimme sagen: „Sehr schön, mein Lieber!“ Und dann noch einmal: „Ja, natürlich, ich lasse den Fahrstuhl hinunter.“ Berger schaltete das Gerät ab. Er erinnerte sich, daß dies genau Hubertys Worte waren, als er neben dem Wachmann in der Halle gestanden hatte. „Was bedeutet das alles, Herr Berger?“ fragte Marion. „Es ist ganz einfach!“ erklärte er. „Als ich vorgestern um zweiundzwanzig Uhr unten im Haus eintraf, war Ihr Vater schon tot. Der Wachmann rief hoch, meldete mich an, und als Antwort drückte der Mörder jedesmal auf die Taste und hielt das Telefon an den Lautsprecher. Dann ließ er das Band bis zur nächsten Markierung vorlaufen.“ Marion überlegte einen Moment, dann fragte sie: „Woher wußte Jomeyer, daß akkurat diese Antworten benötigt wurden?“ „Hm – das ist natürlich richtig“, meinte Berger. „Aber im Grunde spielen sich solche Anmeldungen wohl ganz stereotyp ab, wie auf eingefahrenen Geleisen eben. Irgendwie kommt dann auch die Antwort hin.“ Er sah Marion fragend an. „Glauben Sie nicht?“ Sie nickte schließlich. Er ließ das Band bis zum nächsten Schnipsel vorlaufen und drückte die Wiedergabetaste. Und noch einmal hörten sie Alfons Hubertys Stimme: „So stellen die Heide Senioren Hotels in ihrem Dienstleistungsprogramm einen ganz neuen Typ von Altenheimen der gehobenen Klassen dar …“ Henry Berger schaltete das Gerät aus, und plötzlich spürte er die mächtige Erregung in sich. Nun war es wirklich ausgestanden. Denn mit diesem Band aus Herrn Jomeyers Safe hielt er einen Beweis in den Händen, einen 264
besseren gab es nicht. Langsam ging er zu einem Stuhl und setzte sich hin. Er schloß die Augen. Nach einem Weilchen hörte er Marions Stimme: „Geht es Ihnen nicht gut, Herr Berger?“ „Blendend!“ krächzte er. „Sie sehen aber verdammt blaß aus.“ Er spürte, wie sie seine Hand nahm und nach dem Puls tastete. Dabei fragte sie: „Ist es wieder diese Malaria?“ „Kommt erst übermorgen.“ „Ja, richtig! Und wollen Sie mal was dagegen tun? Die Quartana ist heimtückisch. Außerdem sollten Sie Ihr Herz untersuchen lassen.“ „Sobald dieses Horrorspiel vorbei ist!“ Er öffnete langsam die Augen und lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. „Es war ein bißchen viel die letzten Tage, und so wie noch vor zehn Jahren – immer hoch die Tassen und keine Stunde Schlaf –, das ist nicht mehr.“ Marion wies auf das Tonbandgerät. „Dieses Band lief vorgestern abend, als Sie ins Penthaus kamen?“ „Ja.“ „Aber ich dachte, Sie hätten es mitgenommen?“ „Ja, hab’ ich! Aber nicht dieses!“ Marion blickte ihn verständnislos an. „Dieses Band hier ist so etwas wie ein Urband. Davon hat Jomeyer eine Kopie gezogen, und die ließ er ablaufen. Verstehen Sie?“ „Eine Kopie ohne sichtbare Klebestellen!“ „Genau so!“ Wieder glaubte Henry Berger Sibills Stimme zu hören. Das Band sei bei ihm nicht sicher, hatte sie gesagt, man sollte es besser in ihr Safe tun. Natürlich! Darauf war sie aus gewesen! Als sie nach Ahrensburg kam, um ihn zu holen, geschah es nicht aus Sorge um ihn. Hinter dem Band war sie die ganze Zeit über hergejagt. Unglaublich geradezu! „Sie haben Ihren Vater nicht umgebracht, Fräulein 265
Huberty“, meinte er in einem plötzlichen Anfall von schwarzem Humor. Aber Marion schien für solche Späße kein Verständnis zu haben. „Was soll das, Herr Berger?“ Auf einmal begann der Computer auf Hochtouren zu laufen, spuckte alle Informationen aus. Sibill hatte bei allem einen Fehler gemacht! Henry kramte in seinen Taschen und packte deren Inhalt auf den Schreibtisch. Alles zielte darauf ab, ihn immer tiefer in die Geschichte hineinzuziehen. Deshalb wollte sie ihn überreden, nach Zürich zu gehen. Das wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen. Aber Sibill hatte einen Fehler gemacht, denn sie hatte ihm die Lageskizze ihres Bungalows am Greifensee in die Tasche gesteckt und dazu die Nachricht für die Baulis. Noch einmal sah er die Sachen durch, die ausgebreitet vor ihm lagen. Hatte sie nicht? Nein –! Sie hatte nur so getan! Weder die Lageskizze noch der andere Zettel waren dabei. Eine ganze Weile starrte Berger auf seine Habseligkeiten, dann hob er den Blick. Beinahe tonlos sagte er: „Diese Leute sind wirklich abgebrüht, Fräulein Huberty.“ Aber sie ging wieder nicht auf seinen Ton ein. „Was sollte Ihre Bemerkung eben, Herr Berger?“ Henry riß sich zusammen. „Fräulein Huberty“, erwiderte er freundlich, „ich habe Ihnen vorhin nicht unbedingt jedes Wort geglaubt! Auch Sie hätten schließlich Ihren Vater töten und die Beweismittel in diesen Safe legen können, nicht wahr? Aber seit wir dieses Originaltonband gefunden haben, weiß ich, daß sich alles ganz anders abgespielt hat.“ „Und wie?“ „Der Mörder blieb so lange mit mir zusammen im Penthaus, bis Sie an der Tür klingelten, Fräulein Huberty! Deshalb können Sie es gar nicht gewesen sein.“ „Und weshalb blieb er so lange?“ „Er wollte das Tonband an sich bringen! Schauen 266
Sie, Fräulein Huberty, das Band war ja nur eine Kopie, und im Polizeilabor hätten sie das rasch herausgefunden. In dem Penthaus kann man aber gut ein Haschmichversteckdichspiel treiben. Alle Räume führen auf den Dachgarten, es gibt Ecken und Winkel. Der Mörder schleicht also hinter mir her, wartet darauf, daß Sie an der Tür klingeln, rechnet damit, daß ich in Panik gerate. Genau das trat auch ein. Fast! Nur etwas stimmte nicht. Bevor ich auf das Klingeln hin von Ihrem toten Vater fortlief, nahm ich das Tonband von dem Gerät und steckte es in meine Tasche.“ Marion Huberty schaute ihn schweigend an, schließlich nickte sie. Dann ging sie hin und schob die Safetür heran. Und Berger griff nach dem Originalband. „Warum hat Jomeyer dieses Band in seinem Safe aufbewahrt?“ wollte Marion noch wissen. „Warum hat er es nicht gleich vernichtet?“ Henry wußte keine Antwort darauf. Schließlich – und vielleicht um nur etwas zu sagen – erwiderte er: „Das ist eine gute Frage, Fräulein Huberty.“
25. Der Kriminalkommissar Bünger stand mitten in der Halle des Raboisenhauses. Stand nur so da, die Hände in den Taschen, und natürlich lag auf seinem Gesicht dieses blödsinnige Grinsen. Er blickte Marion Huberty und Henry Berger entgegen und schaute ihnen nach, als sie an ihm vorbei zum Ausgang gingen. Vielleicht hätte er sie sogar laufenlassen, aber Henry Berger trieb es nicht auf die Spitze. Er verabschiedete sich bei der Tür von Marion, sah ihr auch noch eine Weile nach, aber dann kehrte er um und ging zu Wolfgang Bünger zurück. 267
„Hallo, Herr Berger!“ sagte der Kriminalkommissar. „Hallo!“ erwiderte Henry. Und immer mit diesem Grinsen von Bünger: „Sie sind ein Glückskind, Herr Berger!“ „Wieso?“ „Sie sind es, weil Ihre Geschichte durch Zufall in meine Abteilung kam.“ „Die letzten Tage sind voller solcher Zufälle.“ „Falsch!“ „Wie?“ „Das Leben ist es“, meinte Herr Bünger etwas rätselhaft. „Das ganze Leben ist voller groteske Zufälle.“ Henry Berger schaute in das Gesicht des Kriminalbeamten. Er erkannte, daß dieser Mann es nicht böse mit ihm meinte, nur mit diesem wirklich albernen Grinsen wußte er nichts anzufangen. „Sie waren es natürlich nicht?“ fragte Wolfgang Bünger. „Sie haben dem alten Mann nicht den Schädel aufgepocht?“ „Nein.“ „Und wer?“ „Jomeyer!“ „Hubertys Rechtsanwalt?“ „Ja.“ Wolfgang Bünger nahm Bergers Arm, und wie zwei Freunde gingen sie hinüber zu der Sitzecke. Unterwegs fragte der Kriminalkommissar: „Sie wollten gar nicht nach Zürich, nicht wahr?“ „Nein! Hatten Sie die Information von Frau Huberty?“ „Aber natürlich, alter Freund! Kommen Sie, setzen Sie sich mal hin! Ja, ja die Frau hat uns angerufen und uns gesagt, daß Sie außer Landes wollten. Sie kennen ja wohl die Pflicht eines Bürgers, an der Aufklärung von Verbrechen mitzuwirken, nicht wahr? Na ja, und so rief sie uns eben an. Ist ja auch ganz lobenswert. Aber Sie wollten eben nicht nach Zürich, wie?“ 268
„Wenn ich geflogen wäre, hätten Sie da noch an meine Unschuld glauben können?“ „Da hätten Sie es mir noch schwerer gemacht“, erwiderte Wolfgang Bünger grinsend. Aber ganz allmählich, und ohne daß er es steuerte, ging dieses schreckliche Mienenspiel über in ein offenes und beinahe herzliches Lachen. „Ich habe mit Ihnen va banque gespielt, Herr Berger, aus Gründen, die ich nicht erklären will. Ich kann durch mein Verhalten in Teufels Küche kommen, und ich will nur hoffen, daß ich richtig gesetzt habe.“ Und beinahe fordernd fügte er hinzu: „Was ist mit Ihren Unschuldsbeweisen!“ Henry griff in seine Tasche und zog das Tonband hervor, das er vorgestern aus dem Penthaus mitgenommen hatte. Er erklärte: „Hier haben Sie das Tonband vom Tatort! Wenn Huberty wirklich diktiert hätte, als ich kam, hätte das Gerät auf Aufnahme geschaltet sein müssen, und dann wäre das Gewitter mit aufgezeichnet worden. Erinnern Sie sich an das Gewitter?“ „Ja. Und es ist nicht darauf?“ „Natürlich nicht! Dieses Band ist schon viele Wochen alt. Wenn Sie sich mit der Materie Huberty näher befassen, werden Sie das schnell herausfinden. Er bittet darauf ein Bankenkonsortium um einen Kredit. Als Huberty dieses Band besprach, hatte er auch einen Besucher. Dieser Umstand machte es für Jomeyers Manipulationen überhaupt erst brauchbar. Und dieser Besucher von damals befindet sich in meinem Haus.“ „Frau Mewis?“ fragte Wolfgang Bünger überrascht. Berger nickte. „Huberty hat damals mit ihr einen Leibrentenvertrag abgeschlossen, den die Frau allerdings nicht in ihren Händen hat. Aus diesem Grund kam ich heute noch einmal her, um danach zu suchen. Ich konnte ihn nicht finden, aber dafür bekam ich das hier.“ Henry übergab dem Kriminalbeamten den Schnell269
hefter. Der schlug ihn auf, blätterte darin, las schließlich interessiert. Dabei fragte er: „Woher haben Sie das?“ „Von Marion Huberty.“ „Und die? Woher hat die’s?“ „Aus Jomeyers Safe!“ Wolfgang Bünger schaut überrascht auf, aber er fragte nichts. Er wandte sich wieder den Papieren zu, las weiter. Henry Berger sagte: „Das wäre doch ein Motiv, den alten Mann umzubringen! Stellen Sie sich den Skandal vor, wenn es zum Bankrott kommt, und der Alte lebt noch und legt die Karten auf den Tisch. Schließlich hätte sie die Millionen wieder herausrücken müssen. Ist es nicht ein Motiv?“ „Ja, ja“, meinte Wolfgang Bünger nachdenklich. „Nur, die Huberty hockte den ganzen Abend in ihrem Atelier. Der Nachtportier bezeugt es.“ „Aber sie hat es ja auch nicht selbst getan. Jomeyer war es.“ „Und warum sollte der ihr die Arbeit abnehmen?“ „Weil die beiden ein Paar sind.“ Wieder schaute Bünger überrascht auf. „Aber ich denke, der Jomeyer hat es mit der kleinen Huberty?“ „Das dachte ich bis vor einer Stunde auch. Und Fräulein Huberty selbst war noch bis vor ein paar Tagen davon überzeugt.“ Wolfgang Bünger pfiff leise durch die Zähne. Und dann kehrte endlich das Grinsen auf sein Gesicht zurück, wirklich, Henry Berger hatte es schon vermißt. Und er sagte: „Dreißig Millionen –! Diese Frau ist bemerkenswert!“ „Neben den Papieren in Jomeyers Safe lag noch ein zweites Tonband“, fuhr Berger fort, indem er es hervorzog. „Das hat denselben Wortlaut wie jenes vom Tatort. Aber es hat auch mehrere Schnittstellen! Das Band, das sich vorgestern auf Hubertys Schreibtisch drehte, ist also nur eine Kopie von diesem hier!“ 270
Wolfgang Bünger starrte verwirrt auf beide Tonbänder, die plötzlich vor ihm auf dem Tisch lagen. Henry Berger sagte: „Angeblich war Jomeyer in Bonn, aber das stimmt nicht. Sein Wagen ist seit dem letzten Ölwechsel nur dreihundert Kilometer gelaufen. Das wird der Monteur hier aus der Tiefgarage bestätigen.“ Sie schauten sich prüfend in die Augen, und dann fragte Henry Berger zaghaft: „Bin ich nun ’raus aus dem Geschäft?“ „Hm – ja“, machte Wolfgang Bünger und grinste. „Sicher, schon!“ „Und wie geht es jetzt weiter?“ „Sie müssen zu Schiller!“ „Schiller?“ „Ja, ja, der macht die Sache. Ich bin zwar auch in der Abteilung, aber das Ganze leiten, das tut eben der Schiller.“ Berger saß mit hängenden Schultern da; plötzlich kam er sich vor wie ein Ballon, aus dem die Luft heraus war. Schließlich murmelte er: „Kommen Sie nicht mit, Herr Bünger?“ Der Kommissar erwiderte: „Ich habe noch etwas zu erledigen, aber ich komme bald nach. Verlassen Sie sich ganz auf mich!“ Henry Berger seufzte tief. Dann griff er nach den Beweismitteln auf dem Tisch, aber noch ehe er zufassen könnte, hatte Wolfgang Bünger schon seine Finger darauf. „Nein, lassen Sie mal, Herr Berger“, sagte er. „Das Zeug haben Sie mir ja nun gegeben.“ Henry Berger war zumute, als ob er ein geliebtes Kind aus den Händen geben müsse. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Sollte sich so kurz vor seinem Ziel alles wieder umkehren? Zögernd fragte er: „Zum Präsidium also?“ „Hm –“ Sie sahen sich noch einmal in die Augen. Aber Berger 271
sah nichts weiter als dieses Grinsen, und das wirkte wie eine Maske. Er wußte nicht, was der Beamte jetzt vorhatte, er wußte nur, daß sein Schicksal in dessen Händen lag. Langsam wendete er sich um und ging ein paar Schritte. Und dann hörte er hinter sich Büngers Stimme: „Herr Berger –“ Henry blieb stehen und drehte sich um. Der Kommissar sagte: „Auf direktem Wege zum Präsidium! Das ist ein gutgemeinter Rat. Es läuft nämlich eine Großfahndung gegen Sie!“ Wolfgang Bünger nickte bekräftigend. Und dann ganz plötzlich, als er nämlich Bergers hilflose Miene sah, begann er laut und herzlich zu lachen. Die Meldung war noch keine Minute alt. Sie lautete: Der zur Fahndung ausgeschriebene orangefarbene BMW, Kennzeichen HH – AM 140, in der Mönckebergstraße aufgespürt, Fahrtrichtung Hauptbahnhof. Sie standen zu dritt über das Funksprechgerät gebeugt, der alte Kommissar Schiller und Holthusen und Pabst. Eben wurde eine weitere Meldung aus der Zentrale hochgegeben: „Der von Ihnen gewünschte Flucht-BMW wurde von ‚Peter 35‘ gesichtet. Position etwa Hauptbahnhof.“ Kommissar Schiller fragte: „Können Ihre Leute ’ran an ihn?“ Die Stimme aus der Zentrale: „Moment, ich frag’ mal.“ Schiller: „Warten Sie bitte! Ist es möglich, daß ich mit dem Wagen spreche?“ Die Stimme aus der Zentrale: „Will ich versuchen. Nur einen kleinen Moment eben!“ Sie hörten mehrmaliges Knacken in der Leitung. Darauf starkes Rauschen. Dann Wagengeräusche, wohl auch Fremdgeräusche der Straße. Und dann eine Stimme, stark verzerrt: „… passieren Hauptbahnhof – Verkehr dicht – Viererkolonnen.“ Schiller fragte: „Hallo, ‚Peter 35‘, hören Sie mich?“ 272
Stimme über Sprechfunk: „Wer latscht denn da in der Leitung ’rum? Wer sind Sie?“ Schiller: „Hier Hauptkommissar Schiller … zweite ‚Mord‘. Verstehen Sie mich?“ Stimme: „Verstehen!“ Schiller: „Können Sie den Mann stoppen?“ Stimme: „Bei der Nachmittagsspitze? Wie denken Sie sich das, Herr Hauptkommissar? Aber wir haben ihn hübsch an der Leine, liegen direkt hinter ihm.“ Schiller: „Hat er Sie gesehen?“ Stimme: „Muß er wohl. Scheint ihn aber nicht zu stören, fährt artig Kolonne.“ Schiller: „Wo seid ihr jetzt?“ Stimme: „Biegen ein in Adenauerallee.“ Schiller: „Richtung?“ Stimme: „Richtung Berliner Tor!“ In diesem Augenblick konnte Holthusen sich nicht mehr halten und schrie in die Leitung: „Aber das sind ja wir! Der nimmt Kurs auf uns!“ Nun kamen nur – noch unverständliche Laute aus dem Sprechgerät. Die Wagengeräusche blieben, und daneben klangen Laute, die sie zunächst nicht identifizieren konnten, die sich aber schließlich nach unterdrücktem Lachen anhörten. Kommissar Schiller klopfte gegen das Sprechgerät. „Hallo – hallo! Hören Sie mich?“ Und dann plötzlich wieder die Stimme, klar und deutlich: „Jetzt biegt er ab.“ Schiller, sehr laut: „Stoppen! Sofort stoppen den Mann!“ Stimme: „Nicht nötig!“ Schiller: „Wo seid ihr? Hallo – geben Sie ihre Position!“ Stimme: „Ist auf Parkplatz gefahren, steigt aus.“ Schiller: „Wo?“ Erneutes Gurgeln aus dem Sprechfunk, dann deutliches Lachen! 273
Schiller, nun brüllend: „Verdammt noch mal! Wo denn?“ Stimme: „Sind Sie sicher, daß Sie ihn festnehmen wollten?“ Schiller: „Was soll das?“ Stimme: „Weil er von selbst kommt. Gucken Sie mal zum Fenster ’raus!“ Die Beamten schauten sich verblüfft an. Dann liefen sie zum Fenster, rissen es auf. Sehr tief unten sahen sie einen Mann über den Parkplatz gehen. Das mochte Henry Berger sein, denn dahinter kamen die Beamten des „Peter 35“ und hielten sich den Bauch vor Lachen.
26. Wieder spulten die rotierenden Scheiben das Tonband ab. Das geschah auf demselben Gerät, es handelte sich um dasselbe Band, nur die Zuhörer waren andere. Doktor Jomeyer saß im Drehstuhl hinter dem Schreibtisch; er hörte nicht auf die Sprüche, die der nun tote Unternehmer Alfons Huberty klopfte. Er schien vielmehr zu überlegen, wie ihm dies geschehen konnte und was ihm durch die Entdeckung des Bandes alles ins Haus stehen mochte. Ganz anders der Kriminalkommissar Bünger. Natürlich hatte er sich das Band angesehen, bevor er auf die Wiedergabetaste drückte; diese herausragenden Papierschnipsel verführten ja dazu. Er hatte sich extra eine Pinzette für die Manipulation ausgeborgt. „Wegen eventueller Spuren“, meinte er lächelnd. Und fügte hinzu, es sei nur eine Vorsichtsmaßnahme für alle Fälle, denn im Grunde glaube er nicht an Spuren. Wer so clever sei, ein solches Band zusammenzuschneiden, der streife auch Gummihandschuhe bei solcher Arbeit über. Nachdem er die erste Klebestelle begutachtet hatte, fädelte er das 274
Band ein und ließ es laufen. Er setzte sich in den Besucherstuhl vor Jomeyers Schreibtisch bequem zurecht. Er lauschte andächtig, ganz hingegeben und vor allem endlich einmal ohne dieses Grinsen; er benahm sich, als sitze er im Theater, und auf der Bühne sei gerade eine hübsche Aufführung im Gange. Als Alfons Huberty dann endlich endete mit seinem Sermon und nur noch Leerband ablief, tat er auch nichts, saß immer noch still da. Erst nach einer Weile wandte er sich zum Rechtsanwalt um, fragte treuherzig: „Da kommt wohl nun nichts mehr?“ Jomeyer zuckte die Achseln. „Woher soll ich das wissen?“ „Ich meine ja nur, Herr Doktor!“ beschwichtigte Wolfgang Bünger den sichtlich erregten Jomeyer. „Weil doch das Band in Ihrem Safe lag.“ „Das sagen Sie!“ „Nein, das sagt Fräulein Huberty!“ „Die kann viel sagen.“ „Oh, sie will es auf ihren Eid nehmen, Herr Rechtsanwalt!“ Dieses log Wolfgang Bünger frech, aber noch immer mit der für ihn ungewöhnlichen Schlichtheit im Ausdruck. „Ebenso wie dieser Schnellhefter! Den kennen Sie auch nicht?“ Der Kriminalkommissar deutete auf die Schreibtischplatte direkt vor Jomeyer. Dort lagen die Papiere, die Sibill Huberty belasteten. Der Rechtsanwalt beugte sich vor und nahm ein Lineal aus der Federschale. Damit schlug er die Pappe auf, sah auf die Listen und Abrechnungen, blätterte weiter, immer mit dem Lineal, was wohl soviel heißen sollte, daß Jürgen Jomeyer mit solchen Hilfsmitteln ebensogut umgehen konnte wie Bünger mit seiner Pinzette. Sie lächelten sich sogar zu dabei. Dann ließ er den ganzen Unsinn und lehnte sich zurück. Er sagte: „Ich bin mit der Materie vertraut, um die es hier geht. Diese Aufstellungen kenne ich nicht, nicht in dieser Form. Ich sehe das zum ersten Mal.“ 275
Wolfgang Bünger schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie konnten Sie Ihrer Verlobten nur die Safekombination anvertrauen?“ „Fräulein Huberty ist nicht meine Verlobte!“ antwortete Doktor Jomeyer. „Um so weniger verstehe ich, wie das Fräulein dann das Safe öffnen konnte.“ „Konnte sie es?“ „Ja, ja, das sagt sie.“ „Nun, sagen kann man viel, nicht wahr?“ „Hören Sie, lieber Doktor Jomeyer, ganz so einfach ist es ja nun nicht! Wenn das Fräulein seine Aussage beeiden will, dann wird es wohl auch bereit sein, diesen Safe hier vor unser aller Augen aufzutun, nicht wahr?“ Einen Augenblick blieb es still, und der junge Kriminalkommissar ließ dem Rechtsanwalt Zeit, sich das in aller Ruhe zu überlegen. Er trat an das Tonbandgerät und sah, daß das Band beinahe durchgelaufen war. Er schaltete es ab, dann drehte er sich zum Schreibtisch um und fing den verlangenden Blick des Rechtsanwalts auf. Schließlich sagte Jomeyer widerwillig: „Es gibt nur eine Erklärung!“ „Ja –?“ „Mein Zahlengedächtnis ist schauderhaft. Ich muß mir alles aufschreiben. Und so steht diese Zahlenkombination auf einem Zettel, und der steckt im StGB, Seite zweihundertsechsundfünfzig.“ Bünger folgte den Augen des Rechtsanwalts zu dem Bücherregal, und er erkannte den Band auf diese Entfernung. Er ging hin und zog ihn heraus. Er schlug die Seite 255 auf, dann schloß er spielerisch die Augen und blätterte um. Seine Hände tasteten nach dem Zettel, und ohne ihn sich anzuschauen, klappte er das Buch wieder zu. Und während er es an seinen Platz zurückstellte, fragte er: „Und diese Zahl zweihundertsechsundfünfzig? Wie merken Sie sich die?“ 276
„Meine Hausnummer an der Elbchaussee.“ „Raffiniert!“ Wolfgang Bünger lächelte anerkennend. Er setzte sich wieder auf den Besucherstuhl und schwieg still. Das ging eine Weile. Bünger schien viel Zeit mitgebracht zu haben. Natürlich kannte der Rechtsanwalt alle diese Tricks. Als Strafverteidiger hatte er sie oft genug selbst angewandt. In einer anderen Situation hätte er das Spiel gerne mitgespielt und es vielleicht sogar gewonnen, aber ihm war heute nicht danach. Und so brach er das Schweigen. „Und das da soll das Band sein, das an jenem Abend im Penthaus ablief?“ „Dieses nicht, Herr Doktor!“ erklärte Wolfgang Bünger. „Dieses hier ist ein sogenanntes Urband, das sehen Sie ja schon an den Klebestellen. Der Mörder hat es aus verschiedenen Bändern zusammengesetzt, wie ich denke. Nun, wenn wir es im Labor hatten, werden wir mehr wissen. Also, der Mörder schneidet sich das Band zurecht für seine Zwecke. Und dann macht er eine Kopie, verstehen Sie? Ohne Schnittstellen eben! Und diese Kopie läßt er an dem Abend ablaufen, um den Berger hinzuhalten, bis die Polizei eintrifft.“ „Klingt ja abenteuerlich. Glauben Sie, daß es sich so abgespielt hat?“ „Nachdem ich dieses Tonband gehört und die Klebestellen gesehen habe, bin ich überzeugt davon!“ „Und wo befindet sich die Tonbandkopie?“ „Der Berger hat sie!“ Wieder log der junge Kriminalkommissar frech und sorglos. Denn das Band, von dem die Rede war, ruhte in Büngers rechter Brusttasche, und sein Arm drückte sanft dagegen. Jomeyer fragte: „Und der Berger? Wo ist der?“ „Flüchtig!“ „Sie haben ihn immer noch nicht?“ Wolfgang Bünger schüttelte den Kopf. „Und das Band wird er bei sich haben, wie?“ 277
„Ich denke eher, daß er diese Kopie versteckt hat, wahrscheinlich in seinem Haus.“ „Was heißt denn das, ich denke? Haben Sie denn dort nicht nachgesehen?“ Wolfgang Bünger schüttelte den Kopf. „Schiller meinte, das wollten wir uns mal aufheben, bis wir die Hand auf den Berger legen.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Und für heute ist es natürlich auch schon zu spät, da kriegen wir keinen Durchsuchungsbefehl mehr. Nun, da bleibt das Band eben für eine weitere Nacht in Bergers Haus.“ „Das ist ja eine unglaubliche Sauerei“, empörte sich Jomeyer. Wolfgang Bünger nickte. „Da muß ich Ihnen beipflichten, Herr Rechtsanwalt.“ „Was heißt denn das?“ Doktor Jomeyer wurde immer wütender. „Muß ich Ihnen beipflichten? Wieso wird denn derartig idiotisch vorgegangen in diesem Fall?“ „Weil ich die Abteilung nicht leite, Herr Jomeyer“, erwiderte Wolfgang Bünger schlicht. „Ich bin zwar drin in der Abteilung, aber leiten, oder was er dafür hält, das macht der Hauptkommissar Schiller. Den Namen schon mal gehört?“ Die beiden Herren sahen sich in die Augen, und auf einmal glaubte Jürgen Jomeyer zu wissen, weshalb der junge Kriminalbeamte mit dem Tonband zu ihm gekommen war, anstatt es der Ermittlungsbehörde zu übergeben. Die ganze Zeit über hatte er sich nach dem Grund gefragt. Nun wußte er ihn. Durch langes Training gelang es ihm, dieses Wissen nicht sichtbar werden zu lassen. Der junge Kriminalkommissar aber, geübt im Studium von Gesichtern, ahnte, daß ihn der Rechtsanwalt richtig verstanden hatte. Nun wandte er sich direkt ab, ging zum Fenster und kehrte dem Rechtsanwalt den Rücken. Und ebenso zurückhaltend klang auch seine Frage: „Sie haben natürlich ein Alibi für vorgestern?“ 278
„Brauch’ ich denn eins?“ Leises Kichern vom Fenster, sonst nichts. „Ich war in Bonn!“ „Sind Sie selbst gefahren?“ „Sie meinen mit dem Wagen?“ „Ja.“ „Ich bin überhaupt nicht mit dem Wagen gefahren.“ Langsam drehte sich Wolfgang Bünger herum, und wieder schauten sich die beiden Herren an. Diesmal lächelte der Rechtsanwalt. Er griff in sein Jackett, brachte die Brieftasche hervor, klappte sie auf und legte zwei Fahrscheinhefte der Bundesbahn auf die Schreibtischplatte. Er sagte: „Ich fuhr mit dem Intercity. Kann ich Ihnen empfehlen, wenn Sie mal nach auswärts müssen. Ein angenehmes, sauberes Fahren.“ Wolfgang Bünger ging nicht hin zum Schreibtisch, sah sich die Fahrscheine nicht einmal an. Aber merkwürdigerweise lag von diesem Augenblick an wieder das gewohnte Grinsen auf seinem Gesicht. „Da sieht man, wie gut es ist, so was aufzuheben“, sagte er. „Ebenso Kinobillets, nicht wahr, oder Garderobenmarken! Nichts sollte man fortwerfen.“ Verblüfft schaute der Rechtsanwalt in das grinsende Gesicht am Fenster. Unterdessen fuhr der Kriminalbeamte fort: „Mal abgesehen von der Integrität Ihrer Person, Herr Jomeyer, hätte ich keine Sekunde angenommen, daß Sie mit der Sache zu tun haben. Warum sollte einer solche belastenden Beweismittel in den eigenen Safe tun. Ist doch einfach lächerlich!“ „Also Marion …“ Es war nur hingetupft von dem Rechtsanwalt, während sich die Herren noch immer ansahen. Inzwischen wußten sie schon, daß sie Partner in demselben Spiel waren. Wolfgang Bünger meinte: „Auf jeden Fall wollte Ihnen die Person etwas anhängen!“ „Sind das überhaupt Beweismittel?“ fragte Jomeyer. 279
Wolfgang Bünger erklärte geduldig: „Die Tonbänder zweifellos, dieses hier mit den Klebestellen in Verbindung gesehen mit dem in Bergers Haus. Wenn wir das erst in den Händen haben, werden die im Labor rasch feststellen, daß es sich bei dem nur um eine Kopie handelt. Wir sind immer davon ausgegangen, der Huberty sei erschlagen worden, während er ein Band besprach. Er hielt ja noch das Mikrofon in seiner Hand, wissen Sie? Und nun stellt sich heraus, daß es sich bei diesem geknüpften Band um Schnee vom vergangenen Jahr handelt, bereits vor Wochen aufgezeichnet. Eines kommt nämlich noch hinzu, Herr Jomeyer! Die Person, die bei der Aufnahme des Originalbandes zugegen war, befindet sich in Bergers Haus. Diese Frau Mewis eben, die hat das seinerzeit alles miterlebt, das mit dem Heraussuchen des Vertrages und dem Pernod, na, dieses Theater auf dem Band eben.“ Wolfgang Bünger machte eine Pause und nickte bedeutungsschwer. Befriedigt stellte er fest, daß sich durch das Pokerface hinter dem Schreibtisch so etwas wie Überraschung, ja mehr noch, so etwas wie tiefe Bestürzung Bahn brach. Der junge Kriminalkommissar schloß: „Ja, mein lieber Herr Jomeyer, das ist wirklich keine beneidenswerte Situation! Für den Täter, meine ich!“ Wolfgang Bünger aß in einem kleinen Lokal zu Abend. Es war noch früh, erst gegen 17 Uhr, aber er hatte es sich verdient. Die Speisegaststätte lag am Großen Burstah, gleich hinter dem Rathaus, und hatte etwas von einer hanseatischen Gemütlichkeit, die stets von gewisser Zurückhaltung begleitet wird. Viel rauchgeschwärztes Holz und Tische in abgetrennten Kojen. Die Tischtücher und Servietten waren blütenweiß und an keiner Stelle gestopft, die Teller nicht verschrammt und die Kristallgläser von geradezu funkelnder Sauberkeit. Wenn es ver280
snobt war, das zu mögen, dann wollte Wolfgang Bünger recht gern ein Snob sein. Vor rund fünfzig Jahren hatte ein ehemaliger Schiffskellner dieses Lokal eröffnet. Auf den Transantlantikrouten konnte man damals in der ersten Klasse ein kleines Vermögen an Trinkgeldern machen, und wenn man dieses Geld nicht gerade versoff oder in den Hafenstädten mit gefälligen Damen aller Provenienzen vertat, konnte man Rücklagen machen und zu Besitz gelangen. Das Lokal hatte eine gute Lage, denn in dieser Gegend drückten sich die Leute von der Kaufmannschaft die Klinken in die Hand. Inzwischen gab es längst einen jungen Geschäftsführer, aber der nun schon über achtzig Jahre alte Firmengründer ging noch heute von Tisch zu Tisch und begrüßte seine Gäste. Wolfgang Bünger kam nur selten her, denn die Preise waren etwa so gesalzen, wie die Chilisteaks gepfeffert waren. Der junge Kriminalbeamte leistete es sich nur an Tagen, an denen er mit sich besonders zufrieden war. Dieses schien ihm ein solcher Tag zu sein. Wolfgang Bünger bestellte Labskaus, ein Spezialgericht der Wasserkante und auch dieses Lokals, von dem es hieß, der greise Seniorchef bereite es noch selber zu. Aber das hielt Bünger für eine schöne Sage. Nach dem herzhaften Essen, einem Gemenge von Fleisch und Fisch in Kartoffelbrei, dazu noch Rote Bete und Gurke und darüber Spiegelei, Labskaus eben, aß Wolfgang Bünger eine Birne Helene. Und dann trank er einen Schoppen Badenser. Dabei blätterte er die Abendzeitungen durch. Es war nun etwa eine Stunde vergangen, seit er Jomeyers Büro im Raboisenhaus verlassen hatte. Dort hatte sich nicht mehr viel ereignet – oder auch eine ganze Menge, wie man es eben ansah. Schließlich hatte Jomeyer in Gegenwart des jungen Kriminalkommissars zum Telefon gegriffen und ein langes Gespräch geführt. Dann hatten sich die beiden Herren freund281
schaftlich verabschiedet, und Wolfgang Bünger war gegangen. Das zusammengeklebte Tonband auf dem Bandgerät hatte er mit keinem Blick mehr angeschaut. Und beim Hinausgehen hatte er es einfach vergessen. Das Studium der Abendzeitungen nahm eine weitere halbe Stunde in Anspruch. Inzwischen war es 18 Uhr 30 geworden, und es wurde Zeit. Wolfgang Bünger zahlte. Er nahm den gleichen Weg wie Henry Berger am Nachmittag, die Mönckebergstraße hinauf bis Hauptbahnhof und die Adenauerallee rechts hinein in Richtung Berliner Tor. Auf dem Parkplatz fand er eine freie Stelle ganz in der Nähe von Henry Bergers Leihwagen. Bünger grinste, als er das Nummernschild sah: HH – AM 140. Damit hatte es vor Tagen angefangen auf der Autobahn. Die Nummer war es gewesen, die ihm zuerst auffiel und dann erst der Mann hinter dem Lenkrad. Merkwürdig, wie sich mit diesem Berger der Kreis schloß. Berger hatte ihm vor Jahren zu seinem ersten Fall verholfen, und nun sollte der ihm noch weit mehr zuspielen. Im Grunde war es genau so, wie Wolfgang Bünger sich das bei seiner Birne Helene vorgestellt hatte. Licht brannte in dem Dienstzimmer nur auf dem Schreibtisch, und sie hatten den Strahl der Verhörlampe direkt auf Henry Berger gerichtet. Die Arme hatten sie ihm nach hinten gedreht und die Hände in Handschellen eingeschlossen. Methoden, mit denen sich Wolfgang Bünger niemals anfreunden würde. Er schaltete zunächst das Deckenlicht an, und dabei tauchte Holthusen und Pabst hinter der Lampe und aus der Anonymität auf. Vom Hauptkommissar Schiller keine Spur! Langsam ging Wolfgang Bünger zum Schreibtisch, schob Pabst ein Stück beiseite und nahm dessen Platz ein. Sie hatten Berger geschlagen. Sie verstanden sich zwar darauf, so zuzuhauen, daß man keine Spuren sah, aber aus Bergers linkem Mundwinkel lief dennoch eine schmale Blutbahn. 282
„Wer ist der Mann?“ fragte Wolfgang Bünger. „Das ist der Berger“, rief Pabst aus vollem Herzen. „Ist ja doll!“ meinte Bünger. „Wo habt ihr ihn euch gegriffen?“ Und etwas halbherziger: „Nicht gegriffen! Der marschierte plötzlich hier herein.“ „Und da haut ihr ihm die Jacke voll? Das finde ich nicht nett!“ Wolfgang Büngers Blick ging hinüber zu Holthusen, dem Pfiffigeren von beiden. Der musterte den jungen Kriminalkommissar nachdenklich, so als ob er wittere, daß da noch etwas anderes im Busch lauerte. Wolfgang Bünger blinzelte ihm zu. Und wieder Pabst zugewendet: „Nun wollen wir ihn aber schnell aufschließen, sonst hat der Mann einen Schock fürs Leben. Wacht nachts zitternd auf und schreit, und wir sind schuld daran.“ Murrend trabte Pabst hinter den Stuhl und öffnete die Handschellen. Berger nahm die Arme nach vorn und rieb sich die abgestorbenen Gelenke. Unterdessen griff Wolfgang Bünger in die obere Tasche seines Lumberjacks und zog einige Kleenextücher hervor. Eines davon reichte er Berger hin. „Da! Bedienen Sie sich, mein Freund! Da links am Mund! Sieht ja ganz abscheulich aus!“ Und in Pabsts Richtung: „Sind wir denn bei der Gestapo? Man muß sich doch wirklich schämen!“ Und zu Berger: „Wollen Sie Anzeige erstatten, mein Herr?“ Henry Berger, sich den Mund abwischend und mit der Zunge vorsichtig an der Innenseite der Backe entlangfahrend, schüttelte den Kopf. Wolfgang Bünger sagte: „Finde ich vernünftig, Herr Berger! Ich zum Beispiel würde es einfach als Quittung nehmen für das, was da vorgestern in Hubertys Penthaus geschehen ist, falls Sie sich noch daran erinnern. Das sieht natürlich kein Polizist gern, wenn einer seiner Kollegen niedergeschlagen, der Ohnmächtige entkleidet und dem Wehrlosen schließlich der Revolver 283
geklaut wird. Da muß er als Kollege einfach Dampf ablassen. Aber das könntet ihr nun weiter in der Kantine tun bei einem belegten Brot und einer Tüte Milch.“ „Aber Hauptkommissar Schiller …“, murrte Pabst. Und Wolfgang Bünger erwiderte: „Herr Schiller hat seine Sturm- und Drangzeit so gut wie hinter sich, wenn Sie wissen, was ich damit meine.“ Und als die beiden immer noch keine Anstalten machten, aus dem Zimmer zu gehen, fuhr er in einem Ton, den sie bisher noch nicht von ihm gehört hatten, fort: „Was ist? Ich brauche das Zimmer für eine Vernehmung, ’raus jetzt!“ Die beiden trotteten zur Tür, und als sie die erreicht hatten, rief Bünger schon wieder freundlicher: „Holthusen? Aber nur auf eine halbe Stunde! Und dann haltet euch bitte bereit. Es wird eine lange Nacht, und es wird kühl!“ Als sich die Tür hinter Holthusen und Pabst geschlossen hatte, ging Bünger um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den Stuhl des Hauptkommissars. Das hatte etwas Zeremonielles, fand Henry Berger, der sich soweit gefangen hatte, daß er den Vorgängen folgen konnte. „Sie haben es beinahe geschafft, lieber Freund“, meinte Wolfgang Bünger schließlich vergnügt. „Beinahe! Soviel mal vorweg, um Sie zu beruhigen.“ „Dieser Jomeyer …“ Henry stockte. „Ja, bei dem war ich, hab’ mit ihm gesprochen.“ Etwas umtriebig erhob sich Wolfgang Bünger wieder und trat an einen Stahlschrank, dessen Fächer er aufzog, hierhin und dorthin griff und offensichtlich nach etwas suchte. Henry Berger fragte erregt: „Ja – und? Was ist denn nun? Hat er …?“ „Gestanden meinen Sie? Nein, das hat er nicht!“ Wolfgang Bünger schob die Fächer zu und kam an den Schreibtisch zurück. „Er ist es nicht gewesen, meint er!“ „Ja und? Glauben Sie ihm das etwa?“ „Wirklich schwer zu sagen! Auf jeden Fall wäre es 284
aber beknackt, derart belastendes Material in den eigenen Safe zu legen, nicht wahr?“ „Und wer sollte es ihm reingelegt haben?“ „Vielleicht Marion Huberty? Die hatte doch allen Grund, ihrem untreuen Liebhaber eins auszuwischen.“ „Und dann geht sie mit mir an den Safe und holt das Zeug wieder heraus?“ „Gerade!“ Wolfgang Bünger sah Berger bedeutungsschwer an, während er sich wieder hinter den Schreibtisch setzte. „Gerade, Herr Berger! Inzwischen könnte ihr der Gedanke gekommen sein, daß Jomeyer das Material vor der Polizei fände und es nun seinerseits verschwinden ließe. Also greift sie sich einen Zeugen, Sie in diesem Fall, führt ihn an den Safe. Ist doch eine ausgereifte Variante, nicht wahr?“ Henry Berger schüttelte den Kopf, schließlich hatte er daran auch gedacht und es verworfen. „Aber sie kann es nicht gewesen sein! Jomeyer … also, der Mörder eben, der wollte zunächst auch die Tonbandkopie vom Tatort. Deshalb blieb er mit mir im Penthaus, bis Marion klingelte. Also kann sie nicht …“ „Hören Sie auf, Berger!“ Wolfgang Bünger klopfte energisch auf die Schreibtischplatte. „Hören Sie sofort auf mit dem Detektivspielen! Ich ertrage es nicht! Den Mörder kriegen wir noch heute abend, und Sie dürfen dabei zusehen. Aber vorher suche ich nach was anderem!“ Bünger beugte sich hinab und sah in die beiden Schreibtischfächer rechts neben sich, tastete herum, fand aber nicht, wonach er suchte. „Und Jomeyers Wagen, der nur dreihundert Kilometer gelaufen ist?“ fragte Henry Berger nach einer Weile. Wolfgang Bünger kam hoch, und bevor er sich zur anderen Seite hinabneigte, um in den Fächern dort zu kramen, knallte er die beiden Fahrscheinhefte auf den Schreibtisch. „Er reiste mit der Bundesbahn, Herr Berger, diese Intercity-Flitzer, wenn Sie die kennen.“ 285
Henry Berger griff nach den Fahrscheinheften und schlug sie auf. Eine Weile starrte er darauf, verglich sie miteinander. Dann sagte er: „Er nahm den Intercity, der um einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig in Bonn eintrifft. Am Mittwoch.“ „Das war der Mordtag!“ Wolfgang Bünger tauchte mit hochrotem Kopf hinter dem Schreibtisch auf. „Ja.“ „Da sehen Sie, daß er für die Tatzeit ein tadelloses Alibi hat, denn gegen zweiundzwanzig Uhr stand er im Hotel Königshof in der Koblenzer Straße an der Rezeption und ließ sich den Zimmerschlüssel geben. Sagt er jedenfalls!“ „Aber etwas ist merkwürdig“, beharrte Berger. „Was?“ „Er fuhr am nächsten Vormittag mit Intercity hundertfünfundvierzig zurück. Der geht ab Bonn um acht Uhr sechsundfünfzig und erreicht Hamburg Hauptbahnhof dreizehn Uhr neunundzwanzig.“ Berger hob den Kopf und sah den jungen Kommissar an, aber der schien nichts zu begreifen. „Er ist in Hubertys Auftrag nach Bonn gefahren, um für einen Kredit zu werben. Er wollte deshalb im Finanzministerium vorsprechen. Wann denn? Nachts? Der Rückzug fuhr schon kurz vor neun Uhr morgens. Zu der Zeit also, wo die Büros gerade mal die Pforten öffnen.“ Wolfgang Bünger schaute sein Gegenüber überrascht an. Der Gedanke war ihm noch nicht gekommen. „Nicht schlecht, Herr Berger! Vielleicht ist der Jomeyer überhaupt nur wegen des Alibis hin- und hergefahren.“ „Vielleicht ist er auch gar nicht gefahren!“ „Oder so! Das werden wir bald wissen.“ „Wann, Herr Bünger –?“ Berger sah sein Gegenüber an wie einer, der absolut keine Zeit mehr hat. Und noch einmal bittend: „Wann?“ 286
Bünger lehnte sich lächelnd zurück. „Warum vertrauen Sie mir nicht einfach, Herr Berger? Ich kann Sie gut leiden, weshalb hätte ich sonst ein solches Theater Ihretwegen veranstaltet. Sie sollten mich auch ein bißchen mögen, alter Freund, und deshalb sollten Sie mir zunächst ein wenig vertrauen.“ Und geheimnisvoll fügte er hinzu: „Noch diesen Abend greifen wir uns den Mörder! Und wenn es Jomeyer ist, dann eben den! Ihnen kann ich es ja sagen: Ich traue dieser Sorte von Volksvertretern auch nicht über den Weg. Und mit Alibis hat es auch schon die dollsten Dinger gegeben, nicht wahr?“ „Aber wie wollen Sie ihn denn fassen, wie?“ fragte Henry Berger, in keiner Weise beruhigt und auch nicht vertrauensselig. „Sie werden schon sehen“, meinte Wolfgang Bünger etwas vage. Er stand von Schillers Schreibtisch auf und ging zum Aktenschrank hinüber. Er nahm immer zwei Aktendeckel auf einmal heraus und griff dahinter. Offensichtlich suchte er noch immer nach etwas und fand es nicht. Dann unterbrach er sich. „Da sehen Sie es mal selbst! Nun arbeite ich schon ein halbes Jahr bei diesem Schiller und weiß es immer noch nicht.“ Er schob die beiden Aktendeckel zurück und griff nach zwei weiteren. Dabei fragte er: „Als Sie hier hereinschneiten, war der Schiller da noch hier?“ „Ein alter, etwas dicklicher …?“ „Der!“ „Ja, der begann das Verhör mit mir.“ „Sagte, Sie seien es gewesen, weil Sie schon mal in der Art und weil Sie auch ein Motiv hätten. Diese hunderttausend Mark! Und weil eben die Tür verriegelt war und so weiter, stimmt’s?“ „Ja.“ Wolfgang Bünger kam mit zwei Aktendeckel, die er zufällig in der Hand hielt, an den Schreibtisch, stellte sie 287
hochkannt und stützte sich darauf. Versonnen sah er Henry Berger an. „Wissen Sie, was ich glaube, alter Freund? Wenn wir es nicht so gemacht hätten, wie wir’s taten, wären diese Lumpen vielleicht durchgekommen mit dem abscheulichen Spiel. Möglicherweise hätte die kleine Huberty kein Vertrauen gefaßt und uns von der Polizei diese Papiere nicht gegeben wie Ihnen. Hätte uns wohl auch nichts gesagt von ihrem Einbruch in Jomeyers Safe, hört sich ja auch nicht gut an, und wir wären damit nicht auf dieses Originaltonband gestoßen. Was meinen Sie?“ „Natürlich!“ sagte Berger mit einem Achselzucken, als sei es die verständlichste Sache von der Welt. „Natürlich, das sagen Sie! Aber werden es die Affen hier im Haus auch sagen? Gestern, lieber Berger, als Sie kurz in Ahrensburg auftauchten, hätte ich Sie sofort festnehmen lassen müssen und habe es nicht getan. Ich brauche also eine Erklärung, weshalb ich es nicht tat. Und mir fällt keine bessere ein als die, die ich Ihnen eben gegeben habe.“ Er lächelte Berger zu, nahm die Aktendeckel und stellte sie ins Fach zurück. Er griff nach zwei anderen, zog sie heraus und tastete dahinter die Regalwand ab. „Und wie ging es weiter mit dem guten Herrn Schiller?“ fragte er. „Plötzlich wurde er über Telefon abgerufen. Als er gegangen war, meinten die beiden … na, diese Beamten meinten, daß es nun soweit sei …“ Berger schwieg. „Was könnten die damit gemeint haben?“ „Ich würde sie mal fragen, sind doch Ihre Kollegen!“ „Richtig!“ Wolfgang Bünger grinste verkniffen. „Und der Schiller, bevor er ging?“ „Wurde erst blaß, dann rot. Scheint es mit dem Herzen zu haben. Bevor er ging, trank er einen Schnaps.“ „Aha! Und wo nahm er den her? Meine Güte, ich seh’ 288
schon, daß ich Ihnen die Würmer einzeln aus der Nase ziehen muß.“ Henry Berger grinste beinahe so gut wie der junge Kommissar, als er zum Schrank hindeutete. „Unten rechts, die beiden letzten Ordner!“ Wolfgang Bünger holte endlich die Flasche Schnaps hervor, nach der er so lange gefahndet hatte. Aus einem Schreibtischfach nahm er zwei Gläser und schenkte ein. Das eine Glas schob er Berger über den Schreibtisch zu. Sie tranken. Und dann sagte der Kommissar: „Ich habe den Mörder für heute abend in Ihr Haus eingeladen, Herr Berger!“ Henry Bergers Augen öffneten sich sehr weit, das war alles, wozu er sich aufraffen konnte. Unverdrossen fuhr Wolfgang Bünger fort: „Ich habe dem Mörder ausrichten lassen, daß sich die Tonbandkopie vom Tatort in Ihrem Haus befindet.“ „Aber Sie haben diese Kopie!“ „Ja, das wissen Sie und ich. Der Mörder jedoch glaubt, sie befindet sich in Ihrem Haus! Ich habe ihm sagen lassen, daß er sich die Kopie holen muß, denn wenn wir sie finden, wird es schlimm. Wir geben sie ins Labor, und dort stellt man fest, daß es nur eine Kopie ist. Zusammen mit dem Original wird die Manipulation erkennbar. Er muß sie sich also holen!“ „Und Sie glauben, der ist so blöd und kommt auch?“ „Ja, das glaube ich. Aus Gründen, die ich Ihnen allerdings erst später erklären werde. Ja, er wird kommen! Und er muß es diese Nacht tun. Nur noch in dieser Nacht hat er Gelegenheit dazu. Denn morgen werden wir von der Polizei dasein und eine Haussuchung machen. Und damit hätten wir das Band! Ich habe ihm auch ausrichten lassen, daß in Ihrem Haus eine Zeugin sitzt, die bei der Aufzeichnung des Originalbandes zugegen war. Diese Frau Mewis eben! Diese Frau sei mindestens so gefährlich wie die beiden Tonbänder, habe ich 289
ausrichten lassen, und sie säße in dieser Nacht mutterseelenallein in Ihrem Haus. Sehen Sie, Herr Berger, und das ist genau der Punkt! Was macht der Mörder wohl in einem solchen Fall? Na, was meinen Sie?“
27. „Sie nehmen das Rindfleisch, meine Herren, aber vom Filet muß es sein, formen und klopfen es zu niedlichen kleinen Beefsteaks. Die bestreichen Sie mit Senf und bestreuen sie mit Salz, Pfeffer, Thymian, einem Hauch Basilikum. Nun nehmen Sie die geschälten Kartoffeln und schneiden sie. Aber dünn, wenn ich bitten darf, oblatenartig! Darauf lassen Sie die Zwiebeln in Butter hell dünsten. Nebenbei nehmen Sie sich die Kastenform her, streichen sie mit Butter aus, bestreuen sie mit geriebener Semmel. Zuunterst geben Sie eine Lage Kartoffelscheiben, auf die Sie Butterflöckchen tun mit Salz und Pfeffer und vielleicht ein wenig Majoran. Nun muß eine Lage Fleisch zusammen mit den gedünsteten Zwiebeln hinein. Darauf wieder Kartoffeln, dann Fleisch und Zwiebeln und so fort bis obenhin. Und nun kommt es, meine Herren! Sie nehmen die vorbereitete Fleischbrühe, ziehen Sahne darunter und füllen mit Rotwein auf. Diese kleine Köstlichkeit gießen Sie über unser Essen und schieben die Form in die Backröhre. Dort lassen Sie sie für gut eineinhalb Stunden bei mäßiger Hitze garen!“ Hannah Mewis saß in der Eßecke und nahm die Breitseite des Tisches für sich. Wolfgang Bünger hatte sie an die Stirnseite placiert, zum Fenster hin, und Henry Berger dem Kommissar gegenüber. Noch mit am Tisch saß eine Kriminalbeamtin, die Wolfgang Bünger eigens zur Absicherung von Hannah Mewis mitgebracht hatte. Eine 290
junge und merkwürdigerweise schüchtern wirkende Frau, die bisher noch nicht den Mund aufgemacht hatte. Aber auch Bünger und Henry Berger waren schweigsam gewesen, das Reden besorgte Hannah Mewis allein. Sie hatte auch das Essen bereitet und den Tisch gedeckt. Die dampfende Speise, die sie so eingehend und farbig geschildert hatte, als handele es sich um das Werk eines niederländischen Meisters, stand auf dem Tisch aus Eichenbohlen. Dazu eine Schüssel Salat, ein Korb mit Brot. Eine bauchige Literflasche italienischen Rotweins. Mehrere Kerzen brannten. Es war eine gute Atmosphäre. Und ein verlockender Duft. Und Hannah Rückwärts, angesichts des Tisches und in Erwartung der Mahlzeit, befand sich in Hochform. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet, und sie hatte von dem Eau de Cologne über sich getröpfelt, um den Küchendunst zu vertreiben. Sicher schon ein halbes dutzendmal hatte sie die Haarsträhne aus der Stirn geschleudert. Ihre Augen blitzten. Weil niemand ihrer Gäste dergleichen tat, nahm sie erst den Teller der jungen Beamtin, dann Büngers und Bergers Teller und schließlich den eigenen. Sie tat allen auf, goß auch Wein ein. Nachdem das geschehen war, setzte sie sich und schaute einige Sekunden wie abwesend auf den Teller. Dann sagte sie: „Und nun wollen wir essen!“ Sie nahm von dem Brot, brach es und brockte davon auf ihren Teller. Eine Weile lang aßen sie schweigend. Die beiden Kriminalisten langten ordentlich zu. Sogar Wolfgang Bünger, der ja schon gegessen hatte, bekam allein vom Duft noch einmal Appetit. Nur Henry Berger saß vor seinem vollen Teller und mümmelte herum. „Schmeckt es etwa nicht?“ fragte Hannah Rückwärts, mit beiden Backen kauend. „Doch, doch“, beeilte sich Berger zu sagen. Und die beiden anderen, die bereits vorher „ah“ und „oh“ gemacht hatten, bekräftigten es noch einmal. 291
„Das denke ich auch“, sagte Hannah bescheiden. „Schmeckt doch einfach riesig!“ „Und das ist also mexikanisch?“ frage Henry Berger. „Nein, junger Mann! Das ist Spanisch-Frikko, aber in Mexiko sehr beliebt.“ „Aha!“ machte Henry. „Und das haben Sie dort immer gegessen?“ „Nein, junger Mann! Das haben wir in Mexiko niemals gegessen. Das haben wir uns erst gemacht, als wir wieder daheim in Wien waren.“ Und als Hannah Rückwärts Bergers verdutztes Gesicht sah, schmiß sie wiederum die Haarsträhne aus der Stirn und lachte schallend. Für einen Moment sah sie ganz deutlich Jakobs Gesicht vor sich, wie er konzentriert die bunten Kieselsteine auf die mexikanische Pappe klebte. Daraus hervor guckten die frühen christlichen Heiligen mit einer Selbstzufriedenheit, wie sie nur von Märtyrern aufgebracht wird. Und sie sah Jakob auch hinausziehen auf die Bauernmärkte, um den mexikanischen Katholiken ihre Vorkämpfer im Glauben feilzubieten. Und so hatten diese Recken beinahe zweitausend Jahre später noch einmal geholfen, drei arme Juden über Wasser zu halten. In ihrer Erinnerung war das eine schöne Geschichte und lustig. Und sehr kostbar! Sie hob ihr Glas. „Wollen wir mal trinken!“ „Worauf?“ fragte Wolfgang Bünger, der die alte Dame mit großem Interesse musterte. „Trinken wir auf die Tüchtigen, die es immer wieder versuchen, sich in diesem Dschungel durchzuschlagen!“ Hannah Rückwärts aber trank auf ihren Jakob ganz allein. „Der Wein ist wunderbar!“ sagte Wolfgang Bünger. „Wenn Sie erlauben, Frau Mewis, würde ich gerne nachschenken. Und dann möchten wir wohl alle noch ein wenig von Ihrem phantastischen Spanisch-Frikko!“ In diesem Augenblick quakte es aus seiner Anzugtasche: „Herr Bünger, bitte kommen!“ 292
Der junge Kriminalkommissar reichte die Flasche mit einer entschuldigenden Geste zu Berger hinüber und zog ein kleines Walkie-Talkie aus der Tasche. Er sprach hinein: „Hier Bünger!“ Aus dem Gerät drang Holthusens Stimme: „Verdächtiges Fahrzeug stoppt Schimmelmannstraße, etwa hundert Meter vor Einmündung Rantzaustraße. Einzelne Person steigt aus, kommt auf mich zu.“ „Können Sie etwas erkennen?“ „Noch zu weit entfernt.“ „In Ordnung! Melden Sie sich wieder!“ Die Leute am Tisch schauten sich an, und auf einmal schien sich etwas von Bergers Unruhe auf die anderen zu übertragen. „Da werden wir wohl das Essen für eine Weile verschieben müssen, Frau Mewis, tut mir leid!“ Wolfgang Bünger kam aus der Eßecke hervor und ging zur Tür. Er kontrollierte den Sitz der schweren Vorhänge, die über die Fenster hingen. Sie hatten es vorher ausprobiert und gesehen, daß kein Lichtschein herausdrang. Dann rüttelte er an der Klinke und sah, daß die Tür verschlossen war; der Schlüssel steckte von innen. Er wandte sich zu seiner Kollegin um. Die sagte: „Alle Fenster an der Rückfront fest verschlossen!“ „Gut, gut, danke!“ Der junge Kommissar lächelte. Aus dem Funksprechgerät quakte es: „Herr Bünger, bitte kommen!“ Bünger ging an den Tisch zurück. „Ja, Holthusen?“ „Person biegt ein in Rantzaustraße, näherte sich Zielobjekt.“ „Was für eine Person?“ „Männlich natürlich! Entschuldigen Sie, Herr Bünger! Männliche Person, etwa ein Meter achtzig groß, dunkler Mantel, Reithosen, Schaftstiefel, dunkler Hut. Erreicht Zielobjekt, bewegt sich vorsichtig. Steigt über 293
Zaun. Ich folge mit Sicherheitsabstand. Übergebe an Pabst. Pabst, bitte kommen!“ Sie hörten ein Knacken in dem Gerät und dann heiseres Flüstern: „Hier Pabst! Männliche Person nähert sich Zielobjekt. Verstehen Sie mich? Kann nicht lauter!“ Wolfgang Bünger beugte sich über das Walkie-Talkie und flüsterte ebenso: „Wir verstehen, Pabst, aber reden Sie langsam!“ „Okay!“ flüsterte es. „Größenangabe falsch! Mann ist größer! Zwei Meter!“ Die Leute am Tisch sahen sich an. Das konnte nicht Jomeyer sein, dachte Henry Berger, so groß war der nicht. Und auf einmal formten sich, beinahe ohne es zu wollen, auf seinen Lippen zwei Worte: „Hubertys Chauffeur!“ Wolfgang Bünger sah sein Gegenüber versonnen an, dann nickte er. Und wieder kam ein Hauch aus dem Funksprechgerät geweht. „Herr Bünger?“ „Ja.“ „Achtung! Erreicht die Tür. Greift nach Klinke. Jetzt –!“ Sie sahen es! Ganz langsam, ohne das geringste Geräusch, wanderte die Klinke abwärts, blieb eine Weile so, ging in die Ausgangsstellung zurück. Wie gebannt starrten sie zur Tür. Sie hielten den Atem an. Dann kam wieder das Flüstern: „Geht von Eingang weg. Versucht … Fenster … geht weiter … Seitenfront.“ Wolfgang Bünger sagte: „Jetzt aber ’rauf mit uns, Berger!“ Er wandte sich Hannah zu. „Schön entspannt bleiben, Frau Mewis! Es wird gleich vorbei sein!“ „Aber ich bin in keiner Weise beunruhigt, junger Mann!“ erwiderte Hannah Rückwärts. „Ich finde es sehr unterhaltsam, Ihnen bei der Arbeit zuzuschauen!“ Wolfgang Bünger schüttelte den Kopf über so viel Kaltblütigkeit, und als er neben Berger die Treppe hinaufging, kicherte er in sich hinein. 294
„Ich hab’ es Ihnen gesagt“, meinte Henry Berger, „die Alte hat es faustdick hinter den Ohren!“ Sie gingen über den Gang zu Bergers Schlafzimmer. Hier oben war Halbdunkel, da das Licht nur aus der Halle kam. Trotzdem machten sie die Zimmertür nur einen Spalt weit auf und huschten hinein. Im Zimmer nahm Henry Berger den Kriminalbeamten bei der Hand, um ihn zu führen. Dabei streifte er über eine glatte Metallfläche. Wolfgang Bünger hatte plötzlich eine Waffe in der Hand. Sie gingen zum Bett und setzten sich. In dieser Nacht war der Himmel bewölkt, so daß nicht viel Helligkeit von außen hereindrang. Außerdem waren auch hier die Vorhänge bis zur Hälfte vorgezogen. Sie hatten vorhin schon alles vorbereitet. Bünger nahm das Funksprechgerät aus der Tasche. „Sind wieder da“, wisperte er. „Wie sieht’s aus?“ „Steht am Küchenfenster“, kam es aus dem Gerät entgegengeweht. „Unentschlossen …“ „Holthusen soll zur Seitenfront!“ Einige Sekunden vergingen, in denen sie schweigend nebeneinander saßen. Nun, da die Aktion lief, fühlte sich Henry Berger befreit und innerlich ruhig. Er flüsterte: „Ich kann es nicht fassen!“ „Was?“ „Daß er gekommen ist! Ich kann es einfach nicht glauben!“ „Aber er mußte kommen!“ „Mußte –? Warum mußte er?“ Ein leises, kicherndes Lachen von dem jungen Beamten neben sich. Und dann die beinahe fröhliche Stimme: „Weil er ein schrecklicher Dilettant ist!“ „Herr Bünger, bitte kommen!“ flüsterte das WalkieTalkie. „Höre!“ Das Walkie-Talkie: „Ist am Weinspalier, probiert Festigkeit. Setzt Fuß darauf. Scheiße!“ 295
Bünger, wispernd: „Was denn?“ Das Walkie-Talkie: „Traut sich nicht … geht vom Haus weg … schaut zum Fenster ’rauf … unentschlossen.“ Bünger: „Geduld!“ Wieder war es einen Moment lang still. Dann flüsterte Henry Berger: „Wie meinten Sie das, er sei ein Dilettant?“ Wolfgang Bünger erwiderte vergnügt: „Er hat alles übertrieben gemacht! Nur der Ausgangspunkt war richtig. Da kommt einer, ist einschlägig vorbestraft und hat ein Motiv, den alten Huberty umzubringen. Die Ausführung des Plans dann war geradezu blödsinnig. Dieses zusammengefummelte Tonband! Das Verriegeln der Tür hinter Ihnen im Penthaus! Total unnötig! Sie saßen schon in der Falle. Und so geht es weiter. Alles übertrieben, dilettantisch eben. Und so kommt er auch, um sich das Tonband abzuholen. Man muß sich auf den Tätertyp einstellen, das ist der Trick. Einem Profi hätte ich gewiß nicht ausrichten lassen, daß er sich hier das Tonband abholen könnte. Der hätte nur gelacht. Denn dieses Tonband, lieber Berger, beweist im Grunde überhaupt nichts.“ „Aber das weiß er nicht“, flüsterte Berger. „Nein, er weiß es nicht! Er ahnt nicht, daß es erst in dem Moment zu einem Beweis wird, in dem er seine Pfoten darauf legt. Erst dann!“ Und nach einer winzigen Überlegungspause. „Er muß einen geradezu fanatischen Ordnungssinn haben. Ein Pedant eben!“ Wieder flüsterte es aus dem Funksprechgerät: „Herr Bünger?“ Bünger: „Ja?“ Das Walkie-Talkie: „Ist wieder am Spalier! Achtung! Er geht hinauf!“ Bünger: „Alles Weitere nach Plan! Funkpause ab jetzt!“ In der nun eintretenden Stille hörte Henry Berger ein leises Knacken neben sich. Es schien so, als ob der Kom296
missar den Sicherungsflügel an seinem Dienstrevolver umgelegt habe. In den Sekunden, die noch folgten, wischten die Ereignisse der letzten Tage an Henry Bergers innerem Auge vorüber. Manches Mal in diesen Stunden hatte er sich gewünscht, Hubertys Mörder ins Auge zu sehen. In diesem Moment war er nicht mehr neugierig darauf. Nur eines wußte er nicht, konnte es sich auch nicht denken. Weshalb hatte ausgerechnet dieses riesenwüchsige Etwas von einem Chauffeur die Tat begangen; dieser Mann, der sich dem alten Huberty gegenüber benahm, wie es etwa ein Kindermädchen mit dem ihm anvertrauten Säugling tut? Plötzlich fühlte sich Henry Berger am Arm gepackt. Wolfgang Bünger hatte den Schatten, der am Fenster auftauchte, den Bruchteil einer Sekunde früher entdeckt. Berger wurde herabgezogen in den Zwischenraum von Bett und Wand. Sie blinzelten beide über den Rand hinweg zum Fenster. Der Schatten draußen war bedrohlich groß, füllte den ganzen Rahmen aus. Und dann klirrten die Fensterscheiben ins Zimmer herein. In der Stille ein Geräusch, so unheimlich laut, daß beide Männer in ihrem Versteck zusammenzuckten. In den folgenden dreißig Sekunden geschah überhaupt nichts. Der Verbrecher schien ebenso wie sie den Atem anzuhalten. Dann sahen sie seine behandschuhte Faust kommen und durch das Loch zum Riegel fassen. Das Fenster klappte auf, und der Mann stieg herein. Die beiden duckten sich in ihrem Versteck noch tiefer und waren ganz verschwunden. Gleich darauf glitt der Schein einer Taschenlampe über sie hin. Der Strahl wanderte weiter durch das Zimmer zum Schrank. Sie hörten es mehr, als sie es sahen, daß die Schranktür aufgemacht wurde, denn die Tür quietschte erbärmlich in den Angeln. Wieder schien der Verbrecher für Sekunden den Atem anzuhalten. Aber es blieb alles still im Haus, und so machte er sich schließlich in dem Schrank zu schaffen. Und 297
gerade in dem Augenblick, als er aus seiner gebückten Haltung hochkam, zog Wolfgang Bünger an der Lichtschnur. Als sie vorhin das Zimmer inspizierten, hatte der junge Kriminalkommissar die altmodische Seidenschnur entdeckt, mittels der man vom Bett aus die Deckenlampe betätigen konnte. Sie schien ihm für seine Zwecke geeignet; er hatte sie nur noch mit einem Bindfaden verlängert, der bis in den Zwischenraum von Bett und Wand reichte. Mit einem Schlag war das Zimmer hell. Der Mann am Schrank erstarrte. Für Sekunden rührte er sich nicht. Die Beschreibung stimmte. Er trug Schaftstiefel und Reithosen, einen dunklen Mantel und Hut. Nur, er war niemals zwei Meter groß! Da hatte Pabst danebengegriffen. Aber dann kam Henry Berger der Gedanke, daß eine Gestalt, die sich in der Dunkelheit gegen einen helleren Hintergrund abzeichnet, immer übernatürlich groß wirkt. Nein, Holthusen hatte recht gehabt, der Mann war knapp ein Meter achtzig groß. Er stand noch immer in dieser erstarrten Haltung am Schrank. In seiner rechten Hand hielt er das Tonband, das er auf dem Bandgerät im Schrank gefunden hatte. Was mochte er denken so nah am Ziel? Er konnte nicht wissen, wer in seinem Rücken Licht gemacht hatte. Noch war in der Stille kein Wort gefallen. Ganz plötzlich, einfach so aus dem Stand heraus, sprang der Mann zum Fenster. Als er es erreichte, flammte unten ein Handscheinwerfer auf und strahlte das Fenster an. Und dann hörten sie Holthusens Stimme: „Hier spricht die Polizei! Bleiben Sie stehen, und heben Sie die Hände! Wir sind bewaffnet und machen von der Waffe Gebrauch! Dies ist eine einmalige Aufforderung!“ Darauf sagte Wolfgang Bünger sehr ruhig: „Dasselbe gilt für mich! Es ist ein Revolver auf Sie gerichtet! Lassen Sie das Tonband neben sich zu Boden fallen!“ Der 298
Mann tat es. „Und nun drehen Sie sich zu uns herum! Keine ruckhaften Bewegungen, und lassen Sie die Arme von Ihrem Körper!“ Das tat der Mann nicht. Er stand unverändert mit dem Rücken zu ihnen am Fenster. Und da sagte Wolfgang Bünger beinahe vergnügt: „Na, nun machen Sie schon mal endlich, Frau Huberty!“ Einer stieß geräuschvoll die lang angehaltene Atemluft aus. Es war ein hoher Pfeifton, der in ein Rasseln überging. Erst als das Geräusch verklang, merkte Henry Berger, daß es aus seiner Kehle kam. Es wirkte so deplaciert, daß es Gelächter hätte auslösen müssen, aber es lachte niemand. Dann drehte sich die Person am Fenster um, genau in der Art, die Wolfgang Bünger vorgeschrieben hatte. Ja, es war nicht Hubertys Chauffeur, auch nicht Jürgen Jomeyer und erst recht nicht Marion Huberty. Es war niemand sonst als Sibill! Nicht, daß Henry Berger nicht auch mit dieser Möglichkeit gerechnet hätte! Aber er hatte den Gedanken immer wieder von sich weggeschoben. Bis zum Schluß nahm er an, daß es Jomeyer tat und daß Sibill ihm dabei nur zuspielte. Als sie ihn in der Mordnacht hier abholte, um an das Tonband zu kommen! Als sie ihn überreden wollte, ins Ausland zu gehen! Er hatte es so gesehen, daß sie Berger tiefer hineinziehen wollte, um Jomeyer zu schützen. Aber daß sie es schließlich selber war, die den Schlag gegen Huberty führte, er hätte es doch nicht für möglich gehalten. Jetzt wußte er auch, weshalb sie Schaftstiefel und Reithosen angezogen hatte; von Anfang an war es ihr Plan gewesen, über das Weinrebenspalier ins Zimmer zu gelangen. Und plötzlich glaubte er, ihre Stimme zu hören: ‚Auf dieser Hausseite gab es ein Gerüst, Henry, das weiß ich noch. Als wir damals einzogen, war es April. Jetzt ist September, und die Früchte müßten reif sein. Gibt es den Wein noch, Henry?‘ 299
Sibills Gesicht sah plötzlich verfallen aus. Sie hatte sich nicht geschminkt, und so wirkten auch ihre Augen nicht so groß und lebendig wie sonst. Sie schaute niemanden an, weder Berger noch den Kriminalbeamten, der langsam auf sie zuging. Mit einem Ausdruck, als beträfe sie die Sache nicht, starrte sie zu Boden. Wolfgang Bünger blieb in einem Abstand, daß er sie mit dem ausgestreckten Arm erreichen konnte, vor ihr stehen. In der anderen Hand hielt er den Revolver. Er nahm ihr den Hut vom Kopf und warf ihn auf das Bett. Darunter kamen Sibills Haare hervor und fielen ihr auf die Schulter. So sah sie zumindest nicht mehr ganz so albern aus. „Was ich vorhin meinte, alter Freund“, sagte der Kommissar in Bergers Richtung, „eine Dilettantin in Sachen Mord!“ Und zu Sibill gewandt: „Was sollte denn der Hut? Damit eventuelle Zeugen auf der Straße sagten, da ging ein Mann und keine Frau? Sie überperfektionieren die Dinge, Teuerste, das ist immer ein Fehler!“ Sie antwortete nicht, sie schaute ihn nicht mal an. Bünger ging zum Fenster und rief hinunter: „Es ist vorüber!“ Und wieder zu der Frau: „Und nun mal mit Ihnen an die Wand, Gnädigste, ein Meter Abstand und die Hände in Kopfhöhe links und rechts aufgestützt. Und die Beine machen Sie mal breit, na, das werden Sie wohl können!“ Es war genau der Moment, in dem die seelische und geistige Demontage begann. Am Ende stand die Entpersönlichung, erinnerte sich Henry Berger, man war zur Unperson geworden. Er hatte es selbst vier Jahre lang an sich erleben müssen, nun war die Reihe an Sibill. Und es war durchaus nicht ausgestanden, wenn sich die Gefängnistore eines Tages vor einem öffneten. Da gab es Nächte, in denen man schweißgebadet aufwachte, und Tage, an denen man keinen freien Platz überqueren mochte, sondern lieber dicht an den Hauswänden rings300
herum ging. Töten war so leicht? Nein, das stimmte nicht! Für Henry Berger jedenfalls war es das schwierigste Unternehmen, das er je betrieben hatte. Er sah Wolfgang Bünger zur Tür gehen und sie öffnen. Auf dem Gang stand die junge Kriminalbeamtin. „Untersuchen Sie die Dame auf Waffen“, forderte er sie auf. „Aber lassen Sie keine Stelle aus, die hält sich nämlich für superschlau.“ Die Visitation förderte lediglich einen Totschläger zutage, der in ihrer rechten Manteltasche steckte. Merkwürdigerweise versetzte gerade dieses Gerät Wolfgang Bünger in Begeisterung. Er ließ es in eine Plasttüte gleiten und sagte: „Wenn wir nur ein wenig Glück haben, ist es die Mordwaffe! Im Penthaus haben wir nichts dergleichen gefunden. Sie wird ihn saubergemacht haben, aber die Techniker in unseren Labors sind wahre Zauberkünstler. So, und nun dürfen Sie sich umwenden, Frau Huberty!“ Sibill tat es langsam, und wieder schaute sie niemanden an. Sie schien nach wie vor völlig teilnahmslos. „Möchten Sie uns etwas sagen, Frau Huberty?“ fragte Wolfgang Bünger. Sie antwortete nicht. „Na schön“, meinte er gleichmütig und machte seiner Kollegin ein Zeichen. „Handschellen?“ fragte die. Einen Moment lang schaute der junge Kommissar der Frau ins Gesicht, dann sagte er kalt: „Handschellen!“ Die Beamtin hatte die schon in der Hand und schloß Sibill ein. Dann gingen beide zur Tür, die Wolfgang Bünger hinter ihnen verschloß. Der junge Kommissar schlenderte durch den Raum zum Fenster und hob das Tonband auf. Erst dann blickte er in Henry Bergers Richtung. Sie schauten sich lange in die Augen, sagten nichts, und Henry begriff in diesen Augenblicken, daß Wolfgang Bünger niemand sonst als Sibill hier erwartet 301
hatte. Schließlich brach der Kommissar das Schweigen. „Sie haben sie geliebt, nicht wahr?“ Henry antwortete erst nach einigen Sekunden: „Ist doch total gleichgültig jetzt.“ „Ist es, alter Freund, ist es wirklich! Und wenn es Ihnen erst einmal ganz bewußt wird, wie gleichgültig es ist, werden Sie aufatmen!“ „Wie war denn das?“ lenkte Henry den Kommissar von sich ab. „Ging Ihr Verdacht gleich auf Sibill Huberty?“ „Natürlich!“ bekannte Wolfgang Bünger heiter. „Und zwar durch die Aufschlüsse, mein Alter, die Sie mir gaben! Sie legten doch ihre Motivation bloß. Sie hatte durch Huberty Millionen gemacht, aber nun waren ihr der alte Mann und seine bankrotte Firma ein Klotz am Bein. Also ging sie hin und brachte ihn um, damit sie sich dem nächsten zuwenden konnte. Und wirklich, die beiden scheinen wie füreinander geschaffen, die tüchtige Geschäftsfrau und der aufstrebende Politiker. Sibill Huberty ging also den Weg über Dachgarten und Notausgang in Jomeyers Büro. Sie tat die sie belastenden Dokumente in den Safe. Das schien beiden der sicherste Ort zu sein, und er wäre es auch gewesen, wenn Marion die Kombination nicht gekannt hätte und nicht so neugierig gewesen wäre.“ „Moment!“ unterbrach Henry. „Und das TonbandOriginal?“ „Das legte Jomeyer selbst hinein. Entweder vorher oder später. Ich denke eher später.“ „Und warum warf er es nicht weg?“ „Seien Sie nicht naiv, Berger! Um die Frau erpressen zu können, falls es einmal notwendig werden würde.“ Wolfgang Bünger grinste. „Nachdem sie die Papiere also verstaut hatte, fuhr sie in die Tiefgarage und lief von dort über die Höfe in die Ferdinandstraße. Dann kehrte sie in die Heide zurück. An dem uralten Nachtpförtner wird sie irgendwie vorbeigekommen sein.“ 302
„Sie nahm den Weg durch den Keller“, erinnerte sich Henry Berger auf einmal. „Ich bin den selbst mit ihr gegangen und kann Ihnen den zeigen.“ Wolfgang Bünger zuckte die Achseln. „Kunststück! Es ist ihr ureigenes Haus! Zur Tatzeit jedenfalls stand der Rechtsanwalt Jürgen Jomeyer in der Bonner Koblenzer Straße an der Rezeption des Königshofes und ließ sich seinen Zimmerschlüssel geben. Ich wette, daß wir ein halbes Dutzend Zeugen finden werden, wenn wir dieses Alibi überprüfen. Der war so weit vom Schuß, als es geschah, wie nur irgend möglich. Das versteht sich!“ „Also ist er fein heraus?“ „Natürlich ist er das!“ „Aber das Tonband-Original?“ Der junge Kommissar schien sehr überrascht. „Was denn für ein Tonband-Original. Haben Sie je eins gesehen?“ „Na, das aus seinem eigenen Safe“, sagte Henry kopfschüttelnd. Der Kriminalbeamte trat nah an Berger heran und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er sah ihm in die Augen wie ein Arzt seinem Patienten. „Hören Sie, alter Junge. Sie hatten schlechte Träume in letzter Zeit! Vergessen Sie, daß Sie jemals in einem Rechtsanwaltsbüro waren, dort einen Safe sahen, in dem ein Tonband lag. Vergessen Sie diesen Traum!“ Henry flüsterte: „So soll er davonkommen?“ Bünger flüsterte: „Ja!“ Henry: „Dieser Mann ist ein Schwein!“ Bünger: „Er muß damit leben, nicht wir!“ Plötzlich rüttelte der Kriminalbeamte Berger heftig. „Hören Sie zu, Henry! Sie haben einen Polizisten niedergeschlagen und dessen Dienstwaffe an sich gebracht. Sie haben die kleine Huberty als Geisel genommen oder so gut wie. Bringt in Ihrem Fall fünf weitere Jahre, mindestens. Wir werden’s unter den Tisch fegen, Henry, ich verspreche es Ihnen! 303
Aber Sie, mein Alter, vergessen dieses blödsinnige Tonband-Original. Ich mußte Jomeyer einen Brocken hinwerfen, damit er Sibill Huberty überzeugte, daß sie hier in dieser Nacht die Tonbandkopie abholen müsse.“ Auf einmal wurde es Henry speiübel. Er stotterte: „Da hat er sie ins offene Messer laufenlassen?“ „Aber sicher, Henry!“ Auf Büngers Gesicht lag das vertraute Grinsen. „Wenn er nicht dazu bereit wäre, in vollem Galopp die Pferde zu wechseln, würde er in seiner Branche niemals Karriere machen.“ Henry Berger ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Er atmete tief durch. Dann fühlte er sich beim Arm genommen und herumgedreht. Wolfgang Bünger hielt zwei brennende Zigaretten in der Hand, eine davon steckte er in Henrys Mund. Sie machten ein paar Züge und schwiegen. Dann nahm der junge Kommissar Berger beim Arm und führte ihn aus dem Zimmer hinaus. Sie gingen den Gang entlang zur Treppe. Sibill war schon aus dem Haus abgeführt worden. Unten in der Halle stand nur Hannah Mewis und blickte zu ihnen herauf. Wolfgang Bünger lächelte ihr freundlich zu, dann hielt er Henry zurück. „Wissen Sie, da ist noch etwas, was mir nicht aus dem Kopf will“, sagte er. „Eigentlich schon seit Jahren nicht. Sie wissen ja, daß diese Geschichte damals mein erster Fall war. Ob Sie es glauben oder nicht, Henry, ich kann noch ganze Protokollseiten auswendig. Etwas an der Aussage der Sibill Jähnisch, so hieß sie wohl damals, hat mich immer sehr gestört. Sie sagte etwa: ‚Er nahm mit der einen Hand den Schürhaken vom Besteckhalter und mit der anderen den Herrn Albrecht. Er war wie von Sinnen. Er ließ beide nicht aus der Hand, weder diesen Schürhaken noch den Mann, bis das Unglück geschehen war. Er schleifte den Chefarchitekten die Treppe hinauf und öffnete oben eine Tür nach der anderen.‘ So etwa hat sie ausgesagt, können Sie sich erinnern?“ 304
Henry antwortete nicht. Er fummelte in seinen Taschen nach Zigarillos, fand auch noch welche. Steckte eines davon in Herrn Büngers Mund, das andere sich. Er zündete sie an. Wolfgang Bünger, Rauch ausstoßend, fuhr fort: „Wenn es so war, wie Fräulein Jähnisch es damals beschrieben hat, womit haben Sie dann die Türen geöffnet. Womit denn, wenn Sie links den Schürhaken hielten und rechts den Mann?“ Henry flüsterte: „Ist doch scheißegal!“ „Natürlich mein Alter!“ Bünger nahm den bleich gewordenen Berger beim Arm und führte ihn die Treppe hinunter. „Natürlich, es kam mir auch nur so in den Sinn.“ Unten angekommen wandte sich der junge Kommissar Hannah Mewis zu. „Ihr Spanisch-Frikko, liebe gnädige Frau, war ein Erlebnis, ich danke Ihnen dafür! Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mich gern einmal revanchieren. Ich kenne ein Lokal am Großen Burstah, dort ißt man auch nicht schlecht.“ Und dann nahm er ihre Hand und küßte sie. Merkwürdigerweise hatte nicht ein einziges Mal an diesem Abend, sooft er mit Hannah Mewis sprach, dieses alberne Grinsen auf seinem Gesicht gelegen. Henry Berger begleitete den Kommissar bis zur Straße. Nur noch ein Polizeifahrzeug stand dort, Holthusen saß darin. Sie schüttelten sich schweigend die Hände, dann kehrte sich Wolfgang Bünger ab und stieg in den Wagen, der rasch davonfuhr. Auf dem Rückweg zum Haus dachte Henry an nichts, und er fühlte sich auch nicht besonders erleichtert. Hannah stand noch mitten in der Halle, aber jetzt hatte sie die Ginflasche und ein gefülltes Glas in der Hand, das sie ihm reichte. Sie schauten sich an, und er spürte, daß sie an Sibill dachte, die ja an ihr vorübergeführt worden war. Aber sie sprachen nicht darüber. Henry trank das Glas leer. Er schüttelte sich heftig, denn im Grunde mochte er keinen Schnaps. Aber er wußte, daß es ihn beruhigen 305
würde. Dann zündete er sich noch ein Zigarillo an, und als das brannte, schweifte plötzlich Henrys Blick durch die Halle hin bis zu den Transportkisten von der mexikanischen Überseetransportgesellschaft. Er ging hin und nahm das Brecheisen, das obenauf lag. Hannah hatte es dort hingelegt, dachte er, konnte gar nicht anders sein: Er hielt, das Eisen in der Hand. Es war ein Brecheisen, nichts sonst! Sein Blick wanderte die Treppe hinauf. Die Türen da oben waren geschlossen! Henry stützte sich mit beiden Händen gegen die Kisten. Und in diesem Augenblick spürte er eine grenzenlose Erleichterung. So stand er eine ganze Zeit. Und dann sagte er plötzlich: „Hannah, Sie sind an jenem Abend gar nicht in Hubertys Penthaus gewesen!“ Er wartete auf eine Antwort. Aber es kam keine. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß sie ihn nicht hören konnte. Er drehte sich herum, sah sie an, wiederholte: „Sie haben Ihren Leibrentenvertrag nicht im Penthaus abgeschlossen!“ Hannah antwortete nicht. „Haben Sie mich nicht verstanden?“ „Doch!“ „Warum antworten Sie dann nicht?“ Sie schmiß nur die Strähne aus ihrer Stirn und lächelte ihn an. „Sie hätten es vor Gericht ausgesagt?“ „Natürlich!“ „Hannah –“ Er war fassungslos. „Sie hätten es schließlich beeiden müssen!“ Sie blickte ihn mit einem Ausdruck an, an dem Jahrtausende mitgearbeitet haben mußten. Und sagte: „Zum Schwur ist es ja nicht gekommen!“ Henry Berger sah das alles vor sich. Wenn ihre Schwindelei nicht gewesen wäre, an die er schließlich geglaubt hatte, er wäre nicht ins Penthaus eingedrungen 306
und hätte nach ihrem Leibrentenvertrag gesucht. Er hätte Marion nicht getroffen. Sie hätte ihm die Papiere nicht gegeben, nicht den Safe gezeigt, wo er das Originalband fand. Alles hätte einen anderen Verlauf genommen. Hannah Rückwärts’ Flunkerei hatte es ins Rollen gebracht. Als er das plötzlich begriff, begann Henry lauthals zu lachen. Auf einmal waren die Schleusentore offen, und es brach ungehemmt aus ihm heraus. Und dann nahm er das Brecheisen und stieß es in die Kisten, daß das Holz splitterte.
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2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 (1979) Lizenz-Nr.: 409-160/202/83 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 393 9 DDR 3,– M