Eric Frank Russell
Ich bin Nichts (I Am Nothing) (aus „Ullstein Science Fiction Stories 53“)
»Schicken Sie das Ultimat...
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Eric Frank Russell
Ich bin Nichts (I Am Nothing) (aus „Ullstein Science Fiction Stories 53“)
»Schicken Sie das Ultimatum ab!« stieß David Korman zwischen den Zähnen hervor. »Jawohl, Sir, aber —« »Was aber?« »Das bedeutet vielleicht Krieg.« »Was ist schon dabei?« »Nichts, Sir.« Der andere suchte nach einem Ausweg. »Ich dachte nur —« »Sie werden nicht dafür bezahlt, daß Sie denken«, erwiderte Korman scharf, »sondern daß Sie meine Befehle ausführen.« »Natürlich, Sir. Gewiß.« Dienstbeflissen raffte er seine Papiere zusammen und ging rückwärts schreitend zur Tür. »Ich werde das Ultimatum an Lani sofort abschicken lassen.« »Es könnte schon unterwegs sein.« Unwillig schaute Korman über seinen prunkvollen Schreibtisch hinweg zur Tür, die leise
geschlossen wurde. Ein Speichellecker! Er war von Speichelleckern umgeben, von Feiglingen, Schwächlingen. Überall standen sie unterwürfig bereit, seinem Wink zu gehorchen. Sie trugen ein falsches Lächeln zur Schau, pflichteten jedem Wort bei, das er äußerte. Die übertriebene Achtung, die sie ihm entgegenbrachten, diente nur dazu, ihre eigene Feigheit zu verdecken. Und warum taten sie das? Er, David Korman, war stark. Seine Stärke, die sich in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte äußerte, machte ihn unangreifbar. Sein stämmiger Körperbau, sein energisches Kinn, die buschigen Augenbrauen und die stahlharten grauen Augen ließen auf den ersten Blick erkennen: Er war ein Mensch mit unbegrenzter Macht, mit geistiger und körperlicher Stärke! Und das war auch gut so. Es ist ein Naturgesetz, daß der Schwache dem Starken weichen muß. Ein Gesetz, das keine Ausnahmen kennt. Und außerdem brauchte Morcine einen starken Mann. Morcine ist ein kleiner, noch unbedeutender Planet eines Sonnensystems, dem unzählige, kriegerische Planeten angehören, und wie diese aus dem lange unentdeckt gebliebenen Nebel der Sonne Sol entstanden. Mit seinem breiten, schweren Daumen drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage und sprach in das kleine Mikrofon aus Silber: »Schicken Sie sofort Flottenkommandeur Rogers herein!« Es klopfte an die Tür. Auf sein herrisches »Herein!« wurde die Tür geöffnet. Als Rogers vor seinem Schreibtisch stand, bellte Korman: »Das Ultimatum ist unterwegs.« »Wirklich, Sir? Glauben Sie, daß es angenommen werden wird?« »Das spielt keine Rolle«, erklärte Korman. »Wir verfolgen auf
jeden Fall unseren eigenen Kurs.« Sein Blick hatte etwas Herausforderndes an sich. »Ist die Flotte mobilisiert, wie ich befohlen habe.?« »Jawohl, Sir.« »Sind Sie dessen sicher? Haben Sie sich selbst davon überzeugt?« »Jawohl, Sir.« »Gut. Meine Befehle lauten: Die Flotte beobachtet die Ankunft unseres Kuriers auf Lani und gewährt dem Planeten vierundzwanzig Stunden Zeit für eine zufriedenstellende Antwort.« »Und wenn diese ausbleibt?« »Dann erfolgt eine Minute später Angriff auf der ganzen Linie. Die Flotte hat zunächst die Aufgabe, einen Brückenkopf zu erobern und ihn zu halten. Sodann wird Verstärkung herangezogen. Danach wird die Eroberung des Planeten in Angriff genommen.« »Verstanden, Sir.« Für Rogers war die Unterhaltung beendet. »Keine weiteren Befehle?« »Doch«, hielt ihn Korman zurück. »Es ist mein Wunsch, daß bei der Landeaktion das Schiff meines Sohnes als erstes auf Lani landet.« Rogers fuhr zusammen. Nervös gab er zu bedenken: »Aber, Sir, als junger Leutnant kommandiert er nur ein kleines Schiff mit ungefähr zwanzig Mann Besatzung. Man müßte eines unserer größeren Schlachtschiffe —« »Mein Sohn landet als erster!« Korman stand auf und beugte sich über seinen Schreibtisch, den Blick kalt auf sein Gegenüber gerichtet. »Die Nachricht, daß Reed Korman, mein einziges Kind, in vorderster Front gekämpft hat, wird eine ausgezeichnete psychologische Wirkung auf die breite Masse des Volkes ausüben.
Dies ist ein Befehl, Rogers!« »Und wenn ihm etwas zustößt?« fragte Rogers zögernd. »Wenn er verletzt wird? Oder getötet?« »Dadurch«, hielt ihm Korman entgegen, »kann die psychologische Wirkung nur erhöht werden.« »Zu Befehl, Sir.« Rogers machte eine Kehrtwendung und verließ mit unbewegter Miene das Zimmer. Unbeweglich und mit ausdruckslosen Gesichtern stand die Polizei-Eskorte, als Korman aus seinem riesigen Dienstwagen stieg. Wie üblich schaute er mit seinem strengen Blick über sie hinweg, während der Fahrer die Tür aufhielt. Dann stieg Korman die Treppe zu seinem Haus hinauf. Als er die sechste Stufe betrat, wurde die Wagentür zugeklappt. Jeden Tag war es die sechste Stufe, nie die fünfte oder die siebente. Innen wurde er vom Dienstmädchen erwartet, das jeden Tag an derselben Stelle bereitstand, um ihm Mütze, Handschuhe und Mantel abzunehmen. Sie bewegte sich steif und schüchtern und schaute ihm nie ins Gesicht. Kein einziges Mal in vierzehn Jahren hatte sie die Augen aufgeschlagen. Mit einer unwilligen Gebärde schob er sie beiseite und betrat das Speisezimmer. Korman setzte sich und betrachtete über das breite, mit Silber und Kristall beladene Tischtuch hinweg nachdenklich seine Frau. Sie war groß und blond, mit blauen Augen, und mußte früher eine außerordentliche Schönheit gewesen sein. Wie oft hatte er sich früher an der katzenhaften Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen erfreut. Jetzt war ihre Figur voller geworden, und rund um ihre treuen, geduldigen Augen hatten sich Falten eingegraben, die nicht vom Lachen stammten.
»Ich hatte es satt mit Lani«, verkündete er. »Wir wollen ein Exempel statuieren. Das Ultimatum ist unterwegs.« »Ja, David.« Genau diese Antwort hatte er erwartet, er hätte sie an ihrer Stelle geben können. Diese Antwort war sozusagen ihr Losungswort, an dem er sie erkannte. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch bleiben. Vor vielen Jahren, vor genau einem Vierteljahrhundert, hatte er mit der gebührenden Höflichkeit gesagt: »Mary, ich möchte Sie heiraten.« »Ja, David.« Sie hatte diese Heirat nicht gewollt — ihre Familie hatte diese Vereinbarung für sie getroffen, und sie hatte darin eingewilligt. So ist das Leben: Es gibt Menschen, die geschoben werden, und solche, die sie schieben. Mary gehörte zu den ersteren. Und diese Tatsache hatte Korman bald den Geschmack an der Liebe verdorben. Die Eroberung war ihm zu leicht gefallen. Korman war der Typ eines Eroberers und mochte keine leichten Eroberungen. Später, als die Zeit dazu gekommen war, hatte er zu ihr gesagt: »Mary, ich möchte einen Sohn.« Und auch diesen Befehl hatte sie widerspruchslos ausgeführt. Ohne Ausflüchte zu versuchen, ohne ihm zum Zeichen eines passiven Widerstandes ein so nutzloses Wesen wie eine Tochter zu gebären. Nein — ein Sohn war es, acht Pfund schwer, der dann später Reed genannt wurde. Den Namen hatte natürlich er ausgesucht. Seine breite Kinnlade schob sich herausfordernd nach vorn, als er fortfuhr: »Ich bin fast sicher, daß dieses Ultimatum Krieg bedeutet.« »Ja, David?«
Ihre Antwort verriet nicht die geringste innere Anteilnahme. Unverändert, mit ausdruckslosem Gesicht und unterwürfigem Blick, sah sie ihn an. Schon immer hatte er sich gefragt, ob sie ihm gegenüber einen so abgrundtiefen Haß empfand, daß sie diesen um jeden Preis verbergen wollte, aber nichts herausgefunden. Eines stand fest: Sie fürchtete ihn und hatte dies vom ersten Tag an getan. Alle fürchteten ihn. Alle, ohne Ausnahme. Denen, die ihn nicht von der ersten Begegnung an fürchteten, brachte er es früher oder später bei. Es war gut, gefürchtet zu sein. Es war ein ausgezeichneter Ersatz für Gefühle, die er nie empfunden und nie gekannt hatte. Als Kind hatte er sich schrecklich vor seinem Vater gefürchtet; auch vor seiner Mutter. So sehr, daß er ihren Tod als eine ungeheuere Erleichterung empfand. Jetzt war er an der Reihe. Auch das ist ein Naturgesetz, recht und billig. Was eine Generation errungen hat, soll sie an die nächste weitergeben. Und was ihr versagt war, soll auch der nächsten Generation versagt bleiben. Das war die Gerechtigkeit! »Reed steht mit seinem Aufklärer bei der Flotte in Alarmbereitschaft.« »Ich weiß, David.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Woher weißt du das?« »Ich habe vor ein paar Stunden einen Brief von ihm bekommen.« Sie gab ihm ein Blatt Papier. Langsam und bedächtig faltete er es auseinander. Er wußte im voraus, wie die ersten zwei Worte lauteten. Als er es geöffnet hatte, stellte er fest, daß er es verkehrt in der Hand hielt, drehte es um und las. »Liebe Mutter.« Das war ihre Rache!
Mary, ich möchte einen Sohn. Sie hatte ihm den Sohn geboren — und wieder genommen. Jetzt kamen die Briefe, manchmal zwei in der Woche, manchmal einer in zwei Monaten, je nach dem Standort seines Schiffes. Immer waren sie so geschrieben, als wären sie an beide gerichtet, immer enthielten sie den Ausdruck der Zuneigung zu beiden Elternteilen, den Wunsch, es möge ihnen beiden gut gehen. Aber immer begannen sie mit »Liebe Mutter«. Nie mit »Lieber Vater«. Das war die Rache! Die Stunde X kam und ging vorüber. Morcine befand sich in einem Zustand fieberhafter Aufregung. Niemand, auch Korman nicht, wußte, was draußen im Weltraum geschah, die Nachrichten brauchten zu lange für diese ungeheuere Entfernung. Die Funksprüche der Flotte wurden erst viele Stunden später aufgefangen. Die erste Meldung wurde auf kürzestem Wege zu Korman geleitet, der an seinem Schreibtisch saß und darauf wartete. Sie besagte, die Lanier hätten mit einem Protest und einem — wie sie es nannten — Appell an die Vernunft geantwortet. Gemäß den ihm erteilten Befehlen hatte der Kommandeur der Flotte diese Antwort als unbefriedigend zurückgewiesen. Der Angriff rollte. »Sie bitten um Vernunft«, grollte er. »Das heißt, wir sollen sanft mit ihnen umgehen. Das Leben ist nicht für die Sanften gemacht.« Er blickte auf. »Oder?« »Nein, Sir«, stimmte der Kurier pflichtbewußt zu. »Sagen Sie Bathurst, er soll das Tonband zur Sendung freigeben.« »Jawohl, Sir.«
Als der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaltete er sein Funkgerät ein und wartete. Nach zehn Minuten kam sie, die lange, lautstarke, tönende Rede, die er schon vor mehr als einem Monat aufgesetzt hatte. Zwei Themen hatte sie zum Inhalt: Zielstrebigkeit und Stärke. Besonders Stärke. Grimmig, aber ohne sich hinreißen zu lassen, legte er die angeblichen Gründe dieses Krieges im einzelnen dar. Diese Selbstbeherrschung war ein rhetorischer Kunstgriff; er sollte zeigen, daß die gegenwärtige Lage unvermeidlich war und daß die Starken so viel Selbstvertrauen zeigen können, daß sie sich niemals zu etwas hinreißen lassen. Die Aufzählung selbst langweilte ihn. Der Starke weiß, daß es nur einen Grund für den Krieg gibt. Und daß die Vielzahl der Gründe, von denen die Geschichtsbücher nachher berichten, in Wirklichkeit keine Gründe sind, sondern nur plausibel präsentierte Vorwände. Es gibt nur einen einzigen echten Anlaß für den Krieg, und dieser bestand schon zu der Zeit, als der Mensch noch im Urwald lebte. Wenn zwei Affen dieselbe Banane haben wollen — dann gibt es Krieg. Natürlich durfte er das in seiner Rundfunkansprache nicht so drastisch ausdrücken, sondern mußte seinen Hörern die Lage schonend beibringen. Schwache Gemüter brauchen Brei. Rohes Fleisch können nur die Starken vertragen. Und diese Diät verschrieb er seinen Hörern, die an ihren Geräten seine Ansprache an das Volk des ganzen Planeten Morcine verfolgten. Nachdem seine Sendung mit ermutigenden Ausführungen über die unüberwindbare Stärke des Morcine geendet hatte, lehnte er sich in seinen Sessel zurück und überlegte. Es konnte keine Rede davon sein, Lani durch ein Bombardement aus großer Höhe zur Unterwerfung zu zwingen. Alle Städte dieses Planeten lagen unter
einem bombensicheren Schutzmantel aus hemisphärischen Kraftfeldern. Aber auch ohne diesen Schutz hätte er ihre Vernichtung nicht befohlen. Es bedeutete keinen Sieg, öde Bombentrichter zu erobern. Er hatte genug von solchen Siegen. Unwillkürlich glitt sein Blick hinüber zum Bücherschrank, zu der Fotografie, die er selten und auch dann nur flüchtig betrachtete. Jahrelang stand sie schon dort, ein Gegenstand, den er nur noch im Unterbewußtsein vermerkte. Sie war nicht mehr so, wie ihr Bild sie zeigte. Und wenn er darüber nachdachte, dann war sie eigentlich nie so gewesen. Sie hatte ihm Gehorsam und Furcht entgegengebracht, noch bevor er erkannt hatte, daß er dies in Ermangelung eines anderen Gefühls brauchte. Die ganze Zeit über hatte er etwas erwartet, was er nie finden konnte. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte er es selbst in seiner Jugend nie finden können, bei niemandem und nie. Nie. Er zwang sich wieder, an den Krieg gegen Lani zu denken. Der Schlachtplan richtete sich nach den örtlichen Gegebenheiten. Ein Brückenkopf mußte erobert werden, in den ohne Unterbrechung Truppen, Waffen und Hilfseinheiten nachgeschoben wurden. Von da aus mußten sich die Truppen Morcines ausbreiten und Stück um Stück das ungeschützte Gelände einnehmen, bis schließlich die durch Energieschirme geschützten Städte eingekesselt waren. Die Städte wurden dann so lange belagert, bis sie sich wegen Mangel an Verpflegung ergeben mußten. Die Eroberung des feindlichen Geländes war das hauptsächliche Ziel. Trotz der interplanetarischen Raumschiffe, trotz der Kraftfelder und trotz aller anderen Erfindungen der Neuzeit war es also immer noch der Infanteriesoldat, der die Schlacht entschied. Maschinen konnten zwar angreifen und vernichten, aber nur Menschen konnten etwas erobern und verteidigen.
Deshalb war es auch kein Blitzkrieg von fünf Minuten, der jetzt bevorstand. Er konnte ein paar Monate dauern, vielleicht auch ein Jahr, und er würde sich genau so abspielen wie im Krieg des alten Stils: Landkämpfe um befestigte Plätze, Bombardierungen von Rollbahnen, von strategisch wichtigen Knotenpunkten, Ansammlungen und Aufmarschgebieten des Feindes und ungedeckten, aber hartnäckig verteidigten Städten. Vieles würde zerstört werden, restlos vernichtet. Und in der Stunde seines Triumphes würde Morcine den Feinden Furcht einflößen. Morcine und er, Korman. Wer gefürchtet ist, wird auch geachtet, und das gehört sich so. Gegen Ende des Monats trafen die ersten farbigen Bildberichte aus dem Kampfgebiet ein. Die erste Aufführung fand bei ihm zu Hause statt, in einer geschlossenen Gesellschaft von Leuten, die er selbst ausgesucht hatte. Seine Frau, eine Gruppe von Regierungsbeamten und ein paar auserwählte Stabsoffiziere. Unbeeindruckt von der Luftabwehr auf Lani, die sich von Anfang an als sehr schwach erwiesen hatte und die jetzt schon beinahe völlig vernichtet war, landeten die langen, schwarzen Flugkörper von Morcine auf dem Brückenkopf, der ständig erweitert wurde, und brachten Nachschub heran. Die Truppen stießen auf ihrem Vormarsch nur auf vereinzelte Widerstandsnester, die sie mit ihrer haushohen Übermacht an Waffen und Material niederwalzten. Dann schwenkte die Kamera des Berichterstatters auf eine große Brücke, in der riesige Lücken klafften. Die Stützbalken und Pfeiler lagen kreuz und quer durcheinander. Darauf führte die Kamera die Zuschauer durch sieben zerstörte Dörfer, die sich nicht sofort ergeben hatten. Überall auf den Straßen waren tiefe Bombentrichter, und die Häuser waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dann kam ein Angriff auf einen Bauernhof, vom Berichterstatter in
vorderster Front gefilmt. Eine Patrouille wurde plötzlich beschossen, ging in Deckung und zog sich zurück. Auf ihre Anforderung erschien ein mächtiges Ungetüm mit ohrenbetäubendem Rasseln, ging in Reichweite der Kamera in Stellung und richtete den Turm drohend auf das Haus. Ein dicker, wuchtiger Strahl ergoß sich über das Dach und steckte das Anwesen in Brand. Gestalten erschienen im Freien und suchten Schutz in einem nahegelegenen Dickicht. Im Lautsprecher ertönte ein ratterndes Geräusch. Die Gestalten stürzten zu Boden, wälzten sich und blieben dann regungslos liegen. Als der Film zu Ende war, sagte Korman: »Ich gebe den Streifen zur Veröffentlichung frei.« Dann erhob er sich und fügte unwillig hinzu: »Aber ich habe daran etwas auszusetzen. Mein Sohn hat das Kommando einer Infanteriekompanie übernommen. Er tut seine Pflicht wie jeder andere. Warum wurde er nicht gezeigt?« »Wir wollten ihn ohne Ihre ausdrückliche Genehmigung nicht filmen, Sir«, entschuldigte sich einer. »Ich genehmige es nicht nur — ich befehle es. Sorgen Sie dafür, daß er das nächste Mal zu sehen ist. Nicht im Vordergrund. Gerade so, daß er vom Volk erkannt wird, wie er die Gefahren und Entbehrungen mit den anderen teilt.« »Jawohl, Sir!« Sie packten ihre Geräte ein und gingen. Korman wanderte ruhelos auf dem dicken Teppich vor der elektrischen Heizung auf und ab. »Sie sollen wissen, daß Reed dabei ist«, brummte er, als ob er sich dafür zu verantworten habe. »Ja, David.« Sie hatte ihre Stricknadeln zur Hand genommen und klapperte eifrig damit. »Er ist mein Sohn.« »Ja, David.«
Er blieb stehen und nagte gereizt an seiner Unterlippe. »Kannst du mir nichts anderes antworten?« Sie hob den Blick zu ihm auf. »Soll ich das denn?« »Ob du sollst!« Er ballte die Fäuste, als er seine ruhelose Wanderung fortsetzte, während sie sich wieder ihren Stricknadeln zuwandte. Vier Monate später war der Brückenkopf auf Lani auf tausend Quadratmeilen erweitert worden, und immer noch strömte der Nachschub an Truppen und Waffen. Es ging langsamer voran, als man erwartet hatte. Vom Oberkommando waren geringfügige Fehler begangen worden, unvorhergesehene Hindernisse waren aufgetaucht, die bei einem Krieg mit langem Anmarschweg unvermeidbar sind, und erbitterter Widerstand war geleistet worden, wo man ihn am wenigsten erwartet hatte. Trotzdem ging es voran. Korman kam nach Hause und hörte die Wagentür zuschlagen, als er auf der sechsten Stufe stand. Alles war wie früher, nur daß sich die Leute jetzt darin gefielen, ihn bei sich zu Hause zu feiern. Das Dienstmädchen wartete, nahm ihm seine Sachen ab. Schwerfällig stapfte er ins Wohnzimmer. »Reed ist zum Capitain befördert worden.« Sie gab keine Antwort. Er baute sich breit und massig vor ihr auf und fragte: »Interessiert dich das nicht?« »Natürlich, David.« Sie legte ihr Buch beiseite, faltete die Hände und schaute zum Fenster hinaus. »Was ist mit dir los?« »Mit mir?« Ihre blonden Augenbrauen wölbten sich, als sie den Blick zu ihm hob. »Nichts. Warum fragst du?«
»Ich weiß es aber.« Sein Ton wurde schärfer. »Und ich will es dir sagen: Es paßt dir nicht, daß Reed dort draußen ist. Du nimmst es mir übel, daß ich ihn dir weggenommen habe. Du glaubst es sei mehr dein Sohn als meiner. Du —« Ruhig hielt sie seinem Blick stand. »Ich glaube, du bist müde, David. Du hast Sorgen.« »Ich bin nicht müde«, wehrte er ab, lauter als es nötig gewesen wäre. »Und ich habe auch keine Sorgen. Nur Schwache haben Sorgen.« »Vielleicht bist du nur hungrig.« Sie setzte sich zu Tisch. »Iß eine Kleinigkeit. Es wird dir guttun.« Unzufrieden und verstimmt nahm er sein Abendessen ein. Mary verschwieg ihm etwas. Er kannte sie genau genug, um das zu wissen, denn schließlich hatte er sein halbes Leben mit ihr verbracht. Aber er brauchte es nicht mit Gewalt aus ihr herauszuholen. Als er seine Mahlzeit beendet hatte, rückte sie mit ihrem Geheimnis heraus. »Von Reed ist ein Brief gekommen.« »Ja?« Er griff nach seinem Weinglas. Das Essen hatte ihn etwas beruhigt, aber er wollte sich das nicht anmerken lassen. »Ich weiß, daß es ihm gut geht, daß er gesund und unverletzt ist. Wenn ihm etwas zustoßen würde, wäre ich der erste, der es erfährt.« »Willst du nicht sehen, was er schreibt?« Sie holte den Brief von ihrem kleinen dunkelbraunen Schreibtisch und hielt ihn Korman entgegen. Er warf einen kurzen Blick darauf, ohne ihn jedoch in die Hand zu nehmen. »Vermutlich das übliche Gequassel über den Krieg.« »Ich glaube, du solltest ihn doch lesen«, forderte sie hartnäckig. »Wirklich?« Er nahm den Brief aus ihrer Hand, faltete ihn
auseinander und schaute sie fragend an. »Warum sollte mich dieses Schreiben besonders interessieren? Ist es anders als die übrigen Briefe? Ich weiß, ohne ihn gelesen zu haben, daß er nur an dich gerichtet ist. Nicht an mich. Noch nie in seinem Leben hat Reed einen Brief ausdrücklich an mich geschrieben.« »Er schreibt an uns beide.« »Warum beginnt er dann nicht mit >Lieber Vater und liebe Mutter« »Wahrscheinlich dachte er nicht daran, daß es dich verletzen könnte. Und außerdem klingt es umständlich.« »Unsinn!« »Lies doch wenigstens den Brief, bevor du mit mir darüber streitest. Früher oder später mußt du es doch erfahren.« Diese letzte Bemerkung machte ihn stutzig. Er knurrte unwillig, als er die Anrede las, und überflog dann die nächsten zehn Absätze, die den Kriegsdienst auf einem fernen Planeten beschrieben. Nichts anderes als das Zeug, was alle Männer nach Hause schreiben. Nichts besonderes. Dann drehte er die Seite um und las den kurzen Rest. Seine Züge strafften sich, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. »Muß Dir mitteilen, daß ich der freiwillige Sklave eines Mädchens von Lani geworden bin. Habe sie in den traurigen Ruinen eines Dorfes an einem See gefunden. Das Dorf war ganz hübsch von den Unsrigen eingedeckt worden. Sie war allein und scheint, soviel ich entdecken konnte, die einzige Überlebende zu sein. Mama, sie hat niemanden mehr. Ich schicke sie mit dem Lazarettschiff lstar nach Hause. Der Kapitän meuterte zwar, wagte es aber nicht, einem Korman diesen Wunsch abzuschlagen. Bitte, hole sie ab und sorge für sie, bis ich zurückkomme.« Er schleuderte den Brief auf den Tisch und fluchte, lange und
wütend. Zum Schluß sagte er: »Dieser junge Dummkopf!« Schweigend saß ihm Mary gegenüber und blickte ihn an, die Hände gefaltet. »Die Augen einer ganzen Welt sind auf ihn gerichtet«, wütete er. »Als ein Mann im öffentlichen Leben, als Sohn seines Vaters müßte er den anderen ein gutes Beispiel geben. Und was tut er?« Sie gab keine Antwort. »Fällt willenlos einer kleinen Schürze zum Opfer, die nichts Besseres zu tun weiß, als um seine Sympathie zu buhlen. Einer Frau, die unsere Feindin ist.« »Sie muß hübsch sein«, warf Mary ein. »Keine Frau von Lani ist hübsch«, widersprach er, beinahe brüllend. »Bist du von Sinnen?« »Nein, David, natürlich nicht.« »Wozu dann diese sinnlosen Bemerkungen? Ein Idiot in der Familie ist genug.« Außer sich vor Wut schlug er mehrere Male mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Zu einem Zeitpunkt, wo der Haß gegen die Lanier seinen Höhepunkt erreicht hat, kann ich mir gut vorstellen, welche Wirkung es auf die öffentliche Meinung haben wird, wenn es sich herumspricht, daß wir in unserem Haus eine besonders bevorzugte Feindin beherbergen, daß wir eine bemalte und gepuderte Vogelscheuche großfüttern, die unseren Sohn in ihren Klauen hält. Ich sehe sie heute schon hier herumstolzieren! Reed muß den Verstand verloren haben.« »Reed ist dreiundzwanzig«, bemerkte sie. »Was soll das heißen? Willst du damit sagen, daß sich ein Mann von einem bestimmten Alter an zum Narren machen darf?« »Nein, David. Das habe ich nicht gesagt.«
»Deine Bemerkung zielte darauf hin.« Und wieder hieb er mit der Faust in seine offene Handfläche. »Reed hat wider alles Erwarten einen Anfall von Schwäche gezeigt. Das ist kein Erbteil von mir.« »Nein, David. Nicht von dir.« Er starrte sie an und überlegte, welchen Hintersinn ihre Bemerkung verbergen mochte. Er kam nicht darauf. Sie waren zu unterschiedlich veranlagt. Er konnte ihren Gedanken nicht folgen. Nur seinen eigenen. »Ich werde diese Dummheit verhindern. Wenn Reed nicht fähig ist, seinen Charakter zu wahren, so muß eben ich dafür sorgen.« Er griff nach dem Telefon und hob den Hörer ab. »Hier auf Morcine gibt es Tausende von Mädchen. Wenn Reed ein Abenteuer sucht, kann er es hier finden.« »Er ist aber nicht hier«, verteidigte ihn Mary. »Er ist weit weg von zu Hause.« »Für ein paar Monate, mehr nicht.« Die Verbindung kam zustande. Er knurrte in die Sprechmuschel: »Ist die Istar schon von Lani abgeflogen?« Er mußte sich einen Augenblick gedulden, dann kam die Antwort. Wortlos hängte er ein. »Ich hätte sie hinauswerfen lassen, aber es ist zu spät. Die Istar ist gestartet, kurz nach der Postrakete, mit der dieser Brief kam.« Seine Miene versprach nichts Gutes. »Das Mädchen muß morgen hier ankommen. Eine grenzenlose Unverschämtheit ihrerseits, die von vornherein auf ihren Charakter schließen läßt.« Er trat vor die große, langsam tickende Wanduhr und fixierte das Zifferblatt, als könne er dort die Ankunftszeit der Istar ablesen. Er war mit dem Problem beschäftigt, das so plötzlich über ihn hereingebrochen war. Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich dulde nicht, daß sich diese Weibsperson bei uns hier ein-
nistet, was auch Reed von ihr denken mag. Ich will sie nicht haben, verstehst du?« »Ja, David.« »Wenn er ein Schwächling ist, bitte. Ich bin keiner! Sobald sie hier ankommt, wird sie bei mir die schwerste Stunde ihres Daseins erleben. Wenn ich mit ihr gesprochen habe, wird sie sich glücklich schätzen, mit dem nächsten Schiff nach Lani zurückkehren zu dürfen. Sie wird verschwinden und sich nie mehr blicken lassen.« Mary sagte kein Wort. »Ich lasse mich nicht in den Augen der Öffentlichkeit zum Narren machen. Ich will auch den geringsten Anschein vermeiden. Du wirst sie daher am Raketenplatz abholen und mich telefonisch von ihrer Ankunft unterrichten. Dann bringst du sie zu mir ins Büro. Ich werde dort mit ihr sprechen.« »Ja, David.« »Und vergiß nicht, mich vorher anzurufen. Ich werde dafür sorgen, daß ich allein im Büro bin. Es braucht niemand davon zu wissen.« »Ich werde daran denken«, versprach sie. Es war halb vier Uhr nachmittags, als am nächsten Tag der Anruf durchgegeben wurde. Er warf einen Admiral, zwei Generäle und einen Abteilungsleiter von der Spionageabwehr hinaus, überflog flüchtig die eingegangene Post, räumte seinen Schreibtisch auf und bereitete sich innerlich auf den unangenehmen Auftritt vor, der ihm nun bevorstand. Kurz darauf wurde die Sprechanlage eingeschaltet; die Stimme seines Sekretärs kündigte an: »Mrs. Korman und Miss Tatiana Hurst wünschen Sie zu sprechen, Sir.«
»Ich lasse bitten.« Er lehnte sich zurück, mit drohend zusammengezogenen Augenbrauen. Tatiana. Ein fremd klingender Name. Er konnte sich gut vorstellen, was sich dahinter verbarg: Ein junges Ding, an Erfahrung älter als an Jahren, das es verstanden hatte, im richtigen Augenblick zuzugreifen. Eine, die mit einem jungen, unerfahrenen Mann wie Reed leichtes Spiel hatte. Und wahrscheinlich vertraute sie darauf, auch den alten Herrn um den Finger wickeln zu können. Darin aber sollte sie sich geirrt haben! Die Tür wurde geöffnet. Die zwei Frauen kamen herein und standen stumm vor ihm. Eine halbe Minute lang starrte er sie an, ohne ein Wort zu sprechen. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er mußte sich auf das besinnen, was er sich zurechtgelegt hatte. Schließlich erhob er sich, maßlos erstaunt, und wandte sich an Mary. »Wo ist sie?« »Hier«, erwiderte Mary mit schlecht verhehlter Befriedigung. »Das ist sie!« Er ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen und betrachtete ungläubig Miss Tatiana Hurst. Ihre mageren Beine waren bis zum Knie sichtbar, ihre Kleidung alt und abgetragen, das Gesicht ein blasses, hohlwangiges Oval, aus dem ein Paar dunkler Augen blickten. Ihr seltsamer, geistesabwesender Blick erweckte den Eindruck, als bemerke sie ihre Umgebung nicht, sondern lausche nach innen, in sich selbst hinein. Mit der Rechten hielt sie sich an Marys Hand fest, und im linken Arm befand sich ein großer neuer Teddybär, von dem er genau wußte, woher er stammte. Ihr Alter betrug im Höchstfall acht Jahre. Was ihn am meisten gefangennahm, waren ihre großen rätselhaften Augen. Ihr Blick verwirrte ihn, raubte ihm seine
Selbstsicherheit. Zuerst glaubte er, sie sei blind; aber sie richtete ihre Augen auf ihn und schaute ihn an — ohne ihn in Wirklichkeit zu sehen. Die großen dunklen Pupillen waren auf ihn gerichtet und nahmen seine Umrisse, seine Gestalt in sich auf, aber die ganze Zeit über sahen sie nur die Geheimnisse in sich selbst. Ein erschütternder Anblick. Er beobachtete sie unablässig und versuchte, diesen seltsamen Ausdruck ihrer Augen zu ergründen. Er hatte einen herausfordernden, unverschämten, vielleicht auch einen schmeichelnden oder verheißungsvollen Blick erwartet — alle Register, die eine Frau ziehen kann. Hier, unter diesen gänzlich veränderten Umständen, hätte er eine kindliche Verlegenheit vorzufinden geglaubt. Zutraulichkeit oder Schüchternheit. Aber sie war nicht schüchtern, wie er feststellte. Es mußte etwas anderes sein. Er konnte es mit nichts anderem als Abwesenheit bezeichnen. Sie war hier, aber nicht bei ihnen, sondern irgendwo, weit weg in ihrer eigenen Welt. Mary ertrug das Schweigen nicht länger. »Nun, David?« Er fuhr auf beim Klang ihrer Stimme. Er war noch immer verwirrt, weil die Szene sich so ganz anders abspielte, als er erwartet hatte. Mary hatte eine halbe Stunde Zeit gehabt, um sich mit der neuen Situation abzufinden. Er dagegen war völlig unvorbereitet. Noch hatte er es nicht verarbeitet. »Laß mich ein paar Minuten mit ihr allein«, schlug er vor. »Ich rufe dich wieder, wenn ich mit ihr fertig bin.« Mary ging zur Tür. Auf dieses Gefühl einer persönlichen Genugtuung hatte sie lange warten müssen. Mit ungewohnter Milde begann Korman: »Komm her, Tatiana.« Langsam kam sie auf ihn zu, Schritt um Schritt, und blieb vor seinem Schreibtisch stehen.
»Zu mir herum, bitte, neben meinen Stuhl.« Mit derselben Behutsamkeit setzte sie sich wieder in Bewegung, kam um seinen Schreibtisch herum, den Blick ausdruckslos nach vorn gerichtet, und blieb schweigend neben ihm stehen. Er holte tief Luft. Es schien, als sei die Art, mit der sie sich bewegte, nur von dem Satz diktiert: »Ich muß gehorchen. Ich muß tun, was man mir sagt. Ich darf nur das tun, was man mir befiehlt.« So tat sie es, wie jemand, der etwas tut, weil er sich nicht dagegen wehren kann. Wie jemand, der alles auf sich nimmt, um sich einen geborgenen, sicheren Ort zu bewahren. Seltsam berührt fragte er: »Kannst du nicht sprechen, oder?« Sie nickte kaum merklich. »Warum sprichst du dann nicht?« Sie machte keine Anstalten, ihm zu antworten oder ihm zu beweisen, daß sie sprechen könne, sondern nahm seine Frage lediglich als Feststellung hin. Regungslos, ohne ein Wort zu sagen, stand sie neben Korman und wartete darauf, wieder in ihre eigene Welt zurückkehren zu dürfen. »Bist du froh, hier zu sein?« Keine Antwort. Nur diese Geistesabwesenheit. »Nun, bist du froh? « Ein kaum merkliches, halbes Nicken. »Also bist du nicht traurig?« Ein noch undeutlicheres Kopf schütteln. Er läutete und sagte zu Mary: »Bring sie nach Hause.« »Nach Hause, David?«
»Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?« Er mochte diese übertriebene Freundlichkeit in ihrer Stimme nicht. Sie hatte etwas zu bedeuten, aber er wußte nicht was. Die Tür schloß sich hinter den beiden. Seine Finger trommelten einen nervösen Marsch auf seinem Schreibtisch, als er an diese Augen dachte. Während der nächsten paar Wochen wurde er noch mehr als früher von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Wie die meisten Menschen seines Formats besaß er die Fähigkeit, sich gleichzeitig mehreren Aufgaben zu widmen, bemerkte aber nie, wann eine Angelegenheit dringender als die übrigen wurde. Während der ersten zwei oder drei Tage hatte er von dem Eindringling in seinem Hause keine Notiz genommen, und dennoch wurde er sich ihrer Gegenwart bewußt. Sie war sich gleich geblieben, leise und ruhig, gehorsam, ohne eigenen Willen, mit hohlen Wangen und großen Augen. Oft saß sie regungslos da, stundenlang, wie eine zu groß geratene Puppe. Am vierten Tag, nach dem Mittagessen, blieb er zufällig mit ihr allein. Er beugte sich zu ihr hinab und fragte: »Was ist los mit dir, Tatiana? Gefällt es dir hier nicht?« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Warum lachst du dann nicht und spielst wie andere —?« Er fuhr auf, als Mary unverhofft ins Zimmer kam. »Habt ihr zwei miteinander geplaudert?« fragte sie. »Wie wäre das möglich«, gab er kurz zurück. Am selben Abend wurde ihm der letzte Bildbericht von der Front vorgeführt. Er fand wenig Gefallen daran. Irgend etwas verdroß ihn. Der richtige Schwung fehlte. Aus unerklärlichen Gründen hatte die
Eroberung viel von ihrem anfänglichen Reiz für ihn verloren. Nach vierzehn Tagen hatte er mehr als genug davon, einer Stimme zu lauschen, die selten sprach, und einem Blick zu begegnen, der ihn nicht sah. Es war, als lebte er mit einem Geist — und das konnte er nicht mehr länger ertragen. Ein Mann hat in seinem Hause Anspruch auf ein Mindestmaß an Behaglichkeit. Gewiß, er hätte sie nach Lani zurückschicken können, wie er dies vor ihrer Ankunft angedroht hatte. Damit aber hätte er seine Niederlage offen eingestanden, und ein Korman nahm keine Niederlage hin, von keinem Feind und noch viel weniger von einem kleinen verträumten Kind. Sie würde ihn nicht dazu bringen, sie hinauszuwerfen, ihn aber auch nicht aus seinem eigenen Haus vertreiben. Ihre Gegenwart stellte eine Herausforderung dar, mit der er auf eine zufriedenstellende Weise fertigwerden mußte. Er bestellte seinen wissenschaftlichen Berater zu sich in sein Büro und erklärte ihm gereizt: »Ich habe da ein Kind zu Hause, das nicht ganz leicht zu behandeln ist. Mein Sohn hat es mir von Lani geschickt. Es fällt mir auf die Nerven. Was kann man dagegen tun?« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Sir.« »Warum nicht?« »Ich bin Physiker.« »Können Sie mir jemanden vorschlagen?« Der andere dachte kurz nach. »In meiner Abteilung ist niemand, Sir. Unsere Wissenschaft beschäftigt sich nur mit der Entwicklung von Maschinen. Sie brauchen einen Spezialisten für weniger handgreifliche Dinge.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Vielleicht kann Ihnen die Gesundheitsbehörde jemanden empfehlen.« Er rief in einem Krankenhaus an und erhielt die Antwort: »Sie
brauchen einen Kinderpsychologen.« »Welcher ist der beste auf diesem Planeten?« »Dr. Jager.« »Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung. Ich erwarte ihn heute abend um sieben Uhr bei mir.« Dick, in mittlerem Alter und sehr leutselig, fand sich Dr. Jager ohne Mühe in die Rolle eines Bekannten hinein, der zufällig vorbeigekommen war. Er trieb eine Menge Scherze, bezog Tatiana mit in die Unterhaltung ein, indem er ab und zu eine Bemerkung an sie richtete, und führte sogar ein langes Scheingespräch mit ihrem Teddybär. Zweimal in dieser Stunde kam sie in seine Welt, gerade lange genug, um ihm ein flüchtiges Lächeln zu zeigen — dann kehrte sie wieder in ihre Verschlossenheit zurück. Danach ließ er durchblicken, daß er mit Tatiana allein gelassen werden wollte. Korman ging hinaus, überzeugt vom Mißerfolg dieser Unterredung. Mary saß im Nebenzimmer und blickte ihn fragend an. »Wer ist dieser Besuch, David? Oder geht mich das nichts an?« »Eine Art von Spezialist für seelische Angelegenheiten. Er untersucht Tatiana.« »Wirklich?« Wieder diese Freundlichkeit, die er nicht leiden mochte. »Ja«, gab er giftig zurück. »Wirklich.« »Ich wußte nicht, daß du an ihr interessiert bist.« »Bin ich auch nicht«, versicherte er ihr. »Aber Reed. Und ich stelle noch einmal fest, daß Reed mein Sohn ist.« Sie ließ das Thema fallen. Korman beschäftigte sich mit einem Schriftstück, bis Jager fertig war. Dann ging er in das Wohnzimmer
zurück. Er blickte sich suchend um. »Wo ist sie?« »Das Kindermädchen hat sie geholt. Es sei Zeit für sie, zu Bett zu gehen.« »Oh.« Er setzte sich, auf eine Erklärung wartend. Jager lehnte sich gegen den Tisch. »Ich weiß da einen kleinen Trick, um verängstigte, verschüchterte Kinder zum Sprechen zu bringen. In neun von zehn Fällen habe ich damit Erfolg.« »Worin besteht er?« »Ich überrede sie dazu, etwas zu schreiben. Darauf gehen sie seltsamerweise oft ein, besonders wenn ich ein Spiel daraus mache. Unmerklich bringe ich sie dazu, über ein Erlebnis zu schreiben, das einen großen Eindruck auf sie hinterlassen hat. Die Ergebnisse können sehr aufschlußreich sein.« »Und haben Sie —« »Einen Augenblick, bitte, Mr. Korman. Bevor ich fortfahre, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Kinder gewöhnlich ein angeborenes Talent besitzen sich auszudrücken, um das sie mancher Schriftsteller beneidet. Sie vermögen ihre Gedanken mit einer beachtenswerten Lebendigkeit in einfacher Sprache und in knappen Sätzen darzulegen.« Er sah Korman nachdenklich an. »Sie kennen die Umstände, unter denen Ihr Sohn dieses Kind fand?« »Ja, er schrieb es uns.« »Nun, angesichts dieser Umstände werden Sie dies außergewöhnlich finden.« Er reichte ihm ein Blatt Papier. »Sie schrieb es ohne fremde Hilfe.« Er griff nach seinem Hut und Mantel. »Gehen Sie schon?« fragte Korman erstaunt. »Und Ihre Diagnose? Welche Behandlung schlagen Sie vor?«
Dr. Jager blieb stehen, eine Hand auf dem Türgriff. »Mr. Korman, Sie sind ein intelligenter Mensch.« Er deutete auf das Blatt Papier in Kormans Händen. »Ich denke, das genügt.« Er ging. Korman schaute auf das Blatt Papier. Es war nicht voll beschrieben, wie er erwartet hatte. Die Erzählung war reichlich kurz. Er las sie. Ich bin nichts und niemand. Mein Haus ging kaputt. Meine Katze wurde an die Wand geworfen. Ich wollte sie holen. Ich durfte nicht. Sie warfen sie weg. Und wieder spürte er die Kälte in seinem Inneren hochkriechen. Er las die Zeilen ein zweites Mal. Dann ging er zur Treppe und schaute nach oben, wo sie schlief. Er war es, der sie zu einem Nichts gemacht hatte. Stundenlang fand er keinen Schlaf. Gewöhnlich hatte er sich in der Gewalt und konnte sein Denken beliebig, zu jeder Zeit abschalten. Jetzt hatte ihn eine seltsame Unruhe ergriffen. Etwas Unerklärliches hielt seine Gedanken gefangen und zwang ihn zu unerfreulichen, quälenden Träumen. Oft erwachte er in dieser Nacht, grauenvolle Bilder einer unendlichen gähnenden Leere bestürmten ihn, einer Leere, in der kein Laut, keine Stimme zu vernehmen waren, kein menschliches Wesen lebte. Dann kamen wieder die Träume, qualvoller als diese Bilder, in denen über einem verwüsteten Land schwere Rauchwolken lasteten, in denen der Himmel angefüllt war vom Heulen der Granaten, in denen todbringende Ungeheuer auf ihren eisernen Ketten rasselten und vom Tode gezeichnete Männer in endlos langer Reihe ein uraltes, längst vergessenes Lied sangen. »Hinter dir blieb Angst und Schrecken und Tod.« Er erwachte müde und zerschlagen. Im Büro hatte sich diesen
Morgen alles gegen ihn verschworen. Er war außerstande, sich zu konzentrieren, und oft ertappte er sich dabei, wie er gerade im Begriffe war, schwerwiegende Fehler zu begehen. Ein oder zweimal geschah es ihm, daß er nachdenklich vor sich hinstarrte, mit leeren, ausdruckslosen Augen, die etwas sahen, was sie noch nie zuvor gesehen hatten. Um drei Uhr nachmittags meldete sein Sekretär über die Sprechanlage: »Sternführer Warren möchte Sie sprechen, Sir.« »Sternführer?« wiederholte er und glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Ich kenne keinen solchen Titel.« »Ein Abgesandter des Drachen.« »Ach ja, natürlich. Ich lasse bitten.« Er wartete mit leisem Unbehagen. Der Drache bildete einen mächtigen Verband von zehn Planeten. Die Entfernung bis dahin war so groß, daß Morcine selten mit ihm zu tun hatte. Zweimal in seinem Leben war eines ihrer Kriegsschiffe zu einem Höflichkeitsbesuch nach Morcine gekommen. Es mußte also ein besonderer Anlaß für diesen Besuch vorliegen. Der Besucher kam herein, ein breitschultriger junger Mann in einer hellgrünen Uniform. Sie schüttelten sich höflich und mit großer Herzlichkeit die Hände. Korman bot dem Besucher Platz an. »Eine Überraschung, Mr. Korman, nicht?« »In der Tat.« »Wir hatten es verteufelt eilig, konnten die Strecke aber unmöglich in einem Tag zurücklegen. Die Entfernung ist zu groß.« »Ich weiß.« »Die Lage ist folgende«, erklärte Warren. »Schon vor längerer Zeit wurde Lani durch die Vermittlung mehrerer kleiner Planeten bei
uns vorstellig. Sie seien in eine ernsthafte Auseinandersetzung verwickelt und befürchteten einen Krieg. Sie appellierten an uns, als unparteiische Dritte Unterhandlungen zu führen.« »Ist das der Grund Ihres Hierseins?« »Ja, Mr. Korman. Wir hatten wenig Aussicht, noch rechtzeitig eingreifen zu können. Es blieb uns nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich zu kommen und das Beste zu hoffen. Die Rolle eines Friedensstifters steht jedem zu, der Anspruch darauf erhebt, zur Zivilisation zu gehören.« »Wirklich?« Korman ließ den Blick nicht von seinem Besucher. »Und deshalb haben wir sie übernommen.« Warren hielt seinem Blick stand. »Auf dem Wege hierher sind wir auf Lani gelandet. Sie wollen noch immer den Frieden. Sie werden den Krieg verlieren. Ich habe deshalb nur eine Frage: Kommen wir zu spät?« Das war die Frage, von deren Beantwortung alles abhing: Kommen wir zu spät? Ja oder nein? Korman überlegte. Vor nicht allzu langer Zeit noch hätte die Antwort keiner Überlegung bedurft. Heute dachte er darüber nach. Ja oder nein? Ja bedeutete militärischen Sieg, Macht und Furcht. Nein bedeutete — was? Nun, ein Nein bedeutete den Sieg der Vernunft über die Halsstarrigkeit. Bedeutete eine beachtenswerte Änderung seines Standpunktes. Es kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß jemand über eine unbeugsame Charakterstärke verfügen mußte, um einen lange gehegten Standpunkt fallen zu lassen und eine andere Meinung anzunehmen. Dazu ist moralischer Mut erforderlich, den ein Schwacher, ein Feigling niemals aufzubringen vermochte. »Nein«, erwiderte er bedächtig. »Es ist nicht zu spät.« Warren erhob sich. Seine Miene verriet, daß er auf diese Antwort nicht gefaßt gewesen war. »Sie meinen, Mr. Korman —?«
»Ihre Reise war nicht vergeblich. Sie können verhandeln.« »Auf welcher Grundlage?« »Der gerechtesten, die unter diesen Umständen möglich ist.« Er schaltete die Sprechanlage ein. »Übermitteln Sie an Rogers folgenden Befehl: Unsere Truppen sollen alle Feindseligkeiten bis auf weiteres einstellen. Während der Friedensverhandlungen verbleiben die Truppen in ihren Stellungen. Abgesandten der Union des Drachens ist unbeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb unserer Linien zu gewähren.« »Jawohl, Mr. Korman.« Er schob das Mikrofon beiseite und fuhr fort: »Lani liegt räumlich gesehen sehr weit von uns entfernt. Dennoch bilden wir eine kosmische Einheit. Ich würde es gern sehen, wenn Lani damit einverstanden wäre, eine Union mit unserem Planeten einzugehen, einen Bund als gemeinsame Grundlage für die Entfaltung unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten. Aber ich bestehe nicht darauf. Ich habe nur einem Wunsch Ausdruck verliehen und weiß wohl, daß manche Wünsche nie in Erfüllung gehen.« »Der Vorschlag wird einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden«, versicherte Warren. Überglücklich reichte er Korman die Hand. »Sie sind über sich selbst hinausgewachsen, Mr. Korman.« »Glauben Sie?« Er lächelte wehmütig. »Ich versuche nur, mir eine andere Denkweise zu eigen zu machen. Die ursprüngliche ist sozusagen — verbraucht.« Nachdem sein Besucher gegangen war, warf er einen Stapel Schriftstücke in den Schreibtisch. Die meisten waren nutzlos geworden. Seltsam! Es schien ihm, als könne er jetzt freier atmen als noch vor einer Stunde. Seinem Sekretär sagte er im Vorübergehen: »Es ist noch früh,
aber ich gehe nach Hause. Rufen Sie mich an, wenn etwas Wichtiges vorliegen sollte.« Der Fahrer warf die Tür seines Wagens zu, als Korman die sechste Stufe betrat. Ein Schwächling, dachte er, als er die Haustür hinter sich schloß. Ein Feigling ist jeder, der nicht den Mut aufbringt, ein vertrautes, liebgewordenes Geleis zu verlassen. Es ist gefährlich, einem Geleis zu lange zu folgen. Das Kindermädchen kam ihm entgegen. »Wo ist meine Frau?« »Vor zehn Minuten ausgegangen, Sir. Sie sagte, sie käme in einer halben Stunde zurück.« »Allein oder mit —« »Allein, Sir.« Sie deutete auf das Wohnzimmer. Behutsam öffnete er die Tür und fand das Kind auf dem Sofa, mit geschlossenen Augen nach hinten gelehnt. Daneben spielte leise das Radio. Er glaubte nicht, daß sie es selbst angeschaltet hatte und dem Programm zuhörte. Viel wahrscheinlicher war, daß jemand vergessen hatte, es auszuschalten. Auf den Zehenspitzen betrat er das Zimmer und stellte die leise Musik ab. Tatiana schlug die Augen auf und setzte sich aufrecht. Er ging zu ihr, nahm den Bären, der neben ihr lag, in einen Arm und setzte sich neben sie. »Tatiana«, fragte er mit einer ungewohnten Zärtlichkeit. »Warum bist du nichts?« Keine Antwort. Sie rührte sich nicht. »Weil du niemanden hast?« Schweigen. »Niemanden, der zu dir gehört?« drang er in sie, der Verzweiflung
nahe. »Nicht einmal ein Kätzchen?« Sie schaute zu Boden, ihre Augen unter den langen Wimpern verborgen, ohne eine Antwort zu geben. Er hatte verloren. Wie bitter war das Gefühl einer Niederlage. Seine Finger verkrampften sich ineinander wie die eines Menschen, der sich in großer Not befindet. In seinem Kopf dröhnte es: Ich bin nichts. »Meine Katze... sie warfen sie weg.« Irrend ging sein Blick durch das Zimmer, verzweifelt suchte er nach einem Weg, die Mauer ihres Schweigens zu durchbrechen. Gab es keinen Weg? Doch, es gab einen. Ganz unverhofft hatte er ihn gefunden. Leise, als spreche er zu sich selbst, murmelte er vor sich hin: »Schon als ganz kleines Kind war ich von vielen Menschen umgeben. Mein ganzes Leben lang waren immer Menschen um mich. Aber keiner gehörte zu mir. Kein einziger. Auch ich bin nichts.« Sie streichelte seine Hand. Er empfand die Berührung wie einen elektrischen Schlag. Glücklich schaute er auf die kleine Hand, die scheu über die seine fuhr und sofort wieder zurückgezogen wurde. Tief drinnen, in seinem Herzen, begann etwas zu wachsen, das er nicht zu fassen vermochte. Er legte den Arm um sie und zog sie auf seinen Schoß, legte seine Wange an ihren Kopf und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Behutsam und zärtlich fuhr er ihr mit seiner großen, ungeschickten Hand durch das Haar und wiegte sie sanft auf seinen Knien. Sie weinte. Bisher waren ihr die Tränen versagt gewesen. Jetzt
weinte sie, nicht wie eine Frau, leise und unterdrückt, sondern wie ein Kind, mit herzerweichendem Schluchzen, gegen das sie tapfer ankämpfte. Ihre Arme hatte sie um seinen Hals geschlungen, sie drängte und klammerte sich an ihn, während er sie sanft in seinen Armen hielt, leise mein Kleines zu ihr sagte, sie tröstend mit der Hand streichelte und ihr tausend törichte, gütliche Worte ins Ohr flüsterte. Das war sein Sieg. Originaltitel: I AM NOTHING