ERNST F. L Ö H N D O R F F
Ultima Esperanza Ein
Schicksal
auf
Feuerland
Tierra del Fuego, die großartig einsame We...
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ERNST F. L Ö H N D O R F F
Ultima Esperanza Ein
Schicksal
auf
Feuerland
Tierra del Fuego, die großartig einsame Welt der Kap-Horn-Stürme, der ewigen Brandung an den zerklüfteten Küsten und der endlosen Pampas im Lande, der Friedhof gescheiterter Schiffe und Menschen und dennoch das lockende Ziel der Abenteurer aus aller Herren Ländern, diese Welt Feuerlands ist der Schauplatz des neuen Romans von Ernst F. Löhndorff. Er erzählt die Geschichte vom meteorhaften Aufstieg und jähen Sturz des Julius Popper, des Goldsuchers und ungekrönten „Königs von Feuerland". Nur ein Autor wie Löhndorff vermag es, mit atemberaubender Realistik ein solches Leben, ein solches Land und solche Menschen zu schildern. Ein Einzelschicksal, bewegend in seinem Kampf und durch den leidenschaftlich-schmerzlichen Roman einer Liebe, das Epos von der Bewährung echter Männer, und hinter allem: die ewige Legende vom Gold.
CARL
SCHÜNEMANN VERLAG, B R E M E N
E R N S T F. L Ö H N D O R F F
ULTIMA ESPERANZA AUFSTIE G U N D ENDE DES »KÖNIG S VO N FEUERLAND «
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
CAR L S C H Ü N E M A N N / VERLA G / BREME N
11. bis 20. Tausend
Umschlagentwurf nach einer Idee des Verfassers von Otto Popp, Bremen Einband von Hans J. Buchmann, Bremen Alle Rechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten • Copyright 1950 by Carl Schünemann, Verlag, Bremen • Printed in Germany 1953 • Schünemann-Druck, Bremen - Bindearbeiten von Klemme & Bleimund, Bielefeld.
Dedicated to my dear old Penguin! E. F. L.
Inhalt: Seite
Requiem Kap-Horn-Rhapsodie Stimme des Ozeans Sieben-Meere-Bar Ethnologie Der Fitzroy-Kanal Robinsone am Ende der Welt Die Gerechten von Feuerland Wo das Gold liegt Schütze die Goyim Alle Pinguine der Welt Sie kam aus dem Wasser Wulaia Was Abraham Braun sagte Esperanza Don Ramón Lista Beschützer der Verfolgten Ushuaia Jack Einsame Frau Ihr braucht's nur aufzuklauben Verschiedene Wünsche El Paramo Wie es glänzt und schimmert Das Schiff „Ultima Esperanza" Beppo
. .
9 11 15 24 33 38 41 46 56 62 71 81 95 99 106 110 120 126 131 136 140 146 148 151 156 161
Winter Wilde Banditen Arme, arme Menschen Soldaten Das Lied der Caprifischer Josephina Geplänkel Ein Brief aus Ushuaia Stirb und werde Pyrrhussieg König von Feuerland Ich komme zurück, sagt er Le Roi est mort
167 173 178 184 188 193 196 200 , . 205 211 223 228 233 237
Requiem . . . es war einmal in Buenos Aires. In einem fashionablen Hotel dieser Metropole wurde ein Toter gefunden. Angekleidet, das Gesicht von der Agonie krampfhaft entstellt, lag er quer auf dem breiten, zerwühlten Bett. Auf dem runden Mahagonitisch des in abgenütztem roten Samt und unechter Goldleistenspiegelpracht schäbig glühenden Zimmers sah man ferner eine geleerte Portweinflasche, zwei Gläser — davon eines scheinbar sauber — und einen Aschenteller voller Zigarrenstummel. Untersuchung und Obduktion ergeben tödliche Zyankalivergiftung! Selbstmord? Eine derartige, schnellfertig begründete Hypothese wäre in einer Großstadt nichts Besonderes: ein paar Zeilen Kleinstdruck im Polizeibericht der Blätter, und die Affäre ist abgetan. Paciencia, amigos! Geduld, Freunde! Denn der da sterben mußte, ist eine bekannte Persönlichkeit, dessen Taten wieder und wieder die argentinische und chilenische Presse mit Sensationen fütterten. Ein Eroberer, der nur einige Jahrhunderte zu spät auf die Weltbühne trat, und deshalb durfte er seine Conquista nicht behalten . . . Ein merkwürdiger Mann. Aber ein Mensch und keine skrupellose, herzlose, zweibeinige Bestie. Einst Offizier, dem der seelenlose europäische Gamaschendienst zu inhaltslos wurde, dann Abenteurer im besten Sinn, Goldsucher, Unternehmer, Naturforscher, Gelehrter. Ein Träumer wohl auch, aber einer, der seine Schlösser im Mond mit unbeugsamer Energie auf Erden verwirklichte. Er hinterließ der Welt seine eigene, wunderbar farbige Lebensgeschichte, aus der wir unter anderem entnehmen, daß er ein 9
Geologe und Topograph ersten Ranges war, der eine der ersten, wirklich brauchbaren Karten von Feuerland und Patagonien zeichnete. Zudem war er Freelancejournalist und Jurist genug, um seine eigene gute oder schlechte Sache mit glänzendem Schmiß zu verfechten. Und — ein wahrer Freund seiner Freunde. Ja, er war schon ein Kerl, dieser Mann, der kühn die damalige argentinische Regierung angriff und den korrupten Gouverneur von Feuerland in Ushuaia, jenem seelenlos finsteren Schwerverbrecherzuchthaus am „Aussteigeplatz der Welt", mit List, Diplomatie und, als es nicht anders ging, mit Waffengewalt lange Zeit in Schach hielt. Ein höchst kurioses Individuum war er und in Abständen daher auch immer wieder eine südamerikanische Pressesensation: Ein Gentleman von besonderer Art, der einfach, weil er sich im Recht dünkte, einem ganzen Land den Fehdehandschuh hinwarf. „So einer, und Selbstmord? Wenn das wahr wäre, so würden sogar die Götter im Olymp lachen!" schreibt ein kleines bissiges, in einer obskuren Nebengasse des „Paseo de Julio" redigiertes, oppositionelles Boulevardblättchen. „Mord!" schreiben die andern. Und: „Täter oder Täterin?" ist nun die Frage. Wer brachte es fertig, mit diesem fremdländischen Gringo, der mit allen Wassern gewaschen, von allen Hunden gehetzt und dennoch ein echter Caballero war, friedlich bei Havannahs und Old Mellow Port zu plaudern, ihm dabei Gift ins Glas zu praktizieren und endlich gar zu verhindern, daß er im kurzen, aber schweren Todeskampf Lärm schlug? Bei der Madonna, wer konnte das Zeug dazu gehabt haben, zu guter Letzt auch noch das eigene Glas auszuspülen und darauf spurlos, aber auch wirklich spurlos zu verschwinden?! War es einfacher Raubmord oder vielleicht ein galantes Schäferstündchen, mit vorbereitet tragischem Eifersuchtsdrama? Wer, wer . . ? . . ? Bizarre Theorien und Gerüchte rascheln und flackern wie Pampero und Steppenbrand durch die Zeitungen. Und verrauschen, 10
ersticken, verklingen im bezaubernd gemütlichen Leitmotiv Lateinamerikas: Quien sabe? Mañana. . . . und der auf Gold aufgebaute Kleinstaat, den dieser Geheimnisvolle in „El Paramo" auf Feuerland schuf, verlor nun endgültig in ihm den letzten, noch übriggebliebenen Mann. Unwillkürlich drängt sich der Vergleich mit dem unfreiwilligen, gutherzigen, dem „armen" Goldkönig von Californien auf, jenem biederen menschenunkundigen Schweizer „General" Johann Sutter. Aber beider Charakter und Leben waren gänzlich verschieden . . .
Kap-Horn-Rhapsodie Hat man heute in unsern, von Kriegen und sonstigen finsteren Zukunftsdrohungen so reichen, schnell ebigen Tagen den sagenhaft gewordenen ungekrönten König von Tierra del Fuego schon vergessen? Fragt in den Kneipen, Bars und Klubs von Punta Arenas (das sie heute zu Ehren des großen Seefahrers „Magallanes" nennen), erkundigt euch in Ushuaia und andern Orten. Forscht auf den Estancias der Millionen Schafherden oder auch bei den Pelzjägern und unentwegten Goldsuchern. Auch bei den Arbeitern in den wenigen Kohlenminen könnt ihr Nachfrage halten. Oh, da erinnert man sich noch an den Caballero Julius Popper, genannt „Don Julio" oder „El Coronel" oder „The Colonel"! Nur wenige existieren mehr, die ihn selber kannten; aber alle wissen von ihm und haben eine wahre Saga aus Dichtung und Wahrheit zusammengesetzt und mit den wunschkräftigen Bildern blühender Phantasie umwoben. Es sind einzelne abenteuerstrotzende Bruchstücke, die sich zur schillernden Kette reihen, wenn man sich müht, die losen Perlen aufzuziehen. Eine Geschichte von Tierra del Fuego, Patagonien und dem schwarzen, schneeumwirbelten, Schiffe und Menschen mordenden Kap Horn. Eine Chronik, die 11
noch keinen phantasiebegabten Jack London oder Joseph Conrad fand. Nun, dieser Julius Popper stammte aus dem Banat. Als ihm das alte Europa zu eng wurde, quittierte er seine Offizierslaufbahn und reiste, von einer seit Jahren gehegten und theoretisch sorgfältig ausgearbeiteten Idee besessen, in die Neue Welt. Er reiste direkt, soweit es bei den Transportmitteln möglich war, nach dem untersten Zipfel Südamerikas, wo der eisige Gradbogen der Antarktis das wilde Land anhaucht und wo dem Laien unvorstellbare, schwärzliche Riesenwogen zweier Ozeane, vom Orkan gepeitscht, brüllend und rauschend gegen das böse Kap Horn schmettern. Kap Horn: Stolz und Schrecken der Segelschiffsmänner, die auf hölzernen und eisernen Kästen fuhren und eiserne Herzen hatten und so die schwarzmarmorierten, weißmähnigen Titanenrosse der See entweder besiegten oder von ihnen verschluckt wurden. Dort schiebt der prachtvolle, zweitausendvierhundert Meter hohe Monte Sarmiento sein eisiges Haupt aus Dunst, Nebel und Wolken; er wirkt gewaltig und unbeschreiblich hoch, weil er im Schmuck seiner ungeheuerlichen Gletscher, wunderstrotzenden Buchten und zahllosen Kanäle auf einmal, ganz ohne Vorland, aus dem Meer steigt. Und es dehnen sich da ineinanderverfilzte, nasse oder frostglatte Urwälder unter einem grauen, tropfenden oder schneeflockenwirbelnden Himmel unheilvoll aus. Schwermütige triste Steppen verlieren sich in violetter Unendlichkeit . . . Bisweilen aber, wenn die Sonne des kurzen Sommers strahlt und funkelt, dann ist Feuerland wie ein herrliches Märchen der Natur . . . Punta Arenas liegt auf Patagonien, doch dem Nimbus nach gehört es eigentlich zur großen Insel Feuerland. Heute heißt dieser allen Seefahrern mindestens dem Namen nach bekannte Ort „Magallanes". Er ist eine mit Luxus und Bequemlichkeit versehene kleine „Großstadt" von rund 35 000 Einwohnern geworden. Aber immer noch erkennt man, wenn man die Plaza mit den schönen 12
Häusern verläßt, die alten Bretterbuden von einst, jene Wellblechsiedlung, deren abenteuerliches Leben so vielen englischen und amerikanischen Romanmagazinen Stoff lieferte. Und immer noch heißt sie mit mehr oder weniger Recht: der „Aussteigeplatz" der Welt. Denn viele, die hingingen oder hingehen, haben alle Brücken hinter sich abgebrochen. Es lockte und lockt sie immer wieder der fast greifbare, in Wahrheit jedoch so dürftige Glanz des roten und gelben Goldes! Es winkten und winken Vermögen, an Edelpelzen zu verdienen, obwohl die Nutria dort heute fast ausgerottet wurde. Und für diejenigen, die ihr Herz vor sich in den Wind werfen, schimmern dort unsagbare, mit brennenden Sinnen zu erlebende Erlebnisse. All das zieht die namenlosen Außenseiter vieler Länder an, die sich dem trügerischen Goldgefunkel auf Gedeih und Verderb verschrieben und sang- und klanglos für immer aus der Welt verschwinden; oder auch plötzlich als tüchtige Geschäftsleute wieder auftauchen . . . Seit Goethals das technische Wunder des Panamakanals vor die bis zuletzt ungläubigen skeptischen Augen einer pessimistischen Welt fertig hinstellte, laufen nicht mehr viele Dampfer durch die Magellanstraße oder die Straße Le Maire oder navigieren vorsichtig um Staaten Island herum. Und jene herrlichen Schwäne aus dem Märchen der Wahrheit, ich meine „die letzten Segelschiffe", von denen heute noch rostige Wrackreste in brüllender Brandung auf schwarzen Klippen sitzen, wo sie milchiger Gischt umtost, ruhelose Möwen und Albatrosse sie umflattern und dunkle Robben um sie herumspielen, ja diese letzten Zeugen einer alten harten Romantik, die nach oder von den Salpeter- und Guanohäfen der Westküste oder für Weizen nach Portland-Oregon und von dort erst nach Australien segelten, sie sind nun nach dem zweiten Weltkrieg (nachdem sie der erste fast dezimierte) wohl bis auf wenige, wie prächtige Anachronismen wirkende Schiffe von den sieben Meeren verschwunden. Verschwunden auch oder zurückgedrängt sind die wetterharten 13
Indios, die stelzenden Strauße, die Viscachas und weichfelligen Guanakos. Auf Pampas und Ebenen weiden jetzt nur noch Millionen blökender, mit köstlichem Vlies geschmückter australischer Schafe, und es sieht aus, wenn man von einem Bluff auf sie hinabschaut, als ob breite Flüsse, Ströme und Seen langsam, ziellos, wie weißliches Gold und grelles Silber, über das dunkle Land hin- und herfluten. Und wenn der lange Winter kommt, mit tiefem, tiefem Schnee, so verschmilzt alles, Tier und Erde, uferlos, hellaufleuchtend und funkelnd, oder schattenlos fahl, zum leise klagenden Ganzen . . . Feuerland: Urwelt wildester, majestätischer Größe, düsterer Schwermut, dunkler heroischer Taten und Tragödien, aber auch solcher von wunderbar lieblicher Reinheit — von Freundschaft und Bruderschaft zwischen Natur, Mensch und Tier. Feuerland: Nest der klirrenden Fröste, kalter peitschender Regen, heulender Nordoststürme. Heimat merkwürdiger Eingeborener, seltsamer Tiere. Fanfaren der Antarktis gleich, lodern kurze Sommer fackelbunt zwischen langen Wintern, und dann steigert sich die Schöpfung zu Paradoxen, die dem Zoologen wundersame Rätsel stellen: farbenprächtige Papageien, langbeinige Nandus oder Avestruzes (Strauße), seidenlockige Guanakos, edelsteinschimmernde Kolibris, stolze schneeweiße Schwäne mit schwarzen Hälsen und Köpfen, Flamingos, die beim Aufflattern den Himmel in eine tönende, rauschende, rosigscharlachene altchinesische Ochsenblutschale verwandeln, — solche Tropengeschöpfe siehst du dann dicht neben dem spautenden Wal, neben grunzenden Seals, naiven See-Elefanten, herrlichen Albatrossen und stellenweise fast unübersehbaren Nationen grotesk lustiger, kindlich vertrauender, liebenswert harmloser, wie verzauberte Menschen einherwatschelnder Pinguine. Aus einsamer Höhe aber stößt der Seeadler. Und von schwindelnden, kluftreichen Zinnen schraubt sich der riesige Condor in die Tiefe, wo seine Augen das gefallene Schaf oder Kaninchen erspähten . . .
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Klingende Namen von Seefahrern, Entdeckern und Abenteurern, gleich unsterblichen Melodien, geistern um und über Tierra del Fuego, Patagonien, die Magellanstraße, die Straße Le Maire und Kap Horn. Feuerland: Weltende, wo Atlantik und Pazifik in donnernder dunkler Symphonie einander in die Arme prallen oder — rar sind solche Tage! — zärtlich lispelnd, in Gold und Silber und Perlmutt gehüllt, sich traumsüß taumelnd vermählen . . . Dies alles ist der bunte Rahmen des geheimnisvollen, wilden Landes, in dessen Mitte für viele Jahre die Figur des Julius Popper stand. Die Natur tat ihm nichts, sie schenkte ihm und den Seinen sogar fast mühelos unerhörte Goldschätze, wie keinem zuvor oder nachher. Aber unter den Menschen, die ihm sein Recht weigerten, verlor er alles. Und sie raubten ihm endlich, als er zum letzten Mal in die ferne Hauptstadt Buenos Aires fuhr, um dieses Recht zu verteidigen und wiederzugewinnen — wer kennt die wahren Zusammenhänge und wer kann darüber urteilen? — das Leben. Es ist die moderne Saga Feuerlands und des Don Julio und auch teilweise diejenige der „Frau, die aus dem Wasser kam" und die ihm den Sohn gebar, den der Vater, gleichsam als Omen seines eigenen düsteren Endes prophetisch „Julio Ultima Esperanza" taufte. Ultima Esperanza — so nennen sie noch heute das Land: „Letzte Hoffnung".
Stimme des Ozeans . . . und hörst du das kalte, wasserstaubatmende Meer verhalten brausen, grollen, glucksen und zischen? Und siehst du dort drüben, ah, dort liegt . . . „Ja, das ist die Küste. Aber es kann noch gute Weile dauern, ehe wir an Land gehen, Colonel Popper, dear!" In diesiger, kältedampfender, seidiggrauer Luft segeln so wunderbar leicht mit weitausgespannten, fast immer reglosen 15
Schwingen die stolzen Herolde der Antarktis und des schwarzen Kap Horn, die schneeweißen, riesigen Albatrosse. Schieferfarbenes, stumpfschwarzes, creme- und silbrigmarmoriertes Wasser. Aus unermeßlicher Tiefe grollt es wie noch verhaltene, sich zum ekstatischen Ausbruch vorbereitende Titanenkraft. In breiten Wogen tollt es einher . . . „Was meinen Sie, Käpten Walker?" Der schlanke Mann mit dem van-Dyck-Bärtchen unterbricht seine Musterung der schemenhaften Küste, wo er — nur er weiß es bestimmt, und ein frohes, festes Lächeln geht über sein Gesicht — sagenhafte Reichtümer finden wird. Er nimmt den Kieker vom Auge, hält sich mit der Linken am Leewant fest. „Weshalb?" wiederholt er, und sein Englisch ist sorgfältig, korrekt und langsam, wie auf wankenden, aber doch nicht fehlenden Stelzen schreitend. „Ostwind! Darum! Sehen Sie doch genau hin!" sagt der Yankeeschiffer des guten, in Montevideo beheimateten, aber unter argentinischer Flagge segelnden Schuners „Muchacha Feliz". „Wissen Sie, Colonel, dear, wenn der kleine Schlepper der Kohlenstation uns nicht einbringt, weil er gerade woanders steckt oder weil sein Käpten keine Lust hat, da er recht gut weiß, daß er von mir keinen Cent für diesen Freundschaftsdienst kriegen wird, oder weil er 'nen Longdrink in der „Seven Seas Bar" schluckt, und wenn der Wind nicht schralt, dann können wir hier beigedreht schwabbeln und von Zeit zu Zeit halsen und 'nen kurzen Schlag kreuzen. Damit uns nicht dort drüben der Hals voll Salzwasser läuft! — Vielleicht einen Tag oder zwei oder mehr. Quien sabe, wer weiß es! sagt man hierzulande!" Der Seemann schnellt sein Priemchen aus dem Mund. Noch ehe das zerkaute Tabaksklümpchen das Wasser berührt, ist es von einer im Gleitflug herbeischießenden, schwarzweißen Kaptaube in freier Luft geschnappt und verschluckt. „Das war eine lange Erklärung, Mister! Rede sonst nicht so viel, wie Sie wissen, aber man ist gefällig. Und Sie, Colonel, dear, 16
haben was an sich, das . . . " Er deutet auf die bunte Männergruppe, die sich mittschiffs und auf der Back staut. Bärtige Gesichter spähen nach der wieder und wieder, gleich einem Zauberstück, aus Dünsten tauchenden und verschwindenden Küste. Arme und Hände gestikulieren, rollende Worte, in den weichen Balkansprachen oder in Spanisch und Italienisch, kommen achteraus geweht, wo die beiden hinter dem Rudersmann stehen. „Eine tolle Brüderschaft! Erstaunlich ist mir's immer von neuem, daß diese holden Knaben Ihnen so sanft auf Wort und Wink folgen, Mister! Wochenlang hab ich's nun gesehen und gehört, aber es geht jedesmal über meinen Horizont, der in Nantucket, woher die besten Seeleute und Schiffe der Welt kommen, groß geworden ist!" brummt der Amerikaner. . . . und schrill schneidet der Sturm um Stagen, Want und Takelage. Pardunen summen und vibrieren, gleich abgestimmten Harfensaiten . . . Gutmütig erwidert Popper: „Es sind ja fast alles Landsleute von mir. Ehrliche Burschen, die zwar etwas herunterkamen, weil sie Pech in Argentinien hatten; das kann jedem passieren. Ich habe die meisten in Buenos Aires zusammengetrommelt!" „Salonpuppen und Stehkragenjohnnies kämen auch nicht weiter an der Teufelsküste dort drüben, die an der einen Seite Patagonien und an der andern Feuerland heißt. Wahrscheinlich deshalb, weil's so unmenschlich kalt ist. Colonel, nehmen Sie's nicht übel, ich hab's ja schon öfters gesagt und fange wieder davon an: daß Sie dort drüben Gold finden wollen und zwar in Mengen, daß sich's rentiert, seien Sie mir nicht böse — halte ich für ein bißchen, na, Sie wissen schon!" „Verrückt? Das wollen Sie doch sagen, Käpten Walker!" Der Yankee verzieht das scharfgeschnittene, kluge Gesicht: „Well, das meine ich. Gott weiß, ich gönn's euch allen, besonders Ihnen. Denn Sie sind ein netter, ehrlicher Gent. Aber eher gibt's dort an Land Ananasplantagen, Porzellanpagoden und Radschahs, die auf weißen Elefanten reiten, als viel Gold. Die paar Körner, 17
die von halbverhungerten Prospektoren hin und wieder gefunden werden, zählen ja nicht." Bedauernd blickt er dem Rumänen in die braunen Augen. . . . und Albatrosse durchsegeln mühelos die heulenden Lüfte, in denen der emporgeschleuderte Meeresstaub verdampft. Wunderbar schön gebaut, schrankenlos frei, gebieten sie mühelos dem Aufruhr, kreisen und schwenken hin und her, auf und nieder. Scharf ist ihr wildmelancholischer Schrei und sphinxhaft, geheimnisvoll das große Auge. Auf den rollenden, klatschenden, dröhnenden Wogen und ihren Kämmen reiten und schaukeln, wie Flocken, zu Sippen und Familien geordnet, unermüdlich schwatzend, zankend, Hunderte der kleinen Kaptauben . . . Während der Nacht hatte der Schoner mit fliegender Brise Kap Virgenes umrundet und navigierte glücklich durch die flaschenförmige Bucht mit den zwei engen Wasserstraßen. Nun fegte ihm plötzlich der Sturm in die Zähne, und beigedreht schlingern sie auf dem wieder offenen und weiten Fahrwasser. In kurzen Stunden könnten sie am Ziel vor Anker gehn, wenn jetzt dieser kleine Oststurm nicht wäre. Vorne blitzt es zeitweilig auf. Dort rennt die polternde See gegen eine trostlos aussehende Küste an. Dort ballt sich hinter flachem Sand und einem Geröllgürtel niederes Bergland, kugeln Wolken, verschmelzen ineinander und bilden ein merkwürdig geisterhaftes Gemälde: Aus schwelendem Grau, tiefen bleifarbenen unruhigen Dünsten, flatternden, eilenden milchigen Nebeln und hoher Brandung tauchen ab und zu schattengleiche Gegenstände auf — etwas wie ein kleiner Kai, ein Kran und eine hohe schräge Kohlenschute, nackte Masten kleiner Segler, ein dicker kurzer Dampfer. Alles torkelt hin und her. Bohrt sich aus Dunst und Gischt. Erlischt in kreisenden Nebeln, kommt wieder hervor. Unaufhörlich. . . . weiß und gefährlich blitzt die Brandung. Tief, eintönig und dennoch von einer leidenschaftlichen wilden Wucht sind die Geräusche der Wasser, die, von zwei entgegengesetzten Polen 18
gekommen, sich am Kap Horn, dort hinten, weit hinten, rauschend vermengen . . . „Vierzig Jahre befuhr ich die sieben Meere. Davon die letzten Zehn in dieser Gegend, wo der liebe Gott dem Satan einen Zipfel Welt und, was drauf und darum ist, übergeben hat. Und habe allerlei Volk getroffen. Gute und böse, interessante und langweilige Menschen, Leute aus vielen Nationen. Aber noch nie einen nettern und leider gleichzeitig sonderbareren Gent gefahren, als Sie sind, Mister Popper. Manchmal werden Sie mir fast unheimlich, Colonel, dear!" Stumm drückt ihm der Rumäne die Hand, und jener redet weiter: „Wenn Sie sich doch auf den Pelzhandel verlegen wollten, so würde ich zu Ihrem Unternehmen ja und amen sagen, obgleich Sie auch darin ein komplettes Greenhorn wären. Könnte Sie mit einigen Nutriajägern bekannt machen, Skandinavier fast alle und gute Jungen in ihrer Art. Die würden Ihnen den richtigen Kurs weisen und gute Tips sagen, denn sie halten etwas auf denjenigen, der von mir empfohlen wird. Aber Gold? Pah, segeln Sie doch nach Australien oder Californien, dort gibt's Gold klumpenweise in den Bergen. Aber hier auf Feuerland finden Sie nicht genügend, um die Ausrüstung zu bezahlen, und wenn Sie so alt werden wie unser Rip van Winkle!" „Ich werde aber viel finden!" Ruhig, sicher und ohne Überhebung waren die Worte. „Well, ein paar kleine Nuggets. Mag sein. Hören Sie, Mister: mancher hatte den Spleen und suchte, als der Goldrausch wieder über die Neue Welt kam, auch das gelbe Metall auf Tierra del Fuego. Und ging oder geht vor die Hunde. Ohne Mammon! Ihre Gesellschaft wird auseinanderlaufen, Sie auslachen oder noch Ärgeres. Wahrscheinlich, wie ich annehme, haben Sie die letzten Cents in Ausrüstung und Passage gesteckt, und alle diese Makkaronijohnnies — bitt' um Vergebung! — glauben in drei Wochen Millionäre zu sein!" „Beinahe, aber nicht ganz. Ich meine die letzten Cents! Aber 19
dort drüben liegt es und wartet. Viel Gold. Das weiß ich so gut, wie ich das Evangelium kenne. Und warum ich's weiß, würden Sie nicht verstehn. Oder vielleicht? Ich bin nebenbei Geologe, Käpten!" „Und haben in Rumänien daheim, theoretisch auf der Landkarte — von Feuerland gibt's gar keine, die etwas wert wäre! — geometrische und geodätische Geisterseherei getrieben, wie ich annehme. Pshaw! Ich will aber die Sache anders und menschlicher betrachten und daher sagen: Sie haben ein Girl im alten Lande warten und wollen reich heimkommen. Kann ich begreifen, hätte ja selber beinahe die Maggy daheim genommen, aber sie konnte nicht warten, und jetzt sag' ich jeden Tag zu mir ,Gott sei Dank!'. Aber ich würde, um amerikanisch zu sprechen, 'nen Savvy für solche Idee haben. Denn wegen der Maggies und Lizzies ist schon mancher Mann arm oder reich und manchmal zum Esel oder Klugbold geworden und umgekehrt und so weiter!" orakelte der Amerikaner und sah seinem Passagier, der ihm während der nicht ungefährlichen Fahrt ans Herz gewachsen war, tief in die Augen. „Nein, kein Mädchen ist's. Und was ich mit dem Golde, das ich finden werde, anfange, weiß ich noch nicht so ganz genau. Man könnte vielleicht auf Feuerland eine . . . " Seine Stimme war immer leiser geworden, und der Sturm verschlang den angefangenen Satz. Verzückt starrte er nach der undeutlichen Küste. . . . und hell schreien die königlichen Albatrosse, und das Meer dröhnt. Es orgelt, wispert, ächzt, und trotz verdeckter Sonne bilden sich in den krausen Mulden und gefurchten Grüften vergehende und entstehende, bunte Schleier. Und auch über den zusammenrauschenden Kämmen sprühen viele leuchtende, blitzende, verlöschende und sich neubildende Miniaturregenbogen. „Kommen Sie, Mister. Der Steuermann kann so lange Deckwache gehen. Wir wollen nach unten und einen heißen Brandy mit Zucker und Zitrone trinken. In Punta Arenas gibt's nur Pisco für arme Leute, und das ist meines Erachtens konzentrierte Schwefelsäure, mit 'nem Schuß Höllenfeuer!" 20
Gutmütig faßt er Popper am Arm und führt ihn in die schwankende Kajüte. Dort sitzen sie auf dem mit schwarzem Leder bespannten schmalen Sofa. Der „Junge", ein sechzigjähriger Antofogastamann, bedient. Walker stopft aufatmend seine alte Pfeife und schiebt eine Kiste Manilas vor den Gast. . . . und draußen paukt die hohle See gegen den stöhnenden Schiffsrumpf. Anschwellendes unaufhörliches Dröhnen! Trompetenklar ist der Schrei der Albatrosse aus der Ferne. Und wie aus noch größerer Ferne, unwirklich fast heranschwebend, unentwirrbar, merkwürdig klanglos, als ob sie von Watte umgeben sind, sinken und schwellen die Stimmenechos der vierzig sich an Deck aufhaltenden Abenteurer. Julius Popper hat sie in den Spelunken am La Plata so begeistert, daß sie seither alle zusammen eine feste, verschworene Gemeinschaft bilden. Popper hat ihnen versprochen, daß sie viel Gold finden werden! Keiner zweifelt daran, denn alle diese Männer sind ihm, so sonderbar es dem beobachtenden Kapitän auch dünkt und ohne daß sie selber wissen wie es zuging, hörig geworden. Und der skeptische Schiffsführer auch. Dies verbirgt Walker zwar tunlichst, und so gerne er seinen Fahrgast hat, — es wird ihm eine schwere, unsichtbare, unbegreifliche Last von der Seele fallen, wenn „Ali Baba und seine vierzig Räuber" — wie er manchmal scherzhaft sagt — erst an Land sind. Denn Walker, dessen Leben und Seele von Jugend auf dem Meere verfallen sind, merkt zu seinem Entsetzen nach jeder Unterhaltung mit dem Rumänen, daß er selber auf der Kippe steht, Schiff, Beruf, See und Existenz fahren zu lassen, um sich der Chimäre des theoretischen Goldsuchers zu verschreiben. Ja, Walker wird dem Herrgott danken, wenn die ganze merkwürdige Gesellschaft und ihr absonderlicher Anführer erst von Bord gehen . . . Übrigens: so ganz unbeachtet konnte sich in Buenos Aires die Expedition nicht bilden. Die Zeitungsleute dort bekamen Wind davon und brandmarkten das Unternehmen als eine Idee Wahnsinniger und nannten den Exhauptmann aus dem Banat einen Menschenverführer und Moloch. 21
Aber es geht eine ruhige, innere Kraft von ihm ans, die jene Männer, die er zusammengesucht hat, wie Kletten an ihm hängen läßt. Und mancher empfindet wohl flüchtig, daß es eigentlich merkwürdig ist. Aber langes Spintisieren liegt diesen Leuten nicht. Popper gab ihnen neuen Lebensmut, und als die Abreise festgesetzt wurde, war keiner, der den Rückzieher machte. „Caramba, Caballeros, er hat euch behext und lockt euch den letzten Peso aus den Taschen!" hatte sie der junge Vertreter der Zeitung „La Prensa" gewarnt. Bonifacio, ein brauner blitzäugiger Neapolitaner, der fünf Jahre Gaucho in den Pampas absolvierte, machte den Sprecher: „Lassen Sie sich nicht auslachen, Caballero! Woher sollten wohl Pesos in unsere armen Taschen geraten, wenn nicht von ihm! Was wir am Leibe haben, was wir essen und trinken und das Passagegeld nach Punta Arenas, alles bezahlt Don Julio, der ein Gentilhuomo ist. Und ich würde der lieben gnadensüßen Madonna von Torre di Greco herzensgerne eine fußlange, duftende Wachskerze opfern, wenn es mir vergönnt wäre und ich Ablaß dafür erhielte, euer Gnaden mit meinem spitzen Cuchillo ganz zart an dero ehrenwertem Hals zu kitzeln. Ich war Mitglied der Camorra, mein Liebster, Bester!" „Ihr seid einem gefährlichen Narren aufgesessen. Nach Tierra del Fuego geht freiwillig kein vernünftiger Christ. Entweder ersauft ihr schon unterwegs, denn die Fahrt ist voller Tücken, oder wenn ihr mehr Glück habt, so erfriert oder verhungert ihr an Land. Und bedenkt die wilden Indios! Kannibalen, wie man sagt! Euer Don Julio ist der Sendbote des Antichrist! Seid ihr nicht alle gute Katholiken?" warnte der Vertreter eines orthodoxen Blattes und verteilte Heiligenbildchen. „Don Julio geht jeden Sonntag in die heilige Messe, Signore!" trumpft Beppo auf und berührt das an seinem Hals hängende geweihte Medaillon. Beppo stammt vom blauen Amalfigolf, hat eigentlich das Licht der Welt im nahen Neapel erblickt, doch war er einige Jahre ein romantischer Abruzzenräuber. 22
„Bueno, Señores, da ihr nicht hören wollt, so fahrt denn los! Aber wenn ihr wirklich gesund bleibt — Gold findet ihr keines auf Feuerland und Patagonien! Darauf wette ich ein volles Reportermonatsgehalt!" ließ der „Prensa"-Mann sich wieder hören. „Die Wette gilt, Caballero. Ich will sie einfordern, wenn ich wieder an den La Plata komme!" sprach langsam eine warme Stimme. Popper war unbemerkt in die Versammlung getreten. Mit lautem „Viva!" umringten ihn die Vierzig. Verärgert zogen die Zeitungsmenschen ab, und die künftigen Goldsucher riefen ihnen saftige Schimpfworte nach, und ein Hagel von kleinen Matécalabazas umschwirrte die Köpfe der Unglücklichen. Und dann sprach wieder Popper beschwörend von kommenden Strapazen, von Kälte, Hunger und Not, und zuletzt vom Gold. Gold auf Feuerland, das noch keiner von ihnen — er selbst, wie sie wußten, auch nicht! — jemals betreten hatte. Der Schuner stach mit seiner hoffnungsvollen Menschenladung in See. Wochenlang bildeten sie und besonders ihr Anführer, das große unverständliche Wunder und die Freude, aber auch geheime Sorge des sophistischen, mit vieler Skepsis gesegneten Yankeeschiffers. Nun liegt die „Muchacha Feliz" beigedreht im sausenden Oststurm, unweit der Reede von Punta Arenas. Und so Gott will, vielleicht heute oder morgen, es kann auch noch länger dauern, werden sie an der „Sandspitze" an Land gehen. Und dann, dann, weit hinten in den Bergen oder . . . . . . ruhelos schweben die weißen Schemen der Albatrosse unter grauen Wolken über grauer Kimmung. Es dröhnt, lockt und droht das ewige Meer.
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Sieben-Meere-Bar „ . . . ai Dios de mi alma! Que amargo es tu amor!" Dem singenden Chileno flackert zu viel Piscoschnaps aus den dunklen Augen, während die schlanken bräunlichen Finger über stramme Gitarrensaiten raspeln. „Amargo tu amor! fort satan djäbla na manner!" spottet ein blonder Däne, indem er an die Endstrophe des spanischen Liedchens seinen derben skandinavischen Fluch hängte. Die „Seven Seas Bar" ist typisch für Alt-Punta Arenas. Einstöckig, aus Holz und Wellblech. Diese Wellblechmode trat damals gerade ihre weltumspannende Siegeslaufbahn an. Aber auch heute noch, während ich dies schreibe, weiß ich, daß das Bauen mit Wellblech aus dem modernen reichen Magallanes nicht ganz verschwand, obwohl manchenorts die aufgeschnittenen ZehnGallonen-Kanister der „Standard Oil" beliebter sind; leere Ölkanister bekommt man nämlich, wenn man ein geschicktes Mundwerk hat, meist geschenkt . . . Heute ist in der „Sieben-Meere-Bar" einmal wieder, wie immer, wenn primitive Männer zusammenkommen, um zu trinken und auszuruhen, „Fiesta con baile" — für Englischsprechende „Dancing fête". In dem schmalen verwahrlosten Hinterhof der Bar aber hocken die vierzig Getreuen des Julius Popper in ihren für dieses Klima nicht gerade geeigneten Zelten. Mancher unter ihnen ist schon über die argentinischen Cordilleren gestiegen und kennt die eisige Puna, die auch sommernachts kalt genug ist, um einen Becher Wasser bis auf den Grund gefrieren zu lassen. Aber was hilft's? Sie sitzen in ihrem Gezelt, rauchen und frösteln; aber unerschütterlich steht ihnen das goldene Ziel, das der Anführer ihnen täglich vor Augen malt, in glückbringender Zukunft. In der einen Baracke, wo zeitweise durch Ritzen hereinpressende Windstöße die goldenbrennende amerikanische Hurricanlampe leise pendeln machen, sitzt der Rumäne und sein „Leutnant". 24
Pierre Duprez, weiland marchand tailleur zu Straßburg, hat keine traditionelle Schneiderfigur. Er ähnelt eher einem starken Packer, solchen, die bei Wohnungsumzügen gleichsam mit schweren Klavieren und Eichenschränken Ball spielen. Ein struppiger Haarurwald bedeckt drei Viertel seines gutmütigen Gesichts, aber in einer Epoche, wo des „Mannes Zierde" überall aus furchtbaren Schnurr- und Backenbärten besteht, ist das in bester Ordnung. Dieser kraftvolle Kleiderkünstler a. D. und noch mehr der zierliche mittelgroße Popper verschwinden jedoch fast neben den sieben mächtigen Pelztierjägern skandinavischer und kanadischer Herkunft, die den beiden Gesellschaft leisten. Die sehen in ihren dicken isländischen Wolltroiers, den hohen Seehundlederstiefeln und mit ihren blonden Bärten und eisblauen Augen aus wie die Söhne Hymirs in der nordischen Edda. Jetzt lauschen diese Jäger aus der großen Einsamkeit der beschwörenden, magnetischen Stimme des Rumänen. Als ob ihre Seligkeit davon abhinge, so sind sie der überzeugenden rhetorischen Magie des neuen Goldpropheten von Feuerland verfallen, der vorher noch keinen Fuß auf besagte Insel gesetzt hat und erst knappe acht Tage in Patagonien weilt . . . Im Nebenraum aber geht es stürmischer zu: Eine Liverpooler, nach Hamburg vercharterte Viermastbark voll peruanischem Guano sitzt, entmastet und durchlöchert, seit Wochen in der furchtbaren Brandung auf den Rocks der Straße Le Maire. Yaghanindios und Alacalufen kamen auf ihren gebrechlichen Kanus und haben das Wrack geplündert, wie es ihre Art ist. Und haben die halbe Besatzung ermordet. Nur ein paar konnten vorher ein Boot aussetzen und wurden eine Stunde später von einem Kohlendampfer aufgefischt und in Punta Arenas an Land gesetzt. Nun warten sie, bis der konsularische Vertreter sie heimschickt oder sie vielleicht hier eine Chance finden. Im britischen Seemannsheim geht es aber puritanisch zu, und deswegen schlafen und essen die Söhne der See zwar dort, finden aber Mittel und Wege, nachts außer Hause zu schleichen, um 25
sich in der sündigen „Seven Seas Bar" zu amüsieren. Zumal sie einige Dollars und Pfunde besitzen. Der Bar-Wirt ist ein braungebrannter, breitschultriger, dabei aalglatter Kerl, mit einem Gesicht von einmaliger abgründiger Häßlichkeit. Und er weiß die Fäuste fast so gut zu gebrauchen wie seine Verschlagenheit. „Rattenjack" ist mindestens jedem Kauffahrteiseemann der damaligen Zeit vom Hörensagen bekannt, und der entsetzliche Nimbus dieses „Shanghaiers" ist ebenso groß wie der seines Collegen Sally Brown an der Barbarycoast von San Franzisco. — Und wenn jetzt einer der Leser kommt und mir sagt, daß es seit dem großen Erdbeben keine „Barbarenküste" mehr in Frisco gibt, so sage ich, daß ich das ebenso gut weiß und daß übrigens der Beginn meiner Geschichte in jener „barbarischen" Zeit spielt, obwohl ich es dahin gestellt lasse, ob unsere Tage besser sind . . . „Rattenjack" gibt sich soeben die beste Mühe, die Janmaaten des Liverpooler „Blackballed" zum reichlichen Piscogenuß zu verleiten. Er läßt die Klauenhand nicht von der Flasche, immer zum Einschenken bereit, sobald wieder jemand einen Peso oder Dollar auf die Schanktischplatte knallt. Er schwatzt allerlei süß und nett klingenden Unsinn und, was für ein feines Schiff er eventuell für sie hätte — wobei er aber nicht erwähnt, daß es sich um einen alten Walfänger handelt, der noch rund drei Jahre Südseefahrt vor sich hat und dessen Kapitän und Offiziere von jener herzlich rauhen Sorte sind, die jeden Befehl mit einem „damn you" und dem zarten Wink mit der Handspake begleiten. Und jene Matrosen kennen „Rattenjack" und verachten, mißtrauen, bewundern ihn, und fürchten und hassen ihn zugleich, weil sie ahnen, daß er sie, wenn sie betrunken sind, auf einen derartigen Höllenkasten „vershanghaien" wird. Man trinkt, bis man umfällt, weil „Rattenjack" dieser Bewußtlosigkeit geschickt mit einigen chemischen Tropfen nachhilft. Und wenn man dann auf hoher See mit furchtbarem Kater erwacht, findet man sich auf einem fremden Schiff und erfährt, daß so und soviele Dollar 26
bei dem guten Heuerbas versoffen wurden, und die hat das Schiff ausgelegt, und jetzt soll man sie abarbeiten . . . „Rattenjack" läßt eben, zu unlöblichem Tun bereit, die Gesamtbatterie seiner Durchtriebenheit spielen. Denn gestern hat ein amerikanischer Waler zur Proviantergänzung vor Punta Arenas geankert. Das geschieht nicht oft; noch werden die großen Säugetiere in den warmen Gewässern der Südsee aus offenen Booten mit der Harpune gejagt. Man rüstet noch keine solchen schwimmenden Fabriken für die Antarktis aus, in die sich die Wale flüchten. Und deshalb ist dieser alte Trankasten hier vor Patagonien eine Seltenheit. Der Alte, ein hartfäustiger Yankee, war schon bei „Rattenjack" und gab diesem einen Wink, denn es sind ihm eine Menge Leute auf den paradiesischen Inseln entsprungen. Er braucht Ersatz. Und „Rattenjack" weiß Bescheid, er wird das schon machen . . . „Gold!" sagte eben Popper wieder. „Rattenjack" holt gerade eine neue Flasche vom Regal, die für das Nebenzimmer bestimmt ist, und hört das Wort. Geringschätzig zuckt er die Achseln. An solchen Schwindel glaubt er nicht mehr, obwohl es ja wunderschön auch für ihn wäre. Er fühlt aber irgendwie Respekt vor dem zierlichen Rumänen, denn der hat etwas an sich, das . . . wie schon Käpten Walker feststellte. Poppers sieben Zuhörer, die in ihrer Kleidung so ungeschlacht wirken, aber in Wirklichkeit breitbrüstige, schlankhüftige, muskelgeschmeidige Jäger sind, hören wie gebannt zu. Und das Wunderbare ist: sie haben solche Worte im Laufe der Jahre schon oft gehört und nur darüber gelacht; bei Popper lacht keiner. Im Gegenteil, sie glauben es plötzlich! „Es könnte wahr sein! Hab' bereits drüber nachgedacht. Machten unser Geld bisher mit Nutrias, Ottern, Seals und dergleichen gefährlich zu jagenden Tieren. Aber Gold?" Ein anderer: „'s will mir einleuchten, Colonel, wenn man Sie sprechen hört!" „Skal!" quetscht der Jäger Sven langsam heraus und trinkt sich 27
selber bedächtig zu. Seine Freunde paffen dicke Wolken aus ihren Shagpfeifen . . . Verstohlen winkt „Rattenjack" den Musikanten. Meisterhaft spielt jener Chileno seine Gitarre! Die quietschende Fiedel und ein stark rheumatisches Piano sind eigentlich nicht die richtige Begleitung dafür. Aber sie machen Lärm, und das braucht der kundige Budiker. Radau und Tabaksqualm beschleunigen nämlich den leichtsinnigen Alkoholparoxismus, in dem Männer zu Dummköpfen werden. Popper, den sie in Punta Arenas bereits „Colonel" oder „Coronel" nennen, schweigt nun. Und wartet. Und die andern, die „vierzig Räuber"? Draußen in den Zelten warten auch sie geduldig. Es sind gute Kameraden; sie wissen genau, daß Popper sehr sparen muß, weil Punta Arenas, das am Ende der Welt liegt, für den gemeinsamen Geldbeutel sündhaft teuer ist. Und so gerne auch sie jetzt in der molligen Bar mit den Señoritas ein bißchen tanzen und schäkern möchten, sie sehen das ein: es geht nicht, und hocken nun eben in ihren Unterkünften, nippen Pisco, von dem der Chef ihnen zwei Gallonen hinausgeschickt hat, rauchen ihre Pfeifen oder Cigaros und warten. Sie wissen ja, worum es geht und warum der Colonel die Pelzjäger freihält! Diese landeskundigen Männer sollen nämlich für die Expedition gewonnen werden, ansonsten es mit dieser bald aus wäre. Sie sind ja selber alle in dieser Gegend doch nur hilflose Greenhorns, die, bloß um sich mit Fleisch zu versorgen, noch nicht einmal einen Seelöwen oder ein Guanaco beschleichen und schießen könnten. Greenhorns! Wirklich, ganz Punta Arenas — und groß ist diese Stadt just nicht — ist sich einig, daß nie größere Idioten als diese Vierzig je den Fuß auf Patagonien setzten. Don Julio, der Colonel, hm, ja, das ist eine Ausnahme, benimmt sich fast so, als sei er hier geboren, und ist trotz seiner sanften, warmen Höflichkeit ein richtiger Caballero, mit dem nicht gut Kirschen zu essen sein mag. Das merkt man irgendwie. Käpten Walker, 28
dessen Meinung etwas gilt, hat ja auch verschiedene Andeutungen gemacht . . . „Gold!" klang es wieder durch eine Musikpause. „Muchachas, schlaft ihr?" scharf wie schneidende Cuchillos sind „Rattenjacks" Ermahnungen. Sie dringen durch Tabaksqualm, Parfüm, Puderstaub und Waltrandüfte. Dringen sogar durch die Träume von Glück und Ausruhen, worin sich eben die müde Seele einer anwesenden, gewissen Juanita verirrte . . . „Elisa fühlt sich krank!" schrillt die Stimme eines schwarzäugigen, alten jungen Mädchens. Ihre linke Wange verunziert eine breite Messerstichnarbe, die auch Puder und Schminke nicht ganz verdecken. Unsäglich gleichgültig und leer sind ihre Augen, und die knochige, sicher einmal entzückend schlank gewesene Figur wird durch ein rosa tiefdekolletiertes Abendkleid bloßgestellt. „Soll einen Pisco schlucken! Kranksein gibt es nicht in diesem Hause. Sonst . . . " „Rattenjack" deutet wie ein böser Teufel nach der Tür, hinter der der Sturm rüttelt und Regen klatscht. Und weiter oben, nicht fern vom Haus, liegt der Campo Santo, der Gottesacker von Punta Arenas . . . Langsam erheben sich sechs Damen von den Stühlen oder Knien ihrer in rauhe Wolle und Öltuch gekleideten Anbeter. Schön sehen diese armen Huris der patagonischen Wasserfront nicht aus. Das Leben geht zur Neige für sie, ist nur noch schaler, dürftiger, bitter schmeckender Rest. Von Etablissement zu Etablissement sind sie einst gereist; vielleicht in Paris anfangend, über Bukarest, Marseille, Stambul, Port Said, Calcutta, Bombay, Shanghai, Frisco, New York, Montevideo, Rio und Buenos Aires, überall täuschender Glanz, Bequemlichkeit, Nichtstun und glitzernder Schmuck. Und viel viel Alkohol, Haschisch, auch Marihuana, Cocain, Morphium und Heroin. Und von Jahr zu Jahr wurden die Etappen kürzer und dürftiger; die erstklassigen „Häuser" weichen zweit- und drittklassigen. Und mit einmal sind sie Ausschuß und am „Ende der Welt" angelangt. In Patagonien und auf Feuerland. Bei Kap Horn! 29
Das ließen sich diese armen, durch eigene oder fremde Schuld in ihre tragische Bahn gelenkten charakterschwachen Geschöpfe, die einst glücklich zu Füßen ihrer Mütter spielten, nie träumen. Daß sie hier am Ende der Welt anlangen und auch an dem ihren, wissen diese armen, von zehntausend Küssen verbrannten, von brutalen Umarmungen zerquetschten Mädels kaum. Denn ein gütiges Schicksal hat es so eingerichtet, daß sie nur ganz selten mit ihren alkoholumnebelten Gehirnen kurze Blicke in ein anderes, besseres Dasein, das vielleicht das ihre hätte sein können, gewinnen. Wie Blitze, ganz weit weg, an dunklen Horizonten wetterleuchten, so zuckt dann manchmal eine friedliche Erinnerung durch diese stumpfgewordenen Frauen, die, scheinbar von Gott und dem Teufel verlassen, hier am Ende der Welt warten, was da komme. Ach was, wir wollen tanzen, trinken und lustig sein! Das Leben ist kurz, das Leben ist schön! Und sie locken und reizen mechanisch mit ihren verrenkten, dürren oder unförmigen, flittergeschmückten Leibern die halbbetrunkenen Gäste in Jacks dreckiger Bar. Manchmal — auch das hat eine weise Schöpfung so gewollt — ist es ihnen unbewußt gegeben, Männern, die das ganze Jahr fast unter täglicher Lebensgefahr in den Kanälen und Buchten Patagoniens und Feuerlands jagten — einsam, höchstens einen Freund oder einen Hund zum Partner —, solchen Männern, die halb verrückt sind von unstillbarer Sehnsucht, die sie zuweilen so überfällt, daß sie dann mit Möwen, Eisschollen und Pinguinen zu sprechen versuchen — diesen Männern, wenn sie dann nach Punta Arenas oder Ushuaia kommen, um ihren Verdienst oft in wenigen Tagen zu verjubeln, ehe sie zurück in die große Einsamkeit ziehen —, immerhin ein wenig das Leben zu versüßen! Weil eben die Einsamen in solchen Stunden des rauschhaften Traumes hinter jeder Hure noch die Frau und Mutter suchen . . . Und darum, sag ich, scheltet nicht über die „Weiber" von Patagonien und Feuerland und anderswo, sondern es suche ein jeder in seiner Erinnerung und kehre dann vor der eigenen Tür. 30
Allerdings, wenn diese Señoritas ihren traurigen Beruf nicht mehr ausüben können, weil sie selbst für Feuerland zu häßlich wurden und krank? Dann, ja dann . . . Es gab schon damals, während diese Geschichte spielt, in Punta Arenas ein kleines Hospital und einen Arzt, der ein junger enthusiastischer Boy aus Alabama ist und oft vor eigener Hilflosigkeit verzweifeln will; aber er tut, was er kann, und beinahe noch mehr. Es gibt auch einen verhältnismäßig großen Friedhof am Hügel von Punta Arenas und bei Ushuaia, und dort schlafen viele Frauen aus allen Ländern. Mehr, als man ausrechnen kann; denn viele Gräber sind längst zerfallen und haben andern, neuen, Platz gemacht. Aber wenn der Jüngste Tag kommt, dann werden diese Frauen sicher nicht die Allerletzten sein; sie haben zwar im Leben viel gesündigt, aber vielleicht noch mehr gebüßt . . . „Walzer, spielt Walzer, ich bin gar nicht krank!" kreischt Elisa. Und der wieder ausbrechende Lärm übertönt das Heulen und Prasseln des draußen wütenden Unwetters und auch die beschwörende Stimme des Mannes in der Ecke, der da von Gold redet. Pisco fließt in Strömen und „Rattenjack" schmunzelt, denn er setzt auch „echten Champagner" ab und zwar zu tollen Preisen. Die Trinker merken ja nicht mehr, daß sie ein schnödes Gemisch aus schlechtem Rebensaft, Essig, Rosinen, Mineralwasser und Zucker schlucken. Unbeirrt spricht Popper auf die Sieben ein, und schließlich streckt ihm einer nach dem andern die große, schwielige, frostzerbissene Rechte hin, und sieben Augenpaare sind nicht mehr wie kalter unnahbarer Gletscher und Eisblink, sondern glänzen voll Vertrauen und Abenteuerlust und Golddurst. Und ein Pakt wird geschlossen, der zwischen den Skandinaviern und dem Rumänen nicht mehr gebrochen wird; sie halten ihn bis in den Tod, der sie schon für die Zukunft, außer der Reihe, vorgemerkt hat. Sie sind sich einig, und der „Colonel" gratuliert sich innerlich. 31
Denn diese Sieben werden seiner Gesellschaft drüben auf Feuerland eine stille Bucht suchen; ihnen zeigen, wie man warme Häuser aus Holz und Robbenhäuten baut und wie man die hungrigen Mägen mit Frischfleisch versorgen kann, und sie werden nebenher Pelze jagen, und mit dem Erlös kann man das teure Mehl und andere Unentbehrlichkeiten kaufen. Und sie werden ihnen, was das Wichtigste ist, das Land erklären und, wie man sich darin zurechtfindet. Schon nimmt er sich vor, topographische und naturkundliche Arbeiten zu machen und . . . Was aber verlangen diese Sieben und die anderen Vierzig von ihm, Julius Popper, genannt Don Julio oder Colonel. Gold. Viel Gold. Er hat's ihnen versprechen, und daran glauben sie wunderbar fest. „He, muchachas, jetzt wollen wir tanzen. Und trinken und singen!" „Elisita, das erste Nugget, das ich finde, lasse ich an eine Kette machen, und die hänge ich um deinen Hals. Für nur einen Kuß im voraus!" Und es rauscht und klirrt und schrillt die Musik, Stöckelschuhe klappern und Seestiefel pochen dumpfen Takt, und draußen tobt die Natur. Und Männer suchen und finden sekundenlang in den Augen von Frauen Dinge, an die sie seit langem nicht mehr gedacht. Im Nebenzimmer, das nun abgeschlossen wurde, liegen gleich Toten die Seglermatrosen. „Rattenjack" schmunzelt über seine Teufelsvisage. Popper raucht seine letzte Manila und sieht im goldenen Lichtschein der blinzelnden Lampen viele Visionen. Keine goldenen Klumpen oder „tödlichen Staub", sondern das, was er damit erschaffen kann. Sieht große Estancias und weidendes Vieh und einen von Schiffen wimmelnden Hafen und sieht Hirten und sieht glückliche Familien mit ihren Kindern. Auf Feuerland, gegen das das Meer anbraust, wo die Steppen sich in schimmernde Fernen verlieren, wo die königlichen Berge ragen. Und sieht auch . . . 32
Ethnologie Der Wissenschaft unvergeßliche Namen von Entdeckern, Seefahrern und Priestern, die meist längst in ihren Gräbern vermoderten, geistern durch heulende Stürme, über aufgewühlte Wogen! Klirren auf im Spiel der schwankenden Eisschollen, sind das geheimnisvolle Echo in zahllosen Naturkanälen und Buchten, schweben über den Gletschern, die sich im Meere verlieren, und über den Riesen der Anden, huschen durch undurchdringliche, starre Wälder und rascheln im dürren Gras melancholischer Pampas: Magelhaes, den der Eingeborenenspeer auf den fernen tropischen Philippinen tötete . . . Francis Drake, der lustige burschikose Seeheld der guten Queen Bess . . . Sconten . . . Darwin, der die Fauna, Flora und den homo sapiens von Feuerland manchmal falsch beschrieb . . . Nordenskjöld, dessen Ziel die europäischasiatische Nordwestpassage war . . . Le Maire, nach dem die berühmte und berüchtigte Meeresstraße benamst wurde . . . Horn, der dem schwarzen Kap seinen unvergänglichen Stempel aufdrückte . . . Pater Agostini der Kartograph, und andere, die das Land und Insellabyrinth durchsegelten, erforschten und zu erforschen suchten . . . Als im Mittelalter die ersten Schiffe der „weißen Götter" sich in die brausenden, von Kreuz- und Querströmungen zerrissenen und von unsichtbaren, tödlichen Riffen strotzenden Wasserstraßen wagten, da flammten vielhunderte Feuer an den ungastlichen Küsten. Damit riefen die Indios ihre Genossen von den Bergen und aus den Pampas, damit auch sie die Göttervögel sehen sollten, die da unter weißer Segellast schaukelnd vorbeifuhren. Tags qualmten Rauchpyramiden zum wirbelnden Wolkenhimmel, nachts loderten rote Flammenzeichen und säumten die Küste wundersam. Und deshalb nannten die ersten Entdecker jene kalten Küsten: Feuerland! 33
Und das Gebiet östlich der eisbedeckten oder schwärzlichnackten Bergeshäupter und der ins Meer hängenden Rieseneisstürze, das Land, das dann flach und grau als Pampa bis zum Atlantik reicht, bekam den Namen Patagonia. Denn es lebten dort — so erzählt die sinnige Fama der alten, harten, naiven Seeleute — Indianer, drei Meter hoch, deren Füße so gewaltig seien, daß sie sich damit bei Regen bedecken könnten. Diese Indios nannte man Patagos, d. h. Großfüßler, und seither heißt das Land prosaisch Patagonia — was dem Sprachunkundigen sehr romantisch klingt. Zuerst, d. h. lange, lange, nachdem die Gegend entdeckt war und fast wieder in Vergessenheit geriet, kamen in dieses neue Land die tüchtigen, sympathischen und arbeitsamen Chilenos. Sie gründeten dort, wo heute Magallanes liegt, am Eingang der gleichnamigen Meeresstraße, die Sträflingskolonie Punta Arenas nach dem englischen Vorbild der Botanybai in Australien! Aber die chilenischen Verbrecher wollten durchaus nicht arbeiten, sondern schlugen einander tot, benahmen sich wie die Rotte Korah oder verkamen in der Wildnis und wurden von den Indios totgeschlagen. Chile gab daher den ganzen Versuch mit den Sträflingen auf, sandte dafür aber einige richtige Kolonisten, zu denen sich Jäger und andere abgehärtete Männer gesellten, und der Ort gedieh. Später, zu Poppers Zeiten, entstanden noch die Orte Porvenir und Natales. Punta Arenas war, ehe der Panamakanal seine Schleusen der Schiffahrt öffnete, eine bekannte Kohlenstation für alle nach der Westküste gehenden Dampfer. Geld rollte, Tag und Nacht ging es lustig zu, besonders wenn Waler aus Nantucket, Bedford und Marthas Vineyard nach jahrelanger Fahrt ankerten, um den Proviant zu ergänzen. Kurz nach Chile erschien Argentinien auf dem Plan. Argentinien, das in den Zeiten des Gauchodiktators Rosas die wahre Hölle war, kam und reklamierte den östlichen Teil von Tierra del Fuego. Und errichtete südlich am Beaglekanal, der meines Erachtens zu den wahren, leider noch wenig bekannten Weltwundern 34
der Natur gehört, die Sträflingskolonie oder besser gesagt, das Zuchthaus Ushuaia. Und Ushuaia gedieh und gedeiht heute noch, und die Sträflinge, die das südlichste Zuchthaus der Welt bewohnen und die alle schwere Burschen sind, gedeihen auch; denn man behandelt sie menschlich, und ihre Arbeit ist erträglich. Aus Ushuaia entkommen ist allerdings noch keiner, der davon erzählen könnte. Die Natur selbst sorgt schon dafür und schiebt da, wo der Stacheldraht und die Posten aufhören, ihre unbesiegbaren, schrecklichen Riegel vor. Mit dem Panamakanal kam die große Pleite, die aber dann plötzlich wieder bis heute währenden guten Zeiten wich; denn die Schafe mit ihrer Wolle und der damit verbundenen, modernen Gefrierfleischindustrie von Rio Grande machten diesen öden Aussteigeplatz der Welt zu einer der reichsten unter den chilenischen und argentinischen Provinzen. Schafe, Schafe, nur Schafe! Ackerbau ist des rauhen Klimas wegen nicht möglich; alle Versuche schlugen bisher fehl. Gold wurde gefunden, aber das war unrentabel, weil es zu wenig war. Der einzige Mensch, der eine Zeitlang in dieser Beziehung aus dem Vollen schöpfte, war Don Julio, und darüber wird ja noch vieles zu sagen sein . . . Es gab Robben, Seals und Nutrias in Massen; Herden wilder Guanakos, kostbare Graufüchse, Strauße, Ottern. Es gab Pumas und eben die Indios. Nun, die Guanakos sind bis auf wenige verschwunden, die Nutrias wurden rar, die Füchse auch, Strauße liefern keine guten Federn dortzulande; und Otternbälge — ach, die wiegt man längst beinahe mit Gold auf. Und die Indios? Die starben in Menge an Alkohol, Pulver nebst Blei, an Pocken und an wirklich gutgemeinten, aber falsch angefangenen Zivilisationsversuchen . . . Kurzum: nur die Schafe kamen, und die sind geblieben. Und auch die Pumas, die gern wehrlose Schafe fressen, haben sich streckenweise phantastisch vermehrt. Sie wohnen in den Wäldern und Schluchten, sind ebenso schlau wie blutdürstig; die Jagd auf 35
sie aber ist mühsam und wenig ertragreich. Weil eine elegante Damenwelt noch nicht auf die Idee kam, Pumapelze zu tragen . . . Und die Menschen? Eine Zeitlang wüteten blutige Kämpfe zwischen Goldgräbern, Jägern, Banditen und den starken großen Onaindianern der Pampas und den krummbeinigen Kanuleuten der Yaghans und Alacalufes. Dann kamen Soldaten und schossen die Onas, die sich in der Unschuld der Naturmenschen an den Schafen vergriffen, tot; auch legten sie strychninvergiftete Schafkadaver aus, und die Onas, die Hunger hatten, starben daran. Und einmal gab's eine Zeit, da bekam man für ein paar Indianerohren eine Geldprämie . . . Bis endlich der Skandal zu groß wurde und beide Regierungen einschritten und die Onas unter Reservations- und Naturdenkmalschutz stellten: Man schaffte alle, die noch lebten, auf die große Dawsoninsel, wo sich ihrer die Salesianermönche aufs beste und uneigennützigste annahmen und es ihnen hätte gut gehen können. Leider wiederholte sich aber auch hier der gleiche Fehler, der sich schon öfters in der Völkergeschichte zum Untergang ganzer primitiver Rassen auswuchs: Man gab diesen dreiviertelnackten, kerngesunden und sich ohne viel Kleider wohlfühlenden Menschen aus moralischem Muckertum und kurzsichtiger Gutmütigkeit europäische Tracht, aus Kattun und Baumwolle, und zwang die freien Nomaden, in stinkenden luftarmen Holzschuppen zu leben. Das konnten sie nicht vertragen, sie brauchten frische Luft und Nacktkultur. Und nach zwei Dutzend Jahren hatten die Padres und Misionarios nichts mehr zu tun. Fast alle Onas waren bei der plötzlichen Umstellung auf Zivilisation an galoppierender Schwindsucht in ihre seligen glücklichen Jagdgründe eingegangen. Die noch existierenden Feuerland-Indios — es sind nur ein paar Dutzend — haben sich an Kleider und Körperschmutz gewöhnt, das Jagen verlernt und sind gewiefte, englisch und spanisch sprechende Piscosäufer geworden, die lesen und schreiben können. Mit den Yaghans und Alacalufen ist es anders. Als Kanuindianer sind sie nicht so athletisch gebaut wie die Onas, sondern 36
klein und häßlich; sie gehen übrigens auch fast nackt. Ihre Kanus sind backtrogähnliche, mit Weiden, Sehnen und Lehm zusammengesetzte „Boote" oder Seelentränker. Darin gehen sie auf den Robben- und Fischfang und trotzen kühn den ärgsten Stürmen. Und wenn dann einmal so ein Salpetersegler in der „Straße" auf die Felsen läuft, plündern sie eiligst das Wrack und bringen dabei gewöhnlich die überlebenden um. Ihre Nahrung besteht aus allem, was da kreucht, fleucht und schwimmt, und es tut ihrem Magen keinen Schaden, einen vor Wochen zur Sommerzeit gestrandeten und halbverfaulten Wal oder Tümmler auszuweiden und sich mit dem stinkenden, madenwimmelnden Blubber bis zum Platzen vollzufressen . . . Aber auch diese Yaghans und Alacalufen werden langsam zivilisiert, obwohl die meisten nicht viel davon wissen wollen und man sie ihrer Lebensweise wegen nur schwer in die Hand bekommt. In den Städten von Argentinien und Chile veranstaltete man damals gutgemeinte Kleidersammlungen für die, wie man meinte, „frierenden armen Wilden". Der Erfolg? — Viele starben wie die Fliegen an Masern und Pocken, denn zufällig — und es steht fest, daß es ein wirklicher unglücklicher Zufall und keine böse Absicht war! — befanden sich unter den alten Fräcken und Abendroben, mit denen man die Wilden erfreuen wollte, einige infizierte, aus einem Hospital . . . Aber es gibt noch Alacalufen und Yaghans, und manche Dampfer- oder Seglermannschaft, die bei gutem Wetter durch die Straße Le Maire oder durch die Magellanstraße fährt, hat sich über diese splitternackten Kerle amüsiert (auf den deutschen Kosmosdampfern nannte man sie seltsamerweise „Lehmänner"), die in ihren Kanus anlegen, an Deck klettern und um Tabak oder Schnaps betteln. Ihre Weiber aber lassen sie, im Gegensatz zu andern Naturvölkern, vorsorglich hübsch unten in den Fahrzeugen, obwohl denn doch schon starke Nerven dazu gehörten, mit einem derartigen, mit stinkendem Tran beschmierten, hängebusigen Yaghanschönchen eine Schäferstunde abzuhalten . . . 37
Der Fitzroy-Kanal . . . hohe, steile Berge, grün von Nadelhölzern bewachsen, unten mit prachtvollen weitverzweigten, aber windgebeugten Buchen umsäumt, darüber ragende schneeglitzernde Kuppen und der hellblau strahlende Himmel. Herbe, duftende, frostdurchsetzte Luft, die sich wie Champagner trinkt. Auf dem breiten, über hundert Kilometer langen Meereseinschnitt, der heute auf den Karten als Otwaysea verzeichnet steht, aber außer von Indianern und dem monatlich aufkreuzenden chilenischen Miniaturdampfer kaum von weißen Menschen besucht wird, segelte damals ein winziges Fahrzeug. Sieben Männer sitzen in diesem alten, lecken, vor Monaten in Punta Arenas teuer gekauften Boot, dessen Bug man gegen überkommendes Wasser notdürftig mit einer Spritzdecke schützte. Nicht ganz in der Mitte steht der niedrige schwache Mast. Klüver und Großsegel sind alte, von einem Walfänger ausrangierte Fetzen (und was ein Walfänger ausrangiert, wirft man sonst über Bord oder auf den Müllhaufen); sie bauschen sich jetzt in steifer Brise. Zuweilen laufen bösartige unterseeische Kreuz- und Querströmungen hin und her, kreisen wie irrsinnig und versuchen das schwache Fahrzeug zu schütteln, vollzuschlagen, zum Kentern zu bringen. Sven, der Blondbärtige, Blauäugige, Schweigsame, früher Nutriaund Sealjäger, führt das steuernde Ruder, und auf den Bänken verteilt, hocken sechs Männer von der Apenninhalbinsel, von Griechenland und dem Karst, die mit Don Julio nach Feuerland kamen, um dort reich zu werden. Es ist aber schon eine lange, lange Zeit verstrichen, seit sie damals von Punta Arenas über die Magellanstraße nach der großen Insel übersetzten . . . Stumm, gezwungen ruhig, sitzen sie, und ihre Augen starren gradaus. Die von Entbehrungen gezeichneten, kantigen Gesichter zucken, und nur auf diese Weise tobt sich ihre, sonst zu südländischen Gestikulationen neigende Erregung aus. Denn sie sitzen 38
so gedrängt neben Proviantsäcken, Ballen und Waffen und die Bordwand ist nur wenige Zentimeter über Wasser und das Boot rüttelt, tanzt und springt so gefährlich, daß jede überflüssige Bewegung den Insassen sehr gefährlich werden könnte. Und ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, ist es für Südländer schlecht, sich zu unterhalten . . . Angst hegt keiner, nur ein unaussprechliches Gefühl: die Ehrfurcht, das Staunen vor der großartigen Wildheit der Natur und ihre eigene daran gemessene Winzigkeit und Erbärmlichkeit, lebt in ihnen. Und so segeln sie auf dieser wochenlangen Erkundungstour, die dem roten Golde gilt. Über ihnen kreisen schwarze, von je einer flimmernden Gloriole umrandete Punkte, zwei Condore. Grünlich, vom Eisschmelz gefärbt, ist das Wasser. In toller rasender Fahrt, mit den Pfoten peitschend und den flossenähnlichen Flügelstummeln schlagend, sausen gleitbootartig ganze Schwärme von „Dampfbootenten" nach allen Richtungen auf den Wellen. Hunderte von Schwänen, blendendweiß, mit schwarzen Hälsen und Köpfen, bilden stolze Flotten. Sachte fielen die hohen Berge zurück, machten runden bewaldeten Hügeln Platz, in deren sanfte Schluchten schon die Ausläufer der Pampas festlich grün und blumenbunt eindringen. Und überall sind Vögel! Schwäne, Gänse, Enten und andere, zu Vieltausenden! Sie fliegen oder schwimmen, rudern, tauchen, manchmal kreischen sie wild durcheinander, manchmal schweigen sie; und dann singt nur der Kielsog so geheimnisvoll, murmelt und erzählt eintönig; bis auf einmal wieder Bewegung in die Tiere kommt und sie von neuem ihre grellen Stimmen erheben. Flacher wurde das Land zu beiden Seiten, tiefer geschüsselt engt sich das Otwaymeer zu dem langen gewundenen Strom, der auf heutigen Karten Fitzroy-Kanal benannt ist. Beängstigend schnell braust, zischt, große platzende Blasen, runde Trichter und Wirbel und stiebenden Gischt an Felsen und Inselchen hochjagend, das wilde Wasser gen Norden, der fernen, 39
dort wieder offenen See zu. Es reißt und fegt, schleudert das Boot mit sich. An den Ufern stehen Gänse, einige Strauße ergreifen windesschnell die Flucht. Schneeflecken bedecken stellenweise die grünende Pampa. Und es flattert und schüttelt empor wie eine Wolke aus Rosenblättern, als sausend eine große Flamingofamilie sich dem strahlenden Himmel entgegenschwingt. Nach allen Seiten staunen die Männer im Boot, und einer schreit verblüfft auf, weil ein Papagei plötzlich quer über den Strom zickzackt. Und dann geht irgendwo die Sonne unter. Ganz langsam. Im Westen hinten glühen Berge, brennen, schillern und leuchten so wunderbar. Die Pampas glitzert, von letzten Strahlen geliebkost. Violettblaue Schleier weben um die in Dünsten verschwimmenden Hügel; und dann geht wie ein Hauch, ein Kuß der Natur, der Wind zur Ruhe. Perlmutter wird jetzt der Himmel, er schimmert wie die Innenkuppel einer unendlichen unwirklichen Moschee. Mit dieser Schönheit und den unbeschreiblichen Farben will das Schicksal den Sieben im Boot noch ein letztes Geschenk machen, damit sie nicht verzagen und wie um sie vorzubereiten auf das Unfaßbare, Unbekannte, dem sie verfallen sind . . . Plötzlich bockt das Boot, der Kiel scharrt und knirscht, die verfaulten lecken Planken öffnen sich und das ganze Fahrzeug klappt fächerförmig auseinander. Sieben in schwere Kleider und Schuhwerk gehüllte Männer, eben noch an die Zauberbilder ihres Wunderlands verloren vom Golde träumend, stürzen jäh, zusammen mit dem Durcheinander von Säcken und Trümmern und Waffen, in den jagenden, nun wie in wilder Freude rauschenden Strom. Wie mit Messern schneidet die Kälte des gletschergenährten Wassers, und es hat viele Wirbel und starke, unwiderstehlich nach unten schraubende, schmatzende Trichter, und es ist kalt, o so kalt . . . „Ai, Mama!" wimmert noch einer. 40
Die meisten können schwimmen, aber hier nützt das nichts; auch sind die Ufer an dieser Stelle zu weit entfernt . . . Einige Kistchen, ein Ruder und eine Mütze rasen auf dem eiligen Wasser weiter; schwanken und wippen, ein paar Planken sind auch dabei . . . Und die fernen Bergeshäupter flammen, brennen, bluten und triefen in roten und goldenen Tinten. Der Strom glänzt gleich einer geriffelten Spange aus Rosenquarz. An den Ufern stehen unbekümmerte, sich des Lebens freuende Vögel. Und eintönig jetzt, matt und wie zufrieden, murmeln die Wasser. Zwei sich haschende Colibris zucken als rasende Feuerfunken. Langsam erlischt der bunte Farbentumult. Der Westen gleißt violett, und aus Osten naht die blaue Dunkelheit. Das große kurze Ausruhen breitet sich nach allen Seiten. Die Tiere schweigen. Schon schimmern silberne Sternintarsien im dunklen Blau der Frühlingssommernacht, über Feuerland, dem Ende der Welt und dem Ende und Anfang vieler, vieler Leben . . .
Robinsone am Ende der Welt ... von Patagonien sind sie in alten, flachbodigen, gebrechlichen sogenannten Scheuerprahms, die für teures Geld gekauft werden mußten, damals, in der Nacht der „Seven Seas Bar", nach Feuerland übergesetzt. Diese Fahrt in den verrückten Booten war an und für sich schon eine Versuchung Gottes. Aber die Pelzjäger waren dabei, und das ist aller Glück, weil sonst alle ertrunken wären; oder später, falls sie wirklich die Magellanstraße bezwungen hätten, wären sie erfroren oder verhungert. Sie haben nun eine große Hütte aus Holz gebaut; der Kälte wegen wurde sie halb in einen schrägen Hang gegraben, mit Robbenhäuten und schweren Steinen gedeckt. Im Innern gibt es primitive Kojen mit Pampasgras gefüllt, rohe Tische und Bänke 41
und einen riesigen Kamin, in dem Tag und Nacht Holzscheite brennen. Doch entdeckte Popper eines Tages gute Steinkohle in unerschöpflicher Menge. Man muß deswegen keinen Schacht anlegen, auch nicht sprengen, denn in diesem wunderbaren Lande am Ende der Welt liegt stellenweise das schwarze Gold auf der Erdoberfläche! Es gibt Plätze, wo die drei bis vier Meter dicke Ader plötzlich zutage tritt und sich dann, in breiter werdender Bahn, aus Kohlengeröll und Blöcken bestehend, den Hang hinab ins Meer und in dieses hinaus weit unter Wasser erstreckt. Fertige, reine Anthrazitkohle, die man nur einzusammeln braucht . . . *) Nach allgemeiner Beratung, damals vor der Abfahrt aus Punta Arenas, wurde Poppers letztes Geld weise zum Ankauf von Munition, Mehl, Kaffee, Werkzeugen, Angelgerät, warmen Kleidern und ähnlichen Dingen verbraucht. Und ohne einen Peso oder Centavo, aber ziemlich gut ausgerüstet und alle Herzen voll goldklingender Hoffnung, begann die moderne Robinsonade. Fast ein Jahr verging, und die Männer aus Südeuropa und der Levante wurden echte tüchtige abgehärtete „Feuerländer", die eine Robbe beschleichen können, ihre Schuhe und Kleider mit Pelzwerk und Häuten ausbessern und auch die scheue, die Küstensäume bevölkernde Nutria mit sicherem Schuß im Wasser erlegen; und die auch ein Kanu paddeln können und erfolgreich auf Guanacos jagen. Die Abenteuer, die von den gruppenweise ausziehenden Männern in den Kanälen und Buchten, auf den Bergen, im Dorngestrüpp und auf der Pampa erlebt wurden, könnten alle Romanschreiber der Welt auf Lebenszeit mit Material versorgen. Abenteuer, die wahr und so bunt sind, so phantastisch, daß niemand, der in Europa hinterm warmen Ofen hockt und auch dichtet, sie glauben würde. Denn daß die Wirklichkeit viel krasser und phantastischer sein kann als die zügelloseste Einbildung, wird immer noch zu wenig begriffen . . . •) Heutigentags sind verschiedene Kohlenminen auf Feuerland in Betrieb.
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Gold! Haben sie bisher Gold gefunden? Ja, sie sammelten bei ihren Streifzügen hie und da durch harte Arbeit ein bißchen gelben Staub, ein paar dürftige Körner und Nuggets, aber die ganze Ausbeute von neun Monaten voller unsäglicher Strapazen bedeckt kaum zentimeterhoch den Boden eines Tabakbeutels aus Seehundsfell. Unermüdlich rechnet, plant und hofft und strahlt Don Julio, sucht oder untersucht Gesteinsproben und Sand, dringt bei ständiger Lebensgefahr in enge Buchten, wo das Meer in ewiger schrecklicher Brandung die großen Strandblöcke mit ohrenbetäubendem Geknatter hin- und herrollt, erklettert halsbrecherische Schluchten, paddelt in lecken Prahms über breite, von furchtbaren Unterströmungen und vom Sturm hin und hergepeitschte Kanalwasser, wo jede Minute den Tod bergen kann. Er zieht durch die raschelnde Pampa, schlüpft durch Wälder, die ein urweltliches Durcheinander gestürzter, verfaulter oder glashartgefrorener Stämme und Zweige bilden. Und immer wieder betrachtet er in stummen Gedanken, die er keinem anvertraut, den selten aus Wolken und Dunst königlich hervortauchenden, eisglitzernden Monte Sarmiento. Wenn der Schneesturm pfeift und draußen alles weiß überzieht, sitzt er bei den andern in der warmen Hütte vor den Kojen am Kamin und erzählt unendlich viel Anekdoten; reißt Witze, daß die manchmal verzweifelnden Männer sich vor plötzlichem Übermut auf die Schenkel klatschen, und malt das Ziel Gold, eine Bonanza von Gold vor ihre Augen, so greifbar und logisch überzeugend, daß sie wieder in den magnetischen Bann des zierlichen Mannes fallen und schwören: „Wir suchen und werden es finden, und wenn's zehn Jahre dauert!" . . . Aber furchtbar für alle war dieser Winter! Es gab auch für Poppers Leute zuerst einige Feuergefechte mit zwei, drei Ona-Horden — mit tragischem Ende für die Angreifer! Die Skandinavier und seine Balkanmänner, Griechen und Montenegriner hatte der Colonel vorausschauend ausgebildet, förmlich 43
für den Kleinkrieg exerziert; fast jeder war ein sogenannter Todesschütze geworden. Dann erlernte Popper von den Pelzjägern notdürftig die gutturale Indianersprache, und ging eines Tages allein, unbewaffnet einen grünen Zweig schwingend, nach den Reisighütten der nächsten Onasiedlung. Dort sprach er dann auf dem festgestampften Schnee mit den Männern, streichelte die nackten robusten Kinder und gab den stolzen hochgewachsenen mißtrauischen Frauen Geschenke. Und fortan herrscht Frieden zwischen ihnen. Die Indios kümmern sich nicht viel um die Weißen und umgekehrt. Poppers Leute, durch seine Persönlichkeit in zwanglose, den einzelnen bei der Ehre packende Disziplin gehalten, belästigen niemals die Indiofrauen. Guanacos und anderes eßbares Getier gibt es genügend für alle, niemand braucht zu hungern, wenn er sich mit der freilich etwas eintönigen Kost zufrieden gibt. Und so haben denn langsam die Tausende von Onas, die zu Familien-Sippen verstreut in den Steppen Feuerlands hausen, vertrauensvoll gelernt, daß Poppers Gesellschaft nicht mit den andern Goldsuchern zu verwechseln ist, jenen verwilderten, weggelaufenen Matrosen und Strauchrittern, die sich bandenweise herumtreiben und jeden Indio über den Haufen schießen und seine Frauen und Töchter vergewaltigen . . . Allerdings: als man versucht, die Indios nach Goldvorkommen auszufragen, schütteln sie die Köpfe, lachen dann verständnislos. Guanacofelle halten warm und ihr Fleisch schmeckt gut, wozu brauchen da die Kinder der Wildnis das gelbe Metall? Zeitweilig kommt ein alter, weißhaariger Ona nach der Siedlung. Poppers Leute nennen ihn „Häuptling", obwohl die Onas keine Stammesoberhäupter haben; sein Name ist den Weißen unaussprechbar. Wie er ihnen mühsam mit Hilfe der zehn Finger erklärt, zählt er über hundert Jahre, aber er hält sich noch aufrecht in seiner ganzen Körpergröße von fast zwei Metern, und 44
seine Muskeln spielen und ballen sich bei jeder Bewegung wie bei einem Athleten. Er hat eine junge Frau in seiner Reisighütte, und da bei den Onas das schönere Geschlecht im wahrsten Sinne des Wortes das Zepter schwingt, ist er bisweilen recht froh, die Weißen besuchen und die Gebieterin daheim lassen zu können. Er kann es jedoch nie lange in der Hütte aushalten, er braucht die frische Luft. Doch am Kamin sitzt er gerne, starrt dann in die züngelnden Flammen, raucht aus einer geschenkten Pfeife und ist sehr erfreut, wenn er einen kleinen Schluck Pisco erhält. Popper versuchte den Indios beizubringen, daß die zutage liegende Kohle viel wärmer, besser und länger brennt, aber sie hören nicht darauf, sie wollen von dieser Neuerung nichts wissen und begnügen sich mit winzigen Feuern, vor und in ihren aus Gerten errichteten Hütten, durch die der Wind pfeift und immer Schneeflocken dringen. Und wenn der Rumäne oder seine Gefährten bisweilen mit diesem oder jenem Indio auf die winterliche Guanacojagd gehen, so lachen die rotbraunen Männer, die nur ein Fell um die Hüften und niedere Mokassins tragen, über die Schwäche der weißen Männer! Die schleppen sich mit Schlafsäcken ab und brauchen gewaltige Lagerfeuer, um die sie fröstelnd hocken; sie selbst legen sich einfach auf den Schnee, scharren sich eine Schneewehe über die Füße und geben sich auf diese Art sorglos dem Schlaf des Gerechten hin. Und doch, denkt Popper, sind es diese verzärtelten, von weißen Müttern abstammenden weißen Männer, die mit ihrer Ausdauer die Welt eroberten . . . Und meist, aber nicht immer, ist der Magnet, der sie anzieht, der sie Wüsten, Berge, glühende Hitze und grausame Kälte überwinden und Strapazen aushalten läßt, denen jede abgehärteten Eingeborenen letzten Endes doch erliegen, — Gold, Gold! Um das gelbe Metall zu finden, wohnen jetzt Don Julios Männer in ihrer primitiven Hütte. Sie leben größtenteils von der 45
Jagd, wobei man nicht wählerisch sein darf. Sie backen Brot, das mehr Eichen- und Birkenrinde enthält als Mehl, verzichten auf Frauen und auf Kaffee, Tee, Zucker und andere Annehmlichkeiten. Denn die Vorräte wurden längst aufgebraucht! Und sie besiegen mit ihrem unverwüstlichen Lachen und ihrem Glauben die eigene Verzweiflung. Alles um ihres wunderbaren Traums vom Golde willen . . . Freilich, ohne Popper wäre dieser kleine Männerstaat schon längst auseinandergelaufen, wäre zugrunde gegangen in Schnee, Eis, Sturm, Hunger und Trübsinn. Er ist ihr Halt. Don Julio! Der Colonel! The Colonel! El Coronel! Il Coronello! Wie ein strahlendes, seelenwärmendes Südlicht erhellt er immer wieder die Nacht der Enttäuschung und Ungeduld, die täglich über den Männern zusammenschlagen will . . .
Die Gerechten von Feuerland . . . im schmalen Talkessel, an drei Seiten durch niedrige sanftgewellte Berghänge beschützt, ist das Lager mehrerer, aus vielleicht hundert Köpfen bestehender Onasippen. Kaum heben sich die runden, dürftig mit Fellen beworfenen Zweighütten, einige spitze Guanacofellzelte und das lange, ebenfalls aus Zweigen und Häuten, nur etwas stabiler gebaute Zeremonien- und Shamanenhaus von der weißen Sshneefläche ab. Die herkulischen Jäger sind heimgekehrt, werfen nach ihrer Art stumm die Beute hin; sie wird sofort zerlegt und nach strenger Regel ganz gleich an die ebenso hochgewachsenen wortkargen Frauen verteilt. Bald riecht das ganze Lager nach gebratenem Fleisch. Eine kalte sternfunkelnde Winternacht wölbt sich wunderbar rein über Feuerland. Windstöße summen, Holzscheite prasseln, rosa Schimmer und aufglühende Schlaglichter der Flammen malen goldrote Figuren auf bläulichen Schnee. Die Männer treten aus den Behausungen, knüpfen kurze, in 46
seltsamem Kehllaut geführte Unterhaltungen mit den Gästen an: Don Julio, seinem Leutnant Pierre, dem Kanadier Gerard und fünf Serbiern. Dabei wischen sie sich mit dem Arm über den Mund, streichen ihre fettglänzenden Finger an den Ponyfrisuren ab. Und gehen dann langsam, stolz und aufrecht, ins Shamanenhaus. Dort donnert und klappert eine Handpauke. Die Frauen kommen, bilden einen großen, lockern Kreis um den hartgestampften Versammlungsplatz, flüstern und lachen; und aus den Hütten lugen naseweise, kraftstrotzende, schmutzige und splitternackte Kinder. Ein paar Säuglinge, kaum in Felle gewickelt, schmatzen eifrig an den bloßen festen Brüsten ihrer Mütter. Die Weißen haben sich ein mächtiges Feuer gemacht; sie hocken auf Fichtenzweigen, rauchen ihre Pfeifen und sind engvermummt. Der Atem der vielen Menschen hängt als schwacher Dampf in der Luft. In den Wäldern bellen Füchse, und einmal durchschneidet ein nicht sehr lauter, aber furchtbarer Schrei wie von einer gequälten Frau die übrigen verworrenen Geräusche. „Puma!" sagt der Kanadier. Und lacht leise: „Wahrhaftig, beinahe wie bei einem Siwashpotlatsch in Alaska kommt mir's vor. Nur sind die Roten dort nicht solche Riesenkerle und minder abgehärtet und nackt als diese Burschen hier und ihre Squaws. Von den Papooses ganz zu schweigen. Und noch etwas fehlt, worüber ich mich immer wieder wundere — und bin doch schon so lange auf Feuerland —" „Was meinst du, Gerard?" fragt Popper. „Die Hunde, Mann, die Hunde! In Alaska hat jede Indianersippe mehr Hunde als Menschen. Sie ziehen den Schlitten, begreifst du? Und im Sommer haben die Hunde ihre fetten Tage, wo sie Lachse mit den Pfoten aus den Bächen fangen. In solchen Schneenächten wie heute aber, wenn dort die Nordlichter tanzen, da sitzen diese Huskies vor den Zelten, recken die haarigen Schnauzen zum Himmel und heulen. Heulen, daß es einem durch 47
Mark und Bein schneidet. Aber irgendwie packt's einen, und es ist wunderschön. Man versinkt in alte Zelten dabei, als die Menschheit noch jung war. — Ja, ich kann das Heulen der Alaskahuskies nie vergessen. Ganz abgesehen davon, daß beim Potlatsch Rum und Whisky in Strömen fließt. — Ja! Und diese erstaunlichen Onas hier haben nicht 'nen einzigen Hundeschwanz! Komisches Volk das!" Er zieht an seiner Pfeife. Dumpf dröhnt die Trommel. „Sie haben ihre jungen Burschen mannbar gemacht, während der letzten Nächte!" sagt er wieder. „Mannbar? Doch nicht etwa beschnitten, mon Dieu?" Die Männer vom Balkan lachen, und der Jäger erklärt: „Non, mon vieux, so was kennt man hier nicht. Aber die Männer und der Shamane setzen sich da nachts Masken auf — scheußliche geschnitzte Dinger, ihr werdet sie eines Tages oder vielleicht heute schon sehen. Und sie bemalen sich, machen sich unkenntlich. Und kriechen dann nachts dem Jüngling auf die Brust und grunzen und versuchen ihn nach allen Regeln der Kunst zu erschrecken. Dadurch sollen die jungen Burschen furchtlos werden, savvy?" Auf einmal schlägt der Fellvorhang des Shamanenhauses zurück, und eine sonderbare, in der wilden Umgebung teuflisch wirkende Prozession quillt im Tanzschritt, einer hinter dem andern, ins Freie. Voran der Shamane, ein alter, aber ungebeugter, mit getrockneten Fischen, Eidechsen, Kolibris, Muscheln und Fuchsschwänzen über und über behangener Indianer. Gelbe und blaue Kreise aufs Gesicht gemalt, in der Hand die kleine Pauke, so führt er sie an. Die andern Männer haben über die Köpfe groteske, schreckliche, aus Holz und Pumarachen hergestellte Masken gestülpt, aus deren Schlitzen ihre Augen funkeln. So bilden sie alle, mit dem Zauberer an der Spitze, eine Figur wie eine lange, sich windende Schlange, die sich dann auf dem Ratsplatz zu einem fast geschlossenen Kreis fügt, dessen Mittelpunkt der paukende, hüpfende und jaulende Shamane ist. Nun klatschen die Frauen rhythmisch in 48
die Hände, unaufhörlich und unaufhörlich schreit und brüllt der Zauberer. Fern bellen Füchse; von Zeit zu Zeit fauchen Windstöße, daß die Scheite knistern und die Flammen auf purpurnbeschienenen Schnee blutrote Bilder malen, durchhuscht von den riesenlangen Schatten der stumm tanzenden, sich drehenden, stampfenden Männer. Alle Kinder sind angstvoll in den Hütten und Zelten verschwunden. Es ist ein phantastisches, lebendes Gemälde urweltlicher Wildheit. Ein Bild, das sich bei den Onas seit tausend und mehr Jahren wiederholt hat. „Prächtig!" brummt Gerard, und der Elsässer flüstert: „Mon Dieu, das auf der Vaudevillebühne in Paris oder New York, und die Kerle würden Geld wie Heu verdienen! Superbe!" Mit glänzenden Augen starrt Don Julio auf das Gewoge der Leiber und Flammen. „Das allein lohnt die Reise und alle Strapazen. Das will ich morgen in mein Skizzenbuch aquarellieren!" murmelt er selbstvergessen. Sie sind alle im Bann der Stunde. Die Zeit verstreicht. Und nichts ändert sich. Die Onas tanzen stumm, und ihre Frauen klatschen in die Hände, beugen sich hin und her, hin und her . . . Der Shamane trommelt, jault, schreit. Hoch oben funkeln die Sterne als Silberstickerei in einer unermeßlichen Kuppel reinster Bläue. Einer der Onas — er trägt als Maske einen Hairachen mit Teufelshörnern rechts und links, taumelt aus dem Kreis, schlägt dann lang in den aufstiebenden Schnee. Bleibt liegen. Und wieder vergehen Zeiten. „Wie lange dauert das?" flüstert der Serbe Ristic unbehaglich. „Bis der Letzte umgefallen ist. Und das kann bis morgen früh gehen, denn die Roten sind kräftig!" erwidert Gerard. 49
„Ich nehme an, daß wir bis zuletzt bleiben müssen?" erkundigt Popper sich. „Ay, ay! Sonst sind sie beleidigt und schießen uns Pfeile in die Bäuche. Aber keiner wird etwas sagen, wenn wir unser Feuer nicht ausgehen lassen." Jemand schleudert neue Scheite auf die Glut. Ein Säugling fängt an zu weinen. Die Mutter unterbricht ihr Händeklatschen: sie stopft ihm die spitze Brust ins Mäulchen. Eine andere Frau erhebt sich, tritt aus dem Ring und schleift den Ohnmächtigen in die nächste Hütte. Sie kommt nicht zurück. Wieder wankt ein Tänzer. Fällt seitwärts in den Schnee. Dann noch einer und ein Dritter. Nach geraumer Weile werden sie von ihren Frauen in die Hütten geschafft. Der Kanadier rollt sich in seiner Decke eng ans Feuer. „Gute Nacht, bonne nuit! Ich will schlafen. Das nehmen sie nicht krumm, nur weggehen darf niemand!" Und es vergehen Zeiten . . . Wie in einer Trance starren die Europäer auf den urweltlichen Tanz. Wieder schieden einige aus, aber noch wogen und stampfen dort an die dreißig Onas. Auch die Frauen wurden weniger, da sie bei ihren besinnungslosen Männern in den Hütten blieben. Don Julio schreckt empor. „Wo ist Ristic?" „Sacré, er hat sich weggeschlichen!" Der Kanadier rollt sich aus der Decke, richtet sich auf: „Hoffentlich hat der Shamane nichts gemerkt." „Das gefällt mir nicht! Ristic ist der einzige, dem ich nicht ganz traue!" flüstert ihm Popper ins Ohr. „Weiß ich, weiß ich schon lange! Er ist sozusagen weibstoll! — Die Onas schlagen oder schießen jeden tot, wenn sie dergleichen merken. Und uns womöglich dazu!"... Trommeln, Jaulen und Stampfen. Knisterndes Brennholz, huschende Schlaglichter; und darüber, fern, ganz fern, die kreisenden Sterne. Fuchsgebell in den Wäldern, die schwarz und unnahbar wuchten. 50
Da! ein Schrei, ganz anders als das heisere Heulen des Zauberers. Einige Tänzer heben die Köpfe. Die Indianerinnen erstarren in ihren Bewegungen. Und wieder ein Schrei. Aus Frauenmund! Gellend, entrüstet und dann drohend! Aus dem nächsten Zelt rennt eine Ona, jung, prächtig gewachsen, nackt, wie Gott sie schuf. Und wie an einer gemeinsamen Schnur gezogen, die eine unsichtbare Hand regiert, so halten die Tänzer inne. Ein paar sinken nun um, die andern bilden eine quirlende Gruppe um den Shamanen. Kreischende Worte kommen aus Frauenmund, tief klingen die Antworten und Fragen des Shamanen. Und entrüstet, mit funkelnden Augen, zeigt die Nackte nach einer Hütte. Dort taumelt, noch halb benommen von der Tanzekstase, ihr Mann heraus, und an seinem Arm hängt, von starker Faust am Genick gepackt, ein zappelndes Bündel. Ristic, der Serbe! „Verfluchter Dummkopf, hat er das Weib vergewaltigen wollen, während sie den besinnungslosen Mann pflegte. Jetzt kann allerlei passieren. Mischt euch nicht ein, bleibt um Gottes willen stehen!" überstürzen sich des Kanadiers Worte. Was sollen sie auch tun? Ihre Waffen haben sie, um den Onas ihre Freundschaft zu beweisen, wie immer, wenn sie Besuch machen, nicht bei sich. Das Camp ist ja auch nicht weit. Der Ona schleudert seinen Gefangenen in den Schnee, setzt seinen breiten Fuß auf dessen Nacken. Ristic krümmt sich, bleibt aber liegen. Aus seinem Munde quillt wimmerndes Hilfeheischen. Die nackte Frau geht mit königlicher Haltung in ihre Hütte, und tritt dann, in ein Fell gehüllt, wieder zu der Gruppe. Die Indianer reden aufgeregt miteinander und werfen böse Blicke auf alle Weißen. Da tritt Don Julio in den Ring. Und fragt in der Onasprache: „Was hat er getan?" „Das weißt du und wissen die Deinen ebenso. Aber frage ihn selbst!" „Ristic, hast du der Indianerin das Fellkleid abgerissen und wolltest du sie . . . " 51
Ristic flucht, er jammert und droht abwechselnd in seiner Muttersprache; dann fällt er ins Italienische, das sie alle, mit Ausnahme des Pelzjägers und der Onas, verstehn: „Du hast uns Gold versprochen, und nichts haben wir gefunden! Und ich bin ein Mann und brauche Weiber, hört ihr?!"... „So geht's uns auch. Aber wir sind Menschen und keine Tiere und wissen uns zu beherrschen! Ristic, was hast du getan! Ich fürchte, wir können dir nicht viel helfen!" „Lauft ins Lager, holt die andern und Flinten! Schießt die Roten zusammen!" heult er in wieder ausbrechender Angst. Stumm horchen die Indianer, die Männer, die Frauen, selbst die neugierig aus den Behausungen gekrochenen Kinder. Und unter dem Plattfuß eines großen Ona krümmt sich der Schuldige. Poppers Stimme klingt noch schwerer und gewichtiger, ohne den warmen Ton, der ihm sonst die Menschen zu Freunden macht. Todernst ist sein Gesicht. Und die Seufzer aus dem Munde seiner Freunde hängen wie Echos an seinen Worten: „Und die Gerechtigkeit, Ristic? Wie könnten wir weißen Männer vor diesen armen Indios bestehn, die uns als Gäste aufnahmen und die unsere Freunde sind? Und wie könnten wir uns vor dem eigenen Gewissen verantworten? Ristic, du hast ein Verbrechen begangen, das, wie du genau weißt, bei diesen Indianern als das größte angesehen wird. Strafe muß sein! Ist es nicht so, Kameraden?" Und alle antworten schwer und schauen dabei auf den Boden: „Strafe muß er leiden!" „So verprügelt mich oder setzt mich auf halbe Rationen oder schickt mich nach Punta Arenas zurück. Oder setzt mich in der Wildnis aus! Nur nicht . . . " „Ristic, ich will mein Bestes für dich tun, denn ich habe dich in dieses Land gebracht. Aber ich fürchte . . . " „Ihr wollt mich doch nicht etwa diesen Rothäuten ausliefern? Und ihr nennt euch Christen?!" tobt und jammert der Unglückselige. Popper legte dem großen Ona die Hand auf die nackte Schulter, 52
spricht zu ihm und dem Shamanen: „Er hat euch böses Unrecht zugefügt, was um so schmachvoller ist, da ihr ihn als Gastfreund aufnahmt. Und . . . " er deutet zu den Sternen. Feierlich klingt es: „ . . . bei dem großen Geist, der dort unsichtbar oben thront! Der Übeltäter soll seine Strafe erhalten!" Die finsteren, verächtlichen Mienen der Indios entspannen und glätten sich. Würdig antwortet der Zauberer: „Wir wissen, daß du gerecht und unser wahrer Freund bist, und danken dir. Auch die Deinen sind uns willkommen. Aber es gibt zuweilen einen giftigen Fisch unter vielen guten. Und ein solcher muß ausgerottet werden!" „So sind wir uns einig. Wir brechen jetzt auf, und morgen mögen die Ältesten und auch jene Frau dort in unser Lager kommen und zusehen, daß wir unparteiisch richten!" Stille. Weit, weit weg: Fuchsgebell. Nahe, ganz nahe: Kinderweinen. „Halt! Wir glauben dir. Aber nicht ihr dürft ihn richten. Nach den Gesetzen gehört der Mann uns, und wir werden ihn verurteilen, nach unserm Brauch, der so alt wie das Land, das Meer und der Himmel ist!" warnend hob der Shamane die Rechte . . . Eindringlich, beschwörend, bittend und viele Versprechungen machend, redet Popper auf die Indianer ein. Wieder und wieder. Eine Stunde lang. Zwei Stunden . . . Er versprach ihnen den halben Proviant der Expedition, versprach ihnen alles mögliche und daß er den Schuldigen wirklich streng bestrafen würde. Umsonst. Die Onas wollen das selber tun! Fortwährend schreit, geifert und bettelt Ristic unter dem riesigen Fuß des Indianers. Und dessen Stammesgenossen haben plötzlich ihre nie fehlenden Pfeile und die starken, schöngeglätteten Bogen in Händen. „Was wollt ihr mit ihm tun?" fragt endlich, traurig und erschöpft, nach langer Zeit der Rumäne. Die Indios beratschlagen leise, dann verkündet der Shamane: 53
„Die Onas sind keine Quäler! Der Weiße, der den Frieden einer unserer Frauen morden wollte, wird, wie es unser Brauch ist, mit Pfeilen getötet. Die Onas schießen gut, und ihr sollt sehen, daß er nicht leidet!"... Abermals beginnt Don Julio den Redekampf um das Leben des Serben. Auch Gerard mischt sich ein, während die Landsleute des Gefangenen betreten zu Boden blicken. Erfolglos! Ruhig, ja freundlich bleiben die Indianer. Und dabei unerbittlich. Die Sterne funkeln satter, greller, erblassen dann ganz langsam. Die weißen Dünste des Morgens lagern kurze Zeit über Feuerland, denn es kommt nun der Tag; grau und wesenlos. Da beugt Popper den Kopf und sagt zu seinen Freunden: „Ich kann nicht mehr. Und wenn wir Gewalt versuchen — was aber ungerecht von uns wäre — so töten sie uns alle!" „Wahr gesprochen. Wir vermögen nichts mehr in dieser Sache auszurichten. Laßt uns gehn!" murmelt jemand. Stumm stehen die Indios um den erschöpften Gefangenen. Poppers über Nacht gealtertes Gesicht strafft sich. „Nein, die Fairneß diesen armen, von uns beleidigten Indianern gegenüber verlangt, daß wir bis zum bittern Ende dableiben. Schon den andern Kameraden sind wir das schuldig. Ihrer Sicherheit wegen den Indios gegenüber, deren guten Willen wir uns für alle Zukunft erhalten müssen. Sie, die oft genug von Weißen ermordet, grundlos niedergeknallt werden wie wilde Tiere, sollen und müssen sehen, daß wir gerecht und anders als die andern sind. Sonst können wir Feuerland verlassen, und euer Gold sucht euch dann in Träumen, aber nicht hier. — Gott ist mein Zeuge, wie furchtbar mir das ist. Und ihr werdet mich vielleicht nicht verstehn, aber ich kann nicht anders handeln!" . . . „So willst du, daß wir dabei sind, wenn sie . . . " Schweigen. Die Indios murmeln. Ein Kindchen jammert. Da nickt der Kanadier: „Du hast ein Herz wie Granit, Julius, und bist doch ein Mensch. Aber es ist schwer, dich zu begreifen, 54
obwohl ich eine Ahnung habe, daß du es für uns tust. Ja, es muß sein. Ist's nicht so?" Er wendet sich an die andern. Und alle nicken sie stumm, und keiner wagt den Blick zu erheben. Da sagt der Rumäne zu den Indianern: „Nehmt ihn!" . . . „Ihr seid weiße Männer, wie wir bisher noch keine getroffen haben. Und seid unsere Freunde!" sagt der Shamane. — Dann: ein paar gutturale Worte, und schon reißen sis den völlig apathischen Ristic auf die Füße, zerren ihn an den entrindeten Baum vor der Shamanenhütte, binden ihn dort aufrecht fest. Es geht alles rasch. Keine Zeremonie, kein Zusammentrommeln der Sippe, weder Schmähen noch Hohn. Von allem nichts, nur bleiernes Schweigen. Und der Gatte der beleidigten Frau spannt den Bogen, legt den Pfeil mit der Feuersteinspitze gegen die Sehne. Ristic wirft den Kopf empor. Gebete, Flüche, Drohungen, Wimmern und Geheul dringen schrecklich aus seinem Munde. Er ruft die Landsleute, beschwört sie, einen nach dem andern beim Namen nennend. Und sie stehen stumm und starren und wollen wegsehen und können's nicht. Der Ona hebt den Bogen. Visiert. Alle Frauen gingen in die Zelte. „So sei denn verdammt, in aller Ewigkeit!" Ristic's Stimme überschreit sich in irrer Todesangst. „Das Gold, das du findest, soll dir und euch Unglück bringen, und dein Ende soll ein schreckliches sein. — Sei verdammt, verdammt, verdammt, Julius Popper! Verdammt . . . " Der Bogen klingt. Und nun ein kurzes Schwirren. Plötzlich sinkt Ristic's Kopf vornüber. Bleibt so, unbeweglich. In der Brust, dort wo das Herz ist, steckt ein langer starker, weißbefiederter Pfeil . . . Und dann, einer hinter dem andern, stumm zu Boden schauend, jeder von Gedanken bestürmt, die er keinem verraten kann oder will, schreiten die gerechten weißen Männer von Feuerland nach ihrem Lager. Über den weißen, knisternden, stiebenden Schnee . . . 55
Wo das Gold liegt Regen, Schnee und Hagel prasseln, und der wolkenhetzende Südweststurm heult wie tausend Höllenhunde. Fern donnert das Meer, gleich einer großen Orgel. Behaglich ist's in der Hütte. Im Laufe der Zeit wurden die Innenwände mit Robbenfellen ausgekleidet, eine Doppeltür und Fensterläden gezimmert. Und nun verbreiten die rote Kohlenglut des Kamins und der aus Steinen errichtete Küchenherd nach allen Seiten ihre mollige Wärme. Streng riechen die mit Tran genährten Lampen und die vielen auf Regalen liegenden Nutriabündel. Vier Mann, die es nicht mehr aushalten konnten, sind neulich im lecken Prahm desertiert, und ob sie wirklich Punta Arenas erreichten, weiß man nicht. Ristic's Auslieferung an die Indios verursachte eine Weile böses Blut, aber seit die vier Krakeeler fort sind, wurde die Atmosphäre wieder friedlich. Duprez flüsterte einmal dem Colonel ins Ohr, er möge sich nachts zwei geladene Revolver unters Kopfkissen legen, aber der Rumäne schaute ihn nur groß an, ehe er in sein herzliches, warmes, erfrischendes Lachen ausbrach ... Draußen toben die Elemente. Don Julio kramte eine Weile bei den Regalen, überzählte die Nutriapacken und wirft jetzt einen schweraufplumpsenden Tabaksbeutel auf den rohen Plankentisch. „Kommt mal alle her, amigos!" Zwei Männer lassen Nadel und Faden und ihre Zeugflicken sinken. Der Koch, der eine hohe, weiße Ballonmütze wie ein richtiger Chef auf dem Kopf hat, schiebt seine große, brutzelnde Pfanne vom Feuer; der Bäcker wischt den klebrigen Teig von den Fingern; eine Schachpartie kegelt alle Figuren über den Haufen, und ein anderer, der in der fettigen Rousseauausgabe las, klappt das Buch zu. Und jener schlanke, lockenhaarige Grieche mit dem edlen Profil legt seine halbfertige Aquarellandschaft beiseite. Sechs schweigsame Pelzjäger klopfen bedächtig ihre Pfeifen aus. „Was ist's, Colonel?" . . . und die heitern, immer sangeslustigen 56
Söhne der Levante, des Balkans, der Adria und des Ebro unterstreichen mit lebhafter Geste ihre Frage. Und alle drängen nach dem Kaminplatz. „Na, seid mal einen Moment ruhig, das hört sich ja an, als wären wir auf der Marina Grande in Napoli oder Calea Victorei in Bucaresti oder sogar dem Zocodover im Lande des Cervantes!" lacht Don Julio in guter Laune. Gespannt schauen sie ihn an. „Da!" Er kippt den Beutel um, und ein schimmerndes Häufchen von gelbem Sand und Körnern fällt schwer auf den Tisch. „Und dort!" — seine Hand weist nach den Regalen, wo einige hundert getrockneter Nutriafelle liegen. „Das ist alles. Die Beute eines Jahres. Und wenn unsere Freunde" — er nickt den Skandinaviern und dem Kanadier zu — „uns nicht in die Schule der Wildnis genommen hätten, so wären wir noch übler dran!" „Das wissen wir ja, das wissen wir!" Schwielige Hände olivfarbener Männer mit schwarzem Haar, braunen Augen und blitzenden Zähnen patschen anerkennend auf die breiten Schultern der großen Pelzjäger. „Na, und habt ihr's noch nicht satt, amigos?" „Per bacco! wär ich Gaucho geblieben, so ginge mir's viel schlechter. Mit knurrendem Magen in den Straßen von Buenos Aires herumlaufen, oder auf einem Rancho um Arbeit betteln, ist auch nicht das höchste aller Gefühle! — Hier auf Feuerland ist's recht nett! — Einmal wird der große Schlag kommen, der uns alle reich macht!" rufen sie durcheinander, und der Colonel strahlt sie an und sein Gesicht lacht vor innerer Freude. „Unser Mehl ist fast alle, aber ich kann ja noch mehr geriebene Birkenrinde zutun, dann reicht's eine Weile weiter!" schmunzelt der Bäcker. „Oho, hört den Giftmischer! Bei der Panagia! Ich fühle mich vor lauter Sägemehl in mir schon wie ein Baum!" „Tabak haben wir auch noch, Coronello, und daß du den Schnapsrest für Krankheitsfälle aufhebst, ist zwar jammerschade, aber ich habe schon verschiedene Wurzeln ausprobiert und denke, 57
daß ich bald ein hübsches Eigendestillat auf den Tisch setzen kann!" „Fleisch gibt's genug! Guanacos, Enten und Gänsebraten, wie bei feinen Leuten! Was willst du also, Colonel?" „Ich wollte nur sagen: das Gold hier auf dem Tisch wiegt kein Viertelpfund, und das ist wenig für über dreißig Männer. Und die Pelze? Aage, was meinst du, was sie einbringen, wenn wir sie in Punta Arenas verkaufen?" Behutsam erwidert der Angeredete: „Ich habe mir sagen lassen, daß man in den Großstädten schönes Geld für Nutrias zahlt, denn die Ladies sind scharf auf solches Pelzwerk, weil's wunderbar weich und warm und doch leicht im Gewicht ist! Aber wir Jäger? Wenn uns der Händler in Punta für die gesamten Felle neunhundert Pesos gibt, können wir uns freuen!" „Ja, und auf sechsunddreißig Mann verteilt, ist das nicht viel. Eine kleine Spree bei Rattenjack, ein paar Schlückchen Pisco und 'n Kuß von den Juanitas, und alle ist's!" sagt sein Freund Einar. „Aber sicher finden wir noch mehr! Gold! Ist's nicht so, Don Julio?" ängstlich klingt die Frage aus dem Hintergrund. „Wir werden es finden! Glaubt ihr mir noch?" Poppers Blick packt die Männer, frißt und saugt sich in ihnen fest. Und zufrieden nickt er, als sie rufen: „Ja, wir glauben dir!" „Aber 's wäre Zeit!" brummt Aage und stopft seine Pfeife. Don Julio lächelt: „Ich weiß, was dir und deinen Kameraden fehlt. Und wir verstehn euch und nehmen's nicht krumm. Aber wir, wir vom Balkan und den warmen Mittelmeer- und Adriaküsten, sind anders als ihr!" „Ja", brummt der Schwede Einar. „Hab's in Argentinien gesehen und auch in Amerika droben. Wir Nordländer und die Englishmänner sind von euch verschieden. Wir arbeiten mehr als ihr und hungern auch, wenn's sein muß, und begnügen uns, aber von Zeit zu Zeit muß man sich mal ausruhen während der Arbeit." „— und eins trinken und Gloria in 'ner Tanzbude feiern!" lacht der Kanadier, und der andere fährt fort: „Aber ihr Dagos — 58
vergebt, wollte euch nicht beleidigen! —, ihr arbeitet zuweilen wie die Teufel, begnügt euch mit Polenta, Tabak und Maté, wohnt in Hütten, die aus Standardöltanks gebaut sind, kauft kein Fleisch, geht nicht in die Tanzbuden und Bars, schuftet, arbeitet, bis ihr denkt, daß es genug sei, und dann kauft ihr euch 'nen Laden, oder 'nen Rancho, macht vielleicht ein Restaurant auf oder fahrt nach Hause und lebt dort als Rentner!" „Bravo, bravissimo, du kennst dich aus! Sollst leben, alter Seehund! Viva!" lachen die andern. Poppers Hand gebietet Schweigen. „Da wir uns verschworen haben, daß zwischen uns alles ehrlich geteilt wird, so schlage ich vor, wir warten gut Wetter ab, und dann fahren einige nach Punta Arenas und bringen für das Gold und die Pelze allerlei Dinge zurück, die wir nötig brauchen. Und da wir gute Kameraden und Aage, Einar, Gerard und die andern Freunde, denen wir soviel verdanken, prächtige Burschen sind, so schlage ich vor, daß wir sie nach Punta schicken. Und für einen Teil des Erlöses sollen sie sich Pesos geben lassen, denn wir Dagos" — er lachte — „wir wünschen herzlich, daß sie eins trinken und sich einen Kuß oder dergleichen geben lassen, ehe sie mit den Einkäufen zurückkommen! Will sonst noch jemand mit? So sage er's, wir sind freie Männer und üben keinen Zwang aneinander." Er schaut in die Runde. Die Männer betrachten einander, murmeln, und ein paar schneiden mißmutige Gesichter, während die Pelzjäger breit grinsen. „Nehmen wir nicht an! Wir holen den Proviant und verkneifen uns Drinks und Küsse, bis bessere Zeiten für allhands kommen!" verkündet Aage. Da springt ein hagerer Kerl auf. Ein Mann mit scharfem Gesicht und kühnen, trotzigen Dunkelaugen, der mit einem Satz auf dem Tisch landet. „Ja Muhamed, ai Gusum! Niki will eine Rede halten!" lacht ein räuberähnlicher, schwarzbärtiger Arnaute aus Durazzo. 59
Der Sohn der Tschernagora beginnt in holprigem Spanisch, damit ihn alle verstehn: „Caramba, sag" ich. Bis bessere Zeiten kommen, meint Aage! He, wir wissen alle, daß das bald sein wird. Aber wären wir soweit und würden wir jetzt alle geborgen in dieser warmen Bude sitzen, wenn unsere guten Freunde, diese Pelzjäger nicht wären? — Darum meine ich — und wer sich nicht dieser Meinung anschließt, ist ein gieriger schmutziger Schuft, der keinen Platz mehr unter uns hätte! —, daß wir 's so halten wollen, wie Julio, unser Colonel, es vorschlug. Unsere guten Freunde und Lehrer und Wohltäter, diese sechs Pelzjäger, sollen rüberfahren und für alle einkaufen. Und es soll ihnen nicht ein Drink und ein Kuß vergönnt sein, sondern zehn oder mehr und eine ganze Pulle für jeden, wenn es ihm schmeckt. Und, ich sage es nochmals, küssen sollen sie zur Genüge. Und nun frage ich: wer hat etwas dagegen?" Wild schaut er nach allen Seiten, springt dann vom Tisch, als Popper sich weise einschaltet: „Wir wollen abstimmen! Wer dagegen ist, soll die Hand heben. Avanti! Adelante!" Ein Murmeln, Lachen. Dann fahren sechs Hände empor. Sechs Hände von sechs Pelzjägern, denen die Abstimmung gilt. „Jah Muhamed, es hilft euch nicht!" lacht der Arnaute. „Das gilt nicht, und von uns seid ihr überstimmt! Also ist beschlossen, im Rate der freien Männer auf Feuerland, daß unsere sechs guten Freunde sich am ersten schönen Tag auf die Beine — will sagen: in die Boote machen und über die Magellanstraße nach Punta Arenas fahren!" „So sei's!" bekräftigen viele Stimmen, und die Augen der Sechs glänzen vergnügt. Verlegen macht Gerard sich zu ihrem Sprecher: „Habe bisher wenig Männer, wie ihr seid, getroffen. Seid feine glorreiche Burschen und verteufelt gute Partner. Wir nehmen an! Und werden alles besorgen und uns keineswegs stiervoll besaufen, sondern schön Maß halten. Auch bei den Señoritas. Rattenjack soll an uns keine Freude erleben!" „Und nun, da alles einig ist, können wir's uns leisten, daß 60
Mauro, unser derzeitiger Chef de cuisine, einen tüchtigen starken Feuerlandmännergrog braut. Ohne Wasser! Und dann will ich euch erklären, wie ich mir alles denke und warum ich überzeugt bin, daß wir viel Gold finden müssen und werden!" Und Popper geht nach dem Proviantverschlag und holt die bauchige Piscokruke. Mauro macht sich an die Arbeit, und bald hat jeder den dampfenden Blechbecher vor sich. Pfeifen und Zigaretten qualmen, und draußen heulen die Elemente. Nach einer Weile beginnt Popper: „Von euch, die ihr nach Punta Arenas fahrt, besonders, aber auch von allen andern verlange ich, daß ihr über das, was ich euch jetzt erzähle, schweigt. Denn, so kinderleicht die Idee sich anhört, bisher kam doch keiner darauf, und ich will nicht, daß uns andere Leute plötzlich zuvorkommen. — Seht, man weiß, daß Gold in den patagonischen Anden und auf Feuerland vorkommt. Das ist längsterwiesene Tatsache! Aber die Bonanzas, die man in Californien und Australien entdeckte, hat hier bei uns noch keiner gefunden. Aber sie sind da, ja, sie sind da! — Durch Schmelzprozesse und Ausbrüche des Erdinnern vor Jahrtausenden gibt es Stellen an der Oberfläche, wo Gold in Mengen liegt. Nun stelle ich mir die Sache so vor und will mein Leben daraufsetzen, daß ich recht habe, bin ja nicht umsonst Geologe: Hier auf Feuerland gibt es eine Menge Buchten, wo das Urgebirge aufgebrochen ist und teils geschmolzen und teils durch Ausbrüche — nun in steilen Hängen, die unten sich verflachen, sozusagen ins Meer floß. Und zwar müssen's Stellen sein, wo die großen Wogen bei Sturm oder auch Windstille, jahraus, jahrein, seit Ewigkeiten nach unsern Begriffen, mit fast immer gleichbleibender Wucht gegen das Land anrasen, Sand, Gestein und Trümmer hin und her rollen, zermahlen, zerschroten und zerwaschen. Und dort, an solchen Stellen, die es zu finden gilt, denn es kommt auf das Urgestein an! — an solchen von der Brandung dauernd überrannten und rhythmisch abwechselnd freigegebenen Küstenstreifen, wo die hin und her rollenden Steine knattern und knallen und der Sand nie zur Ruhe kommt, 61
immer wieder aufgewühlt wird — dort — wenn das aus den Bergen durch die Ausbrüche hervorgerülpste Urgestein Gold enthielt — ja, dann muß dort Gold, frei und pur, in Massen zu finden sein! Bonanzas, halb unter Wasser, sage ich! Wir müssen eine solche Stelle finden! Und das werde ich auch, darauf könnt ihr euch verlassen. Aber schweigt darüber, schwört es mir, daß ihr schweigen wollt!" Gebannt hingen ihre Augen an seinem sprechenden Mund. Sie nickten einander zu, verschluckten sich am Grog, legten Pfeifen und Raucherutensilien weg. Eine Weile herrschte eine beklommene Stille. Dann aber, ganz plötzlich, hallt die Hütte von Viva-Geschrei und tollen Freudenausbrüchen. Die Männer umarmen sich, springen umher, stampfen, singen, jauchzen, und es ist beinahe, als wäre Poppers Verkündung schon eingetroffen und sie tanzten auf einem Boden von purem Golde . . . Was er sagte — und noch nie ließ er sich so genau aus — das hat Hand und Fuß und ist auch dem Einfachsten unter ihnen begreiflich. Du lieber Gott, das kann ja ein Kind verstehn und ist so leicht wie Polentaessen! Dieser Colonel ist doch ein Kerl! Per bacco! Bei der Panagia! Jah Muhamed! Caramba! Ein Kerl, der . . . Freudetrunken und begeistert, reichen die Männer sich die Hände, lassen Popper hochleben. Und schwören, daß kein Außenseiter jemals erfahren soll, wie und wo das Gold gefunden werde. Das Gold, das auf sie, die Bevorzugten, wartet. Irgendwo liegt es . . .
Schütze die Goyim . . . Abraham Brauns Großeltern, Eltern, selbst wohnten einst in einer großen Stadt Reußen, des allmächtigen Väterchens Zar. schlecht, wie's damals war; arbeiteten auf Handel trieben, und liehen auch Geld an die 62
Geschwister und er des Herrschers aller Sie lebten gut und ihre Art, indem sie Beamten Väterchens.
Und die Herren, die nur selten ans Wiederzahlen dachten und dazu oft viele Jahre brauchten, aber stets herrlich und in Freuden selber gediehen und jedes Kopekchen und Rubelchen, die sie den demütig drängenden Söhnen Israels zurückerstatteten, mit Fußtritten, Prügeln und wüsten Schimpfreden würzten, diese feinen Herren brauchten sich eigentlich nicht zu wundern, wenn die armen, verachteten Geldgeber, gequält und rechtlos, sich auf die einzige Weise rächten, die ihnen blieb: indem sie einfach hohe Zinsen verlangten. Manchmal aber wurde es den Barins und Gospodins zu arg; anstatt daß man sie sich vergnüglich an Champagner, Sterlet und Kaviar letzen ließ, sollten sie in den Geldbeutel greifen müssen! Und da die freigebig gespendeten Zärtlichkeiten der Nagaika oder Kantschu auch nichts halfen, inszenierte man dann und wann ein kleines Pogrom: ein paar hundert unschuldige Juden wurden totgeschlagen, ihre Häuser ausgeplündert und dann verbrannt und ihre rehäugigen Töchter vergewaltigt . . . Abraham gefiel ein derartig unerträgliches Dasein auf die Dauer nicht mehr, besonders als im letzten Pogrom seine sämtlichen Angehörigen umgebracht oder verschleppt wurden. Er schnürte sein Bündel und kam nach langer Hedschrah ausgerechnet nach Punta Arenas. Dort gab's zu seiner Zeit fast nur Kneipen, randalierende Seeleute, rauhe Jäger, Goldgräber und Kolonisten. Abraham Braun tat einen bescheidenen Handel auf. Die verrosteten Konservenbüchsen und Petroleumkanister, die bergeweis in den wüsten Höfen der Kneipen und hinter dem Administrationsgebäude der englisch-chilenischen Bunkergesellschaft lagen, suchte er unter dem Gelächter und Spott oder Mitleid wilder Zecher zusammen. Schabte den Rost ab, bog die scharfen Ränder um und machte aus Draht — den er auf einem Schiff geschenkt bekam — hübsche Henkel daran. Diese praktischen patagonischen Kochtöpfe und Kaffeekannen verkaufte oder vertauschte er an die Armen. Denn Arme gibt es überall, also auch am Aussteigeplatz der Welt! 63
Abraham war sehr billig; die soliden Töpfe in den Läden waren sehr teuer; er hatte großen Absatz und sparte dabei Geld, bekam auch manchmal von Yaghans oder sich neu etablierenden oder aus der Wildnis zurückgekehrten, bequemen und großzügigen Goldsuchern, die sich derartige Gefäße zwar selber herstellen konnten, es aber nicht taten, — hübsche Pelze und Felle, vielleicht sogar ein paar Prisen Goldstaub. Und als andere Schlaumeier seine Idee für sich selber auch ausnutzen wollten — es vergingen Jahre darüber — war es zu spät. Mittlerweile war Abraham Braun*) zum Original von Patagonien und auch Feuerland geworden und hatte das Monopol auf weggeworfene Blechbüchsen. Als sein tüchtiger Geschäftssinn dieses ertragreiche Gebiet abgegrast hatte, war sein Sparpfennig erheblich gewachsen. Jetzt, zu Popper's Zeiten, hatte er sich längst auf allerlei vielseitige, aber saubere Geschäfte geworfen und war ein allbeliebter Mann. . . . Dieser Abraham, ein gebückter, frühgealterter Mann, ist der erste Mensch, dem die sechs Abgesandten Poppers nach ihrer Landung von Feuerland im Hafen begegneten. Und Aage, ihr Anführer, ein sehr vernünftiger Mensch, der genau weiß, der Almacén in Punta Arenas, wo man alles Nötige kaufen kann, ist sündhaft teuer, dieser Abraham aber hat eine andere bessere und billigere Vertretung, Aage also gibt ihm sofort den Auftrag. Und der Abraham schlägt die Hände überm Kopf zusammen, wie er die zwei halb voll Wasser gelaufenen Prahms sieht und wie er dann erst hört, wo sie herkamen. „Kaufst du Gold und Felle, Abie?" fragt der Däne halb im Scherz. *) Braun heiratete orthodox. Eine seiner Töchter heiratete in die spätere "Explotadora de Tierra del Fuego" ein und hat heute einen Palast in Buenos Aires, einen in Santiago de Chile, dazu das traditionelle Stadthaus in Punta Arenas und könnte, wenn sie wollte, auch Paläste in Rom und an der Riviera haben. Denn ihr Vermögen, dessen Ursprung auf alten Konservendosen beruht, die ihr Vater sammelte und verkaufte, zählt nach Pfundsterlingmillionen.
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„Gott der Gerechte, Se haben Gold? Und scheene Nutriafelle? — Kauf ich, nehm ich kursmäßig ab und bin kulant, zahle ehrliche Preise, wo Se nicht kriegen anderswo. Zahle bar oder in Waren, wie Se wollen. Ist meine Waage echt!" — Und er nennt den Preis für beide Artikel, der ein geringes unter der in Punta Arenas üblichen Norm liegt. „Hast du wirklich soviel Geld liegen, Abie?" „Hab' ich, werden Se sehen. Und hab' ich Kredit in der Administrationsbank, weil ich bin ä ehrlicher Businessman und nehme nur wenig Rebbach!" Jeder auf Patagonien und Feuerland kennt die Geschichte Brauns und weiß, daß sein Wort gilt. Und da er in einem freien Land ist, wo er seine Außenstände nicht unter Beigabe von Kantschuhieben und Fußtritten einziehen muß, so schlägt er auch keine hohen Risikozinsen auf und begnügt sich mit geringem, aber sicherem Verdienst. „Na, dann kommt. Rattenjack hätte uns doch nur betrogen!" Und die Sechs, jeder einen schweren Fellpacken auf der Schulter, stapfen nach der Hütte des Händlers, wo das Geschäft bald zu aller Zufriedenheit abgeschlossen wird. Übermorgen wollen sie wieder nach Feuerland übersetzen, wenn es das Wetter erlaubt. Leider reicht die erzielte Summe, auch wenn sie auf alle andern nötigen Einkäufe verzichten würden, nicht für den Erwerb eines stabileren Fahrzeugs. Aage ließ sich hundert Pesos in bar geben, für den Rest verspricht Abraham die Waren laut mitgebrachter Liste zum bestimmten Termin im Hafen bereit zu halten. Er bezieht sie auch aus dem Almacén, bekommt sie aber billiger als andere Käufer, und schlägt für sich eine Kleinigkeit drauf. Das ist in bester Ordnung, auf diese Weise bekommen die Sechs ihre Sachen immer noch preiswerter als sonst. Denn die meisten Händler haben eine Art, mit den naiven Jägern der Wildnis umzugehen, die nicht gerade ehrlich genannt werden kann . . . Im besten Einvernehmen scheiden sie von Abraham; nur, wie 65
er hört, daß das bißchen Gold, das er ihnen abkaufte, beinahe die Jahresausbeute einer vielköpfigen Gesellschaft vorstellt, schüttelt er mitleidig den Kopf. „Suchen Se Tiere, die gute Pelze haben, das ist sicherer! Und wenn Se aber wirklich Glück haben und viel Gold finden, so denken Se an Abraham Braun. Bin kulant, zahle beste Preise!" rief er noch hinter ihnen her. Die Ankunft einer Jägergruppe von der Insel Feuerland erregt in Punta Arenas kaum Aufsehn, weil derartige Leute fast jeden Tag kommen oder gehn, und für diejenigen, die in der Wildnis zugrunde gingen, gibt es immer Ersatz. Der einzige, der sich freut, aber dann laut und ungeniert flucht, als er hört, daß sie ihre Geschäfte schon abgeschlossen haben, ist Rattenjack. Diese sechs Schweigsamen bestellen keinen Champagner, keinen teuren Whisky, keinen Büchsenhummer oder Pralinenpackungen á zwanzig Pesos! Und kommen dennoch aus der Wildnis. So etwas hat Rattenjack unter gleichen Umständen noch nie erlebt! Sie setzen sich zuerst um eine Flasche Pisco. Als sie leer wurde, verlangen sie die zweite, bezahlen immer gleich bar. Und kaufen den sie umschwärmenden Señoritas weder Pariser Schühchen, noch teuren Diamantschmuck aus böhmischem Glas und Straß. „Wenn ihr, du, Juanita, und du, Sarita, 'ne Handvoll Dulces für einen Peso wollt, so könnt ihr's kriegen. Und auch 'nen Pfefferminzlikör! — Skal!" sagt Aage und kippt seinen Pisco. „Ach, was seid ihr für miserable Geizkragen! Ein Jahr wart ihr nicht hier und habt heute noch nicht mal die Spendierhosen an. Pfui! Doch dahinter steckt etwas!" schmollt die noch ziemlich hübsche Sarita. Rattenjack macht eine blitzschnelle Gedächtniskalkulation. Diese Männer kennt er seit Jahren! Es sind gute Jäger, und er kann eine Spekulation wagen. Sie halten Wort, wenn sie am Leben bleiben! „Boys, wir schlucken jetzt selbander einen Korb Schlampantscher. Die Muchacha in der Kombüse soll euch unterdessen große 66
saftige Beefsteaks mit Zwiebeln braten, dazu gibt's französische Bratkartoffeln, grüne Büchsenerbsen und Pfirsichmarmelade. Und Kaffee, wie'n der Sultan von Hutschiputschi nicht besser trinkt!" lockt er poetisch. „Das können wir alles gar nicht bezahlen, denn wir haben zusammen nur hundert Pesos!" schmunzelt der Kanadier. Die Señoritas brechen in verächtliches Hohngeschrei aus, rücken aber wieder näher. Ein Teil der hundert Pesos mag ja dennoch in ihren Händen landen . . . „Habt ihr keine Felle mitgebracht? Kein Gold? Ihr seid doch mit dem verrückten Don Julio und seiner Gesellschaft gezogen!" erkundigt sich der schlaue Wirt und wittert Geheimnisse. „Hatten wir, hatten wir, alte Eule! Ein paar Fingerhüte voll Gold! Dazu etliche Packen Nutrias. Frag' den Abraham, wenn du Interesse hast! Und solltest du den Colonel in unserer Gegenwart nochmals für verrückt erklären, dann kriegst du eins gegen die Birne, alter Seelenverkäufer!" „Nu, nu, man darf doch schließlich fragen. Früher habt ihr doch immer alles bei mir eingekauft und eingetauscht!" „Und auch gleich bei dir versoffen! Und nachher sind wir mit leeren Taschen, schlechtem Proviant auf Kredit und dicken Schädeln wieder in die Wildnis gegangen. Das ist aus jetzt! Man muß an sein Alter denken und etwas beiseitelegen!" sagt Aage salbungsvoll. „Hehe, Alter, beiseitelegen?! Ihr seid ja kuriose Kerle geworden! Na, Schwamm drüber, daß ihr dem Juden Felle und Goldstaub gegeben habt. War's viel?" ,,'n paar Fingerhüte voll. Höre, dem Vorschlag mit den Beefsteaks und Zubehör wollen wir nähertreten. Dafür reicht wohl unser Geld. — Komm, Sarita, setz dich lieb auf Onkel Aages Knie und gib ihm ein Schmätzchen!" Sie erhält einen verstohlenen Wink von Rattenjack, und lachend folgt sie der Einladung des Pelzjägers. Auch die andern Fünf haben sofort Partnerinnen. 67
Listig schmunzelt der Wirt: „Hört Boys, weil ihr's seid und wir jahrelange Freunde sind: ihr sollt Kredit haben wie früher in alten Zeiten, damit ihr euch einige vergnügte Tage und Nächte machen könnt. Ich kreide euch pro Nase zweihundert Pesos an. — Das läßt sich doch hören, he? Und wie wär's jetzt mit dem Schlarapampuswein?" Gerard blickte seine Kameraden an: „Habt ihr gehört? Und wollt ihr?" sagt er. Aage schüttelt den Kopf. Die Señoritas und ihr Gebieter warten gespannt auf die Antwort. Die Männer wechseln nur einige dänische Worte, dann schütteln sie einmütig die Köpfe. Einer redet: „Nein! Wir müssen übermorgen zurückfahren, wenn glatt Wasser ist. Drüben unsere Kameraden brauchen Proviant. Auch wollen wir keine großen Schulden machen. Übrigens danken wir dir recht schön fürs Angebot, Jack. Manchmal bist du doch ein ganz guter Kerl, aber immer nur dann, wenn man's nicht will!" „Was ist nur in euch gefahren? Ich glaube beinahe, weil ihr so wunderlich seid, ihr habt 'ne Bonanza gefunden. He?" „Ja, deswegen haben wir auch alle Sechs zusammen nur hundert Pesos in der Tasche, zum Vertrinken. Laß dich nicht auslachen, Ratty!" „Stop! Sag, Jack, würdest du uns auch die zweihundert Pesos, also zusammen für Allhands zwölfhundert leihen, wenn wir sie nicht bei dir verjubeln?" . . . Über Jacks Stirn huscht ein Schatten von Ärger. „Um alles in einer andern Kneipe zu versumpfen! Du bist verrückt, Gerard!" „Du könntest trotzdem daran verdienen. Hör" zu, Jack, mein Junge: wüßtest du nicht ein Boot, einen kleinen gedeckten Kutter, den du uns auf Kredit besorgen könntest? In unsern Prahms sind wir immer an gut Wetter gebunden und verunglücken doch eines Tages darin." „Ja, Jacky, der Clarkson, der hat doch ein Fahrzeug und will 68
es . . . " rief die kleine verfettete Maria eifrig und wurde barsch unterbrochen: „Halt's Maul, dumme Trulle, wenn du nicht gefragt wirst, und misch dich nicht in Männersachen!" Dann wendet sich Jack zu den Pelzjägern: „Es stimmt übrigens, der Clarkson will seinen Kutter verkaufen. Ein gutes Schiff! Acht Meter lang, stark und breit und doch ein guter Segler. Er fuhr schon bis Valparaiso damit. Aber er verlangt strikt Cash. Bar Geld!" „Wieviel?" „Dreitausend Pesos. Das ist geschenkt. Aber mehr kriegt er um diese Zeit hier nicht, und er hat's eilig. Will ein neues Boot bauen, größer als das erste!" „Würdest du uns zu den Zwölfhundert, die du versprochen hast, nicht den Rest zuschießen?" „Ich bin nicht schon am frühen Morgen angesäuselt, boys. Kommt gar nicht in Frage. Zweihundert pro Mann strecke ich euch vor, aber nur dann, wenn zwei Drittel davon in meinem Haus verbraucht werden." „Ach, Aagy, sag doch ja! Wir machen's uns dann wunderschön!" flüstert eine Frau in Aages Ohr. „Djäbla fie for satan! Du träumst wohl, Kleine? Unser Colonel braucht ein gedecktes Boot, und wenn wir keins kriegen, so braucht er Proviant. — Jack, wir haben zusammen hundert Pesos, wie du weißt, und übermorgen fahren wir ab. Das ist also ein bißchen wenig. Ich schlage dir vor, du pumpst uns allen zusammen noch Hundert dazu. Dann können wir's uns ein bißchen nett machen, in deiner Giftbude!" . . . Böse nickt Rattenjack, hat aber die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben. Vorläufig sieht er in der Küche nach dem Rechten. Schickt auch einen Boten, die Musikanten zu holen, und einen Vertrauten nach der Wasserfront; der soll Abraham ausholen, wieviel Gold er von den Sechs gekauft hat. Und einem dritten Mann gibt er den Geheimauftrag, den Jägern nachzusegeln und ihr Lager zu überwachen! Vielleicht ist ja alles nur Verstellung und die Abenteurer haben die Bonanza längst entdeckt. In solchem 69
Fall will Rattenjack ihnen entweder den Reichtum abjagen — er kennt eine Menge Burschen, die vor Mord und Gewalt nicht zurückschrecken — oder er will wenigstens daran teilhaben! „Da müßte ich euch doch schlecht kennen, wenn ihr bis morgen früh nicht alle guten Vorsätze vergessen habt und tüchtig bei mir in der Kreide sitzt und besoffen seid wie 'n Karussell! Muß den Mädels Bescheid sagen, sie sollen sich anstrengen!" murmelt er vor sich hin . . . Aber diesmal hat der geriebene Seelenverkäufer von Punta Arenas sich geirrt. Die Sechs essen, trinken und scherzen, überschreiten aber den festgesetzten Kredit um keinen Centavo. Ja, es sind sogar nur achtundneunzig Pesos, die sie außer ihrem mitgebrachten Gelde verbrauchen. Und Aage, der so seinen Humor hat, verlangt mit ernstem Gesicht die restlichen zwei Scheine von Rattenjack in bar. Der aber gibt ihm nur einen langen Fluch zurück, in einer ihm unbekannten Sprache. Ratty versteht keinen Spaß. Am übernächsten Morgen sind sie pünktlich an der Lände, wo Abraham Braun ebenso präzis mit den Waren auf sie wartet. Und nach einer Stunde hissen sie ihre schlafdeckengroßen Segel in den Prahms, dippen auch die Paddelruder ein und halten hinaus, in die graue, rauschende, dunstige Dünung, hinüber nach Feuerland. Und der Jude blickt ihnen nach, flüstert, indem er ans Käppchen greift: „Herrgott Abrahams, 's sind Goyim, aber führe sie gut und schütze sie!" . . . Und die Sechs kommen auch wirklich heil über das breite gefährliche Wasser; sie paddeln noch zwei weitere gefahrenvolle Tage die Feuerlandküste entlang und erreichen das Lager. Der heulende Sturm, der bald mit finsteren Regenwolken die Wogen als schmetternde, rasende Berge vor sich herjagt und eine vernichtende Brandung gegen die große Insel wirft, erreichte sie nicht mehr. 70
Nur das winzige Segelboot, in dem Rattenjacks Spion ihnen nachkreuzte, schlägt voll. Wird dann zu Spänen zerschlagen, während sein Insasse, der magere Geronimo, im brausenden, eiskalten Wasser sein armes Leben verlier . . .
Alle Pinguine der Welt Frühling und Sommer kommen vereint nach Feuerland, und das ist dann, als ob beide über Nacht auftreten! Über Nacht schießen bunte Blumen und Pflänzchen aus dem eben noch vorhandenen und nun plötzlich wie von unsichtbaren Zungen weggeleckten Schnee. Im Gefolge lauer Winde und Stürme erscheinen Tag für Tag in großen Zügen die unzähligen Familien der rosig und scharlachenen Flamingos. Die schönen schwarzweißen Schwäne erhalten Nachschub zu Zehntausenden. Graugänse und Wildenten schnattern, Frösche quaken, der Pampasstrauß denkt ans Brutgeschäft; Hummel und Fliegen summen, das smaragdene und rubinklare Leuchten der Colibris schwimmt von Blüte zu Blüte, Guanacos hüten ihre Jungen, und in den tiefeingerissenen, heimlichen Buchten und auf öden Inseln watscheln die Pinguine treuherzig an Land. Versöhnender, warmer Hauch, der trotzdem jäh zu fauchenden kalten Stürmen ausarten kann, liegt über dem wilden, wunderschönen Archipel des Endes der Welt. Nun ist die günstigste Zeit für die unermüdlichen Goldsucher. Jeden Tag, Woche für Woche, ziehen oder fahren ihre Streifen aus. Statt der Prahms haben sie nun wasserdichte, nach verbessertem Muster der Indiokähne aus Robbenhäuten und Weidenzweigen gebaute Fahrzeuge; sie gleichen den Umiaks der Eskimos am andern, entgegengesetzten Zipfel der Erde. Zwei Mann sind gestorben. Erdrückt und zerschmettert vom Steinschlag, als sie eine steile Schlucht erklettern wollten. Duprez wäre fast an Blinddarmentzündung eingegangen, wenn nicht der 71
Colonel in höchster Not und letzter Minute die Operation gewagt hätte. Viele Buchten, wie sie sie seit der Beschreibung Don Julios suchen, wurden entdeckt und durchforscht, aber nirgends fanden sie genügend Gold! Die Freundschaft mit den Indios wurde fester, aber vergeblich ist es, diese genügsamen Kinder der Wildnis nach dem gelben Metall auszuforschen. Obwohl sie genau wissen, daß sie dafür Waren, Tabak und auch etwas Schnaps bekämen, wollen sie nichts mit Gold zu tun haben, lehnen auch instinktiv jede Neuerung und Verbesserung ihres Nomadendaseins strikt ab. Sogar Feuerwaffen wollen sie nicht. Bisweilen gehen die Weißen mit den Onas auf die Jagd; oder es landet eine Kanusippe der Alacalufs und Yaghans. Diese bringen ein paar Felle, tauschen oder erbetteln Tabak, einen Schluck Pisco, bunte Glasperlen oder ein altes Hemd. Und verschwinden wieder. Ein paarmal erscheinen verwilderte Gesellen, von „Rattenjack" auf die Fährte gesetzt. Die vergewissern sich rasch, daß die Expedition noch keine Bonanza entdeckte, und tauchen zurück in die Berge, Buchten und Pampas der großen Inselwelt . . . Don Julio, Aage, Gerard und drei Levantiner treten eines Tages eine lange Fahrt nach Süden an; auf argentinisches Gebiet hinüber, in den Beaglekanal. Wochen sind sie schon unterwegs. Es ist eine Fahrt voll ständiger Gefahr. Denn trotz der Sommerszeit türmen sich in vielen Buchten glitzernde Eisschollen, und plötzliche Stürme drohen ihnen. . . . aber dann kam wieder einer jener so seltenen Tage, an dem Boreas alle Nebel und Wolken fortwäscht, damit sich des Menschen Auge an der glitzernden, unnahbaren Schönheit des Monte Sarmiento erfreue. Da flimmern und strahlen in blau, orange, violett, grellgrün und schmerzhaftem Weiß die Gletscher des herrlichen, zu den schönsten Bergen der Welt gehörenden Riesen. Glühende Lichter 72
flackern im Wechselspiel unaufhörlich über Schnee, Eis und schwarzen oder grauen Fels. Gewaltige gefrorene Eisströme hängen wie Glasvorhänge ins Wasser, bilden anderwärts Mauern mit tiefen Rillen und Einschnitten, in denen es funkelt und gleißt und wo das blaue Wasser rauschend schwappt. Wie Tausende von Regenbogen steht es über den Bergzacken des Cockburnkanals; aber am Brecknockkap wogt der Ozean in gefährlicher Dünung. Das Fellboot tanzt wie eine Flocke von Schwall zu Schwall, Gischt spritzt über, und diese abgehärteten Männer werden alle seekrank von der tollen Schaukelei. Bei den Furia-Inseln, deren Name so bezeichnend ist, läuft das Fahrzeug drei Viertel voll, und sie kämpfen beim Ausschöpfen um ihr Leben. Die Levantiner schlagen fortwährend Kreuze in die Luft und blicken ängstlich auf das wilde, grollende Wasser. „An Land, oh bei der Panagia! laßt uns landen, sonst sind wir alle verloren!" schreit einer und wimmert dann wie ein Kind. über das tiefe Rauschen und Donnern der gegen Felsen prallenden Dünung hinweg brüllt Aage: „Holzkopf, wo willst du hier landen? Jetzt fahren wir bald in den Beaglekanal ein, und dort ist's ruhiger; aber landen können wir vor Abend nicht. Schau dir die senkrechten Felsen und Gletscher an, wir sind doch keine Fliegen, die daran hochklettern könnten!" Der Kanadier tröstet: „Beruhige dich, Freund Mauro, heut ist gut Wetter und unsereins hat diese Tour schon bei Sturm gemacht — wenn auch zwangsweise — und in einem schlechteren Boot als dieses hier. Und wir sind damals auch nicht ersoffen!" „Luv, ein wenig Luv, Aage, mit der Segelschoot, sonst sausen wir auf die Fingerhutklippen!" . . . Allmählich wird das Wasser stiller; der Beaglekanal nahm die Abenteurer auf. Eine starke Strömung führt sie mit sich. „Fahren wir heute ganz durch, Aage?" erkundigt Popper sich. „Das dürfte schwer sein. Der Beagle ist fast hundertundfünfzig Seemeilen lang!" „Seht euch das an, damit ihr später, wenn ihr wieder daheim 73
bei Mutter und Kind seid, davon erzählen könnt. Denn so etwas gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal!" Seine Hand zeigt nach vorne, nach beiden Seiten. Ja, das ist wirklich ein Anblick, der jeden Menschen erkennen läßt — besonders wenn er im winzigen Boot sitzt —, wie klein, wie hilflos er eigentlich der Natur gegenüber ist! Der Beagle bildet eine fast immer schnurgerade Wasserstraße; oft nur wenige Hundert Meter breit, dann wieder Kilometer sich ausdehnend. Seine Ufer sind größtenteils schwindelnd hohe Bergriesen aus Eis oder schwarzen und braunen Felsen, die auf weite Strecken hin den Kanal senkrecht einsäumen. Hier türmen sich, dem Wasser majestätisch entsteigend, die neben dem Sarmiento höchsten Berge Feuerlands: der Monte Italia, der Francés, die Darwins und andere, fast alles Kolosse von zweitausend Metern. Und sie bieten ein Bild, das es weder am Himahya, den norwegischen Fjorden noch in der Bernina gibt. Hier herrscht die Natur — Gott allein. Der Mensch, der sich herwagt, ist nur geduldet und ist unaufhörlich von plötzlich lauerndem Tod umgeben. Schneesäulen, vom Wind hochgeschraubt, tanzen trichterförmig in Reihen, die erstehen, zusammenfallen und sich neu bilden. Geisterhaft schweben sie die Steilwände empor. Sonne glitzert auf Eis und Schnee, und Farben, die kein Maler auf seiner Palette mischen könnte, flackern grellbunt oder fließen sanft über die Gletscher. Granit blitzt wie mit Milliarden Diamanten besetzt, Wasser bläut und grünt seelenvoll, der Himmel ist unbeweglicher Türkis, an dem ein paar Cumuli wie Watteballen kleben. Und überall Zinnen, Türme, Grate, Kuppen, Hörner und Kamine; tiefe Buchten voll Schnee und Gletscher sonder Zahl. Und zwischen dicken, nie schmelzenden Eiskrusten sprießend, sich über sie lehnend, steht allenthalben das dunkle Grün der Wälder. Säulen aus facettiertem Eis bilden hehre Domgrotten, in denen leise plätscherndes Wasser spielt, über senkrechte Granit74
wände, eben noch wie Schatten so tiefschwarz, kommen und gehen die Sonnenstrahlen, daß sie plötzlich grell aufsprühen. Überhängende, hunderte Meter hohe Steilmauern und dazwischen, wie breite friedliche Ströme: die vom Sturm gekrümmten vieltausend Buchen mit ihren braunen Stämmen und Ästen, dem frischen Grün des Laubwerks. Eisschollen klirren auseinander, wenn das Umiak durchschießt. „Jetzt ein plötzlicher Sturm, der von oben runterfällt — das gibt's nämlich hier! —, und wir wären keine fünf Minuten mehr am Leben!" sagt der Däne gemütlich. „Lästere nicht, um der Heiligen willen, hör' auf!" . . . Legionen Schwäne, immer zu Hunderten geordnet, schwimmen mit der Strömung, nicken feierlich, und nach allen Seiten rauschen und sausen die lachhaften Dampfbootenten. Das Wasser wurde immer ruhiger, kaum von schwacher, glattrückiger Dünung durchatmet. Außer den zeitweilig dröhnenden Echos der Vogelstimmen, der herabplumpsenden Eisblöcke und fernen Lawinen läßt sich kein Laut vernehmen. Und oft ist's so still wie in einer Kirche. „Und wenn wir weiterfahren?" „Das dauert viele Tage, mit unserm kleinen Boot, Colonel! Dann würden wir in die sogenannte Enge kommen, wo die Isla del Diablo in der Mitte liegt und wo die hohen Berge aufhören. Später kämen wir nach der Bucht, wo jetzt Missionare sein sollen, auf Navarino, das zu Chile gehört!" „Und dieses hier, dieses ,Reich'?" „Ist argentinisch, aber es kümmert sich keiner groß darum. Außer den Indios ist kein Mensch hier. — Schaut mal nach drüben, diesen Einschnitt, den kenne ich. Er ist ganz schmal, öffnet sich aber wie eine Flasche, und dann gibt es eine ziemlich große, fast kreisrunde Bucht; mit flachem Ufer am Fuß der Berge, die dort mit wunderschönen Buchen bedeckt sind. Sie erinnern mich immer an daheim, denn unser Dänemark ist das Land der Buchenwälder! Auch eine Geröllawine gibt's dort, wo vielleicht Gold zu 75
finden wäre! Da sind wir sicher, es muß sogar noch eine Hütte stehn, die ich gebaut habe. Selbst der größte Orkan, der auch die geschützte Bucht aufrührt, kann uns dort nichts anhaben, wir schleppen unser Boot in den Wald und warten auf schön Wetter. Frischfleisch und Fische gibt's genügend, eine Quelle auch und Holz in Menge!" spricht Aage redselig. „Ach, Julio, sag ja, laß uns dort landen. Diese Kanalfahrt — wenn das ein Kanal sein soll! — kommt mir wie ein Selbstmordversuch vor!" flüstert Mauro. „Ja, Chef, laß uns landen!" „Gut! Doch sag', Aage, müssen wir den Kanal ganz durchfahren und dann sozusagen um fast ganz Feuerland herum, wenn wir wieder nach Hause wollen? Das könnte ja Monate dauern!" „Ich halte es fast für's Beste. Kann zwar, wie du sagst, Monate dauern, aber gegen diese Strömung zurückrudern und, na, ihr habt ja die See draußen gesehen, bei Brecknock und den Fingerhuteilanden! Ruhig ist's dort nie. Und jetzt, wo wir's hinter uns haben, bin ich eigentlich recht froh. Wir waren ein paarmal dicht daran, zuviel Salzwasser in den Leib zu bekommen. Auch der beste Schwimmer würde dort nicht am Leben bleiben, falls er die Kälte aushielte!" „Warum nicht?" „Die Möwen und Albatrosse kämen zu Dutzenden und Hunderten, die würden ihm die Augen aushacken, den Schädel mit Schnabelhieben spalten, na, und so weiter. Ja, das tun diese sonst so harmlosen Vögel. Was auf dem Wasser schwimmt, ist ihre Beute!" . . . „Und die Haie, heilige Panagia, die Hyänen des Meeres!" „Gibt's kaum, Freund Achilles. Die haben warme Gewässer im allgemeinen lieber!" „So laßt uns in die Bucht einfahren!" bestimmt Popper. Mit fröhlichem Gesang ziehen sie das Segel ein und paddeln dann durch die enge Einfahrt. 76
Weit öffnet sich die stellenweise waldumrandete, mit kleinen Eisschollen besäte, hellblaue Bucht, in der sich Berge spiegeln. „Da! Menschen sind dort! Soldaten! Tausende!" entfuhr es einem, und die bärtigen Pelzjäger lachen herzhaft, daß die Echos hallen. „'s sind Pinguine! Das ist nämlich ein guter Platz für ihr Brutgeschäft; da stört sie niemand. Und es sind dort jetzt, wie ich schätze, bestimmt einige Zehntausende. Alle Pinguine der Welt, wenn ihr's so nennen wollt! Aber ich bitte euch, tut den Tieren nichts, sie schmecken auch schlecht. Und sind so drollig! Ich habe oft stundenlang zwischen den Pinguinen gesessen und konnte es nie sattkriegen. Wenn man sie lange beobachtet, könnte man fast glauben, es sind verzauberte Menschen!" sagt der gutherzige Däne. „Schaut nur, dort stehen welche im Kreis und beraten! Und dort die, die unterhalten sich ja, nicken und wackeln. Und jene gar, die exerzieren!" lachen die Griechen. „Tut ihnen nichts, Freunde!" sagt nun auch Popper. Um ihr Boot an den Strand zu ziehen, müssen sie erst einige Pinguine beiseiteschieben. Erheitert ob des merkwürdigen Anblicks, steigen die Männer behutsam zwischen den Tieren, die keinen Platz machen, sondern sie nur interessiert und zutraulich anglotzen, an die flache Küste. Popper wirft einen prüfenden Blick nach der Ravine, bückt sich dann, um das Geröll zu untersuchen. Sagt: „Gold werden wir keines hier entdecken, amigos! Aber der Anblick dieser Tiere ist mir persönlich ebenso viel wert wie das ganze Gold der Welt!" Sie sehen ihn groß an. Die Pelzjäger schütteln erstaunt die Köpfe, aber die Griechen nicken, und einer ruft plötzlich lachend: „Beinahe hast du recht, Julius! Mein Gott, seht doch nur, ist denn so etwas überhaupt möglich. Und die . . . " Jäh, fast schlagartig, erfüllt ein ungeheuerlicher, unbeschreiblicher Lärm die Lüfte! Brandet von den Hängen zurück, verstärkt sich, läßt keine Sekunde nach. Unaufhörlich. 77
Es ist phantastisch! Die Männer, erst erschreckt, dann die Gesichter vor Lachen verzogen, rufen einander zu, aber kein Wort dringt durch diesen dröhnenden Stimmenorkan der kaum übersehbaren Pinguinscharen! Sie schreien, brüllen, ja sie brüllen mit Posaunenstimmen, wie tausende brünstige Esel oder Maultiere, die es auch nicht anders oder lauter könnten. Das „Chorgeschrei" der Pinguine hat wirklich die größte Ähnlichkeit mit Eselstimmen. Da stehen, abgesondert zu kleinen Familien, einige Dutzende großer, schöner, seltener Königspinguine mit dottergelben Hälsen, grauen Rücken, brennrotem Schnabelunterteil. Aber die meisten dieser märchenhaften Flossenvögel sind Goldtaucher, deren Hals, Rücken und Flügelstummel prachtvoll lackschwarz glänzen. Bauch und Flügelränder sind reinweiß, dazu haben sie zwei aufrechtstehende, wunderliche gelbe Federstutzen über den Ohren — gleich den Generälen eines Potentaten aus einer europäischen Duodezfürstenkollektion. Viele sitzen auf ihren Eiern, andere hüten die grauwolligen Jungen; andere wieder haben überhaupt keine sichtlichen Obliegenheiten. Aber alle sind sie erstaunt und verdutzt über die von ihnen zuerst noch stumm hingenommene Landung dieser großen, zweibeinigen Geschöpfe. Jetzt schreien sie daher aus vollem Halse, ohne sich dabei vom Fleck zu rühren. Nur manchmal schlagen sie mit den Flügelstummeln, treten ein bißchen hin und her, verbeugen sich, winden die Hälse schlangengleich, recken die Bäuche heraus wie wohlgenährte Ratsherren und glotzen. Der Däne und der Kanadier gehen von einem ihrer Gefährten zum andern, legen ihnen die Hände an die Ohren und brüllen, um sich verständlich zu machen, durch diese improvisierten Sprachrohre: „Sie hören bald wieder auf. Es ist ihre Art, wenn sie erstaunt oder erschreckt sind — denn sie brauchen lang, um einen Entschluß zu fassen. — Nehmt nur schon das Boot auf die Schultern und folgt uns!" Die Männer heben das Fahrzeug an, und ganz behutsam, 78
immer wieder vor Lachen sich krümmend und die Gesichter verziehend, gehen sie hinter den beiden her, die die Vögel sanft aus dem Weg schubsen oder einzelne, besonders hartnäckige, einfach beiseite stellen, wie man mit Statuetten und Nippfiguren tut. Die Tiere wehren sich auch gar nicht, sie beißen oder flüchten nicht, nur die berührten zischen wohl, aber das hört man jetzt nicht. Denn alle diese merkwürdigen Geschöpfe verdrehen ihre Hälse, recken die Köpfe und blicken nach den Menschen. Und brüllen, schreien, toben wie ein Ungewitter. Im Buchenwald, unter krummen, gebeugten, aber doch ansehnlichen Bäumen, steht die Hütte, glitzert der Quell. Schwächer wird nun das Geschrei, und bald toben nur noch Echos, und auch diese sterben langsam. Noch ein paarmal schwingt der Schall in der Bucht hin und her, ersteigt die Berge, und dann wird es rasch fast ganz still. „Bei der Panagia! Ich fürchte beinahe, die Trommelfelle sind mir geplatzt!" lacht Mauro unter Tränen. „Habt ihr gesehen, wie altklug oder dumm sie einen anguckten?" „Werden die nun immer diesen Lärm machen, wenn wir uns ihnen nähern?" „Nein, Gott sei Dank nicht. Vielleicht ein- oder zweimal noch, dann haben sie sich an uns gewöhnt. Es sind wahrhaftig die unschuldigsten Tiere der Welt. Haben 'nen Charakter wie gutmütige Schafe!" „Und brüllen wie die Ochsen!" lacht Popper. „Also, laßt sie in Ruhe! Und dann: Raubt ihnen keine Eier! Es wäre grausam, auch sind sie um diese Zeit alle angebrütet!" warnt der Jäger. Sie haben das Boot hingestellt; tragen ihre Packen in die guterhaltene, solide Blockhütte. Bald flackert im Kamin ein mächtiges Feuer, verdrängt mit seiner Wärme den muffigen Geruch. Die Sonne sank, und es wurde empfindlich kühl. „Morgen schieße ich einen Braten. Für heut' haben wir genügend an Trockenproviant!" Der Kanadier stopft seine Pfeife. 79
Es flackern und huschen Schlaglichter, malen unruhige Schatten an die Wände. „Wieviele es wohl sind — die Pinguine?" gähnt Achilles und streckt gesättigt die Beine aus. „Tausend, dreitausend, fünftausend!" raten sie. „Bei weitem mehr!" meint Popper. Aage, der heut seinen redseligen Tag hat, erzählt träumerisch: „Als ich zuletzt vor zwei Jahren hier war, sah's genau so aus. Und ich versuchte, so gut es ging, die Zahl zu bestimmen, indem ich überschlug, wieviele auf einem bestimmten Quadratraum saßen. Dann umschritt ich den ganzen Kessel und wurde fast verrückt von dem Lärm, den sie machten. Na, was denkt ihr wohl, wieviele es ungefähr waren und heute wieder sind?" „Sag's uns!" „Ich kam auf rund Dreißigtausend, niedrig geschätzt. Alle Pinguine der Welt, wie ich schon sagte — womit ich natürlich meine, daß es viele, ja vielleicht unzählige solcher Stellen in der Antarktis und deren Rand gibt. Also Millionen Pinguine!" „Dreißigtausend? Du magst wirklich recht haben!" nickt der Colonel. Flammen züngeln, Scheite fallen funkensprühend zusammen, und blaue duftende Tabakswolken wogen. „Heilige Panagia! welch ein Wunderland. Aber es gefällt mir und wird mir noch besser gefallen, wenn wir erst unsere Taschen voll Gold haben!" „Glaub' ich. Der Aage, die andern und ich, wir sind schon Jahre hier draußen, und noch keiner wurde reich. Aber wir wollen gar nicht anders und woanders leben. Man kommt nicht mehr weg!" murmelt Gerard. Alle sind müde von den Strapazen und Aufregungen des zur Neige gehenden Tages. Einer nach dem andern wickelt sich auf dem Laubhaufen in seine Decken und streckt die Glieder. Popper schiebt noch einige kräftige Äste in die Glut. 80
Dann tritt er vor die Tür. Leise rauschen Buchenkronen über ihm. Zuweilen poltern Steine, Erdreich rieselt, die Quelle schwatzt mit sich selbst. Und durch Blättergewirr funkeln die Sterne Feuerlands. Es ist still und friedlich schön, in der Pinguinsbucht. Aber es lebt die Nacht. Der Wind trägt kurzes leises Dröhnen, Geplätscher und klagende Laute heran, trägt sie wieder fort, bringt neue. Es sind die Tiere, die diese heimlichen Geräusche verursachen! Plaudern sie und unterhalten sie sich über das plötzliche Erscheinen der sonderbaren Zweibeiner, die aus dem Beaglekanal kamen? Träumen sie? Von Gletschern und Bergen quillt eisiger Hauch in die Tiefe. Stumm steht der Mann im Türrahmen, und das Kaminfeuer wirft seinen Schlagschatten bis zur Quelle. Und es schläft die Bergwelt. Es schlafen Gewässer und auch alle Pinguine der Welt . . .
Sie kam aus dem Wasser Blaugoldene Tage über Feuerland. Fünfmal vierundzwanzig Stunden sind schon verstrichen, und noch kam, so unglaublich es den Jägern auch dünkt, kein Weststurm vom Himmel gefallen. In unnahbarer Schönheit ragen, klar und ohne Wolkenschleier, die grandiosen Gletscherbergketten des Beagle. Trotz ihrer Herbheit ist die Luft mild und unbeschreiblich erfrischend. Sie gingen auf die Jagd, um den Kochtopf zu füllen, auf Jagd nach Frischfleisch, Fischen, aber auch auf das gelbe Metall. Nur der Colonel beteiligt sich nicht an der vergeblichen Suche, denn seine geologischen Kenntnisse sagen ihm — was die andern aber nur halb glauben —, daß in dieser idyllischen Trichterbucht, wo die Pinguine seit Jahrtausenden sich ihr ungestörtes Paradies errichteten, kein Gold zu finden sei. Ja, die andern nehmen immer alles, was er sagt, für das reine Evangelium, aber an Ort und 81
Stelle können sie das Suchen doch nicht lassen. Denn vielleicht geschehen Wunder, goldene Wunder . . . „Vielleicht entdecken wir wenigstens ein paar Nuggets, um die Reiseunkosten hierher herauszuschlagen, Julius, laß uns daher die Freude! Sintemalen ja du dir von den Pinguinen Geschichten erzählen läßt und keine Langeweile hast!" neckte der lustige Mauro. Mit den andern klettert dieser in der alten Muräne umher, sie graben hier und dort, suchen vergeblich Quarzgestein, waschen auch die eine oder andere Schüssel voll Sand aus oder sitzen am Feuer und singen zur Gitarre. Die Jäger sind auf Nutrias erpicht. Vor zwei Jahren gab es welche, aber es könnte ja anders geworden sein, denn damals waren die Pinguine oft geplagt von den eierlüsternen Pelzratten. Und heute sitzen sie so ruhig auf ihrem Geleg oder lehren ihre drolligen Jungen das Tauchen und Schwimmen. Popper schreibt Tagebuch; verbessert auch nach dem Gedächtnis die rohe Karte von Feuerland und den Inseln, die er in Stückarbeit angefangen hat, als er den ersten Fuß auf dieses Land setzte. Oder er hockt inmitten der Pinguine auf einem Granitblock, raucht lächelnd seine Pfeife und hört den „Geschichten" der Tiere zu. Gleich am zweiten Tag haben sich diese an die Ankömmlinge gewöhnt und erfüllen nicht mehr die klare, sonnenschimmernde Luft mit dem Orkan ihrer erstaunlichen Proteste. Leise quäkend, traulich murmelnd, halten sie ihre Versammlungen ab; bilden Kreise, in deren Mitte ein altes Tier steht und sonderbare Bewegungen mit Hals und Flossenflügeln ausführt, während die andern stumme oder zischende Zuschauer abgeben. Oder, immer zu Hunderten, ja Tausenden, marschieren sie wunderlich gravitätisch kleine Strecken auf und ab. Viele schießen blitzgeschwind durchs Wasser, tauchen lange Strecken und kommen mit einem zappelnden Silberfisch im Schnabel nach oben. Dann recken sie die Hälse aus, den Kopf wie bei einer religiösen 82
Zeremonie der Sonne zuwendend, und glatt rutscht die Beute den Schlund hinab. Die Jungen, zuerst unbeholfen und sichtlich wasserscheu, werden in wenigen Stunden prachtvolle Schwimmer und Taucher und erhalten dann von den Eltern weiteren Lebensunterricht. Auf primitiven Nestern oder einfach auf dem Sand, brüten die Weibchen ihre Eier aus, während der Gatte aufmerksam Wache hält, sie auch zwischendurch ablöst oder vom Meer heranwatschelnd einen Fisch bringt. Stundenlang sitzt Popper so unter ihnen und kann und will sich nicht sattsehen an diesem Bilde des Friedens, der Gemeinschaft und Häuslichkeit. Sie kommen in Scharen, betrachten ihn von allen Seiten, picken sanft an seinen Kleidern, geben gurrende Töne von sich. Manchmal holen sie noch andere herbei, oder sie sitzen stumm, statuengleich, zu seinen Füßen. Von den Bergen hallen die melodischen Echos der Jäger, Wasser plätschert murmelnd gegen Sand und Gestein, die Buchen flüstern geheimnisvoll im leisen Lufthauch. Bisweilen ist ein kurzes Dröhnen und langsam versiegendes Seufzen in der Ferne: Eismassen, die sich vom Muttergletscher ablösten, fielen in den Kanal. Die Nächte sind voll Sternenglanz und prickelnder Kälte, sie leben von unfaßbaren, flüsternden Stimmen, die das Dunkel durchgeistern, während aus der Hütte rot die Feuersglut fließt und dürres, vorjähriges Laub in wahllose Haufen Goldstücke zu verwandeln scheint . . . „Morgen fahren wir weiter!" entscheidet sich der Colonel am fünften Abend. In seinen chilenischen Poncho gehüllt, übernahm er wie gewöhnlich die erste Wache. Das von ihm in Abständen genährte Feuer zischt, schmort und sirrt, und die übrigen Geräusche der Natur werden zum einlullenden, seufzenden Lied, begleitet vom Schnarchen und Stöhnen der Schläfer. 83
„Bald muß ich Aage wecken", denkt der einsame Mann und stopft eine neue Pfeife. Einmal horcht er auf. Waren das nicht Menschenlaute, Paddelschlag und dann ein Scharren, als ob Boote den Strand erreichten? Leise rauschen Buchen, der Quell murmelt. Und wieder vernimmt er's und faßt an den Karabiner, und die Schläfer in der Hütte fahren empor, springen auf die Füße. Denn urplötzlich, wie gewaltiges, anschwellendes Trompeten- und Posaunengetön, brüllen und toben die Zehntausende von Pinguinen los Gerard zischt ihm ins Ohr: „Entweder ein Puma, der von den Bergen kam und sie störte, oder es landeten neue Menschen. Das können entweder Alacalufen oder Yaghans sein!" Jeder ergreift seine Waffe. Man ist zwar mit den Indios befreundet, aber es sind viele überall verstreut, und deshalb kann man nie wissen . . . Schmerzhaft schlägt das unirdische Getöse der Pinguine an die Ohren. Aller Augen starren nach der Richtung, wo hinterm Waldrand das Ufer sich verbirgt. Die Tür wurde geschlossen, damit der Feuerschein nicht ihre Gestalten lichtsprühend umrandet: zur etwaigen Zielscheibe starker Pfeile. Langsam ebbt das Geschrei ab, prallt noch einmal ungeheuerlich los, als ob Tausende von Elefanten und Esel durcheinanderschreien. Und flaut ab, wird ruhiger. Echos versiegen, hallen hin und her, immer schwächer. Gehen murmelnd und wispernd in schimmernden Fernen zur Ruhe. „Sie kommen hierher!" Der hochgewachsene Däne legt die Hände vor den Mund, ruft etwas in die samtblaue Nacht hinaus. „Amigos!" klingt's zurück, dazu noch ein paar Worte in der Yaghansprache. Und nun tauchen sie aus dem silberstreifigen, flimmernden Blau der Nacht. Einer hinter dem andern; fast nackte stämmige Oberkörper auf gekrümmten, schwachen Beinen. Yaghans! „Ai, ho!" rief der Vordere. „Ai, ho! Don Julio und seine Leute sind wir!" 84
„Ai, ho, Don Julio! Bueno, mucho bueno!" lacht erfreut ein Indio, und zutraulich treten alle näher. Aage öffnet die Tür, damit der Feuerschein einen Halbkreis vor der Hütte unter den Buchen erleuchte. Da tummeln sich jetzt an die zwei Dutzend Yaghans. Männer und Frauen, einige Kinder. Schmutzig, tranbesudelt, in dürftige Fellfetzen gehüllt, auf dem Rücken bündelweise Fische, denen Weidenruten durch die Kiemenlöcher gezogen sind, und Paddelruder, Pfeile und Bogen in den Händen. Die Frauen schleppen Packen und ihre nackten Kinder. Ein strengfauliger Gestank geht von der Sippe aus. Sie lachen freundlich, legen ihre Waffen auf den Boden und halten die Handflächen als Zeichen der Freundschaft den Goldsuchern entgegen. „Bißchen Tabak, bißchen Pisco, bißchen alles, ai ho, Don Julio ! . . . " Kinder plärren, Frauen grunzen, und die Männer wiederholen im Chor: „ ...bißchen Tabak, bißchen muy bueno plenty fine Pisco for belly!" und klopfen auf ihre abstehenden Bäuche. Auf eine Einladung, in die Hütte zu kommen, schütteln sie die Köpfe, daß ihre schwarzen, nur über der Stirn abgeknipsten Haarsträhnen flattern. „No bueno Haus von Blancos für Indios!" sagt einer im verständlichen Spanisch. „Wir morgen wieder wegrudern. Machen heut Feuer, wärmen bißchen Beine, trinken Quellwasser und essen Fische. Yaghans sind immer gute Freunde mit Don Julio, das wissen alle Indios auf allen Inseln, in allen Kanälen und Meer!" . . . Schnell haben die Frauen neben der Quelle ein Feuer entfacht, für das sie die Glut aus einem mitgebrachten Eisentopf nahmen. Einige richten die Fische her, indem sie diese einfach an Stäben übers Feuer halten. Abschuppen oder Ausweiden gibt es bei diesen Nomaden nicht. Andere brechen lange biegsame Zweige, errichten wunderbar rasch eine Art rundes Gerüst, werfen ein paar Fellfetzen darüber, und das Haus ist fertig. 85
Die Männer hocken auf dem kalten feuchten Boden, rauchen oder kauen vergnügt den ihnen gespendeten Tabak. Gerard erklärt ihnen, daß man keinen Pisco habe, doch könnten sie welchen bekommen, falls sie die Siedlung der Expedition aufsuchten. „No Pisco? Caramba, jammerschade, sehr böse das. Könnten sonst Geschäft machen. Vielleicht ihr den Yaghans etwas abkaufen!" grunzt der Patriarch der Sippe. „Felle, Häute? Wir haben keinen Platz im Boot!" „No, no, nada Felle, nada Häute. Señorita, schöne muchacha verkaufen wollen!" Mauro bricht in Gelächter aus; auch die andern schmunzeln, als sie die unbeschreiblich schmutzigen und häßlichen, hängebusigen Indioweiber betrachten. Gutmütig lachen diese und ihre Männer mit. „No Yaghan! Aber Señorita, si, si, si, Señorita. Wunderherrlich! Gut für Weiße. Aber nicht für Indio, nada, nada. Kann nicht gut rudern, will nicht kochen und keine Chiquitos, keine Kinder von Yaghan kriegen will. Ihr sie sehen, bueno!" Der Alte stieß ein paar befehlende Grunztöne aus, und aus dem Haufen der Weiber, halb geschoben, halb freiwillig, löst sich eine Gestalt und kommt langsam näher. „Bei der Panagia! — For Satan! — Was ist denn das?" rufen die Männer erstaunt. Vor ihnen steht, die Augen niedergeschlagen, das ovale Gesicht unter einer unbeweglichen dicken Schmutz- und Aschenkruste, eine schlanke, ja, wie die paar Fellreste an ihrem Körper verraten, wohlgebaute junge Frau. Eine Weiße! Eine Spanierin, Chilenin oder Argentinierin, das sieht man trotz Schmutz, Fellfetzen, verfilzten) Haar und Frostbeulen. „Ist schöne Señorita, aber nicht bueno für Yaghans. Wir schon manchmal denken, ihr totschlagen. Hat aber Medizin gemacht, als Yaghans viel Bauchweh an madenwimmelndem Walfleisch, und hat geholfen. Aber wir sie gerne verkaufen wollen, aber nicht nach Ushuaia fahren, dort zuviele Fragen! — Verkaufen, ihr 86
comprende caramba goddammthehell? Nicht teuer, bißchen viel Tabak, bißchen viel Pisco, bißchen viel alles!" spricht eifrig der Alte. „Señorita, wie kommen Sie zu diesen Indianern?" Poppers Frage verhallt unbeantwortet. Stumm, schwermütig schauen ihn ein paar schöne dunkle Augen an. In allen Sprachen, deren der Reihe nach die Männer fähig sind, wiederholen sie die Frage. Popper sucht sogar sein Latein zusammen. Ohne Resultat. Keine Bewegung, nur die Augen sind auf die Männer gerichtet, und darin irrlichtert es manchmal wie erlöschendes Erkennen. „Die Schufte haben sie geraubt! Wie lange das her sein mag! Die Arme hat scheint's den Verstand verloren!" flüstert Gerard auf englisch. „Wo habt ihr sie her?" Poppers Stimme ist ganz heiser vor innerer Erregung. „Kam aus dem Wasser! Meer! Großer Sturm. Yaghans unterwegs, in ihr savvy Straße le Maire? Viel böser Sturm, Yaghans beinahe ersaufen! Vielleicht großes Weißenschiff, Segler von Inglis oder Alemanes untergehn, quien sabe? Nichts auf Felsen laufen, Yaghans überall suchen, leider kein Schiff auf Felsen da. Schade, können nicht plündern, bloodyhellcarambaolalala! Finish! Caramba, mächtiger Sturm, schwarze Nacht, Schnee, schrecklich böse Wellen. Und dann kam weiße Muchacha aus dem Wasser!" Gespannt, förmlich fiebernd, lauschen sie der merkwürdigen Erzählung des Alten. „Sie konnte doch nicht auf dem Wasser gehen! Und bei Sturm kann auch kein Mensch in der Le-Maire-Straße schwimmen!" „Ich schätze, daß ein Salpetersegler oder dergleichen durch die Le Maire wollte — es gibt wenige Seglerkapitäne, die das wagen, aber es geschieht dennoch immer wieder von Zeit zu Zeit. An und für sich nicht zu gefährlich, wenn man erst mal im Kanal ist, und man kürzt den Weg nach Westen gewaltig ab oder nach 87
Osten je nachdem. Aber wenn plötzlich mitten im Kanal, der von himmelhohen Bergwänden eingerahmt ist, Windstille eintritt dann fängt das Schiff in den verrückten Strömungen derart toll an zu bocken, daß alles laufende Gut an Bord zerreißt; Masten and Stengen springen aus den Schuhen, alles kracht wie die Hölle von oben herunter — hunderte Tonnen an Gewicht von Eisen, Holz und Eisendraht! Und vielleicht schlägt's gleich die halbe Besatzung zu Brei. Und dann wieder ein plötzlicher Sturm, wie das mal hier in der Gegend so Mode ist und der Kasten läuft voll. Aus! Kommt gar nicht selten vor Colonel!" erklärt Aage. Und die ganze Zeit schauen sie alle dabei auf die stumme, reglose Frau. Der alte Indio lauschte aufmerksam den spanischen Worten des Dänen und nickt ein paarmal eifrig. Dann führt er den Faden weiter: „Mucho carajo Sturm, Orkan es die Blancos nennen. Huaracan! Auf hohe Woge kommt plötzlich Stück Holz geschwommen, Lukendeckel die Blancos es nennen! — oh, ich savvy viele Schiffe hoho! Auf Lukendeckel festgebundene muchacha! Haben sie losgemacht — viel gefährlich in Orkan — und mitgenommen. — Gib bißchen Pisco und Tabak, kannst sie haben und kriegen, die muchacha!" „Warum habt ihr sie denn nicht nach Punta Arenas oder Ushuaia gebracht? Ihr hättet Belohnung erhalten!" „Keine Zeit, Yaghans fahren Kanu, jagen, fischen, bald hierhin, bald dorthin. Und nicht viel trauen Blancos in Städten. Diese oft sehr bös mit Indios, schießen einfach tot. Nicht alle Blancos so gut wie Don Julio!" „Wann war das? Wann habt ihr sie aufgefischt?" . . . Der Yaghan zählt an den Fingern, hält dann beide Hände mit gespreizten Fingern von sich und schüttelt sie ununterbrochen. Dazu sagt er: „Zweimal!" „Er meint zwei Jahre, Colonel!" flüstert Mauro und bekreuzigt sich. „Dos años? Zwei Jahre, amigo?" 88
Der Alte macht ein freudiges Gesicht, wie er das Wort „Jahre" hört, sagt dann geläufig: „Ja, hatte das Wort vergessen. Zwei Jahre es die Blancos nennen. Zweimal Sommer, zweimal Winter." „Armes Kind! Wir müssen sie natürlich mitnehmen und nach Punta Arenas bringen. Der Schrecken beim Schiffsuntergang und der vorherigen Katastrophe hat ihr Sprache und Gedächtnis verschlagen. Und dann die lange Zeit bei den Indios, stellt euch vor, dieses Leben. Ein Wunder ist's, daß sie überhaupt noch lebt! — Die Nahrung, die Kälte, mein Gott, was muß sie durchgemacht haben! Ja, es ist wunderbar, daß sie nicht daran einging!" „Hat sie mit euch gesprochen, Jefe?" „Nein konnte nicht reden. — Was ihr geben? Geld nicht gut, lieber bißchen Pisco, und . .." „Tabak und bißchen alles. Weiß schon!" lacht der Jäger ärgerlich. Und Popper erklärt nun gutmütig und geduldig dem Alten, daß sie auf einer Erkundungsreise wären und daher nur ganz wenig Tabak und Schnaps bei sich hätten. Wollen aber die guten Freunde Don Julios — die tapfern Yaghans — gemeinsam mit den Blancos auf kürzestem Wege nach deren Haus rudern? Dort ist viel bißchen Tabak, Schnaps und anderes, und Don Julio würde nicht feilschen, sondern geben, was verlangt wird und recht ist! Aufmerksam lauschte der Alte, wechselvolles Mienenspiel huscht über sein Runzelgesicht. Jetzt wendet er sich an seine Genossen und verhandelt mit diesen. Und plötzlich sagt er und klopft strahlend auf seinen nackten Bauch: „Alle Indios kennen Don Julio, er niemals lügen! Machen Handel, du gut aufpassen, damit du gut savvy: Don Julio bißchen Tabak, bißchen Pisco hier hat. Geben Yaghans die Hälfte davon und er behalten andere Hälfte, hat dann jeder bißchen so, bißchen so! Dann wir fahren zusammen zu Don Julios Casa, dort wir kriegen viel bißchen von allem. Bueno?" „Du bist der vernünftigste Mensch, den ich je getroffen habe, Jefe! Und euch nennen sie in den Städten „jente sin razon" — 89
Leute ohne Verstand! — Es gilt. Und morgen fahren wir gemeinsam ab. Aber die muchacha bleibt ab sofort bei uns, du savvy?" Gleichmütig nickt der Alte: „Bueno! Yaghans caramba froh sind, daß sie loswerden! Du vielleicht auch bald bißchen so denken!" „Aage, teile unsern Tabak und Schnaps ehrlich in zwei Hälften. Die eine ist für die Indios! Ich will unterdessen versuchen, die Arme aus ihrer Lethargie und Schwermut aufzuwecken. — Mauro, ich weiß, du hast Extrawäsche mit. Seife haben wir auch, und der kleine Achilles prahlt doch immer mit seinem Sonntagspaar Mokassins. Ich gebe mein Reservehemd und meinen Poncho!" „Und ich mein Halstuch und die Fausthandschuhe!" „Strümpfe kann sie von mir kriegen, sie wird zwar drin ertrinken!" lacht Gerard. „Los, rasch! Mauro, stell' den Kessel mit Heißwasser auf!" Und die Männer eilen in die Hütte, aus der eben der Kanadier trat und den schmunzelnden Indianern die ehrliche Hälfte der erwähnten Vorräte übergibt. Popper nimmt die stumme Frau, „die aus dem Wasser kam", sanft an der Hand, und sie läßt sich von ihm ohne Widerstand an das wärmende Kaminfeuer führen. Sie setzt sich wortlos auf die Schlafsäcke und starrt in die Flammen. Und es ist, als ob eine Erinnerung in ihr aufwacht, denn große blitzende Tränen rollen aus ihren Augen über die schmutzigen Wangen und zergehen auf der Erde. Der weichherzige Mauro murmelt: „Wir werden sie wieder aufpäppeln und gesund machen!" Nun liegen alle entbehrlichen Kleidungsstücke gesammelt auf einer Decke. Popper schlüpft aus dem Poncho, wirft ihn dazu, spricht dann langsam in Spanisch: „Sie müssen keine Angst mehr haben, Señorita. Wir bringen Sie in bewohnte Gegenden zurück und werden für Sie sorgen. Einstweilen müssen Sie mit diesen Männersachen hier vorliebnehmen. Und hier steht Heißwasser, dort sind Seife und Handtuch. Wir lassen Sie jetzt allein!" 90
Kein antwortender Laut kommt aus dem bittern Munde der Unbekannten. Unaufhörlich, langsam fließen die Tränen. Und nun drücken sie von draußen die Tür zu. Zufrieden hocken unterdessen die Yaghans um ihr Feuer und essen Fische. Frauen murmeln, Männer schmatzen; ein Säugling plärrt. Und laut, im Eifer des Erlebten gestikulierend und Worte hervorsprudelnd, tauschen die Weißen untereinander ihre Meinungen und Vermutungen aus. Über das Mädchen oder die Frau, die aus dem Wasser kam. Popper, den eine Unruhe beherrscht, wie er sie selten kennt, schaut alle halbe Minute auf seine silberne, in wasserdichter Hornkapsel ruhende Großvateruhr. Und kaum verfloß eine Stunde, da läuft er schon nach der Tür. Und pocht. Die Augen der andern beobachten sein Tun. Er schiebt die Tür auf; fragt, ob er eintreten darf, und es kommt ein schwacher Laut aus der Hütte. Nochmals. Da geht er hinein, läßt die Tür hinter sich weit offen. Anfangs blendete ihn der starke Feuerschein, dann sieht er sie. Sie machte Gebrauch von Seife und Kamm und steht nun da, in den zusammengewürfelten Männerkleidern, Achilles Mokassins an den kleinen Füßen, den Poncho um. Die weiten Sachen hängen um ihren Körper, das milchweiße Gesicht ist oval und symmetrisch geformt, darin stehen ein paar große, fast übergroße, fragende braune Augen. Blauschwarzes Haar glänzt im Feuerschein. Das ist eine etwa zwanzigjährige junge, unleugbar hübsche, reizvolle Frau . . . „Señorita, bitte fürchten Sie sich nicht!" beschwichtigt er langsam ihre stumme Angst. Unverwandt starren ihn die braunen Augen an, und jetzt liegt eine stumme Frage darin. Ihre Hand sinkt herab, ein langer Seufzer erschüttert die schmale Gestalt, und nun bricht sie in erneutes Weinen aus. Und spricht, holprig erst, dann geläufiger: „Ach, ich habe niemand mehr. Niemand!" Sie bebt am ganzen Körper, schaut plötzlich angstvoll nach der Tür. 91
Poppers energische Kopfbewegung scheucht die neugierig Hereinblickenden zurück. „Das sind meine Freunde und nun auch Ihre! Sie meinen es genau so ehrlich und brav mit Ihnen wie ich. Aber Sie müssen doch irgend jemand auf der Welt haben?" „Vater ertrank, die See hat alle über Bord gespült. Vater hatte mich auf dem Lukendeckel festgebunden, ehe der nächste Brecher ihn fortriß. Oh, es war schrecklich! Das Heulen und Donnern der See, dazu dichtes Schneegestöber. Kalt . . . " „Setzen Sie sich doch wieder bequem hin und erzählen Sie, so gut es geht!" Sie befolgt seinen Rat, und auch er läßt sich auf einem Packen nieder. Das Feuer flackert. Von draußen kommt das eintönige Schwatzen der Yaghans, die flüsternden Stimmen der vor Neugier fast platzenden Goldsucher. „Usted es argentina?" Die Angst in ihren Augen erlischt und macht einer müden Gleichgültigkeit Platz. „Chilenin! Aus Iquique! Ich hatte nur noch Vater. Er wollte mit mir nach Montevideo, und einer der Kapitäne, mit dem er sich anfreundete, von einer salpeterladenden Viermastbark, versprach uns billig mitzunehmen. Er hatte ausnahmsweise Zwischenorder für Uruguay, und der Agent erlaubte es, daß wir mitdurften. — In jener schrecklichen Meeresstraße aber . . . " sie schlägt die Hände vor die Augen, läßt sie dann wieder sinken. „... Le Maire nannten sie es, glaube ich, da kam plötzliche Windstille. Und alles brach von oben herab. Es war ein unbeschreiblicher Lärm und wie die Hölle! Und gleich darauf brach ein furchtbarer Orkan aus." „Und dann?" fragt der Colonel voll tiefer Teilnahme. Ihre Hände zittern, ein leerer Ausdruck kommt in die Augen, die eben noch erschreckt glänzten. „Ich wurde aufgefischt. Indianer! Und mußte bei ihnen bleiben. 92
Ich fror erbärmlich. Manchmal schlugen sie mich, aber im allgemeinen waren sie nicht böse. Ihre Frauen streichelten mich oft! . . . " „Und dann?" „Kam eine große Leere. Erst vorhin bin ich aufgewacht und erinnerte mich an den Schiffbruch. Es war so traurig bei den Yaghans, und ich habe das Sprechen verlernt. Die Strapazen waren grausam, aber mit der Zeit fror ich nicht mehr. — Ich glaube nun, daß ich wohl ziemlich lange bei den Indianern war?" „Zwei Jahre!" „Dios Santo!" „Nicht mehr. Wir werden für Sie sorgen, so wahr ich eine Mutter hatte!" Ein dankbares Lächeln schimmert durch Tränen. „Ich denke, das Beste wird sein, daß Sie jetzt eine Mahlzeit halten. Eine richtige weiße Mahlzeit mit heißem Kaffee. Und dann schlafen Sie. Morgen fahren wir mit den Yaghans nach der Siedlung. Und dort bleiben Sie, so lange Sie wollen, bis wir Sie nach Punta Arenas zu Ihren Behörden bringen. — Und nun sagen Sie mir noch Ihren Namen!" „Esperanza! Esperanza Dieguez!" Ihre Stimme nimmt auf einmal vollen Klang an. Gutmütig streichelt er über ihre Hände, dann ruft er: „Ihr könnt kommen, amigos!" Langsam, auf den Zehenspitzen, treten die rauhen Männer Feuerlands in die Hütte. Mit scheuem Lächeln schaut ihnen die junge Frau entgegen. Vor lauter Rücksicht wissen sie nicht, ob sie sprechen dürfen oder nicht, und auf allen Gesichtern zeichnet sich deutliches Mitgefühl ab. Ungeschickt wie Bären tappen sie umher, verstecken ihre Hände. Popper rettet die Situation: „Dieser da ist Aage, der Pelzjäger, und der dort ist der Kanadier Gerard. Und der kleine heißt Achilles, stammt vom Piräus im fernen Griechenland. Der da nennt sich Mauro!" So stellt er die Kameraden einen nach dem anderen vor. 93
„Und diese Señorita, die Schweres erlebt hat seit ihrem Schiffbruch in der Straße Le Maire, heißt Esperanza Dieguez. Und wir wollen uns, so gut wir's vermögen, ihrer annehmen! —Sie sprechen alle Spanisch, Señorita!" „Djäbla, das werden wir! — Schätze so, Señorita! — Bei der Panagia, Sie sollen nicht über uns zu klagen haben!" Ihr Lächeln wurde zutraulicher, dankbar nickt sie ihnen zu. „He, Mauro, schaff das beste Essen, das du vermagst. Und heißen Kaffee. Für uns auch gleich!" Sie setzen sich im Halbkreis um das Mädchen und fangen gutmütig an, von ihren Taten und Fahrten zu prahlen, wie es meist Männerart ist, wenn Frauen anwesend sind . . . „Señores — werdet ihr jetzt böse sein?" fragt sie. „Warum? Kein Grund dazu, bei der Panagia!" Ihr Gesicht erwärmt sich: „Ich will nämlich jetzt beten und Gott und der Heiligen Jungfrau danken. Und auch für euch alle will ich mitbeten!" Langsam sinkt sie auf die Knie. Einer schaut den andern an. Die Griechen falten zuerst die Hände. Dann die andern, obwohl der eine Pelzjäger vor Staunen über sich selber leise dabei flucht . . . Das Murmeln der betenden Frau erfüllt die Hütte. Draußen sind die Indios zur Ruhe gegangen. Die Natur wurde stiller. Endlich beschließt Esperanza ihr Gebet und setzt sich wieder aufrecht. Ihr Aussehen hat sich ganz geändert. Vertrauen in sich selbst und andere glänzt jetzt in den großen braunen Augen. Mauro bringt das Essen, und andächtig schauen sie zu, wie Esperanza den einfachen Speisen zuspricht. Lange wagt keiner, dabei zu reden; und als Gerard seine Pfeife hervorholt, versetzt ihm sein Freund einen derben Knuff: „Bist wohl verrückt, wenn Ladies speisen, deinen Glühkolben zu rauchen!" . . . Nachher bereiten sie ihr in der Ecke neben dem Kamin das Lager. 94
Und dann sitzen sie lange noch vor der Glut, die Abenteurer von Feuerland, rauchen und flüstern, und ihre Blicke wandern immer wieder dorthin, wo sie jetzt schläft. Die aus dem Wasser kam . . .
Wulaia Während die Boote mit den Yaghans und den Weißen ihre gefährliche Fahrt zurücklegen, durch die Wunder des Beagle und an den Schrecken der Timbales und von Furia vorbei, spielte sich jenseits des anderen Kanalendes folgendes ab: Vor Navarino warf der von den englischen Falklandinseln angesegelte Missionsschuner „Allan Gardiner" Anker. Das schnittige, tüchtige Schiff führt den Namen jenes ersten englischen Dieners der Nächstenliebe, der einst den wilden, räuberischen, ja sogar, aber vielleicht fälschlich des Kannibalismus bezichtigten Yaghans das Evangelium predigen wollte. Die Yaghans von der felsigen Pictoninsel hatten ihn zuerst unter Todesdrohungen mehrmals davon gejagt; doch kam er hartnäckig immer wieder zurück und fand dann mit seinen Begleitern, unaufhörlich von den Indios belästigt und verfolgt, den Hungerund Kältetod auf Feuerland . . . Nun ist der Schuner gekommen, um auf Navarino das Werk dieser Märtyrer fortzusetzen. Ein herrlicher, windstiller sonnenklarer Tag bläut über der großen Bucht; opalisierende Nebel verdampfen, hell klingt Vogelschrei in den Lüften, und dumpfes Robbenbrüllen hinter der Landspitze murrt wie warnende Drohung. Guten Mutes sind der Missionar Philipps und seine Begleiter, zumal sie den unter seinen Stammesgenossen beliebten und berühmten Yaghan „Jimmy" bei sich haben. Es ist jener Indianer, der seinerzeit von dem Forschungsschiff „Beagle" nach London gebracht und dort getauft wurde. Jimmy hat gelernt, richtige 95
Kleider zu tragen, manierlich zu essen und kann seinen Tabak mit Anstand kauen. Doch heute hat dieser von der Zivilisation beleckte Indio ein übles Ahnen im Bauch — wie er sich ausdrückt. Er wurde ja auch von seinen Landsleuten, die vielhundertköpfig die weißen Männer umringen, genug gewarnt. Aber die Weißen lächeln nur: „Sieh doch, wie zutraulich sie sind, Jimmy! Sogar ihre Waffen liegen bei den Frauen im Hintergrund!" Sie sind gut fünfhundert, die Indios. Ihre Blößen kaum mit Robbenfellen bedeckt, die Haare verfilzt, mit tiefliegenden bösen Augen, krummen Beinen und vom Rudern starken herkulischen Oberkörpern und Armen, so schauen sie neugierig, stumm, ohne ein Wort, zu, wie die Wellesleyaner ihren Altar am Strande aufbauen. Vater Philipps traf gute Vorbereitungen, er nahm sich — obwohl andern Glaubens — jene alten, menschenkundigen Jesuiten zum Vorbild, die vor ungefähr hundert Jahren solche großen Erfolge bei der Bekehrung wilder, kriegerischer, skalpejagender Huronen, Irokesen, Saults und anderer Stämme in Kanada hatten. Primitive, aber logisch denkende Menschen möchten nämlich, wenn sie neue Lehren hören und verstehen sollen, etwas Handgreifliches sehen, ehe sie daran zu glauben anfangen. Darum hatte es die katholische Religion mit ihren bunten, goldglänzenden, symbolischen Statuen und Heiligenbildern leicht. Jene alten Jesuitenpatres aber, die heldenmütig zu zweien oder auch allein Hunderte von Meilen durch die wilden Urwälder zogen, gingen in diesem Anschauungsunterricht noch weiter: sie malten eigens für die Indianer Heiligenbilder. Die waren den Begriffen der roten Männer angepaßt, indem sie die Heiligen einfach als Indianer darstellten, mit Leggins, Mokassins, Wampumgürtel, Federschmuck, Friedenspfeifen und einer roten Haut, und um die adlerschwingengeschmückten Köpfe glänzte der Heiligenschein. Dies war nicht etwa Lästerung; die guten Patres wußten genau, daß so den Kindern des Urwaldes am besten beizukommen sei. 96
Und hatten demzufolge zeitweilig auch recht beachtenswerte Erfolge. Die später von den mährischen Brüdern der Herrnhuter am Ufer des Saint Francis fortgesetzten Bekehrungsversuche wurden dann allerdings eines Tages durch ein Massaker beendet. Nun, Vater Philipps war in den Methoden christlicher Pionierarbeit offenbar gut beschlagen; auch er hatte selber ein Heilandsbild gemalt und einige symbolische Bilder: Darstellungen von Paradies, Hölle, Entstehung der Menschen, Noahs Arche und dergleichen. Die darauf abgebildeten Figuren und auch der Gottessohn hatten alle unverkennbare Ähnlichkeit mit Yaghanindios. Außerdem beherrschte er sehr gut ihre Sprache. Vorläufig sahen die zukünftigen Convertiten auch von allen äußeren Feindseligkeiten ab; sie schauten dem Altaraufbau zu, nahmen auch die Geschenke an und lauschten voll Interesse der an Hand der Bilder demonstrierten christlichen Lehre. Dann beginnt Vater Philipps in der glucksenden Yaghansprache seine Predigt. Manierlich stehen die transtinkenden Indios im Kreis. Aber als die Zeremonie mit dem Amen des Vaterunsers beendet ist — da, auf ein verabredetes Geheimzeichen, fallen auf einmal die fünfhundert Indianer mit Gebrüll über die Weißen her. Im Nu sind die Missionare, der Schunerkapitän und die Mannschaft, die dem Gottesdienst des Predigers beiwohnten, umgebracht. Erschlagen und gesteinigt! Und dann paddeln die Indios samt ihren Weibern und Kindern jauchzend nach dem „Allan Gardiner". Die zwei Mann Ankerwache verschanzten sich in der Kajüte; doch führen Missionsschuner nie Waffen, und Jimmy, der in London allerlei gelernt hat, zeigt seinen Genossen, wie man Türen und Luken geschickt aufbricht. Bald sind auch die letzten zwei Weißen gespeert, und ein fröhliches Plündern setzt ein, von Jimmy, der sich aber bei der Tötung, auch vorher am Strand nicht beteiligte, geleitet. Nachher zünden sie das Schiff an, und mit Geschrei, sehr erbost, daß kein Rum oder Pisco an Bord war, rudern die Yaghans zurück. 97
Jimmy liest noch seinem halberwachsenen Sohn die Leviten, weil dieser hoffnungsvolle Sprößling und Neochrist eigenhändig dem guten Vater Philipps mit einem Stein den Schädel eingeschlagen hat. Und dann begraben die Indios alle Opfer unter Geröll, fahren in ihren Booten davon, zerstreuen sich in der Wildnis der Inseln und Kanäle. Und nicht die geringste Spur des grausigen Dramas am Strande von Navarino in der Wulaiabucht *) bleibt übrig ... . . . Später aber haben die Priester doch auch dort das Vertrauen der Eingeborenen gewonnen. Denn ich kenne einen italienischen Padre, einen Jesuiten mit ein Paar gütigen Augen im finstern, urhäßlichen, pockennarbigen Gesicht und mit der Seele eines Lammes, der in Punta Arenas den Ehrentitel „Apostel der Yaghans" führte. Er kam sehr selten nach den Siedlungen, gewöhnlich in einem von Yaghans geruderten Kanu, um die erbeuteten Felle seiner Schützlinge gegen Lebensmittel, Tabak und Medizinen umzutauschen. Sonst lebte er das ganze Jahr mit seinen Yaghans, teilte Hunger, Sturm und Seenot mit ihnen, wohnte in ihren aus ein paar Stäben errichteten Hütten und predigte ihnen das Evangelium. Am südlichsten Punkt des südamerikanischen Festlandes, dem Feuerland, die vielen Inseln und Kap Horn vorgelagert sind, haben fromme Padres unserer Zeit auf das sturm- und meergepeitschte Kap Froward mit unsäglicher Mühe ein riesiges Eisenkreuz gestellt. Doch schon nach kurzer Frist bog ein furchtbarer Orkan das eiserne Machwerk gleich einer Gerte zu Boden und stürzte es ins brüllende Wasser.
*) Anmerkung: alle in diesem Buch geschilderten Personen und Ereignisse sind historisch. Nur habe ich mit dichterischer Freiheit den Missionarsmord auf Navarino, der vor Poppers Ankunft auf Feuerland stattfand, in seine Tage verlegt, um dem Leser ein abgerundetes Bild der Insel Feuerland zu geben.
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Was Abraham Braun sagte ... Duprez, weiland der „haute couture" zu Straßburg angehörig, später Gaucho in der argentinischen Provinz Entre Rios, Kellner in Buenos Aires und nun bei Don Julio, erinnert sich gern seiner alten Kleiderkünste. Und übt sie nun wieder aus! Und entwirft und näht tagelang an — wie er's schmunzelnd nennt — ,Esperanzas Aussteuer'. Die kleine Siedlung geriet in begreifliche Aufregung, als der Colonel so unerwartet rasch zurückkehrte, und mit ihm die junge Frau und ein großes Boot voll grinsender, schnatternder Yaghans, die sofort ihre Litanei von „bißchen Tabak, bißchen Pisco" anstimmten. Instinkt zum Guten und ihr südländischer Takt hatte den rauhen Männern der Expedition ohne vorherige Verabredung das richtige Verhalten gegenüber der Waisen vom Ende der Welt, die aus dem Wasser kam, vorgeschrieben. Dieses Benehmen ist weit verschieden von dem, das sie z. B. den Señoritas bei „Rattenjack" zeigen; obwohl sie auch diese armen Geschöpfe der Freude nicht beleidigen durften, denn darin war und ist Don Julio streng. „Es sind Menschen wie wir, und keinem wurde an der Wiege gesungen, was einst aus ihm werden würde!" sagt er. Esperanza fühlt sich daher sehr rasch heimisch, ihre Angstzustände, während deren sie in brütende Melancholie versinkt, werden schwächer und immer seltener. Jeder aus der großen Junggesellengemeinschaft gibt sich Mühe, ihr Gutes zu erweisen, und sie erfinden oft die tollsten Geschichten, die ihrer Meinung nach die kleine, nie lebhafte Chilenin erfreuen könnten. Die Yaghans zogen indessen befriedigt ab. Aber als man Esperanza gleich am nächsten Schönwettertag nach Punta Arenas hinüberbringen will, weigert sie sich schüchtern — zum Erstaunen und zur geheimen Freude aller. „Señores! Don Julio, Sie und die Ihren sind so gut zu mir, ich werde jede Stunde ruhiger. Was soll ich in den Städten? 99
Lassen Sie mich doch vorläufig noch hier. Ich will auch kochen und arbeiten für euch," sagte sie leise. Die Männer strahlen. Und Popper, von unklaren Ahnungen und Gefühlen befallen, ist selber irgendwie froh. So entgegnet er: „Gewiß, Esperanza, du kannst dableiben, so lange du willst, und ein bißchen arbeiten, aber nicht zuviel, wenn es dir Spaß macht. Zuerst sollst du dich aber ausruhen, während wir Kleider für dich besorgen." „Und wenn diese nichts taugen, weil es keine große Auswahl in den Almacenes gibt, höchstens seidene Abendroben für Tanzmädchen —, so bin ich da. Ich, Pierre Duprez, anerkannter marchand tailleur der berühmten Stadt Straßburg in einem Lande, wo Milch und Honig fließt und wo es wunderbaren Wein gibt, von dem ich gerne jetzt ein Oxhöft voll hätte! . . . " „Oh, ich kann gut nähen, amigos!" sagt da Esperanza, sie lächelt sogar ein wenig dabei. „Glaub' ich, sollst du auch später, aber deine ersten Kleider mache ich. Voilá!" Und so sind sich alle einig. Ein Protokoll wird von Popper aufgesetzt: wie Esperanza zu ihnen gekommen ist und was sie erlebte. Die Zeugen aus der Pinguinbucht unterzeichnen. Und dann fährt Popper hinüber nach Punta Arenas, um der chilenischen Behörde Meldung zu machen. Das geht reibungslos vonstatten. „ . . . das Mädchen hat keine Verwandten mehr, und es ist daher Pflicht ihres Heimatlandes Chile, auf dessen Boden wir stehn, für die Waise zu sorgen. Ich glaube, daß die Geschichte großes Aufsehn in Valparaiso und Santiago machen würde, und ich müßte sie natürlich mit dem nächsten Regierungsdampfer in die Zivilisation zurückschicken. Bueno, aber da schreibt sie nun selbst, daß sie das nicht will und zunächst bei Ihnen drüben bleiben möchte!" Der elegante Señor betrachtet den Brief, fährt dann fort: „Nun würde ich dies unter keinen Umständen erlauben, wenn es sich um eine sogenannte Goldgräbergesellschaft handelte. Das sind 100
dann meist so weggelaufene oder schiffbrüchige Matrosen — viel Gesindel dabei. Ich habe schon mehrmals um eine Kompanie Militär gebeten, die diesen Caballeros de la Fortuna das Leben etwas erschweren sollte. Aber Sie wissen ja, Santiago de Chile ist weit weg, und wir sind hier auf Feuerland, notabene Patagonien, am Ende der Welt. Ultima Esperanza! Und solange hier kein Gold in großem Maßstab gefunden wird und auch sonst nichts geschieht, was diese Gegend einträglicher macht, solange wird man auf mich nicht hören. Wir sind für die Herren nicht sehr interessant. Alle Versuche mit Vieh und Ackerbau haben bisher, wie Sie wissen, Señor Coronel, nicht eingeschlagen. Pferdezucht wohl, aber damit ist nichts zu verdienen. Klima und Land sind rauh und dürftig. Ja, dürftig!" „Kohlen, Señor Gerente!" „Hab' auch schon daran gedacht und deren Vorkommen gemeldet. Die Argentinier von Ushuaia drüben taten bei ihrer Regierung denselben Schritt. Aber die Kosten wären noch viel zu hoch. Vorderhand ist englische und australische Kohle billiger und auch besser. Später vielleicht, wenn wir beide nicht mehr leben, dann, ah . . . " Er lacht, schiebt die Zigarrenkiste in Reichweite des Gastes, bedient sich dann selbst. „Bueno, so ist das mit uns, und dabei habe ich ein Gefühl, als ob diese Gegend hier eines Tages noch viel Geld einbringen dürfte, Don Julio!" „Ich auch, Don Viscente!" „Ja, weiß ich, und Sie denken dabei nur an Gold!" „Nur teilweise. Wissen Sie, was ich anfangen werde, wenn ich erst das nötige Kapital habe? — Land kaufen!" „Das können Sie billig und vielleicht sogar geschenkt erhalten, wenn Sie sich beeilen. Von den Argentiniern noch billiger. Aber was wollen Sie damit?" „Wenn ich das Land habe, will ich Schafe importieren. Im großen! Bin überzeugt, daß diese Tiere in dem Klima gut weiterkommen und genügend Nahrung finden. Wolle ist stets gesucht!" 101
„Caramba, Coronel, Sie sind ein Schlaukopf, denn ich glaube, Ihre Idee ist gut. Sogar glänzend. Wenn ich das Projekt meiner Regierung vorlege? Aber es würde keinen Zweck haben. Sie kennen ja die Verhältnisse bei uns. Vorläufig ist Südamerika noch stark das Land des Achselzuckens und des Mañana!" . . . Beide lachen. „Auch das wird eines Tages anders sein. Lassen Sie noch einige europäische Kriege kommen, und dann wird der Weltteil, von El Paso del Norte an bis hinab nach Kap Horn, einen ungeahnten Aufschwung nehmen, mit Siebenmeilenschritten, glauben Sie mir!" „Übrigens haben ein gewisser Pablo Gonzalez und einige andere bereits im kleinen die Schafzucht angefangen. Mit australischer Rasse. Und drüben auf Feuerland konstituiert sich die „Compaña Explotadora de Tierra del Fuego", die ihren Sitz teils bei uns in Punta Arenas, teils drüben in Ushuaia hat. Ich denke aber, daß das alles ein wenig verfrüht sein wird . . . Doch um auf den Grund Ihres Besuches zurückzukommen : es steht also dem freiwilligen Bleiben der Señorita Esperanza Dieguez bei Ihrer Gesellschaft nichts im Wege. Auch wenn ich einschreiten wollte, könnte ich es gar nicht, denn das Gesetz hört mit den letzten Häusern von Punta auf. Deshalb war es extranett von Ihnen, mich zu benachrichtigen. Man weiß längst, daß Don Julio ein Caballero und seine Freunde lauter Caballeros sind!" „Ich danke Ihnen, Don Viscente!" „Gerne geschehen! Und wenn Sie wieder mal nach Punta kommen, so besuchen Sie mich, bitte. Vielleicht haben Sie bis dahin Ihre Bonanza entdeckt — hoffentlich auf dem chilenischen Teil von Feuerland! Und dann könnten wir uns eingehender über Schafe unterhalten. Die Heiligen seien mit Ihnen! Adios und hasta la vista!" . . . Dann kauft Popper noch Stoffe und fertige Sachen im Almacén. Und nach kurzem Nachdenken, auch einen kleinen goldgefaßten Türkisring. Frauen haben dergleichen gerne, denkt er. Und schüttelt auf einmal den Kopf . . . 102
In der Oficina del Correo holt er seine Post ab. Pakete mit wissenschaftlichen und geographischen Werken, die er in Abständen — je nach der Ausbeute an Nutriafellen — aus London, Paris, New York und Leipzig bezieht. Auf dem Wege zur Seven Seas Bar trifft er Braun. „Gott der Gerechte, schauen Se gut aus und gesund, hab Se lange nicht gesehen, Colonel! Und haben Se gefunden allmächtig viel Gold?" „Noch nicht, Abie, aber sicher bald, denn ich habe jetzt einen glückbringenden Talisman drüben, denke ich!" lächelt der Rumäne. „Wie haißt Talisman?" Und nun hört Abraham aufgeregt die Geschichte der Frau, die aus dem Wasser kam. „Se tun ä gutes Werk, Colonel, Gott wird Se segnen, wenn Se auch sind — mit Verlaub — nur ä Goy! Sollten Se machen de Sach perfekt, denn Se sind ä guter Mann, ä gerechter und ehrlicher Mann — sollten Se heiraten de arme Chaibe. Wird se sein längst verliebt in ihren Retter!" „Heiraten? . . . " „Nu, ist Heiraten ä Verbrechen? Werd'ch selber bald kommen lassen de Sarah aus Buenos Aires, wo se hat gewartet und wäscht for de Goyim. Hab' ich gemacht gute ehrliche Geschäfte letzte Zeit und werd' ich bald gründen ä Hausstand!" „Das freut mich, Abie, ich gönne Ihnen alles Gute. Sie sind ehrlich und fleißig. — Da fällt mir ein: ich bringe Ihnen unsere letzte Ausbeute. Ihre Preise waren immer gut. Hier, lassen Sie uns abwiegen gehn!" Der Jude nimmt den Tabaksbeutel entgegen, mitleidig betrachtet er dessen Inhalt: „Gott der Gerechte, das ist gewechselt in Duros fuertes keine zweihundert Pesos! Und davon sollen leben Ihre vielen Laite und Se selber wieder viele Monate. Schlimm!" „Eines Tages kommt der große Klumpen, Abie!" „Weiß ich, Colonel. Und dann werden Se kommen zu Abraham Braun und wird er Ihnen geben gute und beste Preise!" „Das gilt!" . . . 103
Sie wickeln ihr Geschäft ab; dann schlendert er nach der Seven Seas Bar, wo seine Leute warten. Als er die Tür aufdrückt, dröhnt ihm ein wütender dänischer Fluch entgegen. Es ist Aages Stimme. Dann ein Klirren, ein dumpfer Schlag, dem ein schwerer Fall folgt. Der Eintretende sieht eine Schar zusammengedrängter Mädchen, die alle schadenfrohe Mienen haben, und seine Kameraden. Aage setzt sich eben hin. Und „Rattenjack" richtet sich taumelnd hinter der Theke vom Boden auf. „War nicht so gemeint, damned, man kann doch mal 'nen Spaß machen. Doch da kommt ja der Colonel; Colonel, was ist gefällig? Habe trefflichen Burgunder, ganz frisch gelandet; Punta Arenas ist Freihafen, also zollfrei und billig. Ihr Balkanleute liebt doch Wein!" „Was hat's denn gegeben? Bringen Sie uns eine Flasche!" Die Mädchen trippeln auf ihren Stöckeln an ihre Plätze. Drei gesellen sich wieder zu den Goldsuchern. Die andern ducken vor Jacks bösen Blicken. „War 'n Scherz, 'n netter blutiger blühender Spaß. Können ja selbst entscheiden, Colonel!" Der Wirt stellt die entkorkte Flasche und Gläser vor die Männer. „Hast du ihn niedergeschlagen, Aage?" „Hab' ich, Julius, und tu's nochmal, wenn er sein schmutziges Maul nicht halten kann!" brummt der Däne gewichtig. „Wir haben nämlich den Mädels und Jack hier, da's ja kein Geheimnis ist, von Esperanza erzählt. Und was meinst du, was der giftmischende Seelenverkäufer uns kaltblütig vorschlug?! Er würde uns die Señorita für fünfhundert Pesos abkaufen und sie in seinem Etablissement als Star anstellen . . . Da gab ich ihm eins ins Genick. Hab' nicht richtig zugeschlagen, sonst stünde er nicht schon wieder auf seinen Plattfüßen!" „War wirklich nur Spaß!" ruft „Rattenjack" eifrig, doch unter dem Blick des Colonels wird ihm unbehaglich. „Muß mal in den Keller", murmelt er und verschwindet. 104
„Ich liebe keinen Krakeel, aber in diesem Falle hast du meine Zustimmung. Trinkt aus, wir wollen gehn. Den Packen holen wir aus dem Almacén und dann rasch ins Boot!" Arabella, eine von roher Liebe vieler düsterer Häuser stark mitgenommene Dirne, die bei „Rattenjack" eine Art Vertrauensstellung einnimmt, bemüht sich eifrig, die Gäste zum Bleiben zu bewegen. „Keinen Zweck! Ach, die Sache eben? Die ist vergessen. Und deswegen gehn wir jetzt auch nicht. Aber wir müssen den guten Wind ausnützen. Morgen weht vielleicht ein Sturm, der uns acht Tage hier festhält. Mach die Rechnung, Bella, und sag' Jack Halloh von uns." Sie bekommt ihr Geld, und dann brechen die Männer auf. „Adios, ihr Schönen, und auf Wiedersehn!" Sie lachen, als Arabella keift: „Ihr verdammten Poppergringos seid doch das schäbigste Pack von ganz Patagonien und Feuerland! Mögt ihr in der Magellanstraße ersaufen. Raus!" Die Tür schmeißt sie hinter ihnen ins Schloß. Sie aber holen ihre Packen und steigen dann ins Boot. Und bald verschwinden die blinzelnden Lichter von Punta Arenas im Abenddunst. Das Meer rauscht und netzt ihre Gesichter mit kaltem Sprüh; leise brummt das pralle Segel in der steifen Brise. So fahren sie nach dem Feuerland hinüber, das aus grauen Wolken undeutlich herausragt. Popper ist nachdenklich und einsilbig. Während die andern von ihren Stadterlebnissen plaudern, Albatrosse in den Lüften kreischen und eine Robbe den menschenähnlichen Kopf über die Wellen reckt und laut prustet, kreisen seine Gedanken immer um dieses Mädchen Esperanza, das aus dem Wasser gekommen ist; und — auch um Abraham Brauns Worte . . .
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Esperanza Sie wurde zum vollberechtigten Mitglied der Gesellschaft Don Julios. Ihre Anwesenheit kommt keinem mehr seltsam vor. Und wenn die Gedanken der Männer auch zuerst in verborgenen Hoffnungen schwelgten und wohl jeder sich Zukunftsbilder ausgemalt hatte, in denen die Chilenin keine geringe Rolle spielte, sie haben sich, teils trauernd, teils heimlich fluchend oder auch schmunzelnd, mit der Tatsache abgefunden, daß Esperanza, die zu jedem gleich freundlich bleibt, eigentlich nur Augen und Ohren für den Colonel hat. Wenn er da ist, dann überzieht sanfte Röte das schöne cremeweiße Gesichtsoval und die großen, wunderbaren Augen haben plötzlich Feuer und enthüllen eine nur schlecht verborgene, tiefe Leidenschaft. Aage, der eines Tages mit dem Kanadier eine schmale Bucht nach Gold absucht, sagt: „Weißt du, was ich kommen sehe? Das Mädel wird des Colonels Frau. Nun, je eher, desto besser. Die andern sind zwar bisher erstaunlich vernünftig, wenn man bedenkt, daß es normale Männer mit normalen Gelüsten sind; aber man kann doch diesen heißblütigen Burschen aus Südeuropa nie recht trauen, sobald eine Frau im Spiel ist. Julius ist ein wunderbarer Kerl, ein Zauberer, möcht' ich fast sagen. Und wenn er das nicht wäre, so hätte es unter uns bestimmt schon Mord und Aufruhr gegeben. Um die Frau! Aber, sag' ich . . . " „Ja, und daß sie verliebt ist in ihn, das kann ein Blinder sehen. Nur er nicht in sie. Oder?" „Weißt du, er ist vom alten richtigen Schlag und ein Kavalier den Frauen gegenüber. Hast du gesehn, wie er die Huren bei „Rattenjack" behandelt? Als ob sie lauter Prinzessinnen wären. Und die armen Dinger — Arabella vielleicht ausgenommen — würden sich alle freiwillig vom Monte Sarmiento stürzen, wenn er's verlangt." 106
„Hm, sag mal, Partner, glaubst du noch an die Bonanza, die er uns versprochen hat?" „Komischerweise ja! 's ist seltsam!" „Mir geht's ebenso!" „Ja, aber um nochmal von der Esperanza zu sprechen: ob wir ihm mal 'nen guten deutlichen Wink geben?" „Lieber nicht. Er ist sehr eigen in gewissen Dingen. Hab' mal einen Roman gelesen — Gott, ist das lang her, daß ich ein Buch in den Fingern hielt! Ich mach' mir auch nichts mehr draus —, ja, aber da kam einer drin vor, von dem es hieß, er sei jenseits von Gut und Böse. So ungefähr ist Julius auch." „Hm. Du, der Beppo, weißt du, der so unmenschlich viel Polenta fressen kann — komisches Zeug, ich kann's nicht vertragen! — na, dieser Beppo macht mal Unsinn, fürchte ich. Die Augen glühn ihm wie bei 'nem Puma zur Nachtzeit!" „Wenn er das Mädel heimlich anglupscht, meinst du, Partner?" „Yes!" „Wollen dem Beppoknaben ein bißchen auf die Finger sehn, schätze ich." Und brummend machen sich die Beiden wieder daran, eine Pfanne voll Sand auszuwaschen . . . Im Laufe der Zeit wurde das nun aus verschiedenen Hütten bestehende Lager zu einer richtigen Siedlung, in der buntes und regsames Leben herrscht. Grade als Aage und Gerard sich über Beppo unterhalten — zwanzig Kilometer vom Lager entfernt — trifft das ein, was sie befürchten. Schon den ganzen Morgen folgte Beppo der Chilenin in auffallender Weise. Er trägt ihr Holz an den Herd, begleitet sie zur Quelle und schleppt den Wassereimer, und während sie sich bei den Kochtöpfen zu schaffen macht, hockt er auf der Hartbrotkiste und starrt sie an. Dem Mädchen wird der stumme, sie mit verlangenden Augen verschlingende Mann unheimlich. Sie versucht, den Bann, den sie auf ihn ausübt, zu zerstören, und beginnt ein harmloses Geplauder. Doch bleibt der sonst so lebhafte Südländer heute wortkarg. 107
Beide befinden sich im großen Gemeinschaftshaus, das für die Mahlzeiten benützt wird. Gruppen der Mannschaft zogen auf Goldsuche, andere bessern unten im kleinen Naturhafen die Boote mit Teeranstrich aus, und der Colonel arbeitet mit ein paar früheren Handwerkern an der bisher mißlungenen Fischräucheranlage. „Mädchen!" Sie schreckt vor der heiseren Leidenschaft zurück. „Soll ich dir einen Becher Kaffee machen?" versucht sie ihn abzulenken. Beleidigte Röte färbt ihre Wangen, als sie nun spürt, wie er sie förmlich mit Blicken auskleidet. Sie will ins Freie, zu den andern; aber sie zwingt sich äußerlich zu Ruhe, als sie nach der Tür geht. Mit ein paar schnellen geschmeidigen Sätzen versperrt er den Weg. „Mädchen!" Noch heiserer klang es. „Bist du krank, Beppo? Du hast sicher Fieber!" Dumpf lacht er: „Ja, Fieber! Es brennt und wühlt in mir und das Blut ist mir in den Adern wie geschmolzenes Blei. Und brennt. Das Fieber nach dir! . . . " „Du sollst nicht solche Dinge denken und davon reden. Ich habe Angst vor dir. Laß mich hinaus oder ich rufe!" „Erst wenn du mich angehört hast!" entgegnet er, und seine Stimme wurde plötzlich weich und innig. „Ich weiß, was du sagen willst, Beppo, denn ich bin kein Kind mehr. In Chile werden die Frauen früh reif. Aber ich kann dich nicht anhören. Laß dir das genügen und sei vernünftig!" „Du mußt aber! Esperanza, es gibt keine Sekunde, Tag und Nacht, während ich nicht an dich denke und nach dir verlange. Du mußt mein werden. Du mußt! Und niemand soll davon erfahren; denn wenn du ja gesagt hast, kann ich mich allen andern gegenüber sehr gut verstellen. Sag's!" „Pfui, Beppo, du bist schlecht, und ich will nichts mehr hören. Laß mich hinaus!" „Hinaus?" Seine Hände schnellen plötzlich vor, packen sie, 108
reißen sie an sich. Ein heißer Mund preßt sich auf den ihren. Augen funkeln dicht vor den ihren, keuchender Atem umwogt sie. Stumm verteidigt sie sich. Warum sie nicht schrie, das kann sie später selber nicht sagen! — Es gelang ihr, den Kopf zurückzuwerfen, und auf einmal löst sich das erstarrte Stimmband, und obwohl er brutal die Hand auf ihre Lippen drückt und sogar auf sie einschlägt, schrillt ihr mehrmaliger Hilferuf durch die Hütte und ins Freie. Schritte eilen draußen. Jemand stürzt herein; eiserne Fäuste reißen den Italiener von ihr weg, schleudern ihn in die Ecke. Ächzend kauert er dort; dann springt er wieder auf, in der Rechten ein langes Stilett. Langsam, raubtierhaft schleicht er auf den Colonel, der das Mädchen befreite, zu. Wieder und wieder gellt ihr Schrei, nun voller Angst. Männer stürzen herbei, sie wollen über Beppo herfallen. Doch ein knappes Wort Poppers, in so zwingendem Ton, wie sie es selten von ihm hören, lähmt ihren Entschluß und zwingt auch Beppo, jäh zu erstarren. Er hält noch immer die Waffe umklammert, seine Augen funkeln haßtoll, aber er rührt sich nicht. „Beppo, laß den Dolch jetzt fallen und sei vernünftig. Du warst doch noch nie ein Meuchler, wenn du auch der Camorra angehört hast. Und nachher packst du deine Sachen, bekommst deinen Anteil an Proviant und das bißchen Gold, auf das du Anspruch hast, und dann gehst du. Entweder bringen wir dich nach Punta Arenas hinüber oder, wenn du willst, magst du auch in die Wildnis marschieren und dich einer andern Goldsuchergesellschaft anschließen. Bei uns darfst du nicht mehr bleiben, darin bin ich aller Meinung gewiß. — Und zuvor bittest du die Señorita um Verzeihung!" Still ist's. Esperanza schaut auf den Colonel, und keiner könnte die Gedanken mißverstehn, ihre Wünsche, Hoffnungen und das Verlangen, das nun frei und unverhüllt aus ihren Augen spricht. Aber sie blicken ja alle auf Beppo . . . Dessen Finger öffnen sich Klirrend fällt das Stilett auf die 109
Bretter. Und dumpf, halberstickt und tieftraurig kommen die Worte aus seinem Munde: „Es tut mir wirklich sehr leid. Sehr leid. Und ich bitte dich, mir zu vergeben, Esperanza! Willst du?'' Und nun schauen sie nach dem Mädchen, das eine Frau ist. Beppo, der unter der Gesichtsbräune fahl wurde, beißt plötzlich knirschend die Zähne zusammen, als er merkt, daß sie sich, die ihr von ihm zugefügte Beleidigung eingerechnet, überhaupt nichts aus ihm macht. Er rührt sie gar nicht, weil er nicht für sie existiert! Ist weniger als das Sandkorn, das jetzt unter ihrem Mokassin knirscht . . . Da schleicht er hinaus. Und das Drama, das diese Hütte mit pulsierender Spannung lud, brach ab und ging zu Ende, ehe es zum eigentlichen Ausbruch kam. Und sie macht einer andern Spannung Platz, die weniger gefährlich, doch voll unausgesprochener, allen spürbarer Leidenschaft zwischen den Popperleuten vibriert. „Ihr laßt uns wohl etwas allein, Freunde!" sagt der Colonel mit voller warmer Stimme, wie sie es an ihm gewohnt sind. Und da gehen sie . . . Die beiden stehen einander gegenüber. Kein Wort wird laut, aber ihre Augen halten stumme, schicksalschwere Zwiesprache. Fragen und Antworten! Und es ist ihm, als ob eine wispernde Stimme in sein Ohr flüstert: „Tu's nicht, tu's nicht, denn es ist noch nicht die Richtige!" . . . Und langsam geht die Frau, die so große wunderbare sprechende Augen hat, in die sich öffnenden Arme des Mannes! Und er empfängt sie darin und hält sie mit leisem Lachen fest . . .
Don Ramón Lista Die gesetzliche Trauung der Esperanza Dieguez mit dem Colonel Julio Popper fand vor Don Viscente in Punta Arenas statt. Ein Priester war zur Zeit nicht aufzutreiben. 110
Sie schlugen jede Einladung aus, entschuldigten sich erst bei dem erstaunten, aber verstehend lächelnden, sympathischen Beamten und dann auch bei den andern Bekannten. Eine Stunde nach der Landung bestiegen sie schon wieder das Boot und fuhren nach der Feuerlandküste zurück. Und es wurde eine große Hochzeitsfeier gehalten mit Gitarrenmusik bei Mauros besten Leckerbissen, mit Glückwünschen von allen Seiten und viel Frohsinn der Männer. Doch als die Frau nachher in Julios Armen liegt, da lauscht er manchmal angstvoll, ob sich die geheimnisvolle Stimme seines Innern wieder regt und erneut ihre nur ihm hörbare Warnung in sein Ohr tropft. Aber alles bleibt ruhig. Draußen singen und lärmen sie noch, Büchsenschüsse knallen. „Was hast du, Querido? Eben waren deine Gedanken wie abwesend!" flüstert sie und zieht mit den weißen Armen seinen Kopf an ihre Brust. „Nichts, Querida, nichts!" „Hast du mich wirklich ganz lieb?" . . . Wie ihr Herz pocht und die Brust atmet! Und wie fest und doch weich ihre Arme ihn pressen! Und wie das Meer draußen ganz, ganz tief orgelt! „Du! Nimm mich, du Mann . . . " Ganz fest halten ihn ihre Arme, ihr Mund ist so heiß und doch so wunderbar kühlend. Julio merkt, wie das Blut in ihm rast und wie es in seinen Ohren summt und donnert. Ist das nicht wieder die warnende Stimme von damals, die aus seiner Seele kam und flüsterte: „Tu's nicht, es ist nicht die Richtige!" Nein, nur das Blut rauscht in ihm, nur das Herz pocht in ihr, nur ihr Haar knistert leise, und draußen wogt das unendliche Meer. Da sagt er heiß und verlangend: „Ja, du, ich hab' dich lieb . . . " Ein seliger Seufzer, getragen von den Echos der an die Küste schlagenden See, verklingt in der dunkeln Hütte. Und über den Mann, der das Gold zu suchen, und über die Frau, die aus dem 111
Wasser kam, flackern und lodern, alles andere auslöschend, die Feuer der gemeinsamen Leidenschaft hinweg, in der ihre einandersuchenden Seelen aneinander vorbeiflattern, während in der Glut der Stunde die Körper verschmelzen. Wenige Tage später beginnt die Übersiedlung, die wegen beschwerlicher Wege und gefahrenvoller Gewässer viele Wochen in Anspruch nimmt. Und zwar geht es hinüber auf Neuland, argentinisches Gebiet auf der großen Insel, wo man in bisher unerforschten Buchten das langersehnte gelbe Metall zu finden hofft. Gold! Volle Übereinstimmung herrscht unter den Männern, deren Berater und Freund in den Anfang einer Ehe mit der Frau, die aus dem Wasser kam, getreten ist. Alle zusammen bilden eine zufriedene Familie, ohne Streit und Eifersucht, voll steter Zuversicht. Zusammengehalten durch die starke Persönlichkeit eines einzigen, willensstarken, zierlichen, spitzbärtigen Mannes aus Rumänien. Und wie dieser merkwürdige Männerstaat unzerreißbar zusammenhält, so halten auch der Colonel und seine junge Frau zusammen, und die Schranke, die unsichtbar noch zwischen ihm und ihr steht, überrennt und besiegt vorläufig immer wieder ihrer beider Leidenschaft und der heiße, vergessenmachende Taumel des Blutes. Und weiter rollt das Dasein, rollt Sekunde um Sekunde, von der Gegenwart langsam, langsam hinein in die sich zögernd auftuende Zukunft. So verstreichen die Tage und Wochen und Monate in Feuerlands wilder, großartiger Einsamkeit. In einer Bucht wurde die neue Siedlung aufgebaut. Mit den in der nahen Pampa hausenden Ona-Nomaden gibt es auch hier keine Reibung. Kaffee, Tabak, Tee und andere Dinge, die das Land außer Fleisch, Fisch, Häuten, Pelzen und Kohlen nicht liefert, holt man aus Ushuaia, dem argentinischen Sträflingsort, in dem es ebenso bunt zugeht wie in Punta Arenas. Manchmal, wenn die Nutrias rar werden und auch nicht das 112
geringste Goldkörnchen vor den grabenden, waschenden und suchenden Männern blitzt, ist der Lebensstandard der Gesellschaft derartig primitiv, daß sie nur auf Wild, Fische und Robbentran angewiesen sind. Jede andere Gemeinschaft wäre längst auseinandergelaufen, doch diese genügsamen Südeuropäer halten aus. Und Popper hält sie zusammen. Sein Nimbus reicht über ganz Feuerland, Patagonien und das Inselmeer und würde auch bis Kap Horn reichen, aber diese schwarze, kleine, steile Felsengruppe im tobenden Gebrüll zweier Ozeane wird höchstens von Möwen bewohnt. Die Behörden in Ushuaia legen ihnen nichts in den Weg, sie könnten es auch gar nicht, denn genau wie drüben auf Patagonien, so hören auch hier gleich hinter den letzten Bretterbuden des Ortes oder bei denen von Yendegaia, das fünfzig Kilometer entfernt im Entstehn begriffen ist, Gesetz und Zivilisation auf. Plötzlich aber, ohne Absicht und Zutun, findet sich Popper mit seinen Leuten im Mittelpunkt jenes, sich damals auf Feuerland entspinnenden Dramas, das in unwahrscheinlich kurzer Zeit die ritterlichen, gesunden Onaindianer von Tausenden auf Dutzende reduzieren sollte. Damit haben der argentinische Capitan Don Ramón Lista und seine Soldaten zu tun. Doch sind auch sie nur unfreiwillige Werkzeuge unseres oft grausamen Fortschrittes, der sich in diesem Fall in erster Linie eines unfähigen und unehrlichen, sein eigenes Land betrügenden Gouverneurs bedient. Ein einziger Schneeball setzt oft eine zerstörende Lawine in unaufhaltsame Bewegung . . . „Und bist du wirklich zufrieden mit mir und dem Leben, das du führst?" stellt Julio zärtlich die schon viele hundert Male ausgesprochene Frage an seine junge Frau. Dankbar schimmern ihn ihre dunklen Augen an: „Hast du vergessen, unter welchen Umständen du mich gefunden hast!" „Bißchen viel Tabak, bißchen viel Pisco, bißchen viel von allem!" lacht er, wird aber gleich ernst: „Muchacha, ich habe das 113
Gefühl, als ob ich mein Ziel bald erreiche. Und dann sollst du entsprechend leben. Wie eine große Frau! In Buenos Aires, Paris oder, wo du willst. Allerdings wirst du dann oft allein sein, weil ich auf Feuerland bleiben muß!" „Und glaubst du wirklich, daß ich woanders sein könnte als du!" Er streichelt über ihr glattes, im schweren Knoten auf dem Nacken ruhendes, blauschwarzes Haar. „Auch hier werden wir's uns bequem machen. Aber abgesehn von einigen Trips nach Ushuaia oder Punta Arenas, wird die Saison einsam um uns sein. Allerdings könnten wir einige Monate im Jahr in Buenos wohnen, in Theater und Konzerte gehn, vierspännig kutschieren, vielleicht eines dieser neuaufgekommenen Automobile lenken; und du sollst seidene Kleider und Diamanten haben!" „Phantast! Vater und ich waren arm, er arbeitete im Caliche (Salpeter) und da gab's weder Konzerte noch Theater. Von teuren Kleidern, Kutschen und Perlen und Diamanten ganz zu schweigen!" „Ja, aber trotzdem. Ich werde dieses Feuerland, das ich liebe, als sei ich hier geboren, kultivieren. In den Wäldern sollen meine Sägewerke kreischen; die verschwenderischen Kohlenvorkommen sollen abgebaut werden, und dort hinten, wo die Pampas die Berge ablösen, sollen meine Schafe zu Hunderttausenden weiden. Und die Onas will ich zu Hirten erziehen, dabei könnten sie ihrem Nomadendrang ungehindert frönen. Eine große bequeme Estancia wird unser Heim, mit Ställen, Schafschur, Windmühlen und Pferdezucht. Und alle unsere Freunde, die mir in dieses Land folgten, und die Skandinavier, die uns dieses Land erst richtig zeigten, und andere Menschen, wenn sie ehrlich sind, sollen am Ertrag teilhaben!" Sie scherzt: „Und was würdest du aus den Yaghans und Alacalufen machen?" „Die würde ich als Fremdenführer uniformieren, damit sie den reichen Touristen die Wunder des Beaglekanals und unsern Monte Sarmiento zeigen. Bißchen Tabak, bißchen Pisco, he caramba!" . . . „Ein Träumer bist du doch! Aber manchmal will mir scheinen, 114
als ob du Wirklichkeitsträume hast. Doch wie willst du deine Pläne nur alle verwirklichen?" „Durch Gold natürlich. Gold! Es wartet irgendwo hier auf mich, es muß nur gefunden, geborgen und in Allgemeinnützliches verwandelt werden. Doch ...", er schaut ihr in die Augen und lauscht dabei innerlich feige und verzweifelt, auf die Stimme, die da flüstern wird: ,Es ist nicht die Richtige!', und als seine Seele stumm bleibt, da klammert er sich verzweifelt an die Worte, die er jetzt ausspricht und im Augenblick auch wirklich glaubt: „ . . . auch wenn ich nichts finden sollte und wenn wir arm bleiben, so würde ich alles Gold der Welt nicht gegen dich eintauschen! Esperanza! . . . " „Querido!" Sie wirft sich in seine Arme, und dann zeigt sie lachend nach dem Fenster: „Sieh, da sind die Berge, Pampas, Buchten und Kanäle. Und die geben uns ja fast alles, was wir zum Leben brauchen. Nennst du das etwa arm? Frieren wir, hungern wir?" „Du bist die gescheiteste kleine Frau, die existiert . . . Doch horch, ist das nicht wie Pferdegetrappel? Besuch aus Ushuaia? Selten genug und hoffentlich angenehm!" Staub, aus dem dumpfer Hufschlag dröhnt, jagt heran. Pferdeköpfe, Männerkörper tauchen aus wallenden gelben Wolken; darin ist ein Blitzen und Gefunkel von Waffen und Metallknöpfen. „Militär! Eine Streife nach Land- und Strandpiraten weißer Haut. Vielleicht bringen sie uns Zeitungen mit. Stell' den Kaffee auf, ich will ihnen indessen entgegengehen, Querida. Schau, die andern laufen schon aus den Hütten. Welche Aufregung!" Langsam tritt er ins Freie. Eben zügeln die Reiter ihre Pferde. Es sind zwei Dutzend argentinische Kavalleristen und zwei Offiziere. „Olé, la casa!" rief der eine den ihnen entgegenströmenden Männern zu. „Buenos dias, Caballeros!" grüßt Popper. Und „Buenos dias!" 115
klingt es von allen Seiten. „Steigt alle ab, Caballeros, und laßt euch Rast und einen Imbiß gefallen. Was bringt Sie zu uns? Nichts Schlechtes?" „Macht's euch bequem!" ordnet der Capitan an. Säbelrasseln, Sporenklirren und lautes Atmen von Pferden. Langsam setzt sich der Staub. Nach einem Händedruck führt Popper die beiden Offiziere in sein Haus. Die Argentinier verbeugen sich und grüßen mit altspanischer Höflichkeit: „Señora! Wir sind entzückt! Und erlauben Sie uns, daß wir uns zu Ihren Füßchen legen. Besamos sus pies y manos! Wir küssen Ihre Füße und Hände!" . . . „Bien venido! Willkommen, Caballeros. Und nehmen Sie Platz, ich trage gleich auf!" lächelt voll Hausfrauenstolz die Tochter des Salpeterarbeiters. Bequem strecken die Gäste ihre bespornten Füße unter den Tisch. „Caramba, hübsch habt ihr's hier, Don Julio. Aber die Señora!" . . . „Was ist's mit ihr?" Popper füllt drei Gläschen aus der Piscoflasche. „Saludo, Señores!" Sie trinken einander zu. Er gießt nach, holt die Kiste mit den Puros. „Raucht, Caballeros." Während sie nach den Zigarren greifen, spricht der eine bedauernd: „Die Señora, meine ich, ist viel zu zart für ein solches Dasein. Bei uns in Buenos Aires ist die Frau des Hauses auch die Herrin!" „Auch hier gilt das!" „Bueno, aber die Dame sollte dann nicht eigenhändig den Kaffee servieren und so weiter!" „Wer soll denn das tun, Caballeros?" lacht Esperanza lustig. Und Popper schmunzelt: „Alles zu seiner Zeit. Eines Tages wird meine Frau dergleichen kleine Arbeiten nicht mehr zu machen brauchen, wenn sie keine Lust hat, sondern lesen, Gitarre spielen und Dulces essen!" 116
„Ja, aber jetzt! Ihre Schönheit wird bis dahin verblassen. Sie haben doch eine Menge Leute, kann denn niemand für die Señora die Hausarbeit verrichten?" „Wir sind alle miteinander Freunde, keiner gilt mehr als der andere. Natürlich würde einer für uns kochen und waschen — sie tun's ja für sich selber auch —, aber weder Esperanza noch ich wünschen das!" „Dios Santo! Don Julio, man weiß, daß Sie mit den Indios gut stehn. Lernen Sie doch eine Ona-muchacha als Haushilfe an!" Popper und seine Frau müssen laut lachen. Und er erklärt: „Da kennen Sie die Indios schlecht, mi Capitan. Das sind Nomaden, und selbst durch ihre besten sogenannten Häuser pfeifen Wind, Regen und Schnee. In unsern geschlossenen Räumen wird ihnen schlecht, und sie fallen darin, nach kurzer Zeit schon, regelrecht um. Wir haben es erlebt, meine Frau versuchte ja, als wir noch unten an der Magellanstraße wohnten, sich eine freundschaftlich und geduldig zu erziehen. Es ist einfach unmöglich!" Esperanza setzt Kaffee, Guanacoschinken und Hartbrot auf den Tisch. „Nehmen Sie vorlieb, Caballeros, es ist das Beste, was wir haben!" Sie lächelt: „Später, wenn Julio das viele Gold gefunden hat und Sie schenken uns die Ehre, dann können wir Sie mit Champagner bewirten. Ich weiß selbst nicht, wie das schmeckt." Draußen ertönt Gelächter. Pferde stampfen und wiehern und eine Gitarre klimpert. „Sind Sie hinter Banditen her?" „Wollte, es wäre so!" brummt Capitan Ramón Lista, und der andere nickt düster. Gesättigt schieben sie ihre Teller zurück, zünden wieder die Puros an. „Etwas viel Schlimmeres! Ich soll die Onas zur Vernunft bringen." „Aber die tun doch niemand etwas, wenn man sie unbelästigt läßt. Bisher, wenn es Blutvergießen gab, wurden die Onas immer von Banditen angegriffen, die ihre Weiber und Töchter rauben wollten!" ereifert Esperanza sich. „Señora, Sie haben gewiß recht, aber jedes Ding hat zwei ver117
schiedene Seiten. Es handelt sich hier um viel ernsteres. Sie wissen doch, Don Julio, daß dort hinten . . . " Er zeigt von ungefähr nach dem Fenster: „ . . . daß dort der Gonzalez, der Ponsonby und noch ein paar andere mit etlichen Tausenden von Schafen experimentieren, deren Einfuhr ihnen sehr kostspielig kam!" „Ja, aber die Tiere werden sich derartig rasch vermehren, daß der Beutezoll, den die zahlreichen Pumas einfordern, bestimmt bequem getragen werden kann. Man muß nur die ersten Jahre gut hüten!" „Ja, wenn's nur allein die großen Katzen wären! Allerdings neulich führte Gonzalez mich an eine Stelle, da sahen wir die Spuren eines großen Pumalöwen. Und die Überreste eines angefressenen Schafes und weitere neunundzwanzig, denen er aus purem Blutdurst bloß die Kehle aufgerissen hatte. Na ja, die Züchter könnten ja eine Zeitlang ihre Gauchos zur Pumajagd organisieren. Diese Leones sind aber nicht die einzigen Übeltäter. Und Gonzalez hat durch Verwandte irgendwelchen Einfluß bei der Regierung und . . . " „Die Onas?" sorgenvoll klang Poppers Frage. „Ganz recht, Don Julio. Die Onas! Sie erklären, daß dort, wo Schafe auftreten, alle Guanacos sich zurückzögen; und da die Indios bisher fast nur von deren Fleisch gelebt haben und das Land ihnen gehöre und infolgedessen auch alle Tiere darauf, wie sie sagen! — so haben die Onas also vergnügt die sehr bequeme Schafjagd angefangen. Und wenn es so weiter geht, können die Züchter in absehbarer Zeit als Bettelleute auswandern!" „Das Land gehört ja auch den Onas!" Der Offizier lacht: „Im Grunde genommen, ja. Aber sagen Sie das mal in Buenos Aires oder Santiago — nachdem nun alle Grenzschwierigkeiten glücklich, ohne Krieg zwischen beiden Nationen, durch King Edward VII. im Schiedsspruch bereinigt wurden. Besagte Regierungen denken anders, Don Julio. Jetzt soll ich den Onas Vernunft beibringen, und wenn's durchaus nicht geht, wird man um Verstärkung schicken, und dann heißt es: gutausgerüstete 118
Soldaten — viele der sogenannten Goldsucher werden sich mit Wonne beteiligen! — mit Pulver und Blei gegen nackte Indios, die nur Speere und Pfeile mit Steinspitzen haben. Man munkelt sogar schon privatim von Kopfgeld auf den einzelnen Indio. Und wenn dann die böse Geschichte vorbei ist, dann will — bei uns wechseln ja die Minister so oft! — keiner mehr verantwortlich sein und alles fällt auf mich, den Capitan Ramón Lista, zurück. Und in die Geschichte, die man in Büchern schreibt und aus denen die Menschen etwas lernen sollen, werde ich als Indianerschlächter eingehn. Caramba!" Hastig stürzt er einen Pisco hinab. „So schlimm wird es wohl kaum werden. Soll ich mit den Onas reden?" „Das wäre mir mehr als lieb, amigo. Ich fürchte leider, daß es zwecklos sein wird. Diese Naturmenschen haben weder Begriffe von Geldeswert noch von Privateigentum. Wissen Sie, was mir die Patriarchen einiger Sippen und deren Weiber, die ja bei diesen Indios das maßgebende Wort führen, zur Antwort gaben? — Es sollten einfach alle Züchter ihre Schafe nehmen und das Land verlassen! — Caramba, helfen Sie mir, Don Julio." „Das will ich gerne, denn es ist Menschenpflicht. Morgen früh suche ich sofort die erreichbaren Sippen auf und will alles versuchen, daß sie auf mich hören, denn sonst . . . " „Ja sonst — gibt es bald keine Onas mehr!" spricht der Offizier tiefernst. „Wir haben Ihnen, damit es für Sie bequemer sei, auf Anordnung des Gouverneurs von Ushuaia ein gesatteltes Pferd als Geschenk mitgebracht. Und selbstverständlich sollen Ihre Dienste nicht vergessen werden, und wenn es sich um Landkonzessionen handelt, — es sind noch Zehntausende von Quadratkilometern unvermessen, so können Sie das äußerste verlangen, und man wird nicht Nein sagen. — Wünschen Sie unsere Begleitung?" „Besser nicht, Don Ramón!" „Bueno, dann reite ich morgen mit meinen Leuten noch ein wenig in der Gegend spazieren — auch weiße Schafdiebe soll es 119
geben, mit denen ich mich gerne unterhalten würde, und dann trotten wir nach Ushuaia zurück. Sie erstatten dort Bericht, wenn's so weit ist. Bien?" „Selbstverständlich. Und nun wollen wir uns von angenehmeren Dingen unterhalten. Ich höre schon draußen Ihre Kavalleristen den Fandango tanzen. Horch, da sind ein paar ganz meisterhafte Guitarreros dabei! — Kommen Sie, Caballeros. Esperanza, nimm den Poncho um, es ist kühl an der Luft!" Und sie gehen ins Freie, wo große Feuer flackern, an denen die Soldados ihre mitgebrachten Asados rösten und den Maté bereiten. Andere tanzen sporenklirrend zur Gitarrenmusik, und jetzt ertönen laute Beifallsrufe, als ihr Capitan sich zierlich vor der einzigen Frau verbeugt und mit ihr zum wildgraziösen Nationaltanz ihrer chilenischen Heimat, der „Cueca", antritt . . .
Beschützer der Verfolgten Don Ramón und seine Truppe verließen am Morgen die Siedlung, und bald darauf, nach einer Beratung, bei der die Lage sehr ernst aufgefaßt wurde, machte Popper sich auf den Weg. Aage und der Kanadier begleiteten ihn. Das geschenkte Pferd ließ er zurück. Ohne Besorgnis wegen Begegnungen mit Indianern, denen sie ja gut Freund sind, überkletterten die drei die bewaldeten Hügel und sehen bald die scheinbar unendliche Pampa unten liegen. Guanacos flüchten vor ihnen; Hasen hoppeln davon, Meister Reinecke schleicht in sein Malepartus, unterm Himmel kreist der einsame Kondor. Hintereinander marschieren sie; Decken und Waffen auf dem Rücken, stumm und grübelnd. Zum Plaudern ist bei solchen Märschen nicht Zeit. Die Natur und das eigene Ich beanspruchen alle Gedanken. Auf einem niedrigen Bergriegel, der zungengleich ins flimmernde 120
Grasmeer verläuft, machen sie Halt und spähen in die Ferne. Dort glänzt es manchmal auf, bildet einen hellen Flecken, um den kleinere sich gruppieren, und das ganze scheint sich langsam, ziellos zu bewegen. Der den Männern entgegenwehende Wind bringt über das wogende Gras einen plötzlichen strengen Geruch, anders als die Ausdünstung von Yaghans oder Alacalufs! Aage schirmt die Augen, läßt dann die Hand sinken. „Schafe! Man riecht es ja genügend!" Dann philosophiert er weiter: „Hätte in meinem Leben nicht geglaubt, daß, wenn meine Ahnung mich nicht trügt, derartig friedliche Tiere, die niemand etwas tun, einmal der drohende Untergang eines Indianerstammes auf Feuerland würden. Aber soweit wird's wohl kommen!" „Warum denn gleich das Schlimmste unken, alter courreur du bois!" brummt der Däne. „Was hältst du davon, Julius?" Dieser schüttelt den Kopf, und sein Gesicht ist sehr ernst. Resigniert schultert er wieder den Packen. „Kommt. Laßt uns einen Bogen um die Herde machen. Ich habe heute keine Lust, mich mit den Gauchos, oder wie diese neue Hirtenart heißen mag, zu unterhalten." Sie marschieren weiter. „Man merkt, daß der Winter vor der Tür steht. Colibris, Papageien und Flamingos sind schon verschwunden. Bald haben wir die ersten Schneestürme." „Ich will froh sein, wenn erst alles unter einer weißen Schneedecke liegt!" „Wieso das, Julius? Der Winter ist doch nicht gerade angenehm für unser Prospektieren." „Weil man dann die Indianer in Ruhe lassen wird; oder denkst du, daß die Soldaten an einem Winterfeldzug Spaß haben?" Hohes Gras seufzt und rauscht vor ihnen auseinander. Der Wind bewegt die Oberfläche in grünen, bräunlichen und grauen Wellen, die bis an den Horizont laufen. „Heut Abend sind wir wohl bei den ersten Sippen!" „Vielleicht noch früher, wenn die Onas sich jetzt dichter an die 121
Schafherden halten. Ist euch aufgefallen, daß wir seit einiger Zeit tatsächlich kein Guanaco mehr sichten?" „Die Onas werden recht haben, wie der Kavallerist meinte. Wahrscheinlich haben Schafe irgendeine Ausdünstung, die Guanacos nicht zusagt!" Wie ein Ozean breitet sich die Pampa aus. Und dort in der Ferne, südlich, ist zwar noch nicht das wirkliche Meer zu sehen, aber sie hören es dumpf und tief grollen. Der scharfe Wind wuchs sich zum Sturm aus. Der beugt die Halme nieder, wühlt Staubtrichter auf, die in Reihen über die Ebene wirbeln, zusammenfallen und neu erstehn. Gänse, in keilförmiger Ordnung, ziehen hoch über den Wanderern nach Westen. Und der Sturm trägt einzelne trompetenartige Töne vom Himmel herab, schleudert sie weiter. „Da, der hat Eile!" Vor ihnen, aus dem Grase, wo er gesessen hat, schnellt ein großer Strauß auf die Füße, rudert mit den Flügelstummeln und trappelt, hin und her schwankend wie ein Schiff, in rasender Eile, vom Wind gefördert, davon. „Hast du schon Strauß gegessen?" „Nein, Julius. Versucht schon, als ich noch jung in diesem Lande war. Man kann ihn nämlich nicht essen. Zäh wie Leder und hart wie Holz. Und ohne Geschmack! — Doch schaut mal, ist das dort vorne nicht ein Mensch, da in der Staubwolke?" Gleichzeitig erspähen sie jetzt alle den großen Indianer, der ein Guanaco auf dem Nacken, den Bogen in der Linken, vor ihnen hertrottet. „Rufen nützt nichts, der Sturm ist gegen uns. Kommt, wir müssen laufen!" In Sprüngen hasten sie der Windsbraut in die Zähne, durch das sausende Grasmeer. Da dreht sich der Ona um, läßt die Beute fallen. Im Nu hat er den Pfeil auf der Sehne und steht furchtlos, hochaufgerichtet. Dann aber erkennt er sie, lacht übers ganze Gesicht, birgt den 122
Pfeil im Köcher und winkt mit der Rechten. „Ho, Julio! Ho, Aag'! Ho, Tschera!" reißt ihm der Wind die Worte vom Mund. Langsam gehen sie auf ihn zu. Er schüttelt ihre Hände, deutet dann auf das Guanaco: „Hungert ihr? So nehmt!" „Du hast wohl keine Schafkeule übrig?" erkundigt der Kanadier sich scherzhaft. Der Ona hat Humor, ein breites Schmunzeln geht über sein nicht unschönes, nur etwas klobiges Gesicht. „Morgen könnt ihr haben. Von den neuen Tieren, die so leicht zu erlegen sind, schmecken die Nieren am besten!" Er schmatzt genießerisch. Sie haben sich auf's Gras gesetzt. Der Indio steckt das ihm gereichte Tabaksfück in den Mund. „Ihr dürft die Tiere mit dem weißen Fell nicht töten, sonst entsteht großes Unglück!" Erstaunt erwidert der braune Riese: „Sind sie nicht da und gehört nicht alles Getier uns?" „Ja, du hast schon recht, aber einige weiße Männer, die dort in den Estancias wohnen, haben die neuen Tiere mit großer Mühe aus einem fernen Land hergebracht!" sagt der Colonel geduldig, als ob er zu einem Kinde spräche. „Die krausen Felle können sie haben. Verbieten wir etwa den weißen Männern, daß sie unsere Guanacos, Füchse, Nutrias und Ottern jagen? — Also mögen sie auch gestatten, daß wir ihre neuen Tiere — wie sagt ihr noch? — diese Schafe essen. Aber die weißen Männer, die die Schafe brachten, sind ungerecht. Schon floß Blut. Und Tschagat" — er klopft voll Stolz auf seine breite Brust — „hat einen mit dem Pfeil getötet. Jener tötete zuerst Tschagats Genossen, und so tat ich ihm das gleiche, wie es unser Gesetz will!" Verzweifelt murmelt Popper: „Sie werden es nie begreifen, und man wird mit Feuerwaffen über sie herfallen. — Sag', Tschagat, sind eure Hütten und Zelte noch weit? Wir bringen Worte für das Beratungsfeuer!" Der Ona deutet westwärts: „Zehnmal zehn Pfeilschüsse von 123
hier. Eh' es dunkelt, sind wir dort. Die Sippe wird sich freuen, denn Julio und die Seinen sind uns gute Freunde. Immer!" Stumm marschieren sie weiter. Voran der große Indio. Mit dem Guanaco auf der Schulter; die Bewegungen seiner braunen langen Beine sind wunderbar leicht und mühelos. Zu angegebener Zeit erreichen sie das Lager, wo man die Gäste mit der ernsten Zurückhaltung dieses herkulischen, körperlich sauberen Jägervolkes begrüßt. Und Nacht liegt über Feuerland. Hohl braust der starke Wind über die Pampa, greift ganze Funkengarben aus dem Ratsfeuer und schleudert sie in die aufzuckende Dunkelheit. Einzelne große Regentropfen verzischen in der Glut. Die drei Weißen schlüpfen in die Ponchos, stülpen die Hüte fest. Zwanglos sitzen die athletischen Männer und Frauen um die Besucher. Und endlich richtet der Colonel in einfachen Worten die Botschaft der Regierung aus und erklärt den Zuhörern immer wieder geduldig und bilderreich den Unterschied zwischen einheimischen, wilden Tieren und den mit großen Kosten importierten Schafen. Daß ein Unterschied ist zwischen wilden und zahmen Tieren, das begreifen sie, weil sie schon mit Reitern und auch kleinen Viehherden in Berührung kamen. Aber daß sie keine Schafe töten dürfen, wenn es sie hungert, leuchtet ihnen nicht ein. Mit mildem Vorwurf sagt der Patriarch: „Wenn schon die neuen Tiere wirklich den weißen Männern gehören sollen, dann sag' diesen, sie sollen machen, daß unsere Guanacos sich nicht vor dem Geruch der Schafe in die unzugänglichsten Bergtäler zurückziehen. Sag' ihnen: wenn sie die Guanacos zurückkehren lassen, damit die Onas genügend zu essen haben, dann wollen wir die neuen Tiere, die auf unserem Land weiden, nicht mehr beachten. Denn wir sind friedliche Leute, und die Onas haben seit langer Zeit nicht mehr mit andern Stämmen gekämpft, seit ihre Väter über die Berge kamen." Verzweifelt versucht Popper es auf eine andere Art. Warnt sie 124
vor den unwiderstehlichen Gewehren und Soldaten, von denen es unzählige gäbe. Ruhig und höflich hören die Onas zu und antworten dann wieder in ihrer einfachen zwingenden Logik. Wenn die Weißen wirklich ungerecht blieben, so würden die Indios kämpfen. Einzelne Kämpfe seien sowieso schon ausgebrochen, und es habe Tote auf beiden Seiten gegeben! Aber Don Julio soll dem Anführer der Soldaten sagen, daß die Onas nur fochten, weil sie sonst verhungern müßten! Ob seine Freunde, die Onas, ihm Führer zu den andern Sippen geben wollen, denn er möchte auch mit diesen reden, um das drohende Verhängnis abzuwehren?! Ja, kundige Führer solle er morgen bekommen, aber alle Onas dächten so wie sie hier! entgegnet der Alte voll natürlicher Würde. Ob sie verstünden, daß er sein Bestes tue, um seine Freunde, die Onas, zu retten, und daß er sehr traurig sei, wenn es zwischen ihnen und den andern Weißen zum Kriege käme? „Don Julio und seine Männer sind immer die besten und einzigen Freunde der Onas und werden es bleiben, und kein Indio wird ihnen Schuld beimessen, wenn andere Weiße gegen die Onas kriegen!" Und ob seine Freunde, die Onas, wenn sie in große Not geraten, zu ihm kommen wollen? Denn er biete ihnen eine Freistätte und würde sie gegebenenfalls gegen alle Feinde, die er für ungerecht halte, verteidigen! Freundlich schauen die braunen Männer und Frauen auf die Drei, die so ernste Gesichter machen, und freundlich und dankbar verspricht der Patriarch, daß Don Julios Wunsch erfüllt würde, wenn es nötig sei, und die Onas würden Don Julios Worte nie vergessen, und es würde auch gesorgt werden, durch Feuerzeichen und Boten, daß alle zerstreut wohnenden Onas diese großen Worte hören! „Dann können wir ja nun versuchen, etwas zu schlafen. Morgen steht uns ein scharfer Marsch bevor und in den nächsten Tagen 125
noch weitere!" sagt der Colonel müde, und sein Gesicht ist alt und sorgenvoll. Aage erwidert kurz: „Du hast den Indios gesagt, was auch wir innerlich gesagt haben. Aber weißt du, daß dies einer Kriegserklärung gegen die Regierung gleichkommt? . . . " Die Indianer schlafen in ihren Zelten und Hütten. Sturm stöhnt, Funken stieben. Draußen in der schwarzen Nacht bellen Füchse, und das entfernte, unsichtbare Meer grollt dumpf, wie ein fernes Verhängnis, gegen die wilde Küste Feuerlands . . .
Ushuaia . . . das Männerzuchthaus! Wer auf argentinischem Gebiet sich gegen die Gesetze vergeht, mordete, raubte, stahl oder unterschlug, und wer mindestens fünf Jahre Strafe erhielt, muß hier, am Ende der Welt, die quergestreifte Zebrauniform tragen. Sommers wie winters wird er schwer bewacht und, wenn nicht ganz heftige Schneestürme toben, jeden Morgen mit dem Schmalspurbähnchen nach dem Arbeitsplatz gefahren: am Rande undurchdringlicher Wälder sägen und hacken die Zuchthäusler Holz, oder sie schustern, schneidern und zimmern in den Gefängniswerkstätten. Sehnsüchtige, schwermütige oder haßlodernde Wunschträume schweben nach den unübersteigbaren Bergriesen, wo starre schweigende Wälder steil emporklettern, bis auch sie Halt machen müssen: vor gezacktem Fels, Steilhang, ewigem Schnee und bläulichem Eis. Am Ende der Welt! An drei Seiten fast ist Ushuaia von bewaldeten Bergen, mit den Eisriesen dahinter, eingeschlossen. Vorne bildet das kalte, fast immer unruhige Wasser, die vierte Grenze. Nein, hier kommt keiner weit, der die Gegend nicht kennt, keine Hilfe, keinen Proviant hat. Er kann, falls ihm die wag126
halsige Flucht gelingen sollte, in die Wildnis eindringen — wie es ja auch die Jäger und Prospektoren wagen. Aber er kommt um. Und das Meer ist gesperrt. Der Hafen wird ununterbrochen, Tag und Nacht, bewacht, und es ist immer leicht, die wenigen Schiffe zu untersuchen . . . Ich habe noch nie gehört, daß jemand aus dem Zuchthaus am „Ende der Welt" entkam und die Freiheit wieder fand und auch behalten durfte . . . Das ist Ushuaia. Aber auch andere Menschen leben da. Das Gesamtpanorama zeigt heute mehr: außer dem von Stacheldraht und Ecktürmchen abgeriegelten Zuchthaus ein Kohlendepot, Almacenes, Kneipen, Büros, einige Dutzend Häuser und den kleinen Cuartel, die Kaserne. Denn Süd- und Zentralamerika nahm schon vor dem letzten Kriege einen geradezu phantastischen Aufschwung, der noch nicht innehält. Und infolgedessen sind die paar Orte am Ende der Welt entsprechend gewachsen . . . Grübelnd ritt Popper in Ushuaia, diese Frontiersiedlung rauher Männer, ein, und grübelnd, wortkarg erstattete er dem Capitan Don Ramón Lista über seinen nutzlosen Vermittlungsversuch Bericht. Denn die Onas haben nicht auf ihn gehört! Sie hungern, und sie wollen und müssen daher bei der Schafjagd beharren . . . „Arme Teufel, sie werden wie Tiere zusammengeschossen . . . und ich, ich muß . . . " brummt der ratlose Offizier. „Und welche Rolle werden Sie dabei spielen, Don Julio?" Er füllt die Gläschen und wartet, bis endlich die Antwort kommt: „Alle Indianer, die bei mir Freistatt suchen, wollen wir aufnehmen und nötigenfalls mit den Waffen in der Hand beschützen. Das haben wir einmütig beschlossen. Es ist Menschenpflicht, Don Ramón!" „Beschützen? Mit Pulver und Blei?" „Mit Pulver und Blei, wenn es durchaus sein muß!" „Wissen Sie, was Sie da reden, amigo?" Erregt schlägt der Argentinier auf den Tisch, daß die Gläser hüpfen. 127
„Wir haben es von allen Seiten betrachtet und stundenlang darüber debattiert. Und keiner war anderer Meinung!" „Don Julio, das wäre Auflehnung, ja, man wird es sogar als Flibustiertum auslegen, als offene Revolution fremder Elemente auf argentinischem Boden. Ich will dem Gouverneur nicht davon erzählen. Nein! Wissen Sie, was der mit Maßstäben, die wohl nach Buenos Aires, aber niemals auf Feuerland passen —, wissen Sie, was dieser Bobo sowieso schon neulich bei einer Tertulia im Hause der Doña Agapito sagte?" „Ich kenne den Gouverneur nicht persönlich, wünschte jedoch, daß er ebenso vernünftig und großzügig, wie sein chilenischer Kollege in Punta Arenas ist, — und dann könnte er kein Bobo oder Dummkopf sein!" „Ach, Colonel, er bekam den Posten, weil er in Buenos Aires Verwandte hat, die entfernten Einfluß im Ministerium ausüben, und um ihn loszuwerden — denn er ist wirklich ein Bobo — wurde er nach Feuerland geschickt. An's Ende der Welt! Ultima Esperanza! — Keine Sinecure zwar, aber er kann tun, was er will, und niemand kümmert sich groß darum!" „Das ist natürlich schlimm. Aber nun sagen Sie erst einmal: was hat er denn nun eigentlich bei der Tertulia gefaselt?" „Daß Sie und Ihre Jugoslawen — wie Sie wissen, ist die Einwanderung aus Ihren Ländern in Argentinien nicht gering, und es sind oft die Dümmsten nicht, sondern bringen es meist zu etwas! Da hat zum Beispiel einer Ihrer Landsleute, namens Mihanovic, bereits den ganzen Hafenverkehr von Buenos Aires und die Dampfschiffahrt nach Montevideo in Händen, und auch im chilenischen Teil von Feuerland gibt es genug Balkaneinwanderer neben den Skandinaviern, Engländern und Deutschen. Und Gott weiß es, daß sie fast alle brauchbar sind . . . Ach so, ja — der Gouverneur: nun, besagter Bobo steht im Begriff, schon jetzt nach der Hauptstadt zu melden: Sie, Don Julio, wollten mit Hilfe Ihrer Landsleute den argentinischen und chilenischen Staaten diese Territorien am Ende der Welt hier, dieses Ultima Esperanza, 128
entreißen und eine eigene Republik gründen! Was sagen Sie nun?" „Der Mann ist ein Phantast oder ein schlimmer Narr!" „Das denkt jeder vernünftige Mensch auch. Stellen Sie sich jedoch vor, wenn Sie nun für die armen Teufel von Indios offen Partei ergreifen! Das wäre Wasser auf des Gouverneurs Mühle, und er hätte dann sogar eine Art Recht für sich, und die Ministerien, die keine Ahnung von Feuerland haben, würden ihm glauben. Und dann . . . " „Kämen böse Zeiten für meine harmlosen Freunde und mich!" „Überlassen Sie die Onas ihrem Schicksal. Sie wissen, wie nahe mir selber das geht und wie ungerecht ich's finde, aber was soll man tun? Mein Versetzungsgesuch wurde abgelehnt. Und schließlich bin ich Argentinier und Soldat und muß gehorchen." „Auch Soldaten haben die Pflicht, menschlich zu denken und sich nötigenfalls gegen Ungerechtigkeit aufzulehnen! Die Geschichte hat Beispiele dafür; leider bisher nur seltene, aber es sind die schlechtesten nicht!" „Soll ich gegen meine eigene Regierung vorgehen?" „Ja. Und wenn Sie auch nichts erreichen, Ihre Tat würde später dennoch Früchte tragen. Denn nur die Auflehnung gegen Ungerechtigkeit, Dummheit und Tyrannei kann die Welt verbessern!" „Madre de Dios! Sie sind ja Anarchist, Don Julio!" „Anarchisten zerstören, ich aber will aufbauen und weiterbauen!" „Ein Unikum sind Sie. Ich verstehe Sie zwar nur zur Hälfte, weiß aber, daß Sie ein guter Hombre sind, und will Ihnen daher beistehn, soweit es meine Pflicht erlaubt. Hoffen wir, daß alles gut endet. — Und jetzt wollen wir von andern Dingen sprechen. Die Onas machen mir auch ohne Sie Kopfzerbrechen genug!" . . . Popper verließ den Cuartel, er geht langsam über den Bretterweg, der die Häuserfronten einsäumt. Ein Mann, der aus einer Bar kam, stößt mit ihm zusammen, 129
flucht erst, dann bricht er in freudige Worte aus: „Colonel, sind Sie's wirklich?" „Yes, ich bin's, Käpten Walker. Was macht Ihr Schiff und wie geht's Ihnen sonst?" Sie schütteln einander die Hände. „Well, Ihre Bonanza haben Sie zwar noch nicht gefunden, sonst wüßte es ganz Feuerland und Ihr Gesicht würde anders aussehen. Bei Gott, es tut mir aber in der Seele wohl, Sie wiederzusehen!" Der alte Seemann ist ganz ausgelassen vor Wiedersehensfreude. „Kommen Sie an Bord, Colonel, dort wollen wir uns über alte Zeiten und neue unterhalten! Und einen Stoff sollen Sie trinken, wie es hier in diesem Sträflingsnest keinen gibt! Und mir Ihre Sorgen erzählen, Colonel, dear!" Er zieht den nur schwach Widerstrebenden davon. „Da fällt mir ein, Käpten Thunder ankert draußen in der Bai, mit seinem Walfänger ,Admiral Farragut'. Ist aus der Südsee gekommen, will Proviant einnehmen und wieder auf die Höhe von Tahiti zurücksegeln. Braucht noch zwei Dutzend Wale, bis er unter die Luken voll ist und heimwärts machen kann. Wollen ihn borden, soll uns von Palmen, fröhlichen, küssenden Waihinis und Hulatänzen erzählen!" Er schlägt ihm auf die Schulter, pumpenschwengelt abermals seine Rechte: „Habe gehört — wer spricht nicht von Don Julio hier am Ende und Aussteigeplatz der Welt? —, daß Sie verheiratet sind. Meinen Segen und Glückwunsch! — Ist sie hübsch? Hoffentlich 'ne Blondine, wie sie in Gottes eigenem Land wachsen. Wüßte aber kaum, wie so eine hierher käme!" „Sie reden heut' wie ein Buch, Käpten Walker. Es freut mich wirklich, daß ich Sie traf, und ich will mit Ihnen an Bord des ,Admiral Farragut' kommen. — Meine Frau ist natürlich hübsch. Chilenin! Eine Schiffbrüchige, die ich den Kanuindios förmlich abkaufen mußte!" „Jesus, das wäre? Erzählen Sie, reden Sie, Mann. Oder besser, warten wir, bis wir bei Johnny Thunder beigelegt und geankert 130
haben. Ist ein guter alter Knabe, sehr fromm, wie gar nicht wenige unserer Waler, wenn sie nicht wahre Höllenteufel sind. Und hat 'nen anständigen, trinkbaren Tropfen, der Mann. Come on!" . . .
Jack In der Jolle setzten sie über nach dem alten schwarzen, plumpen „Admiral Farragut", dessen beschlagene Segel mit Transtreifen besudelt sind. Bärtige, blau und grauäugige Männer, mit tätowierten Armen und Ohrringen, lehnen über die Reling, spucken ins Wasser und starren sehnsüchtig nach der Häuserfront. „Käpten an Bord?" „Ay, ay, Sir. Ist in der Kajüte unten!" erwidert ein haariger Harpunier. Und sie klettern an der bauchigen Schiffsseite die Jakobsleiter hoch; gehen an dem aufgemauerten Transiedekessel vorbei nach achtern. Das ganze Schiff hat eine Tranaura. Dann sitzen sie auf dem schwarzen Ledersofa Käpten Thunder gegenüber. Whisky schimmert wie Bernstein in den Gläsern, echte Manilas duften und erzählen stumm aus silbergetriebener Kiste heraus von warmen Inseln und Meeren. Die drei Männer unterhalten sich ohne allen Zwang, und Poppers Gemüt erheitert sich in dieser biedern Gesellschaft; solche Männer wägen ihre Worte langsam und bedächtig, und Johnny Thunder mit dem eisgrauen „Uncle Samgoatee" verleiht ihnen eine seltsame, passende und unpassende Würze mit seinen ständig eingeflochtenen, kräftigen Bibelsprüchen. Popper schildert ihnen, wie er Esperanza fand, und nachdenklich brummt dann Thunder: „Ja, der Herr Zebaoth ist sichtlich immer bei den Seinen, und deshalb kriegten Sie das Mädel. Sind wenig Ladies auf der Insel drüben, dem Herrn sei's geklagt! Ist vorhin mein erster Maat, der Billy Pumpkin, an Land gegangen, in seiner besten Finery, blauer Frack am Rumpf und den Seidenhut auf dem Stengenknopf, will sagen Schädel! Hab' ihn vorher tüchtig 131
in die Madie genommen, schätze aber dennoch, daß er zu einer — hm, na ja, ging. Denn Simson wandelte gen . . . wie heißt noch der Ort in der Bibel, wo er kurz Anker warf? Well, Simson ging und lag bei einer Hure. So steht's in der Heiligen Schrift schwarz auf weiß. Ja, so ist das Leben. Tolle Küste, dieses Tierra del Fuego! Aber trinkt, trinkt, Brüder in Christo, denn mit Maß ist's und bleibt's gesundheitsfördernd!" „Wann stechen Sie in See, Skipper?" „Obermorgen, kalkulier' ich, wenn bis dahin unsre Frischwassertanks voll sind und so weiter. Habe Proviant bestellt, ist teuer wie in den sieben magern Jahren Ägyptens! Sind teuer, diese Ushuaia-Amalekiter. Wir werden Allhands den Herrn lobpreisen und Hosiannah singen, wenn wir erst wieder freies Meer unterm Kiel haben. Ist guter Wind augenblicklich, fegt gen Westen. Und steht nicht im Nautischen Almanach für den Seemann, der in den Pazifik will: ,mach westwärts, was immer du tust, segle gen Westen'?" „Würde am liebsten mitfahren, alter Freund!" knurrt Walker. „Hab' die Gegend hier satt. Komm aber nicht mehr los davon, ist ein gottesklagender Fakt." „Ist 'ne Prüfung, Walker, old boy. Der Seemann, der sich hier in diesen Kanälen und Wasserstraßen herumtreiben muß, kann ohne Schutz der himmlischen Heerscharen nicht bestehn. Bete, alter Junge, bete fleißig, und Jehovah wird dich leiten. Und vergiß ab und zu das Trinken nicht, denn der Herr gestattet's mit Maß und Ziel. — Ho, Jenkins, neuen Whisky, die halbe Pulle genügte nicht. — Hat uns der Herr mit mächtigem Durst gesegnet, wenn wir im Hafen liegen. Trinke dafür auf See keinen Tropfen. — Yes, man muß sich's einteilen!" Der Steward brachte eine neue Flasche; dazu Rosinenkuchen und Sandwiches. Und der treffliche Thunder bestreitet fast ausschließlich die Unterhaltung. Popper ist das recht; denn seine Gedanken verirren sich oft, sind bei den Onas und auch bei Esperanza. Und 132
er lauscht in die Tiefe seiner Seele hinab, ob jene Stimme nicht wieder ertöne, die Stimme, die da wispert: „tu's nicht, es ist die Rechte nicht" . . . „Colonel, Sie sind ein mächtig feiner Kerl, den, scheint's, die Amalekiter plagen. Aber Simson nahm einen Eselskinnbacken und schlug die Philister! — Trinken Sie, schlucken Sie, der Herr gesegnet's. Hm ja, will Ihnen ein Andenken geben, auch für die Missis daheim, dort drüben auf der Insel. Ein Geschenk, Colonel, dear! — Ho, Jenkins, ruf' Jack herbei!" Thunder kramt in seinem Kojenbord, legt dann ein schwarzes Buch auf den Tisch. „Ist das Wort Gottes! Nehmen Sie, Mann, hab' noch ein Duplikat, und will Ihnen noch den Jack dazugeben. Dauert mich, leidet zu sehr in der Südseehitze und hat auch zu wenig Platz zum Umherspringen, wie's sein soll. Will Ihnen den Jack schenken!" Er trinkt. Die beiden andern schauen sich verwundert an. Da kommt der Steward zurück, und ein großer, weißer, mit dichtem glänzenden Pelz geschmückter Hund, der eine feuchtschwarze Nase und schräge braune Augen hat, trollt herein. Er umwedelt erst den alten Thunder, seinen alten Herrn, begrüßt auf dieselbe, aber weniger enthusiastische Weise Walker; dann setzt er sich vor Popper hin, schaut ihn an und legt ihm plötzlich die Vorderpfote aufs Knie. „Welch schöner Bursche! Ist das Jack? Und woher stammt er?" „Ist geboren in 'ner räuchrigen Hütte, die sie dort Iglu nennen, am andern Ende der Welt — von hier aus gerechnet. In Alaska! Brachte mein Freund Samuel Whiterspoon von der ,Northem Queen' mit nach Nantucket und hat ihn mir da dediziert. Ist 'n gutes Tier, 'n braves Geschöpf, der Jack, wollte aber mein altes Weib daheim, die 'ne Perle von Hausfrau und Gattin ist, kein Viehzeug im Hause, hat den Reinlichkeitsfimmel, sozusagen. Und an Bord, in der Hitze der warmen Meere, kann ich Jack nicht wieder mitnehmen. Er würde eingehn. Feuerland ist grad das richtige Country für ihn. Und hab' Ihnen in die Augen gepeilt, 133
Colonel — sind in Ordnung — würde Jade keinem anderen geben als Ihnen!" „Das kann ich gar nicht annehmen, Käpten Thunder! Das Tier ist zu wertvoll!" „Whishiwashi, nicht annehmen! Ist gerne gegeben, Mann, weiß, daß es der Hund gut bei Ihnen bekommt. Hunde sind des Menschen Freunde! Und wird Ihre Frau — Gottes Füllhorn über sie! — erfreut sein!" „Ein wirklich herrliches Tier!" „Und hat Ihnen schon die Pfote hingehalten, was er sonst bei keinem Fremden tut; denn er wittert sofort den Amalekiter und Philister und andere Söhne der Finsternis. Aber fragen Sie ihn, fragen Sie ihn selbst, Mann!" Popper krault das vor Freude aufstöhnende Tier hinter den Ohren. „Jack!" spricht er weich. „Jack, ich wohne drüben auf der großen Insel. Es gibt Berge, Gras, Sonne, Schnee und Tiere; und Menschen, die dich gerne haben werden. Willst du mitkommen, Jack? Mit mir?" „Wuff! Wurf! Wuff!" Der Hund springt hoch und versucht ihm Hände und Gesicht abzulecken. Er gebärdet sich vor Freude halb närrisch. „Seht, Jack hat gesprochen. Also ist's abgemacht. Und nun, Colonel, wollen wir noch ein, auch zwei Fingerhütchen voll Whisky, mit dem Segen des Herrn Zebaoth, kippen. Und dann erzählen Sie uns noch ein bißchen von dem Leben in der Wildnis. Hatte erst Angst, daß ein paar meiner Matrosen fortlaufen würden, haben sich's aber überlegt, die Knaben, als sie die Berge dort drüben sahen und dazu allerhand Geschichten hörten. Wollen nun wohl bis Tahiti warten, bis sie auskneifen, diese durchtriebenen Edomiter! Erzählen Sie, spinnen Sie ein Garn, Colonel. Und nachher will ich euch beide an Land begleiten, um meinen Maat aus den polierten Krallen der mit Wohlgerüchen und Glitzertand geschmückten Dienerin des Satans zu reißen. Denn die scharlachengeschminkte Hure geht um dort drüben! Er wird in Sünde 134
stürzen, denn der Mund der Hure ist süß wie Honigseim, ihre Kehle ist glatter als Öl, aber nachher bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidig Schwert, und ihre Füße laufen zum Tode hinab und ihre Gänge erlangen die Hölle! spricht Salomo in der Bibel, jawoll, und spricht Käpten Johnny Thunder aus Nantucket an Bord des ,Admiral Farragut' aus Gottes eigenem Lande. — Und nun erzählen Sie, Colonel, und netzen Sie vorher Ihre Gurgel mit dem Stoff, der, mit Maß genossen, der Tau des Paradieses ist." Popper zieht den Tabaksbeutel aus Seehundsfell und fischt ein goldenes, rundliches Nugget von über Erbsengröße hervor. Das reicht er dem Waler: „Meine Freunde und ich sind an Geld arm, aber sonst geht es uns gut, und daher müssen Sie ein Andenken von mir annehmen. Meine Freude über den Hund ist sehr groß; und bezahlen kann man solch Gefühl ja nie, aber eine Erinnerung an Feuerland dürfen Sie nicht abschlagen, Käpten!" „Ein Nugget, ein echtes Nugget! Werde Ihr Präsent, das ich gerne dankend annehme, fassen lassen, in 'ner Krawattennadel zum Kirchgehanzug! Danke Ihnen! Aber erzählen Sie, Mann, müssen nachher an Land, muß meinen Maat aus den sündigen Armen des scharlachenen babylonischen Weibes retten!" . . . Blaue Tabakswölkchen kräuseln und Maniladuft breitet sich kräftigsüß aus. Golden ruht der Whisky in den Gläsern. Unverwandt haften die Augen des Alaskaschlittenhundes auf seinem neuen Freund. Bei dem wird es gut sein! An Deck poltern Matrosenstiefel; eine Ziehharmonika klingt melodisch, gedämpft und daher wunderbar rein. Manchmal kreischen Möwen vorbei, und sanft hört man die Wellen gegen den Schiffsrumpf schnalzen. Popper spricht: von seinen Plänen, seinen Sorgen und Hoffnungen und von dem Glücksgefühl, das ihm dieses Land schenkt. Er erzählt von seiner Frau, den Kameraden, den Wundern der Gletscher und Pinguinvölker und von Yaghans, Alacalufen und den Onas . . . Und achtzehn Stunden später zieht er wieder, einer Schlucht 135
folgend, in die Wildnis, die Bibel des alten biedern Walers in der Tasche, und vor ihm oder hinterher, mit freudigem Bellen, jappender rosa Zunge und lachenden weißen spitzen Zähnen, springt ein großer, weißschimmernder, glücklicher Hund. Der Colonel ist zu Fuß. Das Sattelpferd vom Gouverneur, auf dem er in Ushuaia einzog, hat er im Stall des Cuartels gelassen. Über ihm eilen dunkle niedrighängende Wolken, aus denen manchmal wie blasse Goldbarren die Sonnenstrahlen zucken. Die Wälder rauschen, und im eintönigen Rhythmus dröhnt das Meer . . .
Einsame Frau Esperanza ist eine gute Gattin, und da sie ihren Mann liebt, ist ihr Leben ausgefüllt. Und die heimliche Bewunderung, das stumme Besitzergreifen und das Verlangen, das sie bei den andern auslöst, schmeicheln ihrer Eitelkeit. Sie weiß sich unter Männern, die ununterbrochen in der Wildnis leben und für die sie, die Frau des Colonels, tabu ist, Männern, die deshalb, manchmal von Tollheit befallen, sich nach den Señoritas von Punta Arenas und Ushuaia sehnen. Dann murmeln und schreien sie in nächtlichen Träumen und betrachten am andern Morgen scheu und unglücklich die Frau, die unberührt zwischen ihnen lebt und die sie für ihren Colonel hüten müssen . . . In letzter Zeit ist Popper oft wochenlang in Schnee und Sturm abwesend; mit verbissener Zähigkeit, von wenigen begleitet, sucht er für alle nach Gold. Stets läßt er ihr Jack, den großen Alaskahund, zurück, und das treue Tier teilt seine Anhänglichkeit zwischen beiden und hilft der einsamen Frau die Zeit auszufüllen. Wenn jedoch draußen der Sturm heult und das Haus erzittern macht, wenn das Meer laut donnernd gegen die Küste prallt und im Kamin die Aschenreste im Luftzug hochwirbeln, der runde Eisenofen eifrig brummt und singt und rotglüht und die Feuerland136
nacht undurchdringlich draußen vor dem kleinen Fenster steht, dann wälzt Esperanza sich schlaflos auf der breiten, mit weichen Guanacofellen gepolsterten Ruhestätte. Die Einsamkeit schlägt über ihr zusammen. Tränen steigen ihr in die Augen, die Popper schon lange nicht mehr mit tiefen, ganz tiefen Brunnen verglichen hat. Heiße bebende Hände tasten nach den eigenen vollen, spitzen Brüsten,ihr weißer schlanker Leib dehnt sich. Und verzweifelt springt sie dann empor, zündet die Lampe an, starrt voll Qual durchs Fenster in die tobende Dunkelheit. Sie hat die einfache Erziehung einer Chilenin gehabt, deren Vater im ungesunden Salpeter arbeitete. Ihr früheres Dasein beschränkte sich auf ziemlich primitive Hausarbeit, die keine zwei volle Tagesstunden dauerte: das Feilschen beim Einkaufen der Fische; ein bißchen Schwatzen mit den Nachbarinnen; der sonntägliche Kirchgang, und, als die großen Ereignisse der Woche, die Donnerstagabend- und Sonntagabendpromenaden auf der Plaza von Iquique. Da spielte im eisernen, maurisch sein sollenden Kiosk die uniformierte „Banda" schmachtende und feurige Weisen, wenn die Tageshitze einer linden, streichelnden Sternennacht wich. Auf der Reede zerrten die großen europäischen Segler an den Ankern; und weiter draußen tauchten Seelöwen zu Hunderten auf und nieder und Pelikanhorden saßen schlafend auf Pfählen und Steinen . . . Es ist Brauch in Lateinamerika, daß bei den öffentlichen Konzerten die ledigen Frauen oder unversprochenen Mädchen nach rechts den Kreisgang um die Plaza beschreiben, während die ledigen Männer in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeidefilieren; unermüdlich, solange die Musik konzertiert. Scherzworte fliegen durch die warme Luft hin und her, manch Stelldichein vor den Gitterfenstern der Schönen wird leise, hinterm Rücken der Freundin, Dueña oder Mutter, verabredet, und schwarze, blitzende, kühne, scheue oder sehnsuchtsglühende Augen 137
unter schwarzem Spitzentuch oder breiter Hutkrempe halten stumme Zwiesprache . . . An alles dies erinnert sich Esperanza. Und an den Schiffbruch und die furchtbare Zeit mit den Yaghans, die glücklicherweise nur unklare Lücken in ihrem Gedächtnis einnimmt. Dann kam Julio, der dem Mädchen, das von Indianern in brutalen Minuten zur Frau gemacht wurde, wie ein rettender Halbgott in der Wildnis erschien und dessen liebende, treue und zufriedene Gattin sie jetzt ist. Zufrieden? Ja, das ist sie trotz allem; das Gegenteil zu denken, wäre Lästerung und Undankbarkeit! Wenn er doch nur öfter bei ihr wäre und dann länger bliebe. Ach, wenn sie doch endlich ein Kind von ihm bekäme! Aber Gold, das verfluchte Gold, raubt ihr den Mann, der doch ihr, nur ihr gehört. Das Gold wird ihr noch Unglück bringen! Wieder steigen diese dunklen, noch ganz gegenstandslosen Ahnungen in ihr auf, die ihr den Atem verschlagen und die sie doch nicht bannen kann . . . Wie das Unwetter draußen tobt! Und jetzt weilt er irgendwo in der Wildnis, vom Regen durchnäßt und vom Sturmgeheul verhöhnt. „Jacki, oh Jacki!" Sie schluchzt befreit auf, als das große Tier lautlos aus seiner Ecke kommt, seufzend die nasse, kühle Nase gegen ihre herabhängende Hand preßt und sie aus treuen Augen anschaut. Seine Rute wedelt hin und her. „Jacki, wo ist Herrchen?" Der Hund springt nach der Tür, bellt herausfordernd. Kehrt zurück, und aus seiner Kehle kommt tiefes, beschwichtigendes Brummen. Dann legt er sich ihr zu Füßen und schließt wohlig die Augen. Esperanza greift nach den Büchern, die ihr Julio gebracht hat. Sie blättert lächelnd, halbverlangend, in acht Monate alten Modejournalen aus Paris. Da sieht sie schlanke Frauen, mit unwahr138
scheinlich langen Körpern und Gliedern und kleinen Köpfen, die wie Blumen an Stengeln nicken; Kleider und Blusen, Schuhe, enorme Florentinerhüte und auch abenteuerlich geformte Kopfbedeckungen, auf denen ganze ausgestopfte Vögel, Straußenfedern in allen Farben wippen; Schmuck und enge Handschuhe, bis über die Ellenbogen; oder auch weite seltsame Puffärmel, groß und ungefüge wie Schinken aus Stoff; spitzenbesetzte Unterröcke und solche aus starrer Seide, die ordentlich Froufrou machen . . . Das alles soll sie einmal haben, hat Julio versprochen. Prüfend schaut sie an sich hinab, spielt mit den rosigen Zehen in ihren weichen, bequemen, hübsch mit Nutriastreifen besetzten absatzlosen Mokassins, dreht den Türkisring am Finger. Was sollen ihr Romane geben? Sie überfliegt einige Seiten und legt das Buch dann wieder weg. Esperanza ist keine Leserin, sie wird es nie werden, so sehr sie sich bemüht. Und sie weiß doch, daß diese Bücher ihr die Zeit füllen hülfen. Aber die spanischgedruckte Literatur, die Julio auftrieb, ist nicht sehr reichhaltig. Liebesgeschichten von Grafen und Prinzessinnen oder kleinen Verkäuferinnen, die zu Herzoginnen werden. Alles so leer, geschraubt und unwirklich! Da ist er anders. Aber er ist nicht hier, läuft irgendwo unter Strapazen und Gefahren dem verfluchten Gold nach. „Ein Kind! Wenn ich nur ein Kind bekäme!" schreit sie laut . . . Wie sie vor dem Muttergottesbild und der ewigen Lampe kniet, wird sie ruhiger, gefaßter. Sie geht an den Tisch, wo sie die Bücher und Hefte liegen ließ, betrachtet die Abbildungen von Babywäsche, lächelt und merkt erstaunt, daß sie rot wurde . . . Goldenen Schimmer webt das Petroleumlicht um den gesenkten, blauschwarzen Scheitel der Chilenin. Jack strampelt im Traum; stößt dünne, wimmernde Laute aus. „Jacki, komm. Hast du böse geträumt? Komm Perrito, laß dibh streicheln, dein Fell ist so weich. Bist mein gutes Tier!" lockte sie leise. Der Hund spitzt die Ohren, seine Bernsteinaugen öffnen sich, 139
blinzeln und die Rute pocht den Seehundsfellteppich. Dann gähnt er lange, steht auf und legt den Kopf auf ihr Knie. Denn süß, wunderbar sanft, ist die streichelnde kraulende kleine Hand, die in sein dichtes, glänzendweißes Fell greift. Mit der andern blättert die Frau um, Seite für Seite, und betrachtet die bunten Bilder . . .
Ihr braucht's nur aufzuklauben Von der chilenischen Neusiedlung „Porvenir", genau von der Stelle aus, an welcher vor Jahren Popper und seine Männer, als sie von Punta Arenas kamen, zum erstenmal Fuß auf die damals dort noch völlig unbewohnte Küste von Feuerland setzten, führte schon immer ein selten begangener Indianerpfad, von weißen Abenteurern und räuberischen Yaghans benützt, über die tellerglatte, windgepeitschte Pampa und über Berge. Ohne Ende scheint dieser Weg; wochenlang geht es über Berge, dann in die große Pampa hinein, auf der das Gras mager ist, nie so hoch wird wie anderswo. Dort in der Nähe ist ein kleiner Fluß, der Rio Grande. Nördlich davon, weit, weit, weit, in diesem Lande der Ferne, erstreckt sich eine riesige, halbmondförmige, auf den Karten als „San Sebastian" eingezeichnete Bai. Ihre Ufer, die flach sind, werden von niederen Klippen gesäumt, im Wasser sind hie und da große und kleinere Steine von der Natur hingestreut, sie bedecken auch teilweise den Strand, der in die flache Pampa übergeht. Es ist eine der unwirtlichsten Gegenden Feuerlands. Ohne Bäume, ohne malerische Bergfalten, die farbig schimmernd die Einöde sonst häufig verzieren und mildern, ohne bizarre Felsengruppen; grau in grau ist hier die Natur. Auch das Pampasgras ist grau und so dürftig, daß es nicht einmal im Sommer Blumen oder saftiges Grün hat. Sogar der Sand ist grau und das Geröll, und selbst das Wasser, 140
wenn es nicht, von dunkelbleifarbenen Schneewolken überdeckt, beinahe wie schwarzer Marmor mit weißen Schaumaderungen aussieht . . . Reste eines eisernen, verrosteten und zusammengefallenen Segelschiffsrumpfes liegen am östlichen Zipfel der gewaltigen Bucht, dort, wo die gefährliche Einfahrt in die Magellanstraße ihren Anfang nimmt. Wochenlange Orkane, Schnee und Regenstürme rasen hier fast das ganze Jahr über — auch im Sommer schneit es zwischendurch! — vom Atlantik in die Bai von San Sebastian. Sie wälzen fast das ganze Jahr über eine haushohe, mit unbeschreiblichem Getöse den Strand emporleckende, ihn zerschlagende, zurückflutende und wiederkommende Brandung heran. Schaum spritzt, und die von der Titanenstärke des flüssigen Elements wie Spielzeugkiesel gepackten großen Steine und Felsstücke rollen mit ohrenbetäubendem Knattern hin und her. Es ist ein Landteil, den niemand besucht. Weder Yaghans, die in ihren Booten fast nie landen könnten, noch Guanacos, denen das Gras zu trocken und zu staubig ist, beleben hier Strand und Pampa. Den Schwänen und Dampfbootenten ist das Wasser der Bai viel zu unruhig, nur die schwarzweißen Kaptauben und die freien schneeigen Albatrosse der Kap-Horn-Gattung treiben draußen, über Gischt und Schaum, in Dunst und Nebel, Flockengestöber und Regengüssen, bei Hagelschlag wie bei Sonnenschein, Mondsilber und Sternengefunkel, ihr graziöses Spiel in den heulenden Lüften . . . Nach wochenlanger Wanderung, von nomadisierenden Indios friedlich begrüßt und weitergewiesen, erreichte Popper zusammen mit Aage dem Dänen, dem Kanadier Gerard und dem schwarzen Karaobrenowic aus Skutari diese öde, vom Donnern, Brausen und Heulen zweier Elemente mit großartigem, majestätischem Lärm erfüllte Bucht. Popper prüft gleich Sand und Gestein, bückt sich oft, und das letzte Mal nimmt er etwas, das nun glänzend auf seiner Hand141
fläche liegt, vom Boden. Er pfeift unhörbar zwischen den Zähnen und schaut zurück, wo in einiger Entfernung die drei andern sich abmühen, dort, wo die dürre Pampa beginnt, eine Mulde im Grobsand zu scharren. In deren Trichter soll für die Nacht, einigermaßen vom Wind geschützt, das Lager kommen. Regentropfen peitschen schräg gegen ihn, Sand und Staubwolken fegen ungeheuerlich in Abständen dahin, und von See her jagt, deutlich abgegrenzt, eine Schneebö in die Bai. Die ganze Luft bebt von urweltlichem Getöse. Feuerland härtete diese Männer ab; sie lernten längst, in nassen Decken, auf die der eisige Regen niederklatscht, zu schlafen, ohne krank zu werden. Das Unwetter, das da herankommt, um die bereits herrschenden anderen Unwetter zu verstärken, macht ihnen nichts. Der Colonel geht wieder ein paar Schritte, und abermals hebt er etwas Goldschimmerndes auf; dann stampft er langsam, den groben Sand mit den Fußspitzen hochschleudernd, zu seinen Freunden hin. Seine Augen glänzen hell, wie die eines ganz jungen Mannes. Jetzt umwirbelt, verlöscht und verbirgt ihn die nasse, großflockige Schneebö; sie raubt ihm Sicht und Orientierung. Er muß stehen bleiben, stemmt sich gegen den Sturm. Die Bö fegt weiter ins Land hinein; und versiegt. Da tritt er zu den Seinen. Er muß aus voller Kraft schreien, um sich über dem Toben der Natur überhaupt verständlich zu machen. „Wenn diese Bai nicht schon einen Namen hätte, so würde ich sie Ultima Esperanza taufen. Letzte Hoffnung! Hoffnung, die nicht trügt! Seht her, Freunde, das ist das Gold!" Sie betrachten die paar gelben, pfefferkorngroßen, runden Nuggets. Das ist nichts Neues für sie, Gold haben sie schon öfters gefunden. Aber die Augen des Colonels sind ja so blank, so froh und jung . . . „Hast du den Platz wirklich entdeckt? — Wo das Gold haufenweise liegt? — Ist's denn wirklich wahr?" schreien sie durch142
einander, immer noch voll Unglauben und Staunen. Er setzt sich in die Mulde, winkt ihnen, das gleiche zu tun. So können sie besser reden, geschützter gegen den Sturm, der sonst die Worte von den Lippen reißt. „Wenn ihr die Wassergrenze absucht und eure Augen gebraucht, so seht ihr es an vielen Stellen schimmern. Aber die Hauptsache — ich fühle es ganz deutlich in mir und nach meinen geologischen Regeln muß es so sein! — dort draußen, wo der Strand flach im Meer verläuft, dort wo die Brandung kracht und die von ihr in den Jahrtausenden zermahlenen Steine hin- und herrollt — da ist viel Gold. Ihr braucht es nur aufzuklauben. Das Gold unserer Bonanza!" Sie sehen alle auf Popper, wie er das sagt, die große Bestätigung seines Lebens. Er ist ganz ruhig dabei. Nur seine Augen glänzen froh. Der schwarze Karaobrenowic aber springt plötzlich wie ein Gummiball auf. Er will nach der Brandung laufen, stutzt dann und setzt sich mit ratlosem Gesicht wieder nieder. „Bei den Augen der Fatinitza! Julio, dieses Gold wird ewig dort liegen, denn niemand kann es holen. Wer's versucht, den zerschmettern und ertränken die Wogen!" Betrübt nicken die beiden Pelzjäger. „Paciencia, Geduld, wie sie in diesem Lande so oft sagen. Und haben wir nicht jahrelang Geduld geübt, und habt ihr nicht an mich geglaubt, durch alle diese Zeiten, die hinter uns liegen und die nicht üppig waren und es, weiß Gott, auch heute nicht sind?!" „Sprich, Julius, du weißt etwas, du weißt, wie wir der Sache beikommen. Huiihh, es wäre ja zum Verrücktwerden, all das schöne Gold dort liegen zu lassen. Sprich, martere uns nicht, Mann!" „Ich wollte euch sagen: wenn ihr solange Geduld mit dem Glück hattet, als es uns nur narrte, — jetzt, wo wir es fast in Händen halten, müßt ihr doch auch noch ein bißchen länger warten können!" „Ja, aber wie. Erklär' doch mal, Julius, wie du dir die Sache 143
vorstellst. — Mein Gott, da draußen liegt Gold, haufenweise Gold . . . " Ihre Augen glänzen wie im Fieber, Blutwellen röten die Gesichter, der Atem keucht, und jeder sieht bereits die bunten, phantastischen Bilder von Reichtum und Wohlleben, die er bisher nur geträumt hat, greifbar vor sich . . . Und da beginnt Popper: „Da draußen ist der Atlantik, und hier, wo wir nicht weit von der Einfahrt in die große Magellanstraße sind, ist die Natur das ganze Jahr über den üblichen starken Stürmen ausgesetzt. Solch ein mit Schnee und Regen und Nebel geladener Orkan kann drei Wochen hintereinander und noch länger dauern. Das wissen wir alle! Wir wissen aber auch, daß es zwischen den Stürmen und Unwettern ruhigere oder ganz stille Tage gibt. Dann tritt das Meer vom Strand der Bai etwas zurück, Seegang und Brandung werden schwächer. Und solche Tage — vielleicht sind's, wie ich hoffe, bisweilen Wochen! — müssen wir abwarten; und dann dort, hinter der heutigen Wassergrenze, mit Stricken um den Leib, die von andern Kameraden gehalten werden, so weit es geht, ins Wasser hinaus und wie Besessene das Gold aufsammeln. Es ist da, ihr könnt mir's glauben!" Wie ein Prophet zeigt er nach dem Ozean. „Popper! Colonel! Du hast bestimmt recht. O Gott! Oh, wir werden reich!" „Was meinst du, Julius, wollen wir, nachdem wir bei der ersten Windstille deine Bonanza festgestellt haben, nicht die andern holen? Mit Sack und Pack, Mann und Frau und Hund und allen unsern Besitztümern. Wir bauen hier neu auf." „Selbstverständlich, Aage. Das müssen wir sogar. Und die Siedlung soll heißen El Paramo!" „Wird Wochen, vielleicht Monate dauern, dieser Treck!" meint Gerard. „Es muß sein. Ein Teil kommt in den Booten, der andere über Land. Dazu brauchen wir gutes Wetter, in beiden Fällen, und das gibt es schließlich ab und zu auch hier. Wir haben ja schon 144
derartige Wanderzüge hinter ans und werden's auch diesmal schaffen. Zuerst müssen wir soviel als möglich von dem jetzt erreichbaren Gold am Strand sammeln, es muß reichen, für alle Mitglieder der Gesellschaft genügend Munition und teilweise neue Gewehre zu kaufen. Und Kaffee und so weiter!" „Wozu die viele Munition?" fragt der Mann von Skutari. „Weil es auf die Dauer natürlich nicht verheimlicht werden kann, daß hier Gold liegt. Du kennst doch die Banden, die sich Goldsucher nennen und durch Feuerland streifen. Meinst du, daß die uns in Ruhe lassen?" „Denen wollen wir's versalzen, unser Gold zu stehlen. He, das wäre ja!" Die Aufregung hat ihnen allen den Hunger verschlagen. Der Boden brennt förmlich unter ihren Füßen, und während Popper behaglich in der Mulde liegt, suchen die andern den Strand ab. Er sieht, wie sie sich bücken, dann einander etwas zeigen und gestikulieren; und wie sie manchmal vor Freude die Arme hochwerfen. Karaobrenowic führt einen tollen Tanz auf. Der Wind umwirbelt sie mit Sandwolken, er bringt nur einzelne Schreie nach hinten; spukhaft fast, wie Schemen bewegen sich die Gestalten am Ufer. Er lächelt zufrieden. Er denkt an Esperanza, die ihn nun nicht mehr stumm und schwermütig anblicken wird, wenn er auf Goldsuche in die Wildnis zieht. Fortan kann er fast immer bei ihr bleiben. Er steht auf, stemmt sich gegen den Sturm und mustert das Hinterland. Und er sieht dabei auch die Taten der Zukunft vor sich: Häuser, Windmühlen, die das Trinkwasser heraufpumpen; spielende Kinder; Schiffe in den Kanälen der Insel. Und Pferdeställe, Reiter und schneeige, sich in unermeßlicher Zahl über die endlose Pampa bewegende Schafherden. Er hört das Blöken der Jungtiere und sieht auch Onaindios, zu friedlichen Hirten geworden . . . Die Drei zerreißen jäh sein Gedankengespinst. Jeder hat Gold145
körner in der Hand. Rund und glatt, vom Wasser abgeschliffen. Sie jubeln, patschen einander auf die Schultern. „Sollst leben, Julius! Viva, evviva und hoorah!" „Es liegt allerhand an der jetzigen Wassergrenze. In wenigen Tagen sammeln wir mehr, als wir sonst das ganze Jahr mühsam zusammensuchten!" „Ja, damit wollen wir morgen beginnen, aber ohne Überstürzung. Einer muß auf die Jagd und eine Quelle suchen. Und dann warten wir, bis wir unsere Bonanza richtig betrachten können; erst muß sich das Wetter beruhigt haben!" „Und wenn's Monate dauert!" „Wir warten, ja wir warten es ab. Paciencia, amigos! Hoho, Gold, Gold!" . . . Es wurde Nacht. Ein Feuer kann man bei dem herrschenden Sturm nicht anzünden; auch ist kein Brennstoff in der Nähe. Sie hüllen sich in ihre Decken und liegen noch lange wach. Gedanken und Pläne lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Der Ozean brüllt und zischt, Flutsteine knattern, und Sturm heult wie Hunderte von Lokomotiven. Sand prasselt und fegt in schweren Massen über die Mulde. Es stört sie nicht. Sie träumen von Glück. Und einmal schreit Aage: „Die werden Augen machen, wenn wir kommen und sagen: ihr braucht's nur aufzuklauben!" . . .
Verschiedene Wünsche Ein ungläubiger, vielstimmiger Schrei brach aus dem Munde der in der großen Hütte versammelten Männer. Eben betrachteten und wogen sie die mitgebrachten Proben und hörten den Bericht der Heimgekehrten. Und dann begann ein Schreien und Singen, ein jubelndes Sichumarmen und Umhertanzen. Wilde, unmelodiöse Kadenzen heult und schrillt die Ziehharmonika; Topfdeckel und Fäuste trommeln auf Tische, Füße stampfen in fast allen Nationaltänzen des 146
Balkans, Italiens und der iberischen Halbinsel, und die jahrelang aufgespeicherte, so oft getäuschte und nun endlich erfüllte Hoffnung platzt in einem tollen Freudenfest, bei dem der Colonel auf den Schultern ausgelassen tobender Männer herumgetragen wird. Nachher, beim Gemeinschaftsbankett, wobei der Piscogrog nicht gerade dünn fließt, sondern sich allmählich Gruppen ab. Männer murmeln Zahlen vor sich hin oder prahlen laut miteinander; sie tuscheln und malen mit den Händen in der Luft. Manche singen die eintönigen Plesmen ihres Vaterlandes; andere starren stumm, verzückt in den Zug ihrer Traumbilder. Einer verkündet laut, daß er sich das Gut am Fuß der Albanerberge kaufen will, der andere schwatzt von einer Villa am blauen Amalfigolf, wo der Vesuvius raucht; jener faselt von Palazzi in Rom und Florenz; der dort fährt schon in Gedanken auf einem Adriaschoner als Kapitän und Eigentümer, und fast alle sprechen oder denken von Frauen — Frauen, die sie in Samt und Seide und Spitzen hüllen, mit Edelsteinen behängen wollen! Die Skandinavier und der Kanadier sitzen beisammen, qualmen ihre Pfeifen und stoßen ab und zu ein Wort zwischen den Zähnen hervor; trinken einen Schluck oder schütteln belustigt die Köpfe. Jack springt abwechselnd von einem zum andern. Und Popper, den sie immer wieder hochleben lassen, denkt im stillen bei sich, was sie wohl für Gesichter machen werden, wenn er ihnen — noch ist's nicht so weit, und sie sollen erst ihren Freudenrausch austoben — seine eigenen Pläne enthüllt, die nur ausführbar sind, wenn sich zuerst einmal alle, oder die meisten wenigstens, an der gemeinsamen Aufgabe beteiligen. Es sind Pläne, in denen weder von Palazzi, noch von traumschönen, warmen, rebenbestandenen, kameliengeschmückten Küsten die Rede ist, sondern von prosaischen Schafen und einsamen Estanzias, Kohlengruben und technisch vollkommener Goldgewinnung am Ende der Welt. Denn dort soll Ultima Esperanza, die letzte Hoffnung auf Feuerland, nach Jahren der Arbeit wunderschön, in friedlichem Fortschritt und Wohlstand aufblühen . . . 147
Und Esperanza, die Frau, die aus dem Wasser kam? Längst ging sie hinüber ins kleine Haus und kniete vor der Gottesmutter; betete und flüstert dann dankerfüllt: „Oh, endlich, endlich, jetzt wird er bei mir bleiben und mir ganz gehören, denn wir gehören zusammen!" Und auch ihr Herz pocht voll neuen Hoffens . . .
El Paramo Zwei Boote mit sechs hoffnungsfreudigen Männern und vielen Packen wurden von brausenden, eiskalten Brechern der Magellanstraße verschlungen. Die andern erreichten nach gefährlicher Odyssee, gleich den Yaghans rudernd und selten zum Segeln kommend, die San Sebastianbai, die sie sogar mit ausnehmend schönem Wetter empfing; sonst hätten sie nämlich in tageweiter Entfernung landen müssen. Kaum hatten sie jedoch ihre Fahrzeuge weit aufs Land gezogen, bis an das Pampasgras, an den Rand eines klaren Tümpels, und sich nun ziemlich enttäuscht und mißtrauisch die unsäglich öde Gegend zu betrachten begonnen, da brach auch schon wieder ein Sturm los, daß der Höllenlärm den Strand mit betäubendem Geknatter rollender Steine belebte. „Per bacco, schön ist's hier nicht!", so sprach ein Italiener aller Meinung aus. Und sie sahen stumm in das Tosen des Sturms und der Brandung hinaus . . . Doch wie sie dann an der Wassergrenze ihre ersten recht ansehnlichen Goldfunde machen, sind sie sich plötzlich einig, daß El Paramo eigentlich „El Paraíso", das Paradies, heißen müsse. Und sie rücken ihre Packen zurecht, schlagen kleine Fellzelte auf und losen ein paar Wächter aus. Die andern werfen noch viele sehnsüchtige Blicke nach dem goldschwangeren Strand, ehe sie, ihre Äxte geschultert, abmarschieren nach der fernen, fernen Hügelkette. Das Wichtigste ist erst einmal Holz für den künftigen Häuserbau. 148
Und bald wurden denn auch verschiedene Lasten schlanker Stämme mit unsagbarer Mühe, nur durch menschliche Muskelkraft, nach El Paramo geschleift, und endlich trifft aus dem Land her die von Popper geführte andere Expedition ein. „Gut, daß wir Sturm haben, sonst würde ich euch wohl schwerlich davon abhalten können, sofort im Wasser nach Gold zu krebsen! — Zuerst müssen wir einigermaßen gute Unterkünfte aufbauen. Wir können auf die Dauer nicht wie die Yaghans halb unter freiem Himmel hausen!" lacht der Colonel. Unter seiner tatkräftigen Leitung gehen sie ans Werk. Einige Jäger müssen auf die Guanacojagd, weit ins Innere. Aage, der eine Weile in der Luft schnüffelte, verspricht, daß er „dort um die Ecke" bestimmt einen Robbenspielplatz finden werde. Aus Lehmerde und trockenem Pampasgras, mit Wasser vermengt, kneten sie mittels Händen und Füßen einen dicken Brei, pressen diese Masse in rasch zusammengenagelte, leiterähnliche Holzformen und erhalten so zähe, große, graue Ziegel, die, nur notdürftig an der sparsamen Sonne getrocknet, eigentlich nicht besonders brauchbar wären. Man errichtet dennoch die Außenmauern eines großen Gemeinschaftshauses, nebst einem kleineren für Popper und seine Frau. Diese Mauern werden lange feucht bleiben, deswegen umkleidet man sie innen und außen mit zurechtgesägten Planken und beginnt auch gleich, die erlegten, nach Pelzjägermethode mit Hirn und Asche gegerbten Robbenhäute als Innenverkleidung anzubringen. Mächtige offene Kamine müssen die eisernen Heizöfen, die sie zurücklassen mußten, vorläufig ersetzen. Alles arbeitet emsig, doch kann sich keiner enthalten, in den Pausen rasch einmal an den Strand zu laufen, sehnsüchtig auf das Ende der Stürme zu warten und schon ein wenig den Sand zu durchsuchen. Der Ozean aber rauscht immer weiter mit aller Macht, und seine schmetternden Wogen bedecken und hüten die Bonanza von El Paramo . . . 149
Esperanza hat viel Arbeit, sie übernahm, da alle Männer von früh bis in die Nacht am Hausbau tätig sind, die Gemeinküche. Das Heizproblem, das auf Feuerland eines der wichtigsten ist, löst Popper, der nicht weit von der Neusiedlung eines jener ziemlich häufigen offen zutage liegenden und ins Meer verlaufenden Steinkohlenflöze entdeckt. „Schwarzes Gold und gelbes Gold, alles hübsch beisammen!" scherzt einer der Arbeitenden, und sein Freund, der sich erst umschaute, ob Esperanza nicht in Hörweite ist, grinst: „Vielleicht finden wir auch noch ein paar Dutzend recht hübscher Meerweiber. Dann hätten wir alles, was wir brauchen!" Fieberhaft schaffen die Männer; wenn der Sturm nachläßt, wollen sie für die Goldsuche bereit sein. Mancher wundert sich beim Bauen, warum der Colonel es nur so gründlich nimmt und solchen großen Wert auf kleine Fensterschlitze, schon eher Schießscharten, und starke Türen legt und auch davon spricht, daß später ein Erdwall um das ganze Anwesen gezogen werden soll. Einige murren schon, so würden sie mit der Arbeit nie fertig. Eine kleine, wenn auch gutmütige Meuterei, die die goldhungrigen, vor Ungeduld launischen Männer packt, lenkt Popper noch geschickt ab, so daß die zeitweilige ungemütliche Spannung nur in einem großen, allgemeinen Gelächter explodiert. Aber er macht sich Sorgen. Und sehr oft schaut er nun nach der Bucht oder prüft das Barometer; doch immer weiter brandet draußen der stürmische Ozean mit Riesenwogen. Wenn jetzt bald kein schönes Wetter eintrifft, damit man die Ausbeute im Wasser beginnen kann, gibt es eine Revolution auf El Paramo . . . Ohne Begleiter hat er unterdessen schon die ganze weite SanSebastian-Bai abgeschritten; tagelang stellte er Untersuchungen an und Kalkulationen auf; und so fand er noch fünf weitere Stellen, die ebenso reichen Segen versprechen wie El Paramo. Vorläufig hält er diese Feststellung aber geheim. Er weiß: bei der gärenden Stimmung, die im Lager herrscht, wäre es selbst 150
ihm, dessen Wille und geistige Überlegenheit diese Männer zu einer Gemeinschaft zusammengeschmiedet haben, nicht möglich, eine Zersplitterung in einzelne rivalisierende Gruppen zu verhindern. Und Uneinigkeit wäre für alle gefährlich. Niemals tritt Glück allein ohne gleichzeitige oder nachfolgende Gefahr auf! Popper spürt es: noch lauert diese Gefahr dort hinten, am Ende der grauen Pampa, dort hinten auf und zwischen den Hügeln und an der wildzerrissenen Küste, wo wilde Goldgräberhorden jagen, Onafrauen schänden, töten und rauben; skrupellose Banden, die ernten wollen, wo andere säten. Eines Tages wird die Kunde von seiner Bonanza im Lande herum sein; und wie die Hornissen nach dem Honig, so werden sie dann bald nach El Paramo kommen und werden — das weiß Popper in eiserner Ruhe — wieder abziehen oder sterben müssen. Da aber wird er jeden seiner Leute brauchen zu gemeinsamer Verteidigung ihrer gemeinsamen Goldfunde . . . Marternd langsam verstreichen indessen die Tage und Wochen. Und immer noch kein gut Wetter, keine Windstille . . .
Wie es glänzt und schimmert Da kam der Tag, auf den alle warteten! Konträrer Wind schiebt die anrollenden Atlantikwogen aus der Bai in die offene See zurück, und nur schwach noch atmet die Brandung bei El Paramo, in der Bahia del San Sebastian. Der Morgen graut erst; es lauschten viele Ohren während der Nacht, und einige Männer, die es nicht erwarten konnten, liefen in der Dunkelheit an den Strand, wateten brusttief in das kalte, immer noch gefährlich an ihnen zerrende Wasser. Doch sie fanden kein Gold, weil es noch zu dunkel war . . . Der Osten hellt auf, blasser Tagesschimmer kriecht über Pampa und Meer. Da rennen alle Mann wie verrückt brüllend, ihre Körbe und Pfannen und Schaufeln schwingend, nach dem Wasser. 151
Und sofort beginnt, begleitet von der brausenden Musik des Ozeans, zwischen schaumumspritzten Steinen, die nun fast reglos im schwachen Sog liegen, der Fang des Goldes. Und bald verkünden gellende, sich überschnappende Jubelrufe und die von den Onas gelernten schrillen Jagdschreie die ersten Nuggets! Erbsengroße und kleinere, die, nachdem durch Schaukeln der wasservermengte Sandbrei weggeschwemmt wurde, als schwerer Rücksatz, vermischt mit schwerem gelben Staub, am Boden der Gefäße schimmern. Popper hat recht gehabt! Hier liegen unberechenbare Schätze und Reichtümer im Wasser! Wie Besessene arbeiten die Männer, jede Minute ist kostbar, weil ja der Wind wieder umschlagen könnte! Unaufhörlich füllen sich Körbe und Pfannen, knietief stehen die Leute im wogenden Geplätscher, manche sogar bis an den Hals, von der immer noch kräftigen, hier nie ganz ruhigen See so hin und her geschüttelt, daß sie oft den Boden unter den Füßen verlieren. Sie tauchen Kopf und Schultern unter und füllen mit kurzer Schaufel ihre Behälter; häufig gleiten sie auf Steinen, die das Auge nicht sieht, aus. Dann tauchen sie prustend und lachend wieder empor und schleppen die kostbare Bürde an den Strand, wo andere ungeduldig warten, den Grus in wassergefüllten Trögen und Pfannen zu schaukeln. Und jede Last enthält Gold! Manchmal Körner, manchmal glänzenden Staub, aber immer ist etwas drin. Ein haselnußgroßer Nugget löst tobende Begeisterung aus. Alles strömt herbei, um das kostbare Stück zu betrachten und zu befühlen, und es geht von Hand zu Hand. Selbst Esperanza, die der Jubel anlockte, eilt herbei. Und so arbeiten sie, vom frühen Morgen an bis zum sinkenden Licht. Und sogar in der Nacht waten sie immer noch einmal wieder hinaus, um beim roten Glutenschein von Kohlefeuern, die längs des Strandes angezündet sind, dem Ozean seine jahr152
tausendelang gehüteten Schätze zu entreißen. Und alle sind froh dabei und ausgelassen wie Kinder . . . Nach den ersten Stunden wildester Begeisterung und planloser Arbeit kam System in ihr Tun. Don Julios Organisationstalent stellt jeden an seinen richtigen Platz. Jeder hat seine Aufgabe, und alles harmoniert wie eine gutgeölte, unermüdliche Maschine. Alle Kräfte sind angespannt, und während Glieder und Körper arbeiten, flüstert das Gehirn und malt seine bunten, phantastischen Wunschbilder. Aage ist der phlegmatischste. Er geht, während die andern im Goldtaumel befangen sind, die Nachbarschaft in großen Dreiviertelkreisen ab und späht nach etwaigen Banden. Nachts wachen mit Winchestern bewaffnete Männer. Und wie es glänzt und schimmert, wenn sie abends die Tagesausbeute auf ein gegerbtes glattes Hautstück schütten! Und wie die dunklen Gestalten nachts, weit im rosig überlasierten unruhigen Wasser hin und her waten! Langsam aber stetig wächst das goldene Häufchen; am Maßstab aller bisherigen Goldfunde der Welt gemessen eigentlich unvorstellbar rasch: binnen einer Woche wiegt das gefundene Feingold ein halbes Kilo . . . Unerschöpflich spendet ihnen das Meer seine Schätze; sie bergen sie fast mühelos, wenn man von dem eiskalten Wasser absieht, das ihnen ihr Blut erstarren läßt, während sie doch bei der Arbeit schwitzen; alle halbe Stunde muß jeder sich mit klappernden Zähnen am Kohlenfeuer erholen. Sie werden zu menschlichen Maschinen, die mechanisch arbeiten. Und immer länger wird der am Strand aufgeschüttete, ausgebeutete Sand- und Geröllhaufen und nähert sich an seinem einen Ende dem „Lapat-Wall", wo in vergangenen Jahrhunderten Indianer die ihres schmackhaften Inhalts beraubten Muschelschalen hinwarfen. Weiß, schwarz, teils sanft perlmuttern erstreckt sich der Lapat auf die Länge von Kilometern. Sie arbeiten selbstvergessen, wie im Rausch. Die Mahlzeiten, 153
von Esperanza zubereitet, verschlingen sie wolfsgierig, rauchen dann rasch eine halbe Pfeife oder ein Cigaro und stürzen in den nassen klammigen Kleidern, die sie gar nicht abgelegt haben, an den Strand zurück und ins Wasser. Das Aufregende dieser Schatzjagd, das glänzende, schimmernde, dem grauen Atlantik entrissene Gold vor ihnen und jenes andere, das noch auf sie darin wartet und sie mit fiebernder Riesenkraft erfüllt, all das hält jede Erkältung fern. Keiner hat Zeit, krank zu werden. In der zweiten Woche freilich wechselt der Wind; er wächst sich zwar nicht zum richtigen Sturm aus, rollt jedoch eine schwere See heran und will den Goldsuchern ihr gieriges Wühlen und Tauchen verbieten. Da packt sie der Trotz: sämtliche vorhandene Stricke, Tauwerk, Gewehrriemen und aus Robbenhaut unzerreißbar gedrehte Lassos müssen her; so besiegen die Männer das Meer: das eine Drittel von ihnen, an lange Seile gebunden, deren entgegengesetzte Enden gruppenweise von den andern zwei Dritteln verbissen festgehalten werden, wagt sich zwischen die schon leise zu knattern beginnenden, langsam ins Hin- und Herrollen geratenden, vom Wasser überspülten Steine und Blöcke. Brecher reißen ihnen dabei immer wieder die Füße vom Boden weg, schleudern die Männer schmerzhaft an Klippen und lassen sie Wasser schlukken, daß sie sich oft wie Halbertrunkene taumelnd ans Ufer retten. Doch es gelingt ihnen, aus allen Todesnöten immer wieder Körbe mit schwerer nasser Last zu füllen und zu den Kameraden am Strand zu schleppen. Ja, sie finden dabei noch Zeit und Lust, trotz aufs äußerste angespannter Muskeln, den grollenden Wogen entgegenzusingen, zu lachen und zu pfeifen . . . Diese Skandinavier, der Kanadier, die Griechen, Rumänen, Serben, Bosniaken, Herzegowiner, Krainer, Italiener, Bulgaren und Spanier sind Männer! Siegende Männer! Und so mühen sie sich ab, volle Tage und halbe Nächte. Popper 154
arbeitet mit ihnen und sieht ebenso müde und dennoch freudig erregt aus wie sie; und erschöpft wie sie, sinkt er auf sein Lager. Und Esperanza wartet Nacht für Nacht vergeblich, daß er in ihre weichen weißen Arme käme, sich an sie ziehen lasse. Heimlich, wenn alles schläft und er unbeweglich wie ein Toter, dabei schwer atmend neben ihr liegt, weint und betet und verflucht sie das Gold, das im Lagerraum sich unaufhaltsam mehrt und glänzt und schimmert. Julius wandert zwar nicht mehr wochenlang in die gefährliche unbekannte Wildnis wie in den Wochen zuvor, er ist bei ihr. Und dennoch nicht bei ihr . . . „Jack, o Jack, komm her!" flüstert sie, und der Hund, dem das Dasein auf Feuerland sehr behagt, trappelt dann auf leisen Pfoten herbei. Er merkt, daß sie traurig ist, die Frau, und schaut sie verwundert an. Wenn sie ihn dann streichelt, schließt er die Augen, stöhnt wollüstig und träumt vom Zucken der gelben, grünen und burgunderroten wunderbaren Nordlichter, die in der fernen Siwashheimat über den Himmel wandern. Plötzlich richtet er sich auf, reckt die haarige Schnauze steil empor. Aus seinem halbgeöffneten Rachen quillt jenes, das ganze All erfüllende Heulen, mit dem die sonst stumme Kreatur jahrhundertealtes Leid, das in der Tierseele wohnt und nie ausgelöscht wird, verkündet: der Klageruf des Alaskaschlittenhundes . . . Popper wacht auf davon. In der großen Hütte nebenan schimpfen welche. Da beruhigt er das Tier, das sich auch zufrieden wieder hinlegt. „Esperanzita, was hast du denn? Weinst du wieder?" „Ach, das Gold, das verfluchte Gold!" wimmert sie. Er legt seinen Arm um die schluchzende Frau. „Sei ruhig, Querida. Ich weiß ja, was dir fehlt. Gedulde dich noch. Wir müssen jetzt wie die Sklaven arbeiten, um genügend Gold einzusammeln. Ehe der Winter kommt, weißt du! Später werden wir die Ausbeute in aller Ruhe betreiben." „Und dann?" Sie schmiegt sich ganz eng an ihn, fühlt mit dem 155
Instinkt des Weibes, daß sie jetzt, in dieser Minute, alle Macht über ihn hat. „Dann wirst du mehr von mir haben, und unser Leben wird sehr häuslich sein!" Sie preßt ihn an sich, ihr heißer Atem haucht: „Du, ich will ein Kind von dir. Ein Kind, hörst du?" Sie umklammert ihn. Laut pocht jetzt ihr triumphierendes Herz gegen das seine. Er fühlt, wie das Blut in seinen Adern rast. Singen und Sirren echot in seinen Ohren. Da sucht er den Mund, der dem seinen in der schwarzen Feuerlandnacht entgegenblüht. Und ein langer, langer glücklicher Seufzer weht zum ersten Male durch die Hütte von El Paramo. Und draußen orgelt gedämpft der Ozean gegen den Strand, spielt mit Gestein und Geröll, wühlt unermüdlich den schweren Sand auf, in dem das Gold gleißt und lockt . . .
Das Schiff „Ultima Esperanza" . . . nach langer lebhafter Beratung, in der viele Gegensätze und Meinungen von Poppers Geduld und zwingender Logik zum Schweigen gebracht wurden, traten der Colonel, Aage, Karaobrenowic, Duprez und Pietro — ein früherer Schwammtaucher von der großen Insel Zara in der blauen Adria — die gefährliche Bootsfahrt nach Punta Arenas an. Jeder trägt am Gürtel, in starken Fellsäckchen unter den Ponchos das Gemeingut der „El Paramo Sociedad" im Gewicht von zusammen vier Kilo Feingold. Begleitet von den Gebeten der ihnen nachblickenden Frau und den Wünschen der andern rudern und segeln sie, die Nächte an Land in geeigneten Küsteneinschnitten verbringend, die lange, lange Strecke auf brausenden Wogen und halten dann, mit steifer Brise, den Tod jede Sekunde vor Augen, quer über die Straße nach Punta Arenas. Der lange Landweg nach Ushuaia wäre vielleicht sicherer; doch 156
Punta Arenas ist größer und für ihre Hoffnung, endlich einen seetüchtigen, gedeckten Kutter zu kaufen, günstiger. Es soll die letzte Fahrt in dem verdammt kippligen, offenen Boot sein, mit dem man, wie Aage sagt, den Herrgott versucht und den Satan an der Schwanzquaste zupft! Auch wollen sie den eventuellen Überschuß bei Abraham Braun deponieren und künftige Transaktionen nur durch diesen — wie Popper, der Menschenkundige, weiß — grundehrlichen Ostjuden abschließen. Nebel, Schnee und Hagelstürme fegen durch die Magellanstraße. Um ein Haar überrennt ein Salpetersegler, der plötzlich wie ein gigantischer Schatten aus den bis tief aufs Wasser herabhängenden Wolken hervorschießt, das kleine Fahrzeug. Es sind Minuten, die ihnen den Atem verschlagen. Aber sie erreichen Punta Arenas; im stillen dankt jeder seinem Gott, daß es noch einmal gutging. Aage mustert die ankernden Schiffe. Siehe!, da liegt Walkers Schoner, dann die Dampfer „Rio Verde" und „Monte Sarmiento"; auch ein tranduftender Waler mit dem lustigen Namen „Happy whench" und eine ganze Anzahl einmastiger Segelfahrzeuge . . . Und dann sind sie bei Abie Braun, der jetzt schon ein Häuschen besitzt mit einer Frau darin, und der mit Nutrias, Seals, Gold und Schiffsproviant einen guten Handel treibt. „Sind Se's, Colonel! Gott der Gerechte, hab ich manchmal an Se gedacht, meine Frau kann's bezeugen! Sarahleben, ist's nicht wahr?! — Aber nehmen Se Platz, meine Herren, seh' ich doch dem Colonel an, daß er machen will Geschäfte, grauße Geschäfte. — Sarahleben, bring' de Flasche mit dem guten Wein, wo ich hab gekriegt von Buenos Aires!" schwatzt er händereibend. Dann sieht er mit plötzlich weitgeöffneten Augen, wie seine Besucher die ganze Flasche in Sekundenschnelle leer haben . . . „Bring' für uns lieber Whisky, Abie!" meint Popper lächelnd. Auf seinen Wink machen sie alle die Goldsäckchen von ihren Gürteln ab, werfen sie mit schwerdumpfem Klang auf den Tisch. 157
„Jehovah! Haben Se endlich gefunden de Bonanza! Hosiannah, Hosiannah!" murmelt der Jude; er stellt mit zitternden Händen die Waage auf den Tisch und macht sich emsig an die Arbeit. „Vier Kilo und hundert Gramm! — Was wollen Se anfangen damit?" Popper ergreift das Wort: „Es ist Gold von uns allen zusammen, und wo es herkommt, gibt es noch mehr. Wir wären Ihnen dankbar, Abie, wenn Sie unter der Hand verbreiten würden — denn verheimlichen läßt sich solch ein Fund nicht —, daß wir zahlreiche, entschlossene Männer und sehr gute Schützen sind!" „Weiß'ch, werd'ch! Soll ich Ihnen kaufen ab den Mammon? Werden Se wollen englische Pfunde und amerikanische Dollars?!" „Alle unsere Geschäfte gehen von nun ab nur durch Ihre Hände!" „Werd'ch Se bedienen ehrlich, aber werden schelten de Laite in Ushuaia, daß Se kommen nach Chile, nach Punta Arenas, wo Se doch wohnen auf argentinischem Gebiet! — Aber sagen Se, was soll geschehen mit dem Gold, wie wollen Se, daß der Abraham Braun Se bedient? Hab'ch Kontokurrent und engste Verbindung mit de Bankstelle und könnten Se kriegen Bargeld, binnen einer Stunde!" „Wir brauchen mehrere Dutzend wasserdichte Seehundslederstiefel mit Schäften, die man bis an die Hüften ziehen kann. Wir brauchen einige sogenannte eiserne Alaskaöfen mit Rohren, und wir brauchen Hosen, Hemden, Südwester, Öltuchmäntel; auch fertige Kleider und, was sonst eine Frau benötigt. Ferner: dreihundert Kilo Kaffee, zwei Kisten Tee, einige Kisten Whisky und Fässer voll Pisco, Mehl, Dörrobst, Büchsenmilch, Tabak, Zigarettenpapier, Rosinen, Spaghetti, Makkaroni, Maismehl, Olivenöl, Pfeifen, Petroleum, Lampen, Munition, Seife, tausend Pfund Hartbrot, Nähzeug, Nadeln, Gardinen . . . " Lachend liest er das alles von seiner Liste ab. Die Augen des Händlers werden immer erstaunter. Schließlich unterbricht er Popper: „Gott der Gerechte, Se sind gekommen, weil Jehovah Se schützte, in 'nem 158
kleinen Boot. Wollen Se fahren ab mit dem graußen Dampfer, der tragen soll all de Sachen, wo ich Se soll beschaffen?" „Mit dem offenen Boot fahren wir nicht mehr zurück. Wir kaufen einen einmastigen Kutter, von, sagen wir, zehn bis fünfzehn Tons. Und da Sie alles wissen, was in Punta vorgeht, so denke ich, daß Sie uns vielleicht in dieser Beziehung unterstützen könnten!" „Sarahleben, bring' for de Herren ä neue Buddel. Sind se gekommen aus der Wildnis und haben mitgebracht ä graußmächtigen Dorscht. Ist de Flasche schon wieder leer!" Die stille beleibte Frau mit dem sanften Jüdinnengesicht setzt das Verlangte auf den Tisch. Und Abraham denkt nach. „Will der Einar Rasmussen, wo hat mit drei Landslaite zesammen ä Sealausbeutungsgenossenschaft, sein Schiff, ä Kutter, wo heißt „Ultima Esperanza", verkaufen. Will nach Amerika fahren, ist ihm geworden de Luft hier ze gefährlich, seit ihn neulich hat beinah mit Kanonen gebohrt in den Grund der chilenische Kreuzer, weil der Rasmussen hat geplindert und getötet viele Seals auf Schutzgebiet!" „Den kenne ich. Und das Schiff ist gut und recht für uns!" sagt Aage. „Sind keine Käufer da. Werd'ch machen, daß Se kriegen den „Ultima Esperanza" mit allem Inventar fier zehntausend Pesos Papier. Mehr geben Se nicht, und weniger Rebbach nimmt er nicht. Weil aber der Schäntlemän hier den Rasmussen kennt, so werden Se am besten reden persönlich und brauchen Se dann ze geben kaine Prozente an den Abraham Braun. — Aber dirfen Se fahren ä Kutter? Von wegen de Gesetze der Seefahrt?!" Gleichmütig brummt Aage: „Ich hab' ein Schifferpatent für große Fahrt, und der Börre, der in El Paramo blieb, auch!" Erstaunt betrachten sie den Pelzjäger, der, ohne mit der Wimper zu zucken, sie in eines der Geheimnisse seines Lebens blicken läßt. „Charmant!" lobt Duprez. 159
„Und sind Se geworden ä Pelz- und Goldsucher, wenn Se könnten fahren als Kapitän ä graußes Schiff mit vieltausende Passagiere? — Nu, 's hat ä jeder ze tragen sein Päckche!" „Dann wollen wir alles so rasch als möglich ins Lot bringen. Aage, geh du vor und mach den Handel mit deinem Landsmann ab. — Sie, Abie, tauschen das Gold in Banknoten um und eröffnen ein Konto für uns. Niemand darf Geld abheben, der nicht die Unterschrift von uns Fünf bringt, die bis auf weiteres für die Gesellschaft „El Paramo" zeichnen. Entwerfen Sie das, bitte, — Aage, du kommst dann wieder hierher. In zwei Stunden treffen wir uns alle hier, und du bringst Rasmussen mit. — Abie, Sie kümmern sich um alles, was hier auf der Liste steht; es sind gangbare Sachen, Sie können also alles bis morgen besorgen. Und dann stechen wir gleich wieder in See!" „Haben Se aber Eile! Nu, ist besser als das Gegenteil. Werd'ch, wenn Se's Schiff kriegen, alles besorgen!" Er reibt sich die Hände, ruft dann: „Sarahleben, du hast gehört. Wir kommen zesammen in Sticker zwei Stunden. Und werden de Herren ä guten Tropfen winschen. Spute dich, Sarahleben!" Nach der festgesetzten Zeit treffen sich alle wieder in Abrahams Stäbchen. Durch Punta Arenas ging wie ein Lauffeuer die Nachricht von großen Goldfunden auf Feuerland, und Abrahams Haus ist im Nu von durcheinanderrufenden Seeleuten, Jägern und andern Männern belagert. Aage brachte seinen rotblonden Landsmann, er hatte auch schon mit Fachmannsaugen den Kutter untersucht. Das Geschäft wird abgeschlossen. „Hört nur, wie die draußen brüllen! Gold, Gold, auf Feuerland! — Ich wette, daß heute abend schon die ersten Boote mit Glücksrittern über die Magellanstraße fahren. Bin zwar nicht für Hast und hätte gerne ,Rattenjacks' Mädels einen Besuch abgestattet. Aber je eher wir hier wegkommen, um so besser!" lacht Aage. 160
Popper, der allen Fragen gutmütig, aber geschickt ausweicht, geht nachher zum Hafen; die Menschen — in Punta Arenas kennt ihn jeder — reißen ihm unterwegs fast die Kleider vom Leibe: „Gold! Gold!" An Bord der „Ultima Esperanza" betrachtet er sich alles. Zufrieden sitzt er dann auf der Kajütskap, hat den Poncho umgehangen und schmaucht seine erste gute Zigarre seit Monaten. Den Wachtmann schickt er samt seinem Eigentum an Land. Morgen will er noch einen Besuch bei Abraham machen, um die nötigen Unterschriften zu leisten, und dann, nach Einnahme der Ladung, soll's sofort in See gehen. Nebel wogen, Geschrei und Musik weht von der Wasserfront herüber. Das Meer flüstert, und ruhelos umkreisen schneeweiße Albatrosse und gescheckte Kaptauben die „Ultima Esperanza" . . .
Beppo . . . „Heiah! Feste Planken sind doch besser als ein offenes Boot!" lobt Aage. Er hält die Steuerpinne umklammert und jagt mit raumem Wind den Kutter über die klatschenden, grauen Wogen. „Hast du gestern abend etwas über die Onas in der Bar gehört?" fragt Popper. „Ja, man hat angefangen, auf die Indios zu schießen, weil sie die Hände nicht von den Schafen lassen!" „Nach dieser Nachricht und wenn ich dann noch an die Bootsladungen voll Abenteurer denke, die heute nacht nach der Insel fuhren und denen mehr folgen werden, und was an zweideutigem Volk bereits drüben herumstreift, du, da fürchte ich, daß es auf Feuerland bald sehr ungemütlich sein dürfte!" sagte der Karaobrenowic; er hat einen spröden Klang in der Stimme dabei. „An uns wagen sie sich nicht. Nom de Dieu, das würde ihnen übel ausschlagen!" lacht der optimistische Duprez und fährt fort: 161
„Schade, daß du gestern abend nicht mit uns bei ,Rattenjack' warst, Jules. Ungefähr alles, was zwei Beine hat, quetschte sich herein, und viele mußten wegen Platzmangels andere Kneipen aufsuchen oder standen trinkend draußen vor der Tür. Das war ein Geschrei und Raten und Bitten, wir sollten sie mitnehmen! Sogar zwei von den Señoritas wollen allen Ernstes Goldsucherinnen werden!" „Bei der Panagia! Und nachher gab's eine große Prügelei und Schießerei, bis sie Soldaten holten!" bestätigt der Karaobrenowic. „Wir müssen auf der Hut sein. Und was das Schlimme ist, wir müssen uns teilen. Deswegen halten wir jetzt erst nach Ushuaia. Ich will dort aber gar nicht an Land. Du, Kara, machst das für mich ab, denn du verstehst dich gut auf Menschen; du sollst nämlich fünf oder sechs anständige Männer von den dortigen Balkaneinwanderern zurückbringen. Neue Teilhaber!" „Bei den Augen der Fatinitza, die im Bosporus in einen Sack genäht starb! Uns teilen müssen? Und neue Teilhaber? Wozu das, Julius!" Sie drängen sich um ihn. „Wir brauchen noch einige tüchtige Leute, und keiner von euch kann etwas dagegen haben. Hört, ich habe noch fünf Stellen in der Bai entdeckt, die gleich gut wie unsere Bonanza sind, glücklicherweise in Sicht von El Paramo. Ich hatte eigentlich vor, sie der Reihe nach auszubeuten. Deswegen sagte ich auch noch nichts! Aber jetzt müssen wir damit rechnen, daß unerwünschte Nachbarn, die uns ausgekundschaftet haben, uns vielleicht nicht nur überfallen, sondern sich an den erwähnten Stellen festsetzen. Deswegen brauchen wir Leute. Ich rate sogar zu einem Dutzend, wenn du sie auftreiben kannst. — Außerdem läßt du die Konzession eintragen. Man kennt zwar hier derartiges noch nicht, aber ich will sicher gehen. Der Gouverneur scheint ein Strohkopf zu sein, und wir wollen allem vorbeugen." „Du hast 'ne kühle Hand, Julius. Und Savvy im Gehirn!" bekräftigt der steuernde Däne. 162
„Fünf Stellen, genau so reich wie die erste? Colonel, du bist ein Wunder! Laß dich umarmen!" Und Duprez schmatzt dem lachend Ausweichenden eine tüchtige Akolade auf die Wange . . . Bei Regenwetter laufen sie Ushuaia an und erfahren gleich, daß wunderbarerweise das Gerücht von reichen Goldfunden die Gemüter auch dort aufregt. Boot nach Boot stieß ab und pullt nach der ankernden „Ultima Esperanza". Aber sie lassen niemand von den neugierigen, beschwörenden, dann fluchenden und drohenden Leuten an Bord. Karaobrenowic, der einzige, der hinüberfuhr, ist ein sehr genügsamer Mann, der wenig Alkohol liebt. Alle Versuche, ihn unter Pisco oder Whisky zu setzen, damit er plaudere, schlagen daher fehl. Auch tut er so, als ob er weder englisch noch spanisch versteht. Fluchend lassen sie endlich von ihm ab, rennen nach ihren Hütten, und die Almacenes werden fast ausgekauft von sich rasch bildenden Goldsucherexpeditionen. Die ersten marschieren schon schwerbeladen in die Wildnis und weitere folgen. Ushuaia gleicht einem Jahrmarkt voll singender, brüllender und hurraschreiender Männer, zwischen denen die fleckigen, ausgeschnittenen Seidenkleider jauchzender Tanzmädchen wie bunte Farbenflecke im flackernden Fackellicht zucken. Revolverschüsse knallen in die Luft; die Gefängniswache und die Soldaten des Ramón Lista sind in Alarmbereitschaft. Karaobrenowic fand seine Leute: Dalmatiner, frühere Schwammfischer, die gerne bereit sind, mitzukommen. Er prüft jeden einzelnen, schickt etliche trotz ihrer Bitten zurück, sagt sogar zu einem: „Du hast unehrliche Augen, Bruder, bist gewiß ein Dieb. — Laß nur dein Messer stecken, ich bin viel schneller als du!" . . . Und er bringt acht kräftige, strapazengewöhnte Männer auf den Kutter. Gleich geht der Anker hoch, und inmitten einer Schneebö tanzt die „Ultima Esperanza" wieder über das graue tosende Wasser . . . . . . Und geht nach glücklicher Fahrt, in einer schmalen ge163
schützten Bucht wieder vor Anker. Kein Orkan kann hier dem Schiff gefährlich werden. Die Ufer sind bedeckt mit schlafenden oder erstaunt das Fahrzeug betrachtenden großen Seelöwen, einigen riesenhaften See-Elefanten und von vielen Tausenden von Pinguinen, die nicht mehr ihre Stimmen erheben, da der Pelzjäger sie auf seinen Wanderungen längst an Menschen gewöhnte. Es ist nur „um die Ecke" zur Bai von San Sebastian und keine zehn Kilometer von El Paramo. Aage bleibt als Wächter an Bord und meint lachend, daß derjenige, der den kleinen, in der kleinen Bucht ankernden Kutter beschleichen wolle, erst noch geboren werden muß! Die andern marschieren nach der windbestrichenen Bai. Das anfängliche Mißtrauen, mit dem die neuen Mitglieder empfangen werden, geht schnell in allgemeines zustimmendes Freudengeschrei über, wie Popper die Lage erklärt und gleichzeitig das Vorhandensein von fünf weiteren Bonanzas bekanntgibt. Rasch sind die acht Neuen unter ihren Landsleuten heimisch. Nun erst geht Popper, von Jack freudig umkreist, in seine Hütte, wo Esperanza wartet. „Von jetzt ab geht alles seinen geregelten Gang, wir besitzen einen Kutter, er hat viele nötige und andere bequeme Dinge geladen, auch für dich, Querida. Und ich bleibe bei dir!" „Immer?" „Ja!" sagt er laut, und lauscht, ob die Stimme seiner Seele nun anfängt zu wispern. Aber sie schweigt. Glückliche Stille hält Einzug in der Hütte des Mannes, der kurze Zeit zu den reichsten Leuten des Feuerlandes gehören soll. Schnee fegt am Fenster vorbei. Stunden verstreichen, während deren zwei Menschen einander viel zu sagen und zu geben haben. Im Nebengebäude schwillt und sinkt die Unterhaltung der Goldsucher. Gesang, Gitarren- und Ziehharmonikaweisen tönen herüber. Und wieder steigt das Geschrei an und verstummt: die Gitarre bricht ab, dann werden einzelne staunende Rufe laut. 164
Gleich darauf ein Pochen an der Tür. „Colonel! Giulio! Julio! Julius!" Er nimmt sorgfältig die Hände der Frau von seinen Schultern, küßt sie und geht dann zur Tür, öffnet. „Was ist's, Giuseppe?" Aufgeregt fuchtelt der Italiener mit den Händen. „Komm! Der Beppo ist da!" „Beppo?" . . . Sie gehen in das große, niedere Gebäude. Inmitten auf ihn einschwatzender oder ihn stumm betrachtender Männer blickt Beppo ihnen entgegen. „Du? Und wo kommst du so plötzlich her?" „Von Ushuaia!" „Allein? Eine Prachtleistung, amigo!" „Coronello, ich habe allerlei zu erzählen. Und zu warnen!" „Trink erst einen Schnaps und Kaffee, oder reicht ihm eine Calabasse Maté und die Bombilla. Und gebt ihm zu essen. Stärke dich erst und dann sprich!" . . . Beppo setzt sich, stürzt den Schnaps hinunter; dann nimmt er noch einen Schluck Maté mit der Bombilla, kaut ein Stück Guanacoschinken. „Ich muß zurückgreifen! Auf damals, wißt ihr, wo ich in meiner Dummheit die Señora beleidigte. Es hat mir jeden Tag leid getan! Ich geriet unter eine Gesellschaft, die sich Prospektors nennt, aber nicht viel Mühe auf die Goldsuche anwandte. Immerhin fanden wir ab und zu ein paar Körner. Bis einer der neuen Schafzüchter — er selber ist nicht auf der Estancia, sondern meistens in Ushuaia, denn er hat Geld! — eine Prämie auf jeden toten Indio aussetzte. Fünf Pesos für ein paar Onaohren! Bei der Madonna! Da trennte ich mich von ihnen, weil ich kein Menschenjäger sein kann. Später habe ich in Ushuaia gearbeitet. Neulich saß ich im ,Albatros' und schwatzte mit der Josephina, die sich ein gutes Herz bewahrt hat. Da kamen plötzlich jene herein. Alle betrunken. Sie schluckten und gossen noch mehr die Kehlen hinab und sprachen dazwischen manchmal ziemlich laut. Mich hatten sie 165
gar nicht gesehen. Und ich hörte, daß sie die Menschenjagd aufgeben wollen, die Onas seien nicht mehr so vertrauensselig und wehren sich tapfer! — und sie, die Prospektors, wollen euch überfallen, warteten nur noch auf Zuzug. Insgesamt werden sie an die dreißig Köpfe zählen!" „Uns überfallen? Woher wissen sie, wo wir stecken?" „Bei einem Streifzug haben euch ein paar entdeckt und heimlich beobachtet. Und gesehn, daß ihr Gold aus dem Wasser holt, und euren Jubel gehört. Sie beabsichtigen, wenn viele von euch unbewaffnet im Wasser arbeiten, plötzlich über euch herzufallen und schon mit der ersten Salve die meisten zu erledigen . . . " Atemlos lauschen sie dem Italiener. „Wann kommen sie?" Er zuckt die Achseln. „Qui lo sá? Aber ich rechne, ungefähr ab nächster Woche. Sie waren noch lange nicht bereit, als ich aufbrach. Die Josephina, die ein gutes Herz hat und die ich, wenn die Heiligen es gestatten, einst mit mir nach mia bella Napoli nehmen will, gab mir das Geld zur Ausrüstung. Und später haben die Indios, die mich noch kennen, mir weitergeholfen — denn ich gab ihnen manche Warnung, als ich bei den Menschenjägern war. Als ich den Indianern sagte, daß euch Gefahr droht und ich euch vor den Ohrenabschneidern warnen müßte, brachten mich zwei bis einen halben Kilometer von hier. Sie tauchten zurück ins Schneegestöber, und nun bin ich hier. Und bei der armen Seele meiner Mutter! Ihr könnt mir Glauben schenken! . . . " Beschwörend schaut er in die Runde. Die Männer nicken, gestikulieren, murmeln und schweigen sofort wieder, als Popper spricht: „Du warst nie schlecht, Beppo. Und was damals geschah, ist vergessen; weder meine Frau noch ich haben dir's richtig übelgenommen, zumal" — er lächelt — „du ja nun später mit der Josephina nach Italien heimwillst. Das könnte sogar bald geschehen, Beppo, amico mio, denn ich weiß, daß ich jetzt für alle spreche: du bist wieder ein vollberechtigtes Mitglied unserer Genossenschaft! — Und jetzt ruh' dich aus und 166
unterhalte dich mit den andern. Ich muß zu meiner Frau zurück, sie war lange einsam, weißt du . . . " Er schlägt ihm freundschaftlich auf die Schulter und geht, umbrandet von lauten Rufen: „Evviva! Bravo!", nach der Tür. Draußen herrscht dichtes nasses Flockengestöber . . .
Winter . . . Winter! Der ewig unruhige Ozean gefriert hier nie, nur am flachen Baiufer entsteht eine blanke dicke gerillte Kruste; schwimmende kleine Eisschollen, von der Gewalt der Wellen emporgeschoben, bilden einen schrägen Wall. Blendendweiß erstreckt die Pampa sich, und der Himmel ist einförmig grau oder voll dunkler schwarzbrauner Wolken, die schneegeladen und sturmgetrieben über die Bai jagen. Es gab auch Tage, die ganz still waren. Dann spannte sich der Himmel so blau wie Seide aus, die Sonne lag darauf wie ein weißgoldenes Geschmeide, und der Schnee glitzerte gleich Diamantsplittern. Oder es spielte seine dröhnende Orgel das blauschwarze Meer, über das cremefarbene Streifen und Schaumkronen laufen und das von bunten Prismen überwoben und von blitzend hochgeschleuderten Tropfenschauern wie mit Perlen behängt ist. Die Mitglieder der „Sociedad del Paramo" müssen oft Wochen hintereinander am warmen kohlegefüllten Ofen verbringen, wo die einen ihrem früheren Handverkerberuf nachgehen, die andern irgend etwas basteln. Fast jedes Handwerk ist vertreten, und alles kommt der zunehmenden Bequemlichkeit der Heimstätten zugute. Auch sind frühere Fischer und Taucher unter ihnen, die sich rasch umgestellt haben und, anstatt ihre Netze und Leinen in die blauen Gewässer der Adria oder des Mittelmeers zu versenken, nun hier auf Feuerland in der Pinguinbucht, wo die „Ultima Esperanza" still schaukelt, mit Speer und dreizackigem Elker die schimmernden, oft meterlangen Schuppenträger erlegen. 167
Sogar ein früherer Arzt ist unter den Goldwäschern, der schon manche Verletzung oder Krankheit erfolgreich kurierte. Wenn die Bai nur verhalten grollt und ihre Wogen sanfter gegen den Eiswall anrennen, dann hält keine Macht der Erde die Männer von Paramo davon ab, mit den hohen Seehundslederstiefeln in das kalte Element zu waten und die nackten Ellenbogen und Schultern einzutauchen, um ihm das gelbe Gold zu entreißen . . . An sechs Stellen, die ganze Bai entlang, wird so gearbeitet. In Pyramiden stehen die Gewehre, immer griffbereit, große Kohlenfeuer brennen zum Wärmen, und ein straffer Kundschafter- und Wachdienst wurde von Popper organisiert, den die Männer nie vernachlässigen. Die Banditen, die Beppo angemeldet hat, sind zwar nicht, wie man sie erwartete, erschienen; sicher blieben sie des Winters wegen noch in Ushuaia und Yendegaia. Eines Nachts oder Tages aber kommen sie, ganz bestimmt. Das weiß jeder einzelne in El Paramo. Stetig und ohne Abnahme schenkt ihnen unterdessen der Ozean seine Schätze. Jeden Abend wird die Ausbeute gewogen; und immer fiebriger oder, je nach Charakter, zufriedener strahlen die Augen der Männer. Wo der Kutter in der Mitte ankert, ist die Pinguinbucht nie zugefroren; sie hat zuweilen höchstens eine ganz dünne Eisdecke, die schon vor dem leichten Bootskiel klirrend zerspringt. Auch die Ausfahrt bleibt frei; und so fuhr denn die „Ultima Esperanza", von echten Seeleuten gesteuert, schon mehrmals nach Punta Arenas oder Ushuaia. Zwei Montenegriner, die es vor Heimweh nicht mehr aushielten, wurden in Punta bei Abraham Braun ausbezahlt, und das Bekanntwerden der stattlichen Summen, die jene erhielten, brachte die Stadt am Ende der Welt abermals in Aufruhr und außer Rand und Band. Verwilderte Abenteurer sitzen in den Kneipen, stecken die 168
Köpfe zusammen und schmieden dunkle Pläne, und mehr als eine Expedition ist allen Schneestürmen und Strapazen, die auf sie warten, zum Trotz aufgebrochen — mit dem nun jedermann bekannten Ziel : die San-Sebastians-Bai . . . Abie Braun, der von Popper einen Geheimauftrag erhielt, schüttelt den Kopf und murmelt: „Gott der Gerechte, was will er machen mit fünfzig Uniformen, die ich soll kommen lassen aus Buenos? Will er gründen ä grauße Armee?" Auch sechzig Pferde soll er besorgen und bis Anbruch des guten Wetters bereithalten. Der letzte Auftrag verursacht keine zu großen Schwierigkeiten, denn die Estancias auf Patagonien und die „Sociedad Explotadora de Tierra del Fuego" haben genügend Tiere. „Ist er ä gewaltiger Mann! Aber was will er nur beginnen mit de Uniformen! Und geheim soll ich's halten vor de Laite!" sagt Araham zu seiner guten Frau Sarah, die ein Kindchen wiegt und dazu leise ein polnisches Schlummerliedchen summt . . . Drüben, in Ushuaia, spricht zur selben Stunde der Gouverneur zu Don Ramón Lista: „Dieser Popper macht Einkäufe wie ein Krösus! Jetzt soll er sogar wieder seine Leute auf Guerillas einüben, habe ich gehört!" „Der Bandidos wegen, die El Paramo umlauern!" nickt der Capitan. „Mag wahr sein oder auch nicht. Ich habe den Rumänen stark im Verdacht, daß er Feuerland von Argentinien und Chile losreißen möchte. Dagewesen ist schon alles! Denken Sie an die Flibustierexpedition des William Walker. 1855 versuchte er mit fünfundfünfzig Abenteurern Nicaragua zu erobern und sich dort als Diktator festzusetzen. Und hätte beinahe Glück gehabt. Erst 1860 wurde er endgültig erwischt und füsiliert!" „Feuerland ist nicht das an Früchten und Lebensmitteln reiche, tropische Nicaragua; auch hat sich seit damals die Welt verändert. Mit fünfzig Mann — mehr hat Don Julio nicht — könnte er nie und nimmer diese große, wilde, unwegsame Insel erobern 169
und halten. Noch nicht einmal Ushuaia. Und hier müßte er doch anfangen!" „Wenn er heimlich die Werbetrommel in New York, New Orleans und andern amerikanischen Häfen rührt, so strömen ihm sämtliche Abenteurer der Welt zu. Um die zu kriegen, dazu gehört nur Geld. Und was man hört — Abraham Braun drüben ist ja sein Vermögensverwalter und Generalagent für Punta Arenas, Buenos Aires, Valparaiso und Santiago, und das ganz offiziell und einwandfrei —, das klingt, weiß Gott, erstaunlich. Diese Goldfunde müssen ja märchenhaft sein! Eigentlich sollte man eine Steuer einführen — ich habe bereits den Vorschlag in der Hauptstadt erörtern lassen." „Erstens ist Popper viel zu intelligent, um je einen hirnlosen Flibustierstreich auch nur zu träumen, und zweitens sind seine anscheinend unerschöpflichen Goldfunde der beste Garant, daß er es nicht versucht. Er und seine Freunde müßten närrisch sein, wenn sie eine ergiebige Bonanza plötzlich liegen ließen, um die Eroberung von Feuerland zu versuchen, Señor!" „Sie mögen die Wahrheit treffen, Don Ramón, aber ich habe doch einige Sorge, daß dieser sogenannte Coronel uns noch manche harte Nuß zu knacken aufgeben wird. Na ja, warten wir es ab . . . Jetzt aber erst einmal zum Wichtigsten: Ihren letzten Bericht über die Onas, bitte!" Der Offizier macht ein finsteres Gesicht: „Ich habe neulich wieder ein Versetzungsgesuch nach Buenos Aires geschickt! Die Geschichte mit den Indios gefällt mir absolut nicht. Alle militärischen Maßnahmen ruhen, des kalten Wetters wegen, jetzt so ziemlich, aber die Onas haben schon sehr beträchtliche Verluste erlitten, werden mehr und mehr konzentriert, und dann kann man sie nach Belieben zusammenknallen. Das soll doch der Zweck der Sache sein und ist nach meiner Meinung eine verdammte, höllische, unwürdige Schweinerei!" „Die Wilden haben schon manchen Weißen und eine ganze Anzahl Ihrer Soldados getötet!" 170
„Sollen sie etwa stillhalten und sich nicht wehren? Dann wäre der Skandal ja noch himmelschreiender! Ihre starken Pfeile sind unfehlbar und noch auf hundert Meter absolut tödlich, zugegeben — aber unsere Gewehre wirken auch noch auf tausend Meter fatal. Ein unfairer ,Krieg', wenn man diese Gemetzel überhaupt so bezeichnen darf. Ich bitte Sie, Señor, veranlassen Sie wenigstens, daß ein gewisser Estanciero — Sie wissen genau, wen ich meine! — die Prämien auf Onaohren einstellt. Sämtliches Gesindel auf Feuerland — und wir haben, wie Sie zugeben müssen, allerhand Gesindel hier — verlegt sich darauf, aus dem Hinterhalt und mit sicherem Erfolg, bequem Indianer abzuschießen. Und sich nachher das Geld dafür zu holen . . . " „Offiziell ist mir nichts davon bekannt. Wird auch übertrieben sein. Und Sie wissen selbst, daß zehn Schritt hinter den letzten Häusern alle Gesetze sofort aufhören. Die Provinz Tierra del Fuego ist noch im Werden begriffen!" „Soll aber nicht auf Indianerohren aufgebaut werden. Sie brauchen dem betreffenden Señor nur einen deutlichen Wink zu geben und, wenn er dann nicht hört, ihm die Bodenkonzessionen wegzunehmen!" „Kann ich nicht, meine Befugnisse reichen nicht so weit. — Um Sie aber zu beruhigen, amigo: Es sind bereits ernsthafte Bestrebungen in Buenos Aires und Santiago de Chile im Gange, um die Onafrage friedlich zu regeln. Man spricht von Salesianermönchen, die damit betraut werden!" „Ja, auf einmal, weil die Öffentlichkeit durch die Zeitungen auf jene zum Himmel schreienden und stinkenden Untaten aufmerksam wurde, die im scheinbaren Auftrag von Fortschritt und Zivilisation von einigen Banditenhorden gegen die Indios verbrochen werden. Jetzt aber dürfte es schon bald zu spät sein!" „Und wissen Sie, wem die Öffentlichkeit von Südamerika besagte Nachrichten verdankt, diese sicher stark übertriebenen Berichte von den — wie die Presse es nennt — ,Onagemetzeln'? Ich weiß aus sicherer Quelle — denn der Informator der Zeitungen 171
wollte und will gar nicht inkognito bleiben: es ist ihr Freund und Schützling, der Coronel Don Julio Popper. Er scheint nebenbei also auch noch ein gewiefter Journalist zu sein!" „Caramba, das sieht ihm gleich! Wenn ich ihn wiedersehe, muß ich ihn beglückwünschen! Das ist ein Mann!" „Fast könnte man ja meinen, Don Ramón, daß Sie ein Gegner Ihrer eigenen Regierung sind!" spricht der Gouverneur scharf. „Excellencia vergessen sich! Ich sehe nur die Art, wie man bisher mit den Onas wegen ihrer aus Not stattfindenden Schafdiebstähle verfährt, als grundfalsch und als eine offene Schande für Argentinien und Chile an. Und ganze Länder für das verantwortlich zu machen, was einige schuftige Holzköpfe auf dem Kerbholz haben, das darf nicht sein. Und so denken, davon bin ich fest überzeugt, Hunderttausende und Millionen, ja die allermeisten Menschen in beiden Republiken . . . Im übrigen bin ich Soldat und gehorche meiner Regierung, die übrigens auch nicht über die wahren Zustände, die hier herrschen, informiert ist!" „Und deswegen werden Sie auch, sowie das Wetter es erlaubt, mit der Truppe eine neue Strafexpedition gegen die Onas antreten. Es liegen authentische Berichte vor, daß eine Gruppe Goldsucher von den Onas neuerdings durch Pfeilschüsse ermordet wurde. Solche Dinge heischen Sühne!" „Wahrscheinlich waren diese Pfeilschüsse aber auch nur eine Vergeltung; weil die Señores Caballeros de la Fortuna, die noch nicht einmal Argentinos oder Chilenos sind, vorher etliche Onaweiber geschändet hatten, wurden sie von deren Männern mit Pfeilen gespickt. Einige Schufte weniger auf Feuerland, Señor. — Selbstverständlich führe ich Ihren Befehl aus!" Der Offizier erhebt sich, ohne seine schlechte Laune zu verbergen. „Don Ramón, glauben Sie mir, es ist unsäglich schwer, hier die oberste Macht zu repräsentieren. Ich bin auch nur eine Puppe der Ministerien im weitentfernten Buenos Aires; und wie oft die Ministerien in unserm, in seiner innern Struktur noch nicht gestärkten 172
Lande wechseln, wissen Sie ja selber. Und auch ich will Gott danken, wenn den Onas auf andere und friedliche Weise beizukommen ist. Aber vorläufig haben wir unsere Befehle!" Don Ramón streckt, durch die Worte wieder versöhnt, dem andern die Hand hin. Dieser lacht leise: „Aber gegen den Coronel Don Julio hege ich nach wie vor all erstärkstes Mißtrauen." „Sie tun ihm wirklich Unrecht, Excellencia!" Der Gouverneur will eben antworten, da dröhnt ein tiefes lautes Tuten durch die Stille des grauen Hafens. „Die ,Corrientes' läuft ein! Ich erwarte Depeschen! — Sie entschuldigen mich vieltausendmal, Don Ramón, aber jetzt muß ich meine Sekretäre instruieren. A Dios!" „A Dios, Don Rafael! Und gebe Gott, daß die Onafrage durch die Ankunft des Dampfers in ein neues, besseres Stadium tritt!" wünscht der Offizier laut. Und geht.
Wilde In dem durch die Frachtfahrten der „Ultima Esperanza" behaglich ausgestatteten Häuschen, das ein Spaßvogel „Herrenhaus del Paramo" oder die „Casa de los Señores" taufte, sitzt Esperanza im Lehnstuhl. Ein Lächeln legt warmen Glanz auf das weiße Gesicht. Sie schaut auf die Handarbeit, läßt die Stricknadeln klappern und summt ein kleines Liedchen. Wie es die jungen Frauen an der sandigen öden Salpeterküste singen, wenn . . . Rote Wärme strahlt der Ofen aus, goldenen Schimmer zieht die Lampe, und hinterm Fensterglas steht dichter Feuerlandnebel wie eine weiche Wattemauer. Die Außentür knarrt, dann ein Stampfen und Schütteln. Esperanza summt weiter. Nun öffnet die Innentür sich, und Julio, der den Schnee abgeschüttelt hat, bringt kalten Luftzug herein. „Que tal, Querida?" Er schleudert die hohen Stiefel von den Füßen, schlüpft dann in die am Ofen warmgestellten Mokassins. 173
„Was machst du denn, Esperanzita?" fragt er freundlich und gießt sich Kaffee ein, trinkt in langsamen Schlucken. „Du brauchst doch keine Wäsche zu stricken, Kind! Seit wir reich wurden und die schönen, warmen Wollsachen aus Buenos Aires geliefert erhalten, ist das doch unnütz. Laß sehen?" Er tritt näher. „Aber, das ist ja — Esperanza!" „Für unsern Sohn. Denn ein Junge soll es werden!" erwidert sie und schaut ihn stolz und voll natürlicher Freude an. „Sagst du gar nichts, Julio?" Lange betrachtet er sie, dann spricht er: „Du kennst mich und weißt, daß ich zuweilen, wenn ich's für richtig halte, nicht sprechen kann. Meine Gedanken aber kannst du am besten lesen. Du!" Glücklich und froh strahlen die Augen, sein gebräuntes, gesundes, jetzt von der Kälte gerötetes Gesicht ist hell. Er beugt sich über die Frau und streichelt leise ihr Haar. Sie nickt zufrieden. „Du, sag, wie soll er heißen? Ich möchte ihn Julio II nennen!" Nun muß sie lachen. „Bueno! Aber das ist zu wenig. Wir wollen ihn Julio Ultima Esperanza heißen!" „Ist das nicht ein böses Vorzeichen? So nennen doch viele, wenn sie sich am Ende dünken, dieses Land. Letzte Hoffnung!" „Ein gutes Omen, Muchacha. Ich war auch fast bei der letzten Hoffnung, ehe ich El Paramo entdeckte. Und heißt nicht unser Schiff, das doch ein gutes, braves ist, ebenso? Und ist dein Name nicht Esperanza?" „Bueno, bueno, du erklärst das gut. Also bin ich einverstanden." Besorgnis liegt in den Worten: „Willst du nach Punta Arenas, Ushuaia oder auch Buenos Aires oder Valparaiso? In die Klinik, meine ich!" „Wenn du mitkommst, dann ja!" „Unmöglich, Niña. Unsere. Sociedad würde sich auflösen, wenn ich einmal längere Zeit fortbleibe. Nach Punta oder Ushuaia ja, aber nicht weiter." „Bueno, dann bleibe ich hier bei dir in El Paramo. Das war 174
sowieso meine Absicht. Mit Niki Pasic habe ich schon alles nötige besprochen. Er hat in einer Belgrader Klinik als Assistent gearbeitet, und ich habe Vertrauen zu ihm!" „Gott sei Dank! Eine Trennung würde mir jetzt schwer werden!" Sprunghaft ändert er das Thema: „Sag, soll ich dir ein Klavier oder einen Konzertflügel kommen lassen, als Zeitvertreib?" „Ich kann ja doch nicht darauf spielen. Gitarre ist mein Instrument, und auch die spiele ich nur schlecht!" lacht sie wie ein frohes Kind. „Du, erzähl, habt ihr heute wieder Gold gewaschen, bei dieser Kälte?" „Reichlich. Und keine Abnahme zu merken. Stell dir vor: mit dem, was schon in den Banken liegt, und der bisherigen Ausbeute, die im Lagerhaus ist, haben wir heute schon zusammen viele Hunderttausende Dollars. Keine Pesos! Weißt du, manchmal ist mir richtig bange, und ich habe ein Gefühl wie der alte Polykrates!" „Wer ist das, Julio?" Er lacht, erklärt ihr dann die mythologische Sage der Griechen. „Nun, da mußt du eben jetzt einfach einen kleinen Beutel voll Goldkörner ins Meer werfen!" rät sie fröhlich. „Und morgen kommt der Beppo und bringt dir seinen schönsten Fisch. Und wenn du ihn aufschneidest, findest du den Beutel in seinem Magen. Und was dann?" „Du mußt doch den Beutel vorher aufmachen, du kluger Coronel Julio!" „Scherz beiseite, ich werde jemand bitten, daß er dir von nun an bei der Hausarbeit hilft!" sagt er ernst. Energisch antwortet sie: „Ja, und laß auch gleich eine Zofe kommen, damit sie mir beim An- und Auskleiden hilft. Du, untersteh dich! Ich mache meine Arbeit vorläufig weiter, und den Zeitpunkt bestimme ich, wenn mir jemand zur Hand gehen kann. Ihr Männer müßt Gold waschen!" In ihren großen Augen steht eine plötzliche kindliche Frage, die nun der Mund zögernd ausspricht: „Aber, wenn wir später mal wirklich nach Buenos Aires fahren, 175
dann mietest du mir, solange wir dort bleiben, wirklich eine Kammerfrau. Ich möchte probieren, wie das ist, wenn die kleine arme Esperanza von der Iquiqueküste wie eine große reiche Principessa bedient wird und . . . " „Alles das sollst du haben!" lacht er laut. „Und einen gallonierten Diener dazu!" „Ach, es wird ja hübsch werden, aber ich weiß, daß es doch am schönsten hier mit dir auf Tierra del Fuego wird. Auf unserer Estancia, die du einrichten willst. Mit vielen, vielen Schafen und Pferden, Rindern und Gauchos." Wieder liebkost seine Hand ihr Haar. „Ich muß noch hinüber ins ,Männerhaus', mit Duprez sprechen. Er soll Aage nach Punta begleiten. Und Beppo kann auch mit. Wenn sie dann Ushuaia anlaufen, mag er seine Josephina besuchen." Er zieht trockene Stiefel über und steckt den Kopf durch den Ponchoschlitz. „Hasta mas tarde! Bis auf später! A Dios!" . . . Die Besprechung im Männerheim nahm wenig Zeit in Anspruch. Und Popper wollte gerade wieder zurückgehen, als einer der abgelösten Wachtposten hereinkam, zu aller Erstaunen einen Indianer bei sich. Das ist ein riesiger Kerl, nur in ein Guanacofell gehüllt, das die eine Schulter, Brust und Hüften und teilweise die Oberschenkel bedeckt, an den Füßen Mokassins; in der starken Rechten hält er den großen, sorgfältig geglätteten Onabogen. Frei und stolz blicken die dunklen Augen unter dem über der Stirn abgeschnittenen und mit einem Fellstreifen zusammengehaltenen Haar. Voll Würde hebt er grüßend den Bogen. „Hoi, Don Julio! Buenas tardes, amigos!" Der Indianer spricht spanisch, und ohne Ermüdung oder, da er aus der Kälte gekommen, ohne nach dem Feuer zu verlangen, redet er weiter, während kleine Eisklümpchen von seinem Fell schmelzen. „Morgen abend kommen böse Bandidos, die viele Onas ermordeten und ihnen die Ohren abschnitten. Es ist lange Krieg zwischen den Weißen — nicht mit euch! — und den Indianern, und die Weißen schießen weit. Indianer nur Pfeile. Viele, viele Onas" — er brei176
tet die Arme aus: „Viele, viele, sage Tausende Onas, bereits totgeschossen oder verhungert. Böse Bandidos aber diesmal kommen, um El Paramo zu überfallen. Alles umbringen, weiße Frau und Gold mitnehmen, stehlen!" Der Indio schweigt. Die lebhaften Südländer umringen ihn, reden auf ihn ein, ein paar laufen nach den Gewehrständern. Popper weiß, wie man mit den Onas am besten umgeht. Seine Handbewegung schafft Stille. „Eile mit Weile, Freunde! Ich habe gehört, daß jene Banditen erst morgen erwartet werden können! — Nimm Platz, Bruder, iß und trink, was man dir vorsetzen wird. Du bist müde!" Der Ona sinkt in die Hocke. „Tschaluak niemals müde. Einen Tag und eine Nacht wie ein Wolf laufen. Viel Schnee und Sturm und Nebel, aber Tschaluak schläft gut in Schneewehe, dann er weiter hierher. Nicht müde, aber er hat Hunger!" Er fällt über das geräucherte Fleisch her, schlingt wie ein Wolf. Trinkt ein Glas Pisco und viel heißen Maté. Die Augen der Männer beobachten ungeduldig sein Tun. Endlich klopft er befriedigt auf seinen prallgewordenen Bauch. „Gib Tabak!" Und er steckt eine Portion davon zum Kauen in den Mund. „Tschaluak meint also, daß die Mörder nicht vor morgen abend hier sein können?" „Brauchen lange Zeit. Viel Schnee und Kälte für Weiße. Morgen abend eintreffen. Nicht früher. Tschaluak hat einen von ihnen auf dem Herweg mit Pfeil erschossen und wird einen zweiten nachher, wenn er an ihnen vorbeikommt, töten." „Wie viele sind es?" Der Ona hebt beide Hände hoch, schüttelt sie fünfmal. „Fünfzig?" Er nickt. „Haben alle Flinten und manche auch noch kleine kurze Gewehre am Gürtel. Und haben nicht mehr viel Proviant." Elastisch springt er auf. „Tschaluak wieder fortgehen, Luft in Haus machen Ona krank. Er weiß, daß die Freunde ihin hier177
behalten wollen, aber er wenig Zeit, muß zu den Seinen zurück. Soldaten wieder von Ushuaia unterwegs. Viel Soldaten. Schießen Onas tot. Tschaluak will mit den Seinen sterben. — Jetzt gebt Tabak und Mundvorrat!" . . . „Und diese herrlichen Kerle bringt man um!" ruft jemand im Hintergrund. Der Ona erhält soviel Tabak, daß er vor Vergnügen lacht und die nächsten ihm erreichbaren Hände drückt. Man steckt ihm Proviant zu, soviel er tragen kann. „Hoi, Don Julio! Adios, adios, amigos!" grüßt er und schwenkt den Bogen. Jemand öffnet die Tür für ihn, da er den Mechanismus der Klinke nicht begreift. Und dann ist der Indio im dichten kalten Nebel verschwunden . . .
Banditen . . . Nebel, feucht und klammig, dick wie Watte; dahinter, unsichtbar, donnert dumpf das Meer. Eis klirrt leise am Strand. Durch schmale Fensterschlitze spähen bewaffnete Männer. Der Atem geht scharf, leise tropft Lachen dazwischen, Pulverdampf wallt in blauen Wolken unter der Decke des großen Gemeinschaftshauses. Draußen hallt ganz dünn der Schrei unsichtbarer Albatrosse, die über der Bai im dichten Dunst gespenstisch schweben. Orangefarbene Feuerblumen blühen sekundenschnell allerorts um das Haus auf und erlöschen mit dem Krachen der Gewehre. Graue Schatten, fast wesenlos, huschen über knisternden Schnee. Dann eine Stimme, laut vernehmlich: „Vorwärts, macht Schluß mit ihnen! Schlagt die Tür ein, lustig, hussah! Heut' noch wollen wir uns sattessen, saufen und um Gold würfeln! Drauf, ihr Burschen! — Und wenn einer das Weibsbild anrührt, dem laß ich den Nebel in den Bauch! Die gehört mir, ich kaufe sie von meinem Part. Drauf!" . . . 178
Aus dem grauweißen Nebel kommen diese drohenden Worte, laut und dennoch echolos und geborsten. Ein wildes Lachen, und wieder knirscht der Schnee, die verschwommenen Schatten huschen näher. Doch der Nebel verschluckt sie abermals. Das Geschieße geht wieder los, in langer regelmäßiger Folge. Matt blitzen die roten Feuerblüten aus Flintenläufen, dumpf klatschend bohrt sich Blei in die Holzverkleidung des Hauses. Als Antwort zuckt es aus schwadenumhüllten Fensterscharten; jeder Schuß zerreißt die dichte Atmosphäre, die sich sofort wieder schließt. Trappeln und Schleifen, keuchende Atemzüge. Ein jäher Todesschrei und das Geräusch eines in den Schnee fallenden Körpers. Mehr Schüsse; zornig, im Stakkato. Dünnes Wimmern, dann die Stimme: „Juanito hat's erwischt. Tragt ihn nach rückwärts. Verdammt, jammere nicht so, sonst kriegst du von mir den Quietus!" Pause: nur das tiefe Rauschen und Dröhnen; helles kaum vernehmbares Klirren und Vogelruf von der Bai. Im Gebäude lauern die Männer an den Schießscharten. „Sie werden einen richtigen Sturm versuchen. Die uns zugedachte Überraschung schlug fehl, und dafür haben wir den Onas zu danken, sonst wären wir jetzt alle nicht mehr am Leben!" sagt der Colonel. Esperanza verteilt heißen Kaffee. „Ob Aage und Beppo den Kutter halten, falls die Schurken den Hafen entdecken?" „Klar! Boote haben sie nicht, Holz zum Floßbauen gibt es dort auch nicht, und die beiden würden sie schon gar nicht herankommen lassen. — Nun begreife ich, warum du Guerillas aus uns gemacht hat, Julio. Es gibt ein sicheres Gefühl, wenn man weiß, wie man sich benehmen muß!" „Wann glaubst du, Julio, daß Gerard und seine Schar den Burschen in den Rücken fallen?" „Sie liegen längst in der Nähe im Schnee und warten, bis der 179
Nebel hochgeht. Sonst könnte es vorkommen, daß Freund auf Freund schießt. — Still! Geht's wieder los?" Draußen dringt eine Stimme ganz matt durch die unbewegliche kalte Nebelwand: „He, schießt nicht. Parlamentär!" „Gebt acht, es ist 'ne Finte!" warnt Duprez einige, die dichter vor die Öffnungen traten. „Kann man mit euch reden?" „Was wollt ihr denn?" Die Stimme ist nun nahe, aber der am Fenster Spähende sieht niemand. Nur grauweiße, unbewegliche Nebel. „Rede!" fordert er auf. „Hört, wir sind fünfzig Männer, abgerechnet die paar, die ihr umgelegt habt. Wir sind zum Äußersten entschlossen, denn — das wollen wir euch ruhig anvertrauen — unser Proviant ist alle!" „Dann hättet ihr euch besser ausrüsten sollen!" lacht der Colonel. Draußen ertönt auch leises Lachen. „Sind Sie's, Don Julio? Daß Sie Humor haben, ist bekannt, aber ihr braucht uns eigentlich nicht zu verhöhnen. Um so schlechter geht's euch nachher!" „Sollen wir euch etwa umarmen und mit Musik bewirten?" „Etwas Ähnliches!" lacht der unsichtbare Bandit draußen. „Versprecht uns genügend Proviant für den Rückmarsch und die Hälfte des Goldes, das ihr liegen habt. Dann ziehen wir ohne weiteren Schuß ab!" „Ihr seid recht bescheiden und haltet uns für verrückt. An unserer Festung könnt ihr euch wochenlang die Köpfe einrennen. Und mit Feuer könnt ihr auch nichts machen, weil das Holz nicht ohne weiteres brennt, amigo!" „So, meint ihr? Wartet nur, wenn der Nebel hochsteigt, dann machen wir Hackfleisch aus euch. Und lassen keine Seele leben von euch Kerlen. Und das Weibsbild, deine Señora — hörst du, Don Julio? — die behalte ich erst mal einige Tage für mich, ehe ich sie an die andern weitergebe. Vielleicht würfeln wir auch um sie!" schreit der andere wütend. Eine Freundeshand riß Popper zur 180
Seite. Draußen blitzt es auf, und die Kugel saust durch die Scharte, wo er eben noch stand. Sie klatscht in die gegenüberliegende Wand. Und wieder beginnt das Scharren, Trappeln und Gleiten und Keuchen draußen, und im Halbrund um El Paramo zucken die Mündungsfeuer, und aus den Scharten knallt es antwortend. Plötzlich tritt Stille ein, durch die ganz leises, sich entfernendes und dann ersticktes Ächzen und Jammern sickert . . . „Acht Tage Nebel! Ausgerechnet jetzt!" „Laßt gut sein, es wird bald aufklären, ich hab' heute früh schon gerochen, daß es anders kommt, und unsereins hat durch lange Erfahrung 'ne Nase dafür!" verspricht Börre. Esperanza schenkt die Becher wieder voll. Draußen im Nebel lauern unsichtbar Mörder und Plünderer; und hinter ihnen, ebenso unsichtbar, wartet Gerard mit der Hälfte der Männer von El Paramo seit acht Stunden auf den günstigen Augenblick. Und hinterm Strand, unsichtbar, dröhnen und orgeln die Atlantikwogen in die Bai, und kreisende, schwebende Albatrosse schreien ihre Herausforderung in die windstille, undurchdringlich wallende Nebelwelt. Stunden vergehen, die mit Spannung, Ahnungen, Wünschen, stummer Wut, mit Mordlust, Furcht und Golddurst die Gebäude umlagern, durch die Fensterscharten sich einschleichen und die Verteidiger unruhig machen. „Horch!" Der Däne hebt die Hand. Es war nichts. Nur der Ozean und die Vögel . . . „Seid ihr denn taub?" Angestrengt lauscht alles. Und wächst nicht das Grollen der Wasser, ist es nicht weniger dumpf, und wurden die Albatrosstimmen nicht fanfarenhell und scharf? . . . „Die Brise kommt. In 'ner halben Stunde ist der Nebel weg, und auch die Banditen, die noch laufen können, werden sich auf den Weg machen! Schaut nur, aber paßt gut auf. Dies ist der Moment, wo sie uns überraschen können, ehe Gerard sie überrennt!" 181
Arbeitsharte Hände umklammern Karabinerkolben, scharfe Augen spähen vorsichtig durch die Fensterschlitze und sehen, wie die unbeweglichen Dünste nun in schwerfällig plumpfließende Bewegung geraten und immer durchsichtiger werden. Man hört jetzt deutlich das Meer lauter brausen und die Vögel schrill kreischen. Graue Umrisse bewegen sich, eine Stimme brüllt Befehle, und die Gestalten verschwinden wieder in Deckung. Unaufhörlich wogen die Nebel; sie sind nun lange Schleier, winden sich weiter und steigen gleichzeitig dampfend nach oben. Es wird heller, und plötzlich peitschen Schüsse, Mündungsfeuer zucken wieder, und ein Bleihagel klatscht gegen das Gebäude, sirrt und schrillt durch die Öffnungen. „Leg dich auf den Boden, Esperanza, rasch!" „Los!" hört man draußen schreien, „schlagt die Tür der alten Bude ein! Steckt die Läufe durch die Schießscharten und gebt ihnen die saftige Hölle! Und dann hinein und holt ihnen die Kaldaunen raus!" Deutlich erkennbar sind nun die Feinde, wie sie auf die Füße schnellen und in Zickzacksprüngen herankommen. Sie schreien, brüllen wie Irrsinnige. Sie schießen von der Hüfte aus und vergeuden so nur ihre Munition. Ein paar machen Luftsprünge, schlagen dann aufs Gesicht und rühren sich nicht mehr. Zwei krümmen sich, kriechen langsam zurück; hinterlassen rote Spuren auf weißem Schnee. Und nun sind die andern heran, Axtschläge donnern gegen die Tür, heißes Blei fegt durch die Scharten, und im Nu ist der Raum so dicht mit Pulverdampf erfüllt, daß die Verteidiger aufhören müssen zu schießen. Julius hat sie nicht umsonst gedrillt; sie warten und lauern. Und nun geschieht draußen das Ereignis, auf das sie gehofft haben. Im Rücken der überraschten, jetzt dichtgeballten Angreifer knallt eine Salve, noch eine und dann die dritte, und tödliches Blei hält schreckliche Ernte. Die Banditen sind keine Angreifer mehr und denken, von jäher 182
Mordlust in Selbsterhaltungstrieb überwechselnd, nur noch an Flucht. Aber wohin? Gerard und seine Männer kommen jetzt in dünner, auseinandergezogener, fächerförmiger Schützenlinie auf die vor Schreck und Wut aufheulenden Kerle losgerannt, und auch sie schießen von der Hüfte. Aber sie treffen meistens. Gleichzeitig fliegt die Tür auf. Popper stürzt mit den Seinen heraus. Und Jack fliegt dem ersten Banditen an die Kehle. Pistolenschüsse knallen, und Poppers mächtige Stimme übertönt alles: „Tut, was sie uns tun wollten! Keine Schonung! Rottet das Ungeziefer aus und laßt keinen davon, sonst haben wir die Bande bald wieder auf dem Hals. Maten! Tötet!" . . . Am Abend werden einundfünfzig Männer, die, vom gelben Goldteufel besessen, gekommen waren, um zu töten, zu rauben und zu vergewaltigen, in ein Massengrab gelegt, das man mühsam in den harten Boden der Pampa gescharrt hat. Und jemand pflanzt ein rohes Holzkreuz auf den flachen Hügel und spricht ein kurzes Gebet für die Banditen und für die überlebenden Verteidiger. Und dann gehen sie daran, acht der Ihren gesondert zu bestatten; und auch sie erhalten Kreuz und Nachruf, weil es so üblich ist in den Ländern, aus denen sie herstammen. Stumm, mit gesenkten Köpfen und schweren Gedanken nachhängend, gehen sie nach El Paramo zurück; und jeder weiß, daß der riesige Börre die Wahrheit spricht, als er sagt: „Das waren die ersten, aber nicht die letzten, die uns umbringen wollten. Und wir müssen immer darauf sehen und es einrichten, daß wir sie umbringen. Es gibt noch viel Gesindel auf Tierra del Fuego!" . . .
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Arme, arme Menschen Gewaltig schreitet der Winter, aus der nahen Antarktis gekommen, über Patagonien, Feuerland, das schwarze Kap Horn, die Meere und Kanäle. Seine Schneeböen, seine klammernden Nebel und sein Eishauch sind noch lange nicht versiegt. Er kann jedoch die Mitglieder der „Sociedad del Paramo" nicht daran hindern, sowie er nur eine kleine Atempause macht, im eisigen, plätschernden Wasser der San-Sebastians-Bai das gelbe Gold zu ernten. Die Banditenschlacht hinterließ freilich in den meisten Gemütern ihre Spuren; und nur langsam kehrt der alte Humor zurück. Als dünnes, schwarzes Mahnmal steht das Kreuz auf der flachen, weißen Pampa. Ein paar hatten wieder die Absicht, sich auszahlen zu lassen und in die ferne sonnige Heimat zu ziehn. Tags darauf, nachdem sie dieses Vorhaben den andern schon mitgeteilt hatten, wurden haselnußgroße Nuggets an allen sechs Plätzen der Küste gefunden. Und der gelbe lockende Glanz dieser abends auf dem Tisch liegenden kleinen Häufchen schlug die Auswanderer wieder in Bann. Sie bleiben . . . Im Lehnstuhl sitzt Esperanza, strickt und häkelt und summt oft jenes kleine Liedchen, das die jungen Frauen der Westküste singen, wenn sie ein Kind erwarten. Julio ist zu allen verständig, ernst und voll Geduld; und auf seiner Brust sitzen nachts keine toten Männer, die ihn anklagen. Und das schwere Kapital der Gesellschaft, die dieser phantastische Mann durch die zauberhafte Kraft seines starken Geistes zusammenholte und zusammenhielt, da sie einst mit nichts an der unwirtlichen Küste von Ultima Esperanza landeten und jahrelange Enttäuschungen durchmachten, dieser gleißende Schatz wächst und wächst ... In der Wildnis aber, weit und nah, trotz Schnee, Eis und Sturm, gehen mörderische Menschen auf die Indianerjagd, und 184
ein unwilliger Offizier und seine ebenso unwilligen Kavalleristen treiben die Onasippen immer mehr zusammen. Und viele sterben. Sterben an Pulver und Blei, doch meistens am eigenen Willen. Denn sie ergeben sich nicht. Und da Guanacos rar wurden und die Onas nicht zu den Robben und Aas verzehrenden „Fischfressern" der Yaghans gehören, leiden sie Hunger. Die sich vermehrenden Schafherden der „Compaña Explotadora de Tierra del Fuego" sind jetzt zu gut bewacht. Da legen die Onas, deren Magen leer ist, Mann, Weib und Kind, sich sippenweise auf den Schnee und warten in der Selbstsuggestion der Naturvölker auf den Tod. Milde, gütig nimmt dieser sie in sein Reich, und der Schlaf, den er auf ihre Augen streut, in ihre Glieder senkt und aus dem sie nicht mehr erwachen, ist schmerzlos und voller traumschöner Bilder, in denen es für die armen Indios saftige Pampas voll springender Guanacos und gutes Fleisch und Frieden und keine Weißen gibt . . . An einem grauen, mit spärlichem Zwielicht erfüllten Tag, aus wirbelnder Schneebö tauchen sie auf. Sie sagen kein Wort, und schwere Resignation ob ihres eigenen unbegreiflichen Leides liegt auf den breiten, eingefallenen Gesichtern; mit nackten Beinen durchfurchen sie den Schnee von El Paramo. Fünf Onasippen: zusammen an die hundert Männer, Frauen und Kinder; und alle dreiviertel verhungert. Erst als sie von den Siedlern sofort mit Fleisch und Brot gestärkt sind und heißen Maté im Magen haben, weicht die dumpfe Benommenheit von den Indianern. Etwas von ihrer früheren Würde kehrt zurück, und dankbar rauchen oder kauen sie geschenkten Tabak. Und die gesättigten Kinder, mit der Unbekümmertheit und dem glücklichen Leichtsinn der Jugend, spielen und tollen wieder im Schnee. Keiner dieser Naturmenschen ist aber zu bewegen, länger als ungefähr fünf Minuten die Gebäude zu betreten. „Der Ona braucht Luft! Wir werden uns mit den Stangen, die ihr uns gabt — denn Zweige wachsen hier nicht — und den 185
Häuten und mit Schnee unsere gewohnten Hütten bauen und davor aus den schwarzen Steinen, die ihr Kohle nennt, warme Feuer machen!" erklärt der Patriarch den neugierig-mitleidigen Männern. „Seid ihr auf der Wanderschaft?" Der Alte schüttelt den ehrwürdigen Kopf. „Nein. Wir kamen zu dir, Don Julio. Gedenkst du deines Versprechens, daß du uns Schutz geben wolltest? Nun sind wir da, und die Soldaten sind hinter uns. Sie töten uns seit einiger Zeit nicht mehr, wollen uns aber fangen. Und wir trauen ihnen nicht. Und wenn du uns nicht schützen willst oder kannst, so legen wir uns in den Schnee und warten, bis der Tod kommt, der schnell naht, weil wir ihn herbeiwünschen!" „Was ich versprochen, das halte ich, Anciano! Lebensmittel, Tabak und warme Decken, alles was ihr braucht, wird euch gerne gegeben. Und ihr sollt bleiben, solange ihr wollt und bis sich die Lage geklärt hat, por Amor de Dios! — Neulich haben Boten einer anderen Familie eures Stammes durch rechtzeitige Nachricht uns alle vom gewissen Tode errettet. Aber auch ohne dieses würde ich euch den Soldados nicht ausliefern!" „Wir begreifen nicht ganz, was du meinst. Wir verstehen nicht, warum die Soldados uns in unserem eigenen Lande verfolgen, erst töten und uns jetzt nicht mehr töten, aber fangen wollen. Aber wir wissen und verstehen, daß du anders bist und die Onas liebst!" „Sind es viele Soldaten, Anciano?" „Ja, El Capitán Ramón Lista führt sie an. Sie haben Packtiere mit und Säcke voll Körner für ihre Pferde. Der Schnee auf den Pampas ist nie tief, weil die Stürme es nicht erlauben. Die Soldaten werden morgen hier sein; falls sie nicht umgekehrt sind. — Willst du mit uns kämpfen, gegen sie? Unsere Pfeile schießen nicht so weit." „Wir werden alles ohne Kampf abmachen. El Capitan ist ein Bekannter von mir, und auch er hat ein Herz!" 186
Der Alte nickte vor sich hin. „Wir sind müde. Und gesättigt. Und stehen unter deinem Schutz, der ein guter und großer ist. Deshalb wollen wir jetzt ausruhn. Und gib dir keine Mühe, Bruder, du weißt, in euren Häusern kann der Ona nicht leben, er wird krank darin. Der Schnee tut uns nichts, er ist weich und wärmt den Indianer. Denn es ist der Schnee unseres Landes!" . . . Er legt die Hand auf die halbnackte Brust, schaut Popper tief in die Augen. Und geht dann, hochaufgerichtet, zu den Seinen. Die Frauen haben kleine Feuer entfacht; viele kriechen in die Hütten, aber die meisten dieser abgehärteten Söhne, Töchter und Kinder des kalten wunderbaren Feuerlandes legen sich einfach in den Schnee, häufen Schnee über Füße und Beine. Und schlafen zufrieden ein . . . . . . „Was wollen wir mit den armen Teufeln beginnen, Julio?" „Behalten, Aage. Ich hab's ihnen damals versprochen. Hat irgendeiner von euch etwas dagegen? Und vergeßt nicht, daß wir der Warnung neulich, die uns Onas brachten, unser Leben verdanken!" Stille. Die Männer schauen sich an. Sie murmeln miteinander. Dann spricht Niki für alle: „Keiner!" Und Gerard: „Ich denke, wir können's uns leisten, Proviant haben wir mehr als genug und können neuen holen. Was daraus werden soll, ist mir allerdings noch völlig unklar!" „Wie der Anciano sagte, kommen die Soldaten vielleicht schon morgen. Ramón Lista führt sie an. Das ist gut, denn er ist mein Freund und wird nicht anfangen zu schießen, und wir können mit ihm beraten. Irgendein Ausweg wird sich finden. Auf keinen Fall lasse ich die Indianer ins Ungewisse fortführen!" „Böse Schufte wären wir, wenn wir das gestatten, Coronello!" bekräftigt Beppo. Esperanza hat die großen schönen Augen voll Tränen. „Draußen liegen sie im Schnee. Ich habe ja genau so oder noch schlechter gelebt, als ich bei den Yaghans war, aber . . . Ach, sie tun mir leid. Arme, arme Menschen!" . . . 187
Soldaten . . . müde, förmlich hängend, auf erschöpften Pferden, deren Fesseln von gefrorenen Schneekanten zerschunden sind und bluten, so ritten die Soldaten in El Paramo ein. Sie fanden die ganze Besatzung in Waffen und auf strategische Punkte verteilt. Sie beachteten aber weder die Onas, noch schenkten ihnen diese, sicher unter dem Schutz des über ganz Feuerland und Patagonien bekannten Don Julio, einen einzigen Blick. Nur ein kleiner, schwächlich gebauter Mann, der unter pelzgefüttertem Poncho schwarzes Priesterhabit und auf dem Kopf einen schwarzen Hut trägt und der neben dem Capitan einritt, wollte sofort mit den Indios reden. Er spricht sogar fließend ihr Idiom, aber sie empfingen und behandelten ihn mit mißtrauischem Schweigen. Die Pferde bekamen ihre Maisration vorgeschüttet, und die Kavalleristen stellten auf Befehl des Anführers ihre Waffen zusammen und gingen dann ins Männergebäude, wo sie bei heißem Maté und gepfeffertem Reis bald auftauen und sich lustig, aber dennoch bescheiden benehmen. Popper führte Don Ramón und den Salesianer Padre Chrisóstomo in sein Haus. Esperanza kredenzte chilenischen Roten, nahm freundlich die ebenso freundschaftlichen Begrüßungsworte des ihr bekannten Offiziers entgegen, empfing den Segen des Priesters und zog sich dann in den Alkoven, aber in Hörweite zurück. „Wir wollen die Indios, Don Julio, amigo!" platzt Don Ramón nun heraus. „Es geschieht ihnen nichts mehr, Gott sei Dank ist man in der Hauptstadt auf die unsauberen Geschichten aufmerksam geworden — dank Ihrer glänzenden Zeitungsartikel, lieber Freund! Die Onas stehen fortan unter Naturschutz, dürfen nicht belästigt werden. Es gibt keine Ohrenjagd und kein Scheibenschießen auf Menschen mehr!" „Das ist die beste Nachricht, die ich je hörte, Don Ramón!" 188
strahlt Popper übers ganze Gesicht. Dann aber wird er wieder ernst: „Ihre Anwesenheit, Padre, ehrwürdiger Herr, bringt mich auf den naheliegenden Gedanken, daß man die Indios durch Missionare betreuen will!" „Ja, Señor!" nickt der klugblickende Salesianer. „Die nötigen Gebäude wurden bereits auf der großen Dawsoninsel errichtet, Proviant hingeschafft, und über zweitausend Onas, die zu überreden sehr mühselig war, wohnen bereits dort. Ohne behördliche Erlaubnis darf kein Außenseiter die Insel betreten, deren Pampas und Berge und Gewässer den Indios Freiheit, Schutz, Hilfe, Unterweisung und den christlichen Glauben, der ihnen aber nicht aufgezwungen wird, bietet!" „Eine wirklich schöne und menschenwürdige Idee und Aufgabe, Padre. Möge sie Früchte tragen, daß diese Indianer vor dem Aussterben gerettet bleiben. — Erlauben Sie, Don Ramón, wie viele leben eigentlich nach Ihrer Schätzung noch?" „Bueno, nebst den zweitausend, die schon auf der Insel unter Salesianerschutz weilen, mögen hier auf Feuerland noch weitere fünfhundert vorhanden sein, die sich bisher allen Überredungen hartnäckig entziehen." „Und der große, große Rest?" Der Offizier machte eine hilflos tragische Geste. „Tot. Zugrunde gegangen . . . " Eine schwere Pause entstand. Dann führte Popper die Unterhaltung auf die Entscheidung zu: „Daß es die Regierung und die hochwürdigen Missionsväter ehrlich und gut meinen, darüber besteht kein Zweifel! A b e r . . . Sie haben die draußen lagernden Onas gesehen? Gestern kamen sie an, total vom Hunger erschöpft. Und seither tun die Armen eigentlich nichts, als abwechselnd zu essen und zu schlafen. Furchtbare Zeiten haben diese unschuldigen Menschen mitgemacht. Und ich habe, wie Sie sich erinnern, amigo Don Ramón, damals den Onas Schutz versprochen, und auf den machen jene Leute draußen seit gestern Anspruch. Mein Wort soll und muß gehalten 189
werden — ganz gleich, ob einem Caballero oder einem nackten Indio gegenüber!" „Bueno, bueno, Don Julio. Ich begreife nicht recht, was Sie eigentlich meinen!" sprach gutmütig der Kavallerist. „Ich meine, daß, wenn die Indios sich vielleicht weigern, sich in den Schutz der Regierung und der ehrwürdigen Väter zu begeben — verstehen Sie doch: sie werden als einfache Naturkinder nur schwer fassen können, daß sie, nachdem sie erst getötet und verfolgt wurden und man ihre Ohren von privater Seite aus prämiierte, nun plötzlich verhätschelte Natursehenswürdigkeiten sein sollen — also wenn sie bei mir bleiben wollen, dann werde ich sie behalten!" „Das kommt ja gar nicht in Frage, Señores ! Die Indios werden froh sein, bei uns haben sie es wirklich gut!" lächelt der Padre. Don Ramón jedoch zog ein nachdenkliches Gesicht. „Von mir würde Ihnen nichts in den Weg gelegt, das wissen Sie, Don Julio. Aber ich bin nur der Kommandant meiner Truppe. Und der Gouverneur in Ushuaia, der Ihnen nicht sonderlich wohlwill, würde Ihr Tun als Aufruhr gegen die Regierungsgewalt abstempeln. Und dann würde er Militär schicken — Don Ramón Lista würde im letzten Moment sich sterbenskrank ins Bett legen, denn ich will verdammt sein, ehe ich eine Strafexpedition gegen den ehrlichsten Mann auf Feuerland anführe! — und man würde Ihnen ein Ultimatum stellen und dann würden . . . " „Die Karabiner auf beiden Seiten sprechen!" ergänzt Popper. „Señores, por Jesus Christo, wozu diese Haarspaltereien? Sie reden von Dingen, die nie eintreffen können!" warnt der Padre. „Da kennen Ehrwürden unsem Don Julio schlecht!" schmunzelt der Offizier. Plötzlich aber schlägt er sich vor die Stirn. „Da seine Exzellenz wußten, daß ich mit meiner Truppe in die Nähe von El Paramo käme — die schauderhaften Strapazen, die eine derartige Winterexpedition an Mensch und Pferd stellt, spürt er ja nicht! — gab er mir direkten Auftrag, Ihnen dieses Schreiben zu übergeben!" 190
Mit einem Klatsch fiel der längliche, gesiegelte und offiziell aussehende Brief auf den Tisch. Popper nimmt ihn zwischen die Finger, betrachtet ihn nachdenklich, ehe er ihn öffnet. „Kennen Sie den Inhalt, Don Ramón?" „Ich glaube ihn zu kennen!" „Erlauben Sie, Caballeros?" Popper überfliegt die Schrift, lacht dann schallend. „Kostbar! Meine Männer werden sich wundern! Hören Sie: von heute ab ist die Goldgräbergesellschaft angehalten, fünfzig Prozent ihrer Ausbeute als Steuer an den Staat zu entrichten!... Warum nicht gleich alles, das wäre doch bequemer!" „Das ist ja purer Unsinn!" „Meine ich auch. Ich weiß, daß bisher von Jägern und Goldgräbern hier am Ende der Welt kein Centavo Steuer bezahlt wird, und ein derartiges Gesetz gibt es noch nicht. Und fünfzig Prozent müssen nur in jedem zivilisierten Lande an den Staat abgeführt werden, wenn es sich um sogenannte vergrabene und wiedergefundene Schätze handelt. — Ich will aber gerecht sein und als erster Goldsucher auf Feuerland an den Staat meinen Obolus abführen, denn das wäre Pflicht für mich und meine Genossen. Sagen Sie Seiner Excellencia meine Empfehlung, Don Ramón, und ich würde, wie's seinerzeit in den Diggings von Australien und Californien Usus war, pro Kopf jeden Monat die Steuersumme von dreißig Pesos beiseite setzen. Das ergibt für rund fünfzig Mann pro Jahr eine nette Summe. Die ich allerdings nicht in Ushuaia, sondern direkt durch meinen Agenten in Buenos beim Finanzministerium zahlen würde. Und auch erst dann, wenn ich selbst in Buenos Aires — wohin ich demnächst reise — die Garantie durch das Gesetz erhalte, daß alle Goldsucher diese Kopfsteuer leisten müssen und nicht bloß meine. Und wenn dies Seiner Exzellenz in Ushuaia nicht paßt, dann soll er selber nach El Paramo kommen und sich das Gold holen!" „Verlassen Sie sich darauf, daß er zwar nicht selber kommt, aber Militär wird er schicken, und dann ist der Teufel los. Aller191
dings werde ich nicht dabei sein, denn ich erkranke gegebenenfalls!" brummt der Offizier vergnügt. „Esperanza! Sei so lieb, Muchacha, und unterhalte die Herren, die mich entschuldigen. Ich muß den Kameraden die groteske Nachricht vorlesen" . . . Im Männerhaus ruft er sie alle um sich herum: „Freunde! Freunde!" Und, unbekümmert um die feixend zuhörenden Soldaten, deklamiert er den Briefinhalt. Erst sind sie perplex, dann bricht ein Entrüstungssturm, unterbrochen von lautem Gelächter und Pfiffen, los. Er wartet, bis es etwas ruhiger geworden ist, erklärt dann weiter, was er zu tun gedenkt und daß er nach Buenos Aires, zur Regierung reisen und dort ihrer aller ehrliche Sache verfechten will. Sie jauchzen und brüllen ihm ihre freudige Zustimmung zu, und einmütig beschließen sie, daß der Colonel ohne vorherige Rechenschaft und nachherige Detaillierung von dem Gesamtvermögen abheben darf, soviel er brauche . . . Er läßt die Männer in eifriger Unterhaltung zurück und geht zu den Onas. Lange spricht er mit ihnen, eindringlich und verständig. Und ihm, ihrem Beschützer, der sie und ihre Nöte genau kennt und begreift und genau den Umständen entsprechend auslegt, ihm, der nie einen Indio belog oder tötet, ihm glauben sie auch jetzt. Und sie drücken verständig ihre Freude und Bereitwilligkeit aus, in Ruhe bei ihren Stammesgenossen unter der Obhut guter Salesianer leben zu wollen . . . Und so ziehen denn nach einigen Tagen des Ausruhens die Kavalleristen und die nicht mehr geschwächten, sondern wieder kräftigen halbnackten und hochgewachsenen Indios gemeinsam, friedlich und unter vielem Abschiedswinken, von El Paramo über die Pampa. Noch lange kann man sehen, wie die Gestalten langsam über den weißen Schnee kriechen, wie sie immer kleiner werden. Und dann sind's nur noch eine Reihe schwarzer Punkte, und plötzlich lösen diese sich schimmernd auf. Und die Steppe ist leer. 192
Das Lied der Caprifischer Esperanza entschloß sich, ihn nicht zu begleiten. Noch habe sie keine Sehnsucht nach den großen Städten; sie möchte ihr Kind in der Geborgenheit von El Paramo, beim Heulen des Sturms und dem Orgelton der Wogen erwarten! Aber Beppo, der soll mit! Er will sich ausbezahlen lassen und seine Josephina mit nach Neapel nehmen. „Beppo, wo steckt der Junge?" rief der Colonel gut gelaunt. „Der ist doch gerade Wachtmann auf dem Kutter, mit dem Arnauten-Ali zusammen!" antwortet einer . . . Die Pinguinbucht, in der die „Ultima Esperanza" ankert, blieb in der Mitte eisfrei; denn es herrscht eine leichte Strömung. Da tummeln sich Pinguine und Robben, ungestört durch Menschen, beim Fischfang. Andere sitzen am Strand; quäkende Sippen halten ihren Schwatz; einige stolzieren auf und ab oder meditieren. Große glänzende, feiste Seelöwen räkeln sich zwischen ihnen oder liegen verstreut auf dem festen, unebenen Eis, das vom Strand her bis an den runden, freien Teich, wo der Kutter schaukelt, im großen Umkreis und meterdick das Wasser bedeckt. Da liegen sie, schnarchen, dösen und blinzeln. So ist's hier jeden Tag. Doch heute? . . . Alle Robben verschwanden, und alle Pinguine watschelten, unter vielen Pausen, fast hundert Meter vom Strandeis ins Land. Beppo sah dies mit Staunen; er will sich nachher mit Ali über dies Phänomen unterhalten. Ali ist schon vierundzwanzig Stunden fort; er ging, um sich nach Nutrias umzusehen. Beppo steigt in den Kahn und rudert über das offene Wasser bis an den dicken Eisrand, wo sie eine Stange eingeschlagen haben, die gleichzeitig als Leiter zum Erklimmen des dicken Eises und zum Festhalten des Nachens dient. Er klettert hinauf und schlittert langsam, ziellos über die schlüpfrigen Zacken und runden Hümpel. Er schlürft die gute scharfe Luft nach dem trefflichen Frühstück und spürt, daß die Bewegung ihm wohlbekommt. 193
Madonna! Wo die Robben nur sind! Und wie merkwürdig die komischen Pinguine sich benehmen! denkt er. Als ob sie Angst hätten! Soll er doch noch zurück an Bord und sein Gewehr holen? — Pah, Pumas können nicht in der Nähe sein, weil der Wald fehlt; Bären gibt es nicht, und die Wölfe sind immer satt auf Feuerland und lassen den Menschen zufrieden. Er schlendert und rutscht weiter; es ist teilweise übel glatt auf dem Eise. Und er fängt an, wie es seine Gewohnheit ist, sich Zukunftsbilder auszumalen: la bella Napoli, Amalfi, Posilippo, der Vesuvio, viel Sonne, Wärme und fröhliche, klimpernde singende Menschen. Und Josephina, natürlich, die muß dabeisein! Er wird sich ausbezahlen lassen und sie mit heimnehmen . . . Vergnügt pfeift er eines der vielen Caprifischerlieder, turnt dabei über Eisblöcke und phantastische Schneewehen. Und sieht nicht das große, schreckliche Geschöpf, das hinter einem unregelmäßigen Eistrümmerhaufen hervorglitt und schnell, in seltsamen Schlangenwindungen, fast wie ein Schlitten, auf ihn zufegt. Ein mächtiges spindelförmig gebautes, geschmeidiges Tier; mit dem Körper einer sehr großen Robbe, einem wendigen Hals und flachem Kopf. Das nähersausende Geräusch des Gleitens ließ Beppo endlich herumfahren; „Mama mia!" entringt sich's seinen erblassenden Lippen, und mit schreckverzerrtem Gesicht sieht er hilflos, wie das Verhängnis auf ihn losstürzt, dieses schlangengeschmeidige, mächtige Tier mit gelbem, schimmerndem Robbenfell, auf dem wahllos dunkle, scharf sich abhebende ungleichmäßige Flecke verstreut sind! Der flache Kopf mit dem gesträubten groben Schnurrbart, die großen runden Augen, in denen jetzt Bosheit und Blutdurst deutlich flackern, der plötzlich aufgerissene, von schrecklichen Zähnen dräuende Raubtierrachen . . . Flucht? Das Tier ist auf dem Eis dreimal so rasch wie er. „Ai mama!", und eine blitzartige, den Bruchteil einer Sekunde währende Vision zeigt ihm noch einmal alles: Napoli, die Weinberge, die Sänger, 194
den blauen Golf und den Vesuv mit der Fumarole, und Josephina, ai Josephina! Und singen da nicht die Caprifischer? So süß, so wunderbar melodisch und einfach, wie nur Italiener es können! Singen sie nicht eben? . . . Die schwere Masse der halben Leibes emporschnellenden Bestie prallt auf ihn, schlägt ihn aufs Eis. Und dann schreit er gellend auf, als ein furchtbares Gebiß in seine Hüfte einschneidet, sägt, zerrt und fetzt. Schrei nach Schrei, Biß auf Biß . . . Entsetzt fliehen die Möwen, und Ali, der eben am Strand erscheint, rennt und rutscht nun über das Eis heran. Zu spät, Ali! Zu spät riefst du eben des Propheten Schutz auf den Ungläubigen herab . . . Rotes Blut färbt schillernd und dampfend das Eis, und Beppo, von klaffenden Wunden schrecklich zerfleischt, liegt ganz still; das Tier warf sich, als es den Nahenden hörte, von der Beute, den Kopf hochgereckt, den bluttriefenden Rachen offen und die Augen auf den Arnauten gerichtet. Und plötzlich gleitet es unheimlich rasch auf ihn zu. Da schreit Ali vor Ekel und Furcht auf und feuert dann Kugel nach Kugel in das jedesmal zusammenzuckende, aber weitergleitende Ungeheuer. Alle zehn Schüsse seiner neuen Winchester feuert Ali ab. Und endlich bleibt die Teufelsbestie, dieses Shaitansgeschöpf vor dem Arnauten liegen; es berührt fast seine Füße. Heißes Blut quillt und pumpt purpurn aus rauchenden Wunden auf das Eis. Ali zittert noch immer vor Grauen und läuft zu Beppo. Doch dem ist nicht mehr zu helfen, er ist längst ausgeblutet. Dann steht er wieder vor dem mächtigen, aus dem südlichen Eismeer nach Feuerland gekommenen Seeleoparden.*) Ein Geschöpf, das wenige Menschen sehen! *) Anmerkung d. V.: Der seltene Seeleopard, der von fast allen älteren Zoologen, einschließlich Brehm, als harmlos geschildert wird, ist in Wirklichkeit, im Verein mit dem „Killer" (Mordwal), ohne Zweifel das blutdürstigste und gefährlichste Geschöpf der Antarktis. Eine Tatsache, die jeder moderne Forscher und jeder moderne Waler bestätigt.
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Und so fanden sie, als sie von Paramo kamen, um den Kutter für die Fahrt zu rüsten, den wie von einem bösen Traum befangenen Ali, einen toten Seeleoparden und Beppo. Beppo, dessen letzte, bunte klingende Todesvision der blaue Golf von Amalfi, das von blauschwarzen Haarfluten umrahmte Gesicht der Feuerlanddirne Josephina und der süße Gesang der Caprifischer war . . .
Josephina An der Wasserfront ankert die „Ultima Esperanza" vor den eintönigen Häusern von Ushuaia. Der Colonel ging direkt nach der „Albatros-Bar" und betrat den langen, niedrigen Bretterpalast zweifelhafter Freuden. Er wehrt die spekulative, ihm von dem schlauen Wirt und seinen Señoritas dargebrachte Ovation als „König von Feuerland" lachend ab. Zwei Fünfzigpesoscheine wirft er auf den Schenktisch. „Für die Damen!" . . . Und dann erkundigt er sich sofort nach dem Mädchen Josephina. Ihr Zimmer, in das man ihn führt, ist ausgestattet mit dem üblichen breiten Bett, der Mutter Gottes und der ewigen Lampe darüber; an den Bretterwänden hängen etliche Bilder aus „La Vie Parisienne", Szenen pikanter Art; eine kattunbespannte Kiste dient als Toilettentisch. Und zwischen diesem armseligen „Komfort" sitzt die Frau und strählt ihr knisterndes schwarzes Haar vor einem völlig erblindeten Spiegel. „Ah, Caballero!" grüßt sie ihn mit stereotypem Berufslächeln. Dann erkennt sie ihn und wird sofort natürlich, als er sagt: „Buenos dias, Señorita! Sie gestatten doch, daß ich mich setze!" „Don Julio? Verdad!" „Ja, ich bin's, Señorita!" „Beppo, was ist mit Beppo geschehn? Ich sehe es Ihnen an . . . ist etwas passiert? Um der heiligen Jungfrau willen, reden Sie, Mann! . . . " 196
„Beppo war einer der besten Kameraden, die wir in El Paramo hatten!" spricht er leise. Und nun schreit die Frau: „War! War, sagen Sie! — Martern Sie mich nicht, ich weiß nun, Beppo ist etwas zugestoßen. Er ist tot! Ai de mi alma!"... Er streichelt über ihre Hand: „Da du's weißt oder ahnst, muchacha: Beppo schickt dir seine letzten Grüße und läßt dir sagen, daß du ruhig sein sollst und daß für dich gesorgt wurde!" „Ai de mi! Beppo! Der einzige, der wirklich gut zu mir war!" flüstert sie mit weitgeöffneten Augen und zittert am ganzen Leibe. Tröstend und voll Mitgefühl erzählt er ihr, daß Beppo an einer hitzigen zweitägigen Lungenentzündung starb und sein Vermächtnis, seine letzten Worte ihr galten: Sie solle tun, was er ihr durch Don Julio ausrichten lasse. — Konnte er ihr den entsetzlichen Tod ihres Geliebten beschreiben, das Bild ausmalen, wie sein Körper, grauenhaft verstümmelt, auf dem blutigen Eise lag? Nein! Beppo starb an einer Krankheit: es gibt Lügen, die sein müssen! „Er war so gut!" schluchzt sie immer wieder, und er streichelt über ihre Hände und die zuckenden Schultern. „Jetzt ist alles egal. Ultima Esperanza a dios!" schluchzt sie zusammenhanglos. „Du hast ein Heim, irgendwo? Eine Mutter, Freunde, Verwandte?" fragt er nach langer Pause. „Er erzählte von einem blauen Golf an Weinbergen, einer weißen, fröhlichen Stadt und . . . ai de mi!" „Beppos Vermächtnis könnte dich in die Lage setzen, dorthin zu gehen, wenn du willst, Pobrecita. Aber allein in der Welt? Du bist keine Italienerin? — Sag, hast du eine Mutter, und wo ist sie?" „In Tucuman! Sie handelt mit Früchten am Cordillerenbahnbau. Und denkt, daß ich in Ushuaia im Büro der Kohlenstation arbeite!" . . . „So laß ihr diesen Glauben, es ist gut so. Eine Mutter hat man nur einmal . . . hörst du, muchacha? — Sieh her!" Er zieht ein Papier aus der Tasche, öffnet es und hält es vor ihre Augen. 197
„Das ist Beppos ungefährer Anteil, und den hat er dir hinterlassen. Er wünscht, daß du heimgehst. — Muchacha, Beppo war brav, und sein letztes Wort war dein Name. Also mußt du heimreisen. Deine Zukunft wird ohne Sorgen sein, gehorche seinem Wunsch!" „Ich will kein Geld, will Beppo. Ai Beppo! Mi amor, mi amor, querido!" jammert sie, und plötzlich schreit sie Popper an: „Idiot, geh weg, hau ab, ich will Beppo! Geh weg, blanco! Palo blanco, cabrón!" Sie keift unflätig und schluchzt dazwischen, sie stampft den Boden und schleudert ihren Kamm gegen die Wand; in ihrem Rasen fegt sie Parfümflakons und Schminktiegel vom Tisch; eine Puderwolke stäubt in die Luft. Popper kennt die hysterischen Anfälle dieser Art Frauen, er versteht jene manchmal noch hochflackernde und doch so hilflose Auflehnung, die weder Alkohol noch sonstige Rausch- und Betäubungsmittel in den „Frauen für Geld" ganz auslöschen können. Und er wartet geduldig, bis der Paroxismus verebbt und einem Tränenstrom weicht. „Josephi nita, du wirst tun, was dein Novio mit seinem letzten Atem verlangte. Ich hab's ihm versprochen, mich um dich zu kümmern. Und heute noch kommst du an Bord meines Kutters — deine Verbindlichkeiten, Schulden und so weiter hier werde ich regeln — und fährst mit hinüber nach Punta Arenas und — da ich selber nach Buenos Aires muß — im gleichen Dampfer mit. Alles wird für dich geordnet, du kannst jeden Monat eine bestimmte reichliche Summe für deine Mutter und dich abholen, von der Bank, weißt du. Brauchst nicht mehr zu arbeiten — Beppos Erbe ist beträchtlich. Und mit der Zeit wird alles, alles wieder gut. Willst du, muchachita?" „Wenn Beppo es wünscht!" murmelt sie leise. Und hinter der Bretterwand, aus dem Nebengelaß, ertönt eine scharfe Frauenstimme: „Nicht doch! Du bist so grob wie ein Gaucho — ai bruto!" . . . „Am besten, du kommst gleich mit, Josephina. Viel packen 198
brauchst du ja nicht, laß den Glitzerkram ruhig hier. Alles Nötige kaufen wir in Buenos Aires oder vorher in Punta Arenas. Komm, steh auf, Beppo will es!" „Beppo will es!" antwortet sie mechanisch; steht auf und fängt an, Kleider, Schuhe und Wäsche wahllos in einen verkratzten Pappkoffer zu stopfen. „Bist du nun auch ganz ruhig, muchacha? Beppo will es!" „Beppo! Ja, ich bin ganz ruhig und will nach Tucuman, zur Mutter. Und die lieben Heiligen werden Beppo und Sie, Señor, segnen!" „Bueno, komm, mi hijita!" Er nimmt den Koffer, faßt sie bei der Hand und führt sie in die Bar. Aage, der dort wartete, blickt aus seinen eisblauen Augen auf den Wirt und die Mädchen. Und der anfangs ausbrechende Tumult erstirbt in einem Murmeln und Getuschel; während Popper großzügig die Schulden der Josephina regelt. Und dann gehen sie, Aage voran, die Hand sichtbar am Coltrevolver; hinter ihm Don Julio, in der einen Hand den alten, mit geschmacklosen Zieraten beklebten Koffer, an der andern das Freudenmädchen Josephina. Und keiner hält sie an, keiner wagt etwas zu fragen, und Popper lacht und winkt Aage, weiterzuschreiten, als aus einer Baracke eine schnapsheisere Stimme grölt: „Seht mal an, da geht er, der reiche Julius, der König von Feuerland. Er hat 'ne Frau in El Paramo, und jetzt fährt er mit 'ner Nutte aus dem Albatrospuff spazieren. Mensch, Julius, wenn das deine Olle wüßte! Viel Vergnügen, viel Vergnügen, alter Goldkönig!" . . . Hinter ihnen, am Berghang, liegt der Friedhof, wo viele windschiefe Kreuze auf den Gräbern vergessener Muchachas stehen, die, aus vielen Ländern gekommen, hier im langen Schlaf auf die letzte Hoffnung am Jüngsten Tag warten. Josephina, das Mädchen aus Tucuman, wird wohlbehütet das Ende der Welt verlassen; langsam versickern ihr später die Visionen von Schneestürmen, rauhen Männern, grauen Wolken 199
und rollenden Wogen. Die Echos der ruhelosen Albatrosschreie verklingen, der scharfe Piscogeruch, die tolle Musik und das schrille Gelächter der Kolleginnen sind vergessen. Und auch das liebevolle Gesicht des guten Beppo wird versinken, verblassen: wie ein böser und auch gütiger Traum. Daheim, daheim bei der Mutter . . .
Geplänkel . . . „Gott der Gerechte, sind de Laite ungerecht gegen den Colonel, welcher ist ä Ehrenmann. Und hat er gebracht de Kalle von Beppo nach Buenos Aires und hat er gegeben ihr viele Shekel aus Gold. Und haben Se beschmutzt seinen Namen und hat er gelacht darieber. — Und dann hat er gefochten um seine Sach bei die Ministerien, wo wechseln beinahe alle Monat, und hat er geschrieben wunderbar in die Zaitung, um ze gewinnen for sich und de Sainen ihre Sach!" klagt und murmelt Abraham Braun zu seiner geduldigen Frau Sarah, an deren Rockzipfel jetzt eine bildhübsche kleine Sarah spielt. Und Abraham quengelt weiter: „Hat er erreicht nicht viel, sind de Goyim in Buenos Aires meschugge und haben grauße Chuzpe, daß se verkennen de Ehrlichkeit vom Colonel. Ist er gekommen zerrick und gleich gestiegen auf de ,Ultima Esperanza', wo ist gestochen in See — wie se sagen — schon in der Nacht. Und ä böser Sturm bläst! — Und will der Gouverneur in Ushuaia ihm abfordern Fimfzig Perzent von de Einnahmen. Wird er aber kommen bei Don Julius an den Unrechten!" Die kleine Sarah kräht plötzlich vergnügt, und der von Sorgen, die ihn eigentlich nichts angehen, erfüllte gutmütige Vater streichelt die kleine Schönheit Israels über das weiche, dunkle Haar: „Sollste's haben gut, Sarahleben, wenn de bist erwachsen. Sollste nicht kochen und dich plagen wie deine Mamme — obwohl sie's auch nicht mehr nötig hat. — Hosiannah, haste gehört, Weib, Perle von Zion! — daß se finden noch immer grausam viel Gold 200
in El Paramo? Wär der Colonel schon ä Millionär, wenn er nicht würde ehrlich teilen mit de andern. — Sarahleben, reiß de Mamme nich an de Klamotten, se sind taier hier zeland!" „Ist er gefahren wirklich mit de ,Ultima Esperanza', Tateleben?" „Hab' ich's nicht gesagt? Und ist er gewesen innerlich böse wie Simson, wo hat gestürzt den Tempel über die falschen Philister und de Delilah, wo ist gewesen ä schaine, aber gottlose Chaibe!" „Und hat er gegeben dir neue Auftrag?" „Nu, soll er nicht? Hat er gegeben. Und wird er bedient ehrlich, wie immer bei Abraham Braun. Ist der Colonel der beste Goy, wo herumlauft auf die grauße grausame Insel drüben, wo sind de Wilden und de Banditen und de ehrlichen Laite mitsamt den Gouverneur meschugge. — Wollen mer beten für den Colonel morgen am Yonkippur, Sarahleben, haste geheert? Und nu koch Kaffee, muß ich stärken Seele und Geist!" eifert Abie zu Sarah der Älteren und Sarah der Jungen; und beide decken den Tisch. Und es ist warm und friedlich in dem Häuschen des Mannes, der, wie Popper, vom Schicksal bestimmt ist, einer der Reichsten am Aussteigeplatz der Welt zu werden. Aber im Gegensatz zu diesem — es bleiben soll bis zu seinem natürlichen Tode und darüber hinaus auch die Söhne und Töchter in der Millionenfirma „Menendez, Braun & Blanchard" im heutigen Magallanes, dem alten Punta Arenas . . . Popper war mit der „Ultima Esperanza" nur in dem wunderschön gelegenen Yendegaia gewesen und kehrte nochmals nach Ushuaia zurück. Es ist nicht seine Art, über Sorgen und Unglück den Kopf hängen zu lassen. Er begab sich direkt an die Quelle . . . Der Gouverneur ist sehr erstaunt, als ihm der Colonel zwecks einer Unterredung gemeldet wird. Und dann sitzen sich zum ersten Male die beiden so verschieden gearteten Männer gegenüber. Sie messen ihre Geisteskräfte in wortreicher, honigsüßer Höflichkeit, hinter der Zweideutigkeit und Mißtrauen bereitstehen. 201
Der Argentinier ist Meister in scheinbaren Zugeständnissen, die aber nichts als hohler Worteschall sind, und Popper merkt sehr bald, daß er auf diese Art seine eigene Absicht nicht ausdrücken kann. Er greift daher zu gröberem Geschütz: „Der Herr Minister bestätigte mir — nachdem ich das argentinische Gesetzbuch gründlich an den betreffenden Stellen durchstudierte und mit juristisch einwandfreien Fakten aufwarten konnte —, daß es noch keinerlei Steuergesetze für Goldsucher auf Tierra del Fuego gibt!" „Gewiß, Caballero, aber man hat mir, der ich gewissermaßen am Ende der Welt und ihrer Gesetze amtiere, nahegelegt, daß ich, um die ,Leyes argentinas' endlich durchzusetzen, für mir geeignet scheinende Maßnahmen ziemlich freie Hand hätte!" „Und bei mir wollen Sie anfangen und zwar mit einer Ungerechtigkeit, die selbst am Ende der Welt himmelschreiend ist. Die Hälfte unseres Einkommens wollen Sie einstreichen! Wenn Sie das den andern Goldsuchern auch nur andeuten, so wird man Sie sehr erstaunt anschauen, Señor!" „Feuerland ist, was den Teil betrifft, in dem Sie Ihre Funde machen, argentinisch und . . . " „... und deshalb sollen wir unser Gold ausliefern, weil Sie, Señor, die argentinischen Gesetze, also Ihr eigenes Land, mit derartig gefährlichem Unsinn beleidigen wollen. Daraus wird nichts, Exzellenz! Ich habe bereits auf Ihr damaliges Schreiben sehr großzügig und vernünftig geantwortet — wie mir auch der Herr Minister, dem ich eine Kopie gab, gerne bestätigte! —, und ich bin im Namen meiner Freunde bereit, eine gewisse, unter obwaltenden Umständen äußerst hohe Taxe zu bezahlen, aber erst dann — und das habe ich auch den Herren in Buenos Aires gesagt und diese meine Meinung in entsprechenden Zeitungsartikeln, die viele Beachtung fanden, veröffentlicht — wenn auch die andern Goldsucher zu bewegen sind, eine solche Steuer zu erlegen. Und wenn Sie mir nicht beistimmen können oder wollen, Exzellenz, dann . . . " 202
„Señor Coronel?" Seidig, schmeichelnd tönt die Frage, hinter der die Falle verborgen liegt, während ihn ein Paar dunkle Augen halb höhnisch, halb zweifelnd anblicken und eine gepflegte, ringgeschmückte Hand mit dem Elfenbeinpapiermesser spielt. „Dann — bueno, Exzellenz, ich kann auch unverblümt sein, und das scheint in diesem Fall das Gegebene, zumal wir ja unter vier Augen sind! Dann, Señor, können Sie sich die Steuer bei uns selbst abholen. Der Weg ist weit und birgt viele Gefahren!" „Also mit der mir verfügbaren und zustehenden Gewalt?" fragt die glatte Stimme streichelnd. „Ja, mit der Ihnen verfügbaren, aber in dieser Angelegenheit ungesetzlichen Gewalt. Ich sage Ihnen gleich, da ich manchmal, wenn es den Zweck besser ausdrückt, meine Meinung nicht verschleiere, daß es nicht leicht für eine Truppe sein wird, El Paramo zu erreichen und einzunehmen. Und Sie können sich jetzt schon darauf verlassen, daß Wort für Wort unserer heutigen Unterredung in Buenos Aires und sämtlichen größeren Blättern von Argentinien und Chile veröffentlicht wird. Beide Länder werden von gerechten Männern regiert. Aber Sie . . . " „Ich, mi Coronel?" „Sie sind absolut ungerecht, und das ist nicht etwa Ihr Charakter, sondern kommt daher, daß Sie nicht in dieses wilde Land passen, Exzellenz. Und nun bitte ich, daß ich mich verabschieden darf!" „Selbstverständlich, Señor. Obwohl ich noch stundenlang mit einem Caballero Ihrer Art plaudern möchte. Darf ich Sie für heut abend einladen? Meine Frau hat ein kleines Tanzvergnügen mit dem üblichen anschließenden Spieltisch arrangiert, und es würde uns aufrichtig freuen!" „Exzellenz, auch ich würde gerne öfters mit Ihnen der Unterhaltung pflegen, denn — verzeihen Sie, aber da ich schon unhöflich war, kann ich es getrost wiederholen: ich halte Sie für einen Mann mit großen Gaben, aber nicht für diese Gegend. Sie wollen gerecht handeln und tun doch das Gegenteil, weil Sie den ver203
kehrten Maßstab anlegen. Und ich bitte Sie, Ihrer Frau Gemahlin meine Grüße und Entschuldigungen zu Füßen zu legen, aber ich muß so schnell wie möglich an Bord. Nach fast vier Monaten Abwesenheit werde ich dringend erwartet, und jetzt ist auch gerade günstiger Wind. Und auf den ist man hier, wenn man ein Segelfahrzeug hat, sehr angewiesen, wie Exzellenz wissen!" „Soviel ich weiß, hat sich nichts von Bedeutung in El Paramo ereignet. Ihre Schützlinge, die Onas, sind alle zufrieden bei den Salesianern. — Es sei denn, um von Ihren Kameraden zu sprechen, daß noch mehr Bonanzas entdeckt wurden. Ich muß Ihnen übrigens leider mitteilen, daß ich Ihnen vorläufig keine Konzession für das Land dort erteilen kann, was ja im Augenblick nicht sehr wichtig ist, da die ganze Insel ja kaum vermessen wurde! Und da fällt mir noch ein: Ihre Frau, Doña Esperanza, soll bald vor ihrer Niederkunft stehen? — Meine Gattin und ich gratulieren im voraus!" „Sie sind sehr gütig, Exzellenz! Und . . . " nach einer Verbeugung ging er langsam rückwärts an die Tür, kehrt aber nochmals um: „ . . . und, beinahe hätte ich das vergessen!" Er zieht ein umfangreiches Schriftstück aus der Tasche. Legt es behutsam auf den Tisch. „Sie können es behalten, Exzellenz, Señor Gobernador. Es ist die amtlich beglaubigte Abschrift der mir am Regierungssitz gesetzesgemäß ausgestellten Konzession für El Paramo und fünf weitere Stellen in der Sebastianbai. Genau angegeben und umgrenzt, auf die Dauer von neunundneunzig Jahren. — Und nun leben Sie wohl, Exzellenz. A Dios!" . . .
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Ein Brief aus Ushuaia Monate sind nach Poppers Rückkehr in El Paramo vergangen. Getreulich erstattete er Bericht von seiner teils mißglückten, teils erfolgreichen Reise nach Buenos Aires. Er gibt Rechenschaft über das Kapital der Gesellschaft und über die Summen, die der Agent an Eltern und Verwandte in Europa und sonsthin überwiesen hat. Er verantwortet die großen Einkäufe: eine zerlegbare Windmühle zum Wasserpumpen, die Pferde und Sättel, Zement für eine geplante Zisterne und viele andere Dinge. Und er unterstreicht auch seine Besorgnis, die er einem zu erwartenden Streich des Gouverneurs zuschreibt. „Den schlagen wir samt seiner Armee so in die Flucht, daß sie das Wiederkommen vergessen!" lachen die Männer. Sie sind fröhlich und zuversichtlich, weil der Magnet Gold unerschöpflich, langsam und sicher, täglich in ihre Schatzkammer fließt . . . „Seine Exzellenz und Gemahlin, also muß ich wohl sagen: die weibliche Exzellenz, grüßen dich vielmals und wünschen zu der bevorstehenden Vergrößerung der Familie Popper viel Glück! Aber es klang nicht sehr echt! Dieser Gouverneur wäre ein brauchbarer Mann in einer bevölkerten zivilisierten Gegend, aber hier ist er nicht am Platz und wird Unheil anrichten. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob aus Dummheit oder krankhaftem Ehrgeiz oder aus Gewinnsucht!" sagt er zu Esperanza. Schwerer, reifer in ihrer Fülle geworden, lächelt die Frau: „Wie reizend von beiden. Siehst du, ich habe doch recht gehabt, er ist ein ganz vernünftiger Caballero!" „Vernünftig, nun, ich weiß nicht — nachdem er uns seinen, Gott sei Dank mißglückten Strich durch die Landkonzession machen wollte und jetzt mit Militär droht, wenn ich seiner wahnsinnigen Forderung nicht nachkomme, Esperanzita!" Aage trat herein, er scherzt gutmütig mit der Frau, will sich aber durchaus nicht setzen und schlägt verlegen den angebotenen Trunk aus. 205
„Ich sehe dir's an der Nasenspitze an, daß du mir etwas erzählen willst. Männersachen, Querida, die für dich nur langweilig wären!" sagt der Colonel gutgelaunt. Er küßt sie, winkt ihr noch zu und zieht dann den Freund ins Freie. Der sieht sich erst um und beginnt nun: „Ich komme gerade aus der Pinguinbucht. Ein Boot mit Yaghans war dort, und ich schwatzte mit ihnen. Sie wollten nicht herkommen, behaupteten keine Zeit zu haben, weil irgendwo an der Bai ein toter angetriebener Wal liegt, den sie fressen wollen, und sie sich schon darauf freuten. Sie haben Angst, daß eine andere Kanusippschaft den duftenden Rohbraten wegschnappt. — Well, ich gab ihnen von den Vorräten an Bord, was wir entbehren konnten. Sie sind uns ja alle freundlich gesinnt, und die Nachricht, die sie brachten, war Goldes wert. Aber deine Frau braucht's nicht gleich zu wissen!" „Bueno, und?" „Wir kriegen Besuch. Julius. Und keinen angenehmen!" „Soldaten?" „Die wären mir fast lieber. Nein, Bravos sind's, die wieder mal unser Gold holen möchten." „Wie viele?" „Djäbla, zuerst hörte sich's an, als ob Hunderttausende Banditen kämen. Du kennst ja die Art der Yaghans, wie sie sich in Zahlen ausdrücken. Mit Geduld kriegte ich's dann raus. Sie haben die Nachricht brühwarm von anderen Nomaden. Kurz und gut, Julius, es ist Tatsache, daß ungefähr sämtliche Bravos von Patagonien nach Feuerland übergesetzt sind, sich mit den hier vorhandenen vereinigt und gemeinsam auf die Strümpfe nach El Paramo gemacht haben. Da sie aber die Wildnis kennen, haben sie sich wieder in einzelne kleine Abteilungen zerstreut, die alle bei uns hier zusammentreffen wollen. — Nach Abzug aller Yaghanphantasie schätze ich, daß in den nächsten Tagen vierhundert verwegene, auf Gold erpichte, schwerbewaffnete Burschen über die Pampa marschieren werden!" Er spuckt seinen Priem 206
aus, schiebt ein neues Tabakstück hinter die Klüsen und fährt in seiner langsamen eindrucksvollen Art fort: „Wie's die Yaghans erfuhren, ist mir rätselhaft, aber alle diese Indios hängen, wenn's sich um die ihnen verhaßten weißen Prospektoren und Banditen handelt, wie Kletten zusammen. Uns und besonders dich, haben sie in ihr Herz geschlossen, uns sehen sie Gott sei Dank als Freunde an. — Ja, also die Yaghans behaupten — und ich glaube es —, daß die Bravos, wie sie der Reihe nach eintreffen, erst ein gemeinsames Lager in der Pampa beziehen wollen und dann eine Gesandtschaft schicken und um die Teilhaberschaft an unsern Goldplacers verhandeln wollen. Was aber natürlich nicht ausschließt, wenn sie uns unvorbereitet sehen, ohne Parlamentär über uns herzufallen, uns abzuknallen oder zumindest davonzujagen!" „Na, wir wollen sie gut empfangen, Aage. Ein Unglück ist's ja, daß meine Frau gerade vor der Entbindung steht. Doch sie hat eine starke Natur und ist abgehärtet an Leib und Seele wie keine zweite Weiße auf Feuerland." „Und so meinst du, daß es ihr nichts ausmacht, wenn vielleicht euer Prinz oder Prinzeßchen bei der Musik von Flintensalven, Pulverdampf und Kriegsgebrüll zur Welt kommt? — Ja, Esperanza, schätze ich, wird's aushalten, aber 'ne Unhöflichkeit bleibt's von denen doch, und wir wollen's den Señores Bravos gedenken!" „Vierhundert, sagten die Indios? Gott gebe, daß es weniger sind, aber wir wollen uns auf diese Zahl gefaßt machen. Welch ein Glück, daß wir genügend Pferde haben." „Und du uns exerzierst, obzwar keiner von uns den militärischen Fimmel hat, und du auch nicht. Du willst sie doch angreifen und gar nicht erst in die Nähe der Siedlung lassen?" „Ja, wir wollen sie Tag und Nacht belästigen und sind als Berittene im Vorteil. Und dann habe ich schon seit langer Zeit für eine kleine List vorgesorgt!" „Sag mal, Julius, du willst uns doch nicht etwa in die argentinischen Uniformen stecken? Schon oft habe ich mich gewundert, 207
was du mit den damais bestellten Dingen bezweckst. Auch Abie Braun fragte mich." „Nein, aus euch will ich keine Soldaten machen, mein Alter! Komm jetzt, wir wollen mit den andern beraten, dann brauch' ich nicht zweimal zu reden. Und meiner Frau muß ich's doch sagen, sonst erschrickt sie wirklich, wenn plötzlich Schüsse knallen!" „Du nimmst die Sache für einen Balkanmann sehr kaltblütig, Julius. Doch he! — wie kann man so vergeßlich sein! Da brachte der eine Yaghan etwas für dich, aus Ushuaia. Vom großen Capitan! sagte er. Es war in ein stinkendes Fellstück gewickelt und sieht aus, als ob sämtliche Indios von Feuerland erst drauf schliefen! Das Fell schmiß ich weg, aber der Brief riecht immer noch stark. Anders als die Señoritas mit ihrem Pariser Parfüm! Er ist an dich adressiert, soviel sah ich!" Popper nimmt das tranbesudelte, zerknitterte und durch und durch beschmutzte Schreiben entgegen, öffnet mit spitzen Fingern den Umschlag und überfliegt den Inhalt stumm, ohne eine Miene zu verziehen: „Lieber Freund Don Julio. Allen Heiligen sei Dank, meine Versetzung von Feuerland nach Mendoza ist bewilligt, heut schon besteige ich den Dampfer. Grüßen Sie recht herzlich Ihre kleine Doña, ich wünsche Ihnen beiden besonders viel Glück und Erfolg im Leben. Fast möchte ich euch raten, samt den bisher gesammelten Reichtümern, die, wie man hört, erklecklich sind, ebenfalls diese Insel der Letzten Hoffnung am Ende der Welt zu verlassen. Aber da ich Sie kenne, weiß ich, daß Ihr's nicht tun werdet. Also verletze ich hiermit eigentlich meine Pflicht als argentinischer Offizier — aber vielleicht verletze ich sie gar nicht, da der Gouverneur die seine schwer verletzen will. Die Heiligen seien gepriesen, daß ich davon Wind bekam. Und ich muß Euch sehr warnen! Abgesehen davon, daß Euch die herumstreunenden Bravos sicher einmal in großer Zahl wieder besuchen werden und Ihr sie erprobterweise davonjagt, teile ich Euch mit, daß Ihr, noch ehe der Sommer zu Ende geht, auf den Besuch 208
von dreihundert Kavalleristen, angeführt von meinem Nachfolger, der keinen Begriff von Feuerlandverhältnissen hat, rechnen müßt. Weniger wird Seine Unvorsichtige Exzellenz kaum schicken, wenn's auch die ganze, und ich weiß nicht aus welchen Gründen (falls nicht Ihr dieser seid) verstärkte Militärmacht von Tierra del Fuego ist. Bei allen lieben Heiligen, so viel Soldaten hat's noch nie auf Feuerland und Patagonien gegeben! Sie sollen die Steuer eintreiben, ich meine die gewissen fünfzig Prozent. Es hat keinen Zweck für Sie, jetzt in Buenos Aires vorstellig zu werden, denn der Gouverneur würde alles ableugnen und zwar, solange nichts geschehen ist, mit Erfolg. Erst dann, wenn Ihr seine Truppen in die Flucht geschlagen habt — was ich annehme und ganz unpatriotisch wünsche, und Gott möge mir diesen Wunsch verzeihen — könnt Ihr in Buenos Aires Krach schlagen. Ich bitte Euch aber, wenn irgendwie möglich, und Ihr seid ja alle wunderbare Schützen — und die Soldaten, die armen Teufel können nichts dafür, und ich kenne viele von ihnen und weiß, daß es gute Jungen sind, die aber gehorchen müssen — nicht in die Köpfe oder sonstigen edlen Teile zu schießen, sondern nur an den Beinen oder Armen zu verletzen. Wenn Ihr einige siegreiche Gefechte mit ihnen hattet, werden sie, wie ich sie kenne, schon zur rechten Zeit meutern, und dann ist es aus mit Seiner Herrlichkeit in Ushuaia. Weil man ihn dann wegen unbefugter Verschwendung von Staatsgeldern, argentinischem Blut und wegen militärischen Mißbrauchs ohne Sang und Klang absetzt. — Und nun gehabt Euch wohl — strengste Diskretion bitt' ich mir selbstverständlich aus. Gottes Segen und den Schutz aller Himmlischen über Euch, speziell über Sie und Doña Esperanza — von Eurem treuen Freunde Don Ramón Lista, Capitan de Caballería del ejercito argentino." „Ein langer Brief, Julius! Gutes oder Schlechtes?" . . . Popper verzieht keine Miene, sein Gesicht bleibt das gleiche, ernst wohlwollende, und gleichmütig antwortet er: „Von Ramón Lista. Er schreibt, daß er versetzt wird und wünscht allen Segen 209
auf uns und schwatzt allerlei für Esperanza und mich!" Dabei schiebt er das Schreiben in die Tasche. Über den Inhalt wird er sich erst nach Besiegung der Banditen auslassen. Vorher nicht. Es würde die Freunde doch etwas kopfscheu machen, wenn sie gleich von zwei Feinden hörten! Nein, das letzte dürfen sie jetzt noch nicht wissen. Nur Esperanza. Denn trotz scheinbarer Zartheit ist sie eine echte tapfere Pioniersfrau. Auch steht geschrieben, daß die Gattin gemeinsam mit dem Mann Freud und Leid tragen soll und daß keinerlei Geheimnis zwischen beiden sein darf . . . Popper liebt seine Frau und ist ihr treu. Aber manchmal, wenn sie in der Nacht schlafend neben ihm liegt und die Natur draußen vom Orgeln und Wogen, von den knatternden Steinen und dem Stöhnen der Sturmbraut widerhallt, wenn der Schrei von Albatrossen und wandernden Wildgänsen und viele andere geheimnisvolle Laute die Dunkelheit mit ihren Tönen sättigen, dann ist er unglücklich. Denn die Frau, die er liebt, die sein Kind trägt, an seiner Seite kämpft und hofft, die gut und verständnisvoll ist, — sie kann nie das ganze Sehnen seines Herzens und Blutes erfüllen! Die Frau, die „aus dem Wasser kam", ist jener großen verzehrenden, hemmungslosen Leidenschaft, der gleichzeitigen Kameradschaft dabei und all jener andern Eigenschaften, die zu ihm gehören und in denen er gemeinsam mit ihr aufgehen will, nicht fähig. Und er weiß genau, daß es ihm bei jeder andern Frau auf die Dauer ebenso erginge. Er muß das Leben meistern, so gut er kann; wohl wird er Freude an Frauen finden, aber eigentlich doch innerlich stets allein bleiben. Und da er in den abgründigen Tiefen seiner Seele viel Reichtum und Zufriedenheit hat, wird ihm diese Einsamkeit nur manchmal wehe tun. Nur manchmal . . .
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Stirb und werde Alles sah friedlich wie sonst aus, als in und vor El Paramo das Drama begann: das graue Pampagras bekam winzige, dünne, grüne Spitzen; einzelne Strauße fegten durch die rauschenden Halme; die unzähligen in Keilform fliegenden Gänse, Enten und Flamingos kamen nach Rio Grande; im Naturhafen des Kutters brüteten die Pinguine auf den Eiern und lehrten ihre wolligen Jungen tauchen. Die Robben bellten und grunzten und bliesen; Möwen kreischten hell, Nutrias glitten spielend im Wasser hin und her, die seltsamen langmächtigen See-Elefanten rollten an den Strand in die warme Sonne. Die Colibris zuckten im Licht. Und der frühere Arzt Niki Pasic, der Goldwäscher wurde, erklärte den Zustand Esperanzas für normal und daß die Geburt binnen weniger Tage zu erwarten wäre . . . Zuerst kamen die Männer von Goldstelle Sechs und verkündeten enttäuscht, daß diese letzte und kleinste Fundstelle nun versiegt sei. Leer von Gold! Gleich darauf meldeten Kundschafter die Ankunft des ersten Bravohaufens. Weit draußen am flachgewölbten Tellerrand der Pampa könnte man sie sehen, wie sie Lager aufschlügen. In der Nacht glühe roter Feuerschein, vor dem einzelne dunkle Schattengestalten, ins Riesige verzerrt oder zu breiter unnatürlicher Zwerggröße geduckt, hin und her huschten. Auch höre man das Blöken und Brüllen von Schafen und Kühen, die die Bande bestimmt irgendwo gestohlen habe und als Proviant mitführe. Und es kam Haufe nach Haufe; stets von den bereits Anwesenden mit Freudengeschrei und Salutschüssen empfangen. Und die nächtlichen Wachtfeuer dort draußen wurden größer und zahlreicher. Anscheinend achteten die Bravos, die sehr wohl merkten, daß die „Sociedad del Paramo" hellwach war, nicht auf ihre Nachbarn. Sie kochten und schliefen; einzelne strichen in weitem Bogen 211
um die Siedlung, und nachts sangen sie zu Gitarrenbegleitung wilde und melancholische Lieder. Das ruhelose Meer pochte seine dumpfe Begleitung dazu, und Gänse, Enten, Flamingos und andere Vögel trompeteten triumphierend, wenn sie mit tönendem Gefieder zu Tausenden aus der Luft herabfielen, um die alten Brutplätze aufzusuchen. Duprez machte den Vorschlag, den Bravos ihr gestohlenes Vieh bei einem nächtlichen Überfall zu entführen. Das, wandte man sofort ein, würde aber, da ihnen damit der Hauptproviant genommen wäre, einen verzweifelten und gefährlichen Massensturm auf El Paramo auslösen; und davon will Popper vorläufig nichts wissen . . . Oft sehen die Kundschafter beider Lager sich von fern, sie winken, rufen sich rauhe Scherzworte zu, doch keiner eröffnet die Feindseligkeiten. Als schließlich der Zustrom aufhört, zählen die Späher dort wirklich rund vierhundert Banditen. Auf beiden Seiten hält man gute Wacht. Am fünften Morgen, bei glänzendem Sonnenschein, schlendert der Parlamentär, einen weiß gewesenen Fetzen in erhobener Hand, über die Pampa heran; er klettert über den niederen schrägen Erdwall. Bei der Windmühle erwartet ihn Popper, Aage und zwei Serben. Die andern beobachten scharf, was da vor sich geht. „Buenos dias!" grüßt der Bandit herüber, er sieht wie ein verwahrloster Matrose aus. Eine Weile mustert er die stummen Gesichter, schimpft dann halbverlegen: „Na, ihr habt ja 'ne schöne Art, Gäste zu empfangen! Wollen wir nicht in die gute Stube gehn und die Sache bei 'nem Tragito, 'nem Schlückchen angenehmen Pisco bereinigen? . . . " Da niemand Anstalten macht, ihn ins Haus zu geleiten, und keiner ein Wort spricht, läßt er sich nieder. Zieht Tabak und Papier hervor, um eine Zigarette zu drehen. Springt fluchend wieder auf. „Es könnte mir wenigstens einer Feuer geben! Verdammt, habt ihr alle die Maulsperre, daß ihr nicht reden könnt?" Aage schlägt Feuer und hält ihm stumm die kleine glimmende 212
Schnur hin. Der Bursche schmeißt wütend seine Zigarette weg, trampelt darauf und fängt dann wieder an: „Will's also kurz machen! Dort draußen lagern an die vierhundert tüchtige Männer, ehrliche Goldgräber, beurlaubte Seeleute!" Hier feixt er erst und redet dann weiter: „Lauter gut bewaffnete Caballeros, die gesonnen sind, da wir bisher kein Glück hatten, euch zu helfen und ehrliche Teilhaberschaft anzubieten. Das soll ich euch ausrichten. Und von jetzt ab habt ihr drei Stunden Zeit, um darüber nachzudenken. Hißt 'ne Flagge auf, wenn ihr einverstanden seid. Und ich denke, daß ich mir dann den Schluck, den ihr jetzt verweigert, selber hole. A dios!" Breitbeinig, in schwankendem Seemannsgang, geht er, ohne sich umzusehn, wieder davon. „Höre, Compadre! Und wenn wir nach Ablauf der Frist keine Flagge aufhissen — was geschieht dann?" „Das werdet ihr schon merken!" grinst der Bursche unverschämt über die Schulter. Und stiefelt weiter. Popper geht zu seiner Frau; die ruht, wie so häufig in letzter Zeit, im Lehnstuhl; ihre Rechte streichelt den treuen, wedelnden Jack. „Jack, du bleibst bei Frauchen!" spricht der Colonel. „Mujercita, die Burschen fangen bald an. Ich hege keine Befürchtung. Halte dich nur vom Fenster fern und für alle Fälle" — er blickt auf den Coltrevolver, der neben ihr auf dem Tisch liegt. Sie nickt. Sie weiß: es wird ernst. „Die letzte Hoffnung!" sagt sie, mit einem Versuch zu lächeln. Und beide verstehn einander ohne viele Worte. Noch einmal fährt er ihr über das knisternde Haar, streichelt dann den Hund und geht hinaus. Drei Stunden sind abgelaufen, und keine Flagge flattert über El Paramo . . . Vom Erdwall beobachten sie, wie die Bravos hin und her wimmeln und wie ein Haufe sich loslöst und nach Nummer Sechs marschiert. Mit dem Fernrohr beobachtet er, wie sie sich der dort 213
liegenden Pfannen und Schaufeln bemächtigen, ins Wasser waten und anfangen, den Schlick nach Gold zu untersuchen. Ein zweiter Haufe versucht das gleiche bei Nummer Fünf, andere bei Vier und Drei. Man hört ihre Rufe, sieht sie mit den Händen herumfuchteln und, wie sie sich gegenseitig etwas zeigen und dann Freudentänze aufführen. Nur die bei Nummer Sechs haben kein Glück. Das Gros der Räuber blieb anfangs im Lager; nur einzelne spazierten nach den Goldplätzen, um in den dort herrschenden Freudentaumel einzufallen. Aber es sind zu viele Männer für das wenige Geschirr! Sie reißen einander die Pfannen aus den Händen, jeder will den goldhaltigen meerbespülten Strand zuerst untersuchen. Einige prügeln sich schon, Revolverschüsse knallen, wildes Fluchen weht bis nach El Paramo. Und plötzlich rennt alles, was noch im Pampalager herumgestikulierte, kunterbunt, mit Gebrüll und Jauchzen nach dem Strand. Alle wühlen, dort angekommen, sofort im Boden, patschen in die Brandung, torkeln übereinander. „Wie gefährliche Idioten benehmen sie sich! Schau, da hat einer den andern gerade zusammengeknallt. Und dort bearbeiten sich zwei mit Messern! Der dort schlägt mit der Pfanne dem andern auf den Schädel! — Herrlich, die Kerle bringen einander um!" brummt jemand. „Nicht mal Wachen haben sie ausgelost. Stehlen unser Gold und bilden sich ein, daß wir lange zusehen!" „Warten wir noch, Julius?" „Nein. Der Angreifer ist in diesem Fall im Vorteil. Warten wäre Torheit. Diese Kerle sind Diebe und Indianermörder und wollen uns auch ermorden. Genau wie damals die andern! Karaobrenowic, tu, was wir besprochen haben. Und zielt gut, die Schurken verdienen keine Gnade!" Karaobrenowic läuft nach den Ställen, die im Winter und jetzt den Pferden Unterkunft bieten. Und dann reitet er mit fünfundzwanzig, tief über die Pferdehälse gebeugten Männern in die Pampa. Sie beschreiben einen 214
flachen Bogen, kehren plötzlich um und galoppieren weitauseinandergezogen nach El Paramo zurück. Ihr Weg führt sie ziemlich dicht an Nummer Drei entlang, wo es von sich zankenden und raufenden Banditen wimmelt. Sie zügeln ihre Tiere, feuern vom Sattel aus jeder fünf Schüsse. Und jagen weiter. Hinter ihnen tobt wildes Geschrei, Schüsse knallen ihnen nach, und wütende Männer drohen mit Fäusten. Auf kürzeste Entfernung in die dichte Masse gefeuert, hatte die Salve Erfolg. Schlaffe Gestalten liegen wie Bündel am Strand; um andere, die sich noch regen, knien helfende Gefährten. Das erste Blut floß. Die Reiter bringen die Tiere in den Stall, gehen wieder an ihre Posten am Erdwall. Dieser, in monatelanger Zwischenarbeit, über die mancher geflucht hat, aufgeführt, ist nur wenige Fuß hoch, aber er schützt die Verteidiger, die in Abständen voneinander dahinterliegen, und bildet beinahe einen Ring um Paramo. Dort, wo er offen ist, rauscht Wasser, rollen Brecher aus der Bai heran. In die Bravos kam einige Ordnung. Von Nummer Sechs, Fünf und Vier strömt alles nach Drei. Pikets marschieren nach dem verlassenen Lager, und abermals tobt Wutgeschrei, unterbrochen von Schüssen, als sie sehen müssen, daß die vier Kutterwächter, die beritten aus der Pampa kamen, das Vieh davontrieben. Einer von denen drehte sich sogar noch im Sattel um, hob den Karabiner und drückte mehrmals ab. Drei der nächsten Verfolger machten schlaffe Luftsprünge, versanken dann im über ihnen zusammenschlagenden Gras. Und aus weiter schimmernder Ferne, dort, wo hinter Dunst und Wolken die majestätischen Darwinberge ihre blanken Eis- und Felsschultern aus dem klaren Wasser des Beaglekanals schieben und vom noch entfernteren Monte Sarmiento, der sich mit Schneeböen umschleiert, — da nahen, durch ihre Instinkte getrieben, die ersten Condore; ein Pärchen, das jetzt über der Pampa von Rio Grande und El Paramo im blauen Äther schwimmt. Und plötzlich, gleich 215
zwei Steinen, die rasend schnell größer werden, fallen sie herab. Sausend, tönend fangen sie sich wenige Meter über der Erde mit plötzlich gesteiften Schwingen prachtvoll ab. Und nun fassen gespreizte Klauen zu, und stählernharte Schnäbel hacken in die Beute. Des Nachts schleichen graue Füchse; der streifende Wolf heult das Rudel zum Mahl herbei . . . Nach ihren ersten beträchtlichen Verlusten wurden die Banditen vorsichtig. Eine einheitliche Leitung fehlt jedoch bei ihnen ganz; die einzelnen Anführer der zusammengewürfelten Horden zanken sich häufig, und ihre Freunde nehmen dann für sie Partei. Jeder möchte den Feldherrn spielen, und keiner taugt dazu. Viele verlassen ihre Posten, und man sieht sie bei Nummer Drei Gold waschen. Andere müssen auf die Jagd gehen, seit das Schlachtvieh verschwand. Eines Tages sieht man die Scharen der Gänse, Enten und Flamingos zu Tausenden sich in die Lüfte emporschwingen. Grau heben sich die Gänse kaum vom blaßblauen Himmel ab; die smaragdenen Hälse der Wildenten glitzern, und Flamingos treiben wie vom Wind geschüttelter, wilder Wein dahin. Alle diese Vögel, deren Brutplätze sie und ihre Vorfahren seit Jahrtausenden benutzten, von niemandem gestört, suchen sich jetzt neue friedlichere Stätten in dunstiger Ferne — als Protest gegen den Massenmord, den die hungrigen Banditen ununterbrochen unter ihnen veranstalteten. Aus dem Lager aber schleichen die Nachkommen der Türkenkämpfer aus der Czernagora, von den bulgarischen Wäldern und Matten, den rumänischen Steppen und den verkarsteten krainischen Küsten nachts einzeln oder in kleinen Gruppen, den Dolch zwischen den Zähnen, lautlos unter die Feinde. Und töten lautlos. Heißes, wildes Blut der Väter wurde lebendig in ihnen; und es bedarf der ganzen Autorität Poppers, sonst würden sie den erleg216
ten Feinden nach Vätersitte die Köpfe abschneiden und als gräßliche Trophäen auf den Wall von El Paramo pflanzen. Der Anführer einer kleinen Banditenschar, der sich mit den andern überwarf, sandte heimlich einen Mann und erbot sich, samt seinen Leuten zu den Verteidigern überzugehen. Mit Gelächter wurde er davongejagt und dabei nicht versäumt, den Belagerern den geplanten Verrat ihrer Freunde kundzutun . . . Ein Feuergefecht zwischen den Banditen selbst ist die Folge, und Condore, Füchse und Wolf haben gute Zeit. Ein konzentrierter Nachtangriff brach beim roten Schein der hinterm Wall angezündeten Kohlenfeuer im Blei der Verteidiger zusammen. Aber auch die Sociedad del Paramo hat ihre ersten Verluste dabei. Einzelne Haufen, vom Hunger, den Scharfschützen und den immer noch unter ihnen wütenden nächtlichen Dolchmessern mürbe geworden, ziehen nach lautem Streit mit dem zurückbleibenden Gros am nächsten Tag ab; verschwinden in flimmernder Pampa. Aber noch ist die Überzahl groß . . . So oft er kann, besucht Popper seine Frau. Sie erkundigt sich voll Sorge nach allem, er ist voll Sanftmut um sie bemüht; ihre großen schönen Augen glänzen in Liebe und Geduld. Dann schickt sie ihn wieder hinaus, blickt ihm nach und streichelt den weißen Hund. Es beruhigt sie, daß wenigstens Jacki bei ihr ist. Denn immer wieder pochen verirrte Kugeln gegen die Läden. Oft durchjagen starke Schmerzen ihren gewölbten Leib, es wühlt und schneidet wie mit Messern in ihr. Der Arzt, der seine Zeit zwischen der Wacht am Wall, den Verwundeten und Esperanza teilt, sagt, daß es noch nicht so weit sei . . . Plötzlich hoben die Banditen die Zernierung auf, zogen sich in ihr Lager zurück, und eine Abteilung von ihnen arbeitet wieder ganz gemütlich bei Nummer Drei. Doch halten sie scharfe Wacht. „Jetzt sind sie soweit! Zum Kämpfen haben sie keinen Magen mehr, und am liebsten wäre es ihnen, wenn sie unbelästigt neben uns arbeiten könnten!" 217
„Unter Arbeit verstehn diese Halunken, daß sie darauf lauern würden, bis wir sorglos sind und sie unser Gold mühelos einsammeln können! Bei der Panagia, mir schwillt der Zorn, wenn ich zusehe, wie sie Nummer Drei ausrauben!" „Du hast schon Recht, und deswegen sagte ich ja, daß es nun an der Zeit wäre. Hört gut zu!" Und Popper erklärt seinen Plan, alle machen immer vergnügtere Gesichter, und der Elsässer schlägt vor Freude auf seine Schenkel und jubelt: „Nom de Dieu, Jules, du bist ein Unikum. Ein Napoleon von Feuerland. Deine Idee ist glänzend!" Er eilt mit ein paar anderen nach dem Vorratshaus, wo nun ein geheimnisvolles, emsiges Tun anhebt. Nach Stunden ist ihre Arbeit beendet, und als Aage, von seinem Posten abgelöst, zurückschlendert, bleibt er stehen und bricht in lautes Gelächter aus: Vor dem „Männerhaus" liegen reihenweise ausgerichtet, reglos, fünfzig argentinische Kavalleristen in schönen neuen Uniformen und Schirmmützen. „Guck sie an! Sind sie nicht wundervoll? Und tapfer! Unverwundbar!" brüllt Pierre und hat Tränen in den Augen vor Lachen. „Holt die Señora! Lachen ist gesund für sie!" . . . Nacht sank herab. Sturm kam auf und heult, und die Wogen toben ungestüm gegen den Strand. Da reiten fünfzig Kavalleristen, Uniformen freilich nur, mit Pampasgras sorgfältig ausgestopft, alte Gewehre oder Stöcke umgehangen, in die Nacht hinaus. Berittene Goldsucher lenken je fünf von diesen Tieren mit den Puppen im Sattel. Matt flimmern die Gestirne. Und wieder wird es Tag. Klar, sonnenhell, sturmgeladen. Die Sicht nach dem Bravolager und darüber in die Pampa hinaus ist gut. Auf den Wällen, teils auch in Deckung dahinter, starren die Zurückgebliebenen in die Ferne. Geben auch manchmal einen Schuß ab, um die Belagerer in Atem zu halten . . . 218
Viele Banditen hocken um die Feuer, an denen es mit der Verpflegung sehr spärlich zugeht. Gerade hat wieder eine enttäuschte Horde beschlossen, den Rückmarsch anzutreten, denn bei dem Sturm kann man ja nicht einmal nach Gold fischen! Plötzlich kommt lebhaftere Bewegung in die zusammengedrängten Menschenklumpen. Alle springen auf die Füße, spähen westwärts: Dort kommen in einzelnen Pikets und großen Abständen, so daß sie fast den ganzen Horizont einsäumen — ihre Pferde ragen halben Leibes übers wogende Gras — langsamen Schrittes Reiter, Militär! Auf Verabredung fangen die auf den Wällen zu jubeln an. Und langsam, — noch sind sie weit weg und anscheinend auf müden Tieren — naht die argentinische Kavallerie. Jetzt hebt einer den Arm und winkt. Und dann halten sich die Belagerten alle die Bäuche vor Lachen. Denn als ob ein Tannenzapfen in einen kribbelnden Ameisenhaufen fiel, so entwirren sich die durcheinanderquirlenden Banditen. Einzeln oder zu zweien und in kleinen Trupps, ihre Bündel und Waffen in den Händen, fliehen sie, zwischen dem „Militär", das absichtlich langsam reitend sich konzentriert, und dem Strand hindurch, in die wogende Pampa hinaus. Sie rennen und stolpern in wilder Panik in die Wildnis, die sie vor Tagen ausgespien hat, zurück. Es geht wunderbar rasch! Nur kleine dunkle Figürchen sind's noch, dann Punkte, und auf einmal ist die Steppe, so weit man sie überblicken kann, leer . . . Von der Seite her nähert sich die martialische Kavallerie El Paramo. Lachend laufen und torkeln die Goldgräber ihnen entgegen, andere eilen in die Häuser, um schon Vorbereitungen für das Freudenfest zu machen. Nur einige werden als Kundschafter ausgeschickt. Und die Befreier, von tollem Jubel begrüßt, reiten ein; sie verschwinden dem Auge etwaiger Späher auf ganz natürliche Weise zwischen Ställen und Häusern. Und dann liegen bald wieder, in langer Reihe, stumme, ausgestopfte, siegreiche, unverwundbare Puppen reglos auf dem grauen Boden. 219
„Amigos, das war ein Spaß, hei! Ich glaube, die Kerle laufen in einer Tour bis nach Ushuaia!" jauchzt Börre. Aber Popper will ganz sicher gehn. Rasch sitzt er mit einem Dutzend der besten Reiter im Sattel. Karabiner im Arm, trotten sie in der Richtung der Geflüchteten. So eilig hatte er's, daß er noch nicht einmal zu Esperanza ging. Und nun ist er schon zu weit entfernt, um den Aufschrei zu hören oder zu sehn, wie Niki Pasic in das Häuschen stürzt, wieder an die Tür springt und nach Warmwasser ruft. Dumpf trommeln Pferdehufe und leiser, immer leiser wird hinter ihnen das tiefe Brausen der Brandung. Froh und miteinander lachend, reiten sie und werden nur ernst, wenn sie an den verstreut liegenden, halb vom Gras verdeckten weißen Knochenhaufen vorbeikommen, die Condor, Fuchs, Wolf und Ameisen liegen gelassen haben. Sie erreichen die ersten Nachzügler der Geflüchteten. Die werfen ihre Waffen weg, heben die Hände hoch und bitten kniend um Pardon. Nicht einer dieser Mörder bleibt aufrecht stehen und schaut seinem Schicksal wie ein Mann ins Auge . . . Man zerschlägt ihre Gewehre, nur eines läßt man ihnen, damit sie unterwegs auf die Jagd gehen können. Dann zieht man ihnen verächtlich ein paar mit dem Lassoende über und bedeutet ihnen barsch, sich davonzumachen und ja nicht etwa wiederzukommen, sonst dürften sie auf keine Gnade rechnen. Das bißchen Gold, das sie vielleicht in der Tasche haben, läßt man ihnen großzügig oder nur, weil keiner sich an die Untersuchung der schmutzigen Kerle machen möchte. Noch einige andere Haufen entwaffnet man auf die gleiche Art. Um einzelne über die Pampas Laufende kümmert man sich gar nicht. Am Abend reiten sie müde, aber zufrieden, in der Gewißheit, daß die Geschlagenen nicht mehr an Zusammenrottung und Rückkehr denken, heimwärts . . . Aber warum sind die Männer von El Paramo so schweigsam 220
und drücken sich beiseite, um nur nicht von Don Julio angeredet zu werden? Und warum weht die Flagge der Companie, eine mit der Hacke gekreuzte Goldgräberschaufel auf blauem Grunde, halbmast über dem Hauptgebäude? Er sieht es nicht, springt aus dem Sattel, wirft die Zügel über den Pferdehals nach vorn und geht, Freude auf dem Gesicht, nach seiner Hütte. Aus deren offener Tür quillt goldener Lampenschimmer. Und dann steht er plötzlich nicht weit vom Bett, auf dem seine Frau liegt, weiß, still, mit zugedrückten Augen. Ihr Antlitz ist so feierlich, so friedlich, als ob sie sehenden Auges einging in ein großes, gelöstes Rätsel . . . „Esperanza!" schreit der Mann. „Esperanza!" gellt seine Stimme. Und der andere Mann, der im weißen Kittel neben einer mit rotem Wasser gefüllten Schüssel steht, in der einen Hand ein winziges, schrumpliges, rosigblaues Wesen hält und mit der andern rhythmisch diesem Geschöpf auf den Rücken klatscht, hält in seiner Tätigkeit inne und malt ein großes Kreuz in die Luft. Ganz langsam, schleppend, geht Popper näher an das Lager und sinkt in die Knie. Er legt den Kopf neben die gefalteten Hände der stillen Frau, die nun nicht mehr das kleine süße Liedchen summen wird, wie es die jungen Weiber in den Arbeiterhütten von Iquique, wo sie herstammt, singen, wenn . . . Seine Schultern zucken und beben, und es ist ganz still in der Hütte, auch draußen schweigen die Stimmen der Freunde, nur das Meer rauscht laut sein ewiges Lied . . . Da durchschneidet ein dünner Ton die Lähmung der Menschen; und wiederholt sich, fein und hell. Der Mann im weißen, blutbefleckten Kittel spricht tief: „Sie ist schnell und schmerzlos eingeschlafen, nachdem sie noch das Kind betrachtete. Ich tat mein Bestes, aber die Natur und der menschliche Körper haben immer wieder ihre Rätsel. — Julius, der Kleine lebt, und es ist deine Pflicht, für ihn zu leben! . . . " 221
„Wird er denn hochkommen?" Müde und, ohne aufzuschauen, fragt der Gebeugte. „Wenn Aage und noch ein paar andere, die bereits fortritten, eine stillende Yaghanmutter irgendwo auftreiben. Sonst nicht!" Gepreßt klingt die Antwort: „Ich will jetzt an sie denken und beten. Für sie, für das Kind und uns alle!" Stille. Und wieder das dünne jammernde Stimmchen. Und das beschwichtigende Rauschen des Ozeans. Nach langer Zeit steht Popper auf. Das Gesicht zerfurcht, die Lippen schmal und blaß, aber in den braunen Augen glänzt unverminderte Zuversicht und Lebenskraft. „Gott — wir wollen ruhig Gott sagen und es nicht Schicksal nennen — hat genommen und gegeben. — Ich muß jetzt noch eine Pflicht erfüllen, Niki, bei den Freunden drüben. Bleib solange bei Mutter und Kind!" Dann geht er aufrecht zur Tür hinaus, und sein Sohn Julio Ultima Esperanza weint leise in den belebenden Händen des Mediziners. Stumm drücken sie Poppers Hände, streicheln über seine Schultern, blicken ihn aus mitleidigen Augen an und sprechen kein Wort, als ob sie wüßten, daß laut geäußertes Beileid nicht immer das richtige ist. „Freunde, ehe ich zu meiner toten Frau und meinem noch lebenden Kind zurückkehre, habe ich euch gegenüber die Verantwortung, ein weiteres Verhängnis anzukündigen, das wir genau so abwehren wollen wie die in alle Winde zerstreuten Bravos. Ich weiß es längst, wollte aber eure Sorgen in schweren Augenblicken nicht noch vermehren, als wir von dem Anmarsch der Banditen erfuhren. Heut sind diese besiegt, und ihr seid noch in der richtigen Stimmung und Laune, um auch der neuen Gefahr, die vielleicht größer wird als die verflossenen, im Auge zu sehen. — Pierre, du verkündest wohl den Inhalt dieses Briefes, den ich von Don Ramón Lista erhielt. — Mich entschuldigt, meine Freunde. Morgen steht euch meine Kraft wieder zur Verfügung. Und nun laßt mich zu meiner toten Frau!" . . . 222
Pyrrhussieg . . . „Ist er geworden ä graußer Mann, wo ist wie ä Keenig über ganz Feuerland. Schade, daß ist gestorben seine Esperanza, wo hat hinterlassen ä Kind, welches wird aufgezogen von 'ne Frau, wo ist ä Yaghanchaibe", sagt Abraham zu seiner Sarah in Punta Arenas und zeigt ihr die ersten neuen Münzen, die in Patagonien und auf Tierra del Fuego neben dem andern Geld zirkulieren. Sie werden voll anerkannt, obzwar sie ein Privatmann, ohne erst um die Erlaubnis zu fragen, prägen ließ: Münzen aus unvermischtem Feingold, zu fünf Gramm Gewicht, mit dem geprägten Namen „Julio Popper" auf der einen und der gekreuzten Hacke und Schaufel auf der andern Seite, Münzen, die in Zukunft einen hohen Sammlerwert haben . . . In den Kneipen und Bars flüstern sie es oder sprechen es laut aus: „König von Feuerland." Und Poppers Einfluß breitete sich wirklich, seit er das Banditenheer in die Flucht schlug und die ihnen bald folgende „Armee" von dreihundert argentinischen Soldaten verjagte, wie Präriefeuer über die ganze Insel aus. Und wenn er wollte, könnte er im Nu tausend Mann beisammenhaben. Sein Wunsch und Wille wurde zum Gesetz, wird eher befolgt als das des Gouverneurs, weil er vernünftig ist. Der Gouverneur residiert immer noch in Ushuaia. Die geschlagenen Soldaten, bei denen es keine Toten, sondern nur, wie Ramón Lista gebeten, Arm- und Beinschüsse gab, meuterten auf dem Rückmarsch, und man machte den hohen Beamten dafür verantwortlich, und aus Buenos Aires erhält er Vorwürfe über Vorwürfe. Poppers Zeitungsartikel in den Hauptstädten reißt man sich gegenseitig aus den Händen. Aber immer noch hat der Gouverneur gute Freunde, die ihn halten. Don Julio machte wiederholte Reisen nach der Hauptstadt; er entfaltet dort eine von juristischen Feinheiten strotzende, scharfgeschliffene, und wunderbar geschickte Pressekampagne. Die Ge223
sellschaft in den Salons wie der Mann auf der Straße — alle Welt redet nur von ihm. Öffentlich bezeichnet er den Gouverneur als unfähig, als Indianertöter, und wirft ihm versteckt vor — es kann und konnte nie recht bewiesen werden —, daß er zeitweilig mit den Bravos unter einer Decke steckte. Vier Duelle an einem Vormittag ficht Popper mit Freunden des Gouverneurs in Buenos Aires aus und bleibt siegreich, und im Anschluß veröffentlicht er einen Artikel, in dem er die Sitte des Zweikampfes als barbarisch und mittelalterlich brandmarkt, aber es sei leider oft die einzige Art, um mit gewissen zivilisierten Barbaren auszukommen und ihnen Raison beizubringen! Buenos Aires und die großen Städte der Provinz lachen — auf Kosten der Regierung. Von Frauen förmlich verfolgt, genießt Popper zwar das Leben, aber er bindet sich an keine; und wenn eine Schöne gerade denkt, sie hätte ihn eingefangen, so erzählt er ihr steinernen Gesichts von der Frau, die aus dem Wasser kam. Und von dem kleinen Julio Ultima Esperanza . . . Große Summen aus der Gemeinschaftskasse fließen nach wie vor an europäische Verwandte seiner Kameraden; ein Teil dieser selbst ließ sich ausbezahlen und fuhr nach Hause. Aage erinnerte sich an eine Jugendfreundin. Er schrieb ihr und bekam wirklich Antwort. Und eines Tages sieht man den riesigen Dänen im Frack und hohen Zylinder, aber seinen großen Colt umgeschnallt, am Kai von Punta Arenas stehn, einen gewaltigen Strauß künstlicher Rosen, Lilien und Chrysanthemen in beiden Händen. Und der Dampfer „Tehuelche" der Cosmoslinie kommt aus Antwerpen via Buenos Aires und bringt die große starke rotblonde, frohe Inger aus Odense nach dem Ende der Welt. Aus jenem Odense stammt sie, wo einst unter den dänischen Buchen am Strand der Ostsee ein junger schüchterner, schlaksiger Mann namens Hans Christian Andersen in seinem Kinderherzen Märchen schuf . . . Aage und Inger verwirklichen das Märchen ihrer getreuen 224
Liebe, fröhlich halten sie Hochzeit im „Cosmoshotel"; auch Abie Braun und Frau nehmen daran teil, Popper konnte leider nicht kommen. Und dann steuert Aage seine Gattin hinüber nach El Paramo, das zur stattlichen Siedlung geworden ist. Der kleine Ultima Esperanza, dessen Vater so oft in Buenos Aires weilt, daß der Sohn ihn gar nicht kennt und nach Kinderart Angst vor ihm hat, und dessen braune Pflegemutter längst wieder in die wilde gefährliche Freiheit zurückgepaddelt ist, — Poppers Sohn findet in der robusten, gutmütigen Dänin einen vollkommenen Ersatz für eine Mutter, und Aage ist sein Vater . . . Immer wieder setzt der „König von Feuerland", der über diesen pompösen Titel laut lacht, ihn aber nicht mehr abstreifen kann, durch seine Vielseitigkeit die Hauptstadt in Erstaunen: Wo hat er zum Beispiel nur die Zeit hergenommen — dieser „balkanesische Räuberhauprmann und Goldsucher" — eine genaue Karte von Feuerland zu zeichnen? fragt man sich. Wie ist's möglich, daß dieser ,Halbyaghan', der, wie man erzählt, eine häßliche tranbeschmierte Indiofrau heiratete, zoologische und ethnologische Veröffentlichungen über Feuerland vorlegte, die von den besten Gelehrten anerkannt werden . . . ? „Er ist charmant und bezaubernd, wenn er seinen Dogcart lenkt! Ach, und sein Klavierspiel, einfach himmlisch!" plaudern die Damen. Und die Armen der Wasserfront nicken einander zu und sagen: „Gestern war er wieder unter uns und hat Hundertpesoscheine und Gutscheine für Lebensmittel und Kleider an bedürftige Familien verteilt. Don Julio, das ist ein Kerl! Den sollte man zum Präsidenten machen!" Als er aber sogar eigene Briefmarken von Feuerland mit seinem Namen drucken läßt, setzen die nie ruhenden Intrigen gegen ihn verdoppelt ein. Und der Gouverneur in Ushuaia sagt gehässig zu dem ihn besuchenden Zuchthausdirektor: „Da haben wir den besten Beweis, daß dieser Abenteurer Feuerland als seine eigenste Domäne ansieht und ein eigenes Reich hier gründen will. Ich habe genügend gewarnt. Passen Sie auf, Don José, eines Tages wird 225
man uns fortjagen oder gar umbringen. Ich schlafe nie ohne zwei Revolver auf dem Nachttisch und den geladenen Winchester in Reichweite, denn auf die Soldaten ist kein Verlaß mehr, das sind insgeheim seine Anhänger. — Bedenken Sie doch, wozu diese auffällige Einwanderung von Dalmatinern und allen möglichen Balkanrassen, die er teils für El Paramo engagiert, die teils aber auch auf eigene Faust als Goldsucher operieren? Flibustier für die geplante Losreißung!" „Zwei seiner Fundplätze im schwarzen Sand der San-SebastianBai sind bereits erschöpft!" „Wenn nur die andern auch versiegten und er keine neuen mehr entdeckt! Dann würden wir ihn vielleicht los . . . Wissen Sie, was anhand der Bankbücher und Depotscheine insgeheim zu eruieren war, wieviel Gold durch Popper von Feuerland ausgeführt wurde?" „Aber das Bankgeheimnis, Caballero! . . . . " „Existiert nicht für die Regierung, wenn es sich um wahrscheinliche Verschwörer gegen den Staat handelt, Don José, amigo!" „Nun?" „Feingold im Gewicht von vier Tonnen!" „Ai virgen santa! Schätze von Ophir! Und das gehört alles ihm?" „Nein, der ehrliche Dummkopf teilt jede Unze mit seinen Leuten. Alles wird zu gleichen Teilen berechnet, und auch er, als Anführer und Entdecker, erhebt keinen Anspruch auf mehr. — Und viel Gold aus seinen Anteilen allein ist schon in El Paramo investiert!" „Man sagt, daß er die Schafzucht im Großen anfangen will!" „Dios, dann bleibt er ja hier, und ich bin meines Lebens nicht mehr sicher! . . . " „Hm. — Aber selbst dann, wenn er keine Steuern bezahlt, ist seine Niederlassung eigentlich gesetzlich unerlaubt. Ich habe es durchsetzen können, daß die ihm erteilten Konzessionen, die, unter uns gesagt, heutigentags keinen Wert haben, aber einmal 226
was wert sind, rückgängig gemacht werden und er keine neuen erhält. Und wenn er auch noch soviele Zeitungsartikel zusammenschmiert und gelangweilten Damen in Buenos als Kavalier die Hände küßt und sie spazierenfährt!" Der Sekretär trat lautlos ein. „Vergebung, Euer Gnaden, Exzellenz! Ich habe die Post der letzten Woche nochmals sortiert!" „Das Wichtigste wurde doch bereits gesichtet und zur Bearbeitung verteilt. Was stören Sie uns da noch?" „Vergebung, Euer Gnaden Exzellenz, Euer Ehren haben diesen Brief vom Ministerium übersehen. Er war bei den andern, vom gleichen Department!" „Gut, dann lassen Sie ihn schon mal hier. Und gehen Sie! . . . Sie erlauben doch, Don José?" Der Gouverneur schlitzt das Schreiben auf und liest. Auf seinem Gesicht malt sich zunehmende Bestürzung ab. Dann bricht er los: „Aber das ist doch nicht möglich! Es kann sich nur um eine Täuschung oder bösartige Mystifikation handeln! Tausend Teufel! Infierno! Da, lesen Sie, bitte!" Er wirft das Schreiben dem Besucher hin, ohne sich in seiner Wut dessen bewußt zu sein, welche diplomatische Torheit er damit begeht. Der andere überfliegt eifrig den Brief; murmelt halblaut und wiederholt die Sätze: „Da Sie unter gänzlicher Verkennung und Mißachtung der Verhältnisse auf Feuerland total verkehrte Maßnahmen ergriffen, wie es schon bei der beklagenswerten Ausrottung der Onas der Fall war, bitten wir Sie, die Frage der Goldgräbersteuer ruhen zu lassen. — Der Kommandant der in Ushuaia stationierten Truppen erhält direkten Befehl, daß er sich der Bekämpfung bzw. Gefangennahme und Ausweisung der auf argentinischem Gebiet operierenden Banden widme, wobei ausdrücklich gesagt sein soll, daß die ehrenwerte ,Sociedad del Paramo' nicht zu belästigen ist. — Wir bitten Sie sofort nach Erhalt Dieses, Ihr Amt niederzulegen, die laufenden Geschäfte dem ältesten Sekretär zu übergeben und mit dem nächsten Dampfer heimzukehren. Bis auf weiteres bleibt die Stelle eines Gouverneurs von Tierra del Fuego unbesetzt", usw., usw., usw. 227
Der kleine Herr läuft erregt hin und her. Stößt einzelne Worte aus: „Gemeinheit! Undank für treue Dienste! Tyrannenregierung! Wartet nur!" Und der Besucher sieht, daß es Zeit ist, sich diskret zu empfehlen. Nachher aber sagt er zu seiner Frau, einer hübschen Porteña: „Da hat also dieser Don Julio in Buenos Aires einer sich langweilenden Dame mit Erfolg den Hof gemacht!" „Recht hat er gehabt, weil er ein Caballero ist und weiß, was sich schickt. — Wenn wir Frauen die Politik machen könnten, wäre es bestimmt viel schöner auf der Welt! „Sicher wäre das erste, daß ihr ein Ministerium der Moden, Kosmetik und dergleichen einführt!" lacht der Gatte und gibt ihr dann einen Kuß. Wütend rennt der Gouverneur immer noch in seiner Kanzlei hin und her. Draußen gehen ein paar Männer vorbei, die mit dem Kutter von El Paramo für einige Erholungstage angekommen sind. Sie ziehen nach der „Albatrosbar", haben aber schon wo anders ganz hübsch getankt. Und singen im gemeinsamen Stentorchorus, zu den Fenstern ihres wohlbekannten Widersachers hinauf: „Wir zahlen keine Wuchersteuer! Nein! Nein! Nein! Viva Don Julio, el Rey de Tierra del Fuego! Viva la libertad!" . . .
König von Feuerland . . . „Was sagst zu deinem neuen Titel, Eure Majestät Julio I. von Tierra del Fuego?" „Pah, Aage, die Menschen sind ebenso schnell bei der Hand, einen andern auf den Schild zu heben wie ihn auch wieder zu verdammen!" „Der Ushuaiagouverneur wurde abgesägt; das hast du gut gemacht!" 228
„Ich nicht, Freund, seine Taten stanken zum Himmel, er hat die Onas auf dem Gewissen, die auf der Dawsoninsel wie die Fliegen sterben, weil sie sich nicht an die neuen Verhältnisse, wohl hauptsächlich die Kleider, gewöhnen können. — Die Konzessionen habe ich übrigens immer noch nicht wieder, wenn sie auch zur Zeit unnötig sind. Eines Tages wird man sie brauchen. Deshalb muß ich wieder nach Buenos Aires!" „Du bist mehr dort als bei uns!" „Was sagen die andern?" „Ein Haufen will wieder heimfahren. Kann's ihnen wirklich nachsehen, wenn sie als reiche oder wohlhabende Leute in Europa leben wollen. Und das weißt du ja, daß nur noch Nummer Eins und Drei Gold liefern. An den andern Plätzen sind der schwarze Sand und das Geröll jetzt taub." „Auch die beiden letzten werden jetzt bald versiegen. Und dann . . . " „Dann, Julius?" „Vielleicht entdecke ich neue, ich bin sogar überzeugt davon, es kann aber wieder Jahre dauern. Wie damals, weißt du. Ich mag auch jetzt nicht prospektieren, die Konzessionen sind mir weit wichtiger. Rio Grande wäre der geeignete Ort, um Schafzucht großen Stils anzufangen. Später kann man dann Matadores und Hieladores bauen, zum Schlachten und um Fleisch zu gefrieren. Ich weiß, daß die ,Explotadora de Tierra del Fuego' ein Auge auf die Gegend wirft!" „Schafzucht, ja das ist das Richtige; meine Frau — sie hatten daheim bei Odense drei Schafe im Stall, hohoho! — meint es auch. Drüben auf Patagonien, nicht weit von Punta Arenas, wüßte ich 'ne Stelle, die mir gefiele und wo ich aufbauen möchte. Aber erst muß die Sache hier auf Feuerland abgewickelt sein." „Und der Junge? Ultima Esperanza?" „ . . . nennt dich Vater und zu Inger sagt er Mutter. Ich bin ja glücklich darüber, denn leider habe ich kein Talent zur Kinderaufzucht; ich kann mich ihm auch nicht so widmen, wie ich's seiner 229
Mutter schulde. — Ach, Aage, das Leben hat manchmal unnötige Härten!" „Wissen wir beide wohl am besten, Julius. Aber du wärest der Letzte, der sich unterkriegen läßt!" „Ich habe Abraham Braun Order hinterlassen, vorläufig die Münzenprägung und den Briefmarkendruck einzustellen!" „Tust recht daran. Es ist ja egal, in welcher Geldsorte wir zahlen. Unser Gold ist gut! Hast wohl auch das übliche Gefasel gehört?" „Daß ich die Insel annektieren möchte? Das zwitschern in Buenos Aires die Spatzen von den Dächern. König von Feuerland! Barer Unsinn! Ich möchte König auf meiner Schaffarm werden, die ich im Sinn habe, mehr nicht!" „Julius, wir sind alte Freunde, und mir kannst du's ruhig sagen! Denn ohne Absicht hast du keine Münzen prägen lassen, um die sich die Leute in Punta und Ushuaia reißen, weil's pures Gold ist" . . . Popper starrt vor sich hin. Im Nebenzimmer sitzt die fröhliche Inger. Sie bessert Wäsche aus und sieht belustigt zu, wie der kleine Ultima Esperanza, dessen Name längst auf „Ultimo" gekürzt wurde, mit seinem besonderen Freund, dem treuen Alaskahund Jack spielt, ihn am glänzenden Fell zerrt und vor Freude laut brüllt. Da lächelt Popper Aage zu: „Bueno, amigo! Ja, ich gedachte Feuerland zu einer freien Republik zu machen. Aber es ist unmöglich. Die Freunde, so treu und anhänglich sie auch sind, denken zu oft an das bequeme Leben, das sie daheim erwartet. Denn ich, du, deine Frau und Gerard, wir sind fast die einzigen von allen, die dieses Land wirklich lieben und es nicht mehr verlassen wollen. Und neue Anhänger in den Balkanstaaten werben? Aage, es gibt Gesindel in allen Ländern, und das möchte ich nicht erst aussortieren. Hast du die Gesichter der Neuen beobachtet, als die Placers neulich ausgebeutet waren?" „Ja, diese dummen und gierigen Kerle möchten schnellstens 230
Millionäre werden und nach Paris oder sonst, wo's lustig ist, fahren. Und nach acht Tagen hätten sie keinen Centavo mehr." „Das einzige Gold von Dauer, wie ich meine, das ,weiße', sind Schafe, die in absehbarer Zeit die Pampas unübersehbar bedecken werden. Das will ich erleben und daran teilhaben, und wenn's mir den letzten Peso und Atemzug kostet . . . " Sie schweigen. Endlich ruft Aage: „Inger, koch' Kaffee und gib uns dazu deinen wunderbaren Odensekuchen. Komm, gib den Jungen solange her!" Die rotblonde Frau bringt den Kleinen, setzt ihn auf des Vaters Knie. Ängstlich plärrt er los, streckt die Ärmchen nach Aage und strebt von seinem Erzeuger fort. Der reicht ihn mit verlegenem Lachen dem Dänen. Und sofort ist das Kind ruhig. Geschäftig tröstet Inger in ihrem singenden Dänischenglisch: „Das geht vorbei, Julius. Wenn du öfters hier bist, wird er bald wissen, zu wem er eigentlich gehört!" „Wie entwickelt er sich überhaupt?" „Noch kann man nicht viel sagen, er ist zu klein und benimmt sich wie alle Kinder in dem Alter!" „Aage, weil Börre krank ist, mußt du mich morgen nach Punta Arenas bringen. Der Dampfer für Buenos ist bald fällig, und ich muß mit. — Da muß ich euch noch erzählen: Duprez, der ja auf der Heimfahrt war, hat neulich in Montevideo fast hunderttausend Pesos mit ein paar Puffdamen verjubelt. Er kam dann in Buenos Aires sehr traurig zu mir, und ich wollte ihn wieder herbringen, aber er schämte sich und ist mit dem Rest seines Geldes nach Australien. — Doch schau, da kommt der schwarze Karaobrenowic. Was er wohl will?" „Abmustern, schätze ich, Julius!" „Er ist einer der Besten!" „Stimmt. Aber das große Guthaben, das jeder hat, steckt den Burschen im Gehirn und verdreht ihnen unaufhörlich die Köpfe. Sie wollen sich mal richtig in einer ,Lichterstadt' amüsieren!" Kara tritt nach vorherigem lauten Klopfen ein. Er ist atemlos 231
und schreit ohne Einleitung: „Bei der Fatinitza, die in einem Sack im Bosporus ertrank! Julius! Die Ausbeute der letzten Woche wiegt keine Unze!" „Einmal muß das Gold, das wir seit langem einsammeln, ja versiegen, das ist doch natürlich! Meinst du nicht, Kara?" lacht Popper. „Ja, aber dann? Weißt du andere Plätze oder sollen wir . . . ach, Julius, es sind nicht mehr viel von den Alten bei uns, und die neuen Männer, die auch uns anstecken, sind übler Laune!" „Weil es den Herren zu langsam geht. Sie möchten am liebsten jeden Tag einen Kürbis aus Gold finden!" knurrt der Däne boshaft. Kara senkt beschämt den Kopf. „Es ist ein einsames Leben hier, das einige von uns seit Jahren führen. Du hast ja deine Frau, und Julius ist oft in Buenos Aires. Das ist ganz anders!" „So holt euch Weiber, zum Donnerwetter! Laßt sie herkommen, wie ich es auch machte. Für Bequemlichkeit soll gesorgt werden, Geld habt ihr ja alle plenty!" „Ja, Aage, weißt du, die meisten von uns wollen Landsmänninnen, von daheim. Ich hab' schon an meine Marfa geschrieben, sie will aber nicht in diese kalte Gegend kommen!" „Weil die Leute bei euch daheim denken, Feuerland ist eine große Eisscholle, voll skalpierender Indios und menschenfressender Tiere!" Popper mischt sich ein: „Kara, ich verstehe euch. Es wäre auch Unsinn, sich auf die Dauer in der Sebastianbai, der dürrsten, häßlichsten und unruhigsten, was das Rattern der Ufersteine anbelangt, und der ödesten, von Orkanen dauernd bestrichenen Gegend Feuerlands niederzulassen. Wenn kein Gold mehr entdeckt wird — und das ist bald der Fall — müssen wir El Paramo aufgeben. Das Land hier ist zu nichts zu gebrauchen. Wollt ihr also fort? Ich nehme es euch nicht übel ..." Der schwarze Karaobrenowic will etwas sagen; er schluckt ein paarmal, dann rennt er plötzlich hinaus. 232
„Feige sind sie doch! Ja, Julius, es gehören ganz bestimmte Männer dazu, Kerle, wie's nicht viele gibt, die dieses Land lieben und es nicht mehr verlassen wollen. Und auch solche Frauen. Esperanza war so eine, und hier meine alte Inger ist ebenso. Wir paar und wenige andere, aber verteufelt wenige . . . " „Nun hör schon auf zu unken. Trinkt Kaffee, und wenn euch der Kuchen nicht schmeckt, so kriegt ihr's mit mir zu tun. Setzt einen Aquavit oder auch zwei dahinter, dann wird euch besser!" schilt Inger, und stolz sagt der Däne: „Da sieht man wieder, was eine tüchtige Frau wert ist!" Gedankenversunken murmelt Popper: „Ja, sie war tüchtig und gut." Inger legte den Finger auf den Mund und macht ihrem Gatten heimliche Zeichen. Da richtet Popper sich auf. „Also, du weißt Bescheid. Wer ausbezahlt werden will, den schickst du mit den nötigen Unterlagen zu Abraham. Banditen oder Militär stören euch nimmer, die machen einen großen Halbkreis um El Paramo, der Burg des sogenannten Königs von Feuerland. — Morgen fährt mich der Kutter nach Punta Arenas. Mein Sohn ist bei euch in guten Händen, habt Dank dafür und auch den Dank der toten Mutter. Inger, dieser Kuchen ist einen Extrakuß wert, den dir Aage nachher geben soll, wenn ihr allein seid!" Er lacht vergnügt. „Julius, du solltest wirklich wieder heiraten!" rät die Frau. „Will ich auch. Wenn wieder eine aus dem Wasser kommt! Eher nicht! Prosit Inger, sollst leben!" . . .
Ich komme zurück, sagt er . . . So, wie der erdnahe Meteor den Himmel überwölbt und doch nicht ganz dort herabkommt, wo er sollte, und dann langsam mit blutrotem Schein erlischt — so ist das Dasein des außergewöhnlichen Abenteurers, Kämpfers, Gelehrten, Goldfinders und Friedensuchers Julius Popper auf Tierra del Fuego gewesen . . . 233
Am intensivsten strahlte der Glanz dieses Meteors, als er den ihm unerwünschten Titel König von Feuerland angehängt bekam und als sein geheimster Wunsch, der „Freistaat Tierra del Fuego", in Scherben ging. Und er nahm ab mit dem Versiegen seiner märchenhaften Goldfundplätze bei El Paramo, an der dürren, trostlosen, sturmgemarterten, vom Donnern und Rauschen ruheloser Wogen und dem Kreischen der Albatrosse durchtönten Bahia de San Sebastian. Und er versank last not least in den Intrigen bornierter, mißtrauischer, kleinlicher Menschen . . . Wohl setzt Popper seine ganze Energie in Buenos Aires ein; er schreibt glänzende Polemiken und Artikel, erwirbt neue Freunde und Feinde. Man tritt ihm nicht offen entgegen, schlägt sein Begehr nie direkt ab, sondern schiebt alles hinaus, vertröstet ihn mit Quien sabe und mañana. In jener unsicheren Blütezeit südamerikanischer Revolutionen wechseln die Minister häufig, und maßloser Ehrgeiz militärischer Politiker hat keine Zeit für Werke, die erst angefangen sein wollen. Popper erhält Versprechungen und halbe Zusagen, aber nie etwas Bindendes. Sie hören ihm interessiert, ja fasziniert zu, halten ihn für einen buen hombre und tollen Kerl, nicken lächelnd, loben seine Absichten, laden ihn ein. Und bei solchen Gelegenheiten wird der Goldgräber mit dem graugewordenen van-DyckBart dann zum bezaubernden Gesellschaftsmenschen, der die juwelengeschmückten Porteñas hofiert, sie in Konzerte begleitet, ehrbar mit ihnen flirtet und bei dem man sich nie langweilt und von dem die Herren wissen, daß ihre Damen bei ihm in bester Obhut sind. Aber mit seinen Plänen kommt er nicht weiter. In Buenos Aires erreicht ihn die Nachricht vom gänzlichen Versiegen des El-Paramo-Goldes und von der Auflösung der Sociedad. Die meisten, die heimfahren, besuchen ihn; er trinkt dann mit ihnen, singt ihre alten heulenden Lieder mit ihnen und beschützt die den Fallen der Großstadt Ungewohnten und ist ihr „Julio", 234
der sie zuletzt noch an den Europadampfer bringt und sie Kapitän und Chefsteward ans Herz legt. Einsam hausen Aage und Inger mit dem kleinen Ultimo und dem bellenden Jack in El Paramo und warten nur auf seine Rückkehr. Der Däne leitete seinen Plan in die Wege, eine patagonische Schafestancia zu errichten. Ruhelos und verbissen arbeitet Popper für seine viel größeren Pläne, doch abends, wenn er die nutzlosen Gänge nach den Oficinas absolviert hat und in lustiger Gesellschaft ausruht, dann strahlt er in unbesiegbar guter Laune, voll Zuversicht und Lebensmut. Schließlich nimmt er zu den damals üblichen Bestechungen Zuflucht, und sein Gold findet willige Abnehmer und fließt in geöffnete Hände; aber es versickert spurlos, ohne Resultat. Das riesige Vermögen des Feuerlandkönigs schmilzt wie Schnee an der Sonne . . . Nach wie vor schlendert er zuweilen in den Slums umher, verschenkt viel Geld an solche, die es ihm wert dünken. Und kein Hafenbravo, kein Messerheld rührt Don Julio an. Die Regierung läßt ihn Tag und Nacht überwachen. Bei dem Nimbus dieses ungekrönten Königs vom Ende der Welt wäre es ihm ja ein leichtes — denken sie —, wenn er nur wollte, sich an einem revolutionären Pronunciamiento zu beteiligen. Aber er will nichts als die versprochenen Landkonzessionen. Als er die Tatsache erfährt, daß ausgerechnet jener Bodengrant bei Rio Grande der jungen Gesellschaft „Explotadora" zugeteilt wurde, da kehrt er, sich unbesiegt fühlend und von Reportern, jubelnden Italienern und sonstigen kleinen Leuten der Hafengegend, die ihm Ovationen bringen, an den Dampfer begleitet, für eine Zeitlang nach Feuerland zurück. Er ruft, den Hut schwenkend, mit seinem warmen Lachen den Leuten an der Pier zu: „Hasta la vista! Auf Wiedersehn! Denn ich komme wieder, um mein Recht zu holen. Ich komme wieder!" . . . In jener Nacht mußte die Polizei einen kleinen Aufstand im 235
Hafenviertel mit Gewalt unterdrücken. Und bis in die weiten Grasmeere der Pampas, zu den malerischen, chevaleresken Gauchos, dringt verworrene, beinahe mythische Kunde von der Existenz des Don Julio und seinen Goldschätzen. Gitarren klingen zu schnell gedichteten Canziones von El Rey de Tierra del Fuego y del Oro . . . In Punta Arenas, wo er den guten, ihn sorgenvoll warnenden Abraham Braun besucht, und in Ushuaia hat er Hunderte von Freunden, unter denen sich die Feinde verstecken und frohlockend über seinen Mißerfolgen brüten. Ein angetrunkener Abenteurer brüllt in der Seven Seas Bar: „Holá, Don Julio, die Goldplätze sind leer! Was machst du nun?" „Meinen Sohn und seine Pflegeeltern besuchen, dann mein Recht in Buenos holen; zurückkommen, um, wenn mein Vermögen für die geplante Estancia nicht ausreicht, neues Gold zu suchen und zu finden!" entgegnet er schlagfertig und wirft einen Hundertpesoschein auf den Tisch: „Für die Damen!" „Viva Don Julio! Viva el Rey!" brüllt alles begeistert, und auf den Schultern eines breiten kräftigen Pelzjägers wird er dreimal ums Haus getragen, und dutzende Revolver schicken krachende Freudensalven gegen den Himmel. „Cuidado, amigos, bleibt vernünftig! Wenn wir jetzt drüben in Ushuaia wären und mein Freund der Gouverneur wäre noch dort, so könnte man mich wegen Aufruhr und Annexionsgelüsten in den Calabous sperren. Und ihr hättet Schuld!" scherzt er, und donnerndes Gelächter, vermischt mit „Vivas", hallt wieder durch das kleine Städtchen an der grauen brausenden Magellanstraße . . . In El Paramo bleibt er nur kurz, um die wertvollsten Gegenstände, an denen er, Aage und Inger besonders hängen, an Bord des Kutters zu schaffen. Auch bringen sie Esperanzas Grab in Ordnung. Die Drei und das Kind sind jetzt ganz allein übrig; und als sie sich einschiffen, bleibt El Paramo, die Siedlung, bei der die größ236
ten Goldschätze von Feuerland gehoben wurden, dem langsamen Verfall gewidmet, verlassen in der Einsamkeit. Drei Menschen — der Sohn und die Tochter der ehemaligen Normannen und der rumänische „König von Feuerland" —steuern und segeln den Kutter über die rollenden Wogen nach Punta Arenas. Unten, in der winzigen Kajüte, sitzt Jack, der Schlittenhund aus Alaska, vor der Koje, in der friedlich der kleine Ultimo schläft. Gegen die Bordwand klatscht, rauscht und pocht es dumpf. Es sind die Wasser, aus denen seine Mutter, „die Frau", einst gekommen ist . . .
Le Roi est mort ... und Popper ist wieder in Buenos Aires, um unermüdlich den Kampf für sein Recht fortzuführen. In großen Überschriften verkünden „La Prensa" und „El Diario" und andere Zeitungen: „Don Julio, el rey, weilt wieder in der Hauptstadt." Er hat Anhänger und Gegner, und es bilden sich förmlich zwei Gruppen, und ohne die Absicht Poppers wird sein Name in den zur Zeit nur unterirdisch gärenden Parteikämpfen als Bannerträger von Recht und Freiheit benutzt. Mehr als einmal seufzt der Polizeidirektor vernehmlich: „Dieser verdammte Don Julio! Caramba, wenn sie ihm doch endlich diese wertlosen Konzessionen für sein Ende der Welt geben würden, daß er davonfährt. Der Kerl wird noch zum Anlaß einer Revolution!" . . . Poppers Geld schmilzt dahin, und er kämpft seinen Kampf gegen die Windmühlen des Bürokratismus weiter. Zwei-, dreimal geht er ans Ende der Welt zurück, besucht Aage und Inger auf ihrer Estancia, streichelt den Sohn, macht lange Ritte, wo er dann voll Ungeduld die Schafherden anderer, die sich unaufhaltsam ausbreiten, wie große weiße Schneefelder über die Pampas fließen sieht. Sein Traum . . . „Ich will mein Recht. So lange will ich noch leben, bis Gerech237
tigkeit auch am Ende der Welt Einzug hält!" murmelt er und galoppiert dann davon. . . . „Waih geschrien, sind Se wie ä Biffel, wo anrennt gegen ä graußen Berg, Herr Popper! Sarahleben, hol' de gute Flasche, wo steht mit Spinneweben in der Ecke im Keller!" klagt und murmelt Abie Braun und fährt fort: „Haben Se ä gewaltiges Geld ausgegeben for nix in Buenos Aires. Wenn Se machen so fort, dann sind Se bald pleite, wie ä armer geschlagener Lazarus. Doch wird Ihnen dann leihen Abraham Braun, welcher ist Ihr Freund, wenn Se was brauchen. Und können Se's zahlen zerrick in hundert Johr! — Rat ich Ihnen aber, nehmen Se, was Se haben, und fahren Se nach Australien, dort können Se auch gründen ä grauße Farm mit Schaftiere!" „Abie, Sie sind ein guter Freund! Aber ich will nicht nach Australien, sondern nach Buenos, um mein Recht zu holen, und außerdem liebe ich Feuerland!" „Wie haißt lieben Feuerland, welches ist keine Chaibe, sondern ä Insel ans Ende der Welt! — Nu, bleib'ch ja auch hier in Punta Arenas, wo'ch hab' angefangen mit kleine Konserventöppchen. Will ich nicht mehr machen fort von hier." „Wann fährt der Dampfer?" „Herr Zebaoth, können Se nich erwarten 's grauße Unglick?! Fährt der Dampfer morgen abend rund fährt er Se ins Verderben, wenn Se wollen glauben de Ahnungen von dem alten Jidd Abraham Braun, welcher ist Ihr Freund, wenn Se auch im Glauben sind ä Goy. Bleiben Se, Herr Popper!" beschwört er, und Sarah bricht in Tränen aus, während die Kleine verwundert von einem zum andern starrt. „Ich muß mein Recht haben!" brummt Popper und trinkt aus, schüttelt ihnen die Hände und schenkt der kleinen Sarah ein Poppergoldstück für ihre Sparbüchse. „Auf Wiedersehn!" . . . Zwei Wochen später fahren Aage und Frau Inger zum letzten Male nach El Paramo. Sie bringen den kleinen Ultimo, der an 238
Scharlach starb, dorthin. Damit er ruhig bei seiner Mutter unter dem Hügel schlafe . . . Und acht Wochen darauf bringt der Dampfer die Nachricht von Poppere rätselhafter Ermordung in Buenos Aires. Ein Murmeln und Flüstern, auch lautes Schimpfen, Fluchen und Drohen weht über Patagonien und Feuerland, überall wo Weiße und Indianer sind. Es verebbt nur ganz langsam, im Brausen der gegen die finsteren Küsten prallenden See. Aage und Inger weinten. „Julius war ein Freund und ein Mann!" sagt Aage; und überall in den Kneipen, Bars, den Oficinas, auf den Estancias und in Goldgräberlagern und in Indianerkanus, die von halbnackter Mannschaft durch die wunderschönen gefährlichen Kanäle gepaddelt werden, bei Freund und Feind klingt sein Nachruf: „Er war ein Mann!" Elegisch sagte ein französischer Goldsucher: „Le Roi est mort!" . . . „So müssen gehn oft de Gerechten! Sarahleben, wer wollen gedenken seiner, am Schabbes und darüber hinaus!" murmelt der alte Abraham . . . Der Komet, der über Feuerland die Aura seines Goldglanzes wob, ist erloschen . . . In der düsteren, unbekannten Sumpfwelt eines obskuren Goldundplüschhotels zu Buenos Aires. Viel Gold haben sie seither nicht mehr auf Feuerland gefunden, seit der König tot ist . . .
In gleicher Ausstattung erschienen von E R N S T F. L Ö H N D O R F F
AMINEH Die zehntausend Gesichter Indiens So hat noch kein Europäer Indien erlebt: Mit braun gefärbter Haut, bekleidet mit weißem Hüfttuch und Sandalen, den Oberkörper mit heiligen Arabesken bemalt, durchwandert Löhndorff das geheimnisvolle Land, die große Mutter Indien. In Gebetshäusern, die nie ein Weißer betrat, hat er gekniet, ist mit Schlangenbändigern und Feuerspeiern gezogen und hat mit Tigerjägern die Dschungel durchquert. Mandeläugige Frauen verwöhnen ihn, und eine, die zarte wundersame Amineh, in den Künsten der Liebe wie der Wissenschaften des alten Indiens erfahren, beglückt ihn mit ihrer Liebe. Durch die unerhört farbigen Filme dieses Buches, durch die tausend Bilder des Volkslebens, der Steppen, Ströme und Hochgebirge zieht sich der Roman dieser Liebe wie eine leise, unfaßlich schöne, tragisch gefärbte Melodie.
BLUMENHÖLLE Urwalderlebnis Die Reise in die „Blumenhölle am Jacinto" unternimmt Ernst F. Löhndorff mit zwei Männern, die wunderliche Orchideen jagen, um der Sammelleidenschaft englischer Sirs zu entsprechen und ihnen Luxus und Rausch der Seltenheit zu verschaffen. Er erzählt von den Fieberträumen der dampfenden Wildnis, von den Spielhöllen am Ufer einsamer Flüsse, von den unsichtbaren Blasrohrindianern, die den Weg der Orchideenjäger ständig begleiten und aus dem Hinterhalt ihre Giftpfeile absenden. Er erzählt von der Sklaverei der Plantagen, von dem Standgericht der freien Männer aus der Wildnis, er erzählt das Epos vom schwarzen Golde, vom Kautschuk, das eines der traurigsten und romantischsten der Menschheit ist. In diesem Buche ist das Fieber der Erlebnisse, das betäubende Wunder der Orchidee, die verführerische Lockung und Verzweiflung des Abenteuers. CARL
SCHÜNEMANN
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VERLAG / B R E M E N
. . . 1980 auch als Romanheft erschienen: