Das Experiment war von langer Hand vorbereitet. Es sollte dem Wohl der Menschheit dienen. Unverständlich war, aus welch...
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Das Experiment war von langer Hand vorbereitet. Es sollte dem Wohl der Menschheit dienen. Unverständlich war, aus welchem Grund es auf rätselhafte Weise sabotiert wurde. Die Sache wurde noch verworrener, als der Geheimagent spurlos verschwand, den man zur Aufdeckung der Hintergründe ausgeschickt hatte. Nur wenige Menschen hatten Zutritt zu dem streng bewachten Versuchsgelände, und der Sabotageverdacht fiel naturgemäß auf die Männer, die mit dem Projekt unmittelbar beschäftigt waren. Weder Martin Enders noch seine Auftraggeber konnten ahnen, daß hinter allem eine außerirdische Macht stand.
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher: Der Zeitauflöser (3564)
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31003 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE TRANSCENDENT MAN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wim Koll Umschlagillustration: ACE Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1953 Jerry Sohl Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31003 6
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sohl, Jerry: Unsichtbare Herrscher: Roman / Jerry Sohl. [Aus d. Amerikan. übers. von Wim Koll]. – Frankfurt/M. Berlin, Wien: Ullstein, 1979. (Ullstein-Bücher; Nr. 31003: Ullstein 2000) Einheitssacht.: The transcendent man
ISBN 3-548-31003-6
Jerry Sohl
Unsichtbare Herrscher Roman
Science Fiction
1 Martin Enders erlebte etwas Seltsames. Er fühlte es, noch bevor er das Lachen hörte. Es passierte, nachdem er dem Soldaten, der am Tor Wache hatte, seine Ausweise gegeben hatte. Der Korporal sah sie sich einen Augenblick lang verwirrt an, dann führte er ihn ins Wachlokal. Dort übergab er ihn dem Offizier vom Dienst, einem asketisch aussehenden jungen Mann, der eine Miene aufgesetzt hatte, als würde er nicht einmal seinen eigenen Sinnen trauen. Der Leutnant verglich das Foto auf dem Ausweis mit dem Mann, der vor ihm stand. Er starrte Martin so lange an, als möchte er sich jede Hautpore und jedes Haar der Augenbrauen in sein Gedächtnis einprägen. »Sehe ich vielleicht jemandem ähnlich, den Sie kennen?« fragte Martin, über die genaue Überprüfung ungehalten. »Nein, warum?« »Ich dachte, sie versuchten, mich irgendwie unterzubringen.« »Sie werden feststellen, daß das hier in Park Hill die Regel ist. Alles und jedes wird hier doppelt und dreifach überprüft. Für mich ist es wichtig, ein Gesicht niemals mehr zu vergessen. Von wem haben Sie den Ausweis bekommen?«
»Vom Büro des Generalstaatsanwalts.« »Wen möchten Sie besuchen?« Martin gab ihm den Brief, den er schon bereitgehalten hatte. »Dr. Eric Penn«, sagte er zum Leutnant. »Ich komme vom National Scene, wie Sie sehen.« Der Offizier runzelte unwillig die Stirn und nahm den Brief. »Niemand darf Dr. Eric Penn besuchen«, sagte er, als er den Brief auseinanderfaltete. Als er den Briefkopf sah, sprangen seine Augenbrauen in die Höhe. Er sah Martin kurz an, dann las er wieder. Beim Lesen bewegte er lautlos die Lippen. Als er fertig war, gab er das Schreiben zurück, öffnete die Tür in der Barriere und bot Martin einen Sessel neben seinem Schreibtisch an. »Sie verstehen unsere Vorsichtsmaßnahmen«, sagte der Leutnant. »Sicherheitsgründe vermutlich.« Der Offizier nickte. Er war jetzt freundlicher, aber immer noch verrieten sein Blick, die Art, wie er die Lippen zusammenpreßte, und die Bewegung seiner Hände Mißtrauen. »Ich muß Ihnen eine Menge Fragen stellen«, sagte er. »Einige Formulare sind auszufüllen. Man wird Ihnen die Fingerabdrücke nehmen.« »Ist das alles nötig?« »Leider ja – trotz dieses Briefes vom Kommandierenden General.«
Martin fügte sich brummend. Er wurde gemessen, gewogen, man verglich seine Unterschrift und seine Fingerabdrücke mit denen auf dem Ausweis. Seine Stimme wurde mit einem kleinen Tonbandgerät aufgenommen. Erst nachdem Martin durch eine mit einem besonderen Stahlrahmen versehene Tür geschritten war, ließ die Spannung des Leutnants nach. Kein Klingeln war ertönt, kein Licht aufgeflammt. Der Leutnant schaffte sogar ein kleines Lächeln, als er Martin die Armbanduhr, die Gürtelschnalle aus Metall und das Münzgeld zurückgab. Er zeigte ihm hilfsbereit das Verwaltungsgebäude, das am Ende eines ziemlich langen Weges einige Blocks entfernt lag. Und auf diesem Weg von der Wachstation am Tor zum Verwaltungsgebäude passierte der seltsame Zwischenfall. Die ziemlich breite Straße war schnurgerade und von Büschen eingesäumt. Als Martin auf ihr entlangschritt, hatte er das Gefühl, der Leutnant würde ihm vom Tor aus nachsehen. Er fragte sich, ob jemand in dem Gebäude vor ihm sein Kommen beobachtete. Forrest Killian mußte vor drei Monaten den gleichen Weg entlang gegangen sein. Martin fragte sich, ob Forrest damals von den gleichen Gefühlen bewegt war wie er jetzt. Etwa in der Mitte der Strecke zwischen Wachstation und Verwaltungsgebäude überkam Martin die er-
ste seltsame Empfindung – er hatte das Gefühl, ein kühler Wind würde ihn mit wechselnder Stärke durchwehen, der ihn bis ins Mark frösteln ließ und seinen Verstand umwölkte, bis er schließlich abflaute und erstarb. Dann hörte er das Lachen. Es kam höchstens aus sechs Metern Entfernung von rechts. Martin drehte den Kopf, um zu sehen, wer da lachte, und blieb so stehen, daß er durch eine kleine Lücke zwischen den Büschen blicken konnte. Ein Kind spielte in der Oktobersonne, ein pausbakkiger dunkelhaariger Junge, den Martin auf etwa sechs Jahre schätzte. Der blauäugige Bursche stand auf dem gepflegten Rasen und beobachtete eine rote Kugel, die in der Luft schwebte. Der Junge sprach mit dem Ding. Die Kugel stand bewegungslos in der Luft, dann fiel und stieg sie wie auf Kommando. Und jedesmal, wenn das der Fall war, kicherte das Kind. Plötzlich blieb die Kugel stehen, dann drehte sie sich rasend schnell und – verschwand. Schallend ertönte das kindliche Lachen. Martin war eben dabei, sich von dieser wundersamen Szene abzuwenden und sich zu fassen, als neue kalte Wellen eines schwach prickelnden Gefühls über ihn glitten, die seine Muskeln lähmten. Der Junge stand stocksteif, seine Augen waren geschlossen, er schien sich stark zu konzentrieren. Die kindlichen
Lippen waren fest zusammengepreßt, und die Stirn war vor Anstrengung gefurcht. Vor dem Jungen, ein wenig über Kopfhöhe, entstand so etwas wie ein Luftwirbel. Dann nahm ein schwarzes Ding Gestalt an und fiel zu Boden. Es lief sofort weg – eine Katze. Der Junge lachte. Und dann erblickte der Junge Martin. Im gleichen Augenblick erstarb sein Gelächter, und die strahlenden, durchdringenden Augen wurden starr. Eine Sekunde lang blieb das Kind still stehen. Dann lief es über den Rasen davon.
2 »Ich habe mich mit einer Darstellung meines Lebens nur einverstanden erklärt, weil ich dachte, es könnte der Wissenschaft der Biologie nützen und vielleicht einige junge Wissenschaftler ermutigen«, sagte Dr. Penn. »Jetzt sagen Sie mir, daß Sie buchstäblich mit mir zusammen leben wollen, Mr. Enders.« Martin lächelte. »Ich möchte behaupten, daß Sie doch nicht alles, was Sie über Biologie wissen, durch ein gelegentliches Interview erfahren haben, Dr. Penn. Sie mußten mit ihr lernen.« Dr. Penn lachte. »Ich bin sicher, daß Sie nicht so lange mit mir leben müssen, als ich schon mit der Biologie lebe. Ich bin davon überzeugt, daß Sie mich viel unkomplizierter finden werden als die Biologie. Aber offen gesagt« – er sah Martin mit plötzlichem Ernst an – »ich sehe nicht recht, woher ich mir die Zeit nehmen soll.« »Ich kann Sie versichern, daß Sie mich nicht einmal bemerken werden, wenn Sie zu tun haben, Dr. Penn. Ich werde mir meine Fragen aufheben, für die Stunden, in denen Sie Zeit für mich haben – wenn Sie nicht arbeiten.« »Solche Stunden gibt es nur wenige und in großen Abständen.«
»Ich werde es darauf ankommen lassen«, sagte Martin. »Ich nehme doch an, daß Sie National Scene lesen?« »Ich bin Abonnent. Schon seit Jahren. Ihre Leute arbeiten sehr ordentlich.« Der Doktor ließ die Hand über einen Ständer mit Maiskolbenpfeifen gleiten, wählte eine und füllte sie aus einem Tabakkästchen. »Das ist eine von meinen Missouri Meerschaumpfeifen«, sagte er. »Ich bekomme alle möglichen von diesen Dingern zu Weihnachten, aber diese haben etwas an sich, was ich besonders mag. Das sind doch die Dinge, die Sie für Ihre Charakterstudie brauchen, nicht wahr?« Martin nickte. »Wissen Sie, National Scene bemüht sich, den Kern eines Menschen zu erfassen. Wir versuchen zu erklären, wie er denkt, weshalb er so denkt, wie er dorthin kam, wo er ist, und weshalb man ihn für eine wichtige Persönlichkeit hält.« »Wer sagt denn, daß ich eine wichtige Persönlichkeit bin?« Dr. Penn sah über die Flamme des Streichholzes hinweg, das er zum Anzünden seiner Pfeife benützte. Er war ein außergewöhnlich großer und wuchtiger Mann mit einer Adlernase. Das Streichholz hielt er mit langen schlanken Fingern. Seine schwarzen Augenbrauen waren buschig und verliehen seinen Augen etwas Hypnotisches. »Der Nobelpreis, Doktor. Die lange Liste der Erfolge, die hinter Ihrem Namen stehen.«
An diesem Mann war etwas Eigenartiges. So lange Martin denken konnte, war er in der Lage gewesen, das Wesen der Menschen, mit denen er zu tun hatte, zu erfühlen. Auch die Fähigkeit, die Emotionen anderer Leute zu spüren, war etwas mehr als Intuition. Als er erst einmal entdeckt hatte, daß diese Gabe nicht allzu häufig war, hatte er über die Tatsache, daß er sie besaß, nicht mehr gesprochen, hatte sie jedoch, im stillen dankbar dafür, ständig ausgenützt. Wenn die Angst eines Menschen, sein Stolz, sein Ehrgeiz oder sein Ärger ihm förmlich ins Gesicht schrien, war er oft erstaunt, daß andere Leute im gleichen Raum nichts beobachteten. Er hielt diese Fähigkeit für eine natürliche Eigenschaft, etwa so, wie andere mit dem absoluten Musikgehör beschenkt sind. Was ihm bei Dr. Penn rätselhaft erschien, war das Fehlen von üblichen Gemütsregungen. Nur eine unbestimmte Kraft war da, das spürte Martin mit Sicherheit. Aber welcher Art sie war, konnte er nur raten. Sein einziger Schluß daraus war denn auch, daß diesem Mann mit den gewöhnlichen Mitteln nicht beizukommen war. Dr. Penn blies das Streichholz aus. »Sie sehen dieses Büro?« Eine Geste mit seinem Arm umfaßte den ganzen Raum. »Was sehen Sie hier? Sieht es so aus, als würde ich hier arbeiten? Ein Schreibtisch, Sessel, Lampen. Eine Schreibmaschine, ein Telefon. Sehen
Sie ein Reagenzglas oder ein Mikroskop? Ich bin nur hierher gekommen, weil ich mich hier mit jemandem zu einer Verabredung treffen kann. In meinem anderen Büro kann ich jemanden von draußen nicht empfangen. Was bedeutet das für Ihre Story, Mr. Enders?« »Es bedeutet, daß wir in Ihr anderes Büro gehen werden.« Der Doktor zog an seiner Pfeife und schüttelte den Kopf. Dicker Tabaksqualm wirbelte zu seinen kurzgeschnittenen grauen Haaren hinauf. Die hellblauen Augen unter den dichten Brauen waren beinahe verdeckt davon. Der Mann gab Martin noch immer nichts zu erkennen. »Es bedeutet, daß ich Sie täglich nur kurze Zeit empfangen kann«, sagte der Doktor. »Niemand außer ›autorisiertem Personal‹, wie es die Armee nennt, darf ins Labor. Genügt es Ihnen und Ihrer Zeitschrift, das Interview mit mir auf die paar Minuten zu beschränken, die ich Sie hier werde sehen können?« »Man hat mich mit dieser Reportage beauftragt«, sagte Martin beinahe stur, dann lächelte er jedoch. »Sie werden feststellen, daß National Scene sehr gründlich recherchiert, Doktor.« Er faßte in seine innere Jackentasche, holte einen Umschlag hervor und entnahm ihm zwei Briefe. »Diese Schreiben werden Ihnen bestätigen, daß ich für zuverlässig befunden
wurde und man mir auch das beste Material zur Verfügung stellen darf.« Er reichte die Blätter über den Schreibtisch. Der Doktor zog eine Brille aus seiner Brusttasche und las die Behördenbriefe. »Sie und Ihre Zeitschrift sind mehr als nur einfach sehr gründlich«, sagte er. »Ihr seid verflucht gründliche Leute. Damit« – er trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Briefe – »gibt es für mich keine Möglichkeit, mich Ihnen in den Weg zu stellen, Mr. Enders. Wie lange haben Sie die Absicht zu bleiben? Und wo? Haben Sie darüber nachgedacht? Natürlich nicht.« Dr. Penn nahm das Telefonbuch zur Hand. »Wahrscheinlich ist in der Gemeinschaftsunterkunft etwas frei. Avon Ridge ist zu weit weg, um gute Verbindung halten zu können. Außerdem wäre Oberst Sherrington nicht damit einverstanden.« Er blätterte durch die Seiten, fand die gesuchte Nummer, rief an und gab die nötigen Anweisungen. »Sie werden im Gebäude P-4 wohnen«, sagte er zu Martin und notierte es auf einem Zettel. »Ich werde es Ihnen zeigen, wenn wir gehen.« »Danke. Ich hoffe, ich verursache Ihnen nicht zuviel Mühe.« »Doch, das tun Sie. Aber was haben Sie nun vor?« »Es gibt da ein paar einleitende Fragen, die ich gern jetzt gleich gestellt hätte, wenn es Ihnen nichts
ausmacht. Die Antworten könnten mir helfen, später Fragen spezifischerer Natur zu stellen.« Der Doktor sah auf seine Armbanduhr. »Es ist zehn nach drei. Sehen wir mal vor, daß ich Ihnen eine halbe Stunde gebe. Im Laboratorium habe ich gesagt, daß ich nur kurze Zeit weg sein werde. Offen gestanden hatte ich gedacht, Sie entmutigen zu können.« Er lächelte. »Schießen Sie los, Mr. Enders, wir wollen das Fragespiel beginnen.« Martin nahm ein Notizbuch heraus. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich mir Notizen mache, Dr. Penn. Wenn ich Sie direkt zitieren will, werde ich Ihnen das sagen. Ich kann nicht alles im Kopf behalten.« »Warum nicht?« fragte der Doktor. »An welchem Projekt arbeiten Sie zur Zeit?« Der Doktor nahm die Pfeife langsam aus dem Mund und blickte ihn amüsiert an. »Aber, aber! Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen das sage, nicht wahr?« Er lächelte boshaft und zeigte seine gelben Zähne. »Warum hat man wohl um das Gelände einen hohen Zaun gezogen? Nicht einmal eine Maus kann heraus oder herein, ohne von einem elektrischen Schlag getötet zu werden und das ganze Alarmsystem auszulösen.« »Mal angenommen, ich sage Ihnen, daß Sie am Problem der Regeneration arbeiten, Dr. Penn? Haben
Sie nicht daran gedacht, daß ich Zugang zu ganz geheimem Material habe?« Der Doktor nickte. »Hatte ich vergessen. Wo haben Sie es erfahren?« »Habe ich auf dem Weg hierher mitgekriegt. Mußte doch den weiten Weg bis nach Washington machen, um meinen Sicherheitsausweis zu bekommen.« »Natürlich.« Der Doktor lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaukelte leicht. Der Stuhl quietschte. »Ich hatte einfach noch keine Zeit, dieses Ding zu ölen«, sagte er und stand auf. Mit leichten, federnden Schritten für einen so wuchtigen Mann ging er zum einzigen Fenster des Büros. »Wenn Sie dieses Forschungszentrum aus der Luft betrachten würden«, sagte Dr. Penn, »würden Sie erkennen, daß es die Form eines Sechsecks hat. Dieses Verwaltungsgebäude steht etwa halbwegs zwischen der Mitte und dem östlichen Tor, durch das Sie gekommen sind. In jedem Teil des Sechsecks, mit Ausnahme des östlichen, ist ein anderes Forschungsprojekt untergebracht. Es gibt fünf Abteilungsleitungen, jede für ihr Gebiet verantwortlich. Meine liegt zufällig dicht nördlich vom Osttor. Es macht mir Freude, daran zu denken, daß das Penn-Projekt eines ist, das der Menschlichkeit hilft. Das unterscheidet es von anderen hier, verstehen Sie. Wir in unserer Abteilung
versuchen nicht, die Menschheit in Fetzen zu reißen. Wir versuchen, sie wieder zusammenzusetzen. Für die Militärs ist das wahrscheinlich ein relativ unwichtiges Projekt. Für mich ist es ein Wunder, daß man es überhaupt in Angriff genommen hat. Alle, die wir an dem Projekt arbeiten, wohnen in unserem Teil des Gebiets. Die Junggesellen hausen in Gemeinschaftsunterkünften von der Art wie die, in der Sie untergebracht werden. Jeder Sektor hat sein eigenes Café, eine Bank, Lebensmittelkiosk, Kneipe, Kino – das ist deshalb so, damit das Personal der einzelnen Sektoren unter sich bleibt. Aber jetzt langweile ich Sie wahrscheinlich.« »Sie langweilen mich keineswegs, Doktor. Fahren Sie fort.« Der Doktor ging zum Schreibtisch, öffnete das Tabakkästchen und stopfte eine neue Pfeife. »Eines macht mir Sorgen. Man hat Ihnen Zugang zu streng geheimem Material gegeben, aber werden Sie auch vernünftig genug sein, es in Ihrem Artikel nicht zu verwenden?« Martin bekam einen roten Kopf. »Wie kann ich Sie studieren und das was Sie tun, wenn ich nicht weiß, was Sie tun? Natürlich werden keinerlei geheime Dinge veröffentlicht.« Der Doktor zündete seine Pfeife an und lehnte sich nachdenklich zurück. »Wenn Sie ein Wurm wären,
könnte man Sie in zwei Teile schneiden, und die würden weiterwachsen. Aber Sie sind kein Wurm. Wenn ich Sie in zwei Teile zerschneide, sterben beide Teile. Warum? Unsere Körper sind der Abnützung unterworfen. Was aber bedeutet es, daß abgeschürfte Haut, Finger- und Zehennägel und ausgefallene Haare wieder nachwachsen? Also haben wir einige Fähigkeit zur Regeneration, aber nur in beschränktem Umfang. Sie ist darauf beschränkt, einen Schnitt im Finger zu heilen, wo die zerstörten Zellen durch neue ersetzt werden. Oh ja, wenn ein Nagel abgerissen ist, wird ein neuer wachsen. Das ist ein Fall von Unfallreparatur beim Menschen und geht ein wenig über einfache Wundheilung hinaus. Aber der Verlust eines ganzen Gliedes ist irreparabel.« »Ich habe gehört, daß manchen Tieren neue Schwänze wachsen.« »Sie haben richtig gehört, Mr. Enders. Der Wassermolch kann das. Ihm wächst ein Bein oder der Schwanz nach. Es handelt sich da um niedrigere Lebensformen. Aber je höher die Lebewesen entwickelt sind, desto mehr sind die Regenerationsfähigkeiten beschränkt. Die Protozeen, die einfachste Lebensform, Einzelzellen aus Protoplasma, erneuern sich selbst, wenn sie in kleine Stücke zerschnitten werden. Einzige Bedingung ist, daß in jedem Teil ein winziges Stückchen
Zellkern vorhanden ist. Die Hydras, die Süßwasserpolypen, können neue Individuen aus abgeschnittenen Teilen entwickeln. Sie gehören zu den vielzelligen Typen. Die Fangarme von Tintenfischen, augentragende Fühler von Schnecken, Spinnenbeine – all diese Anhängsel der Krustazeen und niedrigen Insekten, vieler Wassertiere und Amphibien wachsen nach Verletzungen wieder.« Der Doktor schüttelte traurig den Kopf. »Die Höherentwicklung hat uns der Kraft beraubt, einen Arm oder ein Bein neu wachsen zu lassen. Statt dessen haben wir eine Art fortgesetzter Wiederinstandsetzung oder Heilung, die funktioniert, solange wir leben. Der fast völlige Verlust der regenerativen Kraft war der Preis für eine Höherentwicklung.« »Aber Sie arbeiten daran.« Der Doktor lächelte. »Ja, wir arbeiten daran.« Das Telefon läutete. »Dr. Penn am Apparat«, sagte er. Während er zuhörte, drückte er mit der freien Hand Tabak in seine Pfeife. Als er an dem, was am Apparat gesagt wurde, Interesse bekam, wurden seine Bewegungen langsamer. Bald hielt er die Hand ganz ruhig. »Sie wissen, daß ich das angeordnet habe«, sagte er ruhig, aber seine Augen wurden hart. »Sie sind zusammen mit den anderen informiert worden. Ich verstehe nicht, weshalb es für Sie eine solche Überraschung sein sollte.«
Dr. Penn vergaß die Pfeife und drehte seinen Sessel herum, so daß sein Gesicht von Martin abgewandt war. »Es ist mir klar, daß es andere Wege gibt als den, dem wir zur Zeit folgen, Doktor«, sagte Dr. Penn. »Aber wir gehen eben nun mal zufällig gerade diesen.« Er nickte. »Wie ich Ihnen schon viele Male gesagt habe, muß es einen Leiter geben, Dr. Merrill. Andernfalls würde ein Projekt wie dieses zu nichts führen. Und dieser Leiter bin ich. Ich will Ihren Vorschlag akzeptieren und darüber nachdenken, aber bevor wir die laufenden Versuche nicht beendet haben, sehe ich nicht, wie – Aber nein! Sehen Sie mal, Doktor – einen Augenblick! In Ordnung! Ich komme sofort hinüber.« Er drehte sich um und legte den Hörer auf. »Tut mir leid, Mr. Enders. Ich muß ins Labor, aber ich möchte, daß Sie hier warten, bis ich zurückkomme. Ich werde nicht lange weg sein. Ich habe meinen Jeep vor dem Eingang. Ich glaube nicht, daß es richtig wäre, Sie jetzt mitzunehmen.« Er eilte aus dem Zimmer. Mit dem Weggehen von Dr. Penn verlor der Raum sein Leben. Die kraftvolle Persönlichkeit des Doktors hatte den Raum wie etwas Lebendiges erfüllt. Und jetzt, wo seine tiefe Stimme nicht mehr von den Wänden widerhallte, schien der Ort verlassen.
Martin sackte im Sessel zusammen und streckte seine langen Beine aus. Er zündete sich eine Zigarette an und sah, daß seine Hand zitterte. Nur ruhig, alter Knabe. Aber vergiß nicht, daß du wahrscheinlich in Gefahr bist. Du weißt, was General Deems gesagt hat. Ruhig, aber immer sprungbereit. Jemand – wer? – könnte dich beobachten. Er gähnte, stand auf und ging zum Fenster. Er kam gerade zurecht, den Doktor mit seinem Jeep wegfahren zu sehen. Als er müßig dastand und über das Gebiet nach Osten hinausblickte, drangen die Geräusche des Hauses an sein Ohr: Das Scharren eines Sessels im Stockwerk über ihm, das schwache Klappern einer Schreibmaschine, das Klingeln eines Telefons in einem anderen Zimmer. Es war alles ganz normal. Genauso hätte es in jedem militärischen Sperrgebiet irgendwo im Lande zugehen können. Warum erwartete er, daß es hier anders sein sollte? Aber da waren dieser Junge, die Kugel und die Katze – Und das war der Unterschied. Er drehte den Rücken zum Fenster. Vor ihm lag das einfache Büro, ganz wie es Dr. Penn beschrieben hatte. Schreibtisch. Pfeifenständer. Lampe. Schreibmaschine. Sessel. Telefon. Was war da noch? Zwei Rahmen auf Ständern. Urkunden? Sie sahen mehr wie Fotografien aus. Martin ging hinter den Schreibtisch und hielt aus
zwei Gründen den Atem an. Zuerst einmal, weil das Mädchen auf der einen Fotografie schön war. Nicht weil sie hübsches und blondes Haar hatte, oder wegen der vollen Lippen und der reinen Haut. Solche Mädchen gab es viele. Es waren die Augen. Sie wäre so ätherisch, fand er. Sie ließen sie so aufrichtig und lieblich aussehen und gaben ihrem Gesicht einen Ausdruck der Lebhaftigkeit, der ihn anzog. Er gelangte zu der Ansicht, daß es Dr. Penns Tochter sein mußte. Das erste Bild machte ihm Freude. Das zweite erschreckte ihn, denn es war das Bild des Jungen, der mit der Kugel und der Katze gespielt hatte. Da waren das dicke schwarze Haar, dieselben boshaften blauen Augen, der ausdrucksvolle Mund. Es gab keinen Zweifel: dies war der Junge. Die Ähnlichkeiten der beiden Gesichter ließen vermuten, daß es Bruder und Schwester waren. Er zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Schreibtisch, weil ihn das Gefühl überkam, daß seine Meinung, es sei irgend etwas nicht in Ordnung, ziemlich albern war. Dr. Penn schien völlig in Ordnung zu sein. Bis jetzt hatte es keinen Grund für einen Zweifel oder Verdacht gegeben. Die Tatsache, daß der Doktor ein schwieriger Mann war, wie ihn Martin mit seinem besonderen Sinn für diese Dinge einschätzte, war noch lange kein Anzeichen dafür, daß er etwas war, was er nicht hätte
sein sollen. Was das Mädchen anging – nun, ihr Bild versprach etwas ganz anderes. Und der Junge? Er sah wie ein gesunder Bursche aus – wenn man übersah, was er auf dem Rasen getan hatte. Aber man hatte mit dem Finger auf Dr. Penn gedeutet. Und es war ein Hinweis von einer hohen Stelle. Und hohe Stellen hatten die Gewohnheit, in die Dinge hineinzusehen. Ich hätte niemals zustimmen sollen, General Deems zu helfen, sagte er sich. Ich hätte ihn kalt abfahren lassen sollen. Er sollte doch seine dreckige Arbeit selbst verrichten, wie er sonst sagte. Aber man hatte ihm alles genau erklärt, so logisch aufgebaut ... Vor drei Tagen hatte er mit vier anderen Männern zusammen um den schweren eichenen Konferenztisch im elften Stock des Verlagsgebäudes der Zeitschrift National Scene in Chicago gesessen. Es war ein regnerischer Tag. Gelegentlich kam vom Michigansee, eine halbe Meile entfernt, ein Windstoß herauf, fegte den Zigaretten- und Zigarrenrauch hinaus und fuhr raschelnd durch die Papiere, die die Männer vor sich auf dem Tisch liegen hatten. »Das ist alles, was wir haben«, sagte Lovett Wilson, ein Ressortchef, und zeigte auf einen kleinen Stapel von Papieren. »Ist kaum genug für einen Anfang.« »Und diese Fotos sind alt«, maulte Caldwell Chonkey, als ob damit das ganze Projekt als unbedeutend
abgetan wäre. »Ich verstehe das nicht.« Chonkey war der Bildredakteur der Zeitschrift. Er hatte dafür zu kämpfen, daß mehr Fotos je Seite vorgesehen wurden, aber es war ein aussichtsloser Kampf. National Scene war keine Illustrierte. »Was reden Sie denn da?« fragte Jimmy Simpson, ein Redaktionsmitglied, suchte in einem Stapel von Papieren und zog ein Bild heraus. »Sagen Sie mir nur nicht, woher wir das bekommen haben«, brummte Chonkey und weigerte sich, es anzusehen. »Es ist wahrscheinlich ein Abiturfoto.« »Stimmt nicht. Es ist das Foto anläßlich der Entgegennahme des Nobelpreises.« »Händeschütteln und all das Zeug. Klischeearbeit. Jede Zeitschrift und jede Zeitung hat das Foto. Sie können es genau so gut wegwerfen.« Denton Myers klopfte sich mit der scharfen Spitze seines Bleistiftes gegen die Zähne und schüttelte den Kopf. »Wir werden uns darüber klar werden müssen, daß Dr. Eric Penn nicht gerade wild auf Publicity ist. Was ist mit AP? UP? NEA? Chonkey, haben Sie es bei der Trib versucht? Bei der Sun Times?« »Und der News.« Chonkey sah schrecklich gequält drein. »Seit ich von dieser Sache Wind bekommen habe, war ich nach Fotos unterwegs. Wenn Penn ein Politiker wäre, hätten wir ganze Stöße von Fotos. Diese Wissenschaftler sind einfach kamerascheu.
Niemand hat ein neues Foto, Mr. Myers. Glauben Sie mir.« »Vermute ich auch, vermute ich auch.« Chonkey wand sich. Dies mußte seiner Abteilung passieren. Es wurmte ihn, daß Dr. Penn nicht Vorsorge getroffen hatte, daß einige Aufnahmen von ihm gemacht worden waren. »Wie sieht's mit den zwei Kindern aus?« Dies fragte Wilson und sah dabei Chonkey an. Der Bildredakteur rutschte noch mehr in seinem Sessel zusammen. »Machen Sie mir doch keinen Vorwurf. Vielleicht ist Dr. Penn auch gar nicht so bedeutend wie wir denken.« Jimmy Simpson hielt ein Papier in die Höhe. »Virginia Penn. Sie ist dreiundzwanzig. Robert ist noch ein kleiner Junge. Erste oder zweite Grundschulklasse.« »Aber eine Familie hat doch sicher ein Familienfoto«, meinte Myers unnachgiebig. Chonkey sah Martin hilfesuchend an. »Wir sind keine Illustrierte«, sagte Martin. »Es hat doch keinen Sinn, auf Chonkey herumzureiten. Ich bin davon überzeugt, daß er etwas hätte, wenn etwas zu bekommen wäre. Wenn nötig, können wir doch das benützen, was da ist.« »Danke«, sagte Chonkey erleichtert. »Zum Teufel, wir reiten doch nicht auf Chonkey herum.«
»Tut mir leid, Chonkey.« »Ich werde ein Foto besorgen, sobald ich dort bin«, sagte Martin. »Er muß doch welche haben.« »Die Geschichte hat vielleicht sowieso keinen Erfolg«, sagte Wilson. »In diesem Fall brauchen wir dann auch kein Foto.« »Sagen Sie so was nicht, Willie«, warf Martin ein. »Sie tun ja, als wäre die Sache uninteressant.« »Nun, wir haben nicht viel, mit dem wir etwas anfangen können. Die Tatsache, daß er mit der Reportage einverstanden war, hat das New Yorker Büro sowieso überrascht.« Denton Myers zog das Bündel von Papieren heran und blätterte es durch. »Ich frage mich, warum er überhaupt ausgesucht wurde. Außer seinen wissenschaftlichen Arbeiten ist doch an dem Mann überhaupt nichts dran. Dieses Getöns mit Wissenschaftlern! Ich persönlich ziehe einen bedeutenden Unternehmer vor, einen Mann, der Hunderte von Menschen durch seine Persönlichkeit beeinflussen kann. Wissenschaftler sind für mich kalte Kartoffeln.« »Vielleicht sind Sie im Reiche des reinen Denkens eben einfach verloren«, sagte Wilson leicht höhnisch, »man braucht dazu eine gewisse Befähigung.« »Meinetwegen. Aber Sie wissen, was ich meine«, sagte Myers ungerührt. »Hier steht, daß er in Wisconsin geboren wurde. Ist aufs Pointer College gegangen,
machte sein Abitur in Windsor und bekam seinen Doktor in New Howard. Langweilig, nicht wahr? Lehrte vier Jahre in Billingsley und führte dort die Forschungsarbeit durch, die ihm den Nobelpreis einbrachte, als er noch dort war.« »Das wissen wir alles, Denny«, sagte Wilson. »Sagen Sie uns doch etwas was wir nicht wissen.« »Das ist der Moment, wo ich ins Spiel komme.« Wilson drehte sich Martin zu. »Nun ...« »Ich habe noch nichts«, sagte Martin. »Aber wie ich es verstehe, hat Dr. Penn der nationalen Verteidigung gedient. Er hat den Militärs einige Ideen angeboten, die sie gern angenommen haben. Er hat den Nobelpreis. Er ist befördert worden und gehört jetzt zur führenden Schicht der Wissenschaftler in diesem Land. Und jetzt nimmt er einen Job bei der Regierung in Park Hill an, etwas, was er lange Zeit nicht tun wollte. Richtig?« »Letzen September, um genau zu sein«, sagte Simpson. »Ich habe das Datum gerade hier.« Er blätterte einige Seiten durch. »Sie meinen vor mehr als einem Jahr, nicht im vergangenen Monat.« »Ja.« »Nebenbei«, bemerkte Wilson, »wir haben Washington über Draht um die Erlaubnis gebeten, in das Sperrgebiet zu dürfen. Park Hill ist hart zu knacken.«
»Und was ist mit Dr. Penn?« »Martin macht das schon richtig«, sagte Myers. »Er ist schon aus besseren Häusern hinausgeflogen, nicht wahr?« »Das mußte natürlich kommen.« »Dann ist wohl alles klar?« Lovett Wilson sah sie alle an. »Noch irgendwelche Fragen?« »Vor einem Monat haben wir Dr. Penn ein Telegramm geschickt«, sagte Myers. »Er drahtete vor einer Woche sein Einverständnis zurück. Was wollen wir noch mehr?« »Ich möchte sowieso ganz von vorn anfangen«, sagte Martin. »Es sollte eine gute Reportage geben«, sagte Wilson. »Mal was anderes. Es gibt da einmalige Blickpunkte, das Sperrgebiet, das Projekt, all das.« »Denken Sie an das Foto, Martin«, erinnerte Chonkey ihn. »Wenn Sie nicht rasch einige beibringen, wird es keine richtige Titelstory.« »Wollen Sie, daß ich eine von Ihren Kameras mitnehme?« »Ich sehe Sie schon eine Kamera nach Park Hill hineinschleppen«, meine Simpson höhnisch. »Daran hab ich nie gedacht.« Die Uhr an Lovett Wilsons Bürowand schlug fünf Mal. Als der letzte Ton verklang, schoben alle die Stühle vom Tisch zurück.
»Lassen Sie sich für diese Sache Zeit nach Wunsch«, sagte Wilson. Er kam herüber und streckte Martin seine bullige Hand entgegen. »Sie scheinen besser zu arbeiten, wenn Sie sich Zeit nehmen.« Martin schüttelte die Hand. »Am besten polieren Sie Ihre Biologiekenntnisse etwas auf, bevor Sie gehen«, sagte Simpson und legte Martin eine Hand auf die Schulter. »Wir haben eine ganze Menge Material in der Bibliothek.« »Danke, nein«, sagte Martin. »Ich werde mit der ersten Lektion anfangen, wie sie mir Dr. Penn geben wird.« »Viel Glück!« rief Myers im Hinausgehen. Als sie gegangen waren, suchte sich Martin einige Unterlagen zusammen, die er brauchte, und steckte sie in seinen Aktenkoffer. Lovett Wilson stand neben ihm und sah zu. Als Martin gehen wollte, half ihm Wilson in den Mantel. »Da ist noch etwas«, sagte der Chefredakteur. »Und das ist?« »Ich hätte Ihnen die Korrespondenz zeigen können, aber ich möchte das nicht. Ich werde es Ihnen statt dessen sagen: Auf dieser Sache liegt Druck.« »Druck? Was für Druck.« »Aus New York. Von der Spitze.« »D'Orsay selbst, wie? Haben Sie eine Idee, warum?«
Wilson schüttelte den Kopf. »Ich wollte es vor den anderen nicht erwähnen.« »Ich habe mich über den Mann gewundert.« »Sie meinen Penn?« »Ja. Da ist doch nicht viel.« »Nicht viel, was ins Auge fällt. Aber es muß etwas dahinter stecken, was wir nicht wissen.« »Das wenigstens könnte die Sache interessanter machen.« »Noch etwas anderes.« Martin war gespannt, es zu hören. »New York wollte wissen, wen wir damit beauftragt hätten. Vor drei Tagen haben sie Ihr Foto verlangt.« »Mich laust der Affe!« »Fragen Sie mich nicht. Es ist nur eigenartig.« »So was ist noch nie passiert. Vielleicht bin ich für eine Gehaltserhöhung fällig.« »Jetzt gehen Sie wohl besser, Sie Witzbold!« Als sich die Lifttüren im Erdgeschoß öffneten, schmiedete der Redakteur Martin Enders bereits Pläne für seine Story. Bevor er losfuhr, mußte er noch den Paß für das Forschungszentrum Park Hill abwarten. Und wie er Washington kannte, würde es Tage dauern, bevor der kam. In der Zwischenzeit konnte er sich die Füße in den Archiven sämtlicher Zeitungen wundlaufen. Vielleicht eine Fahrt in Dr. Penns Ge-
burtsstadt, zu den Schulen, die er besucht hatte, ein Interview mit Studenten, die seine Vorlesungen besucht hatten, wäre ein guter Anfang. Bis dahin würde der Paß dann wohl kommen. Martin bewegte sich automatisch mit der Gruppe von Leuten, die die Kabine verlassen hatten, ging am Zigarettenladen vorbei und durch die Drehtür auf die Straße. Als der Mann auf ihn zukam, dachte Martin zunächst, es wäre ein Bekannter. Der Mann, ein Fremder, hatte ein gut geschnittenes Gesicht, war ordentlich gekleidet und sah ihn mit offenem Blick an. »Martin Enders?« fragte er. Martin nickte. Der Mann zog eine lederne Brieftasche aus einer Innentasche. Er öffnete sie. Im Inneren war ein Foto des Mannes zu sehen. Darunter stand, daß er Kenneth Aldrich hieß und Agent des F.B.I. sei.
3 »Ich muß Sie bitten, mit mir zu kommen«, sagte der Agent. »Bin ich verhaftet?« fragte Martin überrascht. Der FBI-Mann lächelte. »Nein. Ich verhafte Sie nicht. Oder gibt es einen Grund, weshalb ich es tun sollte?« Der Agent schien sich über Martins Verwirrung zu amüsieren. »Mindestens ein paar«, sagte Martin, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Ich frage mich nur, welcher? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ihn zu nennen?« Jetzt lachte der Agent fröhlich. »Sie waren lange Zeit dort oben.« Er zeigte zum elften Stockwerk hinauf. »Sie haben die ganze Zeit auf mich gewartet?« »Stundenlang. Konnte Sie doch nicht holen, bevor es oben zu Ende war. Wollen Sie jetzt mitkommen?« »Sie haben mir noch immer keine Erklärung gegeben.« »Werde ich unterwegs tun.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Es wird allmählich spät, und ein Flugzeug wartet.« Martin stimmte brummend zu. Er überlegte, was das wohl mit der Titelgeschichte zu tun hatte, die er schreiben sollte.
Der FBI-Mann führte ihn zu seinem Wagen, dessen Fahrer sofort den Motor startete, als sie ankamen. Kaum daß er saß, wurde Martin gegen die Rückenpolster geworfen, als sich der Wagen mit laut quietschenden Reifen in den Verkehr einordnete und immer schneller wurde. »Ist es denn ein Notfall?« fragte Martin, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Offen gesagt, Mr. Enders, ich weiß nicht, was ich Ihnen auf diese Frage antworten soll«, antwortete der Agent. »Was ich weiß, ist lediglich, daß ich Sie nach Washington bringen soll.« »Warum denn nur, um Himmels willen?« Wieder trat das fröhliche Lächeln auf das Gesicht des Agenten. »Um einen Mann zu treffen, der Sie kennenlernen will.« »Und wer sollte das sein?« »Ein Mann namens Walter Deems. Bedeutet der Name Ihnen etwas?« »Niemals gehört.« »Ich vermute zwar nur, aber ich denke, daß er Sie wahrscheinlich ziemlich genau kennt.« »Wer ist Walter Deems?« »Er ist zufällig im Nachrichtendienst.« Der Wagen fuhr in scharfem Tempo durch ein Tor des Chicagoer Flughafens und hielt dann bei einem
Hangar, wo eine kleine Passagiermaschine eben warmlief. Ein paar Minuten später waren sie in der Luft. Martin unterhielt sich weiterhin mit dem FBI-Mann, konnte jedoch nichts erfahren. Der Agent schien nicht abgeneigt zu sein, über die Sache zu sprechen, er wußte einfach nicht mehr, als er bereits gesagt hatte. Man landete in Washington, wo wieder ein Wagen wartete. Wieder fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen los, nur war Martin diesmal darauf vorbereitet. Ein paar Minuten später hielt der Wagen vor einem kleinen weißen Steingebäude. Ein bewaffneter Soldat hielt die Männer sofort an. Ein anderer Soldat leuchtete ihnen mit einer Taschenlampe ins Gesicht und dann auf den Ausweis des Agenten. Schließlich erlaubte man ihnen, das Gebäude zu betreten. Martin wurde in einen Raum am Ende eines Flurs geführt, in dem ein großer Mann in Uniform mit zwei Sternen auf den Schulterklappen hinter einem Schreibtisch aus Nußbaumholz saß. Hinter ihm an der Wand hing ein Bild des Präsidenten. Der Armeeoffizier, der sein in der Stirn schon etwas hochansetzendes graues Haar im Bürstenschnitt trug, blickte erfreut auf, als er Martin sah, stand auf, lächelte erfreut und bot ihm die Hand. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten, Mr. En-
ders.« Seine Stimme war voll und hatte den Klang von Autorität. »Ich bin General Walter Deems.« »Ich hatte doch kaum eine andere Wahl, als zu kommen.« Martin hörte, wie die Tür hinter ihm leise geschlossen wurde. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte der General und zeigte auf einen Sessel. »Natürlich hatten Sie keine Wahl. Zigarette?« »Danke.« Als der General ihm Feuer gab, sagte Martin: »Ist diese Zigarette möglicherweise die eines Verurteilten?« General Deems lächelte, setzte sich und studierte Martins Gesicht. »Ob Sie sich darüber klar sind oder nicht, Sie sind soeben für uns ein sehr wertvoller Mann geworden, Mr. Enders. National Scene hat uns geholfen, ein schwieriges Problem zu lösen.« »Ich wüßte nicht, wie.« »Sie sind dazu bestimmt worden, eine Reportage über Dr. Eric Penn zu schreiben, nicht wahr?« Martin sah den Mann erstaunt an. »Wie haben Sie davon erfahren?« »Es gehört zu unserem Geschäft, Bescheid zu wissen.« »Das erklärt den Druck, klar.« »Druck?« »Das New Yorker Büro hat verlangt, dringend verlangt, daß die Penn-Story so rasch als möglich er-
scheinen sollte. Aber warum ist die Armee interessiert? Ich dachte, Dr. Penn würde für die Armee arbeiten.« »Schon mal was vom CIC gehört, der Spionageabwehr?« »Natürlich.« »Das sind wir. Sie befinden sich im Augenblick im Hauptbüro«, sagte Deems. »Ich bin außerordentlich beeindruckt. Aber wollen Sie mir jetzt sagen, was das alles mit mir und dem Job zu tun hat, den ich für die National Scene zu erledigen habe?« Der General lachte. »Vielleicht hat es nichts damit zu tun – das hängt von Ihnen ab.« Er zündete sich selbst eine Zigarette an. »Wir brauchen Ihre Hilfe. Ihre persönliche Hilfe.« »Welcher Art?« »Wir möchten, daß Sie für uns arbeiten, während Sie die Penn-Geschichte schreiben.« Martin lächelte schwach. »Dolch im Gewande? Tut mir leid, Sie haben sich den falschen Mann ausgesucht, General. So was liegt mir nicht.« »Über Ihre Dienstzeit beim Militär liegt eine ausgezeichnete Beurteilung vor.« »Ihr Burschen seid ziemlich gründlich, nicht wahr? Wie komme ich zu dieser persönlichen Wertschätzung?«
»Weil wir eben gründlich sind. Sie sind der richtige Mann für diesen Job, ob Sie wollen oder nicht.« »Sie waren nicht gründlich genug. Ich hätte Ihnen sagen können, daß Sie völlig daneben liegen, wenn Sie mich für einen solchen Geheimauftrag aussuchen.« »Sie wurden vor allen anderen für diese Reportage ausgesucht, Mr. Enders.« »Ich dachte, es wäre mal ganz lustig, eine Story über Dr. Eric Penn zu machen. Er ist nicht das übliche Material. Nichts wirklich Aufregendes, nichts Welterschütterndes. Und jetzt sieht es so aus, als ob der CIC den Job manipuliert hätte, und die National Scene sich aus irgendeinem Grund verkauft hat. Es ist mir ganz egal, aber ich muß Ihnen sagen, daß mir der Geruch dieser Sache gar nicht gefällt.« General Deems stieß die Luft mit aufgeblähten Wangen aus. »Sie würden nicht so reden, wenn Sie wüßten, weshalb wir wollen, daß Sie nach Park Hill gehen.« »Ich will es gar nicht wissen, General Deems«, sagte Martin ein wenig freundlicher. »Vor allem lehne ich die Tatsache ab, daß das Militär sich in ein privates Geschäft einmischt und vorschreibt, was zu tun ist.« »Es handelt sich um einen Notfall.« »Sie haben den Verleger ganz offensichtlich davon
überzeugt, daß es einer ist. Zweitens hat niemand mit mir darüber gesprochen. Bei diesem militärischen Spiel bin ich plötzlich eingeteilt. Ich bin's. Ich habe meinen Hals zu riskieren. Drittens, auf diese Tour reise ich nicht, General. Viertens habe ich in der Armee gelernt, mich nicht freiwillig für eine unsinnige Sache zu melden. Und zuletzt: ich bin fertig mit allem, was mit militärischen Problemen zu tun hat. Ich habe die Unmenschlichkeit von Menschen gegenüber Menschen gesehen und möchte das nicht noch einmal erleben.« »Sie sind schon sehr bitter, nicht wahr?« sagte der General leise. »Nun, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Aber Sie haben Initiative bewiesen. Sie haben einen hohen Intelligenzquotienten. Warum lassen Sie mich nicht erklären, was wir möchten, daß Sie tun?« »Warum schicken Sie nicht einen von Ihren Männern? Vielleicht verpatze ich die ganze Sache.« General Deems wurde ernst. »Wir haben schon einen unserer Männer geschickt. Forrest Killian. Wir haben Grund zur Annahme, daß er tot ist.« »Wenn einer von Ihren Männern mit dieser Geschichte nicht fertig geworden ist, wie zum Teufel glauben Sie denn, daß ich es kann?« »Wollen Sie mal eine Weile nicht reden und mir zuhören? Das ist alles, worum ich bitte.« Martin nahm die angebotene Zigarette. »Schießen Sie los«, sagte er.
»Während ich mit Ihnen spreche, wird alles für Sie fertiggemacht. Sie sehen, wie sehr ich darauf vertraut habe, daß Sie zustimmen werden. In Park Hill gibt es fünf Forschungsteams, voneinander völlig unabhängig. Alle arbeiten an streng geheimen Programmen. Eines davon steht unter der Leitung von Dr. Penn. Seine Aufgabe ist eine der wichtigsten, der sich jemals ein Wissenschaftler gewidmet hat. Wissen Sie, worum es sich handelt?« »Ich weiß nur«, sagte Martin, »daß Dr. Penn den Nobelpreis für Zellforschung bekommen hat. Daß er sich jetzt mit einem bestimmten Teilgebiet davon im Auftrag der Armee befaßt und daß ich eine Titelgeschichte über ihn schreiben soll. Die Entscheidung darüber hat die New Yorker Verlagsleitung getroffen. Daß ich nicht lache!« »Lachen Sie ruhig weiter«, sagte der General. »Aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß wir zivile Einrichtungen nicht einfach zu unserem Vergnügen herumdirigieren. Es gibt einen guten Grund dafür.« Er machte eine kurze Atempause und fuhr dann fort: »Dr. Penn arbeitet nämlich zufällig gerade am Problem der Regeneration. Er versucht, den Menschen neue Arme und Beine wachsen zu lassen. Vom militärischen Standpunkt aus scheint das im Augenblick vielleicht nicht so wichtig zu sein, weil die militärischen Kräfte ja eher auf Zerstörung als auf Aufbau
ausgerichtet sind. Wenn aber Dr. Penn Erfolg hat, wird es zu einem außerordentlichen moralischen Auftrieb führen. Unsere Soldaten werden bessere Kämpfer sein. Denn sie werden im Vertrauen darauf, daß man bei einer Verwundung verlorene Glieder nachwachsen lassen kann, furchtlos kämpfen können.« Martin brummte. »Und was ist mit einem toten Soldaten? Ich habe viele gesehen. Wird man sie wieder lebendig machen können?« Der General knurrte. »Sehr witzig. Natürlich nicht. Aber es könnte sein, daß Dr. Penn eines Tages auch diese Frage lösen wird. Wer weiß? Er ist ein glänzender Wissenschaftler. Überlegen Sie sich mal, was es bedeuten würde, wenn es in Zukunft keine arm- oder beinamputierten Veteranen mehr gäbe. Die Prozedur kann später auch auf die zivile Medizin ausgedehnt werden. Es ergibt sich da vielleicht eine Hoffnung für Menschen, die jetzt Prothesen tragen.« »Nun, das ist ganz interessant«, sagte Martin. »Auch ich kann das nicht leugnen. Aber was hat das alles mit National Scene zu tun?« »Vor einiger Zeit machte uns Oberst Sherrington aus Park Hill darauf aufmerksam, daß wertvolle Berichte über bestimmte Experimente, deren Durchführung lange Zeit in Anspruch genommen hatte, als verloren oder gestohlen gemeldet wurden. Versuchseinrichtungen im Labor, die in monatelanger
Arbeit aufgebaut worden waren, wurden wie durch Zufall zerbrochen aufgefunden. Es konnte nicht einfach Zufall gewesen sein. Der Oberst bat uns herauszufinden, ob vielleicht jemand verhindern wollte, daß das Penn-Projekt, wie es genannt wird, Erfolg hat.« »Sie meinen, er ist der Ansicht, jemand wolle verhindern, daß das Projekt zu Ende geführt wird?« »Genau. Es ist besonders rätselhaft, weil es tatsächlich ein humanes Projekt ist, dessen Entdeckungen gegebenenfalls mit allen Nationen der Welt geteilt werden sollen. Wir erwarten, daß uns die Welt dafür dankbar sein wird.« »Es könnte sich also nur ein Geistesgestörter einer Arbeit dieser Art entgegenstellen«, erklärte Martin. »Das ist auch unsere Meinung. Daraufhin wurde von der Militärpolizei eine Routineüberprüfung durchgeführt. Man hat Dr. Penn, die fünf Forschungswissenschaftler und die zwanzig Techniker vernommen, die an dem Projekt arbeiten. Kein Erfolg. Vor drei Monaten wurde dann, ohne Kenntnis von Dr. Penn oder irgend jemandem, der mit dem Projekt zu tun hat, einer unserer Männer angesetzt. Forrest Killian ging als zivilverpflichteter Techniker zum PennProjekt nach Park Hill. Forrest Killian, ein scharfsinniger, vorsichtiger Mann. Er war schon lange Jahre beim CIC. Bevor er sich mit mir in Verbindung setzte, arbeitete er zwei Wochen dort. Damals sagte er, daß er nicht
glaube, jemand aus der Projektgruppe könnte die Arbeit behindert haben. Er fügte noch hinzu, daß er eine erschöpfende Studie über die gesamte Situation angefertigt habe. Er war der Ansicht, daß die Männer dort mehr als nur interessiert an ihrer Arbeit seien. Sie arbeiteten länger, als es die Dienststunden verlangten, und sprächen von nichts anderem als ihrem Projekt, auch wenn sie nicht im Labor wären. Wir waren zufrieden, und als er das nächste Mal anrief, waren wir schon entschlossen, ihn von dieser Sache abzuziehen und doch alles als Zufall zu bezeichnen. Aber kurz danach rief er eines Tages aus Park Hill an und meldete, daß er irregeführt worden sei. Er hätte jemanden entdeckt, der die Arbeit sabotiere. Wer wohl? Was vermuten Sie?« »Dr. Penn.« Die Augenbrauen General Deems gingen in die Höhe. »Wie kommen Sie darauf?« »In allen Fällen ist es immer derjenige, der am wenigsten verdächtig ist.« »Da mag vielleicht etwas dran sein. Auf jeden Fall stimmt es in diesem Fall. Killian meinte, er würde Dr. Penn verdächtigen. Ich fragte ihn nach dem Grund. Er sagte, er hätte am Telefon nicht die Zeit, alles zu erklären, aber daß er mir alles melden würde, nachdem er den Doktor mit dem Beweismaterial konfrontiert hätte.«
»Und was passierte dann?« »Wir haben nichts mehr von Killian gehört. Das war vor einem Monat. Er ist verschwunden, in Park Hill eine Unmöglichkeit. Man kann das Sperrgebiet weder betreten noch verlassen, ohne durch das einzige Tor zu gehen und der genauesten Überprüfung unterzogen zu werden. Eine Suchaktion wurde unternommen, aber keine Spur von ihm gefunden. Man hat jeden Quadratzentimeter des Sperrgebiets abgesucht. Seither kauen wir an den Fingernägeln. Wir kennen den Schuldigen, können jedoch nicht gegen ihn vorgehen.« Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend da. Keiner sagte ein Wort. »Unterbrechen Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage«, sagte Martin schließlich. »Sie wollen, daß man dicht an Dr. Penn herankommt, um ihn eingehend studieren zu können, und auf diese Weise zu erfahren versucht, was Forrest Killian offensichtlich über ihn herausgefunden hat. Aber Sie wissen nicht, wie Sie das mit Hilfe Ihrer eigenen Organisation machen sollen. Also sind Sie auf die glänzende Idee verfallen, einen Journalisten hinzuschicken, der seine Lebensgeschichte schreiben soll.« Der General räusperte sich. »Lassen Sie es mich einmal anders ausdrücken, Mr. Enders. Dr. Penn würde einen neuen Techniker mit Sicherheit verdäch-
tigen. Wenn er und diejenigen, die mit ihm im Bunde sind, auch noch irgendwie organisiert sein sollten, bekämen wir über die regulären Kanäle sowieso keine Auskunft. Es muß etwas Unübliches sein. Jeder Mensch ist für Schmeichelei empfänglich. Also hoffen wir, daß der Mann, der hinkäme, um seine Erfolgsgeschichte zu schreiben, ihn von seiner Wachsamkeit ablenkt.« Der General öffnete eine abgeschlossene Schreibtischschublade, nahm ein Bündel Korrespondenz heraus und warf es auf den Schreibtisch. »Es sind Direktiven vom Präsidenten selbst, die dem Penn-Projekt Priorität verleihen. Wenn Sie glauben, es könnte von Vorteil für Sie sein, werfen Sie einen Blick darauf.« Martin genügte sein Wort, er ging die Papiere nicht durch. »Alle, die davon wissen, sind der Meinung, die Regeneration sei ein humanes Projekt«, fuhr der General fort. »Vielleicht ist es unser Kollektivgewissen, das sich da regt. Auf jeden Fall wäre es eine welterschütternde Sache, wenn wir vollenden könnten, was wir begonnen haben. Wenn es jemanden gibt, der uns daran hindern will, so sollten wir wissen, wer und warum. Glauben Sie nicht auch, daß Regeneration eine nützliche Sache wäre?« Martin nickte. »Natürlich wäre das sehr lohnend. Ich kann nicht verstehen, warum jemand die Arbeit
sabotieren sollte – besonders nicht der Mann, der die Forschungsarbeiten leitet.« »Genau. Das ist eben das Rätsel.« »Sie sind zum National Scene gegangen, damit man jemanden schickt, der diese Geschichte schreibt. Stimmt das?« »Ja. Man war sofort einverstanden. Ich bin direkt zu D'Orsay, dem Verleger, gegangen. Er ist außer Ihnen der einzige, der über die Sache Bescheid weiß.« »Einige haben allerdings doch einen Verdacht, daß da etwas los ist.« »Wirklich?« »Nichts Ernsthaftes. Aber auf etwas möchte ich hinweisen: Ich soll doch die Geschichte schreiben. Ich bin eine unbekannte Größe als Detektiv. Ich fürchte, ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen sollte.« »Wir wollen gar nicht, daß Sie Detektiv spielen. Seien Sie Journalist. Wir wollen nur, daß Sie nach Park Hill gehen und der interessierteste und wißbegierigste Reporter sind, der Sie sein können. Schreiben Sie seine Lebensgeschichte. Wir können Sie nicht bitten, etwas anderes zu tun. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie allen Spuren nachgingen, die verdächtig aussehen, und mir hierher berichten, was Sie herausfinden.« »Und wir werden die Story vermutlich niemals veröffentlichen?«
Der General sammelte die Blätter auf seinem Schreibtisch ein und legte sie in die Schublade zurück. »Wenn unser Verdacht sich als berechtigt herausstellt, haben Sie vielleicht einen Knüller, wenn auch nicht die Story, die Sie geplant haben. Im anderen Fall erscheint die Reportage nie. D'Orsay hat dem zugestimmt.« »Ich sollte Sie auch warnen, General Deems, daß meine Interessen nicht in dieser Richtung liegen. Ich bin mehr an nationalen Angelegenheiten interessiert. Ich schreibe am liebsten Stories, die helfen, freundliche internationale Beziehungen zu schaffen. Vielleicht bin ich in dieser Beziehung einfältig, ich weiß es nicht. Aber es ist offensichtlich, daß bei dieser Geschichte Menschlichkeit und Fortschritt eine Rolle spielen. Wenn sich jemand absichtlich einer solchen Sache in den Weg stellt, sollte er, glaube ich, festgestellt und dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Ich werde also mitmachen. Wie lauten Ihre Anweisungen?« Der General strahlte. »Ich habe gewußt, daß Sie mitmachen werden, Mr. Enders. Übrigens hoffte das auch Mr. D'Orsay.«
4 Dr. Penn kam nervös in sein Büro zurück und zündete sich eine neue Pfeife an, bevor er sich setzte. »Erwachsene Männer«, sagte er. »Das sind sie doch. Jeder von den fünfen. Und keiner kann einen Befehl ausführen.« Er benützte die Pfeife zur Betonung seiner Worte, indem er sie in Richtung auf Martin stieß. »Das ist der Jammer bei Wissenschaftlern. Sie sind alle zu launenhaft. Wollen immer einen eigenen Weg gehen. Zu lange aus der Schule. Wo wären sie heute, wenn sie nicht das getan hätten, was Ihnen ihre Lehrer aufgetragen haben?« Martin fühlte sich dem Zorn Dr. Penns gegenüber hilflos. Er konnte nur zuhören, die unruhigen Augen beobachten, die Zornesröte auf den Wangen. Bei dem Gestikulieren mit der Pfeife war sie ausgegangen, und er mußte sie neu anzünden. »Nehmen Sie nur zum Beispiel diesen Dr. Merrill. Ich vermute, daß Sie sich nach meinem Gespräch am Telefon bereits klar darüber geworden sind, daß er und ich die Dinge nicht im gleichen Licht sehen. Er will auf seine Art arbeiten, und ich wünsche, daß er auf meine Art arbeitet. Zusammenarbeit! Das ist's, was wir brauchen. Wenn jeder von den fünf Leuten etwas anderes tun würde, würden wir es niemals
schaffen. Ich glaube, es wäre besser, ich würde sie alle zum Teufel jagen und die Arbeit allein machen. Dann wüßte ich wenigstens, daß sie richtig gemacht wird.« Schließlich legte sich der Zorn, der Doktor lächelte und sah ihn an. »Jetzt ist mir wieder wohler, Mr. Enders. Hatte nicht die Absicht, Sie darunter leiden zu lassen. Aber ich fühle mich gleich besser, wenn ich ab und an ein wenig Dampf ablasse. Weiß Gott, ich würde es ihnen lieber ins Gesicht sagen, aber dann würden sie alle kündigen. Das würde ein schlimmes Durcheinander geben. Wo sind wir eigentlich stehengeblieben?« »Sie haben mir etwas über Regeneration erzählt«, sagte Martin. »Aber bevor Sie fortfahren, möchte ich Ihnen sagen, daß ich vorhin für eine Weile zum Fenster hinüber gegangen bin. Ich konnte nicht vermeiden, diese Fotos auf Ihrem Schreibtisch zu sehen.« »Virginia und Bobby?« Der große Mann nahm die Bilder und lächelte sie zärtlich an. »Natürlich möchten Sie darüber etwas wissen. Virginia ist meine Tochter. Sie erledigt den größten Teil der statistischen Arbeit in meinem Labor. Sie ist sehr sorgfältig und sehr gründlich. Ich würde Ihnen gern sagen, daß sie ihrem Vater nachschlägt, aber sie hat mehr von ihrer Mutter. Wirklich. Sie wird bald dreiundzwanzig werden.« »Das andere Bild ist von Ihrem Sohn?« fragte Martin.
Dr. Penn nickte. »Ein aufgeweckter Bursche. Ist erst sieben. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Er wird Wissenschaftler werden. Ich glaube das bestimmt.« Martin machte ein paar Aufzeichnungen in sein Notizbuch. »Wofür interessiert er sich, Doktor?« »Bobby?« Er schürzte die Lippen. »Er ist einfach ein Junge. Für die Dinge, an denen ein Junge eben Interesse hat. Die Cowboy-Filmstars. Er sieht sie sich in den Kinos des Sperrgebiets an. Er baut auch gern Dinge.« »Hat er Haustiere?« »Nein, nein, hat er nicht. Er hatte ein Kaninchen, das ich ihn mal aus dem Labor mitnehmen ließ. Aber er hat sich nicht darum gekümmert, und so mußte ich es zurückholen.« »Ist er an Magie interessiert?« »An Magie? Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht, ob er überhaupt weiß, was das Wort bedeutet.« Martin hielt sein Notizbuch in beiden Händen und sah dem Doktor in die Augen. Das könnte der Weg sein, es zu schaffen, sofort etwas herauszufinden. Er würde in der Lage sein, aus der Antwort etwas zu erkennen. »Dr. Penn«, sagte Martin langsam, »ich habe Bobby heute nachmittag gesehen.« »Wirklich?« Der Doktor war überrascht. »Ich verstehe nicht, wie das möglich gewesen sein soll. Er war
in der Schule. Es sei denn, Sie haben ihn gesehen, als Sie aus dem Fenster gesehen haben. Er könnte vorüber gegangen sein.« »Nein«, sagte Martin. »Ich habe ihn gesehen, als ich hereingekommen bin. Kurz vor drei Uhr. Er hat etwas Seltsames getan.« Der Doktor zündete seine Pfeife wieder an und studierte Martin aus den Augenwinkeln. »Was war das?« Martin erklärte, wie er die rote Kugel hatte verschwinden sehen und wie die Katze sich materialisiert hatte und davongelaufen war. Der Doktor schien nicht beunruhigt. Er saß einfach da, zog an seiner Pfeife und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Martin konnte an seinem Gesichtsausdruck beim besten Willen nicht erkennen, was der Doktor dachte. Sein Gesicht war ausdruckslos. Als Martin zu Ende gesprochen hatte, hob der Doktor den Telefonhörer ab und rief eine Nummer an. »Würden Sie Bobby sofort in mein Büro im Verwaltungsgebäude schicken?« Dann legte er auf. »Sie werden feststellen, Mr. Enders«, sagte der Doktor ruhig, »daß Sie so etwas nicht gesehen haben können.« In den nächsten Minuten waren die beiden Männer etwas verlegen. Martin wollte nicht weitermachen, bis die Angelegenheit zur Zufriedenheit des Doktors
geklärt war. Der Doktor hatte nichts zu sagen, weil seine Integrität plötzlich auf dem Spiele zu stehen schien. Man saß da, wechselte ein paar belanglose Worte und rauchte nervös. Endlich kam das Stakkato laufender Füße den Flur herunter, die Tür flog auf, und ein Kind lief durch das Zimmer zu Dr. Penn. Der Junge schmiegte sich in die väterliche Umarmung. »Bobby, mein Junge, was hast du eben gemacht?« »Nur gespielt, Vati. Und dann hab ich mir Tornado Bill angesehen, als du angerufen hast. Ich bin den ganzen Weg hergerannt.« »Bobby«, sagte der Doktor, »ich möchte dir einen neuen Freund von mir vorstellen, Mister Enders, Martin Enders. Er arbeitet für eine Zeitschrift.« Der Junge drehte sich um, um Martin anzusehen. In seinen Augen war kein Zeichen des Wiedererkennens zu bemerken. »Siehst du dir auch immer Tornado Bill an?« fragte der Junge. »Nein, leider nicht, Bobby«, sagte Martin, in seinem Kopf drehte sich alles. Das war der Junge, aber der Junge hätte sich doch an ihn erinnern müssen. Vielleicht hatte er ihn zu kurz angesehen ... »Bobby«, sagte Dr. Penn. Der Junge drehte sich zu seinem Vater um. »Was hast du heute nachmittag getan?«
»Nach der Schule?« »Um wieviel Uhr war Schluß?« »Halb vier. Du kennst doch die Zeit.« »Du bist nicht früher weggegangen?« Der Junge schüttelte beunruhigt den Kopf. Martin kam zu dem Schluß, daß der Junge der größte kleine Lügner war, den er je gesehen hatte. »Ich hab dich kurz vor drei gesehen«, sagte Martin freundlich. »Ich hab dich nicht gesehen. Wo warst du? Warst du in der Schule? Manchmal haben wir Besucher, aber meistens aus anderen Teilen des Camps. Möchtest du dir gern die Schule ansehen? Morgen?« »Ich hab dich nicht in der Schule gesehen. Ich hab dich gesehen, als ich den Fußweg vom Osttor zum Verwaltungsgebäude entlanggegangen bin. Soll ich dir sagen, was du getan hast?« Die Augen des Jungen wurden groß vor Erstaunen, und es stand eine Spur von Angst in ihnen. Sein Mund war schlaff. »Du hattest eine rote Kugel und hast sie in der Luft tanzen lassen. Du hast mit dem Arm gewinkt, und sie ist verschwunden. Dann hast du deine Augen zugemacht, etwas ist durch die Luft gewirbelt, und dann ist eine Katze zu Boden gefallen und weggelaufen. Du hast Angst bekommen und bist auch davongelaufen. Erinnerst du dich nicht mehr daran.«
Der Junge war erschrocken und klammerte sich an seinen Vater. »Was meint er, Vati? Warum sagt er, daß ich das getan habe? Was will er denn?« »Sie sollten jetzt besser nichts mehr sagen, Mr. Enders«, sagte der Doktor scharf. »Sie können doch selbst sehen, daß Sie den Jungen völlig durcheinander gebracht haben.« »Aber ich sage Ihnen doch, daß ich ihn wirklich gesehen habe!« »Mr. Enders, ich verstehe nicht, welchen Zweck Sie verfolgen, aber Sie haben den Jungen ganz offensichtlich eben doch nicht gesehen. Ist das denn nicht völlig klar?« »Wollen Sie mich einen Lügner heißen?« »Sie können glauben, was Sie wollen. Ich kann nicht ändern, was Sie gesehen haben wollen. Aber ich sage, daß der Junge nicht gelogen hat.« »Ich sage Ihnen –« »Er darf mir nichts tun, Vati!« »Mister Enders!« Martin zwang sich zur Ruhe. Es war lächerlich gewesen, sich so zu ereifern. Er kannte sich mit Kindern nicht gut aus. Der Junge wollte seinen Vater einfach nicht wissen lassen, daß er die Schule geschwänzt hatte. Vielleicht war es verkehrt gewesen, das alles zur Sprache zu bringen. Er hatte nur die Hoffnung, daß er sich den Wissenschaftler nicht entfremdet hat-
te, der jetzt den Kopf des Jungen an seine Brust drückte und ihm über das Haar strich. Martin hatte gedacht, der Vortrag darüber, was er gesehen hatte, und das Eingeständnis des Jungen würden zu einer nützlichen Entwicklung führen. Jetzt war alles verdorben. Er hatte zu hoch gespielt und verloren. »Es tut mir leid«, hörte sich Martin sagen. »Ich war sicher, es wäre dieser Junge gewesen. Aber es muß doch wohl ein anderer gewesen sein.« »Das klingt schon besser.« Der Doktor hob den Kopf des Jungen und sah ihm in die Augen. »Mr. Enders hat sich geirrt, Bobby. Er hat nur geglaubt, daß er dich gesehen hat.« Der Junge sah Martin mit einer Mischung aus Mißtrauen und Angst an. »Bestimmt bittet dich Mr. Enders um Verzeihung.« »Es – es tut mir leid, Bobby.« Er knirschte fast mit den Zähnen, als er das sagte. Der kleine Teufel! Hat den Vater wie ein Gummiband um den Finger gewikkelt. »Es tut mir auch leid, daß du meinetwegen Tornado Bill versäumt hast.« »Es ist wirklich nett von Ihnen, Mr. Enders, daß Sie das sagen.« Dr. Penn tätschelte das Haar seines Sohnes. »Und jetzt kannst du wieder loslaufen, Bobby.« Nachdem das Kind gegangen war, drehte sich Dr. Penn zu ihm um und fragte ihn ernst: »Warum haben Sie das getan, Mr. Enders?« Der Vater glaubte dem Jungen. Es hatte keinen
Sinn, ihn auf andere Weise zu überzeugen. »Ich war völlig sicher, daß er der Junge gewesen sei«, sagte Martin deshalb, »bis er es so bestimmt verneinte. Jetzt sehe ich ein, daß ich mich geirrt habe. Es muß ein anderer Junge gewesen sein.« »Aber es gibt wenige Jungen in unserem Sperrgebiet!« Dr. Penn hob die Hände in einer Geste der Verzweiflung. »Ich gebe auf. Sie waren sich Ihrer Sache so sicher, und Bobby lügt mich nie an. Ich versuche nur, einen Grund dafür zu finden, weshalb Sie sich so verhalten haben. Sie haben mich mit Ihrer Beharrlichkeit überrascht.« »Lassen Sie mich nochmals sagen, daß es mir leid tut, Dr. Penn. Ich hoffe nur, daß ich Sie nicht gekränkt habe. Es war nicht eben diplomatisch von mir, eine solche Streitfrage daraus zu machen. Ich werde von jetzt an versuchen, mich zu benehmen. Es müssen meine Nerven gewesen sein.« »Ihr Beruf muß so ähnlich wie der meine sein. Immer auf der Suche, immer dicht vor neuen Situationen. Ich verstehe Sie gut. Und weil ich gerade daran denke« – der Doktor legte seine Arme auf den Schreibtisch und beugte sich zu Martin hinüber – »wenn ich Sie in diese Gemeinschaftsunterkunft stekke, mache ich einen Techniker aus Ihnen. Dort wohnen sie alle, die unverheirateten. Es wäre einem Gast gegenüber nicht höflich, ihn dort wohnen zu lassen.
Wie würde es Ihnen gefallen, in meinem Haus zu bleiben? Was sagen Sie dazu?« »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Doktor. Ich nehme an.« Martin spürte, daß mehr an der Einladung war als reine Höflichkeit. Hatte der Doktor Angst, daß er sich unter die Techniker mischen würde? Oder suchte er, Martin, nach Hintergedanken? Vielleicht war es doch nur aus reiner Höflichkeit geschehen. Er schaute nicht durch. Der Doktor sah auf seine Armbanduhr. »Es ist schon nach vier. Könnte Sie jetzt gleich nach Hause bringen. Sie werden Ethel kennenlernen – das ist die Haushälterin und Köchin. Virginia wird um fünf nach Hause kommen. Dann haben Sie Gelegenheit einzuziehen, und sich noch vor dem Abendessen einzurichten.« Das Gebäude P 110 unterschied sich von P 108 und P 112 nur durch seine Bewohner – die Penns. Sonst sahen die Fenster auf dieselbe Straße, das Gras war in der gleichen Höhe geschnitten (Oberst Sherrington war sehr genau in dieser Sache und ließ sich im Camp herumfahren, um den Rasen zu inspizieren), die betonierten Fußwege zu den Häusern hatten die gleiche Breite. Auf einer kleinen Tafel stand: »P 110 Dr. Eric Penn.« »Alle Häuser, die hier stehen, haben vier Schlafzimmer im Obergeschoß«, erklärte Dr. Penn, als sie
aus dem Jeep stiegen und zum Haus gingen. »Das ist ein Luxus, den man draußen nicht findet. Die Armee nimmt offensichtlich an, daß ihre Offiziere und die zivilen Wissenschaftler große Familien haben. Wir leben hier wirklich sehr komfortabel.« Und als nachträglichen Gedanken fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie haben sich keine Sorgen gemacht, ob Sie uns stören.« Martin machte sich keine Sorgen darüber, wo er schlafen würde. Er fragte sich höchstens, ob seine Unterbringung im Haus des Doktors nicht bedeutete, daß dieser ihn überwachen wollte. Wenn es ein anderes Motiv als echte Gastfreundschaft gab, so ließ sich der Doktor nichts anmerken. Er war ein liebenswürdiger und aufmerksamer Gastgeber. Er stellte ihn Ethel Winters vor, einer ältlichen, aber offensichtlich sehr tüchtigen Jungfer. Sie sah ihn kurz an, schätzte seinen Appetit ein und eilte in die Küche. Der Doktor zeigte ihm das Gästezimmer und sagte, er solle sich darin wie zu Hause fühlen. Dann ließ er Martin allein, während er unten im Erdgeschoß eine Badewanne voll Wasser laufen ließ und dabei völlig falsch sang. Martin hängte Mantel und Hut in den Schrank, sah in den Ankleidespiegel und kämmte sich das Haar. Dann warf er einen Blick aus dem Fenster. Es war ein Anblick, wie man ihn auch in einer Vorortsiedlung
haben konnte. Etwas ungewöhnlich für ein Army Camp, abgesehen davon, daß dies im Grunde kein Army Camp war. Die Soldaten wäre nur die Wächter, das Sicherheitspersonal. Als er sich umdrehte, war er erstaunt, Bobby in der Tür stehen zu sehen. Der Junge blickte ihn neugierig an, drehte sich dann um und wollte gehen. »He, warte. Geh nicht weg.« Der Junge zögerte, kam zurück, lehnte sich gegen den Türpfosten und sah ihn feindselig an. »Was macht Tornado Bill?« Martin warf ihm ein Lächeln zu, um ihn so wissen zu lassen, daß alles vergeben sei. »Kommt erst morgen wieder.« »Wenn ich da bin, darf ich mit dir zusehen?« Die Augen des Jungen leuchteten zunächst interessiert auf, dann erlosch der Glanz. »Er würde Ihnen nicht gefallen. Die Erwachsenen mögen ihn nicht. Nicht einmal Vati mag ihn.« »Darauf möchte ich wetten!« lachte Martin. »Was möchtest du werden, wenn du groß bist? Auch ein Tornado Bill?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich werde eine Fabrik haben. Ich werde Flugraketen haben und alles reparieren. Ich möchte wetten, daß ich eine Rakete bauen könnte, so groß wie dieses Haus. Größer als Tornado Bills Jupiter-Expreß.«
»Ohne Spaß, im Ernst?« »Ich wette, Sie glauben nicht, daß ich es könnte.« »Ich zweifle gar nicht daran«, sagte Martin. »Ich hab doch gesehen, was du für seltsame Sachen gemacht hast.« »Ich werde eine Menge Männer haben, die für mich arbeiten«, fuhr der Junge fort, ohne auf Martins Worte irgendwie zu reagieren. »Ich werde eine Menge Geld haben, das mir die Leute geben, und wenn wir wegfliegen, werde ich alle Leute mitnehmen, von denen ich möchte, daß sie mit mir gehen.« »Könnte ich mit?« »Sie hätten Angst.« »Glaubst du? Ich glaube nicht, wenn du das Flugschiff steuern würdest. Der Mann, der das Flugschiff gebaut hat, sollte doch auch wissen, wie es zu steuern ist.« Der Junge überlegte das. Bevor er wieder sprechen konnte, fragte ihn Martin: »Eins möchte ich gern wissen, Bobby. Warum hast du im Büro deines Vaters heute nachmittag nicht die Wahrheit gesagt? Du weißt doch, daß ich dich gesehen habe, als ich heute nachmittag gekommen bin.« »Aber ich habe die Wahrheit gesagt«, behauptete der Junge traurig. »Wie konnten Sie mich denn sehen, wenn ich in der Schule war?« Martin gab es auf. »Dann muß es dein Zwillings-
bruder gewesen sein.« Er nahm sich vor, den Lehrer zu fragen. Im Erdgeschoß des Hauses fiel eine Tür ins Schloß. »Das ist meine Schwester«, sagte der Junge. »Sie wird Ihnen gefallen. Jedem gefällt sie. Kommen Sie.« Die Erinnerung an das Foto erweckte in Martin den Wunsch, das Mädchen zu sehen. Er war über sich selbst erstaunt, über den Eifer, mit dem er dem Jungen den Flur entlang und die Treppe hinunter folgte. »Hallo, Schwester!« rief Bobby. »Ein Mann wohnt hier!« Martin lachte, als er darüber nachdachte, was diese Bemerkung für eine junge dreiundzwanzigjährige Frau bedeuten würde. Für ein Mädchen, das alle gerne mochten – einschließlich Martin, wenn das Foto sie richtig wiedergab. Von oben konnte er kaum in den unteren Flur sehen, als er hinter Bobby die Stufen herunterstieg. Das erste, was er sehen konnte, waren ein Paar schwarze Pumps, zwei hübsche Fesseln und schlanke Beine. Nach ein paar weiteren Schritten konnte er sich davon überzeugen, daß das Foto nur einen schwachen Eindruck vermittelte von dem Mädchen, das ohne Frage das schönste war, das er je gesehen hatte. Ihre Blicke trafen sich und konnten sich nicht mehr voneinander lösen. Offensichtlich hatte sie gerade einen Brief geöffnet und darin gelesen, bevor sie den
Kopf gedreht und nachgesehen hatte, wer der Mann war, dessentwegen ihr Bruder so schrie. Martin bekam weiche Knie. Er blieb auf der Treppe stehen und schnappte nach Luft. In ihrem Blick lag etwas wie eine elektrisierende Kraft, die ihn sofort ins Herz traf. Ihr Erröten war ansteckend. »Ich – ich bin Martin Enders«, sagte er schließlich. »Ich bin Sis – die Schwester Bobbys. Mein eigentlicher Name ist Virginia.« Ihre Stimme war tief, vibrierend und aufrichtig. Sie hatte ein warmes Lächeln. »Kommen Sie nicht endlich herunter?« fragte Bobby ungeduldig. »Ja – ja natürlich.« Martin ging die restlichen Stufen hinunter. »Bobby sagt, daß alle Sie gern mögen, Virginia«, sagte er, als er sich einigermaßen gefangen hatte. »Ist das wahr?« »Bobby ist ein lieber Kerl«, sagte sie. »Aber leider sieht er in anderen nur sich selbst.« »Oh, das weiß ich nicht. Ich kann verstehen, warum er es gesagt hat.« »Es ist erfrischend, einmal jemanden kennenzulernen, der galant ist. Ist das ein Charakteristikum von Schriftstellern?« »Überhaupt nicht. Ich bin der einzige von den galanten, der noch vorhanden ist. Die anderen sind entweder glücklich verheiratet oder sind zu Einsiedlern geworden, die in Höhlen leben und alles hassen,
was Zivilisation heißt. Aber woher wissen Sie, daß ich ein Schreiberling bin?« »Vater hat erwähnt, Sie würden kommen, um ihn zu interviewen. Aber gehen wir doch ins Wohnzimmer. Dort können wir sitzen.« Als sie dich dorthin begaben, sagte sie: »Ich finde es großartig von National Scene, daß Sie an Vater ein solches Interesse nehmen. Er hat sein ganzes Leben lang hart gearbeitet.« Er bot ihr eine Zigarette an. Als er ihr Feuer gab, trafen sich ihre Blicke wieder. Aus der Nähe wirkte der Blick noch ätherischer, geheimnisvoller. Er hatte nie zuvor solche Augen gesehen, fordernd, streitbar, aufregend und neugierig – und doch irgendwie zurückhaltend und kühl. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit«, sagte sie. »Sie muß doch faszinierend sein.« »In Augenblicken wie diesem stimme ich zu.« »Ein unverbesserlicher Charmeur.« Sie lachte. »Aber ernsthaft, Vater hat erwähnt, daß er für eine geplante Titelgeschichte in Aussicht genommen werden könnte. Wird das der Fall sein? Was meinen Sie?« »Das hängt alles davon ab, was ich herausfinde«, antwortete Martin. »Zum Beispiel?« »Nun, zum Beispiel die kleinen Dinge in seinem Leben, die ihn zu dem Mann gemacht haben, der er ist. Die Ereignisse, die Wendepunkte, die Signallich-
ter auf diesem Weg gewesen sind. Ich zähle darauf, daß Sie mir bei dieser Suche behilflich sind.« »Das werde ich gern tun, Martin«, sagte sie. »Vater neigt dazu, ziemlich bescheiden zu sein, wenn er von seinen Leistungen und Erfolgen sprechen soll.« »Er sagte, daß er nur sehr wenig Zeit hat. Meinte, er wäre mit seinem Projekt ziemlich beschäftigt.« »Es ist, offen gestanden, nicht allzu gut gelaufen. Er hat sehr hart gearbeitet, aber es hat Widerwärtigkeiten gegeben.« »Läuft etwas schief?« »Kleine Dinge.« Während sie dasaß, blickten ihre Augen in weite Ferne. Martin fragte sich, was sie wohl dachte. »Wie lange arbeitet er schon an dem Projekt?« »Nahezu ein Jahr. Er ist auf Einladung der Regierung hierher gekommen. Vorher war er Chef der biologischen Abteilung in Billingsley. Dort hatte er sein eigenes Laboratorium und eine Menge Stiftungsgelder. Ich glaube, er vermißt diese Arbeit. Die Arbeit bei der Regierung ist so anstrengend und unruhig. Man muß über alles abrechnen und hat so viele Berichte zu schreiben – es ist einfach zuviel für einen Mann. Es ist ganz anders als in Billingsley, als Mutter noch lebte.« Sie war sichtlich ergriffen und schwieg, um sich wieder zu fassen. »Als sie starb, vergrub er sich völlig in seine Arbeit und wollte mit niemandem sprechen.
Jetzt ist er allmählich aus diesem Zustand wieder heraus.« »Er hat gesagt, daß Sie im Labor arbeiten, Virginia. Was machen Sie dort?« »Einige von den Routinearbeiten. Die Berichte. Ich habe das Lager und den Einkauf unter mir.« »Sie stellen es so dar, als wäre Ihre Arbeit ziemlich stumpfsinnig.« Sie lachte. »Was alles wissen Sie über Wissenschaft und Versuchslabors, Martin? Vielleicht halten Sie es wie die meisten Leute für faszinierend, wenn vier oder fünf bärtige Männer mit dicken Brillen auf das Ergebnis irgendeines Versuchs warten. Für uns ist das etwas ganz anderes. Es ist eine mühselige Plackerei, ein langsames, eintöniges Prüfen, Untersuchen, Wiederprüfen, Auswerten und Wiederauswerten. Es gibt selten einen dramatischen Augenblick wie im Kino, wo ein Ergebnis plötzlich erkennbar wird. Es kommt manchmal vor, daß man die Antwort schon tagelang hat, ohne es zu wissen.« »Mir scheint, Sie betrachten es zu sehr von der nüchternen Seite«, erwiderte Martin. »Passiert denn wirklich nie etwas Aufregendes? Hat sich gar nichts Aufregendes ereignet, seit Sie hier sind?« Sie sah ihn einen Augenblick lang seltsam an. »Ja, doch, etwas hat es gegeben. Aber das hatte keinen Zusammenhang mit der eigentlichen Forschung.«
»Was war es?« »Da war ein Mann«, sagte sie. »Ein Techniker namens Killian. Er verschwand, und alle Einwohner von Park Hill haben einen ganzen Tag nach ihm gesucht. Er wurde nicht gefunden. Das war vor ungefähr einem Monat.« »Was ist mit ihm passiert?« »Weiß der Himmel; ich habe keine Ahnung. An einem Tag war er da und am nächsten nicht mehr.« »Wo hat dieser Mann gearbeitet?« »Das ist das Besondere daran. Er hat ausgerechnet in Vaters Labor gearbeitet und mit den übrigen Technikern, den Junggesellen, in der Gemeinschaftsunterkunft gewohnt. Er konnte seinen Job nicht einfach verlassen haben. Ich erwähne die Sache, weil Sie sicher noch davon gehört hätten.« Martin drückte seine Zigarette aus. »Was meint Ihr Vater, könnte Forrest Killian passiert sein? Ich meine, hat er nicht irgendeine Theorie oder so etwas?« »Vater war die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat. Aber er weiß auch nicht, was mit ihm passiert ist.« Sie sah ihn scharf an. »Wieso kennen Sie seinen Vornamen?« »Sie haben ihn genannt, Virginia.« Mit einem Schlag war ihm klar geworden, daß er nie ein erfolgreicher CIC-Mann werden würde. Die Knie wurden ihm sogar im Sitzen weich. Er hoffte nur, daß man
ihm nicht ansah, was für einen Riesenfehler er gemacht hatte. »Ich habe Ihnen den Vornamen nicht gesagt, Martin. Ich habe nur von Killian gesprochen.« »Aber sicher haben Sie den Vornamen genannt. Woher sollte ich ihn denn sonst wissen?« »Das weiß ich nicht.« Sie sah ihn nachdenklich an. Ethel kam herein und sagte, daß das Abendessen fertig sei.
5 Das Abendessen bei den Penns war, was die Konversation anging, eine einseitige Sache. Martin hatte ziemlich fest damit gerechnet, aus dem Doktor einiges herauszuholen, schaffte es jedoch nur, zwei Fragen zu stellen. Es war nämlich Bobby, der die Konversation ganz allein bestritt. Er erzählte Märchen von seinen Eroberungen im Phantasieland der Raketenschiffe und Raumpiraten. Dr. Penn schien das nicht zu stören. Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, während er aß. Manchmal warf er einen Blick in die Ferne, während Bobby weiterplapperte. Auf die Fragen des Kindes gab er einsilbige Antworten. Virginia lächelte über Bobbys offensichtlichen seltsamen Hang für unglaubliche Erfindungen und Vorstellungen. Seine gelegentlich zu seiner Erzählung gemachten Gesten ließen sie immer wieder auflachen. Das veranlaßte das Kind nur zu noch aufregenderen Abenteuerschilderungen, die es mit glänzenden Augen erzählte. Es war Ethel – sie trug ihr stumpfes graues Haar glatt zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten geformt –, die mit ihren schiefergrauen Augen kühl die Tischmanieren des Jungen überwachte, ihn
auch immer wieder unterbrach und zum Essen anhielt. »Was ist denn heute abend in dich gefahren, Bobby?« fragte Ethel schließlich. »Du mußt doch bei Mr. Enders nicht gleich Eindruck machen wollen. Du kannst ihm über deine Weltraumabenteuer auch ein andermal erzählen.« Martin fand es eigenartig, daß der Wissenschaftler und seine Tochter Ethel nicht unterstützten, obwohl diese die beiden wiederholt hilfesuchend ansah. Als die beiden ihre Blicke nicht erwiderten, wandte sie sich Martin zu, als würde sie erwarten, daß er eine Bemerkung zur Sache machen sollte. Er entschied sich dafür, diesen Hilferuf nicht zu bemerken. Aber obwohl ihre kühlen und gleichgültigen Blicke ihn hatten fühlen lassen, daß sie nicht begeistert davon war, für ihn noch einen weiteren Teller auf den Tisch stellen zu müssen, wollte er sie doch nicht ganz enttäuschen. So sagte er ihr, wie gut ihm das Steak schmecke. Er freute sich, als er sah, wie sich ihre Miene aufhellte. Auch sie hatte ihre verwundbare Stelle. »Virginia und ich haben noch im Labor zu tun«, sagte Dr. Penn nach dem Essen, während er seine Pfeife stopfte. »Die Arbeit ist ziemlich anstrengend, und wir würden keine Zeit zur Unterhaltung mit Ihnen haben, Martin. Ich schlage deshalb vor, daß Sie in
eines der Kinos im Camp gehen. Sie können ja morgen ins Labor kommen.« »Leider mache ich mir nicht viel aus Filmen«, sagte Martin wahrheitsgemäß. »Ich würde es vorziehen, hier zu bleiben und auf Sie zu warten, bis Sie zurückkommen.« »Es kann sehr spät werden.« Der Doktor und seine Tochter sahen sich kurz an. »Sie sollten doch lieber gehen.« »Dann gehe ich spazieren, falls es Ihnen nichts ausmacht.« »Es könnte gefährlich werden«, sagte der Doktor. »Jemand könnte einen falschen Eindruck von Ihren Absichten bekommen und auf Sie schießen. Das Kino liegt hier.« Er nahm ein Stück Papier und machte eine kleine Skizze. »Um hinzukommen, müssen Sie diesen Weg nehmen. Hier sind wir, und hier befindet sich das Kino.« Martin fühlte, wie ihm das Blut in den Nacken stieg. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Filme nicht mag. Ich sehe mir höchstens einen oder zwei im Jahr an. Weshalb bestehen Sie darauf, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht mag?« »Mr. Enders«, sagte der Doktor, und seine Augen glitzerten, »Sie wollen sich doch aus allem Ärger heraushalten, nicht wahr?« »Aber ich verstehe nicht –«
»Vater hat recht, Martin. Sie kennen das Sperrgebiet noch nicht so recht. Kino wäre das Beste, was Sie am ersten Abend hier unternehmen könnten.« Um einen Streit, den er sich nicht leisten konnte, zu vermeiden, dankte er dann doch dem Doktor für seinen Vorschlag, der mehr ein Befehl war, und ging aus dem Haus. Aber er hatte nicht die Absicht, ins Kino zu gehen. Er fand bald heraus, daß die erlaubten Straßen diejenigen waren, auf denen sich Leute befanden. Also hielt er sich an diese. Er kam an Kasernen und anderen, fast bizarren Gebäuden vorüber, die wahrscheinlich für besondere Forschungsaufgaben gebaut waren. An ihnen waren Tafeln mit der Aufschrift zu lesen: »Nur für autorisiertes Personal.« Er kümmerte sich nicht weiter darum. Die Straßen erinnerten ihn an einen Rummelplatz, denn jeder Quadratzentimeter war hell erleuchtet. Militärpolizeifahrzeuge fuhren durch diese breiten Straßen. Auf den Wagen saßen uniformierte Männer. Immer wieder hielt so ein Fahrzeug eine Fußgängergruppe an. Die MPs stiegen aus und ließen sich die Ausweise zeigen. »Sie sind außerhalb Ihrer Zone, junger Mann«, sagte ein Sergeant zu Martin, der seinen Ausweis kontrollierte. »Sie gehen besser wieder dorthin, wohin Sie gehören.« Martins zielloses Herumbummeln führte ihn schließ-
lich zu einem einstöckigen Gebäude, aus dem der Lärm vieler Stimmen, Gelächter und das Dröhnen einer Musikbox kam. Er warf einen Blick hinein. Es war ziemlich voll, aber an der entgegengesetzten Seite des Eingangs sah er einen freien Tisch. Er schob sich durch die Paare auf der Tanzfläche, kaufte sich an der Theke eine Flasche Bier und ging zum Tisch. Er saß schon eine Weile dort und überlegte, ob wohl all diese Leute am Penn-Projekt arbeiteten, als er einen älteren Mann bemerkte, der an der Theke stand und ihn ansah. Schließlich kam der Mann an Martins Tisch. »Sind Sie allein?« fragte er. Als Martin nickte, fuhr er fort: »Ich sah Sie hereinkommen. Dachte mir, Sie könnten vielleicht Gesellschaft brauchen. Ich hasse es, allein für mich an einem Tisch zu sitzen, und dachte, Ihnen ginge es vielleicht auch so. Sie erwarten doch niemand, oder?« Martin forderte ihn auf, sich zu setzen. Er bot ihm, nachdem der Mann einen Stuhl herbeigeholt und sein Glas und die Flasche auf den Tisch gestellt hatte, eine Zigarette an. »Ich rauche nicht«, sagte der Mann. »Hab es vor ein paar Jahren aufgegeben. Sie sind neu hier in der Gegend, nicht wahr?« Unter der hohen Stirn sahen ihn stumpfe Augen an. Seine Brille brauchte das Putzen, und sein Atem roch nach etwas Stärkerem als Bier.
»Erst heute angekommen«, sagte Martin. »He, Cholly!« rief jemand von der Tür her. Sie drehten sich beide um und sahen drei junge Burschen auf ihren Tisch zukommen. »Wir sind etwas spät dran, Cholly«, sagte einer von ihnen. »Gilt die Einladung trotzdem noch?« »Ihr Affen wißt ganz genau, daß ich euch niemals eingeladen habe«, sagte Martins Tischnachbar. »Aber setzt euch meinetwegen. Mir soll niemand nachsagen, daß ich es abgelehnt hätte, ihn zu einem Bier einzuladen.« »Amen«, sagte einer der drei, als sie Stühle heranzogen. »Ich würde Sie diesen Einfaltspinseln gern vorstellen, aber ich kenne Ihren Namen nicht, wie Sie wohl kaum den meinen.« »Was? Sie kennen Dr. Charles Merrill nicht?« fragte einer der jungen Leute. »Und dabei haben Sie uns immer erzählt, daß Sie draußen berühmt seien, Doktor.« »Klappe«, sagte Dr. Merrill. »Das ist Karl Gronemeier, der Laute, dann Amos Page und Chalmers Peterson.« »Ich heiße Enders. Martin Enders.« Alle vier starrten ihn an. Dann sagte einer impulsiv: »Verdammt noch mal! Wir haben von Ihnen gehört! Weit bekannter als Doktor Merrill, kann man wohl sagen.«
»Auf jeden Fall weiß Doktor Penn, daß es Sie gibt, Mr. Enders. Das kann der Doktor hier von sich nicht unbedingt behaupten.« Alle lachten noch, als Martin fragte: »Wie kommt es, daß Sie mich kennen?« »Eben durch Doktor Penn. Und Sie gehören zu den Männern, denen wir keine Interviews geben dürfen. Höchstens können wir Fragen an Sie stellen.« Dr. Merrill nickte. »Zum Beispiel, was Sie hier machen.« »Ich schreibe eine Titelgeschichte über Doktor Penn.« Das wurde ihm nicht abgenommen, und von der folgenden Unterhaltung blieb Martin nur der Eindruck, daß hier niemand niemandem traute. Daß, wie Dr. Merrill sagte, das ganze Sicherheitssystem einen krank machte. Und dabei erfinde man weder eine neuartige Atombombe oder dergleichen. Überhaupt sei man erst am Beginn der Forschung, obwohl man weiter sein könnte, würde Dr. Penn nicht manches bremsen. Dieser Punkt interessierte Martin natürlich besonders, aber Dr. Merrill drängte plötzlich zum Aufbruch. Auch eine Einladung zu einer Einstandsrunde wurde auf ein andermal verschoben. »Kommen Sie wieder, Mr. Enders!« riefen die jungen Männer, als er mit Dr. Merrill ging.
»Sind nette Burschen«, sagte Dr. Merrill draußen. »Sie haben nur Park Hill satt bis oben hin, wie wir alle. Was würden Sie dazu sagen, hier monatelang zusammengepfercht leben zu müssen? Gehen wir an einen Ort, wo wir reden können. Wohnen Sie in P-4?« »Nein, ich wohne bei Doktor Penn«, antwortete Martin. Dr. Merrill schüttelte verwundert den Kopf. »Nun, da bin ich aber neugierig. Sie haben noch keine Nacht dort verbracht, oder?« »Nein, aber weshalb fragen Sie?« »Kommen Sie, wir gehen in mein Zimmer. Gleich hier in dieser Straße.« In seinem kleinen Zimmer langte Dr. Merrill in die Tiefe seines Kleiderschranks und holte eine Flasche Whisky heraus. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß es hier so etwas gibt«, sagte Martin. »Normalerweise nicht. Aber ich hab ihn verordnet bekommen. Schwaches Herz.« Er kicherte. »Im Ernst, ich habe da jemanden. Drink?« »Danke nein. Nicht bei der Arbeit.« »Arbeiten Sie denn jetzt?« Merrill sah ihn scharf an. »Vielleicht zufällig für Dr. Penn?« »Ihre Frage verstehe ich nicht. Hier ist mein Ausweis.« Zu Martins Überraschung nahm Dr. Merrill die
Karte, befühlte sie genau, hielt sie gegen das Licht und gab sie dann zurück. Er nahm einen Schluck und meinte: »Wie kommt es nur, daß Sie bei Doktor Penn wohnen, wenn Sie nicht für ihn arbeiten?« »Offen gesagt, habe ich auch schon darüber nachgedacht. Ich sollte nämlich zuerst in der Gemeinschaftsunterkunft wohnen. Aber dann hat er aus irgendeinem Grund seine Meinung geändert. Und zwar unmittelbar nachdem er mit Ihnen telefoniert hat.« »Sie wissen von diesem Gespräch?« fragte der Doktor mißtrauisch. »Ich war in seinem Büro, als Sie angerufen haben.« »Hmm.« Merrill trank sein Glas aus und drehte es nachdenklich zwischen den Fingern. »Warum interessiert sich Ihr Blatt für Eric Penn? Können Sie mir diese Frage beantworten?« »Nun, er ist ein berühmter Wissenschaftler. Hat eine Menge für die Menschheit getan. Ist Nobelpreisträger. Wir haben Reportagen über Männer geschrieben, die weit weniger geleistet haben.« »Ich vermute auch, daß seine Forschungen über Ringelwürmer klassisch sind. Er hat mit den Biestern so lange gelebt, daß er sie beim Vornamen nennen kann. Alles gut, aber –« »Worauf wollen Sie denn nun eigentlich hinaus? Was stimmt da Ihrer Meinung nach nicht?«
»Sie haben die Jungen reden gehört, Martin.« Er goß sich wieder nach. »Er hat, das vor allem, seinen Elan verloren.« Wieder ein langer Schluck. Martin wunderte sich, wie der Mann das aushalten konnte. »Er weiß alles besser«, fuhr Merrill fort. »Man kann nicht in einer nüchternen Farbentechnik malen und erwarten, ein Kunstwerk zu schaffen. Man kann nicht komponieren und dabei die Noten wie ein Buchhalter seine Zahlen zusammenschreiben. Wissenschaft ist eine kreative Kunst. Man muß seinen Inspirationen folgen und etwas wagen. Soll ich Ihnen sagen, warum er Sie bei sich im Haus haben will?« »Klar, warum?« Merrill trank aus – das wievielte Glas? – und legte sich auf das Bett. Nachdenklich sagte er: »Wir sind uns alle sicher. Er will Sie in der Nähe haben, damit Sie keine oder nicht zu viele Fragen stellen können. Deshalb hat er uns auch zu absolutem Schweigen Ihnen gegenüber verpflichtet. Im übrigen«, er öffnete den Hemdkragen, »was würden Sie von einem Mann halten, der bereits abgeschlossene Versuche wiederholen läßt?« »Tut er das? Haben Sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht?« Merrill knurrte. »Sicher. Aber er lächelte nur. Meint, daß vielleicht etwas falsch gemacht worden sei. Jetzt frage ich Sie, was das bedeuten soll?«
»Könnte es bedeuten, daß er seine eigenen Forschungen verzögert? Weshalb?« »Das fragen Sie mich?« lachte der Doktor. »Glauben Sie denn nicht, daß wir uns alle Gedanken machen? Das Ergebnis ist, daß wir alle gleichgültig geworden sind. Aber wir sind hier alle verpflichtet, haben unsere Zeit abzudienen. Verstehen Sie? Wir leben wie in einem Gefängnis. Ich zum Beispiel habe drei Jahre auszuhalten.« Er kicherte und wirkte in seinen Bewegungen jetzt deutlich unsicher durch den Alkohol. »Wir schlagen die Zeit tot, kommen nicht vorwärts, verstehen Sie?« Nach einem Schluck, jetzt direkt aus der Flasche, fuhr er fort: »Auch ich habe meine Vermutungen. Aber«, er blinzelte Martin an und versuchte, den Blick auf dessen Gesicht gerichtet zu halten, »aber ich werde Ihnen den Teufel was erzählen, solange Sie bei Doktor Penn wohnen. Ja, wenn Sie hier wohnten –« »Und was ist mit seiner Tochter Virginia?« »Dann kennen Sie sie also auch schon«, sagte Merrill nach einem Schluck aus der Flasche und nachdem er sich den Mund mit dem Hemdärmel abgewischt hatte. »Warten Sie noch ein paar Tage, dann werden Sie selbst sehen.« »Und sein Sohn Bobby?« fragte Martin. Diese Frage überhörte der Doktor anscheinend und fuhr fort: »Wir sind hier alle einsam. Niemand mag
uns. Außer vielleicht Virginia. Die gute alte Virginia! Was für ein Mädchen!« Er lachte laut und anhaltend. »Und was ist mit Forrest Killian?« fragte Martin laut genug, um das Lachen zu übertönen. »Mit wem?« »Forrest Killian.« »Ach so, Forrest Killian. Killian. Ja, den hat er in eine Reagenzröhre gesteckt.« »Reagenzröhre?« »Kann leicht sein. War'n feiner Kerl, ähnlich wie Sie. Schluck?« Martin nahm die Flasche, gab sie jedoch, ohne wirklich getrunken zu haben, zurück. »Das mit der Reagenzröhre. Wie war das?« fragte er. »Es war Nacht, ja, Nacht. Forrest geht ins Büro von Doktor Penn. Was passiert? Ist er je wieder herausgekommen?« Merrill schüttelte den Kopf. »Doktor Penn kommt heraus und sperrt ab. Wo ist Forrest hingegangen? Herausgekommen ist er nie. Er muß ihn in eine Reagenzröhre gesteckt haben. Das müssen Sie in Ihrer Zeitschrift drucken, jawohl.« Der Doktor rülpste und schüttelte den Kopf. Dann fuhr er fort: »Sie wissen von Forrest. Sagen Sie ihm ja nichts davon. Gehen Sie nicht in sein Büro, ich sag's Ihnen! Geh'n Sie ja nicht in sein Büro!« Jetzt war Merrill fertig, total blau. Die Flasche glitt ihm aus der Hand und fiel auf den Boden. Martin zog
ihm die Oberkleidung vom Leib und deckte den Schnarchenden zu, bevor er ging. Martin hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob Dr. Penn und seine Tochter aus dem Labor zurückgekehrt waren, als er zum Haus kam. Außer der Nachtbeleuchtung war das Haus dunkel. In seinem Zimmer zog er sich aus und ging zu Bett, ohne einschlafen zu können. Der Gedanke an die Titelgeschichte und seine Verpflichtung gegenüber dem CIC gingen ihm nicht aus dem Kopf. Wie kann ich Dr. Penn als Wissenschaftler beschreiben, wenn ihn seine engsten Mitarbeiter anzweifeln? Wie kann ich einen Menschen mit einer Hand aufbauen und mit der anderen niederschlagen? Was bedeutet der Hinweis Dr. Merrills mit der Reagenzröhre wirklich und was seine Warnung, nicht im Hause der Penns zu bleiben? Vielleicht war Dr. Penn geistig nicht mehr zurechnungsfähig? Aber was ist mit Forrest Killian, und was ist an der Sache mit Bobby auf der Wiese? Als er endlich einschlief, sah er im Traum die rote Kugel ununterbrochen vor ihm auf- und abtanzen ... Aber es war gar keine rote Kugel. Es war Dr. Penns Kopf. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht«, sagte Dr. Penn vom Fußende des Bettes her. »Aber Sie haben mir noch nicht alles gesagt.« »Woher wissen Sie denn nun das schon wieder?« fragte Martin. »Ich versuchte es doch geheim zu halten.«
»Das hat schon einmal jemand vorgehabt. Virginia hat gesagt, Sie hätten den Namen Forrest Killian erwähnt. Haben Sie ihn gekannt?« Martin schüttelte den Kopf und zog die Decke dichter um seine Schultern. »Niemals kennengelernt. General Deems hat mir von ihm erzählt.« »Der gute alte General Deems! Wo ist er denn jetzt?« »Wohl in seinem Büro in Washington.« »Ist er an Forrest Killian interessiert?« »Nicht nur interessiert, er ist ganz verrückt nach ihm.« Martin lachte. Es war dumm von ihnen, so über Forrest Killian zu sprechen. Dem General wäre das ganz bestimmt nicht recht gewesen. Dr. Penn lachte. »Sie haben Humor. Ich glaube, wir könnten ganz gut miteinander auskommen, nicht wahr?« Er zog kurz an seiner Pfeife. »So wie ich die Sache sehe, ist es Ihre Aufgabe, herauszufinden, was mit Forrest Killian passiert ist, und außerdem eine Story über mich für National Scene zu schreiben. Stimmt das?« »Auf den Punkt.« Verrückt, so etwas zu Dr. Penn zu sagen, aber es stimmte doch. »Die Story ist nur eine Tarnung«, fügte er sogar noch hinzu. »Was haben Sie heute abend gemacht?« fragte Dr. Penn weiter. »Ich habe mit einigen Ihrer Techniker und Doktor Merrill gesprochen.« »Doktor Merrill? Oh, das ist schlimm. Sie haben wahr-
scheinlich alles aus ihm herausgeholt, was Sie hören wollten, nicht wahr?« Martin lachte. »Er war voll wie ein Faß! Er hat mir erzählt, daß Sie Forrest Killian in eine Reagenzröhre gesteckt haben.« Martin lachte wiehernd. So was war schon wirklich lächerlich. Der Doktor war sehr interessiert. »Hat er das wirklich gesagt? Erzählen Sie!« Dem Doktor fiel in diesem Augenblick zufällig die Pfeife aus der Hand und schlug laut auf dem Boden auf. Martin fuhr aus dem Schlaf hoch und saß schweißgebadet in seinem Bett. Sein Herz schlug wie ein Dampfhammer. Erschreckt sah er sich im Zimmer um, konnte jedoch niemanden sehen. Was war passiert? Mit einem Schlag fiel ihm ein, daß er im Traum mit jemandem gesprochen hatte. Man hatte ihn ausgefragt im Traum – es war natürlich ein Traum, was sonst? –, und die Frage mußte so wichtig und gefährlich gewesen sein, daß er aufgewacht war, bevor er geantwortet hatte. So ähnlich, wie man aus dem Traum erwacht, bevor oder wenn man von einem hohen Haus in die Tiefe springt. So mußte es gewesen sein. Dumm, diese Aufregung im Unterbewußtsein. Aber seine Hände zitterten.
6 Martin brachte auf das Klopfen an der Tür nur ein müdes »Ja?« zustande und richtete sich auf die Ellenbogen auf. Die Tür ging einen Spalt auf. Ethel sagte streng: »Entschuldigen Sie, Mr. Enders, aber es ist schon sieben Uhr.« »Sieben? Das ist doch früh, nicht wahr?« »Doktor Penn und Virginia sind schon im Büro. Der Doktor möchte, daß Sie ihn um acht im Verwaltungsgebäude aufsuchen.« Nachdem Ethel gegangen war, fragte sich Martin, was der Doktor wohl auf dem Herzen habe. Als er wie üblich aus dem Bett sprang, merkte er, daß ihm Schwung und Kraft fehlten. Kein Wunder bei dieser halb durchwachten Nacht. Jetzt, im sonnigen Licht des Morgens, kam ihm alles unwirklich vor, und er schalt sich selbst, wegen solch trügerischer Träume die halbe Nacht wachzuliegen. »Bald wirst du auch noch an Geister glauben«, schloß er seine Gedanken. Als Ethel ihn darauf aufmerksam machte, daß er sich noch Kaffee aus dem Wärmefach des Herdes holen könnte, bat Martin sie, sich zu ihm zu setzen. Das ältliche Mädchen reagierte entsprechend erstaunt und beinahe ein wenig ärgerlich. Nachdem Martin
ihr versichert hatte, daß er sie nur etwas fragen wollte, gab sie nach und setze sich. »Hat Ihnen Doktor Penn auch befohlen, sich nicht mit mir zu unterhalten?« wollte Martin wissen. »Aber ganz bestimmt nicht. Warum sollte ich mich nicht mit Ihnen unterhalten dürfen?« »Wie lange arbeiten Sie schon bei Doktor Penn?« fragte Martin weiter. »Seit er hierher nach Park Hill gekommen ist«, antwortete sie mißtrauisch. »Weshalb fragen Sie das?« »Ich brauche Unterlagen für meine Story. Er hat es doch sicher erwähnt.« Sie nickte. »Aber ich habe nicht angenommen, daß Sie mich etwas fragen würden. Ich weiß doch nichts.« »Sie kennen ihn sicher ganz gut. Hat er zum Beispiel irgendwelche ungewöhnliche Angewohnheiten?« Sie blickte zur Seite. »Nein. Außer – nun, Park Hill ist eben etwas anderes als draußen.« »Warum haben Sie eben weggesehen, Ethel?« »Ach, das hat nichts zu bedeuten, Mr. Enders.« »Sie sind doch ein wenig verwirrt, Ethel. Warum?« »Es ist wirklich nichts«, sagte sie und wurde rot. »Haben Sie Angst, ich würde es in der Story schreiben?« »Nein!« rief sie, und ihre Schultern sanken herab.
»Es ist – es ist, daß Doktor Penn – mich manchmal so ansieht – daß ich Angst habe, etwas zu sagen.« »Ethel, das ist jetzt typisch weiblich. Zuerst machen Sie mich neugierig, und jetzt wollen Sie nichts sagen.« »Also gut«, sagte sie und schien zu einem Entschluß gekommen zu sein. Bevor sie weitersprach, sah sie in den anderen Räumen nach, ob jemand da sei, und schloß dann die Zimmertür. »Er schläft nicht in seinem Bett«, flüsterte sie dann. »Ja, zuerst brachte er es noch in Unordnung, so daß es aussah, als hätte er darin geschlafen, aber jetzt macht er das nicht mehr. Ist ihm wohl egal.« »Das ist wirklich seltsam. Wo schläft er denn?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Und manchmal schläft auch Virginia nicht im Haus, und ein- oder zweimal war auch Bobby nachts nicht hier. Oh, ich weiß nicht, was ich denken soll. Und da war noch etwas anderes, Mr. Enders. Zuerst war ich so erschrocken, daß ich dachte, ich würde meinen Verstand verlieren, aber jetzt bin ich darüber hinweg.« »Und was war das?« »Also, nachdem ich ein paar Monate hier war, hatte ich Wäsche von Doktor Penn gebügelt. Ich trug sie hinauf, klopfte an Doktor Penns Zimmertür, bekam jedoch keine Antwort. Also ging ich hinein und legte die Wäsche in den Schrank. Niemand war im Zim-
mer, ganz bestimmt nicht. Nachdem ich das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatte, blieb ich ein paar Minuten davor stehen und überlegte, was ich als nächstes zu tun hätte. Da ging plötzlich die Tür seines Zimmers, in dem ich eben gewesen war, auf, und Doktor Penn kam heraus. Als ich aufschrie, wollte er wissen weshalb, und da sagte ich ihm, er hätte mich erschreckt, weil ich gedacht hätte, er sei nicht im Hause. Ich habe nicht gesagt, daß ich eben in seinem Zimmer war. Ich kann mir das gar nicht vorstellen! Er muß außen am Haus heraufgeklettert sein. In seinem Alter!« Martin drückte seine Zigarette in der Untertasse aus. »Eine weitere Frage noch, Ethel. Schlafen Sie immer gut hier?« Sie wurde ein wenig rot. »Ich schlafe gut, aber manchmal habe ich Träume, wie ich sie noch nie vorher gehabt habe. Sie machen mir Angst, und als ich sie das erste Mal hatte, wollte ich diese Stellung aufgeben.« Sie schwieg wieder. »Was waren das für Träume? Stellte man Ihnen Fragen, während Sie schliefen?« »Wie – wie haben Sie das erraten?« fragte sie und wurde ganz blaß. »Keine Angst! Ich weiß es nur deshalb, weil mir vergangene Nacht Doktor Penn im Schlaf Fragen gestellt hat.«
»Genau wie bei mir. Manchmal träume ich sogar von allen drei Penns. So als wären sie zu Besuch in meinem Zimmer. Zuerst konnte ich mich an die Träume nicht erinnern, aber als sie immer wieder kamen, blieben sie mir im Gedächtnis. Glauben Sie, Mr. Enders, daß ich vielleicht allmählich verrückt werde?« »Nein, das glaube ich nicht. Aber jetzt muß ich gehen«, sagte er nach einem Blick auf seine Uhr. »Und unser Gespräch bleibt unter uns. Einverstanden?« »Ich werde keiner Menschenseele etwas davon erzählen!« »Wo sind Sie so lange geblieben? Ich bin es nicht gewöhnt, daß man mich warten läßt«, empfing ihn Dr. Penn barsch. Er saß hinter seinem Schreibtisch und erhob sich nicht. Von der Ungezwungenheit und dem leicht scherzenden Ton des vergangenen Nachmittags war nichts mehr zu spüren. »Ich habe mit Ethel gesprochen«, antwortete Martin wahrheitsgemäß und setzte sich. »Sie hat mir gesagt, daß Sie mich sehen wollten.« »Was hat sie Ihnen noch zu sagen gehabt?« Martin zuckte die Achseln. »Ein paar Kleinigkeiten über Ihre Gewohnheiten. Hintergrundmaterial für meine Story.« Die Spannung legte sich. Dr. Penn setzte sich in seinem Sessel zurück und zündete sich eine Pfeife an.
»Weswegen«, fragte Martin nun freundlich, »wollten Sie mich sprechen? Ich dachte, wir wollten heute morgen ins Labor gehen.« »Sie sind gestern abend nicht ins Kino gegangen.« Martin seufzte und ließ den Doktor auf eine Antwort warten, indem er sich eine Zigarette anzündete. »Warum haben Sie darauf so sehr bestanden, Doktor? Ich sagte doch, daß ich Kinofilme nicht mag.« »Verdammt nochmal!« fuhr der Doktor auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß es Martin vom Sessel hochriß. »Ich bin für Sie verantwortlich, Mann! Sie sind mein Gast, und wenn Ihnen etwas passierte, würde man mich verantwortlich machen!« »Sie meinen, es könnte mir ergehen, wie es Forrest Killian ergangen ist?« Martin konnte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Die grauen Augen des Doktors blitzten, und sein kurzgeschnittenes Haar schien sich förmlich zu sträuben. »Also hat sich Doktor Merrill doch darüber ausgelassen! Was hat er Ihnen noch alles erzählt?« »Falsch, Doktor. Den Namen Forrest Killian hat Ihre Tochter erwähnt.« »Aber Sie leugnen nicht, mit Doktor Merrill gesprochen zu haben!« »Natürlich habe ich mit ihm gesprochen«, gab Martin scharf zurück. »Ich bin schließlich nicht einer von Ihren Technikern. Ich bin freier Journalist.«
»Nicht gänzlich frei, nein! Nicht solange Sie hier sind. Sie haben sich an die Vorschriften des Sperrgebiets zu halten.« »Soll das heißen, daß ich Ihnen zu berichten habe, was ich getan, das heißt, womit ich mich beschäftigt und wo ich mich zu jeder Stunde aufgehalten habe?« »Es gibt keine schriftlich festgelegte Regelung. Aber der Leiter jeder Forschungsgruppe möchte wissen, wo seine Leute sind.« »Aber ich bin keiner von Ihren Leuten! Ich bin Mitarbeiter einer Zeitschrift. Ich bin hier, um Ihnen die Gunst zu erweisen, über Sie eine Story zu schreiben.« Martin warf seine Zigarette in den Aschenbecher. »Wenn sich die Dinge allerdings so entwickeln, frage ich mich, ob das noch einen Sinn hat.« »Da kann ich Ihnen nur zustimmen«, sagte der Doktor grob. Martin sah sich sein Gegenüber aufmerksam an. Ein launenhafter, unberechenbarer Mensch, dieser Doktor. Seine Begründung war hintergründig und schwer zu analysieren. Seine ganze Haltung gab keinerlei Aufschluß über seine wahren Gedanken. »Wenn das Ihre Einstellung ist«, sagte Martin langsam, »so verstehe ich nicht, weshalb Sie überhaupt Ihre Zustimmung zu einer Reportage gegeben haben.« »Ursprünglich war ich der Meinung, es könnte dem Berufsstand nützen, vielleicht auch jemanden veran-
lassen, sich unseren Forschungen anzuschließen. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, daß die Zeitschrift jemanden hierher schicken würde, der eine Weile hier wohnen soll«, antwortete der Doktor. »Und Sie dachten nicht, daß ich auch berechtigt sein würde, nach technischen Einzelheiten zu fragen, nicht wahr?« Der Doktor hustete. »Das hatte nichts damit zu tun. Es ist nur – es ist nur so, daß ich ganz einfach die Zeit nicht erübrigen kann, Mr. Enders.« »Gestern sagten Sie nichts dergleichen, Doktor. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Haben Sie Angst, ich könnte Nachteiliges über Sie erfahren?« »Ich vermute, das soll ein Scherz sein«, sagte der Doktor. »In Wirklichkeit halte ich die Sache schädlich für die Arbeitsmoral. So könnte es Doktor Merrill zum Beispiel verletzen, daß über mich geschrieben wird und nicht auch über ihn, der von sich glaubt, ebensoviel für das Projekt getan zu haben.« »Das scheint Doktor Merrill nicht zu stören.« »Jetzt werden Sie mir wohl erzählen wollen, daß er alles ganz großartig findet, was hier geschieht?« »Das nicht. Er stimmt mit Ihnen nicht in allem überein, das ist alles. Die Art, wie Sie die Dinge durchführen, gefällt ihm nicht. Er ist der Meinung, Sie verzögerten Ihr eigenes Projekt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich dazu zu äußern?«
Der Doktor zog heftig an seiner Pfeife. Plötzlich aufsteigender Zorn färbte sein Gesicht rot. Eine feindselige Atmosphäre lag plötzlich über dem Raum. Aber so schnell sie gekommen war, verschwand sie wieder. Der Doktor lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte. »Das ist doch albern, Martin! Wie könnte ich nur?« Der Doktor lachte wieder. »Kommen Sie«, sagte er und stand auf. »Wir wollen ins Labor gehen. Dort können Sie sich selbst überzeugen.« Es war nicht zu erkennen, daß das Gebäude P-22 das Laboratorium war, das sich mit der Forschung über die Regeneration befaßte. Es war wie alle anderen ein weißgestrichener Kasten mit der üblichen Tafel: »Nur für berechtigte Personen.« »Es ist nicht meine Vorstellung von einem Labor«, sagte Dr. Penn, als sie aus dem Jeep stiegen und zur Eingangstür gingen. »Es ist ein Entwurf der Armee, aber es reicht aus.« Als sie das Innere betraten, fand sich Martin von der üblichen Laboratoriumsatmosphäre umgeben mit all ihren Geräten und Gerüchen. Bei den Technikern, die in weißen Mänteln an langen Tischen arbeiteten, bemerkte Martin auch Dr. Merrill, der jedoch nicht zu ihm hersah. »Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht«, sagte Dr.
Penn. »Unsere Labors sehen nicht so aus wie die in Filmen. Wir arbeiten hier.« Sie gingen durch den weiten Saal zum rückwärtigen Ende. »Hier befinden sich drei Büros auf jeder Seite«, erklärte Dr. Penn. »Meines liegt am Ende, das von Dr. Merrill gegenüber.« Virginia, die in ihrem weißen Mantel frisch und zuverlässig aussah, blickte auf, als sie eintraten und warf Martin ein Lächeln zu. »Guten Morgen«, sagte sie. Das war nichts Besonders, aber die Art, wie sie es sagte, festigte sein Gefühl ihr gegenüber. »Guten Morgen«, erwiderte er und ärgerte sich, daß ihm keine bessere Erwiderung ihres Grußes einfiel. »Martin und ich haben einiges zu besprechen, Virginia, wenn es dir nichts ausmacht.« Das Mädchen nickte und ging. »Das Geheimnis der Regeneration«, sagte der Doktor, nachdem er es sich in seinem Schreibtischsessel bequem gemacht und ein Bündel von Papieren aus einer Schublade geholt hatte, »liegt in der Zelle. Und zwar am Anfang, in der embrionischen Zelle. Es beginnt eine rapide Zellteilung. Wodurch wird aber bestimmt, was jede Zelle zu tun hat? Wie weiß sie, daß sie ein Teil des Kopfes oder des Armes zu werden hat? Verstehen Sie?« Martin nickte, sah sich im übrigen im Zimmer um.
Alle Wände waren mit Plänen, Tabellen und Diagrammen bedeckt – alles Dinge, von denen er wenig verstand, soweit sie sich auf Biologie bezogen. Dieses Fach war nun einmal nicht seine Stärke. »Diese Blätter hier«, fuhr der Doktor fort, »sind Berichte über Experimente, die wir durchgeführt haben. Von allen Versuchstieren, mit denen wir gearbeitet haben, interessiert uns am meisten der Frosch. Und zwar deshalb, weil die Kaulquappe, aus der der Frosch entsteht, die Fähigkeit zur Regeneration eines Gliedes hat, der Frosch nicht mehr. Die Kaulquappe hat nach meiner Meinung noch indifferenzierte Zellen, die noch keinen Auftrag haben, wozu sie sich entwickeln sollen. Wenn es uns gelingen würde, indifferenzierte Zellen zu erhalten oder aus differenzierten zu gewinnen, hätten wir die Lösung.« Martin runzelte die Stirn und versuchte, die Information zu verdauen. »Sie meinen, wenn es uns gelänge, solche Zellen herzustellen, könnten wir einem Frosch ein Bein nachwachsen lassen – oder einem Menschen einen Arm oder ein Bein.« Der Doktor lächelte. »Grob gesehen stimmt das so. Aber es gibt da eine Menge Fragen, die noch nicht beantwortet sind.« Der Doktor räumte die Papiere weg und holte eine neue Meerschaumpfeife aus dem Ständer. »Dr. Merrill und die anderen haben ihre eigenen
Ideen und halten die Experimente, die ich von ihnen verlange, für unter ihrer Würde. Für zu simpel. Dabei sind alle großen Dinge im Grunde einfach. Es ärgert mich, wenn sie der Ansicht sind, sie würden ihre Zeit vergeuden. Aber wir werden auf meinem Weg fortfahren, und eines Tages werden wir einem Frosch ein Bein wachsen lassen. Und wenn dieser Stab nicht mitmacht, suche ich mir einen anderen.« Martin fiel auf, daß der Doktor seine Frage nicht beantwortet hatte. Er hatte ihm aus seinem reichen Wissen gewisse Informationen gegeben, die er ihm sowieso für die Story gegeben hätte. Die Hauptfrage war jedoch nicht beantwortet. Wenn er nur noch einmal mit Dr. Merrill sprechen könnte. Als der Doktor mit seinen wissenschaftlichen Erklärungen fortfahren wollte, gestand ihm Martin, daß er nicht viel davon verstünde und weit mehr an seinen persönlichen Angelegenheiten interessiert sei. »Und noch eine Bitte habe ich«, schloß er. »Sehen Sie sich meine Kleidung an, Doktor. Wenn ich weiterhin bei Ihnen wohnen soll, so muß ich mir mein Gepäck aus Avon Ridge holen.« Und kann dann auch ein paar Telefonate führen, dachte er im stillen. »Das wird ziemlich schwierig sein«, meinte der Doktor. »Es kann niemand so einfach mal kurz in die Stadt fahren. Am besten nennen Sie mir Ihr Hotel, dann lasse ich Ihnen Ihre Sachen holen und auch die
Rechnung begleichen. Sie können dann alles in der Inspektion erledigen.« »Inspektion?« Dort würde er sicher nicht telefonieren können. Er fragte sich, wie Forrest Killian seinen Anruf zustande gebracht hatte und ob Gespräche aus dem Sperrgebiet mitgehört wurden. »Alles, was hereinkommt oder hinausgeht, wird einer strengen Überprüfung unterzogen«, fuhr der Doktor fort. »Virginia wird Ihnen den Weg zeigen.« Die junge Frau kam sofort. Ihr Vater sagte ihr Bescheid. Martin sah sich unterdessen noch ein wenig draußen im Labor um, wo ihm Dr. Merrill durch ein Zeichen aufforderte, zu ihm zu kommen. »Wie geht's, Doktor?« fragte Martin. Dr. Merrill lächelte. »Könnte nicht besser gehen. Schon mal durch ein Mikroskop gesehen?« »In meiner Schulzeit. Und natürlich nicht durch so hochwertige Geräte.« Er setzte sich auf den Stuhl und blickte durch die Linsen. Was er sah, war für ihn ein völlig unverständliches Bild, das ihn an kunterbunt treibendes Holz in Wasser erinnerte. Plötzlich spürte er, wie ihm ein Stück Papier in die Hand geschoben wurde. Martin stand auf und bedankte sich. »Wenn Miss Penn kommt«, sagte er noch, »richten Sie ihr bitte aus, daß ich vor dem Haus auf sie warte. Ich brauche ein wenig Luft.«
Als er die Labortür hinter sich geschlossen hatte, faltete er das Papier auseinander. »Wenn Sie an einer seltsamen Sache interessiert sind, kommen Sie zwischen fünf und sechs heute abend dorthin, wo wir uns kennengelernt haben«, stand darauf.
7 Als Martin mit Virginia aus der Inspektion kam, wo man ihnen mitgeteilt hatte, daß sie bis zur Rückkehr des Wagens mit dem Gepäck noch warten müßten, fragte Martin: »Sagen Sie mir doch mal, traut man denn hier niemandem? Ich kann gut verstehen, wenn man mich überprüft, aber Sie oder Ihr Vater müßten doch ohne Schwierigkeiten in die Stadt fahren können.« »Könnte man schon. Aber man wird jedes Mal genau überprüft, wenn man rein- oder rausgeht. Und außerdem muß man wenigstens einen Tag vorher einen Paß beantragen. Die Soldaten sind die einzigen, die rasch mal rein- oder rausgelangen können.« Sie bummelten ein wenig durch die Gegend und entdeckten dabei eine kleine Grünanlage mit Bänken, Blumenrabatten und sogar einem Springbrunnen, den Virginia nicht kannte, obwohl sie schon ein Jahr hier lebte. Als Martin Virginia Feuer für ihre Zigarette gab, trafen sich ihre Blicke. Wieder las Martin darin jene seltsame Mischung aus Bereitschaft, Berechnung und Entschlossenheit, die ihn erregte und herausforderte. Sie saßen eine Weile schweigend da, dann fragte Virginia: »Was halten Sie von Vater?« Die Frage kam plötzlich.
»Weshalb fragen Sie? Es ist eine recht umfassende Frage.« »Sie sind mit ihm nicht allzu gut zurechtgekommen, nicht wahr? Vater hat es mächtig aufgeregt, was Sie über Bobby erzählt haben. Verstehen Sie, Martin?« »Tut mir leid. Ich habe ihn doch nur –« »Bobby ist nur ein kleiner Junge. Sie kennen ihn ja. Sie haben ihn gesehen und gehört. Er denkt nur an Raketenschiffe und Raumfahrt und an die Milchstraße, aber nicht an außernatürliche Erscheinungen und Zauberei.« Martin empfand diese Worte Virginias als Tadel, wollte jedoch mit ihr nicht streiten. Immerhin wußte er jetzt, daß sie und ihr Vater die Angelegenheit besprochen haben mußten. »Warum sind Sie gestern nicht ins Kino gegangen?« Er lachte. Ihr Gesicht blieb ernst. »Ihr Vater hat mich das heute morgen schon gefragt. Warum kümmert sich nur jedermann so darum, ob ich im Kino war oder nicht?« »Vater hätte Ihnen alles gesagt, was Sie wissen wollen. Sie hätten diese Männer nicht über ihn ausfragen müssen.« Hatte er sich im Ausdruck ihrer Augen getäuscht? War sie wirklich zornig? Konnte das alles ein Spiel sein?
»Ich habe keinen von ihnen gefragt. Sie haben sich einfach unterhalten, und ich habe zugehört. Sie haben mir sogar ausdrücklich gesagt, daß sie mir gegenüber zu schweigen hätten.« Virginia sah ihm jetzt fest in die Augen. »Mögen diese Männer meinen Vater?« fragte sie ernst. »Im Grunde wohl schon. Sie hatten nur Einwände gegen seine Methoden. Sie –« Jetzt war sie wirklich zornig. »Sie würden auch gegen Sie Einwände haben, wenn Sie Ihnen etwas zu befehlen hätten. Merrill ist ein Schaden für das ganze Projekt, ein Trunkenbold. Ich wundere mich, daß mein Vater immer noch mit ihm zurechtkommt.« Zum erstenmal wurde Martin plötzlich klar, daß den Worten des Mädchens jegliche Überzeugungskraft fehle. Er fragte sich, weshalb er an sie, ihren Vater und sogar Bobby einfach nicht herankam. Er war viel herumgekommen, und es war fast immer seine Aufgabe gewesen, Leute zu analysieren – und er hatte eine besondere Begabung dafür –, aber die drei Penns verwirrten ihn; er fand den Schlüssel zu ihrem Wesen nicht. Da war einfach etwas Fremdes, Andersartiges, hinter das er nicht kam. Der unheimliche Vorfall mit Bobby, das nicht weniger unheimliche Verschwinden Forrest Killians – in einer Reagenzröhre, wie Dr. Merrill sagte –, das seltsame Erlebnis von Ethel Winters und schließlich das einmal freundliche
und dann wieder kalte Benehmen der Penns. Was bedeutete das alles? Der Zettel von Dr. Merrill fiel ihm ein, der von »etwas Seltsamen« geschrieben hatte. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Virginia. »Sollten wir nicht lieber gehen?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Wir haben noch zehn Minuten.« Sie hatte sein Handgelenk gefaßt und sah selbst nach der Zeit. Beim Herunterbeugen fiel ihr eine blonde Locke in die Stirn. Martin strich sie ihr zurück, und sie lächelte ihn an. »Es tut mir leid, wenn meine Worte geklungen haben, als wäre ich zornig auf Sie«, sagte sie. »Das bin ich wirklich nicht. Ich finde Sie sehr nett.« Ihre Augen strahlten fröhlich, ihre weißen Zähne glänzten in der Sonne. Sie stand auf, lachte und streckte ihm die Hände entgegen. Sein erster Kuß war sanft. Martin ließ sie nur kurz aus seinen Armen. Der zweite Kuß war nicht mehr so sanft. Der Klub für Zivilangestellte war noch leer, als Martin ein paar Minuten nach fünf dort ankam. Der Tag, der ziemlich schlecht begonnen hatte, war nun doch noch sehr schön geworden. Ein Glück war auch, daß nach Abholung des Gepäcks bei der Inspektion Virginia keine Schwierigkeiten machte, als er ihr erklär-
te, rasch noch Zigaretten besorgen zu wollen. Sie bat ihn sogar, auch für sie ein paar Packungen mitzubringen. Die Dinge liefen so glatt, daß es ihm im Hinblick auf das bevorstehende Treffen mit Dr. Merrill fast etwas verdächtig erschien und er diesem gegenüber beinahe ein leichtes Mißtrauen empfand. Als der Doktor ein paar Minuten später eintraf, sah er sich erst im ganzen Raum um, bevor er sich setzte und fragte: »Warten Sie schon lange?« »Nein, aber ich habe nicht viel Zeit.« »Dann will ich gleich zur Sache kommen.« Dr. Merrill rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Wahrscheinlich sind Sie heute morgen schon gerügt worden, weil Sie mit mir gesprochen haben.« Den Versuch Martins, ihn zu unterbrechen, unterband der Mann mit einem Wink. »Ich weiß nicht, wie Doktor Penn dahintergekommen ist, jedenfalls hat er mich gleich heute morgen zur Rede gestellt. Eine besondere Fähigkeit von ihm, immer das Unerwartete zu tun.« »Dann sind Sie doch sicher auch gerügt worden, nicht wahr?« »Das werde ich jeden Tag. Sehen Sie«, sagte er ernst, »ich weiß ziemlich genau, was Ihnen Doktor Penn über das Projekt gesagt hat. Es gehört nicht viel dazu, einen Außenseiter davon zu überzeugen, daß er auf dem richtigen Weg ist. Aber Sie dürfen mir
glauben, wenn ich Ihnen sage, daß wir anderen es besser wissen. Er hat eine sehr raffinierte Art, unsere Oberen davon zu überzeugen, daß alles, was er tut, richtig ist.« Merrill begann dann mit leiser Stimme lang und breit darzulegen, was nach seiner Auffassung an den Anordnungen Dr. Penns nicht richtig war, und ließ sich von Martin nicht unterbrechen. Endlich konnte er zu dem außer Atem geratenen Wissenschaftler sagen: »Das sind doch alles rein wissenschaftliche Fragen zwischen Ihnen und Doktor Penn. Wie soll ich denn wissen, wer recht hat?« Dr. Merrill setzte sich zurück und rückte seine Brille zurecht. »Also hat er Ihnen schon Zweifel eingepflanzt, nicht wahr? Oh ja, er ist ein ganz glatter Typ.« »Tut mir leid«, sagte Martin und trank sein Bier aus. »Mir scheinen das Meinungsverschiedenheiten zu sein. Soll das die ›seltsame Sache‹ sein, über die Sie mit mir sprechen wollten?« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Nein. Aber jetzt bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich darüber mit Ihnen sprechen soll.« »Warum nicht?« Dr. Merrill beugte sich zu ihm über den Tisch. »Gestern abend war ich betrunken. Ich weiß nicht mehr genau, was ich alles gesagt habe, außer daß ich etwas
von Forrest Killian erwähnt habe. Etwas, was ich normalerweise niemals zu sagen gewagt hätte. Nicht einmal bei der Untersuchung habe ich dieses Wissen preisgegeben. Sie müssen wissen, daß ich, von Doktor Penn abgesehen, der letzte Mensch bin, der Forrest Killian gesehen hat.« »Nach dem, was Sie gestern abend gesagt haben«, sagte Martin trocken, »ist Forrest Killian in Doktor Penns Labor hineingegangen und nie wieder herausgekommen. Ist das richtig?« Der Doktor sah sich vorsichtig um, bevor er antwortete. »Ich habe gesehen, wie es passiert ist«, sagte er. »Aber das ist noch nicht das, was ich eigentlich meine. Hören Sie, was machen Sie heute abend gleich nach dem Abendessen?« »Virginia und ich gehen ins Kino«, sagte er wahrheitsgemäß. Sie hatte ihn dazu überredet, obwohl er lieber mit Dr. Penn gesprochen hätte. »Daran ist nichts zu ändern?« »Ich möchte daran nichts ändern.« »Ach so sieht die Sache aus!« »Können Sie es mir nicht gleich erzählen?« »Das möchte ich nicht. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Wie lange würde das dauern?« »Das weiß ich nicht. Es hängt noch von jemandem anderen ab.«
»Von wem?« »Das möchte ich nicht sagen. Wann glauben Sie dort wegkommen zu können? Es müßte an einem Abend unmittelbar nach dem Essen sein.« Martin überlegte. »Ich weiß nicht, wie lange ich hier sein werde«, sagte Martin ausweichend. »Ich schlage vor, Sie halten sich jeden Abend hier auf. Sobald ich kommen kann, lasse ich es Sie wissen. Vielleicht morgen oder übermorgen. Ich werde versuchen, die Voraussetzungen für meinen Ausgang zu schaffen. Aber es muß sich lohnen«, fügte er noch hinzu. »Ich möchte mit dem Doktor nicht noch mal unnötigen Ärger haben.« Dr. Merrill lächelte geheimnisvoll. »Machen Sie sich keine Sorge, es wird sich lohnen, ganz sicher«, sagte er. »Sehen Sie, Sie sind ähnlich wie Forrest Killian. Er war mein Freund. Deshalb rede ich so mit Ihnen. Ich will alles für ihn tun, was ich tun kann.«
8 Martin fiel es immer schwerer, Virginia auch nur die kleinste Bitte abzuschlagen. Nur deshalb hatte er auch zugestimmt, mit ihr ins Kino zu gehen. Es war ein interessanter Kinobesuch, aber nicht wegen des Films. Es war das Bewußtsein, das Mädchen während der ganzen Zeit neben sich zu haben, dieses blonde Mädchen mit den rätselhaften blauen Augen, dieses Mädchen, dessen Schönheit sie wie ein duftiger Hauch umgab. Ihre Gegenwart ließ seine Sinne erglühen, und er stellte fest, daß er mehr sie als den Film ansah. Als sie den Druck seiner Hand erwiderte und ihn ansah, konnte er im Widerschein des Lichtes von der Leinwand ihr Lächeln erkennen. Sein Herz schlug wild. Seine Hochstimmung blieb auch noch erhalten, nachdem er ihr einen Gutenachtkuß gegeben hatte und in sein Zimmer gegangen war. Selbst als er eingeschlafen war, formte sich ihr Bild im Traum. Er genoß diesen Zustand, denn im Schlaf konnte er mit ihr tun, wonach er so sehr verlangte. Er stellte sich vor, daß sie ein hauchzartes Negligé trug und vor seinem Bett stand. »Siehst du mich lieber so?« fragte sie süß. »Du hast doch den ganzen Abend daran gedacht«, sagte sie und wurde rot. »Du bekommst es fertig und verdrehst mir noch den Kopf.«
Er setzte sich auf, aber sie winkte ihm, sich zu legen. »Du solltest daran denken, zur Ruhe zu kommen«, sagte sie. »Abo bleib doch einfach liegen und erzähl mir von deinen Sorgen.« »Wenn du bei mir bist, habe ich keine.« »Aber vielleicht wirst du morgen welche haben«, lächelte sie kokett. »Vielleicht wirst du dir vorwerfen, zu viel Zeit mit mir zu verbringen«, schmollte sie. »Aber das wirst du doch nicht, nicht wahr?« »Nein!« schrie er beinahe. »Nicht so laut«, lachte sie. »Du versprichst mir, daß du das nicht denkst, ja?« »Ich schwör's!« »Und dann: Ethel könnte neugierig werden«, sagte sie. »Aber du wirst dich nicht stören lassen, nicht wahr?« »Nein, keineswegs.« Ihr Lächeln war bezaubernd. »Ich hab dich immer lieber!« Der leichte Luftzug im Zimmer bewegte das Negligé des Mädchens und ließ ihn ihre Reize im schattenlosen Licht des Zimmers erkennen. »Ich liebe dich«, sagte er sehnsüchtig. »Ich weiß es, mein Lieber. Aber noch etwas muß ich dir sagen: Du bist zu viel mit diesem Dr. Merrill gesehen worden, meinst du nicht auch? Vater wird zornig auf dich werden, wenn du deine Aufmerksamkeit ihm gegenüber nicht einschränkst. Immerhin handelt die Story, die du schreibst, doch von Vaters Leben, oder?«
»Natürlich. Tut mir leid, Virginia.« »Doktor Merrill ist gegen Vater, will ihm schaden. Ich mag Doktor Merrill gar nicht. Du?« »Nein, ich mag ihn auch nicht.« »Es sollte ihm etwas zustoßen, meinst du nicht auch?« »Ja, es sollte Doktor Merrill etwas zustoßen.« Virginia strich ihr Negligé glatt. Martin folgte ihren Händen mit gierigem Blick. »Doch darüber können wir später sprechen, vielleicht morgen oder übermorgen.« »Ganz wie du willst, Virginia.« »Ich glaube, du bist ein feiner Kerl, Martin. Vater meint das auch. Seine Haltung dir gegenüber wird sich ändern. Wahrscheinlich denkt er, wir sind verliebt. Vielleicht hat er recht ...« Während der drei nächsten Tage wurde die Glut, die er in ihrer Nähe fühlte, zum lodernden Feuer. Er wich nicht mehr von ihrer Seite. Ein Gespräch mit Dr. Penn, dessen Gesicht ein väterlich freundliches Lächeln des Einverständnisses zeigte, verschob er immer wieder. Und um Ethels offensichtliche Ablehnung kümmerte er sich überhaupt nicht. Am dritten Tag stand Martin dann plötzlich Dr. Merrill in der Tür des Waschraums gegenüber. Martin wollte mit einem »Hallo« an ihm vorbei hinaus-
gehen. Dr. Merrill, der eben den Raum betreten wollte, ergriff ihn am Arm und drehte ihn herum, schob ihn zurück in den Raum, dessen Tür sich zischend schloß. »Um Himmels willen, was ist denn mit Ihnen passiert? Sie laufen ja dem Mädchen nach wie ein junger Hund!« In Martin entflammte die Wut. Vor ihm stand der Mann, der dem guten Dr. Penn im Weg stand. Haßerfüllt sauste seine Faust auf Dr. Merrill herunter, der den Schlag jedoch mit dem Unterarm parierte. Ein scharfer Schmerz fuhr ihm wie durch einen Draht bis ins Hirn. Kalter Schweiß brach ihm aus bei dem Gedanken, daß er den Doktor beinahe geschlagen hätte. Ernüchtert und über sich selbst erzürnt stand er da. Der Schmerz hatte seine Gedanken geklärt. »Es – es tut mir leid, Doktor Merrill«, sagte er verwirrt. »Glauben Sie mir, ich kann nicht verstehen, was in mich gefahren ist.« »Wenn es so um Sie steht, kann man Ihnen keinen Vorwurf machen«, sagte der Doktor. »Jetzt weiß ich auch, weshalb ich jeden Abend umsonst auf Sie gewartet habe.« Martin errötete. »Ich habe vermutlich zu viel zu tun gehabt«, sagte er, obwohl ihm jetzt seine Vergeßlichkeit unverständlich erschien. Der Doktor schüttelte den Kopf und blickte Martin fest in die Augen. »Nein, das ist nicht der Grund,
Martin. So ist es auch Forrest Killian ergangen. In den ersten Wochen, die ich ihn kannte, war er der fleißigste und freundlichste Bursche, den man sich denken kann. Dann veränderte er sich plötzlich, schlief nicht mehr in der Gemeinschaftsunterkunft, und wenn ich ihm am Tage begegnete, war er unfreundlich und kalt mir gegenüber. Plötzlich schien er sich dann freigemacht zu haben, bekannte mir gegenüber, daß er wohl besessen gewesen sei, und dann – aber darüber kann ich Ihnen jetzt nichts sagen.« »War es – war es das Mädchen?« »Es war das Mädchen. Er hat mir nie erzählt, wo er war, aber ich kann es mir gut vorstellen. Er hat mir von Träumen erzählt.« Der Schreck machte Martin starr, und ein eisiger Ring legte sich um sein Herz. War sie auch mit Forrest Killian so freundlich gewesen? War sie in Forrests Träumen so erschienen wie in seinen? Befand er sich auf demselben Weg wie der unglückliche Techniker, dem Weg, der im Nichts endete? Was war das für ein Mädchen? Was war das für eine Macht? Was waren das für Träume? Als hätte er seine Gedanken erraten, sagte Dr. Merrill: »Mir ist die gleiche Sache einmal nachts passiert. Ich bin nur immer wieder aufgewacht, weil ich zu betrunken war. Virginia und der Doktor hatten mich mit in ihr Haus genommen. Ich verlor das Bewußt-
sein und erinnere mich nur daran, daß ich einen Traum hatte, in dem beide mich ausfragten. Aber weil ich immer wieder aufwachte, ließen die beiden schließlich von mir ab. Allmählich war ich dann wohl so nüchtern geworden, daß ich in meine Unterkunft fand. Das heißt, eine Militärstreife brachte mich dorthin. Beinahe wäre ich damals gefeuert worden.« Dr. Merrill stand einen Augenblick in die Vergangenheit versunken da, dann kehrte er wieder in die Gegenwart zurück und sagte mit einem besorgten Blick zu Martin: »Ich würde es nicht so hart nehmen, Martin. Ich habe von ihrer Seite niemals beobachtet, daß sie Forrest irgendwie entgegengekommen ist – wenn es das ist, was Ihnen Kummer macht. Sie war immer kühl ihm gegenüber im Labor. Bei Ihnen scheint sie jedoch mit dem Herzen dabei zu sein.« »Vielleicht bin ich nur ein wenig schwerer zu überzeugen als Forrest«, schnaubte Martin. »Sie müssen wissen, daß ich die Traumtechnik kenne. Jetzt, wo Sie davon sprechen, werden mir eine Menge Dinge klar. Werden Sie nach dem Abendessen im Klub sein?« »Wenn Sie noch interessiert sind?« »Sogar sehr. Um welche Zeit soll ich kommen?« »Sie müssen bis halb sieben da sein. Später brauchen Sie gar nicht mehr zu kommen.« Für den Rest des Nachmittags versuchte er im Büro
bei Virginia den Eindruck zu erwecken, als hätte er den Geschmack an seiner Arbeit gefunden, den er eigentlich haben sollte. Aber er wußte, daß er nicht überzeugend war. Virginia schien nichts zu bemerken. Sie lachte und erzählte lustige Geschichten wie immer in letzter Zeit. Und doch wußte sie Bescheid. Als er ihr um fünf, der Zeit, in der sie üblicherweise nach Hause gingen, sagte, daß er sich nicht wohl fühle und nicht zum Abendessen käme, sah sie ihn lange und forschend an. »Du bist plötzlich so verändert«, sagte sie. »Irgend etwas ist passiert. Du bist heute nachmittag nicht du selbst gewesen. Was ist los?« »Nichts, nur daß ich mich nicht wohl fühle. Das ist alles.« Er wünschte, sie würde nicht weiterfragen. Aber sie gab nicht nach und fragte zum Schluß: »Hab ich etwas falsch gemacht?« »Nein«, antwortete er. »Vater?« Er blieb stehen und auch sie. Beide sahen sich an. »Sieh mal«, sagte er geduldig. »Diese Fragerei führt doch zu nichts. Kannst du nicht verstehen, daß ein Mann einmal allein sein will, um nachzudenken? Laß doch die Fragen, sie machen alles nur schlimmer.« Nun ging sie schweigend neben ihm her, beinahe demütig. Auch als sie das Haus betraten, sagte sie
nichts. Er ging in sein Zimmer und legte sich auf das Bett. Es war Viertel nach fünf. Er hatte mehr als eine Stunde Zeit. Die Nachmittagssonne schien durch die Fenster in den Raum, die zurückgezogenen Vorhänge bewegten sich leicht. Diese Nachmittagsstunde hatte für ihn schon immer etwas Unwirkliches gehabt, ging ihm durch den Sinn. Die Schatten gaukelten einem Bilder vor, alle möglichen Bilder – sogar ein Gesicht ... Das Gesicht von Virginia zum Beispiel. Er dämmerte vor sich hin. »Martin«, sagte Virginia vom Vorhang her mit süßer Stimme. Er kämpfte gegen die Erscheinung an, zwang sich dazu, wegzusehen. Plötzlich tat sich unter ihm ein Abgrund auf, er fiel und erkannte im Fallen noch das Erstaunen in Virginias Gesicht. Erschreckt erwachte er. Aber schon wieder begann er, in die Traumstimmung zu geraten. War da nicht das Gesicht ...? Er zwang sich, sich aufzusetzen, bevor das Gesicht etwas sagte – und es war weg. Er war müde, müder als er je gewesen war, und wollte sich so gern hinlegen. Es war 5 Uhr 25, noch immer hatte er mehr als eine Stunde Zeit. Die Nachmittagssonne ... Er stand auf und lief durch das Zimmer. Als er eine Zigarette anzündete, zitterten seine Hände. Er ging ans Fenster und sah hinaus.
Plötzlich war Virginias Gesicht auf der anderen Seite des Fensters. »Martin«, sagte sie wieder mit ihrer süßen Stimme. »Martin, laß mich dir doch helfen. Möchtest du das denn nicht?« Ein dumpfer Schmerz lief von seinen Fingern über die Schultern bis in sein Gehirn. Der Schmerz wurde immer heftiger und am Ende unerträglich. Martins Zigarette war bis auf die Finger heruntergebrannt. Er sah kurz auf die Glut, bevor er die Zigarette auf den Boden warf. Als er die Teilchen der Glut sah, trat er sie hastig aus. Sein Hemd klebte ihm am Körper. Schweiß lief ihm von der Stirn über das Gesicht. Er feuchtete seine Zunge an und spürte den salzigen Geschmack der Tropfen. Und wieder bewegte sich der Vorhang leise ... Mit einem Schrei lief Martin zur Tür, riß sie auf und rannte die Treppe hinunter. Unten traf er Dr. Penn, der ihn wortlos anstarrte. Einen Augenblick zögerte er, dann lief er an ihm vorbei zur Haustür. Virginia saß auf den Eingangsstufen. Wieder zögerte er einen Augenblick, dann rannte er neben ihr die Stufen hinunter. »Martin! Warte!« Virginia lief auf ihn zu. »Geh weg von mir!« rief er und wandte sich der Straße zu. »Nein, Martin!«
Sie holte ihn ein, faßte seinen Arm. Es gelang ihm, sich von ihr freizumachen. »Hast du mir denn noch nicht genug angetan? Was bist du für ein Wesen?« Martin erschrak, als er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten, wie ihre Schultern einsanken und sie das Gesicht mit den Händen bedeckte. »Wenn du nur verstehen könntest!« klagte Virginia. »Ich weiß, du kannst einfach nicht verstehen, wirst nie verstehen. Es hat sich einiges ereignet, und du glaubst jetzt etwas zu wissen. Ich wollte dich nur vor dem warnen, was ich befürchte. Nicht einmal Vater hat es bemerkt.« Sie sah zum Haus zurück, aber niemand war zu sehen. Sie trocknete ihre Tränen. »Martin, du bedeutest mir eine ganze Menge. Das weißt du doch, nicht wahr?« »Ist das der Grund, warum du vorhin versucht hast, mich in einen Traumschlaf zu versetzen und mir dann wieder etwas einzureden?« »Oh!« Sie legte erschrocken eine Hand auf den Mund. »Auch nur soviel zu wissen ... Martin, was hast du vor?« Er lachte höhnisch. »Virginia, du hältst mich wohl für einen kompletten Narren?« Sie faßte zu, und bevor er sich abwenden konnte, hielt sie die Enden seines Hemdkragens in ihren Händen.
»Du glaubst, du weißt etwas«, sagte sie. »Martin, auch nur ein klein wenig zu wissen ist schlimm. Ach hätte man dich doch nie hierher geschickt! Es ist von Anfang an schief gelaufen. Wenn du Bobby nicht gesehen hättest –« Er zögerte. Das war etwas Neues. »Bobby?« Sie nickte. »Du würdest dann nicht bei uns wohnen – Ach, ich darf ja nicht sprechen!« Virginia war aufgeregt und zerrte an seinem Kragen. »Warum gehst du nicht von hier weg, ehe es zu spät ist? Geh ins Lagerbüro und erzähle dort etwas, damit man dich hinausläßt, aus dem Sperrgebiet. Das wollte ich dir vorhin sagen, aber du hast dich ja gewehrt, und ich habe gesehen, daß du vorhast, etwas zu unternehmen –« »Etwas«, unterbrach sie Martin. »Du meinst etwas, was vielleicht auch Killian getan hat. Ist das so? Ich weiß von dir und Forrest und wie du ihn bis zum Ende an der Nase herumgeführt hast.« Ihre Hände ließen seinen Kragen los. Ihr Mund wurde schlaff, und einen Augenblick lang sah sie müde, verwirrt und erschrocken aus. Er drehte sich um und ging die Straße hinunter. Ein Stück weiter drehte er sich um. Sie stand noch immer an derselben Stelle, eine einsame Figur. Aber sie gab kein Zeichen, daß sie ihn sah. Er ging weiter.
9 Als er die Straße zum Klub entlangging, plante er seine nächsten Züge. Er war jetzt, das war sicher, in ernsten Schwierigkeiten. Er hatte sich Virginia entfremdet und wahrscheinlich auch ihren Vater. Er würde nicht ins Haus der Penns zurückkehren. Tat er das, würde er sich nur wieder in Virginias Hände begeben. Er war sicher, daß die Traumkraft oder was immer es war, worüber das Mädchen verfügte, ihn wohl nicht erreichen konnte, wenn er bei Dr. Merrill blieb. Am nächsten Tag wollte er dann zu Colonel Sherrington gehen und die Sache melden. Der würde ihm sicher helfen. Mit einem entschlossenen Lächeln betrat er den Klub. Beinahe hätte er beim Anblick Dr. Merrills gelacht, der mit leiderfülltem Gesicht an seinem Tisch saß. Als er Martin erblickte, erhob er sich halb, schüttelte Martin feierlich die Hand und setzte sich mit ihm. »Ich habe hier gesessen und mir um Sie Sorgen gemacht«, sagte der Doktor. »Aber es ist erst sechs Uhr. Wie sind Sie weggekommen?« »Ich hätte es beinahe nicht geschafft«, antwortete Martin. Er berichtete von seinem Traumerlebnis mit Virginia. »Ich habe die ganze Zeit gespürt, daß so etwas vor
sich ging«, sagte der Doktor. »Deshalb habe ich mich auch gewundert, daß Sie in Dr. Penns Haus bleiben wollten. Jetzt können Sie wohl kaum dorthin zurück.« »Ich würde heute nacht gern bei Ihnen bleiben, wenn es Sie nicht stört.« »In P-4 gibt es freie Zimmer. Gleich das neben meinem zum Beispiel. Aber das können wir später erledigen. Jetzt sollten wir uns lieber auf den Weg machen.« »Darf ich wissen, wohin wir gehen?« Wieder lächelte Dr. Merrill geheimnisvoll. »Ins Labor. Kommen Sie.« »Bei aller Dringlichkeit des Penn-Projekts«, sagte Dr. Merrill, »gibt es keine Nachtarbeit. Dafür müssen wir dankbar sein.« Er öffnete die Tür und fuhr fort: »Wir werden hier in meinem Büro bleiben«, und ging hinein. »Ich schließe die Tür nie ab wie die anderen. Sinnlose Mühe.« Dann holte er zwei Stühle an eine Stelle hinter der Tür. »Wir setzen uns hierhin, gut verdeckt von dieser Tür. So.« Er setzte sich und winkte Martin neben sich. »So wie Sie jetzt sitzen, müßten Sie das Spiegelbild von Doktor Penns Bürotür in der Fensterscheibe hinter meinem Schreibtisch sehen. Dann werden wir das kleine Drama gut beobachten können. Ich möchte Ihnen lieber nicht sagen, was wir sehen werden«, fuhr der Doktor nach Martins Frage fort.
»Vielleicht passiert heute nichts, dann würden Sie mir nicht glauben. Nein, ist schon besser so.« Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, meinte der Doktor: »Etwas kann ich Ihnen doch sagen. Eines Nachmittags ging ich unmittelbar nach der Arbeit in den Klub. Ich hatte mich an diesem Tag besonders darüber geärgert, wie die Dinge hier liefen. Ja, ich denke, es war im Mai. Nun, um den ganzen Ärger zu vergessen, begoß ich mir gründlich die Nase. Weil ich nichts im Magen hatte, stieg mir das Zeug ziemlich rasch in den Kopf. Ich wollte nicht nach P-4, weil ich Angst hatte, die Treppe hinauf zu meiner Bude nicht mehr zu schaffen. Ich ging also hierher und setzte mich in mein dunkles Büro, um ein wenig nüchterner zu werden. Und da sah ich die ganze Sache, und das machte mich ganz schnell nüchtern. In der nächsten Nacht kam ich wieder her, um zu sehen, ob ich mich nicht getäuscht hatte. Seither war ich oft hier, konnte jedoch nie dahinterkommen – Sie werden gleich sehen, was ich meine.« Martin knirschte mit den Zähnen. Er war ungeduldig. »Ich kann diese Traumgeschichte einfach nicht verstehen«, sagte Dr. Merrill leise neben ihm. »Es muß eine wissenschaftliche Erklärung dafür geben. Muß einfach –« Plötzlich war ein Geräusch zu vernehmen. Dr.
Merrill faßte Martins Arm. Die Männer saßen unbeweglich und lauschten. Ein Schlüssel wurde in einem Schloß gedreht. Im Labor Schritte. Die Tür schwang beinahe geräuschlos auf und schloß sich hinter jemandem wieder. Nichts zu hören und zu sehen. Dann das Knipsen eines Schalters, und der Flur erstrahlte in hellem Licht. Dr. Penn erschien in dem Rechteck des Fensters, das Martin im Blickfeld hatte. Dr. Penn schloß seine Bürotür auf und schaltete eine Lampe ein. Dann ging er in den Flur und knipste das Licht aus. Wieder im Büro, schloß er die Tür. »Die Tür!« flüsterte Martin enttäuscht. »Er hat die Tür zugemacht!« »Das ist schon richtig«, antwortete Dr. Merrill. Von seinem Platz aus konnte Martin nur einen Streifen hellen Lichts unter der Tür sehen, in dem ab und zu der Schatten Dr. Penns erschien. Schließlich rührte sich überhaupt nichts mehr. Vom langen Stillsitzen auf dem Stuhl tat Martin schon das Kreuz weh. Was sollte auch dieses sinnlose Herumsitzen und Anstarren einer Tür? Nach einigen weiteren Minuten empfand Martin plötzlich eine seltsame Luftbewegung. Martins Herz begann schneller zu schlagen, als er sich an die gleiche Empfindung erinnerte, damals, als er den kleinen Jungen mit der Kugel beobachtet hatte. »Ich glaube, jetzt ist es soweit«, sagte Dr. Merrill.
»Er wird Sie hören«, warnte ihn Martin, denn Dr. Merrill hatte mit normaler Lautstärke gesprochen. Jetzt lachte er auch noch ganz unbekümmert laut. Martin hätte ihm am liebsten eine geklebt. Warum forderte der Mann ihre Entdeckung heraus? »Ich glaube nicht«, sagte Dr. Merrill. »Sie werden gleich sehen. Kommen Sie mit.« Ihre Schritte klangen wie Donner im Vergleich zur bisherigen Ruhe. Vor Dr. Penns Tür nahm er einen Schlüssel an seinem Ring und steckte ihn ins Schloß. »Den habe ich speziell für diese Gelegenheit machen lassen«, sagte er. Dr. Merrill stieß die Tür auf – das Büro war leer! Martins Blicke irrten vergebens im Raum umher auf der Suche nach einem Versteck. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob Sie Glück haben, Martin«, sagte Dr. Merrill. »Ich habe jedes Brett und jeden Quadratzentimeter dieses Raumes abgeklopft. Es muß irgendwo einen Ausgang geben. Er muß irgend etwas aufgemacht haben und hinausgegangen sein. Aber was? Und warum?« »Suchen Sie jemanden?« Die beiden Männer riß es zur Tür herum, woher die Stimme kam. Dr. Penn stand lächelnd da, trat in den Raum und schloß die Tür hinter sich. »Ein Unglück«, sagte er. Martin hatte plötzlich das Gefühl einer Blutleere im Kopf. Es wurde ihm schwindlig.
»Wenn Sie Platz nehmen wollen, bitte«, Dr. Penn zeigte auf einen Laborhocker und seinen Schreibtischsessel. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, aber Sie stellen für mich ein erhebliches Problem dar, Sie beide. Wenn Sie verschwinden, wird das bestimmt Rückwirkungen haben. Also ist die Frage, was ich mit Ihnen anfangen soll. Sie können nicht wieder zurückkehren, weil Sie zuviel wissen. Dabei kommt es an sich weniger auf das Wissen an, als auf das, was nach dem Bekanntwerden Ihrer Erlebnisse an Vermutungen entstehen würde. Das können wir nicht erlauben.« »Wenn Sie schon in einer so gesprächigen Laune sind, Doktor Penn«, sagte Dr. Merrill, »dann könnten Sie uns doch auch sagen, weshalb Sie die Forschungsarbeiten über die Regeneration so behindern?« »Sie werden es mir nicht glauben, Doktor Merrill«, antwortete Dr. Penn, »wenn ich Ihnen sage, daß es mir in der Seele weh getan hat, das Projekt in die falsche Richtung zu dirigieren. Sie haben das erfaßt, und das spricht für Sie. Aber im Augenblick darf es noch keine Regeneration geben. Diese Welt ist noch nicht reif dafür.« »Geschwätz, Geschwätz und noch mal Gechwätz!« schrie Dr. Merrill, weiß vor Zorn. Dr. Penn ließ erkennen, daß ihn dieser Wutaus-
bruch nur amüsierte. »Mit solchen Ausbrüchen beweisen Sie nur die Größe Ihres Verstandes«, sagte er höhnisch lächelnd. »Und was ist mit der National Scene?« fragte Martin. »Ihre Ankündigung, daß Sie die Forschungsarbeiten über die Regeneration vereiteln, wird nicht gut aussehen.« Dr. Penn sah ihn ernst an. »Sie verstehen immer noch nicht. Es wird ebensowenig eine Story in der National Scene geben, wie es Sie geben wird. Wie ich schon gesagt habe, das einzige Problem, für das ich im Augenblick noch keine Lösung habe ist, wie ich Sie zwei Gentlemen beseitige. Es wird gefährliche Folgen geben, gleichgültig wie ich es anstelle.« »Ich hatte schon immer den Verdacht, daß Sie nicht ganz bei Trost sind«, sagte Dr. Merrill und stand auf, »jetzt weiß ich es sicher.« Und plötzlich hatte er einen Colt Kaliber .45 in der Hand. »Die Scherze sind nun vorüber, Doktor Penn«, sagte Dr. Merrill. »Wir wollen jetzt von Ihnen ein paar klare Antworten.« »Ich warne Sie«, sagte Dr. Penn nachdrücklich. Er bewegte sich nicht von der Stelle neben der offenen Tür. Als Dr. Merrill den Colt entsicherte, erstarrten die drei Männer einen Augenblick lang wie zu einem Bild. Der Doktor an der Tür, Dr. Merrill mit dem Finger am Abzug und Martin im Schreibtischsessel.
Plötzlich war Dr. Penn verschwunden. Alles, was zurückblieb, war ein sich kräuselndes Tabakwölkchen, das sich rasch auflöste. Dr. Merrill und Martin starrten ungläubig auf die leere Stelle, wo Dr. Penn eben noch gestanden hatte. Und wieder war da eine wirbelnde Bewegung der Luft, und Dr. Merrill war verschwunden mitsamt seiner Pistole und allem. Dann eine neue Bewegung, ein blendender Blitz. Alles Leben und Denken hatte für Martin aufgehört.
10 Die unendliche Finsternis des Raumes war leer. Kein Stern schien. Er war eingebettet in dieses Nichts, gehörte dazu. Aus unendlichen Entfernungen kam plötzlich eine Kraft und fand ihn. Ein winziger Funke von Licht, eine Nadelspitze von Leben. Dann explodierte das Universum. Sternennebel, Sonnensysteme rasten vorüber. Er wurde stärker, hatte jetzt schon Form und Gestalt, seine Existenz bildete sich aus der Kraft, die ihn wie ein Magnet anzog. Ein letzter Ball von Licht, dann war Ruhe. Er war wieder da. »Martin!« Mit Anstrengung öffnete er die Augen. Ein Mädchen stand vor ihm. Virginias Gesicht war schmal geworden, ihre Augen voller Sorge. Ihre Lippen bewegten sich. »Kannst du mich hören?« Der Ton der Sprache kam erst eine Weile nach der Lippenbewegung, wie aus weiter Ferne. »Ja«, war alles, was er antworten konnte. »Martin, versuche jetzt auf keinen Fall etwas zu tun. Hör mir zu. Du warst von uns gegangen. Ich hätte dich beinahe nicht mehr zurückbringen können.« »Gegangen?« Er konnte nicht begreifen. »Ja. Zerstört warst du ... Ach, ohne Bedeutung jetzt,
Liebling. Hör zu: Du bist in Gefahr. Wir sind in Gefahr.« »Wir?« Schwindel erfaßte ihn. Plötzlich wich die Benommenheit, und er konnte wieder genau sehen. Jetzt sah er zum erstenmal ihre Augen deutlicher; er konnte durch sie hindurch sehen. Dann begriff er. Mit einem Male wußte er, was passiert war und weshalb ihre Stimme so dringend klang. »Ich – ich war tot?« »Ja, mein Lieber. Du hast nicht mehr – existiert.« »Und du hast mich zurückgeholt.« Sie lächelte unter Tränen. »Ja.« »Und – und Dr. Merrill ...?« In ihren Augen stand die unendliche Ferne, in die er gegangen war. »Dein Vater. Er hat es getan?« »Ja.« Tränen standen in ihren Augen. »Ich habe mit ihm gekämpft. Er sagte mir, daß ich dich nicht haben dürfte und dich nicht zurückholen könnte. Ich habe ihn deinetwegen hintergangen. Wir dürfen nicht hier bleiben. Steh auf, Martin!« Jetzt erkannte er, daß sie noch in Dr. Penns Büro waren. »Dr. Penn, wo ist er?« »Er ist jetzt nicht hier, Gott sei Dank! Er glaubt, du
bist gegangen – wie Dr. Merrill. Deswegen müssen wir hier weg, bevor er zurückkommt.« »Er ist verschwunden?« Sie nickte. »Er ging –« Sie lächelte. »Frag nicht mehr.« Die frische Luft draußen tat ihm gut und gab ihm Kraft. Er hielt die Hand des Mädchens. Von ihr kam die Kraft, die ihm noch fehlte. Noch konnte er sich nicht rasch bewegen und klar denken. »Wohin gehen wir?« fragte er. »Wir müssen noch mal ins Haus zurück«, sagte sie. »Warum?« »Kann ich dir jetzt nicht alles erklären.« Die Luft und das rasche Gehen belebten ihn. Er war zwar noch immer etwas benommen, fühlte sich jedoch weit besser als im Labor. Das Mädchen hatte ihn gerettet. Wenn sie sagte, er sei in Gefahr, so stimmte das. Er hatte keine Vorstellung von den Kräften, die gegen ihn standen, aber hier reichte ihm ein Mitglied des Feindes die Hand. Das Mädchen war gut. Virginia blieb vor dem Haus stehen und sah ihn an. »Benimm dich natürlich, als wäre nichts geschehen«, sagte sie. »Bleib dicht bei mir. Ich habe dich mit einer Schutzhülle umgeben. Sie ist umso stärker, je näher du bei mir bist.« Ethel begrüßte sie und stellte ein paar neugierige Fragen, die Virginia kurz beantwortete. Dann führte
Virginia Martin ins Obergeschoß, wo in der Diele ein Telefon stand. »Hier kann uns niemand hören«, sagte sie leise und wählte. »Schicken Sie sofort einen Krankenwagen nach P 110. Es ist dringend. Hier spricht Virginia Penn. Ja – kann ich jetzt nicht erklären. Machen Sie schnell.« »Was –?« setzte Martin an. »Du bist krank«, sagte sie. »Du hast eine Blinddarmentzündung. Du mußt dich zusammenkrümmen, wenn sie kommen. Verstehst du?« »Ja, aber –« »Später, Liebling, später erkläre ich dir alles!« Es läutete, der Krankenwagen war da. Virginia lief hinunter. Martin folgte ihr langsam. Unten, auf der letzten Stufe, setzte er sich und hielt sich den Leib. Ein Sergeant trat ein und wurde von Virginia rasch ins Bild gesetzt. »Blinddarm«, sagte sie. »Schnell ins Krankenhaus, bevor er durchbricht. Ich helfe Ihnen.« Gemeinsam schleppten sie Martin aus dem Haus und in den Krankenwagen, wo er sich auf eine Bahre legte. Martin beobachtete, wie Virginias Augen plötzlich schmal wurden und ein Ausdruck äußerster Konzentration in ihr Gesicht trat. Plötzlich bremste der Krankenwagen mit quietschenden Bremsen und blieb stehen. »Verdammt nochmal«, fluchte der Fahrer, »wo
kommt denn diese Mauer plötzlich her. Vor einer Sekunde war sie noch nicht da!« Der Sergeant öffnete die Wagentür und sah sich um. »Scheiße! Hinter uns ist auch eine Mauer!« »Was ist los, Sergeant?« fragte Virginia. »Sind wir schon am Krankenhaus?« »Nein, es ist nur – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Einen Augenblick.« Die beiden Soldaten stiegen aus, um sich die Mauer anzusehen. »Kannst du fahren?« fragte Virginia Martin. »Sicher, aber –« »Dann setz dich ans Steuer und fahr los«, sagte sie kurz. »Der Motor läuft ja noch.« Plötzlich war die Mauer weg und die Straße vor ihnen wieder frei. »Los!« rief Virginia. Martin fuhr an, vorbei an den beiden Soldaten, die fassungslos dastanden. »Zum Haupttor!« rief das Mädchen über den Lärm des Motors hinweg. »Immer geradeaus der Straße nach.« »Wie wollen wir denn durchkommen?« fragte Martin. »Das weiß ich nicht, aber ich werde schon einen Weg finden.« Als sie ans Tor kamen, nahm Martin das Gas weg
und hielt an. Ein Soldat mit weißem Helm kam heraus und fragte: »Ihr Paß?« Als er sah, daß sie nicht in Uniform waren, wurde er plötzlich scharf. »Hoppla! Was habt denn Ihr in diesem Wagen verloren?« Martin sah Virginia an. Jetzt war die Reihe an ihr. »Was ist da los, Korporal?« fragte Virginia und deutete an Martin vorbei. »Das Wachgebäude brennt!« Der Korporal sah einen Augenblick starr auf die Flammen. Dann rannte er zur Wache hinüber. »Jetzt aber nichts wie raus und weg von hier!« rief Virginia. Martin raste mit dem Krankenwagen durch das Tor und nahm die Kurve der Auffahrt zur Autostraße auf zwei Rädern. In Avon Ridge parkten sie den Krankenwagen in einer Seitenstraße und gingen zu Fuß zur Stadtmitte. »Jetzt wird wahrscheinlich schon alles nach dem Krankenwagen suchen«, sagte Virginia. »Und auch nach uns.« Sie nickte. »Kein Zweifel, wenn sich der Korporal von seinem Schrecken erholt hat. Wir werden uns hier nicht lange aufhalten können.« »Wie wär's mit einem Leihwagen?« schlug er vor. »Leihwagen?« Sie lächelte ihm zu. »Das ist ein bißchen naiv, meinst du nicht? Auf diese Art wäre man uns rasch auf der Spur.«
»Nun, dann stehlen wir eben einen Wagen. Wenn ich schon tot gewesen bin, ist es schließlich egal, wie ich mein neues Leben beginne!« »Das klingt so bitter. Tut es dir leid, daß ich dich gerettet habe?« »Nein, das weißt du genau«, sagte er. »Es ist nur, weil ich mich so verdammt hilflos fühle. Ich verstehe das alles nicht und kann gar nichts tun.« »Dort drüben steht ein Wagen«, sagte Virginia und zeigte auf eine Limousine, die vor einem großen Wohnhaus parkte. »Der Benzintank ist voll.« »Wie willst du denn das wissen?« »Ich weiß es eben.« »Wie soll ich denn den Wagen in Gang bekommen?« »Komm schon«, sagte sie. »Ein paar Kabel an der Zündung kurzgeschlossen, und schon läuft er.« Der Wagen sprang auch sofort an, die beiden stiegen ein und fuhren auf die Hauptstraße, die in den Außenbezirken zur Autostraße wurde. Virginia sah in den Rückspiegel und legte eine Hand auf Martins Arm. »Verdammt!« sagte sie. »Was ist los?« »Vater fährt hinter uns her. Wird uns bald eingeholt haben.« Martin sah in den Rückspiegel und erkannte einen Jeep, der rasch näherkam, nachdem er an einer Ampel hatte anhalten müssen.
»Fahr an den Rand und halte«, befahl sie. »Wir können gar nichts anderes tun.« Martin fuhr den Wagen an die Gehsteigkante. Ein paar Augenblicke später setzte sich der Jeep vor ihren Wagen und blockierte den Weg. Martins Herz schlug wie rasend. Und er konnte nicht helfen, nichts tun. Er konnte nur hoffen, daß Virginia in dem bevorstehenden Machtkampf siegen würde. Dr. Eric Penn stieg aus dem Jeep und kam auf Virginias Seite an den Wagen. Seine grauen Augen flammten vor Wut, sein Gesicht war weiß. »Mit welchem Recht –« explodierte er, aber seine Tochter unterbrach ihn sofort. »Ich habe dir gesagt, was ich fühle und denke«, sagte sie. »Aber du hast einen Verstoß –« Er legte seine Hände an den Kopf. »Noch nie in unserer Geschichte ist das passiert. Was denkst du eigentlich, was du tust, Virginia? Du hast nicht nur alle Gesetze gebrochen, sondern du warst auch deinem Vater gegenüber ungehorsam.« »Du hast trotz meiner Bitten deinen Willen durchgesetzt, obwohl es auch andere Mittel gegeben hätte.« »Du hast mich entehrt, Virginia! Wer soll das dem Triumvirat erklären? Wer wird für das alles zur Rechenschaft gezogen werden? Du hast nicht nur ein menschliches Wesen aus dem Nichts zurückgeholt,
sondern du hast unsere Kraft auch noch zu einer billigen Schau mißbraucht. Diese Ziegelmauer, das Feuer im Wachgebäude – und der Trick mit den Kabeln.« »Ja Vater«, sagte sie, »ich weiß es.« Sie war ernst und ruhig. »Und? Und?« »Kannst du nicht verstehen, daß auch ich Gefühle habe?« erwiderte sie. »Ich wußte, daß dich die Eingebung unseren Aufenthaltsort wissen lassen würde, aber ich dachte, du würdest es nicht beachten.« Ihre Unterlippe zitterte. »Ich dachte, wenigstens du würdest meine Gefühle verstehen.« Sie sprach mit niedergeschlagenen Augen. »Es gibt doch auch Männer von unserer Art!« »Aber Vater! Ich habe auf meinem Planeten keinen gefunden. Hier auf der Erde habe ich einen gefunden, zu dem ich passe.« »Wie soll das alles nur enden?« Dr. Penn war außer sich vor Schmerz, Verwirrung und Zorn. »Unsere Leute werden dich finden. Du weißt, es sind viele da. Ich werde den Vorfall melden müssen.« Virginia legte ihre Finger über die Hand ihres Vaters am Wagenfenster. »Melde uns nicht gleich, Vater. Bitte, gib uns ein wenig Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast ihn geschützt. Wie soll ich wissen, was du als nächstes anstellst. Es tut mir leid, Virginia, aber ich muß dich melden.« Er
wollte vom Wagen zurücktreten. »Ich hätte nie gedacht, daß mein Kind –« Er hörte auf zu sprechen und stand einen Augenblick bewegungslos da. Martin sah ihn an und überlegte, was wohl passiert sei. »Tut mir leid, Vater«, sagte Virginia und öffnete die Wagentür. Ihr Vater fiel auf den Rasen neben der Straße. Virginia stieg aus und ging zur Tür des nächsten Hauses. Martin warf einen Blick auf Dr. Penn. Er schlief ruhig. »Ich nehme doch an, daß ich nicht nur ein unbeteiligter Zuschauer bin, Virginia«, sagte Martin, als das Mädchen aus dem Haus zurückkehrte, »und wäre dir deshalb dankbar für eine Erklärung.« »Später.« Das Mädchen beugte sich nieder und küßte den Vater auf die Stirn. »Auf Wiedersehen, Vater«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Fahr aus der Stadt«, bat sie dann Martin. Als sie mehrere Meilen von Avon Ridge entfernt waren, hatte Virginia sich wieder gefaßt und tupfte die letzten Tränen aus den Augen. Um mögliche Verfolger abzuschütteln, hatten sie wohl mehr als zwanzig Mal die Richtung gewechselt. Die Nacht war kühl, silbern glänzte der Mond. Leise summten die Reifen auf der glatten Straße. »Vater achtete nicht auf seine Deckung, als er mit
mir sprach«, sagte sie nach einer Weile, sank ein wenig in ihrem Sitz zusammen und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich habe aufgepaßt. Sonst hätte er mich vielleicht ausgeschaltet, und deine Schutzhülle wäre weggewesen. Ich habe nur sein Zentralnervensystem für eine Weile gelähmt – außer Atem- und Herztätigkeit natürlich. Er wird sich bald wieder erholen.« »Was hast du in dem Haus gemacht?« »Ich habe den Leuten erzählt, daß ein Mann bewußtlos zusammengebrochen ist, während er mit uns sprach. Ich sagte, daß ich seinen Namen nicht wüßte, und bat sie, ein Krankenhaus anzurufen. Vater braucht das zwar nicht, aber ich wollte ihn nicht so allein und ungeschützt dort liegenlassen.« Sie tupfte wieder Tränen aus den Augen. »Jetzt wird er wirklich böse sein«, fuhr sie fort. »Und ich weiß nicht, was er tun wird.«
11 Als Martin mit dem Mädchen an seiner Seite über die nächtliche Straße fuhr, gingen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ob das New Yorker Büro geahnt hatte, in welche Schwierigkeiten er geraten würde? Er dachte an Chonkey, den Bildredakteur, der die Fotos seines Lebens hätte machen können. Und an den FBI-Mann Kenneth Aldrich und an General Deems. Ja, auch an Dr. Merrill dachte er. Echter Schmerz erfaßte ihn bei dem Gedanken an diesen Mann, den er gemocht hatte. Er dachte an Lebende und Tote, an Bobby mit seiner Kugel. An Virginia mit ihren verschleierten Augen, die er nur einmal unverschleiert gesehen hatte. Warum hatte sie ihn zurückgeholt? Warum stellte sie sich gegen ihren Vater und ihre Leute? Was waren das für Leute? Warum? Warum? Warum? Plötzlich fuhr Martin den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Was machst du denn?« fragte Virginia erschreckt. »So geht es nicht weiter«, sagte er bestimmt. »Warum?« »Eben das ist mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen«, sagte er. »Warum? Warum?« »Aber hier wird man uns finden«, sagte sie und sah
die Straße hinauf und hinunter. »Entweder die Polizei – oder Vater!« »Wie kannst du von mir erwarten, so weiterzumachen, ohne zu wissen, warum diese Dinge passieren, ohne zu wissen, ob ich General Deems berichten soll, was ich weiß –« »Oh, mein Gott, nein!« rief sie. »Es tut mir leid, Martin. Ich habe so viel an mich und was ich tun soll gedacht, daß ich an deine Sorgen gar nicht gedacht habe. General Deems zu informieren, wäre das Schlimmste, was du tun könntest. Kannst du nicht auf eine Nebenstraße abbiegen? Dann will ich versuchen, dir einiges zu erklären.« Martin ließ den Motor an, fuhr ein kurzes Stück und bog in die nächste Nebenstraße ein. Sie führte durch dichtes Unterholz auf eine Waldlichtung, wo Martin anhielt, die Zündung ausschaltete und die Lichter löschte. »Nun?« fragte er und der Wunsch, diese schöne Frau in seine Arme zu nehmen, ließ ihn beinahe das Erwachen aus ihrer geistigen Herrschaft über ihn vergessen. »Du wirst an mir gezweifelt haben«, sagte sie, »aber ich liebe dich wirklich.« Sie sah mit ihren großen Augen zu ihm auf. Augen, in denen kein Arg und Falsch war. Es waren Augen, in denen Sehnsucht und Verlangen stand.
Als sich ihre Lippen berührten, strömte ein überwältigendes Gefühl der Liebe durch Martin. Sie küßten sich lange – ein Kuß, so unirdisch und ätherisch wie ihre Augen. Ihre Liebe trug sie weit weg von allem Kummer und allen Sorgen, schmolz wie die Sonne alle Kälte ... Als er sich wieder von ihr löste, saß er neben ihr, streichelte ihr Haar, küßte ihre Augen, ihre Nase. Und Virginia hielt sich so an ihm fest, als hätte sie Angst, er würde weglaufen. Sie sprachen kein Wort. Nach einer ganzen Weile sagte sie schließlich: »Aber das erklärt nicht alles.« Dann begann sie: »Vor etwa fünfzigtausend Jahren kamen von einem Stern, den eure Astrologen Capella nennen, ein Mann und eine Frau auf die Erde. Sie waren von ihrem hochentwickelten Volk ausgesandt worden, um einen Planeten zu suchen, auf dem es Leben gab. Diese beiden fanden zu ihrer Freude hier eine junge Welt vor. Zu ihrem Erstaunen trafen sie auch auf eine Kreatur, die so aussah wie ihr Volk vor Millionen von Jahren. Es war der frühe Mensch. Die beiden Weltraumreisenden informierten ihr Volk und landeten hier. Und weil sie den Eindruck hatten, dieser Mensch würde nicht überleben, sich nicht zum beherrschenden Lebewesen entwickeln, gaben sie ihm den Verstand ein. Sonst hätten sie ihren Auftrag, sich mit Hilfe dieses Wesens selbst zu vermehren, nicht erfüllen können.
Es war, bitte verzeih mir den Ausdruck, eine Art Garten, den sie anlegen sollten.« »Aber warum haben sie das getan, warum sind sie nicht einfach zu ihrem Stern zurückgekehrt? Wo sie doch unsterblich sind!« »Zum Teil habe ich das eben gesagt. Im übrigen gilt auch dort, was jetzt bei euch gilt: Was ist der Sinn der Wissensschaft, der Forschung? Sie ist da und wird betrieben und treibt uns wie euch, eine Folge des Verstandes.« Martin seufzte. »Ich folge dir, aber ich suche nach dem Sinn. Der ist wahrscheinlich so unerforschlich wie das Leben überhaupt. Eines aber meine ich zu wissen: Du bist eines von diesen Capellawesen, nicht wahr?« »Das war ich«, antwortete Virginia. »Aber jetzt bin ich hier, eine Frau, so wie du ein Mann bist ... Quält dich dieser Gedanke?« »Es wird – es wird einige Zeit brauchen, bis ich mich daran gewöhne.« »Denk doch an mich!« sagte Virginia. »Ich habe mich doch auch an dich gewöhnt. Daran mußt du denken.« »Aber –« »Sieh mal«, sagte Virginia, »auf dem Planeten, von dem ich komme, betrachten wir einander so wie du und ich es tun. Wir haben die gleichen Wünsche, die
gleichen Gefühle – und es gibt auch Sex dort. Wie könnten wir uns sonst vermehren. Wir sind, von der Unsterblichkeit abgesehen, den gleichen Naturgesetzen unterworfen wie ihr, nur sind wir viel weiter fortgeschritten.« »Diesen Eindruck hatte ich auch.« Martin konnte ihr Erröten nicht sehen, weil es dunkel war. »Es ist schön, daß du eifersüchtig sein kannst, Martin! Aber du brauchst es nicht zu sein. Ich habe noch nie geliebt, bevor ich dir begegnet bin.« »Wie – wie alt bist du?« fragte Martin zögernd. »Dreiundzwanzig.« »Wirklich?« »Was bedeutet es, wie alt ich nach unserer Zeitrechnung bin? Das Hier und Jetzt zählt. Hier bin ich dreiundzwanzig. Ich wurde wie du geboren. Soweit ich weiß, werde ich vielleicht nie mehr nach Capella zurückkehren, weil ich mich in dich verliebt habe und wegen allem, was ich sonst noch angestellt habe. Du hast gehört, was Vater gesagt hat.« Nachdenklich schwieg sie einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Viele von uns leben unter euch als menschliche Wesen. Wir werden geboren, leben und sterben auch genau wie ihr. Wir erfüllen damit eine Pflicht. Meine Mutter, zum Beispiel, hat gebeten, auf unseren Planeten zurückkehren zu dürfen. Sie starb als Mensch und
konnte heimkehren. Zu ihr ist mein Vater jede Nacht gegangen, wenn er aus dem Büro verschwand. Wir gehen alle ab und zu dorthin. Für diese Zeit verschwinden wir einfach von der Erde. Du hast gefragt«, fuhr sie fort, »was mein Vater und ich gemacht haben. Nun, mein Vater wurde angewiesen, bestimmte biologische Probleme für den Fortschritt der Menschen zu lösen. Das hat er getan. Aber einige von euch dachten an eine Forschung auf dem Gebiet der Regeneration. Diese Regeneration konnten wir nicht erlauben. Deshalb wurde Vater in die Position des Leiters des Projekts gebracht, um es einzufrieren. Forrest Killian und einige andere haben entdeckt, was Vater tat. Sie wurde auf die eine oder andere Art ausgelöscht. Denn wenn die Regeneration möglich wäre, würdet ihr eine Menge anderer Dinge zu früh entdecken. In zukünftigen Kriegen würde es auch weniger Tote geben. Weil aber das Wachstum unserer Gruppe vom Freiwerden konzentrierter Gedankenkraft durch den plötzlichen Tod von Tausenden abhängt, konnten wir diese Entdeckung nicht zulassen. Begreifst du jetzt?«
12 Obwohl die Nacht kalt war und Martin nur seine Jakke als Schutz bei sich hatte, verließ er den Wagen und ging hinaus in den Wald. Er mußte allein sein, mußte ihren Augen für eine Weile entkommen. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie ihm erzählt hatte, hatte ihm Kopfschmerzen bereitet. Er sah sich auf der Waldlichtung um. Die Bäume und Büsche ließen in ihm einen Augenblick den Gedanken hochkommen, davonzulaufen, Virginia zu vergessen und allem zu entfliehen. Er lehnte sich an einen Baum und schaute in den unendlichen Himmel hinauf. Er wußte genau, daß er das niemals tun würde. Ich liebe dich eben, Virginia, sagte er zu sich selbst. Aber warum mußte sie eine Fremde, ein Wesen aus einer anderen Welt sein? Nicht ein einfaches Mädchen, für das ich zu sorgen hätte. Oder war er eben kein alltäglicher Mensch? Vielleicht hatte sich Virginia ähnliche Fragen gestellt. Weshalb hatte sie sich in einen Sterblichen verliebt? Vielleicht hatte ihr Unterbewußtsein die gleiche Antwort gegeben. Und all das, was Virginia ihm gerade gesagt hatte! Es war schwer, das zu begreifen und zu verdauen. Ungeheuerlich! Und doch: War nicht auch die Natur auf der
Erde nach den gleichen Prinzipien des rücksichtslosen Auswahlkampfes ausgerichtet? Er fröstelte. Die kühle Nachtluft drang durch seine Jacke. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Ihre Augen waren hell, nicht verschleiert. Sorge stand in ihrem Gesicht. »Alles in Ordnung«, sagte er ruhig. »Ich wollte nur nachdenken.« Sie blieben stehen und sahen zum Firmament hinauf. »Dort oben, in dieser Richtung, befindet sich der Stern Capella. Dorthin wollen meine Leute wieder zurückkehren.« Virginias Gesicht blieb ernst. »Was wird mit der Erde geschehen, wenn die Capellaner sie verlassen?« »Sie wird wieder in die Primitivität zurückfallen«, sagte Virginia ruhig. »Nur unsere Gegenwart hat sie ihrer Zeit vorauseilen lassen. Wenn wir gehen, wird es sein, als würde eine Radiostation abgeschaltet.« »Und wann wird das sein?« Virginia zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht morgen, vielleicht in hundert Jahren. Keiner von uns weiß das. Wir warten seit Jahren auf den Befehl, der uns abruft.« »Und was wird mit uns geschehen? Mit dir und mir?« »Liebst du mich?« Sie sah zu ihm auf. Er nahm sie in die Arme. »Wenn du mich liebst, werden wir beisammen bleiben.«
Er küßte sie zärtlich. »Hast du Angst?« »Nicht bei dir.« »Aber wenn deine Leute so mächtig sind, wie du sagst, werden sie keine Schwierigkeit haben, uns zu finden.« »Es gibt keine Ausstrahlungen mehr, die sie leiten könnten. Ich schütze dich nicht mehr mit der Hülle, mit der ich dich umgeben hatte, und habe alles ausgeschaltet, was dir fremd ist. Ich habe meine Identität als Capellanerin freiwillig aufgegeben. Bin jetzt nur eine Frau. Meinen Leuten würde ich als eine von deinem Volk erscheinen.« »Aber könnte nicht jetzt eben einer dieser Capellaner unsichtbar um uns schweben?« Sie lächelte. »Ich könnte ihn spüren und auch du, wenn du nur ganz fest willst.« »Dann also keine Wunder mehr?« »Wir müssen uns jetzt aus eigener Kraft helfen. Wenn ich gegen die Gesetze verstoße und wieder in den Ablauf der Dinge eurer Gesellschaft eingreife, wird das für die Capellaner wie ein Leuchtfeuer wirken. Wir würden sicher sofort entdeckt.« »Glaubst du, daß unser Fall allen bekannt ist?« »Ich bezweifle, daß es auch nur einen Capellaner gibt, der ihn nicht kennt. Sie werden überall nach uns Ausschau halten. Aber ich werde dich lehren, sie intuitiv zu erkennen. Ich werde dir sagen, welche Per-
sonen Capellaner sind, wenn du zweifeln solltest. Bis du wie bei Vater, Bobby und mir das Fremdartige fühlen kannst, wird es das beste sein, wir bleiben möglichst beisammen.« »Das wird mir nicht schwerfallen«, sagte er mit einem lausbübischen Lächeln. »Aber werden sie denn nichts unternehmen? Können sie unsere Gedanken lesen?« »Das wäre eine Einmischung in die menschliche Gesellschaft. Das können und wollen sie nicht, außer wenn ihr schlaft oder beinahe schlaft und in besonderen Notfällen. So wie in Park Hill.« »Sie wissen, wer wir sind, sie wissen auch, wie wir aussehen. Was werden sie mit uns tun, wenn sie uns finden?« »Das weiß ich nicht. Wir müssen verhindern, daß sie uns finden. Sie sind glücklicherweise auch Irrtümern unterworfen, genau wie die Menschen. Sie können zum Beispiel auch eine Verkleidung nicht als solche erkennen, wenn sie nicht den Verdacht haben, daß es sich um eine handelt.« »Nun, das ist schon etwas.« Er sah ihr blondes Haar an. »Du könntest dir das Haar färben. Ich könnte meines kurz schneiden lassen und statt Zigaretten Pfeife rauchen. Würde ein Anfang sein, wie?« Sie nickte. »Aber wo wollen wir hingehen, wo wollen wir bleiben?«
»Ich kenne da eine verlassene Berghütte in den Wasatch Mountains in der Nähe von Salt Lake City. Glaubst du, wir könnten das schaffen? Wir nehmen einen anderen Wagen. Die Polizei wird vermutlich nach diesem suchen.« »Du bist der Boss«, sagte sie lieb und boxte ihn spielerisch auf den Arm. »Es wird jetzt Zeit, daß du die Führung übernimmst.« Die Stunden bis zum Morgengrauen nützten sie dazu, genau zu planen, wie sie die Hütte in Utah am sichersten erreichen konnten, die Martin durch Zufall in den Ferien entdeckt hatte. Er sah sie ein wenig besorgt an. »Nur eine einfache Hütte, Virginia. Von Hand behauene Balken, kleine Fenster. Hoffentlich steht sie überhaupt noch.« »Macht mir nichts aus. Wir werden sie gemütlich einrichten, wenn wir hinkommen und sie noch steht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt weg von hier.« Vorher legten sie noch ihre neuen Namen fest, vernichteten bis auf die Reiseschecks, die sie zu Bargeld machen wollten, alle Hinweise auf ihre alte Identität. Martin hieß nach einigen lustigen Vorschlägen schließlich Steve Miller, Virginia Penn verwandelte sich in Nancy Miller, Steves Frau. »Alles bereit«, stellte Steve-Martin dann fest, ließ den Motor an und fuhr los. »Jetzt können wir nur hoffen, daß wir's nach Utah schaffen. Dann werden
wir schon weiter sehen.« Virginia küßte ihn auf die Wange und kuschelte sich glücklich an ihn.
13 Der alte Mann stand am Rand eines Felsabsturzes an eine wetterzerzauste Kiefer gelehnt und sah angestrengt ins Tal hinunter. Gelegentlich spuckte er gelben Tabaksaft in die Gegend. Im übrigen ließ er die winzige Hütte im Tal nicht aus den Augen, obwohl sie in einer Klamm stand und kaum zu erkennen war. Es war ein Wunder, daß die Frühjahrswasser den kleinen Bau nicht längst davongespült hatten. Der kleine alte Mann hatte einen tabakbefleckten langen weißen Bart, der ihm bis zur Brust reichte. Der leichte Wind ließ seine Enden flattern. Nach einer Weile ging er von der alten Kiefer weg und stieg mit geübten Schritten den Hang hinunter ins Tal. Mit selbstverständlichem Geschick wich er gefährlichem Geröll aus, überwand er lose Steinbrocken am Fuß der Felsen und schritt leichtfüßig durch die spanischen Kiefern. Seine flinken blauen Augen verloren die Hütte dabei nie aus der Sicht. »Es kommt jemand«, sagte Virginia und legte ihre Flickarbeit auf den Schoß. »Ich hatte auch das Gefühl«, bestätigte Martin. »Es wird doch keiner von ihnen sein, oder?« »Ich glaube nicht.« Beide traten unter die Hüttentür, blickten den
Hang des Tessey Valley hinauf und sahen die Gestalt herunterkommen. Ab und zu entzogen ihn Gruppen von Büschen am Rand der Schlucht ihren Augen. »Er wird in ein paar Minuten hier sein«, sagte Martin. »Ich bin neugierig, was er von uns will, wenn es nicht einer von ihnen ist.« »Wenn er in Ordnung ist, wird er unser erster Besucher sein«, sagte Virginia. »Wir sollten den roten Teppich ausrollen.« »Ich traue niemandem. Mir wäre es lieber, er würde nicht aufkreuzen«, erklärte Martin. Virginia legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du hast dich sehr verändert, Liebling«, sage sie. »Tu das nicht. Sei lieber wieder so wie du warst.« »Aber ich muß immer denken, ob nicht –« »Laß das doch! Versuch doch nicht, das Gewicht der Welt auf deine Schultern zu nehmen, Martin. Schließlich wollen wir unser Leben genießen. Wenn du anfängst, dir ständig so große Sorgen zu machen, werden wir bestimmt nicht alt.« »Und was steht darin?« fragte er, nachdem er von der Tür weggegangen war, und zeigte auf einen Stapel Zeitungen. »Du hast selbst zugegeben, daß etwas im Gange ist.« »Aber mach dich doch deswegen nicht krank vor Sorge«, sagte sie und legte ihre Arme um seinen Hals. »Vater ist tot. Aber das heißt nicht, daß er von uns
gegangen ist. Man hat ihn sicher wegen der Ereignisse in Park Hill zurückgerufen. Jetzt sollen sie sehen, wie sie das Projekt mit anderen Mitteln verhindern. Da gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die sich bereits in anderen Fällen bewährt haben.« »Nicht eine Zeile in der Zeitung darüber, was wirklich passiert ist. Nichts über deinen Bruder. Und dir scheint das alles, besonders der Tod deines Vaters, gar nichts auszumachen«, sagte Martin, der sich ihr zugewandt hatte. »Damit sind wir doch längst fertig. Er ist nicht tot. Er lebt jetzt unbeschwert von einem physischen Dasein in deinem Sinne. Und Bobby wird sich schon irgendwie geholfen haben. Ihnen geht es jetzt drüben viel besser.« »Wärst du nicht auch lieber dort?« »Nicht ohne dich!« »Ich höre unseren Freund«, sagte Martin. Sie gingen wieder an die Tür. »Hallo! Jemand zu Hause?« kam die Stimme vom Rand der Schlucht, aus etwa hundert Meter Entfernung. Er stand in der hellen Sonne und hatte den Hut abgenommen. Sie winkten beide. »Kommen Sie herunter!« rief Martin. »Mach ich, mach ich!« Und mit einer für sein Alter erstaunlichen Beweglichkeit eilte er den steilen Hang
herunter, sprang über einen Bach und stand vor ihnen. »'n Abend, Leute«, begrüßte er sie. »Kommen Sie doch rein«, sagte Martin. »Bei uns ist es zwar eng, aber es genügt.« Der alte Mann streckte die Hand aus. »Ich heiße John Collins, aber man nennt mich Toby«, stellte er sich vor und spuckte Tabaksaft ins Gras. »Ich bin Steve Miller«, sagte Martin und schüttelte ihm die Hand. Es war eine kräftige Hand. »Und das ist meine Frau Nancy.« »Kommen Sie herein, Mr. Collins«, lud ihn Virginia ein. »Sagen Sie lieber Toby zu mir«, bat der Alte, als er eintrat. »Aber sagen Sie mal, Sie haben den Schuppen aber hübsch hergerichtet. Bin hier schon oft vorbeigekommen und wollte auch schon mal einziehen. Aber ohne Frau ist das wohl nichts. Wir alten Krauterer können uns da nicht so helfen. Sie dürfen sich mächtig glücklich schätzen, junger Mann, ein Mädchen wie Nancy zu haben. Und so hübsch auch noch! Wie seid ihr nur auf die Idee gekommen, hierher zu ziehen? Wo kommt ihr denn her?« Während Virginia Tee zubereitete, sah sich Martin den Mann genau an. An seiner Aufmachung wirkte nichts unecht, seine Frage schien harmlos gestellt. »Ich habe Urlaub von der Universität«, sagte Mar-
tin. »Nancy und ich dachten, wir könnten hier mal eine Weile das einfache Leben probieren. Ich bin Geologielehrer und kann vielleicht ein paar Mineralien hier sammeln.« »Und wo wohnen Sie?« fragte Virginia. »Schwierige Frage, Ma'am«, sagte er und blinzelte verschmitzt. »Ich hab so viele Orte, wo ich schon gewesen bin, daß ich nicht weiß, wo ich eigentlich zu Hause bin. Am ehesten noch drüben auf der anderen Seite von Three Forks.« »Ist aber weit von hier, Toby.« »Hab gehört, daß ihr hier oben untergekrochen seid. Wollte mal herkommen und euch ansehen.« »Wo haben Sie von uns gehört, Toby?« fragte Martin. »Ganz Three Forks spricht darüber. Alle wundern sich über euch. Möchten Sie allein auch hier sein, Ma'am?« »Nein«, gab Virginia zu. »Aber wir wollten eine Weile nur für uns sein.« »Na also! Ist das vielleicht keine Liebe? So was Nettes! Macht es Ihnen was aus, wenn ich meine Schuhe ausziehe? Mir tun die Füße so weh!« »Woher denn, machen Sie nur«, sagte Martin. Während Toby seine Pionierstiefel auszog und die Zehen massierte, machte er in einem fort Virginia die schönsten Komplimente. Sie gipfelten in dem Be-
kenntnis des Alten, daß sie genau der Typ eines Mädchens sei, auf den er in seiner Jugend auch gestanden habe. Martin zündete sich eine Pfeife an. »Hallo!« rief Toby aus. »Ein Pfeifenraucher, der inhaliert. So was hab ich noch nie gesehen. Wohl erst umgestellt von Zigaretten, wie?« »Warum fragen Sie das?« fragte Martin mißtrauisch. »Dachte mir's halt«, sagte der Alte ruhig. »Zeigt wieder mal, was man alles mitkriegt, wenn man Augen dafür hat. Hab's nicht aus Büchern.« Er tunkte ein Stück Gebäck in seinen Tee und aß es schmatzend. Martin sah Virginia flüchtig an, aber die schien nicht beunruhigt. Ihm war an Toby auch nichts Ungewöhnliches aufgefallen, aber der Mann hatte eine verfluchte Art, direkte und genaue Fragen zu stellen. »Sie werden das alles wohl ein wenig herrichten wollen«, plapperte Toby weiter. »Will Ihnen gern helfen. Wirklich.« »Eine Hilfe könnte ich schon mal brauchen«, sagte Martin. »Wo kann ich Sie erreichen?« Toby lachte. »Ich komm schon von selber! Komm einfach mal wieder vorbei. Abwarten. Einfach abwarten!« Toby trank seinen Tee aus, zog die Stiefel wieder
an, bedankte sich für die Gastfreundschaft und verließ die Hütte. Von der Klamm her winkte er ihnen noch einmal zu und war dann verschwunden. »Nun, was sagst du dazu?« fragte Martin von der Tür her. »Er könnte getan haben, was ich getan habe – nämlich seine Identität als Capellaner abschalten. Toby könnte seine wirkliche Identität vor uns verborgen haben, aber das ist nicht üblich. Trotzdem. In unserem Fall wäre es immerhin möglich, daß er doch ein Capellaner ist, ja«, sagte sie nachdenklich. Sie lächelte ihn an und kam zu ihm. »Hör doch auf, dir Sorgen zu machen, Martin. Denkst du noch daran, wie du mich das erste Mal geküßt hast?« Er nahm ihren schönen Kopf zwischen seine Hände. »Es tut mir ja so leid, daß ich so in Sorge bin, Virginia. Ich könnte es einfach nicht ertragen, dich zu verlieren. Und wie könnte ich jemals unseren ersten Kuß in der kleinen Anlage in Park Hill vergessen?« »Und warum kannst du ihn nicht vergessen?« fragte sie echt weiblich. Er zog sie wortlos an sich und drückte ihren Kopf an seine Brust. Als sie später das Geschirr spülte, sah er durch das Fenster hinaus auf das unberührte Land, auf das Grün an den Ufern des Baches, der weiter unten hinter einer Felsenmauer verschwand. Man konnte das
Rauschen und Gurgeln des Wassers bis zur Hütte hören. Es war ein idealer Fleck Erde. Als er ihn damals entdeckt hatte, war ihm der Gedanke nicht gekommen, daß er einmal hier wohnen würde. Und hätte jetzt nicht die ständige Gefahr der Entdeckung bestanden, er hätte sich keinen schöneren Ort für zwei Verliebte vorstellen können. Aber dann war Toby gekommen. Es war möglich, daß er wirklich nur ein Abgesandter der Leute aus Three Forks war, die sich geniert hatten, bei Martins und Virginias Einkäufen direkt zu fragen, obwohl sie sehr freundlich gewesen waren. Oder war Toby doch ein ganz verschlagener Capellaner gewesen? »Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Virginia in diesem Augenblick. »Du hast jetzt beinahe fünf Minuten lang unentwegt aus dem Fenster gesehen.« »Ach, das Übliche«, sagte Martin. »Ich war eben immer Jäger, nicht Gejagter. Es geht gegen meine Natur, mich zu verstecken. Ich kann mich nicht daran gewöhnen.« »Laß dir Zeit, Martin. Du bist einfach zu rastlos. Du mußt erkennen, daß wir auch mit dieser unmöglichen Situation irgendwie fertigwerden müssen.« »Dieser Toby, ich traue ihm einfach nicht! Seine Bemerkungen über dein Haar und meine Raucherei!« »Ich finde, er hat alles ganz gut erklärt. So wie jemand, der zu beobachten gelernt hat. Und wegen
meines Haares, von dem er gesagt hat, daß es mir offen besser stehen würde als so – da hat er doch recht. Ich trage es doch nur so wegen –« Martin brummte. »Wegen der Capellaner! Wegen dieser Sternenwesen, die vor fünfzigtausend Jahren zu uns gekommen sind, ein Tier zum homo sapiens geformt haben, ihn dann ausnützten und jetzt mit ihm fertig sind.« »Warum sagst du, sie seien fertig mit den Menschen?« »Das weißt du doch selbst. Du hast mir erzählt, daß die Capellaner ihre irdische Existenz aufgeben und zurückkehren. Was kann das anderes bedeuten?« »Du hast vermutlich recht, Martin. Ich weiß nicht, ob die vielen Herztoten – wie Vater – und alle die unzähligen anderen Erkrankungen schon etwas in dieser Richtung bedeuten. Ich habe das nicht verfolgt.« Sie schwieg einen Augenblick. »Aber eines steht fest, Martin.« Er sah sie ruhig an. »Ich habe mit all dem nicht begonnen. Ich kann nichts dafür.« »Aber natürlich nicht, mein Liebling. Ich mache dir doch auch keinen Vorwurf.« Der Vollmond stand hell leuchtend am Himmel und tauchte die Landschaft um die Hütte in glänzendes
Silber. Drinnen in der Hütte lagen die beiden in tiefem Schlaf, den der vorher genossene Wein noch tiefer machte ... Erst als Toby leise sprach, rührte sich Martin ein wenig. »Du warst recht entgegenkommend«, sagte Toby ruhig. »Sehr entgegenkommend bei meinem ersten Besuch. Ich hab euch nicht belästigen wollen.« »Nein«, sagte Martin und setzte sich auf. »Du hast uns nicht belästigt.« »Ihr wolltet wirklich freundlich sein.« »Natürlich wollten wir freundlich sein.« »Und wer wirklich freundlich sein will, muß auch aufrichtig sein. Das weiß jeder. Hab ich nicht recht?« Martin nickte. »Das stimmt.« »Und wenn ich in Schwierigkeiten wäre, würdest du mir als wahren Freund helfen, nicht wahr?« »Sicher.« Toby war in Ordnung. Er war ein Freund, und es war nett, einen solchen Menschen zu kennen. »Als echte Freunde müssen wir auch ehrlich zueinander sein. Kann ich dir bedingungslos vertrauen?« »Sicher.« Worauf wollte der alte Mann hinaus? Natürlich konnte Toby ihm trauen. Aber Virginia ... Das Bild von Toby flimmerte, und Martin hatte Schwierigkeiten, sich auf Tobys Augen zu konzentrieren. »Macht nichts, Junge. Wir kennen einander schon lange und kommen gut miteinander aus.« »Wir haben auch nie Geheimnisse voreinander gehabt.«
»Nein, wir haben nie Geheimnisse gehabt.« »Du kennst meinen Namen?« »Ich kenne deinen Namen.« »Wie lautet er?« »Toby.« Wie lächerlich, seinen eigenen Namen nicht zu kennen. »Und wie heißt du?« »Martin.« Wie dumm von Toby, sich nicht zu erinnern – Als der plötzliche Lichtstrahl Martins Augen traf, schrie er auf, spürte, wie sich neben ihm jemand herumdrehte und begriff, daß Toby irgendwie in die Hütte gekommen war. »Was zum Teufel!« Er wollte aufstehen, aber etwas zwang ihn nieder. »Bleib zurück!« befahl Virginia. Erst da sah er, daß sie an der Wand stand, daß ihr Atem schnell und heftig ging und in ihren Augen wütende Entschlossenheit stand. Sie bewegte sich nicht. Martin drehte sich zu Toby um, der mit der gleichen Entschlossenheit unbeweglich dastand. Dann begriff er, daß hier zwei Gedankenkräfte miteinander rangen. Fast wie aufzuckende Lichter flammten sie hin und her. Der Kampf wurde immer härter. Die beiden Capellaner standen unbeweglich, die Blicke ineinandergebohrt da. Die Luft erzitterte von den aufeinanderstoßenden Kräften, das Gebälk
der Hütte ächzte und stöhnte von den entfesselten Kräften, die miteinander kämpften.
14 Schweiß lief dem alten Mann über die Stirn in den weißen Bart. Martin sah Virginias bleiches Gesicht, den blutlosen Strich ihrer Lippen und die Verzweiflung in ihren Augen. Ihre Brust hob und senkte sich in rasendem Atem. Mit einem Schrei stürzte sich Martin auf den Mann, aber eine undurchdringliche Wand schleuderte ihn zurück vor das Bett. Plötzlich begann der alte Mann zu zittern, als würde er frieren. Sein heiserer Atem schien seine Kehle zu zersprengen, und er wich mit angstvoll aufgerissenen Augen Schritt um Schritt zurück, als träfen ihn schwere Schläge. »Du kannst mich zur Umkehr zwingen«, keuchte er, nach Atem ringend, »aber sie werden zurückkommen.« Virginia trat von der Wand weg, und die Luft beruhigte sich. »Ich danke dir«, flüsterte Toby und lehnte sich an den Tisch, um nicht zusammenzubrechen. Sein weißes Haar war völlig durcheinander, seine Augen mit Blut unterlaufen. Er rang noch immer nach Luft. »Wenn ich gehe, werde ich ihnen sagen, wo –« brachte er mit Mühe heraus. »Du kannst nicht allen widerstehen. Sie – sie werden ihn töten –«
»Dann müssen sie zuerst mich töten«, erwiderte Virginia. Der alte Mann sank auf einen Stuhl. Allmählich bekam er sich wieder in die Gewalt. Sein Atem war weniger angestrengt. »Du bist widerlich wie eine Erdenmutter, die ihr Junges verteidigt«, sagte er. »Warum bist du zurückgekommen?« Virginia stand in der Mitte des Raumes ihm gegenüber. »Ich war nicht sicher«, sagte Toby. »Du hattest dich so abgeschirmt, daß ich nicht sicher sein konnte. Ich wußte, ich würde von deinem Freund die Wahrheit erfahren. Deshalb kam ich zurück.« »Wissen alle Bescheid?« »Wir sind alle gewarnt worden, und alle sind auf der Suche – alle, die noch hier sind.« »Also ist es wahr! Du bist gekommen, um ihn zu töten. Welchen Grund geben sie für den Wunsch an, Martin zu töten?« »Damit er nicht enthüllen kann, was er weiß. Aber der Hauptgrund ist, dich zurückzubekommen. Sie verstehen nicht, warum du so gehandelt hast.« Virginia wandte sich Martin zu. »Ich kann dir sagen, warum, Toby.« Ihre Augen leuchteten. »Ich liebe diesen Mann!« »Er ist doch nur ein gewöhnlicher Mensch«, sagte Toby ungläubig.
»Aber ich weiß, daß er mehr als nur ein gewöhnlicher Mensch ist!« Toby schnaufte schwer. »Virginia Penn«, sagte er, »es ist offensichtlich, daß du zu lange unter diesen Leuten gelebt hast. Hast du deine eigene Art vergessen? Es ist unser Schicksal. Wären die Erdenmenschen nicht, könnten wir uns nicht vermehren.« »Aber gibt es denn kein Ende? Muß da immer so geschehen?« Toby stand auf und ging auf sie zu. »Du bleibst sitzen, Toby. Ich traue dir nicht.« Er setzte sich wieder. »Ich weiß nicht, ob ich dir diese Frage beantworten kann, ob nur durch den Massentod dieser Menschen unsere Existenz gesichert ist. Mich hat man geschickt, dich zu finden, und das habe ich getan. Das Triumvirat hat so entschieden.« »Ich könnte dich zurückschicken«, sagte Virginia mit finsterem Blick. »Ich glaube wirklich, daß du dazu fähig wärst. Aber was würde das bedeuten? Wenn mein irdischer Körper hier stirbt, gehe ich zurück, und andere werden dich finden, die noch auf der Erde leben. Es würde keine fünf Minuten dauern.« »Ich vermute, daß du recht hast.« Virginia legte eine Hand auf Martins Arm. In diesem Moment spürte Martin einen kalten Luftzug und sah den alten Mann
alarmiert an. Einen Augenblick lang schimmerte die Figur im schwachen Licht des Raumes, dann nahm sie wieder feste Umrisse an. »Beinahe, Toby. Aber jetzt sei so freundlich und bleib wie du jetzt bist, bis ich mir alles überlegt habe.« »Da gibt es nichts zu überlegen, Virginia. Du solltest mitkommen.« »Ich werde Martin Enders nicht verlassen.« »Also gut«, sagte Toby widerwillig, »dann gebe ich dir mein Versprechen, daß Martin Enders nichts passieren wird. Kommst du jetzt mit?« »Vielleicht könntest du zurückkommen«, schlug Martin vor, dem seine passive Rolle überhaupt nicht gefiel. »Sie müssen dich freigeben!« Virginia wandte sich mit kalten blauen Augen Toby zu. »Ich werde mit dir gehen, aber nur unter der Bedingung, daß du mir meine Rückkehr garantierst«, sagte sie ruhig. Toby lachte. »Wie kann ich dir garantieren, ob sie es tun werden?« »Du könntest ihnen sagen, daß du mir das Versprechen gegeben hast.« »Warum sollte ich das?« Das Mädchen schwieg. Dann sah sie ihn an und sagte: »Ich bin stärker als du, Toby. Und das werde ich ausnützen. Wenn du mir nicht versprichst, daß ich zurückkehren werde, werde ich dich hier behal-
ten, so wie du bist, in deinem irdischen Körper, und zwar so lange wie ich kann. Ich werde dich langsam verhungern lassen, Toby. Vielleicht gebe ich dir auch manchmal etwas zu essen, damit es länger dauert und du länger am Leben bleibst, so eben noch am Leben. Dann kannst du nicht fliehen. Wie findest du das?« »Was würdest du damit gewinnen?« »Du weißt, daß sich die Capellaner darauf vorbereiten, diesen Planeten zu verlassen. Du könntest sie dann nicht begleiten!« »Nein! Ich habe mich jahrelang auf die Rückkehr gefreut!« Die Hände des alten Mannes zitterten. Dann warf er sie hoch. »Gut! Gut! Ich verspreche es. Du wirst zurückkehren.« Er schien vor Schmerz zu vergehen und barg den Kopf in den Händen. Virginias Hand drückte Martins Arm fester. Die beiden sahen einander sehnsüchtig an. »Es gibt keinen anderen Weg«, sagte sie leise. »Ich werde so bald als möglich wieder da sein. Und geh nicht weg von hier!« »Ich bleibe, Liebling«, sagte er, und einen Augenblick später lagen sie sich in den Armen. »Denk immer daran, daß ich dich liebe«, flüsterte sie. Dann drehte sie sich zu Toby um. »Du zuerst«, sagte sie zu Toby. Ihre Stimme klang rauh. Die beiden setzten sich auf das Bett. Martin hielt
Virginias Hand. Wieder der kalte Hauch, und der alte Mann löste sich in Luft auf. Dann sah Martin Virginia an, ihr schönes Profil, die vollen Lippen – und dann fühlte er mit schwerem Herzen den kalten Luftzug, und das Mädchen war verschwunden ... Es war plötzlich sehr kalt in der Hütte. Die Sonne stand strahlend am Oktoberhimmel. Sie schien auf die Felsen in der Schlucht und ließ ihre Farben aufleuchten. Sie durchdrang das Wasser des Baches, das nie klarer ausgesehen hatte. Von dort, wo Martin stand, am oberen Ende der Klamm, hatte er einen herrlichen Blick auf die Landschaft um die Hütte, auf den flachen Rücken des Berges, auf die Kieferngruppen. Er konnte das Rascheln der Blätter hören und das Seufzen des Windes in den langen Nadeln der spanischen Kiefern direkt unter ihm. Es war schön, schmerzhaft schön. Denn alles erinnerte ihn an Virginia. Tausendmal hatte er sich in den letzten Tagen umgesehen, wenn ein Schatten in sein Blickfeld getreten, ein Zweig vom Baum gefallen war, ein Stein sich gelöst hatte und in die Klamm gerollt war. Aber sie war es nie gewesen. Jetzt, am vierten Tag ihrer Abwesenheit, beschloß er, sich die Zeit damit zu vertreiben, indem er hart
arbeitete. Vielleicht konnte er dann schlafen, denn in der Hoffnung auf ihre Rückkehr hatte ihn der Schlaf gemieden. Er ging in die Hütte, holte einen Eimer und füllte ihn im Bach mit Wasser. Dann begann er die Hütte sauber zu machen. Als er damit fertig war, dichtete er die Fugen ab. Als er schließlich damit beschäftigt war, den Boden zu schrubben, fühlte er die typische kalte Luftbewegung. Er wirbelte herum. Virginia war da, und er ging voller Freude auf sie zu. Aber der Blick in ihren Augen ließ ihn stehenbleiben. »Was ist passiert?« fragte er mit wachsender Sorge. Ihre Augen waren ohne Freude, ihr Gesicht grau, ihre Schultern schlaff. Er trat zu ihr, aber sie wich zurück. »Nein, Martin, es hat keinen Zweck«, sagte sie. Er erstarrte wie vom Donner gerührt. Sie mußten ihr etwas angetan haben, damit sie sich so verhielt. Sie übten noch immer die Herrschaft über sie aus. »Das kannst nicht du sein. Du könntest dich doch nicht so verändern.« Sie lächelte freudlos. »Ich habe mich geändert, Martin. Ich bin eine Capellanerin. Ich gehöre zu meinen Leuten. Ich habe dich geliebt und liebe dich noch immer, Martin. Ich habe alles versucht, aber es gibt
keinen Ausweg. Ich muß zu meinem Volk. Das ist das Beste.« Sie zuckte mit den Schultern. »Als ich zurückkam«, fuhr sie fort, »habe ich meinen Vater, meine Mutter und Bobby getroffen. Ich habe mit allen gesprochen. Ich wollte mich zuerst gegen alle wenden, aber dann stellte ich fest, daß das falsch war. Du hast dein Volk, ich habe das meine.« Nach einer Atempause fuhr sie fort: »Und noch etwas: Ich dachte, ich könnte dich vor dem Schicksal bewahren, das die Menschheit treffen wird, wenn die Capellaner die Erde verlassen. Ich wollte nicht, daß du dich in ein primitives Wesen zurückverwandelst, in das Zerrbild des Mannes, den ich einst so geliebt habe. Ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen, Martin. Aber ich mußte erkennen, daß ich dich nicht mit der Kraft erfüllen konnte, die du gebraucht hättest, um mit uns zu leben. Du wärst wieder zurückgegangen.« Martin blickte von ihr weg. »Ich verstehe.« »Und was mich angeht«, sagte sie bitter, »ich bin eine Unsterbliche. Es wäre mein Los, für alle Ewigkeit auf der Erde zu leben – allein, nachdem meine Leute weggegangen sind. Ich würde im Verlauf von Millionen von Jahren die neuerliche Entwicklung eurer Rasse miterleben, wieder erleben. Ich könnte vielleicht helfen, aber selbst die Kraft eines einzelnen Capellaners ist begrenzt. Das wäre keine Erfüllung mei-
ner Bestimmung. Vielleicht habe ich mit einem anderen Capellaner auf einem anderen Planeten eine neue Kolonisation zu beginnen, wenn so entschieden wird.« Martin ging zu ihr hin, nahm sie in die Arme und küßte sie leidenschaftlich. Als sie seinen Kuß nicht erwiderte, wußte er, daß sie die Wahrheit sagte, und ließ sie los. »So ist es also ...?« »So ist es.« Er ging zum Fenster, das er erst vor kurzem geputzt hatte, und blickte hinaus. Er sah nichts. »Das ist also der Abschied?« »Ja, Martin. Es schmerzt mich unsäglich.« Er sagte nichts mehr. Nach einer Weile fühlte er die kalte Luft und wußte, daß Virginia weg war. Ein Schauer durchlief ihn kalt. Martin wußte nicht, wie lange er am Fenster gestanden hatte, bis er bereit war, die Wirklichkeit anzunehmen. Früher oder später mußte er ihr ins Gesicht sehen. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf den Tisch. Dort hat sie noch vor kurzer Zeit gesessen, dachte er. Was vorbei ist, ist vorbei. Wie heißt es? Das Leben muß weitergehen. Also denn! In diesem Augenblick sah er etwas, was er vorhin
nicht bemerkt hatte, auf dem Tisch liegen. Es war ein Würfel, ein glänzender goldener Würfel mit einem Edelstein an jeder Seite. Der Würfel war so groß wie ein Stück Zucker. Im gleichen Augenblick, nachdem er den Würfel in die Hand genommen hatte, fühlte er ihre Gegenwart. Sie stand vor seinem geistigen Auge, strahlend schön, und lächelte ihm zu. »Verrate niemals das Geheimnis dieses Würfels«, bat sie ihn eindringlich. »Vielleicht beobachten sie dich noch.« Sie lächelte noch immer. »Martin, was ich gesagt habe, ist nicht wahr. Ich will nicht mit meinen Leuten gehen, aber ich mußte das sagen. Sie hätten dich sonst getötet, weil sie glauben, du hinderst mich daran, mit ihnen zu gehen. Also habe ich versprochen, mit ihnen zu gehen. Der Preis? Dein Leben bleibt erhalten. Aber, mein lieber Martin, ich habe auch einen Vorbehalt durchgesetzt: Ich werde nur mitgehen, wenn ich dich nicht mehr erreichen kann.« Sie sagte die nächsten Worte mit eindringlichem Augenausdruck: »Verlasse Tessey Valley, als seiest du traurig, mein Lieber. Geh nach Chicago oder wohin du willst. Ich werde so bald zu dir kommen, wie ich kann. Ich liebe dich. Bete für meinen Erfolg.« Sie legte die Finger an die Lippen und warf ihm eine Kußhand zu. Dann war ihr Bild verschwunden. Der Würfel löste sich in seiner Hand auf.
15 Nachrichten persönlicher Natur kamen schnell herum im Gebäude der National Scene. Politische reisten langsamer, gehörten zur Routine. Die Geschwindigkeit war also abhängig vom Ereignis. Als Martin an einem trüben Morgen Anfang November das Gebäude betrat, wußte es schon das ganze Haus, bevor er den Lift betreten hatte. Es gab nicht nur die Nachricht, auch Kommentare und alle möglichen Gerüchte. Eine Fernschreiberin im Fernschreiberraum legte den Hörer auf, setzte sich an die Maschine, schaltete sie ein und tippte: »Dringend. New York. Mitteilt Generalmajor Walter Deems Martin Enders soeben Büro Chicago betreten. Werden prüfen und bestätigen wenn wahr. Wilson.« Als er im elften Stock aus dem Lift stieg, waren überall, wohin er kam, die Augen auf ihn gerichtet. Alle Arbeit ruhte. Als er durch den Gang zwischen den Schreibtischen ging, erwartete er Bemerkungen. Aber niemand wagte ein Wort. Als er an die Tür des Büros von Wilson, dem Verlagsdirektor kam, sagte dieser: »Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, trat zurück und zeigte auf einen Sessel neben seinem Schreibtisch. Als Martin an ihm vorüberging, sagte
Wilson zu jemand auf dem Gang: »Es ist okay. Holen Sie Myers.« »Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen, Martin?« waren die Worte, mit denen Wilson ihn begrüßte, nachdem er sich hinter einem Schreibtisch niedergelassen hatte. »Wir haben uns Ihretwegen Sorgen gemacht!« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Martin. Neues Fernschreiben: »Dringend. New York. Teile mit es ist Enders. Erwarten Anweisungen. Wilson.« Denton Myers erschien, blieb unter der Tür stehen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte er erschüttert. »Um Gottes willen, was ist nur passiert? Wohin sind Sie verschwunden?« Martin spürte eine unverständliche Kühle, eine gewisse Vorsicht in seinem Ton, die ein ungutes Gefühl in ihm aufkommen ließen. Da war etwas im Gange! »Stimmt das mit dem Mädchen?« fragte Wilson. »Sind Sie mit ihr weggelaufen?« »Ja«, warf Myers ein, »und was ist an der Sache mit dem Krankenwagen?« »Davon wissen Sie?« Die beiden Männer nickten. »Was ist in Sie gefahren, so plötzlich alles hinzuwerfen und abzuhauen, Martin? Sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Sie haben sich nach Ihrem Militärdienst so
gut angelassen, waren einer der Besten, die wir hatten.« »Wie gesagt, Willie, es ist eine lange Geschichte.« »Dann stirbt Penn, sein Sohn an Lungenentzündung ein paar Tage später. Wo ist das Mädchen, mit dem Sie weggelaufen sein sollen?« »Ich verstehe Sie einfach nicht, Martin«, sagte Myers. »Ich konnte es nicht glauben. Wir hielten Sie für sehr zuverlässig.« »Was haben Sie denn alles über mich gehört?« fragte Martin. »Die erste Nachricht gab uns Colonel Sherrington telefonisch. Nach seiner Darstellung sind Sie in einer Militärambulanz mit dem Mädchen davongefahren. Er hat vielleicht getobt! Die beiden Sergeanten hat er wegen des Märchens von den Mauern zu Gefreiten degradiert«, berichtete Myers. »War es eine Liebesgeschichte?« fragte Wilson. »Uns können Sie es ja sagen. Wir werden den Mund halten.« »In gewisser Beziehung war es das, ja.« »Gott sei Dank«, sagte Myers und seufzte erleichtert auf. »Es gibt da ein paar Leute, die Ihnen ganz finstere Motive untergeschoben haben. Aber all das entschuldigt nicht, daß Sie uns nicht benachrichtigt haben. Wenigstens hätten Sie uns wissen lassen müssen, wo Sie waren.« »Myers hat recht«, sagte Wilson. »Es hätte uns
nicht gefallen, aber wenn es Ihnen so wichtig war, hätten wir Sie auf Ihren Ausflug gehen lassen und unseren Segen dazu gegeben.« Dringendes Fernschreiben: »Chicago. Deems verlangt Festhalten Enders wenn möglich. Keine Gewalt anwenden. Wird verfolgt, wenn er Aufenthaltsort verläßt. Versuchen Sie ihn auf jeden Fall aufzuhalten, bis Vorbereitungen beendet. Cummings.« »Sie haben immer noch nichts gesagt«, stellte Myers fest. »Sie haben mir keine Möglichkeit dazu gegeben.« »Ist das Mädchen bei Ihnen?« Martin schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht bei mir.« Konnte er ihnen sagen, daß es für ihn doch ganz natürlich war, hierherzukommen, nachdem Virginia ihn in Utah verlassen hatte? »Ich weiß jetzt nicht einmal, warum ich überhaupt hierher gekommen bin«, sagte er dann. »Nach Lage der Dinge machen Sie sich über etwas ganz Unwichtiges Sorgen.« Lovett Wilson wäre in diesem Augenblick wahrscheinlich explodiert, wenn nicht ein Anruf, den Myers entgegennahm, ihn daran gehindert hätte. Der Anruf drehte sich offensichtlich um Martin. Es lag
jetzt noch mehr Spannung in der Luft, wie Martin spürte. Später erfuhr er, daß man Myers ein neues Fernschreiben aus New York vorgelesen hatte. Aber Martin konnte damals nicht fragen, worum sich der Anruf gedreht hatte, obwohl es ihn gereizt hatte. »Warum erzählen Sie uns nicht einfach alles von Anfang an?« schlug Wilson vor. »Sie würden es mir doch nicht glauben.« Der Verlagsdirektor beugte sich über den Schreibtisch. »Martin, wir haben ein Recht auf Ihren Bericht! Klar? Immerhin haben wir Ihnen Ihr Gehalt weiterbezahlt. Und tun Sie nicht so geheimnisvoll.« Martin mußte lachen bei dieser Bemerkung. »Nun – Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen prophezeie, daß die Menschheit zum Untergang verurteilt ist?« Beide Männer stellten eine Reihe von Vermutungen über mehr oder weniger bekannte Massenvernichtungsmittel an. »Nein«, sagte Martin, »es ist alles ganz anders. Wesen von der Capella, einem Stern in einem anderen System, die bisher bei uns gelebt haben, werden uns verlassen, bald verlassen. Von Ihnen haben wir vor fünfzigtausend Jahren unsere überlegene Intelligenz erhalten, die uns damit wieder genommen wird.« »Ich sage Ihnen was«, sagte Wilson, »lassen Sie mich meine Sekretärin rufen. Ihr erzählen Sie alles, und sie schreibt es nieder. Myers und ich bleiben hier und hö-
ren zu. Wir möchten das alles schwarz auf weiß haben.« Martin spürte einen anderen Grund für diese Forderung und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das ist alles noch zu frisch in meinen Gedanken. Ich muß erst selbst damit fertig werden.« »Nun sehen Sie doch mal, Martin«, sagte Myers. »Die Menschen auf der ganzen Welt wollen doch etwas erfahren von diesen – diesen –« »Capellanern«, sagte Martin trocken. »Ja, wir brauchen etwas Konkretes. Reden Sie doch, Martin! Haben Sie Hunger? Myers, warum bestellen Sie nichts zu trinken?« Martin lächelte und holte seinen Mantel. Ja, hier war etwas im Gange! »Was für ein Ding soll hier gedreht werden?« fragte er. »Was hat man Ihnen am Telefon gesagt?« »Ach – nichts – nur ein belangloser Anruf«, stotterte Wilson. »Es ist alles viel zu phantastisch, um zu versuchen, es Ihnen zu erklären«, sagte Martin, dessen Geduld jetzt erschöpft war, und ging. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, überhaupt hierher gekommen zu sein, dachte er. Aber wenn ich mich schon so verhalten soll, als wäre zwischen Virginia und mir alles aus, ist eins so gut wie das andere. Der andere Mann, der noch mit ihm im Lift fuhr,
starrte Martin so auffallend an, daß dieser aufmerksam wurde. Offensichtlich wollte er sich sein Gesicht einprägen. Es war schon so: Etwas war im Gange! Auch im Taxi sah er, wie der Mann ihm folgte. Später stellte er fest, daß ihm sogar zwei Wagen folgten. Er machte sich keine Sorgen deshalb. Man wollte ihn wahrscheinlich überwachen, na gut. Aber es wunderte ihn, daß ihn Oberst Sherrington nicht hatte verhaften lassen. Er sah sich um. Die Taxis waren noch da. Wie eine Prozession fuhren die drei Wagen langsam dahin. Ihm war alles egal. »Ich trinke auf euch alle«, sagte er später in seiner Wohnung, wo er eine Flasche gefunden hatte, und hob das Glas. »Ich trinke auf eure Unwissenheit darüber, was euch bevorsteht. Seht euren Lohn: Jahre der Dunkelheit!« Nein, man würde ihn für einen Hanswurst halten, wenn er solches Zeug schrieb. Am besten gar nichts. Er sah sich die Briefe auf dem Tisch im Eßzimmer wieder an. Alles war für ihn belanglos geworden. Es war beinahe Mittag, als er aus dem Haus ging, um zu essen. Die beiden Männer, die ihm gefolgt waren, nahmen einen Tisch in seiner Nähe, offenbar um sein Gespräch mitzuhören – falls er sich mit jemandem treffen sollte. Ihr seid auf der falschen Spur, Kameraden, dachte er.
Wieder in seiner Wohnung, legte er sich aufs Sofa und schlief ein. Donnernde Schläge an der Wohnungstür weckten ihn. Er wußte, wer es war, bevor er die Tür öffnete. General Deems schritt in das Zimmer, von einem Captain der Army gefolgt. Die beiden Beschatter standen in der Tür. »Schließen Sie die Tür, Smollet«, sagte der General. Der General überflog mit einem Blick den Raum und wandte sich dann an Martin: »Gibt es außer der Wohnungstür noch einen Ausgang?« »Das Fenster«, sagte Martin. »Aber es wäre ein Sturz aus drei Stockwerken.« Der General hatte sich vor Martin gestellt, der Captain hatte ein Notizbuch herausgenommen. Martin sah sich alles amüsiert an. »Wo ist das Mädchen, Enders?« fragte der General. »Ich weiß es nicht.« Das war die reine Wahrheit. Jetzt platzte dem General der Kragen. Wild gestikulierend lief er im Zimmer auf und ab und brüllte: »Für welche Narren halten Sie uns eigentlich? Sie lassen Ihre Nachforschungen im Stich und brennen mit diesem blonden Mädchen durch. In welche Lage haben Sie uns gebracht? Und all das Gerede von einem Stern und so weiter. Myers und Wilson haben mir davon berichtet. Was haben Sie eigentlich vor?« »Ich habe die Wahrheit gesagt, sonst nichts.«
»Hören Sie mir damit auf, Enders«, sagte der General höhnisch. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Wer steckt dahinter? Wieviel hat man Ihnen gezahlt? Und weil wir gerade dabei sind: Wer hat sich das ganze Gegacker eigentlich ausgedacht, das Sie zu Ihrer Tarnung von sich geben?« »Sie könnten mich amüsieren, General, wenn Sie nicht so pathetisch wären!« Die Zornesröte im Gesicht des Offiziers nahm noch erheblich zu. Man hatte fast den Eindruck, das Zimmer erwärmte sich von seiner Wut. »Sie sind ein ganz mieser Kerl, Martin Enders«, schimpfte der General. »Verkaufen Ihr eigenes Land! Erzählen Sie mir nichts, ich weiß. Einer von diesen gerissenen Kerlen, die auf beiden Schultern tragen und überall den Rahm abschöpfen wollen! Das größere Angebot übertrifft das kleinere, zum Teufel mit der Anständigkeit! Leute, die nicht in ihre Gleichungen passen, vergißt man –« »Einen Augenblick«, unterbrach Martin, den jetzt brennende Wut packte. »Sie haben mich mit jemand anderem und etwas anderem verwechselt«, sagte er. »Gespräche dieser Art liebe ich nicht, verbitte ich mir, auch von Ihnen, General. Sie selbst haben gesagt, daß ich meinem Land immer anständig gedient habe. Meine Personalakte beweist das.« »Aber warum –«
Martin hob die Hand. »Fangen Sie nicht wieder damit an. Ich habe mich vielleicht formal nicht richtig verhalten. Aber ich will Ihnen etwas sagen: Was ich bis jetzt berichtet habe, ist alles wahr, reine Wahrheit!« »Um Gottes willen!« Der General nahm seine Mütze ab, warf sie durch das Zimmer an die Wand, wo sie auf den Boden fiel und liegen blieb. »Wollen Sie mir zuhören, General? Wollen Sie?« Der General ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich durchs Haar. Martin berichtete nochmals von den Capellanern und wiederholte, was er schon Wilson und Myers gesagt hatte. »Vielleicht haben Sie den Verstand verloren«, sagte der General, als Martin fertig war, und wurde ein wenig ruhiger. »Vielleicht haben Myers und Wilson recht. Sie sind der Meinung, daß Sie verrückt geworden sind. Wahrscheinlich ist das doch so.« »Verrückte sind meistens glücklich«, sagte Martin gelassen. »Ich bin es nicht.« »Warum haben Sie nicht aus Park Hill angerufen?« »Die Capellaner –« »Die Capellaner! Die Capellaner! Das ist alles, wovon Sie reden! Wo sind denn diese – Capellaner? Wo wohnen sie? Zeigen Sie mir einen Capellaner, und ich glaube Ihnen.«
»Sie leben auf einem anderen Planeten«, erklärte Martin. »Aus diesem Grund sind sie für uns unsichtbar.« »Unsichtbar, wie?« Der General sah ihn nachdenklich an. »Wenn Sie das glauben, sind Sie verrückt. Aber das glaube ich nicht. Das Mädchen spielt da eine Rolle, und Sie haben sie versteckt. Sie ist es wahrscheinlich, die wir haben müßten. Wo ist diese Virginia Penn?« »Irgendwo zwischen Himmel und Erde«, sagte Martin. »Wohl schon wieder frech, was, Enders?« Der General stand auf und trat drohend vor ihn hin. »Er ist nicht frech, General, ich bin nicht zwischen Himmel und Erde«, sagte eine Stimme. »Virginia!« Martin sprang auf und hätte den General beinahe umgeworfen. Er blickte sich um. Virginia war nicht da. »Wer war das?« Das Gesicht des Generals war purpurrot. »Sie haben ein Tonband, Enders.« »Sehr witzig!« Es war die Stimme Virginias. Sie lachte. »Untersuchen Sie den Raum nach einem Lautsprecher, Smollet!« befahl der General. »Hat keinen Sinn, General«, sagte Virginia, »der Captain wird nichts finden.« Martin spürte den kühlen Luftzug und sah wie sich
Virginia materialisierte. Sie stand in einer Ecke des Zimmers. »Hier bin ich, General«, sagte sie mit einem lieblichen Lächeln.
16 »Wieder einer von Ihren Tricks! Wo hatten Sie sie versteckt?« »Sie sind ein sehr schwer zu überzeugender Mensch, nicht wahr, General?« fragte Virginia boshaft und ging auf ihn zu. »Gott sei Dank, daß du wieder da bist«, rief Martin. »Ich hatte schon Angst, du würdest es nicht schaffen.« »Sie bleiben stehen, wo Sie sind, Miss Penn«, befahl Deems. »Ich weiß zwar nicht, wo Sie plötzlich herkamen. Weil Sie aber einmal da sind, werden Sie uns sagen, warum Sie mit Mr. Enders aus Park Hill fortgelaufen sind.« »Es wäre besser, wenn Sie heimkehrten zu Frau und Kindern, General«, gab Virginia ernst zurück. »In wenigen Tagen werden Sie begreifen, wie unwichtig Ihre Frage und jede Antwort darauf ist.« »Soll ich mir auch von Ihnen solchen Unsinn anhören?« Virginia betrachtete den Mann eiskalt. »Die meisten Leute können sich nicht mit der Wahrheit abfinden.« Abermals rötete sich das Gesicht des alten Soldaten im Zorn. »Ich sollte euch beide einsperren lassen, bis
ihr euch eines Besseren besonnen habt. Aber dazu ist keine Zeit. Ich muß alles wissen. Sofort!« »Was bereitet Ihnen denn nun wirklichen Kummer?« erkundigte sich Virginia sachlich. »Was ist Forrest Killian zugestoßen? Wer behindert die Arbeiten an dem Regenerationsprojekt? Und warum? Welche Rolle spielt Ihr beiden in dieser Affäre? Können Sie mir darauf antworten?« »Ich beantworte Ihre Fragen der Reihe nach«, erwiderte Virginia ruhig, wie in einer Konferenz. »Forrest Killian ist – tot, würden Sie es wohl nennen. Im Augenblick behindert niemand die Forschungsarbeiten am Regenerationsprojekt. Martin und ich haben nichts mehr damit zu tun. Wir wollen nur zusammenbleiben.« Der General starrte sie stumm an. Virginia saß ganz ruhig da und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Der General wußte nicht, woran er war. Captain Smollet wirkt völlig ratlos. Dann ging beiden vor Überraschung der Mund auf. Der General hob die Hand, aber sie stieß gegen einen Widerstand. Seine Finger strichen über eine unsichtbare Fläche, die nicht nachgab. Er sagte etwas, und Captain Smollet antwortete, aber es klang so leise, daß man es kaum hören konnte. »Das wird sie eine Weile aufhalten«, sagte Virginia und lehnte sich zurück. Sie blickte Martin an und lach-
te, als sie seinen verblüfften Ausdruck bemerkte. »Du kennst doch diese Spiegel, deren Rückseite durchsichtig ist. So etwas ähnliches habe ich zwischen uns und den Offizieren errichtet. Wir sehen sie, aber sie sehen uns nicht. Ganz lustig, nicht wahr?« Martin beobachtete die Männer, zu denen sich die beiden gesellt hatten, die mit seiner Überwachung beauftragt gewesen waren, wie sie die Hände gegen den unsichtbaren Widerstand drückten und ratlos im Raum herumliefen. »Hast du mich vermißt?« fragte Virginia. »Mehr als alles andere!« Er zog sie an sich und küßte sie stürmisch. »Wieviel Zeit haben wir noch?« »In drei Tagen ist der letzte Abreisetag.« »Gehst du mit?« Virginia schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe bis zum letzten Augenblick gewartet, dann kam ich hierher. Ich hoffte, keinem von ihnen zu begegnen.« »Vielleicht beobachten sie dich?« »Sie sind zu sehr damit beschäftigt, den Aufbruch vorzubereiten. Ich glaube nicht, daß jemand erscheinen wird.« Auf der anderen Seite der unsichtbaren Barriere war Ruhe eingekehrt. Die Männer hatten das Zimmer verlassen. Virginia stand auf und ergriff Martins Hand. »Komm, wir gehen, solange Ruhe herrscht.«
Sie gingen zur Tür. Als Martin sie öffnete, stieß er gegen eine unsichtbare Wand. Draußen stand Dr. Penn. Diesmal war er in einen normalen Straßenanzug gekleidet. Martin fragte sich, ob es der Anzug sei, in dem er beerdigt worden war. »Ich weiß nicht, was ich jetzt mit dir tun soll, kleine Närrin du«, sagte Dr. Penn. »Warum hast du das getan?« Virginia ging zu ihm hin. »Du bist mein Vater, und ich liebe dich sehr. Aber ich liebe auch Martin. Könnt ihr denn das alle nicht verstehen?« »Aber das ist doch verrückt! Wenn wir bleiben würden, wäre das etwas anderes. Aber wir gehen weg. Wir können dich nicht zurücklassen.« Virginia lief zu Martin und klammerte sich an ihn. Dr. Penn sah die beiden verzweifelt an. »Warum können Sie Virginia nicht zurücklassen?« fragte Martin. »Warum? Weil es undenkbar ist. Sie würde ihre ganze Zukunft als Unsterbliche für die paar Minuten mit Ihnen wegwerfen. Es gibt Männer ihrer eigenen Art, bei denen sie für immer sein könnte.« »Glauben Sie nicht, daß sie daran auch schon gedacht hat?« Virginias Hand faßte Martins Arm und drückten ihn zum Zeichen des Einverständnisses.
»In Ordnung«, sagte Dr. Penn, »in Ordnung. Ich bin ermächtigt worden, ein weiteres Angebot zu machen.« Er nahm Virginias Hand in die seine. Sie ließ es geschehen. »Wirst du zurückkehren, Virginia, wenn wir Martin mit uns nehmen und sehen, was wir tun können, um ihn bei uns auf Capella Vier aufzunehmen?« Bei dieser Äußerung wurde sie ganz aufgeregt. »Oh, Vater, du glaubst, sie würden das tun?« »Es sieht so aus, als wäre das der einzige Ausweg.« Er drehte sich mit dem Rücken zu Martin, und es dauerte nicht lange, bis sich Formen zu materialisieren begannen. Zuerst Gesichter, dann Körper, Arme, Beine und so weiter – Menschen. Zuerst blickten ihn nur einige an, dann richteten viele ihre Augen auf ihn. Als man die Gesichter schon nicht mehr zählen konnte, drehte sich Dr. Penn zu Martin um. »Es wird anerkannt, daß Sie mehr als nur ein durchschnittlicher Mensch sind. Als solcher werden Sie gebeten, mit uns zusammen zu arbeiten.« Er wies mit einer Armbewegung auf die Leute hinter ihm. »Diese Capellaner sind hier erschienen, um dem, was wir versuchen werden zu tun, Glaubhaftigkeit und psychologisches Gewicht zu verleihen.« Als Dr. Penn jetzt eine Pause machte, konnte Martin die forschenden Gedankenfühler vieler Gehirne spüren.
»Wollen Sie mit uns gehen?« Die ungeheuerliche Vorstellung, die Erde zu verlassen, ließ seine Gedanken kreisen. »Ich weiß nicht«, sagte er ehrlich. »Ich dachte nie, daß ich diese Wahl hätte.« »Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Entscheidung warten, bis wir herausgefunden haben, ob es überhaupt möglich ist«, sagte Dr. Penn. »Nun – wir werden etwas versuchen, Martin. Denken Sie eine Weile an gar nichts. Sie werden eine Woge von Kraft fühlen. Wenn Sie das sind, was Virginia behauptet, ein mehr als durchschnittlicher Mensch, sollten Sie in der Lage sein, sich an diese Kraft anzuhängen und sie festzuhalten und sich darauf zu bewegen wie auf einem schwankenden Seil. Sind Sie bereit?« Die Gesichter konzentrierten sich, Dr. Penns Augen leuchteten, Martin fühlte eine Welle von Energie. Dann fühlte er noch, wie sich Virginias Fingernägel in seinen Arm gruben, den sie hielt. Dann war nichts mehr.
17 »Können Sie sehen?« Es war keine Stimme, es war eine Frage, die aus dem Nichts kam, irgendwo in seinen Gehirnwindungen erklang und eine Antwort verlangte. Er sagte: »Nein.« Obwohl er versucht hatte, das Wort zu formen, kam es nicht aus seinem Mund, und er hörte es auch nicht in sich selbst. »Er kann nicht sehen.« »Das ist schwierig.« »Sind Sie sicher, daß er es schaffen wird?« »Wer kann das sagen? Ich habe es noch niemals versucht.« »Vielleicht hat er nicht genug Geistesenergie.« »Er hat sie!« Martin lächelte. Das war Virginia. Der Gedanke, daß sie irgendwo da draußen war, beruhigte ihn. Die Dunkelheit veränderte sich. Es war, als würde hinter einer Bühne jemand langsam den Hauptschalter stufenweise betätigen. Es wurde allmählich hell. Er erkannte jetzt eine unendliche Weite, aber darin gab es nichts zu sehen. Er sah an sich herunter, aber er konnte auch seinen eigenen Körper nicht sehen. Das machte ihn unsicher. »Was können Sie jetzt sehen?«
»Licht.« Diesmal hörte er das von ihm ausgesprochene Wort. »Schon besser.« »Können Sie uns sehen?« Er blickte um sich. »Nein.« »Er kommt allmählich. Wir haben ihm mit der Stimme die Kommunikationsmöglichkeit gegeben, aber er hat die nur in Gedanken gestellten Fragen verstanden. Haben Sie das bemerkt?« »Ja, aber er kann uns nicht sehen.« Schweigen. Dann erschienen einzelne graue Flächen, und diese erhellten sich und wurden zu orangefarbenen Farbflecken. »Sehen Sie uns jetzt?« »Ja«, sagte er und beobachtete die tanzenden Farben. »Aber Sie sehen wie Flammen aus.« Das Licht flackerte einen Augenblick, dann wurde es ruhig. Die unregelmäßigen Formen von Orange verfärbten sich rosa und nahmen schärfere Umrisse an. Er sah an sich herunter, sah seine Arme und Beine und fühlte sich fast wieder normal. Als er aufblickte, konnte er Menschen sehen, die auf einer weißen Ebene standen, die sich nach jeder Richtung erstreckte – bis zum Horizont, wo der strahlende Himmel begann und die Szene mit weichem Glanz erleuchtete. Er wurde an ein Gemälde von Dali erinnert. Die Leute sahen wie normale Erdenbürger
aus und waren so völlig unterschiedlich gekleidet wie auf der Erde. Es waren Männer, und alle sahen ihn an. »Wir haben Ihnen etwas gegeben, worauf Sie stehen können.« Es war die Stimme Dr. Penns, der neben ihm stand und ihn anlächelte. Er fühlte eine Hand in der seinen. Virginia stand an seiner anderen Seite. Jetzt setzten sich die Männer vor ihm auf Stühle hinter einem langen Tisch, der einen Augenblick vorher nicht dagewesen war. »Sollen wir uns setzen?« Dr. Penn zeigte auf eine gepolsterte Bank, die sich hinter ihnen materialisiert hatte. Die drei setzten sich. Martin studierte die Männer vor ihm. Es war wie bei einem großen Gericht mit Richtern und vielen Schöffen. In der Mitte saß ein fetter Mann mit glattem schwarzen Haar und enggestellten Augen. Die Männer unterhielten sich. Endlich stand der fette Mann auf. »Dr. Penn«, sagte er, »wir sind zusammengekommen, wie du es vorgeschlagen hast«, sagte der Glatthaarige. »Willst du das Problem vortragen, bitte?« »Brüder Capellaner«, sagte Dr. Penn und stand auf, »wie ihr alle wahrscheinlich wißt, weigert sich meine Tochter Virginia, die Erde ohne den Erdenmann Martin Enders zu verlassen. Wir haben ihn hierherge-
bracht. Ich weiß, daß das besonders im Hinblick auf unser bevorstehendes Verlassen der Erde nicht in Ordnung ist. Aber ich habe diese Sitzung eines freiwilligen allgemeinen Rechtsausschusses beantragt, um ernsthaft seine Transformation zu überlegen.« »Mr. Enders.« Es war wieder der glatthaarige Mann. »Ich heiße Klell. Ich gehöre zu den letzten der Capellaner, die ihren irdischen Aufenthaltsort bereits verlassen haben. Alle von uns haben einmal auf der Erde gelebt«, sagte er. »Vor meinem Scheiden war ich Besitzer einer Tankstelle, wenn auch meine Aktivitäten, Sie verstehen, nicht darauf beschränkt waren, den Menschen Benzin in die Tanks zu pumpen.« Gelächter am langen Tisch. »Ich glaube, die ganze Sache ist lächerlich!« rief ein junger Mann vom unteren Ende der Tafel. »Ich habe mich nur freiwillig gemeldet, weil ich nicht glaube, daß einer von uns einen von denen bei uns haben will!« Sein Zwischenruf löste andere aus, die sich vor allem gegen Virginias Wunsch richteten und das Mädchen ziemlich herabsetzten. Nachdem Klell für Ruhe gesorgt hatte, verteidigte sich Virginia: »Auch wenn die Hauptwidersacher glauben, ältere Rechte auf mich zu haben, so liebe ich doch diesen Erdenmann. Und wenn man mich fragt, ob ich mich
nicht mehr an die schöne, sorgenfreie Zeit in der Schule erinnere, so kann ich das nur bejahen. Ich erinnere mich aber auch daran, daß du, Clarence, immer faul und frech warst und nur dank deiner capellanischen Überlegenheit durchgekommen bist. Und du, François, hast mich immer an eine Kuh erinnert mit deinem ewigen Kaugummi. Du und Clarence, ihr wart nur stolz auf euer Capellanertum, für das ihr nichts geleistet habt, das euch nur angeboren war.« Klell beendete den Streit und fuhr, über den Tisch gebeugt, fort, indem er Martin fragte: »Nun, Mr. Enders, angenommen, wir nehmen Sie mit uns. Was denken Sie über das, was Sie als Erbgut mitbringen? Glauben Sie nicht, daß das ein Mühlstein um Ihren Hals wäre? Wie können wir wissen, daß Sie nicht zurück wollen? Wie kann jemand mit einer so neuen, kurzen Geschichte Capellaner sein?« Wieder rief François dazwischen und wurde von Klell zur Ordnung gerufen. Virginias Fingernägel schmerzten auf Martins Arm. Er sah sie an und sah in ihren Augen den Zorn sich widerspiegeln. Diese Capellaner hatten gar nicht die Absicht, ihn mitzunehmen – oder doch? War es eine Prüfung? »Sie und andere Erdenmenschen, Martin Enders, haben versucht, ihre Umgebung zu beherrschen«, sagte Klell. »Was haben Sie getan? Was haben Sie
zum Fortschritt beigetragen? Sie haben versagt, weil Sie von ihren niedrigeren, schlechteren Instinkten noch immer beherrscht werden.« »Wie konnten wir denn vorwärtskommen, wenn Sie uns im Weg gestanden sind?« antwortete Martin. »Welche Chance hatten wir, wenn ihr uns von Krieg zu Krieg getrieben habt?« Er war von seiner eigenen Heftigkeit überrascht und über seine Antworten erstaunt. Köpfe flogen hoch und drehten sich wie die von Puppen ihm zu. Man sah ihn mit neuem Interesse an. Klell zeigte mit dem Finger auf ihn. »Da haben wir den Beweis! Man läßt der Wut freien Lauf, ohne eine überlegte Meinung zu haben!« Dr. Penn räusperte sich. »Ich glaube nicht, daß seine Aussage nur auf Zorn begründet ist, Klell.« »Du kannst dich an dieser Diskussion nicht beteiligen, Eric«, sagte Klell kalt. »Aber um Mr. Enders zu antworten, würde ich mir an seiner Stelle einmal seinen eigenen Bericht aus dem Krieg ansehen. Wären nicht die Kriege gewesen, die wir verursacht haben, ist es zweifelhaft, ob die Menschheit überhaupt Fortschritte gemacht hätte. Ihre Historiker haben doch erklärt, daß die zur Massenvernichtung erfundenen Kriegsgeräte in Friedenszeiten nützlich sind.« Plötzlich rief Virginia: »Sie wissen, von welcher Art er ist. Sie kennen die Menschen. Sie haben lang genug unter ihnen gelebt.«
»Ja, das wissen wir«, sagte Klell ernst. Manche Männer am Tisch nickten. »Warum dann also?« »Du willst es wirklich wissen?« Klell sah sie ernst an. »Gut. Wir haben unseren Spaß gehabt, jetzt wollen wir zu den wirklichen Gründen kommen. Am Anfang herrschte auf ihrem Planeten ein Gleichgewicht unter allen Lebewesen. Es gab keinen Grund für die Würmer und andere Organismen, sich zu ändern. Nehmen wir mal den Sandwurm, er lebt heute noch wie damals, ohne sich verändert zu haben. Ähnlich war es mit den Erdenmenschen. Hätten wir sie nicht mit einem Teil unserer Intelligenz ausgestattet, lebten sie heute noch unverändert wie die Sandwürmer. Und trotzdem sind Sie im Vergleich zu uns wie ein Blinder, Mr. Enders. So wie die Erdenmenschen ihren Blinden helfen, so haben wir ihnen geholfen. Nur haben Ihre Leute sich hartnäckig in der Haschen Richtung entwickelt. Verstehen Sie, für uns sind Sie eine unterentwickelte Halbpersönlichkeit. Warum sollten wir die Aufgabe auf uns nehmen, eine einzelne so wenig wertvolle Kreatur zu transformieren?« Klells Darstellungen machten Martin mikroskopisch klein. Natürlich kam die menschliche Rasse nirgends den Capellanern nahe, aber warum rieb man ihm das so unter die Nase?
»Wenn ich bitten darf«, sagte Martin. »Ich habe nicht gebeten –« »Ihre Konzeption des Universums«, fuhr Klell fort, »ist aus der unzureichenden Geisteskraft eurer Leute aufgebaut. Was, zum Beispiel, wissen sie tatsächlich vom Leben? Können sie uns sagen, wieso eine Gruppe von Molekülen auf einmal eine Welle von Kraft erhält und zu leben beginnt? Haben sie eine Ahnung, was Gravitation ist? Natürlich nicht. Oh ja, sie haben jetzt eine gewisse Intelligenz, aber die hätten sie nicht, wenn wir ihnen den Blindenstock wegnehmen würden den sie benützen, weit wir auf die Erde gekommen sind. Und was haben sie mit der Intelligenz angefangen? Große Männer haben versucht, sie zu entwickeln. Was haben sie mit ihnen gemacht. Sie haben sie getötet. Sie trauen nicht einmal einer dem anderen, also töten sie sich gegenseitig. Und wenn sie sich nicht gegenseitig töten, so töten sie sich selbst in den Maschinen, die sie erfunden haben. Es ist amüsant, wie einfach es für uns gewesen ist, aus ihrer Unmenschlichkeit untereinander Vorteil zu ziehen sogar aus der gegen euch selbst!« Applaus kam vom Tisch. Klell verbeugte sich nach links und rechts. »Freunde Capellaner, wir sind hier zusammengekommen, um Capellan Penns Antrag auf Transforma-
tion dieses Mannes zu überlegen. Ich frage euch, ist das eine Mann, den wir mit uns nehmen wollen? Ein Mann, dessen Erbanlage die Lust nach Blut, die Gefräßigkeit und eine latente Wildheit enthält, die jederzeit reifen und erblühen können. Ich glaube für alle zu sprechen, wenn ich sage, Capellan Penn hat unsere Zeit vergeudet mit diesem Antrag.« Die Gesichter am Tisch waren nachdenklich. Martin konnte es nicht mehr aushalten. Er stand auf. »Ich habe Ihrer Verurteilung der menschlichen Rasse zugehört«, sagte er ruhig. »Ich möchte –« »Natürlich mußten Sie das«, sagte Klell. »Das war volle Absicht. Aber Sie sind zufällig auch nicht der Richter in dieser Sache.« »Ich bestehe darauf, gehört zu werden!« »Mr. Enders«, sagte Klell. »Wir sind uns völlig klar darüber, was Sie bewegt. Wir haben von Ihnen genug gehört. Wenn Sie sich jetzt bitte setzen wollen, können wir die Abstimmung vornehmen. Bitte.« »Ich werde mich nicht setzen«, sagte Martin entschlossen. »Ist das die Gerechtigkeit der Capellaner? Darf kein Mann etwas zu seiner eigenen Verteidigung sagen?« »Laßt ihn reden«, sagte einer. Andere stimmten zu. Virginia sah Martin an. In Ihren Augen lag Bewunderung und Hoffnung.
»Sie unterstellen uns, daß jeder von uns die Lust nach Blut hat, daß jeder auf der Erde gefräßig ist und daß in der Brust jedes Mannes eine latente Wildheit wohnt. Wie unrecht Sie haben! Wie wenig ist es Ihnen gelungen, die Menschen kennenzulernen! Es gibt viele unter uns, die die Welt von den Fesseln einer primitiven Erbschaft befreien wollen. Viele von uns widmen und weihen dem ihr Leben. Wir haben Begriffe wie Edelmut, Freundlichkeit und Bruderliebe. Sind die Ihnen nicht bekannt? Oder haben Sie vielleicht Wörter vergessen, die Sie vielleicht einmal gekannt haben, Mr. Klell? Gibt es vielleicht durch irgendeinen Zufall auch das Wort Gerechtigkeit in Ihrer Sprache?« Martin stellte mit Genugtuung fest, daß die Capellaner unruhig wurden. »Jetzt sind Sie dabei, uns zu verlassen«, fuhr Martin fort, bevor er unterbrochen werden konnte. »Nun, eines Tages wären wir aus unserer geistigen Gleichgültigkeit freigeworden und hätten eine bessere Welt gebaut, wenn Sie uns die Saat zurückgelassen hätten, die das möglich macht. Aber Sie verweigern uns sogar das. Obwohl Sie sich daran erinnern sollten, daß es Ihr Volk war, das Schuld daran hat, daß wir uns zu schnell entwickelt haben zu Ihrem eigenen egoistischen Vorteil. Ja, Sie sind egoistisch, wenn Sie uns auf diesen Weg treiben und wenn Sie uns leiden lassen,
weil Sie uns technologisch vorwärtstreiben, ohne uns soziologisch zu helfen. Und noch eines: Ein solches Treffen wie dieses wäre in dem Land, aus dem ich komme, niemals nötig. Und ein weiteres: Dort hat ein Mann das Recht, gehört zu werden.« »Sie hatten Gelegenheit zu sprechen«, sagte Klell. »Nur weil ich es verlangt habe.« »Ihr Fall ist ein ganz besonderer.« »Umso mehr Grund, zu werten, sorgfältig zu werten, was ich gesagt habe«, erwiderte Martin. »Ihre Ansprache ist ja recht hübsch gewesen«, sagte Klell. »Aber wir haben unsere Zeit vergeudet. Wir wollen jetzt abstimmen.« »Es besteht keine Notwendigkeit abzustimmen«, sagte Martin. »Ich habe die Entscheidung für Sie getroffen: Ich werde nicht mit Ihnen gehen.« Virginia schrie auf und klammerte sich an seinen Arm. »Ich habe genug capellanische Wohltätigkeit erfahren«, sagte Martin. »Wenn die übrige Menschheit hier neben mir stünde, so würde sie sicher genauso empfinden. Verstehen Sie, wir haben da ein kleines Gefühl, das wir Stolz nennen. Ich möchte zu dem Volk zurück, von dem ich komme. Ich möchte dorthin zurück, wo ich mich zu Hause fühle. Ich möchte von meinen Gedanken befreit und zurück auf Dschungel-
pfade geschickt werden, denn ich möchte lieber ein primitives Tier sein, als von Ihnen nochmals Barmherzigkeit zu erfahren. Sie haben uns lange genug ausgenützt. Lassen Sie uns jetzt allein den Weg gehen, für den wir von Anfang an vorgesehen waren.« »Nein!« Es war Virginia, die diesen Schrei ausstieß. Sie stand jetzt neben ihm, aus ihren Augen strömten Tränen. Sie umarmte ihn und hielt ihn fest. Martin stand trotzig vor dem Ausschuß. Plötzlich waren die Mitglieder verschwunden.
18 Martin hatte erwartet, in seine Wohnung in der Michigan Avenue zurückgebracht zu werden und daß das das letzte sein würde, was er jemals von den Capellanern erfahren würde. Schon als der Ausschuß sich auflöste, hatte er sich auf den Schock der Rückkehr in seine normale Umgebung vorbereitet und versucht, seine Handlungen zu rechtfertigen. Er wäre nie ein richtiger Capellaner geworden, das wußte er. Er wäre einer von ihnen geworden nach Körper und Geist, aber er wäre auch ein Erdenmann geblieben, den man transformiert hatte, zu einem Capellaner transformiert. Wenn er mit ihnen bis in alle Ewigkeit auf Capella Vier hätte existieren müssen, wäre sicher eine Zeit gekommen, wo sich dieser Unterschied ausgewirkt hätte. Und es wäre vielleicht auch eine Zeit gekommen, in der Virginia seiner überdrüssig geworden wäre und sich einem anderen ihrer Art zugewendet hätte. Was wäre dann mit Martin Enders geschehen? Er dachte an die bevorstehende Vernichtung des menschlichen Geistes auf der Erde, das Absterben all dessen, was die Menschen gelernt hatten – so als sollte alles, was sie seit der Entdeckung des Verstandes geleistet hatten, ausgerottet werden. Er dachte auch
an ein Überleben auf einer weit entfernten Welt mit seinem Besitz an größerem Wissen, das ihm die Capellaner eingepflanzt haben würden. Aber er wußte, das war nicht recht. Er hatte auch sein Gewissen zu prüfen. Und jetzt, wo er seine Entscheidung getroffen hatte, hatte er plötzlich auch wieder Frieden mit sich selbst. Die Erde ist's, wohin ich gehöre, sagte er sich und stellte sich vor, daß er jeden Augenblick in seiner Wohnung materialisieren würde. Auf der Erde war er geboren, und dort wollte er sterben. Er wußte, daß ihn nichts mehr verletzen konnte. So wandte er seine Aufmerksamkeit der Welt zu, in der er sich befand. Sie war schön, jedoch chaotisch. Offensichtlich gewichtlos und ohne Form, trieb er dahin wie eine Staubflocke. Steigend, fallend, ab und zu von einem Wirbel erfaßt, manchmal hart, manchmal weich. Wohin er ging, gab es blaue, rote, purpurne Flocken. Es gab riesige farbige Würfel und Kugeln. Einige der Formen und Gestalten bewegten sich, andere nicht. Das Bild erinnerte ihn an die Farben und Formen, die ihm vor die Augen traten, bevor er einschlief. Obwohl alles geheimnisvoll war, hatte es doch ein Muster, das ihn beruhigte. Und es war etwas da, was ihn in diesem Kaleidoskop sich wohl fühlen ließ. Es war eine Kraft da, die ihn zu prüfen schien, von allen Seiten zu prüfen schien.
Plötzlich war sie gegenwärtig. An seiner Seite. Er konnte sie spüren, aber er konnte sie nicht sehen. »Warum hast du das getan?« fragte sie voll Qual. »Warum willst du nicht mitkommen?« »Ich liebe dich, Virginia«, sagte er. »Aber ich konnte nicht mit dir gehen. Ich wäre immer ein Außenseiter geblieben. Ich sehe das jetzt ein, und ich würde es immer spüren.« »Ich weiß, Liebster, aber auch ich werde immer ein Außenseiter sein. Ich habe einen Erdenmann geliebt. Glaubst du, sie werden das jemals vergessen?« »Ich vermute, ich habe dein Leben ruiniert«, sagte er. »Aber du wirst mich vergessen. Du wirst einen anderen finden. Du darfst nicht mit mir kommen.« »Ich werde nie einen anderen lieben, und ich kann jetzt, nach allem was passiert ist, auch nicht mit dir kommen«, sagte sie traurig. »Du hättest doch mit uns gehen sollen.« »Tut mir leid.« Es stimmte ihn traurig, nun sicher zu wissen, daß sie nicht mit ihm kommen würde. Er hatte doch darauf gehofft. Aber er hatte das Angebot ihres Volkes zurückgewiesen, sogar noch bevor sie abstimmten. Sie hatte recht. Wie konnte sie das Leben unter ihrem eigenen Volk wegwerfen wegen eines Mannes, der so sprach, wie er es getan hatte? »Wo bin ich jetzt?« fragte er. »Schicken sie mich denn nicht zurück?«
»Doch«, sagte sie. »Sie schicken dich zurück.« Es war still, als er durch die Welten voll Farben und Mustern schwebte. »Wenn ich zurückgehe, warum dauert es so lange?« »Vielleicht warten sie nur, bis wir euch verlassen.« »Wie werdet ihr die Erde verlassen? Habt ihr Raumschiffe?« »Es ist nur ein Schritt von hier zu Capella Vier. In diesen Dimensionen ist man nicht von Entfernungen wie bei euch gehemmt.« »Aber was bedeuten die Farben, die ich sehe?« »Du bist unter Capellanern. So sehen sie für dich aus. Sie sind um dich herum, aber sie schenken dir keine Aufmerksamkeit, und mich meiden sie. Ich fürchte, ich bin jetzt ein schwarzes Schaf.« Plötzlich gab es ein Knattern, die Farben bewegten sich heftig und Virginia stieß einen heiseren Schrei aus. Martin hatte ein Gefühl, als wäre ein Lift unter ihm weggefallen. Das mußte es sein ... Adieu, Virginia. »Martin Enders!« Es war eine lautere Stimme, als er sie jemals gehört hatte, jedoch nicht im Bereich des Hörbaren. Sie explodierte in seinem Kopf in leuchtender Farbenpracht. Ein schweres Atmen. Virginia war noch immer da.
Die Farben hörten auf sich zu bewegen und flossen zusammen. Seine eigene Bewegung hörte auf. Er hatte wieder Gewicht, und Virginia war an seiner Seite. Sie befanden sich in einem riesigen Saal, der von leuchtenden Kugeln, die in die hohe Decke eingelassen waren, erhellt wurde. Am entfernten Ende des Saales saß in einem großen Sessel unbeweglich ein Mann. »Treten Sie vor.« Die Stimme war freundlich, tief und voll. Bei ihrem Klang war kein Gedanke an eine Verweigerung des Befehls möglich. Während die beiden zu dem Sprecher gingen, hallten ihre Schritte von den Wänden und der hohen Decke wider. Als sie noch etwa fünf Meter von ihm entfernt waren, hob der Mann die Hand. Martin und Virginia blieben stehen. Der Mann wirkte körperlich täuschend jugendlich, denn in seinen glänzenden schwarzen Augen stand die Erinnerung an Jahrhunderte. Er hatte kräftiges braunes Haar, das gewellt aus der Stirn gekämmt war. Sein Gesicht war schmal und oval, seine Art entschlossen. »Ich bin Myza, Mr. Enders. Meine Frau und ich waren die ersten Capellaner auf der Erde. Sie, ich und unser Sohn Prator werden das Triumvirat genannt. Wir sind für diese capellanische Kolonie verantwortlich.
Anders als viele meines Volkes habe ich nicht durch Geburt die menschliche Form angenommen. Wie Virginia zum Beispiel, und ihre Familie. Es war für uns nötig, uns mit den Erdenmenschen zu vermischen und ihre Gestalt anzunehmen. Dies geschah am unauffälligsten durch den Vorgang der Geburt. Ich habe diese Gestalt nur angenommen, weil ich vermute, ich würde so aussehen, wenn Sie mich mit den Augen eines Capellaners sehen würden. Ihre Entscheidung, nicht mit uns zu Capella Vier zu gehen, hat mich interessiert, jetzt wo unsere Mission hier erfolgreich beendet ist. Ich verstehe Ihren Entschluß. Es war beabsichtigt, daß Sie so reagieren sollten. Denn ob Sie es vermutet haben oder nicht, sie hätten unter gar keinen Umständen mit uns kommen können. Dazu haben wir keine Macht. Virginia und Sie sollten nur erfahren, wie unmöglich es wäre, unter unserem Volk zu leben. Es war unsere Absicht, daß aus diesen Gründen Virginia uns nach Capella Vier begleiten sollte. Aber wir haben darüber nachgedacht und sind jetzt der Meinung, daß sie besser hier bei Ihnen bleiben sollte.« Martin sah Virginia an. In ihrem Gesicht spiegelte sich Überraschung wieder. Schon lag sie in seinen Armen, und er küßte sie. Dann wandte er sich Myza zu, der wieder zu sprechen begonnen hatte. »Durch dein Benehmen, Virginia, hast du bewie-
sen, daß du etwas weniger bist als eine Capellanerin. Es scheint, daß das schon immer so war. Vielleicht hat dich deshalb auch kein Capellaner als Mann interessiert. Weil du einen Erdenmann gefunden hast, der, wie du den Erdenmenschen ein wenig überlegen ist, glaubst du einen gefunden zu haben, der dir entspricht.« Myza schwieg, dann sagte er ernst: »Weil du so empfindest, hat das Triumvirat entschieden, daß du eine Erdenfrau werden sollst. So werdet ihr beide den primitiven Pfad hinuntergehen, von dem Martin Enders so beredt gesprochen hat.« »Ich – ich soll bestraft werden.« Virginia sah Myza unsicher an. »Ist das so?« »Als Capellanerin hast du die Gesetze gebrochen wie keine andere. Sollte es für dich eine Ausnahme geben? Wir sind nach langer Überlegung zu dieser Entscheidung gekommen. Du wirst natürlich deine Identität als Capellaner aufgeben müssen – das heißt, wenn du noch immer bei ihm bleiben willst.« »Ich habe noch die Wahl?« »Ja.« »Ich will bleiben«, sagte sie langsam. Myza zuckte die Achseln. »Wie du willst. Wir haben dir jede Möglichkeit geboten. Und wir könnten dich nicht mit uns nehmen mit dem Gedanken, daß du die Entscheidung nicht selbst getroffen hast.«
»Einen Augenblick«, sagte Martin. »Ja?« »Sie werden die Erde verlassen und dieses Ding, das Sie Denkkraft-Verstärker nennen, mitnehmen?« »Natürlich.« »Glauben Sie nicht, der menschlichen Rasse etwas zu schulden?« Myza überlegte. »Nein, ich möchte nicht sagen, daß wir das tun. Wir haben es auch bei früheren Kolonisationen, in denen die Lebewesen viel weiter fortgeschritten waren als eure, nicht getan. Es kann sein, daß sie sich entwickelt haben, es kann auch sein, daß sie abgesunken sind. Das ist zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Sicherlich wird sich das auch hier ereignen.« »Was ist es für ein Gefühl, Gott zu spielen?« fragte Martin. »Was ist es für ein Gefühl, einfach ein hilfloses Tier zu nehmen, es mit Intelligenz zu erfüllen, zuzusehen, wie es sich entwickelt, und dann seine Intelligenz herauszusaugen wie ein Blutsauger, um diese Intelligenz für sich zu bekommen?« »Werden Sie nicht emotional, Mr. Enders«, sagte Myza ruhig. »Aber Klell hat Ihnen doch schon den Wert Ihrer Rasse dargelegt, nicht wahr?« »Wie ich schon Mr. Klell gesagt habe, sind keineswegs alle Erdenmenschen schlecht. Auch ich bin nicht wie manche.« »Was wollen Sie denn, Mr. Enders?«
»Ich möchte eine bessere Kultur, eine dem Frieden ergebene Menschheit und Bruderliebe. Ich leugne gar nicht, daß wir primitive Neigungen haben, aber es sind viele von uns am Werk, unsere Welt zu verbessern. Warum geben Sie uns nicht eine Chance?« »Leider haben wir dazu keine Zeit«, sagte Myza. »Niemand von uns möchte bleiben und beobachten, wie sich alles entwickelt.« »Sie haben uns über eine große Strecke geholfen, warum wollen Sie uns nicht auch auf der letzten Wegstrecke helfen?« fragte Martin. »Mit Ihrer Hilfe können wir über das bisher Erreichte hinaus in eine neue Richtung wachsen – nämlich zueinander.« Myza schüttelte nur den Kopf. »Sie schlagen uns alle über einen Leisten«, sagte Martin. »Ihre Sache ist verloren, Martin Enders. Ich bewundere Sie wegen der Fürsprache für Ihr Volk, aber es ist unmöglich, was Sie verlangen. Und zwar deshalb, weil niemand von uns auf eurem rückständigen Planeten bleiben will.« »Virginia will bleiben.« »Eine Person kann keine so große Welt leiten. Außerdem würde Virginia als einzige Unsterbliche dort verrückt werden. Sie würde nach Wesen ihresgleichen hungern. Nein!« Myza schüttelte den Kopf. »Es würde nicht funktionieren.«
»Ich brauchte ja kein Erdenmann zu bleiben und könnte ihr helfen.« Myza sah Martin scharf an, also fuhr er rasch fort: »Sie haben erwogen, mich zu einem Capellaner zu machen, um mich mitnehmen zu können. Niemand war der Meinung, eine Transformation sei unmöglich. Sie wollten mich nur nicht haben. Warum können Sie mich nicht transformieren, damit ich Virginia helfen kann?« Myza lächelte. »Sie überraschen mich, Mr. Enders. Für einen Erdenmann haben Sie einen außergewöhnlichen Geist. Denn es gibt keine Antwort auf Ihre Frage«, sagte er ernst. »Warum nicht? Es wäre das erste Mal in seiner Geschichte möglich, daß der Mensch über seine zukünftige Entwicklung entscheidet. Es wäre möglich, wenn Sie meine Bitte erfüllten.« »Wenn es eine Entwicklung geben sollte, würde sie nur zu noch kriegerischerer Art führen. Möglicherweise würde sich der Mensch zu einer Bedrohung anderer Kulturen auf anderen Welten entwickeln.« »Nicht, wenn Virginia und ich die Menschheit anleiten«, sagte Martin ernst. »Sie schulden das den Menschen einfach, die sie aus ihrem Höhlendasein herausgeführt haben. Sie können jetzt helfen, daß wir den Schaden wieder gutmachen, den Sie für Ihre Kolonisation glaubten anrichten zu müssen. Warum
darf das Ziel nicht Friede und anständige menschliche Beziehungen sein? Warum können wir nicht dafür arbeiten, was für die Menschen gut ist? Wir könnten dem Menschen endlich das Leben bringen, von dem er seit Jahrhunderttausenden träumt, nach dem er sich sehnt. Virginia und ich möchten uns dem kommenden Zeitalter des Menschen widmen.« Myza studierte ihn lange mit kühlen Augen und zusammengepreßten Lippen. »Das ist ein edles Vorhaben«, sagte er schließlich. »Ein Plan, würdig eines Capellaners.« Er lächelte. »Sie lieben Ihr Volk, nicht wahr, Martin Enders?« »Das tue ich, das tue ich von ganzem Herzen, mit aller Kraft«, sagte Martin. »Ich habe alle Schwächen und alles Elend der Welt gesehen und erlebt. Ich weiß, was die Welt braucht, und habe genaue Vorstellungen von ihrem zukünftigen Aufbau. Ich glaube, man sollte Virginia und mir die Chance geben, den Versuch zu machen.« Myza seufzte. »Ich habe Sie hierherkommen lassen, um Ihnen zu sagen, daß Sie beide in einen primitiven Status zurückzukehren hätten. Jetzt haben Sie einen Plan angeboten, der das Gewissen der Capellaner beruhigen könnte und der menschlichen Rasse die Entwicklung möglich machen würde, die sie bei natürlicher Entwicklung in Millionen von Jahren genommen hätte.«
Der Capellaner spitzte die Lippen. »Das ist seltsam. Eine Idee von einem Erdenmann, und ich finde nur wenige Fehler daran. Nur eine Sache noch: Wie soll verhindert werden, daß Sie der eigentliche Diktator der ganzen Welt werden?« »Vermutlich besteht dazu keine Notwendigkeit. Soweit ich die Capellaner verstehe, gäbe es dafür keinen Grund, wenn ich die Eigenschaften eines Capellaners besäße. Ist es nicht so, daß Sie Ihre Umwelt bis zu einem gewissen Grade kontrollieren? Was würde ich mehr brauchen? Was könnten die Erdenmenschen mir geben, das ich nicht schon hätte oder das ich nicht schaffen könnte, vorausgesetzt, ich besäße eure Möglichkeiten und Fähigkeiten?« »Sie scheinen mir kein Mann mit latenten verbrecherischen Neigungen zu sein, Mr. Enders. Vielleicht könnten Sie und Virginia mit Ihrem Vorhaben Erfolg haben, das – nun – wohl auf so etwas wie eine wohltätige Diktatur hinausliefe, nicht wahr? Sie würden die Welt auf milde und heilsame Art beeinflussen. Sie würden Ihre Identität auch nicht offenbaren, oder?« »Nein«, bestätigte Martin. »Wenn wir Erfolg haben wollen, muß es so aussehen, als wären die Menschen für ihre Veränderung selbst verantwortlich.« »Gut.« »Da ist nur noch eine Sache, die mich quält«, sagte Martin.
Myzas Augenbrauen gingen ein wenig hoch. »Was ist das?« »Wenn ich verändert – transformiert – werden muß, möchte ich nicht gern denken, daß die dazu nötige Gedankenkraft vom Menschen kommt, die meinetwegen dahingeschlachtet wurden. Gibt es nicht eine andere Möglichkeit?« »Weil wir bereit sind, die Erde zu verlassen, hat es bei uns in letzter Zeit keine Geburten mehr gegeben. Deshalb steht jetzt von natürlich Gestorbenen genügend Gedankenkraft zur Verfügung, die zu Ihrer Transformation nötig ist.«
19 Ein kalter Herbstwind wirbelte die abgefallenen Blätter in dem kleinen Park auf, trug sie in buntem Durcheinander mit allerlei anderem Abfall durch die Luft, bis sie an einer Mauer, an einem Busch oder Baum stießen und wieder zu Boden fielen. Es war Mitternacht, und niemand hielt sich im Park auf. Der gelbe Schein der Straßenlampen ließ nichts erkennen außer einigen leeren Bänken. Gelegentlich eilte jemand, der von der Nachtarbeit kam, durch den Park, um den Weg abzukürzen. Diese Menschen hatten kein Interesse am Gras, an den Bäumen oder am Mond, der am Himmel durch die Wolken zog. Sie kamen nicht paarweise, sondern einzeln. Hatten die Mantelkragen hochgeschlagen, Nachtausgaben von Zeitungen steckten in den Taschen. Die Köpfe waren gebeugt. Aber halt! Das war wirklich etwas ganz Unzeitgemäßes: das Paar auf der Bank und beide ohne Mäntel. Vor einem Augenblick hatten sie noch nicht dort gesessen. »Ich meine noch immer, wir hätten an anderer Stelle materialisieren sollen«, sagte Virginia. »Erst hierher zu gehen, verzögert nur, was wir zu tun haben.« »Ich bin immer noch nicht daran gewöhnt«, antwor-
tete Martin. »Wie wollen wir denn wissen, daß er schläft?« »Wir können warten, wenn er es noch nicht tut. Oder wir können ihn in Schlaf versetzen.« »Es ist kalt.« »Muß es nicht sein. Mach dir doch einen Schutzmantel.« Martin lächelte ihr zu und tat es. Dann richtete er seinen Blick fest auf eine Rasenfläche auf der anderen Seite des Weges. »Was gibt es diesmal?« fragte sie. »Abwarten«, sagte er nur. »Ich weiß es schon.« Zwei Meter über dem Boden bildete sich plötzlich ein Lichtfunken, der eine elektrische Lampe wurde. »Das ist zu grell.« »Ich werde einen Schirm darübersetzen.« Schon war es passiert. »Keinen Pfahl für die Lampe?« »Ich kann doch nicht alles auf einmal machen.« Ein Stahlrohr, genau wie die übrigen im Park, wurde sichtbar und die Lampe, jetzt eine genaue Nachbildung der anderen, hing an der Mastspitze. Darunter war allerhand Bewegung. Metall, ein Hebel, Glas, ein großer Kasten. »Ich weiß nicht, wie diese Dinger funktionieren«, sagte er. Schließlich stand ein Spielautomat neben
dem Parkweg, von der Straßenlampe erleuchtet, die Martin geschaffen hatte. Plötzlich ging der Hebel herunter, die Räder drehten sich, und im Fenster erschienen drei Streifen. Im nächsten Augenblick wurde der Jackpot freigegeben, und die Münzen rollten aus dem Apparat auf den Weg. Sie klingelten, manche kamen bis zu ihren Füßen. »Macht es dir Spaß?« »Ich muß üben«, sagte er. »Du bist mir gegenüber im Vorteil. Hast das schon dein ganzes Leben lang getan.« »Hast du noch nicht genug gespielt? Wir haben zu arbeiten.« »Du bist einfach schon zu lange daran gewöhnt, als daß es dich noch reizen könnte. Für mich ist es neu.« »Na denn, ihr zwei«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »ist es nicht ein bißchen umständlich, dieses Ding mitten in der Nacht hierher in den Park zu bringen? Sie kommen mit ins Revier.« Der Polizist, den sie sahen, war ernst zu nehmen. »Ich vermute, Sie werden jetzt sagen, daß Sie alles erklären können«, sagte er. »Nun, Sie können es dem Richter erklären. Jetzt marsch, Sie kommen mit.« Martin sah Virginia beunruhigt an. Als er den Ausdruck ihrer Augen sah, begriff er. Der Polizist verschwand – und auch der Spielautomat. »Vergiß die Straßenlaterne nicht.«
Die Laterne verschwand. »Du hast mich wirklich einen Augenblick lang zum Narren gehalten«, sagte Martin erleichtert. »Ich dachte schon, wir wären in unsere erste Schwierigkeit geraten. Ich hätte mich um ein Haar entmaterialisiert.« Er rückte näher an sie heran, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie. »In dieser Beziehung brauchst du keine Nachhilfe«, sagte Virginia zwischen Küssen. Er schob sie ein wenig von sich und sah ihr tief in die Augen. »Was hältst du von Kindern?« »Du meinst – unsere Kinder?« »Ja. Wir möchten doch, daß es Capella-Kinder werden, nicht wahr?« »Man hat uns den Gedankenverstärker gelassen«, sagte sie. »Wir können die überschüssige Gedankenkraft jederzeit verwenden, wenn wir wollen – wenn wir Kinder haben wollen.« »Natürlich werden wir Kinder haben.« Er lehnte sich auf der Bank zurück. »Jetzt, wo ich weiß, wie es ist, möchte ich, daß sie genauso werden wie wir. Ich fühle mich so ganz – so wundervoll, weil mir die neue Dimension sehr viel mehr Raum gibt als die alte. Wie halten es die Leute nur aus, bloß einfache Menschen zu sein?« »Jetzt verstehst du, was wir von Erdenmenschen gedacht haben«, sagte sie. »Die Sache ist nur die, daß
Blindgeborene das Sehen nicht vermissen. Sie können es sich nicht vorstellen, wie es sein muß. Genau so ist es zwischen einem Menschen und einem Capellaner.« Martin nickte. »Wir werden eine Menge tun. Es gibt so viele Aufgaben.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Aber wir werden nicht immer hier sitzen bleiben.« »Das brauche ich noch besonders«, sagte Martin. »Ich kann die Wirkungen meiner Telekinese sehen, aber die Beeinflussung des menschlichen Verhaltens – das ist etwas, was ich noch üben muß.« »General Deems ist ein guter Anfang.« »Ich meine, wir müßten den Ärger, den wir dort verursacht haben, wirklich auslöschen. Glaubst du, daß er noch immer nach uns sucht?« »Ich bilde es mir ein.« »Ich hoffe, er spürt es nicht, wenn wir uns materialisieren.« »Du bist die einzige Person, der ich je begegnet bin, die diesen kalten Hauch gefühlt hat, der entsteht, wenn ein Capellaner seine Gedankenkraft einsetzt. Aber los jetzt.« Die beiden lösten sich auf. General Deems schlief in seinem großen Haus in Washington sehr fest. Wenn sich der General der plötzlichen Anwesenheit von Martin und Virginia bewußt war, ließ er es nicht erkennen. Er schlief weiter.
»Ich komme mir vor wie Dracula«, flüsterte Martin. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Virginia, »er wird dir aus der Hand fressen. Wenn du Schwierigkeiten bekommst, werde ich dir helfen.« Martin ging zum Bett hinüber und sah den Mann konzentriert an. »Waren Sie überrascht, als wir verschwanden, General?« fragte er. Der General erwachte und starrte ihn an. »Ja. Wo seid ihr zwei hingegangen?« Er setzte sich auf. »Wir hatten das Spiel satt. Was taten Sie, als wir verschwanden?« »Setzte den gesamten CIC auf eure Spur.« »Das war nicht sehr nett von Ihnen, General.« »Nein, war es vermutlich nicht.« Martins Herz tat einen heftigen Schlag. Er erinnerte sich an eine ähnliche Unterhaltung. Er war damals genau so gefügig gewesen wie jetzt der General. »Ich möchte, daß Sie sich an etwas erinnern, General.« »Ich werde mich daran erinnern«, sagte der General freundlich und willfährig. »Worum geht es?« »Virginia Enders und ich haben nichts Böses getan.« »Nein«, sagte der General, »das haben Sie natürlich nicht.« »Sie sind ein sehr beschäftigter Mann, General Deems. Sie sollten Ihre kostbare Zeit nicht damit vergeuden, sich um uns zu kümmern. Wenn man uns fängt, müßten Sie
gegen uns auftreten, und das würde Ihnen Zeit kosten, die Sie für Ihre anderen, viel wichtigeren Pflichten benötigen, nicht wahr?« »Ja, so wäre es.« »Deshalb werden Sie dem CIC befehlen, mit der Suche nach uns aufzuhören, nicht wahr?« »Natürlich werde ich das tun.« »Und dann werden Sie vergessen, daß Sie uns jemals gekannt oder unsere Namen gehört haben. Es wird so sein, als hätten wir nie existiert.« »Ab ob Sie nie existiert hätten. Ich werde daran denken.« »Das ist wichtig. Sie wollen doch keine Schwierigkeiten verursachen, nicht wahr?« »Nein.« »Gut. Was werden Sie also nun tun?« »Dem CIC befehlen, die Nachforschungen einzustellen, und vergessen, daß ich Sie jemals gekannt habe.« »Richtig. Und jetzt, General, werden Sie wieder schlafen.« Der General fiel auf sein Kissen zurück und schlief sofort ein. Unbewußt zog er die Decke über die Schultern. Er rührte sich nicht mehr. »Nun, wie war das, Virginia?« »Gut«, sagte sie. »Beinahe so gut, wie du Myza davon überzeugt hast, daß wir die Welt umkrempeln wollen. Aber erzähl mir nicht, daß ich das schon mal
gesagt habe. Ich werde darüber bis ans Ende der Zeiten sprechen.« »Virginia«, sagte er und kam zu ihr herüber. »Hab ich dir eigentlich schon gesagt, wie ätherisch schön deine Augen sind?« »Ja, aber das darfst du mir immer wieder sagen.« Das tat er. Als er fertig war, sah er sich nach dem schlafenden General um und lachte. »Das war leicht«, sagte er. »Aber jetzt habe ich große Pläne.« »Sind es die, an die auch ich denke?« »Du hast mir gesagt, daß ich alle Sprachen verstehe. Stimmt das?« »Das stimmt.« »Nun denn«, sagte er, ging zum Fenster und sah zum Mond hinauf, der durch den wolkigen Himmel zog. »Ich stelle mir vor, daß wir diesmal eine lange Reise unternehmen werden.« »Gut, worauf warten wir noch?« »Ich sehe schon die Schlagzeilen in den nächsten Tagen!« Er lachte und faßte ihren Arm. Sie verschwanden.