Seewölfe 136 1
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Nach dreitägiger Irrfahrt erreichten sie nachts die Insel. Daß es eine Insel war, wußte...
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Seewölfe 136 1
Fred McMason 1.
Nach dreitägiger Irrfahrt erreichten sie nachts die Insel. Daß es eine Insel war, wußte keiner der beiden, sie waren so benommen, ausgehungert und halb verdurstet, daß sie kaum merkten, wie ihr kleines Boot auf den Sand stieß, wie eine Welle es hochhob und schließlich ganz auf den flachen Strand trieb. Sie taumelten auf festes Land zu, warfen sich in den feinkörnigen Sand und blieben liegen. Mehr als zehn Stunden schliefen sie ununterbrochen. Dann wurde Virgil Romero von der Sonne gekitzelt und fuhr mit einem leisen Schrei hoch. Seine Lippen waren aufgeplatzt, die Haut gedunsen und seine Vorderzähne so locker, daß er sie ohne Mühe mit den Fingern hätte heraus ziehen können. Sein Schrei weckte Antonio, den Steuermann, und dieser Schrei wirkte so ansteckend, daß Antonio ebenfalls aufsprang und in wilder Panik davonlaufen wollte. Virgil hielt ihn fest und starrte in das vertraute Gesicht, das jetzt so fremd wirkte. Ein vier Tage alter Bart aus schwärzlichen Stoppeln bedeckte das Gesicht des Steuermanns. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen lagen tief in den Höhlen, und Salzwasser und heiße Sonne hatten sein Gesicht verbrannt. Virgil sah die Haut in Fetzen von diesem Gesicht herunterhängen. „Wir sind — in Sicherheit“, sagte er mühsam lallend. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen, sein Hals brannte bis hinunter in den Magen. „Ich habe entsetzlichen Durst“, klagte Antonio und sah sich wieder gehetzt um. Niemand war zu sehen. Anscheinend waren sie allein. Man hatte sie auch nicht mehr verfolgt, seit ihrer überstürzten Flucht. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, daß es hier keine Kopfjäger mehr gab. Vor ihnen dehnte sich weißer Strand, knapp eine halbe Meile lang. Dann schien
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der Strand hart nach links zu laufen und verschwamm vor ihren Blicken. „Ich glaube, wir sind auf einer Insel“, sagte Virgil. „Und diese Insel scheint verdammt klein zu sein.“ „Durst“, murmelte der Steuermann schwach. „Nur einen Tropfen Wasser, es zerfrißt mir die Eingeweide.“ Seine tief in den Höhlen liegenden Augen glänzten fiebrig, seine pelzige Zunge schob sich zwischen den Lippen hervor und versuchte sie zu benetzen. An Bord der „Nuestra Madonna“ war er immer der harte Kerl gewesen, dachte Virgil. Da hatte er die anderen wissen lassen, wer der Steuermann war, und nicht gezögert, brutal hinzulangen, auch wenn kein besonderer Anlaß vorhanden gewesen war. Aber jetzt war er ein kraftloses Bündel, halbtot vor Angst und dem Wahnsinn nahe. Ein Feigling, dachte Virgil, einer der sich nicht mehr zurecht fand. Am liebsten hätte er es diesem Lumpenhund heimgezahlt, doch hier war nicht der richtige Ort und nicht die Zeit dafür. Sie waren aufeinander angewiesen und mußten zusammenhalten, wenn sie überleben wollten. Und, verdammt, sie wollten überleben, nachdem sie diesen Teufeln in Menschengestalt entkommen waren. „Zuerst das Boot auf den Sand“, sagte Virgil, „sonst treibt es ab, und wir sind erledigt.“ „Zuerst Wasser“, protestierte der Steuermann schwach. „Zuerst das Boot!“ schrie Virgil. Der Steuermann fügte sich widerspruchslos. Es wurde eine höllische Plackerei, das leichte Boot höher auf den Sand zu ziehen, bis die Wellen es nicht mehr erreichten. Mit letzten Kräften schafften sie es. Virgil beschwerte den Anker, den er in den Sand grub, zusätzlich mit einem Stein. „Wasser“, jammerte der Steuermann. „Ich will nicht krepieren.“ „Verdammt noch mal, ich auch nicht. Steh jetzt auf, dann suchen wir Wasser“, sagte
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Virgil und riß den apathisch da hockenden Steuermann an den Armen hoch. Mehr taumelnd als gehend, manchmal auf allen vieren kriechend, bewegten sie sich am Strand entlang. Über ihnen flirrte erbarmungslos die Sonne, der Sand heizte sich auf. Kleine Krebse flohen vor ihnen und verschwanden eilig in den Sandlöchern, wenn die Männer sich näherten. Sie erreichten die Stelle, wo der Strand aufhörte und nach links lief. Dicht hinter dem Strand standen ein paar Palmen, niedrige Büsche und kleine Blumen, deren blutrote Blüten einen entsetzlichen Duft verbreiteten. Virgil kniff die Augen zusammen. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Brust, aber er riß sich zusammen und kroch weiter. Nach einer weiteren halben Meile bot sich ihnen immer noch das gleiche Bild. Es gab ein paar Palmen, einige Sträucher und eine größere Bodenerhebung, die dicht bewachsen war. „Wir gehen im Kreis“, sagte der Steuermann, „da vorn liegt ein Boot.“ „Ja, da vorn liegt ein Boot“, sagte Virgil schweratmend. „Und das ist das Boot, mit dem wir hier gelandet sind. Jetzt weißt du, wo wir sind, und ich weiß es auch. Der liebe Gott persönlich hat uns in den Arsch getreten.“ Der Steuermann begriff immer noch nicht. Sein zitternder Finger deutete auf das Boot. „Sie holen uns, diese Teufel!“ schrie er. Wie besessen rannte er plötzlich los, doch schon nach wenigen Schritten fiel er kraftlos in den Sand und heulte. Virgil hockte sich neben ihn, seine Augen waren leer, glanzlos und starrten in die Ferne, wo sich bis zum Horizont nichts weiter als eine endlos glitzernde Wasserfläche erstreckte. „Eine Insel“, murmelte er, „eine kleine verdammte Insel, und es gibt nicht einen einzigen Tropfen Wasser.“ Blicklos waren seine Augen auf das Boot gerichtet. Sie hatten die winzige Insel einmal in ganz kurzer Zeit umrundet und
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befanden sich jetzt wieder am Ausgangspunkt. Wasser? Davon hatten sie mehr als genug, es ließ sich nur nicht trinken. An die Kokosnüsse, die in den Palmwedeln hingen, reichten sie nicht heran. Die befanden sich in unerreichbarer Ferne. „Ich will was zu trinken“, jammerte der Steuermann nach einer Weile erneut und zerrte wütend an Virgils Arm. Der stieß ihn hart von sich und schrie ihn mit hochrotem Kopf an. „Es gibt hier kein Wasser, verdammt! Hier hat es nie welches gegeben, und es wird auch nie etwas geben. Wir werden hier verrecken, todos lossantos.“ Die Hitze wurde immer unerträglicher. Antonio lag im Sand und rührte sich nicht. Virgil schleppte sich kraftlos zu der Kokospalme hinüber und ließ sich in deren Schatten fallen. Der Durst höhlte ihn aus, fraß in ihm und trocknete das Blut in den Adern, bis er glaubte, er bestände nur noch aus Staub. Spätestens morgen würden sie elend krepieren, wenn nicht ein Wunder geschah. In dieser Gluthitze überlebte man nicht lange, wenn es kein Wasser gab. Er sah sich um, starrte auf die übelriechenden Blüten und dachte nach. Wenn hier Blumen wuchsen, mußte es auch Wasser geben, eine winzige kleine Quelle nur, wovon sonst sollten sich diese Pflanzen ernähren? Er begann mit der Suche, dabei warf er immer wieder einen Blick zu den großen Nüssen, die in schwindelerregender Höhe über ihm in dem Wedel der Palme hingen. Sie waren noch nicht ganz reif, aber das war nicht weiter wichtig. Wichtiger war, wie man sie kriegte. Zuerst buddelte er mit beiden Händen wie besessen in dem Sand bei den Pflanzen, doch der Sand war trocken und heiß, und von dem Geruch, den die Blüten verströmten, wurde ihm schlecht. „Madre de Dios“, betete er laut, „laß es auf dieser beschissenen Insel Wasser geben! Jeden Tag nur einen Schluck!" Er wühlte weiter wie ein Tier. Er hatte ein tiefes Loch gebuddelt, über dem er mit
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dem Oberkörper hing. Schweiß rann ihm über das Gesicht, verklebte ihm die Augen, aber er gab nicht auf und grub weiter, bis seine Hände auf etwas Kühles stießen. Seine Finger wurden feucht, dann naß. Mit einem irren Auflachen erkannte er vor sich tief im Boden ein Rinnsal, das aus dem Sand quoll und einen Teil des Bodens bedeckte. Als er sich vorbeugen wollte, wurde er zur Seite gerissen. Eine Hand packte ihn, schleuderte ihn fort, ein Fuß trat nach ihm. Der Steuermann warf sich in das Loch. Sein Gesicht war vom Wahnsinn gezeichnet, seine Hände hielt er wie Klauen gestreckt abwehrbereit zur Seite. Virgil hatte seine letzten Kräfte verbraucht. Er lag halb auf der Seite im Sand und stöhnte leise. „Du verdammter Hund“, murmelte er immer wieder. „Laß mir auch einen Schluck, ein paar Tropfen nur!“ Antonio zuckte zurück, als hätte er einen Hieb ins Gesicht erhalten. Erstaunlich rasch kroch er aus dem Loch heraus, Sand auf den Lippen, in den Augen. Sandige Brühe troff ihm aus dem rechten Mundwinkel, und er spuckte. „Salzwasser!“ heulte er laut. „Und ich habe fast alles gesoffen.“ Virgil konnte kein Mitleid mit ihm empfinden. Der Steuermann hätte ihm keinen Tropfen übriggelassen, wäre es Süßwasser gewesen. Der Steuermann erbrach sich, aber so sehr er auch zuckte und bebte, er brachte nur ein paar Tropfen heraus. Das schwächte ihn so, daß er wieder in den Sand fiel und sich nicht mehr rührte. Auch Virgil wollte sich erschöpft und ausgelaugt wieder in den Schatten lehnen, als ihn ein Gedanke durchzuckte, der seine Lebensgeister schlagartig aufpeitschte. Im Boot lag eine Muskete! Er lief los, stolperte, fiel der Länge nach hin und raffte sich wieder auf, bis er das Boot erreichte. Ja, die Muskete lag noch da, sie hatten sie auf ihrer überstürzten Flucht mitgenommen, als sie sich gegen die Wilden gewehrt hatten. Mit der Muskete
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konnte er ein paar Kokosnüsse herunterschießen, und wenn sie nur eine oder zwei erwischten, dann würde das in jedem Fall ihr Leben verlängern. Virgil hatte von einem spanischen Schiffbrüchigen gehört, daß man ein ganzes Jahr lang leben konnte, wenn man jeden Tag nur eine einzige Kokosnuß verzehrte. Die nächste Enttäuschung versetzte ihm einen fast körperlich spürbaren Schlag. Das Pulver war naß und matschig, ein unbrauchbarer dunkler Brei. Er goß die dunkle Suppe vorsichtig auf die Ducht und wartete darauf, daß die Sonne es trocknen möge. Antonio rührte sich nicht. Es hatte den Anschein, als würde er den morgigen Tag nicht mehr erleben, und er selbst, Virgil, konnte sich trotz seiner besseren Kondition ausrechnen, wann es auch mit ihm soweit war. Er fühlte sich hundeelend und war den Tränen nahe. Einmal begann er laut zu fluchen, dann wieder betete er laut und inbrünstig, und schließlich verfluchte er Gott und die Welt. Drei Tage hatten sie gebraucht, um diese verdammte Insel zu erreichen. Drei Tage mindestens würden sie auch wieder brauchen, um zum Festland zu gelangen, wo es Trinkwasser gab. Aber da gab es auch die Kopfjäger und Menschenfresser, die sie unbarmherzig jagen würden. Nein, es war nicht zu schaffen, entschied er. Sie würden auf See verdursten oder hier, es blieb sich gleich. Hier hatten sie wenigstens die Wilden nicht zu fürchten. Alle Augenblicke sah er nach, ob das Pulver trocken war. Es klebte langsam zu einer kuchenartigen Masse zusammen, war im Innern aber immer noch feucht. Die Hitze nahm zu. Mörderisch heiß schickte die Sonne sengende Strahlen zur Erde. Selbst im Schatten war es kaum zum Aushalten. Die heiße und schwüle Luft legte sich beklemmend auf die Lungen. Gegen Mittag zerbröselte Virgil einen Teil des Pulvers und lud mühsam und mit gequollenen Händen die Muskete.
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Doch das Pulver entzündete sich nicht, er konnte tun, was er wollte, es gab keinen Blitz, nichts. Wütend und enttäuscht warf er die Muskete ins Boot zurück. Danach versuchte er es mit Steinen, und als er damit ebenfalls keinen Erfolg hatte, rüttelte er wie besessen am Stamm der Palme, ohne daß es etwas einbrachte. Schließlich versuchte er sie zu erklimmen. Er schaffte nur ein paar Schritte, dann hielten seine Hände nicht mehr fest, er konnte nicht zupacken, verlor den Halt und stürzte kopfüber in den heißen Sand. Der Tobsuchtsanfall, der dann folgte, zehrte seine letzten Kräfte auf. Dort hoch oben hing das, was sein Leben verlängerte, kühle süßliche Milch, die seinen Durst löschte, Fruchtfleisch, das seinen Hunger stillte, aber es war so weit entfernt wie der Mond. Zwei Stunden lang lag er reglos da, mit pochendem Herzen, rasselndem Atem und jagenden Lungen, dann verfiel er auf die Idee, den Stamm der Palme zu kappen. Er kroch zu dem Steuermann hinüber und riß ihm das Messer aus dem Hosenbund. Antonio rührte sich nicht, er hatte sich in der letzten Zeit überhaupt nicht mehr bewegt. Vielleicht war er tot, oder das Salzwasser hatte ihm den Rest gegeben. Mit dem Messer hieb er wütend und knurrend wie ein gereizter Hund immer wieder in den Stamm der Palme. Er hieb zu, als hätte er seinen Todfeind vor sich, immer und immer wieder. Aus dem zerfetzten Stamm rann etwas Flüssigkeit. Virgil preßte die aufgesprungenen Lippen daran und begann gierig zu saugen. Er spürte, wie neue Kraft in ihm aufloderte, und wie besessen hackte er weiter. Er hatte nicht gedacht, daß das Holz dieser Palme so unglaublich hart und zäh war und sich immer nur winzige Späne herausfetzen ließen. Aber mit dem weiteren Abspänen sickerte auch immer wieder etwas von dieser Flüssigkeit aus dem Stamm, die ihm neues Leben verlieh.
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Nach einer Ewigkeit hörte er auf. Diese Arbeit war allein nicht zu schaffen, und er sah nicht ein, daß sich der lausige Steuermann im Sand ausruhte und nichts zur Arbeit beitrug. Schließlich kam er ja auch in den Genuß der Früchte, sobald die Palme gefällt war. Er stieß ihn mit dem Fuß an. „Steh auf“, sagte er heiser. „Hilf mir, den Stamm zu fällen, du fauler Hund! Dann haben wir Milch, kühle Milch!“ Antonio ächzte leise und sah aus blicklosen Augen in den Himmel. „Wasser!“ brüllte Virgil ihn an, um seine Lebensgeister zu mobilisieren, doch der Steuermann begriff nicht mehr, was er wollte. Ein häßliches Grinsen hatte sich um seine Mundwinkel eingekerbt, in den blicklosen Augen lag ein fast spöttischer Ausdruck. Virgil zuckte mit den Schultern und wollte sich abwenden. Geschieht dem Kerl ganz recht, sagte eine innere Stimme in ihm. Um den ist es nicht schade. Warum sollst du dich mit ihm abrackern? Aber da war auch noch eine andere Stimme, und die appellierte an sein Gewissen. Du kannst ihn nicht verrecken lassen. Ihr seid durch tausend Höllen gegangen. Hilf ihm! Gib ihm etwa zu trinken! Virgil ließ sich auf die Knie fällen und starrte in das auf gedunsene dreckige Gesicht des Mannes. Helfen! Hatte das noch einen Sinn? Der Steuermann würde es doch nicht überleben. Weshalb sollte er den kostbaren Saft mit ihm teilen. „Grins nicht so!“ fuhr er ihn an, doch dann hatte die andere innere Stimme gesiegt. Mühsam, fluchend und schwitzend, schleppte er den Mann zu der Palme hin und drückte sein Gesicht an den Stamm, hielt ihn im Genick fest und drückte. Antonio hieb in wilder Gier die Zähne in den Stamm, seine Lippen preßten sich darauf, er stöhnte leise. Als Virgil ihn losließ, fiel er zurück in den Sand.
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Etwas später, die Sonne stand jetzt senkrecht am Himmel, brach das Messer ab. Virgil starrte es ungläubig an, lachte heiser und begann am ganzen Körper zu zittern. „Das darf nicht sein“, stammelte er, „Madonna, gib, daß es nicht wahr ist!“ Ein kleiner scharfkantiger Stumpf ragte nur noch aus dem Heft. Zuerst wollte der spanische Seemann aufgeben, aber der Palmensaft hatte doch seine Lebensgeister geweckt und ihn ermuntert. Diablo, vielleicht geht es auch mit diesem Stumpf hier, überlegte er. Er brachte es nicht fertig, sich einfach hinzulegen und auf das Ende zu warten. Er wollte kämpfen, solange noch ein winziger Funke Leben in ihm war. ' * Nachts wurde es unangenehm kühl. Tagsüber war die Hitze nicht zum Aushalten gewesen, doch jetzt kroch eisige Kälte durch Virgils Körper. Er hockte vor der Palme, wiegte seinen Oberkörper und stieß den Messerstumpf rhythmisch in das faserige Holz. Immer wieder hieb er zu, bis der Mond über dem Wasser stand und silbrige Muster auf die kleinen Wellen zeichnete. Ein paarmal schlief er vor Erschöpfung ein. Wenn er dann erwachte, rasten heiße und kalte Wellen durch seinen Körper. Fieber, dachte er, das Fieber hat mich gepackt, deshalb friere und schwitze ich abwechselnd, denn in diesen südlichen Breiten wurde es nachts gar nicht kalt. Als der Morgen über dem Meer heraufdämmerte, erwachte Virgil schweißgebadet. Alpträume hatten ihn geplagt. Wilde waren hinter ihm hergelaufen und hatten versucht, seinen Kopf abzuhacken, wie sie es bei den anderen getan hatten. Fieber schüttelte ihn. Er biß die Zähne aufeinander und fror erbärmlich. Dann sah er nach dem Steuermann, blickte in die grinsende Fratze, sah die offenen Augen, die blicklos in den Himmel
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starrten, und wußte, daß Antonio kein Wasser mehr brauchte. Der Steuermann war tot. Virgil befand sich jetzt allein auf einer winzigen Insel irgendwo in der Nähe der Insel Kalimantan. „Eine Toteninsel“, sagte er kichernd. Dann deutete er mit dem ausgestreckten Finger auf den toten Antonio. „Du hast dich davongeschlichen“, sagte er anklagend, „bist einfach abgehauen. So einfach hast du dir das gemacht!“ Er befand sich in einem merkwürdigen Zustand zwischen Schlafen und Wachsein, einem Halbdämmer, das die Konturen der Insel verzerrte, das den Toten mitunter hoch in den Himmel zu heben schien. Manchmal stand auch die ganze Insel auf dem Kopf oder schwebte zwischen weit entfernten Wolken am Horizont dahin. Dann wankte er über die Insel, durchquerte sie, lief am Strand entlang und suchte erneut nach Wasser oder Tieren. Aber auf der kleinen Insel gab es keine Tiere. Kein Vogel war zu sehen, nichts regte sich zwischen den kleinen Pflanzen. Er war allein in einer unwirklichen Stille, allein mit Antonio, der sich so heimlich davongeschlichen hatte. Vielleicht bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dachte er, wenn er einen lichten Augenblick hatte. Immer wieder irrte er umher, blickte sehnsüchtig zu den Kokosnüssen und kratzte mit dem abgebrochenen Messer weiter am Stamm der Palme. Am dritten Tag hatte er es immer noch nicht geschafft. Der Stamm war teilweise zerfetzt, aber er fiel nicht um, und er gab auch nur noch ein paar Tropfen von dem Saft her, der sein Leben rettete. Müde, mit knurrendem Magen erklomm er die kleine Erhebung der Insel und blickte sich aus glanzlosen Augen um. Wasser, wohin das Auge sah. Wasser, auf dem goldene Strahlen tanzten, das von silbrigen Wellen glitzerte, Wellen so klein wie krause Haare. Ein Schreck durchzuckte ihn plötzlich, als er das Schiff sah. Es lief mit vollen Segeln aus nördlicher Richtung genau auf die Insel zu. Es war ein
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Dreimaster, der eine mächtige Bugwelle vor sich herschob. Und die Segel waren so, prall vom Wind gefüllt, daß die Masten sich unter dem Druck bogen. Es ging nur kein Wind, überlegte Virgil. Wie konnte das Schiff also so schnell segeln? Mit klopfendem Herzen lief er zum Strand hinunter und wartete. Doch als er einmal einen Blick auf Antonio warf und dann wieder zum Meer blickte, war das Schiff verschwunden. Er konnte es nicht glauben, suchte wieder den Hügel auf, sah nach allen Himmelsrichtungen. Nichts, es gab kein Schiff, es hatte nur in seiner Phantasie existiert, oder er war einem Trugbild zum Opfer gefallen. In der Nähe der Palme lag ein ekelhafter süßlicher Geruch in der Luft, der sich wie eine Wolke am Boden ausgebreitet hatte. Sein leerer Magen drehte sich um, es würgte ihn, und als er ein paar Schritte in Antonios Richtung ging, wußte er, woher der ekelhafte Geruch stammte. Die Sonne zersetzte Antonios Körper. Apathisch aß er von den Fasern des Palmenstammes, kaute sie und schlang sie hinunter. Danach ging er wieder an die Arbeit, aber der Geruch wurde immer unerträglicher. Er hielt es schließlich nicht mehr aus, so übel wurde ihm, aber er konnte diesen Platz auch nicht verlassen, denn nur hier hingen die halbreifen. Kokosnüsse. Also mußte Antonio weg. Es kostete ihn außer Kraft auch Überwindung, den toten Steuermann an den Armen zu packen und ihn ins Wasser zu schleifen. Dabei hatte Antonio immer noch dieses höhnische Grinsen im Gesicht, als lache er ihn aus. Erst im Wasser wurde der Körper leichter. Virgil ging so weit mit ihm hinaus, bis er nicht mehr stehen konnte. Dann ließ er den Steuermann treiben, der auch gleich unterging. Jetzt konnte er seine mühevolle Arbeit fortsetzen, doch kaum hatte er den Strand erreicht, als er Getümmel im Wasser sah.
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Um die Stelle, an der Antonio versunken war, huschten Schatten hin und her. „Haie“, sagte er heiser. „Gott sei deiner armen Seele gnädig, Steuermann!“ Bis zum Abend hatte er es immer noch nicht geschafft, die Palme zu fällen, und so gab er es für heute auf. Morgen würde der Stamm stürzen, er schwankte jetzt schon, wenn man an ihm rüttelte. Doch in dieser Nacht fand Virgil nur wenig Schlaf und warf sich alle Augenblicke unruhig hin und her., Er hatte Angst, denn er sah, wie der Steuermann wieder an den Strand zurückkehrte und dicht am Wasser liegenblieb. Ein Bein und der rechte Arm fehlten. Auch am nächsten Morgen lag er noch so da, und Virgil verfluchte ihn und die Haie, die es nicht geschafft hatten, ihn draußen zu behalten. Verbissen nahm er sich wieder den Stamm vor. Der Durst ließ ihn halb wahnsinnig werden, an den nagenden Hunger dachte er nicht mehr. Nur einen Schluck Wasser, einen winzigen nur, so betete er ständig vor sich hin. Gegen Mittag schrie er vor Freude laut auf. Im Stamm war ein hartes Knacken zu hören, die Palme neigte sich und stürzte dann in den Sand. Virgil fühlte sich wie neugeboren, als er zu dem großen Wedel rannte und wie ein Irrer, laut kreischend, grüne Kokosnüsse abriß. Er warf sie in die Luft, tanzte herum und lachte, riß immer wieder die Arme hoch und gebärdete sich wie toll. Mit feierlichem Ernst ging er daran, eins der drei Löcher mit dem Messerstumpf aufzubohren. Dann setzte er die Nuß an die Lippen und trank gierig, schlürfte und schmatzte. Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung gab sie nicht viel her. Es war wirklich nur ein winziger Schluck, nicht einmal ein Mundvoll. Doch er labte ihn, und so zerschlug er die Nuß und fiel gierig über das harte Fleisch her. Die leeren Schalen warf er in den Sand und öffnete die nächste, etwas später die dritte.
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Erst nach der vierten Nuß sah er sich ernüchtert um. Jetzt hatte er noch sieben, mehr hatte die Palme nicht getragen. Wenn er jeden Tag nur eine Nuß aß, konnte er sieben Tage überleben, rechnete er sich aus. Trieb er es aber so wie heute, dann war seine Zeit in zwei Tagen abgelaufen, denn die Nüsse an den beiden anderen Palmen, die noch auf der Insel wuchsen, waren erst winzig klein und noch lange nicht reif. Diese hier schien einen besonders günstigen Standort zu haben. An einem der nächsten Tage ging die Veränderung mit Antonio rapide voran. Sein Fleisch zerfiel und die Knochen wurden sichtbar. Dieser grausige Anblick veranlaßte Virgil, auf die andere Seite der Insel zu gehen. Begraben konnte er den Steuermann nicht, dazu fehlte ihm jegliches Gerät, und mit den Händen ein Loch in den steinigen. Sand zu buddeln, dazu konnte er sich nicht durchringen, denn dann mußte er ihn anfassen. Seine restlichen drei Kokosnüsse nahm er mit und hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Aus den mittlerweile trockenen Wedeln der Palme hatte er sich im Sand ein Lager bereitet, in das er abends hineinkroch und sich wie ein krankes Tier versteckte. Er wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Noch fühlte er sich einigermaßen wohl, das Fieber hatte sich nicht mehr gemeldet, aber die grelle Sonne ließ seine Haut aufplatzen und überall kleine Wunden entstehen. Immer wieder achtete er auf Wolken, die Regen versprachen, doch wenn wirklich mal eine am fernen Horizont auftauchte, dann war sie etwas später schon wieder verschwunden. Wie lange er sich jetzt auf der Insel befand, wußte er nicht mehr. Vielleicht eine Woche? Er hatte jeglichen Zeitbegriff verloren. Danach ging es ständig mit ihm bergab. Ein paar Tage war er, wie in Trance versunken, auf der Insel herumgelaufen, dann wieder beschäftigte er sich stundenlang mit dem Pulver und der Muskete. Einen Sinn darin sah er nicht, er konnte keine Tiere jagen und die Muskete
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auch nicht verwenden. Dennoch gab er sich mit einem Eifer der Sache hin, der an Wahnsinn grenzte. Mitunter verlor Virgil das Bewußtsein, wachte dann irgendwo am Strand wieder auf und begriff nicht, wo er sich befand. Er starrte auf das Gerippe des Steuermanns und sprach mit ihm. „Wir müssen zurück, Steuermann“, sagte er dann, „die warten bestimmt nicht länger auf uns. Los, steh auf!“ Da Antonio keine Anstalten unternahm, aufzustehen, brüllte und schrie er mit ihm, nannte ihn einen gottlosen Nichtstuer und faulen Lumpenhund, der sich nur ausruhen wollte, ohne an seine Pflicht zu denken. Wahnsinn befiel ihn. Er sah Schiffe auf dem Meer fahren, sah Seeleute, die ihm zuwinkten, und erblickte große Fässer an Deck, die mit klarem frischen Wasser gefüllt waren. Und als er bittend die Hände ausstreckte und ihm niemand etwas zu trinken gab, nahm er die Muskete und feuerte auf das Schiff. Danach brach er zusammen. 2. Der Kapitän der Zweimastgaleone „Tierra“, Jesus Maria de Aragon, blickte seit einer Viertelstunde durch das Spektiv und musterte das lächerlich kleine Eiland, das sich an Backbord befand. Zu sehen gab es nicht viel. Dicht am Wasser lag eine umgestürzte Palme, ein paar Büsche befanden sich in der Nähe und etwas Dunkles lag in Wassernähe. Aber sie alle hatten deutlich einen Knall gehört, dessen Ursprung nur von dieser kleinen Insel stammen konnte. De Aragon gab dem Rudergänger Befehle, und die Galeone, die mit achterlichem Wind auf Südostkurs lief, ging in den Wind und luvte an. „Es muß jemand auf dieser Insel sein“, sagte De Aragon zu seinem ersten Offizier. „Jeder von uns hat diesen Schuß gehört.“ „Si, Capitan“, erwiderte Lopez, „der Schuß war deutlich zu hören, aber vielleicht war es die Palme am Strand, die umstürzte und diesen Knall vortäuschte.“
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De Aragons Lippen wurden zwei schmale Striche. „Verursachte, wollten Sie sagen, Senor Lopez“, verbesserte der Capitan. „Aber es geht schlecht an, daß eine Palme umstürzt und man den Knall erst sehr viel später hört. Lassen Sie dort vorn Anker werfen. Nehmen Sie das Boot, zwei Männer und rudern Sie hinüber. Ich will wissen, was da vorgeht.“ Lopez nickte, schüttelte aber anschließend sofort den Kopf. „Wie soll dort jemand überleben, Capitan?“ fragte er leise. „Das weiß Gott allein, Lopez, deshalb werden wir nachsehen.“ Die Tiefe in Inselnähe ließ sich nicht aussingen, es mußten mehr als hundert Faden sein. De Aragon verzichtete auf das Ankermanöver und ließ die „Tierra“ in den Wind gehen. Lopez und zwei Männer bestiegen etwas später das Boot und pullten durch mäßig bewegte See dem Inselchen entgegen. De Aragon lehnte am Schanzkleid des Achterkastells und verfolgte das Geschehen mit dem Spektiv. Die anderen Männer der Crew blickten ebenfalls zu dem Landstrich hinüber. Der Ausguck wurde gewechselt, der Posten enterte ab und ließ sich beim Capitan melden. „Es ist möglich, daß ich mich täusche, Senor Capitan“, sagte er, „aber es hat den Anschein, als läge auf der anderen Seite der Insel ein kleines Boot. Man kann über die Insel blicken, aber ein paar Sträucher verdecken die Sicht.“ „Sie sind sich nicht sicher?“ „Nein, deshalb verzichtete ich auf eine Meldung. Wenn es ein Boot ist, dann ist es nicht größer als eine Nußschale.“ „Lopez wird es entdecken“, murmelte der Capitan, „er wird die Insel ganz sicher umrunden.“ Lopez ließ zuerst auf den Strand zuhalten. Die Insel veränderte ihr Gesicht, sobald man näher heranpullte. Anfangs sah sie langgestreckt aus, dann wieder beschrieb sie einen Bogen. Jedenfalls wanderte die umgestürzte Palme aus seinem Blickfeld.
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Es hatte den Anschein, als wandere sie heimlich davon. Verblüfft über das Phänomen schüttelte er den Kopf. Die Insel ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen. „Da liegt jemand“, sagte er laut, und die beiden Seeleute wandten die Köpfe, um an Land zu blicken. „Weiterpullen!“ herrschte Lopez sie an. „Etwas mehr nach Backbord, ihr Strolche!“ Das Boot lief knirschend auf den Strand, und Lopez sprang mit einem Riesensatz in den körnigen Sand. Zwischen niedrigen Büschen erkannte er eine Gestalt und zuckte zusammen, als er das Gesicht und den Körper sah. Die beiden Seeleute, die ihm schweigend gefolgt waren, bekreuzigten sich hastig. Breitbeinig blieben sie vor dem ausgemergelten Mann stehen, der sich nicht rührte. Neben ihm im Sand lag eine Muskete, aus der der kürzlich erfolgte Schuß stammen mußte. Aber hatte dieser Mann überhaupt noch die Kraft gehabt, eine Muskete abzufeuern? Seinem Zustand nach zu urteilen, war das einfach unmöglich. Sein Gesicht war eingefallen wie das einer Mumie, die Augen lagen in tiefschwarzen Höhlen, und ein struppiger, mit Sand verklebter Bart bedeckte sein ausgemergeltes Gesicht, von dem Hautfetzen herunterhingen. Der Mann bestand fast nur noch aus Haut und Knochen, überall an seinem Körper waren eitrige Wunden zu sehen. „Ein Landsmann von uns“, sagte Lopez erschüttert. Er sah es an der zerfetzten Kleidung, die ebenfalls nur noch aus traurigen Resten bestand. Er bewegte sich nieder, horchte an der Brust des unbekannten Mannes und richtete sich wieder auf, nachdem er schweigend genickt hatte. „Er lebt noch, wahrscheinlich ist er halb verdurstet und verhungert, und vielleicht kriegen wir ihn nicht mehr durch. Aber der Capitan wird sicher gern seine Geschichte hören. Nehmt ihn vorsichtig auf und bringt
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ihn ins Boot. Einer bleibt bei ihm, der andere geht mit mir zur Südseite hinüber.“ Unendlich vorsichtig wurde der Bewußtlose aufgehoben und zum Boot getragen, wo sie ihn hinlegten. Normalerweise hätte Lopez jetzt schnellstens zurückkehren müssen, denn jede Minute zählte für den Unbekannten. Aber er sagte sich, daß es jetzt auch nicht mehr darauf ankäme, denn genauso gut hätten sie die Insel ja auch etwas später anlaufen können. Mit eiligen Schritten lief er voraus, bis er die Insel zur Hälfte umrundet hatte. Dann sah der Seemann, wie Lopez stehenblieb, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen. Daß dort ein kleines Boot lag, registrierte er fast nur im Unterbewußtsein. Aber er sah den Mann oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war, und er schluckte hart. Vor ihnen im Sand lag ein Gerippe, an dem nur noch ein paar Fetzen ausgedorrtes Fleisch hingen. Reste einer zerfetzten Hose bedeckten die unteren Knochen. Lopez sagte kein Wort, stumm blickte er auf das Gerippe und wandte sich dann um, um nach dem Boot zu sehen. Dabei fiel sein Blick auch auf die umgestürzte Palme, und er entdeckte die Schalen von zerschlagenen Kokosnüssen. „Furchtbar“, stammelte der Seemann. „Sie hatten kein Wasser und nichts zu essen. Dann lieber im Kampf fallen.“ „Du sagst es“, murmelte Lopez. Das Boot war leicht angeschlagen, es zog Wasser, aber es war noch bedingt seetüchtig. Am Heck fand er den Namen und zuckte unwillkürlich zusammen. „Nuestra Madonna“, stand da in eicht verwaschener Farbe. „Schnell, zurück an Bord“, sagte er, drehte sich um und lief los. Er achtete nicht darauf, ob der Seemann ihm folgte. ,Nuestra Madonna', dachte er immer wieder, als er in das Beiboot sprang. Der Spanier aus Cadiz war mit ihnen zusammen vor mehr als zwei Jahren losgesegelt. Das letzte Mal hatten sie ihn auf einer der japanischen Inseln getroffen.
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Etwas Furchtbares mußte geschehen sein. Vielleicht war der Mann im Boot, der sich jetzt stöhnend bewegte, der einzige Überlebende der ganzen Mannschaft. Sie pullten sofort los, mit allen Kräften legten sie sich in die Riemen. Der Unbekannte wurde nach oben gehievt, dann enterte auch Lopez auf, gefolgt von den beiden Seeleuten. De Aragon blickte aus schmalen Augen auf den halbtoten Mann, dann sah er seinen Ersten an. „Erzählen Sie!“ „Wir fanden ihn zwischen Büschen, er war es, der die Muskete abgefeuert hat, Capitan. Noch ein Mann befindet sich auf der Insel, aber er ist schon seit einigen Tagen tot. Die beiden stammen von der ,Nuestra Madonna'!“ Der Capitan, ein hagerer schlanker Mann von vierzig Jahren, zuckte sichtlich zusammen. „Von der ,Nuestra Madonna' stammen sie? Woher wissen Sie das?“ „Am Strand liegt ein kleines Beiboot, auf dem der Name steht. Die beiden haben es hoch auf den Sand gezogen, aber es ist leck.“ Inzwischen hatte der Capitan Anweisung gegeben, daß sich der einzige Mann an Bord, der etwas von Medizin verstand, um den Kranken kümmern solle. Jetzt wurde Virgil in den Schatten gelegt, und man flößte ihm kleine Schlucke Wasser ein. De Aragon stand mit abwesendem Blick dabei, und versuchte sich in Gedanken auszumalen, was hier passiert sein mochte. Ein Beiboot mit zwei Männern, die eine Muskete bei sich hatten und hier auf dieser kleinen Insel gelandet waren, mußten nicht unbedingt Meuterer gewesen sein, die man ausgesetzt hatte. Dann hätten sie sicher nicht das Boot behalten dürfen. Außerdem pflegte der Capitan der „Nuestra Madonna“ Meuterer an die höchste Rah des Schiffes hängen zu lassen. Der Capitan war in der Beziehung nicht zimperlich. Nein, hier hatte sich etwas anderes abgespielt, den Mann umgab ein Rätsel, das De Aragon gern gelöst hätte.
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Er blickte wieder in das Gesicht des Mannes, der sich jetzt unruhig hin und her bewegte. „Wird er es überleben, Miguel?“ fragte der Capitan den Mann, der sich um den Unbekannten kümmerte. „Er hat hohes Fieber und die Auszehrung. Ich weiß nicht, ob er die nächsten Stunden überleben wird.“ „Sie werden alles tun, damit er überlebt.“ Lopez blickte den Capitan an. „Anweisung zum Weitersegeln, Capitan?“ fragte er leise. „Nein. Vorerst noch nicht.“ De Aragon winkte ab. „Wir kreuzen hier und tasten uns dabei an die Insel heran, bis wir Ankergrund haben. Das wäre alles. Lassen Sie die Mannschaft in der Kuhl zusammentreten, Lopez.“ „Si, Senor!“ Lopez wunderte sich, weil er nicht wußte, was der Capitan plante. Etwas später starrten einundzwanzig Männer stumm auf den Mann im Schatten, der mehr als halbtot war. De Aragon schritt die Front der Mannschaft ab. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt. „Seht euch diesen Mann genau an“, befahl er. „Versucht, ihn euch ohne Bart vorzustellen, etwas voller im Gesicht. Hat ihn schon mal jemand gesehen?“ De Aragon wollte sich Gewißheit verschaffen, ob er es hier mit einem Besatzungsmitglied der „Nuestra Madonna“ zu tun hatte oder nicht. War das nicht der Fall, hatte er auch keine Lust, weitere Nachforschungen anzustellen. Kannte ihn aber jemand aus seiner Crew, und das war sogar höchst wahrscheinlich, weil die Kerle ständig zusammengehockt hatten, dann wollte er das Geheimnis um das spanische Schiff lüften, koste es, was es wolle. Geduldig wartete er ab und drängte keinen, auch wenn sie lange vor dem Mann standen und ihn anblickten. Andererseits vermochte De Aragon sich nicht vorzustellen, daß es sich um fremde Männer handelte. Wie sollten die wohl zu dem Beiboot gekommen sein?
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Ein Mann meldete sich. „Verzeihung, Senor“, sagte er, „ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte Virgil sein, ein Seemann aus dem Norden Spaniens. Jose glaubt auch, ihn zu kennen.“ „Vortreten, alle beide!“ Gehorsam traten die beiden Männer heran. „Hatte dieser Virgil irgendein besonderes Kennzeichen? Habt ihr mal etwas bemerkt? Seht ihn euch genau an, ich will wissen, was hier vorgefallen ist.“ „Virgil hatte die Ohrläppchen durchstochen, Senor Capitan. Ein Feldscher hat ihm gesagt, daß er dann besser hören würde, er war auf einem Ohr fast taub.“ „Seht nach, ob das stimmt!“ Der eine kniete sich hin, schob die langen strähnigen Haare zur Seite und nickte sofort. Als er auch das andere Ohr durchstochen fand, richtete er sich auf. „Er ist es, kein Zweifel, Senor Capitan.“ „Du bist deiner Sache sicher?“ „Ganz sicher, ich weiß es.“ In diesem Augenblick schlug der Mann die Augen auf. Sie waren seltsam klar, aber es hatte den Anschein, als sähe er nichts, denn sein Blick ging durch die Männer, die ihn schweigend umstanden, hindurch in unbekannte Fernen. Mühsam verzog er die Lippen, bis seine schwärzlichen Zahnstummel sichtbar wurden. „Schnell weg, Steuermann“, sagte er klar und deutlich, „sonst töten sie uns.“ Sein Mund verzerrte sich noch mehr. „Wasser“, hauchte er, „die anderen geben mir keins.“ Sie flößten ihm wieder Wasser ein, vorsichtig, in kleinen Schlucken. Dieser Virgil scheint ein unglaublich zäher Bursche zu sein, dachte der Capitan. Er sah aus, als wäre er schon vor ein paar Tagen gestorben, aber seine Stimme klang unwahrscheinlich klar. Er stammelte auch nicht, aber nachdem er getrunken hatte, fiel er wieder in sich zusammen und blieb erschöpft liegen. „Bringt ihn nach achtern in meine Kammer“, befahl De Aragon. „Du bleibst bei ihm, und wenn er noch etwas
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getrunken hat, flößt du ihm Brühe ein, aber nicht zuviel, damit er sich nicht übergibt.“ Während Virgil nach achtern gebracht wurde, studierte De Aragon zusammen mit dem ersten Offizier die Seekarten. „Irgendwo hier, ganz in der Nähe vielleicht, muß etwas Schreckliches mit dem Schiff passiert sein“, sagte De Aragon. „Vermutlich ist das Schiff von Wilden angegriffen worden, oder Piraten haben es überfallen.“ Er fuhr mit dem Finger die Karte entlang. „Das hier ist die Insel Kalimantan*, eine sehr große und völlig unerforschte Insel, die die ,Nuestra Madonna' auf südwestlichem Kurs passiert hat. Den Karten nach gibt es hier ein gigantisches Inselreich, und deshalb werden wir an der Küste entlangsegeln, bis wir zwischen diesen beiden Inseln hier den Weg in den Indischen Ozean gefunden haben. Ich werde damit aber warten, bis dieser Mann zu Kräften kommt, damit er uns die Geschichte erzählen kann. Ich möchte laufend über seinen Zustand unterrichtet werden, Lopez.“ „Si, Capitan. Eine Frage bitte.“ „Fragen Sie!“ „Was geschieht, wenn wir herausfinden, daß Wilde das Schiff angegriffen haben?“ De Aragon lächelte hochmütig. Seine Mundwinkel krümmten sich verächtlich. „Daß Sie diese Frage überhaupt stellen, Lopez. Eine Antwort darauf erübrigt sich fast, und Sie werden sich diese Antwort auch denken können. Selbstverständlich werden wir zu einer Strafexpedition rüsten und dieses anmaßende Gesindel bis auf den letzten Mann ausrotten. Das geschieht in diesem Fall im Auftrag seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien.“ „Aber - aber“, stotterte Lopez, „wir haben doch keinen regulären Auftrag dazu.“ „Einen derartigen Auftrag haben wir immer, Lopez“, sagte De Aragon überheblich. „Das ergibt sich von selbst.“ Lopez kannte seinen Capitan. De Aragon behandelte seine Leute nicht gerade schlecht, aber er verstand keinen Spaß, wenn es um unerforschte Länder oder
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Eingeborene ging. Dann heimste er im Auftrag der Krone alles zusammen, ohne Rücksicht auf Verluste, und dann war für ihn alles Gesindel, dem man Anstand beibringen mußte. Zumeist brachte er ihnen diesen Anstand mit den Schiffskanonen bei, und der Rest wurde von den Seeleuten besorgt, einfachen Männern, die nicht im Kriegsdienst standen. Bei Lopez war das anders. Er verabscheute Gewalt, und es war ihm peinlich, sich das von den Einheimischen zu nehmen, was ihnen nicht zustand, und sie anschließend auch noch zu „bekehren“, wie De Aragon sich ausdrückte. Andererseits, überlegte Lopez, geschah diesen Wilden ganz recht, wenn sie sich anmaßten, Schiffsbesatzungen zu überfallen, die vielleicht nichts anderes wollten als Trinkwasser und Proviant. Er grübelte über das Thema nicht weiter nach. Auf diese Art behielt er ein ruhiges Gewissen, denn alle Entscheidungen nahm De Aragon ihm ohnehin ab. Einen Ankerplatz fanden sie jedoch nicht. Rings um die Insel fiel der Meeresboden steil ab in unergründliche Tiefen, und an die Insel selbst traute De Aragon sich nicht heran, aus Angst, die „Tierra“ würde auf ein unsichtbares Riff laufen. „Was ist mit Ihnen, Lopez?“ hörte er die harte Stimme des Capitans neben sich. „Sie haben doch etwas auf dem Herzen, Sie wollen etwas loswerden, nicht wahr?“ Für Lopez war das Thema Strafexpedition längst erledigt. Er brauchte nur Befehlen zu gehorchen, aber etwas anderes beschäftigte ihn seit einer ganzen Weile. „Ja, ich - ich wollte zuerst nicht darüber sprechen. Es handelt sich um diesen Virgil.“ De Aragon beugte sich neugierig vor. „Ja - was ist mit ihm?“ „Ich weiß nicht recht, Capitan, aber da war noch der andere Tote auf der Insel.“ „Lassen Sie mich keine Rätsel raten, Lopez. Reden Sie, was hat es mit dem Mann auf sich?“ „Dem anderen Mann fehlten ein Bein und der Arm.“
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De Aragon kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verschloß sich. „Zum Teufel“, entfuhr es ihm endlich, „wollen Sie damit etwa sagen, daß dieser Virgil seinen Kumpan gefressen hat?“ „So drastisch wollte ich es nicht ausdrücken, Capitan. Auf der Insel gibt es sonst nichts zu essen, außer einer Handvoll unreifer Kokosnüsse. Mich schaudert bei dem Gedanken, einen Mann an Bord zu haben, der vielleicht ...“ „Allerdings, doch darüber will ich nicht urteilen. Wer weiß, welches Drama sich auf der Insel abgespielt hat. Hoffentlich werden wir es bald erfahren. Es kann ja aber auch sein, daß der andere seine Gliedmaßen bei dem Kampf verloren hat und schon tot war, als sie die Insel erreichten.“ Das hoffte Lopez auch, denn wenn er darüber nachdachte, drehte es ihm den Magen um. Aber was wußte er schon von Leuten, die ohne Wasser und Lebensmittel auf einer winzigen Insel dahinvegetierten. Zwei Stunden später war Virgil bei Bewußtsein, und zwar auf eine Art, die sich der Feldscher nicht erklären konnte. De Aragon ging nach achtern und blickte mit gemischten Gefühlen den Mann an, der ihn eher an eine Leiche als an ein menschliches Wesen erinnerte. Der Mann hockte aufrecht in der Koje und schien zu grinsen. „Ich begreife das nicht“, sagte der Feldscher, „normalerweise müßte er tot sein. Aber er benimmt sich so, als fehle ihm nicht das geringste.“ „Schon gut. Hauptsache, er kann reden.“ De Aragon schickte den Feldscher hinaus und wandte sich dem Mann zu, der ihn ruhig und gelassen anblickte. „Ich bin der Kapitän“, sagte er. „Sie befinden sich an Bord der ,Tierra`, nachdem wir Sie von der Insel geholt haben.“ „Die Insel“, sagte Virgil ausdruckslos. „Haben Sie den Steuermann auch mitgenommen? Antonio heißt er.“ „Das war der Steuermann des Schiffes? Er ist tot, Sie müßten das doch wissen.“
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De Aragon musterte den Mann scharf, doch keine Reaktion erfolgte. Virgil nickte nur. „Ich dachte es mir fast.“ Seine Stimme klang ruhig und fest. Nur beim Atmen rasselte es in seiner Brust. „Erzählen Sie, was sich an Bord zugetragen hat, Virgil. Was ist aus der Mannschaft und dem Schiff geworden?“ Virgil blickte zu Boden. Lange Zeit gab er keine Antwort. „Wir landeten an der Küste von Kalimantan oder wie die Insel heißt, wenn es überhaupt eine Insel ist. Wir wollten Wasser und Proviant an Bord nehmen.“ „Es ist eine Insel, eine sehr große. Was geschah dann?“ Virgils Hände zitterten plötzlich. Über seinen Körper lief ein kühler Schauer. Sein Gesicht war von Angst gezeichnet. „Ein Trupp ging an Land“, sagte er keuchend. „Sie sollten sich nach Wasser und Früchten umsehen. Als der Trupp bis zum späten Nachmittag nicht zurück war, ließ der Capitan eine Suchmannschaft zusammenstellen.“ „Und die kehrte ebenfalls nicht zurück?“ „Nein, wir haben nichts mehr von den Männern gehört.“ „Weiter“, sagte der Capitan drängend. Virgil bereitete es sichtlich Mühe, zu sprechen. Seine Worte stockten, manchmal brach er mitten im Satz ab und starrte vor sich hin. „Schließlich waren wir nur noch zwölf Mann an Bord. Wir alle hatten Angst, und so befahl der Capitan, daß jeder schwer bewaffnet wurde. Er ließ Schüsse aus den Culverinen abfeuern, aber wir erhielten keine Antwort. Die ganze Insel schwieg und schien wie ausgestorben zu sein. Ein weiterer Trupp ging vorsichtig an Land, und diese Männer kehrten wenig später auch zurück. Sie brachten Köpfe mit.“ „Köpfe?“ fragte De Aragon entsetzt. „Ja, auf der Insel gab es Wilde, die unsere Leute in einen Hinterhalt lockten und ihnen die Köpfe abschlugen. Die Körper waren jedoch nirgends zu finden. Sie müssen sie mitgenommen haben.“
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„Kannibalen, Menschenfresser“, sagte De Aragon. „Bestien in Menschengestalt.“ Er schüttelte sich angewidert. „Mir — mir ist so merkwürdig“, sagte Virgil. „Warum wird es plötzlich so dunkel?“ „Sie haben sich überanstrengt“, erwiderte der Capitan mitfühlend. „Legen Sie sich wieder hin, ich lasse Ihnen etwas zu essen bringen.“ Virgil schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich muß das loswerden“, sagte er hastig. „Jetzt kehrt auch die Erinnerung wieder. Wir fanden von den Wilden keine Spur mehr, aber wir sahen ein Dorf, das sie verlassen hatten. Nachts schwirrten plötzlich Brandpfeile durch die Luft, und plötzlich waren sie da, an Deck. Das Schiff wimmelte von nackten Leibern, und diese Teufel erschlugen einen nach dem anderen, obwohl wir alle Waffen einsetzten, die wir hatten.“ De Aragons Gesicht war zu einer steinernen Maske geworden. Die Wangenmuskeln traten scharf hervor. „Wissen Sie, wo der Ort liegt?“ fragte er. „Weiter südlich, es ist, glaube ich, nur das eine Dorf, jedenfalls das allererste. Glauben Sie mir, Senor Capitan, ich habe nie in meinem Leben etwas Schlimmeres gesehen. Wenn wir zehn von ihnen umgebracht hatten, tauchten zwanzig andere auf. Der Steuermann und ich sprangen ins Wasser und zogen uns in das Boot, in dem auch eine Muskete lag. Ein paar konnten wir noch töten, dann entdeckten sie uns in dem Moment, als einer von ihnen gerade den Capitan erschlug. Die Galeone muß untergegangen sein, denn sie stand in hellen Flammen, als wir mit dem Boot lossegelten. Außer uns beiden hat keiner das Massaker überlebt.“ De Aragon ließ sich seinen unbändigen Zorn nicht anmerken. Er stand auf und nickte. „Einen Augenblick, Virgil.“ Er ging an Deck und rief Lopez herbei. „Lassen Sie auf den alten Kurs zurückgehen, Lopez. Wir laufen die Küste an und segeln dicht daran entlang. Jeder Fetzen Tuch wird gesetzt.“
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„Si, Senor Capitan, sofort.“ Lopez stellte keine Fragen, aber er ahnte, was vorgefallen war. De Aragon kehrte in die achtere Kammer zurück und bot Virgil einen Rotwein an, doch der wollte nichts essen und erst recht nichts mehr trinken. „Ich brauche nichts mehr“, sagte er, „mit mir geht es bald zu Ende, ich fühle das.“ Seine magere Hand griff nach dem Arm des Capitans, und er sah ihm beschwörend in die Augen. „Wenn Sie das Dorf anlaufen, Senor, dann nehmen Sie sich vor den Teufeln in acht, die ehrbaren Männern die Köpfe abschlagen und ihre Körper verschleppen, um sie zu fressen, sonst ergeht es Ihnen, wie es uns ergangen ist.“ „Keine Angst, wir sind gewarnt. Ich sorge mich um Sie, Virgil, Sie müssen etwas trinken!“ „Vielen Dank. Ich habe mir auf der verdammten Insel den Tod geholt. Er hockt in mir, er lauert auf mich.“ „Quatsch, Sie sind über den Berg, mit Ihnen geht es aufwärts. Erzählen Sie mir, was sich auf der Insel abgespielt hat.“ Virgil lächelte gequält. „Ich sehe es wieder ganz deutlich vor mir. Merkwürdig, nicht wahr? Antonio starb nach ein paar Tagen.“ De Aragon hielt den Atem an, er sagte kein Wort. „War er schwer verletzt?“ fragte der Capitan schließlich, als Virgil nicht weitersprach. „Nein, ihm fehlte nichts, er war nur erschöpft wie ich auch, Er muß an Erschöpfung, Hunger und Durst gestorben sein, und ich war jetzt ganz allein. Als ich den Geruch nicht mehr aushielt, schleppte ich seine Leiche ins Meer, doch bald darauf kehrte sie wieder zurück. Eine Welle warf ihn an den Strand. Die Haie müssen seinen Körper zerfetzt haben.“ Jetzt ist das auch geklärt, dachte der Capitan. Dieser Mann mußte durch tausend Höllen gegangen sein. Normalerweise war es bei De Aragon nicht üblich, daß er sich fast leutselig mit einem Seemann unterhielt. Aber das hier war ein ganz besonderer Fall, und ihm stand ein
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Mann gegenüber, der mehr Bildung hatte als seine ganze Crew zusammen. Daher war seine Sorge um Virgil echt und entsprang einem natürlichen Bedürfnis. Er ließ sich noch erklären, wie lange sie unterwegs gewesen waren, und versuchte danach in etwa die Entfernung auszurechnen. Aber er konnte sich auch nach dem Dorf richten, dem einzigen an dem Küstenstreifen, wie Virgil versicherte. „Legen Sie sich wieder hin“, befahl er. „Wir segeln jetzt nach Kalimantan und werden dieses Dorf finden. Und dann gnade Gott diesen Bestien. Ich werde dort aufräumen.“ Virgil war zurückgesunken und schlief. Immer noch rasselte es in seiner Brust. Vielleicht schläft er sich gesund, dachte der Capitan. Ein Kerl von solch unglaublicher zäher Kondition würde es überleben, daran zweifelte er keine Sekunde. Als er an Deck trat, segelte die „Tierra“ unter vollem Zeug nach Süden, der Insel entgegen, und am späten Abend wurde erneut Land gemeldet. Als es dämmerte, ließ De Aragon bei einer Tiefe von neun Faden ankern. Er wollte nicht mehr weitersegeln, um das Dorf der Menschenfresser nicht zu verfehlen. An Deck gingen die ganze Nacht über acht Mann Wache, und zwei umruderten alle Viertelstunde in dem kleinen Beiboot das Schiff. De Aragon paßte auf, ihm sollte .nicht das gleiche Schicksal widerfahren wie den anderen. Bei ihm war ein Überraschungsangriff durch die Wilden fast auszuschließen. 3. Bei Tagesanbruch wurde der Anker eingeholt, und die Zweimastgaleone segelte dicht unter Land weiter. Es hatte sich bei der Mannschaft herumgesprochen, was Virgil erlebt hatte, und daß der Capitan plane, die Höllenbrut auszuräuchern, wie er sich ausdrückte. Die Leute brannten darauf, Rache zu nehmen.
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De Aragon befahl dem Koch, eine kräftige Brühe für den entkräfteten Mann zu kochen und trug sie selbst nach achtern. Virgil lag immer noch in der gleichen Stellung in der Koje, aber sein Atem rasselte nicht mehr. Vorsichtig versuchte De Aragon ihn zu wecken, und als Virgil nicht reagierte, drehte er ihn herum. Er sah in zwei gebrochene Augen, die verschleiert ins Nichts blickten. Virgil war tot. Der Capitan schluckte. Mitleid mit dem armen Kerl stieg in ihm auf. Er erinnerte sich der Worte von gestern, als Virgil behauptete, er brauche nichts mehr, er würde ohnehin bald sterben. Erschüttert kehrte er an Deck zurück, in der Hand die Muck mit der heißen Brühe. „Diablo“, sagte er laut, nahm die Muck und schleuderte sie in einem Wutanfall über Bord. Dann winkte er Lopez herbei. „Der Mann ist gestorben, Lopez. Gott sei seiner armen Seele gnädig. Sagen Sie dem Segelmacher Bescheid, er soll die Leiche einnähen. Nachher werden wir ihn bestatten.“ Der Steuermann war fassungslos. „Virgil tot?“ fragte er verdutzt. „Aber gestern lebte er noch“, fügte er wenig geistreich hinzu. „Viele, die gestern noch lebten, sind heute tot“, antwortete De Aragon, und wieder erschien dieser herablassende Ausdruck in seinem Gesicht, der den Steuermann ärgerte. Der Tote wurde aus der Kammer geholt. In der Kuhl begann der Segelmacher damit, die Leiche in festes Segelzeug einzunähen. Schweigend stand der größte Teil der Crew herum. Sie alle bedauerten diesen Mann, und inzwischen kannte auch jeder seine abenteuerliche Geschichte. De Aragon übergab ihn nicht einfach der See, indem sie ihn über Bord stießen. Er nahm sich die Zeit, ließ die Segel aufgeien, bis das Schiff keine Fahrt mehr lief und leicht in den Wellen dümpelte. Aus dem Laderaum wurde eine hölzerne Rutsche geholt, auf die sie den in Segelleinen genähten Mann legten.
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Eine Minute herrschte Schweigen. Der Capitan sprach ein paar kurze Sätze und schloß mit den Worten: „Gott empfohlen, der seiner Seele gnädig sei. Amen!“ „Amen“, antwortete dumpf der ganze Chor harter Seeleute. Die Rutsche wurde geneigt. Der verhüllte Körper glitt in die blaugrüne See, als hätte er es eilig, den Grund zu erreichen. Eine Weile konnten sie das Bündel verfolgen, dann deckte die See es zu und ließ es verschwinden. Die ins Gei gehängten Segel wurden gesetzt, und die „Tierra“ nahm wieder Fahrt auf. Erst am nächsten Tag meldete der Ausguck das Dorf, das sich in einer kleinen Bucht versteckt zwischen Mangrovendickichten befand. Es waren Hütten, die teilweise auf langen Stämmen im Wasser standen, aber es gab auch andere, die man an Land in das Dickicht hineingebaut hatte. Capitan De Aragon ließ beidrehen und ging in den Wind. Dabei beobachtete er das Dorf, sah aber keinen einzigen Eingeborenen. „Es muß das Dorf sein, von dem Virgil erzählte“, sagte er zu Lopez. „Sind die Culverinen geladen, sind an alle Männer genügend Waffen verteilt worden?“ „Si, Senor Capitan. Ich erwarte Ihre Befehle.“ Die „Tierra“ hatte auf jeder Seite drei Siebzehn-Pfünder-Culverinen, an denen die Männer standen. Die Stückpforten waren hochgezogen, doch noch bevor De Aragon näher an die Bucht heranmanövrieren konnte, sahen sich die Männer besorgt und erstaunt zugleich an. Es war wie verhext. Der Wind begann zu drehen Und wurde böig. Kleine harte Wellen entstanden im Wasser. Der ablandige Wind drückte die Galeone sanft, aber unnachgiebig wieder vom Land fort. De Aragon fluchte unterdrückt. Er biß die Zähne zusammen und wartete. Sie hatten Zeit. 4.
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Es war der erste März 1585, als die „Isabella VIII.“ unter dem Seewolf Philip Hasard Killigrew nach fast tausend Meilen, die sie von Manila über Palawan geführt hatten, die Rieseninsel Kalimantan erreichte. An diesem frühen Morgen hockte der schwarzhaarige, schlaksige Moses Bill im Ausguck, der Bengel, wie er an Bord von allen genannt wurde. Außer Wasser hatte er tagelang nichts gesehen, und so war er für jede noch so kleine Abwechslung dankbar, die diesmal in Gestalt des Kutschers erschien. Er schlurfte aus dem Mannschaftsraum an Deck, gähnte laut und ausgiebig, reckte seine magere Brust heraus und angelte dann mit einer Lederpütz nach Wasser. Bill schaute ihm aus seiner luftigen Höhe zu und grinste, als der Kutscher zum zweiten Mal gewaltig das Maul aufriß und gähnte, als wolle er die „Isabella“ einschließlich der überlangen Masten verschlingen. Er trug nur eine Hose, und die wurde jetzt klatschnaß, als er sich die Pütz mit Meerwasser kurzerhand über den Schädel stülpte, daß es an allen Seiten von ihm hinuntertroff. Danach schüttelte er sich wie ein nasser Hund und verschwand in der Kombüse, wobei er das Schott offen ließ. Bill fand Gefallen daran, die Seewölfe zu mustern, wenn sie an Deck erschienen, manche frisch und ausgeschlafen, andere knurrig und verpennt. Inzwischen kannte er von jedem einzelnen die morgendlichen Angewohnheiten. Batuti, der alte O'Flynn, Gary Andrews, der ehemalige Schmied von Arwenack, Big Old Shane und Al Conroy schliefen in diesen tropischen Breiten bei ruhiger See meist an Deck, und als der Kutscher jetzt in seiner Kombüse verschwunden war, schliefen sie alle noch weiter. Der Schiffszimmermann Ferris Tucker, zum Beispiel, überlegte Bill gerade, hatte immer die Angewohnheit nach dem Aufstehen zuerst eine ganze Weile schweigend am Schanzkleid zu stehen und ziemlich grimmig auf das Wasser zu blicken.
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Matt Davies und Pete Ballie begrüßten sich meist immer mit: „Na, du alter Affenarsch!“ Smoky verschwand regelmäßig und ziemlich schnell auf dem Bordklo. Carberry hingegen, der Zuchtmeister und Profos, ließ meist gewaltige Blähungen ab und unternahm nach der Morgenwäsche seine Wanderung durch das Schiff. Land war immer noch nicht zu sehen, als der Kutscher mit einem Abfallkübel auf dem Deck erschien. Entweder hatte er noch nicht ausgeschlafen, oder er war in Gedanken versunken, denn er wanderte mit dem Eimer direkt nach Luv, um ihn auszuleeren. Der Kutscher würde den ganzen Dreck um die Ohren kriegen, überlegte der Bengel, denn er kannte den Bordspruch der „Isabella“, der von Big Old Shane stammte, und den auch der Profos gern gebrauchte, und der da hieß: „Wer gegen den Wind pißt, kriegt nasse Hosen.“ Das wollte er dem Kutscher gerade zurufen, doch der hatte es jetzt ebenfalls bemerkt, schüttelte den Kopf und ging nach Lee hinüber. Er holte weit aus — und warf den Abfallkübel einschließlich Inhalt über Bord. Dann beugte er sich ungläubig über das Schanzkleid, blickte dem entschwindenden Kübel nach und begann laut und lästerlich zu fluchen. Der Bengel amüsierte sich köstlich, denn nach dem lautstarken Gefluche des Kutschers erwachten Batuti und ein paar andere. „Was is, Kutscher“, schrie der GambiaNeger, „warum groß schreien mitten in Nacht? Du besoffen, he?“ „Quatsch keinen Quatsch, du triefäugige Miesmuschel!“ rief der Kutscher erbost. „Es ist heller Tag, Zeit, daß du endlich mal ausgepennt hast und die anderen auch.“ „Müßt ihr lausigen Meermänner morgens immer so schreien?“ begann der alte O'Flynn zu wettern und erhob sich grummelnd. Er hatte ebenfalls ziemlich laut geschrien, und so blieb es nicht aus, daß auch die letzten Schläfer erwachten
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und sich gegenseitig anbrüllten, was denn los sei und weshalb es, verdammt noch mal, schon wieder Krach gäbe. Das lockte schließlich den Profos an Deck, Edwin Carberry, der sein gewaltiges Amboßkinn vorreckte und die Kerle einen nach dem anderen, ungnädig musterte. „Hoppauf, ihr karierten Affenärsche“, sagte er und blickte nach oben, dem grinsenden Bengel genau in das Gesicht. „Hast du im Ausguck auch nicht gepennt?“ rief er hinauf. „Nein, Mister Carberry!“ Bill wartete darauf, daß der Profos das übliche Geräusch von sich gab, doch diesmal gähnte er nur, begann seinen Inspektionsgang und ging nach achtern. „Die Schoten etwas dichter holen“, sagte er kurz, als er zurückkehrte. „Seht ihr das denn nicht von selbst, ihr lausigen Kanalratten, was, wie?“ Die Schoten, das am meisten beanspruchte Tauwerk an Bord, wurden dichter geholt, und der Profos nickte zufrieden. Er vergaß auch nicht, einen Blick in die Kombüse zu werfen, wo der Kutscher in zwei riesigen eisernen Pfannen Speck ausbriet. „Ist dir eine Laus über die Leber gekrochen?“ fragte Carberry, als er des Kutschers mißmutiges Gesicht sah. „Nee, aber ich habe aus Versehen den Abfallkübel über Bord geschmissen.“ „Das tust du doch jeden Tag.“ „Dann würde ich jeden Tag einen neuen Kübel brauchen. Nicht den Inhalt, doch den auch, aber den Kübel gleich mit.“ „Sei froh; daß du an dem Kübel nicht auch noch mit drangehangen hast“, sagte Ed grinsend. „Sonst brauchen wir jeden Tag einen neuen Kutscher.“ Der Kutscher, dessen eigentlicher Name der ganzen Crew bis heute ein ungelöstes Rätsel war, fand das gar nicht witzig. „Kein Mensch versteht mich“, beklagte er sich, „von euch lausigen Kerlen kriegt man nur dämliche Antworten. Wo, zum Teufel, soll ich denn jetzt den Abfall aufbewahren? Ich kann doch nicht mit jeder Handvoll Dreck über das Schiff laufen.“
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Carberry klopfte ihm mit seiner mächtigen Pranke auf die Schulter, daß der Kutscher fast in die Knie ging. „Ferris hat da todsicher eine Lösung“, sagte er ernst. „Ich werde nachher mit ihm reden. Er Wird dir ein Loch bis zum Kielschwein bohren, und dann kannst du den Abfall direkt von der Kombüse aus unters Schiff ins Meer werfen.“ Der Kutscher stutzte, dann griff er hitzig nach der Pfanne. „Wenn das Ding nicht so schwer wäre”, sagte er grimmig, „würde ich es dir über den Schädel donnern.“ „Dann brauchst du jeden Tag eine neue Pfanne“, sagte Ed grinsend und ging davon, einen Kutscher zurücklassend, der in übelster Weise die unschuldigen Ahnen des Profos beleidigte. Das Bordleben nahm seinen normalen Verlauf. Vor einer Weile war der Seewolf auf dem Achterdeck erschienen, ebenso Ben Brighton, der nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Aus dem Meer schob sich langsam das Flammenrad der Sonne, die gelbe und rötliche Strahlen über das Wasser warf, das an einigen Stellen wie Silber aussah. Dieser frühe Morgen war immer der schönste Teil des Tages, das jedenfalls empfanden die meisten. Dann duftete es aus der Kombüse, daß ihnen das Wasser im Mund zusammenlief. Dann hing der Geruch nach Teer, Holz und Salzwasser über. dem Schiff, dann war noch deutlich das Knarren, Ächzen und Stöhnen des Schiffes zu hören, dann war es angenehm frisch und man freute sich auf den beginnenden Tag. Aber das alles wurde durch eine leichte Sorge überlagert, und die ging besonders dem Kutscher an die Nieren, obwohl sie die gesamte Crew betraf. Sie hatten schätzungsweise tausend Meilen hinter sich, ein verdammt langer Törn mit harten Stürmen, eintönigen Kalmen, in denen sie tagelang auf Wind gewartet hatten, und der ihnen wechselweise dann wieder so stark um die Ohren blies, daß sie
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alle Mühe hatten, das Schiff sicher zu führen. Jetzt wurde der Proviant knapp, und in den Wasserfässern herrschte Ebbe. Der Rest des Wassers schmeckte auch dementsprechend, als sich winzige grüne Fäden darin gebildet hatten. Es gab Reis an Bord, tonnenweise, Reis, den sie aus dem Land des Großen Chan mitgebracht hatten, aber jetzt hing ihnen der Reis zum Hals heraus, und die verdammten Hagelkörner, wie Carberry sie nannte, verpappten einem den Magen. Und der alte O'Flynn hatte stur behauptet, wenn sie das Zeug auf ewig fressen müßten, dann würden sie alle gelb im Gesicht werden wie die Chinesen, die es auch davon hätten. Der Kutscher warf in das kochende Wasser Teeblätter, damit sich die abgestandene Brühe besser trinken ließ, und in einem Anfall von Großmut goß er etwas Rum dazu, nicht viel, aber doch so, daß es den Geschmack spürbar anhob. Anschließend ging der Kutscher mit einer heißen Muck voll Tee nach achtern, um sie dem Seewolf zu bringen. In der Kuhl fing Ben Brighton ihn allerdings ab. „Du willst Hasard bloß wieder die Ohren vollmaulen“, sagte der untersetzte dunkelblonde Mann ruhig. „Aber mittlerweile weiß jeder an Bord, was los ist, und sobald Land in Sicht ist, wird sich einiges ändern. Gib mir also die Muck, ich bringe sie nach achtern, Kutscher.“ „Sag es dem Kapitän noch einmal“, drängte der Kutscher. „Jaja, schon gut“, erwiderte Ben geduldig. „Ferris Tucker hat es mit dem Holzbohrwurm und du mit dem Proviant. Eins ist so schlimm wie das andere.“ Brighton kehrte aufs Achterdeck zurück, gab dem Rudergänger Pete Ballie eine Muck voll Tee und reichte Hasard die andere, die er dem Kutscher abgenommen hatte. Der Seewolf trank einen langen Schluck. Über den Rand der Muck sah er Ben genau in die Augen. „Der Kutscher, nicht wahr?“ fragte er.
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„Ja, der Kutscher und Ferris. Der eine vergeht bald vor Sorge um Proviant und Wasser, und der andere träumt nur noch von diesem lausigen Holzbohrwurm.“ Ja, der Holzbohrwurm, dieses kleine ekelhafte Geschöpf der salzhaltigen Meere, hockte unter dem Rumpf, nagte, bohrte und fraß, und verwandelte das harte Holz zu feinem Staub. Das wußte der Seewolf schon seit langem. Nur hatte es sich bisher nie einrichten lassen, ein stilles Plätzchen anzulaufen, um das Schiff zu krängen, damit man diesem Höllenbiest endlich zu Leibe rücken konnte. Immer war etwas anderes dazwischengeraten, zuletzt der schwere Taifun, der die „Isabella“ knüppelhart durchgerüttelt und einige unangenehme Spuren hinterlassen hatte. „Wir haben Kalimantan längst erreicht“, sagte der Seewolf mit einem Blick nach Backbord, wo es jedoch nur Wasser und kein Land zu sehen gab. „Ändern wir den Kurs etwas nach Süden, dann segeln wir einen langen Umweg, behalten wir ihn bei, dann landen wir an der Spitze dieser Insel, wenn uns die Karten nicht im Stich lassen. Bis dahin vergehen aber noch ein paar Tage.“ „Die Zeit ist jedenfalls nicht gegen uns“, sagte Ben. „Vielleicht gibt es hier ein ruhiges Plätzchen, eine stille Bucht, in die wir verholen können. Der Kutscher versucht ständig, mir den Aufenthalt an Land so schmackhaft wie nur möglich darzustellen. Ein Trupp könnte Früchte sammeln, ein anderer Wasser holen, ein dritter sich nach Frischfleisch umsehen. Er brennt geradezu vor Eifer.“ Hasard lachte leise. Im Geist sah er den Kutscher vor sich, wie der mit beschwörenden Gesten glänzte und jedes seiner Worte durch alle möglichen Körperverrenkungen unterstrich. , „Der Kerl würde am liebsten die gesamte Crew zum Früchtesammeln an Land schicken. Und Ferris kann den Holzbohrwurm allein bekämpfen. Nun gut, wir haben Zeit, niemand drängt uns. Schick mir Shane und Ferris aufs Achterdeck, Ben!“
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Gleich darauf erschien der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker. Sein verstecktes Grinsen war nicht zu übersehen, ihm schwante etwas, weshalb er aufs Achterdeck sollte. Der riesengroße bärtige Big Old Shane, Hasards väterlicher Freund, erschien ebenfalls, und etwas später gesellte sich der Decksälteste Smoky dazu. Nur Carberry und der junge O'Flynn hielten sich in der Kuhl auf. Sie wußten ebenfalls, .um was es ging. „Was treibt der Holzbohrwurm, Ferris?“ fragte Hasard augenzwinkernd den Schiffszimmermann. „Den höre ich nachts in der Koje nagen, Sir“, sagte Ferris, wobei er gewaltig übertrieb. „Der frißt unsere. Lady vom Vorschiff bis zum Heck. Nicht mehr lange und die Masten segeln allein weiter. Wir segeln sozusagen auf einem völlig seeuntüchtigen Wrack. Ich sage dir, Sir, dieses kleine ekelhafte Mistvieh ist das schlimmste Ungeheuer, das es gibt. Zu Millionen hat es sich in den Planken eingenistet und treibt dort sein Unwesen. Der Holzbohrwurm sieht ungefähr so aus: Er hat einen Kopf wie ein kleiner Bohrer und ...“ „Geschenkt, jeder kennt das Biest. Wir segeln also auf einem Wrack, das jeden Moment auseinander bricht, nicht wahr?“ „So ähnlich jedenfalls”, murmelte Ferris düster, der es gar nicht erwarten konnte, dieses kleine Biest zu bekämpfen. „Nachts höre ich überdeutlich, wie er nagt, bohrt, Holz frißt, es in Staub verwandelt, bis –bis ...“ Tucker suchte nach einem passenden Ausdruck, und Smoky hätte ihn auch gleich zur Hand. „Bis die ‚Isabella' selbst ein riesiger Holzbohrwurm ist, wolltest du sagen.“ „So ähnlich wollte ich es sagen“, meinte Ferris erleichtert. „Technisch ist das natürlich fast unmöglich.“ Hasard grinste über das „fast unmöglich“, wie der besorgte Zimmermann es ausdrückte. Selbstverständlich steckte das kleine Vieh im Holz, welches Schiff, das die Meere
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befuhr, hatte ihn nicht an Bord. Aber Ferris tat dann immer so, als müßten sie damit rechnen, bald das Schiff aufzugeben und zu verlassen, weil die Holzbohrwürmer es in ihren Besitz genommen hatten wie eine Horde wilder Piraten. Das sprach allerdings nur für den Schiffszimmermann, der der Beste war, den Hasard kannte, der sich ständig um das Schiff kümmerte, der tüftelte, überlegte und immer wieder etwas Neues ersann. „Was gedenkst du also zu tun? Die ‚Isabella' aufslippen?“ „Nicht unbedingt, Sir. Wir könnten sie in einer stillen Ecke bei Ebbe stark krängen. Ich kenne den äußersten Krängungswinkel, es kann nichts passieren. Wir setzen die Gold- und Silberbarren um und schaufeln den Reis zur anderen Seite. Dazu brauche ich das Schiff nicht einmal abzustützen. Sag doch auch mal was, Shane“, forderte er den ehemaligen Schmied von Arwenack auf. Big Old Shane fuhr sich mit der Hand durch den eisgrauen Bart und nickte in seiner bedächtigen Art. „Ich will dir nicht widersprechen, Ferris, denn deine Idee ist gut. Ich glaube nur nicht, daß es so schlimm ist. Unser kleiner Freund hat nur ein paar winzige Gänge gebohrt, er kann nicht sehr tief im Holz stecken, aber er ist auf die Dauer gesehen, natürlich sehr gefährlich.“ „Na also, das sage ich ja dauernd.“ „Gut“, entschied der Seewolf nach einigem Nachdenken. „Dann laufen wir die Insel schon jetzt an, zumal des Kutschers Sorgen immer größer werden. Gib die Anweisungen, Ben, wir ändern den Kurs um zwei Strich nach Backbord!“ Tucker war unendlich erleichtert. Er nahm sich vor, gleich zum Kutscher zu gehen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen, aber zuvor wollte er ihn noch ein wenig ärgern, weil der Kerl heute so sauertöpfisch wirkte wie noch nie in seinem Leben. Brighton ließ die Segel nachtrimmen, nachdem der Kurs geändert worden war, und Ferris marschierte nach vorn.
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Der Kutscher hockte am Schott der Kombüse und sah dem rothaarigen Mann lauernd entgegen. Ferris kratzte sich gelangweilt das Kinn, bis der Kutscher es nicht mehr aushielt. „Sag mal, du rothaariger Affe, hast du plötzlich die Sprache verloren? Ihr habt doch was besprochen.“ „Klar, haben wir.“ „Und der Kurs ist auch geändert worden, he?“ „Ein wenig nur.“ „Ein wenig nur?“ Der Kutscher sah mit Kennermiene nach dem Stand der Sonne und tippte sich an die Stirn. „Wir haben mindestens zwei Strich nach Backbord gedreht. Heißt das, daß wir Land anlaufen?“ „Die Absprachen mit der Schiffsführung gehen das gewöhnliche Deckspersonal überhaupt nichts an, schon gar nicht die Kombüsenhengste, aber weil du es bist, will ich es dir sagen!“ Der Kutscher war außer sich. „Gewöhnliches Deckspersonal?“ brüllte er, „Kombüsenhengste, he! Ich kann schreiben und lesen, du Mastochse, und du kannst nicht mal deine verdammten Holzbohrwürmer zählen, wenn es mehr als zehn sind. Dann fängst du nämlich wieder von vorn an. Und merk dir gleich noch eins“, zischte er, „wenn ich morgen immer noch kein Land sehe, dann gibt's wieder Reis mit Kakerlaken oder zur Abwechslung gedämpfte Holzbohrwürmer.“ „Hatten wir auch noch nicht“, sagte Ferris unbeeindruckt. „Aber ich bitte sie mir ganz zart aus und vielleicht leicht in Öl gesotten. Ist ja wieder gut“, sagte er hastig, als er das puterrote Gesicht des Kutschers sah, der die Lippen zusammenkniff und die Augen zu schmalen Schlitzen verengte. „Wir laufen Land an, und dann kannst du dir Wurzeln und Beeren holen, soviel du willst.“ Das besänftigte den Kutscher augenblicklich. „Daß ihr mich immer verarschen müßt“, sagte er, „mich, von dem euer leibliches Wohl abhängt, ich, der ich den ganzen Tag
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in der Kombüse stehe, um eure hungrigen Mägen zu stopfen. Aber das erkennt ja keiner an. Wenn das Essen gut ist, freßt ihr euch die Wampe voll, und keiner verliert ein Wort darüber. Wenn ich aber nichts habe, dann reißt ihr die Schnauzen auf und meckert, elendes Schiffsvolk. Wie vornehm ging es dagegen bei Sir Freemont zu, das war ein richtiger Gentleman, aber das begreifst du nie in deinem Leben, du rothaariger Stint. Und jetzt geh mir aus den Augen!“ „Hat er sich wieder abreagiert?“ fragte Smoky den Schiffszimmermann, der das Gespräch teilweise mitgekriegt hatte. „Ich glaube schon. Er war nur sauer, weil er den Abfallkübel über Bord geworfen hat, und da mußte er sich einfach seinen Zorn aus dem Bauch reden.“ Die beiden Männer lachten laut, weil der Kutscher ihnen finstere Blicke zuwarf. Erst als er wieder in der Kombüse verschwand, rieb er sich vergnügt die Hände und grinste vor sich hin. * Es war kurz vor Mittag, die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, und es war brühwarm, als der Bengel vom Großmars aus einen feinen Strich am Horizont entdeckte. Wie elektrisiert riß er die Arme hoch, so daß der Schimpanse Arwenack, der mit ihm zusammen in luftiger Höhe hockte, einen Nasenstüber abkriegte. „Land voraus!“ schrie er mit seiner hellen Stimme. „Deck! Land genau voraus!“ Carberry hob die Hand zum Zeichen, daß man ihn verstanden hätte, und winkelte gleichzeitig den Daumen nach unten ab. Dabei sah er den Schweden Stenmark an. „Du bist dran“, sagte er. „Und du Zwerg kannst jetzt abentern!“ rief er nach oben. Der Bengel enterte ab, gefolgt von dem Affen, der sogleich in der Kombüse verschwand, um beim Kutscher zu betteln. „Hab ich nicht gute Augen, Sir?“ fragte der Moses stolz den Profos. „Von Deck aus sieht man es nicht, nicht mal als feinen Strich.“
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Carberry sah ihn erstaunt an. „Was, das Land sieht man nicht?“ fragte er. „Wir dachten schon, du würdest dort oben pennen, weil wir doch schon vor Stunden den Kurs änderten, eben weil Land in Sicht war. Man sieht doch jetzt schon ganz deutlich die Palmen, die kleinen Brandungswellen und den saftigen Urwald. Oder sieh dir den weißen Sand an, Junge, ganz feinkörnig, und die beiden schlafenden Schildkröten, die in der Sonne dösen. Naja, für den Anfang war das nicht schlecht, du bist ja noch nicht lange im Ausguck.“ Der Bengel guckte sich die Augen aus, aber er sah weder den Landstrich noch die Palmen, von den Brandungswellen und den Schildkröten ganz zu schweigen. Er kriegte spitze Lippen und schüttelte den Kopf. Aber da war der Profos schon gegangen, Bill erblickte nur noch den riesigen breiten Rücken, und als Carberry ihm das Profil zuwandte, da sah er den Profos grinsen, und es sah verdammt nach Anerkennung aus dieses Grinsen. Verdammt, dachte der Bengel, der Profos hatte es gar nicht ernst gemeint, aber warum mußten diese Erwachsenen eigentlich immer ihre Überlegenheit demonstrieren und gaben nicht zu, daß er erstklassige Augen hatte? Nein, er hatte sich noch nicht so weit nach oben gekämpft, daß sie es offen zugaben, überlegte er, obwohl sie es gut mit ihm meinten. Er war eben der Moses, der Bengel, und keiner wollte es wahrhaben, daß er älter wurde. Sie brauchten einen Moses, ein Moses gehörte zu jedem Schiff wie die Masten und Rahen, der Kompaß oder das Ruder, und daher würde er auch noch für eine verdammt lange Weile der Moses bleiben. Macht nichts, dachte er, ich fühle mich wohl, und jeder ist nett zu mir. Ich habe sogar einen eigenen Schatz, und wer von den anderen Schiffsjungen hatte das schon, die auf anderen Schiffen jeden Tag bis aufs Blut kujoniert wurden. Das Land rückte näher, und an Bord der „Isabella“ herrschte eitel Freude und Sonnenschein. Die meisten lehnten am
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Schanzkleid und sahen hinüber, als die „Isabella“ wieder leicht den Kurs änderte, diesmal etwas nach Steuerbord, bis sie mit dem Land parallel lag und weitersegelte. Der Abstand mochte etwa zwei Meilen betragen, aber noch schob sich das Schiff unmerklich näher heran. Langgestreckte Hügel waren zu sehen, davor wuchs undurchdringlicher Dschungel bis an das Wasser heran. An manchen Stellen gab es keinen Strand, da stand verfilztes Gebüsch mit riesigen schlangenähnlichen Wurzeln, die wie Geisterfinger ins Meer tasteten. „Ob die Insel bewohnt ist?“ fragte Matt Davies seinen Nebenmann, den alten Segelmacher Will Thorne, der die Hände über dem Bauch gekreuzt hatte und andächtig zum Land blickte. „Keine Ahnung, Matt. Dieser Teil ganz bestimmt nicht, da kann niemand hausen. Aber wie ich hörte, soll dies eine sehr große Insel sein. Warten wir es ab.“ Je mehr sich die „Isabella“ dem Land näherte, desto größer wurde die Hitze. Es war drückend und schwül. Der leichte Wind, der sie vorantrieb, brachte keine Kühlung, weil er ebenfalls fast heiß war. „Mangrovenwälder“, sagte Old O'Flynn mißmutig. „So nennt man diese komischen Bäume, glaube ich. Wurzeln wie Riesenschlangen und dazwischen lauern gefräßige Bestien. Ich möchte da keinen Fuß an Land setzen.“ „Versuch's doch erst mal mit deinem Holzbein“, riet Gary Andrews grinsend. „Wenn ihnen das nicht schmeckt, lassen sie dich ganz sicher in Ruhe.“ „Ich werde dir das Holzbein gleich übers Kreuz tanzen lassen, du junger Hüpfer“, sagte Old O'Flynn drohend. „Zu meiner Zeit, auf der ,Empress of Sea', da hatten die jungen Kerle noch Respekt vor dem Alter, und es setzte jeden Tag Prügel, wenn sie nur das Maul öffneten, ohne gefragt zu sein.“ „Das würde dir so gefallen, was? Mann, was sind wir heilfroh, daß du nicht der Kapitän bist, Donegal!“ „Ha! Ich würde euch Rotznasen jeden Tag ein paar Stunden zum Trocknen in die
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Wanten hängen, wenn ihr nicht pariert. Aber heutzutage lobt euch sogar der Kapitän noch, wenn ihr ausnahmsweise mal etwas Richtiges bei der Arbeit tut.“ Andrews grinste. Er unterhielt sich gern mit dem Alten, denn O'Flynn meinte es nicht unbedingt so, wie er es sagte, obwohl die Seefahrt zu seiner Zeit ein klein wenig anders ausgesehen hatte. Aber diese „Empress of Sea“, das mußte ein wahres Wunderschiff gewesen sein, mit dem der Alte die nördlichen Meere befahren hatte, als er noch ein hitziges Rauhbein gewesen war. „Wo ist der alte Kahn eigentlich abgesoffen?“ fragte Gary und starrte weiterhin zum Land hinüber. „Abgesoffen? Die schwimmt in tausend Jahren noch, die ,Empress of Sea` säuft nicht ab, meine Junge. Die hätte sich in dem lausigen Taifun kürzlich nur einmal trotzig geschüttelt, und dann wäre sie über den Wellen gesegelt. Sie war ein schönes Schiff“, schwärmte der Alte. „Unglaublich stark und schnell, und in ihrer Takelage hockte der Windgott persönlich. Nachts schlichen sich die Meermänner an Bord und trieben Schabernack mit uns. Ja, das war eine gute Zeit. Aber die alte Lady, die segelt noch irgendwo, das ist sicher, an die trauten sich nicht einmal die Holzbohrwürmer heran.“ Jetzt war der Alte in seinem Element. Er erzählte und erzählte, und als Gary Andrews nach einem diskreten Hüsteln, weil der Alte so maßlos übertrieb, heimlich verschwinden wollte, mußte er feststellen, daß O'Flynn seitlich am Kopf Augen hatte, denn jedes Mal ergriff ihn die knochige Hand des Alten und hielt ihn fest, damit er sich anhörte, was für ein Schiff die alte Lady war, und daß sie das beste, schnellste und härteste Schiff überhaupt war, das die Nordmeere befuhr. Wenn Old O'Flynn einmal loslegte, dann bogen sich die Planken und im Kielschwein begann es protestierend zu pfeifen. Da beschwor der Alte Seegeister, Meermänner, riesige Kraken, die sich in das Nordmeer verirrt hatten, übelwollende Kobolde, die die Mannschaft ärgerten, und
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versunkene Städte, in denen tief auf dem Meeresgrund golden gekleidete Leute spazierten. Dabei wurde er nicht einmal rot, ihn packte höchstens der Zorn, wenn Andrews es wagte, ganz besonders dick aufgetragene Geschichten anzuzweifeln. „Eines Tages”, schloß der Alte, „wirst du dieses Schiff mit eigenen Augen sehen, und es wird dir die Sprache verschlagen, und du wirst den Himmel anflehen, nur einmal auf diesem Schiff fahren zu dürfen, mein Sohn. Und wenn du die Planken dann wirklich mal betrittst, wirst du dir vor lauter Achtung und Respekt in die Hose kacken, das sagt dir der alte Donegal.“ „Ich glaub's ja“, sagte Gary kleinlaut. „Mir läuft es jetzt schon heiß und kalt über den Rücken, wenn du davon erzählst.“ „So geht es jedem, der von dem Schiff hört“, versicherte der Alte stolzgeschwellt, und in seine hellen Augen trat ein fast überirdisches Leuchten. Das Land beschrieb einen starken Bogen, und eine Bucht tat sich auf, so groß und gewaltig, daß man sie nicht übersehen konnte. Der junge O'Flynn, der sich vornehmlich um die Navigation kümmerte und es darin schon fast bis zur Perfektion gebracht hatte, hantierte mit dem Jakobsstab und rechnete. Sie hatten gute Seekarten, aber die einzelnen Buchten dieser Insel waren nicht genau bezeichnet, und Dan stellte schließlich eine Menge Abweichungen fest. Aber er wußte, über den Daumen gepeilt, wo sie sich befanden. „In dieser Riesenbucht gibt es jede Menge kleine, völlig abgelegene Buchten“, sagte er zu Hasard. „Wie es den Anschein hat, wird hier kaum jemals ein Schiff anlegen. Ich schlage vor, wir laufen die einzelnen Buchten einmal an und sehen uns um.“ „Hoffentlich bestehen die nicht auch nur aus Mangrovenwäldern“, meinte der Seewolf. „Laufen wir also ein paar Buchten an, bis wir etwas Geeignetes finden.“ „Ferris kann dann endlich seine Holzbohrwürmer aus den Planken polken“,
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sagte Pete Ballie lachend. „Ich bin gespannt, wie er das anstellt.“ Ferris Tucker, der am Niedergang stand, drehte sich um, als er die Worte hörte. „Das ist ganz einfach“, sagte er, „dünne lange Nadeln werden erhitzt, bis sie glühen. Dann blickt einer in die Löcher, am besten du selbst, und lockt den Holzbohrer heraus. Sobald er sich rückwärts bewegt, piekst du ihm die Nadel in den Hintern, und er ist erledigt. Und wenn wir damit fertig sind, dann werde ich dir die Nadel in deinen Affenarsch pieken“, versprach Ferris. Zum dritten Mal änderte die „Isabella“ an diesem Tag den Kurs. Der Wind wurde schwächer, weil die Berge in der Riesenbucht ihn eindämmten und seine Kraft brachen. Auch das Wasser hatte seinen Rhythmus verloren, es gab keine Wellen mehr, die gleichmäßig anrollten, sondern nur noch kleine durcheinanderlaufende Seen, die lässig gegen den Rumpf klatschten. Die Tiefe wurde von nun an ständig gelotet und ausgesungen. Der alte O'Flynn übernahm das mit monotoner leiernder Stimme, die sich nur dann hob, wenn sich die Wassertiefe veränderte. An der Lotspeise klebte ausnahmslos Sand, feinkörnig und hell, fast so dünn wie der, der sich in den Sanduhren befand. „Ideale Buchten gibt es hier“, sagte Hasard. „Das einzige, was mich stört, sind diese undurchdringlichen Wälder. Wenn wir dort kein Wasser finden, verschieben wir die Arbeit und segeln weiter, denn ohne Wasser ist uns auch nicht geholfen.“ „Aber der Holzbohrwurm“, wandte Ferris ein. „Der kann dann auch noch ein paar Tage warten, die Algen und Muscheln ebenfalls. Es bleibt dabei, was ich gesagt habe.“ Ferris Tucker maulte vor sich hin, aber er sah selbst ein, daß es Wahnsinn war, mit den Arbeiten zu beginnen, wenn man nicht gleichzeitig Wasser und Proviant mannen konnte. Das kostete nur eine Menge Zeit. In der ersten Bucht regte sich kein Leben. Schweigend und von einem brühheißen Sonnenglast umlagert, bot sie sich den
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Blicken dar. Im klaren Wasser tummelten sich schillernde Fische. Der Seewolf ließ weitersegeln, und gegen Abend, bevor die kurze Dämmerung einsetzte, hatten sie das gefunden, was ihren Vorstellungen entsprach: eine von See her uneinsehbare Bucht, an deren Ufer das Dickicht teilweise stark zurücktrat. Da gab es einen breiten Sandstreifen, da standen schiefgeneigte Kokospalmen, an denen runde braune Früchte hingen. „Sechs Faaaden, Saaand“, sang der alte O'Flynn laut, und als die Wassertiefe nur noch fünf Faden betrug, gab Hasard den Befehl zum Ankern. Der schwere Buganker rauschte aus, eine riesige Wasserschildkröte, die der Kutscher mit hungrig-lüsternen Blicken verfolgte, suchte eiligst das Weite und schwamm verstört davon. Die Entfernung bis zum Ufer betrug knapp fünfzig Yards. Alles Weitere sollte sich morgen finden. Sie fierten nur noch das Beiboot ab, ruderten an Land und markierten den Sandstreifen mit dünnen Hölzern, damit sie einen Anhaltspunkt hatten, welche Unterschiede es hier zwischen Ebbe und Flut gab. Dann brach nach einer sehr kurzen Dämmerung schnell die Nacht herein. Auf der „Isabella“ wurde es ruhig. Nur die eingeteilten Deckswachen gingen ihre Runden. 5. Die fast unheimliche Ruhe wurde im Morgengrauen jäh gestört. In den Mangrovenwäldern und dem sich dahinter anschließenden Dschungel setzte ein Höllenkonzert ein. Gestern abend noch war es eine schweigsame Welt gewesen, die vielleicht voller Leben war, bevor die „Isabella“ vor Anker ging. Das hatte sich auf die Tierwelt störend ausgewirkt, aber jetzt empfanden sie das Schiff nicht mehr als Eindringling. Es gehörte ganz einfach zu der Bucht. Kreischende Vögel zogen vorüber, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war, eine ganze Affenhorde brüllte und schrie,
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und aus dem Wasser schnellten Fische in hohem Bogen empor. In den Mangrovendickichten zeterte und schrillte es, dazwischen zirpten Zikaden, schrien unbekannte Tiere und keckerten kleine Affen derart laut, daß sich dem Schimpansen Arwenack die Haare aufrichteten. Carberry und Tucker brüllten die Männer buchstäblich aus dem Schlaf, und wer noch einmal einnickte, den rissen Tuckers sinnige Sprüche hoch. „Acht Glasen hat's geschlagen, hört ihr nicht den Holzwurm nagen!“ Luke Morgan, auf dessen fast kahlem Schädel die ersten spärlichen Borsten seit dem Unfall sprossen, hielt sich die Ohren zu. „Ich kann Tuckers blöden Holzwurm nicht mehr hören“, beschwerte er sich laut. „Hat der denn nichts anderes mehr unter seinem rothaarigen Urwald?“ „Der steckt selber voller Holzbohrwürmer“, sagte Jeff Bowie. Selbst beim Essen trieb Tucker die Leute an, und den kalten Tee stürzten sie im Stehen hinunter. Dabei hatte Ferris nur sehr kurze Zeit geschlafen, denn alle Augenblicke war er aufgestanden, um nach dem Wasser zu sehen, damit er einen geeigneten Platz fand. Jetzt kannte er ihn und erklärte dem Seewolf ausführlich, wie er sich das vorstellte. Aber Hasard winkte ab. „Das ist ja alles schön und gut, Ferris“, sagte er ungeduldig, „aber in erster Linie suchen wir nach Wasser, frischen Früchten und Wild oder Schildkröten, damit wir Abwechslung in unseren Speisezettel kriegen. Erst wenn wir Wasser gefunden haben, ist der Holzwurm an der Reihe. Ich werde jetzt einen Trupp zusammenstellen, mit den restlichen Männern kannst du dann beginnen, das Schiff zu krängen.“ „Der Kahn fault uns unter dem Hintern weg“, jammerte der Zimmermann besorgt, doch damit konnte er Hasard nicht beirren.
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Das zweite Boot wurde ebenfalls abgefiert. Tucker lief händeringend in der Kuhl auf und ab. „Wir kriegen Ebbe“, teilte er jedem mit, und sah den Seewolf beschwörend an. „Laß uns wenigstens die Lady auf jene Stelle dort setzen, dadurch versäumen wir doch nichts, außer ein paar Stunden. Finden wir kein Wasser, brauchen wir nur die Flut wieder abzuwarten und sind flott. Ist das ein Vorschlag, Sir?“ „Du bist ein Quälgeist, Ferris. Aber gut, ich sehe es ein. Wir verlieren dadurch tatsächlich nichts, denn die Suche wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“ „Einige Zeit?“ empörte sich der Kutscher, der unruhig genau wie Ferris auf und ab lief. „Ich habe mehr als zwanzig Mäuler zu stopfen. Bis wir Fleisch und Beeren und Wasser haben, vergeht schon eine verdammte Weile. Dieser Holzbohrer treibt mich noch zum Wahnsinn, wenn das so weitergeht, werde ich zum Urmenschen mit zuckenden Reflexen. Von den Biestern wird keiner satt.“ „Wenn dir das Schiff unter dem Achtersteven absäuft, brauchst du sowieso nichts mehr!“ schrie Tucker ihn an. Es sah nach einem handfesten Streit aus, bis Hasard die beiden Kampfhähne freundlich anblickte und seine Stimme noch sanfter wurde als das unmerkliche Säuseln des Windes. Da zog der Kutscher den Kopf zwischen die Schultern, Ferris kratzte sich seine stoppelbärtige Wange und setzte ein friedliches Gesicht auf, und die anderen, die herumstanden und palaverten, wurden plötzlich klein und häßlich. Hasards knappe Gestik wirkte wie ein Taifun, der im nächsten Augenblick das Schiff einschließlich der Crew erbarmungslos zerschmettern konnte. „Wenn ich dazu freundlicherweise auch etwas bemerken darf“, sagte er sarkastisch, „dann schlage ich vor, ich übernehme das Kommando wieder, falls keiner der ehrenwerten Gentlemen Einwände dagegen hat. Oder hat jemand welche?“ erkundigte er sich scharf.
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„Sie vielleicht, Mister Tucker, oder Sie, Mister Kutscher?“ „Tut mir leid, Sir“, brummte der Kutscher. „Keine Einwände, Sir“, beeilte sich Tucker zu sagen. „Früher hätte man euch wegen dieser Respektlosigkeit an den Rahen aufgehängt!“ schrie der alte O'Flynn dazwischen und pochte mit seinem Holzbein hart auf die Planken. „Holt den Anker ein“, sagte Hasard. „Sobald er oben ist, steigen acht Mann in das Boot und ziehen das Schiff zu der von Ferris bezeichneten Stelle. Dort wird der Anker erneut gesetzt. Wenn das geschehen ist, teile ich die Gruppen ein. Los, hoch mit euren müden Knochen, Ferris übernimmt das Kommando zusammen mit Shane. Und wenn ich in euren Triefaugen auch nur ein ungläubiges Blinzeln entdecke, dann fährt der Teufel unter euch Halunken. und dieser Teufel heißt immer noch Killigrew. Merkt euch das!“ An Deck schien irgendetwas zu liegen, denn jeder starrte nach diesen Worten angestrengt auf die Planken. Dann waren sie am Ankerspill, und weil immer noch alle schwiegen, rief der Profos: „Wollt ihr lausigen Schimpansenärsche wohl fröhlich singen, wenn das Spill knarrt, was, wie? Auf, ihr Rübenschweine, ein Lied. Was sollen die Affen im Urwald von uns denken? Wir fuhren im Sturm durch die Südsee, die Nacht war schwärzer als Teer.“ Gleich darauf fiel der ganze Chor ein, und schlagartig war die Stimmung so gut wie lange nicht mehr, als sie das Lied von der Südsee sangen, wo der Teufel, die Ratten und der Rum eine große Rolle spielten. Sogar der Kutscher hatte sich an eine Spillspake geklammert und trabte im Kreis herum, aus vollem Hals singend. Im Urwald erlosch das Gezeter, das Geschrei verstummte, und die Affen hatten sich verstört ins Buschwerk zurückgezogen. Selbst die Zikaden hörten auf zu sägen. Mit langsamen Ruderschlägen wurde die „Isabella“ vorangetrieben.
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Tucker ließ noch einmal loten und war zufrieden. „Fiert den Anker ins Boot ab und bringt ihn weiter nach Backbord aus“, sagte er. „Wieviel Wasser haben wir jetzt unter dem Kiel, Donegal?“ „Nicht mehr als einen halben Faden“, meldete der Alte. Das Ankerausbringen vom Boot aus war immer eine lausige Knochenarbeit, und oft war dabei schon ein Beiboot gekentert, wenn es von dem Gewicht des Ankers befreit war. Aber diesmal sprangen zwölf Mann ins Wasser und hievten das unförmige Monstrum auf den Grund. Anschließend kehrten sie an Bord zurück. Tucker besah sich das Werk noch einmal. Die „Isabella“ lag nun goldrichtig, fand er. Der Anker lag nach Backbord aus. Schon allein mit seiner Hilfe konnten sie das Schiff leicht zur Seite krängen, wenn sich die Flunken richtig in den Sand wühlten. Gab man aber dem Anker genügend Lose und setzte die Gold- und Silberbarren um und schaufelte auch noch den Reis hinüber, dann konnte man auch auf der anderen Seite am Rumpf arbeiten und den größten Teil des Rumpfes erreichen. Hasard stellte das Landkommando zusammen, dessen Führung diesmal der Kutscher übernahm, weil er sich am besten mit fremdländischen Gewächsen auskannte, und der außerdem noch hoffte, seinen Vorrat an übelriechenden und stinkenden Heilkräutern zu ergänzen, denn auch seine Salben und Wundermittel waren fast aufgebraucht. Er teilte dem Kutscher Gary Andrews, Batuti, Blacky, Sam Roskill und Luke Morgan zu. Sämtliche Leute ließ er bewaffnen, mit Pistolen, Schiffshauern und ihren Messern. Jeder schleppte Holzkisten, kleine Fässer und Leinensäcke mit sich. Sie sollten Ausschau halten nach Kokosnüssen, Früchten, Beeren, Kräutern, Wurzeln und Schildkröten. Der nächste Trupp, den Carberry anführte, und der aus dem jungen Dan O'Flynn, Stenmark und Conroy bestand, hatte die
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Aufgabe, nach Wasser zu suchen und, falls es hier welche gab, auch jagdbare Tiere zu erlegen. Zum Fischen im Beiboot teilte der Seewolf den alten O'Flynn, Will Thorne, den Segelmacher, und den Rudergänger Pete Ballie ein. Pete sollte sich dabei gleichzeitig ausruhen, denn er hatte länger als acht Stunden am Ruder gestanden. Für die Arbeiten am Schiff blieben außer Hasard Brighton, Tucker, Big Old Shane, Bob Grey, Jeff Bowie und der Moses Bill an Bord. Der Kutscher wurde mit seinen Leuten an Land gepullt. Sie begannen augenblicklich damit, Kokosnüsse einzusammeln, wobei der Gambianeger Batuti die Hauptarbeit leistete. Mühelos erklomm er die höchsten Stämme und warf die Nüsse in den Sand, wo die anderen sie zu einem großen Haufen trugen. Als die ersten Palmen abgeräumt waren, drangen die Männer in das Dickicht ein und verschwanden. Der nächste Trupp pullte an Land. Tucker brachte sie hin und führte das Boot wieder zurück, dabei umfuhr er gleich noch einmal die „Isabella“ von vorn bis achtern und lauerte darauf, daß sich die Lady auf den Grund legte. Old O'Flynn, Thorne und Pete Ballie hockten sich anschließend in das Beiboot und ruderten dorthin, wo das Wasser tiefer war. Kleine Fische bissen schnell an, und von den ersten benutzten sie Stücke, um damit größere zu ködern. Hasard blickte über die Bucht. Seine kampferprobten Seewölfe boten ein ungewohntes Bild, wie sie friedlich da hockten, angelten, Beeren sammelten oder Kokosnüsse holten. Jetzt verschwand auch der Profos mit seinen Leuten, die jeder ein kleineres Faß trugen. Falls man eine Quelle entdeckte, würden sie eine Kette bilden, die Fässer füllen und weiterreichen. Es war ein mühsames Unterfangen, aber es ging nicht anders, denn nicht überall legte die Natur ihnen alles in den Schoß. Vor den Erfolg
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hatten selbst die Meergötter den Schweiß gesetzt. Unmerklich begann das Wasser abzulaufen, und da Ferris Tucker immer noch nicht die Erlaubnis hatte, die Barren umzusetzen, begann er damit, alles nach oben zu mannen, was später bei den Arbeiten benötigt wurde. Solange sie die „Isabella“ hatten, war der Holzbohrwurm noch nie ausgeräuchert worden, und einige hatten nicht die geringste Ahnung, wie das vor sich ging. Insgeheim glaubte Pete Ballie tatsächlich an glühende Nadeln, die man in die Löcher steckte, um die Würmer damit zu piesacken, bis sie mit dem Bohren aufhörten. Oder war der ganze Holzbohrwurm vielleicht nur eine freundliche Erfindung von Ferris? Der untersetzte, stämmige Ben Brighton schaute zum Horizont und stieß Tucker an, der gerade ein kleines Pulverfaß nach oben an Deck gebracht hatte. „Sieh dir die Wolke an, Junge“, sagte er. „Wenn die keinen Regen bringt, fahre ich ab heute als Moses.“ „Das erleichtert bloß den anderen Kerlen die Arbeit.“ „Klar“, sagte Ben, „und du kannst das Schiff krängen, wenn es aufgehört hat, zu regnen.“ „Mann, na klar!“ rief Ferris erfreut und starrte die dunkle Wolke an, die schnell heranrückte. Sofort wurden Segelleinen gespannt, wie sie es schon oft getan hatten, um das kostbare Naß aufzufangen. „Daran habe ich auch nicht gedacht“, gab Hasard zu. „Aber diese Insel ist ein typischer Regenwald. Hier geht vermutlich jeden Tag ein gewaltiger Schauer nieder, ähnlich wie in Südamerika am Amazonas.“ Es ging wirklich sehr rasch. Ein Teil der heranjagenden Wolke regnete unter Blitz und Donner schon auf See ab, der Rest erreichte die Bucht und überschüttete sie und den Wald mit einem unwahrscheinlich schnellen und harten Schauer. Die eilig herangeschleppten großen Fässer füllten sich unheimlich schnell. Das Segelleinen konnte die Massen kaum
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halten. Vier Fässer waren randvoll, große Fässer. Die drei Fischer im Boot wurden von dem Schauer durchnäßt und freuten sich über die Abwechslung, obwohl es lauwarmer Regen war, der da wie eine Sintflut vom Himmel stürzte. Dann war es vorbei, so schnell wie es erschienen war. Kurze Zeit später hatte die „Isabella“ Grundberührung. Behäbig setzte sich der Kiel auf den feinen Sand und neigte sich dann ganz sachte zur Seite. Diesmal schufteten sie wie verrückt. In den Räumen setzten Hasard und die an Bord verbliebenen Männer die schweren Barren um, und schaufelten den Reis zur anderen Seite. Gehorsam legte sich das Schiff auf die Seite. Der Schweiß lief ihnen in Strömen über die Gesichter, aber Ferris Tucker lächelte selig und wischte sich die nassen roten Haare erleichtert aus der Stirn. „Jetzt geht dein Traum vom Holzbohrwurm endlich in Erfüllung“, sagte Ben grinsend, „und du kannst sie jagen wie das liebe Vieh.“ „Das werde ich auch“, versprach Ferris. Zusammen gingen sie an Deck und sahen sich um. Der Rahsegler lag hart auf Backbord und Ferris deutete auf den Anker. „Ein wenig können wir noch durchholen, bis das Tau steif steht. Das Schiff gibt noch nach.“ „Das bezweifele ich ganz entschieden“, widersprach Ben. „Ich habe da einbesonderes Gefühl für solche Sachen“, entgegnete Ferris. Er behielt recht. Der Krängungswinkel nahm noch etwas zu, nicht viel, aber dadurch wurde doch noch eine etwas größere Fläche des Rumpfes frei. Auf Steuerbord verließen sie das Schiff und bewegten sich über den feinen Sand, auf dem nur noch fingerbreit das Wasser stand. Ein gekrängtes Schiff sah auf dem Trocknen schlimmer aus als im Wasser, fand der Moses. Da hatte man immer das
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Gefühl, als würde es sich total zur Seite neigen und umfallen. Auch wirkte es jetzt viel größer, riesengroß fast. Aber wie sah es unten aus! Der Rumpf war eine schwarze Masse, aus der es grünlich und dunkelblau schillerte. Langsam trocknende Algenbärte hingen auf der Unterseite, durchwachsen von Tausenden von Muscheln. Und in den braunen und schwärzlichgrünen Algen wimmelte es. Da rannten winzige Krebse durcheinander und versuchten, das rettende Wasser zu erreichen, da gab es andere kleine Tiere und ekelerregendes Gewürm aller Sorten und Gattungen, von kleinen Spinnen angefangen bis zu kugelförmigen Wesen, die der Moses noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er ging näher heran und bückte sich. „Sind das die .Holzbohrer, Mister Tucker?“ wollte er wissen und deutete auf die winzigen, kaum sichtbaren Dinger, die wild durcheinander krabbelten. „Nein, die sitzen unter den Muscheln im Holz drin. Erst müssen die Muscheln abgekratzt werden, die Algen entfernt und der Rumpf sauber sein, vorher sieht man die Gänge nicht.“ Tucker starrte auf die Muscheln und riß eine aus dem Gewirr von verfilztem Seetang heraus. Er hielt sie dem Bengel unter die Nase und grinste. „Das fressen die Spanier - und Kastanien“, setzte er hinzu. „Wenn die mal aufslippen, haben sie wochenlang zu essen. Ich habe mal gesehen, wie sich eine ganze Crew am Rumpf sattgefressen hat.“ Bill musterte den Zimmermann von der Seite, doch Tucker zeigte keine Regung, lediglich Big Old Shane grinste in seinen Bart, bis aus dem Grinsen schließlich ein dröhnendes Lachen wurde. „Dann geraten die Spanier wenigstens nie in Not“, sagte der Bengel trocken. „Die brauchen nur auf Grund laufen, und schon haben sie ihre Mahlzeit beisammen. Daran sollten wir uns in Notzeiten auch gewöhnen, Mister Tucker.“ Sie schleppten das Werkzeug herbei und der Moses wollte mit einem großen
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Kalfateisen zu kratzen beginnen, aber Tucker schüttelte den Kopf. „Man fängt ganz unten an Bill, wenn man nicht richtig aufgeslippt ist, sondern so liegt wie wir. Weshalb?“ Der Bengel grinste pfiffig. „Weil das Wasser steigt und man länger arbeiten kann, und wenn es weiter steigt, kann man immer noch oben abkratzen.“ „Richtig, mein Sohn. Dann fang mal an!“ Den Rumpf säubern, das war eine der verhaßtesten und unbeliebtesten Arbeiten an Bord. Das kriegte auch der Bengel zu spüren, als die scharfen Muschelreste ihm die Hände aufschnitten, als ihm winzige Tropfen Salzwasser in die Augen spritzten und er sich fast auf den Rücken legen mußte, um das Dreckzeug abzukratzen. Wenn er ein Stückchen sauber hatte und die Länge des Schiffes sah, verließ ihn fast der Mut. Die Hitze besorgte den Rest, man wurde träge, schlapp und müde, und nach einer Stunde taten ihm alle Knochen weh, und dabei hatte er erst eine geradezu lächerlich kleine Fläche geschafft. Dann sah er neidvoll zu, wie der große Shane oder Tucker, der Seewolf, Brighton und die anderen wühlten, als wollten sie das Schiff auseinanderreißen. Tucker hatte ein riesiges Feld freigelegt, und jetzt untersuchte er es genauer. „Hier“, sagte er zu Hasard, „da ist er, der Holzbohrer. Löcher so klein, daß man sie kaum sieht, das sind seine Gänge, und wenn wir den nicht ausräuchern, frißt er uns auf.“ Mit einer dünnen scharfen Nadel versuchte er in den Gang zu pieken, doch die dünne Nadel erwies sich als zu dick. „Wie tief sitzt er?“ fragte Hasard. „Nur ein paar Inches, einige hängen noch halb draußen, aber je salziger das Wasser wird, desto wohler fühlt er sich, und um so schneller bohrt er sich hinein.“ Grey und Bowie ließen sich das heimtückische Biest auch zeigen, dann arbeiteten sie verbissen weiter und beneideten insgeheim die Männer, die an Land waren. Das Holz der „Isabella“ erwies sich als außerordentlich widerstandsfähig und
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stabil. Zum Glück hatte Tucker damals darauf bestanden, daß keine dünnen Kupferbleche unter den Rumpf genagelt wurden, wie es bei den Spaniern üblich war. Da nämlich hatte der Holzbohrer leichtes Spiel, und die alten Galeonen verfaulten zehn mal schneller mit ihren verdammten Kupferblechen, die das Schiff schützen sollten, es in Wirklichkeit aber schneller altern ließen. Der Schiffszimmermann war pingelig, und wenn er arbeitete, dann nahm er alles so genau und pedantisch, daß es ihm keiner recht tun konnte. Aber seine Pedanterie hatte sich schon oft ausgezahlt, und daran mußte jetzt auch Hasard denken, als sie die „Isabella“ damals gekauft hatten und Tucker wie ein unruhiger Geist durch das Schiff geschlichen war und dieses und jenes bemängelt hatte, obwohl die „Isabella VIII.“ das modernste Schiff war, das die Werft jemals hervorgebracht hatte. Als die erste große Fläche abgekratzt und geschmirgelt war, strich der Schiffszimmermann heißes Pech darauf, griff in das Faß mit dem Schießpulver und klebte es auf den dünnen Überzug aus Pech. In diesem Augenblick hielt die drei Angler nichts mehr. Sie pullten heran, Pete Ballie getrieben von Neugier, was jetzt geschah und wie der Wurm ausgerottet wurde, oder der Bohrer, wie Ferris ihn nannte. Sie hatten eine Menge Fische gefangen, und als das Boot auf den Sand lief, sprangen die Männer heraus. „Schießpulver?“ fragte Pete entsetzt und bewegte seine großen Pranken besorgniserregend hin und her. „Wozu soll das denn wieder gut sein?“ Old O'Flynn wußte es, aber er enthielt sich der Stimme, und auch der alte Will Thorne schwieg. Tucker erklärte es ihm. „Die Höhlen des Holzbohrers werden gesprengt, mit Schießpulver“, sagte er ernst. „Dann fliegt der Holzbohrer in die Luft.“ . „Waaas?“ schrie Pete. „Ich denke, das geht mit der Nadel!“
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Ferris verneinte. „Er sitzt zu tief, verstehst du? Wir müssen sprengen, geh aus dem Weg!“ Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, blies er auf die Glut der Lunte und hielt sie an die klebrige Masse. „Sir, das kannst du nicht zulassen!“ rief Pete dem Seewolf zu, doch dann merkte er, daß Tucker ihn wieder einmal genarrt hatte. Eine Stichflamme zuckte an den Rumpfplanken hoch, setzte für ganz kurze Zeit das Pech in Brand und überzog alles mit einer lohenden Feuersäule. Es sah aus, als würde die „Isabella“ jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Das glutheiße Pech drang in die Ritzen ein, verklebte sie und erstickte die Holzbohrer, einerseits durch die sengende Hitze, andererseits dadurch, daß es die winzigen Gänge hermetisch abschloß. „Als ich die ersten Holzbohrer ausrottete“, sagte Ferris, „da hast du gerade in den Windeln schwimmen gelernt, Pete, so lange ist das schon her.“ „Donnerwetter“, sagte Ballie, „du bist doch ein rothaariger Satansbraten, der sein Handwerk versteht.“ „Nun, man lernt immer noch dazu“, sagte Tucker bescheiden. Sobald eine Fläche abgekratzt war, rückte der Zimmermann dem unsichtbaren Biest zu Leibe, brannte, räucherte und sengte es aus, bis der Rumpf teilweise schwarz glänzte und aussah, als wäre er mit frischem Lack überzogen. Die anderen halfen mit, unermüdlich, keuchend, schwitzend und verhalten fluchend. Sie hatten noch eine Menge Arbeit vor sich, und nicht mehr lange, dann stieg das Wasser wieder. Deshalb schufteten sie wie besessen weiter. 6. Unterdessen hatte der Trupp mit Carberry, Dan, Stenmark und Al Conroy fast zwei Meilen in südlicher Richtung zurückgelegt. Die Sorge mit dem Wasser waren sie los, denn der Regenschauer hatte sie bis auf die
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Haut durchnäßt und bei den Männern Freudenstürme ausgelöst. Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister, hatte ein Tier erlegt, das einem Wasserschwein verblüffend ähnlich sah und das beachtliche Gewicht von annähernd etwas mehr als zwei Zentnern aufwies. „Dann ist es etwas leichter als der Profos“, hatte Dan lachend gesagt und dafür von Carberry einen vernichtenden Blick geerntet. Sie hatten es aufgebrochen und an einen Baum gehängt, um es auf dem Rückweg mitzunehmen. „Wir müssen noch mehr finden“, sagte Conroy, „zwei Zentner Fleisch vertilgt der Profos zum Frühstück, und die anderen wollen ja auch etwas essen.“ Aber sie fanden keins der Tiere mehr. Dafür entdeckten sie etwas anderes, und das drehte ihnen fast den Magen um. Mit den Schiffshauern bahnten sie sich einen Weg durch den dumpfen heißen Dschungel, umschwirrt von Myriaden kleiner Stechmücken, die sich selbstmörderisch auf die Männer stürzten und ihr Blut saugten. Winzige Käfer fielen sie an, bohrten sich blitzschnell und schmerzhaft in die Haut und legten ihre Eier ab, damit für den fleischfressenden Nachwuchs gesorgt war. Dan O'Flynn erreichte eine Lichtung, einen freien Platz, und von hier aus hatten sie einen Ausblick auf eine weitere Bucht. Da blieb der junge O'Flynn wie gelähmt stehen. Die Lichtung war künstlich angelegt worden. Unbekannte hatten Büsche, Mangroven und kleine Sträucher gerodet. Auf der Lichtung standen nur ein paar abgestorbene dünne Pfähle. Das war es aber nicht, was Dan zusammenzucken ließ. Er blickte auf einen Schädel, der an einem der Pfähle hing, und dieser Schädel sah verdammt danach aus, als hätte er kurz zuvor noch einen spanischen Körper geziert. Es war eine Tsanta, ein Schrumpfkopf, wie ihn auch die kleinen Buschmänner in der versunkenen Stadt in der Nähe des
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Amazonas angefertigt hatten. Man hatte der Tsanta die Lippen zugenäht, den Schädel mit heißem Sand gefüllt und ließ ihn nun trocknen. Dan kannte die Prozedur. Kühlte der Sand ab, dann wurde neuer heißer Sand hineingefüllt, bis der Schädel nach Wochen restlos austrocknete, auf Faustgröße zusammenschrumpfte und so für alle Ewigkeit erhalten blieb. Carberry, Stenmark und Conroy blieben stehen, als seien sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. „Verdammt“, sagte der Profos leise und blickte sich nach allen Seiten um. „Da sind wir ja mal wieder in die allerbeste Gesellschaft geraten, und der Teufel soll mich holen, wenn das keine Spanier sind.“ Vierzehn Pfähle standen auf der Lichtung und jeder dieser Pfähle trug eine Tsanta. Die Haare behielten die ursprüngliche Länge bei, nur der Schädel selbst schrumpfte, und die Gesichtszüge blieben ebenso erhalten. Stumm und reglos standen sie da. der Magen krempelte sich ihnen um, keiner brachte einen Ton hervor. Das war fast eine ganze Schiffsmannschaft, die sich hier zu einem schauerlichen Stelldichein versammelt hatte, und deren Köpfe erst ein paar Tage alt waren. Der Profos kannte das, die Buschmänner hatten ihm damals einen Schrumpfkopf geschenkt, ein Andenken, vor dem ihm heute noch graute, wenn er nur daran dachte. Also gab es auf dieser Insel Wilde, Kopfjäger, Menschenfresser vielleicht, die hinterhältig und heimtückisch töteten. Überall im Dschungel konnten sie lauern, aus ihren Blasrohren vergiftete Pfeile schießen und sie töten. Es war Wahnsinn, weiter vorzudringen, denn die Kerle waren hier zu Hause und ihnen trotz der Waffen himmelhoch überlegen. Ganz in der Nähe mußte ihr Dorf sein, diese Lichtung bewies es, die sie fast stündlich aufsuchten,. um die Tsantas zu „pflegen“.
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Carberrys rechte Hand umkrampfte die Waffe. Schweigend bedeutete er den anderen, es ihm gleichzutun. Dann deutete er mit ausgestreckter Hand zurück. Es war nicht einmal der Anflug von Feigheit, der sie veranlaßte sich zurückzuziehen. Es war ein dringendes Gebot der Stunde, basierend auf dem Selbsterhaltungstrieb, einem vernünftigen Gesetz folgend, sich nicht einfach einem unbekannten Gegner auszuliefern, der an nichts anderes dachte als an Töten und den Männern die Köpfe abzuschlagen, um sie an Pfählen aufzuspießen. Hier befanden sie sich in der Höhle des Löwen, und die mußten sie so schnell wie möglich verlassen, denn sie kannten nicht die kolossale Übermacht der Kopfjäger. Das Grauen hielt sie noch gefangen, als sie schon fast eine Meile zurückgelegt hatten. Immer noch sahen sie die Köpfe vor sich, die verzerrten Gesichter, als Masken, die unter Qualen gestorben waren, nachdem man sie hinterrücks überfallen hatte. Das riß und zerrte an den Nerven, auch wenn sie es schon einmal gesehen hatten. Es lag kein Sinn in diesem Töten, und daher widersetzte sich in ihrem Innern alles dagegen. Es war sinnloser Mord, wie Carberry wutschnaubend sagte. „Und wenn es hundert Mal verdammte Dons sind und sie die Pest über ganze Länder bringen“, sagte er erbittert, „dann sind sie immer noch Menschen. Es gibt nämlich solche und solche, und ich kann verdammt noch mal nicht einsehen, daß man Menschen wie Vieh einfach abschlachtet und ihre Schädel ausstopft oder trocknet. Wilde oder nicht, da hört der Spaß auf!“ Selten hatte der Profos so voller Grimm gesprochen, und seine Miene drückte aus, daß er den Kopfjägern am liebsten zu Leibe gerückt wäre, um dort mal kräftig aufzuräumen, und die Burschen auf den Weg der Erleuchtung zu bringen. . Spät am Nachmittag kehrten sie zurück, beladen mit dem großen Tier, das Carberry ganz allein durch den Dschungel schleppte.
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Wasser hatten sie übrigens nicht gefunden, bis auf einen kleinen Tümpel voll einer stinkenden Brühe, über dem wie ein dichtes Netz riesige Schwärme von stechenden Plagegeistern hingen. Die „Isabella“ schwamm wieder, als sie sie erreichten. Als der Profos dem Seewolf Bericht erstattete, wurde Hasards Gesicht starr wie eine Maske. „Kopfjäger?“ fragte er fassungslos. „Ja“, sagte der Profos schwer, „wir haben vierzehn Köpfe gefunden, die zweifellos von Spaniern stammen. Ich schätze, daß sie höchstens zwei Tage alt sind.“ Auf der „Isabella“ verbreitete sich diese Schreckensnachricht wie ein Lauffeuer. Die Seewölfe sahen sich fassungslos an. Kopfjäger, die hatten sie am Amazonas kennengelernt, und obwohl es sich um nette kleine Buschmänner gehandelt hatte, die überaus freundlich gewesen waren, blieb ein leises Grauen zurück. Die Männer des Amazonas hatten nicht aus Mordlust getötet. Ihre Opfer waren Todfeinde, die sie bis aufs Blut gepeinigt hatten. Hier jedoch lag der Fall anders, wie es den Anschein hatte. „Es gibt, verdammt noch mal, keine ruhigen Flecken mehr auf dieser beschissenen Welt“, sagte Old O'Flynn. „Hier hat es ausgesehen wie im Paradies, und was entdecken wir? Miese, gallige Burschen, die nichts anderes tun, als harmlosen Freibeutern die Köpfe abzuhacken. Man sollte diese Brut mit Stumpf und Stiel ausrotten.“ Die Gemüter erhitzten sich, es wurde debattiert, und Luke Morgan der Hitzkopf, verlangte allen Ernstes, daß man schnellstens auslaufen und es diesen Kerlen einmal ganz hart zeigen sollte. Bei dem Seewolf stieß er damit allerdings auf taube Ohren. „Wir kennen ihre Motive nicht“, sagte Hasard, „und können uns demnach auch kein Urteil erlauben. Der Teufel mag wissen, was die Dons wieder angestellt haben, wenn man ihnen einen derartigen Empfang bereitete. Wohin sie auch immer
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segelten, meist ließen sie Blut und Tränen zurück, und solange die Kopfjäger uns nicht behelligen, werde ich den Teufel tun, sie anzugreifen. Wir sind Korsaren der Weltmeere, wir kämpfen gegen die Spanier, jagen ihnen die Beute ab und haben augenblicklich nichts anderes im Sinn, als unser Schiff instand zu setzen. Solange uns dabei keiner stört, ist alles in Ordnung. Greift man uns aber an, dann werden wir die Hölle entfesseln.“ Er sah sich um, und die gesamte Crew nickte Zustimmung. „Jawohl, Sir“, sagte Carberry, „wir sind nicht der Arm der Gerechtigkeit, und für die Dons halten wir noch lange nicht unsere Köpfe hin. Zum Teufel mit den Kopfjägern.“ „Ruht euch jetzt aus“, sagte Hasard, den die Nachricht trotz allem etwas schockiert hatte. „Heute nacht gehen sechs Mann Wache, die sich alle vier Glasen ablösen. Die Kanonen bleiben schußbereit, an die Wachen werden Musketen und Pistolen ausgegeben und das Schiff wird beleuchtet, und zwar so, daß man bis zum Land hin die Wasseroberfläche erkennen kann. Der Kutscher wird euch drei Flaschen Rum bringen, ihr alle habt einen Schluck verdient, und danach geht es ab in die Kojen.“ „Batuti schlafen lieber an Deck“, sagte der Neger. „Batuti schlafen heute nacht ausnahmsweise in Koje“, fuhr Carberry ihn an, „und Batuti werden gefälligst nicht so laut schnarchen, kapiert?“ Hasard blieb noch so lange bei seinen Männern, bis der Kutscher die Rumflaschen brachte. Er kannte sie, sie tranken zwar gern, aber nur widerwillig, wenn er sich an Bord befand und nicht wenigstens den ersten Schluck mit ihnen zusammen trank. Den kleinen Gefallen war er ihnen schuldig, und gegen einen Schluck Rum hatte der Seewolf grundsätzlich nichts einzuwenden. Also setzte er die Flasche an, nahm einen Zug und reichte sie an Ben weiter. Da sie an Bord einschließlich des Moses und ausgenommen Arwenack und Sir
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John, zweiundzwanzig Mann zählten, waren die drei Flaschen ein Klacks. Jeder trank eine Daumenbreite, und da die meisten von ihnen nicht gerade magere Daumen hatten, gab es insgesamt etwa dreißig Breiten, wenn man Carberrys Daumen zugrunde legte, der dann auch verlauten ließ, die drei Flaschen würden mit Mühe und Not dazu ausreichen, um die Luft anzufeuchten. Al Conroy sammelte die leeren Flaschen ein und bewachte sie eifersüchtig, denn leere Flaschen konnte man mit Schießpulver, gehacktem Blei oder kleinen Steinen füllen und sie vermittels einer hineingesteckten Lunte als teuflische Geschosse verwenden, die schon so manchen Gegner unangenehm überrascht hatten. Der Seewolf zog sich nach seinem Schluck zurück, und von den Seewölfen verholte einer nach dem anderen. Auch Batuti fügte sich dem Profos und suchte den Schlafraum auf, denn Kojen aus Holz, zweifach übereinander, hatte kaum ein Schiff aufzuweisen. Auch das war Tuckers und Hasards Idee entsprungen, die alle beide nicht einsahen, weshalb sich Mannschaften an Deck legten, um dort zu schlafen, zumal jeder Kapitän eine eigene Kammer besaß. Ohne jeden Zwischenfall verging die Nacht. Wenn es hier Kopfjäger gab, woran nicht der geringste Zweifel bestand, dann hatten sie jedenfalls an der „Isabella“ kein Interesse. Oder sie wußten noch nicht, daß weißhäutige Fremde in ihr Revier eingedrungen waren. Alle zwei Stunden wechselten die Wachen. Wachsame Augen suchten die Wasseroberfläche ab. Ein Mann stand ständig an den Culverinen, eine glimmende Lunte zu seinen Füßen, die in einem mit glühender Holzkohle gefüllten Messingbecken lag. Die Bronzerohre der Siebzehnpfünder waren mit grob gehacktem Blei geladen, und in den vorderen und achteren schwenkbaren Drehbassen befand sich ebenfalls eine Mischung aus grobem Blei, rostigen Nägeln und Eisen.
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Die Streuung hatte einen Radius bis zum Strand auf fast hundert Yards. Damit konnte man eine ganze angreifende Horde wie mit einer riesigen Sense niedermähen. Doch kein Kopfjäger ließ sich blicken. 7. Als sich am anderen Morgen immer noch nichts rührte, wurden die Arbeiten fortgesetzt. Diesmal arbeiteten fast alle mit. .Da wurde gekratzt, gestoßen, gehämmert, abgebrannt — was immer Ferris Tucker persönlich übernahm —, kalfatert und gestrichen. Das kleine Fäßchen Schießpulver ging zur Neige. Tucker mußte ein neues holen, um den Holzbohrwurm zu vernichten. Mitunter hatte es den Anschein, als würde die „Isabella“ lichterloh in Flammen stehen. Dann züngelten riesige, blutrote Flammen an dem Schiffskörper hoch; dann wurde Pech so flüssig wie Wasser, und dann rannten Seewölfe mit Pützen voller Seewasser umher, um den vermeintlichen Brand zu löschen. Doch immer wieder sahen sie Ferris Tuckers heimliches Grinsen. Der Schiffszimmermann kannte genau die Menge, die er verwenden durfte, die Menge, die das Pech flüssig werden ließ und den Holzbohrwurm vernichtete, so daß er sich zusammenzog, in den Gang, den er gebohrt hatte, blitzartig verschwand und dort verendete. Ganz selten sahen sie einmal eins der winzigen Tierchen. Es hatte einen Kopf der in verblüffender Weise einem von Tuckers Holzbohrern ähnelte, die in der großen Holzkiste lagen, die meist unter der Nagelbank auf Steuerbord lag. Ferris hatte einige von ihnen herausgebohrt, kleine Dinger, bei denen man zweimal hinsehen mußte, ehe man sie einmal sah. Er ließ sie auf der Kuppe seines hornigen Zeigefingers laufen und zeigte sie herum. „Verrenkt euch nicht die Klüsen“, sagte er, „der Bursche ist so klein, daß man ihn kaum sieht, aber er ist ein emsiger
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Arbeiter, an dem ihr euch ein Beispiel nehmen könnt. Er bohrt und bohrt, und alles, was er braucht, ist nur Holz und Salzwasser. Dann beginnt er seine verdammt gründliche Arbeit.“ „Genau wie du“, sagte Tuckers bester Freund Carberry. „Ich überlege gerade, ob wir dich nicht umtaufen sollen. Ferris, der Holzbohrer, klingt doch nicht schlecht, was, wie?“ „Untersteh dich“, sagte Tucker grollend, „sonst bist du die letzte Zeit mein Freund gewesen.“ Mittags gab es große Stücke von dem Fleisch, das sie gestern erwischt hatten, und damit war auch schon fast die Hälfte wieder weg. „Hoffentlich sind wir bald fertig“, sagte der Kutscher mißmutig. „Was wir gestern gefunden haben, reicht vorn und hinten nicht.' Und weitersuchen können wir auch nicht mehr, wenn wir nicht heimlich ein paar vergiftete Pfeile ins Kreuz kriegen wollen. Keine Beeren, keine Kräuter, nur ein paar lausige Nüsse und zwei Schildkröten.“ „Wenn du nicht soviel meckern, sondern stattdessen kräftig mithelfen würdest, werden wir viel schneller fertig“, sagte der Profos. Der Kutscher zog sich zurück, aber als er seine Kombüse aufgeklart hatte, war er dabei und hieb wie ein Wilder auf die Muscheln und den Tang ein. Der größte Teil der Unterseite war abgekratzt, mit Pech verklebt und abgebrannt worden. Im Rumpf gab es eine ganze Menge dieser winzigen Löcher. Tucker hatte also mit seiner Behauptung recht gehabt, nur war es nicht so schlimm, wie er es darstellte. Hasard hatte ständig einen Mann im Ausguck, dessen Blick bis weit aufs Meer reichte, und der auch einen Teil des Urwalds überblicken konnte. Diesmal war es der Schwede Stenmark. Er war noch keine halbe Stunde oben, als er an Deck rief: „Deck! Ein Spanier! Zweimaster! Er segelt ziemlich dicht an der Küste entlang. Himmel, wie der Don
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segelt. da scheinen nur Verrückte an Bord zu sein.“ Während die anderen ihre Arbeit unterbrachen, enterte der Seewolf schweigend in die Wanten, bis er den Ausguck erreichte. „Der hat uns gerade noch gefehlt“, sagte er leise. „Wenn der uns entdeckt und in die Bucht einläuft, kann er uns eine Menge Kummer bereiten. Wir müssen sofort ...“ Er unterbrach sich, denn jetzt fiel ihm selbst auf, wie eigenartig der Don an der Küste segelte. „Da scheinen tatsächlich Verrückte an Bord zu sein“, sagte er zu dem Schweden. „Ein großes Segel steht, die anderen hängen im Gei. Diese Nachttopfsegler haben wohl noch nie etwas von Brassen und Schoten gehört.“ Er legte die Hände an die Lippen. „Bill! Bring mir das Spektiv. Beeil dich!“ Der Moses flitzte los, holte das Spektiv aus der achteren Kammer und brachte es nach oben. „Da wird man ja ganz schwindlig“, sagte er und deutete auf den Mast, der jetzt schief in die Luft ragte, und in dessen Ausguck es sich schlecht stehen ließ. Hasard gab keine Antwort. Er zog das Spektiv auseinander und blickte hindurch. Stenmark sah ihn fragend an, doch der Seewolf reichte ihm nur schweigend das Spektiv und_ wartete, bis der Schwede ebenfalls hindurchsah. Nach einer Weile setzte er es ab. „Ist dir etwas aufgefallen?“ fragte Hasard. „Ja, eine Menge sogar, und es wundert mich auch nicht, daß das Segel falsch steht. Ich habe keinen Menschen an Bord gesehen.“ „Ich auch nicht. Noch etwas?“ „Sonst eigentlich nichts weiter“, sagte Stenmark. „Den Namen konnte ich nicht entziffern.“ „Das Schiff liegt viel zu tief im Wasser“, sagte Hasard. „Und das ist sicherlich nicht auf die Ladung zurückzuführen.“ „Es ist am Absaufen?“ fragte Stenmark. „Ja, es sieht aus, als ob es sich langsam voll Wasser säuft.“
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Hasard blickte nach unten, wo auf dem schräggeneigten Deck eine emsige Tätigkeit herrschte. Brighton ließ die Kanonen ausrichten, um den vermeintlichen Gegner wenigstens mit einer Breitseite empfangen zu können. Ferris hatte Brandsätze geholt und steckte sie in die Halterungen. Noch einmal blickte Hasard zu dem falsch segelnden Schiff hin, das der Wind, der jetzt fast auflandig zur Küste blies, immer näher herantrieb. Nein, es gab keine Menschenseele an Bord, wenigstens zeigte sich keine. Eine Falle der Spanier? überlegte er. Mit diesem Trick hatten oft schon Piraten, Spanier oder Engländer gearbeitet, und er hatte auch oft geklappt. Man lief den vermeintlich hilflosen oder verlassenen Kahn an, und schon erhoben sich hinter den Schanzkleiden bewaffnete Kerle und enterten. Wie ein Geisterschiff trieb es dahin, unstet, von unsichtbaren Kräften gelenkt. Hasard konnte jetzt den Namen entziffern. „Tierra“, hieß der anscheinend verlassene Segler. „Die Kopfjäger“, sagte der Seewolf plötzlich. „An Bord - da drüben?“ fragte Stenmark ungläubig. „Ich meine die Besatzung. Sie war es vermutlich, die den Kopfjägern in die Hände gefallen ist. Natürlich, es kann gar nicht anders sein. Ed hat doch vierzehn Köpfe gefunden.“ „Vielleicht gibt es doch noch Oberlebende an Bord“, sagte Stenmark. „Oder Verletzte, Hilflose. Vielleicht haben die Kerle nicht alle umgebracht.“ „Ja, das ist möglich. Bleibe weiter im Ausguck, Sten.“ „Aye, aye, Sir.“ Hasard enterte ab. „Ihr könnt die Brandsätze wieder verstauen“, sagte er, „das Schiff, das sich nähert, hat keine Besatzung an Bord und ist falsch besegelt. Außerdem wird es bald untergehen. Räumt das Werkzeug aus dem Beiboot, ich segle hinüber, Ben übernimmt solange das Kommando über das Schiff.“
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Die Seewölfe hatten sich im Nu zusammengereimt, was es mit dem Spanier auf sich hatte. Carberry nickte gedankenvoll. „Das waren vierzehn Besatzungsmitglieder, die wir gestern fanden“, sagte er gepreßt, „auf Pfähle gespießt. Das Schiff hat sich wahrscheinlich losgerissen, oder die Kopfjäger haben es auf See geschickt.“ „Mit einem Segel am Großmast?“ zweifelte Hasard. „Mit dem Schiff stimmt etwas nicht. Ich glaube nicht, daß Kopfjäger sich in der Takelage eines Seglers auskennen. Vermutlich befindet sich doch jemand an Bord und ist verletzt. Willst du mit, Dan?“ Fast alle wollten mit, aber Hasard wehrte ab. „Drei, vier Mann genügen völlig, die anderen passen auf, daß wir nicht hinterrücks überfallen werden.“ Er nahm Carberry, Dan und Smoky mit, und steckte zwei Brandsätze in sein Hemd. Dem Profos bedeutete er, Stahl, Flintstein und eine Lunte mitzunehmen. „Wollen wir den Kahn denn versenken?“ fragte Ed. „Das nicht, aber man sollte keine Möglichkeit außer acht lassen. Wenn es eine Falle ist, werden die Kerle ihr blaues Wunder erleben, deshalb nehmen wir das Zeug mit.“ Sie stiegen in das große Beiboot, das einen Mast und ein Segel hatte. Brighton reichte den Männern noch zwei Musketen. Gegen den auflandigen Wind, der nur schwach wehte, segelten sie los, durchkreuzten die Bucht und erreichten etwas später das Meer. Von hier aus war der Spanier deutlich zu sehen. Wie ein welkes Blatt trieb er der Küste entgegen, schwerfällig im Wasser liegend. „Ich glaube, er ist noch tiefer abgesackt“, sagte Hasard. „Dann kann es auch keine Falle sein“, meinte Dan. „Was wollen die denn mit einem untergehenden Schiff noch angreifen?“ „Vielleicht hast du recht.“
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Carberry änderte leicht den Kurs, bis sie in fast spitzem Winkel dem Spanier entgegensegelten. „Die Ankertrosse hängt im Wasser“, sagte Dan, der Augen wie ein Seeadler hatte. „Der Anker fehlt, wahrscheinlich haben die Wilden die Trosse durchgeschnitten und den Kahn einfach treiben lassen, als er leck war.“ „Oder sie haben ihm dieses Leck selbst verpaßt“, meinte Carberry. Hasard legte die beiden Brandsätze auf die Ducht. „Entzündet die Lunte“, sagte er. „Wir segeln auf Lee achtern heran, ich springe hinüber und enter am Hennegat auf. Ihr legt sofort wieder ab, bis der Abstand mindestens hundert Fuß beträgt. Sollte jemand auf mich lauern oder mich überwältigen, dann jagt ihr dem Kahn die beiden Brandsätze an Deck, ohne Rücksicht auf mich. Das ist ein Befehl, und ich hoffe, jeder hat ihn gut verstanden.“ Es gab keinen Widerspruch, wenn Hasard in diesem Tonfall sprach, und es dachte auch keiner daran, zu widersprechen. Hasard wollte kein Risiko eingehen, nicht das geringste, und das verstanden sie. Carberry segelte das Beiboot so dicht heran, daß der Seewolf mit einem Satz aufsprang. Dann drehte Carberry hart ab und segelte weiter, bis er die von Hasard vorgeschriebene Distanz erreichte. Dort holte er das Segel ein und sah Smoky an, der die Lunte entzündet hatte. Hasard enterte auf, flink und behände und zog sich an der umlaufenden Heckgalerie auf das Deck des abschüssigen Achterkastells. Seine Augen suchten das Deck ab. Nichts regte sich, niemand war zu sehen, kein Mann hatte sich hinter dem Schanzkleid versteckt. Das Schiff ächzte und stöhnte. Tief im Leib des spanischen Seglers hörte Hasard es gurgeln, wenn das eingedrungene Wasser hin und her schwappte. Er ging über den Niedergang in die Kuhl und öffnete das Schott eines hölzernen Aufbaus. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Es roch nach modrigem Tauwerk und
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Farbe. Acht hölzerne Stufen führten hinunter. Als der Seewolf unten ankam, fiel nur noch schwach das Tageslicht herein. Die Kammer diente dazu, Werkzeug, Taue, Farbe und allen möglichen Bedarf aufzunehmen. Auch ein paar Eisenkugeln lagen herum, daneben leichtsinnigerweise ein Pulverfaß. Ordnungsliebend waren die nicht gerade, dachte Hasard und verließ den Raum wieder. Von der Kuhl aus winkte er das Boot heran, warf die Jakobsleiter über Bord und nahm das Tau entgegen, das Ed ihm zuwarf. „Keine Falle“, sagte Hasard. „Wir werden das Schiff noch genau durchsuchen, aber hängt zuerst das Segel ins Gei, damit wir nicht an der Küste zerschellen.“ Es war ein eigenartiges Gefühl, auf einem langsam sinkenden, verlassenen Schiff zu stehen, auf dem sich keine Besatzung befand, das sich seinen Weg selbst suchte, das rollte und schlingerte und sterbend durch das Meer zog. Das Segel wurde ins Gei gehängt, dann erst sahen sich die Männer genauer um. „Was ist das denn?“ fragte Ed und deutete auf die hüttenartige Erhebung in der Kuhl. „Ein Logis?“ „Ich habe schon nachgesehen. Dort drin befindet sich nur Tauwerk und Kram. Laßt uns achtern mit der Kapitänskammer beginnen, vielleicht erhalten wir einen Hinweis.“ „Seekarten vielleicht“, sagte Dan. „Die Spanier halten sie doch immer so geheim. Roteiros nennen sie die, und es sind die besten Karten, die es gibt.“ Vor der Kapitänskammer gab es noch eine andere, ähnlich der auf der „Isabella“. Sie warfen einen Blick hinein. Die Kammer war sauber aufgeräumt, hatte eine in die Wand eingelassene Doppelkoje und eingebaute Schränke. Zwei Stühle bewegten sich, wie von Geisterhänden bewegt, ständig hin und her. In der Kapitänskammer sah es ganz anders aus. Wie bei den Spaniern üblich, war sie
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großräumig angelegt und geschmackvoll eingerichtet. Dan öffnete die eingebauten Schränke und suchte nach Roteiros, aber er fand nur ähnliche Karten, wie sie sie auch hatten. Sie waren das Mitnehmen nicht wert. Ziemlich enttäuscht verließen sie die Kapitänskammer und gingen nach vorn. Hinweise hatten sie keine gefunden, aber jeder von ihnen konnte sich ausmalen, was hier passiert war. Entweder hatte man das Schiff nachts überfallen, oder die Mannschaft war an Land gegangen und dort den Kopfjägern in die Hände gefallen, denn hier gab es keine Spuren, die auf stattgefundene Kämpfe hinwiesen. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß eine Crew geschlossen an Land ging und das Schiff sich selbst überließ. Das paßte nicht zusammen. Vielleicht hatte man die Mannschaft auch nacheinander von Bord gelockt. „Was hier passiert ist, werden wir wohl nie erfahren“, sagte Carberry, als er vor dem Schott auf dem Vorschiff stand, das weit geöffnet war und in den Angeln quietschte. „An Deck ist jedenfalls nicht gekämpft worden“, sagte Smoky, „sonst würde man Blut oder andere Spuren sehen.“ Die „Tierra“ blieb für sie ein Rätsel. Als sie den Niedergang hinunterstiegen, blieben sie wie angewurzelt stehen, stumm, ohne vorerst ein Wort zu sagen. Auf den Dielen, vor einem aufgerissenen verschimmelten Schrank, lagen zwei Spanier. Jemand hatte ihnen die Köpfe vom Rumpf getrennt und sie mitgenommen. Es dauerte lange, bis Hasard Worte fand. „Entsetzlich“, sagte er leise. „Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun?“ Niemand gab Antwort. Stumm sahen sie auf die beiden menschlichen Leichen, denen der Kopf fehlte. In dem Mannschaftsraum waren Kampfspuren zu sehen, überall herrschten Unordnung und Durcheinander. Bei einem der beiden Toten lag ein langes Messer, mit dem er sich allem Anschein nach gewehrt hatte.
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Hasard ging hinaus an Deck. Er brauchte frische Luft. Die anderen folgten beklommen und verunsichert. Der Seewolf lehnte am Schanzkleid und hatte die Hände auf den Handlauf gestützt. Gedankenverloren hielt er nach der „Isabella“ Ausschau, die ihnen jetzt fast gegenüberlag, aber man sah nicht einmal die Masten des Schiffes vom Meer aus, obwohl man von der „Isabella“ aus einen Teil der See überblicken konnte. „Zwei Tote an Bord“, sagte er, „zwei, die es wahrscheinlich geschafft hatten, den Wilden zu entwischen. Doch man hat sie aufgestöbert und umgebracht.“ Dan O'Flynn versuchte, das Geschehnis zu rekapitulieren. „Den beiden gelang es, entweder an Bord zu bleiben oder sich von Land aus auf das Schiff zu flüchten. Dann haben sie wahrscheinlich die Ankertrosse gekappt und das Großsegel gesetzt. Die Wilden müssen ihnen hinterhergefahren sein mit Booten, sind aufgeentert und haben die beiden nach heftigem Kampf umgebracht. Dann, so nehme ich an, haben sie das Schiff leckgeschlagen, damit es für andere keine Spuren gab.“ Er sah sich um Und deutete an Deck. „In zwei, höchstens drei Stunden geht die ,Tierra' auf Tiefe und niemand wird je wieder etwas von ihr und der Besatzung hören.“ „So könnte es durchaus gewesen sein“, pflichtete der Seewolf dem jungen O'Flynn bei. „Jedenfalls spricht alles dafür. Suchen wir weiter, sehen wir uns einmal die Laderäume an.“ Carberry brach den Raum kurzerhand mit einem Hebeleisen auf, das unter der Nagelbank lag. Wasser stand bis auf halber Höhe in dem Raum. In den Fluten schwammen Kistenteile, Säcke, zwei tote Ratten und Sachen, von denen man nicht mehr sagen konnte, was sie einst gewesen waren. „Vielleicht haben sie Gold- oder Silberbarren unten liegen“, sagte Smoky, „oder anderes wertvolles Zeug.“ „Wenn du scharf darauf bist, kannst du ja in die Dreckbrühe tauchen und dich unten
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umsehen“, antwortete Carberry, „ich bin jedenfalls nicht wild darauf.“ „Ich auch nicht.“ Noch einen weiteren Raum suchten sie auf. Die Pulverkammer, in die noch kein Tropfen Wasser gedrungen war. Massenhaft waren hier Fässer gestapelt. Die vielen Eisenkugeln, die in dem Raum lagerten, ließen sich kaum zählen. „Junge, das sind ja Siebzehn-Pfünder“, sagte Dan erstaunt, „unser Kaliber.“ „Stimmt“, sagte Carberry, „an Deck stehen Culverinen, das fällt mir erst jetzt auf.“ „Kugeln und Pulver nehmen wir mit“, entschied der Seewolf, „wir haben ohnehin nicht mehr viele Kugeln, und unsere Pulvervorräte schrumpfen auch zusammen.“ Die „Tierra“ sackte weiter ab. Langsam zwar, aber unaufhaltsam. Wo sich das Leck befand, ließ sich nicht feststellen. Wenn sie es wußten, würde das auch nichts mehr ändern. „Fangen wir gleich damit an“, sagte Hasard und reichte eine der Kugeln an Smoky weiter. Das Schiff war herrenlos und dem Untergang geweiht. Sie konnten nehmen, was sie wollten, später würde ohnehin alles die See gierig verschlingen. Pulver und Kugeln konnte man immer gebrauchen, und hier hatte ihnen der Zufall SiebzehnPfünder beschert. Eine Kette wurde gebildet. Kugel um Kugel wanderte nach oben, bis an Deck alles schwarz war. Dann folgten die schweren Fässer mit Schießpulver. Etwas später wurde es ins Boot verladen, bis es beängstigend tief im Wasser lag. „Wir werden etwa drei Mal fahren müssen“, sagte Hasard zu Ed. „Sag den Leuten, sie sollen blitzartig ausladen, und kehre sofort zurück, sonst müssen wir an Land schwimmen.“ Der Profos legte ab, setzte das Segel und segelte los, der Bucht entgegen. Die drei Männer durchsuchten das Schiff jetzt gründlich.
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„Lebensmittel haben die doch sicher auch, das würde uns eine Menge Arbeit ersparen“, sagte Smoky hoffnungsvoll. „Nimm dir doch ein paar Säcke Kastanien mit“, riet Dan. „Wenn du die alle gemampft hast, bist du ein richtiger Don.“ An Proviant fand sich jedoch nicht viel. Der Besatzung war es ähnlich ergangen wie den Seewölfen. Sie kauten auf dem letzten Rest herum. Smoky entdeckte einen Sack Mehl, den er an Deck schaffen wollte, doch als er ihn hochhob, wurde der Sack lebendig, und eine unübersehbare Armee schwarzer Kakerlaken marschierte empört in die Dielenritzen. Der Decksälteste stieß einen Fluch aus. „Verdammt noch mal, so viele Kakerlaken gibt es auf der ganzen Welt nicht wie hier. Na wartet, ihr Biester, nicht mehr lange und ihr könnt auf dem Meeresgrund marschieren.“ Kleine Säcke voller Reis entdeckten sie, aber Dan verzog angewidert das Gesicht. „Wenn man nichts mehr hat, ist er ja ganz gut, aber unser Vorrat reicht bis an unser Lebensende.“ Olivenöl in Fässern wurde gefunden, es stank so entsetzlich, daß Hasard sich die Nase zuhielt. „Es hat den Anschein, als wäre das Schiff den gleichen Kurs gesegelt wie wir“, sagte er. „Es muß im Land des Großen Chan gewesen sein oder auf einer der Inseln, wo es Reis gibt.“ Dan O'Flynn war schon wieder verschwunden. Er hatte den Ehrgeiz, diese sogenannten Roteiros doch noch zu finden, und er war sich sicher, daß der Kapitän sie irgendwo versteckt hatte. Die Karten entdeckte er jedoch trotz intensivster Suche nicht, dafür fand er in einem Versteck handliche Fässer bis obenhin gefüllt mit Malagawein. Daneben befanden sich andere Fässer, die scharf riechenden Schnaps enthielten. „Nehmen wir alles mit“, sagte Hasard. „Was soll es auf dem Meeresgrund vergammeln, wo niemand etwas davon hat. Wir holen das Zeug sofort und stapeln es in der Kuhl.“
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So geschah es, und gleich darauf stapelte sich in der Kuhl wieder ein ansehnlicher Berg. „Eigentlich hätten wir das viel leichter haben können“, überlegte Dan laut. „Für uns wäre es doch eine Kleinigkeit gewesen, mit vier Mann den Kasten in die Bucht zu segeln und ihn dort auf Grund zu setzen.“ „Nein, das wollte ich nicht“, sagte der Seewolf, „unter anderem auch wegen der beiden Toten nicht. Die ,Tierra` soll ihr Grab bleiben, das auf See untergeht und nicht in einer Bucht auf seichtem Sand, wo es die Kopfjäger später ausplündern. Außerdem möchte ich mir nicht nachsagen lassen, wir hätten eine spanische Mannschaft umgebracht, um uns an ihren Schätzen zu bereichern.“ „Aber wer sollte das denn sagen?“ fragte Dan. „Es könnte uns zufällig ein Spanier entdecken, ein Portugiese oder sogar ein Landsmann von uns. Und wie willst du einem tobsüchtigen Spanier erklären, daß wir es nicht waren? Da bleibt keine Zeit für Erklärungen, und glaubhaft ist es auch nicht. Aus diesen Gründen habe ich es nicht getan.“ „Verstehe“, sagte Dan, „ist auch besser so.“ Smoky blickte über das Schanzkleid. „Ed kehrt zurück“, sagte er. „Und wir sind wieder ein Stück tiefer abgesackt. Lange hält sich das alte Mädchen nicht mehr.“ Das Schiff lag träge im Wasser und bewegte sich kaum noch. Der schwache Wind war nicht imstande, es weiter an die Küste zu blasen. Aber es kriegte Schlagseite und wurde kopflastig, und es schwankte plump in der See. Der Profos legte an und enterte auf. Die Leiter brauchte er dazu nicht mehr, es war nur ein Katzensprung. „Jeder wollte mit und sehen, was hier los ist“, sagte er. „Ich mußte die Kerle erst freundlich fragen, wie wir wohl das Zeug von Bord schaffen sollen, wenn jeder seinen neugierigen Rüssel hier an Deck steckt.“
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Wie freundlich Ed ihnen das gesagt hatte, konnte Hasard sich lebhaft vorstellen. Ganz bestimmt hatte der Profos in seiner leisen bescheidenen Art zärtlich geflüstert. Da fiel sein Blick auf die Fässer, und seine Augen wurden rund und groß. „Sieht nach Schnapsfäßchen und Wein aus“, sagte er andächtig. „Man sollte direkt probieren, ob das Zeug noch gut ist, sonst schleppen wir es umsonst mit.“ „Probiere lieber mal, wie viele Kugeln noch ins Boot passen“, riet Hasard dem Profos, dessen liebevoll verklärter Blick die kleinen Fässer geradezu verhätschelte. Wieder wurde das Boot vollgeladen bis nichts mehr hineinging, dann segelte Ed los. „Der Rest gibt gerade noch ein Boot voll, uns vier eingerechnet“, überlegte Hasard. „Bis dahin wird es auch soweit sein, daß die ,Tierra' auf Tiefe geht.“ Wie ein dicker Schwamm sog sich das Schiff voll. Anfangs hatte man leichtes Gurgeln und Schwappen vernommen, aber jetzt waren diese Geräusche verklungen: Eine unheimliche Stille breitete sich aus. In den Pardunen sang kein Wind, Tauwerk und Blöcke knarrten nicht, und selbst die kleinen Wellen schienen dem Schiff auszuweichen, um es nicht in seiner Todesstunde zu stören. „Mir tut es jedes Mal in der Seele weh, wenn so ein Schiff untergeht“, grübelte Smoky laut. „Das ist wie eine Beerdigung von etwas, das man .gern hatte, das lebte und mit dem man verwachsen war.“ „Das liegt an der Seele des Schiffes“, erklärte Dan, „jedes Schiff hat eine.“ Er hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als ein harter Ruck die ,Tierra' erschütterte. Irgendwo im Innern barsten Planken. Die Männer sahen sich an. Smoky kratzte mit dem Finger seine Bartstoppeln am Kinn. „Hoffentlich müssen wir nicht noch schwimmen, denn hier an Bord gibt es kein einziges Beiboot. Die haben wahrscheinlich die Wilden geklaut.“
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Das nächste Krachen ertönte. Einer der Masten erzitterte so stark, als würde er aus dem Kielschwein gerissen. Langsam wurde Smoky nervös und hielt nach Ed Ausschau, der aber noch nicht zu sehen war. Wenn er an das haiverseuchte Wasser dachte und daran, daß sie vielleicht eine ganze Strecke schwimmen mußten, wurde ihm ausgesprochen mulmig. Das Knacken und Krachen ertönte jetzt an mehreren Stellen, das Schiff zitterte und bebte und neigte sich weiter auf den Bug. Die Kugeln rollten polternd über Deck nach vorn, auch die Fässer bewegten sich. „Mist verdammter“, fluchte Dan. Nur der Seewolf sagte nichts. Gelassen blickte er die beiden Männer an und grinste dann. „Habt ihr Angst, daß eure Affenärsche naß werden?“ fragte er. „Angst, daß die Haie daran knabbern“, entgegnete Smoky. „Es gibt hier verdammt viele von den Burschen.“ „Ed ist schon im Anmarsch“, sagte Hasard. Das sinkende Schiff gab Laute von sich wie ein zu Tode getroffenes Tier. Überall ächzte, stöhnte und knarrte es jetzt, und mehrmals schien es den Versuch zu unternehmen, sich steil auf den Bug zu stellen. Aber irgendetwas verhinderte das, vermutlich ein Raum, in den noch kein Wasser gedrungen war und der Auftrieb gab. Carberry legte an und pfiff durch die Zähne. „Die beeilt sich aber, die Tante“, sagte er und flankte in die Kuhl. „Laß alles stehen und liegen“, sagte Smoky, „sie säuft jeden Augenblick ab oder fliegt auseinander.“ „Die Schnapsund Weinfässer liegenlassen?“ rief der Profos mit blitzenden Augen. „Hat die Welt so was schon gehört! Das Schiff hat noch fast eine Handbreit Freibord.“ In aller Eile mannten sie weiterhin Fässer, Kugeln und die kleinen Tonnen mit Schießpulver ins Boot. Der Profos ließ nichts liegen. Das wäre ja noch schöner, dachte er, daß die Fässer mit
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dem wertvollen Gesöff einfach untergingen. Schließlich hatten sie alles verstaut und gingen von Bord. Träge segelte das Beiboot davon, wieder schwer beladen. „Da hätten wir noch mehr Fässer holen können“, sagte Carberry, „der Kahn hält sich noch.“ „Man sieht es“, erwiderte Smoky sarkastisch. Der Großmast neigte sich langsam zur Seite, das Deck wölbte sich auf, Planken zerfetzten knirschend, und dann stürzte der schwere Mast um, die Rahen wirbelten wie Bäume davon und ein schmetternder Schlag überlagerte jedes andere Geräusch, als das Schanzkleid in tausend Trümmer zerschlagen wurde. Die Wanten, die den Mast gestützt hatten, waren wie morsches Tauwerk zersprungen. Die „Tierra“ ging auf Tiefe, den zersplitterten Mast nach sich ziehend, der sich wie ein gigantischer Finger noch einmal aufrichtete und anklagend in den Himmel wies. Wasserwirbel schäumten, ein trichterartiger Sog bildete sich, und in dessen Riesenstrudel verschwand das spanische Schiff. Als der Sog sich gelegt hatte, stiegen Trümmer aus dem Meer, eine Rah, ein paar Planken und Balkenteile. Carberry schüttelte sich unbehaglich.
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„Wir laufen eine andere Bucht an, sobald wir fertig sind“, versprach der Seewolf. „Irgendwo an der Küste wird es ganz sicher auch Fischerdörfer geben, wo wir etwas kriegen oder selbst etwas jagen können. Es müssen ja nicht alle Eingeborenen Kopfjäger sein.“ Mit allen verfügbaren Kräften wurden die Arbeiten am Schiff vorangetrieben. Es begann bei der morgendlichen Dämmerung und wurde fortgesetzt, bis es dunkel wurde. Big Old Shane schlug vor, auch während der Dunkelheit zu arbeiten, später könne man sich ja ausruhen, und ein paar Tage Knochenarbeit würden keinem schaden. Davon wollte Hasard jedoch nichts wissen. „Sieh mal, Shane“, sagte er zu seinem väterlichen Freund, „wir wissen über die Eingeborenen gar nichts, und wenn wir nachts im Licht der Fackeln arbeiten, können sie aus dem Dschungel heraus jeden Mann töten, den sie wollen. Vielleicht haben sie uns noch gar nicht entdeckt, vielleicht trauen sie sich nachts auch nicht heraus, aber das Risiko ist mir zu groß, verstehst du?“ Klar verstand ihn Big Old Shane, er hatte daran nicht gedacht, weil sie bisher noch keinen der Eingeborenen gesehen hatten. Nochmals vergingen zwei Tage, bis die Arbeiten beendet waren. Noch in derselben Nacht segelte die „Isabel“ los. 8.
* Auf der „Isabella“ wurden sie mit Hallo empfangen. Der Profos hatte den Männern in groben Zügen erklärt, was vermutlich an Bord des Spaniers vorgefallen war. „Habt ihr keine Lebensmittel entdeckt?“ fragte der Kutscher besorgt. „Ranziges Olivenöl, ein paar Säcke Reis und Mehl, in dem sich mehr Kakerlaken tummelten, als man sich vorstellen kann“, zählte Hasard auf. „Mehr befand sich nicht an Bord, leider.“ „Und dabei brauchen wir so bitter nötig Frischfleisch und alles andere.“
Ihr weiterer Törn führte sie an der Küste entlang in Richtung Tandjung Datu. Vergebens hatten sie nach dem Dorf der Kopfjäger Ausschau gehalten. Es lag nicht direkt an der Küste und mußte tiefer im Inneren verborgen sein. Ein weiterer Tag verging, an dem die Küstenlandschaft sich kaum veränderte. Mitunter trat das Dickicht etwas zurück und vereinzelte Palmen standen am Strand, dann wieder tauchten dichtbewachsene Hügelketten auf. Langsam griff die Nervosität des Kutschers auch auf die anderen über. Es wurde
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höchste Zeit, daß sie. etwas fanden oder mit Eingeborenen tauschen konnten. Der nächste Morgen brachte dann die Überraschung. Die „Isabella“ segelte an einer Landzunge vorbei, als der Ausguck ein „Stelzendorf“ meldete, Pfahlbauten, die am und im Wasser standen. „Dort gehen wir vor Anker“, entschied Hasard. Sie rundeten die Landzunge und erlebten die zweite Überraschung. Aus den Hütten stürzten schreiende verstörte Eingeborene, schwarzhaarige dunkelhäutige Menschen, die um die Hüften bunte Tücher trugen. Panikartig strebten Männlein, Weiblein und Kinder davon, hasteten in den angrenzenden Dschungel und verschwanden. Der Seewolf runzelte die Stirn. „Da wird der Kontakt schwierig werden“, meinte er, „die scheinen üble Erfahrungen hinter sich zu haben. Vielleicht haben sie die Bekanntschaft der Spanier erlebt, oder ihr Dorf ist von den Dons geplündert worden.“ Brighton starrte in den Dschungel, wohin die schreienden Menschen geflüchtet waren. „Wenn wir friedlich hier liegen bleiben, werden sie nach und nach schon wieder erscheinen. Wir können ihnen ein paar Geschenke an den Strand legen und auf diese Art versuchen, Kontakt mit ihnen herzustellen“, sagte er. „Das werden wir auch tun“, sagte Hasard. Mit aufgegeiten Segeln lief die Galeone in die Bucht ein und ging vor Anker. Es war eine weitausladende Bucht mit einem langen weißen Sandstrand, der von hohen Palmen gesäumt wurde. Erst weiter hinten begann Gestrüpp, dem sich der Dschungel anschloß. Stundenlang warteten sie, ob sich einer der Eingeborenen blicken ließ. Aber die trauten sich nicht aus dem Urwald heraus. „Fiert das Beiboot ab“, sagte Hasard. „Wir nehmen ein paar Messer mit, ein paar kleine Beile und pullen an Land. Irgendwann werden sie sich schon zeigen.“
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„Musketen auch?“ fragte Ben. Hasard zögerte. „Nein“, entschied er dann, „keine Musketen, das könnte sie nur noch mehr verängstigen. Die Männer sollen lediglich ihre Pistolen einstecken und sie im Hosenbund verbergen.“ „Aye, aye. Wer geht an Land?“ „Nicht mehr als vier oder fünf Mann. Ich glaube nicht, daß es Kopfjäger sind, aber wissen kann man das nie. Die anderen sollen gut aufpassen.“ Hasard nahm diesmal Ferris Tucker, den Gambianeger Batuti und Blacky mit. Als das Boot ablegte, sprang der Affe mit einem Satz hinein. „Hoffentlich bist du gleich wieder an Bord, du Affe“, sagte Blacky, ergriff Arwenack und wollte ihn schwungvoll zurückbefördern. .,Laß ihn ruhig mit“, sagte Hasard. „Der Affe dürfte auf die Eingeborenen vertraut wirken. Durch seinen Anblick und daß er in unserer Begleitung ist, erscheinen wir möglicherweise friedfertig. Laß ihn also los.“ Hasard betrachtete das Dorf. Es bestand aus etwa fünfundzwanzig ärmlichen Hütten, die vom Strand aus bis ans Wasser gebaut waren und ausnahmslos auf Pfählen standen. Als das Boot auf den Sand lief, sprang Hasard an Land, ließ sich die Messer und kleinen Beile geben und legte sie gut sichtbar an einer erhöhten Stelle in bunter Reihenfolge aus. Dabei beobachtete er den Dschungel, aber dort rührte sich nichts, da -gab es keine Bewegung, und dennoch hatte er das Gefühl, als würden ängstliche Augen ihn genau beobachten. Er zog sich bis ans Wasser zurück und wartete. Nach einer Stunde verlor er die Geduld. „Zurück an Bord“, sagte er, „sie haben Angst und trauen sich nicht hervor, solange wir hier sind.“ „Einen Augenblick“, sagte Ferris Tucker, „ich habe eben eine Bewegung gesehen.“ „Wo ist das?“
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„Bei der zweiten Palme auf der linken Seite, wo die hohen Büsche stehen. Da“, er griff nach Hasards Arm, „eine Frau ist das. Siehst du sie?“ „Ja, ich sehe sie.“ Die schlanke dunkelhäutige Frau trug einen rötlichen Schurz, sonst nichts. Sie trat aus dem Gebüsch, sah hinüber, versteckte sich aber sofort wieder. Da ritt Arwenack der Teufel. Mit einem Satz war er aus dem Boot und flitzte den Strand hoch. „Arwenack!“ schrie Batuti. „Mistvieh, sofort zurücklaufen!“ Der Schimpanse ließ sich nicht beirren. Er hatte schon lange keine Palmen mehr aus der Nähe gesehen und da mußte es ihn gepackt haben. Da benahm er sich wie ein Mensch. Er jagte wild über den Sand, rannte übermütig herum, sprang mit einem Satz an der Palme hoch und erkletterte den Stamm. Dann sauste er keckernd wieder hinunter und gebärdete sich wie toll. Mittlerweile war die Frau verschwunden. Und dann, ganz plötzlich, war auch Arwenack weg. Der Affe verschwand einfach vor ihren Augen, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Hasard traute seinen Augen nicht. „Wo ist der denn geblieben?“ fragte er verblüfft. „Komisch“, sagte Tucker, „direkt hinter der Palme schien er in die Erde zu wachsen.“ Batuti rief seinen Namen, doch Arwenack blieb verschollen. Jetzt ließ es Hasard keine Ruhe mehr. Gefolgt von den anderen lief er auf jene geheimnisvolle Stelle zu, an der Arwenack verschwunden war. „Da, wo der Dschungel beginnt, muß es gewesen sein“, sagte Blacky. Er, Batuti und Tucker taten noch ein paar Schritte, dann hatten sie nicht mal mehr Zeit, sich zu wundern. Batuti sauste in eine Fallgrube, die so geschickt getarnt war, daß man sie nicht bemerkte. Mit einem lauten Fluch landete er tief unten auf der Erde.
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Blacky wußte überhaupt nicht, wie ihm geschah. Unversehens wurde er hoch in die Luft gehoben, um seinen Körper schlang sich ein festes Netz, das ihn wie einen Säugling einwickelte und bis dicht unter den Wipfel der Palme katapultierte. Auch der Seewolf hatte versehentlich etwas ausgelöst, das jetzt mit erschreckender Schnelligkeit auf ihn niedersauste. Er konnte sich gerade noch ducken, als ihm ein Fallgitter aus Bambusstäben hart ins Kreuz donnerte und ihm die Luft nahm. Benommen blieb er am Boden liegen. Auch den Schiffszimmermann erwischte es schlagartig. Ferris Tucker hing im erbarmungslosen Würgegriff eines Taues, das sich um seinen Hals geschlungen hatte und ihm die Luft abdrehte. Immer enger zog es sich zusammen, er war nicht in der Lage, sich zu wehren und erstickte fast. * An Bord war augenblicklich der Teufel los. Jeder hatte beobachtet, was da so blitzartig geschah, und jetzt, als aus dem Dschungel wildaussehende Eingeborene stürmten, um sich auf die wehrlosen Opfer zu stürzen, handelten die Seewölfe. Mit Schiffshauern, Messern, Äxten, Belegnägeln und Spaken sprangen sie ins Wasser und liefen wutschnaubend die letzten Yards an Land. Brighton, dem ein Licht aufging, hielt ein paar andere mit Gewalt zurück. Aber Big Old Shane, Carberry, Smoky, der hitzige Luke Morgan und noch ein paar andere hatten sich nicht mehr halten lassen, als sie die tödliche Gefahr erkannten, in der der Seewolf und die drei anderen Kameraden schwebten. Brighton konnte es ihnen nicht verübeln, daß sie so impulsiv handelten, aber er erkannte jetzt die hinterhältige Taktik der Eingeborenen, in deren tödliche Fallen jeder Fremde ahnungslos hineinlief. Ein Kopfjägerstamm war es, nichts anderes, und auf diese Art und Weise mußte es auch die Spanier von der „Tierra“
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erwischt haben. Gerade durch das kopflose Handeln der Mannschaften hatten sie leichtes Spiel gehabt und konnten auch noch den letzten Mann erwischen. Ben Brighton verlor keine Sekunde lang die Übersicht. Er blieb kühl und gelassen und handelte auch danach. Er besorgte sich eine Lunte und holte vom Kutscher Feuer. Gleichzeitig befahl er Al Conroy, die Stückpforten zu öffnen. „Du kannst doch jetzt nicht sagte Al. „Tu, was ich dir sage“, sagte Ben hart. „Alle auf Backbord hoch, aber schnell.“ Die Stückpforten gingen hoch, die Culverinen waren ohnehin geladen, und Ben hielt die Lunte an das Zündkraut. Ein dröhnender Knall erfolgte. Hinter dem Pulverschleier erkannte er, wie der Siebzehn-Pfünder in die Palme schlug und einen Hagel verursachte, der aus Kokosnüssen und zerfetzten Palmwedeln zu Boden prasselte. Die Eingeborenen, die sich auf die Seewölfe stürzen wollten, verschwanden wie Schatten im Dschungel. Ben Brighton fluchte vor Wut lang und anhaltend, als er den zweiten Siebzehnpfünder in den Urwald jagte. Er fluchte über die Seewölfe, die wie die Blinden in die überall lauernden Fallen rannten. Die gesamte Bucht war damit gespickt. Einer nach dem anderen sauste in Fallgruben, einen Fluch auf den Lippen, Verwünschungen murmelnd. Smoky zappelte in einem Netz, Luke Morgan hing wie eine reife Pflaume unter einer anderen Palme, und Carberry rannte brüllend wie ein gereizter Stier hin und her, seinen Belegnagel schwingend, um ihn auf Köpfe zu donnern, die längst nicht mehr da waren. Nach dem zweiten Schuß aus der Culverine erschienen die Eingeborenen blitzschnell und in breiter Phalanx. Mit Speeren und hölzernen Keulen bewaffnet, rückten sie gegen Big Old Shane und den Profos vor. Brighton konnte nicht mehr feuern, ohne die eigenen Leute ernsthaft zu gefährden,
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und so griff er zur Muskete, lehnte sie auf den Handlauf des Schanzkleides und zielte. Die restlichen an Bord befindlichen Seewölfe feuerten ebenfalls ihre Musketen ab und schlugen Breschen in die Angreifer. Carberry kämpfte wild um sein Leben. Sein Belegnagel traf auf Köpfe, er entriß einem der Kopfjäger den Speer, drosch wie mit einem Flegel um sich und mähte auf Anhieb fünf Wilde nieder. Er und Shane kämpften Rücken an Rücken, nach bewährter Methode wie immer, und hieben voller Wut um sich. Doch die Übermacht war zu groß. Brighton, der das alles in ohnmächtigem Zorn verfolgte, entschloß sich, doch noch mit den Culverinen weiterzufeuern. Der harte Knall erzielte immer eine gewisse Wirkung, auch wenn die Kugeln weit vom Ziel lagen. Er bewirkte, daß die Wilden immer wieder innehielten, sich etwas zurückzogen und erst danach zu einem neuen Angriff sammelten. „Gleich wieder nachladen, Al!“ rief er dem Waffenmeister zu, doch der verstand sein Handwerk besser als alle anderen und nickte nur hastig. Matt Davies legte einen Angreifer mit einem Musketenschuß flach auf den Boden, und da hatte Ben Brighton plötzlich eine Idee. „Matt!“ rief er. „Hole zwei von den neuartigen Brandsätzen, die mit der starken Ladung, los hau ab!“ Mit so einem Brandsatz hatten die Eingeborenen ganz sicher noch keine Bekanntschaft geschlossen, und vielleicht würde der ihre krausen Gehirne wieder auf Kurs bringen. „Hier sind sie“, sagte Matt keuchend und schob den ersten der „Chinesischen Pfeile“ in die tragbare Halterung. Diese neuartigen Brandsätze hatten außer ihrer verheerenden Wirkung auch noch einen moralischen Effekt. Nach dem Abschuß erzeugten sie ein schrecklich anzuhörendes, ekelhaft pfeifendes Geräusch, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. Ben hatte noch keinen gesehen, der sich nicht unwillkürlich dabei duckte und das Gesicht
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verzog, in der Annahme, der Teufel persönlich schwebe über ihm in der Luft und würde sich mit Wutgeheul auf seine arme Seele stürzen. Er hielt den Brandsatz fest, drehte das Gestell etwas herum und richtete ihn auf die Hütten. Diese Teufel würden sich jetzt verdammt wundern. Dann jagte das Ding los. Ben Brighton hielt sich bei dem entnervenden Höllenkonzert selbst die Ohren zu. Auf einem grauweißen Schweif fauchte er schreiend und pfeifend wie tausend kleine Teufel in den Himmel. Das Schrillen und Heulen nahm zu, und am Strand trat augenblicklich eine Wandlung ein. Beim ersten grellen Jaulen zuckten die Wilden zusammen. Dann sahen sie den Schweif aus Rauch und Feuer, hörten die tausend Höllenteufel immer entsetzlicher kreischen und warfen sich voller unbeschreiblicher Angst flach in den Sand. Für die Seewölfe war das nichts Neues, sie kannten das Geräusch und wußten um die Wirkung. Carberry und Shane sammelten die Speere ein, und der Profos konnte es nicht lassen, ab und zu einen der entnervten Wilden am Genick hochzuheben, um ihm ein paar saftige Hiebe zu verpassen. Dann warf er sie wie Lumpen in den Sand zurück, ohne daß sich einer von ihnen auch nur zur Wehr setzte. Aber noch war das Höllenkonzert nicht vorbei. Als sich gleich darauf blutroter und grellgrüner Regen vom Himmel in großen Tropfen ergoß, war es um die Beherrschung der Wilden endgültig geschehen. Kriechend, robbend und zähneklappernd bewegten sie sich davon, dem rettenden Urwald zu. Dann stellten sie fest, daß sich der furchtbare Regen auf ihre Hütten ergoß und am Strand ein gewaltiges Feuer aufflackerte. Sämtliche Hütten standen in Flammen, Feuersäulen gleich, die auf dünnen spinnigen Beinen standen.
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„Eine gute Idee ist manchmal viel wert“, sagte der Profos anerkennend. Dabei bewegte er sich vorsichtig auf die Fallgruben zu und starrte hinunter. In der einen hockten einträchtig Batuti und der Schimpanse beieinander und blickten aus großen Augen zu ihm auf. Die Gruben waren so tief angelegt, daß ein Mann ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus konnte. „Geduld, Batuti“, sagte der Profos. „Wir holen Taue, du bist gleich draußen.“ Von den Eingeborenen ließ sich keiner mehr blicken, bis auf einen, der vor Angst nicht kriechen konnte. Carberry packte die schlotternde Gestalt, prügelte sie windelweich und jagte den entnervten Burschen mit Fußtritten davon. Dabei brüllte er mit seiner Donnerstimme nach einem langen Tau, und daß es ja keiner wagen solle, das zweite Beiboot zu benutzen. Hasard war wieder auf den Beinen. Sein Kreuz schmerzte, und er verzog das Gesicht, nachdem sie ihn von dem Bambusgitter befreit hatten. Nur Blacky kriegten sie nicht herunter. Der brüllte, fluchte und bettelte, man möge ihn endlich abfieren. Leider wußte niemand, wie das ging, und so schnitt der Profos kurzerhand den Strick durch, der den seltsamen Mechanismus hielt. Blacky landete mit dem Hintern voran im Sand, fluchte, wollte, aufstehen und verhedderte sich immer mehr in dem Netz. Ferris Tucker war bewußtlos, als Shane ihn aus der teuflischen Schlinge befreit hatte. Er schleppte ihn zum Strand, stieg über die toten Eingeborenen weg und schaufelte Hände voller Seewasser über den rothaarigen Hünen, bis der mit schmerzverzerrtem Gesicht endlich die Augen aufschlug. „Hölle und Teufel“, sagte Tucker heiser. „Jetzt weiß ich, wie das ist, wenn man an die Rah gehängt wird. Wo sind diese lausigen Teufel?“ Er sah die brennenden Hütten und _ die schwarze Qualmwolke, die sich am Strand erhob. „Brandsätze, wie?“ Shane nickte freundlich.
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„Quatsch jetzt nicht so viel, - dein Hals ist ganz rot und stark geschwollen.“ Bob Grey brachte das Tau, und einer nach dem anderen wurde aus der Grube gehievt. „Zurück zum Wasser“, ordnete Hasard an, der sich von der teuflischen Überraschung wieder erholt hatte. „Sind alle befreit, oder steckt noch einer irgendwo drin?“ fragte Ed. „Vorsicht!“ brüllte Shane laut, aber da war es schon zu spät. Shane hatte Sand rieseln sehen, doch seine Warnung nutzte dem gewichtigen Profos nichts mehr, denn auch er trat auf eine der raffiniert angelegten Fallgruben, von denen es hier nur so wimmelte und die man meist zu spät sah, wenn überhaupt. Mit einem Fluch, der Carberry alle Ehre antat, sauste der Profos abwärts. Er hieb mit den Armen um sich, doch bevor er noch Luft holen konnte, war er schon hart gelandet. Von oben rieselte Sand nach und bedeckte seinen Schädel. „Jetzt könnt ihr meinetwegen lachen!“ brüllte Ed. „Und wenn ihr euch beruhigt habt, könnt ihr mich hochziehen.“ Es lachte jedoch niemand, das Lachen war ihnen gründlich vergangen, denn die meisten waren nur um Haaresbreite dem sicheren Tod entronnen. Als sie Ed hochhievten, brach die Grube immer weiter ein, und immer wieder fiel der Sand nach. Hier hatten die Wilden Unmengen von Sand ausgehoben, tiefe Gruben angelegt und die Innenseite mit lehmdurchsetzten Fasern aus Kokos verstärkt, damit sie nicht zusammenbrachen. Der heiße Sand trocknete das Gemisch steinhart. Über die Grube waren verdorrte Palmwedel gelegt worden, eine Lage quer, die nächste anders herum. Darüber befand sich wieder eine dünne Schicht aus Fasern, und darauf hatten sie Sand gehäuft. Niemand sah diese Gruben, und das entschuldigte auch ihren buchstäblichen Reinfall. Die Hütten fielen brennend auseinander, glühende Teile landeten im Wasser und verlöschten. Jetzt brannten nur noch die
Unter Kopfjägern
Pfähle, auf denen die Hütten gestanden hatten. „Ich glaube, die haben die Schnauze voll“, sagte Ed, wobei er Sand ausspie und seine Worte mit lästerlichen Flüchen spickte. „Vor allem sind sie in nächster Zeit beschäftigt“, meinte der Seewolf. Mit der rechten Hand massierte er sein Genick, das immer noch höllisch schmerzte. „Und für uns war es eine Lehre, wieder einmal“, fügte er bitter hinzu. „Das zeigt, daß man nie auslernt.“ „Mit derart raffinierten Methoden hat auch niemand gerechnet“, sagte Shane. „Wer denkt schon an Fallgruben und Netze, Würgeseile und Gitter, wenn er an Land geht.“ Hasard hatte genau den gleichen Gedanken wie Ben Brighton vorhin, und er sprach ihn auch aus. „Dieses Davonrennen der Wilden war ein genau einkalkulierter Faktor. Das erweckte den Eindruck, als hätten sie furchtbare Angst vor uns, und damit lockten sie uns an Land. Uns wäre es ebenso ergangen wie den Spaniern, die vielleicht auch hier massakriert und dann an Stämme im Innern des Dschungels weitergereicht wurden. Da drüben steht noch eine Hütte“, sagte er unvermittelt und zeigte mit der ausgestreckten Hand auf eine kleine Hütte, die versteckt am Rand des Dschungels „Wir sehen sie uns einmal an, die Eingeborenen kehren so schnell nicht zurück, die hat die Angst fast wahnsinnig werden lassen. Nehmt aber trotzdem eure Waffen zur Hand und folgt mir ganz dicht am Wasser, da kann es wegen der ständig auflaufenden Flut keine Fallgruben geben.“ „Und nicht unter Palmen wandeln“, setzte Carberry hinzu, „sonst hängt ihr als Kokosnüsse in den Wipfeln.“ Der Trupp watete vorsichtig durchs Wasser, wo nichts zu be- fürchten war und es keine Gruben gab. Vor der Hütte blieben sie stehen, blickten in den Dschungel, hielten die Waffen schußbereit und lauerten. Es war eine längliche, mit Palmen- wedeln gedeckte Hütte, die auf der rechten Seite offen war.
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Hasard blickte hinein. Aus der Froschperspektive grinsten ihn vier Schrumpfköpfe an, die an langen Fäden bis zum Boden hin- gen. Die Tsantas waren auf Faustgröße zusammengeschrumpft und sahen schrecklich aus mit den zugenähten Lippen und den langen Haaren. Auf der Rückseite der Hütte hing ein ganzes Bündel. „Europäer“, sagte Smoky schluckend, „mit Sicherheit Spanier oder Portugiesen, die in die Falle gelaufen sind.“ Deutlich waren die Gesichtszüge zu erkennen, und bei dem Anblick kroch den abgebrühten Männern das Grauen über den Körper. Fast jeder kriegte eine Gänsehaut oder ein ekelhaftes Ziehen im Genick. „Das könnten wir sein“, sagte der Seewolf. „Genauso wäre es auch uns ergangen, wenn Ben nicht so blitzschnell eingegriffen hätte.“ Immer wieder suchten sie mißtrauisch den Dschungel ab, ob sich etwas rührte oder etwas zu erkennen war. Tiefe Stille herrschte, die erst durchbrochen wurde, als Carberry mit ein paar wütenden Tritten die Hütte in Trümmer legte, bis nur noch ein paar schmächtige Balken übrig blieben. „Zurück an Bord“, sagte Hasard. „Wir segeln weiter.“ Schweigend kehrten sie ans Wasser zurück, bestiegen das Boot und warfen einen letzten Blick auf die Toten, die am Strand lagen. Es war mehr als ein Dutzend. Etwas später enterte Hasard auf, gefolgt von den anderen, die Ben vorwurfsvoll und mit derben Worten empfing. „Immer müßt ihr wie die Wilden losrennen', sagte er. „Genau darauf haben diese Teufel doch nur gewartet. Ging das nicht in eure verdammten Holzköpfe hinein?“ „Laß sie“, sagte Hasard. „Ich habe es ihnen schon erklärt, und jeder hat die Schrumpfköpfe gesehen, die in der kleinen Hütte hingen.“
Unter Kopfjägern
Proteste wurden laut. Luke Morgan streckte seinen Schädel vor, auf dem nur spärliche Haare sprossen. „Sollen wir vielleicht zusehen, wie unsere Kameraden einfach abgemurkst werden? Wir mußten etwas unternehmen!“ „Klar, das sehe ich ja auch ein, aber dazu soll man seinen Verstand gebrauchen und sich nicht von wilder Wut leiten lassen, so wie du Hitzkopf“, sagte Ben. „Dein Grips muß dir doch sagen, daß es noch mehr Fallen gibt und auch die nächsten wie blinde Hühner hineinstolpern.“ Big Old Shane legte dem zornigen Bootsmann die Hand auf die Schulter. „Ich bin auch losgerannt“, sagte er. „Mitunter gehen einem die Nerven durch, ist es nicht so?“ „Jedenfalls hast du die Idee mit .den Brandsätzen gehabt“, sagte Carberry, „und das war eine verdammt gute Idee. Die ist es schon wert, daß man darauf einen Schluck trinkt. Wir haben da ein feines spanisches Schnäpschen an Bord.“ „Wir gehen ankerauf“, sagte Hasard. „Oder wollt ihr warten, bis diese Burschen zurückkehren?“ Zwischendurch erkundigte sich der Kutscher hartnäckig nach Verletzungen und war fast enttäuscht, daß es keine gab, bis auf ein paar Prellungen und leichte Schmerzen. „Und dir, Sir, fehlt dir auch wirklich nichts?“ fragte er den Seewolf. „Überhaupt nichts“, versicherte Hasard. „Leichte Kreuzschmerzen, mehr nicht. Das vergeht von selbst.“ „Ihr müßt es ja wissen“, knurrte der Kutscher. „Ich möchte nur wissen, weshalb ich den ganzen medizinischen Kram gelernt habe, wenn ich ihn nicht anwenden kann.“ Der Anker wurde eingeholt, die Segel gesetzt. Die Kanonen drohten immer noch zum Strand hin, an dem jetzt die restlichen Pfähle schwarz verkohlten. Kein Eingeborener zeigte sich. Der Schrecken mußte ihnen bis ins Mark gefahren sein, und das blanke Entsetzen hatte sie tief in die Wälder getrieben.
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Langsam glitt die „Isabella“ aus der Bucht, bis sie das offene Meer erreichte. Dann segelte sie weiter nach Süden. * Am dritten Tag, seit sie die Bucht der Kopfjäger verlassen hatten, wurde Tandjung Datu erreicht. Der Kutscher maß Carberry schon seit geraumer Zeit mit vorwurfsvollen Blicken. „Sag bloß keinem an Bord, daß wir wieder die nächste Bucht anlaufen sollen, um Proviant zu ergattern“, herrschte Ed den Kutscher an, der merklich blaß wurde. „Wenn wir nichts mehr zu fressen haben, mampfen wir Reis und Salzfleisch. Das ist immer noch besser, als wenn wir irgendwo als Schrumpfköpfe an Schnüren hängen und uns gegenseitig dämlich angrinsen. Hasard wird mit Sicherheit hier keine Bucht mehr anlaufen.“ „Aber den Karten nach ist das ein größeres Kaff“, widersprach der Kutscher, „da werden auch schon andere Schiffe Proviant gefaßt haben.“ „Was verstehst du schon von Seekarten! Bist du vielleicht schon mal hier gewesen, was, wie?“ „Du vielleicht?“ „Das ist etwas anderes“, behauptete Ed und starrte voraus auf die Ansiedlung, die sich ihren Blicken bot. Ein kleines portugiesisches Schiff lag dort vor Anker. Allem Anschein nach hatten die Portugiesen diese Ansiedlung gebaut.
Unter Kopfjägern
Ed zuckte zusammen, als Hasards Anweisung erfolgte, das Kaff anzulaufen. Der Kutscher rieb sich die Hände und grinste. „ „Hasard ist eben ein Gentleman“, sagte er. „Er wird sich nach bewährter Manier als Spanier einschleichen und sich mit Proviant versorgen, da fresse ich den Großmast, wenn das nicht stimmt.“ * Der Kutscher ließ den Großmast stehen, denn es gab nicht die geringsten Schwierigkeiten, als sie vor Anker gingen und der Seewolf genau handelte, wie er es prophezeit hatte. Gegen Gold und Silber wurden sie problemlos verproviantiert, es gab nicht die geringsten Schwierigkeiten. Keiner verfiel auf die Idee, sie etwa für Engländer zu halten. Noch am selben Abend konnte die „Isabella“ frisch versorgt ihre Reise fortsetzen. Der Seewolf ging auf Westkurs und segelte von Tandjung Datu auf die Straße von Malakka zu. Wohin sie da allerdings gerieten, wußte keiner genau zu sagen, denn die Karten gaben für den Großen Ozean, der dahinter begann, nicht viel her. Aber bisher hatten sie sich immer durchgebissen und zurecht gefunden, und Hasard zweifelte nicht daran, daß es diesmal anders werden sollte. Sie fanden immer ihren Weg.
ENDE