KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D K U L T U R K U ND L 1 C H E M E T T E
RICHARD
KATZ...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D K U L T U R K U ND L 1 C H E M E T T E
RICHARD
KATZ
VERACHTETES TIER EINE
EHRENRETTUNG
I
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VERLAG
SEBASTIAN
LUX
M U R N A U • M Ü N C H E N • I N N S B R UCK
• BASEL
w enn ich abends heimkomme, erwartet sie mich auf der Schwelle des Hauses; ihre schönen dunklen Augen glänzen im Licht meiner Taschenlampe. Es tut wohl zu wissen, daß einen jemand erwartet —, oder es sich doch einzubilden. Wie immer: da ist sie, still und vertraut. Zeit hatte sie, vertraut zu werden, denn wir kennen einander schon mehrere Jahre, seit ich ein Grundstück im Gebirge Mittelbrasiliens habe und dort von Weihnachten bis Ostern die heißesten Monate des südlichen Jahres verbringe. Auf meinem Grundstück, dessen anderthalb Hektar für hiesige Raumbegriffe nur eine Art Schrebergärtchen sind, steht ein altes Bauernhaus, das ich mir für den ersten Aufenthalt hergerichtet habe. Würde einmal alles billiger werden, wollte ich mir ein rechtes Haus bauen. Nun, einstweilen ist alles teurer geworden, und so wohne ich denn, wenn es mir unten auf der Insel zu heiß wird, im alten Haus, dem der Wind durch die Fensterbretter pfeift — Fensterscheiben hat es noch nicht — und der Regen durchs Dach tropft. Doch da es still und von schönen alten Bäumen umwachsen ist, habe ich mich gern daran gewöhnt, in ihm zu übersommern. Nachdem ich dem treuen Wesen auf der Hausschwelle gute Nacht gesagt habe, schlafe ich fest in meiner Hängematte.
* Als wir einander zum erstenmal begegneten, fiel mir gleich der Name ein, den ich ihr geben wollte: Monika! Denn sie erinnerte mich an jenes mißachtete bucklige Frauchen, gleichen Namens, das ich in meiner Jugend gekannt hatte und das wegen eines Körperfehlers zeitlebens dem Spott der Mitwelt ausgesetzt gewesen war. Aber die Monika vor meiner Tür machte sich nichts aus ihrem Aussehen. Im Gegenteil: Als wir uns an jenem Abend zum erstenmal sahen, 2
bliesen wir uns vor einander auf, wie das unter neuen Bekannten üblich ist. Ich als Hausbesitzer tat herablassend, während Monika sich geradezu ungebührlich aufblies. Darauf aber haben wir bald verzichtet. Monika weiß nun, daß ich ihr nicht zu nahe trete, und ich weiß, daß sie mir nützt. Also sage ich, wenn ihre großen Augen das Licht meiner Taschenlampe grünlich widerglänzen, freundlich: „Guten Abend, Monika", und sie hebt und senkt gemächlich ihren Kehlsack. Denn Monika ist eine Kröte. Eine sehr große Kröte. Groß wie ein Ochsenfrosch, oder, für den, der nicht weiß, wie groß ein Ochsenfrosch ist, so groß wie zwei aneinandergehaltene Fäuste; eine fette, bräunlich grüne und allseits bewarzte Kröte der Art „Bufo marinus", die in Brasilien am häufigsten ist, und gewiß ein Weibchen, denn Krötenmännchen sind erheblich kleiner.
* Wenn ich sagte, daß Monika sich geradezu ungebührlich aufgeblasen hat, war das buchstäblich gemeint. Kröten blasen sich auf. Nicht, wie wir, aus Überheblichkeit, sondern zu ihrem Schutze. Diese friedfertigen, langsamen und zahnlosen Wesen wollen, indem sie ihren Körper aufblähen, den Schlangen, die ihre Hauptfeinde sind, dartun, daß sie zu groß sind, um verschlungen zu werden. Schlangen schlucken nämlich ihre Beute im Ganzen hinunter (wie wir Austern), und obwohl ihr Kinngelenk sehr dehnbar ist, wären nur sehr große Schlangen imstande, eine aufgeblasene Kröte einzuschlürfen. Die Kröte also bläst sich zu ihrer Verteidigung auf und nicht, wie die alte Fabel behauptet, weil sie so groß werden will wie ein Ochse. Doch es ist das Schicksal der Kröte, daß, was immer sie tut, mißdeutet wird. Gerade deshalb interessiert sie midi und gerade deshalb habe ich mich mit Monika befreundet. Weshalb ich ihr überhaupt einen Namen gegeben habe? wird man fragen. Ist nicht eine Kröte wie die andere? — So sind Menschen! So fragen sie! Ist denn ein Mensch wie der andere? möchte man zurückfragen. 3
»Auch Monika ist nicht wie jede andere Kröte, sie ist gleichsam eine Persönlichkeit. Erstens hat sie ihren Stammplatz auf der Schwelle meiner Haustür; zweitens trägt sie geradezu dreieckige Höcker über den Augen, Während die Augenhöcker der andern Kröten meines Grundstücks halbkreisförmig gerundet sind; drittens — und um alle Zweifel an ihrer Persönlichkeit zu widerlegen — hinkt sie, weil ihre linke Vorderpfote steif ist; und wer sollte. das besser wissen als ich, der schuld daran ist, weil er in einer schüttenden Regennacht allzu hastig ins Haus geeilt war. Es spricht für Monikas Großmut, daß sie sich trotzdem mit mir angefreundet hat. Wahrend ich, seit mich ein Auto niedergerissen hat, vor allen davonspringe, ist Monika großmütiger. Sie hält mich, vermute ich, für eine Art Naturereignis. So wenig man einer Lawine grollt, so wenig grollt sie mir. Stete Erfahrung muß Kröten darüber belehrt haben, daß fast alles, was ihnen begegnet, bedeutend schneller ist als sie und ihnen damit notwendigerweise gefährlich werden kann. Das ist der Lauf der Welt, für den Monika mich nicht verantwortlich macht. Anderseits fühlen Kröten wohl auch, daß alle Gefahren, die ihnen von überlegener Schnelligkeit, Gewandtheit — oder, wie in meinem Falle, bloßer Unachtsamkeit — drohen, nicht hinreichen, ihr Geschlecht auszurotten. Denn Monikas Sippe gehört zu den verbreitetsten Tieren Brasiliens. Diese ordinäre Kröte Bufo marinus, vom Volke einfach „Sapo" genannt, ist außerordentlich zahlreich. In feuchten Nächten scheint der Boden von ihnen lebendig; wie bräunlich-grünliche Schlammschollen rutschen sie vor einem beiseite. Auf meinem etwa dreißig Meter langen Fußweg von der Garten- zur Haustür habe ich einmal zweiundvierzig Kröten gezählt, und weniger als ein Dutzend waren es selbst dann nicht, wenn das Wetter heiß und trocken — und damit für Kröten abscheulich — war. Denn Kröten lieben Nässe; sie sind des Wassers sehr bedürftig. Nicht nur, weil sie darin aufgewachsen sind und als Erwachsene Zur Fortpflanzung darin verweilen, sondern auch, wenn sie auf dem Lande leben. Ihre nackte Haut verdunstet viel Wasser und muß deshalb noch mehr davon aufnehmen. Außerdem gibt eine Kröte täglich ein Drittel ihres Gewichts an Wasser wieder von sich. Dabei
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Krötenmännchen auf der Lauer
kann sie, sonderbarerweise, kein Wasser trinken, sondern muß es durch ihre Warzenhaut einsaugen. Also können sich Kröten nie weit von Bächen oder Teichen entfernen. Da mein Grundstück über einem schäumenden Bergflüßchen liegt, macht es Kröten so beliebt.
* Monikas Vertrauen erwarb ich mir dadurch, daß ich meine elektrische Taschenlampe neben sie auf die Schwelle legte, so daß der Lichtkegel in den Garten wies und Mücken, Motten, Käfer und fliegende Ameisen anlockte. Anfangs war Monika scheu beiseite gewatschelt, doch bald würdigte sie den ergiebigen Jagdgrund. Seither rückt sie schräg hinter den kleinen Scheinwerfer heran und läßt ihre flinke Zunge immer wieder aus dem breiten Maul hervorschnellen. Eine andere Kröte, der Größe nach gleichfalls ein Weibchen, hat einmal die Gelegenheit wahrgenommen und sich neben Monika gesetzt. Und obwohl die meisten Tiere fast so futterneidisch sind wie Menschen, ließ Monika die Konkurrentin ruhig gewähren. Solche Verträglichkeit bestätigt Brehm auch der häufigsten Kröte Europas, der Erdkröte: „Um eine Kröte", schreibt er, „deren ständigen Aufenthalt man kannte, bei ihrem Kerbtierfang zu beobachten, bestrich man ein Blatt mit etwas Honig und legte es vor den Schlupfwinkel. Der Honig zog bald eine Menge Fliegen und Wespen herbei, die von der Bewohnerin der Höhle weggeschnappt wurden. Als einst eine andere Kröte sich an dieser stets reich bestellten Tafel einfand, warf man viele Kerbtiere zwischen beide, so daß ihre Aufmerksamkeit wechselseitig erregt wurde. Dabei geschah es, daß zuweilen beide nach demselben Kerfe haschten; niemals aber zeigte die, die leer ausging, den geringsten Unwillen oder gar ein Gelüst nach Rache. Niemals überhaupt sah man zwei Kröten miteinander streiten." Wie verhalten sich zwei Menschen in solchem Falle? Die Kröte hingegen! Wie rücksichtsvoll benimmt sie sich! Könnte sie sprechen, sie sagte „Pardon!", wenn ihre Zunge zufällig nach demselben Insekt zielte, wie die ihrer Nachbarin. Und dabei frißt sie gern und viel. Welch ein Exempel der Verträglichkeit! 6
Harmlos, verträglich und anspruchslos hätte die Kröte auch dann Anrecht auf unsere Duldung, wenn sie nicht so außerordentlich nützlich wäre. Von der europäischen Erdkröte schreibt Rawton: „Jede Kröte, die sich auf einem Grundstück ansiedelt, stellt für dessen Eigentümer eine Jahresrente von fünf Franken dar, demnach ein Kapital von hundert Franken; ihr Wert steigt, wenn sie Anpflanzungen von Frühgemüse unter ihren Schutz nimmt." — Und das waren Goldfranken! Um wie viel mehr ist eine brasilianische Kröte wert, die doppelt so groß ist und keinen Winterschlaf hält und deshalb das ganze Jahr Beute macht! Tatsächlich wurden Monikas Verwandte schon für teures Geld exportiert: erst um die halbe Erde herum nach Hawaii, wo sie die Zuckerplantagen so gründlich von schädlichem Ungeziefer reinigten, daß die Regierung der Philippinen auch welche erbat; dann verpflanzte man sie nach Portorico, wo sie mit einer Käferlarve aufräumten, die dort der schlimmste Schädling des Zuckerrohrs war; endlich nach Kuba, wo die Pflanzer sie in eigens angelegten Teichen weiterzüchteten. Verständige wissen schon, was so eine Kröte wert ist — doch sind sie leider sehr in der Minderheit. Nach dem Durchschnitt, den man aus mehreren hundert Krötenmagen errechnet hat, säubert allein Monika mein Grundstück von jährlich achttausend Tausendfüßlern, vierzehntausend Ameisen, zehntausend Käfern, ebenso vielen Motten und zweitausend Getreidebohrern. Und das ist nur ein Teil ihres Menüs! Sie frißt auch Moskitos und sie frißt Mäuse, sie frißt Würmer und sie frißt Schlangen, sie frißt sogar Sand. Es gibt wenig, was sie nicht fräße. Enrico Santos, dem ich manche Aufklärung über Monikas Familie verdanke, zeigt in seinem Buch die Fotos einer solchen Kröte, die eine kleine Jararaca-Schlange einsaugt wie ein Makkaroni. Behaglich ausgestreckt, betrachtet sie das Schwanzende dieser bösen Viper, das ihr noch aus dem Maul hängt. Ihr Bauch ist sehr dick und erweckt den Eindruck, daß sie sich mit der Schlange übernommen hat; doch ihre Augen sind so entschlossen auf den Schlangenrest gerichtet wie die eines satten kleinen Jungen auf noch ein Stück
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Kuchen. Man traut dieser Kröte zu, daß sie auch mit dem Schwanz der Jararaca fertig werden wird. Krötenfeinden möchte ich gerade diese Fotos vor Augen halten und dazu bemerken, daß die Jararaca die häufigste Giftschlange des Landes ist. Von den fünftausend Personen, die in Brasilien jährlich an Schlangenbiß sterben, fällt die überwiegende Mehrheit ihr zur Last. Eigenartigerweise nimmt die Zahl der Schlangen zu, je mehr der Wald gerodet wird; denn Wiesen und Pflanzungen sagen ihnen besser zu, weil sie in ihnen mehr Futter finden und weniger Feinden begegnen. Brasilien bestätigt die Erfahrung, die ich in Indien gemacht habe, daß die Kultivierung des Landes die Schlangen vermehrt. Beim Roden meines Grundstücks in Nova-Friburgo wurden drei Jararacas aufgestöbert. Eine von ihnen war noch so jung, daß Monika sie hätte fressen können; die zweite wäre mit etwa siebzig Zentimetern schon zu groß für sie gewesen; während die dritte —• eine „Große Jararaca" — über eineinhalb Meter maß und damit wohl imstande gewesen wäre, Monika zu fressen, hätte ihr nicht mein guter Nachbar mit einem Schlag seiner Jäthacke den Kopf abgeschlagen. Umsichtig wie er ist, hat er ihn vergraben, denn solche Köpfe beißen noch geraume Zeit. Das Gift der Jararaca ist so stark, daß es dem Gebissenen das Blut aus Augen und Ohren treibt und nur eine rasche Serum-Einspritzung qualvollen Tod verhindern kann. Dennoch fressen Kröten junge Jararacas. So widerstandsfähig sind sie gegen Gifte, daß manche Indianerstämme ihr Pfeilgift Curare an ihnen ausprobieren und es erst dann für wirksam halten, wenn es sogar eine Kröte tötet. Da leider auch viele Schlangen den Ätzsaft der Krötendrüsen vertragen, fressen fast alle größeren Schlangen auch Kröten; eine, die ungiftige „Boi-peva", lebt von ihnen. Schleicht diese zwei Meter lange schwarze Schlange heran, brechen alle Kröten der Umgebung in quiekende Angstschreie aus. Sie wissen, bei der Boi-peva verfängt kein Aufblasen. Die schlägt der Kröte die spitzen Vorderzähne so in den Bauch ein, daß die Luft ausströmt. In mancher Nacht hat mich das Angstgeschrei der Kröten vor der 8
Boi-peva geweckt. An ihr gewöhnliches Grunzen habe ich mich schon so gewöhnt, daß es mir mit dem Windflirren des dünnen Eukalyptuslaubs und dem fernen Rauschen des Bergflüßchens zur vertrauten Geräuschkulisse der Sommernacht verschmilzt. Daß die Kröten angesichts solcher Feinde schreien, statt still zu fliehen, hat seinen guten Grund: Flucht nützt nichts, Kröten sind zu langsam. Selbst eine gemächliche Schlange holt sie mühelos ein, geschweige denn eine so flinke wie die Boi-peva. Mit der Schnelligkeit der Schlangen ist es eine eigene Sache: man überschätzt sie zumeist. Sieht man eine Schlange vorbeihuschen, möchte man meinen, sie sei außerordentlich'geschwind. Tatsächlich haben aber Versuche nordamerikanischer Zoologen erwiesen, daß keine Schlange eine Geschwindigkeit von fünf Kilometern in der Stunde erreicht, so daß man nicht einmal zu laufen braucht, um ihr zu entkommen; schnelles Gehen genügt. Im Ernstfall freilich läuft man dennoch. Einen Bekannten, der sich im Orgelgebirge in die Büsche geschlagen hatte, sah ich in unwürdiger Hast und Bekleidung wieder herauslaufen, bald gefolgt von einer dicken dunklen Schlange, die sichtlich erzürnt war. Nach dem flachen Kopf und der spitzen Schnauze vermute ich, daß es eine Boi-peva war, nahm mir aber damals nicht Zeit, das festzustellen, sondern lief meinem Bekannten nach, und sie gab auf. Der Himmel weiß, worüber sie so ärgerlich war. Boi-pevas sind für ihr cholerisches Temperament berüchtigt. Wie könnte eine schwerfällig humpelnde Kröte einem solchen Bosnickel von Schlange entrinnen? Da bleibt nichts übrig, als zu jammern. Große Schlangen also fressen Kröten, und Kröten fressen kleine Schlangen, das ist der Lauf der Welt, und sein Ergebnis ist immerhin, daß es mehr Kröten als Schlangen gibt. Bei weitem mehr.
* Zur Nahrung Monikas gehören auch Eidechsen, Raupen, Käfer, Würmer und Mäuse. In einem Vortrag im naturwissenschaftlichen Museum von Rio de Janeiro teilte Frau Dr. Phisilix mit, daß eine Kröte von Monikas Art in einer halbstündigen Mahlzeit ein ganzes Nest junger Mäuse und dazu als Beilage wie Makkaroni zwanzig 9
Meter Würmer gefressen hat. Eine andere große Kröte, die diese Forscherin beobachtete, fraß neben ihrer üblichen Insekten-Nahrung während eines ganzen Sommers täglich eine Maus. Eine dritte Kröte, die noch nicht einmal ausgewachsen war, verzehrte auf einen Sitz sechs junge Mäuse nebst zweihundert Gramm Würmern. Man sollte es kaum glauben, mit welcher Treffsicherheit und Schnelligkeit das sonst so plumpe Tier seine Beute fängt, indem es die Zunge vorschleudert wie ein elastisches Band. Die Krötenzunge ist nämlich nicht wie unsere hinten, sondern vorn, sozusagen mit der Spitze, angewachsen, was sie zur Insektenjagd besonders befähigt.
Alle Beobachter bestätigen die große Gutmütigkeit der Kröte. Brehm zweifelt allerdings, ob diese Gutmütigkeit „nicht vielleicht Geistlosigkeit" sei, gibt aber zu, daß Kröten „zwischen den verschiedenen Geschöpfen unterscheiden, mit denen sie zu tun haben und ihre Gewohnheit den Verhältnissen anpassen." Meine Erfahrung mit Monika bestätigt er: „Sie erkennen ihnen erwiesene Wohltaten dankbar an und legen gegenüber dem, der sie freundlich behandelt, nach und nach die ihnen sonst eigene Scheu fast gänzlich ab. Bell hatte eine Kröte so weit gezähmt, daß sie ruhig auf der einen Hand sitzenblieb und die ihr mit der anderen vorgehaltene Fliege aus den Fingern nahm. Andere Freunde dieser so verachteten Tiere brachten ihre Gefangenen dahin, daß sie sich auf einen ihnen geltenden Ruf oder Pfiff regelmäßig einstellten, um das ihnen zugedachte Futter in Empfang zu nehmen." So weit, daß sie mir auf den Pfiff folgt, habe ich Monika allerdings nicht gebracht und werde es auch kaum, denn die Kröten, von denen Brehm spricht, wurden in engem Gewahrsam gehalten, während Monika in Freiheit lebt, und ich nicht einmal weiß, wo sie den Tag verschläft. Mag sein unter einer Baumwurzel, mag sein in einem der Löcher, die der Regen in, den roten Lehmboden gewaschen hat. Aber ist Monika auch nicht dressiert, so ist sie deshalb doch nicht dumm. Kröten sind überhaupt nicht dumm. Der Tierforscher Leydig hielt die Erdkröten seines Terrariums für „gescheiter und verständiger" als Wasserfrösche. „Der Wasser10
frosch", schrieb er, „behält in Geiangenscnairt sein ungestümes Wesen bei, und seine Handlungen zeugen von wenig Überlegung; er nimmt alles, was sich vor seinen Augen bewegt, für lebende Nahrung und schnappt danach; nach einer Frucht so gut wie nach einem Kerbtier. Es geht ihm auch lange oder gar überhaupt nicht ein, daß er sich durch Sprünge gegen den Deckel des Behälters nicht befreien kann. — Wie anders ist das Benehmen der Erdkröte! Sie weiß sich bald in die Umstände zu schicken und wird bei guter Pflege recht bald zutraulich. Bei Vorlegung eines Kerbtiers oder Regenwurms macht sofort das bis dahin regungslos dasitzende Tier aufmerksame und doch dabei ruhige Bewegungen des Kopfes, man sieht, daß es sich der Beute planmäßig zu bemächtigen strebt. Auch die Fluchtversuche verraten Überlegung." „Aufmerksam", „ruhig", „planmäßig", „Überlegung" sind rechte Worte für die Beschreibung einer Kröte. Von mancher friedlichen Nachtstunde, die ich mit Monika auf der Schwelle meines kleinen Sommerhauses verbracht habe, füge ich „gemächlich", „gleichmäßig", „schwerfällig" und „schnell" hinzu — die beiden letzten Bezeichnungen, die einander zu widersprechen scheinen, bringt Monika ins Einvernehmen, indem sie ihre Chancen zwar mit der Schwerfälligkeit ihres langsamen Leibs vorbereitet, doch mit der Flinkheit ihres vorgeschnellten Züngleins ausnützt. • Welch planmäßiger Überlegung eine Kröte fähig ist, bezeugt folgende Beobachtung des bekannten Tiefseeforschers Beebe: „Ein Zug Wanderameisen •— winzige doch mörderisch gefährliche Insekten, die alles Lebende, dem sie begegnen, überschwärmen, zerstückeln und fressen — näherte sich einer großen Kröte, die auf der Flucht vor ihnen in ein Loch gefallen war. Die Kröte stellte sich sogleich tot und regte sich nicht, obschon viele der sie schwarz überwimmelnden Ameisen die Kieferzangen wie zur Probe in ihre warzige Haut schlugen. Als die Ameisen weitergezogen waren, kletterte die Kröte aus dem Loch und humpelte davon". Um diese Beobachtung recht zu würdigen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Kröten gern Ameisen fressen, so daß die Versuchung einer nahrhaften Gegenwehr nahe lag und nur rechte Überlegung die Kröte davor bewahrte, sie gegen diesen überlegenen Feind anzuwenden. Man muß ferner wissen, daß Wanderameisen 11
Wasser ist das zweite Lebenselement der Kröte
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nicht nur mit ihren gezahnten Kiefern schmerzhaft zubeißen, sondern dazu noch den Stachel ihres Hinterleibs einbohren, der heftiger schmerzt als ein Wespenstich. Welche Selbstüberwindung mußte jene Kröte aufbringen, um ihren rettenden Plan durchzuführen! Kröten handeln also folgerichtig. Als der Vorteil meiner Taschenlampe Monika eingeleuchtet hatte, machte sie systematisch den günstigsten Platz am Lichtkegel ausfindig und humpelte bald da-, bald dorthin, bis sie schließlich ihre Stelle zwischen zwar einträglicher aber blendender Helle und vertrautem aber insektenarmem Dunkel gefunden hatte. Befriedigt hockt und schmaust sie nun im Zwielicht. Lege ich die Lampe auf den gewohnten Platz, nimmt sie, wie selbstverständlich, auch ihren Platz etwas schräg hinter dem Reflektor ein. Lege ich aber die Glühlampe anderswohin, so macht sie geduldig immer aufs neue die für sie einträglichste und dabei vom Licht möglichst wenig belästigte Stelle ausfindig. Dort stützt sie sich nach Krötenart mehr auf den Bauch als auf die Füße, bringt das Geschütz des breiten Mauls in Stellung und schleudert die Zunge zielsicher hervor. In ihrem Benehmen liegt weder Unschlüssigkeit noch Hast. Ins Menschliche übersetzt erinnert sie mich an einen Mitschüler, der sich mittelmäßig durch die Studien schleppte, nicht auffiel, doch auch nicht durchfiel, an einen vierschrötigen, langsamen Burschen, den die hellen Köpfe verulkten und der sie zu guter Letzt gemächlich überholte, von behaglicher Korpulenz schnaufend, nicht wie sie von Ehrgeiz, und endlich ein guter Familienvater und großer Bauunternehmer wurde, einer von denen, die Betonstraßen bauen, Viadukte und Tunnels, solide, zähe und nicht schnell, ein dicker, geachteter Mann. Womit freilich der Vergleich zu weit ausgesponnen ist, denn wenn Kröten auch dick werden, geachtet werden sie nicht. Oder doch nur von einer kleinen Minderheit aufmerksamer Menschen. Vom schon zitierten Rawton etwa, der ihre Beschreibung mit dem Ausruf schließt: „Der Mensch sollte ihr die Pfote küssen!" Statt dessen tut die überwiegende Mehrheit der Menschen leider etwas ganz anderes. In Brasilien wie in Europa und sonstwo in der Welt. 13
Der Abscheu vor den Kröten, ihre Verleumdung, Verfolgung und herzlose Marterung ist ein trauriger Beleg dafür, mit welcher Zähigkeit die meisten Menschen an stupiden Vorurteilen festhalten. Beileibe nicht nur Ungebildete! Selbst der sonst so aufmerksame und tierliebende Züricher Naturforscher Konrad Geßner hat die Kröte gröblich verleumdet: „Dieses Thier ist ein überauß kaltes und feuchtes Thier, gantz vergifft, erschröcklich heßlich und schädlich", schreibt er. „Wenn man dieses Thier schmeist, wird es so zornig, daß es den Menschen, wenn es könnte, gern mit seinem gifftigen schädlichen Athem vergifften möchte." Auch Heinrich Heine, sonst so empfindlich gegen Vorurteile, unter denen er selbst tief gelitten hat, hält sich an diesem wehrlosen Wesen schadlos, indem er reimt: „Und die Kröten sich beeifern, Ihren Lorbeer tu begeifern" Und der Dichter Anton Wildgans übersetzt aus einem Sonett: „In Grases Grün und Bliihens Tausendfalt Birgt sich der Kröte ekle Mißgestalt — Glücklich die Augen, die das Licht vergessen!" Man sage nicht, das seien poetische Ausrutscher. Auch der Poet darf nicht verleumden — ein Tier so wenig wie einen Menschen.
Es gibt kaum ein anderes Tier, das seine einzige Waffe so ausschließlich nur zur Verteidigung gebraucht wie die hilflos langsame, zahnlose, muskelschwache Kröte. Wenn Völker in Krieg geraten, pflegt jedes von ihnen zu versichern, daß es von den Waffen nur zu seiner Verteidigung Gebrauch mache. Die Kröte behauptet das nicht; doch sie kann es beweisen; denn sie ist außerstande, den ätzenden Saft ihrer Drüsen zu verspritzen 14
oder sich auch nur damit zu salben. Bei aller Anstrengung kann sie ihre Giftdrüsen nicht selbst betätigen. Um vom Gift einer Kröte verletzt zu werden, muß man es ihr selbst ausdrücken. Doch selbst dann: wie milde ist das „Gift" einer Kröte! Wie arg verleumdet man sie auch hierin! Zunächst wirkt es nur auf eine Schleimhaut. Ich könnte Monika jede einzelne Drüse — sogar die dicken über den Ohren •— mit den Fingern ausdrücken, ohne daß ich mehr zu befürchten hätte als eine vorübergehende Rötung der Haut. Doch selbst Schleimhäuten ist Krötengift nicht allzu gefährlich. Meine Hündin Drolly hat einmal eine Kröte geschnappt. Sie ließ sie gleich wieder fallen, schüttelte den Kopf und geiferte weiße Flocken. Doch nach ein paar Stunden fraß Drolly ihr Mittagessen, als sei nichts geschehen. Die Erfahrung — und vermutlich auch der Schmerz — waren so oberflächlich, daß sie sich wenige Monate hernach wieder an einer Kröte vergriff. Auf einem Abend-Spaziergang im Walde sah ich Drolly ein Wurzelloch mit heftigem Scharren erweitern, und als ich nachsah, was darin sei, bemerkte ich eine große Kröte, die sich ängstlich an die Rückwand der Höhle preßte, so daß sie nur Nase, Augen und die dicken Giftdrüsen zeigte, die sich von den Ohren über die Augen bis fast zu den Nasenlöchern vorhöckern. Kaum hatte ich das Halsband der Hündin freigelassen — denn nur eigene Erfahrung belehrt —, als sie auch schon ihre Schnauze in die Höhle und damit gerade gegen die ergiebigsten Giftdrüsen der Kröte gedrückt hatte. Sie fuhr jaulend zurück, und Schaum stand ihr so üppig ums Maul, als wolle sie sich rasieren lassen. Ein Negerbüblein, das, ein Holzbündel auf dem Kopf und ein Buschmesser in der Hand, vorbeikam, erschrak vor dem tollwütigen Eindruck, den die schäumende Hündin machte, so gewaltig, daß es seine Last abwarf und mit der Geschwindigkeit eines Tapirs durchs Gehölz brach. Dabei verlor er sein Messer. Das ist der einzige mir bekannte Fall, in dem eine Kröte einem Menschen dauernden Schaden zugefügt hat. Denn Buschmesser sind teuer, und ich weiß bis heute nicht, wie ich dem Negerjungen seines urückgeben soll. 15
Drolly fraß an jenem Tage nicht, war an Nasenlöchern und Lefzen wie verätzt — und geht seither Kröten aus dem Wege. Dauernden Schaden hat sie nicht genommen, so daß ich die Behauptung, Hunde stürben an Krötengift, für unwahr halte, so hartnäckig sie auch wiederholt wird. Eine Kröte, die sogar Menschen ernstlich bedrohen könnte, gibt es ganz gewiß nicht. Nur unter den Fröschen gibt es einige Arten, denen man besser aus dem Wege geht: so Hyla vasta von San Domingos, deren Saft auch die menschliche Haut durchätzt; gefährlich ist auch der große laut brüllende Ochsenfrosch am Amazonas — wegen seiner spitzen Auswüchse über den Augen auch „Hörnerfrosch" genannt —, der zwar kein Gift, dafür aber zwei Reihen spitzer Zähne besitzt, mit denen er wie ein bissiger Hund angreift; und das giftige kleine Fröschlein Jui, dem Indianer einen Bestandteil ihres Pfeilgiftes abgewinnen. An all dem hat die Kröte keinen Anteil. Daß sich gelegentlich ein naseweiser Hund oder eine räubernde Katze das Maul an ihr verbrennt, ist ihre einzige Giftwirkung. Dessenungeachtet fürchtet und tötet das Volk die Kröte, als sei sie eine böse Viper, und wenn das berühmte brasilianische Institut Butantan im Austausch gegen Heilserum giftige Tiere erbittet, kann es sicher sein, auch eine Menge Kröten geliefert zu bekommen, worunter im Durchschnitt vierundneunzig Prozent von Monikas besonders nützlicher Art sind. Das Institut Butantan in Sao Paulo stellt in der Hauptsache Impfstoffe gegen Schlangenbisse her, untersucht aber auch andere Tiergifte. Als ich es zum erstenmal besuchte und ein Gehege mit Kröten betrachtete, zog mich meine liebenswürdige Begleiterin zurück und sagte ängstlich, diese Kröten seien so giftig, daß sie einen aus ihrem Rücken blind spritzen könnten. Damals habe ich den Unsinn geglaubt, ja ich habe ihn nachgeschrieben. Was wieder einmal den Balken im eigenen Auge erweist. Berühmt ist Butantans Schlangenfarm, deren Vipern- und NatternKnäuel und Riesenschlangen einem das Gruseln beibringen können. Butantan stellt Spezialimpfstoffe gegen die Gifte von Klapperschlan16
Sogar klettern kann sie . 17
gen, Jararacas, Korallenottern, Giftspinnen und Skorpionen her, indem es Pferde mit langsam ansteigenden Giftinjektionen immunisiert, um ihr von Abwehrstoffen gesättigtes Blutserum als Heilmittel gegen das betreffende Gift zu verwenden. Als mir der Gedanke kam, über Monika zu schreiben, die auf der anderen Seite meiner elektrischen Taschenlampe saß und hurtig einen Nachtfalter angelte, während ihre schönen grün-bläulichen Augen unbeteiligt und ohne zu blinzeln in eine unwirkliche Welt zu blicken schienen, meldete sich das Bedenken: was kann man schon über eine Kröte schreiben? — Ja, und dann habe ich Monika genauer beobachtet, habe mich für Froschlurche im allgemeinen, für Kröten im besondern und ganz besonders für Bufo marinus, die Sippe Monikas, interessiert: und finde jetzt einen Lesebogen für sie zu eng. Wir müssen also sehen, wie weit uns Monika auf den wenigen uns zur Verfügung stehenden Seiten führt. Ihr Gift, so belehren uns die Forscher, ist eigentlich zweierlei Gift: ein schleimiges der Ohren- und Rückendrüsen, das ähnlich wie Digitalis, der Fingerhutsaft, wirkt und rein dargestellt werden kann, und ein anderes, Phrynolysin genannt, das die Blutkörper auflöst. Beide zusammen haben also meine Hündin Drolly zum Schäumen gebracht, ohne daß ihr jedoch das digitalisartige das Herz gelähmt, oder das Phrynolysin die Blutkörper aufgelöst hätte. Eine Katze des Naturforschers Santos, die dreist genug war, eine Kröte von Monikas Art fressen zu wollen, gab ihr Vorhaben, kläglich maunzend, auf. Sie geiferte sehr; doch nach einigen Tagen erholte sie sich vollständig. Hudson berichtet von einem Wels, der starb, nachdem er eine Kröte verschlungen hatte. Laurentius hat den Tod einer Eidechse beobachtet, die in eine Kröte gebissen hatte. Gemminger hat einen Falken sterben sehen, der eine Kröte gekröpft hatte. Lataste, der eine Kröte mit einer Ratte im selben Gewahrsam hielt, büßte beide ein, weil die Ratte die Kröte fraß, ohne sie verdauen zu können. Das ist das ganze wissenschaftlich verbürgte Sündenregister der Kröte, das ich habe ausfindig machen können. Die Fälle, in denen Hunde an Krötengift eingegangen sein sollen, sind, denke ich, auf Schlangenbisse, Skorpionstiche, Giftköder oder andere verborgene Ursachen zurückzuführen. Daß Kröten nächtliche 18
Tiere sind, Unfälle also, die ihnen zur Last gelegt werden, sich meist im Dunkeln ereignen, erschwert die genaue Feststellung. Eine Kröte, «lie man verantwortlich machen kann, ist hier so gut wie stets in der Nähe. Südamerika wimmelt von Kröten. Am häufigsten ist die Art Monikas. Schomburgk fand „die Erde oft mit diesen Tieren bedeckt" und ekelte sich mehr vor ihnen, als es einem Naturforscher zukommt. Er nennt sie mit „Geckonen, Eidechsen, Skorpionen, Schlangen und Tausendfüßlern" zusammen, weil er sie mit diesen in gemeinsamen Sdilupfwinkeln gefunden habe (was ich schon deshalb bezweifle, weil Tausendfüßler für Kröten Delikatessen sind) und graust sich: „Ein solcher Knäuel nackter, wimmelnder, ekelhafter Tiere übergoß uns anfänglich mit wahrem Schauder, bis uns auch hierbei die Gewohnheit diese Schwäche verlernen und uns einen tüchtigen Prügel als das beste Mittel gegen ungebetenen Besuch erscheinen ließ." Wer wollte es danach einem dummen Jungen verargen, daß er eine Kröte totschlägt, wenn hier selbst der Naturforscher den Knüppel gegen sie schwingt? Daß die Kröten von so allgemeiner Feindschaft noch nicht ausgerottet worden sind, ja ihr zum Trotz an Zahl zunehmen, verdanken sie ihrer starken Nachkommenschaft und ihrer langen Lebensdauer. Wenn eine Monika Eier legt, lohnt es sich. Ein Forscher, der sich die Mühe genommen hat nachzuzählen, ist auf zweiunddreißigtausend gekommen. Wir wollen ihn nicht auf eins mehr oder weniger festlegen, denn Kröteneier sind schlüpfrig.
* Die Entwicklung der Kröte ist so eigenartig, daß man sich, bei aller Sympathie, doch wundern muß, welche Mühe sich die Natur mit ihr nimmt. Ist sie doch kein besonders kompliziertes Tier: ein dicker Leib auf den üblichen vier Gliedmaßen; ein flachschädeliger breitmäuliger Kopf; eine feuchte, warzige Flaut, mattfarbig zwischen dunkelbraun und oliv getönt; nichts, was eine besonders umständliche Herstellung erfordern sollte. Doch die Wege der Natur sind dunkel. 19
Manchmal benimmt sie sich wie mein Schneider, der mich monatelang auf einen Anzug warten läßt, und nachher wirft der Rock doch Falten und die Hosen sitzen auch nicht, wie sie sollten. Bescheiden wir uns mit der Feststellung: „Die Amphibien oder Lurche bilden eine Gruppe der Wirbeltiere, die zwar nicht mehr reich an Arten, doch von erheblicher wissenschaftlicher Bedeutung ist, weil sie uns geradezu greifbar zeigen, daß Lebewesen im Verlauf ihrer Entwicklung den Organismus völlig verändern können." Nehmen wir von den Amphibien die Schildkröten: sie begatten sich, das Weibchen legt Eier und verscharrt sie im Sande; punktum. Die Sonne brütet sie aus, und eines Nachts huscht eine Menge klitzekleiner Schildkröten in den Fluß zurück. Winzig aber perfekt. Richtige Schildkröten. Nicht Zwischenstufen wie Kaulquappen oder meine Anzüge. Nein, die Jungen der Schildkröten, die doch auch Amphibien sind (und dabei nicht etwa einfachere, sondern, ihres Panzers wegen, eher kompliziertere Amphibien als Kröten) sehen, frisch aus dem Ei gekrochen, schon genauso aus wie die Eltern. Hingegen die Kröte ohne Schild! Monika. Man glaubt es kaum. Die Umständlichkeit, mit der eine Kröte entsteht, beginnt mit ihrer Zeugung. Man weiß, es ist allgemein üblich, daß der Mann das Weibchen befruchtet. Allenfalls befruchtet ein Männchen die Eier, nachdem das Weibchen sie abgelegt hat. Bei Kröten ist das anders: Das Krötenmännchen schlägt den Mittelweg ein, die Eier in dem Augenblick zu befruchten, in dem es sie seinem Weibchen ausgepreßt hat. Zu diesem Zwecke suchen die Kröten ausgiebiges Wasser auf: Bäche, Flüsse, Teiche. Sie watscheln in Scharen den Ufern zu; oft meilenweit; die Männchen zuerst; die Weibchen einige Tage nach
ihnen. Nach der Paarungszeit sind die Teiche von den schimmernden Perlenschnüren der Kröteneier durchzogen; ihre gallertigen Strähnen treiben in den Bächen und umschlingen Wasserpflanzen und Uferwurzeln. Sie sind so außerordentlich zahlreich, daß ich bei NovaFriburgo ein Schwimmbecken von ihnen wie geronnen fand. Wie gierig auch Fische und Wasserkäfer unter ihnen aufräumen, es bleiben mehr als genug übrig. 20
Dem Krötenei entschlüpft ein seltsam unfertiges Wesen: eine winzige Larve, die weder Mund noch After, weder Augen noch Nasenlöcher hat. Oberflächliche Hautfurchen deuten diese Organe einstweilen an, während die Atmungsorgane mit äußerlichen Knötchen skizziert sind. Ein seitlich abgeplatteter Schwanz ist die einzige Gliedmaße dieses unfertigen Wesens, das dennoch sogleich seine Lebensfähigkeit erweist. Unter der Hautfurche, die später Mund werden soll, sondert es einen leimigen Stoff ab, mit dem es sich an eine Wasserpflanze klebt, um sich hier ohne mütterlichen Schutz, ohne Nahrung und Atmung weiter zu entwickeln. Nach einigen Tagen öffnet sich der Mund, um den sich fleischige Lippen bilden; der Darm bekommt seinen Ausgang. Die Krötenkaulquappe, die bis dahin von den Vorratsstoffen des Eis lebte, nimmt nun Nahrung auf; zunächst pflanzliche Stoffe; im Aquarium bevorzugt sie gekochten Spinat und Polenta, einen Maisbrei. Nasenlöcher durchbohren die Haut und suchen Verbindung mit der Mundhöhle, Augen treten von innen an die Oberfläche; die seitlichen Halsknötchen verästeln sich korallig zu Außenkiemen; der Schwanz wächst so rasch, daß er bald länger wird als der Leib. Die Krötenkaulquappe schwimmt flink wie ein Fischlein. Einem Fisch gleicht sie auch. Nichts an ihr erinnert an die Kröte, deren erster Entwurf sie doch ist. Beim zweiten rücken die Nasenlöcher mehr zur Seite, der Mund bildet eine Art hornigen Schnabels, Kiefer zeichnen sich ab und bezahnen sich. Die Zähne der Kaulquappen sind ein Einfall, den die Natur später verwirft, denn Kröten haben keine Zähne — das vor allem unterscheidet sie von Fröschen. Fischgleich entwickelt die Kaulquappe nun innere Kiemen; die äußeren helfen bei der Atmung zunächst noch mit, welken aber bald und werden aufgesogen. In diesem Zustand sieht das Tier aus, als ginge sein Dickkopf unmittelbar in den kräftigen Schwimmschwanz über. Doch erweist seine ungestüme Freßlust, daß zwischen beiden ein stets hungriger Magen liegt. Jetzt frißt die "Kaulquappe alles, was sie verschlingen kann, Pflanzen wie Tiere. Im Aquarium nimmt sie noch weiche Blätter an, bevorzugt aber schon gekochtes Fleisch und geschnitzelte Schnekken. Der Kröten-Appetit macht sich geltend. Bald tun das auch die Krötenglieder. Am zwanzigsten Tage be21
Kröte und Libelle: Ein fetter Happen winkt ginnt dieses einfallsreiche Wesen Hinterbeine auszustülpen. Nicht, als ob es sie in langsamem Wachstum entwickelte, sondern es treibt sie gewissermaßen fertig entwickelt mit der Fußsohle voran aus dem Leib. Anfangs schlaff und wie an die Schwanzwurzel geklebt, gewinnen die Hinterbeine bald Beweglichkeit und strampeln beim Schwimmen mit. Kurz darauf deuten zwei Fleischknöpfe den Platz an, wo sich innen in der Kiemenhöhle die Vorderbeine entwickeln. Die Vorderbeine treten nicht wie die Hinterbeine ratenweise ans Tageslicht, sondern werden mit einem Male ausgestoßen. So bekommt die Krötenkaulquappe an einem Tage Arme und Hände. Damit auch hierin Abwechslung bestehe, tritt erst das linke Vorderbein durch die Kiemenspalte und dann das rechte seltsamerweise durch die Haut zutage. Zwischen Vorder- und Hinterbeinen bilden sich nun einige Kiemen-Blätter, die später zu Lungen auswachsen. Was wir nun als dritten Entwurf vor uns sehen, ist eine vierbeinige kleine Kröte mit einem langen Schwanz; sie ist nicht mehr schwarz wie eine Kaulquappe, sondern schon beinahe krötenfarbig 22
dunkelbraun. Dieses neue Wesen schwimmt nicht mehr so flink, wenn es auch noch nicht so bedächtig langsam humpelt wie eine erwachsene Kröte. Auch ist es noch kein Landtier. Es hüpft auf dem Boden des Gewässers oder lauert dort, gekauert, auf lebende Beute. Die Natur betrachtet es und es gefällt ihr nicht. Es geht ihr wie meinem Schneider. So lange sie auch gebraucht und so viel Mühe sie sich auch gegeben hat: es ist nicht so ausgefallen, wie es sollte. Die Schöße sind zu lang. Der Schwanz muß weg! Bricht er ab wie der Schwanz einer flüchtenden Eidechse? Nichts, was so einfach wäre! Bei der Entwicklung der Kröte ist die Natur voll überraschender Einfälle. Die Kröte saugt ihren Schwanz von innen ein; sie verdaut ihn. Dieser kräftige Schwimmapparat, der nicht lange vorher um ein Drittel größer gewesen war als das ganze übrige Tier, dieses komplizierte Organ mit seinen Wirbeln, Sehnen und Muskeln, mit Haut und Flossenrand, mit seinen Nerven und Blutgefäßen wird von der Kröte restlos aufgezehrt. Nach zwei Tagen ist er auf die Hälfte eingeschrumpft, nach vier Tagen verschwunden. In dieser Zeit nimmt die Kröte keine andere Nahrung zu sich als ihren eigenen Schwanz. Während der letzten vier Tage ihrer abwechslungsreichen Entwicklung haben sich in ihr Bronchien verzweigt und Lungen gebildet; ihre Augen sind ums Vielfache gewachsen und haben den sanft-gleichmütigen feuchtgrünen Monika-Blick angenommen — es ist, als sei das Gewässer ihrer Jugend in ihre Augen gesunken und schimmere dort, ein Brunnen der Erinnerung, fort; Lider bilden sich und Tränenkanäle im Unterlid — ach, die Kröte wird allen Grund haben, sie zu betätigen! —; der Darm, nun ganz auf Fleischnahrung gestellt, verkürzt sich wesentlich: Die Kröte ist fertig, nachdem sie in einem Dutzend Wochen mehrere Entwicklungsstufen durchlaufen hat, die von ihrer Endform gänzlich verschieden waren. Nun verstehen wir, weshalb man den Froschlurchen hohe wissenschaftliche Bedeutung beimißt. An ihnen beobachten wir die Entwicklung eines Tiers vom Ei über frühkindliche Stufen bis zum fertigen Wesen, von fischartiger Form und Lebensweise zum Amphibium und zum Erdtier, wir sehen es von Pflanzen- zu Fleischnahrung, von Schwanz- zu Beinbewegung, von Kiemen- zu Lungenatmung übergehen; wir verfolgen mit freiem Auge und in freier 23
Natur (oder, wenn wir es uns bequemer machen wollen, im Aquarium) den Werdegang eines Lebewesens, der sich sonst nur im Dunkel eines Eies vollzieht. So schwer die Natur sich die Arbeit macht, so leicht macht sie uns deren Beobachtung. Als Ergebnis so vielfacher Verwandlung nun, siehe da: Monika! Da sitzt sie neben mir, feuchtkalt, warzig, schlapp, tief atmend und aufmerksam. Jetzt hat ihre Zunge die dicke Motte geangelt, die das Licht meiner Taschenlampe lange umtaumelt hatte. Befriedigt über den feisten Fang sackt sie auf ihren breiten Bauch zusammen. Die Motten, die jetzt noch heranschwirren, haben wahrlich Glück. Der große Happen gibt Monika zu schaffen; sie hat eine ganze Weile zu schlucken, bevor sie wieder freßbereit ist. Jene Motte war Ei gewesen, Raupe und Puppe, bevor sie Schmetterling wurde; auch sie hat eine mehrfache drastische Verwandlung durchmachen müssen, und nun verschwindet sie in Monikas Magen . .. Wie verschwenderisch wirtschaftet die Natur! Warum? Ach, fragen wir nicht wie Kinder nach Gründen, die außerhalb menschlicher Erkenntnis liegen. Warum ist der Löwe gelb? — Damit er sich nicht vom Wüstensand abhebt, antwortet der Schuljunge. — Und im Gras? fragt der Beobachter, der weiß, daß ein Löwe die Steppe dem Sand vorzieht. Oder: warum legen die Kröten, die doch Erdtiere sind, ihre Eier ins Wasser? — „Weil sie dort weniger Feinde finden", begründet es ein Zoologe. — Obschon doch das Wasser dichter von Feinden durchwimmelt ist als die Erde! — Ein anderer antwortet: „Da die Kröte aus dem Wasser stammt, zwingt ihr Fortpflanzungstrieb sie dorthin zurück." — Was an die Begründung Fritz Reuters erinnert: „Die Armut kommt von der Poverte (Armut) her." Nein, fragen wir bei Menschlichem „warum" und begnügen wir uns im übrigen, das „Wie" zu erkennen!
* Bei der Kröte also beobachten wir in freier Natur eine Verwandlung — die Wissenschaft spricht von Metamorphose —, die von der Einfachheit fast eines Urtierchens, ohne Sinnes-, Atmungs- und Verdauungs-Organe zum fertigen Lurch führt. 24
„Ob er sieh lohnt — der Regenwurm?" 25
Vergleichen wir die Entwicklung der Tiere, so sehen wir, daß manche Lebewesen fix und fertig in die Welt springen wie die gewappnete Göttin Athene aus dem Kopf des Zeus, während andere eine langwierige Ausbildung oder gar Umgestaltung durchzumachen haben, bevor sie ihre Endform annehmen. Wir sehen beispielsweise ein Zicklein schon an seinem ersten Lebenstage bepelzt, sehend und springlebendig, während ein Kätzchen nackt und blind, ein Menschlein, wenn auch mit geöffneten Augen, so doch hilflos und mit geschlossener Vernunft zur Welt kommt. Ähnlich bei Vögeln: Die Eischale noch auf dem Rücken, läuft und pickt das Küchlein, und zwar, wie der Brutofen erweist, auch ohne Fi hrung durch die Mutter, während Schwalben-Junge nackt und hilflos bloß den Schnabel aufsperren können, um sich füttern zu lassen. Wir sehen, mit einem Worte, die Neugeborenen in „Nestflüchter" und „Nesthocker" geschieden, ohne daß wir zu erkennen vermöchten, warum das so ist. Es ist seltsam: Der Elefant kommt fertig zur Welt, das Schwein unfertig; das Pferd fertig, das Känguruh unreif; die Schildkröte so fix und fertig, daß ihre von der Sonnenwärme ausgebrüteten Jungen stets den kürzesten Weg zum Wasser einschlagen, und zwar auch dann, wenn sie es nicht sehen können, ja, selbst dann, wenn man sie immer wieder umdreht; hingegen kriecht die Kröte, die der Schildkröte nicht nur dem Namen nach nahesteht, in gänzlich anderer Gestalt und Lebensweise aus dem Ei. Ich kann nicht aufhören, mich darüber zu wundern, und immer wieder ertappe ich mich bei einem kindlichen „Warum?" Was ist der Grund, daß manche Schlangen Eier legen, andere, wie die Grubenvipern, lebende Junge gebären? Nicht doch: gerade die größte Grubenviper, ja die größte Giftschlange überhaupt, der Buschmeister, legt Eier und brütet sie auch noch aus. Dabei schwillt die Temperatur dieses Kaltblütlers fieberartig an, so daß ein brütendes Buschmeister-Weibchen bis zu zwölf Grad wärmer ist als ihr Männchen im gleichen Gehege. Ich habe ihr, versteht sich, nicht selbst die Temperatur gemessen, denn eine Buschmeisterin ist schon unangenehm genug, wenn sie nicht auf Eiern sitzt — ein drei, vier Meter langer Schlangenschlauch von der Dicke einer Wagendeichsel mit einem drüsengeschwollenen 26
Kopf daran; im Kopf zoll-lange Fänge mit einer Menge tödlichen Gifts hinter ihnen — nein, ich wüßte nicht einmal, ob ich einer brütenden Buschmeisterin das Fieberthermometer unter die Zunge einzuführen hätte oder sonstwohin: ich glaube vielmehr dem amerikanischen Forscher, der das zuwege gebracht hat, und staune, über den Einfall der Schöpfung, ausgerechnet die Buschmeisterin gleich einer Gluckhenne auf Eier zu setzen. Indes wirft Frau Klapperschlange lebende Junge und die Königskobra legt Eier und überläßt das Brüten der lieben Sonne. So unterschiedlicher Methoden bedient sich die Natur bei Säugetieren, bei Vögeln, bei Insekten, bei Schlangen, bei Lurchen, für im großen und ganzen recht ähnliche Tierwesen. Da sieht es mich aus Monikas dunklen Augen an, und ich kann mein „Warum?" nicht zurückhalten, so kindlich zwecklos es auch ist. Die Grillen zirpen scharf und sehnsüchtig; im Winde schäumt das Eukalyptuslaub wie fließendes Wasser; groß und fett dottergelb steht ein voller Mond über der schwarzen Granitkuppe; ein Schwärm fliegender Ameisen tanzt den Hochzeitstanz; und statt daß ich schlafen ginge, suche ich in den Augen einer Kröte eine Antwort, die es nicht gibt. .. Und die ich, gäbe es sie, doch nicht verstünde . . . Gute Nacht, Monika!
* Als ich Monika nach längerer Zeit wiedersah, mich neben sie auf die Schwelle setzte und die Taschenlampe zwischen uns legte, rückte sie gewohnheitsmäßig an ihren Platz schräg hinter dem Scheinwerfer, und ich bildete mir ein, daß ihre feuchten Augen so etwas wie Dankbarkeit verrieten. Was bildet sich ein einsamer alter Mann nicht alles ein! . Nur eines habe ich mir gewiß nicht eingebildet. Seit ich sie vor einer Woche zuletzt gesehen hatte — denn ich war inzwischen nach Rio hinuntergefahren, um Post zu holen, einzukaufen, kurz, Dinge zu tun, die Monika einfacher erledigt, indem sie nach Motten schnappt — ist sie deutlich hübscher geworden. Wäre sie eine Menschen- und keine Krötenfrau, würde ich annehmen, sie habe sich durch einen Arzt die Gesichtshaut straffen lassen. Ihre Haut ist 27
glatter und glänzt wie gewichst; ihre Farben sind nicht verwaschen wie sonst, sondern — das zeigt selbst die Taschenlampe — so frischbraun und oliv, als seien sie eben erst aufgetragen worden. Augenscheinlich: Monika hat sich gehäutet. Als ich vorher die Entwicklung der Kröte bis zu ihrer endgültigen Gestalt beschrieb, habe ich mir die Arbeit leichter gemacht als die Natur, die es nicht lassen kann, noch an der fertigen Kröte herumzuretuschieren. Das, was ich voreilig ihre Endform genannt hatte, war erst ein winziges Krötlein, das zu Reife und rechtem Ausmaß noch eines Wachstums von drei bis vier Jahren und ebenso vieler Häutungen bedurfte. Erst in dieser langen Entwicklung, die der Kaulquappen-Kindheit folgt, sammelt die Kröte ihre Erfahrungen als Landtier. Vor allem lernt sie die rechte Art, zielsicher und kraftsparend zu jagen. Kleine Kröten hüpfen noch hinter Insekten her, wie unsereiner hinter Idealen. Erst manche Enttäuschung belehrt sie — wie uns —, daß es nicht so sehr auf begeisterte Sprünge ankommt wie auf geduldiges Abwarten und kluges Erschnappen der Chance. Von Häutung zu Häutung wird die Kröte reifer und überlegener. Jedesmal, wenn ihr die Haut am Rücken aufplatzt und sie, mit den Pfoten nachhelfend, aus ihr herauskriecht, ist mit ihrem wie frisch l a u e r t e n Leib auch ihre Lebensklugheit gewachsen. Indem sie ihre abgelegte Haut verzehrt — und das tut sie bis aufs letzte Schüppchen — verleibt sie sich auch die Erfahrung eines Lebensjahres ein und verdaut sie. Je größer die Kröte wird, um so bedächtiger wird sie auch. In der ganzen Welt habe ich nur unter Nordchinesen Menschen gefunden, die so würdig dick zu werden verstehen wie eine viermal gehäutete Kröte. Mit einem Unterschied freilich immer noch zugunsten der Kröte: Wenn so ein Nordchinese mit Würde dick geworden ist, kauft er sich einen schönen Sarg aus Hartholz und eine besonders schwere Seide zum Totengewand. Nicht so die Kröte. Die häutet sich, wie Monika erwies, im Alter noch einmal; zum letzten Mal. In neuer Haut, oliv- und ockerfarben glänzend, hockt Monika breitbeinig und still, ein Sinnbild der alten östlichen Weisheit, daß 28
man den Ereignissen nicht entgegenlaufen, sondern sie auf sich zukommen lassen soll. Jetzt erst ist sie vollständig. Von irgendwo überm rauschenden Laub, vielleicht vom Felsgipfel gegenüber, dessen Schatten scharf, wie aus schwarzem Papier-geschnitten, das flimmernde Firmament abblendet, sieht Mutter Natur auf Monika herab und lächelt befriedigt. Ihr Werk ist vollendet. Von ihrer letzten Häutung an wird Monika noch lange leben. Nach fünf Lebensjahren erwachsen, wird sie sich noch zwanzig — wenn sie Glück hat, dreißig bis vierzig — gemächlich nähren und fortpflanzen, die Feuchte suchen und die Sonne meiden. Am kurzen Dasein der meisten Tiere gemessen, werden Kröten sehr alt. Manche Leute behaupten sogar, sie würden mehrhundertjährig. Das glaube ich nicht, obzwar ich es gern glaubte, denn ich schätze Kröten. Pennant verbürgt sich für eine Kröte, die sechsunddreißig Jahre in Gefangeschaft verbracht hat und nur an einem Zufall zugrunde gegangen ist. Enrico Santos schätzt ihr Höchstalter auf vierzig Jahre. Ich gebe ihr — wer wird mir schon nachrechnen? — noch zehn Jahre mehr. Fünfzig. Und dabei wollen wir es bewenden lassen; denn schon fünfzig Lebensjahre verbürgen die Erhaltung eines Lebewesens, das zweiunddreißigtausend Eier legt, jahrelang ohne Nahrung auskommen kann und außerordentlich anpassungsfähig ist.
Die in Mitteleuropa recht verbreitete „Wechselkröte", die Brehm „ein schmuckes Tier" nennt, weil sie „rosen- oder mennigrote Wärzchen zeigt", ist auch in Ägypten und Marokko, in West- und Mittelasien, in der Mongolei und Tibet zu Hause; sie findet sich in der Schweiz so gut wie auf den Balearen; solange es für Wechselkröten keine Fremdenpolizei gibt, kommt sie in Schweden vor wie in Ungarn. Man hat sie im Himalaja auf 4285 Meter Höhe gefunden und im Brackwasser abgelegener Wüstenbrunnen jenseits des Kaspischen Meeres. Ihre Anpassung an Höhenlagen, vom ewigen Eis bis unter den Meeresspiegel, ist noch erstaunlicher als die über weit • entfernte
Länder. 29
Alexander von Humboldt*) hat errechnet, daß vom Äquator aus die Durchschnittstemperatur mit jedem Breitengrad um etwa einen halben Grad Celsius abnimmt. Der gleiche Temperaturunterschied nun tritt in Gebirgen bereits von hundert zu hundert Meter Höhe auf. 4285 Meter Höhe und die Brunnentiefe ergeben demnach einen Temperaturunterschied wie zwischen Zürich und dem Nordpol oder, nach Süden gemessen, zwischen Zürich und dem Kongo-Knie! Jeder Bergsteiger weiß, daß er im Gebirge in den verschiedenen Zonen, von tausend zu tausend Metern etwa, ganz verschiedene Tiere und Pflanzen antrifft. „Ich bin", schreibt Chapman, der das Tierleben der Anden erforscht hat, „von Zone zu Zone gestiegen und dabei jedesmal einem fast vollständigen Wechsel des Vogellebens begegnet." Im Himalaja wäre er indes in vier verschiedenen Tausenderzonen der gleichen Krötenart begegnet. So anpassungsfähig ist dieses Tier! Dieselbe Erdkröte, die Deutschlands und der Schweiz häufigste Kröte ist, findet sich auch in Afrika, in Kleinasien, ja in Japan. Die Kröte verbindet also äußerste Lebenszähigkeit, große Fruchtbarkeit und lange Lebensdauer mit außerordentlicher Anpassungsfähigkeit — und bedarf tatsächlich all dieser Eigenschaften, um nicht dem feindseligen Ahscheu der Menschen zu erliegen, von den Steinen der Knaben an bis zu den Knüppeln mancher Naturforscher. Dabei ist sie ein nützliches Tier, das noch keinem Menschen etwas zuleide getan hat! Der Haß der Menschen gegen die Kröten ist durchaus einseitig. Denn die Kröte geht dem Menschen aus dem Weg. Kann sie das nicht, findet sie sich mit ihm ab. Aber warum haßt der Mensch die Kröte? Hier dürfen wir „Warum?" fragen, denn hier geht es um Menschliches. Ja, warum? Ich habe danach gefragt und darüber nachgelesen, und ich habe verschiedene Antworten bekommen, von denen mir keine zuzutreffen scheint, oder doch keine für sich allein. *) Vgl. Lux-Lesebogen 296, „Alexander von Humboldt". 30
„Weil sie ekelhaft ist", ist eine häufige Antwort. — „Warum ekelhaft?" — „So . . . so feucht und kalt". Doch auch ein Laubfrosch ist feucht und kalt, und man hält ihn als Stubentier. „So schlüpfrig!" ekelt sich eine Bekannte, die sich durchaus nicht vor Austern ekelt. Wie ich sie daran erinnere, fügt sie hinzu: „Und giftig!" Aber ein Aal ist so feucht und kalt wie eine Kröte, und dieselbe Frau würde ihm gleichmütig die Haut abziehen, die giftiger ist als die Haut einer Kröte. „Weil sie Warzen hat", begründete es ein alter Mann, der selbst welche, hat; auf der Nase sogar. Schwer nachzuweisen, wovor der Mensch sich ekelt, was er verabscheut und infolgedessen haßt und tötet. Für einen rechten Grund der Abneigung des Menschen gegenüber Kröten halte ich den Umstand, daß Kröten nächtliche Tiere sind. Von Urzeiten her graut dem Menschen vor der Nacht, in deren Dunkel der Feind schleicht und wilde Tiere auf Jagd ausgehen. Deshalb schweifen die Gespenster, mit denen der Mensch sich selber schreckt, des Nachts, schuldige Seelen, Werwölfe, Vampire und Hexen. Also sind dem Volke auch die Tiere unheimlich, die nachts munter werden: Eule und Kauz, Fledermaus und Maus, Igel und Kröte. Selbst der nächtlich liebesmaunzenden Katze mißtraut es. Hier also, im primitiven Grauen vor der Dunkelheit, finden wir einen Grund, der den Haß gegen Kröten stärker rechtfertigt als ihre feuchte Kühle, ihre Warzen und ihr Gift (das, wie wir erfahren haben, im allgemeinen nur der Abwehr dient und im besondern dem Menschen ungefährlich ist). Tatsächlich hat die Kröte vor Zeiten lange als wohlwollendes Wesen gegolten. Germanischer Glaube hielt die „krota" für eine Verkörperung freundlicher Geister, und wer.sie tötete, lud schwere Schuld auf sich. Reste jenes Glaubens haben sich noch in den Märchen erhalten, die Prinzen und Prinzessinnen in Kröten verwandeln. Selbst Götter wählten diese nächtliche Gestalt. Bei manchen Völkern sind noch Reste einer ursprünglich frommen Scheu vor den Kröten lebendig. So singen heute noch brasilianische Bauersfrauen ihre Kinder mit Krötenliedern wie diesem in den Schlaf: 31
„Krötenfrau steht zeitig auf, Macht Kleider, häkelt Spitzen drauf; Näht noch in der Nacht geschwind Ein Hochzeitskleidchen für mein Kind." Das sind spärliche Erinnerungen an eine ferne freundliche Gesinnung, die später fast allgemein in tiefen Haß umgeschlagen ist. Nebst dem Umstand, daß die Kröte ein Nachttier ist, treffen gewiß auch die beiden allgemein menschlichen Begründungen zu, die Vater Brchm dem Krötenhaß gibt: Unwissenheit und Roheit. Zitieren wir Brehm so ausführlich, wie es dieser Meister der Naturbeobachtung verdient: „Keine Tierfamilie hat von altersher bis zum heutigen Tage mehr unter dem allgemeinen Abscheu der Menschen zu leiden gehabt, keine ist unerbittlicher und mit größerem Unrecht verfolgt worden als die Kröten", klagt er. „Und doch läßt sich das eine nicht bestreiten: In dem Abscheu vor den Kröten, in der blinden Wut, sie zu verfolgen und zu töten, kommen die sogenannten Gebildeten und die Ungebildeten, die Europäer und die Amerikaner, die weißen und die schwarzen oder braunen Menschen vollständig überein. Keiner von denen, die von der Kröte Übles reden, hat sie und ihr Leben beobachtet, keiner eine gute Naturgeschichte verstanden oder mindestens gelesen; denn im entgegengesetzten Falle hätte er eben belehrt sein müssen. Gerade die Kröten sind ein überzeugendes Beispiel, was es mit unserer gerühmten Bildung, insbesondere mit der Kenntnis der Natur und ihrer Erzeugnisse, auf sich h a t . . . Wer im blinden Wahne oder aus unverzeihlichem Übermut ein so nützliches Tier totschlägt, stellt sich damit ein vollgültiges Zeugnis beklagenswerter Unwissenheit und Roheit aus."
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Bavaria-Bilderdienst L u x - L e s e b o g e n 3 6 8 (Naturkunde) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliehe Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg — Verlag; Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.