Volker Krämer
Verdammte der Rattenwelt Professor Zamorra Hardcover Band 2
ZAUBERMOND VERLAG
Was könnte alles gesche...
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Volker Krämer
Verdammte der Rattenwelt Professor Zamorra Hardcover Band 2
ZAUBERMOND VERLAG
Was könnte alles geschehen, wenn die Regenbogenblumen, das fan tastische Transportmedium, das der Zamorra-Crew so manche wei te Reise erspart, einmal nicht wie gewohnt funktionieren würden? Niemand hatte sich je vorstellen können, dass eine solche Mög lichkleit bestand – bis heute … Als Zamorra und seine Kampf- und Lebensgefährtin Nicole Duval zusammen mit Asmodis und Robert Tendyke das Blumenfeld betre ten, ahnt niemand von ihnen, dass die Reise zu einer Odyssee wer den wird – und zu einer Zerreißprobe zwischen Vater und Sohn, denn um das Verhältnis zwischen Tendyke und seinem Vater As modis, dem ehemaligen Höllenfürst, ist es nach wie vor nicht zum besten bestellt. Von Asmodis heißt es, dass er die Seiten gewechselt habe und nun Zamorras Sache unterstütze. Doch die Reise in eine fremde Welt führt die vier Charaktere an ihre Grenzen, und bald glaubt keiner von ihnen, dass sie jemals le bendig zurückkehren werden …
Vorwort »Der Trend geht zum Zweitbuch«, sagen Spötter. Und deshalb legen wir jetzt auch ein zweites Buch unserer »Professor Zamorra«-Serie vor, dem in vierteljährlichem Abstand noch viele folgen werden. Die Serie gibt es seit 1974. Alle zwei Wochen erscheint ein neues Abenteuer in Heftform beim BASTEI-Verlag und schildert die Aben teuer eines französischen Parapsychologen, der zum Dämonenjäger wurde und mit einem schlagkräftigen Team von Gefährten gegen die Mächte der Finsternis antritt. Bauen die Hefte aufeinander auf und zeigen eine kontinuierliche Entwicklung der Handlung und der Figuren, so stellen die Bücher in sich abgeschlossene Abenteuer vor, die man auch genießen kann, ohne die Heftserie zu kennen (letzte res ist natürlich sehr hilfreich!) und erscheinen auch nicht unbedingt in chronologischer Folge, wie es bei den Heften der Fall ist. Während Buch 1, »Zeit der Teufel«, das Kennenlernen der Haupthelden, also von Professor Zamorra und seiner Gefährtin Ni cole Duval, schilderte und damit noch vor Band 1 der Heftserie an gesiedelt ist, springen wir hier mitten hinein in die aktuelle Hand lungszeit, etwa um Heft 740 herum. Was aber niemanden beunruhi gen sollte – wie schon erwähnt, lassen sich die Bücher auch lesen, ohne die Details der Hefte zu kennen. Zu diesen Details gehören die Regenbogenblumen. Sie ermögli chen Reisen durch Raum und Zeit, ohne dass eine messbare Zeit spanne vergeht. Sie sind seit vielen Jahren fester Bestandteil des PZHintergrundes. Nun hat sich Volker Krämer der Frage angenom men: was passiert, wenn unsere Helden bei einer solchen Reise ein Ziel erreichen, gar eine fremde Welt, und es diese Blumen dann plötzlich nicht mehr gibt? Heimkehr unmöglich? Und wenn dann im Team der Reisenden auch noch Antipathien
der Personen gegeneinander existieren, ergibt sich eine recht kon fliktbeladene Situation, die kaum zu bändigen ist. Was daraus wird? Nehmen Sie das Buch zur Hand, genießen Sie für ein paar Stunden den Zauber einer fremden Welt und eine furiose Kette unglaublicher Abenteuer mit einer überraschenden Lösung … Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat – oder auch wenn nicht –, schreiben Sie mir Ihre Meinung! Der Möglichkeiten gibt es viele: die Adresse des ZAUBERMOND-Verlags, die Leserseite der PZ-Hefte im BASTEI-Verlag, oder per E-mail unter Robert.Lamont@Phantasti k.de. Und wenn wir schon mal beim Thema E-mail sind: Klicken Sie ruhig mal die Internet-Seiten des ZALBERMOND-Verlags an: ww w.zaubermond.de präsentiert Ihnen noch viel mehr fantastische Ro mane. Viel Spaß damit und vor allem natürlich auch beim Lesen dieses Romans, wünscht Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im September 2002
1. »Die Brut lebt, alle sind gesund. Uns geht es gut … was will man denn mehr?« Das war der Lieblingsspruch von Nashuas Vater. Wie oft hatte sie ihn hören müssen, sie und alle Mitglieder der Brut ebenso. Für diesen Spruch hatte sie den Alten unzählige Male verflucht – und für seine ganze Einstellung. Wie konnte man nur so ein opti mistischer Narr sein? Sah er denn nicht, wie es um sie alle bestellt war? Von Umlauf zu Umlauf nahmen die Übergriffe aus den Brut ländern der Grauen zu, und mittlerweile waren jene dann auch nicht mehr zufrieden, wenn sie ihre Beute gemacht hatten. Eine Brutstätte nach der anderen wurde Opfer von Mord und Brand schatzung! Resignation machte sich breit, nackte Angst und Ver zweiflung. Die Braunen, zu denen Nashuas Brut zählte, waren auf dem besten Weg, selbst ihren letzten großen Traum aufzugeben und nicht mehr an ihre strahlende Legende zu glauben! Nashua war zu erschöpft, um ihren Weg fortzusetzen. Jetzt nur nicht aufgeben, nein, das würde sie ja nicht, doch ihre Füße schmerzten, das Fell war verschwitzt, und sie fühlte den heftigen Hunger in ihrem Bauch rumoren. Wann hatte sie zuletzt etwas ge gessen? Müde setzte sie sich an den Straßenrand und schloss die Augen. Nicht einschlafen … viel zu gefährlich. Ein Blinken stach ihr in die Augen, als würde irgendwer mit einem Spiegel Signale geben. Sofort war das Mädchen hellwach, doch sie konnte niemanden entdecken. Mit aller Vorsicht ging sie den Licht reflexen nach und konnte ein begeistertes Quieken nicht unter drücken, als sie deren Quelle ausgemacht hatte. Ein See, nur wenige Schritte von der staubigen Straße entfernt. Klares, kühles Wasser. Nashua warf alle Gedanken an Sicherheit und ihre ganze Angst über Bord. Baden, das verklebte Fell säubern! Welch ein Hochge
nuss für das Mädchen, das den eigenen Schweißgeruch plötzlich übermächtig in der empfindlichen Nase spürte. Die Fetzen, die sie am Leib trug, waren rasch abgelegt. Nashua war eine ausgezeichnete Schwimmerin, so wie alle ihrer Brut. Das Leben nahe der Küste brachte das ganz einfach mit sich, und als sie noch kleiner war, hatte sie oft ganze Tage in den Fluten des Meeres nahe der Brutstätte verbracht. Alle Kleinen der Brut hat ten dann zusammen gespielt und getobt – wahrscheinlich lebte jetzt niemand mehr von ihnen. Nashua schwamm mit kräftigen Zügen ihrer muskulösen Arme einmal quer durch das Gewässer und ließ sich die Sonne auf das Bauchfell brennen. So glücklich war sie seit Wochen nicht mehr ge wesen. Sie sah an sich herab und stellte fest, dass sie trotz aller Ent behrungen nach wie vor schön war. Flucht, Hunger, schlaflose Nächte und all der Schmerz in ihrer Seele hatten daran nichts zu än dern vermocht. Sie war noch jung, mit gerade einmal dreizehn Um läufen eigentlich noch ein Kleines, doch längst geschlechtsreif und begehrenswert. Der männliche Teil der Brut hatte sie das deutlich spüren lassen, was ihren Vater zur Weißglut getrieben hatte. Nas hua lächelte bei dem Gedanken an die Szenen, die er ihr und ihren Verehrern dauernd gemacht hatte. Er war nicht nur der Brutvorste her gewesen, was ihm natürlich Respekt und eine gewisse Macht stellung eingebracht hatte, sondern auch ein körperlich beeindru ckender Bursche, dem die Jünglinge tunlichst aus dem Wege gingen. Gegangen waren, verbesserte Nashua sich selbst. Er hatte nie begrif fen, dass seine Tochter mit ihren Bewunderern nur gespielt hatte, denn sie fühlte sich längst noch nicht reif für mehr. So schnell sollte ihre Kindheit nicht beendet sein, das hatte sie sich immer ge wünscht. Es war ganz anders gekommen. So gut es ohne Hilfsmittel ging, reinigte Nashua ihr Fell und ge noss das Bad ausgiebig, denn vielleicht würde es wieder Wochen dauern, bis sich ein ähnlicher Glücksfall anbot. Es sei denn, sie er
reichte ihr Ziel schneller als gedacht. Oder überhaupt nicht. Auch damit musste sie rechnen. Sie kannte die ungefähre Richtung, kann te den Namen der großen Brutstätte, von der ihr Vater so oft erzählt hatte, mehr aber auch nicht. »Dort leben sie zusammen wie Brüder und Schwestern. Das ist nicht zu vergleichen mit unserer Brut, Kind, das ist eine andere Welt. Eine feste Ge meinschaft, so groß wie zwanzig oder mehr unserer Brutstätten! Eine große und beständige Ordnung.« Vater hatte heftig davon geschwärmt, denn als er selbst noch jung war, hatte er einen Umlauf dort verbrin gen müssen, weil in seiner Brut eine tödliche Krankheit ausgebro chen war. Ein entfernter Verwandter hatte ihn aufgenommen und sich um den anfangs Heimwehkranken gekümmert, der dann später nur mit sanfter Gewalt wieder nach Hause gebracht werden konnte, denn das Leben dort hatte ihm schließlich doch sehr zugesagt. Einen wirklichen Grund gab es für Nashua nicht, sich dorthin zu wenden, doch ebensowenig gab es irgendein logisches Argument, einen anderen Ort als Ziel anzuvisieren. Und irgendein Ziel musste sie sich schließlich selbst setzen, denn sonst wäre sie wahnsinnig ge worden, oder hätte sich einfach irgendwo an die Straße gesetzt und gewartet, dass sie ein marodierender Trupp der Grauen gefunden und getötet hätte. Also hieß Nashuas Ziel Epra, eine der größten An siedlungen der Braunen und der Anderen. Mit denen einfach so zu sammenzuleben, konnte das Mädchen sich jedoch überhaupt nicht vorstellen. Doch wenn Vater nicht maßlos übertrieben hatte, dann schien das durchaus zu funktionieren und unter Umständen sogar Spaß zu machen. Nashua war da eher skeptisch. Langsam schwamm sie zurück zum Ufer. Auch wenn das hier ein noch so großer Genuss für sie war, so konnte sie schließlich nicht ewig im Wasser bleiben. Um ein Haar hätte sie die zwei Grauen zu spät bemerkt.
Die Söldner waren beritten. Sie saßen auf den kurzbeinigen Dokys,
die im Grunde zu kleingewachsen für die Grauen waren. Es sah nicht besonders Furcht einflößend aus, wie die Füße der beiden bei nahe den Waldboden berührten, wenn sie sie nicht ein wenig ange zogen hätten. Traurige Gestalten, dachte Nashua bei sich. Dennoch musste sie die Soldaten fürchten, auch wenn sie nicht den Eindruck machten, dass sie unter dem Einfluss von Draahn standen, das die Aggression der Grauen um ein Mehrfaches steigerte. Nashua wusste ganz einfach, was mit ihr geschehen würde, wenn man sie entdeckte … nackt, jung und hilflos, wie sie ganz offensicht lich war, würden die Grauen sich einen schönen Tag mit ihr machen und sie schließlich emotionslos töten. Nashuas Deckung war unzu reichend, denn am Ufer des Sees wuchs nur niedriges Schilf, hinter das sie sich so gut wie möglich duckte. Vielleicht hatte sie ja Glück und die Grauen würden einfach vorbeireiten. Das ausgeprägte Gespür der Dokys für eine Tränke mit klarem Wasser machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Die zotteligen Reittiere wichen eigenmächtig vom Weg ab, hin zum Seeufer. Ihre Reiter wussten um die sprichwörtliche Sturheit der Tiere und ließen sie schulterzuckend gewähren. Nashua hörte das unwillige Brummeln der Söldner, die lieber ih ren Weg fortgesetzt hätten. Die Sprache der Grauen war mit der, die bei den Braunen gesprochen wurde, nahezu identisch, und dennoch musste das Mädchen sich Mühe geben, um überhaupt ein Wort ver stehen zu können, denn wie alle Grauen nuschelten auch diese hier entsetzlich; es schien, als würden sie beim Sprechen die Zähne nicht auseinander bekommen. Nashua begann blitzschnell ihre Möglichkeiten abzuwägen, denn es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bevor sie zwangsläu fig entdeckt werden musste. Flucht – sinnlos, denn die Grauen wa ren zu zweit und durch ihre Dokys schneller und beweglicher als Nashua. Durch den See fliehen kam auch nicht in Frage, denn zwar waren die Grauen als wasserscheu bekannt, was man allgemein auch riechen konnte, doch das galt nicht für ihre Reittiere, die sich
im flüssigen Element außerordentlich wohl fühlten. Also blieb nur noch eins zu tun. Nashua dachte an ihren älteren Bruder Naruuhl, der seine kleine Schwester nicht nur besonders ge liebt, sondern sie auch in einer Kunst unterwiesen hatte, die sich jetzt vielleicht als lebensrettend erweisen würde. Scham kannte Nas hua nicht, denn sie war mit vielen Brüdern aufgewachsen, und Nacktheit war in ihrer Brut nie ein Tabu gewesen. Sollten die beiden dort ruhig hinschauen … gut hinschauen! In einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich und ging auf die Soldaten zu. »Bellga, ich träume! Schau hin – da!« Der Angesprochene, der mit dem Rücken zum Ufer stand, knurrte irgendetwas in sich hinein und kam der Aufforderung erst nach, als ihm sein Gefährte kräftig auf die Schulter schlug. Dann jedoch machte auch er große Augen. Was für ein Anblick! Ein bellendes Lachen kam aus Bellgas Kehle. »Nun hat es ja doch einen Sinn, dass die blöden Dokys unbedingt hierher wollten.« Grunzend entledigte er sich seines Umhangs. »Ich bin zuerst an der Reihe, klar?« Sein Kamerad machte keine Einwände. Bellga stand rangmäßig über ihm. Doch auch ihm lief schon der Geifer im Maul zusammen. Diese Braune war eine Schönheit. Und noch so ver dammt jung dazu. Ein guter Tag! Bellga verschwendete keinen Augenblick. Ihm kam nicht einmal entfernt der Gedanke, die Kleine anzusprechen. Keine Sekunde lang argwöhnte er eine Falle. Für ihn war dies ganz einfach nur eine prächtige Möglichkeit, seine unersättlichen Triebe abzureagieren und auszuleben. Hart griff er dem Mädchen an die Brüste, die für das Alter der Kleinen gut entwickelt waren. Erstaunt bemerkte der Graue, dass sie sich nicht einmal wehrte, sich sogar an ihn presste. Dann gingen die Hände des Mädchens auf Wanderschaft … und fanden ihr Ziel. Bellga fühlte sich wie nach einer doppelten Ration Draahn. Einen Herzschlag später raste der glühende Schmerz durch seinen Körper!
Nashua ekelte sich vor den Händen des Grauen Söldners, doch sie unterdrückte alle Fluchtgefühle und konzentrierte sich auf ihre ein zige Chance. Alles musste sofort und perfekt funktionieren, denn der Graue würde ihr keine zweite Gelegenheit geben. Denk nur an das, was sie mit deiner Brut gemacht haben, war ihr einzi ger Gedanke in diesen langen Sekunden, in denen sie den Brechreiz unterdrückte und mit ihren kleinen Händen nach dem Geschlechts teil des Soldaten suchte. Dann fasste sie zu und drehte mit aller Kraft, zu der sie fähig war, ihre Hand nach rechts! Der Graue er starrte für einen Augenblick, ehe ein gequälter Schrei aus ihm her ausbrach. Nashua sah, wie sich seine Augen mit Wasser füllten, und ahnte den Schmerz, den er jetzt erlitt. Blitzschnell löste sie sich von seinen Klauenhänden, die sich noch immer um ihre Brüste gekrallt hatten, und machte einen Schritt nach rechts, um hinter ihn gelan gen zu können. Mit seinem klobigen Schwert konnte Nashua nichts anfangen, doch jeder Graue Söldner trug hinten an der Hüfte einen Dolch, den er im Schwertkampf mit der linken Hand führen und als Abwehr klinge einsetzen konnte. Mit einer Bewegung riss sie die Klinge aus der ledernen Scheide und stieß die schmale Klinge in den Rücken des noch immer vom Schmerz paralysierten Soldaten. Langsam, wie in einer bizarren Zeitlupenaufnahme, kippte der Graue nach vorne und blieb mit dem Oberkörper im Wasser liegen. Nashua hatte keine Zeit, um sich weiter um ihren ersten Gegner zu kümmern, denn sie wusste nur zu genau, dass hinter ihr bereits der Tod lauerte. Sie hatte den Dolchgriff nicht losgelassen, als sie den Stich führte, denn sie brauchte die schmale, gut ausbalancierte Klin ge noch. Mit stoischer Ruhe, die ihr selbst unheimlich erschien, drehte sie sich herum, um den Angriff des zweiten Soldaten zu er warten. Der wollte sich nicht eiskalt von der Göre schlachten lassen. Er
hatte die Szene genau beobachtet und wusste nun um die Schnellig keit der Braunen. Mit einem Schwung war er wieder im Sattel seines Dokys und galoppierte mit gezogenem Schwert auf die nackte Schönheit zu, die gerade seinen Vorgesetzten eiskalt ermordet hatte. Gegen seinen Angriff hatte das Mädchen keine Abwehrchance, da von war er fest überzeugt. Er war noch knapp zwanzig Fuß von der Kleinen entfernt, als er die knappe Bewegung erkannte, mit der die Braune den Dolch an seiner Spitze fasste und in einer fließenden Bewegung des rechten Arms fliegen ließ. Er war überrascht, den dumpfen Einschlag in seinem Hals zu spü ren. Nashua wusste, dass sie perfekt geworfen hatte. Es war vorbei. Und nun begannen ihre Knie zu zittern. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Was, wenn die beiden nur eine Vorhut einer größeren Truppe gewesen waren? Was, wenn hier gleich Dutzende von Söldnern auf tauchten? Nashua musste die Toten verschwinden lassen, am besten im See. Es kostete sie große Mühe, den Söldner, dem noch immer der Dolch im Hals steckte, ans Ufer zu schleppen, doch schließlich schaffte sie es. Ihr erster Gegner war in der Zwischenzeit ganz in das Wasser gerutscht. Sein ledernes Wams zog ihn langsam, aber uner bittlich tiefer und tiefer. Mit fahrigen Bewegungen kleidete Nashua sich wieder an und dachte dabei an ihren toten Bruder, der sie in der Kampfeskunst un terrichtet hatte, denn er war der beste Nahkämpfer der ganzen Brut gewesen … und ein geradezu genialer Messerwerfer, der das not wendige Talent dazu auch bei seiner kleinen Schwester erkannt und gefördert hatte. Eines der Dokys war geflohen, doch das andere hatte in aller Ruhe die Szene betrachtet und stillte nun seinen Durst im See. Nashua kannte sich mit diesen Tieren aus. Kurz darauf konnte sie sich auf den Rücken des Doky schwingen und ihren Weg nun um einiges komfortabler fortsetzen.
Ihre Chancen, Epra zu erreichen, hatten sich erhöht. Das Tier trabte los und schien sehr zufrieden mit seiner neuen Herrin zu sein, die es ständig freundlich am Kopf tätschelte. Nashua achtete aufmerksam auf die Umgebung, doch es gab keine Anzeichen für weitere Graue. Langsam schwenkten ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit zurück … zu Naruuhl und ihren ande ren Geschwistern. Zu allen Angehörigen ihrer Brut. Und zu Vater. »Die Brut lebt, alle sind gesund. Uns geht es gut … was will man denn mehr?« Ja, das war sein Lieblingsspruch gewesen, und den hatte er auch an dem Tag gesagt, als die Horde der Grauen die Brutstätte überfal len hatte. Vater hatten sie als Erstem die Kehle durchgeschnitten, dann den anderen. Es war sicher nicht mehr weit bis Epra …
Terz, Quint, Oktav – die Klingenpositionen wechselten in rasender Geschwindigkeit. Der rechteckige Raum war abgedunkelt, nur die Planche, die ei gentliche Kampfbahn, wurde durch Spots erleuchtet, ohne die Kon trahenten dabei jedoch zu blenden. Quart, Prim … Parade und sofortige Riposte. Dann plötzlich Gorps á Gorps und hektische Rückwärtsbewegung der Fechter aus der unhaltbaren Position des Körperkontakts. Kurzes Innehalten auf beiden Seiten und das erneute Wechseln in die Angriffsstellung. Treffen der Klingen im gleichzeitigen Angriff beider Parteien. Si multanee, keine Trefferzählung, doch das hier war kein Turnierwett kampf! Beileibe nicht. Ein neutraler Beobachter mit Fechtkenntnissen hätte verwundert
den Kopf geschüttelt, denn offensichtlich kämpften hier zwei Kön ner, die die Regeln beherrschten, die jede erdenkliche Position und Finte blind anwenden und für sich umsetzen konnten, denen man jedoch eines ganz deutlich anmerkte: Sie wussten, dass in einem an deren Fall als diesem hier, jeder Stoß oder Hieb den Tod bringen konnte! Und so wandelten sie die Regeln auf ihre ganz spezielle Art für sich um. Minutenlang ging es so weiter, keiner der beiden gab sich die ent scheidende Blöße. Plötzlich geschah das, was man bei zwei gleichwertigen Kämpfern irgendwann erwarten konnte. Sie hatten im gleichen Sekunden bruchteil die exakt gleiche Idee: Attaque prise de fer lautete der Fachausdruck für den Angriff, bei dem am Eisen des Gegners entlanggeglitten wird und die Spitze des Kontrahenten neben die eigene Trefffläche zeigt. Die Klingen heul ten laut auf, als sie der Länge nach aneinander entlang schrammten! Die elektronische Anzeige leuchtete grellrot auf – zweimal. Ein Doppeltreffer, wie er klassischer nicht hätte sein können. Für Sekun den verharrten die Kämpfer, dann machten sie je zwei Schritt nach hinten und verbeugten sich. Der Kampf war beendet. Beide Kämpfer entledigten sich der Schutzmasken, unter denen man während eines langen Gefechts mächtig ins Schwitzen kam. Robert Tendyke grinste sein Gegenüber spitzbübisch an. »Alle Achtung, so langsam wirst du ein ernstzunehmender Geg ner. Obwohl … im Ernstfall würdest du jetzt dennoch Schaschlik sein, alter Freund.« Sein Trainingspartner lächelte milde. »Alter Angeber. Ich bin kein Freund des Degens, mir liegt ein ordentliches Zweihandschwert eher, mit dem ich schnell und ohne langes Fackeln Tatsachen schaf fen kann.« Er hielt kurz inne. »Außerdem hast du mir schließlich ein paar Jahrhunderte an Trainingsmöglichkeit voraus, was man im merhin bedenken sollte. Wie wäre es mit einer zweiten Runde?«
Robert Tendyke schüttelte den Kopf. »Genug der Anstrengung, Professorchen. Man soll nicht übertreiben. Zudem kenne ich da an genehmere Formen des Kalorienverbrauchs.« Zamorra, Professor der Parapsychologie, längst ohne festen Lehr stuhl, den er in früheren Zeiten in Harvard und an der Sorbonne in nehatte, und heute als Privatdozent weltweit tätig, konnte seinem Freund nur lachend zustimmen. »Da fällt mir auch gerade ein, dass ich Nicole seit über zwei Stunden nicht mehr gesehen habe. Aber dir, mein lieber Robert, sollte es da an gewissen Möglichkeiten zur Zeit doch eher mangeln, oder habe ich etwas verpasst?« Tendyke winkte etwas zu schnell ab, fand Zamorra. »Nein, nein, solange Uschi und Monica verreist sind, lebe ich wie der sprichwört liche Mönch. Keine Frage …« Uschi und Monica Peters waren eineiige Zwillinge, und seit gerau mer Zeit mit Robert Tendyke liiert. Und zwar beide! Eifersucht gab es unter den telepathisch begabten Schwestern keine, und Tendyke konnte diese Situation nur äußerst recht sein. Da die beiden zur Zeit jedoch einen Besuch bei entfernten Verwandten in Deutschland machten, war Robert Strohwitwer. Behauptete er zumindest. Tendyke und Zamorra waren seit vielen Jahren befreundet und bildeten – zusammen mit anderen – ein kampferprobtes Team gegen die Schwarzen Mächte. Die Zahl ihrer gemeinsamen Abenteuer konnte Zamorra selbst nur schätzen. Tendyke hatte seine ureigene, äußerst seltsame Geschichte aufzuweisen, denn der Mann sah aus wie ein durchtrainierter Enddreißiger, doch sein Geburtsjahr war anno domini 1495! Damals wurde er geboren als Sohn der Zigeunerin Elena und des Fürsten der Finsternis, Asmodis, höchstpersönlich. Robert hasste und verabscheute seinen Vater, der für ihn nach wie vor das absolut Böse darstellte, auch wenn andere dies heute nicht mehr so sahen. Im Laufe der Zeit bemerkte Tendyke jedoch, dass er sein dämoni sches Erbe, das er unzweifelhaft in sich trug, auch zum Guten ein setzen konnte. Und er stellte fest, dass der Tod für ihn nicht das ulti
mative Ende bedeutete: Unter bestimmten Voraussetzungen war er in der Lage, im Augenblick seines Sterbens zur Mythen umwobenen Feen-Insel Avalon überzuwechseln, die sich neben der Zeit befindet. All dies war für jeden, der davon erfuhr, äußerst verwirrend, doch es war eine Tatsache, dass Tendyke dort jedes Mal geheilt und in die reale Welt zurück geschickt wurde. Zamorra hatte also nicht über trieben, wenn er Robert einen unfairen Trainingsvorteil vorwarf. Heute leitete Robert Tendyke ein weltumspannendes Wirtschafts unternehmen, die »Tendyke Industries«, die ihm ein finanziell unab hängiges Leben garantierte, aus deren Chefetage er sich jedoch so weit wie eben möglich heraushielt. Es reichte ihm, wenn er immer gerade so viel Geld in der Tasche hatte, wie er brauchte. Tevdyke's Home im Dade County des US-Bundesstaats Florida, nahe Miami und unmittelbar am Rand der Everglades gelegen, war seine »Residenz«, die er mit den Peters-Zwillingen und einigen we nigen Hausangestellten teilte. Auf übermäßigen Reichtum legte der geborene Abenteurer mit Zigeunerblut keinen Wert. Er wollte leben, nicht auf einem Dollarberg versauern und seine Taler putzen! In den vergangenen Monaten hatten sich die gemeinsamen Einsät ze Zamorras und Tendykes gehäuft. Die so genannte »Spiegelwelt« hatte sie nicht zu Atem kommen lassen, und auch die fast unbesieg baren MÄCHTIGEN hatten den Freunden zu schaffen gemacht. Hinzu kamen für Zamorra und seine Lebensgefährtin Nicole Duval noch weitere, höchst turbulente und lebensgefährliche Abenteuer und Gefahren in Europa, USA, Indien … eigentlich »überall und nir gendwo auf dieser und anderen Welten«, wie Nicole einmal treffend bemerkt hatte. Da wäre es nur verständlich gewesen, wenn man in einer der selte nen Ruhephasen, die erfahrungsgemäß schneller vorbei waren, als es den Freunden lieb war, sich aus dem Weg ging und die eigenen vier Wände genoss. Doch dem war eben nicht immer so. Sicherlich hätten Zamorra und Nicole daheim im Château Monta
gne mehr als genug Abwechslung finden können, doch die wäre ganz schnell zur Arbeit mutiert. Tendyke erging es da gegensätzlich, denn ihm fiel doch ein wenig die Decke auf den Kopf, weil ohne die schönen Zwillinge Tendyke's Home ungewöhnlich still und leer wirkte. Sein Angebot, sich ge meinsam ein paar ruhige Tage zu machen, ein wenig die vergange nen Ereignisse zu reflektieren und Gedankenaustausch zu pflegen, nahmen die Freunde aus Frankreich gern an. Die Reise aus dem Loire-Tal zum Dade County wurde ohne eine Sekunde Zeitverlust zurückgelegt, denn sowohl im Château als auch hier in Tendykes Reich gab es eine Kolonie der Regenbogenblumen, dem fantastischen und nach wie vor Rätsel umwobenen Transport mittel, dessen sich Zamorra und sein Team oft bedienten. Vier Tage voller Ruhe, ungestörter Gespräche, angefüllt mit diver sen Aktivitäten, wie dem Fechtdurchgang eben und gemütlichen Abenden samt der einen oder anderen Flasche Wein oder Whiskey waren nun bereits vergangen. Es grenzte an ein Wunder, aber bis lang hatte das Telefon geschwiegen; keine neuen Katastrophen kün digten sich an. Das war geradezu unheimlich. Das konnte nicht so bleiben.
Nicole Duval schwamm wie ein Fisch. Fische trugen nur äußerst selten Badeanzüge. Nicole konnte das sehr gut verstehen und tat es den Wasserbewohnern nur zu gerne gleich. Hier, in Tendyke's Home, war Nacktheit eine ganz normale Sache, dafür sorgten schon Uschi und Monica Peters, die eine angeborene Abneigung gegen jegliche Bekleidung hatten. Roberts Pool war eine Klasse für sich, fand Nicole. Besonders dann, wenn sie ihn für sich alleine hatte, so wie jetzt, da sich der Hausherr und Zamorra seit
Stunden die Degen um die Ohren schlugen. Nicole Duval grinste milde. Sollten die Jungs ruhig spielen, ihr war das nur recht. Die vergangenen Tage hatten sich für Nicole angefühlt wie ein warmer Sommerregen, der erfrischt und reinigt, zugleich jedoch ein wahres Hochgefühl aufkommen läßt. Heute jedoch war das anders. Sie verstand sich selbst nicht, denn es gab keinen Grund für diesen Stimmungsumschwung, der sie direkt beim Aufwachen überfallen hatte. Es war ja nicht so, als hätten sie ihren kleinen Erholungstrip bei Robert heute beenden müssen. Im Grunde hatten sich Zamorra und Nicole kein Zeitlimit gesetzt, doch ein paar Tage mehr waren durchaus noch drin. Doch Nicole Duval wusste, dass der Besuch in Tendyke's Home heute enden würde! Und er würde völlig anders enden, als das üblicherweise der Fall war. Den ganzen Vormittag hatte Nicole schon angespannt auf das Schrillen des Telefons gewartet, das sie und den Professor nach Hause zurück rief. Die Fernsprechanlage Tendykes, die an Hightech wohl nur noch von der auf Château Montagne übertroffen wurde, schwieg jedoch beharrlich und erhöhte Nicoles innere Unruhe da durch nur noch. Doch es würde, etwas geschehen … Es war nicht das erste Mal, dass Nicole solche seltsamen Vorah nungen hatte. Irgendwie hatten Zamorra und auch die anderen Mit glieder des Teams sich daran gewöhnt, gewisse Abläufe in ihrem Kampf als unumstößlich gegeben hinzunehmen: Mit den DhyarraKristallen, den Sternensteinen voll magischer Kraft, die ihre Energi en aus Weltraumtiefen zogen, waren schier unvorstellbare Dinge möglich; Merlins Stern, das Amulett, »Haupt des Siebengestirns von Myrrian-ey-Llyrana« genannt, das der Zauberer Merlin vor fast ei nem Jahrtausend aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hat te, war die mächtigste Waffe, die man im immer währenden Zwist
von Gut und Böse, Weiß und Schwarz, überhaupt besitzen konnte; das unglaubliche Transportmedium der Regenbogenblumen war fester Bestandteil im Alltag des Teams geworden … und eben das war es, was Nicole manchmal nachdenklich machte. All diese Waf fen und Hilfsmittel waren zur selbstverständlichen Routine gewor den. Es gab für keinen der Freunde einen Zweifel – die Hilfsmittel waren verfügbar. Immer. Nicole Duval hatte Angst vor Routine, denn die war der erste Schritt zum Stillstand und zu entscheidenden Fehlern! Irgendein Geruch, der hier nicht hingehörte, stieß in Nicoles emp findliche Nase. Es war nur ein Hauch davon zu spüren, doch sie konnte sich für gewöhnlich auf ihren Geruchssinn verlassen. »Hallo, schöne Nixe, darf ich dich belästigen?« Zamorra hatte sich unbemerkt an den Pool geschlichen und ließ sich nun elegant ins Wasser gleiten. Die beiden trafen sich in der Mitte des Bassins, und es halte nicht sehr viel mit Schwimmübungen zu tun, was sie in den folgenden Minuten dort trieben. Doch über der Szenerie lag noch immer dieser feine Duft, der in Nicoles Gedächtnis keine Schublade mit angenehmen Erinnerungen aufgleiten ließ. Und da war noch immer dieses Gefühl von aufziehenden Gewit terwolken, die selbst der zärtlichste Zamorra nicht vertreiben konn te. »Sag mal, Nici, was ist heute nur los mit dir?« Zamorra, Nicole und Robert Tendyke hatten es sich in den frühen Abendstunden des Tages im gediegen eingerichteten Kaminzimmer in Tendyke's Home gemütlich gemacht. Die Männer hatten eine Partie Schach gespielt, die wieder einmal remis endete, und fachsimpelten nun schon geraume Zeit über Fechtpositionen und deren Auflösun gen. Nicole Duval hatte sich in Tendykes Bibliothek ein nicht unin teressantes Buch über das 14. Jahrhundert ausgeborgt, in dem die Auswirkungen der Pest auf Europa behandelt wurden, die von Schiffsratten nach Genua eingeschleppt worden war. Fesseln konnte
sie die Lektüre nicht so richtig, denn in Gedanken war sie einfach nicht bei der Sache. »Was soll denn mit mir sein, Cheri?« Sie wollte die Männer mit ih ren Vorahnungen nicht unbedingt anstecken. »Nun …«, Zamorra zuckte mit den Schultern, als könne er das so konkret auch nicht beantworten. »Du wirkst, als wärst du überhaupt nicht hier, verstehst du? Bedrückt dich irgendetwas?« »Nur so ein seltsames Gefühl.« Nicole stand auf und gesellte sich zu Zamorra und Robert. »Aber ganz ähnlich könnte ich euch auch fragen. Was, in aller Welt, ist in euch gefahren, dass ihr euch so in tensiv mit dem Fechten beschäftigt? Okay, mehr als einmal konnten wir unsere Fechtkünste schon gut brauchen, aber seit wann ist das euer neues Hobby?« Die Männer sahen einander für Sekunden verblüfft an und schüt telten die Köpfe. Tendyke fand seine Sprache zurück. »Nicole, glaubst du vielleicht, das wir uns instinktiv auf irgendetwas vorbe reiten? Ist es das, was du sagen willst?« Jetzt war Nicole an der Reihe verdutzt zu sein, denn sie hatte of fenbar ins Schwarze getroffen. Es war den Männern nur noch nicht selbst aufgefallen, dass sie sich so nachhaltig mit dem Fechten be fasst hatten. Wenn Tendyke ehrlich war, dann hatte er die Planche vorher so gut wie nie benutzt, und in den vergangenen Tagen waren er und der Professor überaus häufig dort anzutreffen gewesen! Zamorra mischte sich nun ein. »Nun mal langsam, mit den jungen Pferden. Das kann ganz einfach Zufall sein. Eine plötzlich Vorliebe, was weiß ich.« In der gleichen Sekunde jedoch bezweifelte er seine eigenen Worte bereits heftig. Sie alle hatten in den vergangenen Jah ren viel zu viel erlebt, um noch an irgendwelche Zufälle glauben zu können. Es hatte eine Sensibilisierung stattgefunden, die zwar nicht messbar, aber auch nicht zu leugnen war. Man mochte es nennen, wie man wollte – Ahnungen, Visionen, Gesichter, die Bezeichnung spielte dabei keine Rolle. Einzig das Ergebnis zählte, und Anomalien im Verhalten oder seltsame Gefühle, wie Nicole es genannt hatte, wa
ren Alarmzeichen, die man nicht beiseite schieben durfte. »Da ist aber noch etwas.« Nicole setzte sich in den dritten Ohren sessel, der am Schachtisch stand, welchen Zamorra und Robert jetzt als Ablageplatz für die verschiedensten Fachbücher über die Kunst des Degenfechtens zweckentfremdet hatten. »Riecht ihr es denn nicht auch?« Die fragenden Blicke waren ihr Antwort genug. »Also nicht? Ich habe den gesamten Tag über einen Geruch in der Nase. Duft wäre ein zu vornehmer Ausdruck. Es ist etwas, das wir alle gut kennen, aber schon lange nicht mehr wahrgenommen haben, zumindest scheint mir das jetzt so.« Zamorra konzentrierte sich auf seinen Geruchssinn, der ihn wohl im Stich gelassen hatte. Er zweifelte nicht an den Worten seiner Se kretärin, Kampfgefährtin und Geliebten, denn Nicoles feines Näs chen war zuverlässig. Und dann nahm er es auch wahr. Es dauerte ein paar Sekunden, dann waren die letzen Zweifel für ihn beseitigt. »Nicole, ich werde dich ganz offiziell als Unke, als Verkünderin schlechter Nachrichten und Neuigkeiten vermieten. Mal nachfragen, ob man für so etwas einen Gewerbeschein benötigt.« »Spinnst du jetzt, Zamorra? Sag uns lieber, was du anscheinend weißt und wir noch nicht.« Tendyke verstand die Anspielungen des Professors nicht. Der lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück. »Ganz einfach. Wir, genauer gesagt du, lieber Robert, hast Besuch. Und ich befürch te, du wirst dich über deinen ungebetenen Gast nicht sehr freuen.«
Ein leises Lachen voll Ironie erfüllte plötzlich den Raum. Auch Zamorra lachte. »Netter Gag, die Sache mit dem Schwefelge ruch, aber ich denke, es reicht jetzt. Zeig dich endlich, Sid, alter Teu felsbraten!«
Schwefel! Nicole fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie ärgerte sich mächtig, die Geruchsnote nicht sofort erkannt zu haben. Robert Tendyke sprang wütend aus seinem Sessel hoch, wobei der nach hinten kippte, den Boden jedoch nicht berührte, denn wie durch Geisterhand wurde er aufgefangen und wieder in seine eigentliche Position gestellt. Die Geisterhand wurde nun endlich sichtbar, und im Raum stand ein mehr als sechs Fuß großer Mann, den man auf den ersten Blick als gutaussehenden Mittvierziger mit den strengen Gesichtszügen eines südamerikanischen Machos eingestuft hätte. Das Haar trug er glatt nach hinten gekämmt in einem kurzen Zopf endend, der von einem schwarzen Lederriemen zusammengehalten wurde. Das Ge sicht des Mannes wurde dominiert von seinen tiefschwarzen Augen, die alles Licht zu schlucken schienen, und den dichten Augenbrau en, die wie zwei Bürsten aussahen, von der jede ein Eigenleben zu führen vermochte. Schmale Lippen und eine etwas zu groß geratene Hakennase rundeten den düsteren Eindruck ab. Nichts anderes als nachtschwarze Kleidung hätte zu ihm gepasst, und die trug er na türlich auch in Form von Lederhose, Stiefeln und einem Seiden hemd. Seine ganze Figur hatte etwas von einer gespannten Bogen sehne, die schon im nächsten Augenblick losschnellen konnte. Zamorra grinste den Neuankömmling dreist an. »So, und nicht an ders, würde man einem Kind, das unartig war, den Teufel beschrei ben. Grüß dich, Siel Amos.« Mit ausgestreckter Hand ging er auf den Mann zu, dessen Ge sichtszüge sich ein wenig zu entspannen schienen. »Zamorra, ich hätte dich und deine reizende Liebschaft hier ei gentlich nicht vermutet, aber ich bin höchst erfreut, euch zu sehen.« Sein Händedruck war fest und hatte etwas Endgültiges. Nicoles Stimme war ein Zischen. »Die tritt dir gleich in deine Eier, die Liebschaft, du Schwefelspucker. Ich denke, Robert hat dich nicht eingeladen, Assi, oder?« Das Verhältnis zwischen Sid Amos und Ni cole Duval war nicht besonders erfreulich, doch das war eine andere
Geschichte. Viel schlimmer war der Abscheu, der in diesen Sekunden Robert Tendyke beherrschte, denn dieser Mann hier war niemand anderes als sein leiblicher Vater, sein Erzeuger, wie Robert ihn abwertend und verachtend nannte. Asmodis, der ehemalige Fürst der Finsternis, der diesen Thron län ger innehatte als irgend jemand vor oder nach ihm! Erzdämon und Dunkler Bruder des Zauberers Merlin, und somit über einen langen Zeitraum hinweg erbitterter Feind Zamorras, der ihn mit allen Mit teln bekämpft hatte. Asmodis hatte sich während ihrer Kämpfe je doch stets als fairer Gegner erwiesen, im Gegensatz zu anderem schwarzmagischen Gezücht, mit dem Zamorra es oft genug zu tun gehabt hatte und dem man dieses Attribut wahrlich nicht zubilligen konnte. Dann war etwas geschehen, mit dem niemand hatte rechnen kön nen. Asmodis zog sich freiwillig vom Höllenthron zurück, nachdem er ein langes Gespräch mit LUZIFER, dem Kaiser der Hölle, hinter dessen undurchdringlicher Flammenwand geführt hatte. Niemand ahnte bis heute auch nur, was dort wirklich besprochen worden war. Als Sid Amos wechselte der abgedankte Höllenfürst in die diessei tige Welt, wo er … ja, wo er was genau tat? Die Meinungen und Meldungen darüber klafften weit auseinan der, und wenn die einen sagten, er würde hier als 5. Kolonne LUZI FERS arbeiten, glaubten andere wieder an die Redlichkeit seines Ge sinnungswechsels. Zu letzteren, wenn auch mit der gebotenen Vor sicht, zählte Professor Zamorra; zu ersteren konnte man unumwun den Nicole Duval rechnen, und natürlich Robert Tendyke, der sei nen Vater verabscheute und nichts mit ihm zu tun haben wollte. »Nein, mein Sohn hat mich nicht eingeladen, doch ich hoffe, er weist mir nicht sofort wieder die Tür.« Sid Amos wandte sich direkt Tendyke zu. »Ich hätte das Hausrecht nicht gebrochen, wenn es nicht wichtig für mich wäre, Robert.«
Tendyke war um Fassung bemüht, doch Zamorra kam ihm zuvor und versuchte die Situation zu entspannen. »Es muss wirklich au ßerordentlich wichtig für dich sein, denn die magische Abschir mung von Tendyke's Home zu überwinden, dürfte dich einiges an Energie gekostet haben, Sid.« Sowohl Tendyke's Home als auch Château Montagne waren mit einem starken weißmagischen Schirm umgeben, der unangenehme Überraschungen verhindern sollte. As modis jedoch war unter bestimmten Voraussetzungen in der Lage, diesen Schirm zu durchdringen. »In der Tat war es nicht leicht.« Sid Amos setzte sich unaufgefor dert in einen der drei Ohrensessel. »Ich hasse es, denn diese Ab schirmung zeigt mir immer wieder, dass ich doch allzu sehr ver menschliche, ansonsten würde ich mir ja die Zähne daran ausbei ßen.« »Hast du schon einmal etwas von der banalen Möglichkeit gehört, einen Besuch anzukündigen?« Tendyke schien sich ein wenig beru higt zu haben. »Ich denke da an einen einfachen Telefonanruf, nur so als Beispiel, weißt du?« Der bissige Unterton, den er gegen seinen Vater anschlug, entsprach der üblichen Art der Konversation, die die beiden miteinander pflegten. Sid Amos lächelte versonnen. »Und hättest du mich dann eingela den? Hättest du mir als Gast die Tür geöffnet?« Einer Antwort be durfte diese Frage nicht. Robert Tendyke hatte kein Interesse an weiterem Smalltalk. »Was willst du von mir? Sag es schnell und ohne Umschweife, und dann verschwinde wieder!« Asmodis lies sich nicht provozieren. »Ich benötige deine Hilfe, mein lieber Sohn.« Nur mit Mühe riss sich Robert zusammen, denn diese Anrede war eine Herausforderung an ihn. Sid Amos stand wieder auf und be gann seltsam unruhig im Raum auf und ab zu gehen. Seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit und Arroganz waren plötzlich ver schwunden. »Ich würde dich hier nie belästigen, wenn es nicht
wirklich enorm wichtig für mich wäre. Und außer dir fällt mir leider niemand ein, der in Frage käme. Vielleicht noch Zamorra, und daher bin ich tatsächlich froh, euch alle zusammen hier anzutreffen.« Nicole Duval beobachtete jede Regung in Asmodis Gesichtszügen, denn für sie war er der geborene Intrigant und Lügner. Aber dem früheren Höllenfürst schien die Sache hier ernst zu sein. »Ich muss in die Spiegelwelt.« Sid Amos sah seine Zuhörer der Reihe nach an. »Es geht um enorm wichtige Informationen, die ich mir dort ganz einfach beschaffen muss. Und dazu benötige ich einen Scout, der sich dort um einiges besser auskennt als ich.« Die Spiegelwelt also! Diese durch ein Zeitparadoxon entstandene Negativkopie der Realwelt hatte Zamorra und das gesamte Team in letzter Zeit immer wieder beschäftigt. Eine zweite Welt, mit all den Personen und Geschehnissen, die es auch hier gegeben hatte und gab, nur mit dem unangenehmen Unterschied, dass sich nahezu al les dort spiegelverkehrt verhielt! Die Charaktere der Menschen waren dort wie umgestülpt, was hier gut erschien, war dort böse und um gekehrt. Robert Tendyke hatte von allen Teammitgliedern sicherlich die meiste Zeit in der Spiegelwelt verbracht, wenn auch alles andere als freiwillig. Asmodis Idee, ihn als Scout zu engagieren, war so ge sehen natürlich richtig; zudem war das für ihn wieder eine Möglich keit, die Kluft zwischen seinem Sohn und ihm ein wenig zu verklei nern. Zumindest hoffte er das. »Nenn mir einen Grund, warum ich gerade dir helfen sollte?« Ro bert Tendyke brachte die Sache kurz auf den Punkt. »Dass ich dein Vater bin …« Tendyke unterbrach ihn schroff. »Erzeuger, nicht mehr! Einen Va ter hatte ich nie!« Amos fuhr unbeirrt fort: »… dein Vater bin, zählt für dich nicht, ich weiß. Aber ihr alle dürft mir glauben, dass es sich bei den Infor mationen, die ich mir beschaffen will, um Dinge handelt, die auch für euch noch wichtig werden könnten. Mehr kann und darf ich nicht sagen. Entscheide dich, Robert. Der ganze Trip wird keines
falls mehr als vierundzwanzig Stunden dauern.« »Ich begleite euch ebenfalls.« Nicole glaubte sich verhört zu haben. Hatte Zamorra das eben wirklich gesagt? Der Professor brauchte seine Lebensgefährtin nur anzusehen, um zu wissen, was sie von der Sache hielt. »Du musst nicht mitkom men, Cherie. Wenn Sid es so dringend macht, dann vertraue ich ihm. Robert und ich können ihm den Rücken freihalten.« »Es besteht keine Gefahr, keinerlei Risiko, das garantiere ich euch.« Asmodis schien mit Zamorras Vorschlag mehr als glücklich zu sein. Nicole weniger, doch sie kannte Zamorra zu gut. Er würde sich von der Sache jetzt nicht mehr abbringen lassen. »Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich Robert und dich mit Asmodis allein gehen lasse, oder?« Mit entwaffnendem Lächeln wandte sie sich an den Schwarz blütigen, dem sie seine Läuterung einfach nicht abnehmen konnte. »Du wärst sicher auch zu sehr enttäuscht, wenn ich nicht mit von der Partie wäre, liebster Assi?« Sid Amos hasste es, von ihr so genannt zu werden, doch er hatte sich prächtig in der Gewalt. »Ohne deine zauberhaften Bemerkun gen würde mir ganz sicher etwas fehlen, liebste Nicole.« Die Fronten waren geklärt, und selbst Tendyke war nun neugierig, was sein Erzeuger in der Spiegelwelt erreichen wollte.
Baton Rouge im Bundesstaat Louisiana, und dort der Hinterhof von Yves Cascals Behausung, der Wohnung des Spiegelwelt-Ombres, dessen Leben in beiden Welten nicht eben das reine Zuckerschle cken war – dorthin wollte Sid Amos mit seinen Begleitern. Noch im mer hüllte er sich über Sinn und Zweck dieser Aktion in Schweigen, und das würde sicherlich auch so bleiben. Zamorra und Nicole hatten sich eine Stunde zur Vorbereitung für
den Transport in die andere Welt erbeten und ließen Sid Amos und Tendyke allein. Nicole war sicher, dass zwischen den beiden Bluts verwandten nun eisiges Schweigen herrschte. Die Vorbereitung bestand daraus, sich entsprechend zu kleiden und mit dem nötigsten auszustatten. Reine Routine. Zamorra entschied sich für einen weißen Jeansanzug, der äußerst strapazierfähig war, und für das obligatorische rote Hemd. Leichter Kampfanzug hatte seine Gefährtin das einmal scherzhaft genannt. Ni cole trug eine hautenge schwarze Lederhose, graue Halbstiefel, wei ßes Top und weiße Jeansjacke, was alles in allem wahrlich nicht den extravaganten Geschmack widerspiegelte, dem sie normalerweise nachging – hier ging es um Zweckmäßigkeit. Bei den Waffen belie ßen sie es bei Zamorras Amulett und den Dhyarra-Kristallen, denn damit war im Grunde alles abgedeckt. Die Stunde war schnell vorüber. Man traf sich bei den Regenbo genblumen von Tendyke's Home wieder. Eine Gruppe dieser Blumen mit ihren nur knapp unter zwei Me tern hohen Blütenkelchen war immer ein erhebender, nachdenklich stimmender Anblick. Das Schimmern der Kelche in allen Farben des Regenbogenspektrums war märchenhaft, und märchenhaft war auch die Fähigkeit einer solchen »Kolonie«. Das Prinzip war denk bar einfach. Man ging in so eine Kolonie hinein, konzentrierte sich auf den Ort, zu dem man reisen wollte, und der Transit erfolgte ohne Zeitverlust, wenn die Vorstellungskraft des Passagiers groß ge nug war. Natürlich konnte das nur funktionieren, wenn besagter Zielort ebenfalls über Regenbogenblumen verfügte. Pol – Gegenpol, und von diesen Kolonien existierten mehr als anderthalb Dutzend auf der Erde und einigen anderen Planeten. Zumindest wusste man von dieser Anzahl, denn wie viele es tatsächlich gab, war nicht ein mal zu erahnen. Hinzu kamen nun natürlich noch die Zielorte auf der Spiegelwelt, die dort allerdings nicht unbedingt mit denen der Realwelt identisch waren. Hätte die Industrie über ein vergleichbares Transportmedium ver
fügt, wäre das Gesicht der Welt nicht mehr das gleiche geblieben. Welch ungeahnte Möglichkeiten würden sich eröffnen, wenn es be liebig viele solcher Pole gäbe? In der Science Fiction-Literatur war so etwas ja bereits ein alter Hut, der unter dem Namen Transmitter Fu rore gemacht hatte; ganze Romanserien hatte man sogar auf dieser Grundidee aufgebaut, und so mancher Hollywood-Regisseur hätte besser seine Finger von der Thematik gelassen. Nicole Duval sah die Regenbogenblumen jedoch vollkommen an ders. Auf dieses magische Wunder musste man sich nicht nur mit der ganzen Vorstellungskraft konzentrieren, sondern sich mit all sei nen Sinnen einlassen. Nicole befürchtete, dass sie im Zamorra-Team wohl die einzige war, die so dachte. Wieder kam ihr der Begriff Routine in den Sinn. Die Regenbogenblumen wurden schon beinahe als Normalität hingenommen, und so etwas war ganz einfach ge fährlich. Tendyke, Zamorra und Asmodis waren schon zwischen die Kel che getreten. Seltsam zögernd folgte Nicole als letzte. Zögern … das war doch sonst nicht ihre Art. Was war mit ihr los? Irgendetwas in ihr sträub te sich gegen diesen seltsamen Einsatz in der Spiegelwelt, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte das nicht einmal unbedingt et was mit Asmodis zu tun. Da war etwas anderes. Wieder diese Vor ahnung von etwas, dass sie nicht greifen, nicht aus dem Nebel her vorziehen konnte. Es war ganz einfach anders! Anders als … »Was ist, Nici? Irgendetwas stimmt heute nicht mit dir. Du solltest vielleicht doch besser …« Nicole schüttelte mit dem Kopf und trat dicht neben Zamorra. »Alles klar. Von mir aus kann es losgehen.« Was kam? Was würde geschehen? Louisiana, Spiegelwelt, Ombre. An ders? Anders als was? Louisiana, Spiegelwelt … und was, wenn es dort keine Regenbogenblumen gäbe? Das war unmöglich. Es gab sie doch! Oder nicht mehr …? Wir sollten nicht …
Der Transit erfolgte.
Nashua bemühte sich Einzelheiten zu erkennen, doch die Morgen nebel, die so nahe der Küste ganz normal waren, hinderten sie dar an. Drei Tage waren seit dem Zwischenfall am See vergangen. Seither war ihr niemand begegnet, vor dem sie sich verstecken musste. Drei- oder viermal hatte sie Braune getroffen, die ihr bestätigten, dass sie den richtigen Weg nach Epra eingeschlagen hatte. Einmal stieß sie mit einer kleinen Gruppe der Anderen zusammen, doch die grüßten nur freundlich und setzten ihren Wreg fort. So richtig woll te es ihr nicht gelingen, sich an diese Wesen zu gewöhnen, die annä hernd ohne Fell waren. Aber das würde sie müssen, denn in Epra sollte es ja jede Menge von ihnen geben. Das Doky war ein wirklicher Freund für Nashua geworden. Es war ein Weibchen und ließ sich völlig widerstandslos von dem Mädchen melken. Nashua starrte in die Nebelwand hinein, die sich hartnäckig vor dem aufgehenden Stern hielt. In der Ferne war etwas, das sie nicht genau erkennen konnte. War das ein Gebirgszug, der sich mit vielen einzelnen Bergspitzen vom Horizont abhob? Doch so nahe der Küs te konnte sich das Mädchen eine solche Gebirgsformation nicht vor stellen. Das musste etwas anderes sein. Vielleicht doch Epra? Vater hatte von hohen Häusern und Türmen gesprochen, doch davon konnte Nashua sich kein wirkliches Bild machen, denn Vater hatte gerne und viel geredet. Er hatte eine blühende Fantasie besessen. Ein sanfter Schenkeldruck ließ das Doky vorwärts traben, und mit jedem Schritt wurde die Sicht auf das, was dort vor ihnen lag, bes ser. Das Erste, das Nashua ganz eindeutig identifizieren konnte, waren vier große Gebilde, die sich als Türme entpuppten. Jeder von ihnen musste mindestens die Höhe von zwanzig oder mehr ausgewachse
nen Braunen haben. Die vier Bastionen waren gleichmäßig über die Längsseite der Stadt verteilt, denn dass es sich um das legendäre Epra handelte, glaubte Nashua inzwischen ganz fest. »Du kommst nicht aus Epra.« Nashua ließ sich instinktiv von ihrem Doky fallen und hatte im nächsten Augenblick den Dolch in der Hand, den sie einem der bei den Grauen abgenommen hatte. Die Stimme erklang ganz plötzlich hinter ihr, doch die Gestalt dazu, die sich dort nun aus dem Morgen dunst schälte, war nicht dazu angetan, ihr gefährlich werden zu können. Der Bursche mochte vielleicht drei oder vier Jahre älter als sie selbst sein und war dürr wie der Stiel einer Drahnoko-Blüte. Nashua war sicher, dass man seine Rippen aus der Entfernung zählen konn te, wenn man nur etwas genauer hinschaute. Er war mehr als einen Kopf größer als Nashua, doch auch diese Tatsache konnte bei ihm nicht sonderlich beeindrucken. Ungewöhnlicher war jedoch sein Fell, oder zumindest das, was seine bunt zusammengewürfelte Klei dung davon sehen ließ. Das war kein Braun und auch kein Grau, sondern irgendein Mischmasch daraus. Nashua hatte in ihrer Brut davon erzählen hören, dass es doch tatsächlich so etwas wie Bastar de geben sollte, doch daran hatte sie nie so ganz glauben können. Der Beweis stand nun wenige Meter vor ihr und reckte seine Stockarme in die Höhe, damit Nashua auch schnell genug sehen konnte, dass er unbewaffnet war. »Hey, ich will dich nicht angreifen!« Nashua verdrehte die Augen. Der Kerl hatte zu allem Übel auch noch eine quäkende Stimme, die selbst ihr sanftes Doky in Unruhe versetzte. »Du kommst doch nicht aus Epra, oder? Ich sehe das sofort. Du bist hier fremd und suchst Unterkunft. Sind die Grauen hinter dir her?« Nashua steckte den Dolch zurück in die lederne Scheide. »Nein, niemand ist hinter mir her. Warum auch? Ich hab nichts Wertvolles
bei mir.« Der Dürre grinste verlegen. »Aber du bist schön. Und das reicht für die Grauen aus. Wie heißt du?« »Nashua. Meine Brut ist … sie wurde …« Seltsam, sie konnte es einfach nicht laut aussprechen, doch ihr Gegenüber wusste auch so, was passiert war. »Schon gut. Komm mit mir. Ich bringe dich in die Stadt. Mich nennt man übrigens Dünnbacke.« Nashua wusste nicht, ob sie dem jungen Kerl nun trauen konnte oder nicht, doch als er ihr seinen Namen nannte, da lachte sie doch laut los. Von oben herab sah er sie etwas pikiert an. »Nun, besser, als wenn sie mich ständig Bastard oder Hurenkind rufen, nicht wahr?« Nas hua wollte sich entschuldigen, aber er winkte nur lächelnd ab. »Ich hab ja wirklich nicht viel Fleisch unter dem Fell, da passt der Name schon irgendwie. Aber jetzt komm mit, ich besorge dir erst einmal ein Frühstück.« Mit einem unverhohlen bewundernden Blick auf Nashuas Körperformen fügte er hinzu. »Sollst schließlich nicht ir gendwann so aussehen wie ich …« Ohne weiter nachzudenken, und mit der verlockenden Aussicht auf einen gefüllten Magen, folgte Nashua ihrem selbsternannten Be schützer und Wohltäter in die Stadt Epra hinein. Frisch gebackene Fladen mit gelbem Käse, süßer Brei von den Früchten der Pana-Staude, dazu warme Doky-Milch … und all das in Mengen, mit denen man eine ganze Brut hätte sättigen können! Keine Frage – Nashua war in ihrem ganz persönlichen Paradies ge landet. Als sie hinter Dünnbacke eines der Stadttore passiert hatte, war Nashua noch nicht klar, ob sie nicht mitten in eine Falle hinein lief. Doch das Gefühl wich schnell einem anderen: dem Staunen. Ganz abgesehen von der Größe Epras war für das Mädchen hier wirklich alles neu und faszinierend. Die Zahl der Gebäude konnte
sie nicht annähernd schätzen, doch das war ja auch gar nicht wich tig, denn ihre Augen konnten all diese neuen Eindrücke, die Farben und unzähligen Formen, kaum verarbeiten. Kein Haus schien dem anderen zu gleichen. Rund, oval, eckig, mit spitzzulaufendem Dach oder einem, das in wilder Form abgeschrägt oder ganz einfach glatt abgeschnitten war; rote, grüne, gelbe, braune, selbst nachtschwarze Häuser, manche mit zwanzig und mehr Fenstern, andere mit nur ei nem oder ganz fensterlos – alles war vorhanden! Niemand schien sich an irgendeine Vorschrift, irgendeinen Plan oder eine Idee zu halten. Für Nashua, die in der Brutgemeinschaft mit ihren straffen Regeln aufgewachsen war, glich das hier der puren Anarchie. Und doch, es hatte etwas Fröhliches und Unbeschwertes an sich, das an steckend wirkte. Und so kamen ihr auch die Bewohner Epras vor, die sich zu dieser frühen Tageszeit bereits auf den Straßen und Gassen aufhielten, Verkaufsstände aulbauten, Waren von hier nach dort trugen oder ganz einfach miteinander redeten. Natürlich waren es vorwiegend Braune, die Nashua zu sehen bekam, doch den einen oder anderen Grauen konnte sie auch entdecken, der offenbar niemanden in Angst und Schrecken versetzte, und natürlich die Anderen – jede Menge von ihnen. Und sie sprachen, schimpften und lachten, gingen ihrer Arbeit nach oder standen irgendwo herum, alles gemeinsam mit den Grauen! Wie hatte Vater immer erzählt? Dort gibt es nur ein Volk, alle gehören zusammen! Nashua wurde klar, dass dies keines sei ner üblichen Märchen und Aufschneidereien gewesen war. Dennoch wunderte sich Nashua über das rege Treiben zu einer Stunde, in der der Stern noch nicht einmal die Nacht richtig vertrieben hatte, und sie fragte Dünnbacke danach. Er sah seine Begleiterin verwundert an. »Du musst den Überblick aber ganz hübsch verloren haben. Weißt du es wirklich nicht? Heute oder morgen kommt die Blüte, und da muss man sich schließlich vorbereiten.« Natürlich, Nashua hatte es zeitlich wirklich nicht einordnen kön nen, denn sie wusste nicht genau, wie lange ihr Weg hierher gedau
ert hatte. Die Blüte. Das erklärte alles, und Nashua war schon jetzt entschlossen mitzuhelfen, sobald es soweit war. Jeder Braune, der in Küstennähe seine Brutstätte hatte, fieberte diesem Tag entgegen. Dünnbacke hatte sie mitten durch die Stadt geführt. Ganz in der Nähe von Epras Zentrum, das von einem sechseckigen Platz gebil det wurde, hielt er vor einem langgestreckten Haus an, über dessen Eingang ein riesiges Schild prangte. Nashua blickte fasziniert auf die leuchtend roten Lettern: »Traum-Theater« stand dort in riesigen Buchstaben geschrieben, und darunter etwas kleiner: »Speisen und Getränke – warm und kalt – scharf und mild – freundliche Preise – musikalische Darbietungen – großes Theater – große Kunst – jeden Abend – freier Eintritt – Waffen sind beim Pförtner abzugeben!« Viel konnte Nashua mit dem, was sie gelesen hatte, nicht anfan gen, doch sie folgte Dünnbacke ins Innere des Hauses, nachdem er ihr versprochen hatte, sich gleich um ihr Doky zu kümmern. Und nun saß sie hier und schaufelte jede Menge Nahrung in sich hinein. Man hatte Dünnbacke und sie so freundlich empfangen, als sei es üblich, dass der Junge jeden Tag irgendwelche halbverhunger te Braune hierher brachte; und vielleicht war das ja tatsächlich so, denn der Pförtner, von dem auf dem Schild ja die Rede gewesen war, und der sich als Hüne mit kahl rasiertem Kopf und wilder Fell bemalung entpuppt hatte, schlug dem mageren Dünnbacke nur la chend auf die Schulter und schickte die Neuankömmlinge durch in die Küche. Als Nashua beinahe ihren Hunger gestillt halte, dröhnte wildes Gelächter durch den Raum. »Hübsches Mädchen, du hast einen Milchbart!« Nashua ließ vor Schreck die Milchschale fallen, als sie den dazuge hörigen Braunen sah, dessen Anblick alles übertraf, was sie an Ab sonderlichkeiten bisher in Epra gesehen hatte. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, überschlugen sich die Ereig nisse – von überall her drangen die Rufe bis an ihre Ohren.
»Die Blüte! Kommt alle herbei! Die Blüte ist da!«
Es ist erstaunlich, wie viele Eindrücke, wie viele Informationen das menschliche Gehirn in einem einzigen Augenblick aufzunehmen in der Lage ist. Professor Zamorra wusste im Moment des Transits, dass irgendet was schiefgegangen war. Dann roch er die würzige Luft um ihn her um, die mit Sicherheit nicht nach Baton Rouge, sondern viel mehr zu einer Küstenregion passte; registrierte instinktiv, dass sich sein Körper ungewohnt leicht anfühlte, nicht viel, aber da war doch ein spürbarer Unterschied. Er sah, dass dies keine normalgroße Regen bogenblumen-Kolonie war, denn er konnte kein Ende der Blüten pracht erkennen, keinen Ausgang. Und er sah aus den Augenwin keln heraus die sichelförmige Klinge, die waagerecht geführt in Kopfhöhe auf ihn und seine Begleiter zuschoss! Mit ausgebreiteten Armen ließ er sich ganz einfach nach vorne fal len und riss Nicole und Tendyke mit sich zu Boden. Um Sid Amos brauchte er sich nicht zu kümmern, denn der hatte sich bereits auf Tauchstation begeben und entging dem Angriff nur um Haaresbrei te. Er hatte der Klinge am nächsten gestanden. Flach auf den Boden gepresst verharrten die vier Reisenden, ange spannt auf die nächste Attacke wartend, der sie in ihrer jetzigen Lage ziemlich hilflos ausgeliefert waren. Doch nichts passierte, au ßer den erschrockenen Ausrufen, die sich nach einer Mischung aus Englisch und einem Kauderwelsch anhörten, das man in den Dialek ten des nördlichen Europas finden konnte. »Halt! Da sind welche zwischen den Drahnokos! Hört auf zu hau en. Kommt da raus, ihr Idioten!« Zamorra glaubte, diese Sätze wären von mehreren Personen geru fen worden, von denen einige offensichtlich mehr knurrten als wirk lich sprachen. Drahnokos? Hauen? Er verstand den Sinn nicht, doch im Augenblick war es wohl am gesündesten für sie alle, den Auffor
derungen zu folgen. Langsam, mit den erhobenen Händen winkend, kam er auf die Füße. Und stand vor einer Gruppe Erntehelfer, die allesamt mit mächti gen Sensen bewaffnet waren. Sie ernten … Ein entsetzlicher Gedanke kroch in sein Denken: Sie ernten die Regenbogenblumen ab! Er wollte sie stoppen, ihnen zurufen, dass sie das nicht durften, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sich die Wesen genauer ansah, die ihn recht erbost wegen der von ihm erzeugten Unterbrechung ihrer Arbeit entgegensahen. Es waren sechs Personen, allesamt mit derbem Arbeitszeug beklei det. Gegen die stechende Sonne trugen sie so etwas wie Strohhüte, an den Füßen hatten sie klobige Stiefel, die einen ordentlichen Stand bei der Erntearbeit garantierten. Ja, es waren sechs Personen, und drei von ihnen waren eindeutig Menschen. Die anderen jedoch waren – aufrecht gehende, menschengroße Ratten … Es war wirklich erstaunlich, wie viele Eindrücke und Informatio nen das menschliche Gehirn in so wenigen Augenblicken aufneh men konnte … wie verrückt diese auch sein mochten!
Man hatte sie regelrecht abgeführt. Viele Worte waren zwischen ihnen noch nicht gefallen, denn die Eindrücke, unter denen sie hier standen, brachten selbst einen Sid Amos zum Schweigen, der wie seine drei Mitgefangenen ungläubig auf das Geschehen starrte, das da vor seinen Augen ablief. Man be drohte sie nicht, doch sie waren umringt von gut einem Dutzend mit Sensen und Lanzen bewaffneten Bewohnern dieser Welt. Nicole drückte sich eng an Zamorra. »Cheri, sag mir, dass ich träu me, bitte! Das darf es doch nicht geben!« Der Professor antwortete nicht, denn seine Kehle war wie zuge schnürt.
So weit seine Augen sehen konnten, erstreckte sich das Feld der Regenbogenblumen, oder das, was davon jetzt noch übrig war! Rou tiniert und mit erstaunlicher Geschwindigkeit gingen die Ernte trupps vor. Es war offensichtlich, dass sie aufeinander eingespielte Teams waren, die ihre Bewegungsabläufe perfekt abgestimmt hat ten. Hinter den mit Sensen bewaffneten Menschen und … Ratten … kamen die hölzernen Transportkarren, gezogen von eselähnlichen Tieren. In kürzester Zeit blieb von den Regenbogenblumen nichts übrig als deren kahle Stiele, die wie ein bizarres Heer übergroßer Strohhalme das Feld bewachten. Zamorra fand endlich seine Sprache wieder. »Wir warten am bes ten ab und erkunden erst einmal, wo wir hier gelandet sind.« Tendyke unterbrach ihn. »Gestrandet kommt der Sache sicher nä her, aber ich denke, du hast recht.« Der Professor nickte. »Wo so unglaublich große Felder der Regen bogenblumen sind, da gibt es sicher noch viel mehr davon. Wir wer den unseren Rücktransit also sicher durchführen können. Aber ich will wissen, was schiefgegangen ist. Und diese Wesen hier sollten uns auch erst noch ein paar Fragen beantworten.« »Kommt mit nach Epra. Oder seid ihr Spione der Grauen?« Einer ihrer Bewacher – eine Ratte – hatte sich vor Zamorra aufgebaut und hielt ihm die Sense gefährlich dicht vor dessen Gesicht. »Wir kommen mit, aber hör auf, mir deine Klinge unter die Nase zu reiben, okay?« Die Ratte sah den Professor verdutzt an, denn sie hatte sein Kau derwelsch zwar irgendwie schon verstanden, doch wer oder was dieser »oki« sein sollte, blieb ihr ein Rätsel. Die Türme der Stadt zeichneten sich gegen den sonnenklaren Himmel ab. Es war kein allzu weiter Weg, den die vier Gestrandeten vor sich hatten. »Von Mäusen und Menschen«, ging Zamorra der Titel eines Buches von John Steinbeck durch den Kopf.
Der stimmte zwar nicht vollkommen, denn Ratten und Mäuse wa ren nicht so ohne weiteres miteinander vergleichbar. Doch er kam der Sache hier doch verdammt nahe.
2. »Ich will euch singen und spielen vom wunderbaren Omron, von Humarogs und Lamarias, von Liebe und Hass, Leben und Tod, den Kämpfen und Festen!« Die erhöhte Bühne lag im Halbdunkel des großen Raumes und wurde spärlich, doch äußerst effektvoll von links und rechts postier ten sechsarmigen Kandelabern erleuchtet. Requisiten gab es keine, doch der Darsteller, der dort zu einem großen Monolog anheben wollte, benötigte so etwas nicht – er war ein lebendes Requisit! Die Ratte, deren Volk Lamarias hieß, wie Zamorra und seine Be gleiter bereits erfahren hatten, war ein ganz spezielles Exemplar ih rer Rasse. Mit beinahe zwei Metern überragte sie die meisten ihrer Artgenossen, und auch ihr Gewicht, das Zamorra auf gut und gerne drei Zentner schätzte, stach aus der Masse hervor. Das jedoch reich te dem größten lebenden Künstler Omrons, wie er sich selbst beschei den nannte, nicht aus, um seine Sonderstellung deutlich zu machen. Seine Bekleidung konnte man nicht anders als geckenhaft bezeich nen: giftgrünes Lederwams und purpurrote Pumphosen, dazu knie hohe Stulpenstiefel und auf dem Kopf ein grünes Barett, das ständig verrutschte, weil es zwischen den Rattenohren einfach keinen or dentlichen Halt finden wollte. Zamorra mussle bei diesem Anblick unwillkürlich an Aufführun gen von Shakespeare-Stücken denken, an die Possenreißer und Hof narren, die dort oft eine einscheidende Rolle spielten. Der Bursche hier wäre da eine hervorragende Besetzung gewesen! Eigentlich konnten die auf Omron, so lautete der Name dieser Welt, Gestrandeten sich nicht beschweren, denn nachdem man sie in diese reichlich surrealistisch gebaute Stadt gebracht hatte, wusste anscheinend keiner ihrer Bewacher mehr so recht, was er mit seinem
Fang denn nun anstellen sollte. Gut, die vier hatten sich mitten in den Blüten aufgehalten, aber das war ja kein Verbrechen, höchstens gefährlich für sie selbst, wenn die Erntekolonnen anrückten. Also hatte man die seltsam gekleideten Typen auf dem großen Platz ein fach stehen lassen, denn wer wollte schon die Feiern nach der Ernte verpassen? »Wir müssen herausfinden, wo die nächsten Regenbogenblumen zu finden sind, und das möglichst schnell!« Sid Amos konzentrierte sich wie immer auf das Wesentliche. »Ich bin nicht sonderlich neu gierig auf diese Rattenwelt. Zamorra, wie gehen wir vor?« »Seit wann fragst du mich um Rat, Asmodis? Ganz neue Sitten, aber du hast recht. Wir mischen uns am besten unter das Volk. Es macht wenig Sinn, wenn wir hier wie die Ölgötzen auf diesem Platz herumstehen.« »Wir werden die ganze Zeit über beobachtet.« Nicole wies auf ein Rattenmädchen, das in einiger Entfernung stand und die Augen nicht von der kleinen Gruppe ließ. Offensichtlich konzentrierte sie sich jedoch ganz besonders auf eine bestimmte Person. »Assi«, Nico le grinste unanständig breit, »du hast eine Eroberung gemacht. Die Kleine verschlingt dich geradezu mit ihren Augen.« Ehe der frühere Höllenfürst etwas erwidern konnte, kam das Mäd chen auch schon auf sie zu. »Kommt mit mir, ich weiß, wo ihr etwas essen könnt.« Ohne auf Antwort zu warten, drehte sie sich um und marschierte auf eines der größten Häuser zu, die in der Nähe des Platzes zu finden waren. Nicole Duval zuckte mit den Schultern. »In der Fremde muss man jede Freundlichkeit beim Schopfe packen.« Das klang zwar eher wie der Kommentar aus einem billigen Reiseführer, doch die anderen hatten auch keine bessere Idee, und so folgten sie dem Mädchen ins »Traum-Theater«.
»… den Kämpfen und Festen!« Und der feiste Lamaria setzte mit
seiner quiekenden Stimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passte, zu einer Elegie an, die das Sprachverständnis der vier Erdbe wohner bei weitem überstieg. Für Zamorra war es ein Rätsel, wieso hier diese seltsame Mischung aus Englisch und mehreren nordi schen Dialekten gesprochen wurde, doch darüber wollte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Im Grunde konnten sie für dieses kleine Wunder nur dankbar sein, denn ohne eine einigermaßen funktionie rende Verständigung wäre alles nur noch erheblich schwieriger ge worden. Doch bei der jetzt gebotenen Darbietung kamen sie nicht mit! Der große Künstler dort oben auf der Bühne hieß Kadil und war Be sitzer des »Traum-Theaters«, Gastwirt, Sänger, Schauspieler und Förderer der schönen Künste in einer Person. Und er war die gut mütigste Person, die man sich nur vorstellen konnte, einer, der es nicht übers Herz brachte, einen Hungrigen von der Tür zu weisen. Das Mädchen, das Nashua hieß und tatsächlich keinen Schritt von Asmodis Seite wich, war selbst erst heute am frühen Morgen hier aufgenommen worden. Kadil hatte auch Zamorra und die anderen mit offenen Armen aufgenommen, erst recht, als er hörte, wo man die seltsamen Vögel gefunden hatte. Die Gaststube war bis auf den letzten Platz gefüllt, denn die Ernte feiern waren ja bereits in vollem Gang. Mit erstaunlichem Einfüh lungsvermögen hatte Kadil seine neuen Gäste direkt in den »Thea terraum« gebracht und sie dort erst einmal kräftig verpflegen lassen. Er spürte, dass er hier ganz besondere Gäste beherbergte, und woll te sich später persönlich um sie kümmern. Die ganze Zeit über hatte Nashua neben dem Tisch gestanden, ge nauer gesagt neben Sid Amos, dem das irgendwie nicht sonderlich zu behagen schien. Zamorra hatte die Gelegenheit genutzt und das Mädchen näher betrachtet. Nashua besaß eindeutig die Physiognomie einer irdi schen Ratte, jedoch mit geringen Unterschieden: Am ehesten dräng te sich der Vergleich mit der normalen Hausratte auf, der epimys rat
tus, wenn Zamorras Fachkenntnisse ihn nicht völlig im Stich ließen, doch die Schnauze war nicht so lang ausgebildet. Die Lamarias be kamen dadurch einen freundlicheren Ausdruck in ihrem Gesicht; zu mindest kam dem Professor dies so vor. Die bei einer Ratte ständig nachwachsenden Schneidezähne waren in Form und Größe hier nicht so deutlich ausgebildet; ebenso fehlte die Lücke zwischen Schneide- und Backenzähnen, die sogenannte Distaema, völlig. Das alles war doch sehr vermenschlicht. Zamorra konnte auch die durchaus menschenähnlichen weibli chen Geschlechtsmerkmale Nashuas nur schwerlich übersehen! Im Gegensatz dazu fehlte der Schwanz mit seinen Schuppenringen nicht. Nashua bewegte den ihren jedenfalls mit äußerster Eleganz und Anmut. Nur Asmodis schien sich auch dafür nicht zu interes sieren. Spät am Abend dann gesellte sich Kadil zu ihnen und stellte mit Erstaunen fest, dass seine Gäste offensichtlich völlig orientierungs los waren. Welch eine Gelegenheit für den selbsternannten Künstler! »… und Omron ward von Meer und Zauberei umwoben …« Asmodis hob den rechten Arm und schnippte mit Daumen und Mittelfinger. Eine winzige Wolke erschien einen Meter über seinem Kopf, aus der ein greller Blitz zuckte, begleitet von einem heftigen Donner, der Kadil augenblicklich zum Schweigen brachte. »Bitte, kann man das alles auch in verständlicher und vor allem gesproche ner Form haben?« Tendyke wollte wütend über Asmodis plumpes Verhalten auffah ren, doch Kadils schallendes Gelächter ließ ihn innehalten. Der Gast wirt wollte sich vor Lachen ausschütten. »Dunkler Freund«, ganz instinktiv hatte der Lamarias bemerkt, dass Sid Amos anders als seine Begleiter war, ganz anders! »Du ge fällst mir. Hast du noch mehr solcher Tricks drauf? Ich engagiere dich vom Fleck weg!« Zamorra mischte sich ein, bevor Amos mit seiner offenbaren Hu morlosigkeit die gelockerte Stimmung ihres Gastgebers zerstören
konnte. Sie waren auf Informationen aus der besten Quelle angewie sen, und die hatten sie hier offenbar gefunden. Zamorra gedachte das auszunutzen. »Kadil, es ist für dich ganz sicher schwer zu verstehen, aber viel leicht versuchst du uns wie Neugeborene zu sehen, die alles erst noch erlernen müssen, die noch überhaupt nichts wissen.« Der große Lamaria setzte sich krachend auf einen freien Stuhl am Tisch seiner Gäste. Unbemerkt war Dünnbacke in den Raum getre ten und hatte sich direkt neben Nashua aufgebaut, wenn man das bei seiner schmächtigen Statur überhaupt so nennen konnte. Kadil sah Zamorra direkt in die Augen. »Ich kann mir vieles vor stellen, Zamorra. Glaube mir, wir mögen euch primitiv erscheinen, vielleicht auch verrückt, aber ganz sicher sind wir in Epra keine Hinterwäldler. Ich weiß nicht, woher ihr gekommen seid, aber viel leicht verratet ihr es mir ja irgendwann einmal. Also – was wollt ihr genau von mir erfahren?« »Wo wir das nächst gelegene Regenbogenblumen-Feld finden können, das ihr Irren noch nicht mit euren Sensen bearbeitet habt.« Asmodis ließ jedes Gespür für Freundlichkeit und Dankbarkeit ver missen. Wenn er so etwas überhaupt je besessen haben sollte, hatte er es offensichtlich in der Hölle verlegt und bei seinem dortigen Auszug schlicht vergessen. »Ich kenne keine Regenbogenblumen, dunkler Zauberer.« Kadil ging auf Sid Amos Gebaren nicht ein. »Aber ich denke, du meinst die Drahnoko-Blüten, bei deren Ernte ihr ja heute beinahe eure hüb schen Köpfchen verloren hättet.« Er grinste, als Asmodis bei der Er innerung daran ein wenig bleich im Gesicht wurde. »Die Drahnokos sind unser ganzer Schatz, der Wohlstand der ganzen Nordküste Omrons. Aber was meinst du mit nächst gelegenem Feld?« »Er meint, dass die Ernte der Drahnoko-Blüten doch sicher nicht überall an dem gleichen Tag geschieht, nicht wahr?« Robert Tendy ke hatte sich, ebenso wie Nicole, bisher still verhalten, doch nun mischte auch er bei dem Gespräch mit.
Kadil überlegte eine Weile, ehe er mit Bedacht antwortete. »Es scheint mir, als würdet ihr wirklich nicht von dieser Welt kommen, denn jeder Lamaria und jeder Humarog weiß, dass die DrahnokoBlüten nur entlang der Nordküste gedeihen können, und dass ihr Blütetag zweimal während eines Umlaufs stattfindet.« Er sah seine Gäste der Reihe nach an. »Und mit Blütetag meine ich auch Blütetag! Und der war heute. Ich weiß ja nicht, was ihr mit den DrahnokoBlüten vorhabt, doch ihr werdet damit einen halben Umlauf warten müssen.« Aus Asmodis Gesicht war nun jede Farbe gewichen. »Willst du da mit sagen, dass es kein blühendes Feld mehr gibt?« Er hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben, als wolle er sich im nächsten Augen blick auf Kadil stürzen. Der sah den fassungslosen Schwarzblütigen gleichmütig an. »Du hast es erfasst, mein Freund, du hast es erfasst.«
Der sinkende Stern machte der Dunkelheit endlich Platz. Er stand am Bug seines Schiffs, dem Flaggschiff des Clans, dessen Führer und 1. Kapitän er seit vielen Umläufen war. Noch war er nicht alt, konnte nach wie vor jeden seines Clans in die Schranken weisen, der ihm die Stellung streitig zu machen ver suchte, und ihn im Ernstfall auch im Zweikampf besiegen. Schon lange hatte das niemand mehr versucht, doch er war nicht so dumm, um sich in seiner Position in Sicherheit zu glauben. Es ru morte im Clan, das wusste er nur zu genau. Um den jungen Jorsteinn herum hatte sich eine Gruppe gebildet, die Pläne gegen ihn schmiedete, denn sie wollten Erneuerung, Re volte! Noch waren sie zahlenmäßig nicht stark genug, um loszu schlagen, doch das war nur eine Frage der Zeit. Nun gut, sollten sie es ruhig versuchen. Jetzt hatte er nicht die Muße, um sich mit solchen Dingen zu be
schäftigen. Auf sein Zeichen hin legte die Flotte ab, ließ die Insel hinter sich und nahm Kurs auf die Küste. Ihre Spione hatten es gemeldet – Blütetag! Natürlich würden die Küstenbewohner wieder einmal ausgiebig ihren Erntetag feiern, bis in die ersten Stunden des kommenden Tags hinein. Und natürlich würden sie auch mit Angriffen vom Meer aus rechnen, wenn die Verarbeitung der Drahnoko-Ernte voll zogen war, doch das würde noch viele Tage dauern. Und wenn es soweit war, musste man sich die Beute mit den anderen Clans teilen, und mit den Grauen, die aus dem Landesinneren ihre Raubzüge starteten. Erneuerung wollte man in seinem Clan? Die würde es geben, doch sicher nicht so, wie die Heißsporne es sich vorgestellt hatten. Als er seinen Hauptleuten und Kapitänen den Plan unterbreitet hatte, waren die entsetzt gewesen. Segeln bei Nacht? Das war gegen jede Tradition, und er hatte seine ganze Autorität aufbieten müssen, um alle auf seine Ziele einzuschwören. Sie alle fürchteten Omrons Wut, er selbst bildete da keine Ausnahme. Es war ein Wagnis, das wusste er sehr genau, doch wenn alles so klappte, wie er hoffte, dann würde sein Clan durch eine einzige ge wagte Aktion schon bald in Draahn schwimmen! Wer würde sich dann noch um einen Jorsteinn kümmern? Die Segel standen gut im Wind. Sie würden im Morgengrauen ihr Ziel erreicht haben. Mit brennenden Augen starrte er in die Dunkelheit hinein. Irgend wo dort vorne lag ihr Ziel, sein Ziel! Sollten sie nur zechen und huren in dieser Nacht – wenn der Stern wieder stieg, würden sie eine böse Überraschung erleben. Es gab nur einen, der ihm alles zunichte machen konnte, doch der verhielt sich schon lange ruhig und kümmerte sich weder um die Inselclans noch um die Bewohner der Küste. Der 1. Kapitän hoffte, dass dies auch so bleiben würde.
Zumindest in den kommenden Stunden seines großen Triumphes!
Der Schock saß tief. Was Kadil ihnen da ganz nüchtern und sachlich eröffnet hatte, be deutete, dass sie auf dieser Welt festsaßen! Für wie lange, wusste keiner von ihnen genau zu bestimmen, denn es fehlten die Ver gleichsdaten, um zu bestimmen, welcher Zeitraum für einen Umlauf festzulegen war. Zamorra hatte gleich bei ihrer unfreiwilligen Ankunft auf Omron bemerkt, dass die Anziehungskraft hier ein wenig unter dem ge wohnten einem Gravo(Gravo oder 1 g ist die Maßeinheit für die ir dische Schwerkraft.) der Erde lag, also war die Masse des Planeten entsprechend geringer. Das allein reichte natürlich nicht aus, um den Umlauf um die Sonne bemessen zu können. Vom Gefühl her kam es dem Professor so vor, als würde der Wechsel zwischen Tag und Nacht sich ganz wie auf der Erde vollziehen. Die kommenden Tage würden Klarheit darüber bringen, wie viele Stunden ein Tag hier dauerte. Die kommenden Tage … es sah ganz so aus, als wür den sie keinen Mangel an Zeit haben, sich an Omron und seine Be wohner zu gewöhnen. Tendyke redete hektisch auf Kadil ein, um ihm vielleicht doch noch eine Information entreißen zu können, die diese Katastrophe abgemildert hätte. Asmodis war in tiefes Schweigen verfallen und saß wie versteinert am Tisch. Nicole sprach nach wie vor kein Wort, als würde sie eine Last drücken, die sie nicht abzulegen in der Lage war. »Nicole, was ist los mit dir?« Die schöne Französin sah ihrem Chef und Lebenspartner nicht in die Augen. Langsam stand sie auf und ging ein paar Schritte im großen Raum umher. Dann sprach sie mit fester Stimme. »Es ist al les meine Schuld! Durch mich sind wir hierhin verschlagen worden!«
Selbst Sid Amos war verblüfft, als er diese Selbstvorwürfe hörte. »Wie kannst du da so sicher sein? Es mag viele Grün …« Nicole unterbrach ihn. »Als wir in Tendyke's Home zwischen die Blumen getreten sind, habe ich intensiv daran gedacht, dass so ein Transit irgendwann einmal schief gehen könnte. Und … ich habe mir vorgestellt, dass an unserem Zielort überhaupt keine Regenbo genblumen existieren. Ganz unterbewusst muss ich die geistige Füh rung des Transits übernommen haben. Ich weiß auch nicht genau wie, aber es muss so gewesen sein!« Zamorra wollte seine Gefährtin trösten, doch er verstand die Logik in ihren Worten sehr wohl. Es konnte tatsächlich so gewesen sein. Asmodis wollte das so nicht gelten lassen. »Aber es haben Regen bogenblumen am Zielort existiert! Wenn sie auch ein paar Sekunden später abgemäht wurden. So ganz kann deine Theorie nicht stim men.« Nicole schüttelte den Kopf. »Sie stimmt, glaubt mir. Es sind ja auch Zeitreisen mittels der Blumen möglich, also wird es wahr scheinlich so eine Art zeitlichen Ankunftskorridor geben, der vielleicht sogar nur ein paar Sekunden in die Vergangenheit und in die Zu kunft reicht. Wahrscheinlich ist das so eine Art Sicherheitszone, um Reisende vor einer direkten Katastrophe zu schützen, die sich am Zielort in genau dem Augenblick des Transports abspielen könnte. Jedenfalls wären wir ohne meine Dummheit nicht hier.« Tendyke stand auf und ging zu Nicole. »Wenn du unbedingt von Schuld reden willst, dann nehme ich zumindest fünfzig Prozent da von auf meine Kappe, denn ich habe mich kurz vor dem Transit in nerlich vollkommen gegen diesen Trip gesperrt.« Auf Nicoles fra genden Blick hin fuhr er fort. »Es war mir einfach zuwider, mit dem da meine wertvolle Zeit verbringen zu müssen.« Dabei wies er auf Sid Amos. Der enthielt sich jeden Kommentars, denn er kannte die Einstellung seines Sohns ihm gegenüber nur zu genau und wollte die Konfrontation nicht eskalieren lassen. »Durch meinen Widerstand habe ich das Gleichgewicht der Grup
pe mit Sicherheit gekippt, und nur dadurch war es möglich, dass du alleine die Führung übernehmen konntest.« Tendyke machte ein Ge sicht wie ein kleiner Junge, den man beim verbotenen Naschen erwi scht hatte. »Das alles spielt doch jetzt erst einmal keine Rolle, denn es ändert nichts an den bestehenden Tatsachen.« Zamorra wollte unbedingt verhindern, dass in dieser Situation die Stimmung völlig auf den Nullpunkt sank. »Entscheidend ist doch jetzt erst einmal …« »Halt, halt, hört auf!« Kadils Stimme dröhnte durch den leeren Saal, dessen Akustik sich ausgezeichnet für Theateraufführungen eignete. »Ich verstehe nun kein Wort mehr von dem, was ihr da re det!« Er schlug mit seinen Pranken, die an kleine Bratpfannen erin nerten, heftig auf den Tisch. »Ich kenne keinen Koriidoor und keinen Tränsid, aber ich sehe, dass ihr überhaupt nichts von Omron wisst. Keine Ahnung, wohin ihr mit den Drahnoko-Blumen reisen wollt – für mich seid ihr hoffnungslose Spinner, aber sind wir das nicht alle? Wenn ihr irgendetwas unternehmen wollt, dann müsst ihr doch zunächst wissen, was für Möglichkeiten es hier gibt, oder etwa nicht?« Zamorra musste grinsen, denn der große Kadil hatte den Kern ge troffen. »Größter Meister deiner Zunft – lehre uns!« Und Zamorra deutete eine höfische Verbeugung an, die bei Kadil sehr gut ankam. »Bringt Getränke und eine Handvoll Sand«, befahl er Nashua und Dünnbacke, die sich sofort auf den Weg machten. »Setzt euch alle wieder und hört mir zu.« Er grinste Asmodis an. »Diesmal in ge sprochener Form und so deutlich, wie ich es vermag, dunkler Freund.« Als Nashua und Dünnbacke zurück gekehrt und alle mit einem re lativ trinkbaren Nass versorgt waren, das entfernt an säuerlich schmeckendes Bier erinnerte, nahm Kadil den Sand und breitete ihn gleichmäßig vor sich auf dem Tisch aus. Mit einem Finger, besser gesagt einer Kralle, zeichnete er ein langgestrecktes Oval in den Sand, das unregelmäßig geformte Einbuchtungen und rechts unten
so etwas wie einen sackartigen Fortsatz hatte. »Das ist Oraron«, verkündete Kadil. »Sieht es nicht aus wie ein Doky-Schiss?« Da alle inzwischen gelernt hatten, dass die Dokys die Reit- und Lasttiere diese Welt waren, kam keine Zwischenfrage, und Zamorra musste zugeben, dass die Form etwas von einem Kuhfla den hatte, der Vergleich also sicher nicht so übel gewählt war. Durch das obere Viertel der Karte zog Kadil einen waagerechten Strich. »Das ist das Land der Braunen, also die Ecke Omrons, in der ihr gelandet seid. Hier oben links liegt Epra.« Der Rest des Karten zeichnens dauerte etwas länger, denn die übrig gebliebenen drei Viertel des Doky-Schisses waren unregelmäßig geformt. Sie ergaben fünf abgetrennte Bezirke. Nacheinander tippte Kadil mit der Kralle auf die fünf Teile. »Anir, Gromgerr, Norrau-Bei, Indusitall und Cala riat. Die Länder der Grauen.« Zamorra wies auf die Ausbuchtung der Karte. »Und dort?« Kadil sah ihn vorwurfsvoll an. »Nicht so voreilig! Dort leben«, er machte einen dicken Strich quer über die Verbindungsstelle des Sackes zum übrigen Land, »oder besser gesagt, dort sollen die Wei ßen leben. Die Verbindung ist durch einen undurchdringlichen Streifen geschützt, manche sagen, er bestünde nur aus Wald, andere behaupten, er würde aus den Toten Omrons gebildet. Niemand hat ihn bisher durchdrungen, soviel ich weiß.« Nach einem mächtigen Schluck aus dem Krug fuhr er fort. »Nur an unserer Küste entlang wachsen die Drahnokos. Und in früheren Zeiten waren sie für uns das perfekte Tauschobjekt mit den Ländern der Grauen, die uns da für alles das lieferten, was sie herstellten. Jedes der fünf Länder hat da so seine Spezialität. Indusitall etwa tauschte seine Waffen, Mes ser, Degen und natürlich die für uns so wichtigen Sensen, denn die zu schmieden ist ihre große Stärke. Norrau-Bei hat riesige Weberei en und Gerbereien, die alle erdenklichen Bekleidungsstücke zaubern können. Wir sind eben nur Fischer und verstehen uns auf die Drahnokos, und auf das, was man daraus machen kann.« Ein zufrie denes Lächeln überzog Kadils Gesichtszüge.
»Und was genau macht man daraus?« Sid Amos Stimme war ohne Emotion. Zamorra hatte schon immer gewusst, dass Asmodis ein perfekter Schauspieler sein konnte, denn ohne jeden Zweifel kochte es im ehemaligen Fürst der Hölle nicht minder als in jedem von ih nen. Wenn du mit Luzifer in der gleichen Liga spielen willst, musst du verdammt gut am Ball sein, ging es Zamorra durch den Kopf. Und Amos hatte sein Spiel gespielt, tat es heute noch … irgendwie. »Hat euch der Salat vorhin gut geschmeckt?« Kadils Feixen wurde noch breiter. Nicole sackte förmlich auf ihrem Stuhl zusammen, während Robert Tendyke zur Salzsäule erstarrte. »Ausgezeichnet sogar«, kommentierte Asmodis mit Grabesstim me, »nur ein wenig zu salzig, für meinen Geschmack.« Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Zamorra zweifelte an seinem Hörvermögen: Salat … sie machen aus den Regenbogenblumen Salat! »Aber natürlich ist das nur ein Nebenprodukt, denn für einen or dentlichen Salat tauscht niemand gute Waffen mit dir.« Kadil genoss es, seinen Gästen die Informationen in kleinen Happen zu servieren. »Man kann aus den Drahnokos auch einen prima Tabak machen, aber in erster Linie Draahn.« Aus einer Innentasche seines Wams zog er einen ledernen Beutel, dessen Inhalt er direkt vor Zamorra auf den Tisch schüttete. Ein weißes Pulver, das einen aromatischen Duft verbreitete. Der Professor befeuchtete einen Finger, nahm damit eine winzige Probe der Substanz und leckte vorsichtig daran. In all den Jahren, die er als Kämpfer gegen alles Schwarzmagische zugebracht hatte, war er zwangsläufig auch oft mit Drogen in Kontakt geraten, mit Dealern und Junkies, mit der ganzen schmutzigen Maschinerie, die weltweit hinter dem Drogenhandel steckte. Der Geschmack sag te ihm sofort, dass es sich hier um eine überaus harte Droge handeln musste. Kadil sah das angewiderte Gesicht Zamorras. »Du hast ganz recht, ich verabscheue das Zeug in dieser Form ebenfalls zutiefst, denn es macht krank und tötet schlussendlich den, der es über lange Zeit
hinweg einnimmt. Ich gebe aber zu, dass der Tabak, aus dem dieses verfluchte Pulver gemacht wird, auch mir ab und an gut tut. Er macht einfach nur fröhlich, während einen das hier böse und ag gressiv werden lässt, wenn man zuviel davon nimmt.« Tendyke schüttelte den Kopf. »Nein, Kadil, das Unheil fängt mit jeder Droge an, auch mit deinem Fröhlichmacher.« Kadil machte ein gleichgültiges Gesicht. »Wie du meinst, aber das entscheidet hier jeder für sich ganz alleine. Jedenfalls ist Draahn un ser größtes Tauschobjekt, wie ihr euch jetzt denken könnt.« Seine Ohren legten sich angespannt nach hinten, als er weiter sprach. »Doch die Grauen halten in der letzten Zeit immer weniger vom Tauschen. Sie machen ihre Krieger mit Draahn so angriffslustig, dass die es sich ganz einfach holen. Dabei vernichten sie unsere Brutstät ten; sie töten, vergewaltigen und brandschatzen. Es wird immer schlimmer. Fragt Nashua, die kann euch ein Lied davon singen, denn erst vor wenigen Tagen wurde alles von den Grauen ausgerot tet, was ihr lieb und wert war.« Das Mädchen senkte den Kopf, und selbst Asmodis schien so et was wie Mitleid in seinen Augen zu haben. »Warum stellt ihr die Produktion dann nicht ganz einfach ein? Oder würden die Grauen das dann selbst übernehmen?« Nicole ver stand nicht, warum diese Übergriffe nicht zu verhindern waren. »Die Herstellung ist nicht einfach.« Kadil beförderte das Draahn vorsichtig wieder in den Beutel zurück. »Zudem recht langwierig. Wenn ihr die Grauen besser kennen würdet, könntet ihr verstehen, dass sie für so eine Arbeit nicht geschaffen sind. Sie sind Krieger, wühlen nach Erzen in Omrons Bauch, aber für umständliche Dinge fehlt ihnen der Sinn und die Geduld. Die fünf großen Brutländer sind jetzt seit vielen Umläufen sogar untereinander so zerstritten, dass sich bei ihnen fast alles nur noch um Krieg und das Draahn dreht. Dennoch könnten wir ohne Tauschhandel mit ihnen nicht existieren, auch wenn der immer schwieriger wird. Nur vom Fi schen allein lebt es sich schlecht. Nehmt nur das Gebräu hier.« Er
hielt seinen inzwischen von Dünnbacke wieder gefüllten Krug in die Höhe. »Es stammt aus Calariat, denn die sind wahre Meister der geistigen Getränke. Solche Dinge liegen den Grauen.« »Schmeckt eher, als müssten die noch mächtig dazu lernen …« Ni cole war von dem Getränk überhaupt nicht begeistert, denn je wär mer es im Krug wurde, um so widerwärtiger drängte sich der säuer liche Geschmack in den Vordergrund. »Aber es müssen doch Verhandlungen mit den Grauen möglich sein. Eure Führer …« »Die gibt es nicht!« Kadils Stimme klang jetzt hart und verbittert. »In alten Zeiten wurde ganz Omron vom Et-Lamar regiert. Alles, was nicht im Wasser war und sein konnte, unterstand seiner Weis heit und Güte. Lamarias und Humarogs ordneten sich ihm unter und lebten friedlich miteinander, handelten, arbeiteten, liebten, ge baren und starben ohne Krieg und Hass. Und wenn der Et-Lamar alt wurde, erwählte er selbst aus dem gesamten Volk seinen Nachfol ger, manchmal einen Lamaria, manchmal einen Humarog. Das spielte dabei überhaupt keine Rolle. Niemand hat die Umläufe ge zählt, die auf Omron so vergingen.« Kadils Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. »Vor mehr als einhundert Umläufen gesch ah das Unfassbare: Der Et-Lamar wurde getötet. Man fand ihn, so wurde es zumindest berichtet, von gläsernen Lanzen durchbohrt am Strand. Niemand wusste, was er dort gewollt hatte, selbst seine engsten Vertrauten nicht. Einen Nachfolger hatte er nicht bestimmt. Warum hätte er das auch tun sollen, denn er war ja noch jung und kräftig.« »Lass mich raten, wie es weiterging.« Sid Amos unterbrach den Redefluss ihres Gastgebers. »Es konnte kein neuer Et-Lamar be stimmt werden, weil jede Gruppe, Graue, Braune, Humarogs und wer auch sonst noch, glaubte etwas zu sagen zu haben und ihren Anspruch anmeldete. Es gab Streit, die Brutländer und die Region der Braunen zogen sich beleidigt zurück, und jeder kocht seither sein eigenes Süppchen.« Amos hielt Dünnbacke seinen leeren Krug
hin, der ihn geflissentlich sofort neu füllte. »So lief es immer und überall ab. Warum sollte es hier anders sein?« »Du hast es beschrieben, als wärest du dabei gewesen, dunkler Freund.« Kadil sah Asmodis verblüfft an. »Immer wieder gab es da nach Anläufe, einen neuen Et-Lamar zu wählen, doch es blieb bei kläglichen Versuchen.« Zamorra brannte eine Frage auf den Nägeln. »Aber was ist mit den anderen Ländern? Ich meine die anderen Kontinente dieser Welt. Seit ihr mit denen etwa auch verfeindet?« Er hoffte noch immer, dass es in erreichbarer Entfernung Regenbogenblumen geben könn te. Kadils Blick war das reine Nichtverstehen, als er mit einer Gegen frage antwortete. »Andere Länder? Was meinst du damit, Zamorra? Wovon sprichst du? Es gibt nur Omron, und das sind wir und das allmächtige Meer um uns herum. Ich verstehe deine Frage wirklich nicht.«
Wirst du des Beobachtens nicht müde? Nein, warum sollte das so sein? Der ewige Wandel kann mich nie mals ermüden. Ständig entstehen neue Eindrücke, und alte treten ab. Wie könnte mich das je langweilen? Du spielst deine Spiele mit ihnen. Es reicht dir längst schon nicht mehr aus, was der normale Ablauf der Dinge mit sich bringt. Du manipulierst. Tue ich das? Und wenn schon. Es sind meine Eindrücke, also habe ich das Recht … Du spielst mit ihnen. Und es ist ein böses Spiel. … habe ich das Recht, sie zu lenken! Misch dich nicht ein, hörst du? Alles ist gut so, wie es ist. Weil es sich nach deinem Willen entwickelt? Warum bist du nur so?
Ich bin, und nur deshalb sind die Eindrücke. Ich habe Harmonie geschaffen. Chaos und Gewalt. Es ist meine Harmonie. Misch dich nicht ein.
Es gab im »Traum-Theater« natürlich Gästezimmer, doch die waren zu Kadils Zufriedenheit alle belegt, denn wenn der Blüte-Tag nahte, kamen viele Lamarias und Humarogs nach Epra, weil die Feierlich keiten, sprich Trinkgelage, zu diesem Ereignis dort weithin gerühmt wurden. Man verstand hier zu feiern, auch wenn die Zeiten düster waren. Kadil hatte seinen vier Gästen den Theaterraum zur Verfügung ge stellt, zumindest bis zum morgigen Abend, denn dann wurde dort sein neuestes Stück aufgeführt, in dem er natürlich höchstpersönlich die Hauptrolle spielte. Wer auch sonst? Bis dahin mussten sie etwas anderes gefunden haben. »Ich kann einfach nicht glauben, dass es auf diesem Planeten nur eine einzige Landmasse geben soll.« Nicole hatte gewartet, bis auch Nashua und Dünnbacke gegangen waren, doch nun konnte sie nicht mehr an sich halten. »Ich will es ganz einfach nicht glauben, denn wenn …« »… gibt es keine weiteren Regenbogenblumen, die uns schnell nach Hause bringen können.« Zamorra hatte den Satz vollendet. »Ich befürchte, wir werden uns wohl damit abfinden müssen.« Robert Tendyke ließ sich schwer in einen Sessel sinken. »Damit verlieren wir gut und gerne fünf bis sechs Monate, denn ein halber Umlauf dieser Welt wird wohl in etwa so lange dauern. Das kann doch nicht wahr sein. Es muss doch eine andere Möglichkeit geben.« Hilfe suchend sah er den Professor an. Doch der war nicht minder ratlos als die anderen. »Gut, wenn dem wirklich so ist, dann müssen wir die Zeit bis zur
nächsten Blüte hier verbringen, doch in unserer Welt werden wir diese Zeit dann nicht verlieren, denn zum Glück funktionieren die Regenbogenblumen ja auch wie eine Zeitmaschine.« Zamorra wand te sich an Sid Amos, der im Halblunkel des Raums stand und sich nicht an der Unterhaltung beteiligte. »Sid, siehst du eine andere Möglichkeit?« Auch nach all den Jahren, in denen Zamorra und Asmodis sich als Gegner oder als Verbündete kannten, wusste der Professor längst nicht von allen Fähigkeiten, über die Merlins dunkler Bruder verfüg te. Ganz wie Merlin hielt sich auch Asmodis mit jeglichen Informa tionen extrem zurück, erst recht, wenn es um die eigene Person ging. Öffentlichkeit macht angreifbar, war seine Maxime, und an die hielt er sich. »Hokus Pokus, dreimal schwarze Ratte? Wenn du an so etwas denkst, muss ich dich enttäuschen, denn ich bin hier ebenso aufge schmissen wie ihr alle.« Asmodis sardonisches Lächeln war wie ein Schild, den er vor sich her trug, und der vorzüglich funktionierte, denn damit verunsicherte er sein Gegenüber zutiefst. Nicole hatte ihm schon mehrfach angedroht, ihm dieses Grinsen irgendwann einmal ans dem Gesicht zu hämmern, und wenn Nicole Duval so et was sagte, dann war damit zu rechnen, dass sie diese Ankündigung in eine Tatsache umwandelte. »Ich bin sicher, dass dieser Kadil die Wahrheit gesagt hat – es gibt nur diesen Kontinent, besser gesagt, die Insel, auf der wir gelandet sind. Um uns herum ist nur der Ozean, und alles zusammen ist Omron.« Zamorra stutzte, denn das klang, als wüsste Amos doch mehr als die anderen. »Kannst du diese Theorie genauer erklären?« Der abgedankte Höllenfürst wurde ganz ernst, stellte sogar sein Lächeln ein. »Nein, nicht wirklich genau, Zamorra. Doch ich spüre, dass diese ganze Welt von einer Art Magie beherrscht wird, die ich nicht einordnen kann. Sie ist nicht so, wie wir sie kennen, nicht schwarz, nicht weiß, sondern vollkommen irreal.« Zamorra glaubte in Asmodis Augen so etwas wie Verunsicherung zu erkennen. »Ich
kann diese Magie nicht benennen, nicht fassen. Vor allem scheint sie überall zu sein, überall gleich stark. Sie lähmt meine Fähigkeiten. Ich verstehe das nicht. Ich kann ihren Ursprung nicht erkennen. Be greifst du, was ich sagen will, Zamorra?« »So viel oder so wenig wie du, Sid. Aber ich befürchte, wenn wir gezwungen sind, hier auf die nächste Blüte zu warten, werden wir damit in Konflikt geraten, habe ich Recht?« Asmodis malte mit dem Zeigefinger auf der Sandkarte herum, die Kadil provisorisch für sie erstellt hatte. »Das werden wir ganz si cher, denn wir gehören schließlich nicht hierher. Ich kann mir nicht denken, dass das unentdeckt bleiben wird.« An der sackähnlichen Ausbuchtung im Südosten der Karte stoppte Asmodis seinen Finger und malte ein Kreuz. »Hier werden unsere Fragen beantwortet.« Er sah Zamorra an. »Ich weiß es einfach. Hier liegt der Schlüssel, an den wir nicht herankommen können.« »Warum können wir das nicht?« Nicoles Frage zauberte wieder das berühmte Teufelslächeln auf Amos' Gesicht. »Liebste Nicole, denk nach, wenn du das denn kannst. Wie wollen wir dorthin kommen? Zu Fuß? Oder auf den Rücken dieser lahmen Dokys vielleicht? Ich weiß nicht, wie weit es in Kilometern bis zum Land der Weißen ist, aber sicher würden wir länger dorthin und wieder hierher zurück benö …« »Schon gut, schon gut! Hab' verstanden, Assi. Aber wenn ihr be fürchtet, dass wir hier große Schwierigkeiten bekommen werden, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, oder sehe ich das als dumme Frau auch wieder falsch?« Asmodis Antwort war erstaunlich moderat, wenn man bedachte, in welchem Ton er und Nicole normalerweise miteinander redeten und stritten. »Nein, du liegst nicht falsch. Aber diese Welt bietet wohl keine schnelleren Fortbewegungsmittel. Das alles hier ist in etwa mit dem Mittelalter der Erde zu vergleichen, und da gab es mit Entfernungen ja die gleichen Probleme.« »Vielleicht verfügen sie über schnelle Schiffe?«
»Das wäre eine Möglichkeit, um die wir uns so schnell wie mög lich kümmern sollten. Doch ich fürchte, auch das Wasser wird uns nicht Wohl gesonnen sein. Erinnere dich an Kadils Worte – es gibt nur uns und das allmächtige Meer. Wir können nur hoffen, dass man uns nicht als Fremdkörper einstuft, der beseitigt werden muss.« »Wer sollte das tun? Das ist alles so abstrakt.« Tendyke hatte gefragt, und Asmodis blickte seinem Sohn offen ins Gesicht. »Wir werden es schnell herausfinden, sehr schnell sogar. Ich gestehe, dass mir bei dem Gedanken daran nicht wohl ist.« Er hat Angst! Asmodis fürchtet sich, erkannte Zamorra. Sid Amos sah sich einer Situation gegenüber, die keines seiner üblichen Spiel chen zuließ. Er war in der Defensive, so wie die anderen auch, und er fühlte sich hilflos gegenüber einer Macht, die er zwar spüren, aber nicht einordnen konnte. Asmodis hat Angst. Da erst wurde Zamorra wirklich bewusst, wie lebensbedrohlich die Lage war, in der sie sich befanden.
Es war bereits spät in der Nacht, als es im großen Theaterraum end lich still wurde. Nashua stand die ganzen Stunden still vor der ge schlossenen Tür und versuchte, etwas von den Gesprächen mitzube kommen, die dahinter geführt wurden. Vergebens, denn die dicken Holzbohlen ließen nur gedämpfte Geräusche nach außen dringen. Vorne im »Traum-Theater«, in der Gaststube, hatte mächtig gute Stimmung geherrscht, denn die Erntefeiern wurden stets begleitet von Trinken, Singen und Prügeleien. Nashua hatte sich darum je doch nicht gekümmert, weil Kadil ihr ja noch keine direkte Aufgabe zugewiesen hatte. Schließlich war ja auch sie den ersten Tag in Epra, so wie Kadils seltsame Gäste, deren Schlaf Nashua nun bewachte. Wenn sie überhaupt Schlaf finden würden. Das war wohl der seltsamste Tag in Nashuas jungem Leben gewe
sen, denn die Eindrücke, die Epra bei ihr hinterließ, waren über mächtig. Vater hatte mit keinem Wort übertrieben, wenn er seiner Tochter von der seltsamen Stadt an der Küste erzählt hatte. Den größten Eindruck hatte es auf das Mädchen gemacht, dass dieser Kadil sie so vorbehaltlos bei sich aufgenommen hatte, ganz so, als gehöre sie zur Familie, denn so etwas ähnliches war das »TraumTheater« offensichtlich für alle, die hier arbeiteten und lebten. Und dann waren die vier Fremden gekommen, besser gesagt er schienen. Von den Dingen, die sie und Kadil miteinander bespra chen, begriff Nashua fast nichts. Erst recht konnte sie sich nicht vor stellen, woher die vier kamen, die wie Humarogs aussahen, doch ganz offensichtlich keine waren. Nashua wollte es sich nicht einge stehen, doch der eine von Kadils merkwürdigen Gästen, der düster und unnahbar erscheinende Mann mit den vielen Namen, hatte sie vollständig in seinen Bann gezogen. Warum nannten die anderen ihn einmal Asmodis, dann wieder Sid Amos oder gar Assi? War er mehr als ein einzelnes Wesen? Nein, rief sie sich selbst zur Ordnung. Unsinn! Sie deutete zuviel in diesen Fremden hinein, der anders als seine Gefährten war, die Nashua weniger interessierten. Was für Ge fühle waren das, die sie da in sich aufkommen spürte? Es konnte doch einfach nicht sein, dass sie, eine Lamaria, sich in einen Huma rog … So tief war sie in ihren verwirrten Gedanken versunken, dass sie Kadil erst bemerkte, als er sich mit der ganzen Masse seines Körpers neben Nashua auf dem Boden niederließ. Erschrocken wollte sie hochspringen, doch seine Pranke hielt sie an Ort und Stelle fest. »Immer mit der Ruhe, Kleines.« Nur mit Mühe senkte er die Laut stärke seiner Stimme zum Flüsterton herab. »Nicht erschrecken. Ich hab' dich hier sitzen sehen. Was treibst du hier? Der Stern wird schon bald aufgehen, und du hockst hier vor der Tür wie eine alte Mutter, die ihr Rudel bewachen muss. Hat dir Dünnbacke nicht die Kammer gezeigt, in der du schlafen kannst?« Doch, das hatte er, aber um keinen Preis wollte Nashua irgendet
was verpassen, was mit dem seltsamen Wesen zusammenhing, das ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und sie musste das Ka dil nicht erst lange erklären. Lachend strich er ihr mit der Hand über den Kopf. »Schon klar, Kleine, schon klar, aber du bist doch schlau genug, um zu wissen, dass daraus nichts werden kann, oder?« Als Nashua aufbegehren wollte, fuhr er beruhigend fort. »Ich glaube, du bist ein kluges Mädchen, und unter deinem zweifelsohne hübschen Äuße ren verbirgt sich eine kleine Kämpferin, habe ich recht? Ich bin alt genug, um nicht nur lüstern auf deine Rundungen zu stieren. Ich sehe auch die Muskeln, und ich sehe, wie kräftig und geschmeidig sich dein Schwanz bewegt.« Lächelnd bemerkte er, wie peinlich dem Mädchen seine Worte waren. »Ich denke, du musst dich vor keinem Grauen fürchten, wenn er dir an dein Fell wollte.« Nashua dachte an die beiden Grauen, die sie getötet hatte, und an ihren Bruder Naruuhl. Kadil hatte sie sofort durchschaut, als würde er sie bereits seit Jahren kennen, und nicht erst seit ein paar Stunden, in denen sie kaum zwei Sätze miteinander gewechselt hatten. Ihr Gönner war ein erstaunlicher Lamaria, und Nashua fragte sich, was er sonst noch alles konnte und wusste. »Aber vor deinen Gefühlen fürchtest du dich jetzt, nicht wahr?« Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und lehnte ihren Kopf gegen Kadils mehr als breite Schulter. »Ich kann mich doch nicht in einen Humarog verlieben. Das geht doch nicht.« »Das geht durchaus.« Nashua glaubte sich verhört zu haben. Kadil versuchte zu erklä ren. »In deiner Brut wird es so etwas nicht gegeben haben, denn ihr hattet sicher kaum Kontakt zu Humarogs, aber hier in Epra … nun, solche Verbingungen gab es immer wieder und gibt es auch jetzt, wenn sie auch natürlich kinderlos bleiben. Wenn du erst länger bei uns bist, wirst du noch so manches sehen und hören, das dir un glaublich erscheint. Aber den Dunklen dort hinter der Tür, den
schlag dir aus deinem süßen Kopf, denn er gehört nicht hier hin. Ich glaube, er gehört eigentlich nirgendwo so richtig hin.« Den Sinn von Kadils letzter Bemerkung verstand Nashua nicht, doch sie hatte keine Gelegenheit mehr, nachzufragen. Draußen wurden Schreie laut, und zunächst dachte Nashua, dass sich vor dem »Traum-Theater« eine Schlägerei anbahnte, von denen es in dieser Nacht in Epra sicher unzählige gegeben hatte. Doch nur wenige Augenblicke später drang ein heller Schein durch die Fens ter, und der stammte nicht von dem aufgehenden Stern. Der stammte von einer brennenden Kugel, die mit einem schrillen Kreischen in ein Haus einschlug, das direkt gegenüber dem »TraumTheater« stand. In Sekundenschnelle brannte der gesamte Dach stuhl, und die gefräßigen Flammen griffen gierig um sich. Kadil und Nashua hasteten durch den fast leeren Schankraum nach draußen auf die Straße. Aus dem brennenden Gebäude kamen Lamarias und Humarogs gestolpert: zwei von ihnen standen lichter loh in Flammen und schrien vor entsetzlichen Schmerzen. Aus dem Fenster des zweiten Stockwerks sprang eine Lamaria, die in Panik den Weg nach unten nicht mehr gefunden hatte. Völlig unnatürlich verrenkt blieb sie am Boden liegen. »Da, seht doch!« Dünnbacke war neben Nashua und Kadil aufge taucht und streckte seinen dürren Arm in den Himmel, der von wei teren Feuerkugeln illuminiert wurde. Der Angriff auf Epra hatte begonnen.
Der 1. Kapitän Halfborinn hatte das verabredete Zeichen gegeben, und sieben Schiffe feuerten gleichzeitig ihre Katapulte ab. Der Him mel über der Küste brannte! Schon lange zuvor waren die Beiboote ausgesetzt worden, in denen die Krieger der Roten an Land geru dert waren. Halfborinns Plan funktionierte, denn wie er es vorhergesagt hatte,
war ganz Epra in einer Mischung aus Draahn und Alkohol versun ken, und die sonst so aufmerksamen Wachen machten da keine ech te und ernstzunehmende Ausnahme. Als klar war, dass die Krieger vor der Stadtmauer standen, gab Halfborinn den Befehl für die Ka tapulte, und die Feuerkugeln aus einem Gemisch von Doky-Mist, Gras und Fett leisteten ganze Arbeit. Minuten später herrschte helle Panik in der großen Stadt, und für die Roten würde es fette Beute geben! Doch Halfborinn war nicht so sehr auf die Draahn-Bestände der Stadt aus, denn die waren nicht so groß, um eine solche Aktion zu rechtfertigen. Nein, er wollte die ge rade erst eingeholte Ernte, die Drahnoko-Blüten in ihrer ursprüngli chen Form. Der gesamte Clan hatte ihn deshalb für verrückt erklärt, aber er hatte sich durchgesetzt. Sie würden sich alle noch wundern. Halfborinn spürte, dass jemand direkt hinter ihm stand, als er am Bug seines Schiffes das Werk der Feuerkugeln betrachtete. Er muss te sich nicht umwenden, um zu wissen, wer es war. »Nun, Jorsteinn, wie gefällt dir dieser Anblick?« Der junge Rebell antwortete nicht sofort, sondern stellte sich dicht neben seinen Clansführer und blickte auf die brennende Stadt. Es war ja nicht so, als würde er Halfborinn hassen. Im Gegenteil hatte er ihn immer bewundert, doch nach und nach waren ihm Zweifel an den Fähigkeiten des 1. Kapitäns gekommen. Zudem war er ehrgei zig; er wollte hoch hinaus. Ganz nach oben, und dort stand nun ein mal Halfborinn. Noch. »Ich glaube, du bist verrückt, Halfborinn.« Es fiel Jorsteinn nicht ein, sich unterwürfig zu verhalten. »Du überfällst Epra, willst die Ernte rauben, nur weiß niemand im Clan wirklich, was du damit willst. Wir wollen Draahn, keinen Salat.« Halfborinn sah seinem Gegenspieler direkt ins Gesicht. »Du wirst dein Draahn bekommen, Jorsteinn. Wir alle werden unser Draahn be kommen, und zwar soviel, dass wir nicht wissen wohin damit. Alle werden sich an uns richten müssen, wenn sie ihren Anteil wollen – auch die Länder der Grauen. Du wirst es erleben.«
Jorsteinn drehte sich zu Halfborinn hin, und ihre Gesichter waren jetzt nur noch eine Handbreite voneinander entfernt. Jeder konnte den kalten Atem des anderen auf Fell und Haut spüren. »Wir werden es sehen, Halfborinn. Doch wenn deine Versprechen nur laue Winde sind, werde ich es selbst sein, der dir den Kopf von den Schultern trennt. Das ist mein Versprechen an dich.« Ohne auf Antwort zu warten, ging der junge Rote in Richtung Mittschiffs. Sekundenlang sah der 1. Kapitän ihm nach. Ja, Jorsteinn würde sein Versprechen halten, wenn der Plan missglückte. Doch das würde ganz sicher nicht geschehen. Halfborinn wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen an Land zu. An vielen Stellen brannte es in der Stadt. Nur die Au ßenbezirke mit den großen Silos blieben völlig verschont. Doch dort war schon ein Großteil der Roten Krieger damit beschäftigt, sich der Ernte zu bemächtigen. Die Bewohner Epras würden zu sehr mit dem Löschen ihrer Häu ser beschäftigt sein, um seine Männer daran zu hindern. Halfborinn war zufrieden.
Zamorra und Nicole waren als erste nach draußen geeilt, Tendyke und Asmodis folgten kurz darauf. Das Feuer gegenüber des »Traum-Theaters« hatte auf die nebenliegenden Gebäude überge griffen, und mit Verwunderung stellte Zamorra fest, dass die Be wohner Epras solche Situationen offensichtlich kannten und damit umzugehen wussten. In relativer Ordnung hatten sie Ketten gebildet, Lamarias und Hu marogs gemeinsam. Große Holztröge voll Wasser wurden zügig weitergereicht, und es schien so, als bekäme man den Brandherd schon bald unter Kontrolle. Kadil tauchte neben Zamorra auf. »Warum greifen die Roten uns
jetzt an? Wir kennen ihre Überfälle vom Wasser aus ja, aber doch erst, wenn das Draahn fertig verarbeitet ist. Ich verstehe das nicht.« Nicole wandte sich an den Gastwirt und Künstler. »Was könnten sie dann wollen? Gibt es etwas anderes Wertvolles, dass sie in Epra holen wollen?« Kadil schüttelte den mächtigen Kopf, auf dem das grüne Barett jetzt fehlte. »Nein, nichts. Jedenfalls nichts, was so etwas hier logisch machen würde.« Er deutete auf die brennenden Häuser und die to ten Humarogs und Lamarias, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. »Zudem greifen sie sonst auch gleichzeitig mit ih ren Kriegern an, die sie in Booten an Land bringen.« »Und die sind nirgendwo aufgetaucht?« Robert Tendyke hatte sich von Asmodis abgesondert und zu Zamorra gesellt. Asmodis hinge gen stand abseits und starrte in die Feuersbrunst hinein, als wäre ihm das alles nur allzu bekannt. Zamorra beobachtete aus den Au genwinkeln, dass das Rattenmädchen sich wie selbstverständlich wieder direkt neben Sid Amos aufhielt. »Nein.« Kadil war verwirrt. »Ich habe mich umgehört. Man hat nirgendwo in der Stadt einen Krieger der Roten entdeckt.« »Wer sind denn diese Roten überhaupt?« Kadil antwortete kurz und knapp, was sonst nicht seine Ange wohnheit war. »Piraten, die auf mehrere Inseln verteilt vor der Küs te leben. Sie sind nicht wirklich rot. Sie färben ihr Fell oder ihre Haut nur dunkelrot, das ist ihr Clan-Ethos, sagt man. Es sind Lamarias und Humarogs, die aus vielen Gründen heraus nicht mehr an Land leben wollen oder dürfen, was weiß ich. Für sie gibt es nur ihre Raubzüge.« Zamorra hatte nur mit halbem Ohr zugehört, denn in seinem Kopf kreiste die Frage nach dem Sinn des Überfalls. Und plötzlich war ihm alles klar. »Ich weiß, wo die Krieger sind. Zeig uns den Weg zu den Silos, wo ihr gestern die Ernte eingebracht habt, Kadil. Schnell!« »Unsinn.« Kadil war sich sicher, dass Zamorra falsch lag. »Was wollen die Roten mit den Blüten, ehe sie verarbeitet sind?«
»Das können wir später klären. Jetzt führe uns schon und nimm so viele Leute wie nur möglich mit.«
Der Weg zu den Silos war nicht besonders weit, doch immer wieder wurden sie aufgehalten und mussten Umwege nehmen, weil die »Feuerwehr« der Stadt ihnen den Weg versperrte. Dazu kam, dass Kadil wirklich jeden Lamaria und jeden Humarog der Stadt zu ken nen schien und ständig neue Leute für ihren Trupp rekrutierte. Not dürftig hatten sie sich bewaffnet. Tendyke und Zamorra sahen ein ander ungläubig an, als man ihnen Degen in die Hände drückte, die denen auf der Erde erstaunlich ähnelten. Beide dachten an das glei che: an ihr intensives Fechttraining in Tendyke's Home. Zufall? Oder seltsame Vorahnung? Die Silos lagen am Westrand Epras in direkter Nähe zur Küste. Sie bestanden aus acht rechteckigen Gebäuden, die im Gegensatz zu Epras wilder und bunter Architektur ganz ohne jeden Schnörkel auskamen. Zamorra wurde sofort klar, wie richtig er mit seiner Ah nung gelegen hatte, denn die Silos waren alle geöffnet und der Ab transport der Blütenernte in vollem Gang. Mit einem Wutschrei stürzte sich Kadil auf den ersten Roten, der ihnen den Weg zu ver sperren versuchte. Es war ein Humarog, der sich die Haut tatsäch lich dunkelrot gefärbt hatte, ganz so, wie Kadil es berichtet hatte. Der nach eigenen Aussagen größte Künstler Omrons schien beim Kämpfen keinen besonderen Wert auf kunstvolles Fechten zu legen. Mit einem einzigen Hieb trennte er dem Roten den Kopf von den Schultern, und Zamorra registrierte, welche brachiale Kraft in Kadil schlummerte. Was wie Fett aussah, war zum größten Teil reine Mus kelmasse, die der Chef des »Traum-Theaters« eindrucksvoll umzu setzen vermochte. Mit beiden Händen – oder wäre Pfoten der kor rekte Ausdruck gewesen? – schwang Kadil sein breites Schwert mit einer grimmigen Wut, der Zamorra nicht gerne im Weg gestanden hätte.
Die Roten, die bisher in aller Ruhe ihren Raubzug hatten führen können, stellten sich der kleinen Trupoe um Kadil knurrend und zu allem entschlossen entgegen. »Verflucht, Zamorra, bist du ein Zauberer, oder woher hast du das hier gewusst?« Obwohl ihm drei Rote gleichzeitig das Leben auszu pusten versuchten, konnte Kadil noch Gespräche führen. Zamorra selbst hatte mehr als genug mit einem Roten zu tun, der sein kurzes und breites Schwert wie eine Axt handhabte. Irgendwie erinnerte diese Schwertform Zamorra an den »Gladius«, das römi sche Kurzschwert, und er verfluchte den Degen in seiner Hand, der gegen die kraftvolle Hack-und-Hau-Methode seines Gegners einfach nicht die richtige Verteidigungswaffe war. Doch dann besann er sich darauf, das es ja nicht nur Verteidigung, sondern auch Angriff gab, unterlief die nächste Attacke des roten Lamarias, und stach ihm in einem recht eleganten Ausfall kurzerhand durch die Kehle. Robert Tendyke und Asmodis waren gleichfalls beschäftigt, nur Nicole konnte der Professor in dem Getümmel nicht entdecken. Aus den Augenwinkeln jedoch beobachtete er, wie Nashua eiskalt einen Roten mittels eines blitzschnellen Streiches mit ihrem Schwanz von den Füßen holte, sich wie eine Raubkatze auf ihn warf und ihm mit einem Dolch die Kehle auftrennte. Dieses Mädchen war eine äußerst gut trainierte Kämpferin ohne die geringsten Skru pel. »Wir müssen ihnen den Weg zu den Booten abschneiden. Ver dammt, wir sind viel zu wenige.« Kadils Fluch konnte der Professor nur bestätigen, denn sie standen einer mehr als dreifachen Überzahl entgegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Roten ihrer lästigen Angreifer entledigt haben würden, um dann wieder in aller Ruhe auch die letzten Silos leeren zu können. Zamorra erinnerte sich an Sid Amos' Worte, der von einer nicht greifbaren Magie gesprochen hatte, die diese Welt umfing. Wäre es schwarze Magie, dann könnte Zamorra unter Umständen auf sein
Amulett zählen, doch »Merlins Stern« schwieg beharrlich, konnte mit dieser Magie offenbar auch nichts anfangen. Die Dhyarra-Kris talle … vielleicht, doch dazu bedurfte es Konzentration, für die er auf diesem Schlachtfeld kaum genug Ruhe finden würde. Außer dem konnte man damit auch nicht jedes Wunder vollbringen. Kadil hatte es mit dreien oder vieren seiner Leute geschafft, sich zwischen die Boote und die Roten durchzukämpfen. Doch nun stand er gleich einem Dutzend der Piraten gegenüber. »Kommt nur, ich schneide euch eure verwelkten Ohren ab. Kommt zu Kadil. Er wird euch ein schönes Lied singen, während er euch das Licht auslöscht!« Und der Wahnsinnige begann tatsächlich mit seinem unerträgli chen Organ ein Sauflied der Lamarias zu intonieren, während er, das Schwert wie einen Propeller über dem Kopf rotieren lassend, auf die Gegner einstürmte. Den ersten walzte er mit seiner Masse ein fach um, doch der zweite wäre schon sein Tod gewesen, denn der machte einfach einen kurzen Schritt nach links und hätte Kadil sein Schwert in den Rücken gebohrt, aber wie hingezaubert ragte plötz lich der Griff eines kleinen Dolches aus seinem rechten Auge. Er war tot, ehe er den Boden berührte. Zamorra hetzte hinter Kadil her. Er hatte das alles nur aus ein paar Metern Entfernung beobachten können, doch er fragte sich, wie Nashua es geschafft hatte, so plötzlich und absolut im richtigen Au genblick in der Nähe ihres Wohltäters zu sein. Als sie Zamorras re spektvollen Blick auf sich spürte, grinste sie nur verlegen und zog einen weiteren Dolch aus ihrem Gürtel. Sekunden später war die Situation ganz einfach unhaltbar gewor den, denn das verzweifelt kämpfende Trüppchen um Kadil und Za morra war von den Roten eingekesselt. Wie oft schon hatte der Professor mit seinen Gefährten in ähnli chen Situationen gesteckt? Und immer war im entscheidenden Mo ment etwas geschehen, das ihnen doch noch die Rettung brachte. Jetzt jedoch, auf einem fremden Planeten, der vielleicht nicht einmal
in der gleichen Dimension wie die Erde existierte, schien das Ende unabwendbar. Zamorra fiel nichts anderes ein, als mit dem Dhyarra-Kristall in der linken erhobenen Hand einen verzweifelten Abwehrversuch zu starten, während er mit dem Degen in der rechten die wütenden At tacken der Piraten so gut wie möglich abwehrte. Doch hier und jetzt ließ ihn auch die Kraft des Kristalls aus den Tiefen des Weltraums im Stich, denn es wollte ihm nicht gelingen, sich auch nur ansatz weise ausreichend zu konzentrieren. Beinahe erschien es ihm, als würde ihn irgendetwas daran hindern. Irgendetwas oder irgendwer. Und wieder fielen ihm Asmodis Worte ein. Zamorra sah, wie Robert Tendyke stolperte und fiel, wie Sid Amos sich zwischen seinen Sohn und die Angreifer stellte; er sah, wie Ka dil plötzlich unter einem Knäuel von Roten verschwand, die den mächtigen Körper des Schauspielers und Gastwirts unter sich be gruben; er sah, wie Nashua Rücken an Rücken mit Asmodis einen sinnlosen Kampf ausfocht, und er hörte plötzlich Nicoles Stimme, die von weit entfernt zu ihm drang. Was sie ihm zurief, konnte er nicht verstehen, doch er realisierte, dass seine Gefährtin mit Verstär kung kam. Zamorra konnte sich überhaupt nicht erklären, wie ihr das gelungen war, doch nun schöpfte er wieder Hoffnung. Genau in diesem Moment traf ihn die Klinge an der Schläfe. Sie hätte ihn natürlich töten sollen, denn es fiel den Roten nicht im Traum ein, diese lästigen Gegner auf irgendeine Weise zu schonen, doch der Humarog, der sie geführt hatte, war kein guter Schwert mann. Und so beförderte der ungeschickt gesetzte Schlag den Professor für Parapsychologie nicht aus dem Leben hinaus, sondern nur in eine sehr tiefe Ohnmacht hinein.
Nicole Duval war auf dem Weg zu den Silos ein wenig zurückgefal len, weil sie sich vor einem Teil eines brennenden Dachstuhls in Si
cherheit bringen musste, das genau zwischen sie und die voranstür menden Verteidiger Epras auf die Straße knallte. Ein weniger durch trainierter Mensch hätte dieses Ausweichmanöver nicht schnell ge nug durchführen können, doch nach all den Jahren im Kampf gegen die Schwarze Familie konnte Nicole eine solche artistische Einlage vor keine Probleme mehr stellen. Rasch versuchte sie den Anschluss an Zamorra und die anderen zu finden, doch als sie schließlich die Silos vor sich liegen sah, wa ren die bereits mittendrin im Kampf gegen die Roten, und Nicole sah sofort, dass dieser Kampf bereits jetzt verloren war. Zwei Möglichkeiten blieben ihr. Mit Kampfgeschrei hinein in das Getümmel, oder einen klaren Kopf behalten und Hilfe holen. Sie wunderte sich, dass selbst Asmodis die Aussichtslosigkeit der Akti on nicht vorhergesehen und dementsprechend gehandelt hatte. Er, der sonst seine Chancen kühl und emotionslos kalkulierte und erst dann handelte, wenn das Risiko für ihn überschaubar war! Was war dran an dieser Welt, dass selbst der Teufel höchstpersön lich mit offenen Augen ins Verderben rannte? Nicole drehte sich auf dem Absatz herum und hetzte zurück zum Stadtkern. In ihrem Kopf rotierten die Gedanken. Woher sollte sie Hilfe ho len? Sie kannte hier doch außer Kadil niemanden, und der war im Kampf gegen die Piraten an vorderster Front dabei. Überall brannte es in Epra. Wer würde da auf eine Humarog hören, die eine wilde Story zu erzählen hatte. Die Bewohner Epras hatten jetzt genug mit sich selbst zu tun. Mit jedem Schritt wurde Nicole klarer, dass sie hier sinnlos durch die Straßen lief. Schwer atmend blieb sie stehen und wandte sich um, denn die Angst um Zamorra wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Also wieder zurück? Sie zuckte zusammen, als sich eine dürre, mit graubraunem Fell bewachsene Pfote auf ihre Schulter legte. »Was machst du hier? Wo ist Kadil?« Die quäkende Stimme gehör
te ganz eindeutig zu Dünnbacke, dem jungen Burschen, der im »Traum-Theater« ständig um Kadil herumgewieselt war und offen sichtlich so etwas wie dessen Laufbursche darstellte. »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt, aber dich schickt mir der Himmel!« »Wieso der Himmel …?« Mit dem Ausdruck konnte der Junge nichts anfangen. »Spielt keine Rolle. Hör zu. Sie sind alle zu den Silos und kämpfen gegen die Roten. Wir brauchen Verstärkung. Wir …« »Reichen die?« Mit einer lässigen Handbewegung deutete Dünn backe hinter sich. Nicole glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Dort standen Lamarias und Humarogs, die alle etwa in Dünnbackes Alter waren und die offensichtlich aufgeregte Frau frech angrinsten. Und es waren nicht fünf oder sechs, sondern eher fünfzig, sechzig oder noch mehr von ihnen. Nicole hatte jetzt keine Zeit für Fragen, denn diesen wilden Hau fen hatte ihr wahrscheinlich wirklich der Himmel geschickt. Doch sie nahm sich vor, Dünnbacke bei Gelegenheit zu fragen, wie er die se kleine Streitmacht so urplötzlich hatte zusammentrommeln kön nen. »Schnell, zu den Silos!« Ohne auf Bestätigung zu warten rannte Nicole los. Jede verlorene Sekunde konnte die entscheidende sein, die über Leben und Tod der Freunde entschied. Und mit großem Gejohle folgte ihr die wildeste Bande, die Epra wohl je gesehen hatte.
Die Piraten hatten einen dichten Ring um Zamorra und die anderen geschlossen. Nicole wusste, was in wenigen Augenblicken gesche hen würde, denn für die Übermacht der Roten war es jetzt ein Leich tes, in einer einzigen Attacke die eingekesselten Gegner niederzu
metzeln, weil deren Aktionsradius ganz einfach zu klein war. Sie sah, wie Robert stürzte und sich sein ihm verhasster Dämonenvater schützend vor ihn stellte. »Durchhalten, wir kommen! Zamorra, Hilfe kommt!« Nicole ver suchte mit ihrer Stimme das Klirren der Waffen zu übertönen, doch sie war sich nicht sicher, ob ihr das auch gelang. Und dann sah sie Zamorra zu Boden gehen! Aus der Entfernung konnte sie keineswegs erkennen oder ein schätzen, ob die Klinge ihn schwer verletzt hatte, doch das Band, das sie mit ihrem Lebenspartner verband, sagte ihr, dass Zamorra noch lebte; wäre es anders gewesen, hätte Nicole das sofort gespürt. Dünnbacke trieb seine kleine Armee aus Straßenburschen mit lau tem Gebrüll an, und seltsamerweise kam es Nicole nun so vor, als hätte sie plötzlich nicht mehr den schüchternen, spindeldürren Jun gen mit der Kieksstimme neben sich, sondern einen befehlsgewohn ten Anführer, der mit knappen Befehlen seine Leute dirigierte. Der Junge war erstaunlich. Die Roten sahen, was da auf sie zugestürmt kam. Die Messer, Sen sen und Knüppel in den Händen der anrückenden Verstärkung, die offensichtlich zu allem entschlossen war, trieben die Piraten zum Rückzug. Der Ring um Kadil und die anderen löste sich auf, doch außer Asmodis und Nashua stand keiner von ihnen mehr auf den eigenen Füßen. Nicole und Dünnbacke jagten hinter den nun kopflos fliehenden Roten her, die nur ein Ziel hatten: die Boote erreichen und weg von hier. »Wir müssen sie am Ablegen hindern.« Dünnbacke wollte die Ern te retten, die schon zu einem großen Teil in den Booten der Piraten verstaut worden war. Nicole warf einen Blick zurück und sah, dass Nashua und Asmodis sich um die Verwundeten kümmerten. Dünn backes Bande stellte die Fliehenden. Nicole hob ein auf dem Boden liegendes Kurzschwert auf, das einer der Roten bei seiner Flucht verloren haben musste. Die Waffe war schwerer, als sie es vermutet
hatte, doch ihre Armmuskulatur war gestählt. Zwei Rote stellten sich ihr in den Weg, glaubten leichtes Spiel mit der Frau zu haben, und bereuten ihren Glauben Sekunden später. Nicole glich ihr Manko an Muskelmasse gegenüber den beiden La marias mit ihrer Schnelligkeit aus. Ihre rechte Fußspitze traf den ers ten Gegner exakt am Ellbogen seiner Schwerthand und paralysierte sie. Kraftlos ließ er die Waffe fallen und lief in seiner Vorwärtsbewe gung direkt in Nicoles Schwert hinein. Der zweite agierte vorsichti ger und brachte sich zunächst aus der Reichweite von Nicoles Bei nen, die ihm zu schnell und treffsicher waren. Sein folgender An griff war ungestüm und auf ein rasches Ergebnis ausgerichtet, doch Nicole parierte, wenn auch mit Mühe, den von oben geführten Schwertstreich und durchbohrte in der Gegenbewegung den Ober schenkel des Lamaria. In diesem Moment wurde der Himmel erleuchtet, denn eine weite re Feuerkugel raste schrill pfeifend direkt auf die Silos zu und schlug treffsicher in eines der aus Holz gebauten Lagerhäuser ein. Für die Dauer eines Atemzugs ließ sich Nicole davon ablenken. Brutal wurde sie von einer mit Fell bewachsenen Pranke herumge rissen. Eine geballte Faust, die ihr ganzes Sichtfeld einzunehmen schien, war der letzte Eindruck, den sie für die folgenden Stunden bewusst wahrnahm. Nicole Duval teilte Zamorras Schicksal.
3. Irgendwer hat einmal eine Statistik erstellt, in der es um die »zehn größten Küsse der Weltliteratur und der Geschichte der Menschheit« geht. Darin ist zu lesen von Romeo und Julia, von Cäsar und seiner ägyp tischen Geliebten namens Cleopatra, bis hin zum Kuss, den Judas dem Jesus von Nazareth gab, um ihn zu verraten und ans Kreuz zu bringen. Sollte es je eine ähnliche Auflistung mit dem Titel »die zehn größten Brummschädel der Weltgeschichte« geben, so hätte der von Zamorra eine gute Chance gehabt, einen der ganz vorderen Plätze zu belegen. Der Professor benötigte mehrere Anläufe, um wieder zu sich zu kommen. Immer wieder war die Ohnmacht stärker als der Wille, wieder in die Wachwelt zurückzukehren. Als er es schließlich doch schaffte und mit erheblicher Mühe die Augen öffnen konnte, blickte er nicht, wie erhofft, in Nicoles sorgenvolles Gesicht, sondern in das von Sid Amos, der es tatsächlich schaffte, so etwas wie ein freundli ches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern. »Willkommen zurück auf Omron.« Zamorra schloss erneut die Augen, denn irgendwo hatte er doch ganz leise die Hoffnung gehabt, ganz einfach in seinem Bett im Château Montagne aufzuwachen und den dummen Traum von ei ner Welt mit Ratten und Menschen schnell wieder zu vergessen. »Bleib liegen, Zamorra.« Sid Amos drückte den Professor sanft zu rück, der einen Versuch gestartet hatte, sich aufzurichten. »Die Klin ge, die deinen Dickschädel getroffen hat, war gut geschmiedet. Wenn der Rote ein wenig besser mit ihr hätte umgehen können, wärst du jetzt schon in meinem früheren Hoheitsgebiet.« Zamorra verkniff sich ein Grinsen, denn allein der Gedanke daran, sein Ge sicht auch nur irgendwie verziehen zu müssen, trieb ihm dicke
Schweißperlen auf die Stirn. Mit Mühe und Überwindung presste er ein paar Worte hervor. »Was ist passiert? Wo sind die anderen … wo ist Nici?« Asmodis' Lächeln verschwand schlagartig. »Sie leben alle. Robert hat eine Fleischwunde an der Schulter. Nichts von Bedeutung, wie er selbst sagt. Kadil hat einen Schädel aus Stahl, denn der hat Prügel einstecken müssen, die einen Ochsen umgebracht hätten, doch der Irre steht schon wieder auf den Beinen und hilft bei den Aufräumar beiten draußen. Nashua hat überhaupt nichts abbekommen. Die Kleine ist erstaunlich.« Hätte das Mädchen diese Worte gehört, wäre sie sicher vor Stolz geplatzt. »Die Roten sind geflohen, nachdem sie die Silos komplett in Brand gesetzt hatten.« Zamorra sah Asmodis fragend an. »Eine dieser Feuerkugeln, offenbar ganz gezielt eingesetzt. Die ge samte Ernte ist entweder geraubt oder verbrannt. Aber wir alle le ben nur noch, weil Nicole mit diesem Dünnbacke und einer ganzen Bande von jungen Burschen noch rechtzeitig aufgetaucht ist. An sonsten hätte uns auch ein Wunder nicht mehr retten können.« »Sid, wo ist Nicole?« Zamorra ahnte, dass ihm die folgende Ant wort nicht gefallen würde. Asmodis stand auf und ging im Raum umher. »Entführt, Zamorra. Die Roten haben sie niedergeschlagen und mitgenommen. Dünnba cke hat alles beobachtet, konnte aber nicht mehr eingreifen. Sie ist auf eines der Schiffe der Roten gebracht worden. Mehr wissen wir alle nicht.« Zamorra schloss die Augen. Das war genau die Situation, die sie hier am allerwenigsten gebrauchen konnten. Wenn sie einen vorzei tigen Weg zurück zur Erde suchen wollten, oder im Notfall auf die kommende Drahnoko-Blüte warten mussten, dann ging das nur ge meinsam. Und nun war ein Mitglied des kleinen Teams in Gefan
genschaft geraten. Mit der rechten Hand tastete Zamorra nach Merlins Stern. Das Amulett war noch da. Nicole hätte es per Gedankenbefehl zu sich gerufen, wenn sie in großer Gefahr gewesen wäre, obwohl Merlins Stern sich in dieser Welt bisher als nutzlos erwiesen hatte. Zamorra kam ein Gedanke. »Sid, nimm mein Amulett. Frag nicht wieso. Ich muss etwas versuchen.« Asmodis löste die Silberscheibe von Zamorras Hals, wo es an der Kette mit Schnellverschluss befestigt war. »Jetzt geh aus dem Zimmer und warte einige Sekunden.« Als er allein war, rief der Professor das Amulett zu sich. Nichts geschah, auch nicht beim zweiten und dritten Versuch. Es reagierte nicht auf seine Gedankenbefehle. Unter normalen Umstän den hätte es längst in seiner Hand materialisieren müssen, unabhän gig davon, ob ihm eine Tür, eine Wand oder ein Gebirge im Wege stand. Asmodis kam in den Raum zurück und sah Zamorra fragend an. »Was ist los? Du hast es gerufen, nicht wahr?« Zamorra nickte gequält und nahm Merlins Stern wieder an sich. Langsam erwachten seine Lebensgeister wieder, und er war nun schon in der Lage, sich aufrecht zu setzen. »Weißt du, was das be deutet, Sid?« Der nickte bedächtig, ließ den Professor jedoch ausreden. »Du hattest recht. Diese Welt besitzt eine Magie, doch die unter scheidet sich so grundlegend von all dem, was wir kennen, dass auch unsere Hilfsmittel hier nutzlos sind. Ich konnte bei dem Kampf an den Silos auch meinen Dhyarra nicht aktivieren. Mir kam es so vor, als würden meine Versuche, den Kristall einzusetzen, blockiert. Etwa so, als würde meine ganze Konzentration auf eine zähe Masse prallen. Ich kann es nicht besser erklären.« »Das sind exakt meine Eindrücke, Zamorra.« Sid Amos hatte sich auf die Bettkante gesetzt. »Viel mehr, als meinen kleinen Zauber
trick gestern Abend, mit dem ich Kadil zum Schweigen gebracht habe, bekomme ich hier auch nicht hin. Ich habe es versucht, mit all dem, was ich heute noch so kann.« Er unterbrach sich, und sah den Professor an, auf dessen Stirn man deutlich die Frage ablesen konn te, was das denn wohl so alles war. Asmodis grinste matt und fuhr fort. »Nichts will richtig funktionieren, und dein Vergleich mit der zähen Masse stimmt auffallend. Ich komme mir vor, wie in einem Schwimmbecken voller Gelatine … ich kann strampeln und rudern wie ich will, es geht keinen Zentimeter voran.« »Das bedeutet, wir sind auf unsere Muskeln und das bisschen Hirnschmalz angewiesen, wenn wir aus dieser vertrackten Situation herauskommen wollen.« »Ich wundere mich schon, wie relativ gefasst du bist, Zamorra.« Sid Amos sah seinem ehemaligen Erzfeind gerade in die Augen. »Immerhin ist Nicole verschwunden, und niemand weiß, wie es ihr jetzt geht oder wo sie ist. Vielleicht ist sie sogar …« Zamorra unterbrach ihn. »Tot? Nein, das würde ich spüren. Sie lebt, aber von gefasst kann keine Rede sein, auch wenn man Nicole und mich in den vergangenen Jahren schon unzählige Male auf ähn liche Art und Weise getrennt hat. Sie kann sich ihrer Haut sehr gut alleine wehren, wie du sicher noch gut in Erinnerung hast.« Der Professor spielte auf die Tatsache an, dass es Nicole gewesen war, die dem damals amtierenden Höllenfürsten auf der Welt As h'Naduur mit dem Zauberschwert Gwaiyur die rechte Hand abge schlagen hatte. Seither trug Asmodis eine Prothese … Wenn die bei den sich schon vorher nicht gemocht hatten, so hatte diese Tatsache anschließend ganz sicher nicht für den Beginn einer wunderbaren Freundschaft gesorgt. Dementsprechend ironisch kam Sid Amos Antwort. »Aber, aber, alte Geschichten, Zamorra. Ich sorge mich wirklich um meine liebste Freundin.« Beide mussten grinsen, doch der Professor wurde schnell wieder ernst. »Ich werde diesen ›Roten Piratten‹ meine Aufwartung machen.
Wer weiß, vielleicht erfahre ich dabei noch mehr über diese irre Welt. Zum Beispiel, warum sie Epra überfallen haben, obwohl das Draahn ja noch gar nicht fertig war. Was wollen die mit den Blüten? Begleitest du mich? Ich bin sicher, Robert wird auch mit von der Partie sein.« Asmodis musste nicht antworten, denn die Frage war eher rhetori scher Art gewesen. Natürlich würde er dabei sein, wenn es galt, Ni cole zu befreien. Wenn das überhaupt notwendig war, denn Asmo dis war beinahe davon überzeugt, dass es eher so sein würde, dass man die Piraten von Nicole Duval befreien musste. Zumindest konnte er sich das gut vorstellen.
Du spürst sie, nicht, wahr? Ja, ich spüre sie deutlich. Woher kommen sie? Sie gehören nicht auf meine Welt. Du bist verunsichert, weil etwas geschieht, das nicht zu deinem Spiel ge hört. Gib es zu. Ich gebe überhaupt nichts zu. Du mischst dich schon wieder ein. Halte dich 'raus. Ich bestimme, es ist meine Welt, es sind meine Ein drücke. Aber sie stören dich. Ja, bist du nun zufrieden. Gib Ruhe. Ich werde damit fertig. Allei ne und ohne dich. Aber sie stören dein Spiel. Mehr noch: sie spielen mit. Sie spielen gut, nicht wahr? Nicht mehr lange. Ich werde sie löschen. Du weißt genau, dass das nicht leicht sein wird – ich fühle Ähnlichkeit. Ähnlichkeit, ja. Halte dich raus, halte dich doch endlich raus.
Halfborinn tobte. Natürlich war die ganze Aktion kein Fehlschlag, doch was seine Leute an Bord der Schiffe gebracht hatten, war nur knapp die Hälfte vom Inhalt der Silos. Zum Glück hatte man ihm noch rechtzeitig zu getragen, das irgendwer in Epra sein wunderbares Ablenkmanöver durchschaut hatte und der Landetrupp in Kämpfe verwickelt wor den war. Die letzte, die entscheidende Feuerkugel, hatte er persönlich abge feuert. Es gab auf allen Inseln keinen besseren Schützen als ihn, den 1. Kapitän. Wenn man schon so viel von den Blüten zurücklassen musste, dann sollte auch niemand anders einen Nutzen daraus zie hen können. Nicht die Epraner, erst recht nicht die Grauen. Nun gut, es war auch so genug Material vorhanden, um ausrei chend Draahn daraus zu gewinnen. Und das würde in seinem Clan geschehen, auch wenn die anderen Kapitäne murrten, denn für sie war es unter der Würde eines Roten, sich wie ein Bauer um die Ver edelung einer Pflanze zu kümmern. Sie würden sich daran gewöh nen müssen. Und an viel mehr noch, denn in Halfborinns Kopf gab es ein Bild, das für ihn die Zukunft der Inseln bedeutete: DrahnokoFelder, soweit das Auge reichte. Warum sollten die Pflanzen nicht auch auf den Inseln gedeihen? Man musste es einfach versuchen. Es konnte doch nicht ewig so weitergehen, dass das Leben der Roten nur aus Raubzügen bestand. Er musste seine Leute nur erst noch da von überzeugen, dass auch in ihnen Bauern steckten. Wenn es sein musste, würde Halfborhm das mit dem Schwert in der Hand tun! Das war das Vermächtnis, das er seinem bunt zusammengewürfel ten Volk hinterlassen wollte, wenn er denn einmal abtreten musste. Natürlich war das für Leute wie Jorsteinn ein gefundenes Fressen, um ihren Zielen nähet zu kommen. »Euer Erster Kapitän ist ein Bauer. Pah, wer hat so etwas schon je gehört, die gefürchteten Roten sollen ihr Draahn selbst herstellen, es sogar anbauen. Man wird auf ganz Omron über uns alle lachen. Halfborinn ist alt, es wird Zeit, dass ein anderer …« Und so weiter
und so fort. Und viele der Roten waren ganz ähnlicher Meinung. Aber Halfborinn wollte hart bleiben und seine Ziele schließlich doch durchsetzen. Auf sein Kommando hin zogen sich die Schiffe aus dem Küstenbe reich zurück. Noch immer brannte es in Epra an unzähligen Stellen, doch die Bewohner der Stadt würden das in den Griff bekommen. Viel schlimmer musste sie die Tatsache treffen, dass die gesamte Ernte eines halben Umlaufs verloren war. Das war ein wirkliches Problem, das ihn, Halfborinn, jedoch nichts anging. Warum man ihm jedoch dieses Humarog-Weib an Bord ge schleppt hatte, war Halfborinn ein echtes Rätsel. Sicherlich, wenn man sie mit den Augen eines Humarogs betrachtete, fielen einem bei ihrem Anblick die schönsten Sachen ein, die man gemeinsam mit ihr erleben könnte. Doch Halfborinn war ein Lamaria, und auch wenn es zwischen den beiden Rassen keine grundlegenden Körper merkmale gab, die eine körperliche Verbindung verhindert hätten, so blieb er doch lieber bei seiner eigenen Spezies, wenn es um ge wisse Dinge ging. Man hatte ihm berichtet, dass die Frau maßgeblich daran beteiligt gewesen war, dass sein Plan nicht vollständig geklappt hatte. Und Halfborinn hasste es, wenn ein Plan nicht funktionierte. Gut, sollten seine Männer sich um das Weib streiten, darin waren sie ja geübt. Der Wind stand gut. Die Inseln würden bald erreicht sein, und dann begann für Halfborinn die eigentliche Arbeit, denn er musste versuchen, aus einem halbverwilderten Haufen Galgenstricke eine halbwegs funktionierende Einheit zu formen. Viel Zeit blieb ihm dazu nicht, denn die Drahnoko-Blüten mussten schon bald nach ih rer Ernte verarbeitet werden, weil sonst kein anständig wirkendes Draahn daraus zu gewinnen war. Und Halfborinn wollte gutes Draahn herstellen – das beste, dass Omron je gesehen hatte.
Mach dir nichts vor, Nicole Duval. Du hast dich wie eine blutige Anfänge rin überrumpeln lassen. Nicole war wütend auf sich, und auch die nicht unerheblichen Kopfschmerzen konnten sie von Selbstvorwürfen nicht abhalten. Kein Selbstmitleid, denn dazu fehlte ihr die Zeit. Verwundert war sie nur, dass man sie im allgemeinen Kampfgetümmel nicht einfach liegen gelassen hatte. Andererseits gab es in der Erdgeschichte ja die wildesten Geschichten um von Piraten geraubte Frauen; wenn diese Roten mit den irdischen Freibeutern gleichzusetzen waren, hatten sie vielleicht die günstige Gelegenheit genutzt, um den Frauenanteil ihrer Gemeinschaft zu erhöhen. Nicole war im Bauch eines der großen Schiffe erwacht, von denen aus Epra mit den verheerenden Feuerkugeln beschossen worden war. Mit Fesseln an Händen und Füßen lag sie inmitten der hastig an Bord gebrachten Blüten der Regenbogenblumen, der DrahnokoBlüten, wie sie hier ja genannt wurden. Ein angenehmes und wei ches Lager, musste sie zugeben, auch wenn ihr nach Ironie momen tan nicht der Sinn stand. Was wollten die Roten nur mit der Ernte? Ein Ruck ging durch den Schiffskörper, kaum, dass Nicole wieder klar denken konnte und damit begann, sich um das Lösen ihrer Handfessel zu kümmern. Ein Anlegemanöver. Das Schiff hatte sei nen Zielhafen anscheinend erreicht, und Nicole fragte sich, wie lan ge sie wohl ohne Bewusstsein gewesen war. Die Luke über ihr wurde geöffnet, und der Kopf eines recht jun gen Humarogs erschien. Hübscher Kerl, war Nicoles erster Gedan ke, doch der grimmige Ausdruck in seinem wilden Gesicht ver wischte den ersten Eindruck nachhaltig. Mit einem verwegenen Satz, die an der Wand angebrachten Metallsprossen ignorierend, sprang der Rote in den Laderaum und landete nur knapp neben der Gefangenen. Wortlos hob er sie hoch, als wäre sie nichts weiter als ein Federkissen, warf sie über seine breiten Schultern und zog sich scheinbar ohne Anstrengung an den Wandhaken nach oben. Nicole war zu verblüfft, um Protest anzumelden. Zamorra hätte sich ge
wundert, denn eine sprachlose Nicole Duval war wirklich eine abso lute Seltenheit.
Das war nun tatsächlich der wildeste Haufen, den Nicole je gesehen halte. An Deck des Schiffes hatte der Kraftprotz sie einfach achtlos neben einen der Masten abgelegt und machte sich daran, den ande ren beim Löschen der Ladung zu helfen. Lamarias und Humarogs, wild durcheinander, mit rot gefärbtem Fell oder in gleicher Farbe bemalter Haut, hasteten an Nicole vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, das sie hier beobachten konnte. Der Teil des Schiffes, den sie einsehen konnte, erinnerte sie an eine Kogge, also nicht unbedingt an ein wendiges, schnelles Kriegsschiff, wie man bei Piraten vielleicht hätte vermuten können. Doch für Kaperfahrten, und um die ging es ihnen ja, war diese Bauweise mit dem großen Lagervolumen perfekt. Schließlich galt es, die Beute problemlos nach Hause zu bringen. Aber es war nicht das Schiff, das Nicole Duval mit offenem Mund staunen ließ, sondern die Besatzung. Bunt war keine ausreichende Beschreibung. Bizarr traf es genauer. Eine strenge Kleiderordnung konnte man von Freibeutern sicher nicht erwarten, doch das hier war schlicht und ergreifend Karneval. Hosen mit langen, kurzen, zwei oder auch nur einem Bein, manchmal auch Röcke, die einfach um die Hüften gewickelt und mit einem Seil gesichert waren. Schu he konnten, mussten aber wohl nicht unbedingt sein, und wenn, dann waren es eher Lederlappen, die mehr behinderten als schütz ten. Hemden, Blusen, Jacken, Umhänge, die wie Ponchos gearbeitet waren, dann Hüte, Kappen, Tücher, und das alles und ausnahmslos in allen Schattierungen, die die Farbe Rot zu bieten hatte. Viele der Piraten waren jedoch ganz einfach splitternackt und über und über mit fantasievollen Mustern bemalt. Das waren vorwiegend jedoch nicht die üblichen Tattoo-Muster, wie man sie auf der Erde zu sehen bekam, sondern richtige kleine
Gemälde, die offensichtlich Geschichten erzählen sollten. Natürlich spielten viele dieser Szenen auf See, doch Nicole entdeckte auch Be malungen, die Städte zeigten, Schlachten, sportliche Wettkämpfe oder einfach nur Gesichter, die fast schon lebendig wirkten. Das Entladen der Beute ging rasch vonstatten, und es wurde be gleitet von Gelächter und Liedern, deren Rhythmus den Takt der Arbeit bestimmten. Omrons Shantys, dachte Nicole, die sich noch im mer nicht sattgesehen hatte und vorübergehend vergaß, dass sie ja Gefangene an Bord war. Ein Schatten fiel über sie, der die Sonne regelrecht zu schlucken schien. Nicole sah hoch und blickte in das ernste Gesicht eines La marias, bei dem sie keine Sekunde einen Zweifel daran hatte, wer er sein musste. Das war der Chef an Bord, vielleicht sogar noch mehr als das! Der Blick des Lamarias ruhte lange auf ihr, und sie sah nichts Böses darin, sondern vielmehr Sorge und Nachdenklichkeit, vielleicht auch ein wenig Unruhe. Doch das alles galt nicht Nicole, da war sie ganz sicher, denn der Lamaria blickte durch sie hindurch, und als er sich von ihr abwandte, war sie davon überzeugt, dass er sie im gleichen Augenblick vollkommen vergessen hatte. Wenn das der »Oberpirat«, der 1. Kapitän der Roten war, dann hatte Nicole Hoffnung, denn in ihm brannte ein Feuer, das nichts mit Machtstre ben und sinnlosem Töten zu tun hatte. Schließlich war es wieder der gutaussehende, aber offensichtlich schlecht gelaunte Humarog, der sich um Nicole kümmerte. Wortlos nahm er ihr die Fußfesseln ab und drängte sie in Richtung der Bord wand, wo eine stabil erscheinende Planke als Gangway fungierte. Nicole startete einen Versuch, den Kerl aus der Reserve zu locken. »Alles aussteigen. Viel Vergnügen beim Landgang, und fahren sie recht bald wieder einmal mit uns.« Natürlich konnte er den Sinn ihrer Worte nicht einordnen, doch mit einer Reaktion hätte die schöne Französin dann doch gerechnet. Doch es kam keine, und Nicole platzte der Kragen. »Was ist? Hast du deine Zunge gefrühstückt, oder ist es unter dei
ner Würde, mit einer Frau zu reden, du ungehobelter Klotz?« Verblüffung zeichnete sich auf dem herben Gesicht des Mannes ab, doch dann stahl sich ein Grinsen hinzu. »Reden ist verschwende te Zeit. Du bist frech, außerdem hast du zwei unserer Leute über die Klinge springen lassen. Warum sollte ich mit dir reden? Geh an Land, vorwärts.« »Gut, sprechen kannst du zumindest. Hast du auch einen Namen? Man will schließlich wissen, über wen man sich beschweren kann.« Nicole trieb es weit, das war ihr klar, doch dieses Risiko musste sie einfach eingehen. Sie brauchte Kontaktpunkte bei den Roten, denn auch wenn ihr klar war, dass Zamorra und die anderen, wahr scheinlich selbst Assi, sie suchen würden, konnte es durchaus eine längere Zeitspanne werden, die sie hier würde verbringen müssen. »Ich bin Jorsteinn, aber das wird dir nicht viel nutzen, denn eine Sklavin kann sich schlecht beschweren. Dennoch solltest du meinen Namen nicht vergessen.« Die grimmige Komponente seines Ge sichts übernahm wieder die Oberhand. »Mein Name wird bald wichtig auf den Inseln der Roten werden.« Ohne Nicole die Chance zu einer Antwort oder Gegenfrage zu lassen, schob er sie roh über den Laufsteg. Nicole sah sich um. Als Hafen konnte man das, was vor ihr lag, nicht bezeichnen, eher als »wilden Anlegeplatz«. Sie konnte das Schiff nun von außen betrachten. Es hatte tatsächlich große Ähnlich keit mit den Koggen, wie man sie auf der Erde kannte. Die Lastseg ler waren das Haupttransportmittel der Hanse gewesen und wur den zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert ständig weiterentwickelt. Auf dem Deck erkannte Nicole die großen Katapulte, die zwar pri mitiv gebaut schienen, ihren Zweck jedoch voll und ganz erfüllten, wie Epra leidvoll zu spüren bekommen hatte. Das Pulver hat man auf Omron offensichtlich nicht erfunden, im wahrs ten Sinne des Wortes, dachte Nicole und war froh darüber. Jorsteinn überwachte den Abtransport der Blüten, gab ganz selbst verständlich Kommandos und trieb die Roten zu Eile an. Niemand
widersprach ihm, also gehörte der rohe Kerl zur Führungsspitze der Piraten. Nicole nahm sich vor, mehr über diesen Mann in Erfahrung zu bringen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekam. »Halfborinn hat bestimmt, dass du zu den Draahnmachern kommst. Sie sind noch nicht lange auf der Insel und brauchen Hilfe. Du wirst dort viel arbeiten müssen, vorlautes Weib, aber vielleicht stellst du dann nicht mehr so viele dumme Fragen.« Jorsteinn hatte den Begriff »Draahnmacher« ausgesprochen, als handelte es sich da bei um eine den Tod bringende Seuche. Warum hasste und verach tete er diese Leute offensichtlich aus tiefstem Herzen? Nicole Duval halte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn auf den Wink Jorsteinns hin fuhr ein klappriger, von zwei Dokys gezogener Karren vor, der von einem nackten Lamaria gelenkt wurde. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Vorläufig zu mindest. Mit gerunzelter Stirn enterte Nicole das Gefährt. Jorsteinn war längst mit anderen Dingen beschäftigt, und beachtete sie mit keinem Blick mehr. Wir sehen uns wieder, du Stockfisch, dachte sie verdrossen. Der Karren setzte sich ruckelnd in Bewegung. Wohin auch immer man sie schicken mochte, so ganz hilflos war sie jedenfalls nicht, denn da war ja noch immer der Dhyarra-Kristall, den sie notfalls einsetzen konnte. Aber als sie danach tastete, blieb ihr beinahe vor Schreck das Herz stehen, denn der Kristall war fort. Verloren? Vielleicht. Wahrscheinlich hatte man sie gefilzt und ihr den wertvollen Besitz abgenommen. Nicole atmete tief durch und mahnte sich selbst zur Ruhe. Alles würde sich finden, wenn Zamor ra erst einmal hier war, und im schlimmsten Fall konnte sie Merlins Stern per Gedankenbefehl zu sich rufen. Obwohl sie nicht wusste, wogegen das Amulett hier helfen sollte. Eine seltsame Unruhe hatte sie ergriffen, und sie konnte einfach nicht widerstehen: Nicole star tete einen Versuch und rief nach der Silberscheibe. Nichts geschah.
So langsam wurde ihr die Lage, in der sie und die anderen steck ten, erst richtig bewusst. Der Dhyarra verschwunden, das Amulett schien vollkommen abgeschaltet zu sein, die nächste Blüte war in weiter Ferne. Zu alledem hatte man sie voneinander getrennt. Die holperigen Wege, über die das altersschwache Gefährt rum pelte, schüttelten Nicole Duval unsanft hin und her. Doch das nahm sie kaum wahr, denn in ihrem Kopf hatte sich ein schreckliches Bild aufgebaut, eine schlimme Vorahnung. Und in der sah sie sich mit Zamorra, Tendyke und Asmodis für alle Zeiten auf dieser ver dammten Welt hocken, als Draahnmacher, Doky-Züchter oder Schauspieler in Kadils »Traum-Theater«. Nicole schloss die Augen und gab sich ihrer aufkeimenden Pa nikattacke hin.
Am nächsten Morgen erwachte sie ausgeruht und frisch im weichs ten und bequemsten Bett, das man sich nur vorstellen konnte. Die Fahrt mit dem schrottreifen Fuhrwerk hatte noch mehrere Stunden gedauert, und nachdem Nicole sich ein wenig beruhigt hat te, stellte sie sich die Frage, welche Abmessungen diese Insel wohl haben konnte, und vor allem wie viele Inseln es insgesamt geben mochte. Schließlich erreichten sie das Ziel, eine mittelgroße Ansiedlung, die direkt an einem kleinen Fluss lag. Am Rand des Dorfes hielt der Karren, und aus einem der recht stabil gebauten Häuser, die mit ih ren flachen Dächern gedrungen und irgendwie zu klein geraten wirkten, kamen zwei Humarogs, die Nicole freundlich begrüßten und ihr vom Wagen halfen. Erst jetzt bemerkte sie, dass die stundenlange Fahrt ihr Hinterteil mächtig in Mitleidenschaft gezogen hatte. Es stand zu befürchten, dass das Sitzen in den nächsten Tagen eher unangenehm werden würde.
Die beiden Humarogs waren Draahnmacher, ein Ehepaar, beide hoch in den Fünfzigern, und stellten sich als Isia und Kurat vor. Freundlichere Leute hatte Nicole selten zuvor getroffen, und das nicht nur auf Omron. Die kommenden Stunden kümmerten sie sich wirklich liebevoll um ihren Gast. Als solchen sahen sie Nicole an, auch wenn sie nur zu gut wussten, dass man ihnen jemanden ge schickt hatte, der alles andere als freiwillig zu ihnen kam. Ein or dentliches Essen wartete bereits auf Nicole und eine große Wanne voll warmen Wassers. Erst nach dem Bad fühlte sie sich wieder wie ein Mensch. Nun war sie aufnahmebereit für das, was ihren Gastge bern auf den Zungen brannte. »Wir sind freiwillig auf der Insel, Kindchen.« Isia schien Nicole wohl als so eine Art Ziehtochter anzusehen, und Kurat lächelte sei nen Gast nur milde an, während er ununterbrochen an einer grob geschnitzten Pfeife sog, die immer wieder verlosch und neu entzün det werden musste. »Halfborinn hat uns geholt, weil er hier eigenes Draahn herstellen will.« Und dann erfuhr Nicole von den Ambitionen des 1. Kapitäns Half borinn, der aus der wilden Horde der Roten ein Volk von Händlern und schließlich sogar Bauern machen wollte. Nicole war sofort klar, dass es Halfborinn war, den sie an Bord des Schiffes gesehen hatte. Und sie erfuhr von den Unruhen, die dieser Plan in die Reihen der Roten gebracht hatte, und wer Halfborinns erbittertster Gegenspie ler war – Jorsteinn, der Stockfisch. Bravo, Nicole, ging es ihr durch den Sinn, da hast du dich ja wieder einmal ganz treffsicher mit dem falschen angelegt … wirklich gut gemacht. Halfborinns Plan war natürlich schlau, denn wenn er gelang, konnten die Inseln auf Dauer gesehen ein Handelspartner für die Grauen werden, ein Partner jedoch, den man nicht so leicht überfal len und ausrauben konnte, wie das bei den Sippen an der Küstenre gion der Fall war, denn Inseln waren gut zu verteidigen, und mit den Roten war eh nicht zu spaßen. In erster Linie jedoch ging es dem Kapitän um Unabhängigkeit für
seine Leute. Doch aus Kriegern Bauern zu machen, hatten auch wei se Herrscher in der Geschichte der Erde oft genug versucht. Zumeist jedoch ohne den erhofften Erfolg. Schließlich konnte Nicole sich der großherzigen Gastfreundschaft der beiden Draahnmacher entziehen, denn ihr fielen im Sitzen die Augen zu. Es war ein wirklich tiefer und entspannender Schlaf, in den sie schließlich hier, in ihrem Zimmer, gefallen war. Draahnmacher! Nicole konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie zwei so liebe und höfliche Wesen wie Isia und Kurat zu so einem Beruf gekommen waren. Wahrscheinlich durch Familientradition, ähnlich, wie es auch auf der Erde oft der Fall war. Mit Grausen dachte Nicole daran, dass sie den beiden bei der Her stellung der Droge helfen sollte. Natürlich konnte sie versuchen zu fliehen, doch was brachte ihr das? Auf der Insel fing man sie wahr scheinlich schnell wieder ein. Aber wenn sie hier blieb, würde Za morra sie vielleicht schneller aufstöbern können. Es gab jedoch in Nicoles Leben einige Dinge, die für sie Gesetz wa ren, und dazu gehörte ganz eindeutig, dass sie Drogen jeglicher Art verabscheute. Zamorra sah das ebenso und auch die anderen Mit glieder des Teams. Da gab es keine Ausnahme. Wie auch immer es ihr gelingen mochte – Nicole Duval würde kein Draahn herstellen. Auch wenn dieser ganze Planet offensichtlich den Gebrauch der Droge als die natürlichste Sache des Universums betrachtete, so musste sie das noch lange nicht akzeptieren. Irgendetwas würde ihr sicher einfallen.
Du hast sie getrennt. Glaubst du, das würde sie schwächen? Ja. Glaubst du das wirklich? Das Gegenteil wird eintreten, denn du zwingst sie zu reagieren.
Ich weiß. Schweig endlich. Sie sind anders als die Eindrücke. Sie sind stärker – sind ähnlicher, nicht wahr? Ja. Aber sie werden vernichtet. Einzeln oder gemeinsam, das spielt keine Rolle. Du irrst. Schweig endlich. Genau das werde ich nicht tun. Du fürchtest ihn, ich weiß es. Nein. Wir werden sehen.
»Ein Schiff, ein Schiff! Ihr seid ja Wahnsinnige. Zu den Inseln. Ihr könnte doch nicht zu den Roten fahren, das könnt ihr nicht im Ernst vorhaben.« Kadil, der große Künstler und Gastwirt, zweifelte wirklich am Verstand seiner Gäste, die darauf drängten, die von den Piraten ent führte Nicole zu befreien. Wie konnten halbwegs vernunftbegabte Wesen auch nur einen Lidschlag lang an solch ein Unternehmen denken? Mit großer Geduld hatte er versucht, ihnen die Sache aus zureden, doch es hatte alles nichts geholfen, denn sie blieben dabei: Sie wollten ein Schiff. Natürlich konnte er es ihnen beschaffen, er konnte überhaupt alles beschaffen, und nachdem die Fremden Epra beim Angriff der Roten so tatkräftig unterstützt hatten, würden sie von der Bevölkerung jede mögliche Hilfe bekommen. Aber kein Bewohner Epras war so wahnsinnig, um mit den drei Humarogs, oder was auch immer sie waren, zu den Inseln zu segeln. Niemand. »Ich komme auf jeden Fall mit euch.« Nashua sagte es so selbstver ständlich daher, als würde sie über das Wetter reden. »Ich natürlich auch.«
Kadil fuhr herum und starrte Dünnbacke an, der offensichtlich gleichfalls den Verstand verloren hatte. Der Junge grinste ihn an und fuhr fort. »Und von meinen Jungs werden uns auch einige be gleiten, das garantiere ich euch.« »Ich bin von Idioten umgeben, Omron hilf euch allen, denn ihr seid dem Irrsinn verfallen. Jedes Doky hat mehr Vernunft.« Kadil war ehrlich verzweifelt, und der mächtige Pathos, mit dem er auf Zamorra, Tendyke und Sid Amos einredete, steckte einfach in ihm. Er war im Grunde überhaupt kein Schauspieler, denn er spielte im mer nur sich selbst. Das jedoch tat er perfekt. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf einen Stuhl fallen, der be denklich knirschte, dem Gewicht des großen Kadils jedoch ausrei chend Widerstand bot, zumindest solange der sich nicht zu heftig auf ihm hin und her bewegte. Ein zweiter Seufzer kam aus noch tieferer Seele, doch dann schlug Kadil mit der flachen Pranke auf den Tisch. »Epra liegt in Schutt und Asche, die Grauen bedrohen den gesam ten Küstenstreifen, jede Pfote, jede Hand wird hier benötigt. Hier, und nicht irgendwo in einer Nussschale auf dem Meer Omrons!« Mit einem Ruck stand er auf, was dem geplagten Stuhl dann doch den Rest gab. »Meine Vorfahren sollen mich dereinst bespucken, doch ich bin das größte Doky von euch allen. Was soll es? Ich besor ge euch das Schiff, und ich komme mit euch!« Ehe Kadil sich versah, hing Nashua an seinem Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Schnauze. Zamorra grinste Tendyke an. »Was soll jetzt noch schief gehen, Rob? Der genialste Künstler dieser Welt begleitet uns.« »Ja, nun habe ich keine Bedenken mehr.« Tendyke hatte das so tro cken gesagt, dass außer Zamorra und Sid Amos ihm wohl jeder Glauben geschenkt hätte. Zamorra wurde wieder ernst, denn die Zeit drängte, und er sorgte sich um Nicole. »Dünnbacke, ich freue mich über deine Begleitung, doch deine Freunde bleiben wirklich besser hier, denn sie haben sich
als Verteidiger Epras bewährt. Wer weiß, ob die Stadt nicht erneut angegriffen wird? Außerdem sollten wir heimlich, still und leise bei den Roten anklopfen. Unser Trupp muss überschaubar bleiben. Wir hätten gegen Seefahrer keine Chance, würden wir sie vom Wasser aus angreifen. Wir müssen unbemerkt an Land kommen.« Dünnba cke nickte nur. Zamorra sprach weiter. »Wir wissen nicht, auf wel che der Inseln sie Nicole gebracht haben.« Dünnbacke unterbrach ihn. »Einer meiner Leute hat gesehen, dass sie in ein Boot gebracht wurde, das zum Schiff des 1. Kapitäns der Roten fuhr. Ich glaube, sie ist auf der Hauptinsel.« Kadil stimmte zu. »Der Junge hat Recht. Wenn sie an Bord von Halfborinns Flaggschiff gebracht wurde, dann ist sie auf Einarr, der größten der Inseln, auf der der Führer der Roten seinen Hauptsitz hat.« »Also Einarr, gut.« Zamorra wirkte äußerlich ruhig und ausgegli chen. Dass ihm der noch immer heftig brummende Schädel Proble me bereitete, war ihm kaum noch anzumerken. »Wir segeln nachts, denke ich. Wie lange brauchen wir bis Einarr, Kadil?« Die Besprechungen gingen noch eine ganze Zeit so weiter, doch Robert Tendyke beteiligte sich nicht mehr daran. Er war nach wie vor im Raum, hielt sich jedoch abseits der anderen. In ihm schien et was zu klingen. Anders hätte er es nicht beschreiben können. Ja, es war wie ein ganz langsam anschwellender Ton, den er, bis jetzt zu mindest, als nicht besonders unangenehm empfand. Sollte er Za morra davon erzählen? Noch nicht, entschied Tendyke, denn der Professor stand selbst schon mehr als gentig unter Druck. Und As modis kam für Robert auf keinen Fall als Ansprechpartner in Frage. Jeder andere, doch ganz sicher nicht sein Erzeuger. Mit einem kurzen Seitenblick auf Asmodis wollte Robert diese Überlegung beiseite schieben, doch dann wurde der Blick doch in tensiver, denn in Asmodis Gesicht arbeitete es. Die dichten Augen brauen des früheren Höllenfürsten waren in ständiger Bewegung, zuckten auf und ab, als habe Asmodis sie nicht mehr unter Kontrol
le. Für einen Augenblick glaubte Tendyke, sein Erzeuger würde straucheln, doch dann schien Asmodis sich wieder gefangen zu ha ben. Oder hatte Robert sich das nur eingebildet? Auch Zamorra griff sich mit einer Hand ständig an den Kopf, doch das schrieb Tendyke den »Nachwehen« des Schwerthiebs zu, der den Professor ver dammt hart getroffen hatte. Der Ton in seinem Kopf schwoll nun nicht mehr weiter an, son dern schien sich auf einem Level eingependelt zu haben. Tendyke entschied abzuwarten und erst einmal zu schweigen. Er wollte ganz bestimmt nicht derjenige sein, der unter Umständen völlig unnötig die Pferde scheu machte. Das war noch nie seine Art gewesen. Kadil hatte sich gemeinsam mit Dünnbacke auf den Weg zu einem seiner »unzähligen Freunde« gemacht, doch eigentlich war jeder in Epra sein Freund, wie er bescheiden anfügte. Dieser Freund besaß ein kleines Segelboot, das sechs Personen ausreichend Platz bot, wendig und zudem leicht zu steuern war, denn bei allem Enthusias mus durfte man natürlich nicht vergessen, dass niemand im Team ein ausgesprochener Segelexperte war. Natürlich konnten Zamorra und Robert Tendyke leidlich mit so einem Boot umgehen, Dünnba cke ebenfalls, aber bei Nacht war auch er noch nie zu so einem Turn gestartet. Ein »friedliches« Boot kam Zamorra bei seinem Plan wirk lich sehr entgegen. Zum ersten Mal kam von Kadil nicht die Bemerkung, dass er der allergrößte auf einem Gebiet war. Zamorra konnte sich des Ein drucks nicht erwehren, dass Kadil mit Unbehagen an das Meer dachte. Kadil, der Große, war womöglich wasserscheu? Zamorra nutzte die Wartezeit, um mit Sid Amos zu reden. Ihn be schäftigte eine Frage. »Wo ist die Hölle, alter Erzfeind?« Auf Amos' Gesicht erschien ein säuerlicher Ausdruck, denn er hasste es, so unvermittelt und bruchstückhaft gefragt zu werden. »Du hast manchmal eine seltsame Art an dir, Zamorra. Was soll die
Frage?« Der Professor für Parapsychologie schüttelte den Kopf. »Das ist keine dumme Frage, Sid. Wo ist die Hölle? Ist sie nicht im Prinzip überall? Wenn es jemand weiß, dann du. Und nun denke nach, und denke an diese Welt, an Omron. Fällt das Centstück?« Hinter Asmodis Stirn tobte seit Stunden ein Gewitter, das er nicht einzuordnen wusste, doch das war vergessen, als er den Sinn von Zamorras Frage begriff und verinnerlichte. Das Gebilde, das die Menschen der Erde Hölle nannten, war ein absolutes Unikat, veränderlich, instabil, chaotisch in seinen Struktu ren und dennoch fest und unumstößlicher Fakt. Die Dimensionsbar riere, die beide Welten trennte, denn tatsächlich existierten sie an gleicher Stelle, durchdrangen einander, entzweit durch verschiede ne Ebenen des Seins, hinderte den unwissenden Teil der Menschheit daran, diese Mitwelt wahrzunehmen. Doch diesen Zustand gab es nicht nur auf der Erde, denn die Hölle war im ganzen Universum vorhanden, wenn auch nicht immer in der gleichen Wechselwir kung wie auf der Erde. Und hier, auf dieser unwirklichen, einkonti nentalen Welt Omron? Asmodis Antwort ließ eine Weile auf sich warten. »Als wir hier gelandet sind, habe ich natürlich meine Fühler aus gestreckt, wenn auch nur oberflächlich und mehr als halbherzig, wie ich eingestehen muss.« Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über seine Nasenwurzel, als wolle er dort etwas verscheuchen. »Ge funden habe ich nichts, aber du weißt so gut wie ich, dass auch die Hölle gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und nicht wirklich multipräsent ist. Und dass meine Fähigkeiten in dieser Richtung nicht mehr so ausgeprägt sind, wie sie früher einmal waren.« Er sah Zamorra an, als wartete er darauf, dass der ihn unterbrach. Doch der Dämonenjäger dachte nicht daran und ließ Sid Amos fortfahren. »Wenn sie hier ist, und sie wird vorhanden sein, da bin ich ziemlich sicher, dann hat sie offenbar auf Omron keinen Einfluss.« Zamorra lehnte sich gegen die Wandvertäfelung und verschränkte
die Arme vor der Brust. »Kein Einfluss der Hölle – keine Wirkung von Merlins Stern. Das passt zusammen, denn wo keine schwarze Magie wirkt, kann das Amulett nicht reagieren. Doch was ist mit den Dhyarras? Da müsste es anders sein. Du kannst sagen, was du willst, doch mein Gefühl sagt mir, dass Omron nicht mit anderen Welten zu vergleichen ist.« Unbewusst hatte er damit begonnen, die Silberscheibe, die an ei ner starken Kette um seinen Hals hing, mit den Fingerspitzen zu be tasten. Er dachte an sein gespanntes Verhältnis zu Merlin und dar an, dass der uralte Magier ihm oft durch das Vorenthalten von wich tigen Informationen das Leben schwer machte und ihn dadurch im mer wieder in lebensbedrohende Situationen brachte. Und er dachte an die Möglichkeiten, die sicher noch unerkannt in Merlins Stern schlummerten. »Vielleicht liegst du da richtig, vielleicht auch nicht.« Asmodis wusste es nicht besser. Zudem wollte er dieses Gespräch beenden, denn er fühlte sich müde und erschöpft. War es diese ihm unerklär liche Art der Magie Omrons, die ihn jetzt schon körperlich beein flusste? Der Druck in Sid Amos' Kopf wuchs nicht weiter, doch er war ständig und ohne Unterbrechung präsent. Als würde ihn je mand … durchleuchten. Ihm kam der Begriff des Scannens in den Sinn. Es kam nicht oft vor, aber Asmodis hatte das unstillbare Bedürfnis, sich auszuruhen. Ein paar Stunden waren es ja noch, ehe sie aufbrechen konnten, denn noch stand die Sonne, die hier allgemein nur Stern genannt wurde, hoch am Himmel.
»Von wegen Freund.« Dünnbacke grinste Zamorra breit an, als sie gemeinsam in Richtung Küste gingen. »Kadil musste ganz schön tief in seinen Beutel greifen, um das Boot zu bekommen. Er hat geflucht und geschachert wie ein alter Draahnhändler.«
Dünnbacke machte sich nicht die Mühe, sonderlich leise zu reden, doch Kadil tat so, als hätte er nichts gehört. Nach Dämmerungsein bruch waren sie aufgebrochen. Tendyke machte auf Zamorra einen seltsam in sich gekehrten Eindruck, als lausche er auf etwas, das nur er vernehmen konnte. Selbst Sid Amos schien nicht »bei sich selbst« zu sein. Und Zamorra selbst fragte sich so langsam, wie lange der Schmerz von seiner mächtigen Beule wohl noch anhalten würde. Ir gendwie machten alle einen angeschlagenen Eindruck. Ausnahmen waren die beiden jungen Lamarias, denn Dünnbacke und Nashua steckten voller Tatendrang, wobei das Mädchen nach wie vor nicht von Asmodis Seite wich und ihn verstohlen anhimmelte. Das Segelboot war tatsächlich eine Art Nussschale, der man einen Mast aufgepflanzt hatte. Das Segel war, wie das gesamte Boot, nachtschwarz. In der Finsternis würde es nahezu unsichtbar sein. Es fiel Zamorra nicht schwer, die Einnahmequelle des Besitzers zu erra ten. Wer nicht gesehen werden wollte, hatte dafür seine Gründe, und Diebe wie Schmuggler bevorzugten solche Farben nun einmal ganz besonders. Wahrscheinlich pendelte der Bootseigner zwischen der Küste und den Inseln hin und her, was man in Epra nicht gerne sah. Der Platz reichte gerade für drei Lamarias und die drei Menschen, wobei man Kadils Körpermasse ja mitbetrachten musste. Der Wirt des »Traum-Theaters« ging als letzter an Bord, und die Art und Weise, wie er das machte, zeigte den anderen ganz deutlich, wie tief das Unbehagen in ihm steckte. »Ich bin Schauspieler und Dichter.« Beleidigt sah er Dünnbacke an, der frech grinste und ihm die Hand zur Hilfe reichte. »Wenn ich Fischer hätte werden wollen, dann wäre ich Fischer geworden, aber ich habe mich eben anders entschieden und bin dem Ruf meines Tal ents gefolgt.« »Als Fischer wärst du auch kläglich verhungert.« Dünnbacke halte in den letzten Tagen wirklich seine linkische Art abgelegt, wie eine zweite Haut, die ihn stets gehindert hatte. Selbst Kadil erkannte das
an. Irgendwie war er stolz auf seinen Schützling. Dünnbacke war es auch, der das Ruder übernahm und das Boot in die Finsternis des Meeres lenkte. Der Wind stand gut, wehte mit freundlicher Stärke und ließ eine ordentliche Geschwindigkeit zu. Nashua hatte sich ganz nach vorne an den Bug gesetzt, denn wenn irgendjemand die Dunkelheit mit seinen Augen durchdringen konn te, dann sie. Zamorra und die anderen schwiegen und hingen jeder für sich den eigenen Gedanken nach. An Schlaf war nicht zu denken, denn das ließen die Nerven ganz einfach nicht zu. Verblüfft vernahm Zamorra ein wenig später das gleichförmige Geräusch neben sich. Es war kaum zu glauben, aber Kadil schnarchte wie ein Walross in der Brunft!
Gut zwei Stunden später hatten sich die Geräusche, die der Betrei ber des »Traum-Theaters« von sich gab, erheblich geändert, denn er hing mit dem Oberkörper gefährlich weit über den Bordrand und fütterte die Fische in Omrons Meer. Grund dafür war der Seegang, der sich kontinuierlich gesteigert hatte, je weiter man sich von der Küste entfernte. Alle an Bord der Nussschale hatten damit zu kämpfen, doch Kadil hatte den Kampf bereits deutlich hörbar verloren. Robert Tendyke musste sich anstrengen, um die Lautstärke von Wind und Wellen zu übertönen. »Zamorra, ich höre den Ton nicht mehr.« Auf den fragenden Blick des Professors hin erklärte ihm Robert, was er damit sagen wollte, und Zamorra begriff, warum der Freund sich so eigenartig verhalten halle. Erstaunt registrierte er, dass der Schmerz in seinem Kopf ebenfalls verschwunden war. Wenn das in einem Zusammenhang zueinander stand, dann musste auch Asmo
dis etwas davon bemerkt haben. Zamorra erschrak, als er sich ihm zuwandte und feststellte, dass er heftige Schmerzen zu erleiden hat te. Sid Amos war regelrecht in sich zusammengesunken und presste mit Schmerz verzerrtem Gesicht beide Hände gegen die Schläfen. Seine weit geöffneten Augen waren unnatürlich nach oben verdreht, so dass man nur noch das Weiße in ihnen ausmachen konnte. So hatte Zamorra ihn noch nie leiden sehen. Eine große Welle hob das Segelboot mehrere Meter in die Luft und ließ es gleich darauf wieder ruckartig nach unten fallen. Jeder klam merte sich so gut es ging irgendwo fest. »Da will uns jemand gründlich ans Leder!« Robert griff mit der freien rechten Hand nach Nashuas Hosenbund und verhinderte so gerade noch, dass das Lamaria-Mädchen über Bord ging. Eine me terhohe Welle schwappte über ihnen zusammen und füllte das Boot mit Wasser, das bei der nachfolgenden Schräglage des Seglers sofort wieder auslief. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie kenterten. Zamorra drückte mit seinem Körpergewicht Asmodis nach unten, der körperlich überhaupt nicht auf die Situation reagieren konnte; er war in seinem Schmerz gefangen und gelähmt, wäre so ein Spielball der nächsten Woge geworden. Dünnbacke behielt die Nerven und versuchte mit dem primitiven Steuerruder den Wellenbergen auszuweichen und das Schiff in der Art eines Wellensurfers nicht gegen, sondern mit den wütenden At tacken der Brecher zu bewegen. Von Sekunde zu Sekunde gelang ihm das besser, und wäre es nicht finstere Nacht gewesen, hätte die Sache dem spindeldürren Burschen vielleicht sogar Spaß gemacht. So aber war es ein Kampf gegen den Tod, den sie sicher nicht gewin nen konnten. Dazu war schon ein größeres Wunder nötig. Es war ganz sicher kein Wunder, was nur wenige Sekunden später geschah, doch es war so unwahrscheinlich, so gänzlich gegen jede Logik, dass es allen an Bord so erscheinen mussle.
Das Boot tanzte auf dem Kamm einer hohen Welle, die es in einen absurden Winkel stellte, der nach den Gesetzen der Naturwissen schaft ganz einfach ein Umkippen zur Folge haben musste. Dann sackte die Woge nach unten, schneller, als der Segler ihr folgen konnte. Das Schiff schlug hart auf dem völlig ruhig daliegenden Wasser auf, machte einen Sprung nach vorne und schlingerte sanft im trägen Wind voran. Es war, als hätte jemand einen Kippschalter von »Ein« auf »Aus« gestellt. Das Drama unter dem Kiel war beendet, doch das an Bord ging unvermittelt weiter. Asmodis schrie entsetzlich auf, und sein Körper begann eine unerträgliche Hitze auszustrahlen, die Zamorra dazu zwang, sich so weit wie möglich von ihm zu entfernen. »Mein Gott, ich hätte nie geglaubt, dass er je sterben könnte.« Ro bert Tendyke war entsetzt, denn auch wenn er Asmodis verachtete, schockierte ihn dieses makabere Schauspiel doch. »Er stirbt nicht.« Zamorras Stimme klang bestimmt und über zeugt. »Er kämpft gegen den oder das, was uns gerade noch ersäu fen wollte. Ich bin sicher.« Und dann begann Asmodis Körper zu verblassen, durchscheinend zu werden wie Glas. Niemand konnte ahnen, was hier tatsächlich geschah. Es war Nashua, die reagierte, ehe noch irgendjemand et was dagegen unternehmen konnte. Das Mädchen rollte sich ins Heck des kleinen Seglers und warf sich über den seltsamen Humarog, der ja eigentlich keiner war, und an dem trotzdem ihr Herz hing. Bei der Berührung der beiden Kör per wirkte auch bei Nashua den Glaseffekt. Doch nur für wenige Se kunden. Denn dann waren beide verschwunden, ganz so, als hätte es sie an Bord des Schiffes nie gegeben.
4. Nashua brannte und fror dabei. Es war ein nicht zu beschreibendes Gefühl, wie es unlogischer und unsinniger nicht hätte sein können, doch es war genau das, was sie spürte. Feuer und Eis, Kälte und Hitze, Flammen und Eisblumen auf ihrer Haut. Als sie den Mut fand, die Augen zu öffnen, die sie in dem Mo ment, als sie sich auf Asmodis warf, fest geschlossen hatte, sah sie den Kreis. Nichts anderes als den alles beherrschenden Kreis, der in seiner Mitte durch eine unregelmäßig verlaufende Linie geteilt war. Die beiden Hälften veränderten ständig ihre Größe. Mal waren sie annähernd gleich großen Inhalts, dann wieder vergrößerte sich eines der Segmente und schien das andere regelrecht zu erdrücken, es vernichten zu wollen, doch immer wieder kehrte für Sekunden das Gleichgewicht zurück, ehe das Spiel von Neuem begann. Nashua fühlte die Nähe Asmodis', doch ihr Blickfeld wurde einzig und alleine von dem Kreis ausgefüllt, dessen Hälften jetzt damit be gannen, laufend ihre Farben zu wechseln. Ein helles Silber und ein tiefdunkles Blau waren die dominierenden Hauptfarben, doch die variierten in rascher Folge. Nashua versuchte zu schreien und nach Asmodis zu rufen, doch sie hatte keine Stimme. Sie wollte nach ihm tasten, doch sie fühlte weder Arme, Beine noch ihren Schwanz. Hat te sie überhaupt noch einen Körper? Oder war sie tot? War das hier die Realität nach dem Sterben? Sonst nichts? Die Stimme, die plötz lich laut und deutlich in ihren Kopf erklang, war ihr vertraut. »Wer bist du? Wer ist bei mir?« Es war Asmodis, und Nashua ver gaß ihre Angst vor Freude, dass es ihn noch gab und er mit ihr sprach. »Ich bin es, Nashua. Ich bin mit dir gegangen. Wo sind wir hier?«
Für einen Augenblick schwang Ärger in Asmodis' Stimme mit, doch der verschwand schnell. Auch wenn er es sich selbst nicht ein gestehen mochte, war er doch froh, in dieser extremen Situation nicht vollkommen auf sich allein gestellt zu sein. Allerdings wäre ihm ehrlich gesagt Zamorra als Begleiter lieber gewesen, denn die Kleine bedeutete wohl keine große Hilfe. Schon eher das genaue Ge genteil konnte eintreten. »Du hättest dich heraushalten sollen, Nashua, aber nun können wir nichts mehr ändern. Was genau siehst du?« Es war im Grunde das erste Mal, dass er mit ihr gesprochen hatte, doch auch wenn ihm ja nun gar nichts anderes übrig blieb, fühlte Nashua sich glücklich, weil er sie etwas fragte. Das Lamaria-Mäd chen liebte, und Liebe kann jegliche Logik ausradieren. Manchmal dauert so ein Zustand nur kurz an, manchmal ein Leben lang, doch das alles wusste und interessierte Nashua nicht. So gut sie es nur konnte, beschrieb sie Asmodis den Kreis, die veränderliche Form und das Farbenspiel. »Gut, genau das sehe ich ebenfalls vor mir. Wir sind also zumin dest nicht allzu weit voneinander getrennt. Hör mir zu, Nashua. Ich weiß so wenig wie du, was geschehen wird, aber bleib nach Mög lichkeit ruhig.« Nashua verstand nicht, was er meinte, denn sie war doch vollkom men ruhig, aber sie unterbrach Asmodis nicht. »Ich bin an Bord dieses Bootverschnitts von einer Macht bestürmt und angegriffen worden, die ich nicht begreife, nicht mehr, als du sie verstehen würdest oder jemand anderer. Was nun mit uns ge schieht, kann ich nicht einmal ahnen, aber wir müssen auf alle Fälle versuchen, irgendwie zusammenzubleiben.« Mehr wollte und konnte er dem Mädchen jetzt nicht sagen, und viel mehr wusste er tatsächlich nicht. Es war einer der härtesten Kämpfe gewesen, die er je ausgestanden hatte, doch er hätte ihn nicht beschreiben können. Asmodis hatte gespürt, dass gleichzeitig mit ihm auch Zamorra und Robert tatsächlich so einer Art Bewusst
seins-Scan unterzogen worden waren. Und an Bord des Bootes hatte – wer auch immer – sich dann auf ihn eingeschossen. Er hatte ver sucht dagegen anzukämpfen, doch auf dieser Welt blieben seine Möglichkeiten dazu nahezu auf dem Nullpunkt. Etwas hatte an ihm gezerrt, ihn hierher gezogen, doch zur gleichen Zeit hatte dieses Et was auch versucht, ihn zu vernichten. Das ergab keinen Sinn, es sei denn, man sah den unbekannten Gegner nicht als Einheit. Nie zuvor war Asmodis in dieser Form berührt worden. Der An griff war so tief in ihn eingedrungen, dass ihm beim Gedanken dar an schauderte. Alles was er je getan oder gelassen hatte, musste in diesen Momenten wie ein offenes Buch vor dem Gegner gelegen ha ben. Zum ersten Mal in seinem Dasein fühlte sich der ehemalige Fürst der Hölle, der Erzdämon, der sich nie einen Deut um das Schicksal eines seiner Opfer gekümmert hatte, benutzt. Und dieses Gefühl war für ihn nahezu unerträglich. Doch da war ein noch weitaus ver wirrenderes Gefühl, das ihm auch den letzten Rest seiner Souveräni tät kostete: Das Fremde, das Andere, war nicht wirklich fremd. Viel hatte er in seinem Zustand nicht verstehen und begreifen können, doch etwas war haften geblieben. Man wollte ihn vernichten, weil man ihn, zumindest aber seines gleichen kannte! Asmodis konnte sich nicht erinnern, den Begriff ge hört oder übermittelt bekommen zu haben, doch er wusste, wie sein Peiniger ihn nannte. Den »Ähnlichen«, und darum hatte er sterben sollen. Asmodis und Nashua kommunizierten nur wenig miteinander, denn das ständig wechselnde Farbenspiel und das Hin und Her im Kreis fesselten ihrer beider Aufmerksamkeit. Zudem befürchtete As modis, einen entscheidenden Moment zu verpassen, und konzen trierte sich auf das visuelle Gefecht, das sich vor seinen Augen ab spielte. Augen? Um Augen zu haben, musste man einen Körper be sitzen, doch über diesem Punkt konnte Asmodis nur spekulieren. In welcher Daseinsform existierten Nashua und er in diesem Augen
blick? Fühlen konnte Asmodis seinen Körper jedenfalls nicht. Auf seine Frage hin gestand das Mädchen ein, dass es ihr nicht anders erging. Das Gefühl des »Augenöffnens«, das sie empfunden hatte, konnte eine Täuschung gewesen sein. »Es kommt näher, Asmodis, siehst du es auch?« Nashua hatte Recht. Zumindest hatte es den Anschein, als würde der perfekte Kreis sich in ihre Richtung bewegen. Doch das war na türlich Auslegungssache, weil es ja auch noch die zweite Möglich keil gab. »Oder wir werden zum Kreis hin gezogen.« Mehr als diese kurze Bemerkung kam von Asmodis nicht. Was zunächst nur eine gemächliche Annäherung war, wurde nach und nach zur rasenden Fahrt. »Es geht mitten hinein, direkt auf die seltsame Linie zu. Wenn wir getrennt werden …« Nashua geriet in Panik, doch Asmodis hatte keine Lust, das Mäd chen zu beruhigen. Auf ihre Trennungsängste konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Der in den hellen Farben des Spektrums leuch tende Teil des Kreises nahm plötzlich nur noch einen Bruchteil des Ganzen ein, und Asmodis schien das wie das Ende einer erbittert geführten Schlacht. Sieger war eindeutig das dunkle Kreissegment. Genau das war es, was Asmodis plötzlich große Angst einflößte, ohne dass er dafür einen bestimmten Grund hätte benennen können. Nur noch wenige Sekunden, dann würden Nashua und er mit dem jetzt völlig schwarzen Etwas kollidieren, dort eintauchen oder an ihm zerschellen. Asmodis hörte Nashua schreien. Er gestand sich ein, dass auch sei ne Nerven völlig blank lagen. Nur half Schreien hier auch nicht. Dann erfolgte der Aufprall, doch nicht in eine lichtlose Nacht hinein, sondern in eine Explosion aus weißem Licht, die mit Urgewalt die Finsternis zur Seite drängte. Asmodis spürte Wärme, die sich freundlich um ihn legte und ihn in einen Schlaf sinken ließ, den er nicht wollte, gegen den es aber keine Gegenwehr gab.
Asmodis wickelte den Umhang fester um seinen Oberkörper. Es war empfindlich kühl, obwohl der Stern am Himmel stand, al lerdings wesentlich flacher, als Asmodis das zu dieser Tageszeit für möglich gehalten hätte. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass die Kleine noch immer schlief. Sollte sie nur, denn hier verpasste sie zurzeit nichts, was von Wichtigkeit ge wesen wäre. Asmodis war übergangslos aus seinem Schlaf erwacht und hatte sich unter einer Art Dach wiedergefunden, das natürlichen Ur sprungs zu sein schien. Die Kronen zweier Bäume, der irdischen Trauerweide nicht unähnlich, hatten sich hier ineinander verfloch ten und bildeten einen Unterstand, der so dicht war, dass er wahr scheinlich selbst bei sintflutartigen Regengüssen Schutz bot. Als er sich draußen umsah, fiel ihm sofort die Temperatur auf, die um einige Grad zu niedrig war. Asmodis musste nicht lange raten, wo er war, denn er konnte die See Omrons riechen. Das hier war ir gendwo am Küstenstreifen, wahrscheinlich nicht sehr weit von Epra entfernt. Das Rätsel war ein anderes: Wann war er? Und ein schrecklicher Gedanke schlich sich in sein Denken. Wie viel Zeit war seit der Nacht in dem mickrigen Kahn vergangen, der die kleine Gruppe zu der Insel der Roten hatte bringen sollen? Wie lange hatten Nashua und er vor diesem illuminierten Kreis ver bracht? Asmodis steigerte sich in eine panische Vorstellung hinein, die ihn nicht mehr loslassen wollte. Wo waren Zamorra und Duval, wo war sein Sohn? Möglicherweise bereits wieder auf der Erde, denn wenn er mit dem Lamaria-Mädchen vielleicht Wochen oder Monate verschollen gewesen war, was hätten die anderen tun kön nen? Nichts weiter, als sich bei der nächsten Drahnoko-Blüte aus dem Staub zu machen. Bleib ruhig, alter Teufel, bleib ganz ruhig. Noch sind das nur wilde Spe
kulationen deines überspannten Hirns. Hinter ihm rührte sich etwas. Nashua erwachte. Vielleicht konnte sie sich einen Reim auf die küh len Temperaturen machen. Das Mädchen sah ihn jedoch nur aus großen Augen an und zuckte mit den schmalen Schultern. »Wir können doch nicht einen halben Umlauf lang geschlafen haben. Das geht doch überhaupt nicht. Oder?« Wie hätte Asmodis ihr erklären können, was es so alles nicht ge ben durfte, und dennoch sehr wohl gab? Er versuchte es erst gar nicht. »Komm, wir müssen nach Epra. Ich bin sicher, dass wir nur dort eine Erklärung finden werden. Wenn es überhaupt eine gibt.« Asmodis wunderte sich, dass Nashua schnurstracks losmarschier te, doch für das Mädchen, das auf Omron aufgewachsen war, gab es keine Frage, in welcher Richtung Epra wohl liegen mochte. Der ehe malige Höllenfürst konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er hinter der Kleinen herging. Für diesen Anblick hätte die halbe Schwarze Familie einiges gegeben. Der Erzdämon, geführt von ei nem Rattenmädchen, das sich in ihn verliebt hatte, und das er, wenn er es auch niemals zugegeben hätte, auch mochte. Asmodis konnte nicht vergessen, wie Nashua Rücken an Rücken mit ihm gegen die Piraten gekämpft hatte. Ein Teufelsbraten, die Kleine. Teufelsbraten? Ich vermenschliche tat sächlich mehr und mehr. Kopfschüttelnd schloss er zu Nashua auf, die plötzlich wie ange wurzelt stehen blieb und einen hohen Schrei ausstieß. »Meine Brut. Das ist meine Brutstätte! Aber wie ist das nur möglich?« Asmodis sah die Ansiedlung – vielleicht fünfzig oder sechzig Hüt ten, direkt an den Fuß des kleinen Hügels gebaut, der zumindest vor dieser Seite her einen gewissen Schutz vor Angriffen bot. Und er sah die Lamarias, die dort geschäftig hin und her liefen. Nashua wollte losstürmen, die Verwandten und Freunde begrü ßen, doch Asmodis hielt sie zurück, riss sie zu Boden und legte ihr eine Hand auf den Mund. »Bist du wahnsinnig? Kannst du denn
nicht denken, Kind?« Nashua sah ihn fragend an und hätte sicher gerne protestiert, doch Asmodis Hand war unerbittlich. »Hast du nicht selbst gesagt, deine gesamte Brut sei ausgelöscht worden? Ermordet von den Grauen?« Das Mädchen nickte. »Und hast du nicht gesehen, wer dort drüben umherläuft, als wäre das die normalste Sache der Welt?« Nashuas Augen wurden tellergroß. In ihrer nur zu verständlichen Freude und Euphorie hatte sie die Grauen überhaupt nicht bewusst bemerkt, doch jetzt versetzten Asmodis Worte sie in Panik. Graue und Braune gemeinsam, das war einfach unmöglich. Selbst dann, wenn Nashua und Asmodis tatsächlich einen halben Umlauf verpasst hatten. In so kurzer Zeit konnte sich die Situation auf Om ron nicht so grundlegend verändert haben. Das war wohl nur über einen längeren Zeitraum möglich, und genau diese Überlegung be reitete Asmodis Unbehagen. Er musste so schnell wie möglich in Er fahrung bringen, wie lange seine Abwesenheit auf Omron gedauert hatte. Nashua hatte aus ihrer Deckung heraus begonnen, ihre Brutstätte intensiv zu beobachten, und von Augenblick zu Augenblick verfins terte sich ihre Miene zusehends. »Ich kenne keinen einzigen der Braunen dort, aber sie gehören zu meiner Familie … irgendwie.« Asmodis hatte große Schwierigkeiten, überhaupt einen Lamaria vom anderen zu unterscheiden, doch für Nashua war das logischer weise nicht schwer. »Woran kannst du das auf diese Entfernung er kennen?« Das Lamaria-Mädchen lachte leise. »Du kennst mein Volk wirklich nicht. Jede Brut ist anders. Schau dir ihren wiegenden Gang an. So laufen nur meine Leute. Oder die Stellung der Ohren. Ich könnte dir unzählige Kleinigkeiten aufzählen, aber du würdest sie nicht erken nen und deuten können. Glaube mir, die Braunen dort sind Mitglie der meiner Brut. Doch ich kenne keinen von ihnen. Ich bin so ver wirrt. Kannst Du mir erklären, was passiert ist?«
Das konnte Asmodis nicht, aber ihm war klar, dass sie nur eine Möglichkeit hatten, um es herauszufinden. »Ich habe meine Mei nung geändert. Wir gehen zu ihnen.« Er ließ Nashuas Einspruch gar nicht erst aufkommen. »Los, komm mit. Und kein Wort von dem, was wir erlebt haben. Verhalte dich, als würdest du das hier alles nicht kennen, als wärst du zufällig hier. Dann werden wir sehen, was sich ergibt.« Nashua bewunderte die Lässigkeit und Selbstsi cherheit, mit der Asmodis aus ihrer Deckung hervortrat und ge mächlichen Schrittes auf die Ansiedlung zuging. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Asmodis ein mindestens so guter Schauspieler wie Kadil war, nur mit dem Vorteil, dass er diese Kunst bereits seit ungezählten Jahrhunderten ausübte. Mit zitternden Knien folgte sie ihm.
Isia und Kurat waren alles andere als gestrenge Lehrmeister, und Nicole Duval fragte sich schon nach kurzer Zeit, ob Halfborinn sich für sein Projekt nicht die falschen Leute ausgesucht hatte. Die bei den Humarogs waren ganz einfach zu freundlich, zu lieb. Nicole lernte, wie man fermentierte. Da sie keine Raucherin war, denn auch das zählte für sie eindeutig zur Kategorie »Drogen und Suchtverhalten«, hatte sie sich nie irgendwelche Gedanken über die Herstellung von Tabak gemacht. Doch die Blüten der Drahnokos, besser gesagt der Regenbogenblumen, wurden hier in der ersten Stufe genau dazu verarbeitet; Draahn entstand dann erst später dar aus. Die Blüten wurden in ein Haus gebracht und dort zu Ballen aufge schichtet. Dabei steuerte Kurat mit großer Pedanterie die Luftfeuch tigkeit in der Lagerhalle ganz einfach dadurch, dass die an beiden Enden befindlichen Tore, manchmal auch einige der unzähligen Fensterluken, geöffnet, dann wieder schnell und absolut dicht ge schlossen wurden. Auf Einarr herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, die Nicole oft zu schaffen machte, doch genau das war eine nahezu
perfekte Voraussetzung für die Verarbeitung der Blüten, erklärte Isia ihr. Im Grunde war damit zunächst einmal die Arbeit getan, denn nun hieß es warten. Bis zu dreißig Tage konnten nun verge hen, bis die eigentlich erste Fermentation beginnen konnte – in der Zeit kam es nur darauf an, die Blüten nicht zu feucht, auf keinen Fall aber zu trocken werden zu lassen. Nicole startete keinen Versuch, Isia und Kurat vom Rauchen abzu bringen, obwohl beide praktisch den ganzen Tag über stinkenden Tabak aus ihren klobigen Pfeifen pafften. Nicole kannte auf der Erde viele Raucher, und sie wusste, wie allergisch die meisten auf solche Bekehrungsversuche reagierten. In Deutschland hatte sie einmal versucht, einen entfernten Bekannten der Peters-Zwillinge zum Um denken zu bewegen. Der Mann litt an chronischer Bronchitis, doch seine Zigaretten ließ er sich einfach nicht verbieten. Dumm und un belehrbar, auch wenn er immer wieder behauptet hatte, eben ein Ge nussmensch zu sein. Nicole hatte den Versuch mit einem Kopfschüt teln abgebrochen und ihn weiter husten lassen. Dreißig Tage, in denen im Prinzip nichts geschehen würde, waren für Nicole eine Horrorvision. Wenn Zamorra nicht bald auftauchte, musste sie doch die Initiative ergreifen, in welcher Form auch im mer. Am nächsten Tag jedoch geriet das Dorf in helle Aufregung. Ho her Besuch war unangemeldet erschienen. Für Nicole sah das eher wie der Aufmarsch eines Karnevalvereins aus, und erneut musste sie an Deutschland denken, denn dort gab es in der Stadt Köln, di rekt am Rhein gelegen, in jedem Jahr einen farbenprächtigen Um zug, den die Leute dort Rosenmontagszug nannten. So ganz hatte Nicole diese Art des terminierten Humors nie verstanden, aber bitte, jeder wie er mochte. Und sie erinnerte sich an einen der größten teil nehmenden Vereine, an die »Roten Funken«, die mit ihren prächti gen Uniformen ganz in rot eine der Säulen dieser Veranstaltung bil deten. Alaaf, die Funken kommen uns besuchen, dachte Nicole, als sie den Einzug Halfborinns und seiner Delegation beobachtete, die ohne Zögern direkt vor Isias und Kurats Haus anhielten. Modebe
wusstsein gab es hier offensichtlich nicht einmal ansatzweise, denn wer lief schon ausschließlich in einer Farbe gekleidet herum? Die Frauen in den Dörfern machten da keine Ausnahme, wie Nicole be merkt hatte. Erstaunt registrierte sie die Anwesenheit Jorsteinns, der doch als Halfborinns ärgster Widersacher galt. Wollte der 1. Kapitän seinen Gegenspieler von der Richtigkeit seines Vorhabens überzeugen? Natürlich tat Torsteinn, als habe er Nicole nicht bemerkt, doch er sah so eindeutig und plump an ihr vorbei, dass sie über dieses »männliche Verhaltensmuster« nur den Kopf schütteln konnte. Nie mand sollte Nicole etwas über Männer erzählen, denn sie bemerkte die verstohlenen Seitenblicke der Humarogs in ihre Richtung sehr wohl, und dieser Jorsteinn machte da sicher keine Ausnahme. Nico le Duval war Zamorra treu, doch wenn ihr ein kleiner Flirt im richti gen Moment, mit dem richtigen Kerl, helfen konnte, dann nutzte sie diese Gelegenheit natürlich. Die Gelegenheit kam, denn Jorsteinn kam als letzter aus dem La gerhaus heraus, in dem die Drahnoko-Blüten dem Trocknungspro zess ausgesetzt waren. Sein Blick war die pure Arroganz, als er auf Nicole hinabsah. »Hast du dich schon an dein Sklavenleben ge wöhnt, Weib?« Unter anderen Umständen hätte er für das Wort »Weib« bitter ge büßt, doch nun hatte Nicole anderes vor. »Sklavenleben? Ich fürchte, ich werde hier vor Langeweile umkommen. Dein Erster Kapitän will euch alle zu Bauern machen, nicht wahr? Freust du dich darauf?« Ihr fröhliches Lächeln machte Jorsteinn rasend, doch er beherrschte sich, denn die Sklavin hatte ja die Wahrheit gesagt. Bauern und Draahnmacher. Halfborinn war wahnsinnig gewor den. Mit ungerührter Miene sah Jorsteinn Nicole an. »Das wirst du nicht erleben, Weib. Niemand wird das erleben, denn dafür werde ich sorgen.« »Und wie willst du das alleine verhindern?« Das Feuer in Jorsteinn Augen brannte lichterloh, als er sich zu Ni
cole beugte und sich ihre Münder beinahe berührten. »Du wirst es erleben. Bleib wach in der kommenden Nacht. Entferne dich vom Dorf, wenn du weiter leben willst. Und schweige, denn sonst stirbst du durch meine Hand.« Abrupt wandte er sich ab und folgte Half borinn und den anderen rot Gekleideten. Nicole Duval wurde bewusst, dass die Kontaktaufnahme zu Jor steinn, die im Grunde ganz anderen Zwecken hatte dienen sollen, ihr wahrscheinlich das Leben retten würde, denn was auch immer in der Nacht geschehen sollte, war wohl bereits von langer Hand ge plant. Als Halfborinn mit seinen Leuten wieder gegangen war, zog sich Nicole zu einem ausgedehnten Mittagsschlaf in ihr Zimmer zurück, denn sie wollte ausgeruht sein, wenn die Nacht über Einarr herein brach.
Es war nicht leicht gewesen, Isia und Kurat davon zu überzeugen, dass sie nach Einbruch der Nacht ihr Haus verlassen mussten. Die beiden Draahnmacher konnten einfach nicht verstehen, was Nicole von ihnen wollte. In welcher Gefahr sollten sie schweben? Graue hatten die Insel noch nie uneingeladen betreten, denn sie war gut bewacht, und vor den Braunen musste sich nun wirklich niemand fürchten. Die waren viel zu träge, um einen Angriff auf die Inseln der Roten zu starten. Nicole redete mit Engelszungen, denn sie wollte einfach verhin dern, dass den beiden Humarogs etwas Schlimmes geschah. Sie wusste ja selbst nicht, was genau geschehen würde, aber Jorsteinns Augen hatten ihr deutlich gezeigt, dass er nicht zum Spaßen aufge legt war. Erst mit sanfter Gewalt gelang es ihr schließlich, das Pärchen bis in den Wald hinter dem Lagerhaus zu bewegen. Lange Zeit hockten sie dort und nichts geschah. Selbst Nicole begann schon an der Richtig keit ihrer Aktion zu zweifeln, als sie dann doch kamen.
Und sie kamen offen und ohne jede Tarnung, versuchten erst gar nicht sich zu verkleiden oder vorzugaukeln, sie wären ein Komman do der Grauen. Nein, sie kamen von der Ostseite ins Dorf herein und bewegten sich ohne Aufenthalt direkt in Richtung des Lager hauses der Draahnmacher. Alles lief verhältnismäßig still und geordnet ab, und so kam es, dass die meisten der Bewohner von dem Eindringen der Leute Jor steinns erst etwas bemerkten, als das Lager bereits hell brannte. Ohne sich um die in Panik aus ihren Häusern stürzenden Dorfbe wohner zu kümmern, verschwanden die Brandstifter in den dichten Wäldern. Isia und Kurat standen dicht aneinander gelehnt, hielten sich an den Händen und starrten schweigend in die Flammen, die bereits am Wohnhaus der beiden leckten, das nahe beim Lagerhaus stand. An ein erfolgversprechendes Löschen war nicht zu denken. Zwar versuchten einige Lamarias, so etwas wie eine Eimerkette vom Fluss bis zum Brandherd zu bilden, doch sie gaben nach wenigen Minuten wieder auf. Es war sinnlos, denn die Drahnoko-Blüten wa ren für das Feuer ein ideales Futter. Eine offene Kriegserklärung an Halfborinn, schoss es Nicole durch den Kopf. Isia hatte ihr berichtet, dass es auf der Insel drei weitere Stellen gab, an denen aus den Blüten zunächst Tabak, dann Draahn gefertigt werden sollte, und Nicole Duval war sicher, dass es dort jetzt ganz ähnlich wie hier aussehen würde. Halfborinn musste auf diesen Überfall reagieren, er hatte gar keine andere Wahl. Für Nicole gab es daher jetzt kein Halten mehr. Sie musste zurück an den Ort, den die Roten großspurig Einarrs Hafen nannten. Dort würde morgen der Krieg zwischen Halfborinns und Jorsteinns An hängern ausbrechen. Dessen war sie ganz sicher. Wenn Zamorra nach Einarr kam, dann würde er in dieses Ereignis hineingezogen werden, und dann musste sie einfach in seiner Nähe sein.
Die Landung auf Einarr war einer Havarie gleichgekommen. Völlig am Ende ihrer Kräfte, hatten die verbliebenen Mitglieder des Teams das Boot an einer versteckt gelegenen Stelle der Insel ge gen einen Felsen gesetzt. Sie mussten die letzten Meter schwim mend zurücklegen, was besonders Kadil an die allerletzte Grenze seiner Belastbarkeit gebracht hatte. Selbst Dünnbacke, der um vieles zäher war, als es sein hagerer Körperbau vermuten ließ, war einer Ohnmacht nahe gewesen. Er verfluchte sich selber, denn seiner Un aufmerksamkeit war es zu verdanken, dass das kleine Schiff in seine Einzelteile zerlegt auf dem Meeresboden lag. Zamorra brauchte eine ganze Zeit, um wieder einigermaßen klar denken zu können. Erst war Nicole von ihnen getrennt worden, und nun der Verlust von Asmodis und Nashua. Verlust? So durfte er nicht denken. Robert Tendyke, der direkt neben Zamorra auf dem Strand lag und nicht minder erschöpft wie der Professor war, be rührte seinen Freund am Arm. »Sie leben, Zamorra, den alten Teufel bringt jedenfalls so rasch nichts um.« Auf Zamorras skeptischen Blick hin erklärte Robert: »Zwischen Nicole und dir gibt es ein Band, das euch sicher anzeigt, dass der an dere lebt, nicht wahr? Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber wenn As modis tatsächlich nicht mehr existieren würde, dann wüsste ich das mit Sicherheit.« Er hatte existieren, und nicht leben gesagt, denn in Tendykes Augen war sein leiblicher Vater eher ein Ding als eine Per son aus Fleisch und Blut. »Aber ich bin mir ebenso sicher, dass er jetzt gerade so weit von uns entfernt ist, wie man das nur sein kann.« Zamorra fragte nicht nach, denn in Roberts Gesicht konnte er se hen, dass der für seine Aussage keine logische Erklärung abgeben konnte. Das alles mussten sie später klären. Jetzt hieß es zunächst Nicole suchen, sie finden und mit ihr von Einarr zurück nach Epra fliehen. Das reichte fürs erste voll und ganz aus.
»Wir müssen einen Unterschlupf finden.« Kadil sah auf das Meer hinaus zum Horizont, der den aufgehenden Stern bereits erahnen ließ. Dünnbacke stand mit einem Schwung auf. »Wartet hier. Versteckt euch, so gut es geht. Ich bin bald wieder da. Ich habe zwar das Boot zu Schrott gefahren, aber der Landeplatz stimmt. Genau hier wollte ich anlegen, allerdings in einem Stück.« Ohne weitere Erklärungen verschwand er, und den anderen blieb nichts anderes übrig, als ihr Vertrauen in den Jungen zu setzen, von dem sie alle noch gestern geglaubt hatten, dass er ohne hängen zu bleiben nicht bis drei würde zählen können.
»Ich sehe aus wie meine Urgroßmutter!« Robert Tendyke war ehrlich entsetzt und hielt mit seiner Wut nicht hinter dem Berg. Zamorra war eigentlich nicht nach Spaßen zumute, doch er musste ein schallendes Gelächter mit Macht zu rückhalten, als er seinen Freund betrachtete. Alles war so schnell ge gangen, dass keiner von ihnen zur Ruhe hatte kommen können. Dünnbacke fand sich schon nach relativ kurzer Zeit wieder am Strand ein, jedoch nicht alleine. Bei ihm war eine Humarog-Frau, die man nur als fett bezeichnen konnte, und deren Lebendgewicht Za morra auf ungefähr 170 kg schätzte, wobei sie gut und gerne einen Kopf kleiner als er selbst war. Wortlos taxierte sie die Gestrandeten, und ein gutmütiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Nun gut, Dünnbacke, weil du es bist. Also kommt alle mit mir. Aber Vorsicht, Einarr schläft nie wirklich, erst recht nicht hier.« Weitere Erklärungen gab sie nicht, also folgten alle Dünnbacke und der Frau. Erstaunt bemerkten sie, dass diese einsame Bucht nun wirklich alles andere als abgelegen war, denn nach nur wenigen Schritten konnten sie die Lichter einer Stadt sehen. Zamorra schloss zu Dünnbacke auf. »Wohin bringst du uns, Jun
ge? Und was für eine Stadt ist das da vorne?« Der junge Lamaria legte einen Finger an seine Lippen und ging kommentarlos weiter. Die Frau lotste sie durch den Hintereingang eines großen Gebäu des und wies ihnen ein recht großes Zimmer zu. Bevor Zamorra sich erneut an den Lamaria-Jungen wenden konnte, erschien eine ande re, weitaus ansehnlichere, nur spärlich bekleidete junge Frau. Sie stellte zwei große Stoffsäcke vor die Neuankömmlinge. Der Inhalt bestand aus den unterschiedlichsten Bekleidungsteilen, die natürlich allesamt rot gefärbt waren. Dünnbacke öffnete die Schublade des einzigen im Raum befindlichen Schrankes und holte daraus mehrere große Tiegel hervor, die er an die anderen weitergab. »Das ist so eine Art Puder, natürlich rot, wie ihr euch denken könnt. Also los, verwandeln wir uns in Rote.« Und darum stand ein im Gesicht und an den Armen puterroter Robert Tendyke vor Zamorra, dessen Bekleidung aus Pumphosen, einem mit Rüschen versehenen Hemd und einer bestickten Weste bestand, die allesamt bessere Zeiten gesehen hatten. Da er sich je doch hartnäckig geweigert hatte, sich auch noch die Haare mit die sem streng riechenden Pulver zu färben, war ihm als Notlösung nur eine Art Turban geblieben, der ihn tatsächlich ein wenig wie eine Zi geunerin aussehen ließ, wie seine Urgroßmutter ja eine gewesen war. »Ehe du jetzt losprustest, roter Mann, solltest du dich selbst einmal betrachten.« Robert schien für heute seinen Humor gänzlich verlo ren zu haben. Zamorra hatte sich ebenfalls in sein Schicksal ergeben, war rot wie ein Hummer, und hatte sich auch nicht davor gescheut, seine Haare dem Puder zu überlassen. Jetzt hoffte er nur, dass – wie Dünnbacke hoch und heilig versprochen hatte – das Zeug wieder problemlos auszuwaschen war. Den zufriedensten Eindruck aller machte Kadil, denn als Schauspieler war ihm keine Verkleidung, keine Kostümierung fremd. Er fühlte sich offensichtlich schon ganz wie ein Roter, denn selbst sein Gesichtsausdruck hatte etwas Verwe
genes angenommen. Eine erstaunliche Verwandlung, fand Zamorra. Erneut öffnete sich die Tür. Diesmal war es ein blutjunges Lama ria-Mädchen, dass in aufreizender Kleidung in das Zimmer tänzelte und zwei große Tabletts mit gebratenem Fleisch, sowie eine große Karaffe eines wohlriechenden Getränks brachte. Zamorra sah Robert Tendyke an. »Also, wenn mich nicht alles täuscht …« Der unter seinem Turban schief grinsende Robert vollendete den Satz. »… sind wir hier in einem Bordell gelandet. Könnte aber auch ein Puff sein, oder?« Beide wandten ihre Köpfe in Richtung Dünnba cke, der verlegen zu Boden sah und sich wie eine Schlange wand. »Ja … ich bin ja einige Male auf den Inseln gewesen, und da habe ich ganz zufällig …« Weiter kam er nicht, denn Tendyke und Za morra prusteten lauthals los, und Kadil stimmte mit seinem Organ ein. »Zeit, um wieder ernst zu werden, Leute.« Zamorra beendete das kurze Zwischenspiel, das zur allgemeinen Nervenentspannung bei getragen hatte. »Wie sollen wir Nicole auf Einarr finden? Haben die Damen dieses Etablissements da keine Möglichkeiten? In diesem Gewerbe hört man doch so einiges.« Dünnbacke stopfte sich gerade ein großes Bratenstück in den Mund und musste erst mit dem offensichtlich alkoholfreien Getränk nachspülen, ehe er antworten konnte. »Ich hab Myrria schon gebe ten, ihre Ohren nach allen Richtungen aufzusperren.« Auf Zamorras fragenden Blick erklärte er, dass besagte Myrria die Chefin des Bor dells war, also die mächtige Dame, die sie am Strand aufgelesen hat te. Das gab Zamorra Hoffnung, denn wenn irgendwer Informationen beschaffen konnte, dann diese Frauen, die sich oft alles Mögliche und Unmögliche von ihren Freiern anhören mussten. Kurze Zeit später war es Kadil, der von den Anstrengungen der vergangenen Nacht übermannt wurde und im Sitzen einschlief. Den anderen erging es ähnlich, und auch Zamorra verlor den Kampf ge
gen die Müdigkeit, auch wenn ihm nicht nach schlafen zumute war. Zuviel ging ihm im Kopf herum. Dennoch nickte auch er irgendwann ein, wenn auch nicht für lan ge, weil Myrria plötzlich ohne anzuklopfen in das Zimmer kam und allein schon durch ihre Präsenz die kurze Ruhepause schlagartig be endete. Rittlings setzte sie sich auf einen Stuhl und betrachtete amü siert ihre Gäste. »Fein, ihr habt euch ja wirklich nett hergerichtet.« Mit einem Blick auf Kadil fuhr sie fort. »Da kann man sich ja beinahe fürchten. Ich glaube, ich weiß, wo ihr die Frau finden könnt, die euch dieses gan ze Theater hier offenbar wert ist.« Zamorra war sofort hellwach, doch eine abwehrende Handbewe gung der Bordell-Chefin ließ ihn schweigen. »Ich denke, zuerst muss ich euch wohl ein paar Dinge erklären, damit ihr durchblickt.« Und so erfuhren Zamorra und die anderen von den momentanen Machtverhältnissen auf den Inseln der Roten, und von dem Versuch Halfborinns, seit Ewigkeiten eingefahrene Geleise in eine andere, ganz neue Richtung zu lenken. »Ein mutiger Mann, euer Erster Kapitän.« Zamorra hatte solche Erneuerer schon immer bewundert. »Nein, ein dummer Narr, der nicht mehr Verstand im Schädel hat, als ich in meiner …« Sie brach ab, als sie Kadils missbilligenden Ge sichtsausdruck sah. »Ihr wisst schon wo. Halfborinn wird scheitern, mehr noch, man wird ihn stürzen und töten, denn es warten längst andere auf den Posten des Ersten Kapitäns. Jorsteinn hat ihn offen herausgefordert. In der vergangenen Nacht haben die Drahnoko-La ger gebrannt, und jeder weiß, wessen Werk das war. Wir stehen vor einem Krieg Rot gegen Rot, und hier, direkt an Einarrs Hafen, wird er ausgefochten werden, mein Wort drauf!« Ein Grund mehr, so schnell wie nur möglich wieder von der Insel zu verschwinden, dachte Zamorra, doch was hatte das alles mit Ni cole zu tun? Myrria erriet seine Gedanken. »Die Frau, die ihr sucht, kam mit
Halfborinns Schiff nach Einarr. Sie wurde in das Innere der Insel ge bracht, denn dort sollte sie bei der Draahn-Herstellung helfen. Ich kann euch einen Führer mitgeben, wenn ihr sie immer noch suchen wollt. Ich weiß allerdings nicht, ob bei der Brandschatzung jemand umgekommen ist, ob sie also überhaupt noch lebt.« Zamorra nickte Tendyke kurz zu, denn er war sicher, dass Nicole lebte, hätte das jedoch den anderen nicht so einfach erklären kön nen. Myrria war noch nicht fertig. »Es würde Jorsteinn jedoch nicht ähnlich sehen, wenn er die Draahn-Macher töten ließe. Er ist ein knallharter Kerl, aber kein Schlächter. Also, was ist? Wollt ihr sie su chen oder nicht?« Zamorra entschied sich schnell. »Nein, aber wir danken dir natür lich herzlich für die Informationen und deine Gastfreundschaft. Wir bitten dich, uns noch für ein oder zwei Nächte hier Unterschlupf zu gewähren, wenn das möglich ist.« Es war möglich, denn offenbar hatte Dünnbacke bei der Dame Kredit, aus welchem Grund auch immer. Als sie wieder unter sich waren, bestürmte Kadil den Professor. »Jetzt verstehe ich dich aber wirklich nicht mehr. Warum überlässt du deine Frau ihrem Schicksal, jetzt, da wir endlich wissen, wo wir sie finden könnten? Haben wir das alles denn völlig umsonst auf uns genommen?« Zamorra winkte ab. »Erstens ist Nicole nicht meine Frau, zumin dest nicht so, wie du dir das vorstellst. Zweitens kenne ich sie bes ser, als sie sich selbst. Nicole ist hier an Land gebracht worden, und wird jetzt wieder hierher zurück kommen.« Selbst Robert konnte dieser Logik nicht so ganz folgen, obwohl er Nicole ja ebenfalls seit vielen Jahren kannte. Zamorra versuchte eine Erklärung zu geben, die alle nachvollzie hen konnten. »Nicole weiß, dass wir sie suchen. Bei den Draahn-Ma chern hätten wir sie auch schnell finden können, doch nachdem dort alles niedergebrannt wurde, spielt jetzt hier die Musik. Sie weiß,
dass wir davon erfahren werden, sobald wir auf Einarr angekom men sind, und so ist es ja auch geschehen. Also wird sie hierher kommen, wie auch immer. Wenn wir jetzt ins Innere der Insel ge hen, und sie kommt zum Hafen, verpassen wir uns mit Sicherheit, laufen aneinander vorbei.« Drei Augenpaare sahen ihn zweifelnd an. »Da müsst ihr mir jetzt einfach vertrauen, denn ich kenne ihre Denkweise. Wir sollten uns hier so unauffällig wie nur möglich ver halten, uns vorsichtig umsehen und die Ohren spitzen. Spätestens morgen wird Nicole hier eintreffen.« »Wenn bis dahin nicht bereits das schönste Chaos auf Einarr herrscht.« Kadil stand auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab. »Bürgerkrieg auf den Inseln. Es ist schon immer vorgekommen, dass ein Erster Kapitän der Roten nicht so ganz aus freien Stücken seinen Platz räumte, aber das wurde dann im Zweikampf entschieden, oder durch Intrige und Meuchelmord, doch einen Krieg hat es des halb noch nie gegeben. Ich glaube langsam, auf Omron bricht eine neue Zeit an. Hier bekriegen sich die Waffenbrüder untereinander, in Epra und an der Küste übernehmen die Banden der Grauen im mer mehr die Kontrolle. Was geschieht als nächstes? Könnt ihr mir das verraten?« Niemand gab ihm eine Antwort, doch damit hatte Kadil auch nicht gerechnet.
Du hast dich gegen mich gestellt. Ich habe nur verhindert, was zu verhindern war – das totale Chaos. Du hast ihm einen Weg gezeigt, den niemand je sehen durfte. Er wird ihn sehen. Er muss ihn sehen. Du bist jetzt mein Feind? Wie könnte ich dein Feind sein?Du weißt, das ist unmöglich. Doch, du bist es, also werde ich dich vernichten müssen. So, wie du nach und nach alles um dich herum vernichtest? Du kannst
mich nicht töten. Ich kann es. Du kannst mich nicht vernichten, finde dich damit ab. Wir werden sehen.
Im Laufe des Tages wurde es eng an den mehr als provisorischen Anlegeplätzen des Hafens, denn von allen Inseln trafen Schiffe ein, als wäre ein lautloser Ruf an alle Kapitäne der Roten ergangen. Zamorra und Kadil mischten sich unter das Volk, während Robert Tendyke und Dünnbacke versuchten, Schlaf nachzuholen. Später würden sie die anderen dann auf ihrem Beobachtungsgang ablösen, denn auch der Professor und der Bühnenkünstler und Verfasser un zähliger Dramen spürten die bleierne Müdigkeit in den Knochen. Eine seltsame Stimmung herrschte in der Hafengegend. Kadil schi en sich hier überraschenderweise recht gut auszukennen, wie Za morra schnell bemerkte. Dieser Bursche war für immer neue Überra schungen gut, und Zamorra war sicher, bisher nur einen ganz klei nen Teil des »Gesamtkunstwerks Kadil« erlebt zu haben. Überall sah er kleine Gruppen von zehn oder fünfzehn grimmig dreinblickenden Roten, die, bis an die Zähne bewaffnet, wachsam ihre Umgebung beobachteten. Kadil stieß den Professor an. »Du hast sie auch gesehen, nicht wahr? Anhänger von Halfborinn oder Jorsteinn. Ihr Problem ist, dass sie nicht wissen, was heute ge nau geschehen wird, denn ihre Anführer sind noch nicht hier.« Er stieß ein meckerndes Lachen aus. »Außerdem wissen sie offensicht lich auch nicht so genau, welche Gruppe nun zu wem hält. Man kann sie ja wahrhaftig nicht auseinander halten.« Zamorra begann so langsam damit, sich nach einer ordentlichen Prügelei mit irgendeinem Dämon zu sehnen, wenn es sein musste, auch mit der halben Schwarzen Familie, denn da wusste er zumin dest meistens ganz schnell, woran er war. Dagegen war Omron ein
Buch mit sieben Siegeln für ihn. Da stand er nun, verkleidet und an gepinselt wie ein Roter, ein Pirat mitten unter Piraten, die sich je doch am liebsten gegenseitig die Kehlen durchgeschnitten hätten. Wenn die Situation hier plötzlich eskalierte … auf welche der beiden Seiten sollte er sich dann schlagen? Wahrscheinlich auf die, deren Anhänger ihm nicht unmittelbar mit einem Messer unter der Nase herumfuchtelten. Kadil wies mit dem ausgestreckten Arm auf ein eben ankommen des Schiff. »Sieh dir die Katapulte an, Zamorra. Gespannt und aus gerichtet, nur noch eine Kugel einlegen, und das halbe Hafenviertel wird lichterloh brennen. Sie sind zu allem entschlossen. Ich denke, das ist weit mehr, als das übliche Gerangel um die Führerschaft im Clan.« Zamorra sah den Lamaria prüfend an. »Wie meinst du das jetzt? Klingt so, als würdest du mehr wissen.« »Wissen nicht, eher ahnen.« Kadil zog seinen Bauch ein, damit eine Gruppe Roter ungehindert an ihm vorübergehen konnte. Nur nicht provozieren! »Ich habe dir und deinen Begleitern ja aus der Vergangenheit Omrons erzählt, wenn auch nur in der Kurzform. Aber seit dem Tod des letzten Et-Lamar hat sich nach und nach alles zum Schlechten gewandelt. Das hier, Krieg um den Posten des Ers ten Kapitäns, ist nur eine weitere Stufe davon. Glaube mir, es wird noch schlimmer kommen.« Die Unruhe um Zamorra und Kadil steigerte sich ganz plötzlich, und erste Rufe wurden laut. »Jorsteinn! Jorsteinn kommt!« Alles lief und rannte in Richtung der Anlegebrücke, auf deren vor derster Planke sich eine beeindruckende Gestalt aufgebaut hatte. Za morra sah den Humarog zum ersten Mal, und er nickte anerken nend, denn der Mann wusste, wie man einen Auftritt inszenierte. Seine Stimme übertönte anscheinend spielerisch die aufgeregte Meute, die sich um den Steg herum versammelt hatte. »Hört zu, Brüder und Schwestern des Roten Clans, hört mir zu!«
Jeder Politiker der Erde wäre vor Neid erblasst, denn es wurde still. Das Charisma des Mannes schaffte spielend, was in so manchem Parlament dessen Vorsitzender mitsamt seiner Glocke nicht annä hernd hinbekam. »In der Nacht habe ich mit meinen Leuten dafür gesorgt, dass kein Roter je wie ein Bauer arbeiten und leben muss. Wir sind freie Hu marogs und Lamarias, die nicht in der Erde wühlen, nicht säen und ernten, sondern sich das holen, was sie zum Leben benötigen!« Tosende Jubelschreie und gellende Wutausbrüche antworteten ihm, doch er unterband sie mit einer einzigen Handbewegung. »Halfborinn ist alt, Halfborinn ist schwach, und so wie es scheint, dem Irrsinn verfallen. Ab dem heutigen Tag bin ich, Jorsteinn, euer aller Erster Kapitän, und wer dagegen einen Einwand hat, der muss ihn mit dem Schwert in der Hand vorbringen!« Für Sekunden herrschte tiefe Stille im gesamten Hafengebiet, als hätte sich eine Glocke über die Insel gestülpt, die jedes Geräusch schluckte. Dann fasste ein Lamaria Mut, der ganz in der Nähe Jor steinns stand. »Wie kannst du Erster Kapitän sein, wenn Halfborinn noch lebt?« Zustimmende Rufe wurden laut, bis Jorsteinn sich wieder Gehör verschuf. »Weil ich es sage. Wenn Halfborinn den Mut hat, dann soll er zu mir kommen – jetzt und hier werden wir es entscheiden! Kommt er nicht, dann ist mein Wort von jetzt an euer Gesetz.« »Wenn du Sehnsucht nach mir hast, Jorsteinn, dann will ich sie gerne stillen!« Zamorra und Kadil drehten sich wie alle Anwesenden in die Rich tung, aus der die donnernde Stimme gekommen war. Mitten in der Masse der Roten bildete sich eine Gasse, durch die ein Lamaria zum Landesteg stapfte, der niemand anderes als Halfborinn sein konnte. Kadil grinste breit. »Das Schauspiel nimmt seinen Lauf. Der letzte Akt beginnt, der alte Herrscher betritt die Bühne.« Zamorra war nicht nach Scherzen zumute, denn gerade jetzt ging Halfborinn an einer jungen und bildschönen Frau vorbei, die der Professor nur zu
gut kannte. »Nicole!« Doch sein Schrei ging im allgemeinen Tumult unter.
Asmodis und Nashua waren wie zwei verlorene Kinder in der Brut stätte aufgenommen worden. Anscheinend hatte Nashua mit keinem Wort übertrieben, als sie gesagt hatte, sie würde Lamarias aus ihrer Brut immer und sofort er kennen, denn anders herum war es genauso gewesen. Asmodis musste bewundernd schmunzeln, als Nashua dem Brutvorstand eine wilde Geschichte auftischte, in der es um ihre Großmutter ging, die vor vielen Jahren hier gelebt hatte, dann nach Epra gegangen war, dort geheiratet und ihre Mutter geboren hatte. Ihr, Nashua, hätte die Großmutter immer von der Brutstätte erzählt, die sie nun endlich einmal besuchen wollte. Asmodis hätte dem Mädchen nicht ein Wort davon abgekauft, doch die Lamarias hier schienen ihr Glauben zu schenken. Sie freu ten sich einfach, ein unbekanntes Mitglied der Brut kennenzulernen. Asmodis stellte Nashua als Freund aus Epra vor, und schon war er ein akzeptiertes Brutmitglied. Es passte ihm zwar nicht so richtig in seine Gefühlswelt hinein, doch er musste zugeben, dass diese Wesen liebenswert waren, selbst für einen Erzdämon. Nashua verstand es immer wieder, geschickte Fragen zu stellen, die das eine Ziel verfolgten: zu erfahren, wie weit sie in der Zukunft Omrons gelandet waren. Doch irgendwie wollte es nicht gelingen, eine entscheidende Information zu bekommen. Als man Stunden später im Haus des Brutvorstands beim gemeinsamen Essen saß, waren auch drei Graue anwesend, die aus Norrau-Bei stammten. Sie wurden so freundlich behandelt, als hätte es nie die mörderischen Übergriffe auf die Braunen gegeben. Langsam, aber stetig, wuchs in Asmodis eine Ahnung heran, die er jedoch noch nicht an die Ober fläche seines Denkens steigen ließ, denn sie erschien ihm zu ver rückt, selbst für diese Welt.
»Warum bleibt ihr nicht für eine Weile bei uns?« Nanios, der Brut vorstand war und von seiner Art und seinem aussehen Nashua schmerzlich an ihren Vater erinnerte, machte dieses Angebot nun schon zum dritten Mal innerhalb einer Stunde. Es fiel ihm über haupt nicht ein, Nashuas Argumente so einfach hinzunehmen. Das Mädchen gab ihm ebenfalls zum dritten Mal die gleiche Antwort, doch nun hängte sie geschickt einen Versuchsballon mit an, der wei tere Informationen bringen sollte. »Du weißt, ich werde in Epra er wartet, denn der Vater meines Verlobten gibt ein großes Fest, weil er im vergangenen Umlauf so gute Geschäfte hat machen können.« Mit einem leisen Seufzer fuhr sie fort. »Ich hoffe nur, die Straßen nach Epra sind einigermaßen sicher, für Asmodis und mich?« Nanios blickte verwundert drein. »Sicher? Warum sollten sie es nicht sein? Unsere Freunde hier«, er wies auf die Grauen, »können es bezeugen, denn sie haben in Epra ihre Tauschgeschäfte mit Stof fen und Kleidung gemacht.« Der Brutvorstand schüttelte den Kopf. »Wie kommst du nur darauf, dass die Straßen unsicher sein könn ten? Es sei denn, du fürchtest dich vor wilden Dokys, denn die sind in letzter Zeit mehrfach in der Gegend gesehen worden.« Alle am Tisch lachten, außer Asmodis und dem Mädchen, das nun nachhakte. »Und die Söldner?« Ihr Blick blieb an den Grauen hängen, die sie freundlich anlächelten. »Ich meine die Söldner, die rauben, morden und unsere Brutstätten in Brand setzen.« Nanios sprang auf. »Kind, du redest wirres Zeug. Söldner? Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Glaubst du etwa, so etwas würde man je zulassen?« Erregt fasste er Nashuas Schultern. »Nie mals wird es das geben. Nicht solange der Et-Lamar regiert!« Nashua öffnete den Mund, doch es drang kein Laut daraus hervor, denn der Schock über Nanios Worte saß zu tief. Asmodis schloss sei ne Augen und verfluchte seine Vorahnungen, die sich oft als Realitä ten herausstellten. Er hatte es tief in seinem Unterbewusstsein geahnt – dies hier war
nicht die Zukunft, dies war die Vergangenheit Omrons, zu einer Zeit, da es noch einen Et-Lamar gab und sich niemand vorstellen konnte, was viele Jahre später aus dieser Welt werden sollte, was Hass, Gier und Machthunger zwischen Humarogs und den Völkern der Lamarias anrichten würde. Es kostete Asmodis einiges an Ausreden und Beschwichtigungen, um dem Brutvorstand glaubhaft zu machen, dass Nashua nur völlig übermüdet und manchmal ein wenig verwirrt war. Schließlich wies man ihnen im Haus eine Kammer zu, in der sie übernachten konn ten. Nashuas Schock saß ziemlich tief. Ohne Gegenwehr ließ sie sich von Asmodis entkleiden und ins Bett stecken, wo sie sofort einsch lief. Asmodis brauchte keinen Schlaf, er musste gründlich nachden ken und versuchen, seine Lage zu analysieren, und dazu hatte er die ganze Nacht lang ausreichend Gelegenheit. Es war weit vor dem Morgengrauen, als er Nashua aus ihrem tie fen Schlaf riss, ihr die Kleidung überstreifte und ohne ein Wort der Erklärung mit ihr das Haus und die Brutstätte verließ. Alle schliefen anscheinend, einen Wachtposten gab es nicht. Wozu auch? Es droh te ja keine akute Gefahr. Asmodis orientierte sich in der Dunkelheit und fand die Richtung, in der Epra liegen musste. Nashua war noch im Halbschlaf, und er musste das Mädchen regelrecht hinter sich her ziehen. Er hatte einen Entschluss gefasst. Irgendwer oder irgendetwas hatte sie in die Ver gangenheit gestürzt, und dies war nicht ohne Grund geschehen. Sie sollten etwas sehen, etwas erkennen, auch wenn Asmodis keine Ah nung hatte, worum es dabei ging. Und nicht umsonst waren sie so nahe bei Nashuas Brut aufgewacht, denn hier waren ihnen die Au gen geöffnet worden. Nun konnte es nur ein Ziel geben, denn der Grund für ihre Anwesenheit in dieser Zeit existierte ganz sicher in Epra, und Asmodis ahnte auch schon, was sie dort erwartete. Das Denken und die Art und Weise, wie der oder das Unbekannte vorging, wurde Asmodis mehr und mehr vertraut, und diese Er kenntnis erschreckte ihn am allermeisten.
Der Stern hatte einfach nicht mehr die Kraft, um Omron auf freund liche Temperaturen zu erwärmen. Asmodis fror. Doch damit konnte der Ex-Teufel gut umgehen, auch wenn das ein Widerspruch in sich selbst zu sein schien. Nashua hingegen hatte der Kälte außer ihrem Fell nichts entgegenzusetzen, und das reichte nicht aus. Als sie in Epra ankamen, sorgte Asmodis dafür, dass die Kleine nicht mehr so heftig zittern musste, indem er ihr kurzerhand und mit Geschick einen Umhang aus Doky-Fell stahl. Auch wenn er im mer befürchtete, viel zu sehr in menschlichen Kategorien zu denken, so gehörte der moralische Kodex des »Eigentum eines anderen nimmt man nicht an sich« ganz sicher noch nicht dazu. Was scherte es ihn, dass jetzt irgendein dahergelaufener Humarog oder Lamaria einen kühlen Tag verbringen würde? Das Mädchen war ihm da um eini ges wichtiger und als Begleiterin wertvoll. Langsam fand Nashua ihre Sprache wieder. »Kannst du mir sagen, in welcher Zeit wir nun sind, Asmodis?« Sie hatte aufgehört zu zit tern, denn Asmodis Geschenk leistete ausgezeichnete Dienste. »Ich ahne es, aber sicher bin ich keinesfalls.« Nashua war zutiefst verunsichert, denn etwas wie Zeitreisen kam in ihrer Denkweise na türlich nicht vor. Für sie musste das alles wie ein außergewöhnlich böser Traum sein, der einfach nicht zu enden schien. Asmodis sah sich um. Zumindest gab es zwischen dem Epra hier und jenem, das er in seiner realen Gegenwart kennengelernt hatte, keine großen Unterschiede. Selbst das »Traum-Theater« fand er pro blemlos wieder, und auch in dieser Zeit schien es eine Mischung aus Gasthaus und Theater zu sein, nur dass es hier »Et-Lamar-Hofthea ter« hieß, was nicht weniger großspurig und anmaßend klang. Asmodis fragte sich, wo die Herrscher Omrons residiert hatten. In Epra war ihm in beiden Zeitebenen bisher kein Gebäude aufgefal len, das einem Palast gleichgekommen wäre. Er fragte Nashua da nach, die mit Begriffen wie Palast oder Schloss nichts anzufangen
wtisste. »Mein Vater hat mir erzählt, der Et-Lamar hätte in Omrons gläser nem Kopf gelebt, zusammen mit seinen Beratern, seiner Familie und Freunden, die er gerne um sich hatte.« Omrons gläserner Kopf, das klang in Asmodis Ohren wie die Passa ge aus einem Kindermärchen, doch auf dieser Welt schien so ziem lich alles möglich, und darum hakte er nach. »Wo soll der gestanden haben? In Epra? Und was soll ich mir darunter vorstellen?« Nashua lächelte, als sie in ihren Erinnerungen kramte, und das Ge sicht ihres Vaters vor sich sah, wie er seiner Tochter die Legenden aus alten Zeiten erzählte. »Omrons Kopf lag hinter den Loren Epras, direkt am Strand.« Sie unterbrach sich, und sah ihren Begleiter merkwürdig verklärt an. »Und wenn das hier wirklich die Zeit ist, als der Et-Lamar noch regierte, dann muss es den Kopf ja auch noch geben.« Asmodis gab der Kleinen Recht, und wenn dem so war, dann war das ihr Ziel.
Asmodis war nicht leicht zu beeindrucken, denn dafür hatte er in seinem Dasein schon zuviel an Dingen gesehen, die anderen den Verstand geraubt hätten. Allein die sich ständig und in nicht vorher sehbarer Art verändernde Höllensphäre war für das Gehirn eines durchschnittlichen Intelligenzwesens nur äußerst schwer zu ertra gen. Doch Asmodis hatte weit mehr als nur das erlebt. Fremde Wel ten, so unwirklich, wie sie sich kein Autor utopisch-phantastischer Romane hätte ausdenken können, hatte er besucht, unbekannte Di mensionen, grell und lebensfeindlich, die selbst ihm, dem Erzdä mon, gefährlich werden konnten. Wesen, die mit Worten nur schwer zu beschreiben waren und vieles andere mehr hatte sich in seine Er innerung gebrannt. So gesehen, konnte ihn das Bauwerk, das Nashua und er aus eini ger Entfernung betrachteten, nicht sonderlich aus der Fassung brin
gen, wenn es auch zugegebenermaßen ziemlich monumental war. Omrons gläserner Kopf lag direkt am Meer, das hinter Epras Stadt mauern erst zu sehen war, wenn man einen Hügel erklommen hatte. Im Grunde genommen war es nur ein halber Kopf, besser gesagt eine Gesichtshälfte, die horizontal da lag. Ein Auge, die halbe Nase, ein halber Mund und ein Ohr waren zwar nur stilisiert, jedoch deut lich zu erkennen. Asmodis konnte nur schätzen, doch die Länge des Kopfes mochte gut und gerne achtzig Meter betragen, woraus sich die anderen Maße von selbst ergaben. Es waren nicht die Form oder die Größe, die den Kopf so außergewöhnlich machten, sondern das Material, aus dem er gefertigt war. So verrückt es auch klingen mochte: der Kopf bestand aus Eis! Und er befand sich nicht, wie Asmodis erst beim zweiten Hinse hen bemerkte, auf dem Strand, sondern im Wasser. Das einer Kup pel ähnliche Bauwerk schwamm. Asmodis erinnerte sich an alles, was er über die verschiedenen Et-Lamar gehört hatte. Sie hatten weise und friedlich alles das regiert, was an Land war. Nun, einen gewissen Einfluss auf das Wasser musste es aber auch gegeben ha ben, wie dieses Bauwerk der besonderen Art bewies. »Was sagen die Märchen noch über den Et-Lamar und den gläser nen Kopf?« Nashua hörte Asmodis Frage, doch es kostete sie viel Mühe, sich von dem für sie überwältigenden Anblick loszureißen. »Sie sagen, dass Omron selbst den Kopf erschuf, und ihn dem Et-Lamar zum Zeichen des Friedens schenkte. Wasser und Land lebten friedlich miteinander. Mehr weiß ich nicht.« Asmodis hatte längst damit begonnen, die Märchen dieser Welt mit anderen Augen zu betrachten. Also war Omron das Wasser, das die Bewohner des Kontinents duldete. So etwas nannte man wohl friedliche Koexistenz, die aber nicht für immer und alle Zeiten ihre Gültigkeit behalten musste, wie unzählige Beispiele in der Geschich te der Erde gezeigt hatten. Selbst unter Dämonen hatte Asmodis sol che Versuche scheitern sehen … den Fehlschlag sogar ab und an
selbst herbeigeführt, wenn es seinen Zwecken diente. »Tust du mir nichts, tu ich dir nichts.« Das ging ganz allgemein solange gut, bis einer der Zweckpartner die Chance sah, dieses Spielchen mit Vorteil auf seiner Seite zu beenden. Oder bis man einander leid war, den anderen plötzlich als schrecklich langweilig empfand. War das hier vielleicht ganz ähnlich abgelaufen? Asmodis war sicher, dass er es schon bald erfahren würde. »Komm, wir gehen näher heran. Ich will mir den Kopf möglichst genau ansehen.« Er bemerkte die einsame Gestalt, die in einiger Entfernung vom Kopf direkt am Wasser stand, beinahe zu spät. Er bedeutete Nashua, sich still zu verhalten. Da sie sich noch immer auf halber Höhe des Hügels befanden, der zwischen Epra und dem Meer wie ein Sichtschutz lag, sahen sie die Szenerie aus einer günstigen Perspekti ve, denn nicht nur die Person war das handelnde Element, sondern auch die Oberfläche des Meeres direkt vor den Füßen des einsamen Mannes, der wild gestikulierte und laut redete, ja, beinahe schon schrie. Und es war kein Selbstgespräch, wie Asmodis schnell be merkte. Der Mann schrie das Wasser des Meeres an. »Warum willst du beenden, was über so viele Jahre gut war? Sag mir doch den Grund! Bitte, du musst ihn mir nennen!« Eine Antwort war nicht zu hören, doch die Kreise, die das Wasser vor dem Mann bildete, bewegten, veränderten sich ständig. Es musste so sein, dass er das wie eine Schrift zu deuten verstand, denn er reagierte sofort heftig darauf. »Nein, nein! Das kann doch kein Grund für das Ende sein. Ich werde ändern, was dich stört, aber du musst mir schon sagen, was es ist. Nein, hör mir doch zu!« Die Wasserbewegung wurde heftiger, wirkte unkontrollierter, doch auch das schien eine klare Bedeutung zu haben. Der Mann streckte in einer verzweifelten Geste die Arme in den Himmel. »Willst du mich? Bitte, hier bin ich – mach mit mir, was du willst. Doch beende nicht alles, was für unsere Welt gut und richtig war. Du bist doch nicht wirklich so, wie du jetzt erscheinst.«
Die Wellen glätteten sich plötzlich, und deutlich wurde ein aus Wasser geformtes Auge sichtbar. Asmodis erschrak, denn das Auge erschien so realistisch, und ihm war, als würde es ihn ansehen, nur ihn. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden, und neue Kreise formten sich. Der Mann ließ resigniert den Kopf hängen. »Ich kann dich nicht hindern, aber du beschwörst das Chaos und den Tod herauf. Irgend wann wird diese Welt – deine Welt – in Blut versinken. Also tu, was du glaubst tun zu müssen.« Aus vielen Kreisen wurde einer, und für Sekunden erschien in sei ner Mitte eine Trennlinie, die hin und her wogte. Asmodis legte in stinktiv eine Hand auf Nashuas Mund, denn er fürchtete, sie würde die Kontrolle über sich verlieren, doch das Lamaria-Mädchen war ruhig und konzentriert. Das rechte Kreissegment gewann die Oberhand und auf der Was seroberfläche bildeten sich fünf Punkte, die sich wie Tropfen ausbil deten, und der Schwerkraft trotzend langsam in die Höhe stiegen. Asmodis brauchte keine große Phantasie um zu erkennen, was diese zu Eis gewordenen Wassergebilde darstellten – schlanke, spitz zu laufende Speere mit rasiermesserscharfen Klingen. Nashua wollte einen Warnschrei ausstoßen, doch Asmodis Hand lag noch immer auf ihrem Mund. Sie durften sich nicht in den Ab lauf der Dinge einmischen, wenn sie kein Zeitparadoxon riskieren wollten. Die Speere lösten sich endgültig vom Wasser und legten sich wie durch Zauberei waagerecht in die Luft. Der Mann hob den Kopf und sah seiner Hinrichtung mit offenen Augen entgegen. Dann ging alles blitzschnell. Die Speere schnellten wie von riesi gen Bögen abgeschossene Pfeile in den Körper ihres Opfers, der durch die Aufprallwucht mehrere Meter nach hinten geschleudert wurde. Eine unheimliche Stille lag in der Luft, eine Stille, die klar werden ließ, dass jeden Augenblick etwas geschehen würde. Asmodis wusste nur zu genau, was. Er riss Nashua herum in Richtung Epra. »Lauf, lauf um dein Le
ben, Mädchen!« Hinter ihnen setzte ein hässliches Knirschen der Stille ein Ende, und das war erst der Beginn des Infernos. Mit aller Kraft, die sie aus ihren Beinen herausholen konnten, stürmten Nashua und Asmodis den Hügel hinauf.
Auf den letzten Metern geriet die Lamaria ins Straucheln und As modis versetzte ihr einen harten Stoß in den Rücken, der sie gerade zu über die Hügelkuppe fliegen ließ. Mit einem Hechtsprung setzte er ihr nach. Dann kam die Explosion und schoss Millionen von winzigen Eispartikeln, scharfkantig und hart wie Diamanten, in alle Richtun gen ab. Wie Geschosse schlugen sie in das Erdreich des Hügels ein, flogen bösartig surrend an den beiden Schutzsuchenden vorbei, die das Doky-Fell wie einen Schutzschirm über sich hielten. Asmodis spürte einen Einschlag in seinem rechten Arm, einen weiteren an der Hüfte, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Schüt zend hatte er Nashua regelrecht unter sich begraben. Nur langsam ebbte das Bombardement ab, ließen die damit verbundenen Ge räusche nach. Vorsichtig erhob sich Asmodis und wagte einen Blick hinunter zum Strand. Es war, als hätte es Omrons gläsernen Kopf nie gege ben. Nichts war von ihm übrig geblieben, denn die Explosion hatte ganze Arbeit geleistet. Wie viele Lebewesen mochten darin umge kommen sein? Von Leichen war jedoch nichts zu sehen, weil die mächtige Detonation sie sicher in alle Himmelsrichtungen verstreut hatte. Der Tod musste sie vollkommen unvorbereitet getroffen ha ben. Asmodis zog zwei Eissplitter aus Arm und Hüfte, die keinen großen Schaden bei ihm angerichtet hatten. Seine dämonische Selbstheilungskraft sorgte dafür, dass sich die Wunden sofort schlossen. Wenigstens die funktionierte in dieser Welt noch. Nashua war wie durch ein Wunder völlig unverletzt geblieben, aber jetzt
gingen die Nerven mit ihr durch. An Asmodis Schulter gelehnt, weinte das Mädchen hemmungslos den Schock aus sich heraus. Das also war es, was sie hatten sehen sollen. Aber warum? Wel chen Grund gab es dafür, diese Szenerie einem Lamaria-Mädchen und einem Fremden vorzuführen? Vor allem jedoch fragte Asmodis sich, wer dahinter stecken mochte. »Du weißt es tatsächlich noch nicht?« Asmodis zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als die Stimme in ihm erklang, leise nur, aber deutlich und klar zu verste hen. Jetzt war wohl der Moment gekommen, dass auch ihm das Nervenkostüm den Dienst verweigerte. Ein leises Lachen begleitete seine Gedanken. »Du irrst, wenn du mich für die Auswirkung deines Gemütszustands hältst. Ich bin es, der dir dies alles hier gezeigt hat, den Anfang von dem, was du bei deiner Ankunft auf Omron vorgefunden hast. Die Stunde Null, wie du es vielleicht nennen würdest.« Asmodis riss sich zusammen, denn vorläufig musste Nashua noch nichts von dieser Stimme in seinem Kopf erfahren; das Mädchen war an der Grenze dessen angelangt, was sie ertragen konnte. Um sich konzentrieren zu können, schloss er die Augen. »Warum hast du mich hierher geholt? Warum nicht einen meiner Gefährten? Was soll ich hier bewirken?« Er war sich nicht sicher, dass diese merkwürdige Art der Kommunikation in beide Richtungen funktio nierte, doch diese Zweifel vergingen schnell, als die Antwort kam. »Wenn du es nicht von selbst weißt, warum gerade du hierher kommen musstest, dann bist du einfach noch nicht so weit, um es zu erfahren. Be wirken? Du kannst hier nichts bewirken – du solltest nur sehen und ver stehen. Du musst jedoch keine Sorge haben, dass deine Handlungen hier auf die Zukunft Auswirkungen haben könnten.« Damit meinte die Stim me offensichtlich Asmodis Befürchtungen, ein Zeitparadoxon her aufzubeschwören. »Dies hier hat keine Zukunft. Ahnst du überhaupt, wo du dich befindest?« Asmodis verstand diese Frage nicht. »In Omrons Vergangenheit
natürlich. Du – wer auch immer du bist – hast mir den Moment ge zeigt, in dem der letzte Et-Lamar getötet wurde. Wie das geschah, und durch wen, weiß ich nun, wenn auch nicht warum. Aber was soll ich mit diesem Wissen anfangen? Sag es mir klar und deutlich, denn ich bin diese Spielchen leid.« Der frühere Höllenfürst wollte sich nicht länger wie eine Marionette gängeln lassen. Ein leises Lachen begleitete die Antwort. »Du hast nichts begriffen, Fremder und Freund.« Eine seltsame Anre de, die Asmodis nicht einzuordnen wusste. »Nicht in Omrons Ver gangenheit befindest du dich, sondern an dem Ort, den die Bewohner die ser Welt Omrons Sack nennen oder auch den ›Wurm‹, aber diese dümmli chen Bezeichnungen muss man ihnen verzeihen, denn es sind ja nur Kin der.« Omrons Sack. Asmodis erinnerte sich an Kadils Erklärung, dass hier, am südöstlichen Ende des Kontinents, angeblich die Weißen lebten. Aber was die Stimme ihm da einreden wollte, war doch der blanke Unsinn, denn er war in Epra gewesen, bei der Brutstätte Nas huas, und jetzt konnte er das weite Meer vor sich sehen, das so friedlich vor ihm lag, als wäre hier nicht vor Minuten eine Katastro phe abgelaufen, die eine ganze Welt ändern sollte. Wie sollte dies al les, praktisch als eine l:l-Kopie, in diesen kleinen Teil des Landes passen? Dabei zog Asmodis die Absurdität einer solchen Kopie noch gar nicht mit in Betracht. »Natürlich gibt es Epra hier, und auch die Brutstätten – alles ist hier. Doch nicht in der Form, die du vermutest. Was du hier siehst, was du er lebst, ist alles längst vergangen. Hier gibt es nur die Zeit mit all ihren Be gebenheiten, die ich eingefroren habe.« Asmodis wusste nun endgültig nicht mehr, wie er das alles zu ver stehen hatte. »Aber das ist doch ganz einfach, Freund. Ich bewahre hier den letzten Rest der alten Zeit, denn irgendwann wird diese Well diese gefrorene Zeit bitler nötig haben. Und vielleicht ist irgendwann ja schon heute …« »Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst. Du musst deutlicher
werden.« »Du musst es verstehen, denn du kennst es doch bereits. Erinnerst du dich wirklich nicht?« Die Stimme verstummte, zog sich aus seinem Kopf zurück, und Asmodis fragte sich, was für eine Bedeutung hinter all dem hier ste cken mochte. Was sollte er jetzt tun? Noch immer hielt er die schluchzende Nashua im Arm. die durch ihn in etwas hineingezo gen worden war, das weit über ihr Begriffsvermögen hinausging. Wie hätte es auch anders sein sollen, denn selbst er konnte die Zu sammenhänge nicht begreifen. Gefrorene Zeit. Selten war Asmodis sich so hilflos und unwissend vorgekommen. Dennoch hatte er nun ein neues Ziel. Langsam schritt er mit Nashua, der er väterlich einen Arm um die Schultern gelegt halle, den Hügel in Richtung Epra hinunter. Aufge regte Humarogs und Lamarias kamen ihnen entgegen, die durch die Explosion aufgeschreckt worden waren. Sie würden ihren toten EtLamar finden, und schon bald darauf würde das Gezänk um seine Nachfolge beginnen. Andererseits zählte dies sicher schon nicht mehr zu der alten Zeit, wie die Stimme es formuliert hatte. Asmodis war nicht sicher, ob diese zukünftigen Ereignisse hier überhaupt existieren würden. Als er am Stadttor Epras ankam, drehte er sich um – die aufgereg ten Bewohner waren verschwunden, und auch die beiden Ein schusswunden in seinem Arm und seiner Hüfte existierten nicht mehr. Gefrorene Zeit. Er war sicher, dass der Eispalast nun wieder hinter dem Hügel friedlich im Meer lag und der Et-Lamar lebte. Aufmunternd lächelte er Nashua zu. Sie schien sich damit abge funden zu haben, dass sie ihre Welt einfach nicht mehr verstand, und verließ sich in allem voll und ganz auf Asmodis. Die Kleine musste hungrig sein. Also galt es, sich etwas Essbares zu besorgen, damit Nashua ihm nicht vom Fleisch fiel. Asmodis grinste, denn das Mädchen war ihm tatsächlich ans Herz gewach
sen. Zumindest ein wenig, denn mehr würde er nicht zulassen. Später dann machten sie sich in Richtung der Drahnoko-Felder auf, die ja nicht weit von Epra entfernt lagen. Es musste kurz vor der Blütezeit sein, wenn Asmodis sich nicht irrte.
5. »Bleib doch bei uns, Kindchen.« Isia hatte Nicoles Hände fest mit den ihren umschlossen. Die Draahn-Macherin war so verunsichert, wie man es nur sein konnte. Sie wusste nach dem Brandanschlag in der Nacht nicht, wie es mit ihr und ihrem Mann weitergehen sollte. »Ich glaube, Halfborinn wird schon bald hierher kommen und uns neue Blüten bringen. Was sollen wir ihm denn dann sagen, wo du geblieben bist? Ich habe Angst um dich, meine Kleine.« Nicole lächelte der alten Frau freundlich zu. »Das musst du nicht, Isia, aber schau, ich muss zurück zum Hafen, denn dort wird jetzt bald etwas geschehen. Vielleicht ist es besser, wenn ihr beide hier bleibt und euch still verhaltet. Aber neue Blüten …« Sie unterbrach sich, denn wie sollte sie der gutmütigen Humarog-Frau erklären, was der Anschlag für Folgen nach sich zog? »Halfborinn wird ganz sicher nicht zu euch kommen, zumindest nicht so schnell, wie du hoffst. Es wird einen offenen Kampf zwischen ihm und Jorsteinn ge ben.« Letzteres hatte auch Kttrat vermutet, denn es war eindeutig, auf wessen Konto das Niederbrennen des Drahnoko-Lagers ging. Eine deutlichere Provokation konnte es nicht geben. Mit Tränen in den Augen ließ Isia Nicole schließlich gehen. Kurat steckte ihr noch einen kurzen Dolch zu. »Wer weiß, was sich zwi schen hier und dem Hafen jetzt so alles herumtreibt, Mädchen. Gib auf dich acht, hörst du? Und komm uns bald besuchen.« Die beiden waren eindeutig zu gut für diese Welt. Nicole musste jetzt wirklich los. Das klapprige Doky-Gespann hatten die DraahnMacher ihr mit dem Hinweis überlassen, dass sie sich voll und ganz auf die beiden Tiere verlassen sollte, denn die waren ihr ganzes Le ben nur immer den Weg zum Hafen und wieder zurück gelaufen. Und so war es dann tatsächlich. Die altersschwachen Zugtiere trab
ten gemächlich, aber zielstrebig los. Auf dem Weg hierher hatte Nicole einen großen Teil der Fahrt re gelrecht verschlafen, daher konnte sie nicht einschätzen, wie lange sie bis zum Hafen benötigte. Die Straße verdiente ihren Namen nicht. Nicole wünschte sich sehnlichst, in einem ordentlichen Offroader mit eingeschaltetem Allrad-Antrieb und massenhaft Pfer destärken zu sitzen, dann würde sie diesem Knüppelweg hier schon zeigen, was sie von ihm hielt. Träumen durfte man schließlich doch noch. Nicole malte sich aus, was im Hafen jetzt schon geschah, denn die Botschaft über die Feueranschläge der vergangenen Nacht hatten mit Sicherheit bereits auf der Insel per Mundpropaganda die Runde gemacht, wahrscheinlich sogar auf allen Inseln der Roten. Halfbo rinn und Jorsteinn würden die Sache regeln, und nur einer von ih nen würde das überleben. Als endlich die ersten Häuser der Hafengegend in Sicht kamen, spürte Nicole jeden einzelnen Knochen ihres Körpers. Irgendwer sollte den Leutchen hier einmal beibringen, dass man auch Fuhrwer ke und Kutschen einigermaßen federn konnte. Oder hatten die Ro ten etwa alle Stahlplatten an ihren Hinterteilen angeschraubt? Der Weg war für Nicoles Doky-Gespann nicht mehr befahrbar, denn es waren so viele Rote unterwegs zum Anlegeplatz der großen Schiffe, dass man nur noch zu Fuß weiterkam. Rush-hour, dachte Ni cole mit einem Anflug von Sarkasmus. Davon blieb man offenbar nirgendwo verschont. Je näher Nicole dem Hafenbecken kam, umso mehr musste sie die Ellbogen einsetzen, um nicht zwischen Humarogs und Lamarias eingekeilt zu werden. Sie war sicher, dass Zamorra und die anderen sich bereits auf der Insel befanden. Es gab hier nur einen Ort, der zur Zeit ihre Aufmerksamkeit fesseln würde. Zudem wusste sie nur zu genau, dass Zamorra ihr Verhaltensmuster in- und auswendig kannte; ihm war klar, dass sie auf dem Weg hierher war. Also waren er, Robert und wahrscheinlich auch Sid Amos irgendwo dort vorne
in dem heillosen Gedränge. Mehr als ein Roter musste sich kleine Handgreiflichkeiten von ihr gefallen lassen, ehe sie endlich den Platz erreicht hatte, den sie errei chen wollte. Ihr Blick fiel sofort auf Jorsteinn, der sich gerade selbst zum neuen 1. Kapitän ausgerufen hatte. Selbstbewusst war er ja, das musste Nicole dem unhöflichen Kerl lassen, aber reichte das aus, um sich gegen Halfborinn durchzusetzen? Die Augen des Clanchefs gingen Nicole einfach nicht aus dem Sinn. Der Lamaria war mehr als ein Kämpfer und Pirat, er war ein Visionär, wie ihn diese Welt dringend benötigte. Hinter Nicole entstand große Unruhe, und der Grund dafür ließ Sekunden später seine Stimme erschallen. »Wenn du Sehnsucht nach mir hast, Jorsteinn, dann will ich sie gerne stillen!« Mit festen Schritten bahnte sich der 1. Kapitän eine Gasse in Richttmg Jorsteinns, der bereits mit lässiger Bewegung sein Schwert aus der Scheide zog. Der Tanz begann.
Robert Tendyke und Dünnbacke hatten den verdienten Schlaf nicht sehr lange genießen können. Der Lärm, der von draußen in die Räu me des Bordells drang, wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Tendyke war bewusst, dass die Sache zwischen dem Chef der Ro ten und seinem »Möchtegern-Nachfolger« schon bald ausgetragen werden würde, doch dass die Piraten es so eilig damit hatten? Sie hätten ihm zumindest ein paar Stunden Schlaf gönnen sollen. Dünnbacke stand bereits am geöffneten Fenster, von dem aus er die Anlegestelle gut einsehen konnte. »Was meinst du, Robert, ge hen wir hinunter?« Von dem Gedanken war Tendyke nur wenig begeistert, denn in dem Gewühl da unten konnte sich leicht eine Messerklinge in eine
Richtung verirren, die Robert gar nicht zusagte – in Richtung seines ungeschützten Rückens etwa. »Ich nicht, Dünnbacke, aber tu dir kei nen Zwang an, wenn du unbedingt möchtest.« Er stutzte, denn in nur kurzer Entfernung von Jorsteinn, der sich bereits wie der eindeutige Sieger der ganzen Angelegenheit aufführ te, hatte er Kadil und Zamorra entdeckt. Einmal nur wollte er erle ben, dass Zamorra sich nicht genau dort aufhielt, wo der dickste Är ger im Anzug war, doch das Vergnügen würde der Professor ihm wohl nicht bereiten. Robert rechnete damit, dass der Ausgang des Zweikampfs der beiden Titanen dort unten nicht das Ende der gan zen Auseinandersetzung war, also mochte es angebracht sein, wenn sie beieinander blieben. Gerade wollte er Dünnbacke die Sachlage erklären, als der überrascht aufschrie. »Da ist sie ja. Da ist Nicole!« Tatsächlich konnte auch Robert sie jetzt ausmachen. Sie stand di rekt am Rande der Gasse, durch die Halfborinn sich seinen Weg bahnte. »Los, Dünnbacke, runter auf den Platz.« Plötzlich hatte Tendyke es furchtbar eilig und stülpte sich seinen albernen Turban über die ver räterisch »unroten« Haare. »Jetzt fehlen uns nur noch Nashua und der alte Schwefelschnupfer, dann wäre der Trupp wieder beisam men.« Mit »Schwefelschnupfer« konnte der junge Lamaria zwar nichts anfangen, aber er hatte es aufgegeben, bei jedem ihm unbekannten Wort nachzufragen. Die Fremden redeten einen seltsamen Unsinn zusammen. An Myrria und ihren Damen vorbei drängten sie sich auf die Stra ße, genau in dem Moment, als Halfborinn sich Jorsteinn stellte.
»Sie kann mich nicht hören, verdammt, bei dem Lärm hier auch kein Wunder!« Zamorra hatte sich die Seele aus dem Hals geschrien, doch Nicole stand zu weit von ihm und Kadil entfernt, als dass er mit seiner Stimme bis zu ihr hätte dringen können.
»Darum kannst du dich später kümmern, Zamorra. Jetzt ist ande res wichtiger.« Mit dem Arm wies Kadil in Richtung der beiden Ka pitäne, von denen nur einer diese Sache hier lebend überstehen wür de. Für ewig lange Momente sahen die beiden Roten, der eine Hu marog, der andere Lamaria, sich zwingend in die Augen, dann war es Halfborinn, der das Schweigen brach. »Ich werde dir jetzt beweisen, dass ich weder alt noch dem Irrsinn verfallen bin, Jorsteinn. Schade um dich, du warst einer meiner bes ten Kapitäne.« Die Klinge, die geschmeidig aus Halfborinns kunstvoll verzierter Schwertschneide fuhr, war von beeindruckender Breite und Länge, doch Jorsteinns Waffe stand ihr in nichts nach. Es gab keine weite ren Worte mehr – mit hellem Klirren trafen sich die beiden mächti gen Waffen drei, vier Mal in so rascher Abfolge hintereinander, dass viele der Zuschauer dem ersten Waffengang nicht richtig folgen konnten. Beide Kämpfer machten einen Satz nach hinten und sahen einander taxierend an. Die Art und Weise, in der die Klingen in An griff und Verteidigung aufeinander geprallt waren, hatten beiden die Kampfkraft des anderen deutlich gemacht, jedoch auch seine Schwachpunkte, die sie lesen konnten wie ein offenes Buch. Erst jetzt begann der eigentliche Kampf. Zamorra war tief beeindruckt. Er selbst war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer und hatte mit dem Zauberschwert Gwaiyur viele Kämpfe bestritten. Mit einem leichten Degen, einem Florett oder selbst dem Säbel hätte er sich gegen die beiden Roten durchaus Chancen ausgerechnet, doch was Jorsteinn und Halfborinn mit ihren Schwertern machten, das war unglaublich gut und wohl kaum zu toppen. Auch nach dem dritten oder vierten Waffengang der Kapitäne konnte Zamorra für keinen einen entscheidenden Vorteil ausma chen. Einer der beiden würde auf der Strecke bleiben, so oder so, doch das war wirklich eine Schande, weil solch großartige Könner sich besser die Hand gereicht und gemeinsam einen vernünftigen
Weg aus ihrem Zwist gesucht hätten. Die atemlose Stille unter den gebannt zusehenden Zuschauern wurde von einem vielstimmigen Aufschrei durchbrochen, als Jor steinn strauchelte. Die Chance war für einen Sekundenbruchteil da, doch Halfborinn nutzte sie nicht kaltblütig aus. Absicht oder Fehler? Zamorra wollte an ersteres glauben, und seine Sympathien für den amtierenden Clanchef wuchsen. Die beiden gönnten sich nur kurze Verschnaufpausen, wenn sie, in unhaltbare Positionen geraten, von einander abließen und den nächsten Angriff aufbauten. Je länger der Kampf dauerte, je mehr befürchtete Zamorra, dass das Ende des Kampfes vom Altersunterschied der beiden bestimmt sein würde. Noch war davon kaum etwas zu spüren, doch es war nur logisch, dass Jorsteinn, der um viele Jahre jünger als sein Gegner war, ganz einfach über eine größere Ausdauer verfügte. Und Half borinn wusste das natürlich ganz genau. Er drängte auf eine Ent scheidung und riskierte nun Attacken, die Zamorra die Luft anhal ten ließen. »Verdammt, ich will das Ende überhaupt nicht sehen.« Zamorra war wütend über die Tatsache, dass hier sinnlos ein Leben vernich tet wurde. »Ich auch nicht.« Kadil richtete sich auf, als wolle er, genau im Gegenteil zu dem eben gesagten, einen noch besseren Blick auf den Kampf haben. Ge rade war wieder eine kurze Kampfunterbrechung eingetreten, und Zamorra sah sich nach dem besten Weg um, auf dem er zu Nicole gelangen konnte. Es war nicht seine Art, sich einen guten Kampf nicht bis zu seinem Ende anzusehen, doch das hier würde mit dem Tod eines Lebewesens enden, eines großen Kämpfers und Mannes, der noch viel für sein Volk hätte tun können. Der Professor der Para psychologie machte sich auf den Weg, in der Hoffnung, Kadil wür de ihm ganz einfach folgen. Die donnernde Stimme, die die Stille sprengte, stoppte Zamorras Bewegung.
»Warum soll einer der besten, die euer Clan je hervorgebracht hat, sein Leben lassen? Jorsteinn oder Halfborinn – und was ist mit dem dritten Weg? Habt ihr ihn vergessen? Habt ihr mich vergessen?« Die Stimme war ganz nahe bei Zamorra, und als er sich langsam umdrehte, sah er mit Entsetzen, wer die Aufmerksamkeit aller Ro ten auf sich gezogen hatte, die alle nur noch in seine Richtung starr ten, einschließlich der beiden Kapitäne, die vollkommen verblüfft ihre Schwerter hatten sinken lassen. Professor Zamorra machte keine Ausnahme, denn auch er starrte Kadil ungläubig an, der hochaufgerichtet in die Runde schaute. »Es ist lange her, ich gebe es zu, aber habt ihr mich denn wirklich ver gessen? Schaut nur genau hin!« Es war Halfborinn, der als erster reagierte. Mit lautem Klirren fiel sein Schwert zu Boden. »Bei Omrons Schwanz! Er ist es tatsächlich. Ja seht ihr es denn nicht?« Sein Blick ging zu den Kapitänen der Ro ten, die sich alle um die Kampfarena versammelt hatten. »Er ist es – Kamirr Et-Lamar lebt!« Zamorra versuchte erst überhaupt nicht, den Sinn des Ganzen zu verstehen. Er sah Kadil an, der nun von immer mehr Roten erkannt wurde und sich mit festen Schritten seinen Weg zum 1. Kapitän bahnte, der ihn mit einer innigen Umarmung begrüßte. »Ich versteh' diese wahnsinnige Welt nicht mehr«, murmelte Za morra ungläubig. »Ich auch nicht, Cheri.« Es war Nicole, die ihn entdeckt und den Weg durch die Menge hin zu ihm geschafft hatte. »Aber wie ich Ka dil – oder Kamirr? – kenne, wird er uns nicht dumm sterben lassen.« Zamorra war froh, Nicole unversehrt wieder bei sich zu haben, und begrüßte sie mit einem langen Kuss. Diese Welt konnte ihm wirklich gestohlen bleiben. Andere Dinge waren da viel wichtiger, doch leider würden die noch ein wenig warten müssen.
Er hat nun gesehen, wie es war. Was hast du damit gewonnen? Ich vernichte dich dafür. Siehst du denn nicht, was geschieht? Siehst du nicht das Ende unserer Welt? Du lügst. Die Welt wird immer bestehen, weil ich immer bestehen werde. War es denn früher nicht gut, so wie es war? Es ist meine Welt, sind meine Eindrücke. Du wirst sterben. Wie dumm du bist. Lass sie doch in Frieden leben. Es ist meine Welt, ganz allein meine.
Noch nie zuvor hatte es in Myrrias Haus so hohen Besuch gegeben. Sicher waren nahezu alle Kapitäne schon das eine oder andere Mal in ihr Etablissement eingekehrt, doch noch nie alle zur gleichen Zeit, was dann auch einen gewissen Personalmangel mit sich gebracht hät te. Es hatte noch Stunden gedauert, bis sich die Menge der Roten im Hafengelände auflöste. Schließlich beschlossen die Kapitäne alle ge meinsam, dass der große Rat tagen musste, und zwar hier und heu te. Auf ein Schiff als neutralen Ort hatte man sich nicht einigen kön nen. Zwischen den einzelnen Gruppen gab es natürlich nach wie vor Misstrauen, auch wenn Halfborinn und Jorsteinn eine Art zeitlich begrenzten Frieden geschlossen hatten. Es war Kamirr Et-Lamar, an dessen neuen Namen und seine Bedeutung sich Zamorra und seine Freunde einfach noch nicht gewöhnen konnten, der vorschlug, Myr rias Haus zu wählen. Es gab nur leise geknurrte Einwände, aber schließlich kamen alle mit. Das Haus glich an diesem Abend einer Festung, denn draußen belauerten und bewachten sich Jorsteinns und Halfborinns Leute gegenseitig; nicht einmal eine Fliege hätte unbemerkt in das Haus gelangen können.
Es gab zum Glück eine Art Saal, der alle Anwesenden aufnehmen konnte. Auch Zamorra, Nicole, Robert Tendyke und Dünnbacke waren vom Et-Lamar eingeladen worden, der noch vor Beginn der hochof fiziellen Tagung erst einmal einige klärende Worte an seine Freunde richtete. »Ich bin natürlich nicht der letzte Et-Lamar, von dessen Tod ich euch berichtet habe.« Nicole konnte sich nicht zurückhalten. »Was du nicht sagst? Ei gentlich siehst du auch noch nicht so ganz nach mehr als hundert Umläufen aus, Kadil, oder muss ich jetzt Kamirr sagen?« Der winkte nur ab. »Bleibt bei Kadil, wenn ihr mögt, das ist doch nicht so wichtig. Aber ich habe euch auch erzählt, dass es nach dem Tod des Et-Lamar immer wieder einmal Versuche in den einzelnen Gruppierungen und Völkern gab, einen neuen Herrscher nach alter Tradition zu wählen.« »Nur hat das laut deiner Aussage ja nie funktioniert.« Tendyke machte den Eindruck, als habe er keine Lust auf ellenlange Erklä rungen, wie Kadil sie oft und gerne von sich gab. Der stimmte Ro bert zu. »Richtig, doch vor beinahe zwanzig Umläufen war es fast ge schafft. Alle, selbst der größte Teil der Grauen, waren sich einig. Ja, und ich sollte es damals werden, der neue Et-Lamar. Die größte Un terstützung bekam ich damals von den Roten, weil ich mich immer für sie stark gemacht hatte. Doch dann hat Omron selbst eingegrif fen.« Zamorra legte die Stirn in Palten. »Omron? Du meinst, dass sich diese Welt gegen dich gestellt hat?« Kadil lachte. »Nein, nicht speziell gegen mich armseliges Doky! Es gab an der Küste eine Flutwelle, die Tausende tötete; Unwetter ver wüsteten Gromgerr und Calariat, und in Indusitall bebte die Erde. Ihr mögt es sehen, wie ihr wollt, aber für uns waren das mehr als deutliche Zeichen. Und so habe ich mich still und heimlich aus dem
Staub gemacht, habe mal hier und mal dort gelebt, mir einen dicken Bauch angefressen«, er schlug mit beiden Händen gegen seine nicht zu übersehende Leibesfülle, »und bin schließlich in Epra sesshaft ge worden. Den Rest kennt ihr ja.« Niemand wusste so recht, was er daraufsagen sollte, also redete Kadil weiter. »Alles ging damals so weiter, wie wir es hatten verhin dern wollen, doch seither hat es keinen neuen Versuch gegeben, die Völker Omrons zu einen, weil alle Angst vor dem haben, was die Welt uns dann antun würde. Ihr dürft mich einen Feigling nennen, aber ich wollte keine weiteren Humarogs und Lamarias sterben se hen. Dann lieber so leben, wie Omron es befiehlt.« »Und nun bist du doch wieder Kamirr Et-Lamar geworden. Hast du denn jetzt keine Angst mehr?« Zamorra bewunderte die Ehrlich keit des Lamarias, in dem ungeahnte Fähigkeiten zu stecken schie nen. Der Professor hatte es ja geahnt, doch das hier übertraf nun wirklich alles, was er sich je hätte ausmalen können. »Natürlich habe ich Angst, aber ihr habt ja gesehen, wie weit es ge kommen ist. Drohender Krieg zwischen Brüdern, die Grauen ken nen keine Grenzen mehr, und die Hälfte der Bewohner Omrons bringt sich langsam aber sicher mit der Droge um. Viel mehr kann uns kaum noch angetan werden. Es muss jetzt geschehen, eine zwei te Chance bekommen wir nicht mehr. Und eure Anwesenheit macht mir zusätzlich Mut.« Zamorra verstand nicht. »Du siehst doch, wie hilflos wir hier sind. Wie könnten wir dir Mut geben?« Kadil sah in die Runde. »Omron ist allmächtig, aber warum ver sucht er dann euch ständig voneinander zu trennen? Hat er Angst vor euch als Einheit oder ist es eure bloße Anwesenheit, die er nicht versteht? Euren dunklen Freund hat er erst nach großer Gegenwehr bekommen, und dass Nashua mit ihm verschwand, war ganz sicher auch nicht so geplant.« Zamorra fand, dass Kadil sich ein wenig zu viel zusammenreimte, doch der ließ sich nicht bremsen. »In ganz al ten Geschichten sprach man von Omron immer als gespaltene Welt,
die vom Hellen ins Dunkle, von Schwarz nach Weiß pendelte. Zu lange herrscht das Dunkle vor! Vielleicht wird es ja nun anders.« Er stand auf. »Nun wollen wir die Kapitäne nicht mehr länger warten lassen. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Kommt mit mir.«
Einen Tisch, um den sich alle anwesenden Kapitäne der Roten hät ten setzen können, konnte Myrria leider nicht bieten. Daher hatte sie ganz einfach alle verfügbaren Stühle in einem großen Kreis aufstel len lassen. Die Kapitäne beobachteten einander misstrauisch. Es fiel Zamorra nicht schwer, schnell die einzelnen Lager zu erkennen, denn Jorsteinns und Halfborinns Männer saßen sich gegenüber wie hungrige Raubkatzen, die einander im nächsten Augenblick an die Kehle gehen wollten. Nicole stieß Zamorra an. »Nette Atmosphäre, nicht wahr? So rich tig gemütlich und anheimelnd. Da fällt mir ein, dass ich noch etwas zu klären habe.« Ehe der Professor sie hindern konnte, ging sie mit lässigen Bewegungen auf Jorsteinn zu und baute sich direkt vor dem Kapitän auf. »Hallo, Stockfisch.« Zamorra blieb die Luft weg, als er Nicoles Worte vernahm. »Eigentlich müsste ich mich ja bei dir für die nette Warnung bedanken, und irgendwie hast du dadurch ja etwas gut bei mir, aber mein Eigentum hätte ich schon gerne zu rück.« Jorsteinn war so verblüfft, dass ihm keine gescheite Entgegnung einfiel, denn so eine Frau war ihm auf Omron sicher noch nie unter gekommen. Er sah Nicole nur verständnislos an. Sie half ihm gerne bei seiner Gedächtnislücke aus. »Du hast mich bestohlen, mein lieber Freund. Gib mir meinen Kristall zurück. Nicht, dass ich so wild auf Schmuck wäre, aber an dem Stein liegt mir schon ganz besonders. Also?« Sie streckte auffordernd die rech te Hand aus. Langsam schien es Jorsteinn zu dämmern. »Ich stehle nicht, Weib. Ich habe dich gefangen, und daher gehört
mir auch dein Besitz.« Zustimmendes Gemurmel wurde laut, denn das war für einen Roten die normalste Sache der Welt. Bevor Nicole dem Kapitän eine passende Antwort geben konnte, schaltete sich Kamirr Et-Lamar ein. »Wir sollten uns mit solchen Kleinigkeiten jetzt nicht belasten. Jorsteinn, bitte gib Nicole den Stein.« Sicher mochten einige der Anwesenden dem Kapitän und Heiß sporn es als Schwäche auslegen, doch Jorsteinn war vernünftig ge nug, um Kamirrs Bitte zu verstehen. Es ging hier wirklich um mehr als um Beute. Mit einem schiefen Grinsen legte er der bemerkens werten Frau den blauen Kristall auf ihre Handfläche. Nicole lächelte ihn an. »Ich danke dir, mein Kapitän.« Zamorra hatte sich seit Jahren daran gewöhnt, von Nicole ständig überrascht zu werden. Richtig kennen und in allen Situationen ver stehen würde er sie sicher nie, doch das war ja gerade das spannen de Element in ihrer Beziehung. Was dann folgte, waren Stunden, die mit Reden, wüsten Vorwür fen und Beschimpfungen, Anschuldigungen und Verteidigungen und ab und an auch einem Lachen gefüllt wurden. Kamirr redete mit Händen und Füßen, ließ sein schauspielerisches Talent erblü hen, doch ein wirkliches Ergebnis wollte nicht zustande kommen. Es war ganz wie auf der guten, alten Erde, dachte Zamorra mehr als einmal. Wenn bei dem Treffen überhaupt etwas Zählbares herauskam, dann sicher nicht mehr als eine wässerige Formulierung in der Art von »Beide Seiten bekunden ihren guten Willen. Die Verhandlungen werden natürlich fortgeführt.« Und so weiter, und so fort. Zamorra war nur froh, dass im Vokabular der Piraten keine »bilateralen Ge spräche« und ähnliches Politiker-Dummgeschwätz vorkamen, denn das wäre dann wohl zuviel für seine Nerven gewesen. Immer wieder schweiften in diesen Stunden seine Gedanken hin zu Asmodis und Nashua. Robert war sicher, dass sein Vater lebte, und Zamorra hoffte wirklich, dass der Ex-Teufel gut auf das Lama
ria-Mädchen aufpasste. Wo mochten die beiden jetzt stecken? Ten dyke hatte ein Gefühl geäußert, etwa in der Form, dass Sid Amos so weit von ihnen allen entfernt war, wie das nur möglich war. Erklä ren konnte er diese Empfindung allerdings nicht. Kadil sah erschöpft aus, so wie die meisten im Raum. Nur an Jor steinn und Halfborinn schienen die Anstrengungen des Tages spur los vorübergegangen zu sein, denn die beiden Kapitäne beschimpf ten einander nach wie vor mit ungeheurer Inbrunst und Energie. »Mir reicht es.« Nicole sah Zamorra an, der sich gerade ein herz haftes Gähnen zu unterdrücken schien. »Ich sehe dir an, dass du nicht weniger müde bist als ich, Cheri. Ich werde Myrria fragen, ob wir ein kuscheliges Zimmer haben können. Nur wir zwei. Oder soll ich noch eine kleine Lamaria für dich als Betthupferl ordern?« Der Professor grinste. »Untersteh dich! Mir fallen die Augen zu, und außerdem bist du mir immer ein mehr als ausreichendes Hup ferl.« Er drückte seiner Lebensgefährtin einen Kuss auf die Wange. Für Nicole ein Zeichen dafür, dass es in der kommenden Nacht im Bett eher freundschaftlich zugehen würde, doch das war auch ihr recht, denn sie spürte jeden Knochen im Körper. Sie war an nichts anderem als an ausgiebigem Schlaf interessiert. Dass man im Leben längst nicht immer bekam, was man sich an sehnlichsten wünschte, war weder für Nicole Duval, noch für Pro fessor Zamorra eine neue Erkenntnis, und daher wunderten sie sich auch nicht wirklich, als genau in dem Moment, als Nicole sich auf »Zimmersuche« begeben wollte, die Tür aufflog und ein sichtlich er regter Dünnbacke in den Raum stürmte. Zamorra hatte nicht einmal bemerkt, dass der Junge die Versammlung verlassen hatte, und erst jetzt wurde ihm klar, dass auch Robert sich aus den Verhandlungen ausgeklinkt hatte, denn der erschien direkt hinter dem jungen La maria. Dünnbacke stellte sich mitten in den Kreis hinein, der durch die Anordnung der Stühle entstanden war. »Die Grauen! Die Grauen haben Epra angegriffen und eingenommen!«
Kamirr Et-Lamar übertönte die aufbrandenden Wutausbrüche der Kapitäne. »Jetzt gilt es zu handeln! Unsere Welt versinkt im Chaos. Wir ha ben es alle gewusst, aber durch unsere dummen Streitigkeiten haben wir uns selbst zur Untätigkeit verdammt!« Auffordernd sah er in die Runde. Keiner der Roten saß mehr auf seinem Stuhl. In ihren Ge sichtern war neben der Wut auch Entschlossenheit zu erkennen. Zamorra war sich nicht sicher, ob Kadil gerade eine Szene aus ei nem seiner Dramen vorführte, oder ob er spontan handelte, doch das spielte keine Rolle, denn er war überzeugend, als er die Arme in die Höhe warf und die Frage stellte, auf die alle zu warten schienen. »Lasst uns Epra befreien – wer kommt mit mir?« In den Jubel der Piraten hinein konnte sich Nicole eine Bemerkung nicht verkneifen. »Wir hätte uns viel mehr alte Errol Flynn-Filme ansehen sollen, Cheri. So etwas kann manchmal sehr nützlich sein.« Zamorra wusste nicht, ob er über den Gag lachen sollte. Irgendwie war ihm gerade nicht danach.
Die riesigen Felder der Regenbogenblumen wurden sanft vom Wind bestrichen. Asmodis gestand sich ein, dass ihn dieser Anblick wirklich begeis terte und seine Stimmung steigen ließ. Es war, wie er vermutet hat te. Die Blüte stand kurz bevor, er musste sicher nicht mehr lange warten, bis die Blumen in das Stadium kamen, in der sie als zeitloses Transportmedium funktionierten. Nicht weit von den Feldern hatten er und Nashua es sich so be quem wie nur möglich gemacht. Die Kleine schlief unter dem DokyUmhang, den er für sie organisiert hatte. Irgendwie kam es Asmodis so vor, als wäre das Mädchen in eine seltsame Art der Lethargie ver fallen. Er befürchtete, dass die ganzen Eindrücke, die sie hier zu ver
arbeiten hatte, zuviel für ihren Verstand waren. Wenn sie hier blei ben müsste, würde sie das ganz sicher auf Dauer nicht verkraften. Und sie musste hier bleiben. Die Kälte wurde von Stunde zu Stunde beißender. Asmodis wi ckelte sich in seinen Umhang ein, der leider nicht so wärmeisolie rend wie ein Doky-Fell war. Er war ein Erzdämon, hatte lange den Thron des Höllenfürsten inne gehabt. Als er die Hölle schließlich verließ, hatte das seine Gründe, doch die spielten jetzt keine Rolle. Er bewegte sich auf der Erde unter den Menschen und spann seine Netze, warf sie aus und erwartete den Fang, wie immer der auch von Fall zu Fall aussehen mochte. Er war erfolgreich, allein das zählte für ihn. Niemand, der seine Vergangenheit kannte, traute ihm. Auch Zamorra nicht, ob wohl der Professor sich wirklich bemühte und Asmodis Chancen einräumte, die kein anderer ihm gegeben hätte. Wer war er wirklich – was war er? Niemand würde von ihm eine Antwort bekommen, wenn man nach seinen wahren Zielen fragte. Und Robert, sein Sohn? Der hasste seinen Vater abgrundtief, zeigte ihm seine Verach tung, wo er nur konnte. Warum also hätte Asmodis sich um irgendwen, ob Mensch oder Lamaria, Gedanken machen sollen? Der Weg, fort von dieser wirren Welt, die ihn festhielt und ihm wertvolle Zeit stahl, lag ganz klar vor ihm: Gleichgültig, ob das hier nun die Vergangenheit Omrons war, oder gefrorene Zeit, wie die Stimme ihm hatte weismachen wollen, was spielte das für eine Rolle? Dort vorne konnte er die Regenbo genblumen-Felder sehen, und wenn sie in den kommenden Stunden oder Tagen zur Blüte gereift waren, dann würde er schneller als jede Sense sein, würde zwischen die Blumen treten und sich auf Tendy ke's Home konzentrieren, genau auf den Moment, in dem diese Odyssee begonnen hatte. Er würde den zeitlosen Transit durchfüh ren – allein, denn Zamorra, Nicole Duval und sein Sohn mussten selbst sehen, wie sie klar kamen. Asmodis war überzeugt, dass er sie auf der Erde wiedersah, denn sie würden es natürlich ebenfalls
schaffen, sich bei der nächsten Blüte von hier abzusetzen. Zamorra und seine Crew waren nicht so einfach unterzukriegen. Unzählige Mitglieder der Schwarzen Familie konnten davon bittere Lieder sin gen. Es gab natürlich noch eine zweite Möglichkeit für Asmodis. Er konnte sich und Nashua mittels der Regenbogenblumen in Omrons Zukunft versetzen, an den Tag, an dem er durch den Fehlsprung auf dieser Welt gelandet war, konnte das Mädchen absetzen und sofort den nächsten Sprung zur Erde machen. Das konnte natürlich funk tionieren. Konnte, und das war das Problem, denn da gab es doch so einige Unwägbarkeiten, die ihm überhaupt nicht gefielen. Zum Beispiel das Paradoxon, dass Nashua dann für einige Tage gleich zweimal existierte. Und sie würde niemals begreifen, dass sie ihrem anderen Ich nicht begegnen durfte, wenn sie sich nicht gegen seitig auslöschen wollten. Möglichkeit Nummer eins gefiel ihm wesentlich besser. Das Kind würde dabei das Bauernopfer sein, denn Nashua würde ein Leben hier nicht mit gesundem Geist überstehen. Vielleicht war es sogar unmöglich, dass sie hier auf lange Zeit hin existieren konn te, denn sie war eine Anomalität in dieser Zeitebene. »Verdammt, Asmodis, du bist ein Idiot!« Er schlug mit der Faust wütend auf die Erde neben sich. »Ein verweichlichter Trottel, schlimmer noch: ein Mensch!« Er hörte auf, sich selbst etwas vorzumachen. Er konnte die Kleine hier nicht umkommen lassen. Die Blüte kam am nächsten Morgen, und Asmodis hatte Mühe, Nashua schnell genug wach zu bekommen. Die Lamaria war apa thisch, nahm seine Worte kaum wahr, und so schleifte er sie mehr oder weniger zu den Regenbogenblumen. Es wurde höchste Zeit, denn von weitem hörte Asmodis bereits die Erntekommandos an rücken. Er umfasste Nashuas Hüfte und hoffte, dass seine Konzentration stark genug für sie beide sein würde, denn es wäre unmöglich ge
wesen, dem Mädchen diese Prozedur zu erklären. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Er war nicht sicher, ob er den geplanten Doppel transit schaffte, doch zumindest der erste Sprung sollte ihm noch ge lingen. Doch es geschah nichts. Das Lärmen der Humarogs und Lamarias wurde lauter, und As modis wusste, dass er nur noch die Zeit für einen zweiten Anlauf hatte. Wenn es auch diesmal nicht gelang, war die Chance verpasst. »Du mühst dich umsonst, Freund.« Die Stimme war ganz unvermit telt wieder da. Asmodis ließ sich davon nicht beirren und konzen trierte sich erneut, doch auch dieses Mal ohne Erfolg. Er hörte das Rauschen der Sensen, wusste, dass er mit Nashua schnellstens das Feld verlassen musste. Kurzerhand warf er sich das Mädchen über die Schulter und floh aus dem Bereich der Erntearbeiter zurück an den Ort, an dem sie die lange Nacht verbracht hatten. Erschöpft und enttäuscht sank er mit der Lamaria zu Boden. Warum hatte es nicht funktioniert? Es hätte klappen müssen! »Ich sagte doch, du mühst dich umsonst.« Asmodis verlor die Beherrschung und schrie seine Wut laut her aus. »Wer bist du, und was willst du von mir? Anstatt sich an unse rem Scheitern aufzugeilen, solltest du uns lieber helfen!« »Aufzugeilen? Ich verstehe das Wort nicht, aber ich will doch helfen. Du musst mir nur zuhören und mir glauben. Aber du tust nur das, was du für richtig hältst, nicht wahr? So war das wohl schon immer.« Asmodis war zu müde und deprimiert, um sich mit irgendeiner Stimme über sein Leben zu unterhalten. »Warum hat der Transit nicht funktioniert?« Seine Wut war ver raucht. »Wie sollte er? Ich sagte dir bereits, du befindest dich hier in gefrorener Zeit, und solange dieser Znstand dauert, gibt es kein Hinaus oder Herein. Auch die Drahnoko-Blüten sind gefangen, so wie alles andere gefangen ist.«
Das alles war Asmodis noch immer viel zu wirr, doch Nachfragen brachte sicher nicht viel. »Wir müssen in die neue Zeit zurück.« Er versuchte, mit den Begriffen der Stimme zu arbeiten, denn wie hätte er ihr Dinge wie Realzeit erklären sollen, wenn sie nicht einmal et was mit dem kleinen Wörtchen geil anzufangen wusste? Der Ver such zeigte Erfolg. »Zu euren Freunden? Du sorgst dich um sie? Nein, das tust du nicht, aber du hast Angst um die kleine Lamaria an deiner Seite, nicht wahr?« Asmodis antwortete nicht. »Es geht ihr schlecht, denn sie gehört hier nicht hin – du schon. Ich wer de euch zurückbringen, denn das Kind stirbt sonst.« Asmodis hatte einen Einwand. »Aber bitte nicht wieder in dieses Boot.« Ein leises Lachen begleitete die Antwort. »Nein, nach Epra, doch ich bin sicher, dass es euch dort nicht gefallen wird.« Die Stimme zog sich zurück, und Asmodis konnte nur warten. Er beugte sich über Nashua, die nur noch flach atmete. Es wurde höchste Zeit für sie, denn dieser Ort brachte sie um. Asmodis ver stand die Bemerkung der Stimme nicht. »Sie gehört hier nicht hin – du schon.« Das war doch unsinnig. Um ihn herum wurde es plötzlich neblig, zumindest war das der letzte Eindruck, den er aus der gefrorenen Zeit mitnahm.
Der Nebel verflüchtigte sich schnell. Asmodis ließ Nashua zu Boden gleiten, denn die Kleine hing wie ein nasser Sack an seiner Schulter. Sofort begann sie wild zu husten und schnappte zwischendurch wie eine Ertrinkende nach Luft, doch nach einer Weile normalisierte sich ihre Atmung zusehends. »Besser?« Nashua nickte und versuchte zu lächeln, doch das ging kräftig da neben. Ein neuer Hustenanfall schüttelte sie kräftig durch. Danach
hatte sie das schlimmste hinter sich und konnte sogar auf ihren eige nen Beinen stehen. Asmodis sah sich um. Er wusste sofort, wo sie gelandet waren. Sie standen mitten auf der improvisierten Bühne des »Traum-Theaters«, und fast hätte Asmodis sich gewünscht, die rezitierende Stimme des »Großen Kadils« zu hören. Auch wenn er das nie für möglich gehal ten hätte, wäre das quäkende Organ des Lamarias nun wie Musik in seinen Ohren erklungen. Doch außer ihnen war niemand hier. Auch aus der Schankstube klangen keine Geräusche herein. Helles Licht fiel durch die Fenster, es war also auch hier dem Lichteinfall nach zu urteilen Vormittag. Die Stille ließ bei Asmodis alle Alarmglocken schrillen, und er erin nerte sich an das, was die Stimme gesagt hatte. Es würde ihnen hier nicht gefallen. Dem hatte Asmodis keine besondere Bedeutung bei gemessen, was sich nun schlagartig änderte. Nashua trat neben ihn. »Wo sind sie alle?« Als Asmodis nur mit den Schultern zuckte, berührte die Lamaria zaghaft seinen Arm. »Du hast mich nicht im Stich gelassen. Dafür danke ich dir.« Der Erzdämon sah sie verblüfft an. Sie konnte doch überhaupt nicht wissen, dass er sich für sie und gegen seinen Allein gang entschieden hatte, der allerdings sowieso nicht funktioniert hätte. Dankbarkeit war etwas, mit dem er nicht umzugehen wusste, also schwieg er. Im nächsten Augenblick war es mit der Stille im »Traum-Theater« vorbei, denn draußen im Schankraum wurde die Eingangstür brutal eingetreten. Asmodis ging mit Nashua auf Tauchstation. Wer da auch immer kam, musste sie nicht gleich entdecken. Stimmen wur den laut, und Asmodis bemerkte, wie sich Nashuas Nackenfell in die Höhe stellte. »Graue!« Er sah sie an. »Wie kannst du da sicher sein?« Nashua deutete auf ihren Mund. »Sie sprechen unsere Sprache, aber man versteht sie nur schlecht. Sie nuscheln, öffnen den Mund
beim Sprechen nicht richtig.« Asmodis lauschte und musste dem Mädchen beipflichten. Auch wenn die Lamarias mehr als laut redeten, war der Sinn ihrer Worte nur äußerst schwierig zu erkennen. »Graue Söldner? Wie ist das möglich? Wie können die mitten in Epra herumlaufen? Wo sind die Angestellten von Kadil?« Nashua konnte ihm natürlich keine Antwort darauf geben. »Gibt es einen Hinterausgang? Ich glaube, wir sind beide noch nicht wieder in der Lage, uns mit einem Dutzend dieser Typen an zulegen, richtig?« Das Lamaria-Mädchen überlegte. Sie war ja selbst nur kurze Zeit im »Traum-Theater« gewesen, aber ihr fiel eine Seitentür ein, durch die sie einmal mit Dünnbacke aus dem Gebäude hinausgegangen war. Die Grauen veranstalteten draußen einen solchen Lärm, dass sie die beiden Gestalten nicht bemerkten, die sich so unauffällig wie möglich aus dem Haus stahlen. Asmodis glaubte seinen Augen nicht zu trauen, denn vor dem Ge bäude erwartete sie das gleiche Bild. Graue, wohin man auch sah! Wenn sie wirklich wieder in der richtigen Zeit gelandet waren, und davon war er überzeugt, dann musste diese Invasion unheimlich schnell über die Bühne gegangen sein. Nashua hatte ein panisches Leuchten in den Augen. »Wo kommen die nur so schnell alle her? Wo sind die Bewohner der Stadt? Ich verstehe das alles nicht mehr.« Beruhigend legte Asmodis seinen Arm um sie. »Langsam, Mäd chen, keine Panik. Ich denke, die Grauen haben von dem Überfall der Roten gehört und wollten sich holen, was sie an Draahn noch er wischen konnten. Sie werden nicht viel gefunden haben, und bis zur nächsten Ernte ist es noch lang. Nun lassen sie ihre Wut an der Stadt aus.« Er dachte angestrengt nach. Wo waren Zamorra und die anderen? Noch auf der Insel der Roten? Er brauchte Informationen. Hier je
denfalls konnten sie nicht bleiben. Hier waren sie ihres Lebens nicht mehr sicher. »Wir müssen aus der Stadt hinaus, Nashua. An den Strand. Ich denke, da werden wir Bewohner Epras finden, die uns mehr sagen können.« Die Lamaria stimmte ihm zu. »Aber wir nehmen nur Nebenstra ßen.« Asmodis sah das auch so, denn auf wilde Prügeleien hatte er keine Lust. Wie zwei Diebe schlichen sie sich aus der Stadt, in der die Grauen wie die Vandalen hausten. Das schöne Epra versank im Chaos.
6. Er ist wieder da. Du hast ihn zurückgeholt. Es musste sein. Fürchtest du dich? Vor wem sollte ich mich fürchten? Die Welt gehört mir. Nicht dir allein. Warum gibst du nicht Frieden? Es sind meine Eindrücke … Lass sie in Frieden leben, so, wie es früher war. Nein, es ist mein Spiel. Ich will es so spielen. Du wirst sterben. Du bringst sie alle um. Willst du das? So warst du früher nicht. Sie haben die Wahl – mein Wille – oder ihr Tod. Stoppe das Spiel, du kannst es noch tun. Nein, ich spiele bis zum Ende.
Eine Flotte von mehr als sechzig Schiffen, verteilt auf die Häfen von fünf Inseln, konnte nicht von einem Moment zum anderen auslauf bereit gemacht werden. Dazu brauchte es eine gewisse Zeit. Aber Zamorra musste den Piraten ein großes Kompliment machen. Sie stellten all die notwendigen Vorbereitungen in rekordverdächtiger Zeit auf die Beine, und von einem Moment zum anderen gab es kei ne Feindschaft und kein Misstrauen mehr. Jorsteinn und Halfborinn meisterten die organisatorischen Dinge Seite an Seite, ohne jedes Gerangel um Kompetenzen und den Ver such, irgendeinen Vorteil für die eigene Seite zu erzielen. Es gab kei ne gegnerischen Clans mehr, keine fünf Inseln mit ihren Eifersüchte leien auf die Nachbarn, sondern nur noch die Roten – ohne Ausnah me zogen alle an einem Strang.
»Und sie standen füreinander ein, bis die See sie zu sich nahm.« Zamorra, der am Bug von Halfborinn Flaggschiff stand, drehte sich um und grinste Nicole an. »Bist du jetzt unter die Dichter mari ner Lyrik gegangen? Oder hast du zu viele Shanties gehört?« Seine Kampf- und Lebensgefährtin schmiegte sich an ihn. »Mir läuft das hier alles ein wenig zu heroisch ab, verstehst du? Gerade wollten sie sich noch die Schädel spalten, und nun Friede, Freude, Eierpunsch. Das ist doch nicht normal.« Natürlich hatte sie recht, aber Zamorra sah das ein wenig anders. »Das mit dem Schädelspalten ist ja auch noch nicht ausgestanden, nur ein wenig aufgeschoben. Aber zum einen denke ich, die Roten glauben wirklich an die alte El-Lamar-Idee, die ja auch lange funk tioniert hat, zum anderen können sie es sich nicht bieten lassen, dass die Grauen tun und lassen, was ihnen gefällt. Ist reiner Selbsterhal tungstrieb, vermute ich.« Nicole runzelte die Stirn. »Und Kadil-Kamirr, oder wie er jetzt auch immer heißen mag? Traust du ihm die Einigung aller Völker zu? Mir war der alte Schauspieler jedenfalls lieber als der neue Re gent.« Dann wechselte sie das Thema, ohne auf Zamorras Erwide rung zu warten. »Was ist mit Assi? Nicht, dass ich ihn vermisse, aber …« Zamorra wusste keine vernünftige Antwort darauf, und sang nun seinerseits. »Oh, himmelstrahlende Azur, enormer Wind die Segel bläh …« Als sich Nicole die Ohren zuhielt, beendete er seine Vorführung. »Okay, wenn du wahre Kunst nicht magst. Text ist von Brecht, glau be ich.« »Brich und bläh bitte woanders, wenn du unbedingt musst. Au ßerdem kriegen wir Besuch, glaube ich.« Nicole deutete nach hinten, wo Halfborinn und Kamirr auf sie zusteuerten. Letzterer hatte sich das rote Puder noch immer nicht abgewaschen, vermutlich, um sei ne Zugehörigkeit zu den Roten unter Beweis zu stellen. Halfborinn war gegenüber Zamorra sehr reserviert, denn mit die
sen eigenartigen Fremden, denen der Et-Lamar große Bedeutung beimaß, konnte er nicht viel anfangen. Ein Schiff und ein Schwert, das waren realistische Dinge, mit denen er umgehen konnte, und al les, was außerhalb dieser Realität lag, war nicht seine Sache. Ihm ging es um seinen Clan und darum, dass auf Omron die Verhältnis se wieder geradegerückt wurden. Kamirr sah Zamorra und Nicole ernst an. »Die Flotte ist fertig zum Auslaufen. Wir müssen uns beeilen, sonst steht in Epra kein Stein mehr auf dem anderen. Ich kenne die Grauen nur zu gut.« »Sind es denn wirklich die Grauen, ich meine aus eigenen Stücken und Willen, die die Initiative ergriffen haben?« Zamorra betrachtete den Et-Lamar nachdenklich. »Du selbst hast mir gesagt, dass Omron schon vor zwanzig Jahren auf den Versuch, einen neuen Et-Lamar einzusetzen, reagiert hat. Was, wenn dem wieder so ist?« Er wandte sich an den 1. Kapitän. »Und du, Halfborinn, bist ein großer Anfüh rer deines Clans, doch kannst du gegen eine Welt kämpfen? Wie wollt ihr die Grauen überhaupt aus Epra verjagen, ohne die Stadt von euren Schiffen aus dem Erdboden gleich zu machen?« Halfborinn war nun doch beeindruckt von dem Mann, der mit sei ner Meinung nicht hinter dem Berg hielt. »Wir haben unsere Lande truppen, wie du ja weißt.« Kamirr hatte dem Kapitän berichtet, dass auch Zamorra sich bei den Silos heftig mit den Roten herumgeprü gelt hatte. »Und ich hoffe doch sehr, dass die Bewohner Epras unse re Leute tatkräftig unterstützen werden, wenn es soweit ist.« Das hoffte Zamorra auch, und noch so einiges mehr. Unter ande rem, dass Asmodis und Nashua in Epra auftauchen würden. Sie mussten einfach wieder alle zusammenfinden. Vielleicht hatten sie ja gemeinsam eine Chance gegen Omron. Die Flotte sammelte sich nur wenig später. Es ging in Richtung der Küste. Allzu lange würde die Fahrt nicht dauern, wenn nicht irgen detwas dazwischen kam. Zamorra erinnerte sich an die Flutwelle, die ihr Boot in Stücke reißen wollte, und die aus dem Nichts heraus gekommen war. Doch die See blieb ruhig, beinahe schon zu ruhig
für seinen Geschmack. Kamirr hatte sich erneut zu Zamorra und Nicole gesellt, die mit Robert Tendyke und Dünnbacke auf dem Deck des Flaggschiffes standen. »Halfborinn und Jorsteinn bestehen darauf, dass ich nicht mit zu den Landetruppen gehören soll.« Er machte ein Gesicht, das man eher mit »enttäuscht« als mit »ungehalten« beschreiben konnte, ein wenig wie ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug wegge nommen hatte. »Eine sehr vernünftige Idee.« Nicole klang wie eine der vertrock neten Lehrerinnen, die mit ihrem stets erhobenen Zeigefinger der Albtraum aller Schüler war. »Du bist die Leitfigur der ganzen Akti on, der Hoffnungsträger«, plötzlich veränderte sich ihre Stimme vollkommen und es wurde deutlich, dass sie sich ein Lachen ver kneifen musste, »obwohl, sei mir nicht böse, Kadil, aber mir fehlt da bei irgendwie die Ehrfurcht vor deiner Person.« Kadil, der designierte Regent dieser Welt, warf sich in die Brust. »Böses Weib, das wirst du bitter zu bereuen haben!« Nicole zuckte ein wenig zusammen, denn mit einem solchen Ausbruch hatte sie nicht gerechnet. Der Et-Lamar grinste sie gutmütig an. »Stammt aus meinem Dra ma Die Frau des Humarog. Zweiter Akt, dritte Szene, wenn ich mich richtig erinnere. Du siehst, ich kann anders, wenn es sein muss. Ein Regent sollte ein ausgezeichneter Schauspieler sein.« Alle lachten. Zamorra fiel ein, dass sich dieser letzte Satz durchaus auch auf die Erde bezog. Nur dass man dort die miesesten Schau spieler zu Regenten machte, oder solche, die höchstens zum Kulis senschieber taugten. Dünnbacke wies zum Horizont, an dem sich dünne Rauchschwa den abzeichneten. »Ich fürchte, das kommt aus Epra.« Zamorra hoffte inständig, dass sie nicht bereits zu spät kamen und nur noch die verkohlten Reste der Stadt vorfanden. In Kadils Augen konnte er die gleiche Furcht erkennen.
Die Katapulte auf den Schiffen arbeiteten ohne Pause, doch es waren keine Feuerkugeln, die nach Epra hineingeschossen wurden, son dern Felsbrocken, die zwar mit ihrer enormen Durchschlagskraft große Verwüstung anrichteten, die Stadt aber zumindest nicht den Flammen preisgaben. Das hatten die Grauen bereits zur Genüge getan. In ihrer blinden Zerstörungswut hatten sie zahlreiche Brände gelegt, und kaum ein Einwohner Epras wagte es, diese Feuer zu bekämpfen. Die es doch getan hatten, waren unter den kurzen Schwertern der Söldner ge storben. An mehreren Ausfallstraßen wurden erbitterte Kämpfe geführt, denn die Landetruppen der Roten versuchten mit aller Macht in die Stadt zu gelangen. Doch immer dann, wenn ihnen das zu gelingen schien, tauchte Verstärkung für die Söldner auf. Sie schafften es nicht, den Kampf mitten in die Stadt zu tragen, an die strategisch wichtigen Stellen, von denen aus man die Grauen wirksam hätte be kämpfen und schließlich aus Epra vertreiben können. Die Bevölke rung, zumindest der geringe Teil, der noch nicht aus der Stadt geflo hen war, verhielt sich zögerlich und wartete auf den entscheidenden Vorteil für die Roten. Den aber würde es nicht geben, da war Bonames sicher. Er beachte mit seinen mehr als einhundert Söldnern das Haupttor von Epra und hatte bereits einige viel zu zaghaft geführte Angriffe der Roten abgeschlagen. Die kamen nicht wieder, ehe sie ihre blutigen Nasen und eingeschlagenen Köpfe kuriert hatten. Wahrscheinlich hatten seine Leute von jetzt an sogar den ruhigsten Posten von allen Grau en, denn niemand würde verrückt genug sein, es hier noch einmal zu versuchen. Bonames war richtig stolz auf sich und seine Männer. Sein Brutherr konnte zufrieden mit ihm sein. Bonames sah über die Brüstung hinweg in das Land hinaus. Sie hatten hier eine hervorragende Sicht. Es gab für Angreifer auf der
großen Ebene vor der Stadt keine Möglichkeiten, sich unbemerkt zu nähern. An anderen Stellen der Stadtgrenzen war das nicht so, aber damit mussten sich andere herumärgern. Bonames leerte den Krug in seiner Hand in einem Zug und tat einen zufriedenen Rülpser. Erst einmal Nachschub besorgen, zudem konnte er auch wieder eine Portion Draahn vertragen. »Was soll denn das sein?« Der erstaunte Ausruf kam von einem Wachtposten, der die Augen ungläubig aufgerissen hatte und in die Ebene starrte. »Was soll was sein, du Trottel?« Bonames ging zur Brüstung zu rück, der er eben erst den Rücken gekehrt hatte, um sich mit Schnaps und seiner Droge zu versorgen. Er verstand die Verblüf fung des Söldners sofort, als er das Ding sah, das da gemächlich über die Ebene auf Epra zukam. »Ein … Schiff?« Bonames schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, als wolle er prüfen, ob da oben bei ihm noch alles festsaß. »Spinn' ich denn jetzt schon, oder haben die Braunen etwas in den Schnaps gepanscht? Ein Schiff! Bei Omrons Arsch, drehen die Roten jetzt durch?« Es dauerte einige Minuten, bis er Details ausmachen konnte. In dieser Zeit hatte sich seine gesamte Hundertschaft auf der Brüstung versammelt und grölte dem seltsamen Vehikel entgegen. Es war tat sächlich ein Schiff, besser gesagt, ein recht großes Boot, das von zwölf Dokys gezogen wurde und auf acht hölzernen Rädern über den unebenen Boden ruckelte. Doch Bonames konnte keine Roten erkennen, sondern nur zwei Weiber, eine Lamaria und eine in schwarz gekleidete alte Humarog, die nun wahrlich keine Schönheit zu sein schien, soweit er das jetzt schon erkennen konnte. Zwanzig Schritte vor dem Stadttor stoppte das Unikum, und die faulen Dokys begannen sofort damit, die spärlichen Grasbüschel zu fressen, die hier wuchsen. »Was oder wer seid denn ihr nur?« Bonames Frage wurde vom Johlen seiner reichlich angetrunkenen Männer begleitet, die er erst
mit einem scharfen Befehl zum Schweigen brachte. Die Lamaria, gehüllt in prächtige Felle und den Kopf mit einer Ka puze bedeckt, die so hell schimmerte, wie das Meer am Morgen, er hob sich von ihrem Kutschbock und sah nach oben. »Händler sind wir, mächtiger Kommandant, und wir bringen den Eroberern von Epra die Früchte des Meeres, starke Getränke, präch tige Felle und das beste Draahn, das es auf Omron je gegeben hat.« Wieder brauste das Geschrei links und rechts neben Bonames auf, und erst nachdem er zwei Söldner von der Brüstung gestoßen hatte, die recht unsanft im Innenhof landeten, kehrte wieder Ruhe ein. »Ich kann euch aber nicht in die Stadt lassen.« Unwilliges Brummen der Grauen wurde hörbar, und Bonames überlegte, ob er die Vorschriften hier nicht zu genau nahm. »Was wollt ihr für eure Waren denn haben, hä?« Mit Kennerblick überflog er das Bootsinnere und entdeckte jede Menge Fässer und Felle, Kis ten und andere Behältnisse, in denen sich bestimmt die feinsten Sa chen befanden. Langsam stieg die Gier in ihm, und auch die Lust, denn die Lamaria war wirklich gut gebaut. Das alte Humarog-Weib neben ihr hingegen konnten seine Männer gerne haben, denn sein Interesse an Humarogs war eh nur gering, und erst recht an einer, die eine so hässliche Hakennase im Gesicht trug. »Wir wollen nur wenig, aber ich bin sicher, wir beide werden uns einig, hübscher Kommandant.« Der Augenaufschlag der Kleinen da unten gab den Ausschlag. »Tor öffnen, sofort. Die Händler dürfen passieren.« Es gab keinen Widerspruch, denn alle wollten ihren Teil an der Beute haben. Be zahlen? Wie dumm waren die Händler denn eigentlich? Graue nah men sich was sie wollten. Die Flügel des großen Tores öffneten sich knirschend und der »Schiff-Wagen« setzte sich in Bewegung. Nur quälend langsam schafften es die Dokys, das Gewicht hinter sich voran zu bringen. Schließlich stand der Wagen genau mit einer Hälfte in der Stadt, mit der anderen noch außerhalb des Tores, dessen Breite er nahezu
gänzlich ausfüllte. Was dann genau geschah, hätte keiner der Grauen, erst recht nicht ihr verdutzter Kommandant Bonames, erklären können. Plötzlich fielen die Geschirre der Zugtiere ab, und die von ihrer schweren Last befreiten Dokys trabten fröhlich in die Stadt hinein. Nur einen Augenblick später brachen die vier Achsen des Gefährts, und mit ei nem dumpfen Knall setzte das »Schiff« auf dem Boden auf, lag als eine unverrückbare Barriere mitten zwischen den weit offenen To ren. Wütende Schreie wurden laut und Schwerter fuhren aus den Scheiden. Die Lamaria warf ihre Umhänge von sich und stand auf recht auf dem improvisierten Kutschbock, um die Hüften einen brei ten Gürtel, in dem ein Dutzend lange, gut ausbalancierte Messer steckten. Das alte Humarog-Weib neben ihr riss sich die Lumpen vom Leib und verwandelte sich in einen Mann, dessen Gesichtsaus druck nichts Gutes verhieß. Aus dem hinteren Teil des Schiffes schälten sich vier riesige Ge stalten, drei Braune und ein wie ein Berg gebauter Humarog, die sich dort unter den Fellen versteckt gehalten hatten, und bauten sich links und rechts neben der Lamaria auf. Der Hakennasige gab ein gefährliches Lachen von sich, das den Grauen Ärger versprach. »Schöne Grüße von den Bewohnern Epras, Kommandant.« Asmo dis hob grüßend den breiten Säbel, der sich wie die natürliche Ver längerung seines Armes anfühlte. »Es war nett, dass ihr uns besucht habt, aber jetzt ist die Feier beendet. Also packt eure Sachen und verschwindet!« Ein tierischer Schrei kam aus Bonames Kehle, als er sein Schwert packte und auf das Hindernis zustürmte. Man hatte ihn mit einem Trick überrumpelt, das konnte fatale Folgen für seine Karriere ha ben. Seine Sorgen waren nicht unbegründet, denn noch ehe er auf Schwertlänge an das Gefährt herankommen konnte, endeten seine Karriere und sein Leben jäh: in seinem linken Auge steckte wie durch Hexerei die lange Klinge eines Wurfmessers.
Asmodis nickte Nashua zu, die bereits den nächsten Dolch in der rechten Hand hielt. Dann kam der Ansturm der Söldner.
Es gab Sätze, die man nur als abgedroschen bezeichnen konnte, weil sie in jeden zweiten Spannungsroman und in jedem Abenteuerfilm zumindest einmal bemüht wurden. Einer davon war ganz sicher: »Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Helden der Übermacht des Feindes unterliegen mussten!« Selten hatte dieser Satz so genau gepasst, wie hier, denn Asmodis, Nashua und ihre vier Mitstreiter hatten zwar ihr Ziel erreicht, Epras Stadttor war offen und würde es auch vorläufig bleiben, doch wenn nicht sehr bald Verstärkung kam, konnten sie das hier nicht lebend überstehen! Ein Brauner war bereits unter der Klinge eines Grauen gefallen, der es geschafft hatte, das Schiff zu entern, das es ja ohne seine Rä der nun wieder war. Asmodis hieb und stach um sich wie ein Wahnsinniger und kümmerte sich nicht um die zahlreichen Schnitt wunden, die er schon hatte hinnehmen müssen. Nashuas Wurfmes ser waren längst aufgebraucht. Sie kämpfte nun recht geschickt und vorläufig noch erfolgreich mit einem Schwert und ihrer Nahkamp ferfahrung um ihr Leben. Am heftigsten wütete der massige Huma rog unter den Grauen, die er mit einer Axt regelrecht in Fetzen zer legte, was zur Folge hatte, dass sich kaum noch ein Söldner in die Reichweite seiner Waffe wagte. Asmodis und Nashua hatten, nachdem sie aus der Stadt entkom men waren, die geflüchteten Bewohner Epras am Strand gefunden. Dort hatten sie sich notdürftig niedergelassen und warteten ab, ob die Grauen nicht schon bald wieder abzogen. Asmodis hatte sie als Feiglinge beschimpft, doch wenn er ehrlich war, konnte er die Hu marogs und Lamarias sogar verstehen, denn welche Chance hatten sie schon gegen die marodierenden Söldnerbanden?
Als die Schiffe der Roten vor der Küste auftauchten, fasste Asmo dis den Entschluss, die Piraten vom Land aus zu unterstützen, und ihm war auch schnell klar, wo die empfindlichste Stelle Epras lag, das Nadelöhr, das es zu erobern galt. Eine uralte Legende aus der Erdgeschichte war ihm eingefallen. Nun kämpfte er um sein Leben und wünschte sich, dass die ver dammten Piraten endlich begreifen würden, dass der Weg für sie frei war. Vor ihm baute sich ein großer Humarog auf, der irgendwie auf den Kutschbock gekommen war. Sein Schwert schien schnell wie ein Blitz zu sein, und Asmodis musste erkennen, dass er einem Söldner gegenüberstand, der ein Naturtalent im Kampf mit den Klingen war. Es dauerte nur wenige Momente, bis Asmodis die bittere Erkennt nis kam, dass er nicht würde siegen können, nicht gegen diesen Bur schen. Zu hoch gepokert, alter Erzteufel! Noch zwei weitere Attacken konnte er abwehren, dann war seine Deckung so sehr entblößt, dass die Klinge seines Gegners gar nicht anders konnte, als ihn zu durch bohren. Doch genau das tat sie nicht, fiel stattdessen surrend zu Bo den, kraftlos, obwohl die Hand und der ganze Arm des Humarogs sie noch hielten. Nur, dass der Arm jetzt nicht mehr mit seinem Be sitzer verbunden war! Ohne einen Laut von sich zu geben, sank As modis' Gegner zu Boden und fiel über die Reling des Schiffes, wobei er noch einen weiteren Söldner mit sich nach hinten riss. Robert Tendykes Schwert war blutbesudelt, als er sich kampfbereit neben seinen Erzeuger stellte. »Du solltest dich nicht mit Typen an legen, die besser als du sind, Alter.« Asmodis hatte keine Zeit, seinem Sohn zu danken, denn der nächste Graue war bereits heran, aber ein seltsamer Schauer lief dem Erzdäinon über den Rücken, als ihm klar wurde, dass sein Sohn, der ihn hasste und ablehnte, ihm gerade das Leben gerettet hatte. »Wurde Zeit, dass ihr kommt, Robert. Sind die anderen auch da?« »Bereits bei der Arbeit, Assi, und wir kommen nicht alleine.«
Selbst Nicole Duvals Stimme klang im Moment wie Musik in Asmo dis Ohren. Asmodis konnte nun sehen, wie eine wilde Horde Pira ten über die Ebene zu ihnen heranstürmte. Tendyke entledigte sich durch einen gezielten Tritt eines Grauen. »Kann es sein, dass du kürzlich Homers Ilias gelesen hast? Das hier erinnert mich doch enorm an das Trojanische Pferd, auch wenn du daraus das Eprasische Schiff gemacht hast.« Asmodis grinste seinen Sohn diabolisch an. »Wieso gelesen? Ich habe sie ihm diktiert. Wusstest du nicht, dass ich der größte Schrift steller aller Zeiten bin?« »Ich trau's dir glatt zu. Und wahrscheinlich hast du mit Odysseus im Bauch des hölzernen Gauls gesessen und anschließend Helena vernascht, richtig?« »Auf Letzteres habe ich verzichtet, denn sie war keine besonders attraktive Frau. Alles nur Märchen.« Tendyke verzichtete auf eine Erwiderung – auf Wortduelle würde er sich mit Asmodis nicht ein lassen, denn da zog man meist den kürzeren. Das Blatt wendete sich rasch, und der Weg nach Epra war endgül tig frei.
Kamirr Et-Lamar hatte sein Hauptquartier im »Traum-Theater« auf geschlagen, besser gesagt in dem, was die Grauen davon übrig ge lassen hatten. Der gesamte vordere Teil des Gebäudes war vernich tet, ein noch schwelendes Feuer hatte man rasch löschen können, doch die Gaststube war nur noch Legende. Mit Freudentränen in den Augen hatte Kamirr jedoch registriert, dass der Theaterraum vollständig verschont geblieben war. Die Bühne wurde zur Zentrale für den Kampf gegen die Grauen, die sich noch hartnäckig in eini gen Teilen der Stadt hielten. Auch wenn man die allermeisten Kom mandanten der Söldner getötet oder gefangen hatte, gab der Rest noch lange nicht auf. Sie waren dumm, aber zäh und hartnäckig!
Zarnorra und Asmodis hatten sich aus dem »Traum-Theater« ent fernt. Es gab viel zu erzählen, und Zamorra kam aus dem Staunen nicht heraus, als Asmodis ihm in allen Einzelheiten berichtete. »Gefrorene Zeit. Muss ich das verstehen?« Zamorra hielt Asmodis Bericht für äußerst verwirrend und leider auch nicht sehr hilfreich, denn alles in allem brachten seine Erlebnisse sie kein Stück voran. Nach wie vor waren sie Gestrandete, die die kommende Blüte ab warten mussten, um wieder in ihre Welt und ihre Zeit zurückkehren zu können. Asmodis war ratlos. »Diese Welt ist so vollkommen anders struk turiert, als alle anderen, die wir kennen. Erinnerst du dich noch dar an, als du mich gefragt hast, wo die Hölle sei?« Der Professor nickte. »Damals habe ich gesagt, sie wäre sicherlich da, doch mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Das ist … anders. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Diese Welt hat eine Vergangenheit, aber ich wer de das Gefühl nicht los, dass mit der etwas nicht stimmt, dass sie konstruiert wurde, erfunden, künstlich erzeugt, was weiß ich. Ich glaube, du wirst mich für verrückt halten, wenn ich es dir sage, aber damit kann ich leben: Epra existiert noch nicht lange! Zumindest noch nicht so lange, wie Kadil oder Nashua uns berichtet haben. Ich bin sicher, dass sie und alle Wesen auf Omron an diese Vergangen heit glauben, doch ich denke, dieser Glaube entspricht nicht den Tatsachen.« Zamorra konnte nicht abstreiten, dass er nun wirklich ein wenig an Asmodis Verstand zweifelte. Was wollte der frühere Höllenfürst damit sagen? »Was denkst du, Zamorra, wird Omron tun, wenn Kadil sich zum neuen Et-Lamar ausrufen lässt, wenn er die Völker zu einen ver sucht?« Diese Frage ging auch Zamorra nicht mehr aus dem Kopf, seit sie wieder in Epra waren und diese Möglichkeit aktueller denn je ge worden war.
»Kadil rechnet mit dem Schlimmsten, aber er will den Versuch machen, und die Führer der Roten stehen auf seiner Seite. Warum versucht dieser Omron ein friedliches Leben auf seiner Welt zu ver hindern? Es muss einen Grund geben, den wir nur noch nicht er kannt haben.« Asmodis blieb stehen und sah den Professor mit seinem stechen den Blick an. »Ich glaube, dass ich diesen Grund erahne, Zamorra. Omron langweilt sich, denn wenn die Humarogs und Lamarias sich nicht gegenseitig bekämpfen, dann hat er nichts zu tun. Der Friede ist für eine Gemeinschaft der erstrebenswerteste Zustand, für ein einzelnes, allen anderen weit überlegenes Wesen, das nur sich selbst hat, kann er die Hölle sein.« Zamorra räusperte sich. »Wenn ich dir so zuhöre, dann glaube ich beinahe, dieser Omron stammt doch aus den Schwefelklüften.« Asmodis blieb ihm eine Antwort darauf schuldig. Sie sprachen kaum noch miteinander, bis sie das »Traum-Theater« erreicht hat ten, vor dem bereits Nicole auf sie wartete. »Der große Et-Lamar erwartet euch schon sehnsüchtig. Kommt mit, ich glaube, er hat etwas vor.« Im Bühnenraum warteten neben Kamirr auch Halfborinn und Jor steinn auf die Neuankömmlinge. Offenbar hielten die beiden Kapi täne sich nach wie vor an ihren Burgfrieden. Im Hintergrund hielten sich Nashua und Dünnbacke auf, die längst zu Vertrauten des zu künftigen Et-Lamar geworden waren und ihm nicht von der Seite wichen. Es sei denn, Asmodis war in der Nähe, denn dann vergaß Nashua nach wie vor alles andere um sich herum. Zamorra waren Dünnbackes eifersüchtige Blicke nicht entgangen, doch das Mäd chen schien sich für ihn nicht zu interessieren. Da entstand also ein weiteres Problem, das zwar noch nicht akut, aber auch kaum noch zu übersehen war. »Setzt euch alle.« Kamirr sah entschlossen und ernst in die Runde. »Die Grauen werden für Epra schon bald kein Problem mehr sein, denn Halfborinns Leute haben die Lage im Griff. Wenn wir den Ver
such machen wollen, die Völker Omrons wieder zu vereinen, wie es früher einmal der Fall war, dürfen die Grauen natürlich nicht außen vor bleiben, denn sie sind die zahlenmäßig größte Gruppe auf dieser Welt. Um ihnen überhaupt entschlossen entgegentreten zu können, haben Halfborinn und ich uns entschlossen, das Bündnis zwischen den Braunen und Roten zu schließen und zu verkünden.« Damit hatte Zamorra gerechnet. Er hielt diese Maßnahme für sehr vernünftig, denn unter dem Schutz der Roten war die Küstenregion keine leichte Beute mehr für die Söldnertruppen aus den Brutlän dern. »Wir werden eine starke Allianz bilden, die von den Grauen nicht so einfach ignoriert werden kann.« Kamirr machte eine Kunstpause, dann kam er zum eigentlichen Problem. »Omron wird das nicht ge fallen, darüber sind wir uns im Klaren. Keiner von uns weiß, was geschehen wird, doch wir wollen es riskieren, uns seinen Zorn ein zuhandeln. Wir müssen es versuchen, denn die Welt wird sonst im Blut ertrinken. Jeder wird jeden bekämpfen, niemand wird je ein normales Leben führen können. Kann Omron das denn wirklich wollen?« Zamorra und Asmodis wechselten einen kurzen Blick. Kamirr sah Zamorra direkt an. »Ich habe natürlich noch immer nicht verstanden, wer ihr genau seid, woher ihr kommt, und warum ihr darauf angewiesen seit, auf die kommende Blüte der Drahnokos zu warten. Aber ich verspreche euch heute, dass ich dafür sorgen werde, dass ihr ungehindert und ungestört das erledigen könnt, was ihr an diesem Tag erledigen müsst. Halfborinn und ich sind uns da einig, wie eigentlich in allen Fragen.« Kamirr und der 1. Kapitän sahen sich kurz an, und Zamorra hatte das Gefühl, dass unter Führung dieser beiden Männer wirklich et was Dauerhaftes geschaffen werden konnte. »Ich muss euch natür lich auch sagen«, fuhr Kamirr fort, »dass wir mit unserem Bund nicht bis dahin warten können und wollen. Ein Risiko bleibt also auch für euch bestehen, denn wer kann heute schon sagen, was bis
zum Blütetag alles geschehen wird?« Asmodis antwortete an Zamorras Stelle. »Wir werden euch bis da hin unterstützen, zumindest werde ich das tun, denn ich kann nicht für alle sprechen.« »Kannst du, ausnahmsweise.« Nicole trat neben den Erzdämon. »Was Asmodis gesagt hat, gilt für uns alle.« Ein kurzer Blick zu Ten dyke und Zamorra bestätigte ihr, dass es da überhaupt keinen Zwei fel gab. Asmodis raunte ihr für die anderen unhörbar zu: »Wie komme ich zu der Ehre, liebste Nicole?« Nicole Duval drehte sich zu ihrem Lieblingsfeind herum. »Weil du mir auf dieser Welt um einiges besser gefällst als auf der Erde, oder wo auch immer ich mit dir bisher das Missvergnügen hatte, liebster Assi. Vielleicht solltest du für immer hier bleiben?« Sid Amos schenkte ihr sein teuflischstes Lächeln und schwieg. Wenn es jemanden gab, den er mit Freuden in die tiefsten Höllen schlünde befördert hätte, dann diese Frau … aber man konnte ja nie wissen, welche Gelegenheiten sich einem noch so boten.
Sie brechen aus meinem Willen aus. Lernen sie es denn nie? Lass sie so leben, wie sie es möchten. Gib sie frei. Es sind meine Eindrücke, meine Geschöpfe. Sie sind nur durch mich. Dann behandele sie wie ein Stück von dir, nicht wie deine Feinde. Die Welt ist nur durch mich möglich geworden. Nein, nicht nur durch dich! Was ist mit mir? Schließe mich nicht immer aus. Du bist wie ich, und doch so, wie ich es nie sein wollte. Ich wünschte, du wärst tot! Lass sie in Frieden leben, bitte.
Nein. Du hättest dich nicht einmischen sollen. Sie müssen es jetzt büßen. Und er mit ihnen!
Asmodis spürte die Unruhe, die sich wie ein Eisblock um sein Den ken legte. Ein Block, der alles durchdrang, der wuchs und ihn zu lähmen drohte. War es wirklich nur eine unbestimmte Unruhe, oder war es viel mehr etwas, das er immer verleugnet und mit Macht von sich gedrängt hatte? War es Angst? Und wenn, wovor? Hätte er die Lösung nicht längst erkennen müssen? Er dachte an die Stimme, die in der gefrorenen Zeit zu ihm gesprochen hatte. »Du musst es verstehen, denn du kennst es doch be reits. Erinnerst du dich wirklich nicht?« Nein, er erinnerte sich nicht, woran auch? Er war doch erst so kurz auf dieser Welt, dass es für Erinnerungen noch keinen Raum gab. Irgendetwas hatte diese Stim me gesagt, das er nicht ausreichend beachtet hatte. Einen Hinweis, doch worauf nur? Etwas stimmte nicht zwischen den Gegebenheiten auf Omron und einer ihrer Aussagen. Asmodis war früher immer stolz auf sein analytisches Denken gewesen, darauf, dass er Dinge und deren Zusammenhänge meist vor anderen verstanden und rechtzeitig seinen Nutzen daraus gezogen hatte. Doch dieser Vorteil war auf dieser Welt dahingeschmolzen wie Eis in der Sonne. Nashua kam in das kleine Zimmer, in das Asmodis sich für eine Weile zurückgezogen hatte. Lächelnd setzte sie sich an das Ende der großen Liege, die dem Ex-Teufel kaum Entspannung gebracht hatte. »Sie wollen alle zum Strand gehen, um dort gemeinsam den Bund zu verkünden. Die Bewohner Epras sind schon in Scharen auf dem Weg dorthin. Die Roten sollen ihre Schiffe bereits in Reih' und Glied ausgestellt haben.« Asmodis machte keine Anstalten, das Mädchen zu unterbrechen, hörte ihr nur zu. »Es wird sicher ein großer Tag werden, glaubst du nicht auch? Sol
len wir gemeinsam hingehen?« Lange betrachtete Sid Amos die Lamaria. Es war kaum zu fassen, aber es lag ihm wirklich eine Menge an Nashua. Väterliche Gefühle passen irgendwie nicht zu dir, doch auch wenn er es versuchte, er konnte nicht leugnen, dass ihm diese Gefühle nicht so ganz fremd waren. Natürlich hatte er bemerkt, dass Nashuas Gefühle zu ihm anderer Natur waren, doch darauf ging er mit keinem Wort und kei ner Geste ein. »Ich denke, ich bleibe lieber hier. Weißt du, solche er hebenden Momente mit Reden und dem ganzen Blablabla sind noch nie mein Ding gewesen.« Er konnte die Enttäuschung in Nashuas Augen sehen, doch sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass man seine Meinung nicht leicht ändern konnte. »Dann sehen wir uns nachher?« Er nickte ihr zu und schloss die Augen. Sollten sie ihren Bund ver künden, er gönnte es den Leuten. Er wollte nachdenken, denn es war wichtig, dass er sich an alles erinnern konnte, was die Stimme gesagt hatte. Wahrscheinlich überlebenswichtig! Seit er aus den Schwefelklüften zu den Gefilden der Erde überge wechselt war, nahm auch sein Ruhebedürfnis nach und nach zu. Si cher war er auch heute noch in der Lage, länger als die allermeisten Menschen im Wachzustand zu bleiben, doch ab und an fielen auch ihm ganz einfach vor Erschöpfung die Augen zu. So auch jetzt, da endlich völlige Ruhe um ihn herum herrschte. Asmodis konnte nach dem Aufwachen nie sagen, ob er geträumt hatte. Wenn, dann gehörte er nicht zu den Wesen, die sich daran er innern konnten. Träumten Dämonen? Es hatte für ihn nie die Not wendigkeit bestanden, dieser Frage nachzugehen. Wie lange er ge schlafen hatte, konnte er auch nicht sagen, jedenfalls fiel noch helles Tageslicht durch das einzige Fenster des Zimmers; mehr als drei Stunden waren wohl nicht vergangen. Die Antwort auf die Frage, die er sich schon die ganze Zeit so dringend gestellt hatte, war plötzlich da – er kannte plötzlich die Unstimmigkeit in den Aussagen der Stimme, und die Tatsache, die
sich daraus ergab, war mehr als erstaunlich. Sie veränderte sein gan zes Denken bezüglich Omron! »Du bist zwar auf dem richtigen Weg, doch die ganze Wahrheit hast du noch längst nicht erkannt.« Die Stimme war so ohne jede Vorwarnung erklungen, dass Asmo dis jäh aufgesprungen war. »Wer gibt dir das Recht, sich in mein Denken einzuklinken, wann immer es dir passt, und ebenso plötz lich wieder zu verschwinden?« »Ich habe auf dieser Welt jedes Recht, du wirst es sehen.« »Als ich versucht habe, in der gefrorenen Zeit die Drahnoko-Blüten als Transportmittel zu benutzen, da wusstest du genau, was ich tun wollte. Du kanntest diese Möglichkeit, sie war dir mehr als geläufig, nicht wahr? Solange dieser Zustand datiert, gibt es kein Hinaus oder Herein; die Drahnoko-Blüten sind gefangen, so wie alles andere ge fangen ist, das waren deine genauen Worte. Doch auf Omron sind diese Blüten nichts weiter als Salat, Tabak und Rohstoff für Drogen. Niemand weiß hier auch nur von der Idee her, was sie wirklich be wirken können. Du aber wusstest es!« »Und was ist deine Schlussfolgerung daraus? Komm schon, enttäusch mich nicht, Asmodis.« »Ich weiß noch immer nicht genau, wer oder was du bist, Omron, aber die Anrede stimmt schon, oder?« Als keine Antwort kam, fuhr Asmodis fort. »Gut, du bist diese Welt, du hast sie erschaffen, sie er dacht oder was auch immer. Du beherrschst sie, lenkst ihre Bewoh ner ganz so, wie es dir passt. Eins aber ist ganz sicher: du kennst an dere Welten, kennst das Geheimnis der Regenbogenblumen, und ich würde meine rechte Hand dafür verwetten, dass du niemand ande res als ein Geschöpf der Hölle bist!« Leises Lachen antwortete ihm, das belustigt, keineswegs jedoch beleidigt klang. Er schien den Nagel voll auf den Kopf getroffen zu haben. »Die Wette, die du mir da anbietest, ist nicht besonders riskant für dich. Deine rechte Hand ist ja nur eine künstliche Nachbildung, denn die echte hat dir seinerzeit doch die gute Nicole Duval mit einem mutigen Hieb
abgetrennt, nicht wahr?« In Asmodis Kopf schwirrte jetzt nur noch die eine Frage – mit wel chem Höllenwesen hatte er es hier zu tun? »Du weißt es also noch immer nicht? Ich kann es kaum glauben, wie schwer sich der Fürst der Hölle tut, aber lassen wir das jetzt. Es gibt im Augenblick wichtigere Dinge. Ich bin Omron, doch nur der eine Teil des Ganzen, der Teil, der dich in die alte Zeit geholt hat, und dich damit vor dem sicheren Ende bewahrte, aber auch das verstehst du jetzt noch nicht. Doch der andere Teil Omrons ist gerade dabei, einen furchtbaren Fehler zu begehen, und wenn du zögerst, wenn du mir nicht glauben solltest, was ich dir nun sagen werde, wird das ein vieltausendfaches Sterben zur Folge ha ben. Und du und deine Freunde werden nie mehr von dieser Welt fort kön nen.« Und Asmodis lauschte der Stimme mit weit aufgerissenen Augen.
Wenn man bedachte, wie lange es auf der Erde dauerte, bis auch nur die Unterzeichnung eines meist doch unbedeutenden Abkommens zwischen zwei nicht weniger unbedeutenden Staatsmännern ge plant und zur Ausführung gebracht wurde, dann musste man den Bewohnern Epras und den anwesenden Piraten der fünf Inseln Hochachtung zollen, denn diese spontane Zusammenkunft an der Küste hinter der Stadt hatte etwas Erhebendes. Kein Pomp, keine roten Teppiche, keine Festmenüs, keine nichten denwollenden Reden, einfach nur eine Zusammenkunft, die den noch dem Anlass entsprechend festlich in ihrer Stimmung war. Der Strand hinter dem kleinen Hügel, der zwischen Epra und dem Meer lag, war übersät mit Humarogs und Lamarias. Zwischen den Braunen und den Roten konnte man sogar den einen oder anderen Söldner aus den Brutländern ausmachen. Einige der Grauen hatten sich entschieden, nicht in ihre Heimat zurückzukehren, sondern in Epra zu bleiben und sich hier der Gemeinschaft anzuschließen. Za morra war sich nicht so sicher, ob dieser Schritt aus Überzeugung
oder aus Angst vor der Strafe geschah, die auf die Söldnertruppen in ihrer Brutstätte wartete. Der Angriff auf Epra hatte sich als kom pletter Fehlschlag erwiesen und war zudem auch noch die Initial zündung zum Bund zwischen der Küstenregion und den Inseln ge worden. Die Schiffe der Roten hatten sich in einer keilförmigen Formation aufgestellt und alle verfügbaren Segel gehisst. An der Spitze des Keils, direkt vor dem Strand, ankerte Halfborinns Flaggschiff. Aus der ganzen Küstenregion um Epra herum waren unzählige Braune hierher gekommen, um an der Ausrufung des neuen Bündnisses teilzunehmen. Zamorra musste unumwunden zugeben, dass er beeindruckt war. »Nicht schlecht, was die hier aus dem Boden stampfen.« Auch Ro bert Tendyke staunte ganz offen und ehrlich. »Hast du irgendeine Ahnung, warum sich mein Erzeuger vor der Fete hier drückt?« Zamorra sah Robert verblüfft an. »Jetzt erzähl mir nicht, dass du ihn vermisst!« Der winkte unwillig ab. »Dummes Zeug, natürlich nicht. Nur, seit wir auf Omron sind, erkenne ich ihn manchmal überhaupt nicht wieder. Der wird hier noch zum Grübler und Denker mutieren.« Mit Kennerblick sah er einer jungen Humarog-Frau nach, die den Hüft schwung eines Star-Modells hatte. Der Professor legte seinen Arm um Nicoles Schultern, die sich aus dem Gespräch bisher herausgehalten hatte. »Wer kennt Asmodis schon wirklich? Nashua sagte mir, er wolle lieber in seinem Zimmer bleiben, also soll er das tun, wenn ihm danach ist. Andererseits ge stehe ich auch ein, dass Sid sich hier ungewöhnlich benimmt.« »Ungewöhnlich unteuflisch, willst du damit sagen, oder?« Für Ni cole war und blieb Sid Amos der Erzfeind, und es stand für sie fest, dass er sie alle irgendwann in die größte Bedrängnis bringen würde. Niemand konnte Nicole weismachen, dass er sich wirklich und end gültig von der Schwarzen Familie losgesagt hatte. »Er kann hier so gar beinahe freundlich sein. Vielleicht sollten wir ihn hier lassen …«
Zamorra gab darauf keine Antwort, denn das unangenehme Ver halten seiner Lebensgefährtin gegenüber Sid Amos ging ihm gehö rig auf die Nerven. Auf einer rasch zusammengezimmerten Bühne direkt am Meer standen Halfborinn und Kamirr, der Et-Lamar von ganz Omron werden sollte, was jedoch nur in kleinen, mühsamen Schritten von statten gehen konnte. Den Anfang für eine neue und friedliche Zeit wollte er heute machen. Politik der kleinen Schritte, dachte Zamorra bei sich, doch wenn Kadil das wirklich schaffen konnte, dann war er tatsächlich ein ganz Großer. Für den Schauspieler in ihm war es eine leichte Übung, sein Publi kum zu fesseln, und welcher Akteur hatte je vor so vielen Huma rogs und Lamarias seinen größten Auftritt gehabt? Kadil wurde ganz zu Kamirr, als er mit einer Geste die Menge vor ihm zum Schweigen brachte. Das war nicht mehr der Schauspieler und Autor von unbedeutenden Dramen und Komödien, nicht der Gastwirt und Sänger mit der schrecklichen Stimme. Jetzt und hier sahen und hör ten alle Anwesenden den geborenen Staatsmann – den Et-Lamar von Omron. »Ein neuer Bund soll dieser Welt eine neue Zeit bringen, eine Zu kunft, die ohne Hass und Krieg sein wird.« Zamorra ließ seinen Blick über die Szenerie schweifen, während Kamirr in einfachen, aber deutlichen Worten den Grund für das Bündnis erklärte. Die Schiffe der Roten lagen unruhig im Wasser, bewegten sich stärker als noch vor Minuten hin und her. Zamorra konnte den Grund dafür nicht erkennen, denn es herrschte Windstille, und auch die Meeresoberfläche lag scheinbar ruhig da. Vielleicht eine starke Unterströmung? Von deren Vorhandensein hatte er jedoch bisher noch nichts gehört. Möglicherweise täuschte er sich ja auch. Den noch wollte es ihm nicht gelingen, sich wieder auf die Ansprache des Et-Lamar zu konzentrieren. Nur Sekunden später berührten sich die ersten Schiffe bereits unter heftigem Dröhnen und auch andere
wurden nun darauf aufmerksam. »Verstehst du das, Zamorra?« Tendyke wies auf das Meer, wo ei nes der hinteren Schiffe nun regelrecht zu schlingern begann und auf ein anderes auflief. »Verdammt, hier stimmt doch irgendetwas nicht!« Die Unruhe unter den Leuten wurde stärker. Zamorra rannte mit Tendyke und Nicole in Richtung der kleinen Bühne, auf der Halfbo rinn sich entsetzt zu seinen Schiffen umwandte. Noch verhielten sich die Anwesenden relativ ruhig und diszipliniert. Kamirr versuchte mit donnernder Stimme gegen den Lärm anzu kommen. »Wir bitten Omron, den Bund des Friedens zu akzeptie ren, und gemeinsam mit uns …« Weiter kam er nicht, denn durch die Menge vor der Bühne drängte sich eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt, die mit einem Sprung das Podium betrat. Asmodis Stimme war wie Donnergrollen. »Weg, alle weg von hier! Omron greift an! Halfborinn«, er wandte sich an den wie versteinert dastehenden 1. Kapitän des Piratenclans, »eure Schiffe … lichtet die Anker und segelt fort, schnell jetzt, kein Zögern mehr!« Omron greift an! Es war dieser eine Satz, dessen Bedeutung alle am Strand versam melten Lebewesen sofort begriffen! In panischem Entsetzen flohen die Lebewesen Omrons vor ihrer eigenen Welt, vor der es doch kein Versteck und keinen Schutz geben konnte!
Der Befehl ging von Schiff zu Schiff, doch er war vollkommen unnö tig. Die einzelnen Kapitäne hatten die Situation längst erkannt und gehandelt, bevor Halfborinn reagierte. Die hintere Schiffsreihe befand sich bereits mitten im Wendemanö ver. Noch lief alles sehr diszipliniert ab, denn die Kapitäne waren befehlsgewohnte Humarogs und Lamarias, die ihre Mannschaften
im Griff hatten. Doch dann begannen die Schiffe nicht mehr auf die Manöver zu reagieren, wurden von Strömungen erfasst, schossen unkontrolliert wie bockende Dokys in alle Himmelsrichtungen, kol lidierten miteinander oder liefen auf dem Strand auf. Kaum mehr als ein Dutzend der über sechzig Schiffe schaffte es, auf das freie Meer zu gelangen und mit allem, was ihre Segel herga ben, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Die anderen lagen nach wie vor nahe der Küste und behinderten sich gegenseitig. Zwei waren bereits so sehr beschädigt, dass sie unweigerlich sinken mussten, vier brannten in der Takelage, und ihre Besatzungen kämpften ver geblich gegen die Flammen an. An Land bemühten sich Zamorra, Nicole und Tendyke, nicht von der kopflos fliehenden Masse niedergetrampelt zu werden. Auf dem Podest, dass die Bühne für den 1. Akt zu einer besseren Zeit hatte werden sollen, stand einsam und verlassen Kadil und konnte nicht verstehen, was da im Wasser und am Strand geschah. Halfborinn war zu einem Beiboot gelaufen, das ihn auf sein Schiff bringen soll te, doch das Meer selbst versperrte ihm den Weg und warf das Boot zurück auf den Strand. Zamorra suchte in der Menge verzweifelt nach Asmodis. »Da hinten ist er!« Nicole hatte die schwarze Gestalt gesichtet, die sich bemühte, einigermaßen Ordnung in die Flucht der Bewohner Omrons zu bringen. Es war vergeblich, denn die Angst der Huma rogs und Lamarias saß tief. Als Zamorra Sid Amos schließlich erreichte, zog er ihn mit Gewalt aus der Bahn der rennenden und stolpernden Lebewesen heraus. »Sid, was geschieht hier? Was wird Omron tun, und woher wusstest du davon? Rede endlich, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Asmodis sah den Professor beinahe mitleidig an. »Ich glaube, du irrst. Wir werden viel Zeit haben, unendlich viel Zeit, wenn Omron nicht gestoppt werden kann.« Zamorra fasste den Erzdämon hart bei den Schultern. »Hör end lich auf, in Rätseln zu sprechen und dir jedes Wort aus der Nase zie
hen zu lassen, Asmodis! Es reicht mir! Was sollen wir tun? Sag, was du weißt.« Asmodis sah über Zamorras Schulter hinweg auf das Meer, und seine Augen nahmen einen ungläubigen Ausdruck an. »Sieh selbst, dann brauchst du meine Antworten nicht mehr.« Zamorra drehte sich um, doch was er sah, konnte nur aus dem Albtraum eines Wahnsinnigen stammen, denn das Meer erhob sich! Die Schiffe, knapp vierzig an der Zahl, darunter auch das Flagg schiff Halfborinns, stiegen in die Höhe, als wären sie Papierschiff chen und nicht tonnenschwere Gebilde aus Holz und Eisen. Unter ihnen brach das Wasser aus seinem Bett hervor, gleich einer Säule, die auf der gesamten Länge des Strandes existierte und sicherlich auch darüber hinaus. Zamorras Gehirn wollte dieses Bild einfach nicht akzeptieren, doch es war real, existierte und ließ sich nicht leugnen. Gleich schwappen die Wassermassen über uns hinweg, oder wir werden von den herabfallenden Schiffen zermalmt! Doch das blieb vorerst aus. Es schi en, als wolle sich Omron an der Angst der Lebewesen weiden, die den klaren Tod vor Augen hatten. Wie in Zeitlupe stieg die monströ se Welle weiter empor, trug die Schiffe auf ihrer Krone, so wie der Rücken eines Wales auf der Erde schon so manches Fischerboot aus seinem angestammten Element gehoben hatte, wenn er unter ihm aufgetaucht war. Und die Schiffe blieben oben, stürzten nicht durch das Wasser oder kenterten über den Wellenrand hinweg in die Tie fe. Dann wurden alle Naturgesetze auf den Kopf gestellt! Die Riesenwoge bewegte sich horizontal auf das Land zu, und nur Sekunden vergingen, bis sich der Himmel über den schreienden Le bewesen verdunkelte, weil die Welle sich wie das Oberteil einer Mu schel über ihren Köpfen wölbte. Das Ende der Wasserkuppel reichte bis nach Epra hinein. Asmodis Stimme war ein raues Krächzen. »Nie wieder wird ein le bendes Wesen auf Omron diesen Tag vergessen, nie wieder wird
man sich gegen Omrons Gesetze zu stellen wagen. Er leistet ganze Arbeit, und wenn er die Wölbung zusammenbrechen lässt, wird die Flut niemanden entlang der gesamten Küste am Leben lassen.« Sei ne Hand krallte sich schmerzhaft in Zamorras Schulter. »Und selbst wenn wir es überleben, sind wir auf ewig hier gefangen, denn das wird keine einzige der Regenbogenblumen überstehen. Er wird sie mitsamt ihren Wurzeln endgültig vernichten!« Zamorras Erwiderung ging in einem infernalischen Lärm unter. Drei der Schiffe waren über den Rand der Wölbung gefallen und schlugen wie Kometen mitten in Epra ein. Zamorra sah, wie bei vie len Humarogs und Lamarias die Lähmung wich und sie ihre Flucht fortsetzten. Sie erkannten nicht, wie sinnlos ihre Anstrengungen wa ren. Es würde mehr als ein Wunder brauchen, um hier lebend zu ent kommen, viel mehr! Wütend umklammerte Zamorra sein Amulett. Merlins Stern rea gierte auch jetzt nicht, doch wie hätte es auch anders sein können? Das hier war nach Asmodis Aussage eine gänzlich andere Art der Magie, auf die die Silberscheibe nicht ansprach. Selbst die Dhyarras versagten, denn ihre Macht verpuffte wirkungslos. So hilflos war er sich nur selten im Leben vorgekommen. Robert Tendyke stand plötzlich mit Nashua neben ihm. Die beiden hatten den apathisch wirkenden Kamirr in ihre Mitte genommen, der sich die Alleinschuld an dem gab, was hier geschah. Tendyke wandte sich an den Professor. »Warum regnet es nicht?« Zamorra glaubte zunächst, dass Robert wirres Zeug von sich gab, doch dann verstand er seine Frage. Ja, es hätte regnen müssen, denn wenn diese künstlich erschaffene Wölbung auch hielt, so musste es unter ihr zumindest kräftig tropfen. Zamorras Blick ging wieder nach oben, doch diesmal sah er genauer hin, und er war sicher, sich die glitzernden Eiskristalle nicht einzubilden, die sich überall im Wasser gebildet hatten. »Die Temperatur ist mächtig gesunken, mir ist verflixt kalt.« Nico
le sprach aus, was Zamorra hatte hören wollen, und nun fühlte auch er es. »Sie wird noch viel tiefer sinken. Seht genau hin. Das Wasser ge friert!« Ein tiefes Röcheln ließ ihn herumfahren. Asmodis wand sich vor Schmerzen, ganz so, wie in der Nacht auf dem Boot, das sie zu den Inseln hatte bringen sollen. Nashua wollte zu ihm, doch Zamorra war schneller und hielt das Lamaria-Mädchen am Arm fest. »Nicht, lass ihn. Wenn diese Stimme ihn erneut zu sich holen will, in die ge frorene Zeit, dann muss er allein gehen. Vielleicht ist das unsere letz te Chance, denn ich glaube – ich ahne, was hinter dem allem steckt.« Zamorras Ahnungen bewahrheiteten sich viel zu oft, wie er fand, und wenn er auch hier richtig lag, dann konnten sich alle auf eine Überraschung gefasst machen.
7. Asmodis materialisierte am Strand. Er hatte sich dieses Mal nicht gegen den ziehenden Schmerz ge wehrt, der ihm schier den Kopf zu zerreißen drohte, sondern sich so gut wie nur möglich entspannt, denn er ahnte ja, was mit ihm ge schehen würde. Im Gegensatz zum ersten Transit war er sofort bei vollem Be wusstsein, und der Schmerz zeigte keine Nachwirkungen. Hinter ihm lag der sanft ansteigende Hügel, bei dem Epra lag. Rechts von ihm, im Wasser thronend, schwamm Omrons gläserner Kopf. Asmo dis sah sich am Strand um, doch den Et-Lamar, den er bei seinem ersten Besuch in der gefrorenen Zeit hatte sterben sehen, konnte er nirgendwo entdecken. »Weil dies hier eine andere Stelle der alten Zeit ist.« Asmodis erschrak nicht, denn hier musste er mit der Stimme ja rechnen. »Und welche Stelle?« Irgendwie wusste er, dass die Antworten auf alle Fragen nun gleich erfolgen würden. Die Stimme erwähnte die Katastrophe, aus der sie ihn hierher geholt hatte, mit keinem Wort. »Stelle wäre der falsche Ausdruck. Welcher Moment, wäre die richtige Frage gewesen. Aber ich will es dir sagen. Hier siehst du den ersten Au genblick Omrons, die Sekunde Null, wenn du so willst. Schau dich um, dann wirst du endlich begreifen.« Entschlossen ging Asmodis auf den Kopf zu. Er betrat das mächti ge Bauwerk durch die einzige erkennbare Öffnung, die sinnigerwei se vom stilisierten halben Mund gebildet wurde. Er wusste nicht, was er hier erwartet hatte, vielleicht eine große Eingangshalle, die zu den einzelnen Räumen führte, doch zu seiner Verblüffung und
Enttäuschung stand er in der vollkommen leeren Kuppelhalle, die der Kopf bildete. Es gab nicht einmal Mauern, Abtrennungen oder was auch immer – da war nur die Halle, leer und unwirklich. Verunsichert verließ Asmodis das Gebäude wieder. Plötzlich wur de ihm die Stille bewusst, die um ihn herum herrschte. Auf Omron gab es Geräusche, so, wie es sie auf allen Welten gab, die Leben her vorgebracht hatten. Es gab Tiere der unterschiedlichsten Arten; Vö gel hatte Asmodis einige Male beobachtet, und ihr Singen hatte ganz wie das ihrer Artgenossen von der Erde geklungen. Und da war das Rauschen des Meeres, des Windes, der sich in Bäumen fing. Doch von alledem war hier nichts zu hören. Epra war eine große, bunte und laute Stadt, deren typische Geräusche man auch noch hier am Strand hören konnte. Epra! Ein kalter Schauer lief über Asmodis' Rücken. Mit weiten Schritten erklomm er den Hügel. Die Stadt lag groß und farbenprächtig vor ihm, doch er konnte niemanden sehen. Keine Händler, die sonst zu jeder Tageszeit die Stadttore passierten, keine Dokys, die hier grasten, kein Humarog und kein Lamaria. Asmodis begann zu laufen. Schneller und immer schneller trugen ihn seine Füße die Anhöhe hinunter, bis er schließlich vor dem ge öffneten Stadttor ankam. Schwer atmend betrat er die Stadt. Er wusste bereits, was ihn erwartete. Doch erst als er Gewissheit be kam, akzeptierte sein Verstand die Tatsachen. Die Straßen und Gas sen, der Marktplatz, alles lag in dumpfer Stille und Leere vor ihm. »Gibt es auf ganz Omron kein Lebewesen?« »Ich sagte doch, dies ist die Sekunde Null, der Moment, in dem Omron erschaffen wurde. Die Eindrücke kamen erst später hinzu, und er … wir liebten sie, bis sich der dunkle Teil entschied, dass alles hier nur ihm gehör te, dass es so sein müsse, wie er es wollte.« Eine Welt war erschaffen worden, wie man ein Computerspiel er schuf. Asmodis musste sich erst damit abfinden, dass so etwas über haupt möglich war. Omron hatte sich die Welt erdacht. Den Konti nent, die einzelnen Länder, Berge, Flüsse, Straßen, Städte und ihre Häuser. Er hatte auch den Palast aus Eis nicht vergessen, der einmal
vom Regenten des Kontinents bewohnt werden sollte. Es musste wirklich wie ein großes Spiel gewesen sein, ein wenig so, wie Kinder ihre Sandburgen bauten, oder wie angeblich erwachsene Männer sich ihre ganz persönliche Welt um ihre Modelleisenbahn herum er richteten, mit Bahnhöfen, Tunnels, kleinen Städten und Puppen, die die Menschen darstellten. Nur war das alles ein Spiel, und keine bittere Realität, wie es sie hier gab. »Nein, auch das hier war kein Spiel, sondern der Ausbruch einer Seelen spaltung. Du weißt, dass ich die alte Zeit bewahrt habe, um der neuen ein mal damit einen Dienst zu erweisen. Hilfst du mir dabei?« Asmodis schloss die Augen, denn das alles hier widerte ihn an. Er wusste nicht einmal genau, warum. »Wieso muss ich es sein, den du um Hilfe bittest? Warum nicht Zamorra oder Tendyke, meinen Sohn?« »Willst du dich der Verantwortung entziehen?« Die Stimme bekam einen traurigen Klang. »Zudem gibt es bei dem, was zu tun ist, keinen Ersatz für dich. Ich dachte, du würdest das nun endlich verstehen, doch ist sehe, dass es nur noch die eine Möglichkeit gibt, um dir die Wahrheit zu zeigen.« »Wahrheit? Wovon redest du nur? Hör auf, mit mir deine Spiele zu spielen. Wenn wir die neue Zeit retten können, dann lass es uns tun. Ich habe das Gerede satt. Wenn du es nicht alleine tun kannst, dann helfe ich dir eben.« »Nein! So wirst du es nicht mit all deiner Kraft versuchen. Also werde ich dir zeigen, was du nicht erkennen kannst, nicht erkennen willst. Sieh mich an, Asmodis, Fürst der Finsternis!« Aus dem Nichts heraus formte sich vor Asmodis Augen ein Ge sicht, konturlos zunächst, doch immer deutlicher werdend. Augen, Mund und Nase schälten sich aus der formlosen Masse, füllten sich mit Leben und wurden charismatisch. Der Haaransatz bildete sich, die Augenbrauen, das Kinn. »Hast du es wirklich nicht gewusst?« Der Mund formte die Worte,
doch Asmodis sah nur die Augen, die brennenden, stechenden Au gen, in denen er beinahe zu versinken drohte. »Nein, das … das habe ich nicht gewusst.« Doch jetzt verstand Asmodis. Und er hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
»Das ist kein normales Eis, das sich dort oben bildet.« Auch Zamor ra spürte nun die empfindlich gesunkenen Temperaturen. »Nur die untere Schicht scheint zu gefrieren. Aber wie ist das möglich? Außerdem dürfte eine so minimale Eis schicht für diese nicht zu zählenden Tonnen Wasser kein Grund sein, nicht zu Boden zu stürzen.« Robert Tendyke fragte verblüfft nach. »Wie kommst du darauf, dass das Eis das Wasser hindern soll? Das hieße ja, dass da irgend wer versuchen würde, uns allen das Leben zu retten.« Zamorra nickte. »So wird es auch sein, Rob, denn nach dem, was Asmodis mir berichtet hat, gibt es um diese Welt eine Art Zwei kampf, auch wenn der Begriff als solcher sicher grundfalsch ist.« Vor wenigen Minuten war ein weiteres der Schiffe abgestürzt, doch dieses Mal nicht in die Stadt hinein. Zamorra mochte über haupt nicht daran denken, wie viele Humarogs und Lamarias dabei ihr Leben verloren hatten, denn das Schiff war mitten in einer große Gruppe von Flüchtlingen gefallen. Die Schreie klangen ihnen allen noch immer in den Ohren. Flucht war so völlig sinnlos, doch wie hätte man das den Leuten erklären sollen? Auch, wenn sie sich ir gendwie außer Reichweite der Wasserwölbung würden bringen können, die ganz offensichtlich entlang des gesamten Küstenstrei fens bestand, so kämen sie auf jeden Fall durch die Macht der Flut ums Leben, wenn die Welle zu Boden schwappte. Wer konnte ungebändigtem Wasser entkommen? Auf der Erde war dies nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die
Menschheit, die es zu bewältigen galt, doch eine Lösung war noch nicht in Sicht, wie die Opfer von Flutkatastrophen in jedem fahr am eigenen Leib zu spüren bekamen. Nicole drehte ihren Dhyarra-Kristall zwischen den Fingern der rechten Hand hin und her. »Vielleicht sollten wir es doch noch ein mal gemeinsam versuchen. Ich glaube ja auch nicht, dass wir hier ein Wunder vollbringen können, aber unter Umständen könnten wir die Eisbildung beschleunigen.« Sie blickte in Richtung Epra. »Wenn da noch mehr Schiffe herunterkommen …« Zamorra war sicher, dass der Versuch scheitern würde, aber zu mindest hätten sie dann das Gefühl, alles in ihrer Macht stehende unternommen zu haben. Schon oft hatten er und Nicole ihre Dhyar ras gemeinsam in deren Kräften vereint und die gebündelte Energie dort eingesetzt, wo ein einzelner Kristall zu schwach gewesen war. Es gehörte viel Erfahrung, große Vorstellungskraft und Konzentrati onsfähigkeit dazu, die Macht der Kristalle richtig und erfolgreich zu verwenden. Noch viel schwieriger war es natürlich, zwei der Ster nensteine für ein und die selbe Wirkung zu nutzen. Das war grund sätzlich nur möglich, wenn die Träger der Dhyarra-Kristalle aufein ander einzugehen wussten, wenn sie einander vertraut waren und als Team wirken konnten. Nicole und Zamorra konnten es. Sie sonderten sich so gut wie möglich vom Strom der Flüchtenden und ihren Freunden ab und konzentrierten sich gemeinsam auf die Vorstellung, die Entstehung der Woge in einem rückwärtigen Pro zess ablaufen zu lassen. Einander bei den Händen haltend begannen sie mit der Phase der Konzentration, doch es dauerte nur einige Momente, bis beide, trotz der ständig zunehmenden Kälte, schweißgebadet aufgeben mussten. Nicole war bitter enttäuscht und ließ ihren Kristall wütend in der Hosentasche verschwinden. »So etwas ist uns ja noch nie passiert. Die Dhyarras können wir hier einfach vergessen.« Zamorra konnte nicht widersprechen. Erst, wenn die magische Blockierung, deren Art und Herkunft niemand erfassen konnte,
nicht mehr vorhanden war, konnten die Kristalle wieder ihre Wir kung entfalten. Wie bei seinem ersten Versuch war es auch jetzt wie der so gewesen, als würde er gemeinsam mit Nicole in eine Wand aus Watte laufen und dort stecken bleiben. Ein weiterer Versuch hatte keinen Sinn. »Cheri, ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun.« Der Professor nahm seine Gefährtin in die Arme. »Vielleicht endet unser Weg hier, das ist möglich, Nicole. Doch so einfach aufgegeben haben wir doch noch nie, oder? Ich habe Hoffnung, denn Asmodis steht in Kontakt mit Omron, da bin ich sicher. Wenn er kann, wird er etwas unternehmen.« »Das hat mir gefehlt, hilflos wie ein Baby auf den alten Schwefel kocher angewiesen zu sein. Das passt mir nicht!« Plötzlich bebte die Erde, und in der Ferne wurden entsetzliche Ge räusche laut – das Bersten von Holz gemischt mit Todesschreien. Das nächste Schiff war abgestürzt, und als Zamorra Halfborinn an blickte, der, hilflos wie sie alle, bei Kamirr stand, sah er den Schmerz im Gesicht des 1. Kapitäns, der um seine Leute trauerte und um Jah re gealtert erschien. Zamorras Blick glitt in die Höhe, doch er konnte keine Verände rung ausmachen, nicht in die eine, noch in die andere Richtung. Beeile dich, aller Freundfeind, beeile dich! Ganz gleich was immer du jetzt auch gerade machst, es muss schnell gehen, sonst ist bald alles aus! »Sollten wir nicht nach Epra gehen und sehen, ob wir Verletzte bergen und verarzten können? Die Leute sind dort doch vollkom men hilflos.« Robert hatte natürlich Recht. Aber Zamorra hatte das sichere Ge fühl, dass bald etwas passierte, und es würde hier geschehen. »Ich denke, wir bleiben besser hier, zumal wir auch keine Wunder doktoren sind, aber in erster Linie, weil die Geschichte hier auf ihr Finale zusteuert, Rob.« Ein Finale für eine ganze Welt? Alles war möglich.
»Wie?« Es war der hilflose Versuch, unzählige Fragen in einem einzigen Wort zu bündeln. »Wie sollte ich dir darauf eine Antivort geben können? Wenn du es nicht weißt, und offensichtlich hat sich der Nebel über deinen Erinnerungen noch nicht verflüchtigt, dann werden deine Fragen für immer unbeantwor tet bleiben müssen. Für diese Welt spielt das jedoch keine Rolle, denn sie existiert jetzt in sich, und sie benötigt jetzt deine Hilfe.« Hilfe, ja, das war es, worauf es jetzt ankam. In Asmodis loderte ein Feuer, das er nicht so einfach beiseite schieben konnte. Es musste jetzt gelöscht werden. Das Gesicht vor ihm war längst wieder ver blasst, doch es hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er es vor sich – sein Gesicht! Er, Asmodis, war Omron! Diese Gewissheit machte ihn so hilflos, wie er es in seinem unend lich lang währenden Leben noch nie zuvor gewesen war. Er hatte diese Welt geschaffen, sie gebaut, modelliert, sie schließlich mit dem Leben gefüllt, das die Stimme Eindrücke nannte. Aus ihm heraus existierten Lamarias und Humarogs, waren die Völker der Braunen und Grauen entstanden. Diese Welt war sein Werk, und der Erzdä mon erschauerte bei diesem Gedanken. Doch wann sollte er dies alles getan haben? Ihm fehlte jede Spur der Erinnerung daran. Hatte er es aus eigenem, freien Willen getan, oder steckte etwas anderes dahinter, jemand anderer? »Darüber kannst du nachdenken, wenn die Entscheidung für oder gegen das Leben auf Omron gefallen ist, Asmodis. fetzt ist nicht die Zeit dafür, begreife es endlich! Es ist ein Teil von dir, der in diesen Augenblicken die Entscheidung für das Sterben, für Elend und Tod fällt. Unternimm etwas dagegen, sonst ist die Welt verloren – und deine Freunde und du mit ihr!« »Was soll ich tun? Sage du es mir. Ich bin bereit.« Mit seinem gan
zen Willen riss Asmodis sein Denken von dem zurück, was ihn lähmte und unfähig zu jeglicher Handlung machen wollte. »Die gefrorene Zeit muss in die reale Welt gebracht werden, muss mit ihr verschmelzen, mehr noch, sie muss sie überlagern und den dunklen Teil Omrons endgültig zurückdrängen.« »Warum brauchst du mich dazu? Du warst es doch schließlich, der die gefrorene Zeit hier konserviert hast, also müsstest du doch in der Lage sein, sie …« Die Stimme unterbrach ihn jäh. »Mir fehlt die Kraft, denn Omrons dunkler Teil – dein dunkler Teil – hat mich geschwächt. Zunächst konnte ich das Gleichgewicht halten, doch die Waagschale neigte sich im Lauf der Zeit immer mehr zu seinen Gunsten, solange, bis er die alte Zeit des Friedens beenden und seinen Willen über die Welt bringen konnte.« Asmodis konnte den Worten noch nicht ganz folgen. »Du hast es doch selbst gesehen. Der Tod des letzten Et-La mar war die Aufkündigung des friedlichen Abkommens zwischen Omron und seinen Eindrücken. Er wollte mehr, wollte Chaos, Gewalt und Verwir rung. Der Et-Lamar weigerte sich, dabei zuzusehen, also musste er sterben. Die gläsernen Lanzen beendeten nicht nur sein Leben, sondern auch die Ordnung und starteten die Entropie des Bösen!« Asmodis verstand nun, und in dieser Schilderung erkannte er sich wieder. So war er einmal gewesen – und heute? Er verdrängte diese Gedanken, denn sie brachten ihn hier nicht weiter. Ganz gleich, was er nun als Beweggründe für seine unterschiedlichen Aktivitäten auf der Erde vorzubringen hatte, jetzt ging es einzig und alleine um Omron, doch Omron war er… »Wie soll ich die gefrorene Zeit transportieren? Du musst schon deutlicher werden, denn meine Möglichkeiten auf Omron sind stark eingegrenzt, wie du ja weißt.« »Es ist einfach, denn nach deinem ersten Besuch hier hast du sie bereits in dir getragen. Du musst sie nur zum Schmelzen bringen. Bist du bereit? Dann bringe ich dich jetzt zurück, doch vergiss nie, dass du gegen dich selbst antrittst.«
»Zum Schmelzen bringen? Aber wie? Antworte mir!« Doch es war bereits zu spät, denn die Stimme – seine eigene Stim me? – war verschwunden. Schon in der nächsten Sekunde stand Asmodis im großen Saal des »Traum-Theaters« und wurde von einem Erdbeben von den Beinen gerissen. Der Erdstoß kam viel zu unvermittelt, als dass Asmodis eine Chance gehabt hätte, darauf zu reagieren. Hilflos wurde er durch den Raum geschleudert, schlug hart mit dem rechten Arm gegen die Wand, ehe er sich instinktiv zusammenkauerte und seitlich abrollen ließ. Gleichzeitig hörte er von draußen die Schreie und ein Donnern, als würden zwei gewaltige Körper aufeinanderprallen, sich ineinander verkeilen und eine Einheit der Zerstörung bilden. Mit schmerzver zerrtem Gesicht kam er wieder auf die Beine. Sein Arm schmerzte, war vielleicht sogar gebrochen, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern, auch wenn der Schmerz ihm die Tränen in die Au gen trieb. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Gebäude und trat ins Freie. Auf offener Straße würde er einem eventuellen zweiten Beben besser begegnen können. Ein paar Straßenzüge weiter stieg Rauch in den Himmel, der nach wie vor von den Wassermassen verdunkelt wurde. Asmodis sah nur wenige Humarogs und Lamarias, die ver wirrt und verängstigt aus ihren Häusern kamen. Die allermeisten Bewohner Epras befanden sich am Strand, und inzwischen wohl auf der sinnlosen Flucht vor dem, was sich drohend am Himmel mani festiert hatte. Auch Asmodis musste zum Strand, denn auch wenn er nicht wusste, in welcher Form er eingreifen sollte, konnte das wahrschein lich nur dort geschehen, an dem Ort, der vor über einhundert Um läufen der Schauplatz dessen gewesen war, das die heutigen Ereig nisse eingeläutet hatte. So schnell er konnte, lief Asmodis in Richtung des hinteren Stadt
tors, denn von dort aus würde er nur Minuten bis zum Strand benö tigen. Dann sah er den Grund für das Beben, die Schreie und den in fernalischen Lärm. Ein Schiff aus Halfborinns Flotte war in die Stadt gestürzt, hatte sich in eines der größten und prächtigsten Gebäude Epras gebohrt und eine unvorstellbare Zerstörung angerichtet. As modis sah die Leichen, die Verwundeten, sah eine Handvoll Huma rogs und Lamarias, die sich um die Verwundeten kümmerten und doch meist nicht mehr helfen konnten. Plötzlich war er da, der unbändige Hass. Asmodis erreichte das Tor, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte genug zu sehen. Noch immer hatte er keine Vorstellung von dem, was er tun musste, um diesen Wahnsinn zu beenden, doch er war sicher, dass er es im entscheidenden Moment wissen würde. Mit weit ausholenden Schritten stieg er den sanften Hügel hinauf, der ihm den Blick auf den Ort versperrte, an dem sich nun erneut das Schicksal dieser Welt entscheiden würde. Asmodis hasste den dunklen Teil Omrons und war entschlossen, ihm Einhalt zu gebieten. Ihm wurde mit jedem Schritt klarer, dass er sich damit ja selbst hasste, doch das spielte nun keine Rolle mehr in seinem Denken, in dem es nur noch ein einziges Ziel gab. Asmodis fühlte, dass irgendetwas mit ihm geschah, und konnte es doch nicht benennen, auch wenn er die Veränderung körperlich spürte. Er fühlte sich wie mit einem Tonnen schweren Gewicht bela den, das ihn merkwürdigerweise jedoch in keiner Weise behinderte oder seine Bewegungen einschränkte. Eher traf das genaue Gegen teil zu. Die Schmerzen in seinem Arm waren wie weggeblasen, er fühlte sich stark und voller Energie. Es war ein eiskaltes und doch glühend heißes Feuer, das in ihm brannte; Hitze und Kälte gingen eine einzigartige Symbiose mitein ander ein, die beide untrennbar miteinander verwob, und sie doch in ihren so verschiedenen Fähigkeiten einzeln agieren ließ. Vor ihm lag der Strand.
Wie kannst du nur glauben, dass du mich bezwingen wirst? Du bist schwach. Ich bin nicht mehr allein. Und dennoch – mein Wille ist dem deinen grenzenlos überlegen. Auch er wird daran nichts ändern. Er ist du, er ist ich. Omron selbst steht gegen dich auf. Begreifst du es nicht? Ich werde siegen. Alle werden deinen Frevel büßen müssen. Es gibt nur einen Frevel – deinen. Gib auf sonst wirst du vernichtet, und ich mit dir. Ich werde siegen und herrschen. Ich bin Omron!
»Verdammt, die Eisschicht wird brüchig.« Robert Tendyke konnte seit Minuten seinen Blick nicht mehr von der Unterseite der Welle nehmen, die wie ein übermächtiges Damoklesschwert über ihnen hing und die ganze Zeit über keine Veränderung gezeigt hatte. Seine Nackenmuskeln schmerzten bereits, und eben wollte er seinen im Grunde sinnlosen Beobachtungsposten zumindest für einige Mo mente aufgeben, da sah er es: Wasser drang durch einige Stellen der feinen, aber unglaublich widerstandsfähigen Eisschicht, die ihnen allen bislang das Leben gerettet hatte. Und er war nicht der einzige, der die zunächst harmlosen Rinnsale bemerkte, die auf den Strand herunter regneten. Die ersten Panik schreie wurden laut. Gerade erst hatten sich die Humarogs und La marias einigermaßen beruhigt, hatten Hoffnung geschöpft, dass die ganz große Katastrophe vielleicht doch ausblieb, da schlug die Stim mung ins Gegenteil um. »Jetzt müsste langsam etwas geschehen, denn mir scheint, der uns schützende Teil gerät in Schwierigkeiten.« Zamorra bemerkte, dass
Tendyke seine Bemerkung nicht ganz verstand. Aber wie denn auch? Zamorras Gespräch mit Asmodis war den anderen nicht in al len Einzelheiten bekannt. »Wenn du mit etwas müsste geschehen Asmodis gemeint hast, dann kann ich nur sagen, wenn man den Teufel nennt, kommt er ge rennt.« Nicole wies in Richtung des Hügels, auf dem eine schwarze Gestalt zu erkennen war, die seltsam zu leuchten schien, »Und er scheint geladen zu sein.« Zamorra bemerkte sofort, dass an der ganzen Art und Weise, in der Asmodis sich auf den Strand zu bewegte, irgendetwas nicht stimmte; von der eigentümlichen Aura, die ihn umgab, gar nicht zu reden. Aber sein Instinkt sagte dem Professor, dass es besser war, jetzt keinen Kontakt zu ihm zu suchen. Sein Blick fiel auf Nashua, die hocherfreut auf Asmodis zulaufen wollte, doch ohne dass Za morra ein Wort sagen musste, wurde sie von Nicole mit sanfter Ge walt gestoppt. Die Französin hielt das Lamaria-Mädchen fest um klammert. »Lass ihn, Nashua, siehst du nicht, dass er ein anderer ist?« So ganz mochte das sicher nicht stimmen, aber es reichte dem Mädchen, um sich schließlich zu fügen. »Er sieht uns überhaupt nicht, Zamorra.« Robert Tendyke starrte seinem Erzeuger verblüfft nach, als der mit stechendem Blick nur knapp einen Meter an ihm vorübergegangen war. »Er ist jetzt Omron, Rob.« Zamorra war beinahe sicher, dass er mit dieser Aussage richtig lag. »Der Teil Omrons, der die Katastrophe hier verhindern will.« Als Robert seinen Freund ungläubig ansah, setzte der noch eins drauf. »Ich vermute sogar, dass Asmodis diese Welt erschaffen hat, aber frage mich jetzt bitte nicht wie und warum, denn ich habe keinen Schimmer!« »Asmodis, der Weltenschaffer? Zamorra, du spinnst!« Der ging auf Nicoles Einwurf mit keinem Wort ein, sondern kon zentrierte sich auf Sid Amos, der direkt am Strand stehen blieb. Das Leuchten, das tatsächlich aus ihm heraus zu kommen schien, wurde
um einige Nuancen intensiver, als er seinen Kopf hob und in Rich tung der drohenden Woge einen Dialog begann. Laut und drohend schallte seine Stimme über die Szenerie hinweg. »Hier, an dieser Stelle, hat die alte Zeit geendet – hier wird sie wieder beginnen, Om ron. Hast du mich verstanden?« Eine ganze Weile geschah nichts, doch hörten alle am Strand ver sammelten, ob Mensch, Humarog oder Lamaria, die Stimme, die in ihren Köpfen erklang. »Wer glaubst du zu sein, dass du die Zeiten bestimmen kannst? Die Zeiten, die auf meiner Welt nur einen Herrn haben, mich, den Omron!« »Wer ich glaube zu sein?« Das typische vor Ironie triefende La chen Asmodis erklang, als er antwortete. »Ich bin der, der dich erst möglich gemacht hat, ohne den es dich nie gegeben hätte, und ich wünschte, es wäre so und du wärst ein böser Traum geblieben. Du bist ein Teil von mir, geboren zu einer Zeit, an die ich mich nicht er innere, die ich sicher aus gutem Grund verdrängt habe. Deine Ein drücke sind die meinen, und du weißt das! Und ich werde nicht zu lassen, dass du sie sinnlos tyrannisierst, sie benutzt und tötest, nur weil dies der einzige Sinn in deinem jämmerlichen Dasein ist!« »Wie willst du mich daran hindern, das zu tun? Es genügt ein Ge danke von mir, und sie ersaufen jämmerlich, hast du das vergessen? Oder hat mein zweiter Teil dir etwa nicht berichtet, wie mächtig ich bin? Ich weiß alles, ich bin alles.« »Wirklich alles?« Asmodis hob den rechten Arm, der, wie Zamor ra zu sehen glaubte, seltsam verdreht wirkte, als wäre er stark ver renkt, vielleicht sogar gebrochen. »Dann weißt du auch von der ge frorenen Zeit, die in mir ruht?« Eine Antwort ließ lange auf sich warten, denn mit wem Asmodis da auch immer redete, derjenige schien diese Frage nicht erwartet zu haben. Zamorra schöpfte nun wirklich Hoffnung, denn der alte Teufel schien im wahrsten Sinn des Wortes ein As im Ärmel zu ha ben, mit dem sein Gegenpart nicht umgehen konnte. Endlich ließ die Stimme sich wieder hören.
»Ich weiß nicht, wovon du redest, doch es spielt für mich keine Rolle. Ich bin Omron und ich …« Herrisch fuhr Asmodis dazwischen. »Ich bin Omron, jetzt und hier, in dieser und allen anderen Zeiten. Sieh zu und unterwerfe dich.« Zamorra hatte keine Ahnung, was Asmodis demonstrieren wollte, doch er wusste, dass er sich damit beeilen musste, denn das Eis un ter der Welle brach nun verstärkt ein, konnte das Wasser nicht mehr halten, und ein besonders großer Einbruch bildete sich direkt über ihren Köpfen. »Das Schiff!« Der Schrei war von Halfborinn gekommen, der es zuerst gesehen hatte. Durch die Welle hindurch sank ein Schiff, brach bereits mit seinem Heck durch das dünne Eis. Es war das größte und schönste Schiff der Flotte, sein Flaggschiff, das sie alle in wenigen Sekunden unter sich zermalmen würde. Zamorras nächster Eindruck war der, dass Asmodis Aura durch scheinend wurde – sein gesamter Körper schien aus Glas zu beste hen, oder besser gesagt aus Eis. Und aus seiner nach oben gestreck ten Hand schlug eine weiße Flamme!
»Das schlägt alles, was ich bisher erlebt habe!« Robert Tendyke war geschockt und überwältigt, wie sie alle. »Der Alte rettet unseren Hintern, ich fass das nicht.« »Den Hintern einer ganzen Welt, Robert, seiner Welt, das sollten wir nicht vergessen.« Zamorra sah es wie die anderen, doch wahr scheinlich war er der einzige, der die Macht richtig ermessen konn te, die sich in Asmodis gebündelt hatte und nun entlud. Die weiße Flamme aus Asmodis' Arm traf auf die Wasserkuppel. Im gleichen Moment erstarrten die Wassermassen vom Strand bis hin zu ihrem Rand zu dickem, undurchdringlichem Eis. Halfborinns Flaggschiff blieb unbeweglich in der viele Meter di
cken Eisschicht stecken, wie mit Sicherheit auch alle anderen Schiffe der Roten. Zunächst war die Gefahr gebannt, doch der Zustand war dennoch auf Dauer unhaltbar. »Nun spürst du meine Macht!« Asmodis Stimme klirrte wie Me tall, das auf Metall schlug. »Diese Zeit ist schlecht, sie muss ersetzt werden. Das Alte ist nicht immer gut, das Neue nicht gleich schlecht. Jede Zeit hat ihre Berechtigung, doch du hast die Zeit miss braucht, indem du sie nach deinen Vorstellungen geformt hast. Die alte Zeit wird dich einholen und ersetzen, durch den Teil von dir, der dieser Welt und ihren Kindern eine Zukunft ermöglichen kann – du bist Vergangenheit!« Zunächst glaubte Zamorra, dass seine Augen ihm einen Streich spielten, doch das ging ihm nicht allein so. Nicole rieb mit den Handballen über ihre Augen. »Was geschieht denn nun, Zamorra? Sind wir jetzt im Kino gelandet? Was tut Assi da?« Zamorra wusste, dass sie im Grunde keine Antworten von ihm er wartete. Wie alle anderen sah er staunend zu. Doch er wusste, dass das Finale anstand, und in seinem Hinterkopf machten sich wieder einmal ganz andere Fragen breit. Wie immer das hier ausging … welche Auswirkungen mochte es auf ihre Heimkehr zur Erde ha ben? Und wenn es welche hatte, würden sie positiver oder negativer Art sein? Sein Denken glitt in Richtung der Drahnoko-Felder ab, doch Asmodis fesselte gleich darauf wieder seine ganze Aufmerk samkeit. Es lag also nicht an seinen Augen, dass er Doppelbilder zu sehen bekam. Nicoles Vergleich mit dem Kino war gar nicht so schlecht gewählt, denn was sie sahen, ähnelte dem Effekt, wenn man zwei Filme übereinander legte und gleichzeitig ablaufen ließ. So gewaltig waren die Unterschiede zwischen den Bildern eigent lich nicht einmal. Sie zeigten beide den Strand, den Hügel und das Meer, und doch gab es eine große Abweichung bei einer der beiden Versionen: Direkt am Strand, jedoch im Wasser schwimmend, lag ein monumentaler Bau, der aus Glas zu bestehen schien und einen
der Länge nach halbierten, liegenden Kopf darstellte. »Omrons gläserner Kopf«, stieß Nashua keuchend ans und befrei te sich aus Nicoles Umklammerung. »Die gefrorene Zeit ist in ihm!« Asmodis war in die Knie gegangen, schien am Ende seiner unna türlichen Kräfte angelangt zu sein, und dieses Mal war es Robert Tendyke, der die Lamaria daran hinderte, zu Siel Amos zu laufen. »Lass ihn, Nashua, mein Vater kämpft gerade seinen schwersten Kampf.« Zamorra bedachte Tendyke mit einem Seitenblick. Vater? Viel leicht hatte er sich ja auch verhört. Sicher, es musste so sein. Für quälend lange Minuten wechselten die Doppelbilder einander in ständigem, fast sekündlichen Wandel ab, dann standen sie beide einen langen Moment miteinander verknüpft da. Dann war es vorbei. Nur noch eine Impression hatte bestand, doch die war erstaunlich genug.
Der blaue Himmel leuchtete über dem Strand. Zamorra und Nicole sahen sich kurz an. Sie konnten noch nicht richtig einordnen, was gerade geschehen war. Eines war jedoch un umstößliche Tatsache: Die Eiskuppel über ihnen war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. »Das kann ich ja nicht glauben, sieh – die Schiffe!« Zamorra sah auf das Meer hinaus und erkannte, was Nicole so verblüfft hatte. Auf dem Wasser schwammen die eben noch im di cken Eis gefangenen Schiffe der Roten. Das Meer lag still und fried lich da, fast war es, als herrschte überhaupt kein Wellengang. Es dauerte noch einige Momente, dann brachen die Jubelstürme unter den Humarogs und Lamarias los, die bereits mit ihrem Leben abgeschlossen hatten. Viele lagen sich lachend und jubelnd in den Armen, manche waren erschöpft zusammengebrochen und weinten die Anspannung hemmungslos aus sich heraus. Zamorra sah, wie
Halfborinn und Kamirr langsam in Richtung Strand gingen, an dem der gläserne Kopf jedoch fehlte. War das hier jetzt eine Mischung beider Zeiten, und wenn ja, wer hatte diesen erbitterten Kampf dann für sich entscheiden können? Nashua lief bereits mit Robert Tendyke auf Asmodis zu, der wie tot halb im Wasser, halb auf dem Strand lag. Zamorra und Nicole spurteten ebenfalls los und waren fast gleichzeitig mit den anderen bei Sid Amos. Nashua kniete sich neben den leblos wirkenden Körper und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Immer mit der Ruhe, Kleine.« Nicole drängte sich nach vorne und drehte Asmodis ganz in die Rückenlage. »So schnell bringt den nichts und niemand um, das darfst du mir glauben.« Zum Entsetzen Nashuas gab Nicole dem Erzdämon zwei schallende Ohrfeigen, und er schlug die Augen auf. »Das ist wirklich das letzte, das ich jetzt sehen will – dein Gesicht, Nicole Duval.« Er hustete hektisch und spuckte Wasser aus, setzte sich dann aber aus eigener Kraft auf. Nicole machte ihr arrogantestes Gesicht. »Das ist der Dank dafür, dass ich dich wieder ins Diesseits geklopft habe? Werde ich mir merken.« Zamorra schob seine Lebensgefährtin beiseite. »Du hast es ge schafft, Sid, du hast gesiegt, oder?« Er hatte seine Zweifel, ob wirk lich alles gut abgelaufen war. Asmodis sah den Professor an und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gesiegt. Diese Welt hat gesiegt, denn sie hat jetzt wieder eine Chance, sich zu entwickeln.« Er machte eine Pause, in der er er schöpft die Augen schloss. »Und wir alle werden wohl ein Teil die ser Chance bleiben.« »Wie meinst du das, Sid?« Zamorra spürte ein unangenehmes Kribbeln an seinen Nackenhaaren. »Ich habe ihn besiegt, Zamorra, vielleicht nicht endgültig, aber für
eine sehr lange Zeit, doch als er seine Niederlage kommen sah, hat er bittere Rache an mir genommen.« Asmodis Augen waren stumpf geworden, als er dem Blick des Professors standhielt. Zamorras Frage bestand nur aus zwei Worten. »Die Blumen?« Asmodis nickte müde. Ohne ein Wort zu verlieren, drehte Zamorra sich um und spurtete in Richtung der Drahnoko-Felder vor Epras Toren. Seine Lungen drohten zu zerspringen, denn obwohl er durchtrai niert war, schien dieser Lauf ihn an seine körperlichen Grenzen zu führen. Es hatte nichts mit Kondition zu tun, sondern mit der Angst vor dem, was er fürchtete vorzufinden. Sie schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. Dann kamen die Felder der noch nicht erblühten Regenbogenblu men endlich in Sicht, oder zumindest das, was von ihnen übrig war. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er da, als Ni cole und Robert ihn erreichten, die nur kurz gebraucht hatten, um Zamorras böse Ahnung zu begreifen. Nicole Duval fiel auf die Knie und griff mit beiden Händen nach dem, was einst eine Drahnoko ge wesen sein musste und jetzt nur noch schwarzer, stinkender Staub war! »Aber … aber es gibt sie doch … überall an der ganzen Küste … oder?« Zamorra schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Nicole. Omrons dunkler Teil hat ganze Arbeit geleistet, da bin ich sicher.« Und aus Gestrandeten, die nur die richtige Zeit abwarten mussten, waren Gefangene einer Welt geworden, die nicht die ihre war.
Es wurde nicht viel geredet, an diesem Abend im Saal des »TraumTheaters«. Zamorra und Nicole saßen mit Nashua und Dünnbacke zusam men. Beide verstanden die Situation ihrer neuen Freunde nur inso
weit, dass sie nun nicht mehr in ihre Welt zurück konnten. Für die beiden Lamarias klang das schon mehr als unwirklich, denn die Existenz anderer Welten passte natürlich nicht in ihr Denkschema. Doch sie nahmen diese Aussage hin und versuchten Nicole und Za morra so gut sie es nur konnten zu trösten. Wirklich traurig war Nashua natürlich nicht, denn die nicht mehr mögliche Rückkehr bedeutete ja auch, dass Asmodis hier bleiben würde. Der hatte sich ganz zurückgezogen, war wortkarg und er schöpft gewesen. Tendyke trieb sich wohl irgendwo in Epra herum. Wahrscheinlich suchte er Ablenkung, was sicher nicht die schlech teste Art der Verarbeitung ihres Problems war. Kamirr Et-Lamar und Halfborinn waren damit beschäftigt, die Schäden und Auswirkungen der Katastrophe zu überblicken und so etwas wie einen Hilfsplan aufzustellen, denn Epra hatte leiden müs sen. Durch Asmodis erfolgreichen Kampf war die drohende Vernich tung zwar verhindert worden, und wie durch ein Wunder waren auch die Schiffe in Sicherheit, doch das änderte natürlich nichts an den Dingen, die vor Asmodis Eingreifen geschehen waren. Mehrere Segler der Roten waren in die Stadt gestürzt, und in einigen Teilen Epras sah es furchtbar aus. Niemand konnte die Zahl der Toten auch nur annähernd schätzen, die Verletzen wurden so gut wie möglich versorgt. Es mochte eine sehr lange Zeit vergehen, bis Epra wieder die wunderschöne Stadt an der Küste war, die man auf ganz Omron besang und über die man mit glänzenden Augen sprach. Aber es gab niemanden, der daran zweifelte, dass dieser ferne Tag kommen würde. Natürlich hatten sie daran gedacht, die Dhyarras erneut einzuset zen, doch was hätte es gebracht, selbst wenn sie nun wieder funktio nierten? Vieles war mit den Sternenkristallen möglich, doch Reisen durch Dimensionen und die Zeit sicherlich nicht. »Vielleicht sollten wir schlafen gehen?« Nicole schien nicht müde zu sein, doch eine gescheite Beschäftigung fiel ihr heute nicht mehr
ein. »Oder unsere miese Stimmung schön saufen, wie Robert es jetzt wahrscheinlich gerade macht.« Zamorra wusste, dass ihr auch dazu jegliches Interesse fehlte, und damit löste man schließlich auch keine Probleme, sondern zerstörte schlimmstenfalls seinen Körper. Sie taten weder das eine noch das andere. Sie blieben sitzen, und nach und nach füllte sich der Theaterraum. Kamirr und Halfborinn kamen, um sich zumindest für kurze Zeit ein wenig zu entspannen. Irgendwann trudelte auch Robert Tendyke ein, der stocknüchtern war. Er hatte den Abend am Strand mit Nachdenken verbracht, wie er glaubwürdig erklärte. Es war eine bittere Pille, die sie alle zu schlucken hatten. Robert tat sich schwer damit, den Part des Taten losen zu spielen, zu dem er ja verdammt war. Selbst Jorsteinn erschien und setzte sich zu ihnen. Von der frühe ren Feindschaft zwischen ihm und Halfborinn war nichts mehr zu spüren, denn jetzt gab es nur noch gemeinsame Ziele, die man zu sammen angehen wollte. Viele Stunden nach Mitternacht – genauer gesagt in den frühen Morgenstunden, die bereits die ersten Strahlen des Sterns erahnen ließen – legte sich eine große Hand auf Nashuas Schulter. Mit einem freudigen Aufschrei umarmte sie Asmodis, der genug vom Allein sein hatte. »Ich bin jetzt wieder klar im Kopf, hoffe ich zumindest.« »Bist du da sicher, Freund und Fremder?« Die Stimme war erneut für alle hörbar und jeder wusste sofort, dass sie es mit Omrons hellem Teil zu tun hatten, dem Asmodis ein friedliches Miteinander mit La marias und Humarogs zutraute und ihm diese Welt überließ. »Wenn du wirklich klar bist, warum denkst du dann nicht nach? Seltsam, dass ich aus dir entstanden seint soll, denn ich wäre längst auf die Lösung deines Problems gekommen.« »Ich habe keine Nerven mehr für Ratespiele, Omron. Was willst du mir sagen? Bitte, wir sind alle müde!« Asmodis machte einen äu ßerst gespannten Eindruck, denn er wusste genau: ohne Grund hat
te sich die Stimme sicher nicht noch einmal gemeldet. Was konnte er übersehen haben? Die Drahnoko-Felder waren ohne Ausnahme zu Staub zerfallen, dafür hatte der dunkle Teil Omrons noch vor seiner Niederlage gesorgt, und er hatte es gründlich getan! »Aber es gibt doch noch weitere Felder, hast du sie denn wirklich verges sen?« Zamorra sprang auf, doch Asmodis' Kopfschütteln nahm ihm wie der die aufkeimende Hoffnung. »Die Felder in der gefrorenen Zeit, nicht wahr? Die Zeit ist aufge braucht, das weißt du, außerdem habe ich schon bei meinem ersten Besuch dort den Versuch eines Transits gemacht. Du erinnerst dich sicher, dass er fehlgeschlagen ist.« Ein Lachen klang auf, amüsiert und offen. »Ich erinnere mich, doch dein Gedächtnis lässt nach, Asmodis. Habe ich dir nicht damals gesagt, dass es im Zustand der gefrorenen Zeit kein Hinaus und kein Herein gab?« In Sid Amos' Augen begann ein Funke zu leuchten, eine Erkennt nis bahnte sich ihren Weg durch sein Denken. »Und … ist die Zeit wirklich gänzlich aufgebraucht worden? Forsche in dir nach, Asmodis, und wenn du die Wahrheit gefunden hast, dann beeile dich, denn auch wenn die Zeit nicht mehr gefroren ist und du sie in dir trägst, so kann sie dir dennoch davonlaufen.« Asmodis spürte, wie die Stimme sich wieder entfernen wollte. »Warte, wie komme ich in die Zeit? Sage es mir!« »Denke an den Kreis – er ist der Weg. Beeile dich, Fremder und Freund …« »Zeig mir den Weg, du musst mir dabei helfen!« Doch Asmodis wusste, dass diese Bitte bereits nicht mehr gehört wurde. Die Stimme war verschwunden.
»Es ist nur ein Versuch.« Asmodis sah seine Gefährten der Reihe nach an. Sie waren noch immer im Saal des »Traum-Theaters«, doch Za morra, Nicole, Tendyke und er hatten sich von den anderen Anwe senden abgesondert, die mit fragenden Gesichtern auf die Gestran deten sahen. »Ich weiß nicht, ob ich den Kreis erreichen kann, ob ich die gefrorene Zeit finde und wie viel noch von ihr vorhanden ist. Es sind so viele Unwägbarkeiten dabei.« »Immer noch besser, als es überhaupt nicht zu versuchen, Asmo dis.« Zamorra wusste genau, dass dies hier ihre allerletzte Chance auf eine Heimkehr war. Wenn es denn möglich war, dann durfte jetzt einfach nichts mehr schief gehen. Sie hatten sich mehr als halbherzig von ihren neuen Freunden ver abschiedet, denn es war nicht unwahrscheinlich, dass der Versuch kläglich misslang. Zamorra hatte Kamirr Et-Lamar, dem alten Kadil, der sie hier so freundlich aufgenommen hatte, seine Hände auf die Schultern gelegt. »Kamirr, diese Welt braucht dich und den Bund mit den Roten dringender, als alles andere. Du wirst es schwer ha ben, denn nun wird es auch keine Drahnoko-Blüten mehr geben, also auch kein Draahn. Die Grauen werden ausrasten, denn ohne das Zeug wird es ihnen schlecht gehen.« »Und mir wird der Tabak fehlen … und der herrliche Salat.« Ka mirr grinste Zamorra an. »Wir werden es schaffen, das schwöre ich dir, denn Omron ist nun nicht mehr unser Feind, sondern ein Freund, auf den man bauen kann. Wir schaffen es, Zamorra, und nun geht, wenn ihr könnt. Verdammt, ich glaube, ich werde euch vermissen.« Nashua hatte sich in die hinterste Ecke des Saales verdrückt, doch Asmodis fand sie natürlich. Zamorra sah, wie er leise mit ihr sprach und sie kurz in den Arm nahm. Dann kam er mit verschlossenem Gesicht zu den anderen zurück. »Wir müssen uns an den Händen halten, denn Nashua hatte da mals auch Körperkontakt zu mir, als wir in die gefrorene Zeit geholt
wurden.« Asmodis fiel keine bessere Möglichkeit ein, als sich auf die visuelle Erinnerung an den gespaltenen Kreis zu konzentrieren. Für die Zuschauer entstand plötzlich der Eindruck, als würden die vier Wesen vor ihnen durchscheinend, gläsern. Nur wenige Momen te später waren sie verschwunden, und hinten, in einer Ecke des Saales, weinte ein Lamaria-Mädchen stille Tränen.
Ein Kreis war ein Kreis, eine genau definierte geometrische Figur, an der es nichts zu deuteln gab. Dennoch war das, was Professor Zamorra vor sich sah, um einiges beeindruckender, als Asmodis es ihm geschildert hatte. Die silber weiße Scheibe, die annähernd sein gesamtes Blickfeld einnahm, leb te! Niemand hätte ihn um eine Erklärung dieser Behauptung bitten sollen, denn er hätte keine liefern können. Dennoch gab es an ihrer Richtigkeit für ihn keinen Zweifel. Zamorra fühlte den Drift, mit dem er auf die Leuchterscheinung zuglitt. Es war eine sanfte Fahrt, so als würde er sich von einer freundlichen Welle träge vorwärts leiten lassen. Die Trennlinie, von der Asmodis und Nashua berichtet hatten, fehlte vollständig. Das war der letzte Beweis für Asmodis' Sieg ge gen den dunklen Teil Omrons. Zamorra wusste genau, dass er nicht allein war, obwohl er die an deren nicht hören oder fühlen konnte. Dann erfolgte der Eintritt in den aus seiner Position heraus immer größer werdenden Silberkreis. Zamorra fand sich auf dem Hügel zwischen Epra und dem Strand wieder. Für einen Moment glaubte er, der Versuch wäre fehlgeschlagen, doch dann sah er, dass ganze Teile der Welt um ihn herum in einen eisweißen Nebel gehüllt wa ren, nur noch als schwache Scheinen zu existieren schienen, die schon bald ganz verschwunden sein würden. Und Zamorra wusste noch etwas – er war allein!
Den Weg in die Reste der gefrorenen Zeit hatte Asmodis für sie ge funden, doch sie waren beim Eintritt offensichtlich getrennt worden. Keine Panik, denk nach, Zamorra! Der Professor drehte sich um und war entsetzt, weil auch Epra schon fast völlig in der eisigen Umhül lung verschwunden war. Schnell, zu den Feldern, lauf los! Er war nicht sicher, ob das seine eigenen Gedanken gewesen waren, oder ob sich noch einmal die Stimme in sein Bewusstsein eingeschaltet hatte, doch das war jetzt gleichgültig. Zamorra lief um sein Leben – lief um seine Zukunft! Es war ein Lauf gegen das Nichts, doch dieses Nichts bremste sei ne Geschwindigkeit gehörig ab. Er lief mitten in die Nebel hinein, die wie dicke Watte waren und ein normales Vorwärtskommen ver hinderten. Und es war ein blinder Lauf, denn er konnte nicht viel weiter als zwei oder drei Meter sehen. Die Angst, gegen irgendein Hindernis zu stoßen, lief ständig mit. Doch schließlich schien sich der Eisnebel aufzuhellen und Zamorra registrierte mit Befriedigung, dass ihn sein Orientierungssinn nicht im Stich gelassen hatte. Er stand direkt vor einem Drahnoko-Feld … und einige der Blüten waren bereits aufgegangen. Blütezeit, schoss es ihm durch den Sinn. Er hatte es geschafft, doch wo waren die anderen? Irgendetwas rammte ihn von der Seite, lief direkt in ihn hinein, und Zamorra hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Abwehrbe reit drehte er sich herum. »Zamorra, oh verdammt, ich hatte schon befürchtet, ihr seid ohne mich …« Nicole Duval warf sich in Zamorras Arme. »Nicole, wo sind Rob und Sid? Wir müssen den Transit sofort star ten, sonst fließt uns die gefrorene Zeit wirklich durch die Finger.« Ehe Nicole antworten konnte, kam die Stimme aus den Regenbo genblumen heraus. »Schnell, hierher. Wir sind bereit!« Selten hatte Zamorra sich so über den Klang von Robert Tendykes Stimme ge freut. Vorsichtig traten Zamorra und Nicole in das Feld hinein, und bei jedem Schritt pochte nur der eine Gedanke in Nicoles Kopf: Konzen
trieren, nur an das Ziel denken, keine Ablenkung. Sie hatten nur die eine Chance. Um sie herum bahnte sich der Eisnebel seinen Weg.
Terz, Quint, Oktav – dann Quart, Prim? Parade und sofortige Ripos te. Der Mann bewegte sich geschmeidig und mit der Eleganz eines geübten Fechters, eines Kämpfers, der sich jedes Schrittes bewusst war, denn ein Fehler im Aufbau seines Angriffs war exakt ein Fehler zuviel und konnte den Tod bedeuten. Doch hier und heute focht er einen Schattenkampf, griff an und parierte nur in die Leere hinein. Er stand alleine auf der Planche. Plötzlich ließ er seinen Degen sin ken, warf ihn achtlos zu Boden und strich sich mit dem Handrücken über die Augen, als wolle er die Müdigkeit der vergangenen Tage verjagen. »Du bist gut, Zamorra. Ich möchte nicht in einem ernsthaften Kampf gegen dich antreten.« Der Angesprochene wandte sich zu der Gestalt um, die dort im Halbdunkel stand. »Wie lange bist du schon im Raum, Sid? Ich hörte dich nicht her einkommen, war wohl zu abgelenkt, denke ich.« »Oder zu leichtsinnig. So kenne ich dich nicht, Zamorra.« Asmodis trat an die Planche heran und setzte sich auf deren erhöhten Rand. »Ich werde Tendyke's Home heute noch verlassen. Ich denke, Robert wird froh sein, mich nicht mehr ertragen zu müssen.« Er lachte leise und freudlos auf. »Irgendwo kann ich es ihm ja nicht verdenken.« »Vergiss bitte nicht, dass dein Sohn dir das Leben gerettet hat. Er hätte die Chance auch anders nutzen können.« Zamorra überlegte einen Augenblick lang, ob er Asmodis davon erzählen sollte, dass er glaubte, von Tendyke das Wort »Vater« gehört zu haben; da er sich
aber dessen nicht sicher war, ließ er es. Asmodis nickte. »Ich weiß, Zamorra, ich weiß.« Er machte einen erschöpften Eindruck. »Willst du über Omron reden?« Asmodis blickte Zamorra unent schlossen an, als wüsste er nicht, was er auf diese Frage antworten sollte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Was gibt es da zu reden? Ich habe keine Ahnung, wie diese Welt entstanden ist, und ob sie tatsächlich aus mir kam. Ich bin nicht all wissend.« Nach einer Pause setzte er hinzu. »Vielleicht will ich die Wahrheit nicht wissen.« Zamorra nickte. »Dann nur soviel dazu von mir. Die Zeit, in der du den Wechsel aus der Hölle in unserer Welt geplant hast, ist sie dir noch ganz in Erinnerung?« Sid Amos wusste nicht, worauf Zamorra hinaus wollte und ant wortete nur zögerlich. »Nicht in allen Einzelheiten. Es war ein langer Prozess, den ich nicht erklären kann und will.« Zamorra hatte auch nicht damit gerechnet, dass der Erzdämon sei ne Erinnerungen in allen Details ausbreiten würde. »Dann könnte ich mir vorstellen, dass Omron ein Teil dieses Pro zesses war. Denk nach, Asmodis, denk an den gespaltenen gläser nen Kopf, an den Kreis, der Omrons innere Zwiespältigkeit visuali sierte, denk an Omrons Bewohner – Menschen und Ratten, gut und böse, denn das ist nach wie vor eine Definition der beiden Spezies zueinander.« Asmodis hörte aufmerksam zu, ließ Zamorra kommentarlos re den. »Und vor allem denk an die nicht vorhandene Hölle! Du hast sie dort völlig ausgeschlossen, sie existierte nicht, obwohl sie doch na hezu alle Welten durchdringt, selbst wenn die in einem fremden Universum liegen. Deine innere Spaltung und Zerrissenheit hat Om ron werden lassen. Doch das ist nur meine Theorie, die natürlich
grundlegend falsch sein kann.« Asmodis erhob sich. »Es spielt ja auch keine Rolle mehr. Ich werde Omron sicher nie mehr besuchen können, denn die Re genbogenblumen sind dort Geschichte. Und das ist gut so. Das The ma ist für mich durch.« Er wandte sich um und verließ den großen Raum ohne ein weiteres Wort. Als Zamorra ihn später in dem Zimmer aufsuchen wollte, das Ro bert ihm zur Verfügung gestellt hatte, war Sid Amos verschwunden. Er kam und ging wann er wollte, aber das war für Zamorra und die anderen ja Normalität.
»Wenn es nach mir geht, dann bleibt noch ein paar Tage.« Robert Tendyke war nicht begeistert, dass Zamorra und Nicole ihn schon heute verlassen wollten, denn die Peters-Zwillinge würden erst in gut einer Woche wieder zurück sein, und irgendwie fühlte er sich nach dem Erlebten, das sicher kein Einsatz gewesen war, den man selbst im Zamorra-Team als normal bezeichnen konnte, noch nicht bereit für einsame Abende am Kamin, wie er es ausdrückte. »Sei uns nicht böse, Rob, aber im Château warten Arbeit und an dere Quälgeister auf uns. Zudem will ich meine Datenbanken mit al lem füttern, was wir von Omron wissen. Es wird zwar keine ver gleichbaren Daten geben, die uns Aufschlüsse bringen, aber für die Zukunft könnte es noch einmal wichtig werden.« Robert nickte. »Eine Sache noch. Eine ganze Welt, die aus dem Un terbewusstsein eines einzelnen Wesens stammt und Realität wird?« Man konnte ihm ansehen, dass Omrons Existenz noch immer total unlogisch für ihn war. »Ich weiß, Asmodis ist ein, vorsichtig ausgedrückt, besonderes We sen, aber dennoch ist mir das eine Spur zu hoch.« Zamorra konnte ihn verstehen. »Asmodis ist ein Erzdämon, der dunkle Bruder Merlins, und was wissen wir schon, was Merlin so al
les kann? Keiner der beiden rückt gerne mit der Sprache heraus. Au ßerdem ist es doch möglich, dass im Unterbewusstsein eines jeden Wesens eine fremde, vollständige Welt schlummert, wer weiß? Nur sind es wohl nur wenige, die diese Welt auch real werden lassen können, was sicher auch besser so ist. Ich werde mich jedenfalls hü ten, das Gegenteil zu verkünden!« Da man sich garantiert schon bald wiedersehen würde, gab es nur einen schnellen, aber freundschaftlichen Abschied. Zurück blieb ein Robert Tendyke, dem klar wurde, dass er nicht so einfach zur Tagesordnung würde übergehen können.
Das Meer lag still vor ihr, umspülte freundlich ihre Füße, als wolle es sie so begrüßen. Sie war jeden Tag hier, kam gerne an den Strand, denn hier hatte ihr Leben schließlich eine völlig neue Richtung bekommen. Oft stand sie einfach so bewegungslos da, wie eine Statue. Doch um sich hier auszuruhen, zu entspannen oder an vergangene Erleb nisse zu denken, fehlte ganz einfach die nötige Ruhe. Am Strand, der sich hinter dem kleinen Hügel erstreckte, herrschte hektisches Leben und eine Lautstärke, die ihr ab und an gehörig auf die Ner ven ging! Nashua sah nach Westen, zur Baustelle, die von Tag zu Tag wuchs, und die ihrer Aufsicht unterstand: das hatte Kamirr Et-La mar öffentlich auf dem großen Platz in Epra verkündet. Der gläserne Kopf Omrons wurde neu errichtet! Natürlich nicht aus Eis oder Glas. Entscheidend aber war ja die Form, und die kannte niemand auf Omron so gut wie sie. Es waren aufregende Zeiten, die auf Omron angebrochen waren, und die Pro bleme mit den Grauen begannen erst jetzt richtig. Doch gemeinsam mit Halfborinns Roten würde man auch das bewältigen. Die Chance war da, und der Et-Lamar würde sie nutzen.
Nashua betrachte den Bau, und ein leises Lächeln machte ihr Ge sicht noch um eine Idee schöner. Ja, der Kopf würde gut werden, sehr gut sogar. Denn sie hatte sein Gesicht unauslöschbar in ihrem Gedächtnis ge speichert, den Mund, die Ohren, sein Kinn und vor allein seine Au gen, die sie von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen hat ten. Sie war realistisch genug, um zu wissen, dass sie ihn nie wiederse hen würde, aber sein Ebenbild würde sie an jedem Tag ihres Lebens betrachten können, hier, am Strand seiner Welt. Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief und entdeckte Dünnbacke, der den Hügel herab kam. Er war ein netter Junge … warum sollte sie auf ewig um jemanden trauern, der ihr Leben endgültig verlas sen hatte? Das hätte er nicht so gewollt, und das waren auch seine letzten Worte an sie gewesen, damals, im Saal des »TraumTheaters«. Nashua lächelte und wandte sich zum Hügel hin.